Sackgassen in Venezuela


Sackgassen in Venezuela

von Stefan Peters

Venezuela ist Schauplatz politischen Scheiterns. Die aktuelle Regierung hat das Land in die schwerste wirtschaftliche und soziale Krise seiner Geschichte manövriert und greift auf autoritäre Maßnahmen des Machterhalts zurück. Die Opposi­tion konnte trotz massiver interna­tionaler Unterstützung aus der Krise kein Kapital schlagen. Damit haben sich auch die Außenpolitiker*innen und eine Reihe politischer Analyti­ker*innen dies- und jenseits des Atlantiks verspekuliert. Die deutsche Außenpolitik hat sich im Fahrwasser der USA und verschiedener konservativer Regierungen aus Lateinamerika gar ins diplomatische Abseits manövriert. Kurz: Venezuela ist ein Land der Sackgassen. Für politische Lösungen braucht es nun mutige politische Entscheidungen sowie die Rückkehr zu Sachthemen.

Die Bolivarische Revolution in Venezuela1 ist gescheitert, und seit Jahren übt sich die Regierung von Maduro vor allem in den Disziplinen Krisenmanagement und Machterhalt. Alle sozio-ökonomischen Makrodaten sind drastisch abgestürzt. Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht. Nach langem Schweigen publizierte die venezolanischen Zentralbank auf Druck des Internationalen Währungsfonds vor kurzem erneut statistische Daten. Das Bruttoinlandsprodukt ist demnach zwischen Ende 2014 und dem dritten Quartal 2018 um etwa 55 % geschrumpft und die Inflation außer Kontrolle geraten (Banco Central 2019). Nicht-offizielle Studien malen ein noch dunkleres Bild und verweisen vor allem auf die rasant steigenden Armutszahlen. Demnach leben – angesichts dramatisch gesunkener Reallöhne – mittlerweile fast 90 % der Venezolaner*innen in Armut. Diese Daten sind der statistische Ausdruck einer dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Situation. Die Produktion im Land liegt am Boden, und die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, alltäglichen Konsumgütern und vor allem Medikamenten kann bei Weitem nicht sichergestellt werden. Auch die Versorgung mit Wasser und Strom ist äußerst prekär. Kurz: Die Bolivarische Revolution gleicht einem Scherbenhaufen. Wie konnte es dazu kommen?

Aufstieg und Fall der Bolivarischen Revolution

Noch vor wenigen Jahren löste die Bolivarische Revolution in Venezuela Hoffnungsstürme innerhalb der internationalen Linken aus. Unter der Präsidentschaft von Hugo Chávez (1999-2013) fand in dem südamerikanischen Land ein beachtlicher Politikwandel statt. Im Kontext einer schweren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise, die das Land in den 1980er und 1990er Jahren erlebte, distanzierte sich Chávez vom Neoliberalismus und wies dem Staat erneut eine stärkere Rolle in der Wirtschaft zu. Weiterhin stellte er die soziale Frage in den Mittelpunkt und versprach die Situation der benachteiligten Bevölkerung zu verbessern sowie die schreienden Ungleichheiten zu reduzieren. Zudem wurde die vormals elitenzentrierte Demokratie runderneuert und es wurden innovative politische Partizipationsmöglichkeiten eingeführt. Auf der internationalen Ebene wurde Venezuela bald zum Aushängeschild der lateinamerikanischen Linkswende. Chávez spielte geschickt auf der Klaviatur lateinamerikanischer Solidarität, kooperierte verstärkt mit Kuba sowie bald mit anderen linksgerichteten Regierungen Lateinamerikas und würzte seine Politik mit einer starken Prise Antiimperialismus, ohne dabei die engen wirtschaftlichen Beziehungen zu den USA in Frage zu stellen.

Die Richtungsverschiebung hatte politische Konflikte mit den traditionellen Eliten zur Folge. Der Konflikt eskalierte jedoch erst, als Präsident Chávez seine Erdölpolitik änderte und sich die Kontrolle über die Einnahmen des staatlichen Erdölkonzerns PdVSA sicherte. Als Reaktion kam es im April 2002 zu einem Putschversuch sowie nach dessen Scheitern zu einem wirtschaftlich desaströsen Streik der Erdölindustrie. Chávez gewann den Machtkampf und überstand im Jahr 2004 auch ein Abwahlreferendum. Im Anschluss begann das kurze »Goldene Zeitalter« des Chavismus. Im Kontext steigender Erdölpreise auf dem Weltmarkt erzielte Venezuela hohe Wachstumsraten. Die vollen Staatskassen wurden unter anderem für den Ausbau sozialpolitischer Maßnahmen genutzt und ermöglichten beachtliche soziale Entwicklungserfolge. Dies wurde ergänzt von der Förderung vormals unbekannter Formen der politischen Beteiligung insbesondere der sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Chávez gab der Bevölkerung damit nicht nur Brot, sondern auch eine Stimme, und sicherte sich so Unterstützung und Loyalität (Burchardt 2016).

Der Fokus auf die erfolgreiche sozialpolitische Bilanz sowie die Wachstumszahlen versperrte jedoch vielen den Blick auf die Leerstellen der chavistischen Politik. Insbesondere konnte auch der Chavismus nicht mit der jahrzehntelangen Erdölabhängigkeit des Landes brechen. Im Ergebnis hat sich die Erdölabhängigkeit Venezuelas während der Bolivarischen Revolution sogar nochmals gesteigert. Die Rohstoffexporte machen mittlerweile etwa 98 % der Gesamtausfuhren des Landes aus. Dies war gerade in Zeiten des jüngsten Erdölbooms angesichts hoher Preise für das Hauptexportprodukt verschmerzbar, schließlich waren die sprudelnden Erdöleinnahmen der Treibstoff der Erfolge des Chavismus. So wurde der Import von Konsumgütern über die Vergabe von verbilligten Dollars massiv subventioniert. Dies ermöglichte während des Booms auch Venezolaner*innen aus bescheidenen Verhältnissen den wachsenden Konsum von Importartikeln und ließ die Sektkorken in den Konzernzentralen einer Reihe von multinationalen Unternehmen in der Automobil-, Pharma- oder Kosmetikbranche sowie von Fluglinien knallen (Peters 2019, S. 143).

Doch spätestens mit dem Einbruch der Rohstoffpreise zeigten sich die Fallstricke der Ausrichtung auf das extrak­tivistische Entwicklungsmodell. Die einseitige Abhängigkeit vom Erdölexport sowie spiegelbildlich die extreme Abhängigkeit vom Import von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Konsumgütern wurde zum entwicklungspolitischen Bumerang und ließ das Land fast unweigerlich in eine schwere Krise stürzen. Doch der Preisverfall ist nicht der einzige Grund für die chavistische Bruchlandung. Ein zentraler Faktor ist zudem der massive Rückgang der Fördermengen. Weltweit werden zwar die größten Erdölreserven verzeichnet, das venezolanische Fördervolumen ist aber stark rückläufig und erreicht aktuell nur etwa 25 % der Vergleichszahlen aus der Zeit zwischen 2004 und 2015. Niedrige Preise und stark rückläufige Exportmengen haben die Staatskassen austrocknen, die Wirtschaft erlahmen und die soziale Situation explodieren lassen (Peters 2019).

Die Regierung von Maduro relativiert die Krise und erklärt die Probleme mit Verweis auf einen anhaltenden »Wirtschaftskrieg« sowie die aggressive Politik der USA und ihrer Verbündeten im In- und Ausland gegen die Bolivarische Revolution. Auf diese Weise vermeidet sie zugleich die schmerzhafte Entzauberung der revolutionären Ikone Hugo Chávez. Um Missverständnissen vorzubeugen: Zweifellos verschärfen die Sanktionen die aktuelle Notlage, sie sind jedoch nicht ursächlich für die Krise. Diese ist vielmehr hausgemacht, und ihre Ursprünge reichen in die Regierungszeit von Hugo Chávez zurück. Fehlgeschlagene wirtschaftliche Diversifizierungsinitiativen und die praktische Förderung des Importsektors gegenüber dem Aufbau von Produktionskapazitäten haben den Aufbau eines alternativen wirtschaftlichen Standbeins unterminiert. Zudem beschränkte sich die Regierung vor allem auf die Verteilung der Rohstoffeinnahmen und leitete einen größeren Teil der wachsenden Erdöleinnahmen an die sozial benachteiligte Bevölkerung auf dem Land und in den urbanen Armutsvierteln weiter. Strukturreformen zur Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums blieben jedoch aus. So stand etwa eine Steuerreform mit dem Ziel einer stärkeren Besteuerung von Kapital, Vermögen und hohen Einkommen nicht auf der politischen Agenda. Nach dem Einbruch der Erdöleinnahmen trockneten die Staatskassen schnell aus, und es fehlt zudem an den notwendigen Devisen zur Einfuhr von Nahrungsmitteln, Konsumgütern, Hygieneartikeln und Medikamenten. Hieraus folgt zwangsläufig eine Versorgungskrise.

Aktuell sucht die Regierung von Maduro händeringend nach neuen Investitionen und preist dafür die reichhaltigen Rohstoffvorkommen (Gold, Kupfer, Diamanten, Koltan, Eisen etc.) internationalen Investoren zu Schleuderpreisen an – mit überschaubarem Erfolg. Zur Sicherung ihrer Macht greift die Regierung zudem zu offen autoritären Maßnahmen. Eigene Ansprüche an eine Vertiefung der Demokratie wurden längst auf dem Altar des Machterhalts geopfert, die von der Opposition dominierte Nationalversammlung wurde entmachtet, und mittlerweile gehört auch politisch motivierte Repression zum Repertoire der Regierung. Kritik aus den eigenen Reihen wird entweder ignoriert oder an den Rand gedrängt, und gleichzeitig hat sich die Regierung immer stärker den Militärs zugewandt.

Venezolanische Sackgassen

Die Politik der venezolanischen Regierung hat progressive Ansprüche längst über Bord geworfen, und der Machterhalt ist zum Selbstzweck geworden. Dabei zeigt sich, dass der einstige Busfahrer Nicolás Maduro entgegen der vorherrschenden Meinung ein begabter Politiker ist, der sich trotz einer heftigen Krise, massiven internationalen Drucks und einer aggressiven Opposition als Präsident behauptet und weiterhin von einer relevanten Minderheit der Venezolaner*innen unterstützt wird. Doch Lösungen für die strukturelle Krise hat Maduro nicht anzubieten. Auswege aus der Sackgasse können nur ohne den Präsidenten und die chavistische Führungsriege erfolgen und brauchen den Druck der Basis. Sollte es Maduro um die ursprünglichen Zielsetzungen der Bolivarischen Revolution – wirtschaftliche Diversifizierung, Reduzierung sozialer Ungleichheiten, politische Partizipation und Korruptionsbekämpfung – gehen, müsste er den Weg für die Suche nach progressiven politischen Alternativen öffnen und den eigenen Machtanspruch aufgeben.

Maduros stärkster Trumpf im venezolanischen Machtpoker ist jedoch seit jeher die Schwäche der Opposition. Dies sollte sich auch in der politischen Krise zu Beginn des Jahres 2019 bestätigen. Juan Guaidó gelang mit seiner Ausrufung zum selbsternannter Interimspräsidenten am symbolträchtigen 23. Januar2 des Jahres 2019 zweifellos ein politischer Coup. Guaidó brachte Maduro dank der massiven Unterstützung der USA, verschiedener konservativer Regierungen Lateinamerikas und vieler europäischer Staaten ins Taumeln. Doch Maduro fiel nicht. Zwar gelang es Guaidó innerhalb kürzester Zeit, vom unbekannten Jung­star zum Oppositionsführer aufzusteigen und große Massendemonstrationen anzuführen. Doch seine politische Basis blieb beschränkt. Insbesondere erhielt Guaidó jenseits der Oppositionshochburgen in den Mittel- und Oberschichtsvierteln nicht die erhoffte massive politische Unterstützung. Guaidó deutete die Ablehnung und Enttäuschung von der Politik Maduros als Unterstützung seiner Person fehl und versuchte bald, den bröckelnden Rückhalt durch immer weitere Eskalationen zu kompensieren. Dies ­gipfelte am 30.4.2019 in einem dilettantischen Putschversuch gegen die Regierung von Maduro. Damit stellten Guaidó und der radikale Teil der Opposition zugleich ihr instrumentelles Verhältnis zur Demokratie unter Beweis. Dass Guaidó dennoch von der Regierung nicht inhaftiert wurde, stellt sich zunehmend als gekonnter Schachzug des Präsidenten heraus: Nach seinem schnellen Aufstieg verlor Guaidó rasch an politischem Gewicht, taugt aber immer noch zur fortwährenden Spaltung der Opposition.

Abgesehen von den notorischen internen Machtkämpfen hat die Opposition jenseits des Regierungswechsels auch programmatisch wenig anzubieten. In vielerlei Hinsicht wird der Chavismus von der Opposition weiterhin als ein Unfall der Geschichte wahrgenommen, und dies wird mit dem Wunsch verbunden, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und eine aktualisierte Variante der IV. Republik (1958-1998) zu schaffen. Breite Teile der Opposition übersehen, dass der Chavismus eine Zeitenwende für die venezolanische Politik darstellt und die soziale Basis des Chavismus auch in der Zukunft ein wichtiger politischer Faktor im Land sein wird. Zu Beginn des Jahres 2019 wurde mit dem »Plan País« von Guaidó zwar ein Programm für den »Tag danach« vorgelegt. Dieser ist jedoch wenig konkret und beinhaltet jenseits von Worthülsen aus der Feder politischer Kommunikationsagenturen vor allem die Hoffnung auf internationale Unterstützung und Investitionen, die Förderung von Privatisierungen sowie das Festhalten am Entwicklungsmodell Erdölexport. An diesem Punkt sind sich die sonst verfeindeten Regierungs- und Oppositionspolitiker*innen einig: Die Zukunft des Landes bleibt eng verbunden mit der Ausbeutung und dem Export von Rohstoffen. Gerade hiermit ist jedoch eine Reihe der strukturellen Probleme des Landes verbunden.

Die deutsche Außenpolitik in der Sackgasse

Auch die deutsche Außenpolitik befindet sich in Venezuela in einer Sackgasse. Schon wenige Tage nachdem sich Guaidó zum Interimspräsidenten Venezuelas ausgerufen hatte, wurde er von der deutschen Bundesregierung als Präsident des Landes anerkannt und bald von der deutschen Botschaft in Venezuela hofiert. Die offensichtliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes quittierte die Regierung von Maduro mit der Ausweisung des deutschen Botschafters, der erst Ende Juni nach Caracas zurückkehren konnte. Die Bundesrepublik hat sich mit der Positionierung für Guaidó im venezolanischen Machtkampf nicht nur offensichtlich verspekuliert. Sie hat sich zudem ins politische Abseits manövriert und ohne Not diplomatische Handlungsspielräume aus der Hand gegeben.

Die Anerkennung Guaidós durch die Bundesrepublik hat jedoch weiterreichende Folgen, da sie nicht nur nach Meinung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags völkerrechtlich mindestens fragwürdig ist und zudem eine Abkehr von der Praxis deutscher Außenpolitik darstellt, Staaten und nicht Regierungen oder Präsidenten anzuerkennen (Wissenschaftliche Dienste 2019; Telser 2019). Diese Kehrtwende ist auch aus politischer Sicht problematisch. Außenminister Heiko Maas sprach sich in seiner Amtszeit immer wieder deutlich für diplomatische Lösungen und die Bedeutung der Achtung des internationalen Rechts aus. Anlässlich seiner Lateinamerikareise im April 2019 schrieb er in einem Gastkommentar für den Tagesspiegel: „In einer Welt, in der das Recht des Stärkeren die Stärke des Rechts ersetzt, können wir nur verlieren.“ (Maas 2019) Zumindest in Lateinamerika wurde diese Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der deutschen Politik sehr deutlich wahrgenommen. Die Positionierung in Venezuela gefährdet so die Glaubwürdigkeit einer (völker-) rechtsbasierten deutschen Außenpolitik.

Lösungsansätze

Der venezolanische Machtkampf wird auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen. Im Fokus stehen die Namen und Köpfe an der Spitze, während Sachthemen zur Lösung der tiefen Krise im Land kaum Beachtung finden. Doch gerade die Fokussierung auf einzelne Personen behindert den Weg zu politischen Alternativen für die kurzfristige Krisenbearbeitung sowie eine mittel- und langfristige Strategie zur Überwindung der hartnäckigen Probleme des Landes. Maduro und Guaidó sind hier jeweils eher Teil des Problems denn der Lösung. Es muss deshalb darum gehen, gesprächsbereite Kräfte auf beiden Seiten einzubinden und auf der Basis von Sachthemen die zentralen Fragen für die Zukunft des Landes ergebnisoffen zu diskutieren.

An Themen mangelt es nicht: Es geht um die Gründe für die fatale Reduzierung der Fördermengen, aber eben auch um die Entwicklung von gangbaren Alternativen jenseits der Rohstoffförderung. Im sozialen Bereich muss kurzfristig die Armut reduziert, aber mittel- und langfristig die soziale Ungleichheit abgebaut werden. Zudem gilt es, stärkere Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung jenseits klientelistischer Vereinnahmungen zu schaffen, den Einfluss des Militärs auf Wirtschaft und Politik zu reduzieren sowie Maßnahmen zur gewaltfreien Konfliktlösung zu stärken. Doch es kann hier nicht darum gehen, eine Agenda vom Schreibtisch aus zu entwerfen. Im Gegenteil: Die Themen müssen vor allem aus der venezolanischen Bevölkerung kommen. Die deutsche Außenpolitik könnte solche Prozesse der Versachlichung der Debatte unterstützen. Eine Voraussetzung hierfür ist jedoch ein diplomatischer Kurs, der nicht auf die Unterstützung fragwürdiger Einzelner, sondern auf den Dialog mit vielen setzt.

Anmerkungen

1) Der Begriff der Bolivarischen Revolution bezieht sich auf den politischen Prozess unter den Präsidenten Hugo Chávez (1999-2013) und Nicolás Maduro (2013 bis heute). Der Begriff nimmt das Erbe des venezolanischen Nationalhelden Simón Bolívar auf und wurde von Chávez eingeführt, um den Bruch mit der vorherigen IV. Republik auszudrücken. Am Beginn der Bolivarischen Revolution wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und verabschiedet. Für eine umfassende Analyse der Bolivarischen Revolution siehe Peters (2019).

2) Am 23.1.1958 wurde die Diktatur von Marcos Pérez Jiménez gestürzt und damit der Weg für die venezolanische Demokratie und die IV. Republik (1958-1998) geebnet. Der 23. Januar ist auch Namensgeber für eine bekanntes Armenviertel in Caracas (23 de enero), in dem der Chavismus tief verankert ist.

Literatur

Banco Central de Venuela (2019): Producto Interno Bruto; bcv.org.ve/estadisticas/producto-interno-bruto.

Burchardt, H.-J. (2016): Zeitenwende? Lateinamerikas neue Krisen und Chancen. Aus Politik und Zeitgeschichte 39/2016, S. 4-9.

Maas, H. (2019): „Für uns steht viel auf dem Spiel“ – Heiko Maas plädiert für eine neue trans­atlantische Allianz. Tagesspiegel, 29.4.2019.

Peters, S. (2019): Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela – Aufstieg und Fall der Bolivarischen Revolution von Hugo Chávez. Stuttgart: Schmetterling Verlag.

Telser, D. (2019): „Anerkennung hat keine Wirkung“ – Interview mit Kai Ambos. tagesschau.de, 13.2.2019.

Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (2019): Sachstand – Zur Anerkennung ausländischer Staatsoberhäupter. Dokument WD 2 – 3000 – 014/19, 7.2.2019.

Prof. Dr. Stefan Peters ist Politikwissenschaftler und Professor für Friedensforschung an der Justus-Liebig-Universität Gießen und wissenschaftlicher Direktor des Instituto Colombo-Alemán para la Paz (CAPAZ) in Bogotá.

„Nicht ohne uns!“


„Nicht ohne uns!“

Der partizipative Friedensprozess in Kolumbien

von María Cárdenas

Am 4. September 2012 begannen in Kolumbien die Friedensverhandlungen zwischen der Regierung unter Juan Manuel Santos und der Guerilla FARC-EP, die 2016 abgeschlossen wurden. In diesen Jahren und bis heute beteiligt(e) sich die Zivilgesellschaft auf vielfältige Weise an der Aushandlung und Umsetzung des Abkommens. Der Artikel zeigt die Etappen der zivilgesellschaftlichen Partizipation auf und beschreibt die Hindernisse, denen die friedensorientierte Zivilgesellschaft dabei begegnet(e), aber auch ihre Erfolge. Eine stärkere Partizipation bietet leider nicht nur das Potential für einen inklusiveren Frieden, sondern öffnet auch denen die Tür, die das verhindern möchten.

Der bewaffnete Konflikt in Kolumbien kann im Rahmen dieses Artikels nicht näher beleuchtet werden.1 Seine Geschichte reicht bis in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts zurück, und er wandelte sich von einem Parteien- und Landkonflikt zu einem komplexen Konflikt mit zahlreichen bewaffneten Akteuren. Wenngleich der Konflikt vor allem auf dem Land ausgetragen wurde, sind viele der Ursachen im Zentrum des Landes zu verorten: im institutionellen und infrastrukturellen Zentralismus, in der wirtschaftlichen und politischen Kontrolle durch traditionelle Eliten und internationale Interessen sowie in der Abwesenheit des Rechtsstaats und den fehlenden Partizipationsmöglichkeiten für einen Großteil der Bevölkerung – vor allem (aber nicht nur) auf dem Land.

Die Gründung der FARC-EP und der vielen anderen Guerilla in den 1960er und 1970er Jahren sowie der Paramilitärs muss also in diesem Kontext gesehen werden; verschärfend kam der lukrative Drogenanbau und -export hinzu. Die Persistenz der militärischen Gewalt, das Stadt-Land-Gefälle und die politische Polarisierung führten zu einer Spaltung der Gesellschaft in die, die eine militärische Lösung befürworten, und die, die ein Ende der Gewalt nur für möglich hielten, wenn es aus Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien resultiert.

Beide Optionen sind in den letzten siebzig Jahren gescheitert. Ex-Präsident Alvaro Uribe Vélez (2002-2010) setzte die militärische Option gegen die FARC-EP radikal durch, u.a. mit der Konsequenz der 2.248 »Falschen Positiven« – Zivilpersonen, die von der Armee ermordetet wurden, um als Gueriller*s der FARC verkleidet die Statistik über die Aufstandsbekämpfung aufzubessern (Pacheco Jiménez 2018). Aber auch die Friedensverhandlungen und -abkommen der 1980er und 1990er Jahre blieben im Ergebnis hinter den Ansprüchen zurück: So gab es als Resultat eines Friedensprozesses 1991 zwar eine neue Verfassung mit weitreichenden Minderheitenrechten, gleichzeitig wurden viele friedensrelevante Teile dieser neuen Verfassung nie umgesetzt. Ebenso führten die Friedensabkommen weder zu Frieden auf dem Land noch verhinderten sie die kontinuierliche und gezielte Ermordung linker Politiker*innen. So wurde die damals vielversprechende linke Partei Unión Patriótica (UP) in den 1980er und 1990er Jahren durch die Ermordung von zwei Präsidentschaftskandidaten, 13 Parlamentarier*innen, 70 Kongressabgeordneten, elf Bürgermeister*innen und 5.000 Partei-Mitgliedern buchstäblich begraben.

Das Friedensabkommen von 2016

Das 2016 von der FARC-EP und der Regierung unterzeichnete Friedensabkommen umfasste sechs Kapitel, die das Land und das politische System so verändern soll(t)en, dass die Ursachen der bewaffneten und organisierten Gewalt nachhaltig bekämpft werden: 1. integrale Landreform, 2. politische Partizipation, 3. Beendigung des bewaffneten Konflikts, 4. Bekämpfung des illegalen Drogenanbaus, 5. Anerkennung und Rechte der Opfer des Konflikts sowie Aufbau des »Integralen Systems für Wahrheit, Vergangenheitsaufarbeitung, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nicht-Wiederholung« (SIVJRNR)2 und 6. Umsetzung, Verifizierung und Abstimmung. Hiermit ist das Friedensabkommen gleichzeitig eine Revolution und auch wieder nicht: ja, weil es strukturverändernde und umverteilende Maßnahmen vorsieht; nein, da es sich in vielen Punkten lediglich um die Umsetzung der Verfassung von 1991 und die Anwendung bereits erlassener Gesetze handelt bzw. sich an diesen orientiert (wie dem »Gesetz für die Opfer des bewaffneten Konflikts« 1448 von 2011). Darüber hinaus muss das Friedensabkommen auch als Strategie verstanden werden, Investitionssicherheit zu schaffen und einem Verfahren durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) mit seinen deutlich höheren Strafen zuvorzukommen.3

Partizipation im Friedensprozess

Der Rahmen für die Partizipation im kolumbianischen Friedensprozess wird durch die Verfassung von 1991 und verschiedene nationale Gesetze und internationale Abkommen vorgegeben (Brett 2017). Die Partizipation sollte drei Zielen dienen: Erstens ging es einem Großteil der Zivilgesellschaft darum, dass Regierung und FARC-EP ihre historische Schuld ihr gegenüber begleichen und sie als historisch relevante Säule der Friedensförderung anerkennen. Diesem Diskurs stimmten beide Parteien zu, wenngleich es Differenzen hinsichtlich der Frage gab, wer aus dieser Zivilgesellschaft wie beteiligt werden sollte. Zweitens ging es der FARC darum, sich als alternative politische Kraft, die die Interessen der Zivilgesellschaft verteidigt, neu zu etablieren bzw. zu inszenieren. Drittens sollte eine breite Beteiligung die Legitimität des Friedensabkommens in der stark polarisierten Gesellschaft erhöhen und damit seine Umsetzung erleichtern.

Vor diesem Hintergrund gab es während der Friedensverhandlungen folgende Partizipationsmechanismen: Zunächst gab es eine Internetplattform, über die 9.306 Vorschläge zu den sechs Kapiteln der Verhandlungsagenda eingereicht wurden (Brett 2017, S. 12). Außerdem fanden verschiedene nationale und regionale Foren zu vier spezifischen Punkten statt: integrale Agrarreform, politische Partizipation, illegale Drogenökonomie und Anerkennung und Rechte der Opfer des Konflikts (ibid.). Zuletzt bekamen Vertreter*innen spezifischer Opfergruppen die Möglichkeit, in Havanna bei den beiden Parteien vorzusprechen und so das fünfte Kapitel (s.o.) zu beeinflussen.

Hierdurch wurde die vielerorts kritisierte passive Interpretation der »Opferrolle« in eine aktive, gestaltende Rolle umgedeutet und umgewandelt. Die bislang durch die Perspektive der bewaffneten Akteure geprägte Interpretation des Konflikts wurde in Frage gestellt, korrigiert, herausgefordert und angepasst. Die beiden Parteien mussten sich der Diskrepanz zwischen ihren politischen Ambitionen und den realen Auswirkungen ihrer Handlungen stellen. Auf nationaler Ebene war vor allem Letzteres für viele Betroffene ein symbolisch wichtiger Moment der Anerkennung, und auch international erfuhr dieser Schritt großen Zuspruch. Kritik kam hingegen sowohl von der dem Friedensabkommen ablehnend gegenüberstehenden Seite (ibid., S. 13), die vor allem die Einbeziehung des Militärs als Konfliktakteur ablehnte,4 als auch aus der dem Friedensabkommen eigentlich positiv gegenüberstehenden Zivilbevölkerung. Beispielsweise gab es Kritik hinsichtlich der Individualisierung und Entpolitisierung der Opfer und des Unterschlagens struktureller Diskriminierung als Einflussfaktoren auf die Konfliktbetroffenheit, unter der die ethnischen Bevölkerungsgruppen überproportional leiden.5

So kritisierten ethnische Organisationen, dass sie nicht nur als individuelle Opfer (Zwangsrekrutierte, Opfer sexueller Gewalt, Angehörige von Verschwundenen, Minenopfer) angehört werden müssten, sondern auch als Gemeinden, deren kulturelle, soziale, wirtschaftliche, politische und physische Rechte durch den Konflikt eingeschränkt oder untergraben wurden. Neben individuellen Traumata, die sich auf das Gemeindegefüge auswirken, oder den Landminen, die sich auf die Arbeitsleistung und die Handlungsfähigkeit von Gemeinden auswirken, gibt es auch kulturspezifische, kollektive Betroffenheiten durch den bewaffneten Konflikt, zum Beispiel, wenn nomadische Völker ihre traditionellen Wanderrouten aufgrund bewaffneter Auseinandersetzungen einschränken müssen, was sich negativ auf Gesundheit, kulturelle Traditionen, Geburtsraten und Kindersterblichkeit auswirkt (Interview vom 17.3.2018). Oder wenn durch die Ermordung von spirituellen Führungspersonen und kulturell-politischen Autoritäten das kollektive Gedächtnis der Gemeinde vernichtet wird, was sich neben der kollektiven Identität auch auf die medizinische Versorgung und die politische Organisation der Gemeinden auswirkt. Dies spiegelt sich darin wider, dass durch den bewaffneten Konflikt 39 indigene Völker vom Aussterben bedroht sind (CEJIDI 2018).

Aber nicht nur ihre kollektive Betroffenheit müsse anerkannt werden, sondern auch ihr Recht auf eine ethnisch sensible Gestaltung und Umsetzung des Friedensabkommens gemäß ihren Praktiken und Bräuchen (nach ILO-Konvention 169, siehe Comisión Étnica 2016). Zudem befürchteten sie, dass der Friedensvertrag auf dem Rücken der ethnischen Bevölkerung ausgetragen würde (beispielweise durch die integrale Landreform6 oder die Zonen zur Demobilisierung und Wiedereingliederung der FARC-EP).7 Kurz gesagt: Die ethnischen Organisationen forderten, als kollektive Opfer und als Friedenskonstrukteur*innen anerkannt und aktiv am Friedensprozess und seiner Umsetzung beteiligt zu werden.

Dies machte einen Konflikt hinsichtlich der Spielregeln der Partizipation sichtbar, die die staatlichen Verhandlungspartner vorgaben: Sie hatten eine individualistische und liberale Partizipation im Sinn, keine strukturelle. Partizipation ist aber nicht von einer Einladung abhängig, sondern kann auch eingefordert werden. Nach entsprechendem Lobbying bei Schlüsselakteuren (im US-Kongress, bei den Vereinten Nationen und bei der kubanischen Regierung) und inoffiziellen Gesprächen mit den Verhandlungspartner*innen erreichten die Vertreter*innen ethnischer Organisationen kurz vor Unterzeichnung des Friedensabkommens die Aufnahme des ethnischen Kapitels (Kapitel 6.2) (Comisión Étnica 2016).

Als letztes Element der Partizipation an den Friedenverhandlungen muss auch die Abstimmung über das Friedensabkommen genannt werden. Entgegen der FARC-Präferenz einer Kongressabstimmung ließ die Regierung die Gesamtbevölkerung am 2.10.2016 über das Friedensabkommen entscheiden: 37,43 % der Bevölkerung nahmen am Plebiszit teil, 50,21 % stimmten gegen und 49,78 % für die Umsetzung. Nach einigen Anpassungen wurde das Friedenabkommen schließlich doch vom Kongress abgesegnet, und die Implementierungsphase konnte beginnen (Londoño 2018).

Das ethnische Kapitel

Kapitel 6.2 schreibt eine transversale Berücksichtigung ethnischer Belange bei der Umsetzung aller sechs Kapitel des Friedensabkommens vor, vergleichbar mit dem im Friedensabkommen festgehaltenen gendersensiblen Fokus (mehr dazu in Londoño 2018). Darüber hinaus sieht es Schutzmaßnahmen für spezifische Gemeinden vor, beispielsweise die Rückführung vertriebener und vom Aussterben bedrohter Gemeinden, aber auch die staatliche Anerkennung, Legalisierung und Förderung gemeindebasierter Schutzmaßnahmen, wie die »Guardias«. Ebenso wurde in Kapitel 6.2 der Aufbau einer »Hohen Sonderinstanz für ethnische Völker« (IEANPE) vereinbart, die aus Vertreter*innen der ethnischen Organisationen besteht. Diese soll die Kommission zur Überprüfung des Abkommens (CSIVI) beraten und die Implementierung überprüfen. Hiermit existiert auch in der Umsetzung ein Element der kollektiven zivilgesellschaftlichen Partizipation.

Mit Beginn der Implementierung wurden jedoch unterschiedliche Interpretationsrahmen deutlich: Während für die Regierung und die FARC die aktive Partizipation der ethnischen Gemeinden mit der formalen Einbeziehung des ethnischen Kapitels und der Gründung der IEANPE abgeschlossen war, beharrte die IEANPE auf ihrem Mitspracherecht auch bei der ethnisch sensiblen Gestaltung des zentralen Implementierungsplans.8 Schließlich wurden 37 Ziel- und 98 Monitoringindikatoren für das ethnische Kapitel in den Implementierungsplan aufgenommen – ohne jedoch ein Budget hierfür festzulegen. In den verschiedenen Instanzen des SIVJRNR wurde die ethnische Partizipation zunächst durch die Einbindung von ethnischem Personal gesichert und Ende 2018 nach Konsultationen mit indigenen und afrokolumbianischen Organisationen auf nationaler Ebene abgeschlossen (Comisión Étnica 2018, S. 57-58). Hierauf aufbauend werden nun ethnisch sensible und gemeindebasierte Implementierungsstrategien entwickelt.

Nach dem Friedensabkommen

Parallel zu den Erfolgen bei der ethnischen Partizipation in den Postkonfliktinstitutionen dürfen die Rückschritte nicht verschwiegen werden, durch die das Risiko entsteht, ebendiese Inklusion und Teilhabe ad absurdum zu führen. So wurden zwischen 2016 und 2018 bzw. seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens 533 soziale Aktivist*innen ermordet (Cumbre Agraria et al. 2018, S. 7). Im Schatten des internationalen Lobs für das Abkommen scheint sich das Phänomen aus den 1980er Jahren zu wiederholen: die Auslöschung oppositioneller Politiker*innen und Aktivist*innen – viele von ihnen Repräsentant*innen ethnischer Gemeinden.9 Die Morde müssen im Kontext von vier Aspekten des Friedensabkommens gesehen werden: 1. der Landreform, die u.a. die Formalisierung von Landtiteln vorsieht, 2. dem Recht auf Rückkehr und Wiedergutmachung für Vertriebene, 3. der historischen Aufklärung, die nur mit Zeug*innen geschehen kann, und 4. den »Entwicklungsprogrammen mit territorialer Perspektive« (PDET), die in Zusammenarbeit mit den Gemeinden geplant werden. Ein weiterer Grund für die Morde sind die Regionalwahlen in diesem Jahr, bei denen viele Aktivist*innen antreten und sich für die Umsetzung des Abkommens und einen realen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wandel einsetzen werden, der auch finanzielle und strafrechtliche Folgen für die nationalen Eliten und internationalen Akteure haben könnte, die bislang von der Gewalt und Straflosigkeit profitiert haben.

Mit der Kongress- und Präsidentschaftswahl fand 2018 ein Kurswechsel im Friedensprozess statt: Zwar zogen – bedingt durch Kapitel 2 des Friedensabkommens (politische Partizipation) – nun fünf FARC-Abgeordnete in den Senat ein, allerdings erhielt der Block, der das Friedensabkommen ablehnt, im Senat und Repräsentantenhaus die absolute Mehrheit. Der Wahlsieger, der rechtskonservative Präsident Ivan Duque,10 begann, die Umsetzung des Friedensabkommens durch eine konfrontative Rhetorik und Praxis abzulösen: Das »Ministerium für den Postkonflikt« wurde in »Ministerium für die Stabilisierung« umbenannt und die Übergangsjustiz, die bereits vom Verfassungsgericht geprüft und abgesegnet worden war, wird mit allen Mitteln blockiert. Damit wird das ohnehin labile Friedensabkommen weiter geschwächt.

Hoffnung durch mehr Partizipation?

Es bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen das Friedensabkommen und seine partizipativen Maßnahmen langfristig auf die Struktur und das politische Klima des Landes haben werden. Die Partizipationsmaßnahmen sind zwar zahlreich und vielseitig, sie bergen aber auch Risiken. So fand durch die Volksabstimmung auch eine Partizipation der Zivilbevölkerung statt, deren moralische Legitimation durchaus fragwürdig ist: Wenn Partizipation als eine (direkte) Demokratisierung politischer Entscheidungsprozesse verstanden wird, wie demokratisch ist es, über Frieden (Leben) und Fortsetzung des Krieges (Tod) abstimmen zu lassen? Die Debatten um ethnische Partizipation und ihre (nur mangelhafte und widerspenstige) Umsetzung machen überdies die Kolonialität sichtbar, die der kolumbianischen Politik und Wirtschaft im Ganzen – und damit auch dem Friedensabkommen, der Geschichtsschreibung und Vergangenheitsaufarbeitung – noch immer innewohnt.11

Auf der anderen Seite haben die Partizipationsmaßnahmen und strukturellen Veränderungen den ethnischen Gemeinden, linken Oppositionellen, Friedensbefürworter*innen sowie Cis-Frauen und LGBTQI*-Personen Wege in die Institutionen und politischen Debatten geöffnet, die sie nun einfordern und wahrnehmen, in denen sie auf Augenhöhe debattieren und sich hör- und sichtbar machen. Dies stellt nicht nur den hegemonialen Diskurs in Frage, sondern auch das nationale Selbstbild, das gerne die Existenz der nicht-weißen, nicht-urbanen und nicht-heteronormativen Sektoren verdrängt.

Dies sind manchmal schwierige, konfliktive Wege, bei denen auch anerkannte, weiße, männliche, akademische, friedenspolitische Intellektuelle damit konfrontiert werden, dass ihre gut gemeinte Wahrheit nicht die einzige ist, sondern sich einfinden muss in einen breiteren Kanon. Es sind aber auch Wege, in denen sich friedenspolitische Sektoren über gruppenspezifische, politische, und räumliche Grenzen hinweg zusammentun und Brücken bauen. Dies zeigt sich in der breiten Mobilisierung in der Minga,12 dem Nationalstreik und der Aktion »Humanitäre Flucht«, die ihre Forderungen nach Einhaltung des Friedensabkommens und dem Ende der Gewalt in die Hauptstadt tragen.

Anmerkungen

1) Für eine Einführung in den bewaffneten Konflikt ab den 1960er Jahren und den Friedensvertrag siehe Schwarz und Huck 2018.

2) Das SIVJRNR besteht aus der Übergangsjustiz (JEP), der Wahrheitskommission für Vergangenheitsaufarbeitung (CEV) und der Einheit für die Suche nach Verschwundenen (UBPD) sowie Mechanismen für die individuelle und kollektive Wiedergutmachung.

3) Kolumbien unterzeichnete 2002 das Rom-Statut des IStGH. Aktuell liegen dem IStGH fünf Fälle zu Kolumbien vor, die angesichts des Inkrafttretens der Übergangsjustiz vorerst suspendiert sind.

4) In der Vergangenheit wurde die Verantwortlichkeit des Militärs für Menschenrechtsverbrechen und die von Dritten (Politiker*innen und Konzerne, wie Coca-Cola, Chiquita etc., als Auftraggeber*innen von paramilitärischer Gewalt) kategorisch ausgeschlossen.

5) Als ethnische Bevölkerung sind 102 indigene Völker (knapp 4 % der Bevölkerung), Afrokolumbianer*innen, Raizal und Palenquero (zwischen 10-20 %) sowie Roma (0,01 %) anerkannt. Die ethnische Bevölkerung, die auf dem Land die Hälfte der Bevölkerung stellt, ist stärker als die nicht-ethnische Bevölkerung vom bewaffneten Konflikt betroffen. So ist die Gefahr für indigene Kinder 674 mal höher, zwangsrekrutiert oder Opfer des Konflikts zu werden (Dulce Romero 2019).

6) Die Landreform sieht neben gemeindebasierten Entwicklungsansätzen auch einen Vormarsch der Agrarindustrie vor. Der Bergbau beeinträchtigt schon jetzt die Gesundheit der afrokolumbianischen und indigenen Bevölkerung, die von den mittlerweile kontaminierten Flüssen leben. Für ethnische Gemeinden sind Bergketten, Lagunen, Flüsse und feuchte Hochlandsteppen überdies spirituelle Orte, die Leben produzieren und daher nicht ausgebeutet werden dürfen. Dadurch gibt es grundsätzliche Interessenkonflikte mit FARC-EP/Regierung und Wirtschaftseliten, die die Natur als ein Produktionsgut sehen, dessen primäre Funktion es ist, die Wirtschaft auf dem Land anzukurbeln.

7) Die Demobilisierungs- und Wiedereingliederungszonen der FARC wurden ohne Zustimmung ethnischer Gemeinden (nach ILO-Konvention 169) auf ethnischen oder angrenzenden Terroritorien angesiedelt. Dies führt(e) vielerorts zu Konflikten, Unsicherheit und steigender Gewalt (Comisión Étnica 2018, S. 47 f.).

8) Die Regierungen sind laut Oberstem Gerichtshof dazu verpflichtet, sich für die Erstellung der nationalen Entwicklungspläne bis zum Jahr 2031 am Implementierungsplan zu orientieren.

9) Allein seit Beginn der Amtszeit des Präsidenten Duque (zwischen August 2018 und Februar 2019) wurden 53 indigene Aktivist*innen ermordet (ONIC 2019, o.S.).

10) Duque ist Zögling des Ex-Präsidenten Alvaro Uribe Vélez, gegen den 2018 28 Strafverfahren am obersten Gerichtshof anhängig waren (RCN Radio 2019).

11) So war beispielsweise nur eine der acht von den Konfliktparteien berufenen Expert*innen zu den Ursachen des Konflikts weiblich, und es gab keine*n ethnische*n Expert*in.

12) Siehe »Die Minga aus den Anden« von Tambaco Díaz und Sempértegui auf S. 17 in diesem Heft.

Literatur

Brett, R. (2017): La Voz de Las Víctimas En Una Negociació – Sistematización de Una Experiencia. Programa de las Naciones Unidas para el Desarrollo – PNUD, S. 120.

Centro por la Justicia y el Derecho Internacional/CEJIDI (2018): Riesgo de extinción de pueblos indígenas de Colombia queda evidenciado ante la CIDH. 11.5.2018; cejil.org/es.

Comisión Étnica (2016): Comunicado 003. Organización Nacional Indígena de Colombia, Comunicados ONIC, 24.8.2016.

Comisión Étnica (2018): 1 Informe de cumplimiento del capítulo étnico en el marco de la implementación del acuerdo final de paz entre el gobierno y las Farc-EP.

Cumbre Agraria; Marcha Patriotica; INDEPAZ (Hrsg) (2018): Todos los nombres, todos los rostros – Informe de derechos humanos sobre la situación de líderes/as y defensores de derechos humanos en los territorios. Separata de actualización. 19.11.2018; onic.org.co.

Dulce Romero, L. (2019): Afros, indígenas y pueblo rom, en la lucha por contar la verdad invisible. El Espectador, 23.2.2019; colombia2020.elespectador.com.

Organización Nacional Indígena de Colombia/ONIC (2019): Todos somos ONIC – Frente a las amenazas, los asesinatos y despojo, la palabra y movilización por la vida. 23.2.2019; onic.org.co.

Londoño, A. (2018): »Gender-Ideologie« in Kolumbien – Oder: Wie man Ängste schürt, um den Frieden zu behindern. W&F 3-2018, S. 21-24.

López Montaño, C. (2019): Asesinatos de líderes sociales: ¿por qué? Las 2 orillas, 19.3.2019; las2orillas.co.

Pacheco Jiménez, S. (2018): La real dimensión de las ejecuciones extrajudiciales en Colombia. El Espectador, 27.7.2018; colombia2020.­elespectador.com/.

RCN Radio (2019): Corte Suprema adelanta 28 procesos contra Álvaro Uribe. 20.2.2018. rcnradio.com.

Redacción Judicial (2019): Exterminio de la UP, crimen de lesa humanidad. El Espectador, 20.10.2014; elespectador.com.

Schwarz, C.; Huck, A. (2018): Kolumbien. In: Bundeszentrale für politische Bildung: Innerstaatliche Konflikte. Dossier, 27.3.2018; bpb.de.

María Cárdenas, Redaktionsmitglied bei W&F seit 2012, promoviert seit 2017 am Graduate Center for the Study of Culture der Universität Gießen zu Fragen der inter-ethnischen Kooperation und Partizipation im kolumbianischen Friedensprozess und bei seiner Implementierung.

Extraktivismus und Widerstand in Lateinamerika

Extraktivismus und Widerstand in Lateinamerika

Workshop am GCSC, Gießen, 26.-28. Juni 2018

von Richard Herzog

Der Workshop »Logics of Extractive Occupation and Collective Action in Latin America« wurde vom International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) Gießen gefördert und von María Cárdenas, Richard Herzog und Andrea Sempértegui organisiert. Der zweitägige Workshop bot eine gute Gelegenheit, über die Ausbreitung extraktiver Projekte und Praktiken, d.h. die (häufig auf Raubbau basierende) Gewinnung und den Export von Rohstoffen, in Lateinamerika zu diskutieren. Die interaktive und offene Atmosphäre war dem Erfahrungsaustausch förderlich. Eine zentrale Frage zog sich durch mehrere der Vorträge und Diskussionen: Inwieweit ist Frieden in zunehmend extraktivistischen Gesellschaften überhaupt möglich? Und um wessen Friedensverständnis handelt es sich dabei, und wer wird ausgeklammert?

Indigener Widerstand, damals und heute

Der Workshop befasste sich mit mehreren Regionen, mit einem Schwerpunkt auf Kolumbien, Ecuador und Mexiko, und untersuchte die Zeitspanne von der Kolonialzeit bis heute. Dr. Antje Gunsenheimer (Universität Bonn) diskutierte in ihrem Vortrag Maya-Gesellschaften in Yucatán, Mexiko, in der Kolonialzeit und der frühen Unabhängigkeitsperiode. Die spanische Kolonialregierung nutzte unterschiedliche Methoden, um indigene Bevölkerungen und ihre Arbeitsweisen zu kontrollieren. Oft vergessen wir, dass die Wurzeln extraktivistischer Gewaltszenarien in Lateinamerika bis zu den ersten spanischen Expeditionen im 15. Jahrhundert zurückreichen. Aber auch indigener Widerstand gegen die teils brutalen kolonialen Strategien zeigt sich in Yucatán – wie in anderen Regionen – von der Kolonialzeit über die Kastenkriege des 19. Jahrhunderts bis hin zum aktuellen Aktivismus.

Der Einfluss von Extraktivismus auf indigene Gruppen war auch der Fokus einer von zwei Skype-Konferenzen mit den Aktivist*innen Mallu Muniz (Minka Urbana Ecuador) und Kati Betancourt (Confederation of Ecuadorian Indigenous Nationalities). Sie beschrieben, dass ländlicher Widerstand gegen Extraktivismus in Ecuador oft von Indigenen – insbesondere von indigenen Frauen – getragen wird, die allerdings auf städtische Unterstützung angewiesen sind. Auch die Zerstörung der Regenwälder wurde hervorgehoben, durch die indigene Bezüge zur Natur zerbrechen – ebenfalls ein zentrales Problem in Kolumbien.

Konflikt, Post-Konflikt und Extraktivismus

Die kolumbianische Amazonas-Region wurde von Prof. Dr. Ernst Halbmayr (Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg) thematisiert. Es ging unter anderem um die Konsequenzen von Gewalt und Naturzerstörung durch staatliche und nicht-staatliche Akteure für indigene Gruppen, wie die Yukpa und die Barí. Extraktivismus zur Produktion von Palmöl und Drogen oder auch durch Viehwirtschaft kann auf jeweils sehr unterschiedliche Weise negative Konsequenzen haben. Zugleich waren indigene Menschen nicht in den jüngsten kolumbianischen Friedensprozess eingebunden, obwohl sie dazu seit 1991 berechtigt sind. Hier zeigt sich klar der Kontrast zwischen gesetzlichen Rechten und ihrer tatsächlichen Umsetzung in lateinamerikanischen Friedensprozessen.

Der Frieden in Kolumbien war auch ein Fokus der zweiten Skype-Konferenz mit dem Aktivisten Marino Córdoba (AFRODES). Er hob die Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Friedensabkommens von 2016 in einem weiterhin umkämpften Gebiet, dessen Rohstoffe von multinationalen Konzernen ausgebeutet werden, hervor. Betroffene indigene und afro-kolumbianische Gemeinden bleiben dabei größtenteils außen vor. Hinzu kommen regelmäßige Menschenrechtsverstöße, die organisierten Widerstand entscheidend erschweren.

Dr. Alke Jenns (Universität Freiburg) referierte über den Altillanura Masterplan (2012-2036) in Kolumbien. Laut ihr wird das Friedensabkommen dazu genutzt, die Ausbreitung extraktivistischer Projekte zu legitimieren. In diesem Fall sind besonders vormals von der FARC-Rebellengruppe kontrollierte Gebiete betroffen. Frieden wird dabei diskursiv mit Investitionsmöglichkeiten für internationales Kapital verknüpft. Diese Maßnahmen laufen wiederum indigenen Rechten über traditionelle Gemeindeterritorien zuwider.

Resümee

Die transzdisziplinäre Auslegung des Workshops konnte neue Perspektiven eröffnen. Um auf die eingangs gestellten Fragen zurückzukommen: In mehreren Diskussionen wurde die Verbindung von Extraktivismus, Friedensprozessen und der Ausgrenzung bestimmter Gruppen, deren Rechte staatlichen Interessen nicht entsprechen, betont. Besonders klar zeigte sich dies am Beispiel des kolumbianischen Friedensprozesses und dessen Exklusion afro-kolumbianischer und indigener Gemeinden. Außerdem wurde deutlich, wie solche aktuellen Entwicklungen oftmals auf historischen Prozessen von Landübernahme und Widerstand gegen diese aufbauen – sei es bei den yukatekischen Kastenkriegen oder bei der brutal durchgesetzten Kautschuk-Gewinnung im Amazonasgebiet des 19. Jahrhunderts.

In der abschließenden Podiumsdiskussion zwischen Teilnehmer*innen und Organisator*innen wurden auch Fragen nach einer engagierten Wissenschaft und nach möglichen Alternativen zum Extraktivismus aufgegriffen. Von den lateinamerikanischen Aktivist*innen wurde die Wichtigkeit einer stärkeren Verknüpfung von Aktivismus und akademischer Befassung mit dem Thema hervorgehoben. Diese Verknüpfung wurde von den Teilnehmer*innen bekräftigt und war letztlich ein wichtiger Bestandteil der Veranstaltung. Mit Blick auf die Zukunft wurden die Suche nach alternativen Besteuerungsmodellen in Lateinamerika wie auch die Wirksamkeit von Widerstand gegen Extraktivismus auf lokaler Ebene angesprochen. Die Veranstaltung endete angesichts bereits vorhandener politischer und wirtschaftlicher Opposition mit einem optimistischen Verweis auf Solidaritäts-Netzwerke.

Richard Herzog

„Dieser Körper gehört mir!“


„Dieser Körper gehört mir!“

Der Kampf gegen Feminizid in Guatemala

von Jana Hornberger

Die Ermordung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts – Feminizid – ist auch in Guatemala ein großes Problem. Das zentralamerikanische Land gehört mit El Salvador und Jamaika zu den Ländern mit den höchsten Feminizidraten weltweit. Die Ursprünge frauenfeindlicher Gewalt reichen bis in die Kolonialzeit zurück, in der sich eine patriarchale und rassistische Gesellschaftsstruktur herausbildete. Diese begünstigte den Genozid an der indigenen Bevölkerung während des internen bewaffneten Konflikts (1961-1996) sowie Akte des Feminizides als Strategie der Kriegsführung. In den letzten Jahren wandten sich immer mehr Frauen an die Öffentlichkeit, um das Schweigen zu brechen und zu zeigen, dass sie selbst über ihren Körper bestimmen.

Der Song »Ni una menos« der guatemaltekischen Hip-Hop-Künstlerin Rebecca Lane beginnt mit folgenden Zeilen:

“Quisiera tener cosas dulces que escribir /pero tengo que decidir y me decido por la rabia / 5 mujeres hoy han sido asesinadas y a la hora por lo menos 20 mujeres violadas / eso que solo es un día en Guatemala /multiplícalo y sabrás porqué estamos enojadas.” – „Ich würde gerne über schöne Dinge schreiben, aber ich muss sagen, dass ich mich für die Wut entscheide. Allein heute wurden fünf Frauen ermordet und mindestens 20 vergewaltigt, so etwas geschieht in Guatemala an einem einzigen Tag. Multipliziere diese Zahl und du weißt, warum wir wütend sind.“

Der Song trägt den Namen der im Jahre 2015 in Argentinien initiierten Bewegung »Ni una menos« (Nicht eine weniger), die sich gegen sexuelle Gewalt und Feminizide wendet. Die Bewegung erlangte schnell in ganz Lateinamerika eine wichtige Bedeutung. Sie hat vor allem Frauen mobilisiert sowie eine breite Öffentlichkeit für die Thematik geschlechtsspezifischer Gewalt in Lateinamerika sensibilisiert. International bekannt wurde das Phänomen im Zusammenhang mit der mexikanischen Stadt Ciudad Juaréz in den 1990er Jahren. Die Grenzstadt symbolisierte einen Ort des Schreckens. Gefolterte und vergewaltigte Frauen, deren Leichen außerhalb der Stadt abgelegt wurden, waren und sind traurige Realität. Die Täter werden meist nicht gefunden oder bestraft. Eine ernsthafte Suche nach den Straftätern findet jedoch auch nur selten statt.

Sowohl im deutschen wie im spanischen Sprachgebrauch existieren die Begriffe Feminizid sowie Femizid (spanisch feminicidio/femicidio). Beide Begriffe meinen die gezielte Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechtes. Die Täter sind in der Regel Männer. »Femizid« meint die konkrete Gewaltausübung und Tötung einer Frau, während »Feminizid« die gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen miteinschließt, die solch eine Tat mitbegünstigen. Frauen in Lateinamerika sind nicht nur besonders stark von politischer und ökonomischer Exklusion und Diskriminierung betroffen, sondern auch von sexueller Ausbeutung und Gewalt. Alle 31 Stunden stirbt in Lateinamerika eine Frau durch die Schläge eines Mannes, in der Regel eines Mannes aus dem engeren sozialen Umfeld (Arte 2015). Statistiken der Weltgesundheitsorganisation zufolge ist sexuelle Gewalt an Frauen in Lateinamerika weitgehend unabhängig vom Einkommen, von der sozialen Schicht und vom Bildungsniveau (WHO 2017). Sie ist Teil einer machistischen und patriarchalen Gesellschaftsstruktur, die tiefe historische und kulturelle Wurzeln hat.

In ihrer Anthologie »Femicide – the politics of woman killing« aus dem Jahre 1992 definieren die beiden US-amerikanischen Soziologinnen Diana Russel und Jil Radford Feminzid als eine Form der sexuellen Gewalt gegen Frauen, welche in der gezielten Vergewaltigung und Ermordung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts in Erscheinung tritt und eine tiefverankerte frauenfeindliche Haltung der Täter impliziert (Russel/Radford 1992). Außerdem weist der Begriff auf eine strukturelle Diskriminierung, Marginalisierung und Unterordnung von Frauen innerhalb eines Gesellschaftssystems hin, das zutiefst patriarchal geprägt ist. Die mexikanische Feministin und Anthropologin Marcela Lagarde hat dieses Verständnis für den lateinamerikanischen Kontext angepasst: Der Staat ist oftmals Komplize dieser Verbrechen, da schwache institutionelle Strukturen, fehlende Rechtsstaatlichkeit und Strafverfolgung sowie patriarchale und machistische Gesellschaftsstrukturen die Tötungen und Vergewaltigungen dulden, rechtfertigen und mitbegünstigen. »Feminicidio« ist somit ein Staatsverbrechen und damit auch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit (ECAP 2011, S. 189).

Feminizid in Guatemala – historische Ursprünge

In Guatemala sind Frauenmorde sowie sexuelle Gewalt gegen Frauen nur im Zusammenhang mit der Geschichte des Landes zu verstehen. So war die Gesellschaft der Kolonialzeit durch einen tief verankerten Rassismus und Machismus geprägt, welcher vor allen in einem männlichen Überlegenheitsgefühl der Mestizen gegenüber den Nachfahren der Maya-Bevölkerung in Erscheinung trat und sich bis heute fortsetzt. So bildete sich eine patriarchale und rassistische Gesellschaftsstruktur heraus, die mitunter den Genozid an der indigenen Bevölkerung der 1980er Jahre begünstigte. Während des 36-jährigen internen bewaffneten Konflikts (1961-1996) waren sexuelle Gewalt gegen Frauen sowie das gezielte Ermorden von Frauen Teil einer militärischen Strategie der Kriegsführung (Casaús 2010, S. 5).

Durch die Kolonialisierung entstand eine Gesellschaftsstruktur, in der Großgrundbesitz und ethnische Zugehörigkeit die beiden wichtigsten Kriterien sozialer Differenzierung darstellen. Diese prägen weiterhin die guatemaltekische Sozialstruktur. In der Kolonie standen auf oberster Ebene der gesellschaftlichen Hierachie die so gennanten »pensinsulares«, aus Spanien stammende Männer. Danach folgten bereits in der Kolonie geborene Spanier (Kreolen). An dritter Stelle folgten die gemeinsamen Nachfahren der Spanier mit indigenen Frauen, in der Regel die Folge gewaltsamer sexueller Beziehungen und Vergewaltigungen (Brunner/Dietrich/Kaller 1993, S. 28). Angehörige der mestizischen Bevölkerung werden in Guatemala als »Ladinos« bezeichnet. An unterster gesellschaftlicher Stelle standen und stehen die »Indígenas«, die Nachfahren der Maya-Bevölkerung.

Das Fundament der guatemaltekischen Besitz-und Machtverhältnisse bildet somit die Trennung zwischen einer Elite, die sich als »zivilisiert, gebildet und weiß« definiert, sowie der indigenen Bevölkerung, die als »unzivilisiert, ungebildet, schmutzig und nicht-weiß« gilt. Laut der guatemaltekischen Soziologin Marta Elena Casaús Arzú tradierte sich der Rassismus gegenüber der indigenen Bevölkerung mit der Herausbildung des Nationalstaates und hatte somit eine konstituierende Rolle für das Selbstverständnis der Ladinos, die heute die guatemaltekische Elite stellen (Casaús 2010, S. 257). Innerhalb dieser Elite bestand die Rolle und Funktion der Frauen u.a. in der Aufrechterhaltung der elitären familiären Allianzen, denn durch die Heirat mit Frauen aus angesehenen spanischen Familien wurde der exklusive Kreislauf aufrechterhalten. Nach wie vor ist ein Großteil des Landbesitzes und des Kapitals in den Händen einer kleinen ladinischen Oligarchie, die sich auch in der politischen und militärischen Elite wiederfindet.

Sexuelle Gewalt als Strategie der Kriegsführung

Sexuelle Gewalt und die gezielte Ermordung von Frauen waren während des internen bewaffneten Konflikts Teil der Kriegsführungsstrategie. Die Studie »Tejidos que lleva el alma« des psychosozialen Zentrums ECAP aus Guatemala Stadt zeigt auf, dass während des Krieges ein Genozid an der indigenen Maya-Bevölkerung und in diesem Kontext ein Feminizid an vowiegend indigenen Frauen stattfand (ECAP 2011). 1 Der Genzid wurde auch im Abschlussbericht der Kommission zur historischen Aufklärung (Comisión del Esclarecimiento Histórico) bestätigt (CEH 1999).

Ein Großteil dieser Verbrechen fand zwischen 1968 und 1985 statt, während der Herrschaft der Diktatoren Lucas García (1978-1982) und Efraín Ríos Montt (1982-1983). Im Rahmen der »Politik der verbrannten Erde« (política de la tierra arrasada) wurden ganze Dörfer systematisch vernichtet und die Bewohner*innen auf grausame Art und Weise massakriert. Legitimiert wurde diese Aggression mit der Bekämpfung der Guerilla-Gruppen, die sich seit den 1960er Jahren vermehrt gegründet hatten. Da die Guerilla ihre Operationen und Aktivitäten überwiegend in den indigenen Gebieten des Landes durchführte, wurde die indigene Bevölkerung zum »internen Feind« erklärt und somit zur Zielscheibe der militärischen Aufstandsbekämpfung. Sie galt als Unterstützungsbasis der Guerilla, und diese sollte zerstört werden. In Guatemala wurde diese Strategie unter der Bezeichnung »quitarle el aqua al pez« (dem Fisch das Wasser entziehen) bekannt.

Neben der genozidalen Ermordung der indigenen Bevölkerung richtete sich die Gewalt des Staates gezielt gegen Frauen. Diese femizidale Dimension der Aufstandsbekämpfung wird, so die Studie von ECAP, allerdings bis dato in Analysen des Konflikts vernachlässigt. Ein Großteil der Maya-Frauen und -Mädchen erlebte damals sexuelle Gewalt. Viele wurden zuerst vergewaltigt und anschließend umgebracht. Frauen waren in der Kriegslogik ein Mittel zur Schwächung des Feindes: Sexuelle Gewalt gegen Frauen wurde vom Staat gezielt genutzt, um die biologische, soziale und kulturelle Reproduktion der Mayabevölkerung zu zerstören.

Feminizid in Guatemalas Gegenwart

Diese historischen Gewaltmuster durchziehen die guatemaltekische Gesellschaft bis heute. Die Kluft zwischen Stadt und Land ist enorm. Ein Großteil der indigenen Bevölkerung lebt in den ländlichen Gebieten des Landes, die oftmals mit einer schwachen Infrastruktur ausgestattet sind. Viele Frauen in Guatemala erleben alltäglich unterschiedliche Formen von Gewalt und Diskriminierung. Vor allem indigene Frauen leiden unter einer dreifachen Marginalisierung: weil sie Frauen, arm und indigen sind. Immer noch stehen sie an unterster Stelle hinsichtlich Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, ökonomischer Tätigkeit, politischer Partizipation und Schutz vor Gewalt und Tötung. Gewalt gegen Frauen findet meist im familiären Umfeld oder im Rahmen des organisierten Verbrechens statt. Sie ist gekennzeichnet durch das Nichteingreifen der Justiz, der Polizei und anderer Behörden.

Im Jahr 2008 wurde nach langem Bemühen von Frauenorganisationen und infolge eines interparlamentarischen Dialogs zwischen Guatemala, Mexiko und der EU das »Gesetz gegen Feminizid und andere Formen der Gewalt an Frauen« (ley contra el feminicidio y otras formas de violencia contra la mujer) verabschiedet. Seitdem ist Gewalt an Frauen in Guatemala ein eigener Strafbestand. Das Gesetz umfasst und definiert die unterschiedlichen Dimensionen von Gewalt an Frauen, wie Feminizid, Frauenfeindlichkeit, diskriminierende Machtverhältnisse sowie ökonomische, physische, psychische, emotionale und sexuelle Gewalt (Zirke 2011). Der Tatbestand Feminizid kann mit Haftstrafen bis zu 50 Jahren geahndet werden. Im Idealfall soll das Gesetz gegen den Feminizid die strafrechtliche Verfolgung der Täter erleichtern und damit die Straflosigkeit verringern. Doch obwohl es seit Inkrafttreten des Gesetzes zu vereinzelten Gerichtsprozessen zum Strafbestand des Feminizides gekommen ist, sind die Frauenmorde in Guatemala nicht weniger geworden.

Aktuell ist Guatemalas Justiz z.B. mit dem Brand in dem staatlichen Kinderheim »Hogar Seguro, Virgen de la Asunción« (Sicheres Heim Jungfrau Maria Himmelfahrt) befasst. Im Frühling 2017 geriet das Kinderheim in Brand, 40 junge Mädchen kamen dabei ums Leben. In der Einrichtung war es in der Vergangenheit vielfach zu sexuellem und physischem Missbrauch gekommen, auch der Vorwurf der erzwungenen Prostitution und des Menschenhandels wurde erhoben. Zur strafrechtlichen Verfolgung der Taten war es nur in den seltensten Fällen gekommen. Aktivist*innen mach(t)en immer wieder darauf aufmerksam, dass der Staat von den Vergewaltigungen wusste und sprachen von einem »Staatsverbrechen. Nun steht der Vorwurf einer gezielten Vertuschung im Raum (Lehr 2017).

Der Widerstand der Frauen

„Zählt uns, denn auf den Straßen sind wir Tausende. Von Mexiko bis Chile und auf dem ganzen Planeten. Auf den Beinen, um zu kämpfen, weil wir lebendig sein wollen. Wir haben keine Angst, wir wollen nicht noch eine weniger werden. Nennt mich ruhig verrückt, hysterisch und übertrieben, aber heute singe ich in meinem Namen und in dem meiner Schwestern. Beschuldigt uns nicht als gewaltsam, das nennt man Selbstverteidigung. Wir gehen in den Widerstand, wir sind nicht mehr wehrlos.“

Die schockierenden Ereignisse in dem Kinderheim waren ein Anlass für den Song »Ni una menos« von Rebeca Lane. Die Hip-Hop-Künstlerin spricht in ihrer Musik von ihren Erfahrungen als Frau in Guatemala. In ihren Texten verwebt sie Sozial- und Gesellschaftskritik mit der Aufforderung, sich gegen patriarchale und machistische Machtverhältnisse sowie gegen sexuelle Gewalt zur Wehr zu setzten. Gemeinsam mit anderen zentralamerikanischen Hip-Hop-Künstler*innen gründete sie das Kollektiv »Somos Guerreras« (Wir sind Kriegerinnen). Die Künstler*innen organisieren Räume für junge Frauen, um sich mittels Rap, Poesie oder kreativem Schreiben mit dem weiblichen Körper und den Folgen von Machismus auseinanderzusetzen.

Ein weiteres Beispiel für künstlerische Formen im Umgang mit der Thematik sind die Performances der Künstlerin Regina José Galindo. Hervorzuheben sind hier die beiden Performances »(279) Golpes« und »perras« aus dem Jahre 2005. In »(279) Golpes« (279 Schläge) war die Künstlerin in einem großen Würfel eingeschlossen und fügte sich insgesamt 279 Schläge zu – einen für jede Frau, die zwischen dem 1. Januar und dem 9. Juni 2005 in Guatemala ermordet worden war. Das Publikum konnte bei der Performance die Künstlerin nicht sehen, sondern lediglich die Schläge hören. In »perras« ritzte sie sich das Wort »perra« (Hündin, Schlampe, Hure) in den Oberschenkel, um an die Verstümmelung ermordeter Frauen zu erinnern, in deren Haut frauenfeindliche Worte geritzt waren. Galindos Arbeiten sind oft schockierend und drastisch.

Desweiteren gibt es in Guatemala viele Frauenorganisationen, die über die Thematik aufklären sowie Räume des Austauschs und der therapeutischen Unterstützung für Frauen schaffen. So begleitet beispielsweise das feministische Kollektiv »Actoras de Cambio« seit 2004 Überlebende sexueller Gewalt bei der Verarbeitung, der Genesung und der Rückgewinnung des eigenen Körpers. Die Frauen des Kollektivs organisieren Festivals für Frauen, um auf einer kollektiven Ebene einen kraftvollen und heilsamen Umgang mit den Erfahrungen zu schaffen. Mittels Kunst, Spiritualität und Austausch findet eine Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen von sexueller Gewalt und Feminizid statt.

Fazit

Die dargestellten Beispiele von guatemaltekischen Frauen, die sich für ein selbstbestimmtes Leben und einen selbstbestimmten Umgang mit ihrem Körper einsetzen, sind einige von vielen. Sie stehen stellvertretend für viele weitere mutige Frauen, die genug von Gewalt und Diskriminierung haben. Ich selbst habe 2012/13 in Guatemala als Freiwillige in einem internationalen Begleitprojekt gearbeitet und war beeindruckt von der Stärke und dem Willen vieler Guatemaltek*innen, einen kreativen und selbstbestimmten Umgang mit den Folgen der Gewalt des Krieges und der gegenwärtigen Situation zu finden.

Anmerkung

1) Die Studie dokumentiert zudem die therapeutische Arbeit mit indigenen Frauen, die sexuelle Gewalt im Bürgerkrieg überlebten.

Literatur

ARTE (2015): Gewalt gegen Frauen in Lateinamerika. 4.6.2015, arte.tv.

Brunner, M.; Dietrich, W.; Kaller, M. (1993): Projekt Guatemala – Vorder-und Hintergründe der österreichischen Wahrnehmung eines zentralamerikanischen Landes. Frankfurt: Brandes & Apsel.

Casaús Arzú, M.E. (2010): Guatemala – Linaje y Racismo. Guatemala Stadt: F&G Editores.

Commission for Historical Clarification (1999): Guatemala, Memory of Silence – Report of the Commission for Historical Clarification. Conclusions and Recommendations.

ECAP (2011): Tejidos que lleva el alma – Memoria de las mujeres mayas sobrevivientes de violación sexual durante el conflicto armado. Studie des psychosozialen Zentrums ECAP aus Guatemala Stadt; ecapguatemala.org.gt.

Lehr, C.C. (2017): Das war kein Unfall – Massive Proteste gegen die Regierung Guatemalas nach dem Brand in einem Kinderheim. Lateinamerika Nachrichten, Nr. 514, April 2017.

Russel, D.; Radford, J. (eds.) (1992): Femicide – The Politics of Woman Killing. New York: Twayne Publishers Inc.

World Health Organization (WHO) (2017): Violence against women – Key facts. who.int, 20.11.2017.

Zirke, L. (2011): Eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft. In: Frauenmorde in Zentralamerika und Mexiko. Dossier Nr. 3 der Lateinamerika Nachrichten.

Jana Hornberger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedensakademie Rheinland-Pfalz. Sie ist dort für die Erarbeitung eines Konzeptes zum Umgang mit den ehemaligen Westwall-Anlagen zuständig. Die letzten Jahre hat sie in Guatemala, Mexiko und Kolumbien zu Themen wie Erinnerungskultur und Vergangenheitsaufarbeitung gearbeitet.

»Gender-Ideologie« in Kolumbien


»Gender-Ideologie« in Kolumbien

Oder: Wie man Ängste schürt, um den Frieden zu behindern

von Alejandra Londoño

Am 2. Oktober 2016 wurde das Friedensabkommen in Kolumbien in einem Plebiszit mit knapper Mehrheit abgelehnt. Die Wähler*innen entschieden, dass der bewaffnete Konflikt mit der FARC-EP nicht über den Verhandlungsweg gelöst werden sollte – oder zumindest nicht mit dem zur Abstimmung stehenden Abkommen. Nach 55 Jahren Krieg war dieses Ergebnis sehr schmerzlich für alle, die sich für ein Ende dieses langen und bitteren Krieges engagiert hatten. Vor allem aber war es schmerzlich für die Menschen, die in den besonders marginalisierten Regionen des Landes tagtäglich unter diesem Krieg leiden. Dieser Beitrag untersucht, welchen Anteil die »Gender-Ideologie«, die von den Kirchen in den Mittelpunkt der Debatte um das Abkommen gestellt worden war, daran hatte, dass sich das »Nein« zum Friedenabkommen durchsetzte.

Kolumbien ist ein lateinamerikanisches Land mit ca. 48 Mio. Einwohner*innen. Es hat Zugang zum Atlantischen wie zum Pazifischen Ozean, was es im Verlauf der Geschichte immer wieder zu einem strategisch interessanten Ort für ökonomische und militärische Expansionen machte, u.a. aus Nordamerika. Seit dem kolonialen Genozid, der vom heutigen Spanien ausgegangen war, ist Kolumbien ein Raum konstanter Spannungen und Auseinandersetzungen, ein Ort, an dem sich Landbesitz, Reichtum und das Wissen in den Händen einiger weniger Familien und externer Konzerne befinden. In Kolumbien gibt es mindestens 102 indigene Völker1 sowie eine große Bevölkerungsgruppe, die von der afrikanischen Diaspora abstammt, also Nachfahren jener Menschen, die aus Afrika entführt worden waren, um auf diesem Kontinent versklavt zu werden.

Diese Fakten gehören an den Anfang, um aufzuzeigen, dass die Probleme, die in Kolumbien vorherrschen, durchwoben sind mit Themen, die weit in die Geschichte zurückreichen. Zugleich sind sie eng mit den aktuellen politischen und ökonomischen Strategien verknüpft und führen zu ethnischen und durch Rassismus geprägte Spannungen. Dies alles spiegelt sich in der Ausbreitung von politökonomischen Vorhaben wider, die vom andinen Zentrum des Landes ausgehen, welches mit der Hauptstadt Bogotá nicht nur politisch-administratives Zentrum, sondern selbst in den revolutionärsten Zeiten immer auch Zentrum des ideologischen Konservatismus und der katholischen Religion war und ist. Von hier breitete sich im 19. Jahrhundert über eine klientelistische Maschinerie, die von den immer gleichen Familien, den immer gleichen weißen bzw. mestizischen Gesichtern angeführt wurde, die Zwei-Parteien-Politik über das Land aus.

Seit über 55 Jahren leidet Kolumbien unter einem äußerst komplexen bewaffneten Konflikt, in dem es viele unterschiedliche Interessen gibt. Er ist geprägt durch die Spannungen, die der polit-ökonomische Zentralismus und die ethnischen und durch Rassismus geprägten Auseinandersetzungen mit sich bringen. Konfliktakteure sind verschiedene (linke) Guerillagruppen, (rechte) Paramilitärs, Unternehmer, multinationale Konzerne, staatliche Akteure, das Militär und die Streitkräfte sowie bewaffnete Milizen im Dienste des Drogenhandels. Zwischen 1958 und 2012 hat der Konflikt zwischen diesen Akteuren laut dem Nationalen Zentrum für Historische Erinnerung (Centro Nacional de Memoria Histórica) 218.094 Menschen das Leben gekostet.

Einer der bekanntesten Akteure dieses Konflikts sind die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, FARC-EP), ursprünglich eine Bauernguerrilla, die sich Mitte der 1960er Jahre entschied, zu den Waffen zu greifen, um u.a. eine Landreform durchzusetzen, die dem Landbedarf in Kolumbien gerecht würde. 2012 nahm die kolumbianische Regierung Friedensverhandlungen mit dieser Guerilla auf, die 2016 mit der Unterzeichnung eines Friedenvertrags abgeschlossen wurden.2

Die FARC-EP waren mehr als 50 Jahre in den urbanen und vor allem in den ruralen Regionen des Landes mit etwa 6.000 bewaffneten Männern und Frauen präsent.3 Die »Politik der demokratischen Sicherheit« des damaligen Präsidenten Álvaro Uribe Vélez (2002-2010) hatte u.a. zum Ziel, die FARC-EP als primären öffentlichen Feind der kolumbianischen Gesellschaft auszuweisen. Angesichts eines derart langandauernden Krieges war es leicht, Gewaltakte gegen die vor allem ländliche Zivilgesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen, um mit den Taten zugleich das gesamte politische Projekt dieses bewaffneten Akteurs zu delegitimieren.

Die Kampagne von Uribe Vélez gegen die FARC-EP brachte nicht nur eine weitere militärische Eskalation des Krieges mit sich, sondern es wurden verschiedene weitere Strategien eingesetzt: Aufbau und Expansion des (rechten) Paramilitarismus, »Fake news« bzw. Falschdarstellung von Informationen, u.a. durch Mundpropaganda zwischen Dörfern und auf dem Land, sowie die massenhafte Verbreitung von zwei zentralen Argumenten: Erstens sei die FARC-EP keine Guerilla, sondern eine terroristische Vereinigung, und zweitens bestünde die einzige Möglichkeit, den Krieg zu gewinnen, in der militärischen Vernichtung der FARC-EP und ihrer politischen Basis.

Diese Gesellschaft, von der bald ein Großteil überzeugt war, dass die einzige Lösung des Krieges die Vernichtung der FARC-EP sei, verfolgte 2012 in den Massenmedien, wie diese Guerilleros und Guerilleras weiß gekleidet und unbewaffnet vor den Fernsehkameras ihre politische Bereitschaft für ein Friedensabkommen verkündeten. Die Ablehnung einer solchen Lösung war in vielen Sektoren der Gesellschaft zu spüren, vor allem in den urbanen Zentren, die relativ wenig vom Krieg betroffen waren. Daneben gab es aber natürlich auch ein Kolumbien – vor allem das indigene, schwarze, ländliche und arme Kolumbien –, das nach Jahren des Leidens unter dem Krieg dieses Friedensabkommen zumindest als eine Möglichkeit ansah, nicht jede Nacht einen Bombenangriff in ihrer Nähe zu erleben.

Die Spannung zwischen Befürwortern und Gegnern begleitete den gesamten Friedensprozess und beschwor erneut die historischen, seit der Kolonialzeit bestehenden ethnischen und durch Rassismus geprägten Klassenkonflikte herauf, die sich in Kolumbien in immer unterschiedlichem Gewand, doch stets gleichem Inhalt manifestieren. Überdies spitzte sich eine spezielle Debatte zu: die Debatte um den so genannten Genderfokus im Friedensabkommen«.

Zwischen Genderfokus und »Gender-Ideologie«

Feministische und Frauenorganisationen hatten dafür gesorgt, dass in Kolumbien bei jedem einzelnen Punkt des Friedensabkommens ein transversaler Genderfokus berücksichtig wurde – das war weltweit ein Novum, dem international applaudiert wurde. Frauen und in einigen Punkten auch LGBTI (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle und Intersexuelle) sollten an solchen Entscheidungen beteiligt werden, bei denen es um Landbesitz geht, um politische Partizipation, um die Lösung der Probleme mit dem illegalen Drogenanbau etc. Außerdem sollten sie als besondere Opfer des bewaffneten Konflikts anerkannt werden, was eine symbolische und materielle Wiedergutmachung impliziert und anerkennt, dass Gender als Ordnungsmacht fundamental für den bewaffneten Konflikt war bzw. ist und spezifische Folgen für Frauen und LGBTI mit sich bringt.

Diese Anerkennung war Teil der Version des Friedensabkommens, die beim Plebiszit im Oktober 2016 zur Abstimmung stand; in der überarbeiteten Version, die Ende November 2016 schließlich vom Kongress verabschiedet wurde, fehlte dieser Teil überwiegend. Das Plebiszit war sehr kurzfristig anberaumt worden: Erst wenige Tage vor der Unterzeichnung des Friedensabkommens durch die Regierung und die FARC-EP hatte der amtierende Präsident Juan Manuel Santos entschieden, die Bevölkerung solle befragt werden und mit »Ja« dafür oder mit »Nein« dagegen stimmen können. Zur Bestürzung vieler Menschen und Gemeinden gewann am 2. Oktober 2016 mit einer knappen Mehrheit (50,21 %) das »Nein«, obendrein hatte nur gut ein Drittel der Abstimmungsberechtigten überhaupt ein Votum abgegeben. Nur die wenigsten der Wähler*innen hatten das Abkommen tatsächlich gelesen, stattdessen folgten viele den Empfehlungen der diversen Abstimmungskampagnen in den verschiedenen Regionen.

Am 4. Oktober 2016, zwei Tage nach der Wahl, wurden Aussagen von Juan Carlos Vélez (Rechtsaußenpolitiker und Direktor der »Nein«-Kampagne) bekannt, der sich damit brüstete, die »Nein«-Kampagne sei die einfachste und billigste gewesen, die jemals in der Geschichte Kolumbiens durchgeführt worden sei. Er bekannte ungeniert, dass sie auf manipulativen und falschen Aussagen beruht hatte, wie beispielsweise: Wenn das »Ja« gewinne, werde Kolumbien ein Castro-Chavistisches Land;4 den Guerillera*s würden 600 US$ ausbezahlt, nur weil sie bei der Guerilla waren; es werde eine Steuererhöhung geben; die Straflosigkeit werde erlaubt; und natürlich: Kolumbien würde eine »Gender-Ideologie« aufgezwungen.

Die »Nein«-Kampagne hatte es sehr einfach – sie brauchten lediglich ein paar Aussagen in die Welt zu setzen, die Panik in Teilen der kolumbianischen Gesellschaft schürten und bei dem eingangs beschriebenen, zentralistisch strukturierten Teil der Nation auf fruchtbaren Boden fielen. Dieser Bevölkerungsteil hatte sich seit Jahrhunderten über die »guten Manieren und die guten Lebenswege«, verkörpert durch die heterosexuelle katholische Kleinfamilie, definiert sowie über den Mythos des »Mestizaje« (der Mythos der Vermischung der Nationen), der jährlich am »Tag der Rasse« gefeiert wird – ein Vehikel, um den alltäglichen strukturellen und institutionellen Rassismus im Land zu übertünchen.

Dieser Teil des Landes sagte bei dem Plebiszit zum großen Teil »Nein« zu dem Friedensvertrag, während in den »peripheren« Regionen des Landes, wo der Krieg am meisten und härtesten gespürt wird, der Großteil der Menschen mit »Ja« stimmte. Gerade in diesen Regionen konnten jedoch viele Menschen gar nicht wählen gehen, weil der weiß-mestizische Zentralismus durch die strukturelle Verarmung in den ländlichen Regionen Rahmenbedingungen geschaffen hatte, die dies verhinderten. In der Pazifikre­gion Kolumbiens beispielsweise verfügen viele Menschen nicht über einen Personalausweis, der Voraussetzung zur Teilnahme an einer Wahl ist, konnten sich für das Plebiszit nicht registrieren oder konnten aufgrund mangelnder Infra­struktur und fehlenden Transportmöglichkeiten nicht zu den teils tagesweit entfernten Wahlurnen gelangen.

Für das »Nein« großer Bevölkerungsteile spielte also der Streit um die »Gender-Ideologie« eine wichtige Rolle. Aber was meinte die »Nein«-Kampagne mit diesem Begriff? Welche Mittel nutzte sie, um ihren Argumenten Gewicht zu verleihen? Was sagte sie über diejenigen, die für den Friedensprozess waren? Und welcher Logik folgte die »Linke«, die noch immer denkt, dass »diese Themen der Feminist*innen« zwar schon irgendwie wichtig sind, aber dennoch hintan gestellt werden könnten?

»Gender-Ideologie« als wirkmächtige Ressource der katholischen Kirche

Der Begriff »Gender-Ideologie« ist als diskursive Ressource zu verstehen, über die innerhalb der katholischen Kirche Konsens herrscht und die im 21. Jahrhundert an Bedeutung gewann. Im Dokument »Ehe, Familie und ‚faktische Lebensgemeinschaften‘« des Vatikan wird »Gender-Ideologie« so beschrieben: „[…] In diesem Prozeß kultureller und menschlicher Entstrukturalisierung der Ehe als Institution darf man die Auswirkung einer gewissen »Gender-Ideologie« nicht unterschätzen. Das Mann- oder Frausein sei grundsätzlich nicht geschlechts-, sondern kulturbedingt. Diese Ideologie höhlt die Fundamente der Familie und der zwischenmenschlichen Beziehung aus. […]“ (Päpstlicher Rat für die Familie 2000, Punkt 8)5

Die »Gender-Ideologie« ist ein mächtiger Mechanismus, der von der katholischen Kirche genutzt wird, um die traditionelle Familie als gesellschaftsstrukturierende Institution zu bewahren. In der heterosexuellen Familie liegt die Möglichkeit der Reproduktion, sie ist aber auch ein Raum, um Kontrolle auszuüben – ein Raum, der die kapitalistische Grundstruktur aufrechterhält, wie wir sie seit Jahrhunderten kennen. Die traditionelle Familie garantiert die christliche Ordnung sowie die Werte und Wahrheiten, die die Kirche vermittelt. In diesem Sinne birgt die »Gender-Ideologie« das Risiko, die Familie, die Ehe, die hegemonialen Erziehungsmodelle zu destabilisieren und so das Fundament der katholischen Kirche zum Wanken zu bringen. Vor diesem Hintergrund entstand in den letzten Jahren in Lateinamerika eine Welle der Empörung gegen die »Gender-Ideologie«.

Hinter der vermeintlichen »Gender-Ideologie«, die beim Plebiszit in Kolumbien zu so vielen »Nein«-Stimmen geführt hatte, vor der tagtäglich in den katholischen wie den evangelikalen Kirchen gewarnt worden war und die in den sozialen und den Massenmedien zu breiten Debatten geführt hatte, stehen im Kern die vermeintliche Bedrohung der Werte der heterosexuellen Kleinfamilie, die Anerkennung nicht-heterosexueller Beziehungen, die freie und selbstbestimmte Sexualität, die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und die Anerkennung von speziellen Rechten der LGBTI-Community. Für viele der »Nein«-Befürworter war all dies gleichbedeutend mit dem Anstieg von Geschlechtskrankheiten, Zoophilie, Pädophilie, Nekrophilie und Inzest sowie einer öffentlichen Politik, die Kinder zu Schwulen oder Lesben heranziehen würde. Aus ihrer Perspektive drängt die »Gender-Ideologie« eine Sexuallehre auf, die die natürliche und göttliche Norm der Heterosexualität und damit die biologische Wahrheit in Frage stellt.

Die »Nein«-Kampagne zum Plebiszit legte offen, welche Reichweite der Diskurs über die »Gender-Ideologie« als politische Strategie aufweist – eine Strategie, die auf den Grundpfeilern der katholisch-kolonialen Moral aufbaut, die Angst davor schürt, eine neue gesellschaftliche Ordnung aufzubauen, und die stattdessen lieber die alte Ordnung zementiert. Mithilfe der »Gender-Ideologie« stellten die »Nein«-Befürworter das Friedensabkommen als Betrug am kolumbianischen Volk dar, zumal das Bildungsministerium, repräsentiert durch eine lesbische Bildungsministerin, kurz zuvor pädagogisches Material zu gendersensibler und Sexualbildung in den staatlichen und öffentlichen Schulen hatte einführen wollen, um Gewalt gegen nicht heteronormative Kinder und Jugendliche vorzubeugen.6

Die Ministerin musste zurücktreten, und das Bildungsmaterial sah nie das Licht der Öffentlichkeit. Die »Nein«-Fraktion aber gewann den Volksentscheid, das Friedensabkommen wurde unter Berücksichtigung der Kritik der ultrakonservativen Sektoren überarbeitet, und dabei wurde vieles von dem herausgestrichen, was für Frauen und LGBTI im ursprünglichen Friedensabkommen stand, wie die Punkte zur sexuellen Diversität und zur sexuellen Orientierung.

In beiden Fällen, sowohl beim pädagogischen Material als auch beim Friedensabkommen, hatte die Regierung von einem »Genderfokus« gesprochen. Eine »Ideologie« ist aber nicht das gleiche wie ein »Fokus«, und eben dieser Unterschied macht klar, dass die katholische und andere Kirchen ihre eigenen Ideologien vorantreiben, auf deren Basis die Gesellschaft verstanden und organisiert werden soll. Die »Gender-Ideologie« dem »Genderfokus« überzustülpen war ein einfaches Mittel, um die Ängste einer konservativen Gesellschaft zu mobilisieren, die den Feminismus per se (und alles, wofür diese politische Ideologie kämpft) als nationales Risiko einstuft, auch wenn es um kleine und wenig revolutionäre Änderungen geht – im Grunde handelt es sich beim »Genderfokus« lediglich um eine liberale und moderne Inklusion und Zuweisung von Rechten an Frauen und LGBTI.

Was die konservativen Kreise als »Gender-Ideologie« bezeichneten, war also eine strategisch angerührte Mélange aus den Vorschlägen der Regierung für einen Genderfokus und den Konzepten feministischer Gruppierungen – und mündete in einer Karikatur der vorgesehenen Vereinbarungen im Friedensabkommen. Andererseits ist festzuhalten: Feminist*innen und LGBTI kämpfen seit Jahren für eben die Punkte, die die Kirchen, egal ob katholisch, evangelisch oder evangelikal, in ihrer »Nein«-Kampagne anprangerten. Oder müssen wir etwa nicht unbedingt ein Recht auf Leben für diejenigen erkämpfen, die ihre Sexualität leben wollen, auch wenn diese nicht mit der heterosexuellen Norm übereinstimmt? Oder war es etwa nicht Aufgabe der Regierung, über das Friedensabkommen auch die Rechte der ländlichen Frauen auf Landtitel voranzutreiben und u.a. einen differenzierten Umgang mit sexueller Gewalt einzuführen? Und ist denn eine gendersensible Perspektive nicht notwendig für einen positiven und nachhaltigen Frieden?

Die eigene Angst vor dem Fortschritt?

Festzuhalten ist aber auch: Der kolumbianischen Präsident und seine Bildungsministerin stellten nicht deutlich genug klar, dass es ihnen durchaus um eine gendersensible Perspektive ging. Daran haben nämlich der kolumbianische Staat und die internationale Gemeinschaft ein großes Interesse, um die Gewalt gegen nichtheteronormative Kinder, gegen Frauen und gegen LGBTI zu reduzieren. Genau diese Gruppen sind zudem auch historisch besonders von Verarmung, systematischer und intersektionaler (z.B. rassistischer) Gewalt betroffen. Die Regierung und viele andere Verfechter*innen des Friedenabkommens wurden der Aufgabe nicht gerecht, mutig und unmissverständlich für das einzustehen, wofür sie warben. Es stellt sich also die Frage, wie man für etwas kämpfen kann, vor dem man sich eigentlich selbst fürchtet? Oder anders gefragt: Haben manche progressiven Teile der Gesellschaft selbst Angst vor Änderungen, sehen den Feminismus als Risiko oder gar als verzichtbare Blödelei der zweiten Reihe?

Hinter der »Gender-Ideologie« steht also eine Strategie der Angst, ein diskursiver Mechanismus, der die jahrzehntelangen Forderungen und Kämpfe der Feminist*innen und der LGBTI-Personen durch einen verzerrten Spiegel wiedergibt: Wenn der Feminismus das Recht auf Abtreibung und das Recht auf körperliche Selbstbestimmung verteidigt, wandeln die Gender-Ideolog*innen dies so um, dass alle Frauen abtreiben sollten, und stempelt sie so zu Mörderinnen ab. Wenn Bewegungen für sexuelle Diversität das Recht auf Leben und den Respekt von LGBTI-Personen einfordern, wird dies von den Gender-Ideologinnen wiedergegeben als eine Forderung, man solle Kinder zu Schwulen, Lesben und Transsexuellen erziehen.

Mit der »Gender-Ideologie« werden Ängste in der Gesellschaften geschürt, sodass diese sich an ihrer konservativen Mentalität festklammert und gegen ein Friedensabkommen stimmt – selbst wenn dies Tausende von Menschenleben kostet. Wahrscheinlich hatten diejenigen, die die »Nein«-Kampagne vorantrieben, nicht so sehr Angst vor einer möglichen sexuellen Diversität im Land als vielmehr vor der im Friedensabkommen anvisierten Landreform oder dem möglichen Stopp extraktiver Praktiken durch multinationale Rohstoffkonzerne. Mit dem Friedensabkommen wurden auch alle damit verbundenen Reformen ausge­höhlt, sei es die anvisierte Landreform, die Reform zum Ausbau und zur Dezentralisierung der politischen Partizipation, die Prozesse zur individuellen und kollektiven Entschädigung und die Vereinbarungen zum historischen Gedenken. All dies wurde in der letztlich vom Kongress akzeptierten Version des Friedensabkommens abgeschwächt.

Der kolumbianische Fall beweist, dass die »Gender-Ideologie« als Werkzeug eingesetzt wird, um über die Manipulation konservativer Werte jene Interessen durchzusetzen, die schlicht und einfach politischer, vor allem aber ökonomischer Natur sind.

Anmerkungen

1) Angabe der Organización Indígena de Colombia – ONIC (Nationale Indigene Organisation Kolumbiens); onic.org.co/noticias/2-sin-­categoria/1038-pueblos-indigenas.

2) Ungeachtet des Friedensabkommens mit der FARC-EP von 2016 und mit den paramilitärischen Autodefensas Unidas de Colombia (Vereinigte Bürgerwehren Kolumbiens) gibt es auch weiterhin bewaffnete Akteure im Land, wie die Ejército Nacional de Liberación (Nationale Befreiungsarmee), paramilitärische regionale Gruppen und so genannte kriminelle Banden. Letztere sind seit Unterzeichnung des Friedensabkommens für bis zu 300 Morde an Friedensaktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen auf dem Land verantwortlich, die versuchen, die im Friedensabkommen versprochenen Veränderungen und Rechte einzufordern. [die Übersetzerin]

3) Als das Friedensabkommens abgeschlossen wurde, wurde die Zahl von 5.765 Kämpfer*innen genannt. Die Zahl schwankte jedoch über die Jahre.

4) Kolumbien ist Hauptzielland einer anhaltenden massiven Arbeitsmigration von Venezolaner*innen, die von Arbeitgeber*innen auch für Lohndumping genutzt wird, vor allem im Niedriglohnsektor. Die prekäre Situation der Venezolaner*innen zeigt sich aber auch im Alltäglichen, z.B. durch das Betteln in Bussen und an Ampeln. Das Bedrohungsszenario eines »Castro-Chavistischen Landes« ist also einfach herzustellen. [die Übersetzerin]

5) Päpstlicher Rat für die Familie (2000): Ehe, Familie und »faktische Lebensgemeinschaften«; vaticana.va.

6) Das Bildungsministerium hatte einige Monate vor der Unterzeichnung des Friedensabkommens die Verwendung von pädagogischem Material zur sexuellen Bildung beworben. Dieses sollte in öffentlichen staatlichen Schulen in Kolumbien als Lehrmaterial zur Verfügung gestellt werden, um die Kenntnis der Rechte von LGBTI zu erhöhen – mit dem Ziel, Gewalt gegen LGBTI und Bullying an den Schulen zu verringern. Ein entscheidender Auslöser dafür war der Fall des homosexuellen Jugendlichen Sergio Urrego, der sich einige Monate zuvor das Leben genommen und in seinem Abschiedsbrief deutlich gemacht hatte, dass sein Selbstmord die soziale Ablehnung und die Gewalt zur Ursache hatte, die er in seiner Schule durchleben musste.

Alejandra Londoño ist Historikerin mit einem Master in Gender-Studies. Sie lehrt als Dozentin an der Nationalen Universität Kolumbiens (Bogotá) zu den Themen Rassismus/Ethnizität und Gender und ist politische Aktivistin im Bereich des antikolonialen und anti-rassistischen Feminismus. Ihre Expertise liegt in den Bereichen Sozialpolitische Geschichte der Frauen im 20. Jahrhundert in Kolumbien, dekoloniale feministische Historiographie, Pädagogik zum historischen Gedächtnis in Kolumbien, Dynamiken des Militarismus und Militarisierung im neoliberalen Kapitalismus.

Aus dem Spanischen übersetzt von María Cárdenas.

Kolumbien: Frieden in Gefahr?

Kolumbien:
Frieden in Gefahr?

von Philipp Naucke und Anika Oettler

Im kolumbianischen Wahljahr 2018 ist der Friedensprozess nur eines von vielen entscheidenden Themen. In einer Atmosphäre von Politikverdrossenheit und Indifferenz, die sich in einem hohen Grad an Wahlenthaltung widerspiegelt, sind Korruption, Bildungs- und Gesundheitspolitik sowie das Gefühl einer aufziehenden wirtschaftlichen Krise die Themen, die viele bewegen. Dies geht mit einer »Genderpanik« und der Furcht vor hunderttausenden Venezolaner*innen einher, die die dortige Krise im letzten Jahr über die Grenze getrieben hat.

In dieser Gemengelage ist der Friedensprozess lediglich eines von vielen polarisierenden Themen. Während Iván Duque, der Kandidat der rechtskonservativen Partei von Ex-Präsident Uribe, im Wahlkampf angekündigt hatte, Inhalte des Friedensvertrags mit der FARC zu revidieren und den aktuellen Verhandlungsprozess mit der ELN abzubrechen, standen sowohl der moderat linke Kandidat Gustavo Petro als auch die weniger aussichtsreichen Kandidaten Sergio Fajardo, Germán Vargas und Humberto de la Calle für eine Fortsetzung des Friedensprozesses.

Eineinhalb Jahre nach dem Inkrafttreten des Friedensvertrages zwischen der Regierung und der größten Guerillabewegung FARC hat sich auch auf der internationalen Ebene die Euphorie gelegt. Zeit für Ernüchterung? Kommt darauf an. Dieser Friedensprozess, in dem 7.000 FARC-Kämpfer*innen in Übergangszonen ihre Waffen abgaben, die FARC sich als politische Partei neu konstituierte und eine umfangreiche Übergangsjustiz ausgehandelt wurde, ist auch im internationalen Vergleich bemerkenswert. Dabei hinkt der Friedensprozess seinen eigenen Ansprüchen hinterher. Zwar gibt es signifikante Fortschritte bei der Erreichung kurzfristiger Ziele, aber im Hinblick auf ambitioniertere Ziele ist der Umsetzungsprozess schleppend. Dies betrifft neben der Frage von Sicherheiten und demokratischer Partizipation auch die Reduzierung des Drogenanbaus sowie die Landreform, die Übergangsjustiz und die Opferentschädigung.

Hinzu kommen Entwicklungen, die das Vertrauen der Bevölkerung in beide Vertragsparteien trüben: In den meisten Regionen, die die FARC verlassen hat, haben nicht staatliche Kräfte die Kontrolle übernommen, sondern illegale bewaffnete Gruppen, wie die Guerilla ELN und Neo-Paramilitärs. Der Prozess der sozialen Integration der demobilisierten FARC-Kämpfer*innen verläuft stockend. Das Land hat mehr als sieben Millionen Binnenvertriebene, und die Zahl steigt seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags deutlich. Auch hat die systematische Verfolgung sozialer Aktivist*innen dramatisch zugenommen: In den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden bereits 46 Morde registriert. Der Fond für die Finanzierung der Friedensmaßnahmen steht unter Korruptionsverdacht. Gegen ehemalige FARC-Kommandant*innen wird wegen mutmaßlichen Drogenhandels ermittelt, und nicht zuletzt haben bewaffnete Aktionen beider Seiten den Verhandlungsprozess zwischen Regierung und ELN-Guerilla immer wieder torpediert.

Sind die Präsidentschaftswahlen ein Wendepunkt? In der jüngeren Landesgeschichte lösten Präsidentschaftswahlen immer ambivalente Entwicklungen aus. Die Wahl César Gavirias 1990 trug wesentlich zur Demobilisierung von fünf Guerillagruppen und zu einer modernen Verfassungsreform bei, aber zugleich stieg die Gewalt in einigen Landesteilen. Nach der Wahl Álvaro Uribes 2002 demobilisierten sich 36.000 paramilitärische Kämpfer*innen, ein Teil setzt aber die Aktivitäten bis heute fort. Zugleich waren es die Militäroffensiven, mit all ihren Verbrechen an der Zivilbevölkerung, die die FARC zurückdrängten und ihre Verhandlungsbereitschaft erhöhten, als mit Juan Manuel Santos 2010 ein verhandlungsbereiter Präsident gewählt wurde. Auch bei der Stichwahl am 17. Juni geht es um die Fortsetzung des Friedensprozesses.

Unabhängig vom Wahlausgang und der nationalen Friedenspolitik ist vor allem entscheidend, wie der Vertrag in den einzelnen Regionen Kolumbiens umgesetzt wird. In diesen waren die Konfliktdynamiken immer schon höchst verschieden, und die aus legalen und illegalen, alten und neuen Akteuren bestehenden regionalen Eliten sind selten bereit, auf politischen Einfluss und ökonomische Privilegien zu verzichten.

Kolumbianische Friedensbewegungen weiter zu unterstützen und sub-nationale Prozesse (auch im internationalen Vergleich) zu begreifen, ist das Gebot der Stunde, denn hier liegt der Schlüssel für den Friedenprozess.

Anika Oettler, Professorin für Soziologie, und Philipp Naucke, Mitarbeiter der Kultur- und Sozialanthropologie, vertreten hier den Kolumbien-Schwerpunkt am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg.

Ausgezeichnet trotz Niederlage

Ausgezeichnet
trotz Niederlage

von Jürgen Nieth

„Die Kolumbier hatten am Sonntag (2. Oktober) die einmalige Gelegenheit, einen der ältesten bewaffneten Konflikte der Welt auf demokratische Weise zu beenden. Es hat nur ein Ja gefehlt nach 52 Bürgerkriegsjahren mit mindestens 220.000 Toten und vier zähen Verhandlungsjahren mit den kriegsmüden Rebellen der Farc-Guerilla. 21 Millionen von 34 Millionen sind aber nicht zur Abstimmung gegangen. Der Rest sagte mehrheitlich Nein.“ Der von den Befürwortern und der Farc ebenso wie international bereits „gefeierte Friedensvertrag wurde mit einem Vorsprung von gerade einmal 54.000 Stimmen abgelehnt,“ bei einem Referendum, das überhaupt nicht nötig war (Boris Hermann, SZ 4.10.16, S. 2).

„Die dem bewaffneten internen Konflikt zuvorderst ausgesetzte Landbevölkerung hat mit großer Mehrheit für den Vertrag gestimmt – auch in von Farc-Verbrechen betroffenen Gemeinden. Die Stadtbevölkerung – die den Konflikt nur aus den Medien kennt – ging der Propaganda Uribes [dem ehemaligen Regierungschef und Wortführer der Nein-Kampagne] über die softe Behandlung der Guerillos auf den Leim.“ (Martin Ling in ND 04.10.16., S. 4)

Gründe für die Ablehnung

Am Unterschied Stadt-Land setzt David Graaff bei der Ursachensuche an. Die Wähler haben „nicht nur über den Friedensschluss mit den Farc, sondern auch über die Regierung des insgesamt unpopulären Präsidenten Juan Manuel Santos und dessen Politik abgestimmt […]. Besonders die neue urbane Mittelschicht hat das zuletzt schwache Wirtschaftswachstum […] zu spüren bekommen.“ (ND 5.10.16., S. 8) Ähnlich argumentiert Klaus Ehringfeld in der FR (8.10.16, S. 3): „[…] die Wirtschaftspolitik, die Lösung der sozialen Konflikte, den Kampf gegen die Korruption und auch gegen die Armutsschere – Kolumbien hat viele Probleme neben dem Bürgerkrieg, die Santos nicht angepack hat in den vergangenen sechs Jahren.“

Für Tobias Käufer ist das Nein zum Friedensvertrag vor allem „auf handwerkliche Fehler in dem Abkommen sowie irrationale Ängste vor einer Machtübernahme durch die Guerilla“ zurückzuführen (WELT 8.10.16., S. 6). Tjerk Brühwiller geht davon aus, dass die Gegner „ihre Anhänger besser mobilisiert“ hätten; im Zentrum der Kritik stand „vor allem das ausgehandelte System der Sonderjustiz, das den Guerilleros weitgehende Straferleichterung eingeräumt hätte […] Ebenso stören sich viele Kolumbianer an der Möglichkeit der politischen Beteiligung, die den Farc eingeräumt worden wäre.“ (NZZ 4.10.16, S. 1) Die Gegenkampagne schürte aber auch Angst mit sachfremden Themen: „Auf der Tatsache, dass in dem 300 Seiten dicken Friedensvertrag von Kämpferinnen und Kämpfern die Rede war, dass – wie man so sagt – durchgegendert wurde, gründete sich der Vorwurf, das Dokument sei ein Angriff auf das christliche Familienbild. Diese Strategie zog viele Evangelikale ins Lager der Neinsager.“ (Boris Hermann in SZ 8.10.16., S. 11) Die Katholische Kirche zog Uribe auf seine Seite, indem er „die Entscheidung der Regierung und des Verfassungsgerichts, die Homo-Ehe und die Adoption von Kindern durch gleichgeschlechtliche Paare zuzulassen“ ausschlachtete (Daniel Deckers in FAZ 4.10.16., S. 1).

Für Isabel Hilton waren „wiederholte Andeutungen aus dem Umfeld des Präsidenten, er und [der Farc-Anführer] Timoschenko seien für den Friedesnobelpreis im Gespräch […], wenig hilfreich“ (Freitag 6.10.16, S. 2). Nicht einmal eine Woche nach seiner Niederlage hat Santos den Nobelpreis trotzdem bekommen.

Pro und contra

Dabei galt der Spross einer Oligarchenfamilie vor einigen Jahren noch „als einer der meistgehassten Politiker Lateinamerikas. Damals hätte er fast einen Krieg mit den Nachbarländern Ecuador und Venezuela provoziert“ (Tobias Käufer in WELT, 8.10.16., S. 6). Santos war Verteidigungsminister während der blutigsten Phase des Bürgerkrieges, als die der Regierung nahestehenden „paramilitärischen Milizen grausame Massaker anrichteten. Auch Teile der Streitkräfte beteiligten sich an dem Gemetzel. Die ganze Niedertracht offenbarte sich im Skandal der sogenannten Falsos Positivos, der falschen Erfolgsmeldungen. Soldaten ermordeten zwischen 2006 und 2009 systematisch Zivilisten, deren Leichen sie hinterher in Guerilla-Uniformen steckten.“ (Boris Hermann in SZ 8.10.16., S. 11)

Einseitige Preisverleihung

Für die von den Farc-Rebellen einst entführte und über sechs Jahre im Dschungel festgehaltene ehemalige Päsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt hat sich nicht nur Präsident Santos geändert, sondern auch die Farc. Deshalb hätte sie den Friedensnobelpreis für beide Seiten als gerecht empfunden (ARD, Tagesschau 7.10.16). Matthias Rüb geht in der FAZ (8.10.16, S. 2) davon aus, dass das auch geplant war. „Viel spricht dafür, dass auch Timoschenko die hohe Auszeichnung erhalten hätte, wenn der Friedensvertrag […] beim Referendum vom Sonntag nicht knapp durchgefallen wäre.“ Für Sebastian Schoepp hätte das aber nicht dem Frieden gedient: „Dass Rebellenchef Timoschenko trotzdem nicht ausgezeichnet wurde wie seinerzeit PLO-Chef Jassir Arafat, ist ein realpolitisches Gebot der Vernunft.“ (SZ 8.10.16., S. 4)

Wie weiter?

„Der beidseitige Waffenstillstand hält zwar, ohne gültigen Friedensvertrag hängt er aber in der Luft“, schreibt Matthias Rüb (FAZ 8.10.16., S. 10). „Das kolumbianische Volk, das vom Frieden träumt, kann auf uns zählen“, verkündete Timoschenko in Havanna (SZ 4.10.16., S. 2). Auch Präsident Santos will weiterverhandeln, unter Einbeziehung seiner innenpolitischen Gegner. Aus der Perspektive der Farc kann das nur bedeuten, dass sich für sie die Bedingungen verschlechtern. Da bleibt die Mahnung von Stephan Hebel: Es war die „strukturelle Gewalt gegen die bäuerliche Gesellschaft auf dem Land, die in Kolumbien den bewaffneten Kampf hervorgebracht hat […] Und heute wissen (hoffentlich) alle Beteiligten, dass der Friede, wenn er dennoch kommt, ohne strukturelle Verbesserungen auf dem Land nicht von Dauer sein wird.“ (FR 08.10.16, S. 4)

Zitierte Zeitschriften: FAZ – Frankfurter Allgemeine, FR – Frankfurter Rundschau, Der Freitag, ND – neues deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, SZ – Süddeutsche Zeitung, DIE WELT.

Den Frieden verhandeln im Krieg

Den Frieden verhandeln im Krieg

Der Fall Kolumbien

von José Armando Cárdenas Sarrias

Seit der Unabhängigkeit 1810 ist der Krieg eine Konstante in der Geschichte Kolumbiens – ebenso wie die Versuche, diesen zu entschärfen. Diverse Waffenruhen, 63 Begnadigungen, 26 Amnestien und die mehrmalige »Entwaffnung« einzelner Gruppen der Guerrilla, Milizen und Paramilitärs seit den 1950er Jahren zeugen von partiellen Versuchen, dem Krieg zu begegnen. Der kolumbianische Wissenschaftler Mario Ramírez Orozco definiert diese Versuche als „trügerischen Frieden“, weil sie sich jeweils nur an eine kleine Anzahl von Personen richteten und die strukturellen Probleme des Landes nicht angingen: „[I]n Kolumbien hat es immer […] Friedensprozesse gegeben, aber diese berührten nie die fundamentalen, die strukturellen Ursachen des Konflikts [….], der nicht nur ein bewaffneter, sondern auch ein politischer und sozialer ist.“ 1

Seit Oktober 2012 gibt es einen neuen Versuch, den bewaffneten Auseinandersetzungen in Kolumbien ein Ende zu setzen: In Havanna, Kuba, verhandelt die Regierung unter Präsident Juan Manuel Santos mit den »Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo« (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee, kurz FARC-EP). Eine Reihe von Faktoren gibt Anlass zur Hoffnung, dass diese Verhandlungen eine Zäsur in der kriegerischen Geschichte Kolumbiens herbeiführen könnten. Auf der anderen Seite steckt der Prozess momentan in einer schweren Krise, und Kernelemente einer Einigung stehen weiterhin zur Diskussion.

Vor diesem Hintergrund und von der Notwendigkeit einer politischen Lösung für den bewaffneten Konflikt in Kolumbien überzeugt, wendet sich dieser Artikel drei Themen zu:

1. den Fallstricken der bisherigen, gescheiterten Verhandlungsversuche zwischen den FARC-EP und den Regierungen Belisario Betancur (1982-1986) und Andrés Pastrana (1998-2002),

2. den »lessons learned« aus dem aktuellen Dialogprozess in Havanna, der von der Fortführung des Krieges inmitten der Verhandlungen gekennzeichnet ist und

3. der Mobilisierung verschiedener sozialer, politischer und akademischer Gruppen, welche die Friedensverhandlungen unterstützen.

Gescheiterte Versuche und die Verschärfung des Konflikts

Unter der Regierung Belisario Betancur kam es nicht nur zum ersten Verhandlungsversuch mit den FARC-EP. Es wurden überdies zum ersten Mal die strukturellen Ursachen der Gewalt2 in das Blickfeld der Verhandlungen gerückt. Die Gespräche zeichneten sich durch die Anerkennung eines politischen Status und politische Garantien für die Guerilla sowie einen bilateralen Waffenstillstand aus. Allen Fortschritten zum Trotz machten zwei große Fehler diesen ersten Verhandlungsversuch mit den FARC-EP zunichte: Zum einen ging die Regierung nicht auf die Forderung der FARC-EP ein, das Militär mit an den Verhandlungstisch zu holen, um »von Soldat zu Soldat« zu verhandeln. Zum anderen wurden die in den »Acuerdos de la Uribe« (Uribe-Abkommen) zugesagten politischen Garantien nicht eingehalten und die geplanten demokratischen Reformen nicht umgesetzt.3 Stattdessen wurden zahlreiche Menschenrechtsverbrechen an den Mitgliedern der (u.a. von hohen FARC-EP-Repräsentanten) neu gegründeten Partei Unión Patriótica (UP) verübt, was eine sichere und Teilhabe der FARC-EP an der Politik verhinderte.

Zwölf Jahre später kam es unter der Regierung von Andrés Pastrana zum zweiten großen Versuch einer Einigung. Zwischen 1998 und 2002 verhandelten Regierung und Guerilla in der so genannten »Zona de distensión« (eine nicht vom staatlichen Militär, sondern von der Guerrilla kontrollierte Verhandlungszone),4 die »Agenda común por el cambio hacia una nueva Colombia« (Gemeinsame Agenda für den Wechsel zu einem neuen Kolumbien), die Themen wie Arbeit, Menschenrechte, Justizreform, Agrarpolitik und internationale Beziehungen beinhaltete. Diese Verhandlungen wurden ausführlich von der Presse begleitet, die über den Prozess detailliert informierte. Das Militär saß zwar wieder nicht mit am Verhandlungstisch, es nahmen aber mehr als 25.000 Delegierte der verschiedensten sozialen Gruppen an den »audiencias públicas« (öffentlichen Anhörungen) teil. In den fast vier Jahren, über die sich der Dialog in der Verhandlungszone hinzog, ging der Krieg im Rest des Landes weiter. Das Verhandeln inmitten von Krieg hatte eine Reihe schwerwiegender Folgen, wie die Schaffung strategischer Korridore jenseits der Verhandlungszone durch die FARC-EP, die Stärkung der militärischen Kapazität der Regierung und anhaltende Menschenrechtsverletzungen durch beide Konfliktparteien. In diesem Klima entwickelte die Regierung Pastrana mit technischer und finanzieller Unterstützung durch die USA den »Plan Colombia«: eine Militärstrategie, die im Rahmen der »Política de Defensa y Seguridad Democrática« (Politik der Demokratischen Verteidigung und Sicherheit) unter Präsident Uribe (2002-2010) schließlich auch umgesetzt wurde. Trotz massiver, teilweise von den USA finanzierter Investitionen in das Militär gelang es der Regierung jedoch nicht, die Guerilla zu besiegen. So veschoben sich die Prioritäten in der Folgeregierung unter Juan Manuel Santos erneut zugunsten des politischen Dialogs.5

Ein neuer Versuch: Mobilisierung für den Frieden

In den seit Oktober 2012 laufenden Verhandlungen zwischen der Regierung und den FARC-EP nach dem Prinzip »nichts gilt als vereinbart, solange es keine Einigung in allen Punkten gibt«, wurden bisher Einigkeit in drei von fünf Agendapunkten erzielt (Agrarreform, Drogenproblematik, politische Partizipation, Opfer und Ende des Konflikts). Zwar dauern die Verhandlungen schon weit länger an, als ursprünglich vom Präsidenten versprochen, im internationalen Vergleich sind das Tempo und die Anzahl und Regelmäßigkeit der bisher 37 Verhandlungsrunden6 jedoch durchaus bemerkenswert. Nichtsdestotrotz ist auch dieser Prozess nicht einfach, wie wiederholte Krisen belegen.

Zuletzt brachte am 22. Mai 2015 ein Kommuniqué des zentralen Generalstabs der FARC-EP die Verhandlungen ins Wanken. Der Generalstab teilte darin mit, dass FARC-EP den am 20. Dezember 2014 proklamierten, unilateralen und unbefristeten Waffenstillstand wieder aufkündigt. In ihrer Mitteilung beschuldigten die FARC-EP die Regierung, sie sei nach „fünf Monaten der Land- und Luftoffensiven gegen unsere Strukturen im ganzen Land“ für den Abbruch des Waffenstillstands verantwortlich.7 Der Aufkündigung des Waffenstillstands war eine militärische Eskalation vorausgegangen. Zunächst hatten die FARC-EP in klarer Missachtung des unilateralen Waffenstillstands bei einem Angriff in Buenos Aires (Departement Cauca) elf Soldaten getötet. In den darauffolgenden Bombardements der Regierung in Guapi (Departement Cauca) und in Riosucio (Departement Chocó) fielen drei wichtige Guerrilleros der FARC-EP: Emiro Chaqueto, Jairo Martínez und Román Ruiz. Die ersten beiden waren Mitglieder der Verhandlungsdelegation in Havanna und damit beauftragt, in Kolumbien unter den Mitgliedern der FARC-EP Friedenspädagogik voranzutreiben und über den Fortschritt der Gespräche zu informieren.

Trotz dieser schweren Krise und der erneuten Gewalteskalation erklärten sowohl die FARC-EP als auch die Regierung, weiter verhandeln zu wollen, wenn auch unter gleichzeitiger Fortsetzung der militärischen Auseinandersetzung mit allen Mitteln.

Lehren aus der Vergangenheit

Bei den Verhandlungen in Havanna wurden enorme Fortschritte erreicht, auch deshalb, weil aus den Fehlern der Vergangenheit Lehren gezogen wurden. Dazu zählen nicht nur eine Reihe von Maßnahmen zur Deeskalation des bewaffneten Konflikts, wie der unilaterale Waffenstillstand von Seiten der FARC-EP, die temporäre Aussetzung von Bombardements auf »subversive Strukturen« durch die Regierung und der Start der »humanitären Entminung«, bei der das Militär und die FARC-EP kooperieren. Auch die Teilnahme der Militär- und Polizeivertreter (im Ruhestand) Jorge Enrique Mora und Óscar Naranjo an den Verhandlungen, die relativ schnelle Einigung auf die Agendapunkte in geheimen Vorverhandlungen, der Durchbruch bei drei von fünf dieser Punkte sowie die Mobilisierung unterschiedlicher sozialer, politischer und akademischer Gruppen zur Unterstützung des Friedensprozesses zeugen vom Fortschritt der Verhandlungen. Seminare, Kurse und Konferenzen zur Friedensthematik, der Weltgipfel für Kunst und Kultur, der von 6.-11. April 2015 stattfand, und der »Marsch für das Leben«, der Menschen auf der ganzen Welt dazu aufrief, am 9. März 2015 für den Frieden in Kolumbien auf die Straßen zu gehen, sind Beispiele für die Mobilisierung für den Frieden. Dieser wird jedoch kontinuierlich von Verhandlungsgegnern aus dem rechten Lager und durch die militärischen Offensiven beider Seiten geschwächt.8 Die genannten Fortschritte – die Verständigung über strukturelle politische Probleme und der Entschluss zur Durchsetzung humanitärer Maßnahmen – gilt es derweil auch unabhängig von einem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen zu bewahren.

Die jüngste Eskalation des Konflikts hat vor Augen geführt, dass der Verhandlungsprozess an einem schwierigen Moment angekommen ist.

Erschwerend kommt die Rolle einzelner Personen in diesem Prozess hinzu, wie der Fall von Antanas Mockus zeigt, dem Ex-Bürgermeister von Bogotá, ehemaligen Präsidentschaftskandidaten und Mitglied der Beraterkommission des Präsidenten für den Friedensprozess. Nur knapp drei Monate, nachdem er den »Marsch für das Leben« angeführt hatte, gestand er, vor 30 Jahren ein Sympathisant und Gehilfe der Guerilla gewesen zu sein: „Ich habe dem einen oder anderen geholfen. Ich bin der Unterlassung schuldig. Außerdem habe ich auch […] Geheimnisse und Materialien für sie aufbewahrt. Und ich habe für sie übersetzt. […] Ich bin bereit, dieselbe Strafe anzunehmen, zu der die Anführer der FARC verurteilt werden, die sich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen schuldig bekennen.“ 9.

Mit seinem völlig unerwarteten Geständnis, trat Mockus nicht nur eine hitzige Debatte über seine Person los, sondern traf auf provokante Weise den Kern der aktuellen Verhandlungsschwierigkeiten: den Umgang mit Wahrheit und Gerechtigkeit. In Bezug auf die Frage der Übergangsjustiz gibt es in Kolumbien keine »lessons learned« aus vorherigen Verhandlungsprozessen mit der FARC-EP.10 Zudem stellt sich eine große Mehrheit der Kommandanten der FARC-EPstrikt gegen jegliche strafrechtliche Aufarbeitung. In dieser verfahrenen Situation ist ist die internationale Gemeinschaft gefordert, auf der Basis von Erfahrungen in anderen Weltregionen neue Denkanstöße zu geben. Für einen gesamtgesellschaftlichen Friedensprozess wäre zu wünschen, dass Initiativen, die sich fernab des offiziellen Dialogs für die Wiederherstellung eines Mindestmaßes an gesellschaftlichem Vertrauen und Versöhnung einsetzen, stärker beachtet und gefördert würden. Denn auch wenn ein Verhandlungsabschluss ein wichtiger Meilenstein wäre, ist es noch ein langer Weg hin zum Frieden in Kolumbien.

Anmerkungen

1) In einem Interview auf Kienyke.com; siehe David Baracaldo Orjuela: La mala suerte de los diez intentos de paz que ha tenido Colombia. 9. Februar 2014.

2) Bis heute ist die Ungleichheit in Kolumbien frappierend. Das Land rangiert mit einem Gini-Index von 0,58 weltweit an vierter Stelle und in Lateinamerika an erster Stelle der Länder mit hoher Ungleichverteilung. Siehe: Desigualdad Extrema en Semana. semana.com, 12. März 2011.

3) Der Unión Patriota zufolge kamen mehr als 5.000 ihrer Anhänger durch politische Verfolgung ums Leben. Unter den gefolterten, verschleppten und getöteten Personen befanden sich auch zwei Präsidentschaftskandidaten, acht Kongressabgeordnete, Hunderte Bürgermeister, Stadträte und Sozialaktivisten. Siehe Carlos Guillén Lozano (2002), Prologo.

4) Diese umfasste 42.000 km2 in den Gemeinden La Uribe, Mesetas, La Macarena y Vista Hermosa im Department Meta und San Vicente del Caguán im Department Caquetá. Die Ausweisung der Zone wurde achtmal verlängert; am 20.2.2012 wurde die Zone schließlich vom kolumbianischen Militär eingenommen.. Siehe Jeffrey Deaver (2000) und Alejo Vargas(2003).

5) Bereits zuvor war die Regierung Julio César Turbay Ayala (1978-1982), die mit ihrem »Estatuto de Seguridad« (Sicherheitsstatut) jeden Protest kriminalisiert hatte, der es aber nicht gelungen war, die Guerilla zu besiegen, von der Regierung Belisario Betancur abgelöst worden, die wie oben geschildert Friedensverhandlungen zur Priorität erklärte. Beide Beispiele zeigen, dass sich in der Geschichte des bewaffneten Konflikts wiederholt Ansätze der totalen Kriegsführung mit politischen Verhandlungen abgewechselt haben. Die unterschiedlichen Politikvorschläge zum Umgang mit dem Konflikt haben dabei entscheidend die Wahlkämpfe geprägt, einschließlich der Präsidentschaftswahlen.

6) Stand Ende Mai 2015.

7) Comunicados de la Delegación de Paz de las FARC-EP: Que se abran los archivos, que se sepa la verdad. pazfarc-ep.org, 4. Juni 2015.

8) So sind die Umfragewerte gegenüber Santos und den Friedensverhandlungen so pessimistisch wie noch nie seit Beginn der Verhandlungen; siehe: Última encuesta Gallup: Santos y el proceso de paz se van al piso. las2orillas.co, 29. April 2015.

9) Öffentlicher Brief, der am 22. Mai 2015 in der Tageszeitung El Tiempo publiziert wurde.

10) Die Erfahrungen mit Übergangsjustizregelungen im Rahmen des Demobilisierungsprozesses des Paramilitärs sind in Kolumbien heftig umstritten, können allerdings als Anstoß dienen, welche Fehler es zu vermeiden gilt.

Literatur

Fernando Cubides (2005): Algunas consideraciones acerca de los procesos de paz fallidos en Colombia. Blog unter fcubides.tripod.com.

Jeffrey Deaver (2000): La Silla Vacía. Colombia: Alfaguara.

Carlos Guillén Lozano (2002): Prologo. In: Luis Alberto Matta Aldana (Hrsg.): Poder capitalista y violencia política en Colombia: terrorismo de estado y genocidio contra la Unión Patriótica. Bogotá: Edición Ideas y Soluciones Gráficas.

Gonzalo Sánchez (1984): Raíces históricas de la amnistía o las etapas de la guerra en Colombia. In: Gonzalo Sánchez (Hrsg.): Ensayos de historia social y política del siglo XX, Bogotá: El Áncora Editores.

León Valencia und Ariel Ávila: ¿Para qué sirvió el cese unilateral al fuego de las Farc? Las 2 Orillas, las2orillas.co, 26. Mai 2015.

Alejo Vargas Velásquez (2003): Nueva prospectiva para la paz en Colombia. Revista Investigación y Desarrollo, Vol. 10 (31). Barranquilla: Universidad del Norte.

José Armando Cárdenas Sarrias ist Soziologe und Historiker (MA). Er promoviert am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin.

Jesus‘ Weg zum Frieden!

Jesus‘ Weg zum Frieden!

Soziales Leben guatemaltekischer Jugendlicher in Zeiten der Gewalt

von Sara Seifried

Die Gewaltrate in Guatemala ist hoch, auch zwanzig Jahre nach dem Bürgerkrieg. Das hat Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft, führt zu einer Kultur der Angst und zum Rückzug ins private Leben. Für junge Menschen ist das besonders einschneidend, denn es sind zwar oft junge Männer die Täter, aber eben auch die Opfer der Gewalt. Welche Konsequenzen hat dies für ihren Alltag, wie gestalten sie ihre Freizeit und ihr soziales Leben? Dies hat Sara Seifried erkundet.

Es ist Samstagabend. Nach einem langen Tag zu Hause macht sich eine junge Frau bereit, um wegzugehen. Schon den ganzen Tag hat sie sich hierauf gefreut. Vielleicht wird auch der attraktive Junge wieder dort sein? Sie nimmt die schöne Bluse aus dem Schrank, die Haare sind perfekt geglättet und verbreiten einen frischen Duft. Um 20 Uhr wird sie abgeholt. Ihre Eltern haben trotz der hohen Gewaltrate in der Nachbarschaft, der häufigen Frauenmorde und obwohl sie den Begleiter ihrer Tochter kaum kennen, keine Bedenken und wünschen ihrer Tochter einen schönen Abend, als sie ins Auto steigt. Nach kurzer Fahrt halten sie vor einem großen Garagentor. Man hört die Musik bereits von außen, und sie sind nicht die einzigen, die auf den Eingang zusteuern. Es ist Samstagabend, Zeit für den Gottesdienst der jungen »evangélicos«.

Kirchenbesuche sind Alltag für viele junge Erwachsene in Guatemala. In einem Staat, der in den westlichen Medien vorwiegend dann Erwähnung findet, wenn es um fragwürdige Politik oder das unaufhörliche Morden im Zuge des so genannten Drogenkrieges geht, scheint die Fokussierung auf christliche Nächstenliebe auf den ersten Blick paradox: Denn welchen Stellenwert kann das religiöse Leben haben, wenn gleichzeitig ein Menschenleben so wenig wert zu sein scheint?

Die Medien berichten seit Jahren über die vielen Gewaltopfer. Obwohl das zentralamerikanische Land den blutigen Bürgerkrieg vor bald 20 Jahren beendet hat, ist die Gewaltrate seither nicht rückläufig. Guatemala gilt, gemessen an den Homizidraten, als eines der gewalttätigsten Länder der Welt (Global Peace Index 2012). Im Gegensatz zu den Bürgerkriegsjahren mit ihrer politisch motivierten Gewalt dominiert heute jedoch die Gewaltkriminalität. Hierfür werden vor allem der Drogenhandel, die Bandenkriminalität sowie fehlende staatliche Strukturen der Strafverfolgung verantwortlich gemacht (vgl. u.a. Zinecker 2006). Die daraus resultierende, scheinbar willkürliche Gewalt und eine niedrige Hemmschwelle zur Gewaltanwendung führen zu einer großen Verunsicherung in der guatemaltekischen Bevölkerung. Dies wirkt sich auch auf das soziale Zusammenleben aus. So herrscht verbreitet gegenseitiges Misstrauen, ein Verhaltensmuster, welches die Bürgerkriegszeit überdauert hat.1 Dennoch versuchen die Menschen auch unter diesen erschwerten Bedingungen, sich einen Alltag zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Junge Erwachsene sind bei der Gestaltung ihres Alltags angesichts der hohen Gewaltintensität besonders gefordert, da sich viele ihre altersgemäßen Verhaltensmuster eigentlich im öffentlichen Raum abspielen, der als besonders gefährlich gilt. So stellen scheinbar einfache Unterfangen wie die Cliquenbildung oder die Zusammenkunft mit einem Mädchen bzw. einem Jungen ernstzunehmende Herausforderungen dar.

Alltägliche Gewalt und jugendlicher Alltag

Junge Erwachsene sind in vielfacher Weise und in besonderem Maße von der neuen Gewalt in Guatemala betroffen. So stellen junge Männer nicht nur die häufigste Tätergruppe dar, sondern fallen den Verbrechen auch am häufigsten zum Opfer (vgl. u.a. Moser und McIlwaine 2004).

Die Jugendgewalt ist ein spezifisches Merkmal des neuen Gewaltphänomens in Guatemala (vgl. hierzu u.a. Winton 2005). Straßengangs, so genannte »maras«, die vorwiegend in größeren Städten präsent sind, gelten heute als eines der wichtigsten sozialen Probleme in Zentralamerika. In ihnen finden perspektivlose Jugendliche eine Art Bruderschaft und Loyalität, die sie in der breiten Gesellschaft nicht antreffen. Diese Jugendgangs werden von der Regierung für eine Vielzahl an Delikten verantwortlich gemacht, die von Gewaltanwendung bei Rivalitätskämpfen bis hin zur Schutzgelderpressung reichen. Während die Bandenkriminalität vorwiegend ein urbanes Phänomen ist, sind junge Erwachsene in einem eher ländlichen Umfeld hauptsächlich aufgrund des Drogenhandels von der neuen Gewalt betroffen.

Die diesem Artikel zugrunde liegende Feldforschung hat gezeigt, dass im kleinstädtischen Kontext die jugendliche Lebenswelt maßgeblich durch den Drogenhandel beeinflusst wird. Dies in zweifacher Weise: Einerseits bietet der Drogenhandel insbesondere für Jugendliche, die auf dem beschränkten Arbeitsmarkt meist keine Anstellung finden, eine Einkommensquelle. In der Kleinstadt sind die Chancen für Schulabgänger, eine feste, bezahlte Anstellung zu finden, schlecht. Die wenigen Mittelschulen bieten nur eine kleine Auswahl an Ausbildungsschwerpunkten an, weshalb jedes Jahr zahlreiche Sekretärinnen, Lehrerinnen und Buchhalterinnen die Schule verlassen, für die es keinen Arbeitsmarkt gibt. Für Jugendliche wird es in dieser Lebensphase zunehmend schwierig, sich von den Eltern zu emanzipieren. Nicht selten sehen junge Erwachsenen deshalb in der Drogenökonomie eine wirtschaftliche Perspektive und in der Beteiligung am Drogenhandel – wenn auch nur als Kleinstakteur – die Gelegenheit, sich in absehbarer Zeit eine eigene Existenz aufzubauen. Das kriminelle Verhalten eines Teils der Jugendlichen führt gleichzeitig zu einer Stigmatisierung und Kriminalisierung der ganzen Gruppe. Eine junge Frau kommentierte dies wie folgt: „ Die Jungen wollen nicht mehr so hart arbeiten. Deshalb mischen sie dort mit, und was dabei herauskommt, ist die Gewalt. Heute gibt es den Spruch »Besser ein Jahr wie ein König leben, als zehn wie ein Armer«. Tja, an diesen Punkt sind sie gelangt!“ (Seifried 2012, S.62). Durch die aktive Mitwirkung der jungen Erwachsenen am Drogenmarkt werden sie auch zu Akteuren der damit verbundenen Drogengewalt.

Selbst ohne direkte Beteiligung am Drogenhandel wird die jugendliche Lebenswelt allerdings schon durch die bloße Präsenz des Drogenmarktes beeinflusst. Insbesondere wurden die Möglichkeiten der Jugendlichen zur Gestaltung ihres sozialen Lebens in den letzten Jahren stark eingeschränkt.

Das soziale Leben: von der Straße ins Innere des Hauses

Was also bedeutet Alltag für einen guatemaltekischen Jugendlichen in der Kleinstadt, und welches sind die Themen, die ihn im Hinblick auf sein soziales Leben beschäftigen? Letztere unterscheiden sich kaum von den Bedürfnissen der Jugendlichen in Europa oder anderswo: Wichtig ist die Freizeit mit Freunden und die Suche nach einem Partner. Der Alltag sieht jedoch anders aus. Junge Erwachsene im kleinstädtischen Kontext, insbesondere junge Frauen, sind einer starken Kontrolle des elterlichen Heims ausgesetzt. Es ist üblich, dass sich ein Großteil der Freizeit um das Elternhaus herum ansiedelt und strikten moralischen Regeln unterworfen ist. Nicht nur die Eltern, sondern allgemein die Gemeinschaft beobachten das Verhalten der Jugendlichen, um diese vor den vielen Gefahren im öffentlichen Raum zu bewahren. Diese große soziale Kontrolle ist jedoch nur teilweise erfolgreich und führt dazu, dass Aktivitäten mit Freunden sowie Liebeleien oftmals im Geheimen und unter großem Planungsaufwand stattfinden. An neutralen Orten, fern der kontrollierten Sphäre des eigenen Zuhauses, wird Alkohol getrunken, und es werden die ersten sexuellen Erfahrungen gemacht.

Dieser öffentliche und neutrale Raum allerdings hat sich im Verlauf der letzten Jahre stark verändert. Gewaltausbrüche häufen sich, und der Machtkampf im Drogenhandel wird vermehrt auch in der Öffentlichkeit ausgetragen. Am helllichten Tage kommt es zu Schießereien auf öffentlichen Plätzen, und der enge kleinstädtische Kontext macht es zunehmend schwierig, sich der Gefahr zu entziehen. Sinnbild dieser Veränderung ist die Straße. Aufgrund der zunehmenden Gefährdung hat sich das soziale Leben bzw. der soziale Alltag in den letzten Jahren von der Straße ins Innere des Hauses verschoben. Während noch vor wenigen Jahren die Menschen abends vor ihren Häusern saßen und sich mit ihren Nachbarn austauschten, bleiben jetzt die Haustüren abends geschlossen. Die Straße hat ihre Bedeutung als sozialer Treffpunkt eingebüßt und wird nun als gefährlicher Raum wahrgenommen. Dies hat zur Folge, dass sich die sozialen Kontakte der Menschen nur noch auf wenige Sphären reduzieren: Die Schul- und Arbeitskollegen gewinnen am Tag und das eigene Haus nach Einbruch der Dunkelheit an Bedeutung. Die Möglichkeiten für Jugendliche, sich außerhalb der elterlichen oder schulischen Kontrolle einen sozialen Alltag aufzubauen, sind dadurch erheblich eingeschränkt.

Kulturelles Leben ohne Schönheitsköniginnen und Tanzfeste?

Für junge Erwachsene wirkt sich dies u.a. in Hinblick auf kulturelle Veranstaltungen aus. Monatliche Tanzfeste galten lange Jahre als die wichtigsten und traditionsreichsten kulturellen Anlässe. Diese boten den jungen Leuten eine der seltenen Gelegenheiten, in einem ungezwungenen Umfeld zusammen einen Abend zu verbringen und sich näher kennen zu lernen. Ebenso bedeutend waren für viele junge Guatemaltekinnen die Anlässe rund um die Wahlen der diversen Schönheitsköniginnen. Sie boten den gut behüteten jungen Frauen eine Plattform, sich ganz offiziell von ihrer Schokoladenseite zu zeigen und damit für einen Moment die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch auch hier sind schleichend Veränderungen aufgetreten: Zunehmend tauchten Schusswaffen in den Tanzlokalen auf, woraufhin die Eltern die Teilnahme verboten. Seit etwa drei Jahren finden diese Tanzabende daher kaum mehr statt.

Auch wenn dies den Eindruck vermitteln könnte, dass die kleinstädtische Jugend Guatemalas ihr soziales Leben fast komplett eingebüßt hat, so bestehen dennoch weiterhin Freundesnetzwerke und es finden Hochzeiten statt. Das soziale Leben junger Erwachsener findet unter den erschwerten Umständen also anderswo statt.

Evangelikale Kirchen als Ort der Vergemeinschaftung

Guatemala sieht sich, entsprechend der allgemeinen Tendenz in Lateinamerika, mit einer starken Ausbreitung evangelikaler Kirchen konfrontiert und verfügt mittlerweile über eine der größten evangelikalen Bevölkerungen in Lateinamerika (Freston 1993; Steigenga und Cleary 2007). Insbesondere junge Menschen fühlen sich von diesen neuen Kirchen angezogen und nehmen in der Folge die dafür typischen Lebensweisen an. Dies zeigt das Beispiel von Laura.2 Früher war sie eine leidenschaftliche Tänzerin, die jeden Tanzabend besuchte und es liebte, mit ihren Freundinnen ein paar geheime Gläser Rum zu trinken. Die »evangélicos« waren für sie eine andere Welt, deren Lebensweise für sie nicht nachvollziehbar. Heute besucht sie selbst eine solche Gemeinde. Sie sagt, dass sie innerhalb der Kirche alles findet, was sie braucht: Freunde, Familie und ein soziales Netz, das sie trägt. Ebenfalls pragmatisch sieht es Mariana. Noch vor ein paar Jahren war auch sie keinem Fest abgeneigt. Heute verlässt sie ihr Haus nur, um zur Arbeit zu gehen oder die Kirche zu besuchen. Für sie bietet der Besuch des Gottesdienstes die seltene Gelegenheit, soziale Kontakte zu pflegen. Zudem erhöhen sich für die allein erziehende Mutter dadurch die Chancen, mittels Einbindung in ein festes kirchliches Netzwerk mittelfristig einen neuen Partner zu finden, was ansonsten schwierig wäre.

Früher war der Katholizismus auch in dieser Kleinstadt stark verankert, er verliert aber zunehmend an Anhängern, während sich die Menschen den neuen evangelikalen Kirchen, meist Pfingstgemeinden, zuwenden. Diese vermitteln den Gläubigen ein stärkeres Gefühl von Sicherheit und entsprechen damit einem wichtigen Bedürfnis. Zum einen aufgrund ihrer moralischen Lebensweise: Im Gegensatz zu den Katholiken verzichten die »evangélicos« auf Alkohol und andere narkotisierende Substanzen, und sie entsagen der weltlichen Musik, die sich in ihren Augen zu häufig um Sex und unsittliche Themen dreht. Sie wählen ihr Umfeld mit Bedacht aus und verurteilen jegliche Form von Gewalt: So geht in ihren Augen der Katholik, nachdem er getötet hat, in die Kirche und beichtet. Der gute Christ hingegen töte gar nicht erst. Bewegen sich Jugendliche in diesem Umfeld, genießen sie ein größeres Vertrauen seitens der Familie und des Umfelds. Zum anderen ist im Kontext der allgemeinen Unsicherheit die starke Einbindung in die religiöse Gemeinschaft für viele Gläubige ein wichtiges Anliegen. So ist es fast täglich möglich, an einem Gottesdienst oder einem Gruppentreffen teilzunehmen. Es finden auch nicht-religiöse Aktivitäten, wie gemeinsame Mittagessen oder Ausflüge, statt. Damit springt die Kirche auch dort ein, wo zuvor andere soziale Treffpunkte vorhanden waren. Die Kirche wird zu einem Ort, an dem »gute Christen« einander treffen und regelmäßig Zeit miteinander verbringen. Für Jugendliche schaffen evangelikale Kirchen somit einen neuen – und aufgrund der alltäglichen Gewalt beinahe alternativlosen – Raum, in dem sie Kontakte mit Gleichaltrigen knüpfen und vertiefen können.

Die Ausbreitung der evangelikalen Kirchen scheint in Guatemala ungebremst. Für viele junge Menschen, die ihre Lebensziele noch nicht verwirklicht sehen, sind diese Gemeinschaften ein Fels in der Brandung und erreichen sie mit ihren Angeboten zum richtigen Zeitpunkt. Denn sie füllen eine Lücke, die sich in den letzten Jahren aufgrund der gewalttätigen Vorkommnisse und der Veränderung des öffentlichen Raumes auftat und die die Jugendlichen in ihrer Selbstverwirklichung stark einschränkt. Ob ihre Hinwendung zu den »neuen« Kirchen aus religiöser Überzeugung, aus pragmatischen Überlegungen oder aus Zufall stattfindet, scheint für sie selbst keine Rolle zu spielen. Denn das Resultat ist dasselbe: Sie werden gute Christen, und diese töten nicht. Damit schaffen sie sich ihr sicheres Guatemala – wenn auch nur im Privaten.

Literatur

Cárdenas, María und Philipp Schultheiss (2013): Das zerrissene Geflecht der Seele. Langzeitfolgen des Konflikts in Guatemala. Wissenschaft & Frieden 2-2013, S.6-9.

Freston, Paul (1993): Pentecostalism in Latin America: Characteristics and Controversies. Social Compass 45 (3), S.335-358.

Global Peace Index 2012: Guatemala; www.visionofhumanity.org/gpi-data>.

Moser, Caroline O.N. und Cathy McIlwaine (2004): Encounters with Violence in Latin America. Urban Poor Perceptions from Colombia and Guatemala. New York and London: Routledge

Seifried, Sara (2011): La gente tiene el espíritu de salir adelante! Krise und Migration. Der Umgang mit neuer Unsicherheit im peri-urbanen Guatemala. (unveröffentlichte Masterarbeit).

Steigenga Timothy J. and Edward L. Cleary (eds.) (2007): Conversion of a Continent. New Brunswick: Rutgers.

Winton, Ailsa (2005): Youth, Gangs and Violence: Analysing the Social and Spatial Mobility of Young People in Guatemala City. Children’s Geographies 3 (2), S.167-184.

Zinecker, Heidrun (2006): Gewalt im Frieden. Formen und Ursachen der Nachkriegsgewalt in Guatemala. Frankfurt a.M.: HSFK-Report 8/2006.

Anmerkungen

1) Zu den Langzeitfolgen des bewaffneten Konflikts in Guatemala vgl. María Cárdenas und Philipp Schultheiss: Das zerissene Geflecht der Seele. Langzeitfolgen des Konflikts in Guatemala. W&F 2-2013, S.6-9.

2) Der Artikel beruht auf Ergebnissen einer zweimonatigen Feldforschung der Autorin im Frühjahr 2011 im Rahmen ihrer Masterarbeit »Krise und Migration. Der Umgang mit neuer Unsicherheit im peri-urbanen Guatemala«. In dessen Verlauf wurden qualitative Einzelinterviews, Experteninterviews und Gruppendiskussionen in Schulen durchgeführt.

Sara Seifried ist Sozialanthropologin M.A. und arbeitet als Doktorandin am Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern. Ihre Schwerpunkte sind Konflikt- und Gewaltanthropologie, Vertrauen, evangelikale Kirchen und die Nutzung öffentlicher Räume in Zentralamerika.

Das zerrissene Geflecht der Seele

Das zerrissene Geflecht der Seele

Langzeitfolgen des Konflikts in Guatemala

von María Cárdenas und Philipp Schultheiss

Mit der Anklage gegen den ehemaligen Diktator und Ex-General Ríos Montt ist Guatemala das erste Land weltweit, in dem einem ehemaligen Staatsoberhaupt vor einem nationalen Gericht wegen Völkermordes der Prozess gemacht wird. Doch die Gesellschaft ist hinsichtlich der Frage gespalten, ob die Vergangenheit ruhen soll oder ob erst ihre Aufarbeitung einen Neuanfang des Landes ermöglichen kann. Um zu verstehen, weshalb der öffentliche Diskurs diesbezüglich noch immer so polarisiert ist, müssen die strukturellen, sozial- wie individualpsychologischen Langzeitfolgen des internen Konflikts ins Auge gefasst werden, die bis heute in die guatemaltekische Gesellschaft hineinwirken. Die beiden Autor_innen sind dieser Frage vor Ort nachgegangen und führten hierzu Interviews und Gruppendiskussionen mit Betroffenen.

Die Geschichte Guatemalas lässt sich anhand zweier zentraler Konfliktlinien bzw. Konfliktmuster charakterisieren: Zum einen verläuft die Ungleichverteilung von Zugangschancen, Besitz und politischer Teilhabe entlang der Ethnien. Zum anderen werden die politischen Machtkämpfe und ökonomischen Interessen autoritär und gewaltsam ausgetragen. Die europäischstämmige Oligarchie, die traditionell enge Beziehungen zum Militär hält, konnte seit der Kolonialisierung ihre Vormachtstellung durch die ethnische Einteilung der Bevölkerung in Mestizen und Indigene und deren auf Rassismus basierende Abgrenzung voneinander aufrecht erhalten.

Die sozioökonomischen Schichten entsprechen also seit jeher den ethnischen Gruppen: Indigene stellen die größte Bevölkerungsgruppe (60%; FIDH 2006) und die arme, landlose Unterschicht dar. Dem gegenüber besteht die europäischstämmige Oligarchie aus einem Nukleus von rund 20 Familien, die ihre Politikinhalte „mehr als in jedem anderen zentralamerikanischen Land über oligarchische Interessengruppen“ durchsetzt und so bis heute die Ungleichheit zementieren konnte (Zinecker 2006, S.23). Die Mestizen bilden die Mittelschicht, die sich bis heute nur durch die ethnische Diskriminierung der indigenen Bevölkerung von letzterer abgrenzen und ihren Status zwischen beiden Gruppen stabilisieren konnte. Diese gesellschaftliche Einteilung wird bereits seit der Kolonialisierung durch Terror, Zwangsumsiedlungen der indigenen Bevölkerung und die politökonomische Marginalisierung der Indigenen aufrechterhalten (vgl. Taussig, zitiert in Lovell 1988, S.36f.).

Die drastischen Unterschiede innerhalb der Gesellschaft zeigen sich auch im Bildungswesen und weisen auf eine intersektionale Dimension der Diskriminierung hin: Der Zugang zu Bildung hängt von der Verknüpfung von Herkunft, Geschlecht und Ethnie ab. So liegt die Dauer des durchschnittlichen Schulbesuchs einer weiblichen Indigenen bei lediglich zwei Jahren, gefolgt von männlichen Indigenen und anschließend Stadtbewohnerinnen, während Stadtbewohner mit 7,61 Jahren Schulbesuch den Höchstdurchschnitt darstellen (FIDH 2006, S.30). Aktuell plant die Regierung zudem, die Lehrerausbildung zu reformieren und in ein Universitätsstudium umzuwandeln, was der armen indigenen Bevölkerung, für die ein solches Studium kaum finanzierbar ist, den Zugang zum Lehrerberuf weiter erschwert. Bislang war der Lehrerberuf für viele Indigene einer der wenigen Wege in ein gesichertes und angesehenes Arbeitsverhältnis. Am eindeutigsten spiegelt sich jedoch starke Ungleichheit zwischen den Ethnien in den aktuellen Armutszahlen wieder: So folgern Rosada und Bruni, dass 75,6% der in Armut lebenden Bevölkerung Indigene sind und dass wiederum in den Regionen mit der höchsten indigenen Bevölkerung mehr als 75% in Armut oder extremer Armut leben (Rosada & Bruni 2009, S.8).

Rückblick: Der interne bewaffnete Konflikt 1960-1996

Zu Beginn der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hatte es durchaus Hoffnung auf eine gerechtere guatemaltekische Gesellschaft gegeben. Mit dem Aufkommen der katholischen Befreiungstheologie im Zuge der Emanzipationsbewegungen Lateinamerikas ab den 1950er Jahren sowie durch Reformen der Präsidenten Arévalo (1945-1949) und Jacobo Árbenz (1950-1954) zugunsten der armen und landlosen Bevölkerung hatte eine Refokussierung großer Teile der indigenen Bevölkerung auf ihre korporativen Strukturen, kulturellen Traditionen und Sprache eingesetzt (Lovell 1988, S.43). Árbenz hatte durch eine Landreform den Verkauf von 1,4 Millionen Hektar ungenutzten Landes aus privater und staatlicher Hand an 500.000 bis dato landlose Guatemalteken ermöglicht und so eine Umverteilung in Gang gesetzt, die Großgrundbesitzer, internationale Agrarkonzerne wie die United Fruit Company und die US-Regierung als Bedrohung wahrnahmen. Sie stürzten Árbenz am 17.06.1954 mit Hilfe der CIA und des rechten Flügels des guatemaltekischen Militärs.

Der Putsch und die darauf folgende erste Militärregierung legten den Grundstein für den bewaffneten Konflikt zwischen rechtem Militär, Paramilitärs und Oligarchie einerseits und linken Guerillas andererseits. Die Guerillas zogen sich vorrangig in die dicht bewaldete Region Ixcan im Nordwesten Guatemalas zurück, weshalb das Militär und später die paramilitärischen »Patrullas de Autodefensa Civil« (PAC) ihren Terror hauptsächlich gegen die dort ansässige ländliche und größtenteils indigene Zivilbevölkerung richteten (Taylor 2007, S.186ff). Das von evangelikalen Kirchen stark beeinflusste Militär legitimierte die gewaltsame Bekämpfung der korporativen indigenen Strukturen, welche durch die katholische Befreiungstheologie beeinflusst waren, indem sie sie als »kommunistisch« stigmatisierte. 1981 begann die Kampagne der »tierra arrasada«, der verbrannten Erde: Das Militär verbrannte die Dörfer und siedelte die ländlichen Bewohner zur besseren Kontrolle in neuen, hierfür extra gerodeten Flächen, sog. »Modelldörfern«, an (ebd). Das Militär bediente sich bei der Ausübung von Gewalt auch bei traditionellen und religiösen Deutungsmustern der Maya-Kosmovision und evangelikaler Pfingstkirchen, mit Hilfe derer die Verantwortung bzw. Schuld für widerfahrene Gewalt beim Opfer lokalisiert werden konnte. Gewalt wurde hierdurch zu einem legitimen Mittel der Normdurchsetzung bzw. -wiederherstellung umgedeutet. Viele Zivilisten wechselten aus Angst zu evangelikalen Kirchen über, da diese den Schutz des Militärs genossen.

Das Militär verknüpfte mit der Repression gegen diesen Teil der Bevölkerung also ökonomische, politische, rassistische und religiöse Motive. Der bewaffnete Konflikt und der vom Militär gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Terror forderte 200.000 Todesopfer bzw. »desaparecidos« und eine Million Binnenflüchtlinge (Carey 2004, S.71). Die Landreform von Árbenz wurde rückgängig gemacht, was im Zusammenspiel mit Vertreibung, Zwangsumsiedlungen und Landraub während des Bürgerkriegs die heutige Ungleichverteilung des Landes zementiert hat: Zwei Prozent der Bevölkerung besitzen heute 70% des kultivierbaren Landes (Held 2010, S.3).

Erst 1983 fand durch einen weiteren Putsch eine Befriedung des Landes statt, die 1996 mit der Demobilisierung der Guerillas und der Unterzeichnung von vier Friedensverträgen, die allerdings bis heute nur unzureichend erfüllt sind, abgerundet wurde. Wenngleich das Land bereits seit knapp zwanzig Jahren offiziell befriedet ist, wirken jedoch die spezifischen Formen der Gewalt weiterhin auf die Gesellschaft ein und haben sie bis heute geprägt.

Die Stille als Überlebensstrategie

Im Nordwesten nutzten die indigenen Gemeinden das schwer zugängliche Gebiet und die Grenze zu Mexiko, um Widerstand zu leisten oder um ein »Leben im Schatten« zu führen: Sie versteckten sich als Gemeinde bis zu zwanzig Jahre im bewaldeten Hochland (zur Gemeinde Primavera de Ixcan vgl. Taylor 2007). Aus dieser Erfahrung entwickelten sie trotz hoher Verluste an Familienangehörigen und Freunden eine starke soziale Kohäsion, die aus der gegenseitigen Abhängigkeit und Solidarität herrührt. Dies gab ihnen Kraft, die Gewalterfahrungen besser zu verarbeiten und einen Neubeginn zu schaffen: Sie konnten sich nicht nur als Opfer, sondern auch als Überlebende oder Widerstandskämpfer sehen. Nach dem Konflikt waren es diese Gemeinden, die die höchste Aufmerksamkeit von internationalen Organisationen erhielten. Ihnen wird allerdings auch bis heute eine große Organisationsfähigkeit attestiert.

Die Gemeinden, in denen der Widerstand geringer war, die aber an strategisch relevanteren Punkten lagen und keine Fluchtmöglichkeiten hatten, wie die Gemeinden an der Peripherie um Guatemala-Stadt, erhalten bis heute weniger internationale Aufmerksamkeit. Sie waren den verschiedenen Strategien der »Aufstandsbekämpfung«, wenn auch in geringerem Masse, jedoch schutzlos ausgesetzt. Die Gemeinden waren oftmals infiltriert, und das Militär nahm im Schutz der Nacht »Verdächtige« mit: Viele »desaparecidos«, Verschwundene, konnten bis heute nicht gefunden werden. Das Unwissen über das, was passierte, und wer in der Gemeinde welche Funktionen erfüllt hatte, führte zu einer Omnipräsenz der Angst und einer Gewaltpräsenz ohne Autor oder Adressat, die ein allgegenwärtiges Schweigen mit sich zog: „Wir waren alle im Ungewissen, niemand redete darüber, und niemand traute sich zu sagen, was er wusste“, die Wände bekamen Ohren, die Stille wurde zur einzigen Hoffnung auf Sicherheit (Interview 1).

Viele Eltern isolierten ihre Kinder, lehrten sie, mit Fremden, Bekannten und auch der Familie nur das Nötigste zu sprechen und kein Aufsehen zu erregen. „Sie wuchsen auf mit einer ständigen Angst vor einem unbekannten Ungeheuer, von dem niemand weiß, was es will, welche Waffen es hat, wo es sich befindet und wann es angreift.“ (Interview 3a) Dieses Gefühl der Unsicherheit und der Ungewissheit hielt auch nach der Hochphase der Gewalt 1981-1983 an. Es gab keine Aufklärung über die vielen Verschwundenen, sondern einen sanften Übergang zu »negativem Frieden«, so dass die Menschen keinen Bruch mit der gewaltsamen Vergangenheit erkennen konnten. Vielmehr bestand die Gemeinde weiterhin aus den selben Mitgliedern: Unter ihnen lebten Spitzel, Paramilitärs und Militärs neben Opfern von Tod, Folter, Vergewaltigung – als wäre nie etwas passiert und doch in ständiger Angst. So wurden auch die paramilitärischen PAC nie offiziell aufgelöst, sondern bestehen vielerorts als »seguridad comunitaria las 24h«, als Bürgerwehren, fort. In diesem Sinne ist für viele Opfer auch die Persistenz des Militärs im Inneren des Landes ein Zeichen, dass die Repression nicht vorbei ist, sondern vielmehr weiter existiert.

Meist wird bis heute weder in den Gemeinden noch im inneren Kreis über die Geschichte und die Gewalterfahrungen gesprochen, zu hoch ist die Angst, das Aufbrechen alter Wunden könnte neue Gewalt hervorbringen. Das fehlende Vertrauen hat viele Menschen paralysiert und eine »Kultur der Stille« geschaffen. Dies verhindert nicht nur einen Heilungs- und Versöhnungprozess innerhalb der Gemeinden, es manifestiert sich auch in einer Kriminalisierung bürgerschaftlichen Engagements: „Die Polarisierung wird forciert und wir (sozialen Akteure) werden als Störenfriede stigmatisiert. Die Menschen haben Angst vor Störenfrieden, weil sie das Militär anlocken.“ (Interview 1) Deutlich wird dies an 402 Angriffen oder Einschüchterungsversuchen gegen Menschenrechtsaktivisten allein im Jahr 2011 (Amnesty International 2012).

Wie die Gewalt in die Gemeinden floss

Die fehlende Möglichkeit der Artikulation von Problemen und Konflikten hat dabei oft gewaltsame Konsequenzen auf individueller und kollektiver Ebene und wirkt sich auch auf andere Bereiche des Privatlebens sowie auf die generelle Diskurs- und Konfliktlösungskompetenz aus. Mit der Kultur der Stille geht insofern auch eine Akkumulation von ungelösten Problemen einher. Die beinahe allumfassende Straflosigkeit, die bei einer der höchsten Mordraten weltweit (40 Morde pro 100.000 Einwohner)1 rund 98,6% dieser Morde unaufgeklärt lässt (Briscoe 2012, S.12), sowie die Ohnmacht angesichts dieser hohen Gewaltintensität verstärken die Frustration auf individueller und kollektiver Ebene. »Justicia a mano propia«, Selbstjustiz, sowie die in Guatemala im Vergleich zu den Nachbarländern stark verbreitete Lynchjustiz stellen deshalb oft die einzig zugänglichen Sanktionierungsmöglichkeiten und auch das einzige Ventil für die allgegenwärtige Bedrohung und die angesammelte Frustration dar.2 Ohnmacht bzw. das Wissen um die Straflosigkeit von Verbrechen gehen mit einer Resignation bzw. Legitimation von physischer, materieller und immaterieller Gewalt einher.

Am Phänomen der »Femicidios«, der Frauenmorde,3 wird auch eine weitere Funktion von Gewalt deutlich, die ihren Ursprung im staatlichen Terror hat: Die gesellschaftliche Zurechtweisung von Individuen mit Hilfe von Gewalt, denen die Täter ein nichtkonformes Verhalten gegenüber Regeln und Normen attestieren, wird oft von weiten Teilen der Gesellschaft wenn nicht unterstützt, so doch als gegeben akzeptiert (FIDH 2006, S.33). Aber auch der Diebstahl, der häufig mit unverhältnismäßiger Gewalt einhergeht, oder die zur Dienstleistung aufgewerteten Auftragsmorde, die für nur 400 US$ erhältlich sind, sind Indizien für die Verrohung und Veralltäglichung von Gewalt, die in großen Teilen aufgrund der (Zwangs-) Rekrutierung durch die Armee und die PAC in die Gesellschaft floss. So hatte das Militär zahlreiche Männer im Zuge der Indoktrination für den Einsatz in den PAC konkret in der Verwendung von sexueller Gewalt als Mittel der Aufstandsbekämpfung geschult und durch Mutproben abgehärtet (Weber 2013, S.11-14). Die teilweise noch Minderjährigen erlernten die strategische Anwendung von Vergewaltigungen, Folter und Mord und damit den gering zu schätzenden Wert eines Menschenlebens: „Mein Bruder, der bei der Armee war, sagte zu mir: Das Militär selbst zerstört jede friedliche Kultur, denn es lehrt dich, den anderen zu hassen und ihm zu misstrauen. Es gibt immer einen Feind. Auch wenn du ihn nicht siehst.“ (Interview 1)

»El sujeto social internalizado« – die Früchte der Gesellschaft

Neben den beschriebenen sozialpsychologischen Langzeitfolgen finden sich auch auf individueller Ebene physische und psychologische Auffälligkeiten, die ihre Wurzel im internen Konflikt haben und/oder mit den genannten gesellschaftlichen Phänomenen korrelieren. Während das Militär die Soldaten und Paramilitärs in Brutalität und Gewaltverherrlichung schulte, so leiden auf der anderen Seite ihre Opfer bis heute unter den Folgen von psychischer und physischer Folter und Gewaltanwendung. Vor allem bei Männern äußere sich dies unseren Interviewpartner_innen zufolge in einem hohen Maß an Alkoholismus. Auch waren sich die Therapeut_innen in den von uns geführten Interviews einig, dass die in Guatemala sehr häufig vorkommenden Krankheiten Gastritis und Diabetes oftmals psychosomatische Krankheitsbilder seien, deren Wurzeln in den traumatischen Erlebnissen des Konflikts zu finden sind. Dafür spricht, dass Gastritis im Distrikt Rabinal, in dem es zahlreiche Massaker gab, besonders häufig auftritt.4

Ein weiteres Phänomen, an dem sich beispielhaft das Zusammenwirken von sozialer und individueller Ebene zeigt, ist die sexuelle bzw. häusliche Gewalt gegenüber Frauen. Ihre Ursachen sind sowohl in der Verrohung wie der Traumatisierung vieler Männer zu finden, die während des Krieges als Kombattanten beider Seiten, aber auch als entführte und gefolterte Zivilisten nachhaltig durch Gewalt geprägt wurden. Gleichzeitig hatten Frauen in Abwesenheit der Männer klassisch maskulin belegte Aufgaben übernommen und so tradierte Geschlechterrollen in Frage gestellt, was zu zusätzlichen Spannungen führte. Auf der anderen Seite wurde die Rolle der Witwen von unseren Interviewpartner_innen als zentral für einen positiven Wandel der Geschlechterbeziehungen und der Anerkennung und Emanzipation der Frauen genannt. Viele Frauen, die Opfer der sexuellen Gewalt durch das Militär wurden, leiden bis heute unter verschiedensten psychischen Erkrankungen, wie etwa Depressionen, Schlafstörungen, Nervosität, Essstörungen oder Teilnahmslosigkeit.

Erschwerend wirkt hier, dass durch den von den Frauen erlittenen sexuellen Missbrauch die strengen kulturellen Konzeptionen einer »unbefleckten Ehefrau« zerstört wurden. Sexueller Missbrauch und Vergewaltigung wurden von den Gemeinden auch aufgrund ihrer Hilflosigkeit als kollektive Schande wahrgenommen, sodass oft versucht wurde, die Schuld für die Vergewaltigung auf die Frauen selbst oder ihre Ehemänner zu schieben (Weber 2013, S.11). Dies führte häufig zu einer noch stärkeren Stigmatisierung der Frauen und zu ihrem Ausschluss aus dem sozialen Leben der Gemeinde. In der Isolation können diese Frauen leicht Opfer neuer Übergriffe aus Familie oder Gemeinde werden. So weist Guatemala auch eine vergleichsweise hohe Rate häuslicher Gewalt auf.5 Viele Frauen versuchen daher aus Selbstschutz, das an ihnen verübte Verbrechen zu verheimlichen, und hüllen sich in vollkommenes Schweigen, was die oftmals ohnehin vorhandenen Leiden noch verstärkt (ebd., S.12).

Fazit

Die guatemaltekische Gesellschaft leidet noch immer in großen Teilen unter den Folgen des Terrors, der sich vor dreißig Jahren vor allem von Seiten des Militärs und der Oligarchie gegen die indigene und ländliche Bevölkerung gerichtet hatte. Weiterhin herrschen bei großen Teilen der mestizischen und weißen Bevölkerung ethnische Ressentiments gegenüber der indigenen Bevölkerung vor, die in deren Marginalisierung und strukturellen Armut resultieren. Umgekehrt herrscht bei großen Teilen der Indigenen ein starkes Misstrauen gegenüber Fremden. Auch ist die Gesellschaft gespalten, wie mit der Vergangenheit umgegangen werden soll. Hier ist es vor allem die Angst, die die Menschen hemmt, ihre Gedanken, Gefühle und Erfahrungen mit ihrer Gemeinschaft zu teilen. Darunter leiden oft sowohl diejenigen, die Menschenrechtsverbrechen erfahren haben, als auch diejenigen, die sie – teilweise gegen ihren Willen – verübt haben.

Der fehlende Diskurs über die Vergangenheit und ihre Folgen für die guatemaltekische Gegenwart blockiert Veränderungen auf makrostruktureller Ebene, die einen Ausweg aus dem Teufelskreis der Gewalt erlauben würden. Die Allgegenwärtigkeit der Angst und der Gewalt auf individueller sowie kollektiver Ebene kann sich auch aufgrund fehlender Ventile in Lynchjustiz und Selbstjustiz entladen. Die hohe Straflosigkeit und Veralltäglichung von Gewalt stehen in engem Zusammenspiel mit strukturellen, sozial- wie individualpsychologischen Langzeitfolgen des internen Konfliktes, welche bis heute in die guatemaltekische Gesellschaft hineinwirken. Hierbei leben die Menschen in einem sich selbst reproduzierenden Widerspruch, in dem die Gewalt sie einerseits paralysiert und sie selbst andererseits keine andere Möglichkeit als die Anwendung von Gewalt sehen, um sich zu schützen. Nichtsdestotrotz gibt es Menschen wie unsere Interviewpartner_innen, die im Kleinen Veränderungen im »teijido social«, dem sozialen Geflecht, schaffen. Die durch soziale und entwicklungsorientierte Projekte aus den Gemeinden heraus und mit ihnen neues Vertrauen und Solidarität untereinander schaffen. Die sich entgegen der repressiven Verhaltensnormen als »Störenfriede« engagieren und das zerrissene Geflecht der guatemaltekischen Seele zu flicken versuchen.

Literatur

Amnesty International (2012): Guatemala – Submission to the UN Human Rights Committee for the 104th Session of the Human Rights Committee. London.

Briscoe, Ivan (2009): El Estado y la seguridad en Guatemala. Madrid: Fundación para las Relaciones Internacionales y el Diálogo Exterior (FRIDE).

Carey Jr, David (2004): Maya Perspectives on the 1999 Referendum in Guatemala: Ethnic Equality Rejected? In: Latin American Perspectives: The Struggle Continues: Consciousness, Social Movement, and Class Action, H. 31, Nr. 6 (Nov. 2004), S.69-95.

Casaús Arzú, Marta Elena (2002): La metamorfosis del racismo en Guatemala. Cholsamaj. Ciudad de Guatemala.

Federación Internacional de los derechos humanos (FIDH)(2006): Informe. Misión Internacional de Investigación. El feminicidio en México y Guatemala.

Held, Susanne (2010): Der Kampf um Land in Guatemala am Beispiel des »Comité de Unidad«. München: GRIN Verlag.

Lovell, George W. (1988): Surviving Conquest: The Maya of Guatemala in Historical Perspective. In: Latin American Studies Association, H. 23, Nr. 2 (1988), S.25-57.

Rosada, Romás; Bruni, Lucilla (2009): Crisis y pobreza rural en América Latina: el caso de Guatemala. Documento de Trabajo N°45 Programa Dinámicas Territoriales Rurales. Rimisp – Centro Latinoamericano para el Desarrollo Rural. Santiago, Chile.

Taylor, Matthew John (2007): Militarism and the environment in Guatemala. In: GeoJournal H. 69 (2007), S.181-198.

Weber, Sanne (2013): Giving a voice to victims. Towards gender-sensitive processes of Truth, Justice, Reparations and Non- Recurrence (TJRNR) in Guatemala. Ciudad de Guatemala: Impunitywatch.

Zinecker, Heidrun (2006): Gewalt im Frieden. Formen und Ursachen der Nachkriegsgewalt in Guatemala. HSFK-Report 8/2006. Frankfurt/Main.

Anmerkungen

1) CERIGUA 2012; bit.ly/X4uT6Y.

2) Mindestens ein Familienmitglied jedes zweiten Guatemalteken war im letzten Jahr bereits Opfer von Gewalt, 77,9% fürchten sich, das Haus zu verlassen (nach Briscoe 2009, S.12).

3) Als »Feminicidio« wird ein Mord bezeichnet, der mit der Zugehörigkeit der Person zum (biologischen) weiblichen Geschlecht und ihrer gesellschaftlichen Rolle in Verbindung steht.

4) Studie der Regionalverwaltung Rabinal; bit.ly/10FudoM.

5) So weist die UNAIDS-Erhebung für 2011 zur Gewalt an Frauen durch ihren Partner in den letzten zwölf Monaten für Guatemala mit 27,6% den höchsten Prozentsatz aller zentralamerikanischer Länder aus; bit.ly/ZJWXew.

María Cárdenas Alfonso ist Staats- und Kommunikationswissenschaftlerin (B.A.). Zurzeit studiert sie Friedens- und Konfliktforschung (M.A.) an der Philipps-Universität Marburg und ist Mitglied des Redaktionsteams von W&F. Philipp Schultheiß studiert Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Marburg. Dieser Artikel beruht auf den vorläufigen Ergebnissen des Forschungsprojekts der beiden Autor_innen »Wechselwirkungen von kulturellen Dispositionen und Traumatisierung in Guatemala«. Während ihrer zweimonatigen Feldforschung führten die beiden Autor_innen Interviews sowie Gruppendiskussionen in unterschiedlichen Regionen des Landes.