Das Investigative Commons
Das Investigative Commons
Aufarbeitung von Verbrechen durch zivilgesellschaftliche Organisationen
von Anne Schroeter
Mit der Gründung des »Investigative Commons« haben zivilgesellschaftliche Organisationen und Betroffene eine neue Möglichkeit, Taten und Täter*innen zu ermitteln und Verbrechen aufzuarbeiten. Der multidisziplinäre Ansatz der Projekte erlaubt eine neuartige inhaltliche und visuelle Verzahnung der Beweissicherung. Der Beitrag skizziert die Entwicklung des Investigative Commons und seinen Beitrag zur Ermittlung von Täter*innen.
Seit seiner Gründung sieht das »European Center for Constitutional and Human Rights« (ECCHR) sein Ziel darin, von Menschenrechtsverletzungen betroffene Menschen dabei zu unterstützen, dass die Verantwortlichen für diese Taten zur Verantwortung gezogen werden. Das ECCHR arbeitet dazu in vier Programmen zu den Themen Völkerstraftaten, Wirtschaft und Menschenrechte, Migration sowie dem Institut für juristische Intervention. Primat all dieser Programmbereiche ist das »Kehren vor der eigenen Haustür« – das ECCHR nimmt sich vor allen Dingen der Handlungen europäischer Akteur*innen an oder stellt gemeinsam mit Betroffenen einen Bezug zu den jeweiligen europäischen Rechtsrahmen her. Dabei ist es sich der Ambivalenz des Rechts bewusst – einerseits als Ausdruck historischer Ungleichheiten und gleichzeitig als Mittel, um nun für die Überwindung eben jener Ungleichheiten zu streiten und eine entsprechende Rechtspraxis auszugestalten. Bei der Verfolgung von Täter*innen kommt auch das klassische nationale und internationale Strafrecht zum Einsatz. Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen kann aber ebenso von Staaten vor internationalen Gerichten und UN-Mechanismen sowie von Unternehmen vor zivilen Gerichten eingefordert und übernommen werden.
Einen ähnlichen Ansatz nutzt auch die Forschungseinrichtung »Forensic Architecture«, die mit marginalisierten und diskriminierten Individuen und Gruppen zusammenarbeitet, die von Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung in besonderem Maße betroffen sind. Die Forscher*innen von Forensic Architecture erstellen Sachverständigenberichte zur Verwendung in Gerichtsverfahren. Zusätzlich bedient sich Forensic Architecture weiterer öffentlicher Foren, um ihre Fallberichte vorzustellen und Fehlverhalten anzuprangern. Die Projektbeteiligten nutzen dafür beispielsweise künstlerische Aktionen, Medienberichte oder sogenannte Bürger*innen-Tribunale (Citizen-Tribunals).
Die Idee des »Investigative Commons«
Forensic Architecture und das ECCHR haben in den letzten Jahren gemeinsam eine Reihe von Projekten verwirklicht, unter anderem zu tödlichen Drohnenangriffen in Pakistan, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen in Syrien, tödlicher Fahrlässigkeit von Unternehmen in Pakistan sowie Gewalt gegen Migrant*innen an den Grenzen der EU.1 Daraus entstand eine Idee für eine neue Art der Menschenrechtsarbeit, die 2014 in der Ausstellung »FORENSIS« im Berliner Haus der Kulturen der Welt vorgestellt wurde: gemeinsame Untersuchungen, vorgebracht im Rahmen von innovativen juristischen Strategien, die das Ziel haben, Verantwortung und Rechenschaftspflicht für Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Foren – beispielsweise den Medien, Kultureinrichtungen oder Gerichtssälen – einzufordern.2 Im Jahr 2020 eröffneten die beiden Organisationen dann ein gemeinsames Büro in Berlin, in dem diese interdisziplinäre Arbeit weiter ausgebaut werden soll. Es trägt den Namen »Investigative Commons«, um auszudrücken, dass Untersuchungen im menschenrechtlichen Bereich zwingend die gemeinsame Arbeit unterschiedlicher Fachleute innovativ kombinieren und ergänzen muss, wenn sie gegen post-faktische Narrative bestehen will.
Die Gründung des Investigative Commons sieht sich als Antwort auf die Entwicklungen der letzten Jahre, in denen rassistische und nationalistische Tendenzen und Diskurse genutzt werden, um gewaltvolle Handlungen und Wahrheiten zu verschleiern. Während das Wort „forensis“ ursprünglich einen öffentlichen Raum bezeichnete, in dem Fakten und Wissen von Interesse für die Gemeinschaft ausgetauscht wurden, ist die heutige Verwendung des Wortes oft auf das Vortragen von Beweismitteln in Form von staatlichen Ermittlungserkenntnissen und Sachverständigen im Rahmen von streng geregelten Gerichtsverfahren zugespitzt. Durch das Investigative Commons soll zu diesem staatlichen Monopol ein Gegengewicht gebildet werden. Es soll also auf Grundlage verschiedener Disziplinen und Fachwissen Wahrheit jenseits des Gerichtsverfahrens faktenbasiert aufbereitet, visualisiert und öffentlich kommuniziert werden. Diese Form der Menschenrechtsarbeit will es der Zivilgesellschaft ermöglichen, für die Wahrheit zu kämpfen – und es so als Gemeingut (»Commons«) verstanden wissen. Da die beiden Trägerorganisationen langjährige Erfahrung in der öffentlichen Präsentation ihrer Ergebnisse haben, werden auch die vom Investigative Commons erstellten Fallstudien nicht nur in Gerichtssälen und bei Untersuchungskommissionen, sondern auch bei öffentlichen Aufarbeitungsbemühungen, in interaktiven Medien und bei Ausstellungen eingesetzt werden.
Interdisziplinäre Kooperation
Das Investigative Commons ist daher eine multidisziplinäre Zusammenarbeit, die ermittelnde Gruppen (NGOs, Investigativjournalist*innen und andere) mit Anwält*innen, Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen, Architekt*innen, Filmemacher*innen und Kultureinrichtungen zusammenbringt. Es fördert neben der konkreten Fallarbeit auch die konzeptionelle und technische Forschung, den Austausch von Fachwissen und den Aufbau von Kapazitäten. Um eine Kerngruppe von Mitarbeitenden herum werden befreundete Organisationen und Kolleg*innen Forschungs- oder Kooperationsaufenthalte absolvieren können und neue Untersuchungstechniken, neue Formen der Beweisführung und neue Foren der Interessenvertretung und Prozessführung erarbeiten. Die daraus resultierenden Veröffentlichungen sollen Wege zu neuen Methoden der Rechenschaftspflicht in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen, Umweltgewalt und koloniale Hinterlassenschaften ebnen.
Zum Beispiel werden im Moment Methoden zur Aufarbeitung kolonialer Verbrechen entwickelt, die bisher nicht angemessen forensisch untersucht wurden. Dabei werden zur Verfügung stehendes historisches Material und aktuelle Satellitenbilder in einem Kartierungsprozess übereinander gelegt und diese visuellen Ergebnisse in die Erinnerungen von Überlebenden und deren Nachfahren eingebettet. Außerdem arbeiten wir weiter an Techniken der Open-Source Recherche. Mit Hilfe von öffentlich (und häufig im Internet) zugänglichen Daten können Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung korrekt verortet werden. Mittels dieses Prozesses der Geolokalisierung können also Tatorte identifiziert und weitere Anhaltspunkte für mögliche Verantwortliche und Tatabläufe gewonnen werden.
Zu den Gründungsprojekten des Investigative Commons gehören Untersuchungen zur Verantwortung von europäischen Unternehmen für Kriegsverbrechen im Jemen (siehe dazu weiter unten), zum deutschen Völkermord an den Herero und Nama und zu den gewaltsamen »Pushbacks« von Migrant*innen aus Griechenland in die Türkei.
Entwicklung neuer Methoden
Im Jahr 2012 kooperierten Forensic Architecture und das ECCHR zum ersten Mal – lange vor der Gründung des Investigative Commons. Damals, kurz nach dem Beginn des massiven Einsatzes bewaffneter Drohnen im sogenannten »War on Terror« der US-Regierungen, wurden bei solch einem Einsatz im pakistanischen Mir Ali am 4. Oktober 2010 ein deutscher Staatsbürger sowie vier weitere Personen getötet. Nachdem der Generalbundesanwalt zunächst Ermittlungen einleitete, kritisierte das ECCHR den schnellen Abschluss der Ermittlungen und die fortdauernde Straflosigkeit (vgl. ECCHR 2013). Forensic Architecture und das ECCHR konnten gemeinsam mit einer überlebenden Zeugin und ihren Erinnerungen den Vorfall detailliert rekonstruieren (vgl. Forensic Architecture 2013). Diese Fallstudie wurde anschließend in mehreren Ausstellungen gezeigt und war der Gründungsmoment einer seither von Forensic Architecture weiterentwickelten Interview-Methodik des „situated testimony“ (Weizman 2020). Die Untersuchung und das Ergebnis wurden außerdem vom UN-Sonderberichterstatter zu Menschenrechten und Terrorismusbekämpfung in einem Bericht sowie vor der Generalversammlung der UN präsentiert (vgl. HRC 2014, S. 12f.). Er stellt damit ein erstes Beispiel der kollaborativen Menschenrechtsarbeit verschiedener NGOs vor verschiedenen Foren – Gerichten, UN-Organen und Kulturinstitutionen – dar.
Von besonderer Bedeutung ist außerdem die Aufarbeitung des Brandes in der Textilfabrik Ali Enterprise in Karachi im September 2011 bei dem 259 Personen starben. Gemeinsam mit und im Namen von Hinterbliebenen und Überlebenden reichte das ECCHR eine Schadensersatzklage gegen einen der Hauptabnehmer der Textilfabrik, den deutschen Textildiscounter KiK, beim Landgericht Dortmund ein (vgl. ECCHR 2019). Seinerzeit wurde Forensic Architecture beauftragt, den Brand selbst sowie die tödlichen Auswirkungen der zugestellten oder verschlossenen Fluchtwege nachzustellen (vgl. Forensic Architecture 2018). Basierend auf Untersuchungsberichten zum Fabrikbrand, offiziellen Unterlagen und gesetzlichen Bestimmungen zum Brandschutz in Pakistan, Zeug*innenaussagen sowie Satelliten- und Fotoaufnahmen des Fabrikgebäudes, zeigt die Untersuchung das Fehlen oder fehlerhafte Funktionieren von Treppen, Notausgängen, Alarmsirenen und Feuerlöschern im Fabrikgebäude. Forensic Architecture kommt zu dem Schluss, dass viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn Sorgfaltspflichten im Brandschutz eingehalten worden wären. Aus Sicht der beiden Organisationen zeigte die Untersuchung die Verantwortung von KiK als Hauptproduzent in der Fabrik auf, der seinen Einfluss nicht genutzt hatte, um auf bessere Arbeits- und Feuerschutzmaßnahmen zu bestehen. In Deutschland war dieser Fall wegweisend für die Bemühungen eines Bundesgesetzes zu menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten (das sogenannte »Lieferkettengesetz«), das 2021 verabschiedet wurde.
Völkerrechtsverbrechen im Jemen
Im Juni 2021 wurde das erste Projekt des neugegründeten Investigative Commons vorgestellt. Es basiert auf einer Strafanzeige, die das ECCHR gemeinsam mit Mwatana for Human Rights und weiteren europäischen Partnerorganisationen im Dezember 2019 beim Internationalen Strafgerichtshof eingereicht hatte. Die Anzeige benannte die strafrechtliche Verantwortlichkeit von staatlichen Stellen und Rüstungskonzernen in fünf europäischen Ländern für ihre Waffenexporte nach Saudi Arabien und für die mit diesen Waffen begangenen völkerrechtswidrigen Luftangriffe.
Die interaktive Online-Plattform, die in der Folge von Forensic Architecture und dem ECCHR gemeinsam mit den Organisationen Bellingcat und Yemeni Archive entwickelt wurde, zeigt den Fußabdruck eben dieser europäischen Waffenexporte im Krieg in Jemen.3 Sie stellt Luftangriffe zwischen 2015 und 2020 auf einer Landkarte und einem Zeitstrahl dar und setzt diese jeweils in Beziehung zu europäischen Rüstungsfirmen. Diese Beziehung ist entweder nachgewiesen, wenn am Tatort identifizierbare Trümmerteile der Waffen aufgefunden wurden, oder vermutet, da die die technische Ausstattung der saudischen Luftwaffe darauf hinweist, dass europäische Waffen eingesetzt wurden. Nutzer*innen der Plattform können die Frequenz der Luftangriffe mit anderen relevanten Ereignissen zum Export europäischer Waffen und der Verletzung des humanitären Völkerrechts abgleichen und dabei feststellen, dass (a) völkerrechtswidrige Luftangriffe im Jemen keine Seltenheit oder Einzelfälle sind; und dass (b) dies weithin bekannt war und weder zu einer Einstellung oder dem Widerruf von Exportgenehmigungen noch zu einem Aussetzen der Exporte aus Europa geführt hat.
Die Plattform visualisiert also die Beweisführung, die in der Strafanzeige zum Internationalen Strafgerichtshof vorgetragen wurde. Auf dem Zeitstrahl ist erkennbar, dass sowohl europäische Rüstungsfirmen als auch Regierungen von Anfang an von den Verbrechen Kenntnis hatten, daraus aber die einzig richtige Konsequenz nicht gezogen wurde: der Stopp der Waffenexporte an die saudisch geführte Koalition. Die Strafanzeige fordert daher Konsequenzen ein und will das System der europäischen Waffenexporte und die damit begangenen Kriegsverbrechen aufzeigen.
Identifizierung von Täter*innen
Inwiefern die Weiterentwicklung der unterschiedlichen oben angesprochenen Methoden und der Kooperation im Rahmen des Investigative Commons zur besseren Identifizierung weiterer Täter*innen führen kann, die dann auch vor Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden, bleibt abzuwarten. Jedenfalls zeigen die oben aufgeführten Beispiele schon jetzt, dass Täter*innen keinesfalls immer Individuen sein müssen. Auch wenn hinter Unternehmen im Endeffekt natürliche Personen stehen, können auch juristische Personen für Unrecht juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Ähnlich auch staatliche Politiken, die zwar von Menschen gemacht werden, aber durch Verfahren der Staatenverantwortlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden können.
Außerdem ist ersichtlich, dass es sich bei vielen Tatkomplexen um arbeitsteilig organisierte und aufgeteilte Kriminalität handelt. Zum einen sollen natürlich Führungspersönlichkeiten dieser Systeme zur Anklage gebracht werden. Zum anderen sollen durch das Investigative Commons aber auch das jeweils dahinterstehende Zusammenspiel verschiedener Akteur*innen und Strukturen bei der Begehung von Menschenrechtsverletzungen und Umweltverbrechen durchleuchtet, der Öffentlichkeit aufgezeigt und letztendlich zur Verantwortung gezogen werden. Beim Aufklären von systematischen Menschenrechtsverletzungen oder Umweltgewalt geht es also nicht zwangsläufig darum, individuelle Täter*innen zu identifizieren und einem strafrechtlichen Verfahren zuzuführen. Vielmehr ist es notwendig, alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um die Taten bekannt zu machen, aufzuklären und dann mit verschiedenen Mitteln Verantwortung einzufordern – vor Gerichten, in den Medien oder in Museen.
Ausblick
Neben der Fallarbeit wird das Investigative Commons auch öffentlich eine kritische Debatte über aktuelle politische Herausforderungen, Technologie, Menschenrechte, Medien und Ästhetik fördern – in offenen Seminaren für ein breiteres Publikum und in geschlossenen Workshops. Den ersten Anstoß dazu gab die Ausstellung »Investigative Commons« im Sommer 2021 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Darauf folgte im Oktober 2021 die Konferenz »Socializing Evidence«, die unterschiedliche forensische Analysemethoden und ihre Nutzbarkeit in verschiedenen künstlerischen und juristischen Interventionen diskutierte. Weitere werden folgen.
Anmerkungen
1) Alle geschilderten Beispiele sind über die Homepages von Forensic Architecture (forensic-architecture.org) und dem ECCHR (ecchr.eu) zu finden.
2) Die Ausstellung »Forensis« von 2014 ist immer noch über die Homepage des HKW abrufbar: hkw.de.
3) Die Plattform lässt sich unter yemen.forensic-architecture.org finden.
Literatur
ECCHR (2013): Gezielte Tötung durch Kampfdrohnen. Gutachterliche Stellungnahme zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch den Generalbundesanwalt. Oktober 2013. Berlin.
ECCHR (2019): KiK-Verfahren belegt: Deutschland muss Haftungspflichten von Unternehmen grundlegend reformieren. Pressemitteilung, 21.5.2019.
Forensic Architecture (2013): Drone strike in Mir Ali. Homepage, 16.4.2013.
Forensic Architecture (2018): The Ali Enterprise factory fire. Homepage, 30.01.2018.
Human Rights Council (2014): Report of the Special Rapporteur on the promotion and protection of human rights and fundamental freedoms while countering terrorism, Ben Emmerson. A/HRC/25/59, 11.3.2014.
Weizman, E. (2020): The Architecture of Memory. Interview von Nick Axel. E-flux Architecture, November 2020.
Anne Schroeter ist Koordinatorin des Investigative Commons beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR).