Rückt Lateinamerika nach links?

Rückt Lateinamerika nach links?

von Jürgen Nieth

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Argentinien 1978: Fußballweltmeisterschaft. Seit zwei Jahren regiert eine Militärjunta. Brigadegeneral Merlo und ein Militärstab haben das sportliche Großereignis vorbereitet; die Militärs »sichern« die Spiele und während im Stadion von Buenos Aires die Menschen jubeln, werden im Schutz der Lärmkulisse direkt nebenan in der Mechanikerschule des Militärs Menschen gefoltert und erschossen. Als die argentinische Junta 1984 abtreten muss, stehen 30.000 Verschwundene und Zehntausende Gefolterte auf ihrem Konto.

Chile 1973: In den ersten Tagen der Pinochet-Diktatur wird das Fußballstadion in Santiago de Chile zum Konzentrationslager. Viele werden es nicht mehr lebend verlassen. Tausende werden unter Pinochet ermordet. Unter der neuen chilenischen Präsidentin, Michelle Bachelet, wurden erst jetzt – 2006 – die Akten von 28.000 Gefolterten der Pinochet-Diktatur veröffentlicht.

Argentinien und Chile waren nicht die einzigen Länder Lateinamerikas, die in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts unter der Gewalt diktatorischer Regime standen. Im Gegenteil: Brasilien, Paraguay, Uruguay, Kolumbien, Nicaragua, El Salvador, Haiti usw., kaum ein Land Lateinamerikas, dem das Militär – vielfach gestützt durch die USA – nicht seinen Stiefel ins Gesicht getreten hat.

In den letzten drei Jahrzehnten hat sich diese Situation grundlegend geändert: Alle Militärdiktaturen wurden abgelöst – in der Regel – durch neoliberale Systeme. Inzwischen ist auch der Neoliberalismus weitgehend in Verruf geraten, die Regierungen der größten und ökonomisch stärksten Länder Lateinamerikas betonen antineoliberale Positionen, bezeichnen sich selbst als Linke- oder Mitte-Links-Regierungen. Im Laufe des Jahres könnte sich diese »Linkstendenz« noch verstärken, denn in Peru und Mexiko stehen Wahlen an und es sieht so aus, als ob sich auch hier Präsidenten durchsetzten, die im Vergleich zu ihren Vorgängern links sind.

Wir erleben einen Veränderungsprozess. Auf der positiven Seite steht bisher:

die Beseitigung der Terrorregime und die Wiedererlangung demokratischer Rechte,

die Lösung einiger Länder aus der engen Anbindung an die USA, die die vorhergehenden Dekaden dominierte,

der Akzeptanzverlust des neoliberalen Herrschaftsmodells und damit die Chance für Alternativen, die zur Verbesserung der Lebenssituation der Verarmten führen,

die Reaktivierung alter sozialer Bewegungen und die Entstehung neuer sozialer Bewegungen und Protestformen.

Positiv ist sicher auch, dass in mehreren Ländern, wie z.B. Chile und Argentinien, verstärkt an der Aufarbeitung der Verbrechen der Militärjunta gearbeitet wird und mit der Verfolgung der Täter begonnen wurde.

Das Erreichte darf also nicht unterschätzt werden – und doch sagt es noch nichts aus über die weitere gesellschaftliche Entwicklung.

Die Politik der »linken« Regierungen in den verschiedenen Ländern und ihre Verankerung in der Bevölkerung – d.h. auch ihre Stabilität – sind sehr unterschiedlich.

Die Regierungen in Brasilien und Chile können sich auf Parteien mit einer langen Tradition stützen, sie haben enge Verbindungen zu den alten sozialen Bewegungen und in die Mittelschichten hinein. Das hat den Vorteil, dass z.B. Lula in Brasilien – trotz zahlreicher nicht eingelöster Wahlversprechen – auf eine Wiederwahl hoffen kann.

Chaves in Venezuela und Morales in Bolivien können auf eine solche stabile Basis nicht zurückgreifen. Als charismatische Persönlichkeiten setzen sie stark auf ihren Einfluss unter den Marginalisierten, und sie mobilisieren die Massen auch schon mal mit nationalistischen Tönen. Haben sie keine sichtbaren Erfolge – z.B. in der Armutsbekämpfung – besteht die Gefahr, dass ihre Basis auseinander bricht und sie von der politischen Bühne verschwinden.

Ohne Zweifel: Die letzten Jahrzehnte betrachtet, ist Lateinamerika nach links gerückt! Und es wäre schon ein Fortschritt, wenn sich die Mitte-Links-Regierungen stabilisieren könnten, wenn sie schnell zumindest einen Teil der Erwartungen einlösen würden, die die Wähler in sie haben, und wenn sie auch langfristig eine konsequente Politik für ihre soziale Basis machten, d.h. wenn sie sich nicht nur in Worten sondern auch im ökonomischen Handeln vom neoliberalen Modell lösen würden. Eine engere Kooperation untereinander könnte dabei helfen, gegenüber den USA und den internationalen Finanzinstitutionen die eigenen Interessen durchzusetzen.

Werden die sozialen Bewegungen – die alten und die neuen – in diesen politischen Prozess einbezogen und gelingt es, demokratische Strukturen zu festigen – auch mit Hilfe der Aufarbeitung der Vergangenheit, könnten die Voraussetzungen entstehen für die Entwicklung eines sozialen, demokratischen und zukunftsfähigen Gesellschaftssystems.

Jürgen Nieth

Der Neoliberalismus und die Volksbewegungen

Der Neoliberalismus und die Volksbewegungen

Wohin geht die Entwicklung in Lateinamerika?

von Dieter Boris

Lateinamerika ist in den letzten Jahren in Bewegung geraten. Sogar hier zu Lande hat man davon Notiz genommen, wenn auch spärlich. Und es gibt eine gewisse Hinwendung, ein gewisses gesteigertes Interesse an diesen Prozessen, die sich dort offenbar abzeichnen. Stichworte: Venezuela, Uruguay, Brasilien, Argentinien, Bolivien, Ecuador. Aber was passiert dort wirklich? Gewiss, Bewegung lässt sich feststellen. Einige Präsidenten neoliberaler Provenienz sind aus ihren Ämtern vertrieben worden. Zeitweise waren erhebliche soziale Bewegungen zu beobachten. Der antineoliberale Diskurs ist stärker geworden oder, anders gesagt, der Neoliberalismus als Diskurs ist nicht mehr allein herrschend. Es gibt Neuansätze, aber die Frage ist, wie ist das Verhältnis von Kontinuität und Bruch, sind wirklich neue Verhältnisse zu konstatieren; sind diese neuen Mitte-Links-Regierungen der Anfang von etwas grundsätzlich Anderem oder nur die modifizierte Fortsetzung des Alten?

Als Ausgangspunkt für die neoliberale Hegemonie in den Ländern Lateinamerikas (Ausnahme Kuba) ist die Schuldenkrise Anfang der achtziger Jahre zu sehen. Diese wiederum war Ausdruck einer gewissen Erschöpfung des bisherigen Entwicklungsmodells, das auf Importsubstitutionen beruhte, also Ersatz von Importen und Binnenmarkt-Zentrierung einschloss. Damit ist eine gewisse Krisensituation bezeichnet, aus der neue Wege der Weiterentwicklung gesucht wurden. Natürlich wirkte dabei auch der Druck von außen mit, also die Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF), die Auflagen und Pressionen ausländischer Gläubiger und vor allen Dingen der so genannte berühmt-berüchtigte Konsens von Washington, der eine Skizze neoliberaler Politikmodelle beinhaltete. Diesem Druck von außen entsprach eine interne Machtverschiebung dahingehend, dass nun bestimmte Kapitalfraktionen, wie das Export- und Importkapital, die Finanzfraktion, aber auch technokratische Fraktionen gegenüber den binnenmarktorientierten Teilen der Bourgeoisie und anderen Bevölkerungssegmenten die Überhand gewannen. Das neue Programm der neoliberalen Politik, d. h. Öffnung nach außen, Privatisierung, Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, Liberalisierung der Preise usw., dieser ganze Katalog wurde nun in fast allen Ländern Lateinamerikas mehr oder minder radikal und intensiv umgesetzt. Das Versprechen derjenigen, die dieses Rezept verordneten, war, dass damit die Hoch- oder Hyperinflation – ein Übel der vorherigen Entwicklung – ausgeschaltet, die Stagnation im ökonomischen Bereich überwunden, die Arbeitslosigkeit reduziert und die Polarisierung der Gesellschaft vermindert werden könne. Mit der Umsetzung neoliberaler Politik ging das Versprechen der Wohlfahrtsteigerung einher. Tatsächlich waren in der Anfangsphase dieser neoliberalen Politik auch bestimmte Erfolge zu verzeichnen, z.B. haben sich die neoliberalen Regierungen immer auf die Fahnen geschrieben, die Hoch- oder Hyperinflation, manchmal von mehreren tausend Prozent im Jahr, relativ effektiv und schnell bekämpft zu haben. In der Tat kam es in den ersten Jahren auch zu einem gewissen Wiederanstieg der Wachstumsprozesse, vor allen Dingen Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre.

Bewegungen gegen die neoliberale Hegemonie waren zunächst sehr schwach. Es kam zwar manchmal wie bei der Regierungsübernahme in Peru oder auch in Venezuela zu spontanen Aufständen, zu Unmutsäußerungen der Bevölkerung über die Preisanstiege. Im Grunde genommen waren das aber sehr sporadische, vorübergehende Ereignisse. Es gelang vielen neoliberalen Präsidenten dann doch, sich durch- und die neoliberale Politik umzusetzen.

Länder- und phasenweise war das natürlich sehr unterschiedlich. In einigen Fällen war diese neoliberale Politik so erfolgreich, dass sie eine zumindest passive Zustimmung der Beherrschten fand, so dass manche Präsidenten nach der ersten Regierungsperiode mit großen Mehrheiten wiedergewählt wurden. Fujimori in Peru z.B. wurde Mitte der neunziger Jahre mit über fünfzig Prozent wiedergewählt, Menem mit ca. fünfzig Prozent. In der ersten Phase, Ende der achtziger bis zur zweiten Hälfte der neunziger Jahre, kann in bestimmten Ländern tatsächlich von so etwas wie einer neoliberalen Hegemonie, d. h. einer Zustimmung großer Teile der Beherrschten zu diesem Modell, gesprochen werden. Das hängt auch damit zusammen, dass etwa gewisse Entbürokratisierungen durchgeführt wurden, manchmal den Kommunen mehr Gewicht zugemessen wurde, dass auf kommunaler Ebene gewählt werden konnte oder dass die Importe billiger geworden waren.

Hintergründe des Akzeptanz- verlustes neoliberaler Regime

Die ersten Risse und Brüche dieser neoliberalen Hegemonie zeigten sich schon in der ersten Hälfte der neunziger Jahre. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an den Aufstand der Zapatisten am 1. Januar 1994. Die eigentliche Häufung von Protesten gegen die neoliberale Herrschaft erfolgte aber erst Ende der neunziger Jahre und vor allen Dingen mit Beginn des neuen Jahrhunderts.

Welche Faktoren führten zum Akzeptanzverlust der neoliberalen Herrschaft? Man kann feststellen, dass nach den gestiegenen Wachstumsraten Anfang der neunziger Jahre in der zweiten Hälfte in den meisten Ländern eine Stagnationsphase einsetzte. Es kam auch zu großen Krisen und langwierigen Rezessionen, wie in Argentinien von 1998 bis 2001. Es ereigneten sich eine Reihe von Finanzkrisen, die mehr oder minder tiefgreifende Wirkungen entfalteten: Finanzkrise in Mexiko 1994 und 1995, Finanz- und Währungskrisen in Brasilien Anfang 1999, Argentinien eigentlich dauernd seit 2000 bis 2002.

Die Arbeitslosigkeit stieg im Laufe dieser Krisen weiter an. Der informelle Sektor, die prekären Arbeitsverhältnisse multiplizierten sich. In manchen Ländern betrafen sie mehr als die Hälfte der Arbeitenden. Die sozioökonomische Polarisierung, also Einkommenspolarisierung, Differenzierung, Auseinanderdriften von Armut und Reichtum, nahm ungeahnte Dimensionen an. Zu all diesen ökonomischen und sozialen Defiziten der neoliberalen Politik und Herrschaft gesellten sich verschiedene institutionelle Schwächen wie das Versagen von Justiz, Polizei und der Parteien, teilweise auch der gesteuerten Medien. Es kam zu einer gewissen Unzufriedenheit mit der formalen Demokratie, die in einer Reihe von Ländern ja erst Anfang der achtziger Jahre – nach den Diktaturen der siebziger Jahren – erreicht worden war.

Zu den Momenten, die die Unzufriedenheit mit dem neoliberalen Modell gefördert haben, zählt auch das Ansteigen der Gewaltkriminalität im Alltag. Hinzu kam ein Phänomen, das Lateinamerika früher nicht gekannt hatte. Lateinamerika war immer ein Einwanderungskontinent gewesen, was sich aber in den neunziger Jahren ins Gegenteil kehrte. Einzelne Länder wurden geradezu für ihre Auswandererströme bekannt. Fast 20 % der Uruguayos leben heute im Ausland. Es gab die berühmten Bilder, auf denen ausreisewillige Argentinier Botschaften belagern. Die nach Spanien fliehenden Ecuadorianer und Ecuardorianerinnen sind notorisch, die Migrationsströme aus Zentralamerika, den karibischen Ländern und Mexiko in die USA ohnehin bekannt.

Die wachsende Unzufriedenheit mit dem Neoliberalismus und die Erkenntnis, dass die Versprechen, die mit ihm einhergegangen waren, immer weniger erfüllt wurden, führte dazu, dass es in manchen Ländern zu spontanen Aktionen kam, dass Präsidenten durch mobilisierte Massen weggefegt wurden. Das fängt schon 1997 in Ecuador mit Bucarám an, der als geistig umnachtet vom Parlament abgesetzt und dann von der Massenbewegung ins Exil getrieben wurde. Es traf auch andere Präsidenten, 2000 nochmals in Ecuador, dann in Argentinien, wo der gewählte Präsident Fernando de la Rúa völlig diskreditiert und blamiert das Regierungsgebäude in einem Hubschrauber verlassen musste, weil er im Dezember 2001 einen Einsatz der Polizei befohlen hatte, bei dem 40 Tote zu beklagen waren.

In anderen Ländern waren es eher Wahlen, die zu einer Umkehr führten wie in Brasilien, Uruguay und teilweise auch in Peru.

Neue und alte soziale Bewegungen

An den Aktivitäten gegen die neoliberalen Regime waren alte soziale Bewegungen, d. h. solche, die schon vor diesen Krisenzeiten existiert hatten, beteiligt, aber auch Bewegungen, die erst damals entstanden sind. In Argentinien bildeten sich z.B. ganz neue Bewegungen wie die der Piqueteros, die Arbeitslosenbewegung, die Stadtteilversammlungen, die Tauschbörsen, die Bewegung der besetzten Betriebe etc. All das sind Bewegungen, die es in dieser Form in den achtziger und neunziger Jahren noch nicht gegeben hatte.

Wie sind diese neuen Bewegungen einzuschätzen? Zunächst ist überraschend, dass sie sich überhaupt gebildet haben und eine solche Pressions- und Schubkraft entwickeln konnten. Denn die sozialen Bewegungen in Lateinamerika erlebten nach dem Rückzug der Militärdiktaturen und der Erringung der formalen Demokratie einen Rückgang. Fast überall konnte man beobachten, dass Bewegungen, die im Kampf gegen die Militärdiktatur einen Aufschwung erlebt hatten und sehr wichtig gewesen waren bei der Verdrängung der Militärs von der politischen Herrschaft, einen Rückgang erlebten. Das hängt mit vielen Dingen zusammen, unter anderem damit, dass viele ihrer Leute in Regierungs- oder Parteiämter kamen, dass das gemeinsame Feindbild eines Militärdiktators nun fehlte, dass mit bestimmten Maßnahmen seitens der neuen formalen Demokratien Bewegungen befriedigt wurden.

Sodann war die Revitalisierung dieser sozialen Bewegungen auch deshalb erstaunlich, weil sich unter dem Neoliberalismus Sozialstrukturen, die vorher vorhanden gewesen waren, verändert hatten. Verändert in dem Sinne, dass es jetzt wesentlich mehr Angehörige des informellen Sektors bzw. in prekären Arbeitsverhältnissen gab und eine gewisse Atomisierung der Sozialstruktur stattfand. Große Kollektive, die in Großbetrieben oder auch in Dienstleistungsbetrieben vorhanden gewesen waren, wurden im Zuge neoliberaler Politik zerschlagen oder extrem reduziert. Die Ansätze einr kollektiven Oppositions- und Widerstandsbewegung wurden dadurch sehr erschwert.

Aus diesen beiden Gründen ist es erstaunlich und bedenkenswert, dass es überhaupt wieder zu einem Aufschwung dieser sozialen Bewegung ab Ende der neunziger Jahre kommen konnte.

Sicher war entscheidend, dass ab einem bestimmten Punkt die Differenzen und Atomisierungstendenzen überdeckt wurden von dem gemeinsamen Protest gegen die neoliberalen Herrschaftsformen. Es kam zu Bündnissen zwischen Teilen der Mittelschichten und den Unterschichten. In Argentinien wurde das auf dem Höhepunkt der Krise 2001 – 2002 ganz deutlich, als sich die Cacerolazos, die Töpfe schlagenden Mittelschichtsangehörigen, die an ihre Konten wollten, mit den Piqueteros, den Arbeitslosen- und Gewerkschaftsbewegungen, verbündeten.

Wichtig war auch bei der Entstehung dieser neuen Protestbewegung, dass es in den meisten Ländern eine Bewegung gab, die voran schritt, die eine Vorreiterrolle einnahm. In manchen Ländern waren es die indigenen Bewegungen, vor allem in Ecuador und Bolivien. Im Schatten der indigenen Bewegung aktivierten sich dann auch die Gewerkschaftsbewegung, die Bewegungen der Cocaleros und der Minenarbeiter sowie der im Erziehungsbereich Arbeitenden.

In Argentinien lag die Vorreiterrolle bei den schon erwähnten Piqueteros, den neu gebildeten Arbeitslosenbewegungen. Interessanterweise sind sie im Nordwesten Argentiniens entstanden. Hier hatte die Privatisierung großer Unternehmen, z.B. der Raffinerien in Neuquén und Salta, ganze Regionen in die Arbeitslosigkeit gestürzt. In der Folge kam es zu Bündnissen zwischen Mittel- und Unterschichten, an denen sich auf lokaler und regionaler Ebene sogar Regierungsoffizielle beteiligten. In der tiefsten Provinz bildeten sich die ersten Keime dieser Arbeitslosenbewegung heraus, die dann erst relativ spät das Zentrum des Landes, den Großraum Buenos Aires erreichte. Dann aber spielte diese Arbeitslosenbewegung eine dominierende Rolle, der sich andere Bewegungen wie die Stadtteil-, die Frauen- und die Menschenrechtsbewegung anschlossen.

Ähnliches kann man auch für Brasilien konstatieren, wo der Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra, die Landlosenbewegung, eine gewisse Vorreiterrolle hatte. Man kann generell sagen, dass bei diesen Bewegungen der territoriale Aspekt wichtiger ist als der betriebliche. Bei den alten sozialen Bewegungen waren immer die betrieblichen Kerne wichtig, weil im Betrieb eben viele Menschen zusammengefasst waren, große Gruppen an einem Ort kommunizieren konnten. Das ist durch die Dispersion und die Atomisierung im Zuge des Neoliberalismus erschwert worden; von daher war das territoriale Organisationsprinzip eine logische Schlussfolgerung aus dieser Entwicklung. Das heißt: Stadtviertel schließen sich zusammen, Piqueteros, Arbeitslose blockieren an bestimmten Punkten der Stadt Verkehrsknoten und erheben Forderungen, nicht um den Produktionsprozess still zu legen, aus dem sie ja heraus gefallen sind, sondern den Zirkulationsprozess. Damit werden der übrigen Gesellschaft neue Signale vermittelt.

Überwindung des Neoliberalismus – Chancen und Probleme

Wie sind die neuen Regime in Lateinamerika – die allgemein als Mitte-Links-Regierungen bezeichnet werden – einzustufen? Wird mit ihnen das Zeitalter nach dem Neoliberalismus eingeläutet oder nur ein postneoliberales Zeitalter. Der von mir geschätzte Kollege Hans-Jürgen Burchardt hat ein Buch veröffentlicht mit dem Titel »Nach dem Neoliberalismus«. Ich würde sagen, das ist ein sehr hoffnungsfroher Titel, aber so weit sind wir noch nicht. Es ist eben das Problem, dass unsere Hoffnungen, Erwartungen und Wünsche uns gelegentlich ein Schnippchen schlagen. Notwendig ist eine genaue Analyse, um die Relativität dieser Fortschritte bei der Ablehnung des Neoliberalismus exakt und richtig einschätzen zu können.

Ganz klar ist, dass mit den Regierungswechseln in mehreren Ländern Lateinamerikas in Richtung Mitte-Links ein Schritt nach vorne gemacht wurde. Die monolithische, erstickende pensée unique, pensamiento unico, das Einheitsdenken wurde durchbrochen, es gibt neben dem Neoliberalismus jetzt auch andere Diskurse. Das ist natürlich ein wichtiger Fortschritt, und damit haben sich die Handlungsbedingungen der Linken (im weitesten Sinne) verbessert. Aber die Situation ist eben keineswegs eindeutig. Der Neoliberalismus ist in den meisten Ländern bei weitem nicht zu Grabe getragen und hat auch da, wo er oberflächlich gekappt ist, noch sehr tiefgreifende und festsitzende Wurzeln. Dem Prestige- und Legitimationsverlust des neoliberalen Diskurses in der Öffentlichkeit, in der Kultursphäre und anderen Bereichen, stehen noch feste Bastionen in der Wirtschaftspolitik und zum Teil auch in der militärpolitischen Orientierung entgegen. Atilio Borón, ein wichtiger argentinischer Politologe, der auch Vorsitzender der CLACSO ist, umreißt diese Ambivalenz mit den Worten: „Gegenwärtig ist ein bemerkenswertes Auseinanderklaffen zwischen einer unübersehbaren Schwächung neoliberaler Impulse in den Bereichen Kultur, öffentliches Bewusstsein und Politik einerseits und zur gleichen Zeit deren eingewurzelter Fortdauer auf dem entscheidendem Terrain der Wirtschaft und des policy making andererseits festzustellen.“ In der Wirtschaftspolitik wird die Unabhängigkeit der Zentralbank, ein Leitdogma des Neoliberalismus, anerkannt, der Kniefall vor dem IWF wird vollzogen usw. Auf der anderen Seite redet man in wichtigen Bereichen der Politik eher antineoliberal. In Brasilien und in Uruguay sind diese Erscheinungen ganz deutlich. Diese Ambivalenz gilt es zu analysieren. Vielleicht ist es ja so, wie Anibal Quijano, ein peruanischer Soziologe, es formulierte, dass mit dem Verfall neoliberaler Hegemonie keineswegs automatisch antikapitalistische Kräfte nach vorne gekommen sind, sondern dass möglicherweise nur eine neue Form bürgerlicher Hegemonie angestrebt wird.

Eine neue Form bürgerlicher Hegemonie, die vielleicht eine etwas modifizierte Einbindung in den Weltmarkt anstrebt, vielleicht mit sozialen Beimengungen, aber keineswegs schon einen Schritt in Richtung der Überwindung des Kapitalismus darstellt.

Diese ambivalente Situation wird auch innerhalb der Linken der betroffenen Länder sehr unterschiedlich eingeschätzt. So wird z.B. das Phänomen Chávez und die »Bolivarianische Revolution« innerhalb der Linken Venezuelas außerordentlich kontrovers diskutiert. Innerhalb Argentiniens gibt es selbst unter Marxisten polar entgegengesetzte Auffassungen zu Kirchner und seiner Politik.

Vielleicht kann ich das am Fall des argentinischen Präsidenten Kirchner exemplifizieren. Kirchner hat eine ziemliche Wende gegenüber der Politik seiner Vorgänger vollzogen. Er hat eine neue Menschenrechtspolitik eingeschlagen, dafür gesorgt, dass die Amnestiegesetze oder Selbstamnestiegesetze aufgehoben und Veränderungen im Justizbereich durchgesetzt wurden. Auch eine außenpolitische Wende hat stattgefunden. Der Mercosur, das Integrationsbündnis der südamerikanischen Staaten, soll ein neues Gesicht erhalten. Auf der anderen Seite aber versucht derselbe Kirchner, die sozialen Bewegungen zu spalten, etwa die Piqueterobewegung: manche sind die guten und manche die schlechten Piqueteros. Auch Kirchner plädiert dafür, dass die Exportpolitik und der bürgerliche Wiederaufbau gestützt wird. Er macht daraus keinen Hehl, er sagt offen, wir wollen ein »país en serio«, einen seriösen ernsthaften Kapitalismus. Für die Linke stellt sich damit die Frage, ob sie eine diametrale Oppositionspolitik gegen diese Kirchner-Linie machen muss. Ist Kirchner, wie James Petras, Maristella Svampa und andere Linke sagen, der Typus des besonders raffinierten, neuen Konservativen, den es zu bekämpfen gilt, oder muss man der Kirchner-Regierung mit kritischer Distanz und zeitweisen Bündnissen begegnen?

Nirgendwo ist eine antikapitalistische sofortige Umwälzung in Sicht. Von daher erscheint auch die Frage der distanzierten Unterstützung dieser Mitte-Links-Regierungen in einem anderen Licht. Gerade die Tatsache, dass eine Linke z. B. in Argentinien, in Venezuela oder anderswo, in einer kompakten, konzentrierten, entschlossenen Form überhaupt nicht vorhanden ist, welche systemtranszendierende Qualitäten hätte, zeigt, dass der Prozess einer weitreichenden Umwandlung dieser Gesellschaften und Ökonomien wahrscheinlich ein sehr langfristiger Prozess ist. Kurz- und mittelfristig ist wohl nicht von einer grundlegenden Veränderung auszugehen. Das bedeutet, dass mit der Ablehnung und sukzessiven Zurückdrängung des neoliberalen Modells auch ein Lernprozess einhergehen muss, eine Suche nach neuen Formen der politischen Vergesellschaftung, nach neuen Formen auch von ökonomischen Handlungsweisen. Also genau das, was in Lateinamerika jetzt als Sektor der solidarischen Ökonomie bezeichnet wird, ein genossenschaftlicher, solidarischer Sektor. Alternative Wirtschaftsformen fallen nicht vom Himmel oder sind nicht schon da, sie sind nichts was man einfach von der Stange nehmen könnte, sondern sie müssen langwierig entwickelt, für sie muss Bewusstsein entfaltet werden. Das ist ein sehr langwieriger Prozess sowohl auf ökonomischer und auf politischer Ebene, aber vor allen Dingen auch auf der Ebene der politischen Kultur. Eine ganz neue politische Kultur muss erlernt werden, die von dem Vertikalismus, also hierarchischen Beziehungen, die auch in der Linken durchaus verbreitet sind, wegkommt und die Horizontalität, die Autonomie der einzelnen Bewegungen, Toleranz für pluralistische Ansätze in unterschiedlichen Bewegungen und die Konzentration dieser unterschiedlichen Bewegungen auf einen Punkt hin anstrebt.

Aufgrund der Schwäche der Linken in den meisten Ländern Lateinamerikas können solche Prozesse der schrittweisen Zurückdrängung des Neoliberalismus eine Chance besitzen. Auf Seiten der Linken gilt es, diese Prozesse als Lernphase und Akkumulation eigener Kräfte zu reflektieren und mit Politikvorschlägen und Alternativen zu begleiten, bis dann irgendwann eine gerechtere Ordnung durchgesetzt werden kann.

Literatur:

Boris, D./St. Schmalz/A. Tittor (Hg.) (2005): Lateinamerika: Verfall neoliberaler Hegemonie?, Hamburg: VSA Verlag.

Burchardt, H.J. (2004): Zeitenwende. Politik nach dem Neoliberalismus, Stuttgart: Schmetterling Verlag.

Lateinamerika-Jahrbuch Nr. 29 (2005): Neue Optionen lateinamerikanischer Politik, Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot

Das Argument, Nr. 262 (H. 4/2005): Links-Regierungen unterm Neoliberalismus, Hamburg: Argument Verlag.

Dr. Dieter Boris, Professor für Soziologie an der Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Probleme der Entwicklung/Unterentwicklung, Weltwirtschaft, Soziologie und Ökonomie Lateinamerikas

LA: Ein wiederentdecktes Interessenfeld

LA: Ein wiederentdecktes Interessenfeld

EU verstärkt Einflussnahme

von Johannes Plotzki

Wenn es um den Ausbau ihrer ökonomischen Interessen geht, macht die Europäische Union weder vor dem Hinterhof der USA halt noch ist sie bereit, dieses Ziel der Achtung der Menschenrechte oder nachhaltiger Entwicklung unterzuordnen. Anders sind die aktuellen Bestrebungen der EU, den südamerikanischen Kontinent verstärkt in ihre Außen- und Handelspolitik einzubeziehen, nicht zu verstehen. Johannes Plotzki beschreibt das weit gediehene Beziehungsgeflecht zwischen der EU und Lateinamerika auf Grundlage bestehender bzw. angestrebter Freihandelsverträge und Kooperationsabkommen. Die Verträge sind in ihrer asymmetrischen Ausrichtung nicht geeignet, einen dauerhaften Zustand sozialer Sicherheit in Lateinamerika und der Karibik zu erreichen, sondern im Gegenteil oftmals Ursache für Armut und soziale Ungleichheit. Den daraus resultierenden Konflikten wird teilweise militärisch und repressiv begegnet; auch dafür gibt es Unterstützung aus der EU, wie exemplarisch am Beispiel Kolumbien ausgeführt wird.

Über 20 Jahre neoliberalen Umbaus durch Privatisierung von Dienstleistungsunternehmen, Deregulierung der Handelsbeziehungen und Liberalisierung der Märkte haben in Lateinamerika und der Karibik die Verarmung weiter Bevölkerungsteile vorangetrieben. Die Ergebnisse sind verheerend: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung kann ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen. Fast 91 Millionen Menschen in Lateinamerika fielen in den letzten 20 Jahren unter die Armutsgrenze.1Lateinamerika und die Karibik sind die Regionen mit der größten sozialen Ungleichheit weltweit“, fasst David de Ferranti, Vizepräsident der Weltbank für den Bereich Lateinamerika und die Karibik, den hauseigenen Report Inequality in Latin America & the Caribbean: Breaking with History? zusammen. Weiter führt er aus, „dass Lateinamerika eine hochgradige Ungerechtigkeit in Bezug auf Einkommen, dem Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Trinkwasser und Elektrizität aufweist.2 Die EU ist an dieser Entwicklung alles andere als unbeteiligt.

Global denken heißt alle Weltteile beobachten

Die Europäische Union ist der zweitwichtigste Handelspartner Lateinamerikas. Gegenüber dem regionalen südamerikanischen Wirtschaftsblock MERCOSUR3 als auch dem Andenstaat Chile nimmt sie diesbezüglich sogar die Spitzenposition ein. Zwischen 1990 und 2004 wurden die Importe der EU aus Lateinamerika von 26,7 Mrd. auf 62,1 Mrd. Euro mehr als verdoppelt, und die Exporte der EU nach Lateinamerika stiegen im gleichen Zeitraum von 17,1 Mrd. auf 54,8 Mrd. Euro. Die EU ist darüber hinaus die bedeutendste Investorin in Lateinamerika. Sie steigerte ihre Direktinvestitionen in der Region innerhalb von drei Jahren von 176,5 Mrd. (2000) auf 237,9 Mrd. Euro (2003).4

Der Ausbau der Handelsbeziehungen steht auch im Zentrum der »strategischen Partnerschaft«, welche die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, Lateinamerikas und der Karibik unter dem Co-Vorsitz von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder auf ihrem ersten Gipfel in Rio de Janeiro am 28. Juni 1999 eingegangen sind. „Für die strategische Partnerschaft ist es wichtig, dass die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Regionen ausgebaut werden. Trotz einer erheblichen Zunahme der Handels- und Investitionsströme zwischen den beiden Regionen in den letzten 15 Jahren wird ihr Wachstumspotenzial noch unzureichend genutzt,“ so die EU-Kommission in einer Mitteilung an den Rat und das EU-Parlament. Als konkrete Empfehlung benennt sie darin die „Schaffung eines Umfelds, das Handel und Investitionen begünstigt.“5 In diesem Zusammenhang ist beispielsweise das von der EU mit 15 Mio. Euro finanzierte Entwicklungsprojekt PRODESIS im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas zu sehen. Menschenrechtsorganisationen in Mexiko und Europa befürchten, dass die EU-Projektgelder der Aufstandsbekämpfung im anhaltenden Konflikt dienen.6

Als einer der größten Wirtschaftsräume und Freihandelszonen der Welt gilt der MERCOSUR seit seinen Anfängen für die EU als interessantes Betätigungsfeld. Schon vor der EU-Erweiterung auf 25 Mitglieder war sie – und nicht die USA – der größte Handelspartner des seit 1991 bestehenden MERCOSUR, der rund ein Viertel seines Außenhandels mit der EU bestreitet.7 Die ersten Verhandlungen zu einem EU-MERCOSUR-Abkommen wurden 1999 geführt. Fraglich ist nun, wann dieses in trockene Tücher kommt. Die geplante Abschlussrunde im Oktober 2004 in Lissabon scheiterte, weil laut EU-Kommission die MERCOSUR-Staaten keine zufrieden stellenden Angebote für die Liberalisierung von Industriegütern, des Telekommunikationssektors und des öffentlichen Auftragswesens gemacht hätten. Erst im September 2005 gab es wieder ein offizielles Treffen in Brüssel.

Diese Verzögerung beunruhigt führende Politiker. Schon im Mai 2001 mahnte Georg Boomgaarden, Beauftragter für Lateinamerikapolitik im Auswärtigen Amt: „Die Wirtschaft des MERCOSUR ist heute noch stärker auf Europa ausgerichtet als auf die USA. Wenn die deutsche und europäische Wirtschaft allerdings nicht aufpasst, kann sich das mit Verwirklichung der für 2005 geplanten panamerikanischen Freihandelszone FTAA/ALCA schnell ändern. Ein Markt wie der MERCOSUR mit einem größeren Sozialprodukt als das Chinas, ein Markt, in dem Europa traditionell sehr gut positioniert ist, braucht mehr Aufmerksamkeit. Global denken, heißt auch, alle Weltteile zu beobachten und nicht nur diejenigen, die gerade in Mode sind.8 Anhand dieser Aussage wird deutlich, dass man inzwischen bereit ist, in eine offene wirtschaftliche Konkurrenz mit den USA in deren eigenem Hinterhof einzutreten. Auf die Frage, ob er nicht glaube, dass Washington auf die empfundene Verletzung der Monroe-Doktrin äußerst scharf reagieren würde, antwortete Lothar Mark, Lateinamerika-Beauftragter der SPD: „Das müssen wir dann durchstehen, denn Lateinamerika ist ein potenzieller Markt und ein Partner für Europa.“ Es gehe nicht an, „sich US-amerikanischen Wirtschaftsinteressen unterzuordnen.“9

Am 26. Mai 2005 drückten auf dem Ministertreffen von MERCOSUR und EU in Luxemburg beide Seiten ihre „starke Überzeugung“ aus, dass die regionale Integration eine „wichtige Rolle für Wachstum, Handelsliberalisierung, ökonomische und soziale Entwicklung“10 spiele. Die Vertreterin der EU-Kommission auf diesem Treffen, Kommissarin Ferrero-Waldner, hofft, dass schon beim Wiener EU-Lateinamerika-Gipfel im Mai 2006 eine Einigung in Sachen Freihandel zwischen EU und MERCOSUR erzielt werden kann.11 Die Zeit drängt, denn die Konkurrenz schläft nicht. Zukünftig stellt China den größten Konkurrenten für europäische Investoren in Lateinamerika und der Karibik dar.12

Neben den Bestrebungen für ein EU-MERCOSUR-Abkommen hat die EU bereits durch andere Kooperationsverträge den Handel mit weiteren lateinamerikanischen Märkten liberalisiert. Besonderes Kennzeichen dieser so genannten »Abkommen der 2. Generation« ist eine Verbindung der bisherigen Programme der Wirtschaftsförderung mit politischen Inhalten wie Menschenrechten, Demokratisierung und Good Governance sowie entwicklungspolitischen Zielsetzungen wie beispielsweise Armutsbekämpfung und nachhaltige Entwicklung. Der Idealtypus dieser neuen Generation von Handelsabkommen beinhaltet neben einer „Institutionalisierung des politischen Dialogs über die Wahrung der Menschenrechte und demokratischer Prinzipien“ auch die Schaffung „einer WTO-kompatiblen Freihandelszone (…) einschließlich einer graduellen Liberalisierung im Agrar- und Dienstleistungssektor, die Liberalisierung der geistigen Eigentumsrechte, der Finanzkapitalbewegungen und des öffentlichen Beschaffungswesens.“13

Zu folgenden Wirtschaftsräumen bzw. Staaten regeln bereits heute solche Abkommen die Handelsbeziehungen: Andengemeinschaft14, Zentralamerika, Chile und Mexiko. Außerdem ist die EU mit den karibischen Staaten vor allem durch das sogenannte AKP-Vertragswerk Lomé IV und sein Nachfolgeabkommen Cotonou verbunden.

Die 1993 abgeschlossene Kooperationsvereinbarung zwischen EU und Andengemeinschaft bildete die Grundlage für ein am 15. Dezember 2003 in Rom unterzeichnetes Abkommen, welches als mittelfristige Perspektive die Errichtung einer biregionalen Freihandelszone vorsieht. Zeitgleich unterzeichnet wurde auch ein Abkommen zwischen der EU und dem Wirtschaftsblock Zentralamerikas.15

Die EU-Mitgliedstaaten, die EU-Kommission und Chile haben im Vorfeld des zweiten EU-Lateinamerika-Gipfels ein Assoziationsabkommen ausgearbeitet, das im März 2005 ratifiziert wurde. Es ist nach Angaben der EU-Kommission derzeit das umfassendste Abkommen mit einem Drittstaat. Kernbestandteil ist die Errichtung einer Freihandelszone EU-Chile bis zum Jahr 2015. Es schließt folgendes ein: „Die progressive Liberalisierung von Handel und Dienstleistungen, den politischen und kulturellen Dialog sowie praktisch alle Bereiche der wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit16.

Zwischen der EU und Mexiko ist am 1. Juli 2000 ein Freihandelsabkommen in Kraft getreten. Dieses erfasst 95% des derzeitigen Warenhandels und sieht die weitgehende Beseitigung aller Diskriminierungen im Dienstleistungsverkehr vor. Die schrittweise Umsetzung der Zollfreiheit für alle gewerblichen Waren soll bis 2007 erfolgen. Die Grundlage der Beziehungen zwischen der EU und Mexiko bildet das sogenannte Globalabkommen.

Zwar wird in Paragraph 1 des Globalabkommens die Achtung von Demokratie und Menschenrechten festgeschrieben, aber es handelt es sich hierbei wohl eher um Lippenbekenntnisse, wie Alberto Arroyo, Vertreter des freihandelskritischen Netzwerks RMALC, ausführt: „Der einzige ausgearbeitete Teil widmet sich dem Freihandel. Was den politischen Dialog und die Menschenrechte betrifft, sind nicht einmal Kontrollmechanismen festgelegt worden.17 Auf dem »2. Forum zum Dialog zwischen den Zivilgesellschaften und den Regierungsinstitutionen Mexikos und der Europäischen Union« Anfang März 2005 in Mexiko-Stadt war die durchgängige Kritik seitens der Zivilgesellschaft die fehlende Partizipationsmöglichkeit in den europäisch-mexikanischen Beziehungen sowie mangelnde Transparenz bei den Verhandlungen.18

Freihandel statt Entwicklung und Menschenrechte

Noch vor Inkrafttreten des Freihandelsabkommens zwischen Mexiko und der EU äußerte Alfonso Moro von RMALC seine Befürchtungen darüber, wer die eigentlichen Profiteure des Abkommens sein werden: „Der Anteil mexikanischer Produkte, welche auf dem europäischen Markt konkurrieren können, ist sehr klein. Dazu kommt, dass von den zehn wichtigsten Exportprodukten Mexikos in die EU sieben von europäischen Unternehmen in Mexiko hergestellt werden.19 Letztlich profitieren daher hauptsächlich europäische Unternehmen von der Handelsöffnung, ähnlich wie US-Konzerne vom Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA begünstigt werden. Dieses seit 12 Jahren bestehende Freihandelsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko hat speziell in Mexiko zu verschärften sozialen Spannungen und größerer Armut geführt.

Der Co-Autor der bereits erwähnten Weltbank-Studie und Chef-Ökonom der Weltbank für den Bereich Lateinamerika und Karibik, Guillermo Perry, benennt eine grundlegende »institutionelle Reform« als den Schlüsselfaktor für eine Verringerung der Ungerechtigkeit in Lateinamerika. Dafür sei es notwendig, dass zivilgesellschaftliche Kräfte mehr Einfluss in den politischen und sozialen Institutionen bekommen. Um solche Einflussnahme zu erreichen, „müssen diese Institutionen völlig offen, transparent, demokratisch und partizipativ20 gestaltet werden. Diesen Erfordernissen kommen die bisherigen biregionalen Verträge und Handelsabkommen zwischen EU und lateinamerikanischen Ländern jedoch nicht nach. Klaus Schilder (WEED) befürchtet, „dass die EU Menschenrechts- und Demokratiefragen nicht zum zentralen Anliegen der Abkommen macht, sondern vielmehr ihren wirtschaftlichen Freihandelsinteressen unterordnet. Praktisch nicht vorhanden sind in fast allen EU-Abkommen Hinweise auf die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Gruppen in einen strukturierten und umfassenden Dialogprozess.21

Auch wenn sich die EU-Kommission, vertreten durch das General-Direktorat für Außenhandel (DG Trade), im weltweiten Poker um Märkte von den US-amerikanischen Verhandlungspartnern dadurch unterscheidet, dass sie kompensatorische Maßnahmen in Form von Entwicklungs- und Hilfsprogrammen zum Aufbau gesunder Sozialstrukturen für unerlässlich hält und bemerkt, dass wirtschaftliche Öffnung nicht automatisch zu Entwicklung führt, ist das wirtschaftspolitische Paradigma das gleiche. Denn „in der handelspolitischen Praxis vertraut die EU unverändert auf die Wirksamkeit ihrer neoliberalen Freihandelsdoktrin »Handelsliberalisierung = Wirtschaftswachstum = Verringerung der Armut«.22

Von Seiten der EU wird dabei die Bedeutung der strukturellen Asymmetrie der an den Abkommen beteiligten Volkswirtschaften völlig ignoriert. Zieht man zur Verdeutlichung die strukturelle Aufteilung des Güterhandels zwischen EU und MERCOSUR heran, so wird erkennbar, dass fast 60% der Exporte in die EU aus Nahrungsmitteln und landwirtschaftlichen Rohstoffen bestehen, während die Ausfuhr von Industriewaren, also verarbeiteten Gütern, kaum 30% ausmacht. Im Gegensatz dazu sind von den Exporten aus der EU in den MERCOSUR über 90% Industriegüter mit bis zu 90% hohem Kapital- und Technologieanteil. Und rund 15% aller landwirtschaftlichen Importe der EU kommen aus dem MERCOSUR.23

Es deutet also alles darauf hin, dass die vielzitierte »Strategische Partnerschaft« zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika nichts anderes als die Fortsetzung und Festschreibung bekannter Abhängigkeitsmuster zwischen Zentrum und Peripherie darstellt. Denn das Ergebnis des EU-MERCOSUR-Abkommens und die vertragliche Festschreibung der seit den 80er und 90er Jahren laufenden Liberalisierungs- und Privatisierungsbestrebungen sind nichts anderes als die Instrumentalisierung Lateinamerikas für ein „eurokapitalistisch-neoliberales Integrationsprojekt.“24Das Urteil des Netzwerks gegen Freihandel RMALC über die europäische Wirtschaftspolitik fällt entsprechend hart aus: „Europa ist ein Imperium und führt sich hier genauso auf wie die USA.25

Waffenexporte und Militärhilfe – Das Beispiel Kolumbien

Die hinlänglich bekannte militärische Präsenz und Einflussnahme in Lateinamerika seitens den USA lässt sich in Ansätzen auch bei der EU ausmachen. Die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) erkennt eine Kategorie von »neuen Bedrohungen« für Europa, die „verschiedenartiger, weniger sichtbar und weniger vorhersehbar sind.26 Dazu zählen: Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte, das Scheitern von Staaten und organisierte Kriminalität. Keine dieser Bedrohungen bringt die ESS ausdrücklich mit Lateinamerika und der Karibik in Verbindung. Anders beurteilt das Auswärtige Amt die von Lateinamerika ausgehenden Bedrohungen: „Heißt das, dass sie dort nicht existieren?“27, wird die Frage im Arbeitsbericht des Auswärtigen Amtes für die Jahre 2004-2005 aufgeworfen, um sie nur wenige Zeilen später selbst zu beantworten. Zwar sei mit dem Vertrag von Tlatelolco in ganz Lateinamerika eine atomwaffenfreie Zone geschaffen worden, dennoch: „andere der genannten »neuen Bedrohungen« sind in Lateinamerika durchaus vorhanden. (…) Gerade dann, wenn Regierungen im Interesse ihres innenpolitischen Überlebens populistischen Neigungen nachgaben, kam es noch jüngst zu vereinzelten regionalen Zuspitzungen.“ 28 Leider wird nicht weiter ausgeführt, welche Regierungen Lateinamerikas gemeint sind, die „populistischen Neigungen nachgaben.“

Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass die von der EU-Kommission empfohlene „Schaffung eines Umfelds, das Handel und Investitionen begünstigt,“29 auch eine militärische Komponente in Form von Rüstungsexporten und Militärhilfe besitzt.

Herman Schmid, Soziologieprofessor in Dänemark und ehemaliger schwedischer Abgeordneter der Linksfraktion im Europäischen Parlament, wies in einem Hearing im Europäischen Parlament darauf hin, dass die EU vor allem in so genannte Entwicklungsländer exportiert. Schmid betonte in diesem Zusammenhang, dass die Vergabe von Entwicklungshilfe zunehmend mit der Verpflichtung zum Kauf europäischer Waffen verknüpft werde.30

Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Drogenanbau und -handel – eine weitere in der ESS aufgelistete Bedrohung, welche vom Auswärtigen Amt auch für die Region Lateinamerika bestätigt wird – leisten besonders Frankreich, Spanien und Großbritannien umfangreiche Militär- und Ausbildungshilfe für lateinamerikanische Länder. Dies soll hinsichtlich des für diesen Beitrag nur begrenzt zu Verfügung stehenden Platzes, im Folgenden exemplarisch an Kolumbien umrissen werden.

Seit Jahren warnt Amnesty International, dass die von den EU-Staaten geleistete Militär- und Ausbildungshilfe auch bei Einsätzen des kolumbianischen Militär Verwendung finde, die von gravierenden Menschenrechtsverletzungen begleitet sind. 2002 gab Großbritannien Ausbildungshilfe und militärische Beratung an Kolumbien, 2003 hielten sich dort Verbindungsoffiziere der britischen Streitkräfte, auf und im gleichen Jahr unterstützte Großbritannien den Aufbau der neuen Gebirgseinheit Kolumbiens. Großbritannien ist der zweitgrößte Geldgeber für Militär- und Ausbildungshilfe an Kolumbien nach den USA.31 Ferner sind nach einem Bericht der kolumbianischen Tageszeitung El Tiempo im Jahr 2004 von Spanien zwischen 32 und 46 Panzer (AMX-30 ) an Kolumbien verkauft worden, die Spanien in den 1970er Jahren von Frankreich erworben hatte. Die spanischen Behörden versäumten offensichtlich, gemäß internationalen Abkommen Frankreich vor dem Weiterverkauf an Kolumbien um Erlaubnis zu fragen. Dabei ist Frankreich selbst militärischer Pate Kolumbiens. Innenminister Nicolas Sarkozy sagte Kolumbiens Präsident Uribe bei dessen Frankreich-Besuch 2002 „die totale Unterstützung gegen die Guerilla und den Drogenhandel“ zu.32

Kooperationen zwischen den in Südamerika stationierten US-Streitkräften und einzelnen EU-Staaten lassen sich auch anhand der niederländischen Inseln Curaçao und Aruba ausmachen, auf denen das Southern Command des US-Militärs zwei Forward Operation Locations (FOL) installiert hat, die in den Plan Columbia eingebunden sind.33

Auch wenn die militärische Beziehung der EU zu Lateinamerika bedeutend schwächer ist als die der USA zur Region, kann es keinen Zweifel daran geben, dass die aktuellen Bemühungen der Europäischen Union darauf hinaus laufen, sich weitere Vorteile im traditionellen Hinterhof der USA zu sichern. Schlimmstenfalls gehen dabei weiter wachsende Armut und Konflikte Hand in Hand mit steigenden europäischen Militär- und Ausbildungshilfen.

Anmerkungen

1) Vgl. AFP-Meldung. In: La Jornada, 1.6.2004.

2) Vgl. Weltbank-Bericht: Inequality in Latin America & the Caribbean: Breaking with History?, Mexiko-City, 7. Okt. 2003.

3) Länder des am 26. März 1991 beschlossenen Gemeinsamen Marktes des Südens (Mercado Comun del Cono Sur) MERCOSUR sind: Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay. Im Dezember 2005 wurde die Aufnahme Venezuelas beschlossen. Chile und Bolivien sind assoziierte Mitglieder.

4) European Commission: EU-Latin America Trade relations at the bi-regional level. Quelle: http://europa.eu.int/comm/external_relations/la/index.htm#1b

5) EU-Kommission: Mitteilung an den Rat und das EU-Parlament: Eine verstärkte Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika. Brüssel, den 8.12.2005 – KOM (2005) 636.

6) Johannes Plotzki: IMI-Studie 2004/02 August 2004: Die Befreiungsbewegung der Zapatisten in Chiapas/Mexiko im Würgegriff neoliberaler Konzerninteressen und staatlicher Repression durch den »Krieg niederer Intensität«.

7) Vgl. EU-MERCOSUR: Ministertagung legt Fahrplan für Freihandelsverhandlungen fest. Trade Issues, Brüssel, 12. November 2003, Quelle: http://europa.eu.int/comm/trade/issues/bilateral/regions/MERCOSUR/pr121103_de.htm

8) Georg Boomgaarden, Beauftragter für Lateinamerikapolitik im Auswärtigen Amt: Deutsche Lateinamerikapolitik unter Bedingungen der Globalisierung. Frankfurt/Main, den 8.Mai 2001, Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/ausgabe_archiv?archiv_id=1521

9) Zit. nach Guha, Anton-Andreas: EU soll sich gegen USA behaupten, Frankfurter Rundschau, 16.05.02.

10) Rat der Europäischen Union – Presseerklärung (9426/05 Presse 127), 26.5.2005, Quelle: http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/en/er/84976.pdf

11) Vgl. Die Presse.com, 9.7.2005. Quelle: http://www.diepresse.com/Artikel.aspx?channel=p&ressort=eu&id=493652

12) Vgl. Ibero-Amerika-Verein (IAV) e.V.: Ausländische Direktinvestitionen in Lateinamerika, Umfrage des IAV unter den Auslandshandelskammern der Region, 13.12.2004. Quelle: http://www.ibero-amerikaverein.de/awz/aktuelles.php?module=show&id=17880

13) Klaus Schilder (WEED). Regionalisierung unter neoliberalem Vorzeichen? Die polit-ökonomische Geographie der EU-Handelspolitik. 10.6.2003.

14) Länder der Andengemeinschaft sind: Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela. Assoziierte Staaten sind: Mexiko, Panama, Chile, sowie die Mitgliedsstaaten des Mercosur seit dem 7.7.2005.

15) Hierzu zählen Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua und Panama.

16) Auswärtiges Amt: Beziehungen EU-Lateinamerika, Stand Mai 2004, Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/gasp/eu_aussenbez/lateinamerika_html#1

17) Zit. n. Boris Kanzleiter: Transatlantischer Freihandel frustriert Gewerkschaftler. In: Poonal Nr. 426 v. 27.3.2000.

18) Vgl. Johannes Plotzki: Forum zum Dialog zwischen den Zivilgesellschaften und den Regierungsinstitutionen Mexikos und der Europäischen Union. IMI-Standpunkt 2005/19, 03.03.2005.

19) Poonal, Pressedienst lateinamerikanischer Agenturen. Nr. 426 vom 31.3. 2000.

20) Vgl. Weltbank-Bericht 2003.

21) Klaus Schilder (WEED). ebenda.

22) Vgl. Klaus Schilder (WEED). ebenda

23) Vgl. Thomas Fritz: Feindliche Übernahme – Die geplante Freihandelzone zwischen der Europäischen Union und dem Mercosur. (BLUE 21 Arbeitspapier, Schwerpunkt: Handel, Umwelt und Entwicklung), Oktober 2004; Günther Maihold: Die südamerikanische Staatengemeinschaft – Ein neuer Partner für die EU? (Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell 60) Dezember 2004.

24) Dieter Boris/Ingo Malcher: Die Konkurrenz zwischen den USA und der EU in Lateinamerika. In: Forschungsgruppe Europäische Integration (Hrsg.): Euroimperialismus? (Studie Nr. 20, Institut für Politikwissenschaft, Philipps-Universität Marburg, 2005).

25) Alberto Arroyo; zitiert nach: Wolf Dieter Vogel: Kampf um Mercados. In: Jungle World, Nummer 23 vom 26.5.2004.

26) Ein Sicheres Europa in einer besseren Welt – Europäische Sicherheitsstrategie. Dez. 2003. S. 3.

27) Auswärtiges Amt (Hrsg.): Deutsche Außenpolitik 2004-2005. S. 165.

28) Ebd., S. 165.

29) EU-Kommission: Mitteilung an den Rat und das EU-Parlament: Eine verstärkte Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika. Brüssel, den 8.12.2005 – KOM (2005) 636.

30) Vgl. Referat von Herman Schmid beim Public Hearing: Arms Exports in the European Union: A Threat to Peace and Security? 29.06.2005, Europäisches Parlament, Brüssel.

31) Amnesty International: Undermining Global Security: the European Union’s arms exports (ACT 30/003/2004), 2004, S. 54f.

32) Ebd., S. 81.

33) Ebd., S. 65.

Johannes Plotzki ist Mitarbeiter des Abgeordneten des Europäischen Parlaments Tobias Pflüger. Er war längere Zeit als Menschenrechtsbeobachter in Mexiko.

Deutsche Kampfpanzer nach Chile

Deutsche Kampfpanzer nach Chile

Eine kritische Bestandsaufnahme

von Michael Radseck

Meldungen über Rüstungsgeschäfte fallen in Chile auffällig oft in die Weihnachtszeit und die anschließenden langen Sommerferien. Zum jüngsten Jahreswechsel war es wieder soweit: In ihrer Sonn- und Feiertagsausgabe vom 25. Dezember 2005 berichtete die chilenische Tageszeitung El Mercurio vom bevorstehenden Abschluss eines Panzergeschäfts zwischen Berlin und Santiago. Die deutsche Bundesregierung, so der Bericht, habe dem Verkauf von einhundert gebrauchten Kampfpanzern des Typs Leopard 2 an Santiago zugestimmt. An weiteren zweihundert Panzern dieses Typs zeigten Chiles Generäle Interesse.1

Berlin musste die Nachricht im Anschluss an die Festtage weder bestätigen noch kommentieren, die Meldung des Mercurio fand keinen Eingang in die deutschen Rundfunk- oder Zeitungsredaktionen. Auf Nachfrage im Verteidigungsministerium wurden Anfang Februar entsprechende Gespräche zwar bestätigt, zugleich aber auf laufende Verhandlungen verwiesen.2 Als Gegenstand laufender Regierungsverhandlungen aber unterliegen Rüstungsgeschäfte wegen des vorgeblichen Schutzes nationaler Sicherheitsbelange einer strengen Geheimhaltung, selbst wenn es in Wahrheit immer auch um handfeste kommerzielle Interessen geht. Allerdings sind diese mit den hehren Zielen einer »restriktiven Rüstungsexportpolitik«, wie sie Berlin offiziell verfolgt, nur in den wenigsten Fällen in Einklang zu bringen.

Inzwischen steht fest: Ein entsprechender Kaufvertrag zwischen Chile und Deutschland wurde bereits am 10. Februar 2006 abgeschlossen, jedoch auf Wunsch Berlins bis Ende März 2006 geheim gehalten. Offenbar wollte man von deutscher Seite aus dem offiziellen Abschluss des Geschäfts solange nicht vorgreifen, wie nicht Washington sein Plazet zu den Panzerlieferungen erteilt hatte. Dieses ist erforderlich, da der Leopard 2 auch US-Bauteile enthält. Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr erst am 24. März 2006 von dem deutsch-chilenischen Panzerdeal. In einer dpa-Kurzmeldung bestätigte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums lapidar den Verkauf von 118 Leopard 2 an Santiago.3 Weitere Angaben wurden in Berlin nicht gemacht. Ausführlicher berichtete neuerlich der Mercurio.4 Demnach sieht die Vereinbarung zwischen Berlin und Santiago vor, dass 93 einsatzfähige Leopard 2 in der Version A4 bald den Besitzer wechseln; weitere 25 Exemplare des Panzers sollen zu Schulungszwecken eingesetzt werden und als Ersatzteillager dienen. Geliefert wird in drei Tranchen ab Dezember 2006 zum Preis von 124 Mio. USD.

Öl ins Feuer

Die Lieferung des Bundeswehr-Standardpanzers an Santiago setzt in mehrfacher Hinsicht ein Signal. Es werden Kampfpanzer einer bis dato in Südamerika nicht vorhandenen Gewichtsklasse und Stückzahl in ein klassisches Spannungsgebiet geliefert. Damit verschieben sich die militärischen Kräfteverhältnisse in der Region entscheidend und neuerlich zu Gunsten von Santiago. Die Waffensysteme werden im Norden Chiles, in Reichweite der »heißen« Grenzen zu Bolivien und Peru stationiert.

Es bedarf wohl keines Propheten, um vorauszusehen, dass die seit jeher konfliktträchtige Dreiecksbeziehung zwischen Santiago, La Paz und Lima dadurch weiteren Schaden nehmen wird. Strittige Territorialansprüche, hasserfüllte Ressentiments und wilde Verschwörungstheorien sorgen seit den Tagen des Salpeterkriegs (1879-83), in dessen Folge Bolivien und Peru bedeutende Landesteile an Chile verloren, für permanenten Zündstoff zwischen den drei Anrainern. Dass immer dann besonders gezündelt wird, wenn von innenpolitischen Krisen abgelenkt werden soll, macht Waffenexporte in diese ohnehin instabile Region besonders brisant.

Neben der historischen Forderung Boliviens nach Wiedererlangung eines souveränen Pazifikzugangs steht mit dem Streit um den Verlauf der chilenisch-peruanischen Seegrenze seit einigen Monaten ein zusätzlicher, sich verschärfender Territorialkonflikt im Raum. Mit Zutun des peruanischen Kongresses, der im November 2005 einseitig das eigene Hoheitsgebiet vor der fischreichen Küste »per Gesetz« ausweitete, steuern die latent gespannten chilenisch-peruanischen Beziehungen zusehens auf einen kritischen Punkt zu: Während Lima nach den Worten seines Außenministers „den diplomatischen Verhandlungsweg für mittlerweile ausgeschöpft“ hält, sieht Santiago in puncto Grenzziehung, so in seiner jüngsten Protestnote, weiterhin „nichts zu verhandeln.“5 Paradoxerweise sieht deshalb selbst die deutsche Bundesregierung die Gefahr in der Region „nicht gebannt“. Sie befürchtet, „dass sich diplomatische Auseinandersetzungen über Gebietsansprüche in begrenzte regionale kriegerische Konflikte ausweiten.“6

Wie berechtigt die Sorge über eine Militarisierung der bestehenden zwischenstaatlichen Konflikte und die Gefahr eines Wettrüstens in der Region ist, zeigen erste Reaktionen aus Lima und La Paz auf die Meldung von dem deutsch-chilenischen Panzergeschäft. Erstmals bezichtigte der peruanische Botschafter in Santiago die Chilenen, einen „denkbaren Waffengang“ gegen Lima vorzubereiten.7 Umfragen zufolge glaubt mittlerweile mehr als jeder zweite Peruaner, der südliche Nachbar rüste sich für einen Angriffskrieg gegen sie.8 Unbestritten ist, dass im Norden Chiles bereits heute mit oder ohne Leopard 2 die schlagkräftigste Kampfpanzerflotte auf dem Subkontinent in Stellung gebracht ist.9 Auch die aus den fabrikneuen US-Kampfjets vom Typ F-16 gebildete Elitestaffel der chilenischen Luftwaffe, die ihresgleichen in Südamerika sucht, wird in diesen Tagen unweit der Landesgrenzen zu Bolivien und Peru stationiert.10 Dazu kommt der Kauf von nicht weniger als acht Fregatten und zwei U-Boot-Prototypen, ausgerüstet mit Lenkwaffen einer Reichweite, über die keine andere Kriegsmarine im südlichen Lateinamerika verfügt.11

Angesichts des atemberaubenden Beschaffungsprogramms der chilenischen Streitkräfte (siehe Auflistung) verfangen die gebetsmühlenartigen Beteuerungen aus Santiago immer weniger, es handele sich einzig um die „legitime Modernisierung überholter Rüstungsbestände“. Zweifelsohne muss es als qualitative wie quantitative Aufrüstung gelten, wenn leichte, zur Gefechtsaufklärung und Sicherung taugliche Panzer (18-Tonnen-Modelle der 40er Jahre vom Typ M-24 bzw. 27-Tonnen-Modelle der 50er Jahre vom Typ M-41) durch die doppelte Anzahl schwerer Kampfpanzer (42-Tonnen-Modelle der 70er Jahre vom Typ Leopard 1 A5 bzw. 58-Tonnen-Modelle der 90er Jahre vom Typ Leopard 2 A4) ersetzt werden. Gleiches gilt für den Ersatz gebrauchter, für den Bodennahkampf konzipierter Maschinen (Modelle der 60er Jahre vom Typ Cessna Dragonfly) durch fabrikneue Kampfflugzeuge der vierten Generation – mit integrierten Waffen- und Kampfführungssystemen für den Luft-Luft und den Luft-Boden-Kampf (Modelle der Typen F-16).

Verständlich, dass nicht nur für die Peruaner die Großwaffenkäufe durch Santiago längst „über die Erneuerung veralteten Kriegsmaterials hinausgehen.“12 Angesichts des »militärischen Ungleichgewichts«, das Beobachter in der Region im Allgemeinen und bei Perus Streitkräfte im Besonderen ausmachen, ist es deshalb nur eine Frage der Zeit, bis sich die Rüstungsspirale im südlichen Lateinamerika weiterdreht. Ollanta Humala, derzeit aussichtsreicher Anwärter auf die Präsidentschaft in Peru, kündigte Mitte März 2006 an, er wolle zwar kein Wettrüsten in der Region einleiten, werde aber als Staatsoberhaupt dafür Sorge tragen, dass Perus Streitkräfte über ein hinreichendes »Abschreckungspotential« verfügen.13 Anders als Santiago beschafft Lima seine Großwaffen traditionell in den ehemaligen Ostblockländern. Wie in den NATO-Vertragsstaaten werden auch dort die aufgefüllten Lager von Kriegswaffen angesichts knapper Kassen und internationaler Abrüstungsverpflichtungen seit Jahren geräumt.14

Rüstungsexportpolitik in Theorie und Praxis

Lieferungen von Kriegswaffen in Krisen- und Spannungsgebiete verbieten sich selbstredend. Nicht von ungefähr ist dieser elementare Grundsatz Teil der deutschen wie der europäischen Richtlinien zur Rüstungsexportpolitik. So heißt es in Punkt III.5. der Politischen Grundsätze für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern aus dem Jahr 2000: „Lieferungen [von Kriegswaffen] an Länder, die sich in bewaffneten äußeren Konflikten befinden oder bei denen eine Gefahr für den Ausbruch solcher Konflikte besteht, scheiden … grundsätzlich aus.“ Ebenso hält das Kriterium 4 des Verhaltenskodex der Europäischen Union für Waffenausfuhren von 1998 die Mitgliedstaaten dazu an, bei der Genehmigung von Waffenausfuhren „die Wahrscheinlichkeit eines bewaffneten Konfliktes zwischen dem Empfängerland und einem anderen Land“ ebenso zu berücksichtigen wie die „Erfordernis, die regionale Stabilität nicht wesentlich zu beeinträchtigen.“

Im Falle der Lieferung deutscher Leopard 2-Kampfpanzer an Chile wurden darüber hinaus zahlreiche weitere Kriterien verletzt, die sowohl in den deutschen »Politischen Grundsätzen« als auch im »EU-Verhaltenskodex« formuliert sind. Deutsche Regierungsvertreter dürften deshalb an einer öffentlichen Debatte über das genehmigte Panzergeschäft mit Chile keinerlei Interesse haben. Der Erklärungsnotstand der seit November 2005 in Berlin regierenden großen Koalition wie auch der rot-grünen Vorgängerregierung wäre vorprogrammiert.

Tatsächlich müsste die Bundesregierung im Falle des Exports von Leopard 2-Panzern nach Chile „besondere außen- oder sicherheitspolitische Interessen“ geltend machen, um nach eigener Maßgabe die eigentlich nicht zu genehmigende Ausfuhr von Kampfpanzern in einen Drittstaat zu begründen. So legen die »Politischen Grundsätze« in den Punkten III.1. und III.2. unzweideutig fest: „Der Export von Kriegswaffen [in sog. Drittstaaten] wird restriktiv gehandhabt. [Er] wird nicht genehmigt, es sei denn, dass im Einzelfall besondere außen- und sicherheitspolitische Interessen der Bundesrepublik Deutschland … für eine ausnahmsweise zu erteilende Genehmigung sprechen. Beschäftigungspolitische Gründe dürfen keine ausschlaggebende Rolle spielen.“ Chile aber fällt einwandfrei unter die Kategorie eines Drittstaates, da es weder EU- noch NATO-Mitglied noch dem Bündnis gleichgestellt ist, so sehr Santiago seit Jahren auch alle Maastricht-Kriterien erfüllen mag und offenbar gewillt ist, die Bewaffnung seiner Streitkräfte im Alleingang auf NATO-Standard anzuheben.

Hinzu kommt: Anders als etwa bei Lieferungen von Kriegsschiffen machen sogenannte „legitime Sicherheitsinteressen von internationalem Belang“ zur Begründung von Kampfpanzerausfuhren in Drittländer keinen Sinn.15 Ein 55-Tonnen-Panzer wie der Leopard 2 A4 ist eine für die konventionelle Kriegsführung gegen feindliche Panzer und Kampfhubschrauber konzipierte Angriffswaffe und eine exzellente dazu: Im Bundeswehrjargon auch als »göttliches Großgerät« bezeichnet, gilt der von Krauss-Maffei bis Anfang der 90er Jahre in Serie produzierte und danach noch einmal kampfwertgesteigerte, voll nachtkampffähige Panzer in puncto Feuerkraft, Mobilität und Panzerung als das Maß aller Dinge.16 Als solcher taugt er allerdings weder dazu, terroristische Bedrohungen abzuwehren, noch den internationalen Drogenhandel zu bekämpfen oder die Seewege für den Welthandel sicherer zu machen.

Selbst beschäftigungspolitische Gründe, wollte sie Berlin als Argument für das Panzergeschäft mit Santiago ins Feld führen, könnten beim Export ausgemusterter Bundeswehrbestände, unbeschadet etwaiger Nachfolgeaufträge an die deutsche wehrtechnische Industrie und dem „besonderen Interesse der Bundesregierung an [deren] Kooperationsfähigkeit“,17 nicht wirklich überzeugen.18 Zumal solche Gründe gemäß den selbstauferlegten Richtlinien bei einer „ausnahmsweise“ zu erteilenden Genehmigung eines Kriegswaffenexports in einen Drittstaat ohnehin „keine ausschlaggebende Rolle“ spielen dürfen.

Keine Rolle bei der Genehmigung des Panzerexports durch Berlin kann demgegenüber Santiagos laxer Umgang mit Waffenembargos und internationalen Verpflichtungen gespielt haben. Verstöße gab es 1991 im Falle Kroatiens sowie 1995 im Falle Ekuadors, seinerzeit im bewaffneten Konflikt mit Peru. Besonders pikant: Santiago wacht seit 1942 als Garant über den zwischenstaatlichen Frieden zwischen Lima und Quito. Gleichermaßen ein Affront: Chiles wenig konstruktive Meldepolitik gegenüber dem VN-Berichtssystem für Militärausgaben und dem VN-Waffenregister, die mitunter Täuschungs- und Verdunklungsmanövern gleichkommt. So fällt bei Chiles Meldungen an das VN-Register für konventionelle Waffen die Häufung falsch klassifizierter Zuläufe auf. In den Meldeberichten für die Jahre 1996-2000 wurden z.B. die aus den Niederlanden und Frankreich importierten Kampfpanzer vom Typ Leopard 1 A5 und AMX-30 B jeweils als »gepanzerte Kampffahrzeuge« und nicht als »Kampfpanzer« ausgewiesen. In Chiles Mitteilungen an das VN-Berichtssystem für Militärausgaben, sofern überhaupt übermittelt, finden sich regelmäßig weniger als die Hälfte der nach VN-Kriterien zu meldenden Ausgaben wieder. Insbesondere werden den VN aus Santiago grundsätzlich keine Kosten für Pensionszahlungen sowie Ausgaben für den militärischen F&E-Bereich gemeldet. Nach dem Papier ist aber bei der Genehmigung eines Kriegswaffenexports in einen Drittstaat eigentlich dessen „bisheriges Verhalten … im Hinblick auf die … Einhaltung internationaler Verpflichtungen … [und] seine Unterstützung des VN-Waffenregisters“ ebenso zu berücksichtigen wie seine Fähigkeit, „wirksame Ausfuhrkontrollen durchzuführen.“19

Den eigenen Maßstäben gemäß wären bei der Genehmigung eines Kriegswaffenexports am Ende auch „unverhältnismäßige Rüstungsausgaben“ des Empfängerstaates zu berücksichtigen.20 Allerdings scheinen solche für die Bundesregierung auch dann nicht vorzuliegen, wenn wie im Falle Chiles der Anteil der Militärausgaben am Bruttosozialprodukt mit knapp vier Prozent doppelt so hoch liegt wie im südamerikanischen Durchschnitt; gemessen an den Pro-Kopf-Verteidigungsausgaben liegt Chile mit über 160 USD sogar dreimal so hoch.21

Schließlich: Großwaffenkäufe werden in Chile nach dort geltender Gesetzeslage völlig am Parlament vorbei und ohne jedwede öffentliche Debatte über ihr Für und Wider entschieden und finanziert. Grundlage hierfür ist das sogenannte Kupfergesetz. Es sorgt dafür, dass zehn Prozent der Bruttoeinnahmen, welche die staatliche Kupfergesellschaft CODELCO über den Verkauf ihrer Produkte im Ausland erzielt, direkt und zu gleichen Teilen auf geheimen Sonderkonten von Heer, Marine und Luftwaffe landen. Allein in 2005 wurden auf diese Weise 850 Mio. USD in die Kassen der chilenischen Streitkräfte gespült – zusätzlich zum parlamentarisch verabschiedeten Verteidigungshaushalt.22 In letzter Konsequenz entscheidet in Santiago somit der Kupferpreis über Art und Umfang der militärischen Beschaffungsvorhaben – ein Mechanismus, der dafür sorgt, dass Rüstungskäufe angesichts finanziell autonomer Militärs nachgerade zwangsläufig eine Eigendynamik entfalten müssen. Dieser Punkt kann, muss aber deutsche Regierungsvertreter nicht interessieren: Weder die deutschen noch die europäischen Richtlinien für Rüstungsexporte sehen vor, gegenüber der Rüstungs- und Verteidigungspolitik potentieller Empfänger von Kriegswaffen Kriterien der Transparenz, demokratischer Kontrolle und Rechenschaftslegung zu berücksichtigen.

Chiles Großwaffenkäufe 1994-2006

Waffenplattforma/ Lieferland Zulauf Kaufsummeb/
Kampfpanzer
211 Leopard 1 A5 NL (DE) 1998-2001 63 Mio. USD**
21 AMX 30 B2 FR 1998-99 k.A.
118 Leopard 2 A4 DE 2006-07 124 Mio. USD
Kriegsschiffe
1 Fregatte 22-Klasse GB 2004 50 Mio. USD
4 Fregatten L/M-Klasse NL 2005-06 350 Mio. USD
2 U-Boote Scorpène-Klasse* E/ FR 2005-06 450 Mio. USD
3 Fregatten 23-Klasse GB 2006-08 350 Mio. USD
Kampfflugzeuge
25 Mirage V B 1994-96 109 Mio. USD**
10 F-16 C/D* USA 2006 650 Mio. USD
18 F-16 A/B NL (USA) 2006- 185 Mio. USD
Quelle: Eigene Zusammenstellung.
Anmerkungen:
a/ Aufgelistet sind Waffensysteme, die bereits zugelaufen oder vertraglich geordert worden sind. Fabrikneue Waffensysteme sind mit einem * gekennzeichnet. Soweit derzeit bekannt, beabsichtigt die Armee, weitere 200 Kampfpanzer vom Typ Leopard 2, die Luftwaffe bis zu zwanzig weitere Kampfjets vom Typ F-16 zu beschaffen. Darüber hinaus werden unter der Regierung Bachelet (2006-10) die Bestände an Kampfhubschraubern und Transportmaschinen komplett erneuert und aufgestockt werden.
b/ Die angegebenen Preise beziehen sich allein auf die »nackten« Plattformen, verstehen sich also ausschließlich der Kosten für Bewaffnung und Munition im besonderen für die Fregatten und U-Boote ebenso wie für erfolgte Kampfwertsteigerungen wie im Falle der Leopard 1. Mit ** versehene Summen beinhalten nachgewiesene Schmiergeldzahlungen, 15 Mio. USD im Falle der belgischen Mirage V, 1,5 Mio. USD im Falle der niederländischen Leopard 1.

Anmerkungen

1) Patricio González Cabrera: Tanques. Ejército alemán vendería Leopard 2 a Chile, in: El Mercurio, 25.12.2005.

2) So Oberstleutnant Robert Wilhelm, Sprecher für Rüstung im Verteidigungsministerium, im Gespräch mit meinem Mitarbeiter Georg Strüver am 3. Februar 2006, dem ich für seine Recherchen herzlich danke.

3) Abgedruckt etwa in: Die Welt, 24.3.2006.

4) Patricio González Cabrera: Alemania: Lista compra de 100 Leopard 2, in: El Mercurio, 18.3.2006 und ders.: Leopard 2: Ejército incorpora uno de los mejores tanques del mundo, in: El Mercurio, 25.3.2006.

5) Conflicto de delimitación marítima entre Chile y el Perú, in: Wikipedia. La enciclopedia libre, última revisión, 28.2.2006, http://es.wikipedia.org/w/index.php?title=Conflicto_de_delimitaci%C3%B3n_mar%C3%ADtima_entre_Chile_y_el_Per%C3%BA&oldid=2441101.

6) Auswärtiges Amt: Deutsche Außenpolitik 2004/2005, S. 165, https://www.auswaertiges-amt.de/www/de/infoservice/download/pdf/publikationen/ap2005.pdf.

7) La Nación (Santiago), 28.12.2005.

8) Peru.com, 13.9.2005.

9) Ignacio J. Osacar: Los Leopard II de Chile y el equilibrio regional, Nueva Mayoría.com, 17.1.2006 sowie Macarena López: Pax Chilena. Nada es para siempre, Marzo de 2006, http://www.harrymagazine.com/200603/paxchilena.htm, Zugriff am 28.3.2006. Insoweit muss Santiagos Panzerflotte, die neben den rund 200 kampfwertgesteigerten Leopard 1 A5 ca. 60 französische AMX-30 umfasst, die »feindlichen Armeen im Norden«, nicht fürchten: Boliviens Truppe verfügt über zwei Dutzend österreichische Jagdpanzer (17-Tonnen-Modelle vom Typ SK-105 Kürassier), Peru derzeit über höchstens 200 einsatzfähige Panzer vor allem der sowjetischen Typen T-54/55 (36 Tonnen-Modelle der 60er Jahre).

10) Chiles Luftwaffenchef stritt im Hinblick auf die grenznahe Stationierung der F-16-Staffel im Norden seines Landes jedwede strategischen Zusammenhang ab. Die ersten 10 Exemplare dieses Kampfjets werden auf einer reaktivierten Luftwaffenbasis in Iquique, weitere 18 Maschinen ab September 2006 in Antofagasta stationiert. Dort, so der General, verfüge man über die nötige Infrastruktur und befinde sich in einer Zone, in der keine Flugverbote herrschen, vgl. Macarena Peña: F-16. La FACh presentó ayer los aviones más modernos de Sudamérica, in: El Mercurio, 1.2.2006.

11) López (Anm. 9).

12) So der peruanische Präsidentschaftskandidat Ollanta Humala, zit.n. Rodrigo Alcaíno: Críticas a Chile: Humala insiste en desequilibrio militar, in: El Mercurio, 26.3.2006.

13) El Mercurio, 18.3.2006.

14) Dies gilt im übrigen auch für die Schweiz, wo bis vor kurzem 148 Exemplare des Leopard 2A4 zum Verkauf standen. Ende November 2005 hatten die Eidgenossen eine entsprechende Verkaufsofferte an Chile überraschend zurückgezogen.

15) Die Formel von den »legitimen Sicherheitsinteressen von Drittstaaten« ist dem letzten Rüstungsexportbericht 2004 entnommen, wo es auf Seite 9 heißt: „Im Rahmen [der] restriktiven Genehmigungspraxis für Drittländer können … legitime Sicherheitsinteressen solcher Länder im Einzelfall für die Genehmigung einer Ausfuhr sprechen. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die jeweiligen Sicherheitsinteressen auch international von Belang sind. Die Abwehr terroristischer Bedrohungen und die Bekämpfung des internationalen Drogenhandels sind denkbare Beispiele.“

16) Den Ruf, der »beste Kampfpanzer der Welt« zu sein, erwarb sich der Leopard 2 zuletzt bei simulierten Vergleichstests mit dem russischen T-90, dem britischen Challenger 2 sowie dem amerikanischen M1A2 Abrams, aus denen er jeweils als Sieger hervorging.

17) Zitiert nach dem Rüstungsexportbericht 2004, S. 9.

18) Tatsächlich profitiert die deutsche Rüstungsindustrie nach eigenem Bekunden „auch von Lieferungen gebrauchten Bundeswehr-Materials an andere Nationen“, so jüngst der Vorstandsvorsitzende der Rheinmetall AG, Klaus Eberhardt, nach einem Bericht in den Kieler Nachrichten vom 23.2.2006. Die Wehrtechnik-Sparte des Konzern habe sich, so Eberhardt, durch die Abgabe von Leopard-Panzern an Griechenland, die Türkei und Chile „neues Marktpotential“ erschlossen und dadurch Aufträge im Wert von 200 Millionen Euro erhalten. Die Kieler Tochter Rheinmetall Landsysteme GmbH wird darüber hinaus künftig die Panzer-Munition an diese Länder liefern.

19) Vgl. die Punkte III.7. und IV.2. der Politischen Grundsätze sowie die Kriterien 1 und 7 des EU-Verhaltenskodex. Siehe auch Michael Radseck: Meldeverhalten und Berichterstattungspolitik des Subkontinents gegenüber dem UN-Register für konventionelle Waffen, IIK, Hamburg 2003, S. 23

20) Vgl. Punkt III.6. der Politischen Grundsätze.

21) Entsprechende Daten finden sich in den einschlägigen Veröffentlichungen des SIPRI und des IISS.

22) Michael Radseck: Die undurchsichtigen Verteidigungshaushalte des Cono Sur, IIK, Hamburg 2004, S. 24f.

Michael Radseck, Mitarbeiter am Institut für Iberoamerika-Kunde (IIK) in Hamburg. Das IIK ist Teil des German Institute of Global and Area Studies.

Kampf gegen Guerillas oder Terroristen

Kampf gegen Guerillas oder Terroristen

Drogen, Bürgerkrieg und Gewalt in Kolumbien

von Michael Funk

Während in Washington wohl zumindest inoffiziell bereits diskutiert wird, wie lange sich der Erfolg im Irak-Krieg der Weltöffentlichkeit noch als ein solcher verkaufen lässt, wird dem anderen amerikanischen Krieg – dem »drug war« – derzeit wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Vor gut drei Jahren machte Präsident Clinton mit seiner Unterschrift unter eine Gesetzesvorlage namens »Plan Colombia« den Weg frei für ein umfangreiches Hilfspaket für Kolumbien, den weltgrößten Produzenten und Exporteur von Kokain. Unter dem Deckmantel der Drogenbekämpfung sind seitdem mehr als 2,5 Milliarden Dollar Militär- und Wirtschaftshilfe aus Washington in den von blutigen Auseinandersetzungen gezeichneten Andenstaat geflossen, weitere 6,5 Millionen sollen noch in diesem Jahr folgen. Doch was 2000 als vage definierte Sicherheitsinitiative zur Drogenbekämpfung begann, ist längst zu einem offenen Feldzug gegen marxistische Guerillas, angebliche Terror-Drogen-Netzwerke und unterprivilegierte Bevölkerungsschichten geworden – ohne absehbares Ende, klare Strategie oder eindeutige Erfolgsaussichten.

Der »Plan Colombia« markierte einen deutliche Verschiebung innerhalb der US-amerikanischen Südamerikapolitik. Erinnerungen an beschämende Episoden in El Salvador oder Nicaragua in den 1980er Jahren wurden wach und nicht wenige Analysten legten in Kommentaren den »Schatten von Vietnam« über die vertiefte Teilnahme der USA am kolumbianischen Bürgerkrieg. Innenpolitischer Widerstand regte sich nicht zuletzt auf Grund der brutalen Geschichte des einheimischen Militärs und der Einsicht, dass der mehr als vier Jahrzehnte andauernde Konflikt nur durch Verhandlungen zu beenden sei. Als Rechtfertigung für den verschärften Kurs wurde das herangezogen, was der damalige Drogenbeauftragte der US-Regierung General Barry McCaffrey einen »Drogen-Notstand« (drug emergency) in Kolumbien nannte. Gemeint war ein deutlicher Anstieg der Koka-Produktion in den südlichen Provinzen Putumayo und Caquetá, gleichzeitig Hochburgen der »Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia« (FARC), der mit ca. 17.000 Kämpfern größten Rebellenbewegung des Landes. Kolumbien, so wurde argumentiert, verliere den Kampf gegen Drogen, weil Militär und Polizei nicht in der Lage wären, Kokafelder in von den Guerillas kontrollierten Gebieten zu vernichten. Dies wurde wiederum darauf zurückgeführt, dass die Sicherheitskräfte den durch Profite und Steuern aus dem Drogengeschäft hochgerüsteten Rebellen vor allem in den unzugänglichen Gebieten der Amazonasregion – in denen die Landbevölkerung Koka und Mohn anbaut – hoffnungslos unterlegen wären. Die massive Militärhilfe aus den USA sollte das Kräfteverhältnis verschieben und neu geschaffene Eliteeinheiten der kolumbianischen Armee in die Lage versetzen, in die südlichen Regionen vorzudringen und illegale Kokaplantagen oder Drogenlabore ausfindig zu machen. Die zwei Kriege Kolumbiens – gegen Drogen und gegen die Guerillas – wurden auf diese Weise zu einem verschmolzen. Bemühungen von NGOs und moderaten Politikern beider Länder um diplomatische Lösungen, wurden durch die von den USA forcierte militärische Eskalation zunichte gemacht. Die Drogenwirtschaft jedoch zeigt sich unbeeindruckt.

Die Netzwerke der Drogenwirtschaft

Der amerikanische Drogenkrieg ist mindestens ebenso alt wie der kolumbianische Bürgerkrieg. Für altgediente »drug hawks« in Washington ist Kolumbien nur eine Front in einem globalen Kampf. Mit wechselnden Schwerpunkten bekämpfen die USA seit den frühen 60er Jahren die Marihuana-, Heroin- und Kokainproduktion in Ländern wie Kolumbien, Peru, Bolivien oder Thailand. In Antwort auf steigenden Drogenmissbrauch und -abhängigkeit versucht die amerikanische Regierung, den Export illegaler Substanzen aus anderen Ländern einzudämmen, um den Straßenpreis zu erhöhen und damit die Nachfrage in der Heimat zu senken. Zu den eingesetzten Mitteln gehören die Vernichtung von Anbauflächen mittels Pestiziden, die Zerstörung von Pflanzen, Verarbeitungslaboren und anderer Infrastruktur, die Kontrolle von Schiffs- oder Flugzeugladungen und die Festnahme von Händlern und Schmugglern. Trotz Erfolgen auf allen diesen Gebieten blieben Operationen in den Quellenländern dennoch fast ohne langfristige Wirkung. Der Preis für Kokain oder Heroin in den USA wurde dadurch nie für mehr als ein paar Monate angehoben. Die Ausgaben für solche so genannten source and interdiction-Programme sind von wenigen Millionen Dollar in den frühen 70er Jahren bis heute in Milliardenhöhe gestiegen. In der gleichen Zeit fiel der Straßenpreis für ein Gramm Kokain von 1.400 auf unter 200 Dollar, der Preis für ein Gramm Heroin von ca. 4.000 auf einige Hundert Dollar. Im Vergleich sind die Kosten für Anbau und Verarbeitung sehr gering, die Erhöhung des Marktwertes geschieht größtenteils nachdem die Drogen bereits in die USA geschmuggelt wurden. 1997 lag der Preis der zur Herstellung eines Kilos reinen Kokains nötigen Menge Kokapflanzen bei ca. 300 Dollar. Verarbeitet hat sich der Preis des Kokains bereits verdreifacht und erreicht nach Export, Streckung und Verteilung den beinahe sagenhaften Schwarzmarktwert von 188 000 Dollar.1 Die Relationen machen deutlich, dass selbst eine deutliche Steigerung der Produktionskosten in Kolumbien keinen wahrnehmbaren Einfluss auf den Verkaufspreis in den USA hätte.

Das Drogenangebot wird von der Nachfrage gesteuert, nicht umgekehrt. Einschnitte würden allerhöchstens die Zwischenhändler zu spüren bekommen. Illegale Drogen können so kostengünstig produziert werden, die Einstiegsbarrieren sind so niedrig und die potentiellen Gewinne so hoch, dass der Markt unweigerlich neue, willige Produzenten, Händler, Kuriere und andere Helfer hervorbringt. Die Drogenökonomie bietet urbanen Gesellschaftsgruppen auf anderem Wege kaum erreichbare Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten. Globalisierung und Transnationalisierung der Drogenwirtschaft haben diesen von Experten als »Ballon-Effekt« bezeichneten Mechanismus weiter verstärkt: Wird der Ballon an einer Stelle zusammengedrückt, bildet sich an anderer Stelle eine neue Blase. Die offiziellen Erfolgsmaßstäbe – Tonnen beschlagnahmter Drogen, vernichtete Anbauflächen, Anzahl der Verhaftungen – sind deshalb ähnlich trügerisch wie die »body counts« des Vietnamkrieges. Die Misserfolge sind keineswegs auf den Mangel an Willen oder Ressourcen zurückzuführen, wie politische Hardliner gern behaupten, sondern auf die Struktur des Drogenmarktes.

Das wird auch bei einer näheren Betrachtung der US-amerikanischen Drogenbekämpfungsmaßnahmen der 80er und frühen 90er Jahren deutlich. Das Hauptziel waren damals die berüchtigten kolumbianischen Drogenkartelle, die die Kokapflanzen größtenteils aus Peru und Bolivien importierten. Eine Vernichtung der Organisationen, so erhofften sich die Behörden, würde die Verteilungslinien unterbrechen und die Preise erhöhen. Die Zerschlagung der Kartelle von Medellin und Cali veränderte jedoch lediglich die Struktur der Drogenindustrie und schuf Raum für viele kleine Produzenten und Zwischenhändler, deren Geschäftsidee die kolumbianischen Zeitung »El Tiempo« mit „etwas exportieren, viel verdienen, wenig Aufmerksamkeit erregen“ beschrieb. Schnell füllten aufstrebende mexikanische Verbrechenssyndikate das entstandene Vakuum und lösten die Kartelle als Hauptverteiler von Kokain an die Vereinigten Staaten ab. Der Preis der kolumbianischen Gesellschaft für das von den USA geforderte Vorgehen gegen die Kartelle war hoch. Hunderte von Regierungsbeamten, Richtern, Polizisten oder Journalisten, inklusive des Justizministers Rodrigo Lara Bonilla, des Generalstaatsanwalts Mauro Hoyos Jiménez und des liberalen Präsidentschaftskandidaten Luís Carlos Galán, fielen der Rache der Drogenbosse zum Opfer. Korruption und Angst infizierten so gut wie jede staatliche Institution, die mit der Drogenbekämpfung befasst war. Regelmäßig wurden Polizisten und Militärs von Drogenhändlern für das Übersehen von Laboren oder Transportwegen bezahlt. Es ist davon auszugehen, dass die schlechte Bezahlung der Sicherheitskräfte und die weitere Einbeziehung des Militärs in die Drogenbekämpfung auch in Zukunft die Verbindungen zwischen Militär und Drogenbaronen vertiefen werden.

In den 90er Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt der amerikanischen Initiativen vom Handel auf den Anbau und damit von den Schmugglern auf die Landbevölkerung. Zur Reduzierung der Produktionsmenge wurden Mitte der 90er Jahre massive Pestizid-Sprühprogramme in Peru, Bolivien und Kolumbien begonnen, die im Rahmen von »Plan Colombia« fortgesetzt werden. Allein im Rahmen der Großoffensive »Push into Southern Colombia« wurden nach offiziellen Angaben zwischen Juli und Oktober 2002 mehr als 60.000 Hektar Bodenfläche für den Kokaanbau unfruchtbar gemacht. Eine UN-Studie dokumentierte einen Rückgang der Koka-Anbauflächen um etwa 30%. Doch die Erfahrungen relativieren den Wert dieses Sieges: Trotz der Sprühprogramme lag die Gesamtanbaufläche für Koka in der Andenregion innerhalb des letzten Jahrzehnts relativ konstant bei 200.000 Hektar (bereits ein Bruchteil davon würde zur dauerhaften Deckung des Weltbedarfes von Kokain ausreichen).2 Vernichtete Versorgungswege werden schnell ersetzt, neue Helfer rekrutiert und neue Flächen erschlossen. Die Produktion verlagert sich tiefer in die unzugänglichen Dschungel und Grenzregionen des Amazonasgebietes, wo keine staatliche Autorität existiert und wo sich die Sicherheitskräfte kaum hinwagen. Auch wenn kolumbianische Offizielle behaupten, jährlich Koka für die Produktion von 200 Tonnen Kokain – rund ein Drittel des Weltbedarfes – zu vernichten, werden die neuen Programme im südlichen Kolumbien trotz kurzfristiger Erfolge kaum Einfluss auf die regionale Kokainproduktion oder den Straßenpreis in den USA haben. Dennoch bleibt die Alternative – die mit einer kontrollierten Dekriminalisierung von Konsum und Drogenmissbrauch verbundene präventive bzw. therapeutische Reduzierung der Nachfrage in den amerikanischen Großstädten – für die Drogenbehörden eine weitgehend tabuisierte Option.

Gesellschaft im Belagerungszustand

Die Militarisierung der Drogenbekämpfung hat in den letzten Jahren unweigerlich auch zur Verschärfung der gesellschaftlichen Spannungen und zur Eskalation des bewaffneten Machtkampfes zwischen Regierung, Guerillas und Paramilitärs beigetragen. Die Zivilbevölkerung wird mehr und mehr zur Zielscheibe im Kampf um die Kontrolle über Drogenplantagen und Absatzwege. Für die marxistischen Rebellen ebenso wie die rechtsgerichteten Paramilitärs – die für einen großen Teil der Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien verantwortlich sind und deren Verbindungen mit Teilen des kolumbianischen Militärs immer wieder kritisiert werden3 – stellt die globalisierte Drogenökonomie die Grundlage der eigenen Konkurrenzfähigkeit innerhalb des Bürgerkrieges dar. Während die FARC hauptsächlich an der Erhebung von »Revolutionssteuern« verdient, macht der Kopf und Gründer des paramilitärischen Dachverbandes »Autodefensas Unidades de Colombia« (AUC) keinen Hehl daraus, dass die Organisation sich zu 70% durch die Einnahmen aus dem Drogengeschäft finanziert. Derselbe Castano spricht in Interviews erschreckend offen über „unvermeidliche Exzesse“ im patriotischen Kampf gegen die „kommunistische Bedrohung“.

Soziale Apartheid und die fortschreitende Erosion rechtsstaatlicher Strukturen in Kolumbien werden auch durch den Krieg gegen die kolumbianische Landbevölkerung, Gewerkschaften und alternative soziale Bewegungen verschärft, den die Regierung in Bogotá mit mehr oder minder offener Unterstützung aus Washington unter dem Deckmantel der »Politik der demokratischen Sicherheit« seit geraumer Zeit führt. Die für den Koka- und Mohnanbau geeigneten Flächen sind meist identisch mit traditionellen Anbaugebieten für die lokale, kleinflächige Landwirtschaft. Durch die Pestizid-Programme werden neben den Koka-Pflanzen auch andere Anbauprodukte wie Weizen oder Gemüse vernichtet oder das Ökosystem des Amazonasgebietes geschädigt, welches den Lebensraum vieler indigener Volksgruppen bildet. Den armen Bauern bietet sich kaum eine Alternative zum Kokaanbau, da andere Agrarprodukte durch die rigiden US-Schutzzölle nicht rentabel für den Export produziert werden können. Die Vernichtung der Ernte bedeutet für sie auch die Zerstörung ihrer Existenzgrundlage. Die zwangsläufige Folge ist eine Migrationsbewegung von Kleinbauern und Landarbeitern im nördlichen Choco sowie in Putumayo und Amazonia in Südkolumbien, die viele direkt in die Arme der verschiedenen Rebellengruppen oder der Paramilitärs treibt. Wer nichts zu essen hat, ist da nicht sehr wählerisch. Menschenrechtsorganisationen, wie amnesty international und Codhes, gehen von mittlerweile zwischen 2,2 und 2,7 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge in Kolumbien aus – eine gewaltige transnationale Diaspora, die gleichzeitig auch die Basis für das Florieren der Drogenwirtschaft darstellt. Der »Push into Southern Colombia« wird dem einige Zehntausend hinzugefügt haben.

Für die USA ist Kolumbien nicht zuletzt auf Grund seiner geostrategischen Lage von Bedeutung. Angesichts zunehmend kritischer Stimmen aus Latein- und Südamerika hat sich Washington mit den großzügigen Finanzspritzen im kolumbianischen Präsidenten, Álvaro Uribe, einen treuen Verbündeten herangezogen, der als eines von wenigen südamerikanischen Staatsoberhäuptern auch die Irak-Politik der USA vorbehaltlos unterstützte. Als außenpolitisches Instrument dient »Plan Colombia« mehr den Sicherheitsinteressen der USA im amerikanischen »Hinterhof«, denn der tatsächlichen Reduzierung des Drogenexportes. Trotz ihrer weitgehenden »Entideologisierung« gehören die ursprünglich marxistisch-leninistisch orientierte FARC oder die kleinere »Ejército de Liberación Nacional« (ELN) zu den letzten, operationsfähigen Guerilla-Organisationen der westlichen Hemisphäre, deren Bekämpfung für viele Militärs und hochrangige Angehörige der US-Administration die letzte Schlacht gegen den globalen Kommunismus darstellt.

Ein weiteres starkes Motiv bilden wirtschaftliche Interessen. Enorme Wachstumsraten und fehlende arbeitsrechtliche Regularien machen Kolumbien zu einem Investitionsparadies für große US-Firmen. Dabei geht es vor allem um die Zugangssicherung für amerikanische Unternehmen zu den Rohstoffvorräten der Region, die nach Chile den stärksten Wachstumsmarkt in Südamerika bildet. Kolumbien gehört zu den weltgrößten Exporteuren von Qualitätskaffee, Bananen und Edelsteinen, besitzt große Gold- und Kohlevorkommen und ist drittgrößter Erdölproduzent Lateinamerikas. Hinzu kommen wertvolle Tropenhölzer oder die schier unerschöpfliche Flora und Fauna Amazoniens, die für wissenschaftliche und wirtschaftliche Zwecke gleichermaßen interessant ist und für deren Ausbeutung es so gut wie keine ökologischen oder sozialen Beschränkungen gibt.4 An mehr Transparenz in dieser Hinsicht sind weder die Machthaber in Washington noch die konservative Regierung in Bogotá interessiert. Der politische Konflikt zwischen den legalen staatlichen Eliten Kolumbiens und den Guerillas, deren erklärtes politisches Ziel die Verbesserung der Lebensbedingungen der Landbevölkerung ist, wird deshalb schon aus strategischen Gründen aufrechterhalten. Im Kern stellt das entterritorialisierte System des Drogenhandels das verbindende Element zwischen Teilen der politischen und militärischen Eliten der Andenregion, ausländischen Investoren, Guerillas, Paramilitärs und der privatwirtschaftlichen Drogenmafia dar. Sie alle streben die Kontrolle an über die Anbauregionen, die Exportkorridore für die Drogen und die Importkorridore für Chemikalien zur Drogenherstellung, Waffen oder andere Handelsgüter. Die mit diesem Machtkampf verbundene Zunahme von Gewalt, Morden und anderen Menschenrechtsverletzungen dient im Gegenzug zur Rechtfertigung für verschärfte Sicherheitsmaßnahmen und die weitere Aufweichung demokratischer Bürgerrechte. Nicht zu Unrecht haben unabhängige Analysten immer wieder argumentiert, dass die einflussreiche amerikanische Drogenbekämpfungs-Industrie an der kontrollierten Überwachung des organisierten Drogenhandels mehr interessiert ist, als an dessen Eindämmung.

»Ein Haufen gesetz- und gottloser Rambos«

Der globale Anti-Terrorkrieg hat für die Situation in Südamerika weitreichende Konsequenzen. Drogen- und Terrorismusbekämpfung sind in Kolumbien kaum mehr voneinander zu trennen. FARC, ELN und AUC befinden sich allesamt auf der Liste ausländischer Terrororganisationen des amerikanischen State Department und der EU. Vergleiche mit islamistischen Terrorgruppen wie Al Qaida, Hamas oder Islamiyya al Gammat gehören in Washington ebenso zur üblichen Rhetorik wie die Gleichsetzung von Drogen mit Massenvernichtungswaffen.5 Der vom Kongress ausgegebene Blanko-Check zur Terrorbekämpfung hat dazu geführt, dass für die Drogenbekämpfung bewilligte Geldmittel nicht mehr zwangsläufig an diese gebunden sind. Materielle oder personelle Hilfen waren nicht zuletzt unter dem Druck unabhängiger Experten und NGOs selbst im Rahmen von »Plan Colombia« gesetzlich auf die neu gegründeten »counter-narcotics units« beschränkt und durften ausschließlich für Maßnahmen zur Drogenbekämpfung verwendet werden. Innerhalb des letzten Jahres sind viele dieser Beschränkungen aufgeweicht worden. Im August 2002 bewilligte der US-Kongress erstmals Gelder für die Terrorismusbekämpfung in Kolumbien.

Die Auflösung der Grenze zwischen dem »war on drugs« und dem »war on terror« in Kolumbien bleibt im öffentlichen Diskurs trotz der engagierten Arbeit verschiedener NGOs nicht nur weitgehend unbeachtet, sie ist auch mit dem zunehmenden Einsatz privater Sicherheits- und Militärunternehmen (Private Military Companies) verbunden. Die Strategie des »outsourcing«, die von Privatunternehmen ebenso wie vom US-Außenministerium und dem Pentagon praktiziert wird, schränkt die Möglichkeiten der Kontrolle ein und hat den Sicherheitssektor in den USA zu einem expandierenden Wirtschaftszweig gemacht. Der juristisch unklare Status der Unternehmen, die von der kolumbianischen Wochenzeitung »Semana« als „Haufen gesetz- und gottloser Rambos“ bezeichnet wurden, verschleiert die Verantwortlichkeiten. Eine strafrechtliche Verfolgung wegen der Teilnahme an Aktionen, die zum Tode von Zivilisten führen (z.B. Flächenbombardements gegen von Guerillas kontrollierte Dörfer), ist praktisch kaum möglich. Die »Angestellten« dieser privaten Sicherheitsdienste, fast ausschließlich ehemalige Militärangehörige, übernehmen den Schutz von Öl-Pipelines oder Elektrizitätswerken, beraten, trainieren und begleiten kolumbianische Einheiten aber auch bei Aufklärungsmissionen oder Kampfeinsätzen. Die mögliche Höchstzahl (»troop cap«) amerikanischer Militärangehöriger und privater Vertragspartner wurde durch das »Foreign Aid Law« Mitte 2002 auf ein Verhältnis 400 zu 400 festgelegt. Die vom US-Außenministerium veröffentlichten Angaben beziehen sich allerdings nur auf amerikanische Staatsbürger, deshalb sind viele private Sicherheitsunternehmen dazu übergegangen, Angehörige anderer Nationalitäten anzustellen. Die tatsächliche Zahl der in Kolumbien aktiven Söldner dürfte also weitaus höher liegen.6

Kolumbien ist heute nach Israel und Ägypten der drittgrößte Empfänger amerikanischer Militärhilfe. Die von der US-Regierung für die Zeit nach dem Ende von »Plan Colombia« im September 2005 offiziell angestrebte »Kolumbianisierung« des Konfliktes ist weder machbar noch liegt sie im Interesse der Beteiligten. Allein die involvierten privatwirtschaftlichen Aspekte und Machtkämpfe machen die Entwicklung von Lösungsstrategien für NGOs kompliziert und wie die Vergangenheit gezeigt hat, auch gefährlich. Kritische Stimmen werden vor allem durch die Paramilitärs, die zunehmend die schmutzige Arbeit für das vorbelastete Militär übernehmen, gewaltsam unterdrückt oder als kommunistische Sympathisanten der Guerillas denunziert. So lange Kolumbien als quasi rechtsfreier Raum für den Raubtierkapitalismus internationaler Großunternehmen attraktiv ist, effektive Sozialprogramme bei der finanziellen Unterstützung weitgehend ausgespart bleiben, ganze Bevölkerungsschichten im politischen System nicht repräsentiert werden, wird der Bürgerkrieg weitergehen; so lange weder der kolumbianische Staat noch die USA daran interessiert ist, die Ursachen für die Entstehung der Paramilitärs und der Guerillas zu beseitigen, wird auch die Bekämpfung der Netzwerke von Drogenproduktion und -handel kein erfolgreiches Ende finden.

Anmerkungen

1) Zu den Zahlen vgl. James A. Inciardi: The War on Drugs III: The Continuing Saga of the Mysteries and Miseries of Intoxication, Addiction, Crime, and Public Policy, New York, 2001.

2) U.S. State Department: International Narcotics Control Strategy Reports 1996-2002, http://www.ciponline.org/colombia/cocagrowing.htm.

3) Human Rights Watch: The Sixth Division: Military-paramilitary – Ties and the U.S. Policy in Colombia, Washington, D.C., 2001. Zuletzt auch Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2003, S. 1239-1242.

4) Verschiedenes davon wurde zuletzt von dem Journalisten Thomas Kistner beschrieben: Thomas Kistner: Die Toten von Leticia – Organraub, Kokainschmuggel und Menschenjagd am Amazonas, München, 2003.

5) Vgl. z.B. den Bericht des CIA-Direktors George Tenet vor dem Senate Select Committee on Intelligence (Washington, D.C., 06.02.2002), http://www.cia.gov/cia/public_affairs/speeches/dci_speech_02062002.html

6) Nach offiziellen Angaben hatten im letzten Jahr drei solcher in Kolumbien aktiver Firmen Verträge mit dem US-Außen-, 17 weitere mit dem US-Verteidigungsministerium (unter ihnen DynCorp, Lockheed Martin, Northrop Grumman, AirScan, California Microwave oder Helikopterproduzent Sikorsky and Bell Textron). Siehe dazu: Peter Singer: Corporate Warriors – The Rise of the Privatized Military Industry, New York, 2003.

Michael Funk arbeitet als freier Autor in Berlin. Er hat in Washington als »legislative assistant« für Americans for Democratic Action (ADA) gearbeitet und sein Studium der Amerikanistik und neueren Geschichte mit einer Magisterarbeit zu »War on Drugs« abgeschlossen.

Die Remilitarisierung der inneren Sicherheit

Die Remilitarisierung der inneren Sicherheit

Das Beispiel Argentinien

von Ruth Stanley

Globalisierungsprozesse haben in mindestens drei Dimensionen sicherheitspolitische Diskurse beeinflusst. Erstens: War die Welt der souveränen Territorialstaaten durch die postulierte Einheit von Regierung, Territorium und Wirtschaft gekennzeichnet, so wird diese Kongruenz im Zeitalter der Globalisierung zunehmend brüchig. Territorialgrenzen werden in ihrer Bedeutung relativiert. Die eindeutige Trennung zwischen Innenpolitik und Außenpolitik der voneinander abgegrenzten Nationalstaaten erscheint zunehmend fragwürdig. Zweitens: Erst mit der epochalen Wende in Osteuropa im Jahr 1989 und dem darauf folgenden Zusammenbruch der Sowjetunion erfasste der Transformationsprozess der Globalisierung nahezu alle Staaten; gleichzeitig verloren herkömmliche Bedrohungsszenarien mit dem Kollaps der »zweiten Welt« an Überzeugungskraft und wurden durch neue »Risiken« ersetzt. Drittens: Das Primat des Marktes führt zu einem wachsenden Wohlstandsgefälle sowohl zwischen Zentrum und Peripherie wie auch innerhalb der Staaten der ersten Welt (hier am eindeutigsten in jenen Staaten, die am konsequentesten die neoliberale Doktrin umgesetzt haben, wie etwa in den USA und Großbritannien). Extreme sozioökonomische Ungleichheit, die Anwesenheit der »dritten« in der »ersten« Welt, führt zu einer wachsenden Perzeption von Unsicherheit und zu einer Verschärfung strafrechtlicher Maßnahmen bei gleichzeitigem Rückzug des Staates von anderen Aufgaben. »Kriminalität« – zumeist identifiziert mit Außenseitern (Immigranten, Schwarze) – wird zu einem dominierenden Thema der Politik.
Diese drei Dimensionen fließen in neue Sicherheitsdiskurse ein, die – schon lange vor dem 11. September – neuartige Risiken der Globalisierung ausmachten. Zu diesen Risiken gehören das organisierte Verbrechen, der Drogenhandel, der Terrorismus. Neben den »Schurkenstaaten« werden vor allem nichtstaatliche Akteure als die eigentlichen Feinde ausgemacht. Die prinzipielle Nicht-Unterscheidbarkeit von Krieg und Verbrechen, von innerer und externer Sicherheit, wird zu einem zentralen Thema von Sicherheitsdiskursen im Zeitalter der Globalisierung.

Diese Verwischung der Grenzen zwischen innen und außen hat Konsequenzen für die Arbeitsteilung zwischen Polizei und Militär: Die Polizei wird zunehmend militarisiert als Reaktion auf die Perzeption, dass die innere Sicherheit von quasi-militärischen (Mafia, Drogenkartellen usw.) Kräften bedroht wird. Polizeiliche Überwachungsmaßnahmen und der Strafapparat des Staates werden aber auch zunehmend gegen die Globalisierungsverlierer eingesetzt, gegen diejenigen, die vom neoliberalen Modell ausgeschlossenen werden. Es entsteht der von Loic Wacquant so bezeichnete »état pénal«, der die Exklusion mit Repression, verschärften Strafmaßnahmen und Freiheitsentzug verwaltet (Wacquant 1999). Die Auswirkungen dieser doppelten Tendenz der diskursiven Gleichsetzung von Krieg und Kriminalität und innerer und äußerer Sicherheit einerseits und andererseits die »Versicherheitlichung« sozioökonomischer Probleme sind besonders gravierend in jenen Staaten, die weder auf eine demokratische noch eine rechtsstaatliche Tradition zurückblicken können, wo vielmehr Militärregimes die übliche Regierungsform darstellten und wo entsprechend Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung waren. Denn die Zurückdrängung der Militärs von der Politik, die Achtung von Zivil- und Bürgerrechten setzt eine klare funktionale Trennung zwischen Polizei und Militär voraus, eine Trennung, die gerade durch die neuen Sicherheitsdiskurse erschwert wird.

Diese These lässt sich am Beispiel Argentinien besonders eindrucksvoll illustrieren. Denn auf der einen Seite ist es Argentinien nach der letzten Militärdiktatur gelungen, eine zivile Kontrolle über die Streitkräfte zu etablieren und den Militärs eine innenpolitische Rolle zu verwehren (Stanley 2001a). Auf der anderen Seite sieht sich der argentinische Staat mit den Auswirkungen der getreu den Rezepten der internationalen Finanzinstitutionen durchgeführten neoliberalen Wirtschaftsreformen konfrontiert, die das Land in eine lang anhaltenden Rezession gestürzt haben: Die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordhöhen geklettert, über die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, und das Einkommensgefälle zwischen arm und reich ist so groß wie noch nie in der Geschichte dieses einst wohlhabenden Landes (Stanley 2001b). Der Ausschluss beträchtlicher Teile der Bevölkerung aus Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Protestbewegungen der Arbeitslosen rufen polizeiliche Repressionsmaßnahmen zur Verwaltung des Elends hervor; gleichzeitig macht die Abhängigkeit Argentiniens von einer weiteren Kreditgewährung des IWF die Regierung für die Vorstellungen der USA hinsichtlich einer stärkeren Rolle der Streitkräfte in innenpolitischen Fragen empfänglich.

»Globalisierungsrisiken« und die Rolle der Militärs in Argentinien

Anders als ihre brasilianischen oder chilenischen »counterparts« zogen sich die argentinischen Militärs nach der letzten Militärdiktatur weitgehend diskreditiert aus der Politik zurück. Die von der Junta zurückgelassene Wirtschaftskrise, die massiven Menschenrechtsverletzungen und nicht zuletzt der verlorene Malvinenkrieg führten zu einer »transition by collapse«, die es den Streitkräften nicht erlaubte, die Bedingungen der Demokratisierung auszuhandeln. Trotz mehrerer Aufstände in den ersten Jahren des Übergangs (Saín 1994) gilt Argentinien als erfolgreiches Beispiel für die Zurückdrängung der Streitkräfte aus der Politik. Das Gesetz über die Nationale Verteidigung, verabschiedet im Jahr 1988 (Gesetz 23.554, Boletín Ofocial 5.5.1988) zog eine klare Trennlinie zwischen nationaler Verteidigung (Aufgabe der Streitkräfte), innerer Sicherheit (Aufgabe der Polizei) und Grenzschutz(Aufgabe der Gendarmería für den Landesgrenzschutz und der Prefectura Naval für die Kontrolle der Seegrenzen). Eine präzise Mission der Streitkräfte wurde dabei nicht definiert. Unter den Regierungen von Carlos Menem (1989-1999) wurden drei komplementäre Rollen für die Streitkräfte artikuliert. In den Worten des damaligen Verteidigungsministers waren diese zum einen die nationale Verteidigung, zum zweiten auf der regionalen Ebene die Beteiligung an einem System kooperativer Sicherheit und zum dritten ging es um eine Rolle für Argentinien im »globalen Sicherheitssystem« (Dominguez 1997). Diese drei Ebenen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik wurden sehr unterschiedlich ausgestaltet. Während auf der Ebene der nationalen Verteidigung die spezifische Mission der Streitkräfte diffus blieb und die regionale Sicherheitskooperation, nicht zuletzt wegen der Vorbehalte der Nachbarländer, kaum Fortschritte gemacht hat (Escudé/Fontana 1995), hat Argentinien unter den Menem-Regierungen einen wichtigen Beitrag zu Peacekeeping-Maßnahmen der Vereinten Nationen geleistet. Inzwischen ist diese Beteiligung an friedenserhaltenden Maßnahmen aufgrund von Haushaltsrestriktionen abgebaut worden (La Nación 16.06.2000).

Gemessen sowohl an dem militärischen Selbstverständnis wie auch an der Gesetzgebung über die Funktionen und Aufgaben der Streitkräfte sind seit der Demokratisierung im Jahr 1983 beträchtliche Fortschritte erzielt worden. Der Militärhaushalt wurde drastisch verkleinert, der Militärdienst 1995 abgeschafft. Angesichts der Bestimmungen des Gesetzes über die Nationale Verteidigung und der Diskreditierung der Streitkräfte schien eine interne Rolle der Militärs definitiv gebannt worden zu sein. Der Globalisierungsdiskurs und die Identifikation neuer Risiken zusammen mit den fehlenden Missionsbestimmungen lassen allerdings selbst in diesem Falle gelungener ziviler Kontrolle Raum für neue Szenarien, in denen die Grenzen zwischen innerer und externer Sicherheit verwischt werden und die Streitkräfte erneut Aufgaben zugewiesen bekommen könnten, die über die bloße Verteidigung der Landesgrenzen hinausgehen. Während die Verteidigungspolitik mit der allgemeinen Zielsetzung der argentinischen Außenpolitik konform geht, entspricht sie eher den Erfordernissen der Haushaltsplanung als einer kohärenten Vision über die Aufgaben der Streitkräfte und ist insofern opportunistischen Abwägungen ausgesetzt. Diffuse Bedrohungsperzeptionen lassen sich mangels einer klar definierten Mission der Streitkräfte als potenzielle Gefährdung der nationalen Sicherheit, folglich als ein Aufgabenfeld für die Militärs definieren. Die Risiken der Globalisierung werden zunehmend als Sicherheitsgefährdungen thematisiert, auf die militärisch zu reagieren sei, wobei unter anderem die Immigration, ethnische Konflikte bzw. indigene Aufstände und die sozialen Kosten der Globalisierung erwähnt werden (Martínez 1997). So sprach der damalige Innenminister Argentiniens, Carlos Corach, vor der Generalversammlung der Organisation Amerikanischer Staaten in Guatemala im Juni 1999 von Drogenhandel, Terrorismus, und organisiertem Verbrechen als den »wahren Herausforderungen« der heutigen Zeit:. Dabei entsprach Corachs Analyse des Terrorismus in vieler Hinsicht der Definition der Subversion aus den 70er und 80er Jahren, die damals Anlass war, die Streitkräfte gegen die eigene Bevölkerungen einzusetzen. Corach sprach von einem asymmetrischen Krieg, in dem die Terroristen die traditionelle, direkte Konfliktaustragung vermieden, um die Vorteile eines stärkeren Feindes – der Streitkräfte – zunichte zu machen; dabei verwendeten die Terroristen das physische, gesellschaftliche und politische Umfeld auf atypische und von den Streitkräften nicht vorhersehbare Weise. Corach verlangte ein »Nachdenken« über die Rolle der Streitkräfte im Kampf gegen diese neuen Sicherheitsgefährdungen, indirekt also ein Plädoyer für eine erneute innenpolitische Rolle der Militärs.

Argentiniens Verteidigungsministerium hat ebenfalls Überlegungen darüber angestellt, wie die Streitkräfte in jenen internen Konflikten intervenieren könnten, die durch die Proteste gegen die Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik und der seit Jahren anhaltenden Rezession ausgelöst werden. Im März 2000 sprach der damalige Verteidigungsminister, López Murphy, von den »neuen Bedrohungen«, denen sich das Land ausgesetzt sehe: Extreme Armut, Überbevölkerung, Immigration, Terrorismus, Fundamentalismus, ethnische und Rassenkonflikte. Angesichts solcher Bedrohungen wurden die militärischen Geheimdienste in eine neue Organisation zusammengeführt, die sog. Dirección de Inteligencia para la Defensa (DID), die Informationen über die Aktivitäten von Gewerkschaften, politischen Parteien, Nicht-Regierungsorganisationen, Nachbarschafts- und studentische Vereinigungen (CORREPI 2000) sammeln sollte. Gemäß dieser Verwischung der Grenzen zwischen externer und interner Sicherheit argumentierte auch der ranghöchste Heeresoffizier, General Ricardo Brizoni, dass es sehr schwierig sei, „Grenzen zwischen dem, was extern, und dem, was intern ist, zu ziehen“. Impliziert kritisierte er damit die klare Unterscheidung des Gesetzes über die Nationale Verteidigung: „Der Staat muss eine Struktur gewährleisten, die es ermöglicht, das Funktionieren aller seiner (Sicherheits-)Kräfte zu optimieren, um besser auf die diversen Bedrohungen zu reagieren“ (Clarín, 21.02.2000).

Eine interne Rolle zum Schutz der öffentlichen Ordnung wurde bereits vom paramilitärischen Grenzschutz, der Gendarmería, übernommen. Ursprünglich unter der Kontrolle des Heeres wurde die Gendarmería zunächst dem Verteidigungsministerium, später dem Innenministerium unterstellt, ohne dass sie dabei ihr paramilitärisches Ethos verloren hätte. Mitglieder der Gendarmería werden seit Jahren zunehmend vom Grenzschutz abgezogen, um Aufgaben der inneren Sicherheit zu übernehmen. Seit 1990 werden sie verstärkt zur Unterdrückung von sozialen Protesten eingesetzt. Ihr Auftreten war häufig gewalttätig und hat mehrere Tote hinterlassen. Entsprechend ist das Ansehen der Gendarmería nach Meinungsumfragen gesunken (Centro de Estudios Unión para la Nueva Mayoría 1997). Seit dem Frühjahr 2002 wird die Gendarmería auch verstärkt zum Schutz von Warenhäusern vor Plünderungen der hungernden Bevölkerung eingesetzt. Ungeachtet dieser Rolle der Gendarmería zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung kam es unter der Regierung de la Rúas zu einer Initiative des Verteidigungsministeriums, die Gendarmería aus der Zuständigkeit des Innenministeriums zu lösen und erneut dem Verteidigungsministerium zu unterstellen (La Nación, 19.08.2001).

Die Identifikation neuer Sicherheitsrisiken – wie Terrorismus und Drogenhandel – als mögliche Betätigungsfelder der Streitkräfte entspricht dem sicherheitspolitischen Diskurs der USA und soll die bedingungslose Allianz Argentiniens mit der »ersten Welt« signalisieren. Unter Menem zog sich Argentinien 1991 von der Bewegung der Blockfreien zurück und beteiligte sich mit der Entsendung von zwei Kriegsschiffen zum persischen Golf am Krieg gegen den Irak. In der verschärften Krisensituation – seit dem durch Massenproteste erzwungenen Rücktritt der de la Rúa-Regierung Ende 2001 – ist die Einsicht in die Notwendigkeit einer den USA genehmen Außenpolitik größer denn je. In diesem Kontext ist das Angebot der Regierung Duhaldes im Januar 2002 zu sehen, sich militärisch am Konflikt in Kolumbien zu beteiligen. (Clarín, 17.03.2002). Mit dem Angebot an die Adresse Washingtons, kolumbianische Hubschrauberpiloten auszubilden, scherte Argentinien aus der Reihe der lateinamerikanischen Staaten aus, die eine Internationalisierung des Konflikts in Kolumbien strikt ablehnen. Das wurde als eine Geste von hoher symbolischer Bedeutung gegenüber den USA gedeutet, ebenso wie die im Februar 2002 erfolgte Einrichtung des Büros eines »Sonderbeauftragten für Angelegenheiten des Terrorismus und verwandte Delikte« durch das argentinische Außenministerium. Dessen Aufgaben wurden definiert als „die Koordination von Politiken, Aktionen und Maßnahmen, die für die Erfüllung der UN-Sicherheitsratsresolution 1373 relevant sind…wie auch der Politiken, Aktionen oder Maßnahmen, die sich aus dem Handeln Argentiniens im regionalen Kontext des interamerikanischen Systems ergeben“ (Resolution 187 des argentinischen Außenministeriums vom 07.02.2002, nach Clarín 26.03.2002). Nach Einschätzung der Medien Argentiniens sollte der letzt zitierte Halbsatz die Legitimationsgrundlage für eine argentinische Beteiligung am Plan Kolumbien bieten, während das Einlenken auf die Position Washingtons als ein Zugeständnis an die USA wegen der sich langwierig gestaltenden Verhandlungen mit dem IWF gedeutet wurde, auf dessen Kreditgewährung Argentinien dringend angewiesen ist (Clarín 26.03.2002).

Der »Krieg gegen das Verbrechen«

Wie bereits erwähnt ist es in Argentinien im Zuge der Durchsetzung neoliberaler Reformen zu einer extremen Vergrößerung des sozioökonomischen Gefälles zwischen arm und reich und gleichzeitig zu einem erheblichen Anstieg der Zahl der Armen und der absolut Armen (letztere definiert als diejenigen, deren Einkommen zur Grundernährung nicht ausreicht) gekommen. Damit einher geht ein extrem gestiegenes Unsicherheitsempfinden und eine breite Thematisierung der Kriminalität, besonders der Gewaltkriminalität, in den Massenmedien des Landes. Inwiefern diese Fokussierung auf Sicherheitsgefahren eine tatsächlich gestiegene Kriminalitätsrate widerspiegelt, muss offen bleiben (für Evidenz, dass im argentinischen Fall Medienaufmerksamkeit und tatsächliche Entwicklung der Kriminalität wenig miteinander zu tun haben, siehe UN 1999: 14). Wichtiger als die Bestimmung der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung erscheint im Kontext dieses Beitrags die Analyse der Reaktion von Staat und Gesellschaft auf die Wahrnehmung von zunehmender Unsicherheit, darauf, dass steigende Kriminalität einhergeht mit einer Zunahme illegaler Polizeipraktiken sowie mit einer Duldung, ja Förderung brachialer und illegaler Methoden der »Verbrechensbekämpfung«.

Als ein zentrales Element sowohl der Politik wie auch des Diskurses über öffentliche Sicherheit in Argentinien in den letzten Jahren lässt sich eine zunehmende Militarisierung ausmachen, die nicht auf die Anwendung militärischer und paramilitärischer Kräfte zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung angewiesen ist (obwohl, wie dargelegt, die paramilitärische Gendarmería zunehmend in Konfliktsituationen eingesetzt wird); vielmehr ist ihr auffälliges Merkmal eine diskursive und symbolische Militarisierung von polizeilichen Aufgaben. Die typische Reaktion auf die Perzeption gestiegener Unsicherheit besteht in der Ausstattung der Polizei mit einer Ausrüstung, die man fast als Kriegsmaterial bezeichnen könnte und das wird von einem militarisierten Diskurs über den »Krieg gegen das Verbrechen« begleitet. Beide Elemente trafen eindrucksvoll in einer Zeremonie auf dem Plaza de Mayo am 1. Mai 1999 zusammen, bei der der Bundespolizei eine neue Ausrüstung übergeben wurde, zu der u. a. gepanzerte Fahrzeuge, Wasserwerfer, 2.000 kugelsichere Westen und 2 Millionen Schuss Munition gehörten. Der Symbolismus dieses Aktes wurde durch die Worte des Innenministers, Carlos Corach, unterstrichen: „Wir haben dem Verbrechen den Frontalkrieg erklärt; es wird ein erbarmungsloser Kampf sein“ (Clarín, 02.05.1999). Der »Gesetz-und-Ordnung«-Diskurs wird auf eine Weise geführt, die keinen Zweifel daran lässt, dass für vermeintlich gefährliche Elemente rechtsstaatliche Garantien nicht gelten. Der ehemalige Gouverneur der Provinz Buenos Aires und jetziger Außenminister, Carlos Ruckauf, profilierte sich im Wahlkampf des Sommers 1999 mit einem Diskurs der »harten Hand«: „Was die Sicherheit angeht, werde ich sehr hart sein, denn meine Hand wird nicht zittern, wenn ich die härtesten Maßnahmen ergreifen muss… Wir müssen den Dieben Kugeln geben, wir müssen sie erbarmungslos bekämpfen.“ (Clarín, 04.08.1999)

De facto, so die implizite Aussage, steht auf Eigentumsdelikte die Todesstrafe. Diese Aussage führte zum Rücktritt des Justiz- und Sicherheitsministers der Provinz Buenos Aires, fand aber laut einer Meinungsumfrage die Zustimmung bei 55 Prozent der Bevölkerung (El Cronista 09.08.1999). Die kriminellen Elemente, gegen die der Krieg zu führen ist, wurden gewissermaßen außerhalb der Gesellschaft lokalisiert: Sie befinden sich laut Ruckauf in den prekären Siedlungen, den »villas de emergencia« (Notstandssiedlungen) oder »villas miseria« (Elendsvierteln), welche die ärmsten Mitglieder der argentinischen Gesellschaft beherbergen: „Es ist notwendig, in alle »villas« reinzugehen…, um mit der Kriminalität Schluss zu machen. Die Polizei ist fähig, es ist nur notwendig, ihr Anweisung und Kampfentscheidungen zu geben. Aber lasst uns ihnen die Normen geben, die sie brauchen; wir können eine Situation nicht haben, in der ein Polizist in einen dieser Orte reingeht und jemanden tötet, und dann erscheint irgendein Anwalt der Verbrecher und sagt, der Polizist sei der Mörder.“ (Página 12, 05.08.1999)

Nach seinem Wahlsieg ernannte Ruckauf Aldo Rico zu seinem Sicherheitsminister. Rico, der Anführer der ersten Heeresaufstände der sog. »carapintadas«1 gegen die neue demokratische Regierung Alfonsíns, vertrat eine ähnlich harte Linie, bei der der »Krieg gegen das Verbrechen« in einen Krieg gegen die Ärmsten der Bevölkerung ausartete. Groß angelegte Razzien in den »villas« unter Einsatz von speziellen Kommandoeinheiten und im Beisein der Massenmedien tragen wenig zur Kriminalitätsbekämpfung, aber viel zur Gleichsetzung der Armen und Ausgeschlossenen mit dem »Verbrechertum« bei, wodurch suggeriert wird, dass die Ausgeschlossenen ihren Ausschluss verdienen, gar selbst verschuldet haben (Stanley 2000).

Das Blutbad kurz vor Weihnachten 2001, als die Polizei das Feuer auf Demonstranten auf dem Plaza de Mayo eröffnete und über 20 Menschen starben, leitete das vorzeitige Ende der de la Rúa-Regierung ein. Es war kein singuläres Ereignis, das Ausmaß der Repression und die Zahl der Opfer waren aber selbst für argentinische Verhältnisse außergewöhnlich. Dass der ehemalige Generalkommissar der Bundespolizei, Rubén Santos, diesen Einsatz jetzt vor Gericht verantworten muss, erklärt sich eher aus der Suche nach einem Sündenbock als aus der Ablehnung der gewalttätigen Repression durch den staatlichen Apparat.

Fazit: Der neue Autoritarismus

Analysen der staatlichen Gewaltapparate in den neuen Demokratien Lateinamerikas haben sich zumeist auf die Frage konzentriert, ob die Streitkräfte durch Putschversuche bzw. durch eine Einflussnahme unterhalb der Schwelle eines Putsches die Überlebensfähigkeit der demokratischen Regime unmittelbar gefährden. Hingegen ist die Polizei als jene Institution, die für die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und Sicherheit zuständig ist, selten in den Blick geraten (Pereira 2000). Werden die alltäglichen Formen der Staatsgewalt in die Analyse mit einbezogen, so lassen sich Anzeichen eines neuen Autoritarismus ausmachen, der in einem direkten Zusammenhang mit den neoliberalen Reformen des Staates in Lateinamerika steht: Der Rollback des Staates im sozioökonomischen Bereich geht mit einem »Rollforward« des Ausmaßes und des Wirkungsradius des staatlichen Gewalt- und Zwangsapparats einher. Neue Unsicherheitswahrnehmungen und Diskurse über globale Sicherheitsrisiken haben wesentlich zur Ausformung und Rechtfertigung dieser neuen Spielart des Autoritarismus beigetragen. Anders als bei der diskursiven Begründung der autoritären Militärregime zielt die Zwangsgewalt des autoritären neoliberalen Staates sowohl diskursiv als auch in der Praxis weniger auf die »Subversion« als auf »Kriminelle«. Allerdings sind hier die Grenzen fließend: Begriffe wie »narcoterrorismo« und der »Krieg gegen das Verbrechen« dienen dazu, die Unterscheidung zwischen Krieg und Kriminalität zu verwischen. Hierin spiegelt sich die Übernahme von U.S.-amerikanischen Sicherheitsdiskursen mit ihrer Begrifflichkeit von »high-intensity crime« und »low-intensity warfare« wider (Turbiville 1995). Überhaupt gibt sich der neue Autoritarismus als eine Reaktion auf die Risiken der Globalisierung sowie auf neue Sicherheitsbedrohungen, die durch diese entstehen: Terrorismus, Drogenhandel, organisiertes Verbrechen.

Unter den erst vor kurzem abgelösten Militärregimen Lateinamerikas gab es grundsätzlich eine Konvergenz militärischer und polizeilicher Funktionen. Eine klare institutionelle und funktionale Trennung der polizeilichen und militärischen Institutionen steht in fast allen neuen Demokratien Lateinamerikas noch aus; dort, wo diese erreicht wurde, wie in Argentinien, wird sie tendenziell wieder rückgängig gemacht. Daraus ergibt sich keinesfalls eine Verpolizeilichung der Streitkräfte, sondern eine erneute Militarisierung der inneren Sicherheit. Jene Teile der Bevölkerung, die die bevorzugte Zielscheibe militarisierter Repressionsmaßnahmen darstellen, bleiben auch unter einem demokratischen politischen Regime de facto Untertanen des Staates ohne wirksame Garantien individueller Rechte und Freiheiten.

Literatur

Centro de Estudios para la Nueva Mayoría (1997): La imagen de las fuerzas armadas y de seguridad, Cuaderno N° 249, Buenos Aires.

CORREPI (Coordinación contra la Represión Policial e Institucional) (2000): Boletín Informativo No. 68, 23.04.2000.

Dominguez, Jorge (1997): Política de Defensa del Gobierno Nacional, in: Revista de la Escuela Superior de Guerra Área, 1997/2, S. 54-59.

Escudé, Carlos; Fontana, Andrés (1995): Divergencias estratégicas en el Cono Sur: Las Políticas de Seguridad de la Argentina frente a las del Brasil y Chile, Buenos Aires: Universidad Torcuato di Tella, Working Paper Nr. 20.

Martínez, Carlos Jorge (1997) : La Argentina y sus hipótesis de conflicto, in: Revista Militar Nr. 740 (Juli-Sept. 1997), S. 29-36.

Pereira, Anthony (2000): An ugly democracy? State violence and the rule of law in post-authoritarian Brazil, in: Peter Kingstone und Tim Powers (Hrsg.): Democratic Brazil, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, S. 217-235.

Saín, Marcelo (1994): Los levantamientos carapintada, Buenos Aires: CEAL, 2 Bde.

Stanley, Ruth (2001a): Modes of Transition v. Electoral Dynamics: Demnocratic Control of the Military in Argentina and Chile, in: Journal of Third World Studies, Bd. 28/2 (2001), S. 71-91.

Stanley, Ruth (2001b): The Remilitarization of Internal Security in Argentina, in: Dies. (Hrsg.): Gewalt und Konflikt in einer globalisierten Welt. Festschrift für Ulrich Albrecht, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001, S. 125-150.

Stanley, Ruth (2000): Polizeigewalt im Großraum Buenos Aires: Braucht der Neoliberalismus eine policía brava?, in: Peripherie 80/2000, S 41-58.

Turbiville, Graham (Hrsg.) (1995): Global Dimensions of High-Intensity Crime and Low- Intensity Conflict, Chicago, Office of International Criminal Justice.

United Nations (1999): United Nations, Office for Drug Control and Crime Prevention, Centre for International Crime Prevention, Global Report on Crime and Justice, New York und Oxford: Oxford Uiversity Press 1999.

Wacquant, Loic (1999): Les prisons de la misère, Paris: Editions Raison d’Agir.

Anmerkungen

1) Wörtlich »bemalte Gesichter«: Die Bezeichnung spielt auf die Gewohnheit der Aufständischen, ihre Gesichter mit Tarnfarben zu bemalen und in Kampfanzügen aufzutreten, womit sie ihre Zugehörigkeit zu den mittleren Rängen des Heeres, der kämpfenden Truppe, signalisieren wollten.

Dr. Ruth Stanley lehrt am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und ist im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung

Drogenökonomie und Gewalt in Kolumbien

Drogenökonomie und Gewalt in Kolumbien

von Peter Seidel

„Möchtest du auch eine Boden-Luft-Rakete haben? Die kannst du brauchen, wenn der Ami-Hubschrauber mit dem Gift kommt!“ Welcher Koka-Bauer in der kolumbianischen Grenzregion zu Ekuador würde da Nein sagen, denn es geht schließlich nicht nur um die Gesundheit, sondern um die nächste Ernte und damit das Einkommen für seine Familie. „Macht kaputt, was euch kaputt macht – Runter mit den Giftspritzern“ ist das Motto der Guerilla, die in letzter Zeit verstärkt solche Hubschrauberabwehrraketen in den Koka-Anbauregionen an ausgewählte Bauern verteilt und natürlich entsprechende Kurse zur Handhabung anbietet. Bezahlt werden die Raketenwerfer aus den Abgaben des Drogenhandels. Drogen und Krieg sind in Kolumbien zwei Seiten der selben Medaille. Die Offenheit, mit der diese von Bürgerkrieg geprägte Drogenökonomie funktioniert, klingt für mitteleuropäische Ohren so anekdotenhaft übertrieben, skurril und phantastisch wie die Geschichten von García Márquez. Doch auch der ist weniger fabulierender Literat denn Chronist einer grotesken Realität.
Nach Llorente, eines der Dörfer, in dem die Guerilla Ende letzen Jahres Abwehrraketen verteilte, kamen im April diese Jahres die Schergen der Paramilitärs, luden 30 der Bauern in einen Bus und ließen sie verschwinden. Die knapp 60 Kilometer entfernt stationierten Militärs sahen keinen Grund, bei diesem seit langem öffentlich vorbereiteten Massaker einzugreifen. Ziel dieser »Säuberungen« ist nicht die Bekämpfung des Drogenhandels. Ziel ist die Machtübernahme der Paramilitärs in den Drogenanbauregionen und der Wechsel der Kontrolle über den Transport illegaler Waren und die entsprechenden Gewinne.

Kolumbien ist nicht nur weltweit führend in der Drogenproduktion und dem -export, auch was Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeht, liegt Kolumbien an der Weltspitze. Guerilleros, die mit den Köpfen ihrer enthaupteten Gegner Fußball spielten, Paramilitärs, die nach dem Motorsägen-Massaker an der Bevölkerung eines Dorfes die Köpfe der Männer auf Pfähle aufspießten und dann mit Champagner auf ihren Sieg anstießen. Ohne Drogen ist dieses Verhalten schwer zu erklären, denn fanatisch sind diese Kämpfer schon lange nicht mehr, sofern sie es denn je gewesen sind. Je nachdem wie hoch der Sold ist, werden da auch schon mal die Fronten zwischen ganz weit links und ganz weit rechts mit einem kurzen Sprint gewechselt. Die Paramilitärs zahlen einem ihrer gemeinen Söldner ca. 700 DM monatlich. Die Guerilla zahlt 100 DM weniger, allerdings sind im Dschungel Kost und Logis in der Hängematte frei. Doch auch diese 600 Mark sind noch mehr als das doppelte eines kolumbianischen Mindestlohns, von dem wiederum mehr als die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung Kolumbiens nur träumen kann. Es ist daher finanziell durchaus verlockend, bei einer dieser Truppen mitzumachen.

Ohne Drogengelder läuft im Bürgerkrieg nichts

Die Finanzierung dieser Armeen verschlingt erhebliche Summen. Allein an Sold sind das für die geschätzten 15.000 Mitglieder der FARC-Guerilla jährlich mehr als 100 Millionen DM. Medizinische Versorgung, Verwaltung und vor allem Bewaffnung der Truppe kosten noch einmal mindestens die gleiche Summe. Die Fixkosten der Paramilitärs dürften bei den offiziell angegebenen 12.000 Mann Truppenstärke eher noch höher liegen. Durch Schutz- und Lösegelder von Großgrundbesitzern oder Spenden von nationalen und internationalen Unternehmen allein sind diese Summen nicht aufzubringen. Ohne die Zusatzeinnahmen von den Drogenhändlern liefe daher im Krieg der rechten Todesschwadrone gegen die Guerilla nur wenig. Der offizielle Oberbefehlshaber der Paramilitärs, Carlos Castaño, gibt die Finanzierung seiner Truppe durch Drogengelder sogar in Zeitungs- und Fernsehinterviews öffentlich zu: Der »patriotische« Zweck heiligt die Mittel.

Die Korrumpierbarkeit rechter Söldner durch Mafiagelder liegt in der Natur der Truppe: Söldner sind käuflich. Der Niedergang einer einst von Revolutionsidealen beeinflussten Guerilla zu zwielichtigen Geschäftspartnern der Drogenmafia ist da eher erstaunlich. So fällt es der Guerilla auch etwas schwerer, zu ihrer offenkundigen Zusammenarbeit mit den Drogenhändlern eine international überzeugende ideologische Erklärung zu finden.1 Die Guerilla sieht sich gern als Verteidigerin der legitimen ökonomischen Interessen des ausgebeuteten kolumbianischen Bauernstandes, als »alternativer« bewaffneter Bauernverband sozusagen. Seit der neoliberalen Öffnung Kolumbiens und der Globalisierung der Märkte für landwirtschaftliche Produkte importiert dieses Stammland der Maisbauern und Viehzüchter nun nordamerikanisches Hormonfleisch und Gen-Mais zu Dumpingpreisen. Viele Bauern, die weder ihr Handwerk aufgeben wollen, um in die Bürgerkriegsarmeen einzutreten, noch vollständig verarmen möchten, steigen daher auf die einzigen noch lukrativen und international konkurrenzfähigen landwirtschaftlichen Produkte um: Koka und Mohn. Welcher Apostel des Neoliberalismus wollte ihnen dieses rationale Marktverhalten verübeln? Zumal auch mit Kaffee und Kakao, die Kolumbien bis Mitte des letzten Jahrhunderts einen bescheidenen Wohlstand verschafft hatten, kein lohnendes Geschäft mehr zu machen ist. Die Guerilla schützt diese ökonomischen Interessen ihrer landwirtschaftlichen Klientel und erschließt sich durch taktisch motivierte Zusammenarbeit mit den Zwischenhändlern des Drogengeschäfts gleichzeitig eine sichere Finanzierungsquelle. So wird sie auch von den Launen politisch motivierter Spender unabhängig. Während der mehr als 40-jährigen Geschichte der kolumbianischen Guerilla hat der Glaube an Ideologien oder einen schnellen Sieg der Revolution sehr gelitten. Im Gegensatz zu Kuba oder Nikaragua ist Guerillero in Kolumbien kaum mehr eine Form des politischen Widerstands, sondern vielmehr ein Beruf bzw. eine Lebensform. Da die meisten bisherigen Reintegrationsprogramme für Ex-Guerilleros genauso wie die politischen Friedensprozesse gescheitert sind, gibt es auch kaum individuelle Auswege aus der Guerilla. Die kolumbianische Guerilla aber einfach als eigenes Drogenkartell zu bezeichnen, wie dies in den USA immer wieder getan wird, ist daher nicht nur ein viel zu simpler Erklärungsansatz, sondern schlichtweg falsch.

Militärische Institutionen sind korrumpierbar

Die Stärke von militärischen Organisationen liegt nicht in der Fähigkeit, Handel zu betreiben oder internationale Vertriebskanäle zu erschließen. Die Stärke von Armeen ist das Dienstleistungsangebot militärischer Repression. Darin besteht ja genau die Arbeitsteilung zwischen Drogenhändlern und den verschiedenen linken oder rechten, kolumbianischen oder nordamerikanischen Militärverbänden. Der Schutz der Drogenhändler durch die Guerilleros oder Todesschwadrone ist genauso käuflich wie ihre Tolerierung durch kolumbianisches und US-amerikanisches Militär. Entsprechend traurig sind die offiziellen Resultate von Jahrzehnten Drogenkrieg.

Die Größe der mit Koka und Mohn bepflanzten Fläche hat trotz massiver Aufbringung von Glyphosat und anderen Chemikalien zur Kokainbekämpfung zugenommen. Es liegt der Verdacht nahe, dass es beim Drogenkrieg letztlich auch nicht einfach um die Verringerung der Produktionsmenge an sich geht, sondern um die Kontrolle darüber, wer den Handel abwickelt und wie viel er daran verdient.

Die Rolle von kolumbianischem Militär und Polizei

Die kolumbianische Polizei wurde unter der letzten Regierung und der Leitung des Generals Rosso Serrano einer massiven Säuberung unterzogen. Transparenz und Bürgernähe waren dabei die Schlagworte. Erfolge in der Bekämpfung des Calikartells schienen der Strategie Recht zu geben. Weil die kolumbianische Polizei Mitte der 90er Jahre die Capos des Calikartells hinter Gitter brachte, muss sie nun permanent mit Terroranschlägen rechnen. Während dessen sitzen die Drogenbosse gemütlich im Gefängnis von Itagui ihre lächerlichen Haftstrafen ab, kümmern sich in Ruhe um ihre Geschäfte und genießen das gute Essen, das von örtlichen Luxushotels geliefert wird. Viele Polizisten grübeln daher über den Sinn ihrer Arbeit: Das schlimmste ist nicht einmal der schlechte Lohn, sondern die Einsicht, den Kopf für einen korrupten Staat hin zu halten.Genauso wie die allermeisten Politiker und Richter vermeiden die Militärs eine direkte Auseinandersetzung mit der Mafia, so gut das eben geht, ohne sich vor der Weltöffentlichkeit vollständig lächerlich zu machen.

Auch aus dem Krieg gegen die Guerilla haben sich die Militärs immer mehr zurückgezogen. Diese schmutzige Arbeit machen seit langem die Paramilitärs. So vermeiden die Generäle die lästigen juristischen Verwicklungen in Menschenrechtsverletzungen. Ihr Verbrechen reduziert sich dann auf die offene Tolerierung und heimliche Unterstützung der Todesschwadrone. Lohnerhöhungen und großzügige Waffenlieferungen allein reichen sicher nicht, um diese demotivierte und korrupte Armee dazu zu bringen, gleichzeitig gegen Drogenmafia, organisierte Kriminalität, Guerilla und Todesschwadrone zu kämpfen.

Drogenhandel, Waffenschmuggel, Geldwäsche – verschiedene Formen des Freihandels

Kolumbien ist aber keineswegs bloß eine abgelegene Bananenrepublik mit undurchdringlichen Kokaindschungeln, sondern ein beispielhafter Teil des neoliberal deregulierten Weltmarkts, in dem der freie, politisch unkontrollierte Warenaustausch auf die Spitze getrieben wird: Ein attraktiver rechtsfreier Raum ohne ökologische und soziale Kontrollen. Idealer Tummelplatz also für nordamerikanische Erdölmultis genauso wie für europäische Chemiekonzerne – und für Waffenhändler aus den Industrieländern sowieso.

Wo es Drogenhandel gibt, blüht als Folge die Geldwäsche im Süden – beim Waffenhandel ebenfalls, aber im Norden. Wenn eine Hand die andere wäscht, lässt sich Seife sparen und so ist es am besten, gleich illegale Güter gegen einander auszutauschen. Drogenimport und Waffenexport gehören daher für Schwarzhändler in USA und Deutschland genauso zusammen wie Drogenexport und Waffenimport in Kolumbien. Eine der geographischen Hauptschienen des Austauschs der beiden beliebtesten, weil gewinnträchtigsten illegalen Güter von und nach Kolumbien ist die Grenzregion zu Panama. So kann die Maultierkarawane der Drogenhändler auf dem Rückweg aus dem Hinterhof der nordamerikanischen Freihandelszone gleich den Nachschub für die Waffenträger mitbringen. Es wundert nicht, dass jeder Quadratmeter dieser Grenzregion und die dortigen Trampelpfade des Schwarzhandels heiß umkämpft sind.

Deutscher Superagent im Drogendschungel

Der Fall Mauss zeigt exemplarisch auf, dass im Bereich des Schwarzhandels komplexe Kreisläufe und vielfältige Kombinationsmöglichkeiten von Wa-ren-, Geld- und Dienstleistungstransfers jeder Art existieren. Kolumbianisches Kokain gegen deutsche G3 oder Boden-Luft-Raketen ist dabei nur eine entsprechend simple Variante. Der Einstieg von Mauss in die kolumbianische Welt des freien schwarzen Marktes begann in den 80er Jahren mit der Lieferung von Waffen an die ELN-Guerilla als variierte Schutzgeldzahlung, um die komplikationslose, d.h. sprengungsfreie Fertigstellung einer von Mannesmann gebauten Erdölpipeline zu ermöglichen. Die Aktion förderte freien Export gleich in zweifacher Art: Das Öl konnte durch diese vom kolumbianischen Staat subventionierte Pipeline billig nach USA geschafft werden und der Abtransport des Kokains in die USA war durch die neuen Waffen der Guerilla besser gesichert. Das letzte Mal als Mauss in Kolumbien für Aufsehen sorgte, war er zusammen mit seiner Frau in die Freilassung einer von der Guerilla entführten deutschen Chemiemanager-Gattin verwickelt. Es ist nicht bekannt, ob das Lösegeld in bar, als Waffen oder in Form von chemischen Vorprodukten für die Kokainproduktion geliefert wurde. Die Staatsanwaltschaft in Medellin beschuldigte das Duo Mauss nicht nur diese illegale Lösegeldzahlung organisiert zu haben, sondern auch der Guerilla den Vorschlag zur Entführung gemacht zu haben. Die Wahrheit wird wahrscheinlich im Nebel des kolumbianischen Regenwaldes bleiben.

Der Nord-Süd-Konflikt der Kartelle

Im Gegensatz zum Öl, dessen Handel und Gewinne ein Kartell von wenigen, vor allem nordamerikanischen Multis unter sich aufteilt, traten im Falle des Kokains Kartelle aus Medellin und Cali auf den Plan. Anders als ihre bolivianischen und peruanischen Kollegen beschränkten sich diese Banden nicht nur auf die Organisation des Anbaus und der Produktion des Kokains, sondern organisierten den kompletten Produktions- und Verkaufsweg: vom Bauern im kolumbianischen Urwald bis zum Junkie im Großstadtdschungel von New York.

Grund genug für internationalen Konfliktstoff.

In den 70er Jahren gab es den ersten Drogenkrieg in Kolumbien. Damals richtete er sich gegen die Marihuanakartelle an der kolumbianischen Karibikküste. Durch massive Besprühungen der Anbauregionen in der Sierra Nevada von Santa Marta mit chemischen Entlaubungsmitteln vom Stile des Agent Orange wurden weite Regionen verseucht, was bis heute zu massiven Erbschäden und Fehlbildungen bei der dortigen Indianerbevölkerung führt. Dieser Krieg hörte auf, als in Kalifornien genug Marihuana produziert werden konnte, um die nordamerikanische Mafia von Importen unabhängig zu machen. Das Glück der Enkel Al Capones dauerte jedoch nicht lange. Mit dem Boom der Schickeria- und Managerdroge Kokain traten wieder unliebsame kolumbianische Wettbewerber auf den Markt. Da im Falle des Kokains für die US-amerikanische Mafia anders als bei Marihuana kein Ausweichen auf nationale kalifornische Anbauregionen gibt und die Herstellung im Labor immer noch nicht zufrieden stellend funktioniert, bleibt gegen die südamerikanische Konkurrenz nur der frontale Kampf: die Neuauflage des Drogenkriegs als Plan Colombia – Lösung des Kokainproblems durch militärische Angebotskontrolle in Kolumbien. Dazu gehören Flächenbombardierungen von Dörfern, in denen Kommandozentralen der Guerilla vermutet werden genauso wie der Einsatz chemischer und biologischer Waffen zur Bekämpfung der Kokasträucher. Der letzte Schrei auf diesem Experimentierfeld sind genetisch manipulierte Pilzsporen, die angeblich gezielt die Kokapflanzen befallen und schädigen sollen. Die Auswirkungen auf Menschen und das komplexe Ökosystem des Amazonasurwaldes sind dabei völlig unerforscht. Weit reichende Schädigungen werden billigend in Kauf genommen.

Die Verschärfung des Krieges in Kolumbien ist für die nordamerikanischen Drogendealer und Waffenschieber ein gutes Geschäft. Die ersten lachen über höhere Preise auf den Schwarzmärkten durch das geringere Kokainangebot, weshalb viele Experten die Sicherung der Preisstabilität auf dem internationalen Drogenmarkt neben dem Schutz US-amerikanischer (Mafia-) Interessen für die wichtigste Aufgabe der nordamerikanischen Drogenpolizei DEA halten. Die Waffenhändler ihrerseits freuen sich über die staatlichen Waffenaufträge, die in Washington angenehmer abzuwickeln sind als mit der zwielichtigen Klientel in Panama. Wobei es zur nachhaltigen Absatzsicherung natürlich am besten ist, beide Seiten zu beliefern.

Nur durch Illegalität sind die schnellen Schwarzmarktgewinne möglich. Die Illegalität des Drogenhandels verhindert daher die Existenz von Mafiastrukturen nicht, sondern ist ihre Grundvoraussetzung. Umgekehrt wird durch Entkriminalisierung des Drogenkonsums gerade nicht die Mafia gefördert, sondern es wird ihr die Lebensgrundlage entzogen. Es war genau diese Erkenntnis, die in den USA in den 20er Jahren zur Aufhebung der Prohibition führte. Die Tatsache, dass die nordamerikanische Regierung sich weigert, aus dieser im eigenen Land gemachten Erfahrung im Falle Kolumbiens Konsequenzen zu ziehen, legt die Vermutung nahe, dass es eben nicht um Bekämpfung von Drogenabhängigkeit und Mafiagewalt geht, sondern um Absicherung der Gewinne der nordamerikanischen Drogenhändler und Waffenschieber.

Drogengewinne, Drogenkonsum und Gewaltbereitschaft

Vom Produzenten zum Konsumenten von Drogen zu verkommen ist ein weit verbreitetes Schicksal in Kolumbien. Früher war der Konsum selbst bei den direkt in der Produktion Arbeitenden verpönt, heute ist er ein gesellschaftlicher Trend geworden. Beschaffungskriminalität bisher ungeahnten Ausmaßes macht die Innenstädte Kolumbiens zu Tummelplätzen für Straßenräuber. In Folge des Auf und Ab des Drogenhandels nimmt auch die nicht politisch motivierte Kriminalität zu.

Trotz des gewalttätigen Bürgerkriegs gehen 80% der 30.000 Menschen, die in Kolumbien jährlich auf gewaltsame Weise das Leben lassen, auf das Konto der nicht politischen Kriminalität. Mehr als die Hälfte der weltweiten Entführungen finden in Kolumbien statt. Für Guerilla und unpolitische kriminelle Banden ist die Erpressung von Lösegeldern nach den Schutzgeldern der Drogenmafia zum zweiten finanziellen Standbein geworden.

Überschwemmt von billigen, vor allem nordamerikanischen Waffen, die im Gegenzug zum Kokainexport ins Land gekommen sind, versinken die Städte Kolumbiens seit den 90er Jahren in Chaos und Gewalt. Die Ausweitung des Betätigungsfelds der Killerbanden ist ein Nachfolgeproblem der Verfolgung der Mafia. Das Ausbleiben des schnellen Geldes schafft für die vom Lebensstil der Mafiosi infizierten Jugendlichen Entzugsprobleme. Die Antwort auf gewalttätige Jugendbanden, die im Schatten der Mafia gezüchtet wurden, ist Gegengewalt. Die Stadtguerilla organisierte Anti-Killerbanden, die sich bald jedoch in ihren Methoden von ihren Feinden nicht mehr viel unterschieden. Genauso wie ihre Mutterorganisationen im Dschungel schwanken auch diese Volksmilizen zwischen Bekämpfung der und taktischer Kooperation mit den Drogenbanden hin und her.

Doch der Drogenhandel heizt nicht nur die Gewalt auf allen Ebenen an. Er korrumpiert auch weite Teile der Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Kein Wahlkampf ohne Drogengelder, kein Gefängnis ohne einen von der Mafia kontrollierten Luxustrakt. Kaum ein Fußballclub ohne militärisch bewaffnete Fanclubs, Geldwäscheprobleme beim Spielerkauf und Mafiosi im Vorstand. Selbst bei der Einweihung der Kathedrale von Pereira stand neben dem heutigen Kardinal Castrillon der bereits erwähnte Mafia-Boss Carlos Lehder auf dem Podium und ließ sich für seine großzügigen Spenden loben. Mit Entlaubungsmitteln ist solch moralischem Verfall nicht beizukommen.

Auch die Auswirkungen des Drogenhandels auf die legale Wirtschaft sind fatal. Schätzungen gehen davon aus, dass in den Hochzeiten des Drogenhandels bis zu 40% des kolumbianischen Bruttosozialprodukts direkt oder indirekt aus dem Drogenhandel stammten. Jedes internationale Geschäft läuft in einem vom Drogenhandel verzerrten wirtschaftlichen Umfeld Gefahr, zum Mittel der Wäsche von Drogengeldern zu werden. Durch massive Billigimporte von Textilien zur Geldwäsche wurde die nationale Textilindustrie weitgehend zerstört. Durch die entsprechende Zunahme der Arbeitslosigkeit nahm der ökonomische Druck auf die Bevölkerung zu, in die direkt oder indirekt vom Drogenhandel beeinflussten Wirtschaftsbereiche umzusteigen oder sich einer der gewalttätigen Gruppen anzuschließen.

Auswege

Das Beispiel Kolumbien zeigt, dass es leicht ist, eine Generation zu korrumpieren; aber ein Land aus dem Chaos von Freihandel und Freibeuterei zurück in die Zivilisation einer funktionierenden Zivilgesellschaft mit demokratischer Kontrolle über ökonomische und militärische Macht zu führen, ist eine Herkules-Aufgabe für viele Generationen.

Einzig langfristig Erfolg versprechende aber natürlich kostspielige Auswege aus dem Bürgerkrieg sind die Schaffung von mehr sozialer Gerechtigkeit durch ökonomische Umverteilung und massive Programme zur Förderung von Ausbildung und Arbeitsplätzen. Daneben sind die internationale Kontrolle im Menschenrechtsbereich und entsprechender ökonomischer und politischer Druck auf die korrupte und Menschen verachtende Regierung Kolumbiens unerlässlich.

Zur Bekämpfung des Drogenkonsums ist nicht die militärische Bekämpfung der Drogenbauern erforderlich, sondern die therapeutische Nachfragebekämpfung bei den Konsumenten in den Slums von New York oder den Chefetagen Chikagos. Es ist nicht das Drogenangebot, das sich seine Nachfrage schafft, sondern umgekehrt. Konsumenten, die bereit sind jeden Preis für ihre gewünschten Drogen zu bezahlen, sind typisch für diesen von der Nachfrage dominierten Markt.

Der Plan Colombia als einseitig militärische Strategie ist keine Lösung des Drogenproblems, sondern wird die Gewalt in Kolumbien nur verschlimmern. Die Bombardierung von Weinbergen zur Verhinderung des Alkoholmissbrauchs wäre eine ebenso absurde Strategie. Diese wird selbst von moslemischen Fanatikern nicht vorgeschlagen.

Anmerkungen

1) Explizit kapitalismuskritische Stimmen zur Rechtfertigung des Drogenhandels sind selten. Der deutsch-stämmige Lehder, ein Polit-Clown unter den Mafiabossen, tat sich mit Ideen hervor wie „Drogenexport sei ein Mittel des Antiimperialismus, da dadurch die Gesellschaft der amerikanischen Unterdrücker geschwächt würde.“ Später wurde er durch Drogenkonsum selbst derart geschwächt, dass er für seine Kollegen des Medellinkartells zum Sicherheitsrisiko wurde und sie ihn in den 80er Jahren dem US-amerikanischen »Klassenfeind« auslieferten.

Peter Seidel ist Volkswirt und Theologe und war 1993-2000 als Dozent und Entwicklungshelfer in Kolumbien tätig.