Kolumbien

Kolumbien

Ein Ende des Krieges in Sicht?

von César Amaya Sandino

In der Zivilgesellschaft Kolumbiens macht sich zurzeit ein Schimmer der Hoffnung breit: Nach mehr als fünf Jahrzehnten der Gewalt und Zerstörung gibt es nun einen Weg zum Frieden. Sowohl Regierung als auch Guerilla scheinen verstanden zu haben, dass der militärische Weg nicht zur Lösung des Konflikts führen kann. Sofern Einsatz und Wille der beiden Parteien für eine nicht-militärische Lösung ehrlich und aufrichtig sind, besteht für die kolumbianische Gesellschaft die Chance auf einen Neustart unter fairen Bedingungen.

Ein Ende des bewaffneten Konflikts im Land können sich kolumbianische Bürger noch kaum vorstellen. Ein halbes Jahrhundert lang prägte die bewaffnete Auseinandersetzung die Geschichte des Landes. Viele kennen die Ursachen des sozialen und später bewaffneten Konflikts nicht oder haben sie längst vergessen. Nur wenige erinnern sich noch an ein Leben vor dem Krieg. Die meisten, vor allem die junge Generation, haben den Frieden nie kennen gelernt.

Die Ursprünge des bewaffneten Konflikts

Der bewaffnete Konflikt wurde vor allem durch die soziale und politische Exklusion der Bevölkerungsmehrheit sowie die exzessive Landaneignung durch Großgrundbesitzer ausgelöst; letztere hatte ihren Höhepunkt in den 1950er und 1960er Jahren. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich in der »Epoche der Gewalt« (1940-1950) der bewaffnete Widerstand, der sich während des Kalten Krieges konsolidieren konnte. Es gründeten sich die marxistisch-leninistischen FARC-EP (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo, Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee) und, mit geringerem militärischen Potential, stattdessen mit Ansätzen der Befreiungstheologie, die ebenfalls marxistisch-leninistische ELN (Ejército de Liberación Nacional, Nationale Befreiungsarmee).

Auf der anderen Seite dieses Konflikts stehen die in den Autodefensas Unidas de Colombia (AUC) vereinigten Paramilitärs, die aus Privatarmeen (so genannten Chulavitas) der Großgrundbesitzer hervorgingen (auch viele Konzerne haben sich der Paramilitärs bedient und tun es noch heute). Mit ihrer Hilfe konnten (und können) sich die Großgrundbesitzer illegal Ländereien aneignen und sich seit Anfang der 1960er Jahre auch vor linken Guerillas schützen. Als Konsequenz konzentrierte sich die politische und ökonomische Macht lange Zeit in Händen der Großgrundbesitzer, sodass Kolumbien heute einen GINI-Koeffizient von 0,75 aufweist (wobei 1 einer maximalen Ungleichverteilung entspricht).1

Die paramilitärischen Gruppen wurden zu einem wesentlichen Faktor für das Funktionieren des kolumbianischen Staates, der sie bis in die 1980er Jahre als klandestiner, bewaffneter Arm für den Kampf gegen die Guerilla ausbildete und finanziell wie strategisch unterstützte. Staatliche Organe zogen sich damit aus der strafrechtlichen Verantwortung und sind bis heute von der strafrechtlichen Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ausgenommen.

Wenngleich der politisch-militärische Kampf zwischen Guerillas und Paramilitärs in den 1980er Jahren seinen Höhepunkt erreichte, gab es nach zivilgesellschaftlichen Recherchen allein 1985-2011 in Kolumbien 5.288.206 Binnenvertriebene.2 Die Aufrüstung der kolumbianischen Armee durch internationale Wirtschaftshilfe (Plan Colombia) und das weitere Erstarken der Paramilitärs haben eine präzedenzlose Vertreibung der Landbevölkerung ermöglicht, sodass die Flüchtlingszahlen im letzten Jahrzehnt trotz des Machtverlusts der Guerilla höher waren denn je.3

Die weitere Militarisierung des innerstaatlichen Konflikts wurde überdies durch einen Diskurswechsel vorangetrieben: Die Regierung unter dem damaligen Präsidenten Álvaro Uribe Vélez (2002-2010), einem Großgrundbesitzer, definierte den bewaffneten Konflikt im Kontext des »War on Terror« in einen »antiterroristischen Kampf« der Regierung um, der sich fortan nicht mehr gegen Guerilleros und Guerilleras, sondern gegen »Terroristen« richtete und so jedwede politische Verhandlungsmöglichkeit zwischen den beiden Konfliktparteien ausgeschlossen hat.

Im selben Zeitraum gewann der Paramilitarismus in Kolumbien weiter an Stärke. Uribe hatte schon als Gouverneur in Antioquia den Paramilitarismus unterstützt. Nach seiner vom Obersten Gerichtshof für ungültig erklärten dritten Präsidentschaftskandidatur wurde Juan Manuel Santos, Verteidigungsminister unter Uribe während des »falsos positivos«-Skandals, zum nächsten Präsidenten gewählt. Uribe selbst muss zurzeit wegen der so genannten »Parapolitik« mit einer Strafverfolgung rechnen.4

Die aktuellen Verhandlungen

Ungeachtet der Menschenrechtsverletzungen, die das kolumbianische Militär unter Santos’ Verantwortung noch während der Regierung Uribe verübt hatte, und obwohl Friedensverhandlungen nicht zu seinen Wahlkampfversprechen gehört hatten, gab Santos Anfang 2012 zur Überraschung aller Verhandlungen mit der FARC-EP über eine Beendigung des bewaffneten Konflikts bekannt. Bereits ein Jahr zuvor hatte er der Guerilla den politischen Status wieder zuerkannt und so den Weg für eine politische Lösung geebnet.

Die aktuellen Verhandlungen resultieren aus dem »Abkommen zur Beendigung des Konflikts und die Schaffung eines stabilen und anhaltenden Friedens« (Acuerdo General para la terminación del Conflicto y la construcción de una paz estable y duradera), welches seit Anfang 2012 im Geheimen verhandelt und schließlich am 26. August 2012 von beiden Parteien in Anwesenheit kubanischer und norwegischer Regierungsvertreter unterzeichnet wurde. Ziel der aktuellen Verhandlungen zwischen den beiden Konfliktparteien ist die Einigung über einen Ausweg aus der militärischen Austragung des Konflikts. Seit im Oktober 2012 in Oslo/Norwegen offizielle Gespräche begannen, begleiten die Regierungen Venezuelas und Chiles den Verhandlungsprozess.

Die Friedensverhandlungen werden nun im Centro de Convenciones in Havanna/Kuba fortgesetzt. Die Verhandlungsdelegation der Regierung umfasst dreißig Delegierte. Zur Delegation der Guerilla FARC-EP gehören zehn Delegierte, von denen die Hälfte entscheidungsbefugt ist, sowie Experten für spezielle Themen (u.a. bzgl. des Sechs-Punkte-Plans) und Berater. Mit diesen besprechen sich die Repräsentanten der FARC-EP vor jeder Verhandlungsrunde, d.h. die Argumente und Inhalte der Verhandlungen werden gemeinsam ausgearbeitet.

Bis zum heutigen Tag werden die Verhandlungen von Polemik begleitet, und zwar nicht allein aufgrund ihrer immensen Bedeutung, sondern vor allem wegen ihres speziellen Charakters. Im Unterschied zu früheren Verhandlungen scheinen die Verhandlungsregeln diesmal sehr viel genauer definiert zu sein, fast so, als ob eine millimetergenaue Landkarte den Weg vorgebe, um konkrete Ergebnisse statt bloßer Willensbekenntnisse zu erhalten.

Auf der Verhandlungsagenda stehen sechs Punkte, über die sich die Akteure einigen wollen:

  • Politik einer integrativen ländlichen Entwicklung,
  • politische Partizipation,
  • Demobilisierung und Beendigung des bewaffneten Konflikts,
  • Lösung der Drogenproblematik,
  • Wahrheitsfindung und
  • Opferentschädigung.

Die Verhandlungen finden unter der Prämisse »nichts ist entschieden, bevor alles entschieden ist« und hinter verschlossenen Türen statt, um zu vermeiden, dass aus dem Zusammenhang gerissene Vereinbarungen bekannt werden oder Missverständnisse entstehen. Die Verhandlungsrunde soll gemeinsam entscheiden, wann die Öffentlichkeit über Ergebnisse und Verhandlungsfortschritte informiert wird, sofern es – was kritische Stimmen bezweifeln – überhaupt zu solchen kommt. Auch die Konditionen für die Beteiligung der Zivilgesellschaft an den jeweiligen Themen, ob direkt oder medial vermittelt,5 beschließen die Verhandlungsdelegationen gemeinsam. Überdies legten Experten des Agrarsektors sowie Kleinbauern Zeugnis ab.

Herausforderungen bei den Friedensverhandlungen

Ungeachtet des generellen Optimismus, der die kolumbianische Zivilgesellschaft momentan prägt, organisiert sich eine starke Opposition, die versucht, die Friedensverhandlungen zu obstruieren. Insbesondere die extreme Rechte, allen voran Ex-Präsident Uribe, ist einem den Verhandlungen zuwiderlaufenden, provokativen Diskurs verhaftet, welcher in weiten Teilen der ländlichen Oligarchie verankert und kriegsbefürwortend ist – eine Position, der nicht zuletzt ökonomische Interessen zugrunde liegen.

Die aktuellen Friedensgespräche müssen insbesondere diesen Diskurs durch die Anerkennung der Menschenrechte dekonstruieren. Hatte doch nicht zuletzt die Missachtung der Menschenrechte durch alle bewaffneten Akteure den gewaltsamen Austrag des sozialen Konflikts befördert und so ganze Generationen mit Gewalt und Terror überzogen. Es ist daher höchste Zeit, diesen Teufelskreis endlich zu durchbrechen.

Nichtsdestotrotz ist es wichtig, zwischen den Zeilen zu lesen und die Begrifflichkeiten nicht durcheinander zu bringen: Die Waffen niederzulegen oder die militärischen Auseinandersetzungen zu beenden, bedeutet keineswegs ein Ende des kolumbianischen Konflikts: Die bewaffnete Auseinandersetzung ist lediglich eine Facette der hohen Konfliktivität, durch die die kolumbianische Gesellschaft und ihre Institutionen gekennzeichnet sind. Insofern ist die Langlebigkeit des bewaffneten Kampfes auch das Resultat des kollektiven Gedächtnisses und der Vorstellungskraft der kolumbianischen Gesellschaft. Käme es tatsächlich zur dauerhaften Beendigung der militärischen Auseinandersetzung, würden die wirklichen Konfliktlinien offenkundig, welche die kolumbianische Zivilgesellschaft seit mehr einem halben Jahrhundert lähmten und die Ärmsten systematisch, strukturell und scheinbar ausweglos der Exklusion und dem Terror aussetzen. Eine Lösung dieser Probleme und Defizite setzt Änderungen an der Verfasstheit des gesamten Landes voraus. Dies betrifft die Form und Struktur des Staates, der Gesellschaft, der Landnutzung, der Politik, nicht zu vergessen die Etablierung einer inklusiven und egalitären Wirtschaftsstrategie. Hier liegen die wirklichen und langfristigsten Herausforderungen für einen Frieden in Kolumbien. Denn je nachdem, ob in Havanna ein Friedensabkommen erreicht wird und wie dieses aussieht, könnte für Kolumbien eine neue Etappe beginnen. Dafür müssten aber die Ursachen des sozialen Konflikts benannt werden, weil nur dann die Ursachen des langwierigen bewaffneten Konflikts beseitigt und neue Gewaltausbrüche verhindert werden können.

Die Zivilgesellschaft als Garant für Frieden

Sozialer Friede kann aber nicht ausschließlich von den Verhandlungsteilnehmer_innen initiiert und umgesetzt werden, sondern muss auch die Zivilgesellschaft als wichtigen und legitimen Akteur der Transformation anerkennen und einbinden. Ist diese doch nicht nur der grundlegende Motor des Wandels, sondern letztlich auch Adressat und daher Garant eines nachhaltigen Friedensprozesses.

Seit Jahren hat sich die kolumbianische Zivilgesellschaft bemüht, Frieden durch den gesellschaftlichen Dialog von unten zu säen. Nach Jahrzehnten der systematischen Gewalt und der Menschenrechtsverletzungen, denen vor allem die indigene und ländliche Bevölkerung zum Opfer gefallen ist, ist sie eine tragende Säule des kollektiven Versöhnungsprozesses: Der »soziale Pakt« muss durch die Teilhabe aller entstehen und von allen getragen werden, von Tätern wie von Opfern.

Mit Öffentlichkeitsarbeit, Versammlungen und Petitionen hatten zivilgesellschaftliche Kräfte ihrem Anspruch auf Beteiligung Nachdruck verliehen: Als Minimum sollten ihre Anliegen gehört und berücksichtigt werden. Dem wird nun Rechnung getragen, und die Inklusion der Zivilgesellschaft bereits in der Phase von Verhandlungen und Gesprächen ist ein großer Fortschritt – ursprünglich sollte sie erst bei der Implementierung künftiger Abkommen, die aus dem Sechs-Punkte-Plan resultieren, zum Zuge kommen.6 Dies wird vor allem bei der »Politik der integrativen ländlichen Entwicklung« deutlich, einem der besonders verhärteten und konfliktiven Verhandlungspunkte. Die Landfrage war seit jeher die zentrale Konfliktlinie; die Guerilla zog aus der Forderung einer gerechten und inklusiven Landreform die Berechtigung für ihre Existenz und ihren militärischen Kampf. Die partizipative Inklusion der Zivilgesellschaft ist auch ein Erfolg ihres konstanten Engagements, und den zivilgesellschaflichen Akteuren kommt hinsichtlich der Akzeptanz und Implementierung des Friedensprozesses in der Bevölkerung eine entscheidende Rolle zu.

Auch auf internationaler Ebene ist die Zivilgesellschaft von großer Bedeutung: Hier organisieren sich Kolumbianerinnen und Kolumbianer als Migrant_innen, politische Flüchtlinge und Menschenrechtsaktivist_innen, welche das Land auf der Flucht vor den Folgen des bewaffneten Konflikts und zum Schutz ihrer Familien verlassen haben. Sie unterstützen die Verhandlungen, weisen auf Themen hin, die ihre spezielle Situation reflektieren (Migration, politisches Asyl und Exil), und verknüpfen damit spezifische Forderungen und Erwartungen, u.a. nach sozialer Gerechtigkeit sowie Rückkehrmöglichkeiten in ein Land, das ihnen politische und ökonomische Zukunftsperspektiven bietet und ein Leben in Frieden sicher stellt.

Der internationale Kontext

Kolumbien befindet sich momentan in einem beispiellosen Prozess der Globalisierung. Der Versuch, die Wirtschaft durch den Abschluss von Freihandelsabkommen zu modernisieren, hat die Vorherrschaft des Finanzsystems weiter konsolidiert und zu enormen externen Investitionen in die kolumbianische Wirtschaft geführt. Hierdurch hat die kolumbianische Ökonomie in den letzten Jahrzehnten einen radikalen Transformationsprozess durchlebt, in dem neue Wirtschaftsgruppen an Macht gewonnen haben. Eine neue städtische Finanzelite mit erheblichem nationalen Einfluss hat die traditionelle Agrarelite, die Großgrundbesitzer, verdrängt. Seit 2010 wurden 7.264 Minenkonzessionen vergeben und 17.479 Anträge auf Minenförderung eingereicht. 5,8 Millionen Hektar Land sind bereits zur Minenförderung vergeben, im Vergleich zu 4,9 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Nutzung.7

Gleichzeitig haben auf der regionalen politischen und ökonomischen Ebene Integrationsprozesse wie die Gründung der »Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten« (Comunidad de Estados Latinoamericanos y Caribeños, CELAC) und der »Union Südamerikanischer Nationen« (Unión de Naciones del Sur, UNASUR) stattgefunden, die für Kolumbien von großer Bedeutung sind und in denen Kolumbien eine zentrale Rolle spielen könnte. Eine militärische Lösung des innenpolitischen Konflikts verliert daher auch international weiter an Rückhalt. Mehr noch: Sie stellt für die Schaffung eines politisch-ökonomischen Raums lateinamerikanischer Staaten ebenso wie für die kolumbianische Wirtschaftsentwicklung ein Hindernis dar.

Auf regionaler Ebene gibt Kolumbien nach Brasilien am meisten fürs Militär aus: In den Jahren 2006-2010 waren es 17% der gesamten Militärausgaben in Lateinamerika,8 das entspricht 3% des kolumbianischen BIP. In einem Postkonflikt-Szenario könnten diese Kriegsausgaben eingespart und entsprechende Gelder in die Entwicklung des Landes investiert werden, um die extreme Ungleichheit, unter der Kolumbien leidet, zu verringern.9 Die Nachbarländer haben bewiesen, dass es möglich ist, durch die politische Inklusion der ländlichen und indigenen Bevölkerung und die Etablierung demokratischer Prozesse die wirtschaftliche Entwicklung mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden.

Vor diesem Hintergrund gewinnt die Beendigung des bewaffneten Konflikts noch mehr an Bedeutung, zu viel steht bei einem Scheitern der Verhandlungen auf dem Spiel. Denn mit den Friedensverhandlungen und den sich daraus eventuell entwickelnden neuen politischen Kräften öffnet sich nicht nur ein Fenster für Frieden und mehr Demokratie, sondern auch für eine wirtschaftliche Entwicklung, von der die ganze Gesellschaft profitieren könnte. Ein Ende des Konflikts würde nicht nur ein Ende der militärischen Auseinandersetzungen bedeuten, sondern auch eine Möglichkeit eröffnen, um die strukturelle Gewalt, das heißt die extreme Armut und das Elend, in denen sich der Großteil der kolumbianischen Bevölkerung befindet, zu verringern.

Vom Krieg zum Frieden – Verhandlungsstrategien

Mit Unterzeichnung des »Abkommens zur Beendigung des Konflikts« (s.o.) wurde entschieden, dass es keinen Waffenstillstand geben würde, bis eine endgültige Einigung erfolgt ist. Dies hat in der Vergangenheit für Zweifel gesorgt, ist allerdings nur dann problematisch, wenn die Parteien die Friedensverhandlungen abbrechen und wieder zur militärischen Offensive übergehen würden.

Nichtsdestotrotz hat die Guerilla für den Zeitraum vom 20. November 2012 bis zum 20. Januar 2013 einen einseitigen Waffenstillstand erklärt und erfüllt. Dabei handelt es sich wohl um eine politische Strategie, mit der die Guerilla versucht, sich vor der kolumbianischen Gesellschaft politisch zu legitimieren und zu beweisen, dass sie ernsthaft nach einem politischen Ausweg aus dem bewaffneten Konflikt sucht. Die Regierung ist unverändert bei der Entscheidung geblieben, einen Waffenstillstand erst nach erfolgreichem Abschluss der Verhandlungen umzusetzen. Sofern die Guerilla den Waffenstillstand wirklich bis zum Ende einhält, würden jegliche zivilen Opfer der kolumbianischen Armee und anderen paramilitärischen Organisationen zur Last gelegt und damit auch die Mitverantwortung des Staates an den Menschenrechtsverletzungen deutlich.

Ob diese Strategie aufgeht, lässt sich noch nicht abschließend beurteilen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Guerilla mit dieser Offensive gezeigt hat, dass sie einen Paradigmenwechsel anstrebt und das politische Spiel dem militärischen vorzieht. Dies wird durch den Auftritt in Zivil untermauert, in dem sich die Guerilleros bei diesen Verhandlungen präsentierten – ganz im Unterschied zu den Verhandlungen 1998 in Caguán, als sie sich in Uniform und mit Handfeuerwaffen an den Verhandlungstisch gesetzt hatten.

Zum aktuellen Zeitpunkt fällt es noch schwer, Vermutungen darüber anzustellen, ob die Verhandlungen erfolgreich sein werden oder ob die Parteien ihre Positionen auf dem Schlachtfeld wieder beziehen, um militärisch durchzusetzen, was politisch nicht erreicht werden konnte. Nichtsdestotrotz: Jetzt ist der ideale Moment für Vereinbarungen, die für immer die Zukunft aller Kolumbianerinnen und Kolumbianer verändern könnten, die sich schon so lange nach Frieden sehnen. Damit die kolumbianische Gesellschaft endlich ohne den Schleier der Gewalt sehen kann, wie sie ist und wie sie sein will. Und damit sie ihre Sehnsüchte endlich auf etwas anderes richten kann als auf das Ende eines Konfliktes, der seit jeher zu keinem Ende zu kommen und ungestraft geführt zu werden schien.

Anmerkungen

1) Héctor Galindo, Jorge A. Restrepo yFabio Sánchez (2009): Conflicto y pobreza en Colombia: un enfoque institucionalista. In: Jorge A. Restrepo y David Aponte (eds.): Guerra y violencias en Colombia Herramientas e interpretaciones. –Bogotá: Pontificia Universidad Javeriana, Bogotá und Centro de Recursos para el Análisis de Conflictos.Der GINI-Koeffizient charakterisiert die relative Konzentration (Disparität) der Einkommensverteilung.

2) Siehe Statistiken zur Landvertreibung von Verdad Abierta: Conflicto armado en Colombia. Estadísticas; Stand 22. Februar 2011; verdadabierta.com.

3) U.S. State Department: United States Support For Colombia – Plan Colombia. Fact Sheet, March 28. 2000.

4) Als »Parapolitik« wird die Kooperation zwischen Parlamentsabgeordneten und Paramilitärs verstanden, die unter Uribe von mehr als der Hälfte seiner Regierung praktiziert wurde, um politische Gegner einzuschüchtern und die Wahlen zu manipulieren. Die Strafverfolgung gegen bislang 139 Mitglieder des Kongresses ist noch nicht abgeschlossen. Fünf Gouverneure und 32 Juristen (unter ihnen der ehemalige Präsident des Kongresses und Cousin Uribes) wurden bislang verurteilt.

5) Für die aktive Beteiligung der Zivilbevölkerung wurde die Internet-Seite mesadeconversaciones.com.co geschaltet; dort besteht die Möglichkeit, Vorschläge einzureichen, über bestimmte Inhalte abzustimmen und sich zu informieren. Die Website ist u.a. in drei indigenen Sprachen verfasst.

6) Bislang sind 3.067 Vorschläge eingegangen (Stand 11.01.2013).

7) Programa de las Naciones Unidas para el Desarrollo (PNUD) (2011): Colombia Rural: Razones para la esperanza. PNUD.

8) Babjee Pothuraju: BACKGROUNDER UNASUR and Security in South America. Institute for Defence Studies and Analysis website, October 30, 2012.

9) PNUD zufolge stand Kolumbien 2011 unter 129 Ländern an dritter Stelle bzgl. des Grades der Ungleichheit. Siehe PNUD 2011, op.cit.

César Amaya Sandino ist Diplom-Politologe und Redakteur bei »The Prisma«, London. Seine Schwerpunkte sind Lateinamerika, Internationale Beziehungen und Geopolitik. Aus dem Spanischen übersetzt von María Cárdenas Alfonso.

Wiederaufbau in Haiti

Wiederaufbau in Haiti

Von außen oder von unten?

von Alexander King

Verfluchtes Land, ewiger Bittsteller, Fass ohne Boden – so kennen wir Haiti von jeher aus der Berichterstattung. Das Erdbeben, das am 12. Januar 2010 die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince und umliegende Städte zerstörte, hat dieses Bild geradezu grotesk zugespitzt. Haiti braucht Hilfe, Unterstützung beim Wiederaufbau, aber: „Haiti ist ein Gläubiger, kein Schuldner“. Darauf hat uns die US-amerikanische globalisierungskritische Autorin Naomi Klein in einer ihrer ersten Stellungnahmen nach dem Erdbeben aufmerksam gemacht.

Das gilt in zweierlei Hinsicht: Zum einen leisteten die Haitianerinnen und Haitianer einen bedeutenden Beitrag zum globalen zivilisatorischen Fortschritt: Die Abschaffung der Sklaverei 1794 in der damaligen französischen Kolonie Saint-Domingue durch den Französischen Nationalkonvent war von den aufständischen Sklaven erzwungen worden. Dass sie ihre Freiheit verteidigten, auch nachdem Frankreich unter Napoléon die Sklaverei auf der Insel wieder einführen wollte, war eine wichtige Voraussetzung für die spätere Abschaffung der Sklaverei weltweit. Als erster unabhängiger Staat Lateinamerikas ab 1804 hat Haiti den Befreiungskampf von Simon Bolívar in Südamerika mit Soldaten und Schiffen unterstützt.

Auf der anderen Seite hat Haiti – unter dem Joch der französischen Kolonialherrschaft – erheblich zur wirtschaftlichen Entwicklung Europas beigetragen: Die Kolonie steuerte in der Zeit der Industrialisierung mehr als ein Drittel zum Außenhandelsvolumen Frankreichs bei. Jährlich stachen 1.500 Schiffe in Saint-Domingue in See, um Kolonialwaren (Zucker, Kaffee, Indigo, Kupfer) nach Frankreich zu transportieren. Der Handel mit den Produkten der Kolonie bescherte den Handelsstädten des Mutterlandes wie Nantes, La Rochelle oder Bordeaux einen beträchtlichen kommerziellen Aufschwung und unterstützte die industrielle Entwicklung Frankreichs und Europas.

Das alles auf den Knochen der Bewohner der Halbinsel, die diesen Reichtum schufen: Sklavinnen und Sklaven, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen so hart waren, dass ihre durchschnittliche Lebenserwartung nach ihrer Ankunft aus Afrika bei neun Jahren lag.

Der Fluch aus dem Norden

„Ihr seid nicht verflucht!“ Mit dieser eindringlichen Botschaft hat sich der Gewerkschaftsdachverband Batay Ouvriyè nach dem Erdbeben an seine Landsleute gewandt, die eine Naturkatastrophe oftmals als Strafe Gottes interpretieren. Und die natürlich – nach den schlimmen Unwetterkatastrophen von 2004 und 2008 – vom Pech regelrecht verfolgt scheinen. Der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano sprach im Katastrophenjahr 2004 in einem Text über Haiti vom „weißen Fluch“ und verwies darauf, dass ein großer Teil der haitianischen Misere das Ergebnis von Jahrzehnten und Jahrhunderten der Ausbeutung und Destabilisierung ist. Wenn heute oftmals von Haiti als einem »gescheiterten Staat« (failed state) die Rede ist, sollte man diese Zusammenhänge nicht übersehen.

Haiti hatte bereits einen schlechten Start: Im Unabhängigkeitskrieg gegen die französische Armee kam ein Drittel der Bevölkerung ums Leben und die gesamte Infrastruktur der Halbinsel wurde zerstört.

Auf Unterstützung von außen konnten sie nicht rechnen, im Gegenteil: Es folgte eine jahrzehntelange internationale Isolation, weil Haiti den benachbarten USA und erst recht den europäischen Kolonialmächten als schlechtes Bespiel galt, das möglichst eingedämmt werden sollte. Mit den erzwungenen »Entschädigungszahlungen« von 150 Millionen Goldfranken an Frankreich als Preis für die Anerkennung der Unabhängigkeit wurde Haiti das erste Land des Südens in der Schuldenfalle.

Unter der US-Besatzung von 1915 bis 1934 wurde dann die Zentralisierung aller wirtschaftlichen und Verwaltungsfunktionen auf die Hauptstadt Port-au-Prince vorangetrieben und die Verfassung geändert, damit US-Konzerne Land erwerben und Plantagen errichten konnten. Hunderttausende Kleinbauern verloren ihre Existenzgrundlage. Die damals geschaffenen Strukturen waren zwar für die US-Okkupation funktional, für die haitianische Gesellschaft stellen sie aber bis heute eine schwere Hypothek dar.

Natürlich verbanden sich die externen wirtschaftlichen und strategischen Interessen auch immer mit Klasseninteressen innerhalb der haitianischen Gesellschaft. Drastisches Beispiel dafür war die Unterstützung Frankreichs und der USA für die Diktatur von Vater und Sohn Duvalier, die 1957 begann und 1986 endete, als Jean-Claude Duvalier nach einem Volksaufstand mit 900 Mio. US-Dollar ins Exil ging und seinem Land Auslandsschulden in Höhe von 750 Mio. US-Dollar hinterließ.

Seit den 80er Jahren haben neoliberale Entwicklungsstrategien der internationalen Geber (Weltbank, IWF und USAID) die haitianische Gesellschaft systematisch zerrüttet und die Funktionsfähigkeit des Staates untergraben. Durch die Handelsliberalisierung, die 1986 und 1995 jeweils im Kontext gesellschaftlicher Umbruchsituationen durchgesetzt wurde, verloren lokale Produzenten ihre Märkte an billige, teilweise subventionierte Import-Produkte aus den USA. Die Produktion von Grundnahrungsmitteln ging infolge dessen seit Mitte der 80er Jahre um ein Drittel zurück – bei gleichzeitigem Bevölkerungswachstum um ein Drittel. Haiti wurde von einem Selbstversorger zu einem hochgradig von Importen abhängigen Land. Die Hungerkrise von 2008 nach dem massiven Preisanstieg für Grundnahrungsmittel auf dem Weltmarkt ist eine Folge dieser Politik. Ebenso die enorme Landflucht nach Port-au-Prince: Die Einwohnerzahl der Hauptstadt erhöhte sich seit den 80er Jahren von 720.000 auf 2,5 Millionen. Die damit einhergehende unkontrollierte Bautätigkeit trug zu der hohen Opferzahl nach dem Erdbeben bei.

Durch die Senkung der Importzölle wurden außerdem die Staatseinnahmen verringert. Haiti wurde in einem Strukturanpassungsprogramm des IWF auferlegt, seine öffentliche Lohnsumme zu halbieren und Staatsbetriebe zu privatisieren. Im Zuge der Privatisierungen wiederum wurden ganze Produktionszweige (Zuckerindustrie, Zementindustrie) brachgelegt. Die Arbeitskräfte, die durch die Privatisierung und den Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion frei wurden, sollten in die Sweat-Shops gelenkt werden, die seit den 70er Jahren am Rande der Slums von Port-au-Prince errichtet worden waren, und dort für US-amerikanische und kanadische Textilvermarkter zu Hungerlöhnen und ohne grundlegende gewerkschaftliche Rechte Hemden und Jeans zusammennähen.

„Haiti ist das liberalste Land Lateinamerikas – und das ärmste“, so fasst eine haitianische Gewerkschafterin die Ergebnisse dieser Politik zusammen: Der haitianische Staat wurde systematisch geschwächt, die Volkswirtschaft zerstört und politische Instabilität geschaffen. Nicht nur das Agrarbusiness und die Textilkonzerne der USA, Kanadas, der Dominikanischen Republik und anderer Länder haben davon profitiert, sondern auch die haitianische Elite: etwa als Sweat-Shop-Betreiber und Import-Monopolisten.

Die Verbindung westlicher Interessen mit denen der haitianischen Elite hat sich auch auf der politischen Ebene immer wieder gegen die Bevölkerung gerichtet: Der populäre, demokratisch gewählte Präsident Jean-Bertrand Aristide wurde gleich zweimal von der Elite bzw. ihren Milizen und unter Beteiligung der jeweiligen US-Regierung (erst Bush sen., dann Bush jun.) gewaltsam gestürzt, seine Bewegung Lavalas grausam verfolgt. Nach dem zweiten Staatsstreich wurde die UN-Mission MINUSTAH in Haiti installiert – mit robustem Mandat, weil, so die entsprechende Resolution des Sicherheitsrats, von Haiti eine Gefahr für den internationalen Frieden ausgehe.

Militarisierung der Hilfe

Diese Militarisierung von sozialen Problemen bzw. politischen Auseinandersetzungen setzt sich nach dem Erdbeben fort. Die UN-Militärmission MINUSTAH, die mit 7.000 Soldaten und 2.000 Polizisten seit 2004 in Haiti stationiert ist, wurde nach dem Erdbeben um 2.000 Soldaten und 1.500 Polizisten verstärkt. Dazu kommt der enorme militärische Aufmarsch von zeitweise über 20.000 US-Soldaten, der sich nach dem Erdbeben in Port-au-Prince vollzog. Die EU schickte 300 Gendarmen und kündigte eine eigene Militärmission an. Soldaten und Gendarmen, so wird argumentiert, seien nötig, um die Ankunft und Verteilung der humanitären Hilfe abzusichern.

In der Berichterstattung nach dem Erdbeben wurde teilweise der Eindruck erweckt, in Haiti herrsche nicht in erster Linie großes menschliches Leid, sondern vor allem ein Sicherheitsproblem (Stichworte: Bandenkrieg, Plünderungen).

Vertreter der Hilfsorganisationen vor Ort wie medico international oder Diakonie Katastrophenhilfe bestätigen die Meldungen über die Gefährdung ihrer Sicherheit jedoch nicht, sondern betonen im Gegenteil, wie diszipliniert und solidarisch sich die Haitianerinnen und Haitianer verhalten und dass die Sicherheit kein Problem darstellt, solange man mit den Selbsthilfestrukturen vor Ort zusammenarbeitet (Katja Maurer, Sprecherin medico international, am 22.1.2010 im Neuen Deutschland; Tommy Ramm von der Diakonie Katastrophenhilfe am 19.1.2010 in der Taz). Es gab sogar Hinweise, dass die Militärpräsenz Hilfe aufgehalten habe. Ärzte ohne Grenzen, die Karibische Staatengemeinschaft CARICOM und mehrere Regierungen anderer Geberländer (Frankreich, Italien, Brasilien) kritisierten, dass Flugzeuge mit Hilfslieferungen nach Santo Domingo umgeleitet wurden, weil der Flughafen von Port-au-Prince aufgrund der Aktivitäten der US-Armee überlastet war.

Viele Haitianerinnen und Haitianer wehren sich dagegen, dass die menschliche Katastrophe in Haiti kurzerhand zu einem Sicherheitsproblem umdefiniert wird. Sie vermuten hinter der militärischen Präsenz vor allem strategische Gründe: Es geht um die Kontrolle über den Wiederaufbau in Haiti und den Schutz der eigenen wirtschaftlichen Interessen, die am besten gewahrt bleiben, wenn sich der Neuaufbau nach den alten Spielregeln vollzieht. Wer alle wichtigen strategischen Punkte besetzt hält, bestimmt, was sich in Haiti abspielt und kann gegebenenfalls verhindern, dass die Haitianer sich von unten organisieren und möglicherweise nach alternativen Entwicklungswegen suchen.

Die Lage Haitis zwischen den USA, Kuba und Venezuela macht das Land für die USA außerdem geostrategisch interessant. Die Regierungen vieler lateinamerikanischer Nachbarstaaten sehen in der massiven Militärpräsenz den Versuch der USA, den Einfluss des linken, von Venezuela und Kuba maßgeblich initiierten Integrationsprojekts ALBA einzudämmen, und fordern ein Ende der Besatzung.

Perspektiven des Aufbaus

Der Wiederaufbau in Haiti wird nach Schätzungen von Experten über 10 Mrd. Euro kosten. Am 31. März fand die internationale Geberkonferenz statt, zu der die Vereinten Nationen und die US-Regierung nach New York eingeladen hatten und auf der über den Wiederaufbau in Haiti beraten werden sollte. Aber was soll wie, durch wen und für wen aufgebaut werden? Die Haitianerinnen und Haitianer wollen die Fehler der Vergangenheit vermeiden. Haiti hat in den letzten 20 Jahren Milliarden an Hilfsgeldern erhalten, ohne dass sich die Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung dadurch verbessert hätten.

In welche Richtung also soll sich Haiti entwickeln? Ende Januar veröffentlichte die Stiftung Wissenschaft und Politik eine Analyse, die in ihrer Überschrift die Frage stellt: „Haiti – was kommt nach der Katastrophenhilfe?“ Die SWP stellt Haiti als einen »gescheiterten Staat« dar, in dem marodierende Banden die öffentliche Sicherheit gefährdeten und in dem politische Unzufriedenheit regelmäßig in Gewaltexzesse mündete. Ein Land, das darüber hinaus unregierbar und nicht in der Lage sei, sich selbst zu versorgen. Aus dieser Sicht seien der militärische Aufmarsch der US-Armee und die Verstärkung der MINUSTAH zu begrüßen. Und mehr noch: Die SWP stellt mehrere Szenarien vor, wie es mit Haiti weitergehen könnte. Alle laufen – in unterschiedlichen Abstufungen – auf eine Protektorats- oder gar Treuhandlösung hinaus.

Mittlerweile hat der US-Botschafter in Haiti auch eine dauerhafte Präsenz der US-Armee ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Die USA haben de facto die Regentschaft in Haiti übernommen. Sinnbildlich dafür steht eine Pressekonferenz am 31.01.2010 in Port-au-Prince, auf der der US-Botschafter und der Oberleutnant der US-Truppen zu den Medien sprachen, während der haitianische Präsident René Préval im Hintergrund stand und schließlich, ohne gesprochen zu haben, von dannen zog. (New York Times, 1.2.2010)

„Unsere Souveränität ist nicht verhandelbar“, sagen hingegen Aktivistinnen und Aktivisten sozialer Organisationen in Haiti. In einem gemeinsamen Statement vom 01.02.2010 haben sich mehrere haitianische Organisationen und Bündnisse zu Wort gemeldet, darunter die Plattform für eine alternative Entwicklung (PAPDA), das bekannteste entwicklungspolitische Bündnis Haitis. Sie beklagen das falsche Bild, das von der Situation in Haiti vermittelt wird, und beschreiben die große Solidarität zwischen den Menschen nach dem Erdbeben und die Gründung von Selbsthilfe-Komitees, die sofort nach dem Beben die Verteilung von Hilfsgütern auf Nachbarschaftsebene in die Hand genommen haben. Sie fordern, dass diese Strukturen, die mit Abstand den größten Anteil an der Organisation von Hilfe hatten, in den Wiederaufbau einbezogen werden müssen.

In einem Statement zum Prozess des Wiederaufbaus vom 19.03.2010 beklagen mehrere soziale Bewegungen Haitis, darunter PAPDA und die Flüchtlingsorganisation GARR, dass sich dieser Prozess unter Ausschluss der haitianischen Zivilgesellschaft und unzureichender Einbindung der haitianischen Regierung vollzieht. In einer scheinbar endlosen Aneinanderreihung von teuren Konferenzen beraten Technokraten und Vertreter der Geberländer und multilateraler Institutionen über eine langfristige Strategie für Haiti, so der Vorwurf. Die sozialen Bewegungen erinnern an das Scheitern ähnlich zustande gekommener Strategien in der Vergangenheit. In ihren Augen schreibt der Aufbauprozess, sowie er sich bislang vollzieht, die Dominanz der Geberländer und den andauernden Souveränitätsverlust Haitis fort. Sie fordern einen radikalen Bruch mit der bisherigen Entwicklungslogik, die Haiti in Armut und Abhängigkeit getrieben hat und knüpfen dabei an konkrete soziale Auseinandersetzungen an, die schon vor dem Erdbeben geführt wurden: Dezentralisierung, Agrarreform, Investition in Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, Erhöhung des Mindestlohns, Verhinderung weiterer Privatisierung, Aufbau von Infrastruktur für die Bevölkerung, vollständige Entschuldung.

Der damalige Präsident Jean-Bertrand Aristide hatte 2004 – kurz vor seinem Sturz – von Frankreich die Summe von 21 Mrd. US-Dollar eingefordert, als Reparation für die im 19. Jahrhundert erpressten 150 Mio. Goldfranken. Diese Kampagne wird nun von einigen sozialen Organisationen wieder aufgegriffen, die die Hilfe für Haiti in diesem Sinne als Wiedergutmachung begreifen und für die Einrichtung eines entsprechenden Fonds plädieren, über den der Aufbau in Haiti finanziert werden soll.

Viele Haitianerinnen und Haitianer sehen in der regionalen Integration eine Alternative zur „imperialistischen Hilfe“ (Batay Ouvriyè, 14.2.2010) und unterstützen die Annäherung an ALBA. Haiti hat in den letzten Jahren zunehmend mit ALBA kooperiert und hat mittlerweile Beobachterstatus. Bereits seit Dezember 1998 sind ständig mehrere Hundert kubanische Ärzte in Haiti tätig, insgesamt seit 1998 rund 6.000. Kuba und Venezuela haben außerdem ein Programm zum Aufbau regionaler medizinischer Zentren in Haiti aufgelegt, von denen bereits vier arbeiten. Haiti ist Teil der Energieintegration von ALBA und profitiert von venezolanischen Erdöl-Lieferungen zu günstigen Konditionen.

Die kubanischen Ärztinnen und Ärzte, die seit Jahren in vielen haitianischen Gemeinden leben, genießen hohes Ansehen. Sie waren auch die ersten, die nach dem Beben Hilfe anbieten konnten. Es ist übrigens noch nie vorgekommen, dass einer der kubanischen Ärzte Opfer von Gewalt geworden wäre.

Dr. Alexander King ist Referent für Entwicklungspolitik der Bundestagsfraktion DIE LINKE.

Kampf gegen internationale Bergbaufirmen

Kampf gegen internationale Bergbaufirmen

Ecuador: Indigener Protest im Amazonas

von Miriam Seemann

Der ecuadorianische Regenwald gehört zu den artenreichsten Gebieten der Welt. Im Oriente – wie das Amazonasgebiet in Ecuador genannt wird – leben heute noch etwa 150.000 »Indigenas«. Die Shuars gehören zu diesen Völkern, die noch vor ca. 40 Jahren in einem der abgeschiedensten Gebiete des Regenwaldes lebten und dadurch ihre traditionelle Lebensweise erhalten konnten. Vor ca. zehn Jahren versuchten internationale Bergbaufirmen, speziell in der Shuar-Gemeinde Warints, wertvolle natürliche Ressourcen großflächig abzubauen. Die Shuars versuchten, sich mit Macheten und Jagdwerkzeugen dagegen zu wehren. Sie fordern die Einhaltung der internationalen Menschenrechte und die Umsetzung der von Ecuador unterzeichneten ILO-Konvention zum Schutz indigener Völker.

Die Lebensverhältnisse der Shuar

Es ist 5 Uhr morgens, als Miguel Arutam zusammen mit seinen zwei Frauen und drei Kindern in Wartins, einem kleinen Dorf mitten im ecuadorianischen Regenwald, aufsteht. Miguel gehört zum Volk der Shuar, die auf der Bergkette »Cordillera del Cóndor« im Grenzgebiet zwischen Südecuador und Peru leben. Jedes Familienmitglied – selbst die Kinder – verfolgt nun routiniert seinen gewohnten Tagesablauf. Die Frauen bereiten das Frühstück vor, das aus Yucca-Wurzeln und »Chicha«, einem Getränk aus gegährten Maniok-Wurzeln, besteht. Die Kinder holen frisches Wasser vom kleinen Bach in der Nähe.

Währendessen beratschlagt Miguel mit weiteren Männern, wie sie bezüglich der Bergbauarbeiten in ihrem Dorf vorgehen sollten. Miguel sagt: „Wir Shuars unterscheiden nicht zwischen dem Eigentumsrecht auf Land und Erdboden. Wir sehen uns als Besitzer unseres Landes, in dem schon unsere Urvorfahren gelebt haben. Das beinhaltet alle Resourcen und somit auch den Erdboden. Wir akzeptieren nicht die ecuadorianische Gesetzgebung, die Bergbaukonzessionen für den Erdboden vergibt, insbesondere weil wir dabei gar nicht erst gefragt wurden.“ Warints gehört zu der Shuar-Provinz Nukui, zu der noch fünf weitere Shuar-Gemeinden gehören. Warints hat ungefähr 150 Bewohner. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, diese Shuar-Gemeinde zu erreichen: Mit einer kleinen Propellermaschine nach einer halben Stunde Flugzeit oder zu Fuß nach 12 Stunden strammem Fußmarsch von der nächst größeren Stadt, Sucúa, entfernt. Die Shuar allerdings haben selten die finanziellen Mittel zu fliegen. Die Flugpiste wird meistens von den BergbaumitarbeiterInnen genutzt.

Miguels Familie bewohnt ihr eigenes Land und lebt wirtschaftlich autark, wie auch die anderen Shuar-Familien im Dorf. Sie leben von der Landwirtschaft, der Jagd, der Fischerei und dem Sammeln von Insekten, Früchten und Pflanzen. Heutzutage werden auch Rinder gehalten, die zum festen Bestandteil der Ernährung geworden sind. Fast 70% der Nahrungsmittel stammen aus natürlichen Ressourcen, so wie auch Produkte für Haushalt, Gesundheit, sowie Werkzeuge und Baumaterial. Daher ist die die Shuars direkt umgebende Fauna und Flora von essentieller Lebensbedeutung für sie. Trotzdem sind sie darauf angewiesen, einige Dinge aus der Stadt zu besorgen, insbesondere Salz, Kleidung, Bildungsmaterialien und einige Medikamente, was wiederum den finanziellen Druck auf viele Familien erhöht.

Der Einfluss von »Außen«

Berühmt wurden die Shuar durch den Brauch, ihren Feinden den Kopf abzuschlagen und zu einem Schrumpfkopf, der »tsantsa«, zu verarbeiten. Als einziges der bisher »entdeckten« Völker der Welt haben sich die Shuar erfolgreich gegen die europäische Eroberung ihres Lebensraumes durchgesetzt. Erst im 20. Jahrhunders kam es vermehrt zu Kontakten mit Missionaren und Kolonisten. Mit der infrastrukturellen Erschließung der Territorien hat sich in den letzten Jahrzehnten auch die Lebens- und Wirtschaftsweise vieler Shuar weitgehend verändert. In den 1960er Jahren begannen sich die Shuar mit Unterstützung der salesianischen Missionare zu organisieren. Anlass hierfür war eine Agrarreform und die Aufforderung der damaligen Regierung Ecuadors, das Amazonasgebiet zu besiedeln.

Mit der Besiedlung des Regenwaldes und der dadurch verbesserten Infrastruktur erreichten auch vermehrt Vertreter der Öl- und Bergbauindustrie die Gemeinden der indigenen Bevölkerung im Amazonas, um die reichhaltigen natürlichen Ressourcen der Region auszubeuten. Dies hatte letztendlich oft die Rodung von Regenwaldgebieten zu Folge, was wiederum für die Landwirtschaft verheerende ökologische Konsequenzen hatte.

Widerstand gegen die Bergbauunternehmen

In der Region »Cordillera del Cóndor« gibt es mehrere Bergbaukonflikte, die aus dieser Entwicklung entstanden sind. Der letzte Konflikt fand in der Shuar-Gemeinde von Warints statt. Er begann vor ca. zehn Jahren, als internationale Bergbaufirmen1 in Warints eintrafen. Diese versuchten in der Shuar-Gemeinde mit Unterstützung einiger »Mestizos«2 und in einigen Fällen von Vertretern der lokalen Regierung Bergbauaktivitäten aufzunehmen. Ihre Strategie ist simpel, aber effektiv: Sie versuchen, die Shuar-Familien mit finanziellen Mitteln zur Unterzeichnung von Verträge zu überreden, die die Zustimmung zu Bergbauaktivitäten auf ihrem Land bedeuten.

Dies hatte die soziale Spaltung der Shuar-Gemeinden zur Folge. Denn während einige Shuar-Familie weiterhin versuchen, sich gegen den Bergbau in Warints zu währen, profitierten andere Familien in finanzieller Hinsicht von seiner Umsetzung. In diesem Fall war es die Bergbaufirma Lowell, die die Spaltung der Gemeinde Warints ausgenutzt und ihre Bergbauaktivitäten dann auch 2004 begonnen hat. Die anderen 45 Shuar-Gemeinden der Region, die in der Shuar-Regierung »El Consejo de Gobierno Pueblo Shuar Arutam« (CGSHA)3 in der federalen Shuar-Dachorganisation »Federación Interprovincial de Centros Shuar« (FICSH)4 organisiert sind, lehnen Bergbauaktivitäten in der Region strikt ab.

Bereits am 11. September 2001 fand der erste offensive Wiederstand gegen die Bergbaufirma in Warints statt. Während die Zwillingstürme in New York einstürzten, haben die Shuars im tiefsten Regenwald Vertreter der Katholischen Kirche, der die Fluglinie in der Region gehört, spontan davon überzeugen können, alle Flüge nach Warints einzustellen. Das hatte zur Folge, dass alle Bergbaumitarbeiter der Firma EcuaCorriente Resources S.A., die später mit Lowell fusionierte, gezwungen waren, zu Fuß zwölf Stunden aus dem Regenwald zu laufen. Ganze zwei Jahre hatten die Shuars daraufhin Ruhe.

Eskalation des Konfliktes

Im Jahr 2003, nachdem zwei Jahre lang keine Bergbauaktivitäten in Warints zu verzeichnen waren, nahmen einige Shuar-Anführer neue Kontakte mit der amerikanischen Bergbaufirma Lowell Mineral Exploration auf. Ein Jahr später trafen Mitarbeiter der Firma zusammen mit Mitarbeitern des Ecuadorianischen Ministeriums für Bergbau und Energie in Warints ein, um die widerspenstigen Shuar-Familien davon zu überzeugen, ein neues Abkommen zu unterzeichnen und damit den Bergbauaktivitäten auf ihrem Land für die kommenden 30 Jahre zuzustimmen. Zunächst erfolglos. Doch nur sechs Monate später war es soweit: Die Shuar-Anführer unterzeichneten den Vertrag und erhielten dafür eine Zahlungszusage seitens Lowell über $100.000 Dollar. Die Verträge gelten bis heute. Nur: Nicht ein Cent kam bei den Unterzeichnern an.

Der nächste Widerstand war damit vorprogrammiert: Am 1. November 2006 taten sich mehrere Shuar-Gemeinden zusammen und entschieden, die Bergbaufirma Lowell aus ihrem Gebiet zu vertreiben. Frauen, Kinder und Männer stürmten auf die Fluglandebahn in Warints, bewaffnet mit Macheten, Stöcken und Jagdwerkzeugen. Mit Erfolg. Am nächsten Tag verließen die Mitarbeiter der Firma das Dorf. Bis heute sind die Bergbaufirmen nicht zurückgekommen.

Die weiteren Pläne der Bergbaufirmen

Zwischen 1995 und 2004, als die Bergbauaktivitäten noch in der Explorationsphase waren, wurde eine erste Bestandsaufnahme der vorhandenen Ressourcen gemacht und noch nicht mit dem Abbau von Mineralien begonnen. Eigene Untersuchungen der Bergbaufirmen ergaben, dass die Gebiete, für die sie Bergbaukonzessionen haben, hauptsächlich Kupfer, Molybdän und Gold beinhalten. Die Oberfläche dieses Kupfergürtels soll insgesamt 3.200 m² betragen (Sandoval 2004).

Aller Voraussicht nach wird diese Entdeckung langfristig zum Aufbau einer großflächig angelegten Tagebauindustrie in Ecuador führen. Dies wäre ein weiteres Beispiel in Lateinamerika, wo in naher Zukunft enorme Sozial- und Umweltschäden vorhersehbar sind. Allein der »Import« von Arbeitern durch die Bergbauunternehmen hätte eine enorme soziale Auswirkung auf die Kultur der Shuars. Die von den Konzernen importierte Geld- und Marktwirtschaft würde die nachhaltige Wirtschaftsweise der Shuars verdrängen und einen radikalen Bruch mit ihrer vorherigen Lebensweise darstellen. Darüber hinaus fehlen dem ecuadorianischen Staat die personellen, materiellen und finanziellen Mittel, um die Einhaltung der Umweltgesetze zu kontrollieren und durchzusetzen.

„Wir Shuars stehen dem sozialen und kulturellen Einfluss der »mestizos« kritisch gegenüber“, sagt Miguel Arutam. „Konkret fürchten wir uns vor Problemen wie Prostitution, Krankheiten, Alkohol- und Drogenkonsum und steigenden Preisen der Grundnahrungsmittel. Wir haben Angst davor, dass sie unsere Umwelt schädigen und unser Grundwasser verschmutzen. Wir wissen von den enormen Umweltschäden im Norden Ecuadors, die von internationalen Ölfirmen verursacht worden sind.“ Eine weitere Bergbaufirma (EcuaCorriente Resources S.A.) plant bereits den Bau von Autobahnen and Camps sowie eine Zugstrecke vom Regenwald zur Pazifikküste, um die Mineralien schnellstmöglich über den Hafen Machala zu exportieren. Bis 2001 hatte diese Firma bereits über vier Millionen Dollar in ihre Aktivitäten vor Ort investiert und über zwei Millionen Dollar für Bergbaupatentrechte gezahlt (Sandoval 2004).

Fehlende Konsultation und Verstoß gegen internationale Menschenrechte

Ein Ausgangsproblem des Konfliktes ist die mangelhafte Konsultation der betroffenen Shuar-Gemeinden sowohl durch die Bergbaufirmen als auch durch die ecuadorianische Regierung. Denn laut Artikel sechs der von Ecuador unterzeichneten ILO-Konvention 169 zum Schutz indigener Völker „(…) haben die Regierungen die betreffenden Völker durch geeignete Verfahren und insbesondere durch ihre repräsentativen Einrichtungen zu konsultieren, wann immer gesetzgeberische oder administrative Maßnahmen, die sie unmittelbar berühren könnten, erwogen werden“. Diese Konsultationen sind „mit dem Ziel durchzuführen, Einverständnis oder Zustimmung bezüglich der vorgeschlagenen Maßnahmen zu erreichen“. In Ecuador selbst ist dieser Mechanismus im Artikel 88 der Verfassung verankert.

Da nicht alle Shuar-Vertreter der indigenen Gemeinden dem Projekt zugestimmt haben, ist die Entscheidung der Bergbaufirma Lowell, mit dem Bergbau zu beginnen, nicht in Übereinstimmung mit der Verfassung. Darüber hinaus seien sie nicht ausreichend konsultiert wurden, argumentieren die Shuars. Vor allem seien ihnen wichtige Informationen, wie die möglichen Auswirkungen des Bergbaus auf die Umwelt, vorenthalten wurden.

Neben sozialen Menschenrechten, wie dem Recht auf Nahrung oder dem Recht auf Wohnen, werden auch zunehmend die bürgerlichen und politischen Rechte der Shuars beschnitten. In anderen Bergbaukonlifkten Ecuadors wurden bereits Proteste gegen die Minen mehrmals mit Hilfe der Polizei oder des Militärs blutig beendet.

Konkrete Forderungen an die Regierung und an die Bergbauunternehmen

Die Shuars fordern, im frühen Stadium der Planung der Bergbauaktivitäten mit einbezogen zu werden und so ihre freie, auf umfassende Information basierende Zustimmung (free prior informed consent)5 zu ermöglichen. Außerdem fordern sie, dass alle relevanten Dokumente wie Umweltverträglichkeitsprüfungen, Wirtschaftlichkeitsberechnungen und Projektpläne in die Sprache der Shuars übersetzt und veröffentlicht werden.

Die Shuars sind nicht partout gegen die Bergbauprojekte. Miguel Arutam sagt dazu: „Wir fordern, dass der Reichtum, der aus unserem Boden geschöpft wird, in unsere Gemeinden zurückfließt und nicht einfach abtransportiert wird. Auch wir Shuar-Gemeinden haben das Recht, vom Bergbau zu profitieren.“ Dies könnte durch die Schaffung von Arbeitsplätzen mit angemessenen Löhnen oder durch die Entwicklung der lokalen Infrastruktur (wie den Bau von Schulen und medizinischen Zentren) gelingen.

In Ecuador wurde im Januar diesen Jahres trotz massiver Demonstrationen und Straßenblockaden ein neues Bergbaugesetz verabschiedet. Die Hauptkritikpunkte daran sind, dass es inhaltlich nicht ausreichend debattiert wurde. Seine Umsetzung, so die Angst von Miguel, würde Schäden für die Umwelt nach sich ziehen und gegen die Souveränität der indigenen Bevölkerung verstoßen. Daher bliebe ihnen keine andere Wahl: Miguels Protest und der der anderen Shuars gegen die großflächige Ausbeutung von natürlichen Ressourcen auf ihren angestammten Gebieten und die Zerstörung ihrer Lebenswelt geht weiter.

Literatur

Fundación Natura (2004): Paz y Conservación Binacional en la Cordillera del Cóndor, Ecuador – Peru, Ministerio del Ambiente del Ecuador, CDC-Ecuador and Fundación Acroiris, Quito, Ecuador

Neumann, S. (1994): »Solo unidos somos fueretes«, Entstehung und Festigung ethnisch-politischer Organisationen im Tiefland vom Ecuador am Beispiel der »Federación de Centros Shuar«, Holos Verlag, Bonn.

Sandoval, F. (2004): Análisis de la actividad minera corporative en la Cordillera del Cóndor (Ecuador), Conservation International and Ambiente y Sociedad. Nicht veröffentlicht.

Anmerkungen

1) Diese sind u.a. die Firma Gastro Ecuador Gemsa (Ecuador) (1995), BHP Billington (British) (1999), EcuaCorriente Resources S.A. (Canada) (2000), und Lowell Mineral Exploration (USA) (in 2004 und aktiv bis vor kurzem) (Sandoval 2004).

2) Mestizo ist der spanische Begriff für Nachfahren von Weißen und der indigenen Bevölkerung.

3) Die CGSHA ist ein Pilotprojekt der FICSH mit dem Ziel eine unabhänige indigene Regierung zu gründen und basiert auf dem Ecuadorianischen Dezentralisierungsgesetz von 1997. Es umfasst sechs Shuar-Provinzen (Nunkui, Mayaik, Santiago, Limón y Bomboiza), 60 Shuar-Gemeinden, 8000 Personen und hat eine Fläche von ca. 211.000 Hektar (Fundación Natura, 2004).

4) Die FICSH wurde 1964 in Sucua gegründet. Es ist eine Organsiation mit einer hierarchischen Struktur, demokratisch gewählten Vertretern und einer administrativen Jurisdiktion über ein eingegrenztes Gebiet. Ziel ist der Schutz ihres Landes gegen die Interessen von anderen Siedlern, der Bergbauindustrie und der Regierung sowie der Erhalt ihrer eigenen Kultur. Heute gehören den Shuar rund 80 Prozent ihres angestammten Landes (Neumann 1994).

5) Das Konzept des »Free, Prior and Informed Consent« ist in der Erklärung zu den Rechten der indigenen Völker und in der Indigenenkonvention ILO 169 verankert.

Miriam Seemann, M.A., ist Trägerin des Nachwuchspreises 2008 der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung. Sie studierte Lateinamerikanistik in Portsmouth, England und »Interkulturelles Konfliktmanagement« an der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Internationale Menschenrechte, Konfliktmanagement und die Rechte der indigenen Bevölkerung. E-Mail: miriam.seemann@yahoo.com

Zwei Jahre nach dem Machtwechsel in Haiti

Zwei Jahre nach dem Machtwechsel in Haiti

Eine vorläufige Bilanz der internationalen Intervention

von Alexander King

General Urano Bacellar war Oberkommandeur der »Mission des Nations Unies pour la Stabilisation en Haïti« (MINUSTAH), der UN-Blauhelme, die seit dem 01. Juni 2004 in Haiti stationiert sind. Sein plötzlicher Tod am 07. Januar 2006 warf ein kurzes, grelles Schlaglicht auf eine Krise, die sonst eher im Schatten der internationalen Aufmerksamkeit steht. Auch wenn Bacellar offensichtlich durch eigene Hand starb – die MINUSTAH ist Teil eines andauernden gewaltsamen Konflikts.

Bis zu Bacellars Tod hatte die MINUSTAH bereits neun Tote in ihren Reihen zu beklagen.

Die Mission umfasst rund 9.300 Mann »uniformiertes Personal«, davon 7.500 Soldaten und 1.800 Polizisten. Ihr militärischer Teil steht unter brasilianischem Oberkommando. Der Missionschef ist ein Chilene: Juan Gabriel Valdés. Am militärischen Teil der MINUSTAH sind vor allem lateinamerikanische (neben Brasilien mit über 1.000 Mann noch Uruguay, Argentinien, Chile, Peru, Bolivien, Ecuador und Guatemala) und asiatische Staaten (Jordanien mit dem größten Kontingent von ca. 1.500, sowie Nepal, Sri Lanka, Philippinen, Malaysia und Jemen) beteiligt. An der Polizeimission nehmen außerdem zahlreiche afrikanische Staaten, aber auch die USA, Frankreich, Russland und China teil. Das Mandat der MINUSTAH wurde erstmals am 30. April 2004 in der Resolution des UN-Sicherheitsrats 1542 (2004) nach Artikel VII der UN-Charta erteilt. Ihr waren drei Aufgaben gestellt: Die Vorbereitung und Durchführung von demokratischen Wahlen, die Herstellung von Sicherheit und Stabilität sowie die Etablierung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Am 14. Februar 2006 wurde das Mandat zuletzt in der Resolution 1658 (2006) des UN-Sicherheitsrates um ein weiteres halbes Jahr bis Mitte August verlängert.

Zur Vorgeschichte

Am 29. Februar 2004 wurde der haitianische Präsident Jean-Bertrand Aristide außer Landes geflogen. Ob er freiwillig ging oder nur dem Druck der US-Soldaten folgte, die ihn in seiner Residenz in der Hauptstadt Port-au-Prince abholten, wird bis heute kontrovers diskutiert. Aristide sah sich zu diesem Zeitpunkt mit Aufständischen konfrontiert, die nahezu das gesamte Land überrannt hatten und nun vor den Toren der Hauptstadt standen. Der gewaltsame Machtwechsel wurde durch die Intervention einer multinationalen Eingreiftruppe am 1. März 2004 unter dem Oberkommando der USA und unter Beteiligung von Frankreich, Kanada und Chile flankiert. Der UN-Sicherheitsrat erteilte hierzu noch am selben Tag in der Resolution 1529 (2004) das Mandat, welches später auf die UN-Blauhelme überging.

Der Machtwechsel in Haiti war offensichtlich mit internationaler Beteiligung vorbereitet worden. Seit Herbst 2000, als Aristide in Haiti, genau wie Bush in den USA, in höchst umstrittenen Wahlen zum Präsidenten seines Landes gewählt wurde, hatten sich die US-amerikanisch-haitianischen Beziehungen deutlich verschlechtert. Während in Haiti eine politische Krise schwelte, die u.a. mit Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Senatswahlen im Mai 2000 zusammenhing, investierte die Bush-Administration in den Machtwechsel im Nachbarland – allein im Jahr 2003 – rund 1 Mill. US$. (Time, 15. März 2004)

Die US-Regierung konnte dabei leicht an berechtigtem Unmut über den zunehmenden Einsatz repressiver Mittel zur Herrschaftssicherung unter Aristide und an Enttäuschung über nicht eingelöste soziale Versprechen anknüpfen. Das US-amerikanische International Republican Institute (IRI) bemühte sich um ideologische Aufrüstung der haitianischen Opposition – unter anderem durch die Abhaltung von Seminaren, zu denen sie deren Vertreter nach Santo Domingo, der Hauptstadt der benachbarten Dominikanischen Republik, einlud. Dabei schwor das IRI die Regierungsgegner auf einen unversöhnlichen Kurs gegenüber Aristide ein, was erheblich zur Destabilisierung der Lage in Haiti beitrug. Auch ehemalige haitianische Militärs, die nach Auflösung der Armee durch Aristide 1995 in Opposition zu dessen Regierung oder ins Exil gegangen waren und deren aktives Eingreifen in den Konflikt schließlich zum Sturz der Regierung führte, hatten sich im Vorfeld der Revolte monatelang regelmäßig in Santo Domingo getroffen, um den Umsturz zu planen. Sie tagten im selben Hotel, in dem auch die Seminare für die zivile Opposition abgehalten wurden. (New York Times, 29. Januar 2006, vgl. auch KING 2004)

Die Interimregierung

Nach dem Umsturz setzte die US-Regierung eine Interimsregierung in Haiti ein, die an wichtigen Positionen mit US-Exilanten besetzt wurde. Aufgabe der Interimregierung sollte es sein, Wahlen und damit die Rückkehr zu einer verfassungsmäßigen Ordnung vorzubereiten. Neuer Regierungschef wurde Gérard Latortue, der zuvor fast 20 Jahre in den USA gelebt und dort eine Diplomatenkarriere durchlaufen hatte. Die Interimsregierung, deren Amtszeit nach den Wahlen vom 7. Februar 2006 ausläuft, hatte von Beginn an drei Probleme: Erstens fehlte ihr der Rückhalt in der Bevölkerung. Ihre Mitglieder waren weitgehend unbekannt und sie regierte ohne demokratische Legitimation. Zweitens wurde ihre Legitimität international angezweifelt. Die Gemeinschaft der Karibischen Staaten CARICOM suspendierte die Mitgliedschaft Haitis, weil sie in den Umständen des Regierungswechsels und der Beteiligung westlicher Staaten daran einen gefährlichen Präzedenzfall sah. Drittens hatte die Interimsregierung offensichtlich Schwierigkeiten, die Probleme der Menschen so anzupacken, wie diese es von ihr erwarteten. Das schlechte Krisenmanagement im Zusammenhang mit den beiden Flutkatastrophen im Frühjahr und Herbst 2004 wurde weithin als Zeichen für die große Distanz zwischen der Regierung und der Bevölkerung gedeutet. Symptomatisch für diese Entfremdung steht die Aussage von Lartortue, er beabsichtige nach dem Auslaufen seines Mandats sofort wieder nach Miami zurückzukehren. (Spiegel, 06. Februar 2006)

MINUSTAH als Stabilisator?

Haiti wurde kein sichererer Ort durch die internationale Einmischung. Die Gewalt eskalierte nach dem Sturz von Aristide. Seit Februar 2004 kamen über 1.600 Menschen gewaltsam ums Leben, darunter 78 Polizisten. Es gab bislang keinerlei ernsthafte Bemühung für die Einsammlung und Verschrottung von Handfeuerwaffen, von denen sich laut Amnesty International (Presseerklärung vom 28. Juli 2005) rund 200.000 in privatem Besitz befinden. Im Rahmen des Entwaffnungsprogramms der UNO, das seit Mai 2005 läuft, wurden lediglich 250 Waffen abgegeben. (Tagesspiegel, 08. Januar 2006) Offenbar gelangen immer neue Waffen – zum Teil auf legalem Weg im Rahmen lizenzierter Importe aus den USA – nach Haiti, wo sie in die Bewaffnung von Banden umgeleitet werden. (Oxfam, Januar 2006) Der allgemeinen Aufrüstung steht eine 5.000 Mann starke Nationalpolizei gegenüber, die einerseits nicht in der Lage ist, kriminelle Gewalt zu sanktionieren, und die andererseits in Teilen selbst in Gewalt und Korruption verstrickt ist. Bewohner von Belair, einem Slum im Zentrum der Hauptstadt, berichten davon, dass sie brutalster Gewalt von allen Seiten, einschließlich der Polizei ausgesetzt sind. (Oxfam, Januar 2006) Straflosigkeit – l’impunité – ist zu einem gängigen Begriff in Haiti geworden, der den Zustand vollkommener Rechtsfreiheit und das Ausgeliefertsein der Bewohner beschreibt.

Die MINUSTAH konnte die Gewalt nicht stoppen, im Gegenteil: Sie war von Beginn ihrer Mission an ein Teil des Problems. Der soziale Frust, der Unmut vor allem der ärmeren Bevölkerung über den Sturz »ihres« Präsidenten Aristide, der damit verbundene Protest gegen die UN-Besatzung und die hohe kriminelle Gewalt bilden vor allem in den Slums der Hauptstadt eine explosive Mischung. Cité Soleil ist ein solcher Unruheherd. Dort leben fast 500.000 Menschen in Armut. Die jordanischen UN-Soldaten, die dort für Ordnung sorgen sollen, sprechen nur arabisch und können die Bewohner nicht verstehen. Sie kennen die Strukturen nicht, in denen sie sich bewegen. Sie meiden den Kontakt zu den Menschen. Es kommt zu tödlichen Missverständnissen. Bei der Jagd auf Bandenanführer nimmt die MINUSTAH den Tod zahlreicher Unschuldiger in Kauf. (Spiegel, 06. Februar 2006) Dies alles führte dazu, dass die Slumbewohner die MINUSTAH als Bedrohung empfinden: „Wir haben weder zu essen noch zu trinken und die UNO schießt auf uns. Sie pferchen uns hier ein und behandeln uns wie wilde Tiere“ wird ein Anwohner zitiert. (The Economist, 04. Februar 2006)

Der Bourgeoisie hingegen ist die MINUSTAH zu »nachsichtig«. Die Handelskammer von Port-au-Prince rief im Januar einen »Generalstreik« aus und millionenschwere Geschäftsleute organisierten einen Sitzstreik vor dem UN-Hauptquartier, um ihrer Forderung nach einem energischeren Vorgehen der MINUSTAH gegen die so genannten Schimären Nachdruck zu verleihen. (Haïti Progrès, 18. Januar 2006) So nennen sie die Banden, denen sie eine Verbindung zum alten Lavalas-Regime unterstellen und die die Bewohner der vornehmen Halbhöhen- und Höhenlagen zunehmend durch Entführungen in Angst und Schrecken versetzen. Allein seit April 2005 wurden 1.900 Entführungen gemeldet. Diese gehen zwar meist glimpflich aus, verfehlen ihre psychologische Wirkung auf die Mittel- und Oberschichten jedoch nicht.

Die Wahlen: Chaotische Vorbereitung und spektakulärer Verlauf

Vorbereitung und Durchführung der Wahlen verliefen unter äußerst fragwürdigen Umständen, fanden aber ein gutes Ende. Ursprünglich auf den 13. November 2005 angesetzt, wurden die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zunächst auf den 20. November, dann – vage – auf Ende Dezember, schließlich auf den 8. Januar 2006 verschoben, nur um dann wiederum abgesagt zu werden. Letztlich fanden sie am 7. Februar 2006 statt. Die Verschiebungen hatten unterschiedlichste Gründe: Die Registrierung der Wähler verlief schleppend, bei der Herstellung und Verteilung der Wahlausweise, die in Mexiko angefertigt wurden, gab es ebenfalls Verzögerungen und auch die Einreichung der fälligen Unterstützerunterschriften für die Kandidaturen konnte nicht fristgerecht abgeschlossen werden.

Haitianische Medien (zum Beispiel Haïti en Marche, 31. Dezember 2005) vermuteten aber auch politische Hintergründe – vor allem hinter den zuletzt vorgenommenen Terminverschiebungen, die zeitlich mit dem Aufstieg eines Kandidaten zusammenfielen, der das Missfallen der USA, der Wahlkommission und der haitianischen Geschäftswelt erregte: René Préval, ehemaliger Präsident (1996 bis 2001) und politischer Partner von Aristide in der Bewegung (später Partei) Lavalas. Die Veröffentlichung einer Umfrage, nach der Préval mit großem Vorsprung vor seinen über 30 Mitwerbern führte, löste ein mittleres Erdbeben in der politischen Elite des Landes aus. Die gleiche Umfrage brachte zutage, dass 80 Prozent der Befragten der Meinung waren, die Regierung sei „auf einem falschen Weg“, nur 9 Prozent fanden, die Situation in Haiti hätte sich seit nach dem Sturz Aristides verbessert. (Haïti en Marche 12. Dez. 2005)

Die bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien fürchteten nun um ihren sicher geglaubten Triumph. Der Sozialdemokrat Micha Gaillard hatte noch im September 2005 erklärt, die Präsidentschaft müsse unter allen Umständen den »demokratischen« Kräften vorbehalten bleiben – und schloss die Repräsentanten früherer Lavalas-Regierungen ausdrücklich davon aus. (Haïti en Marche, 24. Sept. 2005)

Aber das Wählerpotenzial von Lavalas – wenn auch zersplittert – ist nach wie vor das einzige nennenswerte Elektorat in der haitianischen Gesellschaft. René Préval trat zwar nicht als Lavalas-Kandidat, sondern mit der neuen Formation Lespwa (kreolisch: Hoffnung) an, sprach aber genau jene Wahlbevölkerung – die Bewohner der Slums und die Bauern – an, die bislang in jeder freien Wahl die Mehrheit erbrachte. Der Wahlsieg von René Préval fiel denn auch deutlich aus: 51,2 Prozent im ersten Wahlgang. Sein nächster Verfolger, der Christdemokrat Leslie Manigat, erhielt 12 Prozent, Charles Baker, der Kandidat der Geschäftswelt, rund 8 Prozent. Für den sozialdemokratischen Kandidaten Serge Gilles votierten lediglich drei Prozent.

Das Politikangebot der Bourgeoisie, das mit internationaler Unterstützung (zum Beispiel durch die Konrad-Adenauer-Stiftung, die Friedrich-Ebert-Stiftung und das o.g. IRI) und nach europäischem Vorbild aufgebaut worden war, wurde auch in dieser Wahl von der Bevölkerung nicht angenommen. Die Enttäuschung der Bourgeoisie darüber könnte sich noch als konfliktträchtig erweisen. Charles Baker, ihr glückloser Kandidat, drohte bereits: „Wenn er [gemeint ist Préval] Präsident wird, bricht Chaos aus. Wir werden uns selbst verteidigen.“ Die Erfahrung lehrt, dass dies eine ernst zunehmende Warnung ist. Die Geschäftsleute drohten bereits im letzten Jahr, eigene bewaffnete Milizen aufzustellen, um die „Lavalas-Banditen zu töten“. (Haiti Information Projekt, 12. Juni 2005)

Ein anderes Haiti ist möglich

Die MINUSTAH war die falsche Antwort auf die Probleme Haitis. Haiti braucht Unterstützung auf seinem Weg in eine demokratische und zivile Zukunft. Die Absicht, Soldaten aus anderen Ländern der Dritten Welt nach Haiti zu schicken, blieb ein hilfloser Versuch. Der Aufbau ziviler Strukturen sollte sinnvoller Weise nicht von militärischen Apparaten begleitet werden. Soldaten aus Jordanien, den Philippinnen oder Sri Lanka können in Orten wie Cité Soleil »Freund« und »Feind« nicht unterscheiden. Kriminelle Banden bewegten sich ohne Einschränkung vor ihren Augen, während Zivilpersonen in ihr Visier gerieten. Haiti braucht:

Einen zivilen Aufbau

Die Polizei muss gestärkt und ein ziviles Programm zur Entwaffnung der Banden und Milizen muss entwickelt werden. Zu den vielen Versäumnissen der internationalen Präsenz in Haiti seit 2004 gehört, dass ausgerechnet in dieser Hinsicht keinerlei Fortschritte erzielt werden konnten. Gerade vor dem Hintergrund der oben angedeuteten möglichen Konflikte wäre dies aber die erste Voraussetzung für Frieden und Entwicklung in Haiti. Im Zuge der Bildung einer neuen, demokratisch legitimierten Regierung muss auch der mittelfristige Abzug der MINUSTAH vorbereitet werden. Diejenigen in der MINUSTAH und in der Nationalpolizei, die für den Tod ziviler Personen verantwortlich sind, müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Das wäre ein erster glaubwürdiger Beitrag zum Aufbau eines Rechtsstaats und ein Zeichen gegen die allgemeine Straflosigkeit.

Eine wirtschaftspolitische Umkehr

Die bisherige Fokussierung auf die exportorientierte Produktion in den Sweatshops entlang der dominikanischen Grenze und auf Zollabbau und Freihandel ist kein Konzept für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung. Die Löhne in den Sweatshops sind gering, Kaufkraft bildet sich kaum und der Mehrwert aus dieser Produktion wird ausschließlich im Ausland realisiert. Der Produktionsinput wird aus Importen bezogen. Eine Rückkopplung an die heimische Wirtschaft gibt es nicht. Die Zollsenkungen der 80er und 90er Jahre haben Haiti in ein wirtschaftliches Chaos geführt. (vgl. dazu KING 2005) Die Handwerksbetriebe und Landwirte des Landes müssen gestützt werden, statt sie einem aussichtslosen Wettbewerb gegen Billigimporte aus den USA und anderen Nachbarstaaten auszusetzen. Binnenmärkte müssen geschützt werden, um die Ernährungs- und Versorgungssouveränität im Land wiederherzustellen.

Stärkung staatlicher Strukturen

Das Paradigma der Privatisierung und Liberalisierung wurde Haiti jahrzehntelang von den multilateralen Banken oktroyiert. Die Folge: Ein schwacher Staat, der seinen Aufgaben nicht nachkommen kann. Staatliche Institutionen müssen finanziell und materiell besser ausgestattet, Personal im Öffentlichen Dienst muss – entgegen der Politik der 90er Jahre – aufgestockt und besser bezahlt werden.

Regionale Integration

Die Chancen, die sich durch die zunehmende politische und ökonomische Integration Lateinamerikas eröffnen, sollten auch Haiti zugänglich werden. Bislang stand Haiti außen vor, da in Port-au-Prince die US-Regierung den Ton angab. Das brasilianische Oberkommando in Haiti als ein Zeichen regionaler Integration zu deuten, käme dagegen einem Missverständnis gleich. Darin spiegelt sich lediglich eine neue machtpolitische Asymmetrie wider. Die brasilianische Regierung versucht, sich in Haiti für den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu empfehlen. Stattdessen gilt es, einige viel versprechende Ansätze der Zeit vor 2004 – zum Beispiel in der Zusammenarbeit mit Kuba und Venezuela auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet – wieder aufzunehmen. Ein Angebot der venezolanischen Regierung, Haiti in seine Initiative PetroCaribe (Energieabkommen Venezuelas mit rohstoffarmen Nachbarstaaten mit dem Ziel einer solidarischen Sicherstellung der möglichst autonomen Energieversorgung der Region) aufzunehmen, liegt bereits vor.

Literatur

King, A. (2004): 200 Jahre Haiti – 500 Jahre Globalisierung. Zum 200. Jahrestag der haitianischen Unabhängigkeitserklärung und zu den Hintergründen der aktuellen Krise in Haiti: Krisenjahr 2004. In: Z. – Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Nr. 58. Juni 2004. S. 177-183.

King, A. (2005): Räumliche Mobilität in Haiti zwischen Paysannerie und Weltmarkt. Wandel der Beziehungen zwischen Land, Stadt und Ausland unter dem Einfluss der Globalisierung am Beispiel des Verflechtungsraums von Cap-Haïtien. Tübingen. (= Tübinger Beiträge zur Geographischen Lateinamerikaforschung. Heft 27).

OXFAM (2006): The call for tough arms controls. Voices from Haiti. www.oxfam.org/en/files/doc_controlarms_haiti_060109/download

Dr. Alexander King ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Heike Hänsel. Seit 1996 beschäftigte er sich in mehreren Forschungsprojekten in Haiti mit Globalisierungsfolgen und Entwicklungsfragen. Im Herbst 2006 wird eine Dokumentation von King und Christine Scherzinger über unterschiedliche Fassetten der Globalisierung in der Karibik als Ergebnis einer Exkursion nach Trinidad & Tobago und Haiti erscheinen. Homepage (im Aufbau): www.geo-haiti.de

Die Militarisierung in Mexiko

Die Militarisierung in Mexiko

von Luz Kerkeling

Die mexikanische Armee hat eine Ausnahmestellung in Lateinamerika. Sie war weder an einem offenen Putsch beteiligt, noch hat sie je einen Angriffskrieg gegen andere Staaten geführt. Das ist die eine Seite. Die andere Seite zeigt eine jahrzehntelange Praxis der Brutalität nach Innen. Die Bundesarmee ist an Einschüchterung, Vertreibung, Drogenhandel, Prostitution, Umweltverschmutzung und Mord beteiligt.

In ihrem Anfang März 2006 bekannt gewordenen Bericht schildert die Sonderstaatsanwaltschaft für soziale und politische Bewegungen (Femospp) auf über 800 Seiten das »Engagement« des Militärs für die innere Sicherheit Mexikos zwischen 1968 und 1982. Studentinnen und Studenten, Arbeiterinnen und Arbeiter sowie die marginalisierte Landbevölkerung gerieten ob ihrer kontinuierlichen Forderungen nach Demokratisierung und Verbesserung der ökonomischen Situation ins Visier der mexikanischen Eliten, die sich schließlich dazu entschlossen, das Militär gegen die sozialen Bewegungen und die Guerilla – vor allem im südlichen Bundesstaat Guerrero – einzusetzen.

Wenn die Kooptationsmechanismen der seit 1929 regierenden Institutionellen Revolutionären Partei (PRI) nicht mehr griffen und sich die Basisorganisationen nicht spalten ließen, wurde die Armee illegal gegen die Bevölkerung eingesetzt.

Während des »schmutzigen Krieges« der 1960er, 70er und 80er Jahre wandten Militär und Polizei nachweislich verschiedene Foltermethoden an: Der »kleine Brunnen« bestand darin, die Leute am Rande des Erstickungstodes zu fixieren. Bei dem so genannten »Gegrillten Hähnchen« wurden Menschen, an Armen und Beinen festgezurrt, auf einen Pfahl gelegt. Sie mussten das Gleichgewicht bewahren, denn sie waren an den Genitalien festgebunden. Es gab ferner die Elektroschocks, bei denen die Täter die Festgenommenen in Wasser tauchten und ihnen später Schocks verabreichten, vor allem an Hoden und After. Den Opfern wurde mit Brettern auf die Fußsohlen geschlagen, ihre Gesichter wurden mit Verbrennungen dritten Grades entstellt. Sie gaben den Menschen Benzin zu trinken und zündeten sie an. Sie brachen ihnen die Knochen und schnitten ihre Fußsohlen in Scheiben. Einigen Opfern wurden Schläuche in den After eingeführt, um ihre Leiber mit Wasser zu füllen und sie danach zu schlagen. Die Frauen wurden vor den Augen ihrer Männer vergewaltigt. Einigen wurden Glasflaschen und sogar Ratten in die Vagina eingeführt. Die Soldaten zielten mit ihren Waffen auch auf Kinder oder folterten sie in Anwesenheit ihrer Eltern.1 Einige dieser Methoden sollen auch heute noch praktiziert werden.

In dem mexikanischen Bundesstaat Guerrero wurden die Guerillagruppen um Genaro Vázquez und Lucio Cabañas und die – mutmaßlich – involvierte Zivilbevölkerung systematisch bekämpft. Eine Guerilla-Bewegung entstand immer dann, wenn der lokalen Bevölkerung alle legalen Partizipationsmöglichkeiten verschlossen wurden, so Carlos Montemayor, ein Experte der Guerilla-Bewegungen in Mexiko. Zur Aufstandsbekämpfung bombardierte die Armee ganze Dörfer, Hunderte von Bauern und Bäuerinnen »verschwanden« und bei den berüchtigten »Todesflügen« wurden lebende Menschen von Militärs über dem Meer abgeworfen.2

Als oberste Verantwortliche für diese grausamen Vorkommnisse gelten die ehemaligen Präsidenten Gustavo Díaz Ordaz und Luis Echeverría Alvarez y José López Portillo, die trotz verschiedener juristischer Anstrengungen von Nichtregierungsorganisationen (NGO) bis heute straffrei blieben.

Die Femospp konnte 436 Fälle vollständig aufklären; allgemein wird jedoch von Tausenden von Opfern ausgegangen. NGOs wie das Eureka-Komitee fordern seit über 30 Jahren eine Aufklärung der Verbrechen und eine Bestrafung der Täter. Sie kämpfen auch für eine gesellschaftliche Aufarbeitung der Gewalttaten. Sie kritisieren den aktuellen Bericht, da vom Staat unabhängige Organisationen nicht in die Recherchearbeit einbezogen worden seien, weil er keine wirklich neuen Erkenntnisse beisteuere und viele Verantwortliche weiterhin nicht zur Rechenschaft ziehe. Nichtsdestotrotz ist der Bericht als erstes offizielles Eingeständnis des mexikanischen Staatsterrorismus dieser Zeit zu werten.

Armee und Paramilitärs Hand in Hand

In den südmexikanischen Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca und Guerrero, wo oppositionelle Campesino- und Indígena-Organisationen bis heute sehr aktiv sind und zum Teil autonome Strukturen aufbauen, die Mexiko wegen seiner Ratifizierung der ILO-Konvention 169 über indigene Rechte eigentlich unterstützen müsste,3 ist die Militarisierung am stärksten. Die rebellischen Bewegungen stehen nicht nur den Interessen der Kaziken (lokale Machthaber) im Weg, sondern auch ökonomischen Großprojekten der mexikanischen Regierung, die in Kooperation mit transnationalen Investoren die Region »entwickeln« will. Zu den bei der Bevölkerung höchst umstrittenen Projekten gehört der Bau von Autobahnen, Flughäfen und Häfen, die Errichtung von Billiglohnfabriken, der Bau von Staudämmen, die Ausbeutung von Bodenschätzen und Biodiversität sowie der Ausbau des Tourismussektors.

Der offizielle Auftrag des Militärs umfasst den Kampf gegen Drogenhandel und -anbau, die Garantie der nationalen Sicherheit, Migrationskontrolle, soziale Arbeit sowie Umwelt- und Katastrophenschutz. Doch allein die Präsenz der Armee hat verheerende – laut Militärhandbüchern der Aufstandsbekämpfung aber durchaus intendierte – Auswirkungen auf das soziale Gefüge in den belagerten Gebieten. Die Armee bringt Drogen, Gewalt, Prostitution und eine immense Umweltverschmutzung in die Gemeinden. Bis heute sind z.B. in Guerrero mittlere Dienstgrade der Armee in den Drogenhandel verwickelt.

Oft zerstreiten sich die Dörfer, wenn einige wenige Familien mit den Soldaten zusammenarbeiten und beispielsweise ihre Töchter in die Kasernen schicken.4

Die Anwältin Marta Figueroa berichtete bei einer Veranstaltung zu Gewalt gegen Frauen in Südmexiko: „Es gibt systematische geschlechtliche Gewalt im Kontext jeder Militarisierung. Die Soldaten erniedrigen die Frauen durch Vergewaltigungen und die daraus entstehenden Kinder in massivster Weise. Der Körper der Frau wird zum Schlachtfeld. Die Militärs betreiben auch Frauenhandel und Sexsklaverei, z.B. nach Japan. Die sexuellen Aggressionen sind fester Bestandteil der militärischen Auseinandersetzungen. Sexuelle Gewalt gibt es aber nicht nur von Seiten des nationalen Militärs sondern auch von UNO-Soldaten und z.T. sogar von Mitarbeitern der sogenannten Friedenskräfte, wie z.B. dem Roten Kreuz, die in Flüchtlingslagern das Elend der Frauen ausnutzen. Die Straflosigkeit ist fürchterlich. In der Aufarbeitung der bewaffneten Konflikte fehlt bis heute völlig die Anerkennung der Verbrechen gegen Frauen.“5

Die sozialen Bewegungen aus allen südlichen Bundesstaaten betonen, dass es dort, wo sich die Opposition spürbar organisiert, eine eindeutige Zusammenarbeit zwischen Militär, Polizei und den rechten Paramilitärs gibt. Nachweisbar ist diese Kooperation allerdings nur selten. Hinzu kommt, dass Militärangehörige sich nicht vor Zivilgerichten verantworten müssen (vgl. Interview). Zwischen Februar 1995 und November 1997, als General Mario Renán Castillo die VII. Militärregion befehligte, entstanden und konsolidierten sich mindestens sechs paramilitärische Gruppen in Chiapas. Renán Castillo hatte zuvor in der US-amerikanischen Militärakademie Fort Bragg die Prinzipien der Aufstandsbekämpfung erlernt. Er gilt als der prominenteste Konstrukteur des »Krieges der niederen Intensität«, einer Mischung aus Repression, Korruption, Infiltration mit Drogen und Desinformation, mit der der Einfluss der linksgerichteten zapatistischen Befreiungsbewegung zurückgedrängt werden soll.6 Die Militarisierung der Region hält bis heute an, es gibt mindestens 91 Militärcamps im Aufstandsgebiet und nach Angaben der Journalistin Gloria Muñoz sind bis zu 60.000 Soldaten, ein Drittel der Armee, in Chiapas stationiert.7 Ein Strategiewechsel ist nicht in Sicht. Auch der im westlichen Ausland beliebte Präsident und Ex-Coca-Cola-Manager Vicente Fox von der konservativ-neoliberalen Partei der Nationalen Aktion, der noch bis Mitte 2006 amtiert, ist in Mexiko ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, da seine Maßnahmen das Land weder entmilitarisiert noch die soziale Misere auf dem Land und in den Städten in den Griff bekommen haben. Massiv kritisiert wird auch die mangelnde Aufarbeitung der Verbrechen des mexikanischen Staates.

Armee übernimmt polizeiliche Aufgaben

Seit 1994 übernimmt die Armee polizeiliche Aufgaben, für die sie nicht zuständig ist. Das ist nicht legal. Dazu erklärt die Soziologin Marta Durán aus Mexiko-Stadt: „Natürlich ist der Militäreinsatz in Polizeibereichen auch ein Teil des Vorgehens gegen die Rebellion der Zapatistischen Armee zur nationalen Befreiung (EZLN). Aber vor allem nutzte die Regierung das Militär für diese Tätigkeiten, weil innerhalb der verschiedenen Polizeiorganisationen absolute Korruption herrscht, vor allem im Bereich des Drogenhandels. Man dachte, dass die Armee immer noch intakt sei und die großen Drogenbarone noch keinen Einfluss innerhalb des Militärs hatten. Doch dem war nicht so. General Gutiérrez Rebollo, auch »Anti-Drogenzar« genannt, stellte sich 1997 schließlich als Angestellter eines Drogenkartells heraus, der dafür sorgte, dass konkurrierende Drogenhändler ins Gefängnis geschickt wurden. Heute ist er im Gefängnis. Die Regierung Mexikos sowie die Organisationen DEA und CIA aus Nordamerika trainierten eine Spezialeinheit der mexikanischen Armee, um dem Drogenhandel entgegenzutreten, doch als sie einsatzbereit war, schlug sie sich auf die Seite der Drogenhändler. Diese Militärs nennen sich »Los Zetas« und sind heute Killer. Die Drogenhändler, die inhaftiert wurden, dominieren heute die Gefängnisse, sie benutzen sie als ihr Büro. In den Gefängnissen gibt es Exekutionen und Ausbrüche. Weil die Polizei dem nicht Herr werden konnte, musste die Armee die Aufgabe der Sicherheit in den Gefängnisse übernehmen.“8

Als weiteres Anzeichen der Militarisierung der mexikanischen Sicherheitspolitik ist die 1999 geschaffene Föderale Präventive Polizei (PFP) zu betrachten. Sie ist nach militärischen Prinzipien aufgebaut und besteht zu 90 Prozent aus ehemaligen Soldaten.

Perspektiven?

Die hohe Korruption innerhalb der mexikanischen Staatsstrukturen und die zahlreichen damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen sind nicht von der sozio-ökonomischen Situation des Landes zu trennen. Die neoliberale Wirtschaftspolitik der letzten 20 Jahre hat die Kluft zwischen Arm und Reich extrem vergrößert. Sie setzt nicht nur die bäuerliche Bevölkerung und die Arbeiterschaft unter immensen Druck, sondern ebenfalls die Mittelschichten, darunter auch Angestellte im Verwaltungs- und Sicherheitsapparat des Staates. Die Freihandelsabkommen NAFTA und CAFTA haben die Migration in die USA verschärft und am untersten Ende der ökonomischen Skala begehen arbeitslose Ex-Paramilitärs und marodierende Banden kaum vorstellbare Menschenrechtsverletzungen an den völlig rechtlosen Migrantinnen und Migranten aus Zentralamerika, die Mexiko passieren müssen.

Die Militarisierung Mexikos, die permanente Stärkung des Gewaltapparates hat die Gewalt nicht eingedämmt, sondern gefördert, sie hat Probleme nicht gelöst, sondern verschärft. Notwendig ist eine lückenlose Aufarbeitung der Gewalttaten, eine konsequente Demokratisierung und eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell.

Ein Hoffnungsschimmer geht hier von der stark wachsenden außerparlamentarischen sozialen Bewegung um die zapatistischen Aufständischen aus. In Abgrenzung zu den Wahlkampagnen zur kommenden Präsidentschaftswahl im Juli 2006 nennen die Aktivistinnen und Aktivisten diese Mobilisierung die »Andere Kampagne«. Sie haben sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, »von unten und für unten« in einem mehrjährigen kollektiven Prozess eine neue Verfassung auszuarbeiten, eine antikapitalistische Initiative, die alle Marginalisierten berücksichtigen und einbinden soll.9 Die über 1.000 beteiligten Organisationen aus ganz Mexiko schlagen eine neue Form des Politik machens vor, in der Funktionsträger »gehorchend regieren«, d.h. konsequent den Willen der Basis umsetzen sollen.

Es gibt erste Versuche verschiedener Gruppen der lokalen oder überregionalen Eliten, die Aktivisten mit Repression zu überziehen, doch dank einer breiten Mobilisierung, die jede Aggression im Ansatz bekannt macht, bleibt zu hoffen, dass die explizit pazifistische Strategie der »Anderen Kampagne« nicht mit größeren Gewalteskalationen konfrontiert wird.10

Anmerkungen

1) Ballinas, Victor und Mendez, Enrique: Al desnudo, abusos cometidos por militares y policías, in: La Jornada 2.3.2006, www.jornada.unam.mx

2) Ramírez Cuevas, Jesus: Durante 20 años el gobierno mexicano ejerció una política para eliminar opositores, in: La Jornada 3.3.2006.

3) Vgl. www.ilo169.de

4) Vgl.: Kerkeling, Luz: ¡La Lucha Sigue! Ursachen und Entwicklungen des zapatistischen Aufstands, Münster, 2. Aufl. 2006.

5) Eigene Aufzeichnungen des Autors vom 22.11.2003 in San Cristóbal de las Casas, Chiapas.

6) Vgl. www.frayba.org.mx (Homepage des Menschenrechtszentrum Fray Bartolome de las Casas, Chiapas), und www.tlachinollan.org (Homepage des Menschenrechtszentrums Tlachinollan, Guerrero).

7) Muñoz Ramírez, Gloria: EZLN 20 + 10. Das Feuer und das Wort, Münster 2004.

8) Eigenes Interview des Autors mit Marta Durán vom 1.3.2006.

9) Ya-Basta-Netz (Hg.): Sechste Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald, Frankfurt/M. 2005.

10) Informationen zur »Anderen Kampagne«: http://chiapas.indymedia.org (Spanisch) oder www.gruppe-basta.de (Deutsch).

Luz Kerkeling, Soziologe, Dozent am Lateinamerikainstitut der Universität Münster (CeLA), war zu Forschungszwecken mehrfach in Mexiko

Paramilitärs und Paramilitarismus

Paramilitärs und Paramilitarismus

von Sabine Kurtenbach

Wenn von Paramilitärs in Lateinamerika die Rede ist, so werden vor allem historische Erinnerungen wach. Erinnerungen an die 70er und den Anfang der 80er Jahre in denen Todesschwadrone im Auftrag der Herrschenden in zahlreichen Ländern folterten und mordeten, oft im engsten Kontakt zu den regulären militärischen Einheiten. Im Verlauf dieser Kriege erreichten viele dieser Gruppen eine relative Autonomie, die in den letzten Jahren vielfach noch ausgebaut werden konnte. Die Autorin zeichnet den Weg der Paramilitärs anhand der Entwicklung in Guatemala und Kolumbien nach und zeigt auf, warum die Zurückdrängung der paramilitärischen Strukturen eine unerlässliche Voraussetzung für eine Demokratisierung ist.

Der Begriff Paramilitärs wird in erster Linie mit den Todesschwadronen der 70er Jahre in Verbindung gebracht, die auf dem Subkontinent in zahlreichen Ländern die Herrschaft der diktatorischen Militärregime gewaltsam abgesichert haben. Da sich selbst diese Regime einen legalen Anstrich gaben, haben sie die Repression gegen politische Gegner, deren »Verschwindenlassen«, deren Folter und deren Mord, vielfach paramilitärischen Gruppierungen überlassen. Die Mitglieder dieser Gruppen waren in der Regel Angehörige des Militärs.

In den Kriegsländern Zentralamerikas bestanden die paramilitärischen Akteure dagegen aus von den Sicherheitskräften bewaffneten »Zivilisten« und dienten in erster Linie der Aufstandsbekämpfung und der damit verbundenen Kontrolle der Bevölkerung. Am ausgeprägtesten war dieses System in Guatemala, wo etwa eine Million Menschen zur Mitarbeit in sog. Zivilpatrouillen gezwungen wurde. In El Salvador hatten die zivilen Verteidigungskomitees etwa 60-80.000 Mitglieder, in Nicaragua waren in den 80er Jahren etwa 500.000 Menschen Mitglieder ziviler Milizen.1 Auch in Kolumbien entstand ein Teil der sog. Selbstverteidigungsgruppen durch staatliche und private Initiativen der Aufstandskontrolle, etwa in den 90er Jahren die sog. »Convivir« (Zusammenleben). In Peru wurden die »rondas campesinas« von der Regierung Fujimori als zentrales Element des Kampfes gegen Sendero Luminoso eingesetzt.

Im Verlauf dieser Kriege erreichten die verschiedenen paramilitärischen Gruppen aber überall ein erhebliches Maß an Autonomie, weil sie hauptsächlich im ländlichen Raum agierten, wo es nur eine prekäre staatliche Präsenz gab. Außerdem profitierten sie – ebenso wie die staatlichen Sicherheitskräfte – von den existierenden kriegsökonomischen Strukturen; sei es direkt oder indirekt von der US-Militärhilfe, sei es durch die Kontrolle von illegalen Aktivitäten im Grenzbereich (Schmuggel, Drogenhandel, etc.). In den lateinamerikanischen Friedensprozessen Ende des 20. Jahrhunderts wurden diese Gruppen und deren Demobilisierung nirgends explizit thematisiert. Ein Zeichen dafür, dass sie allgemein – in Zentralamerika mehr als in Kolumbien oder Peru – als mehr oder minder direkt abhängig von den staatlichen Sicherheitskräften betrachtet wurden.

Wandel und Kontinuität von Gewalt und paramilitärischen Akteuren

Spricht man am Anfang des 21. Jahrhunderts dagegen von Paramilitarismus und Paramilitärs in Lateinamerika, so hat sich das Bild grundlegend gewandelt. Zwar gibt es in dem einen oder anderen Fall sehr deutliche historische Kontinuitäten zu den Phänomenen der 70er Jahre, allerdings verfügen diese Gruppen über ein hohes Maß an Autonomie, eine Verbindung zu staatlichen Sicherheitskräften besteht »nur« noch im Kontext personeller oder auch krimineller Netzwerke oder durch die Toleranz und engagiertes »Wegsehen« seitens des Militärs. Letztlich spiegelt diese Veränderung den Wandel des Gewaltgeschehens in der Region wider.

Während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten die US-Dominanz und vor allem der Kalte Krieg das Gewaltgeschehen in Lateinamerika. Die Gewalt war überwiegend politisch begründet, sei es zur Erhaltung des Status quo, sei es zu deren Veränderung. Während das Ende der Ost-West-Konfrontation – mit Ausnahme Kubas – vor allem auf die Dynamik der innergesellschaftlichen Konflikte in Lateinamerika einwirkte, veränderten zwei andere Entwicklungen maßgeblich deren Struktur:

  • Trotz aller Defizite und der weitgehenden Reduzierung auf die Abhaltung regelmäßiger und sauberer Wahlen entzog die Demokratisierung der Gewalt die politische Legitimierung und damit auch den ideologischen Bezugsrahmen.
  • Die neoliberale Strukturanpassung erhöhte die soziale Fragmentierung und untergrub die Organisationsfähigkeit der kollektiven Akteure in der gesamten Region. Dies wird nicht nur in der hohen Volatilität politischer Parteien, sondern auch in der Schwäche von Gewerkschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft deutlich.

In bezug auf die Gewalt und die Gewaltakteure drücken sich diese Veränderungen in einer Privatisierung und Diffusion, d.h. in einer Vereinzelung und Verallgemeinerung der Gewalt aus (vgl. Lock 1999). Lateinamerika ist auch heute noch – allerdings mit bedeutenden innerregionalen Unterschieden – weltweit der gewalttätigste Kontinent (WHO 2002). Die Länder südlich des Rio Grande weisen die höchsten Homizidraten (Zahl der Morde pro 100.000 Einwohner) auf. Aber auch der Raum, in dem die Gewalt stattfindet, hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Fanden die Guerillakriege noch überwiegend auf dem Land statt, so ist die Gewalt heute vor allem in den lateinamerikanischen Städten »zu Hause«. Ein Großteil der Gewalt geschieht im Umfeld der organisierten und nicht-organisierten Kriminalität, wobei die Grenzen fließend sind. Kriminalität – d.h. die vorsätzliche Überschreitung von strafrechtlichen Regeln einer Gesellschaft – ist in Lateinamerika nicht weiter verbreitet als in anderen Weltregionen, sie ist dort aber in höherem Maß gewalttätig und mit dem Einsatz von Schusswaffen verbunden (vgl. Fajnzylber u.a. 1998).

Die organisierte Kriminalität nahm ihren Ausgang und verdankt ihren Aufschwung dem Drogenhandel, in deren Umfeld zunächst in Kolumbien, später aber auch in Mexiko und Brasilien mafiöse Organisationen mit globaler Reichweite entstanden sind (vgl. Serrano/Toro 2002). Waffenhandel und Geldwäsche sind wesentliche Bestandteile dieses Geschäfts, ebenso wie Entführungen, Menschenhandel und Schmuggel (z.B. Autos). Aber auch die nicht-organisierte Kriminalität weist einen gewissen Grad an Organisation auf bzw. ist in weiten Teilen direkt und indirekt an die organisierte Kriminalität angebunden. Zentraler Akteur sind in vielen Ländern die zahlreichen »Jugendbanden«, deren Zielsetzung sich in erster Linie auf das eigene Überleben und im Rahmen der Gruppe meist auf die soziale, ökonomische und politische Kontrolle des eigenen Stadtviertels bezieht. Ähnliche Phänomene gab und gibt es auch in anderen Ländern und Weltregionen – in Afrika sind diese Gruppen vielfach die zentralen Akteure der »neuen« Kriege und der Warlord-Strukturen (vgl. Nissen/Radtke 2002, Riekenberg 1999).

Die Ausübung oder Androhung von Gewalt ist im Kontext der organisierten Kriminalität ein zentraler Mechanismus zur Absicherung der »Geschäfte«, die aufgrund ihres kriminellen Charakters keine vertragliche Regelung aufweisen. Außerdem spielt die Gewalt bei den Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppen eine große Rolle, wenn es um die Sicherung oder Ausdehnung des eigenen »Geschäftsbereichs« geht. Hat sich eine Gruppe dann durchgesetzt – und insofern ein Monopol errichtet – geht die Gewalt zumindest vorübergehend zurück, weil diese Gruppen in ihrem Territorium durchaus Funktionen der öffentlichen Sicherheit erfüllen. Allerdings ist diese weder auf rechtsstaatliche noch demokratische Mechanismen, sondern auf Gewalt gestützt. Schon aus diesem Grund ist die so entstandene Sicherheit meist prekär und kommt nur der jeweiligen Klientel zugute.2

Guatemala – Paramilitärs im Frieden

Guatemala ist ein Beispiel dafür, wie eine im Krieg etablierte Gewaltordnung den Übergang vom autoritären zum formal demokratischen Regierungssystem sowie die Beendigung des Krieges überlebt und sich den neuen Gegebenheiten anpasst. Zentrale Bestandteile dieser Ordnung sind klientelistische und kriminelle Netzwerke aus Teilen des Militärs, der ehemaligen Regierungspartei Frente Republicano Guatemalteco (FRG) und der paramilitärischen Gruppen, die im Krieg gegründet wurden (vgl. hierzu Peacock/Beltrán 2003). Diese Gruppen schüren vor allem, aber nicht nur, auf der lokalen Ebene und auf dem Land Unsicherheit und Angst, was auch auf der nationalen Ebene Wirkung zeigt. Zum einen tragen die Gewalt und/oder deren Androhung dazu bei, die substantielle Umsetzung der Friedensverträge von 1996 und damit die Reform von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu verhindern. Zum anderen untergräbt dies die ohnehin fragile legitimatorische Basis des demokratischen politischen Systems.

Schon deshalb war und ist es extrem schwierig, die paramilitärischen Strukturen des Krieges zu demobilisieren. So blieb die Bewaffnung der Zivilpatrouillen kurz nach Kriegsende unter anderem mit dem Argument aus, die Mitglieder der PAC (Patrullas de Autodefensa Civil) hätten sich die Waffen selbst gekauft, weshalb der Staat sie ihnen jetzt nicht wegnehmen könne. Eine sehr spezielle Sicht auf Privateigentum und staatliches Gewaltmonopol. Die PAC haben sich in einigen Regionen des Landes reorganisiert, heute sollen sie über ca. 500.000 Mitglieder verfügen. Seit 2003 haben sie mehrfach zentrale Kreuzungen und Straßen des Landes besetzt sowie ihren Protest in die Hauptstadt getragen, um eine »Entschädigung« für ihre Beteiligung am Krieg einzufordern. Die Regierung hat dies daraufhin zugesagt. Politik in Guatemala ist auch zu Friedenszeiten noch überwiegend gewaltgestützt.

Kolumbien – Frieden mit den Paramilitärs?

Historisch zeigen sich in Kolumbien ähnliche Entwicklungen wie in Guatemala, weil sich dort bewaffnete Gruppen, die zunächst in den 50er Jahren im Kontext des Kriegs zwischen Liberaler und Konservativer Partei entstanden, in weitgehend kriminelle Organisationen und Banden transformierten (vgl. Sánchez/ Meertens 1983). Aktuell findet allerdings der umgekehrte Prozess statt, in dessen Rahmen sich kriminelle Organisationen politisieren, um in Verhandlungen mit der Regierung eintreten zu können.

Bis Mitte der 90er Jahren entstanden in Kolumbien circa 250 paramilitärische Gruppierungen mit unterschiedlicher regionaler Präsenz und verschiedenem Organisationsgrad.3 In den Städten Kolumbiens bildeten die Jugendbanden die Basis der paramilitärischen Gruppen. Weltweit bekannt geworden sind die Gruppen der sog. »sicarios«, die gedungenen Mörder, die vom Erlös ihres »Geschäfts« der Mutter einen Kühlschrank kauften.4 Die Drogenbosse rekrutierten und funktionalisierten diese Gruppen für ihre Zwecke, aus zunächst losen und punktuellen Formen der Kooperation entstanden schlagkräftige Verbände, die sich im Verlauf der 90er Jahre nicht nur verselbständigten, sondern auch politisierten. Vor diesem Hintergrund wuchs in den vergangenen Jahren in der kolumbianischen Gesellschaft das Bewusstsein dafür, dass die Paramilitärs unter Umständen gefährlicher sind als die Guerillagruppen. Und dies obwohl zahlreiche so genannte »Selbstverteidigungsgruppen« als Reaktion regionaler Eliten auf die wachsenden Aktivitäten der Guerilla sowie die Demokratisierung und Dezentralisierung des Landes entstanden, die seit Mitte der 80er Jahre die politischen Spielregeln grundlegend verändert haben. Ganz im Sinne traditioneller Politikmuster gründeten die traditionellen Eliten Privatarmeen gegen die stärker werdende Organisation oppositioneller Gruppen.

Im Januar 1995 schloss sich ein Großteil der paramilitärischen Gruppen unter dem Namen Autodefensas Unidas de Colombia (AUC) zusammen. Die zentrale Ideologie der paramilitärischen Gruppen ist die der »Selbstverteidigung « gegen die Guerilla, und die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status quo, weshalb sie sich als Staatsersatz sehen. Mit der Wahl von Álvaro Uribe zum Präsidenten im Jahr 2002 wurden sie erstmals von einer Regierung als Gesprächspartner anerkannt. Im Juli 2003 unterzeichneten die Regierung und ein Großteil der Paramilitärs eine gemeinsame Erklärung, in der vereinbart wurde, die überwiegende Mehrheit der paramilitärischen Gruppen bis Ende 2005 zu demobilisieren und zu reintegrieren. Dieser Prozess ist von zahlreichen Rückschlägen und Problemen begleitet. Neben der Frage der Strafverfolgung für begangene Menschenrechtsverletzungen, der fehlenden Transformation der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Demobilisierung bleibt die Forderung der USA nach Auslieferung zahlreicher Bosse bestehen.

Zurückdrängung paramilitärischer Strukturen

Die hier nur skizzierten Erfahrungen in Guatemala und Kolumbien zeigen einige Grundsatzprobleme im Zusammenhang mit paramilitärischen Akteuren und Strukturen in Lateinamerika auf. Der Einfluss dieser Gewaltakteure reicht aus, um – mit oder ohne eigenes politisches Projekt – grundlegende Reformen zugunsten einer Vertiefung der Demokratie und einer Stärkung des Rechtsstaats zu verhindern. Dies macht sie zu mächtigen Blockadekräften. Die Aufrechterhaltung des Status quo ist für die Gewaltakteure von hoher Bedeutung, weil sie nur so ihren illegalen Geschäften weitgehend ungestört nachgehen können bzw. diese – wie derzeit in Kolumbien – legalisieren können. Dadurch werden nach aller Erfahrung aber insbesondere dier Handlungsoptionen all der Akteure eingeschränkt, die für gesellschaftlichen Wandel eintreten.

Die Paramilitärs agieren letztlich in einer Grauzone zwischen Krieg und Frieden, wie sie gerade auch für die »neuen« Kriege charakteristisch ist. Zieht man die Grenze zwischen Krieg und Frieden dort, wo die politische Gewalt aufhört, so verschwindet diese Grauzone aus dem Blick, ihr politischer Gehalt wird nicht wahrgenommen. Gerade für die künftige Entwicklung stellt sich aber durchaus die Frage, unter welchen Bedingungen diese »unpolitischen« Gewaltakteure sich stärker politisieren könnten. Schließlich ist nicht gesagt, dass das »Ende der Ideologien«, das mit dem Ende des Ost-West-Konflikts konstatiert wurde, ein Dauerzustand ist. Die lateinamerikanischen Länder sind demographisch sehr jung – ca. 40% der Bevölkerung sind unter 15 Jahren alt. Dies führt dazu, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich nicht selbst an die Zeiten der Militärdiktaturen und/oder – außerhalb Kolumbiens – an die Kriegszeiten erinnert. Beides gilt als stabilisierendes Element für die Demokratien und in beiden Kontexten spielt vor allem unter präventiven Gesichtspunkten die Frage des gesellschaftlichen Umgangs mit der Gewalt der Vergangenheit eine wichtige Rolle. Nur wenn es gelingt auf rechtsstaatlichem Weg die paramilitärischen Gewaltakteure in die Schranken zu verweisen, lassen sich die demokratischen Strukturen stärken, die zu deren politischer Marginalisierung notwendig sind.

Literatur:

Duncan, Gustavo (2005): Del Campo a la Ciudad en Colombia. La Infiltración Urbana de los Señores de la Guerra. Documento CEDE No.2 enero, versión electrónica. Bogotá (http://economia.uniandes.edu.co/~economia/archivos/temporal/d2005-02.pdf, Zugriff am 25.4.05).

Fajnzylber, Pablo/ Daniel Lederman, Norman Loayza (1998): Determinants of Crime Rates in Latin America and the World. An Empirical Assesment. Worldbank Latin American and Caribbean Studies Viewpoint, Washington D.C.

González, Fernán E., Ingrid J. Bolívar, Teófilo Vázquez (2003): Violencia Política en Colombia. De la nación fragmentada a la construcción del Estado. CINEP, Bogotá.

Kurtenbach, Sabine (2005): Gewalt, Kriminalität und Krieg – zur symbiotischen Verbindung verschiedener Gewaltformen und den Problemen ihrer Einhegung, in: Basedau, Matthias/ Hanspeter Mattes, Anika Oettler (Hg.): Sicherheit als öffentliches Gut, Hamburg DÜI, S.209-228.

Lock, Peter (1998): Privatisierung von Sicherheit im Zeitalter der Globalisierung, in: Lateinamerika. Analysen-Daten-Dokumentation. Jg. 15, Nr. 38. Hamburg Institut für Iberoamerika-Kunde.

Manwaring, Max G. (2005): Street Gangs: The New Urban Insurgency. Strategic Studies Institute, U.S. Army War College, Carlisle (www.carlisle.army.mil/ssi) Zugriff am 13.4.05).

Nissen, Astrid/ Katrin Radtke (2002): Warlords als neue Akteure der internationalen Beziehungen, in: U. Albrecht et al. (Hg): Das Kosovo-Dilemma: Schwache Staaten und Neue Kriege als Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Münster, Westfälisches Dampfboot, S.141-155.

Peacock, Susan C./Beltrán, Adriana (2003): Hidden Powers. Illegal Armed Groups in Post Conflict Guatemala and the Forces Behind them. A WOLA Special Report. Washington D.C.

Riekenberg, Michael (1999): Warlords. Eine Problemskizze in: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung 9. Jg. Nr. 5/6, S. 187-2005.

Romero, Mauricio (2003): Paramilitares y autodefensas 1982-2003. Bogotá.

Serrano, Mónica/ María Celia Toro (2002): From Drug Trafficking to Transnational Organized Crime in Latin America, in: Mats Berdal/ Mónica Serrano (Hg.) 2002: Transnational Organized Crime and International Security. Business as Usual?, Boulder, London Lynne Rienner, S. 155-182.

WHO (2002): World Report on Violence and Health 2002. Genf.

Anmerkungen

1) Alle Angaben beruhen auf den eher konservativen Angaben des Londoner Internationalen Instituts für Strategische Studien (vgl. IISS- Military Balance 1982/83ff).

2) Eine eindrucksvolle Studie zu den wechselnden Mechanismen, die von der organisierten Kriminalität zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung ihres Einflusses in Kolumbien benutzt werden ist Duncan 2005.

3) Zu den Paramilitärs vgl. v.a. González et al. 2003, Romero 2003 und Duncan 2005.

4) Zum Psychogramm eines Sicarios vgl. El Tiempo 9.4.1989, deutsche Übersetzung in: Militärpolitik Dokumentation 76/77.

Dr. Sabine Kurtenbach ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Iberoamerika-Kunde in Hamburg, freie entwicklungspolitische Gutachterin und Mitherausgeberin des seit 1999 im Suhrkamp-Verlag erscheinenden Jahrbuch Menschenrechte

Mit Furcht gibt es keinen Frieden

Mit Furcht gibt es keinen Frieden

Probleme der urbanen Gewalt in Brasilien / Beobachtungen von Carl D. Goerdeler

von Carl D. Goerdeler

Manuel Coutinho würde keiner Fliege die Flügel ausreißen. Der Gemütsmensch in seinem Gemüseladen an der Avenida Automovel Club ist ein friedlicher Zeitgenosse. Aber in seiner Schublade hat er einen Revolver; den hat er sich nach dem dritten Überfall auf seinen Laden angeschafft. Und am 23. Oktober 2005 hat Manuel natürlich mit Nein und also gegen das Verbot von Waffenhandel gestimmt. So wie 58,5 Millionen andere Brasilianer auch. Nur 25,4 Millionen waren dafür, den Kauf von Schusswaffen und Munition auf die Streitkräfte, die Polizei, Wachmänner, Jäger und Sportschützen zu beschränken.

An diesem denkwürdigen Sonntag im Oktober hatten etwa 120 Millionen Brasilianer ihr Votum abgegeben – die Teilnahme an der Volksabstimmung war für alle Bürger zwischen 18 und 70 Jahren verpflichtend. Stimmberechtigt waren aber auch Jugendliche im Alter von 16 und 17 Jahren. Wenn auch die Waffenbefürworter mit rund 64 Prozent klar über die Verbotsanhänger (36 Prozent) gesiegt haben – so zeigte doch die hohe Enthaltung von rund 22 Prozent aller Stimmberechtigten, wie umstritten die gesamte Volksabstimmung war.

Noch im September 2005 hatten die Umfragen einen klaren Meinungstrend für das Verbot von Waffenhandel signalisiert. Worauf war der Stimmungswechsel zurückzuführen?

„Kein Zweifel – das Nein ist ein Ausdruck des Protestes gegenüber einem Staat, der die Bürger im Regen stehen lässt. Und die Regierung hat den Schwanz eingekniffen“ – so der Abgeordnete Paulo Delgado, der zur Arbeiterpartei des Präsidenten Lula da Silva gehört. Und Lula hatte mit seiner Linksregierung, den Bürgerrechtlern und der Katholischen Kirche die Initiative der Vereinigung »Viva Rio« unterstützt, ein Votum zum Verbot von Waffenhandel herbeizuführen. Ermutigt wurden die Pazifisten dadurch, dass im Juli 2004 die Brasilianer in einer freiwilligen Aktion rund 440.000 (meist unbrauchbare) Gewehre gegen Belohnungen von bis zu 100 Dollar abgeliefert hatten. Der Waffenlobby und dem -handel drohten schwere Zeiten: Seit dem Beginn der Abrüstungskampagne mussten landesweit 1.500 Waffenläden schließen.

An der friedlichen Gesinnung der weitaus meisten Brasilianer besteht wohl kein Zweifel. Doch in keinem Land der Welt mit Ausnahme von Venezuela sterben mehr Menschen (gemessen an der Gesamtbevölkerung) jährlich durch Waffengewalt – mehr als durch Verkehrsunfälle, Krebs oder andere Krankheiten. Zwischen1979 und 2003 wurden nach Angaben der Vereinten Nationen mehr als eine halbe Million Menschen ermordet.

Das Gefühl der Bedrohung und das Wissen um die Ohnmacht der Behörden, die Kriminellen zu fangen und zu bestrafen kennt jeder Brasilianer. Wenn ein Waffenverbot glaubhaft gemacht hätte, dass den Mördern nun endlich das Handwerk gelegt werde – dann wäre diese Abstimmung wohl anders ausgegangen. So aber beschlich die meisten Bürger je näher der Abstimmungstag kam, die Vermutung, die Regierung wolle sich mit dem Votum nur ein Alibi verschaffen – ein strenges Gesetz erlassen, aber sonst alles weiter laufen lassen wie bisher: die korrupte Polizei wie die untätige Justiz. Die meinungsführende Zeitschrift »Veja« hatte noch unmittelbar vor der Volksabstimmung darauf hingewiesen, dass in Brasilien nur drei Prozent aller Morde aufgeklärt werden (gegenüber 70 Prozent in den USA) und dass im Schnitt zehn Jahre vergehen, bis in einem Prozess der Täter verurteilt wird (acht Monate in den USA). Fazit: In Brasilien kann man straflos töten.

Die Bürger wollen nicht Freiwild sein. Amtlichen Angaben zufolge befinden sich in den häuslichen Arsenalen rund 17 Millionen Schusswaffen – davon sind neun Millionen nicht angemeldet. Die Dunkelziffer dürfte noch weit höher ausfallen. Ein Verbot des Waffenhandels hätte langfristig vielleicht die Bürger entwaffnet – aber auch die Kriminellen? Daran haben mehr und mehr Brasilianer gezweifelt. Die Unterwelt beschafft sich ihre (teils schweren) Waffen sowieso auf dem Schwarzmarkt.

Die Waffenlobby feierte das Ergebnis als »Sieg des freien Bürgers«. In Wahrheit aber war dies eine bittere Niederlage: eine Niederlage für die Linksregierung von Lula und eine Niederlage für die zivile Gesellschaft. Die Brasilianer trauen sich selber und ihren Waffen mehr zu als der öffentlichen Ordnung. So wie Manuel Coutinho, der Gemüsehändler.

Die schweigende Mitte

Noch mehr Mitte geht nicht: nach der Praça da República richten sich alle Entfernungen in São Paulo und von dort ist es nur ein Katzensprung in die Oper, zur Kathedrale und hoch in den 42. Stock des Edificio Italia mit dem Panoramablick über die12-Millionen-Metropole. An der Praça da República hätte die Bankfrau Marlene Alves de Santana mit ihrer Familie gleich einziehen können: 240 Quadratmeter im 8. Stock mit Blick auf den schütteren Park – die Miete halb so hoch, die Fläche doppelt so groß wie bei ihrer Wohnung in Brooklyn am Südrand der City. Marlene ist aber nicht eingezogen. Denn sie fürchtete sich, nach Einbruch der Dunkelheit vors Haus zu treten. Sie wäre über Obdachlose, die auf dem Bürgersteig und unter den Bäumen auf dem Platz kampieren, gestolpert und spätestens in der ersten Woche hätte man ihr die Handtasche entrissen, und das wäre noch harmlos gewesen. Es war doch merkwürdig genug, dass die Miete so niedrig und das Angebot an freien Wohnungen dort in dem Altbau aus den 30er Jahren so hoch waren. Aber hatte nicht auch das Hilton-Hotel, einst die erste Adresse im Stadtzentrum und wegen des Sonntagsbrunchs beliebt, gerade erst dicht gemacht?

Die Mitte wohnt am Rand, und die vom Rand der Gesellschaft strömen in die Mitte, besetzen die Bürgersteige, schlagen ihr Buden in der Gosse auf. Die guten Kunden bleiben weg, Geschäftsleute schließen ihre Läden oder stellen um auf Billigware.

Der Zersetzungsprozess der alten Mitte kann in jeder brasilianischen Großstadt beobachtet werden. Man fährt nicht mehr in die Mitte zum Einkaufen, Speisen oder Spazieren gehen. Man geht auch nicht mehr ins Theater oder Kino. Man bleibt zu Hause hinter Gittern – oder fährt in die Shopping-Malls, wo ja alles beisammen ist. 5.000 betuchte Bürger zusammen zu trommeln, wäre auf der Praça da República ein Kunststück, im Morumbi-Shopping-Center aber ist es ein Klacks.

Die Flucht aus der Mitte führt zum Verfall der Stadt und auch der Gesellschaft. Die Stadt franst immer weiter aus, zugleich verfällt das Zentrum. Die Bürger distanzieren sich buchstäblich immer mehr voneinander und von der Mitte. Wer es sich leisten kann, zieht in einen scharf bewachten Wohnpark; was sich außerhalb abspielt, sieht man im Fernsehen. In Rio de Janeiro führen Pädagogen hin und wieder Jugendliche aus den Reichen-Ghettos durch die Stadt: damit sie einmal Bus und Metro fahren lernen und sehen, wo das Rathaus steht.

„Die Favelas auf den Bergen gehörten früher zur Postkarte von Rio de Janeiro; man war ja beinahe stolz auf sie. Entsinnen Sie sich noch an »Orfeu Negro«, den Kult-Film der fünfziger Jahre? – alles vorbei“, bedauert Hans Stern, der Juwelenhändler und wohl reichste Mann von Rio. In seiner Jugend war er im Cabriolet mit Weißwandreifen über die Avenida Atlantica geschwebt; das würde er heute schon aus Gründen der Tarnung, also der Sicherheit, nicht wagen. „Ob die Armut zugenommen hat, ob deshalb die Gewalt gestiegen ist, vermag ich nicht zu sagen. Aber finden sie einmal die Bürger und Mäzene, die sich etwa um das Stadttheater kümmern, um das Symphonie-Orchester, um das Klassik-Radio, um die Stadtbibliothek. Bringen Sie mir die Bürger, die sich mit ihrer Stadt identifizieren!“

Drei Monate lang, von Mitte Mai bis Mitte August 2005 waren die städtischen Museen in Rio de Janeiro geschlossen. Und keiner hat es gemerkt! Der Streik der Kulturbürokraten war nur eine Marginalie. Monatliche Massaker der Polizei oder der Drogenbosse – wo ist da der Unterschied? Kliniken, in denen die Kranken verrecken, Gesetze, die nichts gelten: Wo regiert wird, wird geschmiert. Und die Bürger gehen nicht auf die Barrikaden.

Die brasilianische Mittelklasse beginnt beim Einkommen von fünf Mindestlöhnen und darüber. Zehn Prozent aller Erwerbspersonen verdienen das monatlich; die kleine Oberschicht ist auf ein Arbeitseinkommen nicht angewiesen. Die Besser- und Bestverdienenden verfügen über die Hälfte des gesamten Volkseinkommens – die weniger privilegierte Hälfte der Bevölkerung verfügt aber nur über zehn Prozent des gesamten Kuchens. Trotz der deutlich gestiegenen Lebensqualität (Human Development Index der UN) und Bildung sind in Brasilien Einkommen und Besitz also weiterhin sehr ungleich verteilt.

Aber darum geht es nicht. Das Gefühl der Mitte, an den Rand gedrängt zu sein, teilen nicht nur Ladeninhaber und Professoren, Ingenieure und Zahnärzte. Das Gefühl hat die bürgerliche Klasse in Brasilien ganz allgemein. „ Früher war es selbstverständlich, die Kinder in die öffentliche Schule zu schicken“, erinnert sich die Familientherapeutin Cyntia Falcão.„ Aber wer wagt das heute noch?…Wer irgend kann und etwas auf sich hält, der meidet sie“. So wie man das Öffentliche insgesamt meidet. Früher hätten zur Sippschaft, auch der ihren, immer Honoratioren gehört. Doch diese Zeiten sind vorbei: In den Gemeinderäten, den Provinzparlamenten und im Nationalkongress agieren Berufspolitiker, die sich nicht als Repräsentanten einer Nation, Gesellschaft oder Klasse verstehen, sondern als Geschäftemacher in eigener Sache.

Rio – 50 Jahre Verfall

An welchem Tag der Niedergang von Rio de Janeiro begann, ist nicht genau zu bestimmen. Es muss vor 50 Jahren gewesen sein als Juscelino Kubitschek, der künftige Staatspräsident, versprach, die Hauptstadt zu verlegen; so wie es ja bereits die Verfassung von 1891 vorsah. Das hatte bis dahin niemand Ernst genommen. Umso größer dann das Erstaunen, dass Juscelino vom ersten Tag seiner Regierung an, Vermessungstrupps und Ingenieure in den Busch schickte, den Bau von Brasília in die Wege zu leiten.

Rio de Janeiro, die »Prinzessin des Meeres«, die »schönste Stadt der Welt«, brauchte keine Rivalen zu fürchten. Nicht, solange sich die gesamte nationale Politik hier abspielte und an der Copacabana auf dem diplomatischen Parkett getanzt wurde. Sollten sich andere Städte wie São Paulo und Belo Horizonte mit Maschinenindustrie und Eisenhütten die Hände dreckig machen – Rio hatte das nicht nötig. Blaumänner hatten an der Copacabana nichts zu suchen, Putzfrauen, Köchinnen und Chauffeure, die schon.

Natürlich waren die Bewohner von Rio de Janeiro damals nicht alle Minister, Beamte oder Diplomaten. Das ganze Heer der Hofschranzen und Beamten, der ganze »niedere Klerus« der Politik und Verwaltung und deren Hauspersonal, dazu die ergrauten Staatsdiener, alle galt es zu versorgen. Davon lebte die Stadt – lebten die Krämer wie die Kutscher, die Friseure wie die Fräuleins, die Straßenfeger wie die Trambahnfahrer.

Der Typ des »malandro«, des Tunichtguts, des Vorstadtstrizzi, auch des sympathischen Spitzbuben und Überlebenskünstlers, eine Art brasilianischer Schweijk, war der Prototyp Rios, und er wurde in immer neuen Varianten besungen. Der malandro, das war der Macho, der wusste, wie man die öffentliche Stromleitung anzapfen konnte, der das Bier in der Sambaschule verkaufte, der als Buchmacher für die Bosse der eigentlich illegalen Tierlotterie die Wetten notierte, der jeden kannte und den jeder kannte und der aus der Kneipe heraus den Mädchen hinterher pfiff. Kurz und gut, der malandro war die Personifizierung des »jeitinho brasileiro«, der Kunst, sich durchzumogeln. An diesen »jeitinho« glaubt Rio de Janeiro ganz besonders.

Doch dann wurde es Ernst. 1960 flogen die Staatsgäste ein, landeten aber nicht in Rio de Janeiro, sondern in der Steppe da oben in Goias, wo sie die neue Hauptstadt einweihten. Kubitschek war wohl verrückt geworden. Wer von den Beamten wollte schon dahin? Die Generäle gaben den Befehl zum Staatsstreich. Das war am 31. März 1964.

Würde das Regime nun von Rio de Janeiro aus kommandieren, wo die meisten Garnisonen lagen? Anfangs schien es so – aber dann entdeckte die Junta, dass man in Brasilia viel ungestörter von politischen Turbulenzen Sandkastenspiele unternehmen konnte – sie entdeckten ihr Herz für die neue Hauptstadt, obgleich deren Architekt, Oscar Niemeyer, ein unbelehrbarer Kommunist war.

Rio de Janeiro, doppelt verraten. Verraten von der Politik, verraten von den Militärs. Die Bohème ging auf die Straße, die Studenten probten den Aufstand, so wie die Kommilitonen in Berkley und Berlin. Aber die Protestsongs und die Steine gegen den »Schweinestaat« blieben wirkungslos. Zu viel Utopie war im Spiel, wo doch die Schornsteine rauchten – nicht in Rio de Janeiro aber in São Paulo beispielsweise. Der Widerstand in Rio de Janeiro driftete in den Untergrund und die Drogenszene ab – in São Paulo aber setzten die Fabrikarbeiter mit ihren Streiks dem Regime zu. Die brasilianische Arbeiterbewegung mit ihrem charismatischen Führer Luis Inacio Lula da Silva an der Spitze war nun zum Subjekt der Geschichte geworden. Und Rio de Janeiro hatte in der Politik von da an ausgespielt.

21 Jahre kommandierten die Militärs, und als dann 1985 die Demokratie wieder eine Chance bekam, spielte sich das Geschehen in Brasília ab, kein Mensch kam mehr auf den Gedanken, die Hauptstadt wieder nach Rio de Janeiro zurück zu legen. Zurück aber ging es in Rio de Janeiro selber: Mit dem Gouverneur Leonel Brizola kam ein Populist alten Schlags an die Regierung. Brizola war der Liebling der Bohème, der Kleinbürger und der malandros – aller, die sich in Rio verraten fühlten. Dabei war Brizola kein Carioca, sondern einer aus dem tiefen Süden, ein Gaucho – und das Schicksal von Rio interessierte ihn nicht: Er wollte auf der nationalen Bühne die erste Geige spielen.

Während andere Bundesstaaten, São Paulo vorweg, miteinander wetteiferten, Industrien anzusiedeln und Arbeitsplätze zu schaffen, behinderte Brizola in Rio de Janeiro mögliche Direktinvestoren, besonders solche aus dem Ausland.

In Brasilien ging es aufwärts, in Rio de Janeiro in die Gegenrichtung. Statt auf Pragmatiker und Tatmenschen zu setzen, wählten die Bürger Politiker mit der größten Klappe. Und weil Politik sowieso verrufen war, bekam der »Große Onkel« in der Kommunalwahl von 1988 die drittmeisten Stimmen. Der »Große Onkel« war der Schimpanse im Zoo.

Die Bürger von Rio de Janeiro hatten sich aus der Politik abgemeldet. Und auf der nationalen Bühne rangierte die Stadt unter »ferner liefen«. Jedes Jahr zogen Bundesbehörden ab, blieben Rentner zurück. Selbst die Banken packten ein und zogen um nach São Paulo. Was blieb denn noch übrig an ökonomischer Substanz?

Nur noch der Bordsteinhandel, der Schwarzmarkt, die Gastronomie. Wenigstens die Touristen würden wie jedes Jahr einfliegen. Die Sonne und das Meer hatten Rio noch nicht verlassen. Aber neue Hotels wurden nicht mehr gebaut. Und der Hafen? Der Hafen verschlammte im Sumpf der Mafia, die die Preise diktierte, so wie in dem berühmten Film mit Marlon Brando, »On the Waterfront«. Das war ja vorherzusehen: Je weniger Arbeitsplätze es in Rio de Janeiro noch gab, desto heftiger waren sie umkämpft.

Die Menschen mit geregelter Arbeit wurden immer weniger im Vergleich zu den (relativ gut betuchten) Staatsrentnern an der Copacabana und den Menschen in den Vorstädten und Favelas, die sich mit Gelegenheitsjobs durchschlugen. Nun kamen Rio de Janeiro, die Stadt wie der Staat, an den Tropf der Bundesregierung. Einen Entwicklungsplan hatte man immer noch nicht. Wo sollte die Zukunft Rios denn liegen? In der nationalen Laissez-faire-Metropole?

Viel zu lange hatte man alles schleifen lassen. Längst war nun auch der Staat schon auf dem Rückzug. No future, kein Geld – die Favelas blieben ihrem Schicksal überlassen. Und dieses Schicksal hieß nun Diebstahl, Drogen, Tod. Mit krimineller Energie kam man schneller ans Geld als mit Ausdauer bei der Arbeitssuche. Lange hatte der Virus der Selbstzerfleischung eine Schattenexistenz geführt, nun brach er an den Rändern der Stadt mit voller Wucht aus.

Der Staat hat also keinen Anwalt mehr, die bürgerliche Gesellschaft kapselt sich ein. Die »Zivilgesellschaft« ist nur eine Schimäre, von der die Intellektuellen faseln. Brasilien wird von einer Nomenklatur populistischer Politiker regiert, die wie Sektenprediger den Zehnten in ihre eigene Tasche stecken. Die neue Mitte, das sind die Fußballvereine, die Sambaschulen, die Telenovelas, die Garagenkirchen, die 1-Dollar-Shops, die Video-Läden, der Traum, einen Job bei der Müllabfuhr zu kriegen. Aber um diese Mitte herum wächst mit jedem Jahr mehr ein breiter Todesstreifen der Armut und Gewalt, der den Rest der bürgerlichen Gesellschaft erdrosselt.

Carl D. Goerdeler lebt seit 1988 in Rio de Janeiro. Er ist Lateinamerika-Korrespondent zahlreicher deutschsprachiger Zeitungen und Autor mehrerer Marco-Polo Reiseführer

Regionale Sicherheitskonstellationen

Regionale Sicherheitskonstellationen

Brasilien auf dem Weg zur neuen Regionalmacht?

von Stefan Schmalz

Das oftmals als US-amerikanischer Hinterhof bezeichnete Südamerika schien nach dem Ende des Ost-West-Konflikts vorerst vom Reisbrett der CIA-Strategen verschwunden zu sein. Die Zeit, in der Guerillabewegungen unterschiedlichster Couleur den heimischen Oligarchen zusetzten und teilweise – wie mit der kubanischen Revolution (1959) und dem Aufstand der Sandinisten (1979) – gar die Systemfrage stellten, galt als beendet. Weiterhin aktive Guerillaorganisationen, etwa die kolumbianischen FARC-EP (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo) oder die ELN (Ejército de Liberación Nacional), bekamen nun das öffentliche Image von stalinistischen Relikten und Drogendealerringen, die den letzten Zug zur Demobilisierung verpasst hätten. Die Delegitimierung des bewaffneten Kampfes muss aber auch vor dem Hintergrund der Entwicklung seit den 1980er Jahren gesehen werden: dem Ende mehrerer Militärdiktaturen und dem daran anschließenden Machtantritt zumeist neoliberaler Präsidenten wie Fujimori, Menem und Collor de Mello. Nur wenige Jahre danach haben wir erneut eine veränderte Situation. In sechs Ländern Südamerikas regieren jetzt Präsidenten, die zumindest ihren Worten nach Gegner des Neoliberalismus sind.

Die »Linkswende« auf dem Kontinent hat neben den politökonomischen und sozialen Folgen auch eine sicherheitspolitische Dimension. Gerade die Wahl von Luiz Inácio »Lula« da Silva in Brasilien, das mit einer Bevölkerung von über 187 Mio. und einem BIP von rund einem Drittel der gesamten Wertschöpfung Lateinamerikas sehr gewichtig ist, zieht sicherheitspolitische Implikationen nach sich. Gelingt es im Cono Sur, dem südlichen Südamerika, ein Gegengewicht zur USA und der auch in Lateinamerika aktiver werdenden EU aufzubauen? Schickt sich Brasilien gar an, eine Regionalmachtsrolle zu übernehmen?

Zwischen Militarisierung und sicherheitspolitischem Vakuum

Zur Klärung dieser Fragen ist es unerlässlich, zunächst zwei zentrale Dynamiken in der geopolitischen Konstellation in Lateinamerika zu beleuchten. Zunächst ist mit den Angriffskriegen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten gegen Afghanistan (2001) und den Irak (2003) die Wahrscheinlichkeit einer direkten militärischen US-amerikanischen Invasion in Lateinamerika gesunken. Die neuen Regime in Lateinamerika haben auf den ersten Blick, was die externen sicherheitspolitischen Zwänge angeht, einen großen politischen Spielraum. Zwar bleibt der von den Regierungen der USA und Spaniens unterstützte Putschversuch gegen den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez im April 2002 unvergessen. Doch zur gleichen Zeit ist klar: Die Ressourcen der Vereinigten Staaten sind beschränkt. Es erscheint als äußerst problematisch, die Besatzungen im Irak (ca. 136.000 Soldaten) und Afghanistan (ca. 20.000 Soldaten) erfolgreich zu beenden, die Drohkulisse gegenüber dem Iran und Nordkorea aufrecht zuerhalten und gleichzeitig noch einen heißen Krieg in Südamerika zu beginnen.

Zudem haben sich die Konfliktlinien in Lateinamerika verschoben. Instabile politische Situationen finden wir heute besonders im Andenraum und in der Amazonasregion. Hier steht vor allem die Gefahr einer Internationalisierung des seit mittlerweile über 40 Jahre andauernden kolumbianischen Bürgerkriegs im Vordergrund. Aktivitäten der kolumbianischen Guerillaorganisationen, der paramilitärischen Einheiten aber auch staatlicher Akteure in den Grenzgebieten der Nachbarländer Ecuador und Venezuela und nicht zuletzt der zunehmende grenzüberschreitende Drogenhandel im schwer kontrollierbaren Amazonasgebiet machen die Auseinandersetzungen zu einem regionalen Problem. Die Vereinigten Staaten haben hierauf mit einer Teilfinanzierung des 7,5 Mrd. US$ umfassenden, im Jahr 1999 initiierten Plan Colombia und den Folgeprojekten Iniciativa Andina Regional und Plan Patriota reagiert. Die US-Amerikaner stützen zudem durch die Stationierung von 800 US-Soldaten und 600 in privaten Sicherheitsfirmen tätigen Militärberatern die Kriegspolitik der rechtskonservativen kolumbianischen Regierung Uribe. Sie haben ein Netzwerk von Militärbasen installiert, das von Manta (Ecuador), über Tres Esquinas und Leticia (Kolumbien) über Iquitos (Peru) bis zu den Karibikstützpunkten Beatrix (Aruba) und Hato (Curaçao) reicht.1

Wirtschaftliche Integration im Cono Sur

Der Versuch, den Anden- und Amazonasraum militärisch stärker in den US-amerikanischen Einflussbereich einzubinden, wird begleitet durch eine Politik der stärkeren wirtschaftlichen Durchdringung mittels Initiativen für Freihandelszonen und Investitionsabkommen. Neben dem die USA, Mexiko und Kanada umfassenden NAFTA-Abkommen (1994), dem bilateralen Vertrag mit Chile (2004) und dem bereits unterzeichneten CAFTA-DR-Abkommen, das Honduras, El Salvador, Guatemala, Nicaragua, Costa Rica und die Dominikanische Republik umfassen wird, sind Verhandlungen mit den Andenstaaten Kolumbien, Peru und Ecuador weit voran geschritten.2 Die Inhalte dieser Verträge kreisen meist um die Liberalisierung von Handel und Investitionen sowie um Vereinbarungen, die den Zugriff auf das staatliche Auftragswesen durch ausländische Unternehmen ermöglichen. Die US-Pläne für die bisher gescheiterte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA scheinen sich somit in Mittelamerika und dem nördlichen Südamerika in einer veränderten Form durchzusetzen.

Gleichzeitig hat sich in Südamerika mit dem Integrationsbündnis Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela) eine Keimzelle eines linkspolitischen Regionalblocks herausgebildet, der als ein Gegenprojekt zur US-amerikanischen wirtschaftlichen und militärischen Durchdringung des Subkontinents fungieren könnte. Der Mercosur umfasst jetzt weitere Mitgliedstaaten (vgl. Tabelle 1) und wurde durch die drei neuen Mitte-Links-Regierungen institutionell ausgebaut: Es wurde ein fester Gerichtshof und eine Kommission von permanenten Repräsentanten eingerichtet. Ein neues Mercosur-Parlament soll im Jahr 2007 seine Arbeit aufnehmen. Auch sozialpolitisch wurden erste Vorstöße unternommen, die sich u.a. in der Einführung von gemeinsamen Strukturfonds zeigen, die den kleinen Mitgliedstaaten Paraguay und Uruguay zu Gute kommen sollen. Ergänzt wird der Mercosur durch die Südamerikanische Staatengemeinschaft (Comunidad Sudamericana de Naciones), eine bisher wenig erfolgreiche Initiative, die als Dach für einen südamerikanischen Integrationsprozess dienen soll. Doch auch das Integrationsbündnis Mercosur bleibt aufgrund des geringen politökonomischen Gewichts und der Fortsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik auf der nationalen Ebene fragil und dient bisher nicht dazu, eine alternative Entwicklung in den Mercosur-Nationen einzuleiten.

Zusammenarbeit zwischen Kriegs- und Friedenspolitik

Der neue, immer wieder durch interne Konflikte gekennzeichnete Integrationsprozess besitzt ebenfalls eine wichtige strategische Komponente. Zunächst ein banales Argument: Die fortschreitende Integration verhindert einen Ausbruch weiterer Grenzstreitigkeiten in Südamerika, wie etwa zuletzt zwischen Peru und Ecuador im Jahr 1995. Durch die Verlagerung politischer Kompetenzen auf die Ebene supranationaler Institution werden kriegerische Auseinandersetzungen immer mehr zu einem Verlustgeschäft für alle beteiligten Staaten. So wurde das schwelende Rivalitätsverhältnis zwischen Argentinien und Brasilien durch die Gründung des Mercosur im Jahr 1991 zivilisiert. Eine Erweiterung des Mercosur um Bolivien als Vollmitglied könnte zusätzlich die alten Grenzstreitigkeiten zwischen Bolivien und Chile entschärfen. Eine weitere neue Ebene des Integrationsprozesses besteht in der energiepolitischen Zusammenarbeit, die durch den Beitritt Venezuelas an Bedeutung gewonnen hat. Der Abschluss eines Abkommens zwischen Argentinien, Brasilien und Venezuela über ein mehr als 16 Mrd. US$ schweres (Gas-)Pipelineprojekt und die Ankündigung, bei der Ausbeutung der Erdöl- und Gas-Abkommen vermehrt zusammenzuarbeiten, zeugt von ersten Schritten in diese Richtung. Als letzte offensichtliche Verschiebung in der sicherheitspolitischen Architektur ist die räumliche Veränderung des Integrationsprozesses durch den Beitritt Venezuelas zum Mercosur zu nennen. Neben der gemeinschaftlichen Kontrolle des Südatlantiks durch die Mercosur-Staaten ist nun der Amazonasraum als sicherheitspolitisches Thema auf die gemeinsame Agenda gerückt, was die politische Dominanz der USA in dieser Region ernsthaft herausfordert. Der Mercosur würde bei einer erneuten Erweiterung, z. B. um den potentiell nächsten Kandidaten Bolivien, ein regionaler Verbund, der in Südamerika ordnungspolitisch zentral wäre. Dem geostrategischen US-Großprojekt einer militärpolitischen Durchdringung des nördlichen Südamerika im Rahmen des Plan Colombia könnte somit perspektivisch eine Mercosur-Sicherheitsstrategie im Rahmen eines südamerikaweiten Integrationsprozesses gegenübergestellt werden.

Doch welches militärpolitische Gewicht bringen die Mercosur-Staaten auf die Waage? Betrachten wir zunächst einige nüchterne Zahlen (vgl. Tabelle 2). Es ist eindeutig, dass Brasilien mit einem Verteidigungshaushalt von rund 11 Mrd. U$ und einer 287.600 Menschen starken Armee eine zentrale Rolle auf dem Subkontinent spielt. Die Verteidigungsausgaben sind so hoch wie der Militärhaushalt der drei nachfolgenden Staaten zusammen: Das bedeutende Argentinien, das oftmals als »Preußen Südamerikas« bezeichnete Chile und das Bürgerkriegsland Kolumbien. Brasilien kann als einziges lateinamerikanisches Land zudem auf eine umfangreiche Rüstungsindustrie zurückgreifen. In der Phase der Militärdiktatur (1964-1985) wurden Investitionen in Flugzeug-, Raketen- und Fahrzeugtechnologie forciert. Allerdings stellte die Regierung mit der Demokratisierung des Landes einzelne Projekte, etwa das Atomwaffenprogramm, ein. Brasilien gilt heute mit Exportunternehmen wie Avibras Indústria Aerospacial als der fünftgrößte Waffenexporteur der Welt. Doch gemessen an dem Rüstungsetat der USA ist die brasilianische Militärmaschinerie ein Zwerg. Der Militärhaushalt der USA ist mit 370,3 Mrd. US$ fast halb so groß wie das BIP Brasiliens, er übersteigt die Militärausgaben Brasiliens um mehr als das Dreißigfache. Hinzu kommt, dass die brasilianische Rüstungsindustrie durch ausländische Investitionen und eine länderübergreifende Arbeitsteilung weitgehend in transnationale Produktionsnetzwerke eingebunden ist.3 Kurzum: Auf rein militärischer Ebene sind weder Brasilien noch andere lateinamerikanische Staaten in der Lage, den USA Paroli zu bieten.

Daran ändern auch die Versuche wenig, eine militärpolitische Kooperation auf die Beine zu stellen. Neben dem Aufbau bilateraler verteidigungspolitischer Arbeitsgruppen zwischen Argentinien, Brasilien und Chile, dem Aufbau eines subregionalen Zentrums für Polizeitraining und einem Zentrum für strategische Studien, dem Datenaustausch zwischen Brasilien und Kolumbien im Rahmen des brasilianischen Überwachungsprogramms SIVAM (Sistema de Vigilância da Amazônia) wurden auch einzelne Manöver gemeinsam abgehalten. Eine gemeinsame Mercosur-Verteidigungspolitik scheint jedoch bisher in weiter Ferne.

Allerdings kann in einzelnen Punkten durchaus ein koordiniertes sicherheitspolitisches Handeln ausgemacht werden. Die Regierungen von Argentinien, Brasilien, Chile, Paraguay und Venezuela verurteilten allesamt den Irakkrieg im Jahr 2003 und weigerten sich, trotz Drängens der US-amerikanischen Regierung, an dem Feldzug teilzunehmen. Allerdings lässt sich in diesem Punkt eine erneute Spaltung Lateinamerikas in zwei Lager feststellen. Die Dominikanische Republik, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Panama und Kolumbien traten offiziell der »Koalition der Willigen« bei, und andere Staatschefs, wie der ehemalige Regierungschef Jorge Battle aus Uruguay, begrüßten den Irakkrieg.4

Der entschiedenen Antikriegshaltung südamerikanischer Staaten im Falle des Irak steht jedoch ein selektiver Interventionismus in Lateinamerika gegenüber. Seit Juni 2004 sind Soldaten aus Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Paraguay, Peru und Uruguay in der UN-Mission MINUSTAH in Haiti aktiv. Brasilien übernahm sogar den Oberbefehl über die Truppen in Haiti, trägt somit zur Legitimation der De-facto-Invasion bei und entlastet die US-amerikanische Militärmaschinerie (vgl. Beitrag von Alexander King, d. R.). Das Ziel der Mission scheint eng mit dem Streben der brasilianischen Regierung nach einem UN-Sicherheitsratssitz verbunden zu sein und ist ein offensichtlicher Versuch, die Vereinigten Staaten für dieses Unterfangen auf ihre Seite zu ziehen. Gleichzeitig kann Haiti als Aufmarschplatz für die brasilianischen Regionalmachtsambitionen verstanden werden. Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Regierung Lula außenpolitisch aktiv engagierte. Doch bisher waren eher zivilgesellschaftliche Konfliktlösungsstrategien angesagt: Die Brasilianer weigerten sich, die FARC-EP und ELN als Terrororganisationen zu erklären, vermittelten in dem Konflikt zwischen Regierung und Opposition in Venezuela.

Fazit

Sowohl auf wirtschafts- als auch militärpolitischer Ebene droht eine Spaltung Lateinamerikas. Während die Vereinigten Staaten Mittelamerika und das nördliche Südamerika mit Militärbasen und Freihandelsabkommen überzogen haben, ist der Mercosur zum Zentrum eines fragilen Gegenprojekts einer südamerikanischen Integrationsprozesses unter brasilianischer Schirmherrschaft geworden, das auch eine verstärkte sicherheitspolitische Koordination mit sich bringt. Natürlich sind die südamerikanischen Staaten keineswegs fähig, die US-amerikanische militärpolitische Suprematie herauszufordern, aber das könnte sich als ein Vorteil herausstellen. Der MINUSTAH-Einsatz in Haiti hat gezeigt, dass auch ein lateinamerikanischer militärischer Interventionismus durchaus in einer Gewaltspirale enden kann. Als Gegenentwurf besitzt Brasilien in dieser Konstellation die einmalige Chance, die Rolle eines wohlwollenden Hegemons in Südamerika einzunehmen. Diese könnte sich durch eine sozial-, energie- und wirtschaftspolitische Kooperation, durch die Bildung gemeinsamer politischer Institutionen und durch eine Politik der zivilen Konfliktlösung auszeichnen. Ob dieser Weg zielstrebig gegangen wird, ist jedoch bisher ungewiss.

Tabelle 1: Mercosur Mitgliedsstaaten

Vollmitglieder
Argentinien 1991
Brasilien 1991
Paraguay 1991
Uruguay 1991
Venezuela (eingeschränkte Rechte) 2005
Assoziierte Mitglieder:
Bolivien 1997
Chile 1996
Ecuador 2004
Kolumbien 2004
Peru 2003
Venezuela 2004
Quelle: www.mercosul.org.uy

Tabelle 2: Streitkräfte und Militärausgaben

Land Streitkräfte: Aktive/ Reserve Militärausgaben (in US$) Militärausgaben (in % des BIP)
Argentinien 41.400 4,4 Mrd. 1,3%
Bolivien 35.000 132,2 Mio. 1,6%
Brasilien 287.600 (1.340.000) 11 Mrd. 1,8%
Chile 77.300 (50.000) 3,42 Mrd. 3,8%
Ecuador 59.900 (100.000) 655 Mio. 2,2%
Guayana 1.600 (1.500) 6,5 Mio. 0,9%
Kolumbien 200.000 (60.700) 3,3 Mrd. 3,4%
Paraguay 18.600 53,1Mio. 0,9%
Peru 100.000 (188.000) 829 Mio. 1,4%
Surinam 1.800 7,5 Mio. 0,7%
Uruguay 23.900 257,5 Mio. 2,0%
Venezuela 82.300 (8.000) 1,687 Mrd. 1,5%
USA 1.400.000 (1.320.000) 370,3 Mrd. 3,3%
Quellen: www.globaldefence.net; http://www.cia.gov/cia/publications/factbook/

Anmerkungen

1) Zudem unterhalten die Vereinigten Staaten Militärbasen in Puerto Rico (Vieques), Kuba (Guantánamo) und Honduras (Soto de Cano). Die Pläne, Militärbasen in Argentinien (Tierra del Fuego) und Brasilien (Alcântara) aufzubauen bzw. zu übernehmen, scheiterten bisher am Widerstand der Mitte-Links-Regierungen.

2) Auch die EU hat eine klare, in sich kohärente Außenhandelsstrategie gegenüber Lateinamerika formuliert. Sie will den gesamten Subkontinent mit Handelsverträgen überziehen: Abkommen mit Mexiko (2000) und Chile (2003) sind bereits in Kraft. Ein Vertrag mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten wird verhandelt, liegt aber infolge des Widerstands der Cono Sur-Länder seit Herbst 2004 auf Eis. Verhandlungen mit mittelamerikanischen Staaten und der Andengemeinschaft sind in Vorbereitung oder im Anlaufen. Mit dem Abschluss des Cotonou-Verhandlungsprozesses mit den AKP-Staaten Ende 2007 werden durch die EPAs (Economic Partnership Agreements) die karibischen Staaten ebenfalls in eine Freihandelszone mit der EU eingebunden.

3) Eine Entwicklung, die sich u.a. bei dem Verkauf von 36 brasilianischen Tucano-Kampfjets an Venezuela zu Beginn dieses Jahres zeigte. Der Deal wurde durch das Eingreifen der US-Regierung gestoppt, indem ein Lieferstopp auf in den USA produzierte Einzelteile verhängt wurde.

4) Die Dominikanische Republik beteiligte sich mit 42 Personen an der Invasion. Honduras stellte sogar 378 Soldaten auf. Beide Länder folgten jedoch 2004 dem spanischen Vorbild und zogen ihre Truppen ab.

Stefan Schmalz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politik, Philipps-Universität Marburg. Verschiedene Publikationen zu Lateinamerika und zur neuen Imperialismusdiskussion.

Ziviler Widerstand in Kolumbien

Ziviler Widerstand in Kolumbien

von Bettina Reis

Eine Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen ist notwendig – aber Frieden beinhaltet mehr als die Abwesenheit von Krieg. Zivile Widerstandsinitiativen in Kolumbien intervenieren nicht nur im bewaffneten Konflikt, sie wehren sich gegen ein System von Ungleichheit und Ausgrenzung, indem die Armen immer ärmer werden, sie engagieren sich im Kampf um demokratische und soziale Menschenrechte. Ein Kampf, der viele Opfer fordert und der doch außerhalb der betroffenen Regionen kaum Beachtung findet.

Die Friedensforscherin Esperanza Hernández Delgado, hat indigene, afrokolumbianische und kleinbäuerliche Widerstandsinitiativen in Kolumbien untersucht. Die wesentlichen Merkmale des zivilen Widerstandes fasst sie in sieben Punkten zusammen:

  • Ziviler Widerstand ist das Ergebnis eines Prozesses, der Organisation und Planung beinhaltet, er ist keine spontane Ausdrucksform von kurzer Dauer.
  • Ziviler Widerstand ist eine kollektive Aktion, es geht nicht um eine individuelle Option.
  • Ziviler Widerstand gibt Antwort auf unterschiedliche Ausprägungen von Gewalt. Er ist nicht nur eine Reaktion auf die Gewalt des bewaffneten Konflikts, sondern agiert auch in Bezug auf strukturelle und politische Gewalt.
  • Ziviler Widerstand hat seinen Ursprung in der Zivilbevölkerung. Es geht nicht um Initiativen von lokalen, regionalen oder nationalen Regierungen oder von bewaffneten Akteuren.
  • Ziviler Widerstand ist eine gewaltfreie – jedoch nicht notwendigerweise pazifistische – Antwort.
  • Ziviler Widerstand bedeutet Nicht-Kollaboration mit Gewaltakteuren.
  • Ziviler Widerstand stützt sich auf moralische Kraft, die ihn legitimiert.1

Ziviler Widerstand ist also ein aktives Verhalten in Bezug auf den bewaffneten Kampf sowie auf den ihm ursächlich zugrunde liegenden sozialen Konflikt; in Kolumbien auf ein strukturell verankertes System von Ungleichheit, Ausgrenzung und Verarmung. Das aktive Verhalten vollzieht sich dabei in unterschiedlichen Handlungsfeldern: Im Falle des bewaffneten Konfliktes ist es die direkte Auseinandersetzung mit den staatlichen und nicht-staatlichen bewaffneten Akteuren. Dabei werden grundlegende Normen des Humanitären Völkerrechts, wie die Unterscheidung von Kombattanten und Zivilpersonen, eingefordert. Oft geht es auch um die Achtung von Territorialrechten durch die bewaffneten Akteure. Es wird gefordert, dass Kollektivland von indigenen und afrokolumbianischen Minderheiten oder humanitäre Räume zivilgesellschaftlicher Gruppen nicht angetastet werden.

Frieden ist mehr als Nicht-Krieg

Initiativen des zivilen Widerstandes sind Ausdruck einer Friedenskonzeption, die die traditionelle Auffassung von Frieden als Abwesenheit von Krieg überwinden. „Der Aufbau des Friedens ist dabei eng mit der sozialen Inklusion, einer realen Anerkennung der ethnischen und kulturellen Diversität und den Rechten der Völker, dem Ausüben von Autonomie und Selbstbestimmung der Gemeinden, der Entwicklung von Wirtschaftsmodellen gemäß den Kulturen und eigenen Bedürfnissen, der Vertiefung von Demokratie, Dialog und der friedlichen Konfliktlösung verbunden,“ stellt Hernández Delgado fest.2 Die strukturelle Gewalt und die Auswirkungen des eskalierenden bewaffneten Konfliktes auf die Zivilbevölkerung sind die wichtigsten Ursachen für die Entwicklung von zivilen Widerstandsinitiativen, folgert sie in ihrer Studie über Basis-Friedensinitiativen.

Die kolumbianischen Widerstandsinitiativen, die gewaltfrei versuchen, ihre Menschenrechte durchzusetzen, haben gemeinsame Merkmale, sind aber auch sehr unterschiedlich. Es gibt Basis-Friedensinitiativen, die aus dem Spektrum von kleinbäuerlichen, indigenen und afrokolumbianischen Bewegungen kommen. In einigen Fällen sind sie eine Reaktion auf Fluchtsituationen und Organisationsprozesse von internen Vertriebenen. Andere Initiativen haben in ihrer Zusammensetzung einen gemischten Charakter. Im Frauen-Friedensnetzwerk Ruta Pacífica de las Mujeres (Frauen-Friedensroute) arbeiten 350 Organisationen aus verschiedenen Landesteilen zusammen. Die Koordinatorinnen kommen aus der mittelständischen NGO-Frauenszene. Es will eine feministische Perspektive des Pazifismus, der Gewaltlosigkeit und des Widerstands stärken. Es entstand 1996 als Antwort auf die Situation von Frauen in den Konfliktregionen und ist seit 2000 Teil des internationalen Netzwerkes der Frauen in Schwarz.3

All diese Initiativen lehnen militärische Lösungen ab, fordern eine Verhandlungslösung des bewaffneten Konfliktes und wehren sich gegen eine zunehmende Militarisierung des Alltags. Das Frauen-Friedensnetzwerk führt unterschiedliche Protestaktionen und Bildungsmaßnahmen für Frauen durch, bei denen die Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes und von Gewalt auf Frauen in Kolumbien analysiert werden.

Bei vielen sozialen Organisationen verschieben sich die Schwerpunkte der Arbeit infolge der Konfliktentwicklung in ihrer Region. Lebensbedrohliche Situationen, hervorgerufen durch Massaker, Morde, Verschwindenlassen und Zwangsvertreibungen, mindern die Möglichkeiten, den ursprünglichen Zielen nachzugehen und erfordern eine Konzentration der kollektiven Energien auf Überlebenssicherung. Beispielhaft für einen solchen Prozess ist die Organización Femenina Popular (OFP), eine über zwanzig Jahre alte Frauen-Basisorganisation in der Erdölstadt Barrancabermeja, die in den letzten Jahren der gewaltsamen Vereinnahmung der sozialen Organisationen in der Region des Magdalena Medio durch rechtsextreme Paramilitärs Widerstand leistete. Da die paramilitärische Intervention die Kontrolle der Bevölkerung und die Zerstörung der sozialen Organisationen anstrebte, war ein wichtiger Aspekt des Widerstandsprozesses, Räume – wie Frauen- und Flüchtlingszentren – trotz des Drucks nicht aufzugeben und Autonomie zu erhalten. Eine Arbeit, die ein hohes Maß an Zivilcourage erforderte.

Kampf um das Recht auf Land

Bedeutende zivile Widerstandsprozesse entwickelten sich aufgrund von gewaltsamen Vertreibungen an der Pazifikküste und in der Bananenanbauregion Urabá im Nordwesten Kolumbiens. Dort wurden ab Mitte der 1990er Jahre, mittels gemeinsam von Armee und Paramilitärs durchgeführten Militäroperationen, Tausende von kleinbäuerlichen Familien vertrieben. Im Pazifik-Tiefland wurde vor allem die afrokolumbianische Bevölkerung Opfer dieses brutalen Vertreibungsprozesses, bei dem über hundert Personen ermordet wurden. Die afrokolumbianischen Gemeinschaften befanden sich in dieser Zeit in einem Prozess der Umsetzung kollektiver Landrechte. Ihr Anspruch auf unveräußerbares Kollektivland geht auf eine Verfassungsreform von 1991 zurück. Ihre Rechte auf Territorium und Selbstbestimmung kreuzen sich heute aber mit »modernen« Entwicklungsplänen für die kolumbianische Pazifik-Region und den Interessen der Holz- und Agroindustrie.4

Die afrokolumbianischen Gemeinden beantworteten die Aggression mit unterschiedlichen Formen des zivilen Widerstandes. Einige Gruppen zogen sich tiefer in den Urwald zurück, wechselten ständig ihre Aufenthaltsorte und bauten auf kleinen, versteckten Flecken Bananen und Maniok an. Hunde und Hähne wurden getötet, damit durch ihr Bellen und Krähen nicht die Präsenz von Menschen verraten wurde.

Die Mehrheit der drangsalierten Bevölkerung verließ ihr Heimatgebiet und verbrachte Monate in Flüchtlingslagern, die von der Kirche und internationalen Hilfsorganisationen versorgt wurden. Trotz extrem traumatischer Erfahrungen – bei den Terroraktionen wurde Gemeindemitgliedern der Schädel mit Steinen zertrümmert, anderen der Kopf mit einer Machete abgeschlagen um dann damit Fußball zu spielen – begannen die internen Vertriebenen sich erneut zu organisieren. Sie versuchten, in ihrer Heimatregion, wenn auch nicht in ihrem direkten Heimatgebiet, zu bleiben und wanderten nicht in die Städte ab. Sie loteten Möglichkeiten der Rücksiedlung aus und planten diese in organisierter Form.

Bei den Widerstandsaktivitäten geht es in erster Linie darum, das konstitutionelle Recht auf Land nicht aufzugeben. Die gewaltsame und unrechtmäßige Übereignung des Territoriums ist das eigentliche Ziel der Vertreibungen. Territorium ist dabei zu verstehen als geographischer und kultureller Lebensraum, der kleinbäuerliche Landwirtschaft und Subsistenz ermöglicht. Im allgemeinen werden die Militäroperationen mit dem Kampf gegen die linksgerichteten Guerillagruppen begründet. Die Zivilbevölkerung in einer Region mit Guerilla-Einfluss wird von der Armee und den sie unterstützenden paramilitärischen Gruppen als Basis der Guerilla gesehen. Illegaler Einschlag durch Holzfirmen und das Anlegen von Ölpalmplantagen unmittelbar nach den Vertreibungen im Pazifik-Gebiet belegen aber, dass wirtschaftliche Interessen mit der staatlichen Aufstandsbekämpfung gekoppelt waren.5

Rücksiedlungen von Binnenflüchtlingen müssen nach UN-Richtlinien freiwillig sein. Die Sicherheitsvoraussetzungen für die Rückkehr in ein Heimatgebiet sind oft nicht gegeben, wenn es von den bewaffneten Akteuren weiter umkämpft ist. In vielen Fällen bietet sich die Armee als Schutz bei Rücksiedlungen an, auch dann, wenn sie direkt oder indirekt – durch Tolerierung der Paramilitärs – an den Menschenrechtsverletzungen und Vertreibungen beteiligt war. Eine Tätergruppe bekommt damit nicht nur eine Schutzfunktion sondern auch die Kontrollfunktion.

Basis-Friedensinitiativen, die in die Kategorie des zivilen Widerstands eingeordnet werden können, wehrten sich dagegen. Sie forderten für ihre Rücksiedlung zwar staatliche Präsenz und Unterstützung, aber nur die von zivilen Behörden. Militär und Polizei wurden aufgefordert, außerhalb der Wohn- und Arbeitsgebiete Schutz zu bieten, das heißt, die illegalen bewaffneten Gruppen (Paramilitärs und Guerilla) zu bekämpfen und die Zivilbevölkerung nicht in militärische Operationen einzubeziehen.

Die afrokolumbianischen Gemeinschaften vom Cacarica-Fluss im Pazifik-Tiefland, die sich im Flüchtlingslager als »Gemeinden für Selbstbestimmung, Leben und Würde des Cacarica-Beckens« (CAVIDA)6 konstituierten, arbeiteten für ihre Rücksiedlung einen komplexen Forderungskatalog aus, den sie mit dem Staat verhandelten. Teil ihrer Forderung war ein sog. Justiz-Haus (Casa de la Justicia), in dem Menschenrechtsbehörden und Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten sollten. Wenn (zivile) Staatsbedienstete in einer abgelegenen Landgemeinde präsent sind, ist deren Verhalten leichter transparent zu machen, das Argument der Zusammenarbeit mit illegalen bewaffneten Gruppen schnell entkräftet. Vertreter der Defensoría del Pueblo, der Ombudsstelle, können in Konfliktsituationen auf legaler Basis mit irregulären bewaffneten Gruppen in Kontakt treten. Die Gemeinden hatten auch beschlossen, keine direkten Kontakte zu Paramilitärs und Guerilla aufzunehmen, sondern falls erforderlich, diese nur über die dafür zuständigen Institutionen, wie das Internationale Rote Kreuz, herzustellen. Trotz dieser den Rechtsstaat stärkenden und die Legitimierung irregulärer Gruppen einschränkenden Vorschläge blieben die Gemeinden weiter Opfer von staatlich verantworteten Menschenrechtsverletzungen.

Die Einrichtung von humanitären Räumen

Die zivilen Widerstandsprozesse von Vertriebenen-Gruppen in der Region Urabá und dem Pazifik-Tiefland sind als »Friedensgemeinden« bekannt, ähnliche Mechanismen wenden jedoch auch indigene und afrokolumbianische Organisationen an. Die Vertriebenen-Gruppen bilden im Laufe ihres Organisierungsprozesses eine neue kollektive Identität heraus, die sich auch in ihren Namen ausdrückt. So bezeichnet sich eine kleinbäuerliche Gemeinde, die aus dem Weiler La Balsita im Kreis Dabeiba vertrieben wurde, als Gemeinde für Leben und Arbeit La Balsita.7 Die Vertriebenen vom Jiguamiandó-Fluss sprechen von sich als Gemeinden im Widerstand.

Infolge des Eskalierens des bewaffneten Konfliktes und zunehmender Verrohung rückte in den letzten Jahren die Einforderung der im Humanitären Völkerrecht verankerten Schutzprinzipien in Bezug auf die Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt vieler Aktionen. Sich als Zivilpersonen gegenüber regulären und irregulären Truppen neutral zu verhalten und sie nicht zu unterstützen, ist im eigentlichen Sinne keine Neutralität, sondern eine bewusste Positionierung zivilgesellschaftlicher Gruppen im Krieg. Es bedeutet eine aktive Umsetzung des Prinzips der Unterscheidung von KombattantInnen und ZivilistInnen und des Schutzes der Zivilbevölkerung, die das Völkerrecht für einen innerstaatlichen Konflikt vorschreibt.8 Die Mitglieder der Friedensgemeinde von San José de Apartadó (Urabá, Dept. Antioquia), die sich im März 1997 gründete, verpflichten sich mit ihrer Unterschrift in einem Ausweis, keine Waffen zu tragen und Bewaffneten keine Informationen zu geben.9

Nach Artikel 13, Protokoll II, genießt die Zivilbevölkerung Schutz vor den von Kampfhandlungen ausgehenden Gefahren. Dieser Artikel wird u.a. durch die Einrichtung von humanitären Räumen umgesetzt. Dabei handelt es sich um abgegrenzte Gebiete, zu denen bewaffneten Akteuren der Zutritt untersagt wird. Je nach Selbstverständnis der Gruppe oder Gemeinde, werden diese Orte als »Friedensgemeinde« oder »humanitäre Zone« sichtbar gemacht. Es sind selbst verwaltete Räume, die Regeln des Zusammenlebens werden von den zivilgesellschaftlichen Gruppen bestimmt. Diese Initiativen zum Schutz und zur Selbstbestimmung gehen von den Gemeinden aus, es sind keine externe, von staatlichen oder humanitären Akteuren vorgeschlagene Hilfsangebote. Die Gemeinden wollen verhindern, dass sie durch die Präsenz bewaffneter Akteure in ihren Wohn- und Arbeitsgebieten zur Zielscheibe des jeweiligen Gegners werden. Auch ist ihr Vorgehen eine anti-militaristische Antwort auf eine Kriegspolitik, die die Grenzen zwischen Zivilem und Militärischem verwischt, sowie auf das Verhalten aller bewaffneter Akteure, die versuchen die Zivilbevölkerung für militärische Ziele zu instrumentalisieren. Die Friedensinitiativen werden in einigen Fällen vor Ort von nationalen und internationalen Menschenrechts- und Friedensorganisationen begleitet, was ihren Aktionsradius erweitert.

Der Kampf gegen Straflosigkeit.

Eine weitere Komponente vieler Widerstandsinitiativen ist der Kampf gegen Straflosigkeit. Über Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen wird Buch geführt, diese werden öffentlich gemacht. Dabei finden nationale und internationale Instrumente des Menschenrechtsschutzes Anwendung. Das öffentlich machen von Menschenrechtsverletzungen durch Opfergruppen und sie begleitende Menschenrechtsorganisationen ist während eines Krieges mit einem hohen Risiko verbunden.

Das Engagement der meisten Gruppen, die zivilen Widerstand leisten, gilt nicht nur dem Widerstand gegen den Krieg, es hat einen weitergehenden emanzipatorischen Ansatz. Oft werden auf der Mikroebene gemeinschaftliche Formen des Zusammenlebens und Arbeitens praktiziert, auf der Makroebene reihen sich die Initiativen in den Kampf gegen die negativen Auswirkungen der Globalisierung und des neoliberalen Wirtschaftsmodells ein. Sie engagieren sich als politische Subjekte, aus der Perspektive der Opfer. Es ist ein ziviler und unbewaffnet geführter Kampf um die demokratische Transformation Kolumbiens, der im In- und Ausland von den Medien weitgehend ignoriert wird, obwohl er viele Menschenleben kostet.

Anmerkungen

1) Hernández-Delgado, Esperanza: Resistencia civil artesana de paz. Experiencias indígenas, afrodescendientes y campesinas. Bogotá: Editorial Pontificia Universidad Javeriana 2004, S. 32f.

2) Hernández-Delgado, Esperanza: s. o., S. 33.

3) Frauensolidarität in Kriegsgebieten. Seit neun Jahren besteht das kolumbianische Frauen-Friedensnetzwerk Ruta Pacífica de las Mujeres. In: ila 290, Nov. 2005, S. 43-44.

4) Diözesanstelle Weltkirche Trier, Arbeitsgruppe Menschenrechtsarbeit Kolumbien und Entwicklungspolitisches Landesnetzwerk Rheinland-Pfalz e.V. (Hg.): Kolumbien: Megaprojekte am Pazifik und der Weg zum Ethnozid. Auszüge einer Veröffentlichung der Kommission Leben, Gerechtigkeit und Frieden des Bistums Quibdó, Kolumbien. Trier 2004.

5) Ein Vertreter der Widerstandsgemeinde vom Jiguamiandó-Fluss im Pazifik-Tiefland Kolumbiens berichtet. In: ila 273, März 2004, S.43-45

6) Spanisch: Comunidades de Autodeterminación, Vida y Dignidad del Cacarica, CAVIDA

7) Comunidad de Vida y Trabajo La Balsita – Dabeiba

8) Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer nicht int. bewaffneter Konflikte (Protokoll II)

9) Zur Geschichte dieser Friedensgemeinde siehe: Gruppe Krisalida (Hg.): Eine Friedensinsel, die man nicht mehr zerstören kann. Aufzeichnungen eines Gesprächs mit Luis Eduardo Guerra Guerra, Friedensgemeinde von San José de Apartadó. Bonn, Februar 2006 (http://www.kolumbien-aktuell.ch/alledokumenten/06-02-21GedenkschriftLuisEduardoGuerra.pdf); Reis, Bettina: Eine gefährdete Friedensinsel. Internationale Mission besucht Friedensgemeinde von San José de Apartadó in Kolumbien. In: ila Nr. 292, Febr. 2006 (http://www.ila-web.de/artikel/ila292/sanjosedeapartado.htm)

Bettina Reis, Soziologin, ist bei der Lateinamerika-Zeitschrift ila für Kolumbien verantwortlich.

Die Erfindung der Erinnerung

Die Erfindung der Erinnerung

Geopolitik des Entsetzens und Ethik der Rekonstruktion

von Juan Jorge Michel Fariña

Die zeitgenössischen Katastrophen zeichnen eine Geopolitik des Entsetzens, deren Koordinaten zunehmend ungewisser werden. Von Erdbeben über Wassergewalt, von den ökonomischen und ökologischen Risiken bis zu vielfältigen Formen menschlicher Vernichtung erlebt die Menschheit täglich den Beweis ihrer Zerbrechlichkeit. Aber schon Sigmund Freud hatte es prophetisch geahnt: Während die Verletzlichkeit gegenüber der Natur Mitleid und Solidarität weckt, erzeugt die Aggression durch den Nächsten noch mehr Hass und Ressentiments. Sich mit dieser Besonderheit der »condition humaine« auseinander zu setzen, ist wohl die größte Herausforderung unserer Zeit.

Am 24. März 2006 wurden in Argentinien die Gedenkfeiern zu 30 Jahre Militärputsch begangen. Warum 30 Jahren, warum nicht fünf, fünfzehn oder schlicht dreizehn? Welche Neigung treibt uns dazu, die Erinnerung an diese oder jene Jubiläen zu knüpfen, wenn sich doch die Wirklichkeit nicht in Dekaden zeigt? Es handelt sich offensichtlich um den Wert einer Zeremonie, um die symbolische Wirksamkeit bestimmter Rituale einer Kultur, mit der wir die einmalige Geographie unserer gemeinsamen Geschichte festlegen.

Die drei Zeiten der Schuldbefreiung

Der Fall Argentiniens ist interessant, weil er ein gigantisches Unternehmen der Erfindung von Erinnerung voraussetzt. Es wurden aufwändige Versuche unternommen, die Vergangenheit zu begraben und dennoch hat das Erinnern überdauert. Das alles hat sich innerhalb gewisser Besonderheiten ereignet, die zum Nachdenken über die Originalität dieser Beharrlichkeit anregen.

Vor weniger als einem Jahr, im Juni 2005, hat der Oberste Gerichtshof in einem historischen Urteil die Verfassungswidrigkeit des Schlußpunktgesetzes (Ley de Punto Final) und des Befehlsnotstandsgesetzes (Ley de Obediencia Debida) festgestellt. Die Medien haben die Information über die ganze Welt verbreitet, es aber versäumt, ihr Publikum über den Sinn dieser Gesetze aufzuklären. Was bedeuten diese beiden Gesetze, die fälschlicherweise »Begnadigungsgesetze« genannt werden?

Es handelt sich um zwei Säulen einer Straflosigkeitsstrategie für die schlimmsten Verbrechen, die je in der Geschichte Argentiniens begangen wurden. Irgendwann habe ich einen Artikel mit der Überschrift »Die drei Zeiten der Schuldbefreiung« veröffentlicht. Diese drei Zeiten heißen Schlußpunktgesetz, Befehlsnotstandsgesetz, Begnadigung. Sie sind chronologische und logische Zeiten der größten juristisch-institutionellen Anordnung des Vergessens, die je entworfen wurde.

Vielen unserer Universitätsstudenten, die nach 1976 geboren sind, behagt es nicht, wenn wir von Dingen aus der Vergangenheit sprechen. Sie betrachten uns ein bisschen herablassend, so als wären wir alte Opas, die von einem fernen Spanischen Bürgerkrieg erzählen. Dennoch lohnt sich die Beschäftigung mit der Geschichte.

Im Dezember 1986, zwei Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur, war die Erforschung der finstersten Verbrechen der argentinischen Geschichte beachtlich voran geschritten. Man hatte überzeugende Beweise gegen rund 1.300 Militärs der verschiedenen Streitkräfte gesammelt, Beweise von Verbrechen wie illegalen Entführungen, Folter, Vergewaltigung, dauerhafter Freiheitsberaubung, Diebstahl, Entführung und Identitätstausch von Säuglingen sowie massiven Morden unter dem Vorwand des Verschwindenlassens (Desaparecidos). Diese 1.300 Militärs waren nur die Spitze des Eisbergs. Die Beweise, die zur Verurteilung genügt hätten, waren das Ergebnis jahrelanger Recherchen argentinischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen.

Doch es blieb weitaus mehr zu erforschen, und man schätzte damals, wenn die Ermittlungen konsequent und mit staatlicher Unterstützung weitergeführt worden wären, hätte man die Zahl der Schuldigen mindestens verdreifachen müssen.

Das war der Punkt, an dem die argentinische Regierung die Entscheidung traf, die Untersuchungen abrupt zu beenden. Das Schlusspunktgesetz (Ley de Punto Final) setzte der Suche nach Wahrheit ein zeitliches Limit. Es beschnitt den Corpus des Ermittelten auf den Zeitraum bis 1986 und erklärte damit jede spätere Anklage für nichtig. Das war die erste Phase der Schuldbefreiung.

Einige Monate später, zu Ostern 1987, erhob sich eine Gruppe der in diese humanitären Verbrechen verwickelten Militärs aus Protest gegen die Verurteilung. Es war der berühmte Putsch der »Bemalten Gesichter« (carapintadas). Seine Protagonisten bemalten sich Stirn und Wangen mit schwarzer Schuhcreme zum vermeintlichen Zeichen dafür , dass sie kämpfende Soldaten gewesen seien. Unter diesen Bedingungen gab die Regierung dem Druck nach und verkündigte das Befehlsnotstandsgesetz (Ley de Obediencia Debida), das fast alle jener 1.300 angeklagten Militärs der Verantwortung enthob, auf denen erdrückende Beweise für ungeheure Verbrechen lasteten. Das damals angeführte Argument lautete, sie hätten die Verbrechen auf Befehl ihrer Vorgesetzten ausgeführt, deshalb seien sie „nicht verantwortlich für das, was sie taten.“ (Originalgesetzestext: „No eran responsables de lo que hacían.“) Das war die zweite Phase der Schuldbefreiung.

Wir können uns drei konzentrische Kreise vorstellen. Der äußere Kreis, der weiteste von allen, stellt das Universum der Verantwortlichen für die Verbrechen dar. Mit dem Schlusspunktgesetz wurde dieser Kreis auf einen kleineren reduziert, auf ein Drittel des ersten, und mit dem Befehlsnotstandsgesetz entließ man automatisch fast alle in Freiheit. Als Schuldige blieben ein Dutzend hochrangiger Militärs übrig, ein letzter innerer Kreis, unbedeutend im Vergleich zum ersten Universum. Diese Militärs kamen vor Gericht und wurden in unterschiedlichem Maße für schuldig befunden. Wenige Jahre später, im Jahr 1990, kam die dritte Phase der Schuldbefreiung: die Begnadigung (Indulto). Alle wurden begnadigt, das heißt, es wurde ihnen verziehen.

Das bedeutet, dass innerhalb kurzer Zeit die Verantwortlichen für die größten Verbrechen unserer Geschichte freigelassen wurden, die meisten von ihnen wurden nicht mal vor Gericht gestellt.

Wenn in den Medien von der täglichen Unsicherheit in Argentinien gesprochen wird, von der Gewalt, mit der Kriminelle ihre Wut an Opfern auslassen, vom Mangel an Verfassungsgarantien für die Bürger, dann bringt das niemand mit diesem beschämenden Kapitel unserer Geschichte in Verbindung. Als entstünde die Gewalt von selbst und die Straflosigkeit sei aus einem Ei gekrochen.

Die Erfindung der Erinnerung

Doch das Bemerkenswerte ist, dass die Erinnerung überlebt hat. Wenn wir Argentinier über den Sinn nachdenken, uns unserer Vergangenheit zu erinnern, ist es hilfreich, den Faschismus in Deutschland zu Hilfe zu ziehen. Wir erleben heute eine Welle des Erinnerns an die Verbrechen des Dritten Reiches. Dabei reden wir hier nicht von Ereignissen der letzten 30 Jahre, sondern von jenen, die 60 Jahre her sind. Schauen wir auf die Erfahrungen, die das Kino bietet: »Der Untergang«, der die letzten Tage Hitlers im Bunker rekonstruiert und die erschreckenden Morde von Kindern durch einen Arzt der Nazis. »Der neunte Tag«, der auf tapfere Weise die Dimension einer Entscheidung eines Geistlichen in einem Konzentrationslager thematisiert, »Amen«, der Film des unvergesslichen Costa-Gavras, der die Grenzen von Wissenschaft und Technologie aufzeigt, die sich ergeben, wenn man sie jenseits jeglicher ethischer Horizonte denkt. Oder »Verschwörung«, jener Film, der die geheimen Akten jener Versammlung von 1942 ans Licht zerrt, mit denen die Auslöschung des jüdischen Volkes beschlossen wurde.

Wenn das Kino der Spiegel ist, in dem sich eine Gesellschaft betrachtet, was heißt das für das Gedenken? Heißt das vielleicht, dass in diesen extremen Nuancen des Horrors der Schlüssel zum Verständnis jenes zeitgenössischen Subjekts, des Argentiniers, liegt, der gerade versucht, unsere Demokratie aufzubauen? Denn tatsächlich ist es so: Wenn man ein Ausnahmezustands-Regime mit langen Gefängnisaufenthalten, Verschwundenen, Folter, gewalttätigen Formen des Exils und geheimen Internierungscamps erlebt, tritt etwas von der »condition humaine« ans Licht, das latent in der täglichen Erfahrung enthalten, aber nur in seinen schlimmsten Formen der Erkenntnis zugänglich ist. Es ist diese Gewalt, die auch in normalen Zeiten existiert, die uns in den Demokratien, die wir errungen haben, aber im täglichen Erleben aus den Händen gleitet. Wir müssen daraus folgern, dass die Erinnerung nicht nur eine moralische Verpflichtung gegenüber der eigenen Geschichte ist, sondern vielmehr ist sie der Ausweg, den die menschliche Psyche bietet, um mittels dessen, was sich als extrem darstellt, die blinden Stellen der Gegenwart jedes Einzelnen anzuschauen.

Das Erinnern, das Gedenken ist also keine Ergötzung an der Vergangenheit, sondern die Erfindung der Zukunft.

Die Rückkehr von Antigone

„Wie können Sie einem Häftling Information entlocken, wenn Sie ihn nicht foltern? (…) Glauben sie, wir hätten 7.000 erschießen können? Selbst wenn wir nur drei erschossen hätten…Schauen Sie mal, was der Papst für einen Aufstand gemacht hat, als Franco drei erschossen hatte. Die ganze Welt hätte sich auf uns gestürzt. Sie können keine 7.000 Menschen erschießen (…) Und wenn wir sie ins Gefängnis gesteckt hätten, was dann? Das hatten wir schon mal. Dann kommt eine neue Regierung und setzt sie frei.“

Diese Worte haben eine besondere Bedeutung, denn es sind die ersten, mit denen ein Unterdrücker der Militärdiktatur (1976-1983) explizit zugibt, dass die Verschwundenen im Geheimen umgebracht wurden. Es ist der argentinische General Díaz Bessone, der von der französischen Journalistin Marie-Monique Robin für den Dokumentarfilm »Todesschwadronen. Die französische Schule« interviewt wurde. Er wurde in Frankreich und anderen zwölf europäischen Ländern am 1. September 2005 gezeigt.

Jahrzehntelang haben die argentinischen Militärs die Existenz der Verschwundenen geleugnet, anfangs unter der Vorgabe, die Menschen seien noch am Leben und heimlich ins Exil gegangen, später mit dem Eingeständnis einiger weniger Fälle, die als »Exzesse« bezeichnet wurden. Die Enthüllungen im erwähnten Film zeigen, dass es sich um einen systematischen Plan handelte: Man mordete im Geheimen und entfernte die Körper der Opfer, um jegliche Form von Begräbnisritual von Seiten der Familie zu verhindern.

Diese grimmige Wut auf den politischen Gegner über den Tod hinaus ist nicht neu. Schon vor 2.500 Jahren greift Sophokles in seiner »Antigone« ein ähnliches Thema auf. Kreon, oberster Befehlshaber des thebischen Heeres, verbietet das Begräbnis von Polyneikes. Dieser war beim Versuch, die Stadt anzugreifen, um seine Rechte auf den Thron von Theben zu verteidigen, ums Leben gekommen. Das Edikt von Kreon hatte die Funktion einer Strafe und gleichzeitig einer Drohung an jene, die versuchten, die Staatsgewalt herauszufordern. Deshalb ist Antigones Tat, gegen die Gesetze der Stadt den Körper ihres toten Bruders zu begraben, im Lauf der Geschichte zum Symbol für ethisches Handeln avanciert.

Das Verschwindenlassen der Körper ist – zusammen mit der Entführung und dem Identitätstausch von Kindern – zum »Markenzeichen« der argentinischen Militärdiktatur geworden. Gleichzeitig war es, auch wenn seine Verfechter es nicht wussten, der Anfang vom Ende des eigenen Regimes. Denn eine Mutter, äußerst empfindlich angesichts der Bedrohung ihrer Leibesfrucht, wird nie ihr Kind aufgeben. Dieser Kern von »Antigone« ist es, der in den Demonstrationen der Mütter rund um die Plaza de Mayo wiederkehrt, ebenso wie in allen anderen politischen oder sozialen Formen des endlosen Strebens nach Gerechtigkeit.

Ethik und Ästhetik der Erinnerung

Zweifellos spielt die Kunst in der Strategie der Rekonstruktion die Hauptrolle. Denn es gibt nichts zu rekonstruieren, wenn Gedächtnis und Gerechtigkeit nicht vorhanden sind. Die Literatur, die Musik, die Bildhauerei, das Kino und das Theater zeigen bewegende Offenbarungen dieser Übung einer kollektiven Erinnerung.

Einer der Schriftsteller, die das Thema der Erinnerung am tiefsten und sicherlich am bewegendsten aufgegriffen haben, ist der argentinische Dramatiker Eduardo Pavlovsky. Sein Werk »El señor Laforgue« wurde 1981 während der Militärdiktatur aufgeführt, als die Anerkennung gering und die Umstände noch sehr riskant waren. Die Geschichte musste auf die Insel Haiti unter dem Regime von Papa Doc verlegt werden. Das Stück beschreibt die Geschichte eines Kommandanten der Luftwaffe, der die Aufgabe hatte, das Verschwinden politischer Gegner zu organisieren. Die angewandte Technik war fürchterlich: Die Verdächtigen wurden bewusstlos an Bord eines Militärflugzeuges gebracht und unter Vollnarkose ins Meer geworfen. Ein nachgeworfenes schweres Gewicht sollte die Körper versenken – eine »saubere« Technik des Verschwindenlassens.

Das Stück von Pavlovsky nähert sich dem Thema auf überraschende Weise: Kommandant Laforgue geht zu einer Routinebesprechung in ein Militärzentrum und läuft dort zufällig einem Überlebenden seiner nächtlichen Flüge über den Weg. Der Mann war mit einer zu niedrigen Narkosedosis ins Meer geworfen worden, er wurde auf wundersame Weise von Fischern gerettet. Ein Fehler des Systems: Nicht alle Opfer wurden sorgfältig genug eliminiert. Einige Verschwundene tauchten wieder auf und sind ein gefährliches lebendes Zeugnis.

Die politische Situation auf der Insel beginnt sich zu verändern, unter der Hand reden die Leute, und es kursieren Gerüchte über die nächtlichen Flüge der Militärs. Die Person des verantwortlichen Piloten wird bekannt, die Oberen sind beunruhigt. Drastische Maßnahmen müssen ergriffen werden. Mit der Präzision eines Uhrwerks wird das Verschwinden des Kommandanten geplant. In einer modernen Militärklinik leitet man seine Metamorphose ein: Die Physiognomie wird verändert, er bekommt eine neue Familie, seine Persönlichkeit wird verwandelt, sein Gedächtnis ausgelöscht. Die Behandlung verläuft langsam und schwierig. Die Erinnerungen von Laforgue sind sehr hartnäckig. Die Sitzungen müssen intensiviert, neue Technologien hinzugezogen werden. Gleichzeitig spitzt sich die politische Lage auf der Insel zu: Der Diktator fällt schlagartig in Ungnade, das Volk organisiert seine Wut. Die leisen Gerüchte werden zu lauten Vorwürfen. Ein Detail des Stücks: Aufgrund der Finanzkrise muss die Regierung Blei beim Versenken der Körper sparen, die Ereignisse überstürzen sich. Ein schweres Gewitter peitscht über die Insel. Das aufgewühlte Wasser treibt die Leichen an den Strand, wie in einem Albtraum kehren die Körper der Verschwundenen zurück.

Das Regime ist verzweifelt. Es gibt keinen Ausweg mehr, Laforgue ist gefährlicher denn je geworden. Seine Verwandlung muss abgeschlossen und er aus dem Land gebracht werden. In der Klinik trifft man die Vorbereitungen für die Reise Laforgues und seiner neuen Familie in die Vereinigten Staaten. Im letzten Moment schlägt das Gedächtnis unerbittlich zu: Als Laforgue einsteigen soll, spült der Anblick des Flugzeugs die Erinnerungen des Kommandanten wieder hoch und zeigt ihm wie im Spiegel das finstere Ende seiner ehemaligen Passagiere. Sein Schrei um Erbarmen „Nicht ins Flugzeug! Nicht ins Flugzeug!“ beendet das Stück mit einem Zeugnis gegen das Vergessen.

Erinnerung und Gerechtigkeit

Pavlovsky zeichnet meisterhaft die Strategie des Regimes nach, doch vor allem die Risse darin, die Fehler, die seine Grenzen offenbaren und seine Widersprüche. Es geht, wie anfangs angedeutet, um die Beharrlichkeit der Erinnerung. Je ausgetüftelter, je klüger die Anordnung des Vergessens, umso größer ist der Einfallsreichtum der Erinnerung. Wie in jedem Stück von Pavlovsky nimmt »El señor Laforgue« auf subtile, ästhetische Weise die Vorgänge vorweg, die man später in der gesellschaftlichen Wirklichkeit wiedererkennt. Im Text sind nur die Feinheiten , die kleinen Details vergrößert, die die geheimen Besonderheiten der »condition humaine« ausmachen.

Man erkennt die zahlreichen Facetten der Vernichtung, den Kampf um die Vermehrung von Macht ohne Rücksicht auf die Opfer, das Bemühen um »Sauberkeit« einer raffinierten Technik, die jede Spur verwischen will (vollständiges Verschwindenlassen), die unpersönliche Bürokratie, die das Verschwindenlassen des Henkers in die unendliche Kette von Befehlen einreiht, und schließlich die bürokratisch-politische Technik, die die Verantwortlichkeit des Flüchtigen der Stunde auf ein Minimum reduzieren will.1

Der argentinische Psychoanalytiker Fernando Ulloa hat einmal behauptet, Gerechtigkeit herzustellen sei wie lieben. Es gebe Höhepunkte und tagtägliches Einerlei.

Nach dreißig Jahren Militärputsch mag es merkwürdig erscheinen, dass wir den Eintritt in diese schreckliche Nacht feiern und nicht den Ausgang der Nacht. Doch wenn man einmal die Ausgangsmöglichkeiten erfasst hat, ist das Herz des Labyrinths das Beunruhigendste. Darauf richtet sich die Beschwörung der Erinnerung.

Anmerkungen

1) Zur Beschreibung dieser Mechanismen siehe Guillermo Maci und Juan Jorge Fariña: Tesis analiticas sobre la desaparicion de personas tal como se presentan en la experiencia clinico-institucional, Buenos Aires, 1983.

Juan Jorge Michel Fariña ist Professor für Psychologie, Ethik und Menschenrechte an der Universität Buenos Aires und leitet an der Technischen Universität das Programm »International Bioethical Information System«. Von 1981 bis 1992 war er Direktor des Programms zur psychologischen Unterstützung der Angehörigen von Verschwundenen und politischen Häftlingen (MSSM-Medicins du Monde). Übersetzung aus dem Spanischen: Dr. Daniela Engelhardt