Jenseits von NAVCO

Jenseits von NAVCO

Neue Datensätze zu zivilem Widerstand

von Julia Nennstiel

In der quantitativen Forschung zu zivilem Widerstand ebenso wie in friedensbewegten Bezugnahmen auf diese Forschung nimmt die von Chenoweth und Stephan publizierte Studie »Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict« (2011) und der ihr zugrundeliegende »Nonviolent and Violent Campaigns and Out­comes«-Datensatz (NAVCO) eine prominente Rolle ein. Doch stehen mittlerweile zahlreiche weitere Datensätze zur Verfügung, die sich zur quantitativen Untersuchung zivilen Widerstands eignen. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über diese Datensätze. Ein kritischer Vergleich mit NAVCO zeigt, dass die jüngeren Datensätze es ermöglichen, neue bewegungsrelevante Forschungsfragen zu zivilem Widerstand zu stellen und alte Fragen differenzierter zu bearbeiten.

Die Studie von Chenoweth und Stephan (2011) lässt sich wohl als ein »neuer Klassiker« der empirischen Forschung zu zivilem Widerstand bezeichnen. Sie beanspruchte, die Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands quantitativ zu prüfen – mit dem wohlbekannten und häufig zitierten Befund, dass „gewaltfreie Widerstandskampagnen fast doppelt so häufig kompletten oder partiellen Erfolg erzielten, wie ihre gewaltsamen Alternativen“ (ebd., S. 7). Als Kernstück des Projekts diente der NAVCO-Datensatz, der weltweit zwischen 1900 und 2006 erfolgte gewaltsame und gewaltfreie Widerstandskampagnen auflistete und deren jeweilige Dauer, Größe, ihren Ausgang u.a. erfasste.

Die Studie erhielt seither beachtliche wissenschaftlich-politische Aufmerksamkeit. Zum einen schien ihre quantitative Analyse der Forschung zu zivilem Widerstand eine bis dato nicht gegebene »methodische Wissenschaftlichkeit« im Sinne der US-amerikanisch geprägten empirischen Politikwissenschaft zu verleihen. Damit stieß sie eine Vielzahl neuer Untersuchungen zu zivilem Widerstand an, vor allem auch in Forschungskreisen, die sich dieser empirisch-quantitativen Schule verschrieben haben. Zum anderen fand die Studie von Chenoweth und Stephan weitreichende Resonanz unter (friedens-)politisch aktiven Menschen. Neben Klassikern der Gewaltfreiheit wie etwa Mohandas Gandhi oder Gene Sharp zitiert, dient sie als der empirische Nachweis der Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands. Als besonderer Vorzug erscheint dabei die durch den globalen Datensatz gewonnene Universalität und Generalität der Ergebnisse. Sowohl für empirische Forschung als auch für aktivistisch-politische Bezugnahmen dienen die NAVCO-Datensätze – welche mittlerweile aktualisiert (NAVCO 1.3 umfasst den Zeitraum 1900-2019) und um alternative Analyseeinheiten wie Widerstandskampagnen-Jahre (NAVCO 2.1, Chenoweth und Lewis 2013) sowie -Ereignisse (NAVCO 3.0, Chenoweth et al. 2018) erweitert worden sind – nach wie vor als Kernreferenz.

Diese Popularität verdeckt, dass mittlerweile eine ganze Bandbreite weiterer Datensätze vorhanden ist, die sich für empirische Untersuchungen über zivilen Widerstand nutzen lassen (vgl. Tabelle, S. 14). Viele dieser Datensätze sind im Vergleich zu NAVCO begrenzt hinsichtlich Zeitraum, Region oder Art der erfassten Widerstandsbewegungen – häufig ermöglichen sie aber differenziertere, vielseitigere oder methodisch sauberere Analysen als die NAVCO-Datensätze. Ohne die Notwendigkeit qualitativer Forschung zu zivilem Widerstand in Frage zu stellen, möchte ich mich im Folgenden auf diese neuen Datensätze fokussieren und ihre Bedeutung für bewegungsrelevante quantitative Forschung diskutieren.

Datensatz

Quelle

Kodierungseinheit

Geographie der Datenbank

Zeitlicher Umfang

Fallzahl

NAVCO 1.3

Chenoweth und Stephan 2011

Kampagnen

global

1900-2019

622

NAVCO 2.1

Chenoweth und Lewis 2013

Kampagnen-Jahre

global

1945-2013

(384 Kamp.)

NAVCO 3.0

Chenoweth et al. 2018

Ereignisse

26 Staaten (weltweit)

1990-2011

REVMOD

Acosta 2019

Organisations-Jahre

global

1940-2014

(536 Org.)

ARC

Butcher et al. 2022

Organisations-Jahre

Afrika

1990-2015

3,407 (1,426 Org.)

MMD

Clark und Regan 2013

Ereignisse

162 Staaten weltweit

1990-2020

SRDP

Cunningham et al. 2020

Organisations-Jahre

global

1960-2005

(1,124 Org.)

SMD

Griffiths 2015

Bewegungs-Jahre

global

1816-2011

1279 (315 Bew.)

SMD(b)

Griffiths und Wasser 2019

Bewegungen

global

1816-2011

315

STCNA

Griffiths 2021

Bewegungen

global

SCAD

Salehyan et al. 2012

Ereignisse

Afrika, Mittel- u. Südamerika

1990-2017

SDM

Sambanis et al. 2018

Bewegungen

global

1945-2012

464

MMAD

Weidmann und Rød 2019

Ereignisse

93 (nicht-demokratische) Staaten

2003-2019

MAROB

Wilkenfeld et al. 2011

Organisations-Jahre

West Asien und Nord Afrika

1980-2004

(118 Org.)

ACLED

Ereignisse

global

(abhängig je Staat, Beginn zwischen 1997 und 2020, bis Gegenwart)

Tabelle: Übersicht zur Verfügung stehender Bewegungsdatenbanken; Zusammenstellung: Julia Nennstiel

Erfolg/Misserfolg

Ein entscheidender Mangel der NAVCO-­Datensätze ist, dass sie den Ausgang einer Widerstandskampagne nur auf einer eindimensionalen Skala erfassen. Eine Kampagne hat entweder Erfolg, partiellen oder keinen Erfolg. Einige der neueren Datensätze bieten deutlich detailliertere Angaben über den Ausgang eines Widerstands.

Dies gilt etwa für das »Secessionist Movements Dataset« (Griffiths 2015) und das »Secessionist Methods Dataset« (Griffiths und Wasser 2019), sowie das »Self-Determination Movements Data­set« (Sambanis et al. 2018). Letzteres beispielsweise unterscheidet hinsichtlich Widerstandsbewegungen, die auf politische Selbstbestimmung abzielen, ob sie territoriale Gewinne, Zugang zu staatlicher Macht, kulturelle oder sonstige politische Zugeständnisse erzielt haben, oder aber Einschränkungen kultureller oder politischer Art erfahren. Die beiden erstgenannten Datensätze enthalten unter anderem Informationen darüber, ob die Forderungen einer Bewegung ignoriert, (verbal) abgelehnt oder gewaltsam unterdrückt wurden.

Mit solch einer nuancierten Unterscheidung verschiedener Arten des Ausgangs einer Widerstandsbewegung werden auch differenziertere Analysen der Wirksamkeit gewaltfreien (oder auch gewaltsamen) Widerstands möglich. Sie erlauben beispielsweise, genauer zu untersuchen, bei welchen Formen der Konflikt-»Lösung« die besondere Stärke gewaltfreien Widerstands liegt. Auch gestatten sie etwa (da die Datensätze für jede Bewegung ihren Ausgang bzw. Stand in Jahresabständen abzeichnen) zu analysieren, in welchen Sequenzen sich durch gewaltfreien Widerstand partielle Erfolge unterschiedlicher Art aufeinander aufbauen lassen. Dies erlaubt dabei auch Analysen der Gelingensbedingungen für die strategische Staffelung von Forderungen.

Organisation und Struktur

Weitere Datensätze rücken von dem Fokus der NAVCO-Datensätze auf gesamte Widerstandskampagnen (Chenoweth und Stephan 2011; Chenoweth und Lewis 2013) ab. Stattdessen werfen sie einen genaueren Blick auf an einem Widerstand beteiligte Gruppen und Organisationen. Damit ermöglichen sie eine differenziertere Einsicht in das Innenleben von Widerstandsbewegungen.

Zu den Datensätzen, die Organisationen, die an einer Widerstandsbewegung beteiligt sind, als Grundkodierungseinheit nehmen, zählen etwa das »Strategies of Resistance Data Project« (SRDP; Cunningham et al. 2020), das »Anatomy of Resistance Campaigns«-Dataset (ARC; Butcher et al. 2022), das von Acosta (2019) vorgestellte »Revolutionary and Militant Organizations Dataset« (REVMOD) sowie Wilkenfeld et al.’s (2011) »Minorities at Risk-Organizational Behavior«-Datenbank (MAROB). Das »Ethnic Groups in Contention Dataset« von Thurber (2018) hingegen gibt als hilfreiche Erweiterung für in NAVCO aufgelistete Widerstandskampagnen an, welche ethnische Gruppen jeweils beteiligt waren.

Eine Stärke dieser Datensätze liegt darin, dass sie es ermöglichen, die organisatorische Zusammensetzung eines Widerstands analytisch in den Blick zu bekommen. Beispielsweise lässt sich die Zahl der an einem zivilen Widerstand beteiligten organisatorischen Einheiten genau bestimmen. Darüber hinaus enthalten einige der genannten Datensätze Angaben zum Typ einer Organisation (Parteien, Gewerkschaften, religiöse Organisationen, Jugendorganisationen, Dachorganisationen, bewaffnete Gruppen bzw. Rebellgruppen etc.), zu ihrer sozialen Basis oder zu den in ihr vertretenen sozialen Gruppen (das gilt für ARC, REVMOD und MAROB) oder zu ihrer politischen bzw. ideologischen Position (gilt nur für MAROB).

Während die NAVCO-Datensätze verschiedene Formen der Diversität einer Kampagne, wenn überhaupt, lediglich binär (»ja«, »nein«) angeben (Chenoweth und Stephan 2011; Chenoweth und Lewis 2013), lässt sich dies anhand neuerer Datensätze systematischer und detaillierter erfassen. Damit kann etwa fundierter untersucht werden, in welcher Weise sich die ideologische oder soziale Diversität der beteiligten Organisationen auf die Erfolgschancen eines Widerstands, seine Widerstandsfähigkeit gegenüber Repression oder auf die Wahrscheinlichkeit von »gewalttätigen Flanken« auswirkt. Auch lässt sich der Frage nachgehen, wie die Zusammensetzung eines Widerstands potenziell bestimmte gewaltfreie Methoden oder Aktionen (siehe unten, Kapitel Strategien) erleichtern oder erschweren kann.

Über die allgemeine Zusammensetzung eines Widerstands hinaus erlauben es diese Datensätze teilweise sogar, inner-organisatorische Eigenschaften und Bedingungen zu erfassen und analytisch zu berücksichtigen. Dies ist eine Dimension, über die NAVCO tatsächlich keinerlei Informationen liefert. Dazu eignen sich beispielsweise Angaben über die Führungs- bzw. Entscheidungsstruktur der jeweiligen Organisation, ihren Grad der Zentralisierung, über Geschlecht und Amtsdauer ihrer Führung oder über ihre Offenheit (im ARC-Datensatz, REVMOD-Datensatz bzw. im MAROB-Datensatz). Werden diese Detailinformationen zu den beteiligten Organisationen dann für jede Widerstandskampagne bzw. -bewegung jeweils zusammengeführt, lassen sich Kenntnisse etwa darüber gewinnen, wie Organisationen welcher Art und Führungsstruktur als Fundament eines wirksamen oder resilienten zivilen Widerstands mehr oder weniger geeignet scheinen.

Darüber hinaus gestatten einige Datensätze auch systematischen Einblick in zwischen-organisatorische Verbindungen. Auch diese Dimension wird in den ­NAVCO-Datensätzen vollkommen ausgeklammert. Das gilt insbesondere für den ARC-Datensatz, der für jede kodierte Organisation auch diejenigen Organisationen angibt, mit denen formale Verbindungen bestehen und/oder gemeinsame Aktionen unternommen wurden, sowie ihre Beteiligung an institutionalisierten Netzwerken bzw. Dachorganisationen. Weniger detaillierte, aber dennoch unter Umständen hilfreiche Angaben bietet auch der REVMOD-Datensatz mit der Anzahl externer und interner »Verbündeter« einer Organisation. Der MAROB-Datensatz wiederum unterscheidet zahlreiche Varianten externer Unterstützung durch Diaspora-Gruppen, Drittstaaten, internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Mithilfe dieser Daten lässt sich etwa untersuchen, welche organisatorische Netzwerkstruktur den Widerstand gegen bestimmte Formen der Repression resilienter machen kann (vgl. Butcher et al. 2022). Dabei sei auch erwähnt, dass sich für eine solche Untersuchung erforderliche Daten zur Repression z.T. aus denselben Datensätzen gewinnen lassen (z.B. Daten zu gezielten Angriffen auf eine Organisationsführung aus dem REVMOD-Datensatz, zu juristischen und physischen Sanktionen gegen eine Organisation aus dem MAROB-Datensatz), oder alternativ aus eigenständigen Repressions-Ereignisdatensätzen (z.B. das »Ill-Treatment & Torture Data Collection Project« (Conrad et al. 2014) oder der »UCDP One-Sided Violence«-Datensatz (Eck und Hultman 2007; Davies et al. 2023)).

Schließlich bieten diese organisations-zentrierten Datensätze neben ihrem informativen Gehalt einen analytischen Vorteil gegenüber NAVCO dadurch, dass sie Widerstandsorganisationen (statt kampagnen) zur Grundkodierungseinheit nehmen: Sie ermöglichen es, auch solchen Widerstand einzubeziehen, der vor allem von einzelnen Organisationen getragen wird oder sich primär auf Widerstandsmethoden stützt, die weniger sichtbar sind als Proteste, und damit eventuell nicht den Umfang einer »großen« Widerstandskampagne erreicht, während sich NAVCO auf Letztere beschränkt (vgl. Cunningham et al. 2020). Gerade die Berücksichtigung der von NAVCO ignorierten Fälle aber kann wertvolle Hinweise geben, um den Weg eines kleinen (bzw. kleiner werdenden) Widerstands hin zu einer »großen« Kampagne in den Blick zu nehmen und zu untersuchen, unter welchen Umständen und durch welche Dynamiken (siehe unten) solch eine Entwicklung realistisch werden könnte.

Strategien

Eine weitere bedeutende Schwachstelle der NAVCO-Datensätze besteht darin, dass sie (neben dem Ausgang einer Widerstandskampagne, siehe oben) auch hinsichtlich der Gewaltfreiheit oder Gewaltsamkeit eines Widerstands lediglich eine binäre Unterscheidung bieten: die Kodierungen lauten »primär gewaltfrei« oder »primär gewaltsam« (Chenoweth und Stephan 2011; Chenoweth und Lewis 2013; für Kritik an diesem Vorgehen vgl. Anisin 2020). In Reaktion auf die Kritik führten folgende Kodierdurchgänge zur Einführung der – allerdings ebenfalls binären – Variable zu sogenannten »gewaltsamen Flanken«. Auch in dieser Hinsicht bieten einige neuere Datensätze einen deutlich differenzierteren Blick.

Zum einen ermöglichen diese eine präzisere Einordnung einer Widerstandskampagne auf einem Gewaltfreitheit/Gewaltsamkeits-Spektrum. Denn die oben genannten organisations-zentrierten Datensätze bieten Angaben zur Anwendung gewaltsamer und gewaltfreier Methoden seitens der einzelnen am Widerstand beteiligten Organisationen. Indem diese Angaben auf der Ebene der Widerstandskampagne zusammengeführt werden, lässt sich die genaue Kombination (oder der genaue »Mix«) gewaltsamer und gewaltfreier Ansätze innerhalb einer Kampagne deutlich nuancierter bestimmen. Dies eröffnet die Möglichkeit, zu untersuchen, wie sich z.B. die relative Anzahl und Größe an gewaltfrei- und gewaltsam operierenden Organisationen oder die Intensität der Vernetzung (s.o. Kapitel Organisation und Struktur) unterschiedliche Widerstandsstrategien verfolgender Organisationen auf eine Kampagne auswirken kann.

Darüber hinaus nehmen einige Datensätze gezielt eine feinere Unterteilung und nicht-binäre Kodierung verschiedener Widerstandsmethoden jenseits einer (eindimensionalen) Gewaltfreiheit/Gewaltsamkeits-Skala vor und eröffnen damit die Gelegenheit qualitativ differenzierterer Analysen. Beispielsweise unterscheidet der SRDP-Datensatz zwischen den fünf gewaltfreien Methodentypen von »Protest«, »politischer«, »wirtschaftlicher« oder »sozialer Nichtkooperation« und »gewaltfreier Intervention«, und gibt für jede am Widerstand beteiligte Organisation an, ob sie eine oder mehrere dieser Methoden in einem gegebenen Jahr anwandte. Einen etwas anderen Schwerpunkt setzend, erfasst das von Griffiths (2021) zusammenstellte »Secessionist Tactics of Compellence and Normative Appeal«-Dataset, welche diskursive Strategie eine Widerstandsbewegung anwandte und auf welche (internationalen) Normen bzw. Prinzipien sie sich zur Begründung und Untermauerung ihrer politischen Forderung berief. Mithilfe dieser Informationen lässt sich nicht nur die Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands für verschiedene Methoden und Ansätze im Einzelnen beleuchten. Sie lassen auch die Frage zu, welche unterschiedlichen (gewaltfreien) Methoden sich in welchen Kontexten oder auch Stadien eines Widerstands miteinander kombinieren lassen, und wie sich dies auf den Erfolg des Widerstands im Ganzen auswirkt.

Aktionen und Dynamiken

Viertens schließlich ermöglichen einige der alternativen Datensätze die Analyse von Widerstandsdynamiken in ihrer zeitlichen Dimension. Während die NAVCO (1.x und 2.x) Datensätze ganze Kampag­nen(-Jahre) zur Grundeinheit nehmen und die zeitliche Dimension lediglich in der Kodierung einzelner Variablen (Kampagnen-Beginn und Ende, Kampagnenerfolg) berücksichtigen, fokussieren einige jüngere Datensätze auf die einzelnen Widerstandsereignisse bzw. –aktionen (die gemeinsam eine Kampagne konstituieren). Diese listen systematisch Protest- oder andere Widerstandsaktionen in einem bestimmten Zeitraum auf und erfassen für jede dieser Aktionen bestimmte (sich je nach Datensatz leicht unterscheidende) Attribute. Einen ähnlichen Versuch unternimmt auch NAVCO 3.0 (dies macht sichtbar, dass den Ersteller*innen von NAVCO die Begrenztheit von und die Kritik an ihren Datensätzen bekannt und bewusst sind), allerdings nur für eine willkürliche Auswahl von 26 Staaten, und anhand von einer einzigen Nachrichtenquelle (Chenoweth et al. 2018).

Zu solchen umfangreicheren Ereignisdatensätzen zählen das »Mass Mobilization Protest«-Dataset (MMD) von Clark und Regan (2016) und die von Weidmann und Rød (2019) publizierte »Mass Mobilization in Autocracies Database« (MMAD). Sie beide erfassen unter anderem das Datum und den genaueren Ort einer Aktion, die mit ihr verbundene politische Forderung, die Teilnehmer*innenzahl, gegebenenfalls Gewaltanwendung seitens der Widerstandsakteure sowie die unmittelbare staatliche Reaktion auf die jeweilige Aktion (Repression bzw. Zugeständnisse). Nennenswert ist auch die »Social Conflict Analysis Database« (SCAD) von Salehyan et al. (2012), die im Gegensatz zu den vorangegangenen Datensätzen zwischen organisierten und spontanen Protestaktionen unterscheidet und vor allem jenseits von Protestaktionen auch General- und begrenzte Streiks mit einbezieht. Etwas weniger Variablen, dafür aber eine größere Zahl an Fällen, bietet hingegen das »Armed Conflict Location & Event Data«-Project (ACLED), das entgegen seiner Bezeichnung auch gewaltfreie Aktionen erfasst. Je nach der zu untersuchenden Forschungsfrage lassen sich diese Ereignisdatensätze zu Widerstandsaktionen sinnvoll kombinieren mit nach Tag spezifizierten Ereignisdaten zu Repressionsgeschehen, etwa aus dem SCAD oder ACLED, die neben Widerstandsereignissen auch Repressionsereignisse erfassen, oder auch aus anderen Datensätzen wie dem »MMAD Repressive Actors«-Dataset (Rød et al. 2023) oder der »Global Terrorism Database« (START 2022).

Diese Datensätze lassen somit eine Vielzahl neuer Fragen zu. Es könnte beantwortet werden, welche Aktionssequenzen tendenziell zu einer Vergrößerung des Widerstandes führen oder aber mit einer Verschärfung der Repression einherzugehen geneigt sind. Des Weiteren lässt sich auch genauer untersuchen, wie verschiedene Arten der gewaltfreien Eskalation – etwa in Form einer wachsenden Anzahl von Aktionen pro Tag, von Teilnehmenden pro Aktion oder auch eine geographische Ausweitung der Aktionen in weitere oder kleinere Städte – sich kurz- und mittelfristig auf eine zivile Widerstandsbewegung auswirken können. Hierzu gab es bislang maximal qualitative Einzelfallstudien – oftmals auch anthropologische Untersuchungen –, die so quantitativ ergänzt werden könnten.

Erwähnt sei an dieser Stelle auch, dass sich durch den ARC-Datensatz die Möglichkeit ergibt, die Analyse zeitlicher Widerstandsdynamiken mit der Analyse der organisatorischen Struktur eines Widerstands zu verknüpfen. Dieser Datensatz zeigt, an welchen Widerstandsaktionen bzw. -ereignissen aus dem MMD, SCAD oder dem ACLED-Datensatz eine gegebene Organisation erkennbar beteiligt war. Damit lässt sich etwa fragen, welche Rolle Organisationen verschiedener Art bei bestimmten Aktionen oder in einzelnen Phasen des Widerstandes spielen und zu welchen Konsequenzen dies im weiteren Verlauf führte.

Noch kein Fazit: Fehlende Anwendung

Neuere Datensätze zu gewaltfreiem und gewaltsamen Widerstand liefern vielerlei Informationen, die weit über die der vielzitierten NAVCO-Datensätze hinausreichen. Noch kann kein abschließendes Fazit gezogen werden, fehlt doch bislang die breitere empirische Anwendung dieser Datensätze auf hier angerissene Fragestellungen. Für künftige quantitative Studien bietet es sich an, vermehrt diese alternativen Datensätze zu nutzen, um alte (bislang nur anhand von NAVCO untersuchte) Fragen zu zivilem Widerstand differenzierter zu bearbeiten und neue – in Bezug auf die NAVCO-Datensätze (noch) nicht formulierbare – bewegungsrelevante Fragen zu stellen und anzugehen.

Literatur

Acosta, B. (2019): Reconceptualizing resistance organizations and outcomes: Introducing the Revolutionary and Militant Organizations dataset (REVMOD). Journal of Peace Research 56(5), S. 724-734.

Anisin, A. (2020): Debunking the myths behind nonviolent civil resistance. Critical Sociology 46(7-8), S. 1121-1139.

Butcher, C.; Braithwaite, J.; Pinckney, J.; Haugseth, E.; Bakken, I.; Wishman, M. (2022): Introducing the Anatomy of Resistance Campaigns (ARC) dataset. Journal of Peace Research 59(3), S. 449-460.

Chenoweth, E.; Stephan, M. (2011): Why civil resistance works: The strategic logic of nonviolent conflict. New York: Columbia Univ. Press.

Chenoweth, E.; Lewis, O. (2013): Unpacking nonviolent campaigns: Introducing the NAVCO 2.0 dataset. Journal of Peace Research 50(3), S. 415-423.

Chenoweth, E.; Pinckney, J.; Lewis, O. (2018): Days of rage: Introducing the NAVCO 3.0 dataset. Journal of Peace Research 55(4), S. 524-534.

Clark, D.; Regan, P. (2016): Mass Mobilization Protest Data, Harvard Dataverse. DOI: doi.org/10.7910/DVN/HTTWYL.

Conrad, C.; Haglund, J.; Moore, W. (2014): Torture allegations as events data: Introducing the Ill-Treatment and Torture (ITT) specific allegation data. Journal of Peace Research 51(3), S. 429-438.

Cunningham, K.; Dahl, M.; Frugé, A. (2020): Introducing the Strategies of Resistance Data Project. Journal of Peace Research 57(3), S. 482-491.

Davies, S.; Pettersson, T.; Öberg, M. (2023): Organized violence 1989-2022, and the return of conflict between states. Journal of Peace Research 60(4), S. 691-708.

Eck, K.; Hultman, L. (2007): One-sided violence against civilians in war: Insights from new fatality data. Journal of Peace Research 44(2), S. 233-246.

Griffiths, R. (2015): Between dissolution and blood: How administrative lines and categories shape secessionist outcomes. International Organization 69(3), S. 731-751.

Griffiths, R.; Wasser, L. (2019): Does violent secessionism work? Journal of Conflict Resolution 63(5), S. 1310-1336.

Griffiths, R. (2021): Secessionist strategy and tactical variation in the pursuit of independence. Journal of Global Security Studies 6(1), ogz082.

National Consortium for the Study of Terrorism and Responses to Terrorism (START) (2022): Global Terrorism Database 1970-2020. URL: start.umd.edu/gtd.

Rød, E.; Rustemeyer, J.; Otto, S. (2023): Introducing the MMAD Repressive Actors Dataset. Research & Politics 10(2). DOI: doi.org/10.1177/20531680231163384.

Salehyan, I.; Hendrix, C.; Hamner, J.; Case, C.; Linebarger, C.; Stull, E.; Williams, J. (2012): Social conflict in Africa: A new database. International Interactions 38(4), S. 503-511.

Sambanis, N.; Germann, M.; Schädel, A. (2018): SDM: A new dataset on self-determination movements with an application to the reputational theory of conflict. Journal of Conflict Resolution 62(3), S. 656-686.

Thurber, C. (2018): Ethnic barriers to civil resistance. Journal of Global Security Studies 3(3), S. 255-270.

Weidmann, N.; Rød, E. (2019): The internet and political protest in autocracies. Oxford: Oxford University Press.

Wilkenfeld, J.; Asal, V.; Pate, A. (2011): Minorities at Risk Organizational Behavior (MAROB) Middle East 1980-2004, Harvard Dataverse. DOI: doi.org/10.7910/DVN/STGELW.

Julia Nennstiel studierte an der Universität Manchester Internationale Beziehungen (M.A.) mit Schwerpunkt Kritische Sicherheits- und Militärstudien. Aktuell promoviert sie zur Rolle und dem Verhalten von Streit- und Sicherheitskräften in Kontexten ziviler Widerstandsbewegungen.

Die verfahrenen Jahre

Die verfahrenen Jahre

Ein pazifistisches Gedankenspiel zu den 1920er-Jahren in Österreich

von Wolfgang Weilharter

Wie vermeidet man den Eintritt in eine destruktive Eskalationsspirale? In den Jahren 1923/24, also vor 100 Jahren, gründete die Sozialdemokratische Partei Österreichs eine bewaffnete Wehrformation, den Republikanischen Schutzbund. Auch wenn der Entschluss zur Gründung des Schutzbundes verständlich ist, so war er auch ein Beitrag, das Desaster eines zunehmenden Rechtsdralls Österreichs zu beschleunigen. Ob ein Blick über die österreichischen Grenzen bis nach Indien, zu Gandhi und den gewaltfreien Kampagnen sowie deren Schutzgarantie an die Gegner*innen geholfen hätte? Der Beitrag erkundet diese Möglichkeit.

Die 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts: Die verfahrenen Jahre, in denen es einfach nicht gelang, die Weichen richtig zu stellen, aber auch die magischen und faszinierenden Jahre. Magie, Faszination und Verfahrenheit, alles Eigenschaften, die auch und besonders auf das Österreich und das Wien der Ersten Republik von 1918 bis 1934 zutreffen.1 Mit einer gewissen journalistischen Lässigkeit wird in diesem Essay nun gefragt, warum es – angesichts der sonstigen modernen Kreativität und Innovation – nicht möglich war, den Weg in eine sich aufbauende Eskalationsspirale zu vermeiden.

Mit dem Ausdruck »Eskalationsspirale« wird auf ein spezielles Ereignis in den Anfangsjahren der Ersten Republik Österreichs angespielt. In den Jahren 1923/24 beschloss die Sozialdemokratische Partei Österreichs den »Republikanischen Schutzbund« zu gründen. Dabei handelte es sich um eine bewaffnete Formation, eine Privatarmee von beachtlicher Größe, als verständliche Reaktion auf die Bedrohung durch bewaffnete konservative, monarchistische und faschistische Wehrformationen. Mehr darüber weiter unten. In diesem Essay, der sich einem qualifizierten Pazifismus verpflichtet weiß, wird gefragt: Hätte es einen Weg gegeben, auf die Gründung des Schutzbundes zu verzichten, ohne politischen Selbstmord zu begehen?

Und das ist der Hintergrund dieser Frage: Die Sozialdemokratie wird hier als unser Vorfahr betrachtet. Auch dann, wenn man heute liberal, konservativ, grün, oder weiter links steht, wobei die Sache beim Rechtspopulismus kompliziert ist. Wenn oben von einer Welle der Kreativität und der Innovation die Rede war, dann war diese Welle, oberflächlich formuliert, modern – und der politische Ausdruck dieser Modernität war die Sozialdemokratie. (Parlamentarische) Demokratie, Autoritäts- und Traditionskritik, Säkularismus, Wissenschaftsorientierung, Vorbehalte gegen heteronome Religiosität, Neutralität gegenüber ethnischer Herkunft, vor allem gegenüber dem Judentum, Aufwertung des öffentlichen Status der Frau usw. waren überwiegend bei ihr beheimatet. Wobei einzuschränken ist: Ihre Auffassungen von Sozialismus und Klassenkampf, die sich in ihrer verbalen Radikalität auch deutlich von der deutschen SPD unterschieden, zählen nicht zu jenem Erbe, das heute allgemeiner Konsens ist. Aber hier interessiert gleichsam der moderne Anteil am »austromarxistischen« Sozialismus.2 Mit Rückgriff auf eine Strategie in Gandhis Satyagraha-Bewegung wird im Folgenden eine mögliche pazifistische Lösung der Konfliktsituation, die zur Gründung des Schutzbundes hinführte, reflektiert.

Zum Kontext der Gründung des Republikanischen Schutzbundes

Die Geschichte der politischen Auseinandersetzungen in der Ersten Österreichischen Republik reduziert sich über weite Strecken auf die Auseinandersetzung zwischen zwei Parteien, der Sozialdemokratischen Partei auf der linken Seite und der Christlichsozialen Partei auf der rechten Seite. Es handelte sich im Wesentlichen also nur um zwei und nicht um mehrere maßgebliche »Player«, denn eine kommunistische Partei konnte sich in Österreich neben der Sozialdemokratie nicht etablieren. Auf der konservativen Seite gab es keinen organisierten Liberalismus mehr, und die ansonsten noch vorhandene Großdeutsche Volkspartei war immer wieder Mehrheitsbeschafferin für die Christlichsozialen, hatte aber wenig eigenes Profil.

Das Österreich von 1918 entstand als einer der Nachfolgestaaten der – aufgrund der Niederlage im Ersten Weltkrieg zerfallenden – österreichisch-ungarischen Monarchie. In diesem Jahr wurde in Österreich sodann die Republik ausgerufen und ein sozialdemokratischer Kanzler, Karl Renner, regierte in Koalition mit der Christlichsozialen Partei bis 1920. In dieser ersten Zeit des Umbruchs herrschte einerseits das Elend und die Orientierungslosigkeit, andererseits war die linke Seite tendenziell in der Offensive und die Frage, welcher Sozialismus auf welche Weise zu erreichen sei, dominierte das politische Geschehen. Da sich die Sozialdemokratische Partei für die parlamentarische Demokratie aussprach, hatten bewaffnete Versuche für eine sozialistische Revolution wenig Chance. Parallel dazu bildete sich aber eine komplizierte Vielzahl an paramilitärischen Verbänden auf der konservativen Seite, die entweder christlichsozial, großdeutsch, monarchistisch oder nationalsozialistisch waren. Ihnen allen gemein war die antisozialistische Agenda mit besonderer Sorge vor einer sozialistischen Revolution, die offene oder subtile Gegnerschaft gegen alle Formen der Demokratie, der aggressive Antisemitismus, sowie die Finanzierung durch Teile der Industrie und verwandter Gruppen aus Deutschland. Später kamen als Geldgeber noch das faschistische Italien und Ungarn hinzu.

Gegenläufig zur Konsolidierung der parlamentarischen Demokratie Anfang der 20er-Jahre wuchsen diese konservativen Paramilitärs aber weiter heran, bis sich die Sozialdemokratie im Jahr 1923 nun in der Tat einer bedrohlichen Situation gegenübersah. Denn zusätzlich zu den paramilitärischen Verbänden verlor die Sozialdemokratie im Jahr 1920 erst einmal aufgrund einer Wahlniederlage ihre Regierungsbeteiligung und somit auch ihren Zugriff auf das Verteidigungsministerium samt Armee, die dann unter dem rechten Scharfmacher Karl Vaugoin zu einer christlichsozial geprägten Streitmacht wurde. Im Oktober 1922 fand sodann Mussolinis Marsch auf Rom und damit die faschistische Machtübernahme in Italien statt, was den antidemokratischen und faschistischen Kräften in Österreich Aufwind verschaffte.

Das war nun also die Situation, die die Sozialdemokratische Partei ab 1923 veranlasste, den Republikanischen Schutzbund zu gründen. Wie gesagt: Man kann sie verstehen. Noch dazu war der Schutzbund weitgehend defensiv ausgerichtet, und ihm gebührt der Ehrentitel, überhaupt als erste Kraft in Europa, im Jahr 1934, militärischen Widerstand gegen den Faschismus des christlichsozialen Kanzlers Dollfuss geleistet zu haben, als dieser das Parlament in Österreich ausschaltete.

Doch gab es innerhalb der Partei auch kritische Stimmen. Am interessantesten für den Zusammenhang dieses Essays, ist eine „gemäßigte Gruppe“, von der in einem unveröffentlichten Manuskript eines unbekannten Autors3, wahrscheinlich verfasst in den letzten Monate des Jahres 1922 (vgl. Vlcek 1972, S. 60f.) die Rede ist. Dort lesen wir, dass die Gruppe Vorbehalte anmeldete, nämlich dass ein zukünftiger Schutzbund das Ergebnis einer „streng militärischen Auffassung“ wäre, der „Ausfluss des k.u.k. Militarismus“ 4 und ein Abklatsch der Frontkämpfer und Hakenkreuzler“. Der militärische Charakter des Schutzbundes würde eine „unnötige Verschärfung der innenpolitischen Gegensätze“ und ein „immer größeres Wettrüsten“ nach sich ziehen. Die Lösung, die angeboten wurde, lautete: Den Aufbau einer militärischen Formation hinauszuschieben und nur den Rohbau einer militärischen Organisation zu errichten, die erst im Ernstfall zu aktivieren wäre.

Doch dieser Einwand, auf den wir noch zu sprechen kommen werden, blieb wirkungslos. Der Schutzbund wurde gegründet und einige Jahre später, gegen die eigene Intention, zu einem Faktor der Eskalation. Denn im Lauf der Jahre wuchsen die Wehrverbände an, sodass die konservativen Heimwehren Ende der 20er Jahre zwischen 20.000 und 50.000 bewaffnetes Personal umfassten, der Schutzbund könnte sich auf 40.000 Mann belaufen haben. All das bei einer Einwohnerzahl der Republik von nur etwa 6,5 Millionen Menschen (Edmondson 1995, S. 265ff.).

Die genannte Eskalation führte sodann 1934 zur Ausschaltung des Parlaments und zum österreichischen Sonderweg des austrofaschistischen, aber anti-nationalsozialistischen Ständestaates und schließlich, 1938 zum widerstandslos akzeptierten Einmarsch Hitlers.5

Dem Gegner ernsthaft umfas­sende Sicherheit garantieren

Zur weiteren Überlegung, ob die Gründung des Schutzbundes hätte vermieden werden können, soll nun ein Sprung, einige tausend Kilometer entfernt, nach Indien in das Jahr 1919 gemacht werden. Dort baute sich ebenfalls, aufgrund der legitimen, indischen Emanzipationsbestrebungen, eine Eskalationsspirale auf. Und so wie im Österreich der frühen 20er Jahre soll hier eine Episode mit beispielhaftem Charakter beleuchtet werden. Im April 1919 kam es unter anderem im Raum der indischen Stadt Ahmedabad zu Ausschreitungen. Diese fanden anlässlich der von Gandhi maßgeblich mitinitiierten Satyagraha-Kampagne gegen die von der englischen Kolonialregierung erlassenen Gesetze, einem Bündel präventiver Notstandsgesetze, der »Rowlatt-Gesetze« statt. Diese Gesetze riefen auf indischer Seite Empörung hervor. Die indienweite Satyagraha-Kampagne wurde durch die britische Kolonialregierung mit der Erschießung indischer Zivilist*innen durch die Polizei beantwortet, was wiederum Protest auf indischer Seite zur Folge hatte. Im Großraum Ahmedabad wurden im Zuge dieser indischen Gegenproteste sodann mindestens zwei Engländer getötet, sowie Gebäude, Eisenbahn- und Telegrafenanlagen verwüstet. Darüber hinaus wurden britische Zivilist*innen Opfer von Vertreibungen (Brown 1972, S. 175; Rothermund 1997, S. 124). Entsprechend Gandhis Bestreben, Kampagnen wesentlich, nicht nur beiläufig, von Gewalt freizuhalten, und dafür auch Verantwortung zu übernehmen, hielt er am 14. April 1919 eine Rede. In dieser drückte er nur seine Empörung aus, dass Engländer bedroht und vertrieben wurden – er äußerte kein Verständnis für die Gewalt, forderte unbedingte Gewaltlosigkeit ein, und zeigte sich nachgerade entsetzt von den Taten. Die Rede hatte ihren Höhepunkt in folgenden, denkwürdigen Worten:

„Sie [die Engländer] sind unsere Brüder und es ist unsere Pflicht, in Ihnen den Glauben zu wecken, dass ihre Personen uns so heilig sind wie unsere eigenen (…)“ 6 (Gandhi 1999, S. 222).

Was Gandhi in religiös gefärbter Sprache ausdrückte, war die öffentliche Garantie der Unversehrtheit des Gegners. Dabei handelte es sich gerade nicht um schöne Worte, um die die Politik ja nie verlegen ist, sondern die ernstgemeinte Zusicherung der Sicherheit der Gegenseite – innerhalb einer Krisensituation. Gandhi und die Satyagraha-Bewegung waren sowohl an diesem 14. April 1919 aber auch in den nachfolgenden Jahren imstande, diese Garantie aufrechtzuerhalten, als sich die Situation drastisch verschärfte. Die Bedeutung dieser Worte lag nicht unmittelbar darin, dass Gandhi einen bewaffneten Gegenschlag ausschloss. Das tat er zwar implizit auch, aber ein solcher Gegenschlag stand in den damaligen Tagen nicht zur Debatte. Ihre Bedeutung lag darin, dass er als politischer Führer, inmitten eines Kampfes, und gerade nicht als außenstehender Mediator, Vermittler oder Peace-Builder, dem bedrohlichen Gegner die umfassende Sicherheit garantierte. Es ist für den Einfluss der Satyagraha-Bewegung zu beachten, dass die Mobilisierungsfähigkeit – und damit der Aufbau politischer Macht – durch diese Zusicherung und Garantie keinen Schaden erlitt. Die indische Emanzipationsbewegung wurde dadurch nicht als harmloser Gegner „beiseite geschoben.“ 7

Das Gedankenspiel: Gandhis Haltung in der Ersten Republik?

„Das Proletariat, in seinem innersten Wesen friedlich gesinnt, möchte am liebsten nur jene Kampfmittel anwenden, die dem friedlichen Charakter der Demokratie entsprechen. Aber die Wahl der Kampfmittel ist ihm nicht gegeben. Es muss, ob es will oder nicht, mit jenen Waffen kämpfen, die seine Klassengegner ihm auferlegen“ (Deutsch 1926, S. 118)

Dieses Zitat des führenden sozialdemokratischen Politikers und Obmannes des Schutzbundes Julius Deutsch spricht in sozialistischer Tonart die Sprache der von der Diktatur bedrohten Demokratie. Aus dieser Haltung heraus erscheint die Schutzbundgründung also wirklich alternativlos. Doch lässt sich dies zwangsläufig schlussfolgern?

Wir erinnern uns an die Einwände der »gemäßigten Gruppe«, dass der Schutzbund unter anderem eine „unnötige Verschärfung der innenpolitischen Gegensätze“ und ein „immer größeres Wettrüsten“ nach sich ziehen würde. Es gab also Stimmen, die die Problematik erkannten und sogar Schlüsse daraus zogen: Die Gründung einer militärischen Formation sollte hinausgeschoben werden. Bis hierher hören wir die klassischen pazifistischen Argumente, wie sie angesichts von drohenden Eskalationen auch richtig sind. Aber mir als Autor, mit dem unverdienten Verdienst, 100 Jahre später auf die Situation blicken zu können und das noch dazu mit dem Gandhi’schen Beispiel ausgerüstet, drängt sich die Ansicht auf, dass hier ein unvollständiger Pazifismus am Werk war. Mut und Ratlosigkeit treten hier Hand in Hand auf. Mut, weil angesichts des gefährlichen Gegners nicht Zuflucht in der Hysterie gesucht wurde, Ratlosigkeit aber, weil das simple Aufschieben der Schutzbundgründung sicher keine Lösung war, und den Verdacht bestätigt, dass der Pazifismus in seiner Not einfach zum Zurückweichen neigt.

Man vermisst zwei Dinge: Warum wurde nicht der (General-)Streik erwogen, das sozialistische Pendant zu den Satyagraha-Aktionen des Gandhi’schen, zivilen Ungehorsams? Dieser, also der Streik, war der Sozialdemokratie und ihren Gewerkschaften vertraut, es hätte sich also keineswegs um eine Innovation aus dem Nichts gehandelt und eine funktionierende, disziplinierte Organisation, die den Streik getragen hätte, war vorhanden. Was den Streik betrifft, hätte es also eine weitgehende Übereinstimmung mit Gandhi gegeben.

Aber wie wäre der Streik begründet worden? Es ist das Anliegen dieses Essays, besonders diesen Punkt herauszustellen. Es ist nicht vorstellbar, dass die sozialdemokratischen Führer, denen von mir ein moderner Humanismus zugebilligt wird, einen Streik als Alternativoption zu einem militärischen Vorgehen damit begründet hätten, dass das Leben der gegnerischen Personen eben »heilig« wäre. Oder denselben Inhalt zumindest in säkularer Sprache (»schützenswert«) wiedergegeben hätten. Geschweige denn, dass eine solche Begründung von der sozialdemokratischen Gefolgschaft verstanden worden wäre. Vielleicht hätte man noch gesagt, dass man friedliche Mitteln bevorzuge, dass man Blutvergießen verhindern möchte, dass man gegen Gewalt sei. Doch in einer solchen Formulierung liegt ein feiner, aber wichtiger Unterschied zu einer Formulierung, in der man sich als politischer Akteur selber unmissverständlich zur Garantie der Sicherheit der Gegenseite verpflichtet.

Diese Garantie könnte, wie es Gandhi im XIII. Kapitel seines Buches »Satyagraha in Südafrika« erläutert, eine schlechte und eine gute Form haben (Gandhi 1972, S. 103ff.). Die schlechte Form hat das Merkmal von nachlaufender, ängstlicher Besänftigung des Gegners, sie wäre Ausdruck von Schwäche, Angst und Kleinbeigeben und hätte wohl wirklich die befürchtete Niederlage zur Folge.

Die gute Form wäre, dass man diese Garantie aus eigenem Antrieb und mit der Motivation ausspricht, einem selbstgesetzten Maßstab gerecht zu werden. In diesem Fall würde der Garantie der Unversehrtheit des Gegners nicht der zu Recht befürchtete Makel der Schwäche, des bettelnden Nachlaufens, der Nachgiebigkeit und des Relativismus anhaften.

Weiter: Die Garantie hätte ernst gemeint sein und in ihrer Begründung über den kalkulierten Eigennutz hinausgehen müssen. Sie hätte deshalb den Charakter eines nicht mehr weiter begründbaren Bekenntnisses gehabt.8 Wie wird sie für den Gegner glaubwürdig? Diejenigen, die die Garantie aussprechen, brauchen eine Vorgeschichte, die sie glaubwürdig macht. Und, je weiter fortgeschritten der Konflikt ist, umso schwieriger wird es sein, die Sicherheit der Gegenseite mit zu bedenken.

Es wird also einen Kairos, eine günstige Gelegenheit brauchen und nun spricht einiges dafür, dass dieser Kairos 1923/1924 bestand, der allerdings nah und fern zugleich war. Nah: Es bestand aufseiten der Sozialdemokratie eine starke, disziplinierte Organisation, die nur schwer zu übergehen gewesen wäre, hätte sie die Energie statt in den Aufbau des Schutzbundes in die Vorbereitung des Generalstreiks samt akkurater Begründung und Zusicherung der Sicherheit gesteckt. Auch gab es das umfassende, sozialistische Friedensdenken, mit seinen Stärken und seinen Schwächen, das immerhin so gelagert war, dass die Argumente der »gemäßigten Gruppe« nicht als exotisch erschienen. Fern: Dass das Leben der (bewaffneten) Gegner gleich viel wert sei wie das der eigenen Leute, diese Begründung öffentlich abzugeben, lag außerhalb der Vorstellungskraft sowohl der damaligen Führung als auch ihrer Gefolgschaft. Und auch im Kontext zeitgenössischer Geschichtsbetrachtung hat dieses Gedankenspiel für uns Heutige gewiss einen fremdartigen und irrealen Charakter.

So bleibt als Ergebnis eine Frage: Unser sozialdemokratisch-moderner Vorfahr wäre wahrscheinlich eher imstande gewesen, die Garantie der Unversehrtheit auszusprechen als sein vormoderner Gegner christlichsozialer Prägung. Warum aber war er dazu trotzdem nicht imstande?

Anmerkungen

1) Der englische Autor R. Cockett (2023) weist in seinem neuen Buch »Vienna. How the city of ideas created the modern world« wieder einmal, wie schon C.E. Schorske (1993) und W.M. Johnston (2011) auf den erstaunlichen Innovationsgeist in Wien, aber auch in Österreich vor dem Zweiten Weltkrieg hin. Hingewiesen sei u.a. auf Namen wie Freud, Jahoda, Kelsen, Mach, Meitner, Popper, Schönberg, Wittgenstein.

2) Als »Austromarxismus« wird sowohl die theoretische als auch die praktische Seite der österreichischen Sozialdemokratie, vor allem zwischen 1918 und 1934 bezeichnet.

3) Das Manuskript hat folgenden archivarischen Fundort: Österreichisches Staatsarchiv Wien, Aktenbestand „Verschiedene Schriften zur Geschichte des österreichischen Bundesheeres“ AB 584-4-34, Faszikel 23, Akten und Pläne über Waffen im Arsenal und deren Beschlagnahme 1923-1929.

4) K.u.k meint „kaiserlich und königlich“, gemeint ist die Armee der gerade untergegangenen Monarchie.

5) Man kann gegen diese Darstellung nachvollziehbarerweise einwenden, dass hier das Opfer zum Schuldigen gemacht wird. Das soll keineswegs geschehen. Aber es ist dennoch das Anliegen des Essays zu prüfen, ob die Sozialdemokratie, als schwächere, aber aufsteigende Repräsentantin einer modernen Zukunft einen Beitrag zur Deeskalation hätte leisten können.

6) Einen Tag vorher, am 13. April fand etwa 1.000 km entfernt das Massaker von Amritsar mit 379 Toten statt, ebenfalls im Zusammenhang mit der »Rowlatt-Satyagraha-Kampagne« verursacht von englischen Truppen. In seiner Rede geht Gandhi darauf nicht ein, wahrscheinlich, weil er über keine oder nur unzureichende Informationen verfügte.

7) Ich zitiere hier Viktor Klemperer, der über Gustav Landauers Engagement in der Münchener Räteregierung in seinem Tagebuch schreibt: „Landauer (…) scheint wieder lebendig, (…) allen politischen Notwendigkeiten und Selbstverständlichkeiten meilenfern (…) mit Fingern, die von Blut und Gier rein sind (…) und sicherlich bald (…) zu Gewalttaten gedrängt oder von Gewalttaten beiseite geschoben.“ (Klemperer 2015, S. 113)

8) Damit geht die Garantie der Unversehrtheit des Gegners über eine pragmatische Begründung hinaus. Wäre die Garantie nur pragmatisch begründet, bleibt im vorliegenden Fall der Verdacht, dass sie in einem günstigen Moment wieder fallengelassen wird. Damit wird in der Diskussion pragmatische vs. prinzipielle Gewaltfreiheit für letztere Stellung bezogen. Allerdings im Hinblick auf eine konkrete historische Situation, in der ein relatives Machtgleichgewicht herrschte. Die Sozialdemokratie war die schwächere Seite, hatte aber reale Chancen, die Macht zu erobern. Zur genannten Diskussion siehe z.B. Müller und Schweitzer (2011).

Literatur

Brown, J. (1972): Gandhi’s Rise to Power. Indian Politics 1915-1922. Cambridge: University Press.

Deutsch, J. (1926): Antifaschismus. Proletarische Wehrhaftigkeit im Kampf gegen den Faschismus. Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlungen.

Edmondson, C. E. (1995): Heimwehren und andere Wehrverbände. In: Talos, E. u.a. (1995): Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918-1933. Wien: Manz, S. 261 – 277.

Gandhi, M. (1972 [1928]): Satyagraha in South Africa. Ahmedabad: Navajivan Publishing House.

Gandhi, M. (1999): The collected works of Mahatma Gandhi. Band 15. New Delhi: Publications Divisions Government of India.

Gandhi, M. (2011): Die Stimme der Wahrheit. Ausgewählte Werke in 5 Bänden. Hrsg. von Narayan S. Göttingen: Wallstein Verlag.

Johnson, W.M. (2011 [1972]): The Austrian Mind. An Intellectual and Social History 1848-1938. Oakland: University of California Press.

Klemperer, V. (2015): Revolutionstagebuch 1919. Berlin: Aufbau.

Müller, B.; Schweitzer, C., (2011): Gewaltfreiheit als dritter Weg zwischen Konfliktvermeidung und gewaltsamer Konfliktaustragung. In: Meyer, B. (Hrsg.): Konfliktregelung und Friedensstrategien. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Springer, S. 101-124.

Rothermund, D. (1997): Mahatma Gandhi. Eine politische Biographie. München: C.H.Beck.

Schorske, C. E., (1993 [1980]): Fin-de-siecle Vienna. Politics and culture. New York: Random House.

Vlcek, C. (1972): Der Republikanische Schutzbund in Österreich. Geschichte, Aufbau und Organisation. Wien: Univ. Dissertation.

Wolfgang Weilharter ist Projektmanager und Mediator am »Austrian Institute for Peace/Österreichisches Friedenszentrum« in Stadtschlaining und Wien mit dem Schwerpunkt »Kommunale Friedens- und Konfliktarbeit«.

Wir brauchen Friedenspsychologie!

Wir brauchen Friedenspsychologie!

Aber wie soll die aussehen?

von Ulrich Wagner1

Die Friedenspsychologie hilft zu verstehen, wie psychologische Prozesse Konflikte beeinflussen können. Deshalb braucht die Friedens- und Konfliktforschung die Friedenspsychologie. Die Friedenspsychologie könnte allerdings noch besser werden. Dazu gehören die Replizierbarkeit ihrer Befunde, die Kontext- und Kultursensitivität ihrer Theorien, die angemessene Beteiligung von unterrepräsentierten Gruppen am Forschungsprozess, der Einbezug qualitativer Forschung, die intensive Diskussion ihrer normativen Grundlagen und die Kooperation mit Praktiker*innen der Konfliktbearbeitung – Selbstreflexionen, die vielleicht auch für andere Disziplinen anregend sind.

Die Friedenspsychologie befasst sich mit psychischen Phänomenen und Prozessen, die im Zusammenhang mit Friedensbildung von Bedeutung sind. Die Friedenspsychologie ist, wie der Name sagt, ein Teilgebiet der Psychologie, d.h. ihr Gegenstand ist das Erleben und Verhalten von Individuen im Themenbereich Frieden und Konflikttransformation. Gleichzeitig wird die Friedenspsychologie der Friedens- und Konfliktforschung zugeordnet, die einen wesentlich weiteren Gegenstandsbereich hat, wie beispielsweise die Analyse der Auswirkungen von volkswirtschaftlichen Entwicklungen auf Konflikt und Frieden.

Schematisch kann man sich die Einordnung der Friedenspsychologie in die Friedens- und Konfliktforschung als Mehrebenenmodell vorstellen (vgl. Abbildung 1): Die Friedenspsychologie analysiert,

(a) wie innerstaatliche und zwischenstaatliche Konflikte durch die Individuen wahrgenommen werden – wie wirkt Kriegspropaganda auf die Menschen? Behandelt werden solche Fragen beispielsweise in der psychologischen Stereotypen- und Vorurteilsforschung,

(b) welchen Einfluss die individuelle Wahrnehmung auf individuelles Verhalten hat, z.B. auf Wahlverhalten oder auf Diskriminierung und Gewalt gegen wahrgenommene Konfliktgegner*innen, und

(c) wie dieses Verhalten der Individuen wiederum zurückwirkt auf die Konflikt­eskalation oder -deeskalation auf der Makro-Ebene – wenn sich z.B. politische Entscheidungsträger*innen von Wähler*innen und deren Verhalten zu Entscheidungen gedrängt sehen.

Strenggläubige Verfechter*innen eines solchen Badewannenmodells würden sagen, dass alle Entwicklungen auf der Makro-Ebene durch psychologische Mikro-Prozesse mediiert werden. Einen solchen weiten Anspruch würde ich für die Friedenspsychologie nicht reklamieren: Es gibt auch direkte Einflüsse auf der Makro-Ebene (siehe d in Abbildung 1), für deren Verständnis individuelle psychologische Verarbeitungsprozesse von geringer Bedeutung sind, z.B. wenn Machtkonstellationen eine Veränderung der Entscheidungsstrukturen im UN-Sicherheitsrat unmöglich machen. Gleichzeitig beharre ich allerdings da­rauf, dass die Analyse von Friedens- und Konfliktentwicklungen ohne die Berücksichtigung psychologischer Prozesse unvollständig bleibt: Es sind nicht allein die Gegensätze zwischen den globalen Machtblöcken, die den Krieg in der Ukraine erklären.

Wir brauchen eine Friedenspsychologie. Die Frage ist jedoch: Kann die Friedenspsychologie ihre Aufgabe im Rahmen der Friedens- und Konfliktforschung tatsächlich erfüllen? Ich glaube ja. Allerdings sehe ich noch eine Reihe offener Fragen, deren kritische Diskussion den Wert der Friedenspsychologie für die Friedens- und Konfliktforschung noch weiter steigern könnte. Ich beziehe mich dabei auf einen kritisch-rationalistischen Ansatz, der den Mainstream psychologischer und auch friedenspsychologischer Forschung darstellt. Möglicherweise können aber auch Vertreter*innen anderer wissenschaftstheoretischer Selbstverortungen von einer selbstkritischen Übertragung der folgenden Überlegungen profitieren.

Wissensbestände in der Replikationskrise

Erstens, verfügt die Friedenspsychologie eigentlich überhaupt über ein hinreichend abgesichertes Wissen, mit dem sie zum Verständnis von Frieden und zu Interventionen zur Herstellung oder Verbesserung von Frieden beitragen kann? Die Psychologie, und so auch die Friedenspsychologie, ist eine empirisch orientierte Disziplin, d.h. sie stellt Hypothesen und Theorien auf und prüft diese in empirischen Untersuchungen. Theorien oder Modelle, die so ein gewisses Maß an empirischer Unterstützung erfahren haben, können dann eingesetzt werden für praktische Interventionen, z.B. zur Förderung von Frieden. Insbesondere die Sozialpsychologie, ein wichtiger Teil der Friedenspsychologie, hat in den letzten Jahren eine Krise durchlebt, weil manche ihrer grundlegenden empirischen Studien nicht repliziert werden konnten und damit auch die auf diesen Studien aufbauenden Theorien infrage gestellt wurden. Die Diskussion war und ist sehr aufgeheizt und nicht immer an der Sachfrage orientiert. Ich glaube allerdings nicht, dass die Friedenspsychologie sich aufgrund der Replikationskrise soweit zurücknehmen sollte, dass sie keinen ernsthaften Beitrag mehr zur Förderung von Frieden leisten kann: Die großen und relevanten Modelle der Disziplin – z.B. Theorien zum sozialen Lernen, zur sozialen Motiven, zur Bildung und Veränderung sozialer Einstellungen und zur Bedeutung von Gruppenzugehörigkeiten – haben Bestand, auch wenn manche ihre Detailmechanismen nicht in allen labor­experimentellen Umsetzungen repliziert werden können.

Kontext- und kultursensible Theorienbildung

Wohl aber verweist die Replikationskrise auf ein zweites Problem friedenspsychologischer Theorien- oder Modellbildung: den fehlenden Einbezug von Kontextbedingungen, unter denen psychologische Mechanismen so oder so wirken. Psychologische Hypothesen und Theorien werden oft in Laboruntersuchungen getestet, in denen eine als relevant angesehene Ursache (z.B. Frustration) manipuliert wird, um zu sehen, wie sich das auf die interessierenden Effekte (z.B. Aggression) auswirkt. Dabei wird oft wenig reflektiert, in welchen Kontexten und mit welchen Menschen solche Untersuchungen stattfinden und ob hypothesenstützende Ergebnisse auch unter anderen Umständen zu erwarten sind. Die mangelnde Berücksichtigung solcher Einflüsse auf psychologische Prozesse – wie die kulturspezifisch unterschiedliche Bedeutung von Gruppenzugehörigkeiten für die Identitätsfindung – wird aktuell deutlich, wenn europäische klinische Psycholog*innen Geflüchtete aus außereuropäischen Regionen behandeln: Über die Übertragbarkeit und Anwendbarkeit der nordamerikanisch-europäisch gewonnenen psychologischen Kenntnisse auf die Psyche ihrer Patient*innen wissen sie wenig. Trotzdem können sie oft helfen, was durchaus auf die Brauchbarkeit dieser Psychologie hinweist. Dennoch, was fehlt und dringend angegangen werden muss, ist die Analyse der Beeinflussung psychologischer Prozesse durch Kontexteinflüsse, insbesondere kulturelle Einflüsse, was gleichbedeutend ist mit der Forderung, die Friedenspsychologie eng mit anderen Disziplinen zu verknüpfen und kontextsensible psychologische Mehrebenenmodelle weiterzuentwickeln.

Wessen Forschung?

Die kulturelle Beeinflussung psychischer Prozesse verweist auf eine dritte offene Frage, der die Friedenspsychologie sich stellen muss: Die Forderung nach einer angemessenen Beteiligung von Minderheiten und traditionell unterrepräsentierten Gruppen am Forschungsprozess. Wenn man sich die Herkunft führender psychologischer Forscher*innen anschaut, die z.B. in den einschlägigen und einflussreichen wissenschaftlichen Journalen publizieren, stammen die zum ganz überwiegenden Teil aus Europa und Nord-Amerika und sind weiß. Die Forderung nach einer stärkeren Beteiligung von Personen aus Minderheiten und unterrepräsentierten Gruppen am Forschungsprozess ist also aus Gerechtigkeitsüberlegungen heraus sehr berechtigt. Aber auch mit Bezug auf die Qualität wissenschaftlicher Befunde ist eine stärkere Heterogenisierung der psychologischen Wissenschaftler*innengemeinde in vielen Fällen dringend erforderlich. Das gilt vor allem dann, wenn es um die Beschreibung friedenspsychologischer Phänomene geht, wie das Erleben von Diskriminierung und rassistischer Gewalt. Forscher*innen aus der Mehrheit haben dazu nur schwer validen Zugang.

Manchmal wird die Forderung der Beteiligung am Forschungsprozess allerdings auch problematisch zugespitzt: Kann ein weißes Forschungsteam, das keine persönliche Erfahrung mit rassistischer Diskriminierung hat und das selbst strukturell in eine Geschichte historischer Unterdrückungen und Privilegien eingebunden ist, Rassismus überhaupt angemessen behandeln, indem es die richtigen Fragen stellt und die richtigen Antworten findet? Sind stattdessen nicht die Erkenntnisse eines Teams von Betroffenen a-priori höher einzuschätzen? Wissenschaft braucht die Beteiligung von Personen, die mit dem untersuchten Problem vertraut sind, auch der Menschen, die betroffen sind, wie von Mitgliedern von Minderheiten, die unter Diskriminierung leiden. Aber, Betroffenheit kann Wissenschaft nicht ersetzen. Die Erkenntnisse von Betroffenen über die Ursachen das Übels, das ihnen zustößt, sind nicht zwingend die richtigen. Eine valide, d.h. auch prognose- und anwendungsfähige Friedenspsychologie setzt die Einhaltung von Qualitätsstandards voraus. Die müssen gemeinsam diskutiert werden und konsensual Anerkennung finden. Wenn aber wissenschaftliche Qualitätsstandards durch gruppenspezifische Standards ersetzt würden, besteht die große Gefahr, dass das die Qualität friedenspsychologischer Befunde und darauf aufbauender friedenspsychologischer Interventionen mindert. Wenn jede Gruppe glaubt, zu jeweils spezifischen Erkenntnissen gekommen zu sein, wird ein gemeinsames evidenzbasiertes Handeln gegen Missstände und Unrecht unmöglich. Wenn es nicht gelingt, einheitliche wissenschaftliche Qualitätsstandards zu sichern, wird die Entscheidung darüber, welcher Wissenschaft Anwender*innen am Ende folgen, eine Machtfrage.

Die Forderung nach einheitlichen wissenschaftlichen Standards bedeutet nicht, das Problem der unzureichenden Beteiligung von Minderheiten und Mitgliedern benachteiligter Gruppen an friedenspsychologischer Forschung und Anwendung auszublenden. Auch bedeutet es nicht, dass nicht verschiedene Forschungsgruppen zu unterschiedlichen wissenschaftlichen Ergebnissen kommen können. Die lassen sich in der Regel gegeneinander vergleichen und kritisch gegeneinander abtesten. Wichtig ist jedoch, dass alle Beteiligten für gemeinsame wissenschaftliche Qualitätsstandards eintreten, wobei diese Standards natürlich auch für kritische Diskussionen und Änderungen offen sein müssen. Und schließlich ist das Problem der Auswahl von friedenspsychologischen Forschungsfragen zu diskutieren, die sich sonst bevorzugt nach den Interessen privilegierter Gruppen richtet.

Wir brauchen auch qualitative Forschung

Kritisch-rationalistische friedenspsychologische Forschung beginnt mit der Erfindung einer Theorie und setzt sich fort in der nachfolgenden sauberen deduktiven Hypothesentestung. Das beschreibt allerdings nur einen Teil der real existierenden wissenschaftlichen Friedenspsychologie. Irgendjemand muss eine Theorie erfinden und sie oder er tut dies vor dem Hintergrund des Erlebens einer bestimmten Realität – z.B. auf Basis eigener Beobachtung oder auf der Basis von Erzählungen anderer. Ein viertes Problem der aktuellen psychologischen Forschungsorientierung ist, dass die Mainstream-Psychologie mit ihrer deduktiv-hypothesentestenden Orientierung die Phänomenologien dessen, was sie untersucht, oft zu stark vernachlässigt. Ich verwende bewusst den Plural, denn das Erleben von sozialen Situationen, insbesondere konfliktären, variiert, z.B. in Abhängigkeit von der eigenen Machtposition – wie oben geschildert: Diskriminierung sieht unterschiedlich aus für diejenigen, die diskriminieren, die diskriminiert werden und für die, die diese Situation, z.B. als Forscher*innen beobachten. Wir brauchen in stärkerem Maße als bislang offene qualitative friedenspsychologische Forschung, die hilft, die Bandbreite dessen zu verstehen, was und wie Menschen verschiedene Situationen erleben können. Wir müssen uns allerdings bewusst sein, dass die Erkenntnismöglichkeiten qualitativer wie quantitativer Forschung unterschiedlich sind: qualitative Forschung ist in der Regel in der Lage, etwas darüber zu sagen, was es alles gibt – z.B. welche Formen von Diskriminierung, nicht aber, wie oft es etwas gibt und womit es zusammenhängt. Das setzt Quantifizierung voraus.

Normativität

Fünftens, zu was genau kann die Friedenspsychologie eigentlich einen wissenschaftlichen Betrag leisten? Zur Auswahl von Wegen? Die Psychologie weiß beispielsweise viel darüber, wie sich Versöhnungsprozesse umsetzen lassen, wenn Versöhnung gewünscht ist. Und auch zur Festlegung von Zielen? Was beispielsweise soll im Ukraine-Kriege erreicht werden: Waffenstillstand oder Selbstbestimmung der Ukrainer*innen? Eine rein auf den empirischen Forschungsprozess konzentrierte Wissenschaft wie die Psychologie, die ihr Wahrheitskriterium aus empirischen Ergebnissen ableitet, hat zu einer solchen Frage der Zielsetzung wenig beizutragen. Die Angemessenheit von Zielen lässt sich in der Regel nicht empirisch ermitteln, sie folgen vielmehr aus ethisch-moralischen Überlegungen und demokratischen politischen Entscheidungen. Vielleicht liegt hier aber eine besondere Herausforderung und Chance für die Friedenspsychologie: Auch wenn ihr kritisch-rationalistisches Forschungsparadigma eine empirische Entscheidung über Zielfragen nicht möglich macht, doch immer wieder, in Kooperation mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen, das Ziel in den Vordergrund zu stellen: die Herstellung von Frieden. Dies wirft allerdings die nächste Frage auf: welcher Frieden eigentlich? Gerade die durchgängige kritische Auseinandersetzung mit dem Ziel Frieden begründet nach meiner Auffassung die Existenzberechtigung der Friedenspsychologie innerhalb der verschiedenen Psychologien. Die generelle Forderung, bei der Festlegung von Zielen als empirisch orientierte Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler zurückhaltend zu sein, bedeutet natürlich nicht, bei der kritischen Auseinandersetzung um Ziele völlig abstinent zu sein: Psycholog*innen sind auch Bürger*innen und sollten als solche durchaus ihre Stimme erheben – aber dann eben nicht in einer Rolle als Wissenschaftler*in.

Praktiker*innen einbeziehen

Eine weitere offene Frage ist schließlich die nach dem Verhältnis von Friedenspsychologie als einer Wissenschaft zu den Praktiker*innen, die, im günstigen Fall geleitet von friedenspsychologischen Modellen, vor Ort im Sinne der Schaffung von Frieden tätig sind. Friedenspsychologische Modelle und Theorien bestehen aus Aussagen auf der Basis von theoretischen Variablen – Frustration, die zu Aggression führt –, woraus man prognostizieren kann, dass mit dem Abbau von Frustration auch Aggression zurückgehen sollte. Diese theoretischen Variablen sind im Zuge einer Intervention in Praxis zu übersetzen: Was sind im konkreten Fall die frustrierenden Bedingungen und wie kann man sie ändern? Das setzt ein hohes Maß an praktischer Kompetenz voraus, etwas, worüber wissenschaftlich tätige Friedenspsycholog*innen nicht immer verfügen. Die unterschiedlichen Kompetenzen von Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen können zu Konflikten und zu erheblichen Verlusten in der Implementierungsgüte von eigentlich sinnvollen Maßnahmen führen, was vermieden werden sollte. Wissenschaftliche Friedenspsycholog*innen müssen sich ihrer Rolle im Verhältnis zu Praktiker*innen bewusst sein. Idealerweise gehört dazu, die hohe Kompetenz von Praktiker*innen anzuerkennen, Praktiker*innen als gleichberechtigte Partner*innen zu sehen, ihr oft implizites Wissen zur Optimierung von Interventionen zu nutzen und schließlich auch die eigenen Modelle nach den Interventionsergebnissen in einem Rückkopplungsprozess zu verbessern.

Anmerkung

1) Ich danke Christopher Cohrs, Marburg, Mario Gollwitzer, München, und Jost Stellmacher, Marburg, für ihre Kommentare zu einer ersten Version dieses Beitrags.

Ulrich Wagner ist Professor i.R. für Sozialpsychologie an der Philipps-Universität Marburg. Er war bis 2022 im Vorstand von W&F aktiv und hat zuletzt zur Kontakttheorie (handbuch-friedenspsychologie.de/) und zu Gewaltprävention publiziert.

Herrschaftskritische Methoden umsetzen – aber wie?

Herrschaftskritische Methoden umsetzen – aber wie?

Workshop, Justus-Liebig-Universität Gießen, 12.-13. Dezember 2022

Herrschaftskritische Forschung setzt sich mit Macht-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen wie Rassismus, Klassismus, Sexismus, Ableismus, Kapitalismus auseinander und fragt, wie diese Verhältnisse soziale Ungleichheit, Differenz und Unterdrückung bedingen, reproduzieren und legitimieren. Dabei widmet sich herrschaftskritische Forschung auch der Frage, wie Wissenschaft selbst zu solchen Verhältnissen beiträgt. In jüngerer Zeit haben post- und dekoloniale Perspektiven, kritische Rassismusforschung, feministische und intersektionale Zugänge sowie herrschaftskritische Perspektiven verstärkt Aufmerksamkeit und Zulauf in der Wissenschaft und darüber hinaus erhalten. Diese Perspektiven vereint, dass sie sich mit existierenden Macht-, Gewalt-, und Herrschaftsverhältnissen kritisch auseinandersetzen und selbst einen Beitrag zu ihrer Überwindung leisten möchten.

Insbesondere vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit epistemischer Gewalt und der damit einhergehenden Feststellung, dass auch wissenschaftliches Arbeiten an der Reproduktion von Herrschaft und Gewalt(-verhältnissen) beteiligt ist, wächst daher auch das Interesse an einer herrschaftskritischen Auseinandersetzung mit der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit. Denn der Wechsel von der (herrschaftskritischen) Theorie in die Praxis ist weder einfach noch eindeutig. Vielmehr sind wir in unserem Anspruch, herrschaftskritisch zu forschen, mit zahlreichen Fragen, Dilemmata und Widersprüchen konfrontiert. Das Wissen um die Herrschaftsförmigkeit des wissenschaftlichen Diskurses und der Aufruf zur Reflektion der eigenen Positionierung darin, das Wissen um die Gefahr, »epistemischen Extraktivismus« zu reproduzieren, oder der Wunsch, Forschung mit und für gesellschaftliche Akteur*innen zu betreiben, implizieren selten klare Anhaltspunkte oder Vorschläge für die eigene Forschungspraxis. Mit anderen Worten: Theoretische Einsichten in die Notwendigkeit herrschaftskritischer Forschung übersetzen sich nicht automatisch in die Fähigkeit zur angewandten Herrschaftskritik.

Diese Überlegungen waren der Ausgangspunkt für einen Workshop im Dezember 2022 an der JLU Gießen, der in Kooperation des Arbeitskreises Herrschaftskritische Friedensforschung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. (AFK) und der Sektion Transnationale und Intersektionale Herrschaftskritik am Gießener Graduiertenzentrum Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften (GGS) durchgeführt wurde. Beide Gruppierungen eint das Interesse an einem tieferen Verständnis gesellschaftlicher und globaler Herrschaftsverhältnisse, um emanzipatorische Perspektiven aufzuzeigen und zu erarbeiten, die zur Überwindung dieser Verhältnisse beitragen.

In der Diskussion der Fragen und Herausforderungen »angewandter Herrschaftskritik«, die den Workshop-Teilnehmenden in ihrer eigenen Forschung entstehen, wurde schnell klar: Es kann keine generalisierte Anleitung oder ein Rezept dazu geben, wie der herrschaftskritische Anspruch in die Praxis umzusetzen wäre. Gleichzeitig haben sich verschiedene Aspekte herauskristallisiert, die für diesen Anspruch wichtig erscheinen und deren Reflektion die Teilnehmenden als hilfreich empfanden. Daraus ist die Idee entstanden, spezifische Elemente zu benennen und zu diskutieren, die für die wissenschaftliche Praxis mit herrschaftskritischem Anspruch wichtig erscheinen. Mit anderen Worten: Wenn es nicht das eine Rezept geben kann, mit dem sich herrschaftskritische Forschung »kochen« lässt, so kann man doch wenigstens die Vorratskammer mit geeigneten Zutaten füllen. Als einige der vielen wichtigen Zutaten für ein herrschaftskritisches Methoden-Gericht haben die Teilnehmenden u.a. folgende Themen ausgemacht: eine konsequente Forschungsethik, die ungleiche Machtverhältnisse mitdenkt und die Einwilligung von Forschungsteilnehmenden, deren Schutz vor möglichen Risiken und Gefahren sowie Informiertheit über Forschungsablauf und -outputs (»informed consent«) beinhaltet. Damit verbunden ist ferner Beziehungsarbeit, um die letztgenannten Aspekte zu vertiefen und Informations- und Machtungleichheiten innerhalb teilnehmender Gruppen oder Communities sowie zwischen diesen und den Forschenden sichtbar zu machen, um einen konstruktiven Umgang damit zu ermöglichen. Weitere wichtige Grundlagen sind die bereits etablierte kritische Reflektion der oft privilegierten Positionalität der Forschenden, die aber auch intersektionale Differenzen aufweisen kann, welche wiederum wichtige Gemeinsamkeiten und Solidarität mit Forschungsteilnehmenden begründen können.

Aus der Beobachtung heraus, dass es wenige praxisorientierte Anleitungen gibt, wie ein herrschaftskritischer Anspruch in der Forschung umgesetzt werden kann, entstand die Idee, selbst eine entsprechende Handreichung zu schreiben. Die Texte sollen praxisnah, aber reflektiert Widersprüche und Probleme der wissenschaftlichen Forschung benennen und eine Grundlage für die weitere Diskussion bilden. Über diese forschungspraktische Perspektive hinaus wurde im Workshop auch die Notwendigkeit eines herrschaftskritischen Zugangs in anderen Bereichen der Wissenschaft thematisiert, etwa durch die Erweiterung von Inhalten in Lehre und Methodenausbildung, durch neue (Peer-)Support-Mechanismen und langfristig gesehen auch durch strukturelle Änderungen im Publikations- und im Hochschulwesen.

Da eine herrschaftskritische wissenschaftliche Praxis nicht zuletzt ein kollektiver Prozess ist, laden die Sektion Transnationale und Intersektionale Herrschaftskritik und der Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung herzlich zur Diskussion und Mitarbeit ein. Wer Interesse hat, sich an der Erstellung der Handreichungen zu beteiligen, oder zum Folge-Workshop im Dezember 2023 eingeladen werden möchte, kann sich gerne bei Juliana Krohn (juliana.krohn@uibk.ac.at) melden.

Marie Reusch, Philipp Lottholz, Juliana Krohn

Herausforderungen eines dritten Nuklearzeitalters

Herausforderungen eines dritten Nuklearzeitalters

Fachtagung der Universität Duisburg-Essen und International Students/Young Pugwash, Berlin, 31. Oktober – 2. November 2022

Nuklearwaffen spielen nach wie vor eine zentrale Rolle in der internationalen Politik. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 und russische Nukleardrohungen in der Folge dessen haben die Risiken einer nuklearen Konfrontation wieder deutlich ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Doch schon zuvor befand sich die globale nukleare Ordnung in einem kritischen Zustand: Während regionale Proliferationskrisen im Nahen und Mittleren Osten sowie Ostasien andauern und Kernwaffenarsenale in einigen Staaten weiter anwachsen, zeigen sich etablierte Rüstungskontrollmechanismen zunehmend geschwächt oder werden unterlaufen. Zugleich hat sich der geopolitische Kontext verändert: War das erste nukleare Zeitalter noch durch die gegenseitige Abschreckungsbeziehung der beiden Supermächte und das zweite durch das Anwachsen der Anzahl von Kernwaffenstaaten geprägt, so zeichnet sich das sogenannte »dritte nukleare Zeitalter« durch eine neue Komplexität aus. Es verbindet alte mit neuen Herausforderungen, die sich aus der Vielzahl relevanter Akteure, multipolaren Rüstungswettläufen und neuen Technologien ergeben.

Die internationale Fachkonferenz »New Age, New Thinking: Challenges of a Third Nuclear Age« (hier kurz: 3NA-Konferenz), die vom 31. Oktober bis 2. November 2022 in Berlin stattfand, widmete sich eben diesen Herausforderungen des dritten Nuklearzeitalters für nukleare Risikominimierung, Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung. Organisiert wurde die Konferenz vom Netzwerk International Students/Young Pugwash (ISYP) und der Universität Duisburg-Essen, mit Unterstützung der Heinrich Böll Stiftung, Pugwash Conferences on Science and World Affairs und der Deutschen Stiftung Friedensforschung sowie in Zusammenarbeit mit dem Bulletin of the Atomic Scientists und dem Third Nuclear Age Project der University of Leicester.

Die 3NA-Konferenz brachte knapp 40 internationale Wissenschaftler*innen aus 15 verschiedenen Ländern in Berlin zusammen, um Herausforderungen des dritten nuklearen Zeitalters und mögliche Handlungsansätze zu diskutieren. Ziel der Konferenz war nicht nur die Stärkung internationaler Forschungskapazitäten. Vor allem sollte fortgeschrittenen Studierenden und jungen Forschenden ein Raum gegeben werden, um sich untereinander, aber auch mit etablierten Wissenschaftler*innen zu vernetzen und gemeinsam neue Denkansätze zu entwickeln.

Ein zentraler Baustein des Gesamtkonzepts der 3NA-Konferenz war Diversität: Die Teilnehmenden brachten unterschiedliche nationale bzw. geographische Perspektiven sowie unterschiedliche disziplinäre Sichtweisen in die Diskussion ein. Eine Mischung aus sozial-, wirtschafts-, ingenieurs- und naturwissenschaftlichen Hintergründen trug zu einer Multidisziplinarität bei, die es erlaubte, die komplexen Hintergründe nuklearer Nichtverbreitung, Rüstungskontrolle und Abrüstung im dritten Nuklearzeitalter ganzheitlich aufzuarbeiten. Schließlich wirken technologische Faktoren immer in sozialen Strukturen und werden durch kognitive Faktoren, wie Wissens- oder Überzeugungsstrukturen oder gegenseitige Wahrnehmungsmuster geprägt. So wurde kritische Reflexion angeregt und deterministischen Analysen entgegengewirkt, etwa durch Einbezug kritischer Perspektiven, bspw. der feministischen Kritik an technostrategischer Sprache oder der bewussten Dekonstruktion von zugrundeliegenden Machtasymmetrien, die auf Nuklearpolitik einwirken.

Die Tagung begann mit einer Podiumsdiskussion, die sich mit dem Zustand des gegenwärtigen Nuklearregimes befasste. Die Sprecher*innen setzten jeweils unterschiedliche Schwerpunkte, beschäftigten sich im Kern aber mit den Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine für globale nukleare Ordnungsbildung. Besonderes Augenmerk galt dabei der Frage nach den normativen Grundlagen der nuklearen Ordnung und der Rolle von Vertrauen in antagonistischen Beziehungen. Zwar blieb offen, wann und wie angesichts des erheblichen Vertrauensverlustes durch Russlands Invasion bilaterale Rüstungskontrollgespräche zwischen Russland und den USA wieder aufgenommen und multilaterale Vertragsregime wie der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) gestärkt werden können. Mehrere Teilnehmenden unterstrichen jedoch, dass Vertrauensbeziehungen auch unterhalb der Ebene zwischenstaatlicher Diplomatie gepflegt werden können – und ergo Wissenschaftler*innen, Studierende oder Techniker*innen eine aktive Rolle dabei einnehmen können.

Die beiden anschließenden Panels des ersten Konferenztages widmeten sich jeweils politischen und technologischen Herausforderungen der nuklearen Nichtverbreitung, darunter regionale (Un-)Sicherheitsperzeptionen, die unzureichende Institutionalisierung globaler Verantwortungsrahmen oder technologische Entwicklungen im Bereich der Reaktortechnologie. Aber auch neue Forschungsansätze und deren Potentiale wurden diskutiert, etwa die Sentimentanalyse oder neue Reaktorkonzepte und deren Bedeutung für Proliferationsresistenz. Im Kern lassen sich die Ergebnisse auf einen recht simplen Nenner bringen, der den Mehrwert einer multidisziplinären Perspektive unterstreicht: So wurde etwa festgehalten, dass neue Reaktortechnologien nicht automatisch das Proliferationsrisiko erhöhen, wenn regionaler Dialog und politischer Wille zur Zusammenarbeit vorhanden sind, um eine Regulierung von Kerntechnik und Spaltmaterial zu erwirken. Zum Abschluss des ersten Konferenztages resümierte die Podiumsdiskussion die Problematik nuklearer Nichtverbreitung im dritten Nuklearzeitalter. Letztlich gelte es, eine Balance zu finden zwischen der Sensibilisierung über Proliferationsrisiken und präventivem Handeln. Hervorgehoben wurden positive Effekte der sich diversifizierenden Akteurslandschaft im dritten Nuklearzeitalter, bspw. das Potenzial von »Open Source Intelligence« oder Handelsanalysen für ein tieferes Verständnis von Proliferationsmustern oder der stärkere Einbezug privater Akteure, wie Finanzinstitutionen, angesichts ihrer Rolle in Proliferationsnetzwerken. Als zentraler Baustein kristallisierte sich außerdem die Notwendigkeit heraus, das vorherrschende Narrativ anzufechten und die Kontrollierbarkeit von Nuklearwaffen und die Unvermeidbarkeit nuklearer Proliferation zu hinterfragen.

Am Abend rundete ein Empfang im Auswärtigen Amt in Kooperation mit dem Referat für nukleare Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nonproliferation sowie dem »Jungen Nuklearen Netzwerk«, einem unabhängigen und überparteilichen Verein junger Forschender, den ersten Tag der 3NA-Konferenz ab. Der Empfang ermöglichte es den Teilnehmenden, sich weiter zu vernetzen und die diskutierten Erkenntnisse mit Einsichten aus der ordnungspolitischen Praxis zu ergänzen. Einmal mehr stand hierbei die Frage nach den zukünftigen Konturen der nuklearen Ordnung im Mittelpunkt. Kritisch diskutiert wurde, dass die Diskussion zu stark auf Großmächte konzentriert sei und andere Weltregionen aus dem Blick gerieten. Dabei könnten Erfahrungen aus anderen Regionen wertvolle Einsichten liefern, bspw. der Wandel antagonistischer Beziehungen hin zu Vertrauen im Fall von Brasilien und Argentinien.

Der zweite Konferenztag begann mit der Präsentation breiter angelegter Perspektiven. Teilnehmende erörterten die Bedeutung multiplexer Akteurskonstellationen oder von Quantentechnologien für das dritte Nuklearzeitalter, diskutierten über Herausforderungen für Abschreckungspolitik, die unterschiedliche »Domänen« umfasst, oder formulierten eine feministische Kritik an der technostrategischen Sprache an der Schnittstelle von Cyber- und Nuklearpolitik. Zwei weitere Panels befassten sich mit den technologischen, aber auch ethischen Herausforderungen, mit Blick auf die Entwicklung neuer Trägersysteme wie Hyperschallgleiter, für Rüstungsdynamiken, der Vereinbarkeit von strategischer Stabilität und humanitärem Völkerrecht sowie den Herausforderungen und Grenzen der Nutzung künstlicher Intelligenz für militärische Anwendungen. Den Abschluss der Konferenz bildete eine Podiumsdiskussion zu der Frage, wie und ob angesichts der während der beiden Tage diskutierten technologischen und politischen Herausforderungen, die Risiken nuklearer Eskalation minimiert und effektive Mechanismen nuklearer Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung etabliert werden können. Zwar herrschte bei einigen Teilnehmenden Skepsis mit Blick auf die Frage, inwiefern es in der gegenwärtigen Lage gelingen kann, den Zustand der Unordnung zu überwinden. Einig waren sich die Teilnehmenden aber darin, dass das Bemühen um nukleare Ordnungsbildung letztlich alternativlos ist und Wissenschaft wichtige Impulse liefern kann. Da die Erfolgsaussichten für eine Wiedereinsetzung bilateraler Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland derzeit gering sind, sollten die Bemühungen verstärkt werden, konkrete Abkommen zur Risikominimierung, bspw. mit China, auszuhandeln. Diese müssten neue Technologien unbedingt einschließen. Festgehalten wurde aber auch die wichtige Rolle nichtstaatlicher Akteure, etwa im Bereich der politischen Aufklärungsarbeit über Nuklearwaffen, inklusive der Sensibilisierung für Proliferations- und Eskalationsrisiken aufgrund von kognitiven Prägungen sowie politischen und technischen Interpretationen. Die Beiträge der Studierenden und jungen Forschenden lieferten dafür eine reichhaltige Palette konkreter Vorschläge.

Damit diese auch in den öffentlichen Diskurs einfließen, endete die Konferenz mit einer besonderen Gelegenheit für die Teilnehmenden: Die 3NA-Konferenz wurde durch eine Schreibwerkstatt mit John Mecklin, dem Chefredakteur des renommierten Bulletin of the Atomic Scientists, abgerundet. Er ermutigte die jungen Forschenden, ihre Konferenzbeiträge für eine mögliche Veröffentlichung im Bulletin zu überarbeiten. Tatsächlich ist geplant, mehrere der Vorträge mit dem Bulletin zu veröffentlichen, um neues Denken und Forschung auch dort weiterzutragen.

Die 3NA-Konferenz markierte den Auftakt neuer Denk- und Forschungsprozesse und förderte den internationalen, interdisziplinären und intergenerationellen Austausch. Der Komplexität des dritten Nuklearzeitalters wurde mit Diversität, Fachkompetenz, und Multidiziplinarität begegnet. Zu den Erkenntnissen gehören auch offene Diskussionspunkte und Forschungslücken, etwa zum Konzept von Sicherheit und Stabilität im dritten nuklearen Zeitalter, zur Rolle von Vertrauen oder zum Umgang mit autoritären Staaten.

Elisabeth Suh und Carmen Wunderlich

Es geht gar nicht um Mali!

Es geht gar nicht um Mali!

Eine kritische polit-ökonomische Analyse des Bundeswehreinsatzes1

von Michael Berndt

Der Bundeswehreinsatz in Mali steht immer wieder im Brennpunkt öffentlicher Debatten. Häufig geht es in diesen Debatten jedoch um Terrorbekämpfung oder Mandatsfragen. Selten werden die dem Einsatz zugrunde liegenden Interessen thematisiert. Aus der Perspektive kritischer Friedensforschung sind diese Interessen jedoch als Basis militärisch gewaltsamer Politik aufzudecken, um zu einem Wandel sowohl der Interessen als auch der Politik beizutragen. Dazu kann Ekkehart Krippendorffs polit-ökonomischer Ansatz zur Analyse inter­nationaler Beziehungen herangezogen werden. Die Konsequenzen einer solchen Politik und Analyse stehen im Fokus dieses Beitrags.

Seit 2013 beteiligt sich die Bundeswehr an der UNO-Mission MINUSMA und der militärischen Ausbildungsmission der Europäischen Union EUTM in Mali. Aus Ekkehart Krippendorffs materialistischem Ansatz, dass die Staaten in ihren Handlungen objektive Interessen verfolgen, die in der Organisation der kapitalistischen Reproduktionsbedingungen begründet sind, könnte man schließen, dass der Bundeswehreinsatz in Mali objektiven ökonomischen Interessen Deutschlands folgen müsste. Nur: Die Anteile Malis am deutschen Im- und Export sind verschwindend gering. Es gibt auch keinerlei Waren aus Mali, auf die die deutsche Ökonomie angewiesen wäre, und deutsche Direktinvestitionen in Mali gibt es nahezu auch keine. So erscheint der Gedanke an die Dominanz der objektiven Interessen Deutschlands beim Militäreinsatz in Mali ziemlich abwegig. Dennoch möchte ich bei Krippendorffs Herangehensweise bleiben. Ein Rückbezug auf einen Ansatz aus den 1960er und 70er Jahren wirkt vielleicht anachronistisch, denn sowohl die Friedensforschung als auch die politische Ökonomie haben sich seitdem weiterentwickelt. Allerdings – so die These – öffnet Krippendorffs Herangehen eine neue Perspektive auf die aktuelle deutsche Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik, wie sie bisher so noch nicht im Blick war.

I) Krippendorffs materialistischer kritischer Friedensforschung

Ekkehart Krippendorff geht in seinem Ansatz (vgl. Berndt 2021) davon aus, dass Militär, Krieg und Rüstung Mittel des Staates zur Ausdehnung von Märkten und Direktinvestitionen oder auch dem Erschließen von Rohstoffquellen sind – also der ständigen Reproduktion von Wachstum durch die »politischen Eliten« dient (Krippendorff 1975, S. 30). In Konkurrenz mit anderen staatlich verfassten Gesellschaften im Rahmen des kapitalistischen Weltmarktes ist Militär also ein normales Mittel.

Die Politik der Staaten basiert auf objektiven Interessen, die ihre Wurzeln in den Reproduktionsbedingungen haben. Deshalb hat eine Analyse von Außenpolitik bei der gesellschaftlichen Struktur zu beginnen und die objektiven Interessen herauszuarbeiten (Krippendorff 1963, S. 246). Diese Interessen sind objektiv vorhanden, egal wie und ob sie von den Handelnden artikuliert werden (siehe dazu z.B. auch Senghaas 1993, S. 469). Eine Nichtbeachtung der objektiven Interessen durch die Handelnden bedroht letztlich aber die konkreten kapitalistischen Reproduktionsbedingungen und damit auch die politische Herrschaft. Erst wenn die objektiven Interessen herausgearbeitet sind, kann die Frage gestellt werden, warum im konkreten Fall auf militärische Mittel gesetzt wird.

II) Objektive, deutsche Interessen?

2018 betrug das BIP Deutschlands laut statistischem Bundesamt 3.386 Mrd. Euro. Dabei wurden Waren im Wert von 1.089,6 Mrd. Euro importiert und von 1.317,9 Mrd. Euro exportiert. Das zeigt, dass die bundesdeutsche Ökonomie sehr stark vom Außenhandel abhängig ist, ja dass Deutschland schon seit Jahrzehnten ganz zentral vom Exportüberschuss lebt. Betrachtet man nun diesen Außenhandel genauer, hier also die wertmäßig stärksten Branchen, die zusammen für 50 % des Außenhandels verantwortlich sind, so fällt auf, dass es im Im- und Export jeweils die gleichen Branchen des produzierenden Gewerbes (56,45 % des Exports und 43,4 % des Imports) sind: Kraftwagen und Kraftwagenteile, Maschinenbau, Chemische Erzeugnisse, elektrische und optische Erzeugnisse.

Nicht nur, dass also der Außenhandel (und hiermit auch der Exportüberschuss) vom produzierenden Gewerbe bestimmt wird, das produzierende Gewerbe ist auch bezüglich der Beschäftigten (14,8 %) und des Anteils an der Bruttowertschöpfung (30,38 %) zentral. In den für den Export relevanten Branchen waren 2017 nur 1,3 % der Unternehmen in Deutschland aktiv, sie beschäftigten aber 10,7 % der Arbeitskräfte, tätigten 18,1 % des Umsatzes und trugen mit 18,1 % zur Bruttowertschöpfung bei. Gerade der Automobilindustrie kommt hier eine herausragende Rolle zu.

Betrachtet man nun die Importe und Exporte 2018 nach Herkunft bzw. Zielstaaten und gehandelten Waren, so ist feststellbar, dass die EU-Staaten die Basis des deutschen Außenhandels sind. 59,08 % der Exporte gingen in die EU und 57,18 % der Importe kamen aus der EU – dabei aus Frankreich 7,99 % der Exporte und 5,98 % der Importe und aus den Niederlanden 6,92 % der Exporte und 9,01 % der Importe.

Noch etwas ist hier feststellbar: 68,15 % des bundesdeutschen Außenhandelsüberschusses wird im Handel mit den anderen EU-Staaten erwirtschaftet, darin enthalten 17,60 % mit Frankreich, die sich nur leicht von den 21,41 % im Handel mit den USA unterscheiden. D.h. die deutsche Ökonomie ist extrem abhängig vom innereuropäischen Handel und Warenfluss und darin v.a auch von Frankreich.

Importe in die Sahelstaaten: europäische Verflechtungen

Damit richtet sich der Blick auf den Handel mit Mali bzw. den Staaten der Sahel-Region, hier den sogenannten G5-Sahel (Burkina Faso, Mali, Mauretanien, Niger, Tschad). Betrachtet man zunächst die Exporte 2018 in die G5-Sahel, so sieht es bei Frankreich und den Niederlanden ähnlich aus wie für Deutschland. Die Werte sind, gemessen an den Gesamt­exporten, eher marginal und kommen nicht über 0,066 % (Anteil des Exports Frankreichs nach Mali am Gesamtexport Frankreichs) hinaus. Deutschlands Export nach Mali machte 2018 nur 0,008 % des gesamten deutschen Exportes aus. Nun ist zwar eine tendenzielle Steigerung sichtbar – von 0,0069 % in 2010 auf 0,012 % im Jahr 2017. Daraus einen zu sichernden Exportmarkt abzulesen, wäre aber gewagt.

Betrachtet man, welche Bedeutung die drei genannten EU-Staaten 2018 für die Importe in die G5-Sahel Staaten hatten, sehen die Zahlen schon anders aus. Hier ist festzuhalten, dass von den drei europäischen Staaten Frankreich dominiert. Der Import des Tschad wird zu knapp 12 %, Nigers zu ca. 11 %, Malis zu 10 %, Burkina Fasos zu 8 % und Mauretaniens zu 6,5 % von Waren aus Frankreich bestimmt, allerdings oft auch überholt z.B. von der VR China, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder auch der Elfenbeinküste. Nur für Niger war Frankreich der größte Importeur und das einzige EU-Land, das in den G5-Sahel-Staaten relevante Anteile am Import hatte, die aber im Vergleich zum gesamten französischen Außenhandel wiederum eher marginal waren.2

Französische Dominanz

Was 2018 nicht mehr auffiel, aber 2017 ins Auge sprang, war der Wert (45 %) für den Anteil Frankreichs am Export des Nigers. Davon bestanden 98 % aus radio­aktiven Chemikalien bzw. Uran, womit Niger mit einem Anteil von 32 % am Uran­import Frankreichs wichtigster Lieferant war. Und dies auch schon über die letzten Jahre. Obwohl Uran 2017 nur einen Anteil von 2,24 % am französischen Import ausmachte, ist es doch wichtig für die französischen Kernkraftwerke und Atomwaffen. Frankreich hat also gerade am Niger und seinen Uranvorkommen ein massives Interesse, auch wenn es sich an dieser Stelle seit 2017 relativiert hat. Hier ist aber festzuhalten, dass die Uran-Verbindung zwischen Niger und Frankreich noch eine Besonderheit aufweist, die die These von Frankreichs objektiven Interessen in der Region untermauert. Nicht nur, dass Frankreich Uran aus Niger importiert. Das Uran wird in Niger auch vom französischen Unternehmen Orano (früher Areva) abgebaut. Dazu kommt, dass Orano mehrheitlich im Besitz des französischen Staates ist, was das ökonomische Interesse auf die Politik durchschlagen lässt.

Betrachtet man vor diesem Hintergrund nun noch die Direktinvestitionen Frankreichs (auch im Vergleich mit Deutschland) in der Region, wird das französische Interesse noch deutlicher: Während französische Firmen in Nord- und Subsaharaafrika (ohne Südafrika) 2016 ca. 40 Mrd. US$ investierten, dürften die deutschen Investitionen kaum die 5 Mrd. US$ Linie erreicht haben (Heinemann 2018). Eine Suche nach Unternehmen, die in Afrika in größerem Rahmen investiert haben, fördert ein ganzes Bündel an französischen Unternehmen zutage (siehe z.B.: International Finance Corporation 2018, S. 14). Deutsche Unternehmen sind hier kaum gelistet (ebd.).

Die Masse an französischen Unternehmen ergibt sich aber nicht nur daraus, dass in vielen der Staaten Französisch eine Amtssprache ist und sie (nur) früher französische Kolonien waren, sondern auch über ihre Währung, den CFA-Franc, der früher an den Franc und heute an den Euro gekoppelt ist. Damit verfügen französische Unternehmen historisch gewachsen „über ein kommerzielles Quasimonopol in der Franc-Zone“ (Mbaye 2014, S. 17).

Damit noch nicht genug: Im Rahmen der CFA-Konstruktion mussten die CFA-Staaten 50 % ihrer Währungsreserven in Frankreich – nicht etwa bei der Zentralbank, sondern beim Finanzministerium hinterlegen (Koddenbrock 2019, S. 140). Der französische Staat konnte schließlich „diese Reserven (mehrere zehn Milliarden Euro) in Schatzanweisungen investieren, die wiederum als Sicherung für Kredite dienen, mit denen er sein eigenes Haushaltsdefizit finanziert“ (Mbaye 2014, S. 18). 2019 wurde die Hinterlegungsverpflichtung für die Mitglieder des westafrikanischen CFA abgeschafft (Tull 2022, S. 2), doch behielt die französische Regierung noch diverse Kontrollmöglichkeiten (Pigeaud und Sylla 2022, S. 59f.).3

Dazu kommt abschließend noch die schwer zu quantifizierende Zahl der in der Region lebenden Französ*innen (Ehrhart 2021, S. 200) – teilweise als Angestellte der französischen Unternehmen, teilweise aber auch als Privatpersonen, z.B. Hotelbetreiber*innen –, die sich letztlich auf den Schutz durch den französischen Staat berufen können.

Während Frankreich also massive objektive ökonomische Interessen in der Region hat und diese ausbaut, gibt es kaum vergleichbare objektive Interessen Deutschlands in der Sahel-Region. Wohl aber hat Deutschland objektive Interessen an der EU und Frankreich, die sich in den Außenhandelsüberschüssen Deutschlands gegenüber der EU und Frankreich manifestieren. Für Frankreich besteht das Interesse an Deutschland, neben der Kooperation zum Funktionieren der EU, gerade auch darin, dass Deutschland seine Außenhandelsüberschüsse gegenüber Frankreich kompensiert. Sollte der Mali-Einsatz der Bundeswehr also Teil dieser Kompensation sein, dann ist festzuhalten, dass es für Deutschland bei dem Einsatz nicht um Mali oder die Lage im Sahel geht.

III) Die Bundeswehr als Mittel deutscher Außenpolitik

Bleibt die Frage, warum diesem Interesse gerade mit dem physischen Gewaltinstrument der deutschen Politik, der Bundeswehr, gefolgt wird und nicht anders. Diese Frage stellt sich auch allein ökonomisch: Der Bundeswehreinsatz in Mali kostete allein im Jahr 2018 satte 286 Mio. Euro (Deutsche Welle 2019), während die Bundesrepublik in den drei Jahren zwischen 2015 und 2017 nur 131 Mio. Euro an staatlichen Mitteln für die Entwicklungszusammenarbeit mit Mali aufgewendet hat (Kane und Köpp 2020).

Hier lohnt sich ein Blick zurück in die Zeit des Ost-West-Konfliktes. Die Mär, dass die Bundeswehr damals nur den Zweck hatte, die Bundesrepublik im NATO-Bündniskontext zu verteidigen, konnte schon insofern relativiert werden, dass das Einbringen der Bundeswehr in internationale Kooperationen immer dem Ziel diente, den bundesdeutschen Einfluss sowohl auf die konkrete Form der (Bündnis-)Verteidigung als auch auf außenpolitische Fragen zu vergrößern (Berndt 1997, S. 135ff). In diesem Kontext ist die bundesdeutsche Strategie zu verstehen, in Kooperation mit Frankreich schon ab den 1980er Jahren dem europäischen Integrationsprozess eine militärische Komponente zu geben (ebd.). Das »Glück« bei dieser Strategie im Ost-West-Konflikt bestand darin, dass Kampfeinsätze der Bundeswehr ausgeschlossen waren, zu groß war auch das Misstrauen der europäischen Partner, gerade auch Frankreichs – noch bis zur Vereinigung 1990 (siehe: Ruf 2020, S. 28f.). Davon ausgenommen war natürlich der Fall, wenn es zu einem heißen Krieg zwischen NATO und WVO gekommen wäre, aber der blieb aus. Diese Strategie wurde auch nach dem Ost-West-Konflikt (siehe: Berndt 1997) und auch unter Rot-Grün (siehe: Berndt 2001) fortgesetzt. Jedoch wurde es fortan immer schwieriger, das Ziel zu verfolgen, über militärische Beteiligung außenpolitischen Einfluss im Interesse der deutschen Ökonomie zu erhalten, sich dabei aber aus Kampfeinsätzen herauszuhalten. Erst recht, wenn man diese prinzipiell auch gar nicht (mehr) ablehnte, ja gar die Bundeswehr (bei allen Mängeln) zu diesem Zweck umbaute. Unter diesen Bedingungen wurde es schließlich auch zunehmend schwieriger, sich entsprechenden Anliegen von Verbündeten – und für den Fall Malis konkret gesprochen 2013 eben dem Anliegen Frankreichs – zu widersetzen.

Gerade im Kontext der Europäischen Union waren es ja immer wieder die bundesdeutschen und die französischen Regierungen (egal welcher Couleur), die nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes nicht nur eine Stärkung der Rolle der EU in der Welt forderten, sondern diese Stärkung auch dezidiert mit einem Ausbau der eigenständigen militärischen Fähigkeiten der EU verbanden.4 Neben den Vorhaben im Kontext der EU (siehe: Aust 2019) sind auch noch die deutsch-französischen »Sonderbeziehungen« zu berücksichtigen. Ein Ausdruck davon manifestierte sich u.a. zum 56. Jubiläum des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrages von 1963 – der auch schon eine verstärkte militärische Kooperation anvisierte – am 22.1.2019 im sogenannten »Aachener Vertrag«. Es ist durchaus beachtenswert, dass in diesem Dokument „Frieden, Sicherheit und Entwicklung“ direkt in Verbindung mit Verteidigung und der Rolle Europas gebracht werden (Art. 3) und Afrika zu einem gemeinsamen Interessensgebiet erklärt wird (Art.7). Sind die Interessen Deutschlands in Afrika aber eher unklar, liegen die französischen auf der Hand.

Das Problem für die französischen Regierungen stellt sich jedoch dergestalt dar, dass das französische Militär nicht fähig ist, in größerem Umfang Militäreinsätze durchzuführen (siehe auch: Kempin 2017, S. 264). Dies zeigt sich unter anderem am Libyen-Krieg 2011/12. Hier drängten zwar die britische und die französische Regierung auf ein militärisches Eingreifen und sie waren die ersten, die militärisch aktiv wurden (Lindström und Zetterlund 2012, S. 17ff.), doch zu Ende führen konnten sie dies nur unter Mithilfe der USA. Ähnlich sieht es im Sahel aus: Die französische Regierung braucht die Unterstützung anderer EU-Mitglieder und vor allem Deutschlands, um seine Interessen durchzusetzen.

IV) Die Lage in Mali bzw. in der Sahel Region

Die Lage in Mali im Konkreten und in der gesamten Sahel-Region allgemein ist 2022, also zehn Jahre nach Beginn der französischen Intervention, weit schwieriger als noch 2012. Nicht nur der Rückhalt für die französischen und westlichen Truppen im Sahel schwindet zunehmend (Sembdner 2020).

Auf der einen Seite zeigt die bisherige militärische Strategie kaum Wirkung und weder »Frieden« noch »Entwicklung« sind in Sicht. Dazu kommen in Mali und zuletzt in Burkina Faso die Putsche, die Aussetzung der Demokratie und die Präsenz russischer Ausbilder und Angehöriger der russischen (Söldner-)Gruppe Wagner in Mali (Dörries 2022) und evtl. perspektivisch auch in Burkina Faso (Perras 2022). Auf der anderen Seite steht das Drängen Frankreichs, auch in Richtung Bundesrepublik (Szymanski 2020), sich verstärkt an militärischen Aktionen zu beteiligen (siehe auch Reuß 2021). Die deutsche Bekundung, dass die Entwicklung in der Sahel-Region im deutschen Interesse sei (Kramp-Karrenbauer 2019), macht es – neben den ökonomischen Interessen des fortgesetzten Außenhandels mit Frankreich – für die Bundesrepublik immer schwieriger, sich zurückzuziehen bzw. umzuschwenken.

Die französische – und in diesem Sinne auch die europäische – Strategie im Sahel ist aber in allen Punkten gescheitert (siehe auch Leymarie 2021): Terrorismusbekämpfung, Frieden, Demokratie, Entwicklung, Fluchtursachenbekämpfung, Stabilität – in allen Bereichen sind keine Fortschritte oder Erfolge zu vermelden. Anstatt sich, wie Frau Kramp-Karrenbauer (2019) vorschlug, verstärkt militärisch zu engagieren, wäre ein grundsätzlicher Wandel der französischen, europäischen und deutsche Strategie notwendig (siehe dazu: Kinzel 2020). Das Problem: Frankreich setzt aufgrund seiner objektiven Interessen in der Region auf militärische Terrorismusbekämpfung, in Kooperation mit durchaus kritikwürdigen Regimen. Und Deutschland beteiligt sich daran, vor dem Hintergrund seiner objektiven Interessen an seiner Außenhandelsstruktur mit Frankreich und der EU.

V) Fazit

Auf der Basis des Krippendorff’schen Ansatzes konnte aufgezeigt werden, dass gerade die objektiven Interessen Deutschlands an einer funktionierenden EU als zentraler Region für den bundesdeutschen Export(-überschuss) und das chronische französische Handelsbilanzdefizit gegenüber Deutschland zentrale „übergeordnete Gründe (Wiedemann 2018, S. 9) für die Entscheidung für den Mali/Sahel-Einsatz der Bundeswehr gewesen sein dürften. Nun ist anvisiert, dass die Bundeswehr bis 2024 aus Mali abzieht. Die EUTM Truppen sind auch schon abgezogen, allerdings nur nach Niger. Auch dort ist Frankreich nach seinem Abzug aus Mali militärisch weiter im Sahel präsent (Krüger 2022).

Nun treffen die Thesen aus Krippendorffs Ansatz aus den 1970er Jahren auf neue Verhältnisse, die von europäischer Integration, Globalisierung und Liberalisierung geprägt sind. Hier bedarf es einer Aktualisierung. Es gibt zwar immer noch, wie am Beispiel Frankreichs sichtbar, objektive Interessen an bestimmten Regionen, die nicht zum Kreis der westlichen Industriestaaten zählen. Es gibt aber auch dominante objektive Interessen, wie im Fall Deutschlands, die sich genau auf die Haupthandelspartner in der Welt der westlichen Industriestaaten richten. Hier kommt nun das Gefüge mittelbarer objektiver Interessen zum Einsatz.

Objektives Interesse Deutschlands (und auch Frankreichs und der Niederlande) ist es, den verflochtenen Welt- und EU-Markt als Export- wie als Importmarkt zu erhalten, was bei der Durchsetzung zur Folge haben kann, Militär einzusetzen und sich damit an Kriegen zu beteiligen, wo selbst nur mittelbare objektive Interessen vorhanden sind. Ein solches Modell vermittelter objektiver Interessen kann helfen, heutige Bündniseinsätze der Bundeswehr v.a. im Rahmen westlicher Allianzen zu entschlüsseln.

Aus der Perspektive kritischer Friedensforschung ist die Rolle von Militär als gewaltsamem Mittel der Außenpolitik zu thematisieren. Während für Frankreich hier nahezu die klassische Annahme (mit Militär objektive Interessen durchzusetzen) adäquat erscheint, trifft dies im Sahel so für Deutschland nicht zu. Wie aber die Diskussion der bundesdeutschen militärpolitischen Strategie gezeigt hat, benutzten alle Bundesregierungen die Bundeswehr als eine »Karte« unter anderen, um sowohl ihren Anspruch an Mitsprache als auch ihre Bereitschaft zur Kooperation (weit über den militärischen Bereich hinaus) zu signalisieren, letztlich auf der Basis der mittelbaren objektiven Interessen.

In der verflochtenen europäischen und globalen Ökonomie und auf der Basis eines erweiterten Sicherheitsbegriffs wird Militär – wenn man ihm nicht fundamentalkritisch gegenüber steht (Berndt 2013) – zu einem multifunktionalen Instrument der Wahrung dieser objektiven Interessen.

Wenn nun mit diesem Herangehen herausgearbeitet werden konnte, dass Deutschlands objektive Interessen, auch wenn sie nicht auf das Einsatzgebiet gerichtet sind, dazu führen, dass Bundesregierungen die Bundeswehr in Kampfeinsätze schickt, dann wäre es für eine deutsche Friedenspolitik an der Zeit, an der Struktur der objektiven Interessen und den Reproduktionsbedingungen anzusetzen. Tragen diese doch nicht nur dazu bei, sich in »Sachzwänge« zu manövrieren, in denen Militär und das Leben von Soldat*innen »Spieleinsätze« sind in einem Spiel aus dem man nicht mehr – ohne politischen Schaden – herauszukommen scheint. Mit der besonderen Basis der bundesdeutschen Reproduktionsbedingungen, der gesamtökonomischen Dominanz der Automobilindustrie, tritt hier noch ein massives Problem zutage: Gerade der verbrennungsmotorbasierte Individualverkehr und seine Reproduktionsbedingungen sind für einen Großteil der ökologischen Pro­bleme mit verantwortlich, die im Sahel zu den sozialen und politischen Problemen führen, die als Gründe angeführt werden, um dort wiederum europäisches Militär einzusetzen (siehe vertiefter: Berndt 2023).

Anmerkungen

1) Dies ist eine stark gekürzte und aktualisierte Fassung meines Beitrages zur DVPW-Tagung »Von Wertschöpfungsketten und Sicherheitsapparaten: Zur Beziehung von Ökonomie und Gewalt in den deutschsprachigen Internationalen Beziehungen«.

2) Aber: Frankreich, das insgesamt immer Handelsdefizite erwirtschaftete, konnte zumindest gegenüber den G5-Sahel einen Überschuss geltend machen.

3) Zur neokolonialen Abhängigkeit der CFA-Staaten siehe auch Afoumba 2022 (W&F 2/2022).

4) Die britischen Regierungen (egal welcher Couleur) standen diesem Ansinnen immer skeptisch gegenüber. Mit dem Ausgang des Brexit-Referendums hat sich die Möglichkeit der britischen Regierungen erledigt, hier bremsend zu wirken.

Literatur

Afoumba, D. (2022): »Freiwillige« Kolonialisierung? Franc CFA, Frankophonie und Militärabkommen in Westafrika. W&F 2/2022, S. 38-41.

Aust, B. (2019): Der Europäische Verteidigungsfonds. Ein Rüstungsbudget für die „Militärunion“. W&F 1/2019, S. 43-45.

Berndt, M. (1997): Deutsche Militärpolitik in der „neuen Weltunordnung“. Zwischen nationalen Interessen und globalen Entwicklungen (Agenda Resultate: 5); Münster: Agenda Verlag.

Berndt, M. (2001): Wer mitreden will, muß mitschießen können. Teil II: die „rot“-“grüne“ Variante. antimilitarismus information 31(12), S. 65-67.

Berndt, M. (2013): Militärkritik muss Fundamentalkritik sein, um kritisch zu bleiben. Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden (S+F) 31(3), S. 157-162.

Berndt, M. (2021): Der polit-ökonomische Ansatz der Kritischen Friedensforschung von Ekkehart Krippendorff. Die Friedens-Warte 94(1-2), S. 30-44.

Berndt, M. (2023): Objektive Interessen in der deutschen Außenpolitik. Eine kritische Analyse. Wiesbaden: Springer (im Druck).

Deutsche Welle (2019): Auslandseinsätze viel teurer als geplant. Agenturmeldung, 29.4.2019.

Dörries, B. (2022): Wagner in Timbuktu, in Süddeutsche Zeitung, 8.1., S. 6.

Ehrhart, H.-G. (2021): Frankreichs Politik im westlichen Sahel. In: Heß, J.; Lutz, K.-H. (Hrsg.): Wegweiser zur Geschichte: Mali und westlicher Sahel. Leiden u.a.: Brill, Schöningh, S. 199-207.

Heinemann, T. (2018): Why are German firms reluctant to invest in Africa? KfW Research – Economics in Brief No. 171, 27.12.2018.

International Finance Corporation (2018): Trends in FDI and cross-border investments in compact with Africa countries – Interim Monitoring Report. Washington, DC.

Kane, M.; Köpp, D. (2020): Mali: Keita freigelassen, G5 fordern zivile Übergangsregierung. Deutsche Welle, 27.8.2020.

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Dr. habil. Michael Berndt ist Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück und Oberstudienrat an einer nordhessischen Schule. Er ist Mitglied im Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung der AFK.

Konfliktsensibilität machtkritisch gestalten

Konfliktsensibilität machtkritisch gestalten

von Cora Bieß 1

Konfliktsensibilität spielt in der Friedensarbeit und für eine konstruktive Konfliktbearbeitung eine bedeutende Rolle. Häufig wird Konfliktsensibilität anhand des »Do No Harm«-Konzepts definiert, das jedoch keine macht- und herrschaftskritischen Perspektiven auf die eigene Intervention in Konflikte enthält. Könnte eine machtkritische Reformulierung helfen, koloniale Kontinuitäten sowie das Zusammenspiel von Privilegierungen und Diskriminierungen besser erkennbar und transformierbar zu machen? Kann so eine strukturell gewaltärmere Konfliktsensibilität geschaffen werden?

Konfliktsensibilität bedeutet, sich der Wechselwirkung zwischen den eigenen Interventionen in einen Konflikt und der Konfliktdynamik bewusst zu sein oder zu werden. Ein konfliktsensibler Ansatz soll also Schaden durch die eigene Intervention verhindern und zu einem konstruktiven Konfliktumgang beitragen. Konfliktsensibilität ist in verschiedenen Kontexten anwendbar, ganz unabhängig von Intensität oder Häufigkeit der vorhandenen Gewalt, auch in Kontexten, die vordergründig keine gewaltvollen Spannungen aufzeigen.

Eine solche Konfliktsensibilität wird vielerorts gefordert, festgestellt oder zumindest vorbereitet. Exemplarisch dafür wird in einer 2021 erschienenen Publikation von FriEnt die neue Bundesregierung gezielt aufgerufen, sich an einer Praxis des »Do No Harm« zu orientieren: „Die Bundesregierung und ihre staatlichen wie nicht-staatlichen Partner*innen sollten daher eine Strategie für die Stärkung und Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteur*innen entwickeln, die sich am übergeordneten Ziel der Friedensförderung und dem Prinzip des ,Do No Harm‘ orientieren (Bärwaldt 2021, S. 4). Darüber hinaus erinnerte Martina Fischer, Referentin für Friedensfragen bei Brot für die Welt, nach Bildung der neuen Bundesregierung diese an ihre eigenen Grundsätze: „[D]ie Politik muss sich am ,do no harm‘-Grundsatz orientieren und Schaden vermeiden. Diesem Ziel haben sich deutsche Regierungen mit ihren Leitlinien ,Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern‘ 2017 explizit verpflichtet (Fischer 2021). Als drittes Beispiel soll ein Aufsatz Hanne-Margret Birckenbachs dienen, die an die Notwendigkeit für Fehlerfreundlichkeit und Reflexivität erinnerte, denn „auch der Versuch, Frieden zu stiften, kann scheitern“ (ebd., S. 70). Hierfür ist laut Birckenbach »Do No Harm« wegweisend, wodurch „Auswirkungen von Hilfsaktivitäten auf die Konfliktentwicklung in Kriegsgebieten reflektiert werden“ könnten (ebd.).

Es lässt sich auch festhalten: Inzwischen wird »Do No Harm« von verschiedenen Organisationen, Akteur*innen der Konflikt- und Friedensarbeit sowie Regierungsorganisationen als gängiger Standard verwendet. Dennoch enthält »Do No Harm« eine zentrale Wahrnehmungslücke, die zweifellos Konfliktdynamiken maßgeblich beeinflussen kann: die Auswirkungen von Macht und Herrschaft. Der vorliegende Text versucht daher eine Reformulierung von Konfliktsensibilität vorzunehmen, die strukturelle Gewalt im Kontext kolonialer Kontinuitäten ins Zentrum stellt.

Das Konzept »Do No Harm«

»Do No Harm« wurde in den 1990er Jahren ursprünglich für den Kontext der Entwicklungsarbeit von Mary Anderson (1999) entwickelt und impliziert das Verständnis, dass eine Intervention in einen Konflikt bedeutet, selbst Teil des Konflikts zu werden. Demnach sind Aktivitäten und Interventionen in einem Konfliktumfeld nicht neutral, sondern beeinflussen die Dynamik von Konflikten. Auf Deutsch bedeutet »Do No Harm« übersetzt so viel wie: „Richte keinen Schaden an“. Dies gilt inzwischen als der „international anerkannte Qualitätsstandard konfliktsensibler Arbeit“ (Bücken und Frieters-Reermann 2021, S. 264). »Do No Harm« ist somit ein Mindeststandard für die Praxis, um unbeabsichtigten Schaden zu vermeiden. Das bedeutet, dass Organisationen und Akteur*innen im Falle von unbeabsichtigt konfliktverschärfenden Folgen ihrer Programme auf die entstandenen Folgen eingehen sollen.

Laut CDA (o.J.) dient die Anwendung von »Do No Harm« dazu, dass Organisationen einerseits verantwortungsbewusster und andererseits effizienter werden. »Do No Harm« umfasst dabei eine detaillierte Konfliktanalyse verbunden mit einer Folgenabschätzung (Birckenbach 2023, S. 158). Zudem sollen lokale Stimmen in Programmentwicklungen gefördert werden. Das Ziel von »Do No Harm« ist es also, konfliktverschärfende Dynamiken frühzeitig zu erkennen und in Folge die eigene Kommunikation, Interaktion und Kooperation entsprechend anzupassen.

»Do No Harm« beruht auf dem einfachen Konzept einer Analyse der »trennenden Faktoren« (»Dividers«) und der »verbindenden Faktoren« (»Connectors«), um die Beziehungen zwischen den Gruppen in dem Kontext darzustellen, in dem eine Maßnahme durchgeführt wird. Trennende Faktoren führen in der Regel zu Spaltungen oder Spannungen, verbindende hingegen können die Basis für Gemeinsamkeiten bilden. In Kontexten gewaltvoller Konflikte sind die Verbindungslinien (»Connectors«) allerdings teilweise schwer erkennbar. Programmaktivitäten müssen nach dieser erfolgten Analyse dann so gestaltet werden, dass sie die trennenden Faktoren nicht eskalativ vorantreiben. Die Analyse und das konstante Monitoring nach Grundsätzen des »Do No Harm« helfen dann auch, eventuelle negative Auswirkungen der geplanten Programmaktivitäten rechtzeitig zu erkennen und diesen entgegenwirken zu können.

Do No Harm in Kritik

In der Praxis des Globalen Nordens wird, so die Kritik, »Do No Harm« häufig nur noch als ein »Buzzword« in Projektanträgen verwendet, wodurch die Wirkung oberflächlich bleibt und zu viele unterschiedliche Auffassungen davon zirkulieren, was »kein Schaden« ist. »Do No Harm« wird von Akteur*innen des Globalen Nordens als utilitaristisches Prinzip verstanden, die Reduktion von Konfliktsensibilität auf ein Tool bewerten Barbolet et al. (2005) jedoch als unzureichend, sofern »Do No Harm« nicht auch als eine haltungsverändernde Methode verstanden wird. Denn eine „übermäßige Betonung komplexer Instrumente, Tabellen und Methoden scheint ein primär westlicher Ansatz zu sein, der bei vielen Organisationen des Südens nur auf begrenzte Resonanz stößt“ (ebd., S. 2). Der Grund für diese begrenzte Resonanz könnte eine fehlende herrschaftskritische Perspektive auf Konfliktinterventionen sein. Denn eine substantielle Leerstelle in der Kritik an Konfliktsensibilität bildet die Betrachtung von Machtungleichgewichten.

Hegemoniale Praktiken

Hierbei geht es um eine kritische Reflexion der Vorherrschaft. Orientierung bieten diese Reflexionsfragen:

„1) Wird die Idee vermittelt, dass eine bestimmte Gruppe von Menschen Lösungen entwickeln und durchsetzen kann, die für alle gelten?

2) Werden Menschen dazu eingeladen, über ihre eigenen Grenzen/Mängel/Fehler und Unzulänglichkeiten nachzudenken?“

Ethnozentrische Perspektiven

Hierbei liegt der Fokus auf einer kritischen Reflexion darüber, inwieweit eine Sichtweise als universell dargestellt wird:

„1) Wird unterstellt, dass Menschen, die nicht mit dieser Sichtweise einverstanden sind, unmoralisch oder ignorant sind?

2) Wird anerkannt, dass es andere Sichtweisen auf das Thema gibt?“

Ahistorisches Denken

Hierbei wird hinterfragt, inwieweit geschichtliche Dynamiken mitbedacht werden:

„1) Wird ein gegenwärtiges Problem dargestellt, ohne auf die geschichtlichen Hintergründe einzugehen und ohne zu thematisieren wie ,wir‘ darin verwickelt sind?

2) Wird eine komplexe geschichtliche Analyse in Bezug auf das Thema angeboten?“

De-Politisierte Orientierungen

Hier wird reflektiert, ob und inwieweit Machtasymmetrien anerkannt werden:

„1) Wird das Problem/die Lösung dargestellt, ohne die damit verbundenen Machtverhältnisse und dahinter liegende Ideologien in den Blick zu nehmen?

2) Wird die eigene ideologische Verortung anerkannt und eine umfassende (?) Analyse von Machtverhältnissen angeboten?“

Selbstsüchtige Motivationen

Hierbei wird hinterfragt, inwieweit Helfen nur als Aufgabe des Stärkeren verstanden wird:

„1) Werden die Betroffenen als hilflose Opfer von lokaler Gewalt oder Schicksalsschlägen dargestellt und die Helfenden als global berufen und fähig, die Menschheit zu Ordnung, Fortschritt und Eintracht zu führen?

2) Wird anerkannt, dass das Verlangen danach besser als andere/ anderen überlegen zu sein und dass das aufgezwungene Bestreben von singulären Konzepten von Fortschritt und Entwicklung historisch gesehen Teil des Problems ist?“

Unkomplizierte Lösungen

Hierbei wird reflektiert, inwieweit zu schnellen Lösungen gegriffen wird, ohne strukturelle Bedingungen zu ändern, die zu Diskriminierung führen:

„1) Werden vereinfachende Analysen und Antworten angeboten, die nicht dazu einladen, sich mit Komplexität zu beschäftigen oder tiefer gehend über das Thema nachzudenken?

2) Wird eine komplexe Analyse des Problems angeboten, die die möglichen negativen Auswirkungen der vorgeschlagenen Lösung einbezieht?“

Paternalistische Investitionen

Hier wird kritisch reflektiert, inwieweit die eigene Überlegenheit durch das Helfen gefestigt wird:

„1) Werden ,Hilfsbedürftige‘ als Menschen dargestellt, denen es an Bildung, Ressourcen und Zivilisation/Kultur mangelt und die für unsere Hilfe dankbar sein sollten?

2) Werden ,Hilfsbedürftige‘ als Menschen dargestellt, die dazu berechtigt sind, ihren ,Rettern‘ zu widersprechen und ermächtigt sind, andere Lösungen umzusetzen, als ihre ,Helfer_innen‘ im Sinn hatten?“

Tabelle 1: Das HEADS UP Schema nach Andreotti (2012)

Leerstelle koloniale Kontinuitäten

Machthierarchien aufgrund von Privilegierung und Diskriminierung finden sich in jeder Form gesellschaftlicher Interaktion wieder – und haben somit unmittelbare Rückwirkungen auf jede Form der Konfliktintervention. Privilegierung und Diskriminierung sind globale Konfliktgegenstände, die auf andauernde koloniale Kontinuitäten zurückzuführen sind (Kelly 2016, S. 77). Machtungleichgewichte, die durch Privilegierung und Diskriminierung entstehen und die unsere sozialen Hierarchien in der Welt bestimmen, werden fortlaufend reproduziert (Roig 2021). Sie werden mit und durch Gesellschaft getragen und wirken gleichzeitig auf die Gesellschaft zurück. Daher ist es wichtig, eine machtkritische Reflexion explizit in »Do No Harm« zu verankern, wobei es unzureichend ist, lediglich auf individueller Ebene die eigenen Gewaltpotenziale durch direkte Machtpositionen zu reflektieren, sondern es bedarf auch einer Betrachtung der zugrundeliegenden strukturellen Macht- und Herrschaftsverhältnisse.

Post- und dekoloniale Ansätze bieten hierbei Zugänge, durch Instrumente wie das der Intersektionalität solche sich individuell festschreibenden Herrschaftsverhältnisse zu beschreiben. „Eine intersektionale Perspektive fragt nach unterschiedlichen Gruppenmitgliedschaften einzelner Individuen, z.B. nach Gender, ›Rasse‹/Ethnizität, Klasse, Sexualität, Nation, Religion, Lokalität, Alter und Befähigung. Die Liste ist notwendigerweise unabschließbar“ (Dietze 2008, S. 29). Dadurch können Überschneidungen und Interdependenzen von verschiedenen Diskriminierungskategorien thematisiert werden – und dadurch potentiell sich verstärkende Effekte von »Dividers« besser erkannt werden. Aus intersektionaler Perspektive können alle Menschen Diskriminierungen ausgesetzt sein, wobei Art und Häufigkeit sich stark unterscheiden.

In der Ausgestaltung von Konzeptionen und der Entwicklung von Ansätzen wie »Do No Harm« legt eine herrschaftskritisch-intersektionale Brille den Fokus darauf, wer wann, wie, wodurch und welche Zugänge und Beteiligungschancen in Konfliktinterventionen hat und wie diese unterschiedlichen Zugänge mit Machtungleichgewichten zusammenhängen. Denn in gesellschaftlichen Praktiken gibt es keine machtfreien Räume, folglich variieren Partizipationsmöglichkeiten in Konfliktinterventionen in Abhängigkeit von der eigenen Privilegierung. Das wird auch dadurch verstärkt, dass subalterne Stimmen oft nicht gehört werden und in Konfliktdynamiken schnell als eigenständig handlungsmächtige Akteur*innen übersehen werden (vgl. Spivak 1990, Santos 2008).

»Do No Harm« machtkritisch ausfüllen

Auf »Do No Harm« angewendet bedeutet dies: Über das Bewusstsein hinaus, durch die Intervention in einen Konflikt Teil des Konfliktgeschehens zu werden, bedarf es trotzdem auch auf individueller Haltungsebene einer Stärkung von „Hegemonie(selbst)kritik“ (Dietze 2008). Eine solche Haltung und die dafür notwendigen Analyseinstrumente erlauben es dann, in der eigenen täglichen Arbeit auch machtkritisch konfliktsensibel zu denken, zu handeln und somit eben auch auf struktureller Ebene zu wirken.

Impulse für eine solche machtkritische Selbstreflexion, die mit einer Schärfung von Haltungsfragen einhergeht, bietet das »HEADS UP« Tool von Vanessa de Oliveira Andreotti (2012). Andreotti ist Teil des »Decolonial Future Collective« und argumentiert für eine historisch-kritische und diskriminierungssensible Perspektive auf globale Partner*innenschaften. Andreottis Anliegen ist es, Strukturen und daraus entstehende Dynamiken und Rollen sichtbar zu machen. »HEADS UP« steht für verschiedene Dimensionen, die nach Andreotti für eine herrschaftskritische Reflexion (selbst-)kritisch hinterfragt werden müssen (für eine genauere Erklärung, siehe Kasten nebenan). Folgende Grafik 1 visualisiert die Erweiterung von »Do No Harm« durch »HEADS UP«:

Graphik 1: Visualisierung Erweiterung von »Do No Harm« durch »HEADS UP«.

Andreotti zufolge lautet eine häufige und wesentliche Erkenntnis nach dem »HEADS UP«-Reflexionsprozess, dass ungerechte Strukturen unbeabsichtigt entstanden und diese schwierig zu durchbrechen seien. Diese Erkenntnis bewertet sie jedoch als einen bedeutend wichtigen ersten Schritt, um das Bewusstsein über diese Strukturen zu schärfen. Nur so könne langfristig eine Überwindung diskriminierender hegemonialer Strukturen möglich und denkbar werden (Andreotti 2012). In der Stärkung von Methoden wie »HEADS UP«, als eine etablierte, kontinuierliche Reflexion der Hegemonie(selbst)kritik, kann Privilegienbewusstsein wachsen. »HEADS UP« bildet einen Rahmen, um bisherige Wahrnehmungslücken zu reflektieren, um Machtpositionen und Privilegierung zu benennen und sichtbar zu machen. Dabei wird eine Kontextanalyse und kritische (Selbst-)Reflexion angestoßen, bei der auch persönliche Einstellungen und (Konflikt-)Verhaltensweisen sowie ihre zugrundeliegenden Normen und Werte, Emotionen und Gefühle reflektiert werden. Eine Konfliktsensibilität aus machtkritischer Perspektive bietet somit einen Impuls, die eigenen Eindrücke und Grundannahmen zu hinterfragen und zu überdenken, ob diese vorurteilsbasiert, stigmatisierend oder diskriminierend sind und möglicherweise in der eigenen Konfliktintervention schädigend wirken und vorhandene »Dividers« verstärken.

In der Anwendung einer machtkritischen Konfliktsensibilität können Akteur*innen folglich in unterschiedlichen Kontexten und auf verschiedenen Ebenen wie der Bildungsarbeit, der Politik, der Friedenskonsolidierung u.a. dazu beitragen, einen sichere(re)n Raum (»saf(er) space«)2 zu schaffen. Im reformulierten Sinne von »Do No Harm« bedeutet das, konfliktverschärfende Dynamiken frühzeitig zu erkennen, indem von einem unbewussten zu einem bewussten Verständnis unserer Privilegien übergegangen wird, um eigene Privilegien folglich prosozial nutzen zu können. Dies impliziert, Einfluss auf das eigene Umfeld zu nehmen, indem Macht abgegeben wird, um Ressourcen für das Empowerment von minorisierten Gruppen zugänglich zu machen, ohne über deren Einsatz und Verwendung zu bestimmen. Wir können Verbündete sein, indem wir uns für entstehende Dynamiken sensibilisieren, die ein Machtungleichgewicht begünstigen, und für ein Teilen der Macht(-mittel) (»Powersharing«) eintreten. Denn, wie Audre Lorde sagte: „Dein Privileg ist kein Grund für Schuldgefühle, es ist Teil deiner Macht, die du zur Unterstützung nutzen kannst“ (Lorde 2009, S. 21). Powersharing kann folglich als »Connector« eingesetzt werden und helfen, die Gefahr zu bannen, dass unreflektierte Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie Privilegien und Diskriminierungen zu einer »trennenden Macht« in der Anwendung von »Do No Harm« werden. Indem wir uns darauf fokussieren, was unser Gegenüber kann, statt darauf was sie*er nicht kann, schaffen wir einen Raum für gegenseitigen Respekt und Wertschätzung. Wenn ein neues machtkritisches Verständnis von »trennenden Faktoren« und »verbindenden Faktoren« in Konflikten im Kontext von globalen kolonialen Kontinuitäten gestärkt wird, kann perspektivisch Raum für neue Verbundenheit und Allianzen entstehen.

Da koloniale Pfadabhängigkeiten sich jedoch nicht allein durch Selbstreflexion auflösen werden, kann »HEADS UP« zudem auf systemischer Ebene Orientierung für einen machtkritischen Organisationsentwicklungsprozess im Bereich von internationalen Nord-Süd-Partnerschaften bieten. Dies könnte auch auf gesamte Projektlogiken übertragen werden. Darin könnte »Do No Harm« in Verknüpfung mit »HEADS UP« dienlich sein, den Fokus auf Dynamiken und Machtverhältnissen innerhalb von Gruppenprozessen und Kooperationspartnerschaften zu reflektieren. Solch eine Reformulierung von »Do No Harm«, in der eine machtkritische Selbstreflexion verankert ist, bedarf jedoch einer positiven Fehlerkultur. Das impliziert einen vertrauensvollen Raum, um sich gegenseitig auf Wahrnehmungslücken in der Konfliktintervention und in der dazu notwendigen Zusammenarbeit aufmerksam zu machen. Dies geht einher mit Ergebnisoffenheit und einem lebenslangen Lernprozess in Form eines »Lernens des Verlernens« (Spivak 1990), sowohl für einzelne Akteur*innen als auch für Organisationen in Form von rassismus- und diskriminierungskritischen Organisationsentwicklungsprozessen.

Anmerkungen

1) Ein ganz großer Dank an David Scheuing und Melanie Hussak für das wertvolle Feedback und den konstruktiven redaktionellen Entstehungsprozess.

2) Das Ziel von »Safe(r) Space« ist es einerseits, Menschen vor unterschiedlichen Formen von Gewalt und Diskriminierung zu schützen. Andererseits soll das Konzept von »Safe(r) Spaces« einen geschützten Rahmen für die Artikulation von Diskriminierungserfahrungen ermöglichen. Davon ausgehend wird mit den Betroffenen kontext- und konfliktsensibel reflektiert, welche Unterstützungsmöglichkeiten für sie konstruktiv sind. Dadurch soll ein Bewusstsein für Rassismus und Diskriminierung in der Gesamtgruppe geschaffen und für verschiedene Formen gruppenbezogener und gesellschaftlicher Ausgrenzung sensibilisiert werden.

Literatur

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Spivak, G. C. (1990): The post-colonial critic: Interviews, strategies, dialogues. New York: Routledge.

Cora Bieß promoviert an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt zu der Frage, wie Konfliktsensibilität Zivilcourage fördern kann. Zudem vertritt sie die AG »rassismuskritische Reflexionen« im Sprecher*innenrat der Plattform zivile Konfliktbearbeitung.

Mehrsprachigkeit als Friedensinstrument

Mehrsprachigkeit als Friedensinstrument

Statistische Notizen aus der Eurolinguistik

von Joachim Grzega

Der folgende Beitrag setzt die Zahl der Menschen mit Fremdsprachenkenntnissen in Relation zu friedensbezogenen nicht-sprachlichen Aspekten. Ob ein Zusammenhang besteht, wird mithilfe statistischer Tests ermittelt. Es zeigt sich im Vergleich der EU-Länder, dass je höher der Anteil von Personen ist, die in mindestens drei Fremdsprachen an Gesprächen teilnehmen können, desto geringer sind die Militärausgaben und desto besser die Werte auf dem allgemeineren Global Peace Index. Bezüglich Russland ist in einem Land ein positives Russland-Bild umso verbreiteter, je mehr Menschen Russisch auf Konversationsniveau beherrschen.

Schon viele haben geäußert, dass die Kenntnis von Fremdsprachen beziehungsweise Mehrsprachigkeit zu Friedfertigkeit und Frieden führen. Oft verbleiben die Beschreibungen jedoch im Theoretischen und Allgemein-Programmatischen (z.B. Kroff 1943, Marti 1996). Gelegentlich gibt es diesbezüglich auch konkrete praktische Vorschläge für den Zweit- und Fremdsprachenunterricht (z.B. Friedrich 2007, Grzega 2012, S. 302-305, mehrere Beiträge in Oxford et al. 2020). Der Nachweis, dass Mehrsprachigkeit tatsächlich von mehr Friedfertigkeit begleitet wird, steht jedoch noch weitgehend aus. Diese Studie will einen kleinen Beitrag dazu leisten.

Fragestellung und bisherige Forschung

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hat man die Aussöhnung der Völker durch die Pflege von Städtepartnerschaften zu fördern versucht. Diese waren und sind vielerorts auch begleitet von der Durchführung von Sprachkursen (teils über Bildungseinrichtungen, teils über Partnerschaftsvereine, teils privat), um eine möglichst intensive Freundschaft zwischen den Menschen zu ermöglichen. Ich selbst habe in unserem Landkreis mit Blick auf vorhandene Städtepartnerschaften Anfängerkurse in Französisch, Italienisch und Ungarisch durchgeführt. Doch: Lässt sich der Nutzen von Mehrsprachigkeit für Friedfertigkeit mit statistischen Mitteln zeigen? In einer Studie von Keysar, Hayakawa und An (2012) wurde gezeigt, dass man Informationen allgemein weniger emotional verarbeitet, wenn sie in einer Fremdsprache aufgenommen werden. In diesem Falle fokussiert man nämlich mehr auf die Fakten als auf die Stimmung des Gelesenen. Indirekt lässt sich daraus ableiten, dass diese geringere Emotionalität letztlich auch gilt, wenn andere Länder das Thema eines fremdsprachlichen Textes sind. Eine solche Entemotionalisierung kann auch der Bereitschaft für friedliche Konflikttransformation helfen – Fremdsprachenkenntnisse scheinen dafür eine wichtige Voraussetzung zu schaffen.

Friedfertigkeit kann man individuell oder national betrachten. Im Buch »Wort-Waffen abschaffen!« (Grzega 2019) lege ich dar– während es sonst hauptsächlich um den Effekt von Wortgebrauch innerhalb von Sprachen geht –, dass EU-Staaten mit mehr als einer Amtssprache friedfertiger sind (Ebd., S. 52ff.). Zu dieser Aussage gelange ich durch den Vergleich zweier Gruppen von Ländern in der EU sowie der kulturell eng verwandten Länder Großbritannien, Norwegen und Schweiz: (1) Länder, die auf nationaler Ebene mehrsprachig sind, also jedes Gesetz in mehr als einer Sprache veröffentlichen müssen, und (2) Länder, die auf nationaler Ebene einsprachig sind. Vergleicht man diese beiden Gruppen mit ihren »Noten« auf dem Global Peace Index (GPI), so erzielt die erste Gruppe bessere Resultate für die Jahre 2010 bis 2017. Für die Jahre 2010 bis 2016 zeigt sich zudem, dass die Gruppe mit mehr als einer Amtssprache weniger für militärische Belange ausgegeben hat, gemessen am Prozentsatz des Bruttoinlandsproduktes – solche Ausgaben ließen sich auch als Parameter für nationale Friedfertigkeit heranziehen. In diesem Beitrag jedoch blicken wir nun auf den Zusammenhang von individuellen Fremdsprachenkompetenzen und nationaler Friedfertigkeit

Methodisches

Eine ideale Analyse achtet dabei darauf, dass nur die Variablen »Sprache« und der »friedensbezogene Aspekt« die Ausprägungen wechseln, andere Aspekte hingegen möglichst gleich sind. Die ausgewählten Länder sollten also möglichst dem gleichen »Kulturraum« entstammen – im Sinne von allgemeinen Werten, aber auch der politisch-juristischen Rahmenbedingungen. Betrachtet seien hier daher – gemäß einem der Ansätze in der Eurolinguistik (vgl. z.B. Grzega 2013, S. 3f.) – die Staaten der Europäischen Union. Dies soll nicht leugnen, dass es auch innerhalb der EU Unterschiede gibt (immerhin lautet das EU-Motto »In Vielfalt geeint«); doch die EU-Verträge liefern zumindest gewisse Bekenntnisse und Rahmenbedingungen, die für das Thema Friedfertigkeit eine grobe Zusammenfassung als Gruppe zu erlauben scheinen.

Welche sprachbezogenen Kennzahlen bieten sich an? Zur Feststellung der Anzahl von Fremdsprachen, die in einem Staat von den Menschen für ein Gespräch beherrscht werden, werden die Erhebungen von Eurostat (o.J.) herangezogen, d.h. der statistischen Datenbank der Europäischen Kommission. Zur Feststellung der Kenntnisse einzelner Fremdsprachen konkret lässt sich jedoch nur auf eine 2012 durchgeführte Umfrage im Auftrag der Europäischen Union zurückgreifen, die unter der Nummerierung Spezial-Eurobarometer 386 und dem Titel »Die europäischen Bürger und ihre Sprachen« zu finden ist (vgl. Eurobarometer 2012); sie wird ergänzend einbezogen.

Als Maß für Friedfertigkeit kann der schon erwähnte Global Peace Index herangezogen werden (vgl. Institute for Economics and Peace o.J.). In diesen Index fließen verschiedene Kriterien ein. Objektive Kriterien sind beispielsweise die Anzahl der geführten Kriege im In- und Ausland, die finanzielle Beteiligung an UN-Einsätzen, die Anzahl der Morde, die Anzahl der importierten und exportierten konventionellen Waffen, die Anzahl der inhaftierten Personen, die Anzahl der Bediensteten der Polizei und der staatlichen Sicherheitsorgane, der Umfang der Armee sowie die militärischen Ausgaben in Prozent des Bruttoinlandsproduktes; daneben finden sich auf Fachmeinung beruhende subjektive Kriterien, wie etwa die geschätzte Anzahl der Kriegstoten, der Grad des Misstrauens in Mitmenschen, der Grad der politischen Instabilität, das Ausmaß von Terroranschlägen, die Möglichkeit von gewalttätigen Demonstrationen sowie politischer Terror im Sinne der Verletzung von Menschenrechten. Am Ende wird daraus der Grad der Friedfertigkeit rechnerisch bestimmt, wobei der Wert 1,000 für das beste Ausmaß von Friedfertigkeit stehen soll und höhere Werte geringere Friedfertigkeit darstellen. Da die Daten zu den allgemeinen Fremdsprachenkenntnissen 2016-2018 erhoben wurden, seien für diese Analyse die GPI-Werte für 2016-2018 herangezogen.

Dazu können speziell die militärischen Ausgaben in Prozent des Bruttoinlands­produktes herangezogen werden, wie sie vom Stockholm International Peace Re­search Institute veröffentlicht werden (vgl. SIPRI); diese Zahlen können auch als Ausdruck von Friedfertigkeit interpretiert werden.

Des Weiteren eignen sich zum Vergleich einige Ergebnisse zum Fragebogen des World Values Survey der Periode 2017-2020 (vgl. WVS o.J.). Besonders interessant scheinen die Zustimmungswerte zu Aussage 21 „Ich hätte gerne keine Immigranten oder ausländische Arbeiter als Nachbarn“, Aussage 63 „Ich vertraue Menschen anderer Nationalität völlig oder einigermaßen“ und Aussage 259 „Ich fühle mich der Welt sehr nah oder nah“. Es sind Fragen der Toleranz und der Empathie; wenn diese weit verbreitet sind, dürfte dies ein Ausdruck von großer Friedfertigkeit einer Bevölkerung sein.

Der Haltung der EU-Länder auf politischer und individueller Ebene gegenüber Russland kommt für die zukünftige Friedenslage zentrale Bedeutung zu.1 Daher seien Teil-Resultate einer weiteren Umfrage aus der Eurobarometer-Reihe der EU hinzugezogen: Sie trägt den Titel »Zukunft Europas« und wurde als Spezial-Eurobarometer 451 im Oktober 2016 durchgeführt (vgl. Eurobarometer 2016). In Frage QB8.6 sollen die Interviewten beantworten, ob sie ein positives oder negatives Bild von Russland hätten (Ebd., S. 79). Frühere Erhebungen zu dieser Frage gibt es nicht. Im darauffolgenden Jahr war die Frage im Spezial-Eurobarometer 467 als Frage QC5.6 wieder vertreten (vgl. Eurobarometer 2017). Diese Fragen enthalten beide Bewertungsadjektive, „Haben Sie ein positives oder negatives Bild von Russland?“, und sind daher frei von einem häufigen Problem, das für die Eurobarometer-Reihe beschrieben worden ist (vgl. z.B. Höpner/Jurczyk 2012).

Bezüglich der statistischen Analyse zur Bestimmung von Korrelationen wurde in dieser Analyse der Spearman’sche Rangkorrelationskoeffizient (rho bzw. rs) verwendet. Er wird statt der Pearson-Korrelation verwendet, da einige Zahlenreihen gemäß eines Shapiro-Wilk-Tests nicht normal verteilt sind. In diesem Verfahren fallen die Ergebnisse mit Werten zwischen -1 und +1 aus. Je näher der Wert an -1 ist, desto größer ist eine negative Korrelation im Sinne von „Je mehr Punkte bei A, desto weniger Punkte bei B“; je näher der Wert an +1 ist, desto größer ist eine positive Korrelation im Sinne von „Je mehr Punkte bei A, desto mehr Punkte bei B“. Werte geringer als ±0,20 sind dabei vernachlässigbar; als signifikant soll, wie üblich, ein dazugehöriger p-Wert von unter 0,05 gelten (vgl. Cohen 1988, Ellis 2010).

Ergebnisse

Die Ergebnisse der Korrelationen sind in Tabelle 1 dargestellt.

Blicken wir zunächst auf die Antworten aus dem World Values Survey für 2017-2020 (Tabelle 1, Zeilen WVS, Zeilen mit signifikanten Werten sind unterstrichen). Das Ausmaß der Fremdsprachenkenntnisse 2016-2018 hängt offenbar nicht mit der Haltung gegenüber ausländischen Personen als Nachbarn oder mit dem Vertrauen in ausländische Personen zusammen (alle Werte dieser Korrelationen sind nicht signifikant). Erstaunlicherweise zeigt sich jedoch: je größer die Verbreitung von Kenntnissen in zwei oder mehr Fremdsprachen ist, desto weniger verbreitet ist ein starkes Gefühl der Nähe zur Welt. Umgekehrt gilt interessanterweise auch: je weniger Fremdsprachenkenntnisse verbreitet sind, desto mehr gibt es ein Gefühl der Nähe zur Welt (0 Sprachen: rho=+0,47; p=0,0232; 2+ Sprachen: rho=-0,46, p=0,0270; 3+ Sprachen: rho=-0,50, p=0,0147).

Widmen wir uns nun den Werten des Global Peace Index (Tabelle 1, Zeilen GPI2016-2018, Zeilen mit signifikanten Werten sind unterstrichen). Betrachtet man jeweils den Prozentsatz derjenigen in einem Land, die keine, eine oder zwei Fremdsprachen gesprächsfähig beherrschen, so zeigen sich in Verbindung mit den GPI-Werten keine signifikanten Korrelationen. Wohl aber ergeben sich bedeutsame Zusammenhänge beim Prozentsatz von Menschen, die in mindestens drei Fremdsprachen an Gesprächen teilnehmen können. Hier lässt sich als Ergebnis festhalten: Je höher der Anteil von Personen mit mindestens drei Fremdsprachen, desto niedriger/besser der Wert auf dem Global Peace Index (2016: rho=0,44, p=0,0236; 2017: rho=0,38, p=0,0117).

Konzentriert man sich auf die militärischen Ausgaben (gemessen in Prozent am Bruttoinlandsprodukt), wie sie von SIPRI festgehalten werden, bestätigt sich dieses Bild (Tabelle 1, Zeilen SIPRI2016-2018, Zeilen mit signifikanten Werten sind unterstrichen): Je mehr Menschen in einem Land mindestens drei Fremdsprachen sprechen, desto geringere staatliche Militärausgaben gibt es (2016: rho=0,43, p=0,0232; 2017: rho=0,36, p=0,0134; 2018: rho0,45, p=0,0176).

Betrachtet man speziell den Anteil der Personen in einem Staat, die 2012 einem Gespräch in russischer Sprache folgen konnten, und setzt dies in Relation zum Anteil der Personen in einem Staat, die 2016 und 2017 ein positives Russland-Bild hatten (Tabelle 1, Zeilen pos. Russlandbild 2016-2017, signifikante Zeilen sind unterstrichen), so ergibt sich ebenfalls ein statistisch bedeutsamer Zusammenhang (2016: rho=+0,42, p=0,0091; 2017: rho=+0,61, p=0,0069). Wohlgemerkt handelt es sich wiederum um aggregierte Ausprägungen auf der gesamtstaatlichen Ebene; die zur Sprachkompetenz befragten Individuen sind nicht dieselben wie die zum Russland-Bild befragten.

rho

p (2-seitig)

N

WVS: Ausländer ungern als Nachbar!

0 Frspr.

+0,18

0,4098

23

1 Frspr.

-0,02

0,9442

23

2 Frspr.

-0,17

0,4394

23

3 oder mehr Frspr.

-0,21

0,3246

23

2 oder mehr Frspr.

-0,22

0,3086

23

WVS: Vertrauen in Ausländer!

0 Frspr.

-0,17

0,4283

23

1 Frspr.

-0,21

0,3289

23

2 Frspr.

-0,25

0,2596

23

3 oder mehr Frspr.

+0,34

0,1175

23

2 oder mehr Frspr.

+0,30

0,1692

23

WVS: Gefühl der Nähe zur Welt!

0 Frspr.

+0,47

0,0232

23

1 Frspr.

-0,18

0,4220

23

2 Frspr.

+0,44

0,0321

23

3 oder mehr Frspr.

-0,50

0,0147

23

2 oder mehr Frspr.

-0,46

0,0270

23

GPI 2016

0 Frspr.

+0,19

0,3496

26

1 Frspr.

+0,15

0,4704

26

2 Frspr.

-0,24

0,2334

26

3 oder mehr Frspr.

-0,44

0,0236

26

2 oder mehr Frspr.

-0,34

0,0916

26

GPI 2017

0 Frspr.

+0,11

0,6039

26

1 Frspr.

+0,19

0,3399

26

2 Frspr.

-0,18

0,3857

26

3 oder mehr Frspr.

-0,38

0,0555

26

2 oder mehr Frspr.

-0,26

0,2076

26

GPI 2018

0 Frspr.

+0,23

0,2410

26

1 Frspr.

+0,22

0,2774

26

2 Frspr.

-0,28

0,1611

26

3 oder mehr Frspr.

-0,49

0,0117

26

2 oder mehr Frspr.

-0,37

0,0609

26

SIPRI 2016

0 Frspr.

+0,25

0,1971

28

1 Frspr.

+0,17

0,3771

28

2 Frspr.

-0,24

0,2237

28

3 oder mehr Frspr.

-0,43

0,0232

28

2 oder mehr Frspr.

-0,33

0,0879

28

SIPRI 2017

0 Frspr.

-0,24

0,2240

28

1 Frspr.

-0,20

0,3182

28

2 Frspr.

-0,25

0,1988

28

3 oder mehr Frspr.

-0,36

0,0134

28

2 oder mehr Frspr.

-0,36

0,0627

28

SIPRI 2018

0 Frspr.

+0,20

0,3080

28

1 Frspr.

+0,20

0,3094

28

2 Frspr.

-0,21

0,2920

28

3 oder mehr Frspr.

-0,45

0,0176

28

2 oder mehr Frspr.

-0,33

0,0846

28

pos. Russland-Bild 2016

Russisch-Kompetenz

+0,42

0,0091

27

pos. Russland-Bild 2017

Russisch-Kompetenz

+0,61

0,0069

27

Tabelle 1

Zusammenfassung und Ausblick

Es kann festgehalten werden, dass gilt: je höher der Anteil der Bevölkerung, der über Gesprächskompetenzen in mindestens drei Fremdsprachen verfügt, desto eher zeigt ein Land geringere Militärausgaben und – allgemeiner – bessere Werte auf dem Global Peace Index bei gleichzeitig schwächerem Verbundenheitsgefühl der Bevölkerung mit der Welt. Speziell mit Bezug auf Russland ist in einem Land ein positives Russland-Bild umso verbreiteter, je mehr Menschen auf Russisch an einem Gespräch teilnehmen können.

Freilich lässt eine Korrelation noch nicht auf eine Kausalität schließen. Beispielsweise könnte eine weitere Komponente der Auslöser für die Korrelation sein. Dennoch liefert dieses Resultat Hinweise darauf, dass es wert ist, mindestens drei Fremdsprachen auf einem Niveau zu erlernen, das eine Gesprächsteilnahme erlaubt – es könnte der Friedfertigkeit der Welt zuträglich sein.2

Anmerkungen

1) Der Aufsatz wurde ursprünglich im August 2021 erstellt. Er wurde verfasst in der Hoffnung, dass er einen Beitrag dazu leisten kann, dass es nicht zu einer Situation kommt, wie sie sich am 24. Februar 2022 in der Ukraine nun ergeben hat. Für eine zukünftige Entwicklung Richtung Frieden sollte man aufgrund der hier vorgetragenen Beobachtungen dennoch die mögliche Kraft von Sprachkompetenzen als einen Faktor bedenken. Dabei sollte auch die Kraft von Schlüsselbegriffen verstanden, wie sie etwa Bundeskanzler Willy Brandt für die Beziehung zu Russland (und zu anderen Ländern) erkannt hatte (vgl. etwa Grzega 2021).

2) Hierzu braucht nicht auf eine langwierige politische Entscheidungsfindung für das Schulwesen gewartet zu werden. Es bieten sich verschiedene Möglichkeiten zu individuellem Sprachenlernen. In Deutschland etwa bieten die Volkshochschulen umfangreiche Sprachangebote. An der VHS Donauwörth gibt es im Rahmen des Projektbereichs »Innovative Europäische Sprachlehre« (InES) einen eintägigen Sieben-Sprachen-Schnupperkurs. Als Türöffner zu weiteren Sprachen werden Ideen für friedensfördernde Gesprächsstrategien eingebaut, die sich dann auch im Unterricht weiterer Sprachen widerspiegeln sollen. Alle genannten Konzepte richten sich auch an Personen ohne besonderes Sprachtalent.

Literatur

Cohen, J. (1988): Statistical power analysis for the behavioral sciences. 2. Aufl. New York: Academic Press.

Eurobarometer (2012): EBS386. Die europäischen Bürger und ihre Sprachen. Bericht, Juni 2012.

Eurobarometer (2016): EBS451. Die Zukunft Europas. Bericht, Dezember 2016.

Eurobarometer (2017): EBS467. Die Zukunft Europas. Bericht, November 2017.

Ellis, P. (2010): The essential guide to effect sizes: Statistical power, meta-analysis, and the interpretation of research results. Cambridge: Cambridge University Press.

Eurostat (o.J.). Online Data Code EDAT_AES_L21: Number of foreign languages known (self-reported) by sex. Datenbank.

Friedrich, P. (2007): Language, negotiation and ­peace: The use of English in conflict resolution. New York: Continuum.

Institute for Economics and Peace (o.J.): Global ­Peace Index (GPI) Websit. URL: visionofhumanity.org.

Grzega, J. (2012): Europas Sprachen und Kulturen im Wandel der Zeit: Eine Entdeckungsreise. Tübingen: Stauffenburg.

Grzega, J. (2013): Studies in Europragmatics: Some theoretical foundations and practical implications. Wiesbaden: Harrassowitz.

Grzega, J. (2019): Wort-Waffen abschaffen! Beobachtungen zu Europas gewaltvoller Wortwahl und Ideen für eine friedensstiftende Sprache. Berlin: epubli.

Grzega, J. (2021): Eurolinguistischer Blick auf Willy Brandt – Frieden fördern durch Überwindung rhetorischer Grenzen. In: Roczniki Humanistyczne 69 (5), S. 167-180.

Höpner, M.; Jurczyk, B. (2012): Kritik des Eurobarometers: Über die Verwischung der Grenze zwischen seriöser Demoskopie und interessengeleiteter Propaganda. In: Leviathan 40 (3), S. 326-349.

Keysar, B.; Hayakawa, S.; An, S. G. (2012): The ­foreign-language effect: Thinking in a foreign tongue reduces decision biases. In: Psychological Sciences 23, S. 661-668.

Kroff, A. Y. (1943): Education for the peace through the foreign languages. In: The Modern Language Journal 27(4), S. 236-239.

Marti, F. (1996): Language education for world ­peace. In: Global Issues in Language Education 25, S. 16-17.

Oxford, R. L.; Olivero, M. M; Harrison, M.; Gregersen, T. (Hg.) (2020): Peacebuuilding in language education: Innovations in theory and practice. Bristol: Multilingual Matters.

Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) (o.J.): Military Expenditure Database. sipri.org/databases/milex.

World Values Survey (WVS) (o.J.): Online Data Analysis. Wave 2017-2020. worldvaluessurvey.org/WVSOnline.jsp

Dr. Joachim Grzega ist Leiter des Bereichs »Innovative Europäische Sprachlehre (InES)« an der Volkshochschule Donauwörth und außerplanmäßiger Professor für Sprachwissenschaft an der Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Rückblick als Vorausblick?

Rückblick als Vorausblick?

Eine Eventdatenanalyse des ersten Kriegsjahres in der Ukraine

von Jan Niklas Rolf

Rückblick: Am 17. Juli 2014 wurde ein Passagierflugzeug der Malaysia Airlines mit 298 Insassen über der Ostukraine abgeschossen, was den seit Monaten tobenden Krieg in der Ukraine nochmals auf eine neue Eskalationsstufe hob. Doch wer war für den Abschuss verantwortlich und war eine solche Eskalation vorhersehbar? Anhand einer quantitativen Analyse der Ereignisse des Jahres 2014 versucht dieser Beitrag Antworten auf diese Fragen zu liefern. Der Aufforderung von Melanie Hussak und Jürgen Scheffran (2022) im vorherigen Heft folgend, „Frühwarnsystemen wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken und auch stärker militärische Analysen und Szenarien in Risikobewertungen einzubeziehen“, soll untersucht werden, ob die Ereignisse Rückschlüsse über die mögliche Wahl von unkonventionellen Mitteln durch Russland in der Ukraine zulassen.

Am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine mahnte Wladimir Putin in seiner Fernsehansprache: „Wer immer sich uns in den Weg stellt oder gar unser Land, unser Volk bedroht, muss wissen, dass Russlands Antwort augenblicklich erfolgen wird, und sie wird Folgen haben, wie Sie sie in Ihrer Geschichte noch nicht erlebt haben“ (zit. in Gillmann 2022). Auf diese Drohung folgte wenige Tage später die Versetzung der russischen Abschreckungswaffen – darunter der strategischen Atomwaffen – in besondere Alarmbereitschaft. Diese doppelte Drohgebärde schien ihre Wirkung nicht zu verfehlen, argumentierten führende Politiker*innen im Westen doch fortan, dass eine aktive Unterstützung der Ukraine – etwa in Form der Entsendung von Soldat*innen oder der Errichtung einer Flugverbotszone – unmöglich sei, da sie nahezu unweigerlich in einem Atomkrieg münde.1

In Anbetracht der territorialen (aber auch personellen und materiellen) Verluste Russlands im Verlauf der ersten Kriegsmonate im Jahr 2022 warnten Expert*innen zudem vor dem Einsatz taktischer Atomwaffen, mit denen Russland einen Sieg doch noch erzwingen könne. „Angesichts der Rückschläge, die sie [Präsident Putin und die russische Führung] bisher militärisch hinnehmen mussten,“ so CIA-Direktor William Burns am 14. April 2022, „kann niemand von uns die Bedrohung durch einen möglichen Rückgriff auf taktische Nuklearwaffen oder Nuklearwaffen mit geringer Reichweite auf die leichte Schulter nehmen“ (zit. nach Strobel 2022).

Tatsächlich geht die von den Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky (1979) entwickelte Erwartungstheorie (englisch: »Prospect Theory«) davon aus, dass Individuen im Angesicht von Verlusten größere Risiken einzugehen bereit sind als im Angesicht von Gewinnen: Befinden wir uns in einer vorteilhaften Position, agieren wir eher vorsichtig, um unsere Gewinne zu sichern. Befinden wir uns dagegen in einer nachteiligen Position, neigen wir zu riskantem Verhalten, um unsere Verluste umzukehren. Lässt sich mit dieser auf Laborexperimenten beruhenden Theorie auch das Verhalten Russlands im aktuellen Ukraine-Krieg vorhersagen?2 Wie so oft kann auch diesmal ein Blick in die Vergangenheit helfen, erwartbare Ereignisse einzuordnen.

Der Krieg in der Ukraine begann nicht etwa mit dem russischen Überfall am 24. Februar 2022, sondern bereits im Frühjahr 2014, als auf der Krim und insbesondere im Osten der Ukraine heftige Kämpfe zwischen ukrainischen Truppen und von Moskau unterstützten pro-russischen Separatisten ausbrachen. Im Gegensatz zu Russland verfügen die pro-russischen Separatisten zwar über keine atomar bestückten Raketen, wohl aber über von Russland zur Verfügung gestellte mobile Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen. Wie die nachfolgende Eventdatenanalyse offenbart, kamen diese Raketen just in dem Moment zum Einsatz, in dem die Separatisten massiv zurückgedrängt wurden. Zwar ist der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17 im Sommer 2014 – bei aller Tragik – nicht mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen zu vergleichen, er zeigt jedoch, dass Akteure, die sich in der Defensive befinden, bereit sind, zu – für ihre Verhältnisse – unkonventionellen Mitteln zu greifen.

Unkonventionelle Mittel

Die hier angestellte Eventdatenanalyse stützt sich auf die mehr als 2.000 Ereignisse, die die täglich aktualisierte, aber inzwischen eingestellte »Ukraine Crisis Timeline« der unabhängigen US-amerikanischen Denkfabrik »Center for Strategic and International Studies« für den Zeitraum von November 2013 bis Februar 2017 ausweist. Ereignisse sind verbale oder physische Signale, denen ein Sender und Empfänger zugeordnet werden kann. Die insgesamt 357 von Januar bis Dezember 2014 zwischen der ukrainischen Regierung und den pro-russischen Separatisten ausgetauschten feindlichen Signale wurden für die hier angestellte Analyse herausgefiltert, gemäß Edward Azar und Thomas Sloan (1975) einer von sieben Ereigniskategorien zugeordnet und – da es sich bei einer »Kriegshandlung« um ein weitaus feindlicheres Signal als beispielsweise einer »Unmutsbekundung« handelt – mit den entsprechenden, von einem Expert*innenpanel vorgeschlagenen Faktoren multipliziert (siehe Tabelle 1).

Ereigniskategorie

Faktor

Umfangreiche Kriegshandlung

102

Begrenzte Kriegshandlung

65

Militärische Aktion geringen Ausmaßes

50

Politisch-militärische feindliche Handlung

44

Diplomatisch-wirtschaftliche feindliche Handlung

29

Starke verbale Unmutsbekundung

16

Leichte verbale Unmutsbekundung

6

Tabelle 1: Kodierungsschema nach Azar und Sloan (1975)

Grafik Abbildung 1

Abbildung 1: Intensität der 2014 von ukrainischer Regierung und pro-russischen Separatisten ausgesandten feindlichen Signale

Aggregiert in monatliche Einheiten, ergibt sich das Kurvendiagramm in Abbildung 1. In den ersten sechs Monaten sind die beiden Kurven nahezu deckungsgleich, was davon zeugt, dass die ukrainische Regierung und die pro-russischen Separatisten ihre feindlichen Signale symmetrisch (de-)eskalierten. Dieses »tit-for-tat«-Muster ist typisch für Gewaltkonflikte, in denen auf eine feindliche Aktion stets eine gleichwertige Reaktion erfolgt (siehe beispielsweise Azar 1972; Fielding und Shortland 2010; Linke, Witmer und O’Loughlin 2012).

Nach einer ersten Deeskalationsphase im sechsten Monat steigen die beiden Kurven im siebten Monat wieder an. Doch während die Kurve der ukrainischen Regierung auf einen Wert von 1249 steigt, nimmt die Kurve der pro-russischen Separatisten nur einen Wert von 918 an, das heißt, auf ein feindliches Signal der ukrainischen Regierung kommen nur noch 0,73 feindliche Signale der pro-russischen Separatisten.3 Die entstehende Lücke ist ein Indikator dafür, dass die pro-russischen Separatisten der ukrainischen Regierung merklich weniger entgegenzusetzen hatten. Tatsächlich begann die ukrainische Armee in diesem Monat ihre Juli-Offensive, in deren Verlauf sie zahlreiche Städte im Donbass zurückerobern konnte. Um die eintreffenden feindlichen Signale zu erwidern, blieb den Separatisten scheinbar nichts anderes übrig, als zu unkonventionellen Mitteln zu greifen. Der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen ist ein solch – für eine Volksmiliz – unkonventionelles Mittel. Nachdem am 14. Juli 2014 bereits eine ukrainische Militärmaschine in über 6.500 Metern Höhe abgeschossen wurde, folgte am 17. Juli 2014 der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17.

Umstrittene Ereignisse

Der Abschuss von MH17 – ob beabsichtigt oder nicht – ist nicht nur ein besonders fatales, sondern auch ein besonders umstrittenes Ereignis. So beschuldigen sich die ukrainische Regierung und die pro-russischen Separatisten bis zum heutige Tage, das vollbesetzte Passagierflugzeug zum Absturz gebracht zu haben. Der Umstand, dass die Frage nach der Täterschaft zunächst offen blieb, mag neben der Tatsache, dass bei dem Absturz keine ukrainischen Staatsbürger*innen ums Leben kamen, erklären, warum die Ukraine in den Folgemonaten nicht mehr, sondern weniger feindliche Signale sendete und es zu einer vorübergehenden »Resymmetrierung« der feindlichen Signale auf niedrigerem Niveau kam. Erst im Jahr 2016 gelangte eine Ermittlungsgruppe unter niederländischer Führung zu dem Ergebnis, dass das Flugzeug mit einer russischen Boden-Luft-Rakete vom Typ Buk-M1 abgeschossen wurde, die von einem von pro-russischen Separatisten kontrollierten Feld aus abgefeuert wurde. Sollte dies der Wahrheit entsprechen, wovon bei aller gebotenen Vorsicht auszugehen ist, bestätigt dies, was sich bereits aus den obigen Daten ablesen lässt: Dass der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen für die pro-russischen Separatisten eine Möglichkeit – vielleicht die einzige Möglichkeit – war, die Symmetrie der ersten sechs Monate wiederherzustellen.

Dabei ist der Abschuss von MH17 bei weitem nicht das einzige umstrittene Kriegsereignis der letzten Jahre.4 Im Syrien-Krieg gab es beispielsweise eine Reihe von Giftgasangriffen, die keiner Kriegspartei eindeutig zugeordnet werden konnten. Zwar richtete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einen gemeinsamen Untersuchungsmechanismus ein, doch wurde die Erneuerung seines Mandats wiederholt von Russland blockiert. Auch hier könnte ein enges Monitoring der Geschehnisse dabei helfen, die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes von unkonventionellen Mitteln zu bestimmen und die Täter*innen eines nicht zuzuordnenden Angriffs zu identifizieren: Weist die Interaktion der Kriegsparteien wie im obigen Fall ein starkes Muster der Reziprozität auf, und weicht eine Partei für einige Zeit von diesem Muster ab, indem sie deutlich weniger feindliche Signale sendet als sie empfängt, könnte dies darauf hindeuten, dass die Partei nicht mehr in der Lage ist, mit konventionellen Mitteln mitzuhalten. Im Gegensatz dazu ist es eher unwahrscheinlich, dass eine Partei, die in der Lage ist, die eingehenden feindlichen Signale zu erwidern (oder die bereits mehr feindliche Signale sendet als sie empfängt), zu unkonventionellen Mitteln greift.

Ein gesichtswahrender Ausweg: Losung und Lösung?

Der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen durch eine in die Defensive gedrängte Volksmiliz zeugt davon, dass Kriegsakteure im Angesicht von Verlusten dazu bereit sind, unkonventionelle Mittel zu ergreifen. Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass Russland, wenn militärisch in die Enge getrieben, einen Ausweg im Einsatz taktischer Atomwaffen sucht. Das Massaker von Butscha – ein weiteres umstrittenes (oder besser: von Russland bestrittenes) Ereignis – mag hier nur ein trauriger Vorbote gewesen sein. Was bedeutet das für die Ukraine? Aus moralischer wie taktischer Sicht kann man ihr kaum dazu raten, den russischen Angriff weniger resolut zurückzuschlagen. Deshalb kann die Losung nur lauten, Putin nicht komplett in die Ecke zu drängen, sondern ihm einen gesichtswahrenden Ausweg zu lassen, so schwer es angesichts des von ihm begonnenen Angriffskriegs und der von ihm befehligten Gräueltaten auch fallen mag.

Dies wird noch dadurch erschwert, dass der russische Präsident nicht nur etwaige Rückschläge auf dem Schlachtfeld, sondern die Unabhängigkeit der Ukraine als solche als Verlust betrachtet. So hat er der Ukraine, die er als historisch russisches Land ansieht, mehrfach ihr Existenzrecht abgesprochen. Dies mag eine Erklärung (aber keinesfalls eine Rechtfertigung) dafür liefern, weshalb Putin einen höchst risikobehafteten Angriffskrieg in der Ukraine führt. Für Jeffrey Taliaferro (2004) sind risikoreiche Interventionen (und sicherlich auch Invasionen) dagegen eher eine Folge von relativen Macht- und Ansehensverlusten. Der Zerfall der Sowjetunion, von Putin als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet, sowie Barack Obamas Verunglimpfung Russlands als Regionalmacht mögen schlussendlich also auch einen Teil zum gegenwärtigen Krieg in der Ukraine und der Schwierigkeit seiner Befriedung beigetragen haben.

Anmerkungen

1) Siehe etwa Olaf Scholz, zitiert in Der Spiegel (2022).

2) Für einen ersten, im Lichte des russischen Angriffskriegs allerdings unbefriedigenden Versuch, siehe Aleprete (2017). Siehe auch He und Feng (2013), die die Erwartungstheorie auf mehrere außenpolitische Entscheidungen im asiatisch-pazifischen Raum angewandt haben.

3) Der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17 wurde zum Zwecke der besseren graphischen Darstellung nicht kodiert. Bis zum Abschuss des Flugzeuges am 17. Juli weisen die von der ukrainischen Regierung gesendeten feindlichen Signale einen Wert von 794 und die von den pro-russischen Separatisten gesendeten feindlichen Signale einen Wert von 554 auf, das heißt auf ein feindliches Signal der ukrainischen Regierung kommen 0,69 feindliche Signale der pro-russischen Separatisten.

4) Siehe etwa Bauer, Ruby und Pape (2017).

Literatur

Aleprete, M. (2017): Minimizing loss: explaining Russian policy choices during the Ukrainian crisis. The Soviet and Post Soviet Review 44(1), S. 53-75.

Azar, E. E. (1972): Conflict escalation and conflict reduction in an international crisis: Suez, 1956. Journal of Conflict Resolution 16(2), S. 183-201.

Azar, E. E.; Sloan, T. J. (1975): Dimensions of interaction: a source book for the study of 31 nations from 1948 through 1973. Studies of Conflict and Peace, Department of Political Science, University of North Carolina at Chapel Hill.

Bauer, V.; Ruby, K.; Pape, R. (2017): Solving the problem of unattributed political violence. Journal of Conflict Resolution 61(7), S. 1537-1564.

Der Spiegel (2022): »Es darf keinen Atomkrieg geben«. Bundeskanzler Scholz im Interview mit dem SPIEGEL. 22.04.2022

Fielding, D.; Shortland, A. (2010): ‘An eye for an eye, a tooth for a tooth’: political violence and counter-insurgency in Egypt. Journal of Peace Research 47(4), S. 433-447.

Gillmann, B. (2022): Atomwaffen: Wie ernst ist die nukleare Bedrohung durch Russland? Handelsblatt, 20.05.2022.

He, K.; Feng, H. (2013): Prospect theory and foreign policy analysis in the Asia Pacific: rational leaders and risky behavior. New York: Taylor and Francis.

Hussak, M.; Scheffran, J. (2022): Alles über Bord werfen? Friedenswissenschaft und Friedensbewegung im Kontext des Ukrainekrieges. W&F 2/2022, S. 6-8.

Kahneman, D.; Tversky, A. (1979): Prospect theory: an analysis of decision under risk. Econometrica 47(2), S. 263-291.

Linke, A. M.; Witmer F. D. W.; O’Loughlin, J. (2012): Space-time granger analysis of the war in Iraq: a study of coalition and insurgent action-reaction. International Interactions 38(4), S. 402-425.

Taliaferro, J. W. (2004): Power politics and the balance of risk: hypotheses on great power intervention in the periphery. Political Psychology 25(2), S. 177-210.

Strobel, W. P. (2022): CIA chief: Don’t ‘take lightly’ threat Putin could use limited nuclear strike. The Wall Street Journal, 15.04.2022.

Dr. Jan Niklas Rolf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europapolitik und Internationale Beziehungen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Friedensarbeit braucht Begleitung

Friedensarbeit braucht Begleitung

oder „How to face the mess we’re in without going crazy?!“1

von Daniela Pastoors

Nicht nur Friedensarbeit braucht Begleitung, sondern auch Friedensfachkräfte – und letztlich wir alle. Was hilft uns dabei, uns den Krisen der Menschheit zu stellen? Wie können wir mit den Gefühlen umgehen, die dabei entstehen? Daniela Pastoors forscht dazu, wie Fachkräfte im ­Zivilen Friedensdienst psychosozial begleitet werden, und überträgt ihre Erkenntnisse in diesem Essay auf weitere gesellschaftliche Bereiche.

Wenn wir uns die Herausforderungen, vor denen wir als Gesellschaften und als Menschheit stehen, tatsächlich vor Augen führen – statt die Augen vor ihnen zu verschließen –, dann können wir davon überwältigt werden. Wir erkennen, wie riesig, wie umfassend und wie existentiell die Krisen sind, in denen wir uns befinden und mit welcher Geradlinigkeit wir auf den Abgrund zusteuern. Das Zulassen dieser Erkenntnisse macht uns fassungslos. Und das kann uns alle betreffen:

  • die Klimaaktivistin, die mitansehen muss, wie der lebendige Wald um sie herum abgeholzt wird;
  • den Sozialarbeiter, der täglich feststellt, wie massiv Armut auch in Deutschland die Lebenschancen von Menschen beeinträchtigt;
  • die Forscherin, die sich über Jahrzehnte damit auseinandersetzt, wie viele Arten auf dem Planeten für immer aussterben;
  • den Bürgerrechtler, der nach Jahrhunderten von Sklaverei weiter miterleben muss, dass Schwarze Leben nicht zählen und einfach ausgelöscht werden;
  • die Pflegerin, die unter der Last der Arbeit und dem Nie-genug-tun-Können zusammenbricht;
  • den Großvater, der insgeheim daran zweifelt, ob seine Enkel überhaupt noch eine lebenswerte Zukunft haben werden;
  • die ZFD-Fachkraft, die angesichts von gewaltsamen Konflikten die Hoffnung verliert…

… diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Wenn wir der Bedrohung und Zerstörung ins Auge blicken, rollen Schmerz, Ohnmacht und Verzweiflung über uns hinweg. Wir haben Angst davor, selbst in den Abgrund zu stürzen. Genau deshalb verschließen wir uns sehr häufig vor diesen Gefühlen, verdrängen sie – und damit auch die Erkenntnisse über die Tragweite der Herausforderungen. Wir stecken den Kopf in den Sand, weil wir es nicht ertragen können. Weil die Probleme riesig und unüberwindbar erscheinen. Weil wir glauben, nicht mit dieser enormen Last umgehen zu können. Weil wir Angst haben, daran zu zerbrechen.

Was braucht es also dafür, dass wir uns trauen, den Kopf aus dem Sand zu ziehen, der Realität ins Gesicht zu schauen und uns einzugestehen, was passiert? Was brauchen wir, um trotz, wegen und aus der Existentialität der Situation heraus zu handeln – uns der Bedrohung und Zerstörung entgegenzustellen und uns trotz aller Widrigkeiten weiter für das Leben einzusetzen? Vermutlich beantworten wir diese Fragen alle unterschiedlich. So verschieden unsere Strategien sein mögen, so ist doch eines klar: Langfristig geht es nicht allein. Deshalb ist meine These, dass wir Begleitung brauchen. Jede und jeder einzelne von uns.

Psychosoziale Begleitung in der Friedensarbeit

Das Handlungsfeld, mit dem ich mich in meiner Forschung beschäftigt habe, ist der Zivile Friedensdienst (ZFD). Fachkräfte im Zivilen Friedensdienst haben die Aufgabe, Friedensprozesse zu begleiten (vgl. Pastoors 2021). Nicht sie selbst sind die »Macher*innen des Friedens«, sondern ihr Fokus liegt darauf, lokale Friedensakteur*innen in verschiedenen Ländern der Welt dabei zu unterstützen, Konflikte nachhaltig und gewaltfrei zu transformieren.2 So einfach sich diese beschreibenden Sätze lesen, so wenig trivial ist doch das Grundverständnis, das darin zum Ausdruck kommt. Wenn Frieden nicht als ferner Zustand sondern als alltäglicher Prozess begriffen wird, zu dem Konflikte dazugehören und diese wiederum sowohl Risiken als auch Chancen in sich tragen, hat das Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Konflikttransformation unterstützt werden kann. Das Vertrauen in den Prozess selbst und besonders in die Akteur*innen, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten, die Konflikttransformation selbst zu gestalten, bildet die Basis für einen externen Beitrag, der keine Techniken anwendet, »Rezepte« verordnet und Lösungen liefert, sondern in Beziehung geht, einen Rahmen gestaltet und vorhandenes Wissen hervorlockt. In diesem Sinne sind ZFD-Fachkräfte in erster Linie Begleiter*innen.

Dieses transformative Paradigma der Konfliktbearbeitung, das mit einer elizitiven3 Haltung einhergeht, stellt gleichzeitig spezifische Anforderungen an Fachkräfte, die Wandlungsprozesse auf diese Weise unterstützen wollen. Der Blick auf Friedensarbeit als Beziehungsarbeit verdeutlicht, dass Friedensfachkräfte nicht nur viele Kompetenzen brauchen, um diese Beziehungen zu gestalten, sondern, dass Reflexionsräume notwendigerweise zur professionellen Friedenspraxis dazugehören müssen. Nicht nur Friedensarbeit braucht Begleitung, sondern auch Friedensarbeiter*innen. Aufgrund der komplexen Herausforderungen ihrer Tätigkeiten und ihrer vielschichtigen Rollen brauchen sie neben speziellen Fähigkeiten, fundiertem Wissen und einer ausgeprägten Haltung auch Möglichkeiten, um diese zu erwerben, anzuwenden und zu reflektieren. Zugleich gilt es, die anspruchsvolle Kunst der Friedensarbeit zu meistern, ohne sich selbst dabei aus dem Blick zu verlieren. Unterschiedliche Elemente der psychosozialen4 Personalbegleitung bieten ihnen dafür Gelegenheit.

Die Forschung hat sich diesem Themenbereich bisher wenig gewidmet. Entweder beschränkte sie sich auf Fragen der Personalgewinnung, Qualifizierung und Vorbereitung (vgl. Schüssler und Thiele 2012, Schweitzer 2009, Sell 2006), oder es standen Aspekte des Sicherheits- und Krisenmanagements und die gesundheitlichen Risiken und psychischen Folgen von Auslandseinsätzen im Fokus.5 Zudem bewegte sich der Diskurs oftmals im Kontext der »Duty of Care«, der Fürsorgepflicht der Organisationen für ihre Mitarbeitenden in Auslandsprojekten, sodass primär Haftungsfragen diskutiert wurden (z. B. Merkelbach 2017). Auch wenn immer wieder auf die Bedeutung von Unterstützungsmaßnahmen für das Auslandspersonal verwiesen wurde, legen nur sehr wenige Studien den Fokus darauf. Die Praxis der »Staff Care« (organisationale Fürsorge für Mitarbeitende) ist bisher nur in wenigen Bereichen der internationalen Zusammenarbeit untersucht.6

In meiner Dissertation habe ich daher den Fokus auf die Frage gelegt, wie Fachkräfte im Zivilen Friedensdienst unterstützt und psychosozial begleitet werden. Dafür habe ich eine Bestandsaufnahme der Personalbegleitung im ZFD durchgeführt und untersucht, durch welche Begleitelemente Fachkräfte im Zivilen Friedensdienst vor, während und nach der Dienstzeit unterstützt werden. In meiner Erhebung habe ich die Gesamtheit aller ZFD-Organisationen in den Blick genommen und sowohl die Perspektiven von (ehemaligen) ZFD-Fachkräften selbst, als auch die von Mitarbeitenden der Geschäftsstellen und von begleitenden Coaches bzw. Supervisor*innen mit einbezogen.

Neben den Elementen und Angeboten der Personalbegleitung, die im Zentrum meiner Forschung standen, habe ich auch die Anliegen und Herausforderungen beleuchtet, die diese notwendig machen. Zudem habe ich Empfehlungen und Wünsche der Akteur*innen für die Weiterentwicklung der Personalbegleitung zusammengetragen und analysiert, welche Bedürfnisse dahinter stehen und welche Spannungsfelder sich in diesem Kontext zeigen. Um den Transfer in die Praxis zu ermöglichen, habe ich die Erkenntnisse der Forschung als »Lessons Learned« zusammengefasst und aufbereitet.

Insgesamt habe ich eine Vielzahl an Begleitpraktiken zu Tage gefördert: angefangen bei der Erstellung von Begleitkonzepten im Vorfeld, über Supervision und kollegiale Beratung während der gesamten Zeit bis hin zu Rückkehrseminaren für alle. Die Organisationen begleiten die Fachkräfte dabei einerseits selbst und mit Hilfe von Dritten (z. B. Trainer*innen), andererseits sind die Fachkräfte sich gegenseitig eine Stütze und organisieren manche Unterstützung selbst. Die vorhandene Fülle und Vielfalt der Begleitelemente offenzulegen und die Sichtweisen verschiedener Beteiligter darauf zu berücksichtigen, ist ein wesentlicher Beitrag meiner Forschung.7 Gleichzeitig ist nicht nur von Bedeutung, was angeboten und genutzt wird, sondern das Hauptaugenmerk liegt darauf, wie die Begleitung konzipiert, ausgestaltet und gelebt wird: im besten Falle bedürfnisorientiert, barrierearm, emanzipatorisch, ganzheitlich und elizitiv – so wie wir uns auch Friedensarbeit wünschen.

Darin zeigt sich auch, dass es nicht nur um die Implementierung einzelner Maßnahmen, sondern um einen Kulturwandel geht – von einer »Duty of Care«, die Fürsorge als Pflicht zur rechtlichen Absicherung begreift, hin zu einer »Culture of Care«, die eine umfassende Kultur und eine Haltung der individuellen und gemeinschaftlichen Fürsorge wachsen lässt. Mit dem Blick der »Culture of Care« wird deutlich, dass persönliches, kollektives und globales Wohlergehen Hand in Hand gehen. Denn eine »Culture of Care« ist zugleich Teil einer »Culture of Peace«8 und (Personal-)Begleitung trägt zu einer Kultur des Friedens bei.

Kultur der Fürsorge für alle?

Doch wie lassen sich diese Erkenntnisse auf uns alle übertragen? Meine Forschung im ZFD zeigt, dass die vielfältigen Begleit­elemente und Unterstützungsangebote nicht nur in schweren Krisen, sondern auch bei der alltäglichen Reflexion der Arbeit hilfreich sind und die Friedensarbeiter*innen davor bewahren können, den Kopf in den Sand zu stecken. Sie können durch die Begleitung den Mut behalten, sich weiterhin den Bedrohungen und Zerstörungen entgegenzustellen – und statt auszubrennen, können sie sich selbst, die Menschen in ihrem Umfeld und schließlich auch ihre Arbeit stärken. Hierin liegen wichtige Anreize für viele weitere Bereiche der Gesellschaft und die Erkenntnisse lassen sich auf unterschiedlichste Handlungsfelder übertragen.9

Kommen wir also zurück zu uns und zu den eingangs genannten Personenkreisen. Wie könnte Begleitung in diesen Kontexten aussehen? Stellen wir es uns konkret vor.

  • (Klima-)Aktivist*innen ermutigen sich durch individuelle und kollektive Resilienzstrategien gegenseitig und sorgen dafür, dass ihre Bewegungen wirksamer und nachhaltiger werden, weil sie aus den Gefühlen Kraft schöpfen können.
  • Sozialarbeiter*innen vernetzten sich, erkämpfen mit Hilfe von Interessenvertretung und Gewerkschaft bessere Arbeitsbedingungen und schaffen sich auf politischer Ebene Gehör, um auch die Wurzeln sozialer Problemlagen angehen zu können.
  • Wissenschaftler*innen führen Forschungssupervision ein, so dass sie endlich Räume für den Umgang mit den Nebenwirkungen haben, die ihre oftmals erschreckenden Forschungsergebnisse auf sie selbst haben.
  • Bürgerrechtler*innen weltweit gestalten öffentliche Trauerrituale, damit nicht nur die Wut ihren Ausdruck findet, sondern auch die Verzweiflung – und ermöglichen sich und anderen auf diese Weise, den Schmerz gemeinsam zu bewältigen und Raum für Würdigung zu schaffen.
  • Pflegepersonal regt Studien zum psychosozialen Wohlergehen von Mitarbeitenden und Patient*innen an und konzipiert auf dieser Basis ein Gesundheitssystem, das die Lebensqualität aller verbessert.
  • Großeltern gründen Gesprächskreise, in denen sie über ihre Zukunftsängste sprechen und schließlich den Mut finden, gemeinsam mit ihren Enkeln auf die Straße zu gehen…

Auch diese Liste ließe sich endlos fortsetzen. Zum Glück. Denn so groß, wie die Herausforderungen sind, denen wir uns als Menschheit zu stellen haben, können wir jede Unterstützung gebrauchen. Wir alle können Rückhalt gebrauchen und zugleich kann jede*r von uns auch andere Menschen begleiten, unterstützen und stärken. Dabei ist die Fürsorge für sich und andere immer miteinander verbunden – innere und äußere Friedensarbeit gehen Hand in Hand. So ist eine Kultur der Fürsorge existentieller Teil einer Kultur des Friedens.

Anmerkungen

1) Dieser Essay ist inspiriert durch Joana Macy, die Begründerin der »Work, that reconnects«. Das Zitat ist der Untertitel ihres Buches »Active Hope« (Macy und Johnstone 2012).

2) Umfassende Informationen und weiterführende Literatur zum ZFD sind hier zu finden: ziviler-friedensdienst.org.

3) Der Begriff geht auf John Paul Lederach zurück, der elizitive und präskriptive Zugänge zu Training und Konflikttransformation unterscheidet (siehe u.a. Lederach 1995).

4) Als psychosozial zeichnet sich die Personalbegleitung aus, wenn dabei zugleich innere und äußere Aspekte und deren Wechselwirkungen berücksichtigt werden (Pastoors 2021).

5) Der Großteil der Studien bezieht sich auf den Bereich der humanitären Hilfe, siehe bspw. Antares Foundation (2012), Blanchetière (2006).

6) Siehe bspw. Becker et. al. (2018), Behboud (2009), Porter und Emmens (2009). Ein praktisches Handbuch macht die Erkenntnisse der Forschung für Fachkräfte in der internationalen Zusammenarbeit nutzbar (Pigni 2016).

7) Eine knappe und praxisorientierte Zusammenfassung wichtiger Ergebnisse meiner Forschung ist im »Lessons Learned« Kapitel meiner Dissertation und in diesem Artikel nachzulesen: (Pastoors 2019).

8) In Elise Bouldings (2000) Definition der »Culture of Peace wird diese Verbindung zur »Culture of Care« besonders deutlich.

9) Exemplarisch möchte ich hier auf den Nachhaltigen Aktivismus verweisen, der sich mit Resilienzstrukturen für politische Aktivist*innen befasst (siehe hierzu Luthmann 2021).

Literatur

Antares Foundation (2012): Managing stress in humanitarian workers. Guidelines for good practice. Amsterdam: Antares Foundation.

Behboud, S. (2009): Die Begleitung von pbi-Freiwilligen in der internationalen Friedensarbeit – Vorbereitung, Betreuung und Nachbereitung von Freiwilligeneinsätzen. Hamburg: peace brigades international (pbi) – Deutscher Zweig e.V.

Becker, D. et al. (2018): What helps the helpers? Research Report 2016-2018. Berlin.

Blanchetière, P. (2006): Resilience of humanitarian workers. o.O.

Boulding, E. (2000): Cultures of peace. The hidden side of history. Syracuse, N.Y.: Syracuse University Press.

Lederach, J. P. (1995): Preparing for peace. Conflict transformation across cultures. Syracuse, N.Y.: Syracuse University Press.

Luthmann, T. (2021): Politisch aktiv sein und bleiben. Handbuch Nachhaltiger Aktivismus. Münster: Unrast Verlag.

Macy, J.; Johnstone, Ch. (2012): Active hope: How to face the mess we’re in without going crazy. Novato: New World Library.

Merkelbach, M. (2017): Voluntary guidelines on the duty of care to seconded civilian personnel. Swiss Federal Department of Foreign Affairs (FDFA); Stabilisation Unit (SU); Bern u.a.: Center for International Peace Operations (ZIF).

Pastoors, D. (2021): Von der Duty of Care zur Culture of Care – Psychosoziale Personalbegleitung für Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes. Hamburg: tredition.

Pastoors, D. (2019): Risiken vermeiden und Potenziale entfalten. Zur Doppelwirkung psychosozialer Begleitung. Transfer 01/2019. Bonn: Arbeitsgemeinschaft der Entwicklungsdienste.

Pigni, A. (2016): The idealist’s survival kit. 75 simple ways to avoid burnout. Berkeley: Parallax Press.

Porter, B.; Emmens, B. (2009): Approaches to staff care in international NGOs. People in Aid: InterHealth.

Sell, S. (2006): Qualifizierung zu Zivilem Friedensdienst / Ziviler Konfliktbearbeitung – Bedarfserhebung unter den ZFD-Trägerorganisationen und Akteuren benachbarter Arbeitsfelder. Bonn: Akademie für Konflikttransformation im forumZFD.

Schüßler, M.; Thiele, U. (2012): Evaluationsbericht. Grundqualifizierung für den Zivilen Friedensdienst/ Zivile Konfliktbearbeitung. Akademie für Konflikttransformation im forumZFD. Universität Oldenburg.

Schweitzer, Ch. (2009): Rekrutierung und Qualifizierung von Personal im Zivilen Friedensdienst. Bonn: Akademie für Konflikttransformation im forumZFD.

Dr. Daniela Pastoors hat zum Thema psychosoziale Personalbegleitung im Zivilen Friedensdienst promoviert, während sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Marburg tätig war und im Beratungsbereich gelehrt hat.