Herrschaftskritische Methoden umsetzen – aber wie?

Herrschaftskritische Methoden umsetzen – aber wie?

Workshop, Justus-Liebig-Universität Gießen, 12.-13. Dezember 2022

Herrschaftskritische Forschung setzt sich mit Macht-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen wie Rassismus, Klassismus, Sexismus, Ableismus, Kapitalismus auseinander und fragt, wie diese Verhältnisse soziale Ungleichheit, Differenz und Unterdrückung bedingen, reproduzieren und legitimieren. Dabei widmet sich herrschaftskritische Forschung auch der Frage, wie Wissenschaft selbst zu solchen Verhältnissen beiträgt. In jüngerer Zeit haben post- und dekoloniale Perspektiven, kritische Rassismusforschung, feministische und intersektionale Zugänge sowie herrschaftskritische Perspektiven verstärkt Aufmerksamkeit und Zulauf in der Wissenschaft und darüber hinaus erhalten. Diese Perspektiven vereint, dass sie sich mit existierenden Macht-, Gewalt-, und Herrschaftsverhältnissen kritisch auseinandersetzen und selbst einen Beitrag zu ihrer Überwindung leisten möchten.

Insbesondere vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit epistemischer Gewalt und der damit einhergehenden Feststellung, dass auch wissenschaftliches Arbeiten an der Reproduktion von Herrschaft und Gewalt(-verhältnissen) beteiligt ist, wächst daher auch das Interesse an einer herrschaftskritischen Auseinandersetzung mit der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit. Denn der Wechsel von der (herrschaftskritischen) Theorie in die Praxis ist weder einfach noch eindeutig. Vielmehr sind wir in unserem Anspruch, herrschaftskritisch zu forschen, mit zahlreichen Fragen, Dilemmata und Widersprüchen konfrontiert. Das Wissen um die Herrschaftsförmigkeit des wissenschaftlichen Diskurses und der Aufruf zur Reflektion der eigenen Positionierung darin, das Wissen um die Gefahr, »epistemischen Extraktivismus« zu reproduzieren, oder der Wunsch, Forschung mit und für gesellschaftliche Akteur*innen zu betreiben, implizieren selten klare Anhaltspunkte oder Vorschläge für die eigene Forschungspraxis. Mit anderen Worten: Theoretische Einsichten in die Notwendigkeit herrschaftskritischer Forschung übersetzen sich nicht automatisch in die Fähigkeit zur angewandten Herrschaftskritik.

Diese Überlegungen waren der Ausgangspunkt für einen Workshop im Dezember 2022 an der JLU Gießen, der in Kooperation des Arbeitskreises Herrschaftskritische Friedensforschung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. (AFK) und der Sektion Transnationale und Intersektionale Herrschaftskritik am Gießener Graduiertenzentrum Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften (GGS) durchgeführt wurde. Beide Gruppierungen eint das Interesse an einem tieferen Verständnis gesellschaftlicher und globaler Herrschaftsverhältnisse, um emanzipatorische Perspektiven aufzuzeigen und zu erarbeiten, die zur Überwindung dieser Verhältnisse beitragen.

In der Diskussion der Fragen und Herausforderungen »angewandter Herrschaftskritik«, die den Workshop-Teilnehmenden in ihrer eigenen Forschung entstehen, wurde schnell klar: Es kann keine generalisierte Anleitung oder ein Rezept dazu geben, wie der herrschaftskritische Anspruch in die Praxis umzusetzen wäre. Gleichzeitig haben sich verschiedene Aspekte herauskristallisiert, die für diesen Anspruch wichtig erscheinen und deren Reflektion die Teilnehmenden als hilfreich empfanden. Daraus ist die Idee entstanden, spezifische Elemente zu benennen und zu diskutieren, die für die wissenschaftliche Praxis mit herrschaftskritischem Anspruch wichtig erscheinen. Mit anderen Worten: Wenn es nicht das eine Rezept geben kann, mit dem sich herrschaftskritische Forschung »kochen« lässt, so kann man doch wenigstens die Vorratskammer mit geeigneten Zutaten füllen. Als einige der vielen wichtigen Zutaten für ein herrschaftskritisches Methoden-Gericht haben die Teilnehmenden u.a. folgende Themen ausgemacht: eine konsequente Forschungsethik, die ungleiche Machtverhältnisse mitdenkt und die Einwilligung von Forschungsteilnehmenden, deren Schutz vor möglichen Risiken und Gefahren sowie Informiertheit über Forschungsablauf und -outputs (»informed consent«) beinhaltet. Damit verbunden ist ferner Beziehungsarbeit, um die letztgenannten Aspekte zu vertiefen und Informations- und Machtungleichheiten innerhalb teilnehmender Gruppen oder Communities sowie zwischen diesen und den Forschenden sichtbar zu machen, um einen konstruktiven Umgang damit zu ermöglichen. Weitere wichtige Grundlagen sind die bereits etablierte kritische Reflektion der oft privilegierten Positionalität der Forschenden, die aber auch intersektionale Differenzen aufweisen kann, welche wiederum wichtige Gemeinsamkeiten und Solidarität mit Forschungsteilnehmenden begründen können.

Aus der Beobachtung heraus, dass es wenige praxisorientierte Anleitungen gibt, wie ein herrschaftskritischer Anspruch in der Forschung umgesetzt werden kann, entstand die Idee, selbst eine entsprechende Handreichung zu schreiben. Die Texte sollen praxisnah, aber reflektiert Widersprüche und Probleme der wissenschaftlichen Forschung benennen und eine Grundlage für die weitere Diskussion bilden. Über diese forschungspraktische Perspektive hinaus wurde im Workshop auch die Notwendigkeit eines herrschaftskritischen Zugangs in anderen Bereichen der Wissenschaft thematisiert, etwa durch die Erweiterung von Inhalten in Lehre und Methodenausbildung, durch neue (Peer-)Support-Mechanismen und langfristig gesehen auch durch strukturelle Änderungen im Publikations- und im Hochschulwesen.

Da eine herrschaftskritische wissenschaftliche Praxis nicht zuletzt ein kollektiver Prozess ist, laden die Sektion Transnationale und Intersektionale Herrschaftskritik und der Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung herzlich zur Diskussion und Mitarbeit ein. Wer Interesse hat, sich an der Erstellung der Handreichungen zu beteiligen, oder zum Folge-Workshop im Dezember 2023 eingeladen werden möchte, kann sich gerne bei Juliana Krohn (juliana.krohn@uibk.ac.at) melden.

Marie Reusch, Philipp Lottholz, Juliana Krohn

Herausforderungen eines dritten Nuklearzeitalters

Herausforderungen eines dritten Nuklearzeitalters

Fachtagung der Universität Duisburg-Essen und International Students/Young Pugwash, Berlin, 31. Oktober – 2. November 2022

Nuklearwaffen spielen nach wie vor eine zentrale Rolle in der internationalen Politik. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 und russische Nukleardrohungen in der Folge dessen haben die Risiken einer nuklearen Konfrontation wieder deutlich ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Doch schon zuvor befand sich die globale nukleare Ordnung in einem kritischen Zustand: Während regionale Proliferationskrisen im Nahen und Mittleren Osten sowie Ostasien andauern und Kernwaffenarsenale in einigen Staaten weiter anwachsen, zeigen sich etablierte Rüstungskontrollmechanismen zunehmend geschwächt oder werden unterlaufen. Zugleich hat sich der geopolitische Kontext verändert: War das erste nukleare Zeitalter noch durch die gegenseitige Abschreckungsbeziehung der beiden Supermächte und das zweite durch das Anwachsen der Anzahl von Kernwaffenstaaten geprägt, so zeichnet sich das sogenannte »dritte nukleare Zeitalter« durch eine neue Komplexität aus. Es verbindet alte mit neuen Herausforderungen, die sich aus der Vielzahl relevanter Akteure, multipolaren Rüstungswettläufen und neuen Technologien ergeben.

Die internationale Fachkonferenz »New Age, New Thinking: Challenges of a Third Nuclear Age« (hier kurz: 3NA-Konferenz), die vom 31. Oktober bis 2. November 2022 in Berlin stattfand, widmete sich eben diesen Herausforderungen des dritten Nuklearzeitalters für nukleare Risikominimierung, Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung. Organisiert wurde die Konferenz vom Netzwerk International Students/Young Pugwash (ISYP) und der Universität Duisburg-Essen, mit Unterstützung der Heinrich Böll Stiftung, Pugwash Conferences on Science and World Affairs und der Deutschen Stiftung Friedensforschung sowie in Zusammenarbeit mit dem Bulletin of the Atomic Scientists und dem Third Nuclear Age Project der University of Leicester.

Die 3NA-Konferenz brachte knapp 40 internationale Wissenschaftler*innen aus 15 verschiedenen Ländern in Berlin zusammen, um Herausforderungen des dritten nuklearen Zeitalters und mögliche Handlungsansätze zu diskutieren. Ziel der Konferenz war nicht nur die Stärkung internationaler Forschungskapazitäten. Vor allem sollte fortgeschrittenen Studierenden und jungen Forschenden ein Raum gegeben werden, um sich untereinander, aber auch mit etablierten Wissenschaftler*innen zu vernetzen und gemeinsam neue Denkansätze zu entwickeln.

Ein zentraler Baustein des Gesamtkonzepts der 3NA-Konferenz war Diversität: Die Teilnehmenden brachten unterschiedliche nationale bzw. geographische Perspektiven sowie unterschiedliche disziplinäre Sichtweisen in die Diskussion ein. Eine Mischung aus sozial-, wirtschafts-, ingenieurs- und naturwissenschaftlichen Hintergründen trug zu einer Multidisziplinarität bei, die es erlaubte, die komplexen Hintergründe nuklearer Nichtverbreitung, Rüstungskontrolle und Abrüstung im dritten Nuklearzeitalter ganzheitlich aufzuarbeiten. Schließlich wirken technologische Faktoren immer in sozialen Strukturen und werden durch kognitive Faktoren, wie Wissens- oder Überzeugungsstrukturen oder gegenseitige Wahrnehmungsmuster geprägt. So wurde kritische Reflexion angeregt und deterministischen Analysen entgegengewirkt, etwa durch Einbezug kritischer Perspektiven, bspw. der feministischen Kritik an technostrategischer Sprache oder der bewussten Dekonstruktion von zugrundeliegenden Machtasymmetrien, die auf Nuklearpolitik einwirken.

Die Tagung begann mit einer Podiumsdiskussion, die sich mit dem Zustand des gegenwärtigen Nuklearregimes befasste. Die Sprecher*innen setzten jeweils unterschiedliche Schwerpunkte, beschäftigten sich im Kern aber mit den Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine für globale nukleare Ordnungsbildung. Besonderes Augenmerk galt dabei der Frage nach den normativen Grundlagen der nuklearen Ordnung und der Rolle von Vertrauen in antagonistischen Beziehungen. Zwar blieb offen, wann und wie angesichts des erheblichen Vertrauensverlustes durch Russlands Invasion bilaterale Rüstungskontrollgespräche zwischen Russland und den USA wieder aufgenommen und multilaterale Vertragsregime wie der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) gestärkt werden können. Mehrere Teilnehmenden unterstrichen jedoch, dass Vertrauensbeziehungen auch unterhalb der Ebene zwischenstaatlicher Diplomatie gepflegt werden können – und ergo Wissenschaftler*innen, Studierende oder Techniker*innen eine aktive Rolle dabei einnehmen können.

Die beiden anschließenden Panels des ersten Konferenztages widmeten sich jeweils politischen und technologischen Herausforderungen der nuklearen Nichtverbreitung, darunter regionale (Un-)Sicherheitsperzeptionen, die unzureichende Institutionalisierung globaler Verantwortungsrahmen oder technologische Entwicklungen im Bereich der Reaktortechnologie. Aber auch neue Forschungsansätze und deren Potentiale wurden diskutiert, etwa die Sentimentanalyse oder neue Reaktorkonzepte und deren Bedeutung für Proliferationsresistenz. Im Kern lassen sich die Ergebnisse auf einen recht simplen Nenner bringen, der den Mehrwert einer multidisziplinären Perspektive unterstreicht: So wurde etwa festgehalten, dass neue Reaktortechnologien nicht automatisch das Proliferationsrisiko erhöhen, wenn regionaler Dialog und politischer Wille zur Zusammenarbeit vorhanden sind, um eine Regulierung von Kerntechnik und Spaltmaterial zu erwirken. Zum Abschluss des ersten Konferenztages resümierte die Podiumsdiskussion die Problematik nuklearer Nichtverbreitung im dritten Nuklearzeitalter. Letztlich gelte es, eine Balance zu finden zwischen der Sensibilisierung über Proliferationsrisiken und präventivem Handeln. Hervorgehoben wurden positive Effekte der sich diversifizierenden Akteurslandschaft im dritten Nuklearzeitalter, bspw. das Potenzial von »Open Source Intelligence« oder Handelsanalysen für ein tieferes Verständnis von Proliferationsmustern oder der stärkere Einbezug privater Akteure, wie Finanzinstitutionen, angesichts ihrer Rolle in Proliferationsnetzwerken. Als zentraler Baustein kristallisierte sich außerdem die Notwendigkeit heraus, das vorherrschende Narrativ anzufechten und die Kontrollierbarkeit von Nuklearwaffen und die Unvermeidbarkeit nuklearer Proliferation zu hinterfragen.

Am Abend rundete ein Empfang im Auswärtigen Amt in Kooperation mit dem Referat für nukleare Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nonproliferation sowie dem »Jungen Nuklearen Netzwerk«, einem unabhängigen und überparteilichen Verein junger Forschender, den ersten Tag der 3NA-Konferenz ab. Der Empfang ermöglichte es den Teilnehmenden, sich weiter zu vernetzen und die diskutierten Erkenntnisse mit Einsichten aus der ordnungspolitischen Praxis zu ergänzen. Einmal mehr stand hierbei die Frage nach den zukünftigen Konturen der nuklearen Ordnung im Mittelpunkt. Kritisch diskutiert wurde, dass die Diskussion zu stark auf Großmächte konzentriert sei und andere Weltregionen aus dem Blick gerieten. Dabei könnten Erfahrungen aus anderen Regionen wertvolle Einsichten liefern, bspw. der Wandel antagonistischer Beziehungen hin zu Vertrauen im Fall von Brasilien und Argentinien.

Der zweite Konferenztag begann mit der Präsentation breiter angelegter Perspektiven. Teilnehmende erörterten die Bedeutung multiplexer Akteurskonstellationen oder von Quantentechnologien für das dritte Nuklearzeitalter, diskutierten über Herausforderungen für Abschreckungspolitik, die unterschiedliche »Domänen« umfasst, oder formulierten eine feministische Kritik an der technostrategischen Sprache an der Schnittstelle von Cyber- und Nuklearpolitik. Zwei weitere Panels befassten sich mit den technologischen, aber auch ethischen Herausforderungen, mit Blick auf die Entwicklung neuer Trägersysteme wie Hyperschallgleiter, für Rüstungsdynamiken, der Vereinbarkeit von strategischer Stabilität und humanitärem Völkerrecht sowie den Herausforderungen und Grenzen der Nutzung künstlicher Intelligenz für militärische Anwendungen. Den Abschluss der Konferenz bildete eine Podiumsdiskussion zu der Frage, wie und ob angesichts der während der beiden Tage diskutierten technologischen und politischen Herausforderungen, die Risiken nuklearer Eskalation minimiert und effektive Mechanismen nuklearer Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung etabliert werden können. Zwar herrschte bei einigen Teilnehmenden Skepsis mit Blick auf die Frage, inwiefern es in der gegenwärtigen Lage gelingen kann, den Zustand der Unordnung zu überwinden. Einig waren sich die Teilnehmenden aber darin, dass das Bemühen um nukleare Ordnungsbildung letztlich alternativlos ist und Wissenschaft wichtige Impulse liefern kann. Da die Erfolgsaussichten für eine Wiedereinsetzung bilateraler Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland derzeit gering sind, sollten die Bemühungen verstärkt werden, konkrete Abkommen zur Risikominimierung, bspw. mit China, auszuhandeln. Diese müssten neue Technologien unbedingt einschließen. Festgehalten wurde aber auch die wichtige Rolle nichtstaatlicher Akteure, etwa im Bereich der politischen Aufklärungsarbeit über Nuklearwaffen, inklusive der Sensibilisierung für Proliferations- und Eskalationsrisiken aufgrund von kognitiven Prägungen sowie politischen und technischen Interpretationen. Die Beiträge der Studierenden und jungen Forschenden lieferten dafür eine reichhaltige Palette konkreter Vorschläge.

Damit diese auch in den öffentlichen Diskurs einfließen, endete die Konferenz mit einer besonderen Gelegenheit für die Teilnehmenden: Die 3NA-Konferenz wurde durch eine Schreibwerkstatt mit John Mecklin, dem Chefredakteur des renommierten Bulletin of the Atomic Scientists, abgerundet. Er ermutigte die jungen Forschenden, ihre Konferenzbeiträge für eine mögliche Veröffentlichung im Bulletin zu überarbeiten. Tatsächlich ist geplant, mehrere der Vorträge mit dem Bulletin zu veröffentlichen, um neues Denken und Forschung auch dort weiterzutragen.

Die 3NA-Konferenz markierte den Auftakt neuer Denk- und Forschungsprozesse und förderte den internationalen, interdisziplinären und intergenerationellen Austausch. Der Komplexität des dritten Nuklearzeitalters wurde mit Diversität, Fachkompetenz, und Multidiziplinarität begegnet. Zu den Erkenntnissen gehören auch offene Diskussionspunkte und Forschungslücken, etwa zum Konzept von Sicherheit und Stabilität im dritten nuklearen Zeitalter, zur Rolle von Vertrauen oder zum Umgang mit autoritären Staaten.

Elisabeth Suh und Carmen Wunderlich

Es geht gar nicht um Mali!

Es geht gar nicht um Mali!

Eine kritische polit-ökonomische Analyse des Bundeswehreinsatzes1

von Michael Berndt

Der Bundeswehreinsatz in Mali steht immer wieder im Brennpunkt öffentlicher Debatten. Häufig geht es in diesen Debatten jedoch um Terrorbekämpfung oder Mandatsfragen. Selten werden die dem Einsatz zugrunde liegenden Interessen thematisiert. Aus der Perspektive kritischer Friedensforschung sind diese Interessen jedoch als Basis militärisch gewaltsamer Politik aufzudecken, um zu einem Wandel sowohl der Interessen als auch der Politik beizutragen. Dazu kann Ekkehart Krippendorffs polit-ökonomischer Ansatz zur Analyse inter­nationaler Beziehungen herangezogen werden. Die Konsequenzen einer solchen Politik und Analyse stehen im Fokus dieses Beitrags.

Seit 2013 beteiligt sich die Bundeswehr an der UNO-Mission MINUSMA und der militärischen Ausbildungsmission der Europäischen Union EUTM in Mali. Aus Ekkehart Krippendorffs materialistischem Ansatz, dass die Staaten in ihren Handlungen objektive Interessen verfolgen, die in der Organisation der kapitalistischen Reproduktionsbedingungen begründet sind, könnte man schließen, dass der Bundeswehreinsatz in Mali objektiven ökonomischen Interessen Deutschlands folgen müsste. Nur: Die Anteile Malis am deutschen Im- und Export sind verschwindend gering. Es gibt auch keinerlei Waren aus Mali, auf die die deutsche Ökonomie angewiesen wäre, und deutsche Direktinvestitionen in Mali gibt es nahezu auch keine. So erscheint der Gedanke an die Dominanz der objektiven Interessen Deutschlands beim Militäreinsatz in Mali ziemlich abwegig. Dennoch möchte ich bei Krippendorffs Herangehensweise bleiben. Ein Rückbezug auf einen Ansatz aus den 1960er und 70er Jahren wirkt vielleicht anachronistisch, denn sowohl die Friedensforschung als auch die politische Ökonomie haben sich seitdem weiterentwickelt. Allerdings – so die These – öffnet Krippendorffs Herangehen eine neue Perspektive auf die aktuelle deutsche Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik, wie sie bisher so noch nicht im Blick war.

I) Krippendorffs materialistischer kritischer Friedensforschung

Ekkehart Krippendorff geht in seinem Ansatz (vgl. Berndt 2021) davon aus, dass Militär, Krieg und Rüstung Mittel des Staates zur Ausdehnung von Märkten und Direktinvestitionen oder auch dem Erschließen von Rohstoffquellen sind – also der ständigen Reproduktion von Wachstum durch die »politischen Eliten« dient (Krippendorff 1975, S. 30). In Konkurrenz mit anderen staatlich verfassten Gesellschaften im Rahmen des kapitalistischen Weltmarktes ist Militär also ein normales Mittel.

Die Politik der Staaten basiert auf objektiven Interessen, die ihre Wurzeln in den Reproduktionsbedingungen haben. Deshalb hat eine Analyse von Außenpolitik bei der gesellschaftlichen Struktur zu beginnen und die objektiven Interessen herauszuarbeiten (Krippendorff 1963, S. 246). Diese Interessen sind objektiv vorhanden, egal wie und ob sie von den Handelnden artikuliert werden (siehe dazu z.B. auch Senghaas 1993, S. 469). Eine Nichtbeachtung der objektiven Interessen durch die Handelnden bedroht letztlich aber die konkreten kapitalistischen Reproduktionsbedingungen und damit auch die politische Herrschaft. Erst wenn die objektiven Interessen herausgearbeitet sind, kann die Frage gestellt werden, warum im konkreten Fall auf militärische Mittel gesetzt wird.

II) Objektive, deutsche Interessen?

2018 betrug das BIP Deutschlands laut statistischem Bundesamt 3.386 Mrd. Euro. Dabei wurden Waren im Wert von 1.089,6 Mrd. Euro importiert und von 1.317,9 Mrd. Euro exportiert. Das zeigt, dass die bundesdeutsche Ökonomie sehr stark vom Außenhandel abhängig ist, ja dass Deutschland schon seit Jahrzehnten ganz zentral vom Exportüberschuss lebt. Betrachtet man nun diesen Außenhandel genauer, hier also die wertmäßig stärksten Branchen, die zusammen für 50 % des Außenhandels verantwortlich sind, so fällt auf, dass es im Im- und Export jeweils die gleichen Branchen des produzierenden Gewerbes (56,45 % des Exports und 43,4 % des Imports) sind: Kraftwagen und Kraftwagenteile, Maschinenbau, Chemische Erzeugnisse, elektrische und optische Erzeugnisse.

Nicht nur, dass also der Außenhandel (und hiermit auch der Exportüberschuss) vom produzierenden Gewerbe bestimmt wird, das produzierende Gewerbe ist auch bezüglich der Beschäftigten (14,8 %) und des Anteils an der Bruttowertschöpfung (30,38 %) zentral. In den für den Export relevanten Branchen waren 2017 nur 1,3 % der Unternehmen in Deutschland aktiv, sie beschäftigten aber 10,7 % der Arbeitskräfte, tätigten 18,1 % des Umsatzes und trugen mit 18,1 % zur Bruttowertschöpfung bei. Gerade der Automobilindustrie kommt hier eine herausragende Rolle zu.

Betrachtet man nun die Importe und Exporte 2018 nach Herkunft bzw. Zielstaaten und gehandelten Waren, so ist feststellbar, dass die EU-Staaten die Basis des deutschen Außenhandels sind. 59,08 % der Exporte gingen in die EU und 57,18 % der Importe kamen aus der EU – dabei aus Frankreich 7,99 % der Exporte und 5,98 % der Importe und aus den Niederlanden 6,92 % der Exporte und 9,01 % der Importe.

Noch etwas ist hier feststellbar: 68,15 % des bundesdeutschen Außenhandelsüberschusses wird im Handel mit den anderen EU-Staaten erwirtschaftet, darin enthalten 17,60 % mit Frankreich, die sich nur leicht von den 21,41 % im Handel mit den USA unterscheiden. D.h. die deutsche Ökonomie ist extrem abhängig vom innereuropäischen Handel und Warenfluss und darin v.a auch von Frankreich.

Importe in die Sahelstaaten: europäische Verflechtungen

Damit richtet sich der Blick auf den Handel mit Mali bzw. den Staaten der Sahel-Region, hier den sogenannten G5-Sahel (Burkina Faso, Mali, Mauretanien, Niger, Tschad). Betrachtet man zunächst die Exporte 2018 in die G5-Sahel, so sieht es bei Frankreich und den Niederlanden ähnlich aus wie für Deutschland. Die Werte sind, gemessen an den Gesamt­exporten, eher marginal und kommen nicht über 0,066 % (Anteil des Exports Frankreichs nach Mali am Gesamtexport Frankreichs) hinaus. Deutschlands Export nach Mali machte 2018 nur 0,008 % des gesamten deutschen Exportes aus. Nun ist zwar eine tendenzielle Steigerung sichtbar – von 0,0069 % in 2010 auf 0,012 % im Jahr 2017. Daraus einen zu sichernden Exportmarkt abzulesen, wäre aber gewagt.

Betrachtet man, welche Bedeutung die drei genannten EU-Staaten 2018 für die Importe in die G5-Sahel Staaten hatten, sehen die Zahlen schon anders aus. Hier ist festzuhalten, dass von den drei europäischen Staaten Frankreich dominiert. Der Import des Tschad wird zu knapp 12 %, Nigers zu ca. 11 %, Malis zu 10 %, Burkina Fasos zu 8 % und Mauretaniens zu 6,5 % von Waren aus Frankreich bestimmt, allerdings oft auch überholt z.B. von der VR China, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder auch der Elfenbeinküste. Nur für Niger war Frankreich der größte Importeur und das einzige EU-Land, das in den G5-Sahel-Staaten relevante Anteile am Import hatte, die aber im Vergleich zum gesamten französischen Außenhandel wiederum eher marginal waren.2

Französische Dominanz

Was 2018 nicht mehr auffiel, aber 2017 ins Auge sprang, war der Wert (45 %) für den Anteil Frankreichs am Export des Nigers. Davon bestanden 98 % aus radio­aktiven Chemikalien bzw. Uran, womit Niger mit einem Anteil von 32 % am Uran­import Frankreichs wichtigster Lieferant war. Und dies auch schon über die letzten Jahre. Obwohl Uran 2017 nur einen Anteil von 2,24 % am französischen Import ausmachte, ist es doch wichtig für die französischen Kernkraftwerke und Atomwaffen. Frankreich hat also gerade am Niger und seinen Uranvorkommen ein massives Interesse, auch wenn es sich an dieser Stelle seit 2017 relativiert hat. Hier ist aber festzuhalten, dass die Uran-Verbindung zwischen Niger und Frankreich noch eine Besonderheit aufweist, die die These von Frankreichs objektiven Interessen in der Region untermauert. Nicht nur, dass Frankreich Uran aus Niger importiert. Das Uran wird in Niger auch vom französischen Unternehmen Orano (früher Areva) abgebaut. Dazu kommt, dass Orano mehrheitlich im Besitz des französischen Staates ist, was das ökonomische Interesse auf die Politik durchschlagen lässt.

Betrachtet man vor diesem Hintergrund nun noch die Direktinvestitionen Frankreichs (auch im Vergleich mit Deutschland) in der Region, wird das französische Interesse noch deutlicher: Während französische Firmen in Nord- und Subsaharaafrika (ohne Südafrika) 2016 ca. 40 Mrd. US$ investierten, dürften die deutschen Investitionen kaum die 5 Mrd. US$ Linie erreicht haben (Heinemann 2018). Eine Suche nach Unternehmen, die in Afrika in größerem Rahmen investiert haben, fördert ein ganzes Bündel an französischen Unternehmen zutage (siehe z.B.: International Finance Corporation 2018, S. 14). Deutsche Unternehmen sind hier kaum gelistet (ebd.).

Die Masse an französischen Unternehmen ergibt sich aber nicht nur daraus, dass in vielen der Staaten Französisch eine Amtssprache ist und sie (nur) früher französische Kolonien waren, sondern auch über ihre Währung, den CFA-Franc, der früher an den Franc und heute an den Euro gekoppelt ist. Damit verfügen französische Unternehmen historisch gewachsen „über ein kommerzielles Quasimonopol in der Franc-Zone“ (Mbaye 2014, S. 17).

Damit noch nicht genug: Im Rahmen der CFA-Konstruktion mussten die CFA-Staaten 50 % ihrer Währungsreserven in Frankreich – nicht etwa bei der Zentralbank, sondern beim Finanzministerium hinterlegen (Koddenbrock 2019, S. 140). Der französische Staat konnte schließlich „diese Reserven (mehrere zehn Milliarden Euro) in Schatzanweisungen investieren, die wiederum als Sicherung für Kredite dienen, mit denen er sein eigenes Haushaltsdefizit finanziert“ (Mbaye 2014, S. 18). 2019 wurde die Hinterlegungsverpflichtung für die Mitglieder des westafrikanischen CFA abgeschafft (Tull 2022, S. 2), doch behielt die französische Regierung noch diverse Kontrollmöglichkeiten (Pigeaud und Sylla 2022, S. 59f.).3

Dazu kommt abschließend noch die schwer zu quantifizierende Zahl der in der Region lebenden Französ*innen (Ehrhart 2021, S. 200) – teilweise als Angestellte der französischen Unternehmen, teilweise aber auch als Privatpersonen, z.B. Hotelbetreiber*innen –, die sich letztlich auf den Schutz durch den französischen Staat berufen können.

Während Frankreich also massive objektive ökonomische Interessen in der Region hat und diese ausbaut, gibt es kaum vergleichbare objektive Interessen Deutschlands in der Sahel-Region. Wohl aber hat Deutschland objektive Interessen an der EU und Frankreich, die sich in den Außenhandelsüberschüssen Deutschlands gegenüber der EU und Frankreich manifestieren. Für Frankreich besteht das Interesse an Deutschland, neben der Kooperation zum Funktionieren der EU, gerade auch darin, dass Deutschland seine Außenhandelsüberschüsse gegenüber Frankreich kompensiert. Sollte der Mali-Einsatz der Bundeswehr also Teil dieser Kompensation sein, dann ist festzuhalten, dass es für Deutschland bei dem Einsatz nicht um Mali oder die Lage im Sahel geht.

III) Die Bundeswehr als Mittel deutscher Außenpolitik

Bleibt die Frage, warum diesem Interesse gerade mit dem physischen Gewaltinstrument der deutschen Politik, der Bundeswehr, gefolgt wird und nicht anders. Diese Frage stellt sich auch allein ökonomisch: Der Bundeswehreinsatz in Mali kostete allein im Jahr 2018 satte 286 Mio. Euro (Deutsche Welle 2019), während die Bundesrepublik in den drei Jahren zwischen 2015 und 2017 nur 131 Mio. Euro an staatlichen Mitteln für die Entwicklungszusammenarbeit mit Mali aufgewendet hat (Kane und Köpp 2020).

Hier lohnt sich ein Blick zurück in die Zeit des Ost-West-Konfliktes. Die Mär, dass die Bundeswehr damals nur den Zweck hatte, die Bundesrepublik im NATO-Bündniskontext zu verteidigen, konnte schon insofern relativiert werden, dass das Einbringen der Bundeswehr in internationale Kooperationen immer dem Ziel diente, den bundesdeutschen Einfluss sowohl auf die konkrete Form der (Bündnis-)Verteidigung als auch auf außenpolitische Fragen zu vergrößern (Berndt 1997, S. 135ff). In diesem Kontext ist die bundesdeutsche Strategie zu verstehen, in Kooperation mit Frankreich schon ab den 1980er Jahren dem europäischen Integrationsprozess eine militärische Komponente zu geben (ebd.). Das »Glück« bei dieser Strategie im Ost-West-Konflikt bestand darin, dass Kampfeinsätze der Bundeswehr ausgeschlossen waren, zu groß war auch das Misstrauen der europäischen Partner, gerade auch Frankreichs – noch bis zur Vereinigung 1990 (siehe: Ruf 2020, S. 28f.). Davon ausgenommen war natürlich der Fall, wenn es zu einem heißen Krieg zwischen NATO und WVO gekommen wäre, aber der blieb aus. Diese Strategie wurde auch nach dem Ost-West-Konflikt (siehe: Berndt 1997) und auch unter Rot-Grün (siehe: Berndt 2001) fortgesetzt. Jedoch wurde es fortan immer schwieriger, das Ziel zu verfolgen, über militärische Beteiligung außenpolitischen Einfluss im Interesse der deutschen Ökonomie zu erhalten, sich dabei aber aus Kampfeinsätzen herauszuhalten. Erst recht, wenn man diese prinzipiell auch gar nicht (mehr) ablehnte, ja gar die Bundeswehr (bei allen Mängeln) zu diesem Zweck umbaute. Unter diesen Bedingungen wurde es schließlich auch zunehmend schwieriger, sich entsprechenden Anliegen von Verbündeten – und für den Fall Malis konkret gesprochen 2013 eben dem Anliegen Frankreichs – zu widersetzen.

Gerade im Kontext der Europäischen Union waren es ja immer wieder die bundesdeutschen und die französischen Regierungen (egal welcher Couleur), die nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes nicht nur eine Stärkung der Rolle der EU in der Welt forderten, sondern diese Stärkung auch dezidiert mit einem Ausbau der eigenständigen militärischen Fähigkeiten der EU verbanden.4 Neben den Vorhaben im Kontext der EU (siehe: Aust 2019) sind auch noch die deutsch-französischen »Sonderbeziehungen« zu berücksichtigen. Ein Ausdruck davon manifestierte sich u.a. zum 56. Jubiläum des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrages von 1963 – der auch schon eine verstärkte militärische Kooperation anvisierte – am 22.1.2019 im sogenannten »Aachener Vertrag«. Es ist durchaus beachtenswert, dass in diesem Dokument „Frieden, Sicherheit und Entwicklung“ direkt in Verbindung mit Verteidigung und der Rolle Europas gebracht werden (Art. 3) und Afrika zu einem gemeinsamen Interessensgebiet erklärt wird (Art.7). Sind die Interessen Deutschlands in Afrika aber eher unklar, liegen die französischen auf der Hand.

Das Problem für die französischen Regierungen stellt sich jedoch dergestalt dar, dass das französische Militär nicht fähig ist, in größerem Umfang Militäreinsätze durchzuführen (siehe auch: Kempin 2017, S. 264). Dies zeigt sich unter anderem am Libyen-Krieg 2011/12. Hier drängten zwar die britische und die französische Regierung auf ein militärisches Eingreifen und sie waren die ersten, die militärisch aktiv wurden (Lindström und Zetterlund 2012, S. 17ff.), doch zu Ende führen konnten sie dies nur unter Mithilfe der USA. Ähnlich sieht es im Sahel aus: Die französische Regierung braucht die Unterstützung anderer EU-Mitglieder und vor allem Deutschlands, um seine Interessen durchzusetzen.

IV) Die Lage in Mali bzw. in der Sahel Region

Die Lage in Mali im Konkreten und in der gesamten Sahel-Region allgemein ist 2022, also zehn Jahre nach Beginn der französischen Intervention, weit schwieriger als noch 2012. Nicht nur der Rückhalt für die französischen und westlichen Truppen im Sahel schwindet zunehmend (Sembdner 2020).

Auf der einen Seite zeigt die bisherige militärische Strategie kaum Wirkung und weder »Frieden« noch »Entwicklung« sind in Sicht. Dazu kommen in Mali und zuletzt in Burkina Faso die Putsche, die Aussetzung der Demokratie und die Präsenz russischer Ausbilder und Angehöriger der russischen (Söldner-)Gruppe Wagner in Mali (Dörries 2022) und evtl. perspektivisch auch in Burkina Faso (Perras 2022). Auf der anderen Seite steht das Drängen Frankreichs, auch in Richtung Bundesrepublik (Szymanski 2020), sich verstärkt an militärischen Aktionen zu beteiligen (siehe auch Reuß 2021). Die deutsche Bekundung, dass die Entwicklung in der Sahel-Region im deutschen Interesse sei (Kramp-Karrenbauer 2019), macht es – neben den ökonomischen Interessen des fortgesetzten Außenhandels mit Frankreich – für die Bundesrepublik immer schwieriger, sich zurückzuziehen bzw. umzuschwenken.

Die französische – und in diesem Sinne auch die europäische – Strategie im Sahel ist aber in allen Punkten gescheitert (siehe auch Leymarie 2021): Terrorismusbekämpfung, Frieden, Demokratie, Entwicklung, Fluchtursachenbekämpfung, Stabilität – in allen Bereichen sind keine Fortschritte oder Erfolge zu vermelden. Anstatt sich, wie Frau Kramp-Karrenbauer (2019) vorschlug, verstärkt militärisch zu engagieren, wäre ein grundsätzlicher Wandel der französischen, europäischen und deutsche Strategie notwendig (siehe dazu: Kinzel 2020). Das Problem: Frankreich setzt aufgrund seiner objektiven Interessen in der Region auf militärische Terrorismusbekämpfung, in Kooperation mit durchaus kritikwürdigen Regimen. Und Deutschland beteiligt sich daran, vor dem Hintergrund seiner objektiven Interessen an seiner Außenhandelsstruktur mit Frankreich und der EU.

V) Fazit

Auf der Basis des Krippendorff’schen Ansatzes konnte aufgezeigt werden, dass gerade die objektiven Interessen Deutschlands an einer funktionierenden EU als zentraler Region für den bundesdeutschen Export(-überschuss) und das chronische französische Handelsbilanzdefizit gegenüber Deutschland zentrale „übergeordnete Gründe (Wiedemann 2018, S. 9) für die Entscheidung für den Mali/Sahel-Einsatz der Bundeswehr gewesen sein dürften. Nun ist anvisiert, dass die Bundeswehr bis 2024 aus Mali abzieht. Die EUTM Truppen sind auch schon abgezogen, allerdings nur nach Niger. Auch dort ist Frankreich nach seinem Abzug aus Mali militärisch weiter im Sahel präsent (Krüger 2022).

Nun treffen die Thesen aus Krippendorffs Ansatz aus den 1970er Jahren auf neue Verhältnisse, die von europäischer Integration, Globalisierung und Liberalisierung geprägt sind. Hier bedarf es einer Aktualisierung. Es gibt zwar immer noch, wie am Beispiel Frankreichs sichtbar, objektive Interessen an bestimmten Regionen, die nicht zum Kreis der westlichen Industriestaaten zählen. Es gibt aber auch dominante objektive Interessen, wie im Fall Deutschlands, die sich genau auf die Haupthandelspartner in der Welt der westlichen Industriestaaten richten. Hier kommt nun das Gefüge mittelbarer objektiver Interessen zum Einsatz.

Objektives Interesse Deutschlands (und auch Frankreichs und der Niederlande) ist es, den verflochtenen Welt- und EU-Markt als Export- wie als Importmarkt zu erhalten, was bei der Durchsetzung zur Folge haben kann, Militär einzusetzen und sich damit an Kriegen zu beteiligen, wo selbst nur mittelbare objektive Interessen vorhanden sind. Ein solches Modell vermittelter objektiver Interessen kann helfen, heutige Bündniseinsätze der Bundeswehr v.a. im Rahmen westlicher Allianzen zu entschlüsseln.

Aus der Perspektive kritischer Friedensforschung ist die Rolle von Militär als gewaltsamem Mittel der Außenpolitik zu thematisieren. Während für Frankreich hier nahezu die klassische Annahme (mit Militär objektive Interessen durchzusetzen) adäquat erscheint, trifft dies im Sahel so für Deutschland nicht zu. Wie aber die Diskussion der bundesdeutschen militärpolitischen Strategie gezeigt hat, benutzten alle Bundesregierungen die Bundeswehr als eine »Karte« unter anderen, um sowohl ihren Anspruch an Mitsprache als auch ihre Bereitschaft zur Kooperation (weit über den militärischen Bereich hinaus) zu signalisieren, letztlich auf der Basis der mittelbaren objektiven Interessen.

In der verflochtenen europäischen und globalen Ökonomie und auf der Basis eines erweiterten Sicherheitsbegriffs wird Militär – wenn man ihm nicht fundamentalkritisch gegenüber steht (Berndt 2013) – zu einem multifunktionalen Instrument der Wahrung dieser objektiven Interessen.

Wenn nun mit diesem Herangehen herausgearbeitet werden konnte, dass Deutschlands objektive Interessen, auch wenn sie nicht auf das Einsatzgebiet gerichtet sind, dazu führen, dass Bundesregierungen die Bundeswehr in Kampfeinsätze schickt, dann wäre es für eine deutsche Friedenspolitik an der Zeit, an der Struktur der objektiven Interessen und den Reproduktionsbedingungen anzusetzen. Tragen diese doch nicht nur dazu bei, sich in »Sachzwänge« zu manövrieren, in denen Militär und das Leben von Soldat*innen »Spieleinsätze« sind in einem Spiel aus dem man nicht mehr – ohne politischen Schaden – herauszukommen scheint. Mit der besonderen Basis der bundesdeutschen Reproduktionsbedingungen, der gesamtökonomischen Dominanz der Automobilindustrie, tritt hier noch ein massives Problem zutage: Gerade der verbrennungsmotorbasierte Individualverkehr und seine Reproduktionsbedingungen sind für einen Großteil der ökologischen Pro­bleme mit verantwortlich, die im Sahel zu den sozialen und politischen Problemen führen, die als Gründe angeführt werden, um dort wiederum europäisches Militär einzusetzen (siehe vertiefter: Berndt 2023).

Anmerkungen

1) Dies ist eine stark gekürzte und aktualisierte Fassung meines Beitrages zur DVPW-Tagung »Von Wertschöpfungsketten und Sicherheitsapparaten: Zur Beziehung von Ökonomie und Gewalt in den deutschsprachigen Internationalen Beziehungen«.

2) Aber: Frankreich, das insgesamt immer Handelsdefizite erwirtschaftete, konnte zumindest gegenüber den G5-Sahel einen Überschuss geltend machen.

3) Zur neokolonialen Abhängigkeit der CFA-Staaten siehe auch Afoumba 2022 (W&F 2/2022).

4) Die britischen Regierungen (egal welcher Couleur) standen diesem Ansinnen immer skeptisch gegenüber. Mit dem Ausgang des Brexit-Referendums hat sich die Möglichkeit der britischen Regierungen erledigt, hier bremsend zu wirken.

Literatur

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Dr. habil. Michael Berndt ist Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück und Oberstudienrat an einer nordhessischen Schule. Er ist Mitglied im Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung der AFK.

Konfliktsensibilität machtkritisch gestalten

Konfliktsensibilität machtkritisch gestalten

von Cora Bieß 1

Konfliktsensibilität spielt in der Friedensarbeit und für eine konstruktive Konfliktbearbeitung eine bedeutende Rolle. Häufig wird Konfliktsensibilität anhand des »Do No Harm«-Konzepts definiert, das jedoch keine macht- und herrschaftskritischen Perspektiven auf die eigene Intervention in Konflikte enthält. Könnte eine machtkritische Reformulierung helfen, koloniale Kontinuitäten sowie das Zusammenspiel von Privilegierungen und Diskriminierungen besser erkennbar und transformierbar zu machen? Kann so eine strukturell gewaltärmere Konfliktsensibilität geschaffen werden?

Konfliktsensibilität bedeutet, sich der Wechselwirkung zwischen den eigenen Interventionen in einen Konflikt und der Konfliktdynamik bewusst zu sein oder zu werden. Ein konfliktsensibler Ansatz soll also Schaden durch die eigene Intervention verhindern und zu einem konstruktiven Konfliktumgang beitragen. Konfliktsensibilität ist in verschiedenen Kontexten anwendbar, ganz unabhängig von Intensität oder Häufigkeit der vorhandenen Gewalt, auch in Kontexten, die vordergründig keine gewaltvollen Spannungen aufzeigen.

Eine solche Konfliktsensibilität wird vielerorts gefordert, festgestellt oder zumindest vorbereitet. Exemplarisch dafür wird in einer 2021 erschienenen Publikation von FriEnt die neue Bundesregierung gezielt aufgerufen, sich an einer Praxis des »Do No Harm« zu orientieren: „Die Bundesregierung und ihre staatlichen wie nicht-staatlichen Partner*innen sollten daher eine Strategie für die Stärkung und Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteur*innen entwickeln, die sich am übergeordneten Ziel der Friedensförderung und dem Prinzip des ,Do No Harm‘ orientieren (Bärwaldt 2021, S. 4). Darüber hinaus erinnerte Martina Fischer, Referentin für Friedensfragen bei Brot für die Welt, nach Bildung der neuen Bundesregierung diese an ihre eigenen Grundsätze: „[D]ie Politik muss sich am ,do no harm‘-Grundsatz orientieren und Schaden vermeiden. Diesem Ziel haben sich deutsche Regierungen mit ihren Leitlinien ,Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern‘ 2017 explizit verpflichtet (Fischer 2021). Als drittes Beispiel soll ein Aufsatz Hanne-Margret Birckenbachs dienen, die an die Notwendigkeit für Fehlerfreundlichkeit und Reflexivität erinnerte, denn „auch der Versuch, Frieden zu stiften, kann scheitern“ (ebd., S. 70). Hierfür ist laut Birckenbach »Do No Harm« wegweisend, wodurch „Auswirkungen von Hilfsaktivitäten auf die Konfliktentwicklung in Kriegsgebieten reflektiert werden“ könnten (ebd.).

Es lässt sich auch festhalten: Inzwischen wird »Do No Harm« von verschiedenen Organisationen, Akteur*innen der Konflikt- und Friedensarbeit sowie Regierungsorganisationen als gängiger Standard verwendet. Dennoch enthält »Do No Harm« eine zentrale Wahrnehmungslücke, die zweifellos Konfliktdynamiken maßgeblich beeinflussen kann: die Auswirkungen von Macht und Herrschaft. Der vorliegende Text versucht daher eine Reformulierung von Konfliktsensibilität vorzunehmen, die strukturelle Gewalt im Kontext kolonialer Kontinuitäten ins Zentrum stellt.

Das Konzept »Do No Harm«

»Do No Harm« wurde in den 1990er Jahren ursprünglich für den Kontext der Entwicklungsarbeit von Mary Anderson (1999) entwickelt und impliziert das Verständnis, dass eine Intervention in einen Konflikt bedeutet, selbst Teil des Konflikts zu werden. Demnach sind Aktivitäten und Interventionen in einem Konfliktumfeld nicht neutral, sondern beeinflussen die Dynamik von Konflikten. Auf Deutsch bedeutet »Do No Harm« übersetzt so viel wie: „Richte keinen Schaden an“. Dies gilt inzwischen als der „international anerkannte Qualitätsstandard konfliktsensibler Arbeit“ (Bücken und Frieters-Reermann 2021, S. 264). »Do No Harm« ist somit ein Mindeststandard für die Praxis, um unbeabsichtigten Schaden zu vermeiden. Das bedeutet, dass Organisationen und Akteur*innen im Falle von unbeabsichtigt konfliktverschärfenden Folgen ihrer Programme auf die entstandenen Folgen eingehen sollen.

Laut CDA (o.J.) dient die Anwendung von »Do No Harm« dazu, dass Organisationen einerseits verantwortungsbewusster und andererseits effizienter werden. »Do No Harm« umfasst dabei eine detaillierte Konfliktanalyse verbunden mit einer Folgenabschätzung (Birckenbach 2023, S. 158). Zudem sollen lokale Stimmen in Programmentwicklungen gefördert werden. Das Ziel von »Do No Harm« ist es also, konfliktverschärfende Dynamiken frühzeitig zu erkennen und in Folge die eigene Kommunikation, Interaktion und Kooperation entsprechend anzupassen.

»Do No Harm« beruht auf dem einfachen Konzept einer Analyse der »trennenden Faktoren« (»Dividers«) und der »verbindenden Faktoren« (»Connectors«), um die Beziehungen zwischen den Gruppen in dem Kontext darzustellen, in dem eine Maßnahme durchgeführt wird. Trennende Faktoren führen in der Regel zu Spaltungen oder Spannungen, verbindende hingegen können die Basis für Gemeinsamkeiten bilden. In Kontexten gewaltvoller Konflikte sind die Verbindungslinien (»Connectors«) allerdings teilweise schwer erkennbar. Programmaktivitäten müssen nach dieser erfolgten Analyse dann so gestaltet werden, dass sie die trennenden Faktoren nicht eskalativ vorantreiben. Die Analyse und das konstante Monitoring nach Grundsätzen des »Do No Harm« helfen dann auch, eventuelle negative Auswirkungen der geplanten Programmaktivitäten rechtzeitig zu erkennen und diesen entgegenwirken zu können.

Do No Harm in Kritik

In der Praxis des Globalen Nordens wird, so die Kritik, »Do No Harm« häufig nur noch als ein »Buzzword« in Projektanträgen verwendet, wodurch die Wirkung oberflächlich bleibt und zu viele unterschiedliche Auffassungen davon zirkulieren, was »kein Schaden« ist. »Do No Harm« wird von Akteur*innen des Globalen Nordens als utilitaristisches Prinzip verstanden, die Reduktion von Konfliktsensibilität auf ein Tool bewerten Barbolet et al. (2005) jedoch als unzureichend, sofern »Do No Harm« nicht auch als eine haltungsverändernde Methode verstanden wird. Denn eine „übermäßige Betonung komplexer Instrumente, Tabellen und Methoden scheint ein primär westlicher Ansatz zu sein, der bei vielen Organisationen des Südens nur auf begrenzte Resonanz stößt“ (ebd., S. 2). Der Grund für diese begrenzte Resonanz könnte eine fehlende herrschaftskritische Perspektive auf Konfliktinterventionen sein. Denn eine substantielle Leerstelle in der Kritik an Konfliktsensibilität bildet die Betrachtung von Machtungleichgewichten.

Hegemoniale Praktiken

Hierbei geht es um eine kritische Reflexion der Vorherrschaft. Orientierung bieten diese Reflexionsfragen:

„1) Wird die Idee vermittelt, dass eine bestimmte Gruppe von Menschen Lösungen entwickeln und durchsetzen kann, die für alle gelten?

2) Werden Menschen dazu eingeladen, über ihre eigenen Grenzen/Mängel/Fehler und Unzulänglichkeiten nachzudenken?“

Ethnozentrische Perspektiven

Hierbei liegt der Fokus auf einer kritischen Reflexion darüber, inwieweit eine Sichtweise als universell dargestellt wird:

„1) Wird unterstellt, dass Menschen, die nicht mit dieser Sichtweise einverstanden sind, unmoralisch oder ignorant sind?

2) Wird anerkannt, dass es andere Sichtweisen auf das Thema gibt?“

Ahistorisches Denken

Hierbei wird hinterfragt, inwieweit geschichtliche Dynamiken mitbedacht werden:

„1) Wird ein gegenwärtiges Problem dargestellt, ohne auf die geschichtlichen Hintergründe einzugehen und ohne zu thematisieren wie ,wir‘ darin verwickelt sind?

2) Wird eine komplexe geschichtliche Analyse in Bezug auf das Thema angeboten?“

De-Politisierte Orientierungen

Hier wird reflektiert, ob und inwieweit Machtasymmetrien anerkannt werden:

„1) Wird das Problem/die Lösung dargestellt, ohne die damit verbundenen Machtverhältnisse und dahinter liegende Ideologien in den Blick zu nehmen?

2) Wird die eigene ideologische Verortung anerkannt und eine umfassende (?) Analyse von Machtverhältnissen angeboten?“

Selbstsüchtige Motivationen

Hierbei wird hinterfragt, inwieweit Helfen nur als Aufgabe des Stärkeren verstanden wird:

„1) Werden die Betroffenen als hilflose Opfer von lokaler Gewalt oder Schicksalsschlägen dargestellt und die Helfenden als global berufen und fähig, die Menschheit zu Ordnung, Fortschritt und Eintracht zu führen?

2) Wird anerkannt, dass das Verlangen danach besser als andere/ anderen überlegen zu sein und dass das aufgezwungene Bestreben von singulären Konzepten von Fortschritt und Entwicklung historisch gesehen Teil des Problems ist?“

Unkomplizierte Lösungen

Hierbei wird reflektiert, inwieweit zu schnellen Lösungen gegriffen wird, ohne strukturelle Bedingungen zu ändern, die zu Diskriminierung führen:

„1) Werden vereinfachende Analysen und Antworten angeboten, die nicht dazu einladen, sich mit Komplexität zu beschäftigen oder tiefer gehend über das Thema nachzudenken?

2) Wird eine komplexe Analyse des Problems angeboten, die die möglichen negativen Auswirkungen der vorgeschlagenen Lösung einbezieht?“

Paternalistische Investitionen

Hier wird kritisch reflektiert, inwieweit die eigene Überlegenheit durch das Helfen gefestigt wird:

„1) Werden ,Hilfsbedürftige‘ als Menschen dargestellt, denen es an Bildung, Ressourcen und Zivilisation/Kultur mangelt und die für unsere Hilfe dankbar sein sollten?

2) Werden ,Hilfsbedürftige‘ als Menschen dargestellt, die dazu berechtigt sind, ihren ,Rettern‘ zu widersprechen und ermächtigt sind, andere Lösungen umzusetzen, als ihre ,Helfer_innen‘ im Sinn hatten?“

Tabelle 1: Das HEADS UP Schema nach Andreotti (2012)

Leerstelle koloniale Kontinuitäten

Machthierarchien aufgrund von Privilegierung und Diskriminierung finden sich in jeder Form gesellschaftlicher Interaktion wieder – und haben somit unmittelbare Rückwirkungen auf jede Form der Konfliktintervention. Privilegierung und Diskriminierung sind globale Konfliktgegenstände, die auf andauernde koloniale Kontinuitäten zurückzuführen sind (Kelly 2016, S. 77). Machtungleichgewichte, die durch Privilegierung und Diskriminierung entstehen und die unsere sozialen Hierarchien in der Welt bestimmen, werden fortlaufend reproduziert (Roig 2021). Sie werden mit und durch Gesellschaft getragen und wirken gleichzeitig auf die Gesellschaft zurück. Daher ist es wichtig, eine machtkritische Reflexion explizit in »Do No Harm« zu verankern, wobei es unzureichend ist, lediglich auf individueller Ebene die eigenen Gewaltpotenziale durch direkte Machtpositionen zu reflektieren, sondern es bedarf auch einer Betrachtung der zugrundeliegenden strukturellen Macht- und Herrschaftsverhältnisse.

Post- und dekoloniale Ansätze bieten hierbei Zugänge, durch Instrumente wie das der Intersektionalität solche sich individuell festschreibenden Herrschaftsverhältnisse zu beschreiben. „Eine intersektionale Perspektive fragt nach unterschiedlichen Gruppenmitgliedschaften einzelner Individuen, z.B. nach Gender, ›Rasse‹/Ethnizität, Klasse, Sexualität, Nation, Religion, Lokalität, Alter und Befähigung. Die Liste ist notwendigerweise unabschließbar“ (Dietze 2008, S. 29). Dadurch können Überschneidungen und Interdependenzen von verschiedenen Diskriminierungskategorien thematisiert werden – und dadurch potentiell sich verstärkende Effekte von »Dividers« besser erkannt werden. Aus intersektionaler Perspektive können alle Menschen Diskriminierungen ausgesetzt sein, wobei Art und Häufigkeit sich stark unterscheiden.

In der Ausgestaltung von Konzeptionen und der Entwicklung von Ansätzen wie »Do No Harm« legt eine herrschaftskritisch-intersektionale Brille den Fokus darauf, wer wann, wie, wodurch und welche Zugänge und Beteiligungschancen in Konfliktinterventionen hat und wie diese unterschiedlichen Zugänge mit Machtungleichgewichten zusammenhängen. Denn in gesellschaftlichen Praktiken gibt es keine machtfreien Räume, folglich variieren Partizipationsmöglichkeiten in Konfliktinterventionen in Abhängigkeit von der eigenen Privilegierung. Das wird auch dadurch verstärkt, dass subalterne Stimmen oft nicht gehört werden und in Konfliktdynamiken schnell als eigenständig handlungsmächtige Akteur*innen übersehen werden (vgl. Spivak 1990, Santos 2008).

»Do No Harm« machtkritisch ausfüllen

Auf »Do No Harm« angewendet bedeutet dies: Über das Bewusstsein hinaus, durch die Intervention in einen Konflikt Teil des Konfliktgeschehens zu werden, bedarf es trotzdem auch auf individueller Haltungsebene einer Stärkung von „Hegemonie(selbst)kritik“ (Dietze 2008). Eine solche Haltung und die dafür notwendigen Analyseinstrumente erlauben es dann, in der eigenen täglichen Arbeit auch machtkritisch konfliktsensibel zu denken, zu handeln und somit eben auch auf struktureller Ebene zu wirken.

Impulse für eine solche machtkritische Selbstreflexion, die mit einer Schärfung von Haltungsfragen einhergeht, bietet das »HEADS UP« Tool von Vanessa de Oliveira Andreotti (2012). Andreotti ist Teil des »Decolonial Future Collective« und argumentiert für eine historisch-kritische und diskriminierungssensible Perspektive auf globale Partner*innenschaften. Andreottis Anliegen ist es, Strukturen und daraus entstehende Dynamiken und Rollen sichtbar zu machen. »HEADS UP« steht für verschiedene Dimensionen, die nach Andreotti für eine herrschaftskritische Reflexion (selbst-)kritisch hinterfragt werden müssen (für eine genauere Erklärung, siehe Kasten nebenan). Folgende Grafik 1 visualisiert die Erweiterung von »Do No Harm« durch »HEADS UP«:

Graphik 1: Visualisierung Erweiterung von »Do No Harm« durch »HEADS UP«.

Andreotti zufolge lautet eine häufige und wesentliche Erkenntnis nach dem »HEADS UP«-Reflexionsprozess, dass ungerechte Strukturen unbeabsichtigt entstanden und diese schwierig zu durchbrechen seien. Diese Erkenntnis bewertet sie jedoch als einen bedeutend wichtigen ersten Schritt, um das Bewusstsein über diese Strukturen zu schärfen. Nur so könne langfristig eine Überwindung diskriminierender hegemonialer Strukturen möglich und denkbar werden (Andreotti 2012). In der Stärkung von Methoden wie »HEADS UP«, als eine etablierte, kontinuierliche Reflexion der Hegemonie(selbst)kritik, kann Privilegienbewusstsein wachsen. »HEADS UP« bildet einen Rahmen, um bisherige Wahrnehmungslücken zu reflektieren, um Machtpositionen und Privilegierung zu benennen und sichtbar zu machen. Dabei wird eine Kontextanalyse und kritische (Selbst-)Reflexion angestoßen, bei der auch persönliche Einstellungen und (Konflikt-)Verhaltensweisen sowie ihre zugrundeliegenden Normen und Werte, Emotionen und Gefühle reflektiert werden. Eine Konfliktsensibilität aus machtkritischer Perspektive bietet somit einen Impuls, die eigenen Eindrücke und Grundannahmen zu hinterfragen und zu überdenken, ob diese vorurteilsbasiert, stigmatisierend oder diskriminierend sind und möglicherweise in der eigenen Konfliktintervention schädigend wirken und vorhandene »Dividers« verstärken.

In der Anwendung einer machtkritischen Konfliktsensibilität können Akteur*innen folglich in unterschiedlichen Kontexten und auf verschiedenen Ebenen wie der Bildungsarbeit, der Politik, der Friedenskonsolidierung u.a. dazu beitragen, einen sichere(re)n Raum (»saf(er) space«)2 zu schaffen. Im reformulierten Sinne von »Do No Harm« bedeutet das, konfliktverschärfende Dynamiken frühzeitig zu erkennen, indem von einem unbewussten zu einem bewussten Verständnis unserer Privilegien übergegangen wird, um eigene Privilegien folglich prosozial nutzen zu können. Dies impliziert, Einfluss auf das eigene Umfeld zu nehmen, indem Macht abgegeben wird, um Ressourcen für das Empowerment von minorisierten Gruppen zugänglich zu machen, ohne über deren Einsatz und Verwendung zu bestimmen. Wir können Verbündete sein, indem wir uns für entstehende Dynamiken sensibilisieren, die ein Machtungleichgewicht begünstigen, und für ein Teilen der Macht(-mittel) (»Powersharing«) eintreten. Denn, wie Audre Lorde sagte: „Dein Privileg ist kein Grund für Schuldgefühle, es ist Teil deiner Macht, die du zur Unterstützung nutzen kannst“ (Lorde 2009, S. 21). Powersharing kann folglich als »Connector« eingesetzt werden und helfen, die Gefahr zu bannen, dass unreflektierte Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie Privilegien und Diskriminierungen zu einer »trennenden Macht« in der Anwendung von »Do No Harm« werden. Indem wir uns darauf fokussieren, was unser Gegenüber kann, statt darauf was sie*er nicht kann, schaffen wir einen Raum für gegenseitigen Respekt und Wertschätzung. Wenn ein neues machtkritisches Verständnis von »trennenden Faktoren« und »verbindenden Faktoren« in Konflikten im Kontext von globalen kolonialen Kontinuitäten gestärkt wird, kann perspektivisch Raum für neue Verbundenheit und Allianzen entstehen.

Da koloniale Pfadabhängigkeiten sich jedoch nicht allein durch Selbstreflexion auflösen werden, kann »HEADS UP« zudem auf systemischer Ebene Orientierung für einen machtkritischen Organisationsentwicklungsprozess im Bereich von internationalen Nord-Süd-Partnerschaften bieten. Dies könnte auch auf gesamte Projektlogiken übertragen werden. Darin könnte »Do No Harm« in Verknüpfung mit »HEADS UP« dienlich sein, den Fokus auf Dynamiken und Machtverhältnissen innerhalb von Gruppenprozessen und Kooperationspartnerschaften zu reflektieren. Solch eine Reformulierung von »Do No Harm«, in der eine machtkritische Selbstreflexion verankert ist, bedarf jedoch einer positiven Fehlerkultur. Das impliziert einen vertrauensvollen Raum, um sich gegenseitig auf Wahrnehmungslücken in der Konfliktintervention und in der dazu notwendigen Zusammenarbeit aufmerksam zu machen. Dies geht einher mit Ergebnisoffenheit und einem lebenslangen Lernprozess in Form eines »Lernens des Verlernens« (Spivak 1990), sowohl für einzelne Akteur*innen als auch für Organisationen in Form von rassismus- und diskriminierungskritischen Organisationsentwicklungsprozessen.

Anmerkungen

1) Ein ganz großer Dank an David Scheuing und Melanie Hussak für das wertvolle Feedback und den konstruktiven redaktionellen Entstehungsprozess.

2) Das Ziel von »Safe(r) Space« ist es einerseits, Menschen vor unterschiedlichen Formen von Gewalt und Diskriminierung zu schützen. Andererseits soll das Konzept von »Safe(r) Spaces« einen geschützten Rahmen für die Artikulation von Diskriminierungserfahrungen ermöglichen. Davon ausgehend wird mit den Betroffenen kontext- und konfliktsensibel reflektiert, welche Unterstützungsmöglichkeiten für sie konstruktiv sind. Dadurch soll ein Bewusstsein für Rassismus und Diskriminierung in der Gesamtgruppe geschaffen und für verschiedene Formen gruppenbezogener und gesellschaftlicher Ausgrenzung sensibilisiert werden.

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Cora Bieß promoviert an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt zu der Frage, wie Konfliktsensibilität Zivilcourage fördern kann. Zudem vertritt sie die AG »rassismuskritische Reflexionen« im Sprecher*innenrat der Plattform zivile Konfliktbearbeitung.

Mehrsprachigkeit als Friedensinstrument

Mehrsprachigkeit als Friedensinstrument

Statistische Notizen aus der Eurolinguistik

von Joachim Grzega

Der folgende Beitrag setzt die Zahl der Menschen mit Fremdsprachenkenntnissen in Relation zu friedensbezogenen nicht-sprachlichen Aspekten. Ob ein Zusammenhang besteht, wird mithilfe statistischer Tests ermittelt. Es zeigt sich im Vergleich der EU-Länder, dass je höher der Anteil von Personen ist, die in mindestens drei Fremdsprachen an Gesprächen teilnehmen können, desto geringer sind die Militärausgaben und desto besser die Werte auf dem allgemeineren Global Peace Index. Bezüglich Russland ist in einem Land ein positives Russland-Bild umso verbreiteter, je mehr Menschen Russisch auf Konversationsniveau beherrschen.

Schon viele haben geäußert, dass die Kenntnis von Fremdsprachen beziehungsweise Mehrsprachigkeit zu Friedfertigkeit und Frieden führen. Oft verbleiben die Beschreibungen jedoch im Theoretischen und Allgemein-Programmatischen (z.B. Kroff 1943, Marti 1996). Gelegentlich gibt es diesbezüglich auch konkrete praktische Vorschläge für den Zweit- und Fremdsprachenunterricht (z.B. Friedrich 2007, Grzega 2012, S. 302-305, mehrere Beiträge in Oxford et al. 2020). Der Nachweis, dass Mehrsprachigkeit tatsächlich von mehr Friedfertigkeit begleitet wird, steht jedoch noch weitgehend aus. Diese Studie will einen kleinen Beitrag dazu leisten.

Fragestellung und bisherige Forschung

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hat man die Aussöhnung der Völker durch die Pflege von Städtepartnerschaften zu fördern versucht. Diese waren und sind vielerorts auch begleitet von der Durchführung von Sprachkursen (teils über Bildungseinrichtungen, teils über Partnerschaftsvereine, teils privat), um eine möglichst intensive Freundschaft zwischen den Menschen zu ermöglichen. Ich selbst habe in unserem Landkreis mit Blick auf vorhandene Städtepartnerschaften Anfängerkurse in Französisch, Italienisch und Ungarisch durchgeführt. Doch: Lässt sich der Nutzen von Mehrsprachigkeit für Friedfertigkeit mit statistischen Mitteln zeigen? In einer Studie von Keysar, Hayakawa und An (2012) wurde gezeigt, dass man Informationen allgemein weniger emotional verarbeitet, wenn sie in einer Fremdsprache aufgenommen werden. In diesem Falle fokussiert man nämlich mehr auf die Fakten als auf die Stimmung des Gelesenen. Indirekt lässt sich daraus ableiten, dass diese geringere Emotionalität letztlich auch gilt, wenn andere Länder das Thema eines fremdsprachlichen Textes sind. Eine solche Entemotionalisierung kann auch der Bereitschaft für friedliche Konflikttransformation helfen – Fremdsprachenkenntnisse scheinen dafür eine wichtige Voraussetzung zu schaffen.

Friedfertigkeit kann man individuell oder national betrachten. Im Buch »Wort-Waffen abschaffen!« (Grzega 2019) lege ich dar– während es sonst hauptsächlich um den Effekt von Wortgebrauch innerhalb von Sprachen geht –, dass EU-Staaten mit mehr als einer Amtssprache friedfertiger sind (Ebd., S. 52ff.). Zu dieser Aussage gelange ich durch den Vergleich zweier Gruppen von Ländern in der EU sowie der kulturell eng verwandten Länder Großbritannien, Norwegen und Schweiz: (1) Länder, die auf nationaler Ebene mehrsprachig sind, also jedes Gesetz in mehr als einer Sprache veröffentlichen müssen, und (2) Länder, die auf nationaler Ebene einsprachig sind. Vergleicht man diese beiden Gruppen mit ihren »Noten« auf dem Global Peace Index (GPI), so erzielt die erste Gruppe bessere Resultate für die Jahre 2010 bis 2017. Für die Jahre 2010 bis 2016 zeigt sich zudem, dass die Gruppe mit mehr als einer Amtssprache weniger für militärische Belange ausgegeben hat, gemessen am Prozentsatz des Bruttoinlandsproduktes – solche Ausgaben ließen sich auch als Parameter für nationale Friedfertigkeit heranziehen. In diesem Beitrag jedoch blicken wir nun auf den Zusammenhang von individuellen Fremdsprachenkompetenzen und nationaler Friedfertigkeit

Methodisches

Eine ideale Analyse achtet dabei darauf, dass nur die Variablen »Sprache« und der »friedensbezogene Aspekt« die Ausprägungen wechseln, andere Aspekte hingegen möglichst gleich sind. Die ausgewählten Länder sollten also möglichst dem gleichen »Kulturraum« entstammen – im Sinne von allgemeinen Werten, aber auch der politisch-juristischen Rahmenbedingungen. Betrachtet seien hier daher – gemäß einem der Ansätze in der Eurolinguistik (vgl. z.B. Grzega 2013, S. 3f.) – die Staaten der Europäischen Union. Dies soll nicht leugnen, dass es auch innerhalb der EU Unterschiede gibt (immerhin lautet das EU-Motto »In Vielfalt geeint«); doch die EU-Verträge liefern zumindest gewisse Bekenntnisse und Rahmenbedingungen, die für das Thema Friedfertigkeit eine grobe Zusammenfassung als Gruppe zu erlauben scheinen.

Welche sprachbezogenen Kennzahlen bieten sich an? Zur Feststellung der Anzahl von Fremdsprachen, die in einem Staat von den Menschen für ein Gespräch beherrscht werden, werden die Erhebungen von Eurostat (o.J.) herangezogen, d.h. der statistischen Datenbank der Europäischen Kommission. Zur Feststellung der Kenntnisse einzelner Fremdsprachen konkret lässt sich jedoch nur auf eine 2012 durchgeführte Umfrage im Auftrag der Europäischen Union zurückgreifen, die unter der Nummerierung Spezial-Eurobarometer 386 und dem Titel »Die europäischen Bürger und ihre Sprachen« zu finden ist (vgl. Eurobarometer 2012); sie wird ergänzend einbezogen.

Als Maß für Friedfertigkeit kann der schon erwähnte Global Peace Index herangezogen werden (vgl. Institute for Economics and Peace o.J.). In diesen Index fließen verschiedene Kriterien ein. Objektive Kriterien sind beispielsweise die Anzahl der geführten Kriege im In- und Ausland, die finanzielle Beteiligung an UN-Einsätzen, die Anzahl der Morde, die Anzahl der importierten und exportierten konventionellen Waffen, die Anzahl der inhaftierten Personen, die Anzahl der Bediensteten der Polizei und der staatlichen Sicherheitsorgane, der Umfang der Armee sowie die militärischen Ausgaben in Prozent des Bruttoinlandsproduktes; daneben finden sich auf Fachmeinung beruhende subjektive Kriterien, wie etwa die geschätzte Anzahl der Kriegstoten, der Grad des Misstrauens in Mitmenschen, der Grad der politischen Instabilität, das Ausmaß von Terroranschlägen, die Möglichkeit von gewalttätigen Demonstrationen sowie politischer Terror im Sinne der Verletzung von Menschenrechten. Am Ende wird daraus der Grad der Friedfertigkeit rechnerisch bestimmt, wobei der Wert 1,000 für das beste Ausmaß von Friedfertigkeit stehen soll und höhere Werte geringere Friedfertigkeit darstellen. Da die Daten zu den allgemeinen Fremdsprachenkenntnissen 2016-2018 erhoben wurden, seien für diese Analyse die GPI-Werte für 2016-2018 herangezogen.

Dazu können speziell die militärischen Ausgaben in Prozent des Bruttoinlands­produktes herangezogen werden, wie sie vom Stockholm International Peace Re­search Institute veröffentlicht werden (vgl. SIPRI); diese Zahlen können auch als Ausdruck von Friedfertigkeit interpretiert werden.

Des Weiteren eignen sich zum Vergleich einige Ergebnisse zum Fragebogen des World Values Survey der Periode 2017-2020 (vgl. WVS o.J.). Besonders interessant scheinen die Zustimmungswerte zu Aussage 21 „Ich hätte gerne keine Immigranten oder ausländische Arbeiter als Nachbarn“, Aussage 63 „Ich vertraue Menschen anderer Nationalität völlig oder einigermaßen“ und Aussage 259 „Ich fühle mich der Welt sehr nah oder nah“. Es sind Fragen der Toleranz und der Empathie; wenn diese weit verbreitet sind, dürfte dies ein Ausdruck von großer Friedfertigkeit einer Bevölkerung sein.

Der Haltung der EU-Länder auf politischer und individueller Ebene gegenüber Russland kommt für die zukünftige Friedenslage zentrale Bedeutung zu.1 Daher seien Teil-Resultate einer weiteren Umfrage aus der Eurobarometer-Reihe der EU hinzugezogen: Sie trägt den Titel »Zukunft Europas« und wurde als Spezial-Eurobarometer 451 im Oktober 2016 durchgeführt (vgl. Eurobarometer 2016). In Frage QB8.6 sollen die Interviewten beantworten, ob sie ein positives oder negatives Bild von Russland hätten (Ebd., S. 79). Frühere Erhebungen zu dieser Frage gibt es nicht. Im darauffolgenden Jahr war die Frage im Spezial-Eurobarometer 467 als Frage QC5.6 wieder vertreten (vgl. Eurobarometer 2017). Diese Fragen enthalten beide Bewertungsadjektive, „Haben Sie ein positives oder negatives Bild von Russland?“, und sind daher frei von einem häufigen Problem, das für die Eurobarometer-Reihe beschrieben worden ist (vgl. z.B. Höpner/Jurczyk 2012).

Bezüglich der statistischen Analyse zur Bestimmung von Korrelationen wurde in dieser Analyse der Spearman’sche Rangkorrelationskoeffizient (rho bzw. rs) verwendet. Er wird statt der Pearson-Korrelation verwendet, da einige Zahlenreihen gemäß eines Shapiro-Wilk-Tests nicht normal verteilt sind. In diesem Verfahren fallen die Ergebnisse mit Werten zwischen -1 und +1 aus. Je näher der Wert an -1 ist, desto größer ist eine negative Korrelation im Sinne von „Je mehr Punkte bei A, desto weniger Punkte bei B“; je näher der Wert an +1 ist, desto größer ist eine positive Korrelation im Sinne von „Je mehr Punkte bei A, desto mehr Punkte bei B“. Werte geringer als ±0,20 sind dabei vernachlässigbar; als signifikant soll, wie üblich, ein dazugehöriger p-Wert von unter 0,05 gelten (vgl. Cohen 1988, Ellis 2010).

Ergebnisse

Die Ergebnisse der Korrelationen sind in Tabelle 1 dargestellt.

Blicken wir zunächst auf die Antworten aus dem World Values Survey für 2017-2020 (Tabelle 1, Zeilen WVS, Zeilen mit signifikanten Werten sind unterstrichen). Das Ausmaß der Fremdsprachenkenntnisse 2016-2018 hängt offenbar nicht mit der Haltung gegenüber ausländischen Personen als Nachbarn oder mit dem Vertrauen in ausländische Personen zusammen (alle Werte dieser Korrelationen sind nicht signifikant). Erstaunlicherweise zeigt sich jedoch: je größer die Verbreitung von Kenntnissen in zwei oder mehr Fremdsprachen ist, desto weniger verbreitet ist ein starkes Gefühl der Nähe zur Welt. Umgekehrt gilt interessanterweise auch: je weniger Fremdsprachenkenntnisse verbreitet sind, desto mehr gibt es ein Gefühl der Nähe zur Welt (0 Sprachen: rho=+0,47; p=0,0232; 2+ Sprachen: rho=-0,46, p=0,0270; 3+ Sprachen: rho=-0,50, p=0,0147).

Widmen wir uns nun den Werten des Global Peace Index (Tabelle 1, Zeilen GPI2016-2018, Zeilen mit signifikanten Werten sind unterstrichen). Betrachtet man jeweils den Prozentsatz derjenigen in einem Land, die keine, eine oder zwei Fremdsprachen gesprächsfähig beherrschen, so zeigen sich in Verbindung mit den GPI-Werten keine signifikanten Korrelationen. Wohl aber ergeben sich bedeutsame Zusammenhänge beim Prozentsatz von Menschen, die in mindestens drei Fremdsprachen an Gesprächen teilnehmen können. Hier lässt sich als Ergebnis festhalten: Je höher der Anteil von Personen mit mindestens drei Fremdsprachen, desto niedriger/besser der Wert auf dem Global Peace Index (2016: rho=0,44, p=0,0236; 2017: rho=0,38, p=0,0117).

Konzentriert man sich auf die militärischen Ausgaben (gemessen in Prozent am Bruttoinlandsprodukt), wie sie von SIPRI festgehalten werden, bestätigt sich dieses Bild (Tabelle 1, Zeilen SIPRI2016-2018, Zeilen mit signifikanten Werten sind unterstrichen): Je mehr Menschen in einem Land mindestens drei Fremdsprachen sprechen, desto geringere staatliche Militärausgaben gibt es (2016: rho=0,43, p=0,0232; 2017: rho=0,36, p=0,0134; 2018: rho0,45, p=0,0176).

Betrachtet man speziell den Anteil der Personen in einem Staat, die 2012 einem Gespräch in russischer Sprache folgen konnten, und setzt dies in Relation zum Anteil der Personen in einem Staat, die 2016 und 2017 ein positives Russland-Bild hatten (Tabelle 1, Zeilen pos. Russlandbild 2016-2017, signifikante Zeilen sind unterstrichen), so ergibt sich ebenfalls ein statistisch bedeutsamer Zusammenhang (2016: rho=+0,42, p=0,0091; 2017: rho=+0,61, p=0,0069). Wohlgemerkt handelt es sich wiederum um aggregierte Ausprägungen auf der gesamtstaatlichen Ebene; die zur Sprachkompetenz befragten Individuen sind nicht dieselben wie die zum Russland-Bild befragten.

rho

p (2-seitig)

N

WVS: Ausländer ungern als Nachbar!

0 Frspr.

+0,18

0,4098

23

1 Frspr.

-0,02

0,9442

23

2 Frspr.

-0,17

0,4394

23

3 oder mehr Frspr.

-0,21

0,3246

23

2 oder mehr Frspr.

-0,22

0,3086

23

WVS: Vertrauen in Ausländer!

0 Frspr.

-0,17

0,4283

23

1 Frspr.

-0,21

0,3289

23

2 Frspr.

-0,25

0,2596

23

3 oder mehr Frspr.

+0,34

0,1175

23

2 oder mehr Frspr.

+0,30

0,1692

23

WVS: Gefühl der Nähe zur Welt!

0 Frspr.

+0,47

0,0232

23

1 Frspr.

-0,18

0,4220

23

2 Frspr.

+0,44

0,0321

23

3 oder mehr Frspr.

-0,50

0,0147

23

2 oder mehr Frspr.

-0,46

0,0270

23

GPI 2016

0 Frspr.

+0,19

0,3496

26

1 Frspr.

+0,15

0,4704

26

2 Frspr.

-0,24

0,2334

26

3 oder mehr Frspr.

-0,44

0,0236

26

2 oder mehr Frspr.

-0,34

0,0916

26

GPI 2017

0 Frspr.

+0,11

0,6039

26

1 Frspr.

+0,19

0,3399

26

2 Frspr.

-0,18

0,3857

26

3 oder mehr Frspr.

-0,38

0,0555

26

2 oder mehr Frspr.

-0,26

0,2076

26

GPI 2018

0 Frspr.

+0,23

0,2410

26

1 Frspr.

+0,22

0,2774

26

2 Frspr.

-0,28

0,1611

26

3 oder mehr Frspr.

-0,49

0,0117

26

2 oder mehr Frspr.

-0,37

0,0609

26

SIPRI 2016

0 Frspr.

+0,25

0,1971

28

1 Frspr.

+0,17

0,3771

28

2 Frspr.

-0,24

0,2237

28

3 oder mehr Frspr.

-0,43

0,0232

28

2 oder mehr Frspr.

-0,33

0,0879

28

SIPRI 2017

0 Frspr.

-0,24

0,2240

28

1 Frspr.

-0,20

0,3182

28

2 Frspr.

-0,25

0,1988

28

3 oder mehr Frspr.

-0,36

0,0134

28

2 oder mehr Frspr.

-0,36

0,0627

28

SIPRI 2018

0 Frspr.

+0,20

0,3080

28

1 Frspr.

+0,20

0,3094

28

2 Frspr.

-0,21

0,2920

28

3 oder mehr Frspr.

-0,45

0,0176

28

2 oder mehr Frspr.

-0,33

0,0846

28

pos. Russland-Bild 2016

Russisch-Kompetenz

+0,42

0,0091

27

pos. Russland-Bild 2017

Russisch-Kompetenz

+0,61

0,0069

27

Tabelle 1

Zusammenfassung und Ausblick

Es kann festgehalten werden, dass gilt: je höher der Anteil der Bevölkerung, der über Gesprächskompetenzen in mindestens drei Fremdsprachen verfügt, desto eher zeigt ein Land geringere Militärausgaben und – allgemeiner – bessere Werte auf dem Global Peace Index bei gleichzeitig schwächerem Verbundenheitsgefühl der Bevölkerung mit der Welt. Speziell mit Bezug auf Russland ist in einem Land ein positives Russland-Bild umso verbreiteter, je mehr Menschen auf Russisch an einem Gespräch teilnehmen können.

Freilich lässt eine Korrelation noch nicht auf eine Kausalität schließen. Beispielsweise könnte eine weitere Komponente der Auslöser für die Korrelation sein. Dennoch liefert dieses Resultat Hinweise darauf, dass es wert ist, mindestens drei Fremdsprachen auf einem Niveau zu erlernen, das eine Gesprächsteilnahme erlaubt – es könnte der Friedfertigkeit der Welt zuträglich sein.2

Anmerkungen

1) Der Aufsatz wurde ursprünglich im August 2021 erstellt. Er wurde verfasst in der Hoffnung, dass er einen Beitrag dazu leisten kann, dass es nicht zu einer Situation kommt, wie sie sich am 24. Februar 2022 in der Ukraine nun ergeben hat. Für eine zukünftige Entwicklung Richtung Frieden sollte man aufgrund der hier vorgetragenen Beobachtungen dennoch die mögliche Kraft von Sprachkompetenzen als einen Faktor bedenken. Dabei sollte auch die Kraft von Schlüsselbegriffen verstanden, wie sie etwa Bundeskanzler Willy Brandt für die Beziehung zu Russland (und zu anderen Ländern) erkannt hatte (vgl. etwa Grzega 2021).

2) Hierzu braucht nicht auf eine langwierige politische Entscheidungsfindung für das Schulwesen gewartet zu werden. Es bieten sich verschiedene Möglichkeiten zu individuellem Sprachenlernen. In Deutschland etwa bieten die Volkshochschulen umfangreiche Sprachangebote. An der VHS Donauwörth gibt es im Rahmen des Projektbereichs »Innovative Europäische Sprachlehre« (InES) einen eintägigen Sieben-Sprachen-Schnupperkurs. Als Türöffner zu weiteren Sprachen werden Ideen für friedensfördernde Gesprächsstrategien eingebaut, die sich dann auch im Unterricht weiterer Sprachen widerspiegeln sollen. Alle genannten Konzepte richten sich auch an Personen ohne besonderes Sprachtalent.

Literatur

Cohen, J. (1988): Statistical power analysis for the behavioral sciences. 2. Aufl. New York: Academic Press.

Eurobarometer (2012): EBS386. Die europäischen Bürger und ihre Sprachen. Bericht, Juni 2012.

Eurobarometer (2016): EBS451. Die Zukunft Europas. Bericht, Dezember 2016.

Eurobarometer (2017): EBS467. Die Zukunft Europas. Bericht, November 2017.

Ellis, P. (2010): The essential guide to effect sizes: Statistical power, meta-analysis, and the interpretation of research results. Cambridge: Cambridge University Press.

Eurostat (o.J.). Online Data Code EDAT_AES_L21: Number of foreign languages known (self-reported) by sex. Datenbank.

Friedrich, P. (2007): Language, negotiation and ­peace: The use of English in conflict resolution. New York: Continuum.

Institute for Economics and Peace (o.J.): Global ­Peace Index (GPI) Websit. URL: visionofhumanity.org.

Grzega, J. (2012): Europas Sprachen und Kulturen im Wandel der Zeit: Eine Entdeckungsreise. Tübingen: Stauffenburg.

Grzega, J. (2013): Studies in Europragmatics: Some theoretical foundations and practical implications. Wiesbaden: Harrassowitz.

Grzega, J. (2019): Wort-Waffen abschaffen! Beobachtungen zu Europas gewaltvoller Wortwahl und Ideen für eine friedensstiftende Sprache. Berlin: epubli.

Grzega, J. (2021): Eurolinguistischer Blick auf Willy Brandt – Frieden fördern durch Überwindung rhetorischer Grenzen. In: Roczniki Humanistyczne 69 (5), S. 167-180.

Höpner, M.; Jurczyk, B. (2012): Kritik des Eurobarometers: Über die Verwischung der Grenze zwischen seriöser Demoskopie und interessengeleiteter Propaganda. In: Leviathan 40 (3), S. 326-349.

Keysar, B.; Hayakawa, S.; An, S. G. (2012): The ­foreign-language effect: Thinking in a foreign tongue reduces decision biases. In: Psychological Sciences 23, S. 661-668.

Kroff, A. Y. (1943): Education for the peace through the foreign languages. In: The Modern Language Journal 27(4), S. 236-239.

Marti, F. (1996): Language education for world ­peace. In: Global Issues in Language Education 25, S. 16-17.

Oxford, R. L.; Olivero, M. M; Harrison, M.; Gregersen, T. (Hg.) (2020): Peacebuuilding in language education: Innovations in theory and practice. Bristol: Multilingual Matters.

Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) (o.J.): Military Expenditure Database. sipri.org/databases/milex.

World Values Survey (WVS) (o.J.): Online Data Analysis. Wave 2017-2020. worldvaluessurvey.org/WVSOnline.jsp

Dr. Joachim Grzega ist Leiter des Bereichs »Innovative Europäische Sprachlehre (InES)« an der Volkshochschule Donauwörth und außerplanmäßiger Professor für Sprachwissenschaft an der Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Rückblick als Vorausblick?

Rückblick als Vorausblick?

Eine Eventdatenanalyse des ersten Kriegsjahres in der Ukraine

von Jan Niklas Rolf

Rückblick: Am 17. Juli 2014 wurde ein Passagierflugzeug der Malaysia Airlines mit 298 Insassen über der Ostukraine abgeschossen, was den seit Monaten tobenden Krieg in der Ukraine nochmals auf eine neue Eskalationsstufe hob. Doch wer war für den Abschuss verantwortlich und war eine solche Eskalation vorhersehbar? Anhand einer quantitativen Analyse der Ereignisse des Jahres 2014 versucht dieser Beitrag Antworten auf diese Fragen zu liefern. Der Aufforderung von Melanie Hussak und Jürgen Scheffran (2022) im vorherigen Heft folgend, „Frühwarnsystemen wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken und auch stärker militärische Analysen und Szenarien in Risikobewertungen einzubeziehen“, soll untersucht werden, ob die Ereignisse Rückschlüsse über die mögliche Wahl von unkonventionellen Mitteln durch Russland in der Ukraine zulassen.

Am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine mahnte Wladimir Putin in seiner Fernsehansprache: „Wer immer sich uns in den Weg stellt oder gar unser Land, unser Volk bedroht, muss wissen, dass Russlands Antwort augenblicklich erfolgen wird, und sie wird Folgen haben, wie Sie sie in Ihrer Geschichte noch nicht erlebt haben“ (zit. in Gillmann 2022). Auf diese Drohung folgte wenige Tage später die Versetzung der russischen Abschreckungswaffen – darunter der strategischen Atomwaffen – in besondere Alarmbereitschaft. Diese doppelte Drohgebärde schien ihre Wirkung nicht zu verfehlen, argumentierten führende Politiker*innen im Westen doch fortan, dass eine aktive Unterstützung der Ukraine – etwa in Form der Entsendung von Soldat*innen oder der Errichtung einer Flugverbotszone – unmöglich sei, da sie nahezu unweigerlich in einem Atomkrieg münde.1

In Anbetracht der territorialen (aber auch personellen und materiellen) Verluste Russlands im Verlauf der ersten Kriegsmonate im Jahr 2022 warnten Expert*innen zudem vor dem Einsatz taktischer Atomwaffen, mit denen Russland einen Sieg doch noch erzwingen könne. „Angesichts der Rückschläge, die sie [Präsident Putin und die russische Führung] bisher militärisch hinnehmen mussten,“ so CIA-Direktor William Burns am 14. April 2022, „kann niemand von uns die Bedrohung durch einen möglichen Rückgriff auf taktische Nuklearwaffen oder Nuklearwaffen mit geringer Reichweite auf die leichte Schulter nehmen“ (zit. nach Strobel 2022).

Tatsächlich geht die von den Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky (1979) entwickelte Erwartungstheorie (englisch: »Prospect Theory«) davon aus, dass Individuen im Angesicht von Verlusten größere Risiken einzugehen bereit sind als im Angesicht von Gewinnen: Befinden wir uns in einer vorteilhaften Position, agieren wir eher vorsichtig, um unsere Gewinne zu sichern. Befinden wir uns dagegen in einer nachteiligen Position, neigen wir zu riskantem Verhalten, um unsere Verluste umzukehren. Lässt sich mit dieser auf Laborexperimenten beruhenden Theorie auch das Verhalten Russlands im aktuellen Ukraine-Krieg vorhersagen?2 Wie so oft kann auch diesmal ein Blick in die Vergangenheit helfen, erwartbare Ereignisse einzuordnen.

Der Krieg in der Ukraine begann nicht etwa mit dem russischen Überfall am 24. Februar 2022, sondern bereits im Frühjahr 2014, als auf der Krim und insbesondere im Osten der Ukraine heftige Kämpfe zwischen ukrainischen Truppen und von Moskau unterstützten pro-russischen Separatisten ausbrachen. Im Gegensatz zu Russland verfügen die pro-russischen Separatisten zwar über keine atomar bestückten Raketen, wohl aber über von Russland zur Verfügung gestellte mobile Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen. Wie die nachfolgende Eventdatenanalyse offenbart, kamen diese Raketen just in dem Moment zum Einsatz, in dem die Separatisten massiv zurückgedrängt wurden. Zwar ist der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17 im Sommer 2014 – bei aller Tragik – nicht mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen zu vergleichen, er zeigt jedoch, dass Akteure, die sich in der Defensive befinden, bereit sind, zu – für ihre Verhältnisse – unkonventionellen Mitteln zu greifen.

Unkonventionelle Mittel

Die hier angestellte Eventdatenanalyse stützt sich auf die mehr als 2.000 Ereignisse, die die täglich aktualisierte, aber inzwischen eingestellte »Ukraine Crisis Timeline« der unabhängigen US-amerikanischen Denkfabrik »Center for Strategic and International Studies« für den Zeitraum von November 2013 bis Februar 2017 ausweist. Ereignisse sind verbale oder physische Signale, denen ein Sender und Empfänger zugeordnet werden kann. Die insgesamt 357 von Januar bis Dezember 2014 zwischen der ukrainischen Regierung und den pro-russischen Separatisten ausgetauschten feindlichen Signale wurden für die hier angestellte Analyse herausgefiltert, gemäß Edward Azar und Thomas Sloan (1975) einer von sieben Ereigniskategorien zugeordnet und – da es sich bei einer »Kriegshandlung« um ein weitaus feindlicheres Signal als beispielsweise einer »Unmutsbekundung« handelt – mit den entsprechenden, von einem Expert*innenpanel vorgeschlagenen Faktoren multipliziert (siehe Tabelle 1).

Ereigniskategorie

Faktor

Umfangreiche Kriegshandlung

102

Begrenzte Kriegshandlung

65

Militärische Aktion geringen Ausmaßes

50

Politisch-militärische feindliche Handlung

44

Diplomatisch-wirtschaftliche feindliche Handlung

29

Starke verbale Unmutsbekundung

16

Leichte verbale Unmutsbekundung

6

Tabelle 1: Kodierungsschema nach Azar und Sloan (1975)

Grafik Abbildung 1

Abbildung 1: Intensität der 2014 von ukrainischer Regierung und pro-russischen Separatisten ausgesandten feindlichen Signale

Aggregiert in monatliche Einheiten, ergibt sich das Kurvendiagramm in Abbildung 1. In den ersten sechs Monaten sind die beiden Kurven nahezu deckungsgleich, was davon zeugt, dass die ukrainische Regierung und die pro-russischen Separatisten ihre feindlichen Signale symmetrisch (de-)eskalierten. Dieses »tit-for-tat«-Muster ist typisch für Gewaltkonflikte, in denen auf eine feindliche Aktion stets eine gleichwertige Reaktion erfolgt (siehe beispielsweise Azar 1972; Fielding und Shortland 2010; Linke, Witmer und O’Loughlin 2012).

Nach einer ersten Deeskalationsphase im sechsten Monat steigen die beiden Kurven im siebten Monat wieder an. Doch während die Kurve der ukrainischen Regierung auf einen Wert von 1249 steigt, nimmt die Kurve der pro-russischen Separatisten nur einen Wert von 918 an, das heißt, auf ein feindliches Signal der ukrainischen Regierung kommen nur noch 0,73 feindliche Signale der pro-russischen Separatisten.3 Die entstehende Lücke ist ein Indikator dafür, dass die pro-russischen Separatisten der ukrainischen Regierung merklich weniger entgegenzusetzen hatten. Tatsächlich begann die ukrainische Armee in diesem Monat ihre Juli-Offensive, in deren Verlauf sie zahlreiche Städte im Donbass zurückerobern konnte. Um die eintreffenden feindlichen Signale zu erwidern, blieb den Separatisten scheinbar nichts anderes übrig, als zu unkonventionellen Mitteln zu greifen. Der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen ist ein solch – für eine Volksmiliz – unkonventionelles Mittel. Nachdem am 14. Juli 2014 bereits eine ukrainische Militärmaschine in über 6.500 Metern Höhe abgeschossen wurde, folgte am 17. Juli 2014 der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17.

Umstrittene Ereignisse

Der Abschuss von MH17 – ob beabsichtigt oder nicht – ist nicht nur ein besonders fatales, sondern auch ein besonders umstrittenes Ereignis. So beschuldigen sich die ukrainische Regierung und die pro-russischen Separatisten bis zum heutige Tage, das vollbesetzte Passagierflugzeug zum Absturz gebracht zu haben. Der Umstand, dass die Frage nach der Täterschaft zunächst offen blieb, mag neben der Tatsache, dass bei dem Absturz keine ukrainischen Staatsbürger*innen ums Leben kamen, erklären, warum die Ukraine in den Folgemonaten nicht mehr, sondern weniger feindliche Signale sendete und es zu einer vorübergehenden »Resymmetrierung« der feindlichen Signale auf niedrigerem Niveau kam. Erst im Jahr 2016 gelangte eine Ermittlungsgruppe unter niederländischer Führung zu dem Ergebnis, dass das Flugzeug mit einer russischen Boden-Luft-Rakete vom Typ Buk-M1 abgeschossen wurde, die von einem von pro-russischen Separatisten kontrollierten Feld aus abgefeuert wurde. Sollte dies der Wahrheit entsprechen, wovon bei aller gebotenen Vorsicht auszugehen ist, bestätigt dies, was sich bereits aus den obigen Daten ablesen lässt: Dass der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen für die pro-russischen Separatisten eine Möglichkeit – vielleicht die einzige Möglichkeit – war, die Symmetrie der ersten sechs Monate wiederherzustellen.

Dabei ist der Abschuss von MH17 bei weitem nicht das einzige umstrittene Kriegsereignis der letzten Jahre.4 Im Syrien-Krieg gab es beispielsweise eine Reihe von Giftgasangriffen, die keiner Kriegspartei eindeutig zugeordnet werden konnten. Zwar richtete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einen gemeinsamen Untersuchungsmechanismus ein, doch wurde die Erneuerung seines Mandats wiederholt von Russland blockiert. Auch hier könnte ein enges Monitoring der Geschehnisse dabei helfen, die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes von unkonventionellen Mitteln zu bestimmen und die Täter*innen eines nicht zuzuordnenden Angriffs zu identifizieren: Weist die Interaktion der Kriegsparteien wie im obigen Fall ein starkes Muster der Reziprozität auf, und weicht eine Partei für einige Zeit von diesem Muster ab, indem sie deutlich weniger feindliche Signale sendet als sie empfängt, könnte dies darauf hindeuten, dass die Partei nicht mehr in der Lage ist, mit konventionellen Mitteln mitzuhalten. Im Gegensatz dazu ist es eher unwahrscheinlich, dass eine Partei, die in der Lage ist, die eingehenden feindlichen Signale zu erwidern (oder die bereits mehr feindliche Signale sendet als sie empfängt), zu unkonventionellen Mitteln greift.

Ein gesichtswahrender Ausweg: Losung und Lösung?

Der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen durch eine in die Defensive gedrängte Volksmiliz zeugt davon, dass Kriegsakteure im Angesicht von Verlusten dazu bereit sind, unkonventionelle Mittel zu ergreifen. Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass Russland, wenn militärisch in die Enge getrieben, einen Ausweg im Einsatz taktischer Atomwaffen sucht. Das Massaker von Butscha – ein weiteres umstrittenes (oder besser: von Russland bestrittenes) Ereignis – mag hier nur ein trauriger Vorbote gewesen sein. Was bedeutet das für die Ukraine? Aus moralischer wie taktischer Sicht kann man ihr kaum dazu raten, den russischen Angriff weniger resolut zurückzuschlagen. Deshalb kann die Losung nur lauten, Putin nicht komplett in die Ecke zu drängen, sondern ihm einen gesichtswahrenden Ausweg zu lassen, so schwer es angesichts des von ihm begonnenen Angriffskriegs und der von ihm befehligten Gräueltaten auch fallen mag.

Dies wird noch dadurch erschwert, dass der russische Präsident nicht nur etwaige Rückschläge auf dem Schlachtfeld, sondern die Unabhängigkeit der Ukraine als solche als Verlust betrachtet. So hat er der Ukraine, die er als historisch russisches Land ansieht, mehrfach ihr Existenzrecht abgesprochen. Dies mag eine Erklärung (aber keinesfalls eine Rechtfertigung) dafür liefern, weshalb Putin einen höchst risikobehafteten Angriffskrieg in der Ukraine führt. Für Jeffrey Taliaferro (2004) sind risikoreiche Interventionen (und sicherlich auch Invasionen) dagegen eher eine Folge von relativen Macht- und Ansehensverlusten. Der Zerfall der Sowjetunion, von Putin als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet, sowie Barack Obamas Verunglimpfung Russlands als Regionalmacht mögen schlussendlich also auch einen Teil zum gegenwärtigen Krieg in der Ukraine und der Schwierigkeit seiner Befriedung beigetragen haben.

Anmerkungen

1) Siehe etwa Olaf Scholz, zitiert in Der Spiegel (2022).

2) Für einen ersten, im Lichte des russischen Angriffskriegs allerdings unbefriedigenden Versuch, siehe Aleprete (2017). Siehe auch He und Feng (2013), die die Erwartungstheorie auf mehrere außenpolitische Entscheidungen im asiatisch-pazifischen Raum angewandt haben.

3) Der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17 wurde zum Zwecke der besseren graphischen Darstellung nicht kodiert. Bis zum Abschuss des Flugzeuges am 17. Juli weisen die von der ukrainischen Regierung gesendeten feindlichen Signale einen Wert von 794 und die von den pro-russischen Separatisten gesendeten feindlichen Signale einen Wert von 554 auf, das heißt auf ein feindliches Signal der ukrainischen Regierung kommen 0,69 feindliche Signale der pro-russischen Separatisten.

4) Siehe etwa Bauer, Ruby und Pape (2017).

Literatur

Aleprete, M. (2017): Minimizing loss: explaining Russian policy choices during the Ukrainian crisis. The Soviet and Post Soviet Review 44(1), S. 53-75.

Azar, E. E. (1972): Conflict escalation and conflict reduction in an international crisis: Suez, 1956. Journal of Conflict Resolution 16(2), S. 183-201.

Azar, E. E.; Sloan, T. J. (1975): Dimensions of interaction: a source book for the study of 31 nations from 1948 through 1973. Studies of Conflict and Peace, Department of Political Science, University of North Carolina at Chapel Hill.

Bauer, V.; Ruby, K.; Pape, R. (2017): Solving the problem of unattributed political violence. Journal of Conflict Resolution 61(7), S. 1537-1564.

Der Spiegel (2022): »Es darf keinen Atomkrieg geben«. Bundeskanzler Scholz im Interview mit dem SPIEGEL. 22.04.2022

Fielding, D.; Shortland, A. (2010): ‘An eye for an eye, a tooth for a tooth’: political violence and counter-insurgency in Egypt. Journal of Peace Research 47(4), S. 433-447.

Gillmann, B. (2022): Atomwaffen: Wie ernst ist die nukleare Bedrohung durch Russland? Handelsblatt, 20.05.2022.

He, K.; Feng, H. (2013): Prospect theory and foreign policy analysis in the Asia Pacific: rational leaders and risky behavior. New York: Taylor and Francis.

Hussak, M.; Scheffran, J. (2022): Alles über Bord werfen? Friedenswissenschaft und Friedensbewegung im Kontext des Ukrainekrieges. W&F 2/2022, S. 6-8.

Kahneman, D.; Tversky, A. (1979): Prospect theory: an analysis of decision under risk. Econometrica 47(2), S. 263-291.

Linke, A. M.; Witmer F. D. W.; O’Loughlin, J. (2012): Space-time granger analysis of the war in Iraq: a study of coalition and insurgent action-reaction. International Interactions 38(4), S. 402-425.

Taliaferro, J. W. (2004): Power politics and the balance of risk: hypotheses on great power intervention in the periphery. Political Psychology 25(2), S. 177-210.

Strobel, W. P. (2022): CIA chief: Don’t ‘take lightly’ threat Putin could use limited nuclear strike. The Wall Street Journal, 15.04.2022.

Dr. Jan Niklas Rolf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europapolitik und Internationale Beziehungen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Friedensarbeit braucht Begleitung

Friedensarbeit braucht Begleitung

oder „How to face the mess we’re in without going crazy?!“1

von Daniela Pastoors

Nicht nur Friedensarbeit braucht Begleitung, sondern auch Friedensfachkräfte – und letztlich wir alle. Was hilft uns dabei, uns den Krisen der Menschheit zu stellen? Wie können wir mit den Gefühlen umgehen, die dabei entstehen? Daniela Pastoors forscht dazu, wie Fachkräfte im ­Zivilen Friedensdienst psychosozial begleitet werden, und überträgt ihre Erkenntnisse in diesem Essay auf weitere gesellschaftliche Bereiche.

Wenn wir uns die Herausforderungen, vor denen wir als Gesellschaften und als Menschheit stehen, tatsächlich vor Augen führen – statt die Augen vor ihnen zu verschließen –, dann können wir davon überwältigt werden. Wir erkennen, wie riesig, wie umfassend und wie existentiell die Krisen sind, in denen wir uns befinden und mit welcher Geradlinigkeit wir auf den Abgrund zusteuern. Das Zulassen dieser Erkenntnisse macht uns fassungslos. Und das kann uns alle betreffen:

  • die Klimaaktivistin, die mitansehen muss, wie der lebendige Wald um sie herum abgeholzt wird;
  • den Sozialarbeiter, der täglich feststellt, wie massiv Armut auch in Deutschland die Lebenschancen von Menschen beeinträchtigt;
  • die Forscherin, die sich über Jahrzehnte damit auseinandersetzt, wie viele Arten auf dem Planeten für immer aussterben;
  • den Bürgerrechtler, der nach Jahrhunderten von Sklaverei weiter miterleben muss, dass Schwarze Leben nicht zählen und einfach ausgelöscht werden;
  • die Pflegerin, die unter der Last der Arbeit und dem Nie-genug-tun-Können zusammenbricht;
  • den Großvater, der insgeheim daran zweifelt, ob seine Enkel überhaupt noch eine lebenswerte Zukunft haben werden;
  • die ZFD-Fachkraft, die angesichts von gewaltsamen Konflikten die Hoffnung verliert…

… diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Wenn wir der Bedrohung und Zerstörung ins Auge blicken, rollen Schmerz, Ohnmacht und Verzweiflung über uns hinweg. Wir haben Angst davor, selbst in den Abgrund zu stürzen. Genau deshalb verschließen wir uns sehr häufig vor diesen Gefühlen, verdrängen sie – und damit auch die Erkenntnisse über die Tragweite der Herausforderungen. Wir stecken den Kopf in den Sand, weil wir es nicht ertragen können. Weil die Probleme riesig und unüberwindbar erscheinen. Weil wir glauben, nicht mit dieser enormen Last umgehen zu können. Weil wir Angst haben, daran zu zerbrechen.

Was braucht es also dafür, dass wir uns trauen, den Kopf aus dem Sand zu ziehen, der Realität ins Gesicht zu schauen und uns einzugestehen, was passiert? Was brauchen wir, um trotz, wegen und aus der Existentialität der Situation heraus zu handeln – uns der Bedrohung und Zerstörung entgegenzustellen und uns trotz aller Widrigkeiten weiter für das Leben einzusetzen? Vermutlich beantworten wir diese Fragen alle unterschiedlich. So verschieden unsere Strategien sein mögen, so ist doch eines klar: Langfristig geht es nicht allein. Deshalb ist meine These, dass wir Begleitung brauchen. Jede und jeder einzelne von uns.

Psychosoziale Begleitung in der Friedensarbeit

Das Handlungsfeld, mit dem ich mich in meiner Forschung beschäftigt habe, ist der Zivile Friedensdienst (ZFD). Fachkräfte im Zivilen Friedensdienst haben die Aufgabe, Friedensprozesse zu begleiten (vgl. Pastoors 2021). Nicht sie selbst sind die »Macher*innen des Friedens«, sondern ihr Fokus liegt darauf, lokale Friedensakteur*innen in verschiedenen Ländern der Welt dabei zu unterstützen, Konflikte nachhaltig und gewaltfrei zu transformieren.2 So einfach sich diese beschreibenden Sätze lesen, so wenig trivial ist doch das Grundverständnis, das darin zum Ausdruck kommt. Wenn Frieden nicht als ferner Zustand sondern als alltäglicher Prozess begriffen wird, zu dem Konflikte dazugehören und diese wiederum sowohl Risiken als auch Chancen in sich tragen, hat das Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Konflikttransformation unterstützt werden kann. Das Vertrauen in den Prozess selbst und besonders in die Akteur*innen, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten, die Konflikttransformation selbst zu gestalten, bildet die Basis für einen externen Beitrag, der keine Techniken anwendet, »Rezepte« verordnet und Lösungen liefert, sondern in Beziehung geht, einen Rahmen gestaltet und vorhandenes Wissen hervorlockt. In diesem Sinne sind ZFD-Fachkräfte in erster Linie Begleiter*innen.

Dieses transformative Paradigma der Konfliktbearbeitung, das mit einer elizitiven3 Haltung einhergeht, stellt gleichzeitig spezifische Anforderungen an Fachkräfte, die Wandlungsprozesse auf diese Weise unterstützen wollen. Der Blick auf Friedensarbeit als Beziehungsarbeit verdeutlicht, dass Friedensfachkräfte nicht nur viele Kompetenzen brauchen, um diese Beziehungen zu gestalten, sondern, dass Reflexionsräume notwendigerweise zur professionellen Friedenspraxis dazugehören müssen. Nicht nur Friedensarbeit braucht Begleitung, sondern auch Friedensarbeiter*innen. Aufgrund der komplexen Herausforderungen ihrer Tätigkeiten und ihrer vielschichtigen Rollen brauchen sie neben speziellen Fähigkeiten, fundiertem Wissen und einer ausgeprägten Haltung auch Möglichkeiten, um diese zu erwerben, anzuwenden und zu reflektieren. Zugleich gilt es, die anspruchsvolle Kunst der Friedensarbeit zu meistern, ohne sich selbst dabei aus dem Blick zu verlieren. Unterschiedliche Elemente der psychosozialen4 Personalbegleitung bieten ihnen dafür Gelegenheit.

Die Forschung hat sich diesem Themenbereich bisher wenig gewidmet. Entweder beschränkte sie sich auf Fragen der Personalgewinnung, Qualifizierung und Vorbereitung (vgl. Schüssler und Thiele 2012, Schweitzer 2009, Sell 2006), oder es standen Aspekte des Sicherheits- und Krisenmanagements und die gesundheitlichen Risiken und psychischen Folgen von Auslandseinsätzen im Fokus.5 Zudem bewegte sich der Diskurs oftmals im Kontext der »Duty of Care«, der Fürsorgepflicht der Organisationen für ihre Mitarbeitenden in Auslandsprojekten, sodass primär Haftungsfragen diskutiert wurden (z. B. Merkelbach 2017). Auch wenn immer wieder auf die Bedeutung von Unterstützungsmaßnahmen für das Auslandspersonal verwiesen wurde, legen nur sehr wenige Studien den Fokus darauf. Die Praxis der »Staff Care« (organisationale Fürsorge für Mitarbeitende) ist bisher nur in wenigen Bereichen der internationalen Zusammenarbeit untersucht.6

In meiner Dissertation habe ich daher den Fokus auf die Frage gelegt, wie Fachkräfte im Zivilen Friedensdienst unterstützt und psychosozial begleitet werden. Dafür habe ich eine Bestandsaufnahme der Personalbegleitung im ZFD durchgeführt und untersucht, durch welche Begleitelemente Fachkräfte im Zivilen Friedensdienst vor, während und nach der Dienstzeit unterstützt werden. In meiner Erhebung habe ich die Gesamtheit aller ZFD-Organisationen in den Blick genommen und sowohl die Perspektiven von (ehemaligen) ZFD-Fachkräften selbst, als auch die von Mitarbeitenden der Geschäftsstellen und von begleitenden Coaches bzw. Supervisor*innen mit einbezogen.

Neben den Elementen und Angeboten der Personalbegleitung, die im Zentrum meiner Forschung standen, habe ich auch die Anliegen und Herausforderungen beleuchtet, die diese notwendig machen. Zudem habe ich Empfehlungen und Wünsche der Akteur*innen für die Weiterentwicklung der Personalbegleitung zusammengetragen und analysiert, welche Bedürfnisse dahinter stehen und welche Spannungsfelder sich in diesem Kontext zeigen. Um den Transfer in die Praxis zu ermöglichen, habe ich die Erkenntnisse der Forschung als »Lessons Learned« zusammengefasst und aufbereitet.

Insgesamt habe ich eine Vielzahl an Begleitpraktiken zu Tage gefördert: angefangen bei der Erstellung von Begleitkonzepten im Vorfeld, über Supervision und kollegiale Beratung während der gesamten Zeit bis hin zu Rückkehrseminaren für alle. Die Organisationen begleiten die Fachkräfte dabei einerseits selbst und mit Hilfe von Dritten (z. B. Trainer*innen), andererseits sind die Fachkräfte sich gegenseitig eine Stütze und organisieren manche Unterstützung selbst. Die vorhandene Fülle und Vielfalt der Begleitelemente offenzulegen und die Sichtweisen verschiedener Beteiligter darauf zu berücksichtigen, ist ein wesentlicher Beitrag meiner Forschung.7 Gleichzeitig ist nicht nur von Bedeutung, was angeboten und genutzt wird, sondern das Hauptaugenmerk liegt darauf, wie die Begleitung konzipiert, ausgestaltet und gelebt wird: im besten Falle bedürfnisorientiert, barrierearm, emanzipatorisch, ganzheitlich und elizitiv – so wie wir uns auch Friedensarbeit wünschen.

Darin zeigt sich auch, dass es nicht nur um die Implementierung einzelner Maßnahmen, sondern um einen Kulturwandel geht – von einer »Duty of Care«, die Fürsorge als Pflicht zur rechtlichen Absicherung begreift, hin zu einer »Culture of Care«, die eine umfassende Kultur und eine Haltung der individuellen und gemeinschaftlichen Fürsorge wachsen lässt. Mit dem Blick der »Culture of Care« wird deutlich, dass persönliches, kollektives und globales Wohlergehen Hand in Hand gehen. Denn eine »Culture of Care« ist zugleich Teil einer »Culture of Peace«8 und (Personal-)Begleitung trägt zu einer Kultur des Friedens bei.

Kultur der Fürsorge für alle?

Doch wie lassen sich diese Erkenntnisse auf uns alle übertragen? Meine Forschung im ZFD zeigt, dass die vielfältigen Begleit­elemente und Unterstützungsangebote nicht nur in schweren Krisen, sondern auch bei der alltäglichen Reflexion der Arbeit hilfreich sind und die Friedensarbeiter*innen davor bewahren können, den Kopf in den Sand zu stecken. Sie können durch die Begleitung den Mut behalten, sich weiterhin den Bedrohungen und Zerstörungen entgegenzustellen – und statt auszubrennen, können sie sich selbst, die Menschen in ihrem Umfeld und schließlich auch ihre Arbeit stärken. Hierin liegen wichtige Anreize für viele weitere Bereiche der Gesellschaft und die Erkenntnisse lassen sich auf unterschiedlichste Handlungsfelder übertragen.9

Kommen wir also zurück zu uns und zu den eingangs genannten Personenkreisen. Wie könnte Begleitung in diesen Kontexten aussehen? Stellen wir es uns konkret vor.

  • (Klima-)Aktivist*innen ermutigen sich durch individuelle und kollektive Resilienzstrategien gegenseitig und sorgen dafür, dass ihre Bewegungen wirksamer und nachhaltiger werden, weil sie aus den Gefühlen Kraft schöpfen können.
  • Sozialarbeiter*innen vernetzten sich, erkämpfen mit Hilfe von Interessenvertretung und Gewerkschaft bessere Arbeitsbedingungen und schaffen sich auf politischer Ebene Gehör, um auch die Wurzeln sozialer Problemlagen angehen zu können.
  • Wissenschaftler*innen führen Forschungssupervision ein, so dass sie endlich Räume für den Umgang mit den Nebenwirkungen haben, die ihre oftmals erschreckenden Forschungsergebnisse auf sie selbst haben.
  • Bürgerrechtler*innen weltweit gestalten öffentliche Trauerrituale, damit nicht nur die Wut ihren Ausdruck findet, sondern auch die Verzweiflung – und ermöglichen sich und anderen auf diese Weise, den Schmerz gemeinsam zu bewältigen und Raum für Würdigung zu schaffen.
  • Pflegepersonal regt Studien zum psychosozialen Wohlergehen von Mitarbeitenden und Patient*innen an und konzipiert auf dieser Basis ein Gesundheitssystem, das die Lebensqualität aller verbessert.
  • Großeltern gründen Gesprächskreise, in denen sie über ihre Zukunftsängste sprechen und schließlich den Mut finden, gemeinsam mit ihren Enkeln auf die Straße zu gehen…

Auch diese Liste ließe sich endlos fortsetzen. Zum Glück. Denn so groß, wie die Herausforderungen sind, denen wir uns als Menschheit zu stellen haben, können wir jede Unterstützung gebrauchen. Wir alle können Rückhalt gebrauchen und zugleich kann jede*r von uns auch andere Menschen begleiten, unterstützen und stärken. Dabei ist die Fürsorge für sich und andere immer miteinander verbunden – innere und äußere Friedensarbeit gehen Hand in Hand. So ist eine Kultur der Fürsorge existentieller Teil einer Kultur des Friedens.

Anmerkungen

1) Dieser Essay ist inspiriert durch Joana Macy, die Begründerin der »Work, that reconnects«. Das Zitat ist der Untertitel ihres Buches »Active Hope« (Macy und Johnstone 2012).

2) Umfassende Informationen und weiterführende Literatur zum ZFD sind hier zu finden: ziviler-friedensdienst.org.

3) Der Begriff geht auf John Paul Lederach zurück, der elizitive und präskriptive Zugänge zu Training und Konflikttransformation unterscheidet (siehe u.a. Lederach 1995).

4) Als psychosozial zeichnet sich die Personalbegleitung aus, wenn dabei zugleich innere und äußere Aspekte und deren Wechselwirkungen berücksichtigt werden (Pastoors 2021).

5) Der Großteil der Studien bezieht sich auf den Bereich der humanitären Hilfe, siehe bspw. Antares Foundation (2012), Blanchetière (2006).

6) Siehe bspw. Becker et. al. (2018), Behboud (2009), Porter und Emmens (2009). Ein praktisches Handbuch macht die Erkenntnisse der Forschung für Fachkräfte in der internationalen Zusammenarbeit nutzbar (Pigni 2016).

7) Eine knappe und praxisorientierte Zusammenfassung wichtiger Ergebnisse meiner Forschung ist im »Lessons Learned« Kapitel meiner Dissertation und in diesem Artikel nachzulesen: (Pastoors 2019).

8) In Elise Bouldings (2000) Definition der »Culture of Peace wird diese Verbindung zur »Culture of Care« besonders deutlich.

9) Exemplarisch möchte ich hier auf den Nachhaltigen Aktivismus verweisen, der sich mit Resilienzstrukturen für politische Aktivist*innen befasst (siehe hierzu Luthmann 2021).

Literatur

Antares Foundation (2012): Managing stress in humanitarian workers. Guidelines for good practice. Amsterdam: Antares Foundation.

Behboud, S. (2009): Die Begleitung von pbi-Freiwilligen in der internationalen Friedensarbeit – Vorbereitung, Betreuung und Nachbereitung von Freiwilligeneinsätzen. Hamburg: peace brigades international (pbi) – Deutscher Zweig e.V.

Becker, D. et al. (2018): What helps the helpers? Research Report 2016-2018. Berlin.

Blanchetière, P. (2006): Resilience of humanitarian workers. o.O.

Boulding, E. (2000): Cultures of peace. The hidden side of history. Syracuse, N.Y.: Syracuse University Press.

Lederach, J. P. (1995): Preparing for peace. Conflict transformation across cultures. Syracuse, N.Y.: Syracuse University Press.

Luthmann, T. (2021): Politisch aktiv sein und bleiben. Handbuch Nachhaltiger Aktivismus. Münster: Unrast Verlag.

Macy, J.; Johnstone, Ch. (2012): Active hope: How to face the mess we’re in without going crazy. Novato: New World Library.

Merkelbach, M. (2017): Voluntary guidelines on the duty of care to seconded civilian personnel. Swiss Federal Department of Foreign Affairs (FDFA); Stabilisation Unit (SU); Bern u.a.: Center for International Peace Operations (ZIF).

Pastoors, D. (2021): Von der Duty of Care zur Culture of Care – Psychosoziale Personalbegleitung für Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes. Hamburg: tredition.

Pastoors, D. (2019): Risiken vermeiden und Potenziale entfalten. Zur Doppelwirkung psychosozialer Begleitung. Transfer 01/2019. Bonn: Arbeitsgemeinschaft der Entwicklungsdienste.

Pigni, A. (2016): The idealist’s survival kit. 75 simple ways to avoid burnout. Berkeley: Parallax Press.

Porter, B.; Emmens, B. (2009): Approaches to staff care in international NGOs. People in Aid: InterHealth.

Sell, S. (2006): Qualifizierung zu Zivilem Friedensdienst / Ziviler Konfliktbearbeitung – Bedarfserhebung unter den ZFD-Trägerorganisationen und Akteuren benachbarter Arbeitsfelder. Bonn: Akademie für Konflikttransformation im forumZFD.

Schüßler, M.; Thiele, U. (2012): Evaluationsbericht. Grundqualifizierung für den Zivilen Friedensdienst/ Zivile Konfliktbearbeitung. Akademie für Konflikttransformation im forumZFD. Universität Oldenburg.

Schweitzer, Ch. (2009): Rekrutierung und Qualifizierung von Personal im Zivilen Friedensdienst. Bonn: Akademie für Konflikttransformation im forumZFD.

Dr. Daniela Pastoors hat zum Thema psychosoziale Personalbegleitung im Zivilen Friedensdienst promoviert, während sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Marburg tätig war und im Beratungsbereich gelehrt hat.

Das Investigative Commons

Das Investigative Commons

Aufarbeitung von Verbrechen durch zivilgesellschaftliche Organisationen

von Anne Schroeter

Mit der Gründung des »Investigative Commons« haben zivilgesellschaftliche Organisationen und Betroffene eine neue Möglichkeit, Taten und Täter*innen zu ermitteln und Verbrechen aufzuarbeiten. Der multidisziplinäre Ansatz der Projekte erlaubt eine neuartige inhaltliche und visuelle Verzahnung der Beweissicherung. Der Beitrag skizziert die Entwicklung des Investigative Commons und seinen Beitrag zur Ermittlung von Täter*innen.

Seit seiner Gründung sieht das »European Center for Constitutional and Human Rights« (ECCHR) sein Ziel darin, von Menschenrechtsverletzungen betroffene Menschen dabei zu unterstützen, dass die Verantwortlichen für diese Taten zur Verantwortung gezogen werden. Das ECCHR arbeitet dazu in vier Programmen zu den Themen Völkerstraftaten, Wirtschaft und Menschenrechte, Migration sowie dem Institut für juristische Intervention. Primat all dieser Programmbereiche ist das »Kehren vor der eigenen Haustür« – das ECCHR nimmt sich vor allen Dingen der Handlungen europäischer Akteur*innen an oder stellt gemeinsam mit Betroffenen einen Bezug zu den jeweiligen europäischen Rechtsrahmen her. Dabei ist es sich der Ambivalenz des Rechts bewusst – einerseits als Ausdruck historischer Ungleichheiten und gleichzeitig als Mittel, um nun für die Überwindung eben jener Ungleichheiten zu streiten und eine entsprechende Rechts­praxis auszugestalten. Bei der Verfolgung von Täter*innen kommt auch das klassische nationale und internationale Strafrecht zum Einsatz. Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen kann aber ebenso von Staaten vor internationalen Gerichten und UN-Mechanismen sowie von Unternehmen vor zivilen Gerichten eingefordert und übernommen werden.

Einen ähnlichen Ansatz nutzt auch die Forschungseinrichtung »Forensic Architecture«, die mit marginalisierten und diskriminierten Individuen und Gruppen zusammenarbeitet, die von Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung in besonderem Maße betroffen sind. Die Forscher*innen von Forensic Architecture erstellen Sachverständigenberichte zur Verwendung in Gerichtsverfahren. Zusätzlich bedient sich Forensic Architecture weiterer öffentlicher Foren, um ihre Fallberichte vorzustellen und Fehlverhalten anzuprangern. Die Projektbeteiligten nutzen dafür beispielsweise künstlerische Aktionen, Medienberichte oder sogenannte Bürger*innen-Tribunale (Citizen-Tribunals).

Die Idee des »Investigative Commons«

Forensic Architecture und das ECCHR haben in den letzten Jahren gemeinsam eine Reihe von Projekten verwirklicht, unter anderem zu tödlichen Drohnenangriffen in Pakistan, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen in Syrien, tödlicher Fahrlässigkeit von Unternehmen in Pakistan sowie Gewalt gegen Migrant*innen an den Grenzen der EU.1 Daraus entstand eine Idee für eine neue Art der Menschenrechtsarbeit, die 2014 in der Ausstellung »FORENSIS« im Berliner Haus der Kulturen der Welt vorgestellt wurde: gemeinsame Untersuchungen, vorgebracht im Rahmen von innovativen juristischen Strategien, die das Ziel haben, Verantwortung und Rechenschaftspflicht für Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Foren – beispielsweise den Medien, Kultureinrichtungen oder Gerichtssälen – einzufordern.2 Im Jahr 2020 eröffneten die beiden Organisationen dann ein gemeinsames Büro in Berlin, in dem diese interdisziplinäre Arbeit weiter ausgebaut werden soll. Es trägt den Namen »Investigative Commons«, um auszudrücken, dass Untersuchungen im menschenrechtlichen Bereich zwingend die gemeinsame Arbeit unterschiedlicher Fachleute innovativ kombinieren und ergänzen muss, wenn sie gegen post-faktische Narrative bestehen will.

Die Gründung des Investigative Commons sieht sich als Antwort auf die Entwicklungen der letzten Jahre, in denen rassistische und nationalistische Tendenzen und Diskurse genutzt werden, um gewaltvolle Handlungen und Wahrheiten zu verschleiern. Während das Wort „forensis ursprünglich einen öffentlichen Raum bezeichnete, in dem Fakten und Wissen von Interesse für die Gemeinschaft ausgetauscht wurden, ist die heutige Verwendung des Wortes oft auf das Vortragen von Beweismitteln in Form von staatlichen Ermittlungserkenntnissen und Sachverständigen im Rahmen von streng geregelten Gerichtsverfahren zugespitzt. Durch das Investigative Commons soll zu diesem staatlichen Monopol ein Gegengewicht gebildet werden. Es soll also auf Grundlage verschiedener Disziplinen und Fachwissen Wahrheit jenseits des Gerichtsverfahrens faktenbasiert aufbereitet, visualisiert und öffentlich kommuniziert werden. Diese Form der Menschenrechtsarbeit will es der Zivilgesellschaft ermöglichen, für die Wahrheit zu kämpfen – und es so als Gemeingut (»Commons«) verstanden wissen. Da die beiden Trägerorganisationen langjährige Erfahrung in der öffentlichen Präsentation ihrer Ergebnisse haben, werden auch die vom Investigative Commons erstellten Fallstudien nicht nur in Gerichtssälen und bei Untersuchungskommissionen, sondern auch bei öffentlichen Aufarbeitungsbemühungen, in interaktiven Medien und bei Ausstellungen eingesetzt werden.

Interdisziplinäre Kooperation

Das Investigative Commons ist daher eine multidisziplinäre Zusammenarbeit, die ermittelnde Gruppen (NGOs, Investigativjournalist*innen und andere) mit Anwält*innen, Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen, Architekt*innen, Filmemacher*innen und Kultureinrichtungen zusammenbringt. Es fördert neben der konkreten Fallarbeit auch die konzeptionelle und technische Forschung, den Austausch von Fachwissen und den Aufbau von Kapazitäten. Um eine Kerngruppe von Mitarbeitenden herum werden befreundete Organisationen und Kolleg*innen Forschungs- oder Kooperationsaufenthalte absolvieren können und neue Untersuchungstechniken, neue Formen der Beweisführung und neue Foren der Interessenvertretung und Prozessführung erarbeiten. Die daraus resultierenden Veröffentlichungen sollen Wege zu neuen Methoden der Rechenschaftspflicht in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen, Umweltgewalt und koloniale Hinterlassenschaften ebnen.

Zum Beispiel werden im Moment Methoden zur Aufarbeitung kolonialer Verbrechen entwickelt, die bisher nicht angemessen forensisch untersucht wurden. Dabei werden zur Verfügung stehendes historisches Material und aktuelle Satellitenbilder in einem Kartierungsprozess übereinander gelegt und diese visuellen Ergebnisse in die Erinnerungen von Überlebenden und deren Nachfahren eingebettet. Außerdem arbeiten wir weiter an Techniken der Open-Source Recherche. Mit Hilfe von öffentlich (und häufig im Internet) zugänglichen Daten können Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung korrekt verortet werden. Mittels dieses Prozesses der Geolokalisierung können also Tatorte identifiziert und weitere Anhaltspunkte für mögliche Verantwortliche und Tatabläufe gewonnen werden.

Zu den Gründungsprojekten des Investigative Commons gehören Untersuchungen zur Verantwortung von europäischen Unternehmen für Kriegsverbrechen im Jemen (siehe dazu weiter unten), zum deutschen Völkermord an den Herero und Nama und zu den gewaltsamen »Push­backs« von Migrant*innen aus Griechenland in die Türkei.

Entwicklung neuer Methoden

Im Jahr 2012 kooperierten Forensic Architecture und das ECCHR zum ersten Mal – lange vor der Gründung des Investigative Commons. Damals, kurz nach dem Beginn des massiven Einsatzes bewaffneter Drohnen im sogenannten »War on Terror« der US-Regierungen, wurden bei solch einem Einsatz im pakistanischen Mir Ali am 4. Oktober 2010 ein deutscher Staatsbürger sowie vier weitere Personen getötet. Nachdem der Generalbundesanwalt zunächst Ermittlungen einleitete, kritisierte das ECCHR den schnellen Abschluss der Ermittlungen und die fortdauernde Straflosigkeit (vgl. ECCHR 2013). Forensic Architecture und das ECCHR konnten gemeinsam mit einer überlebenden Zeugin und ihren Erinnerungen den Vorfall detailliert rekonstruieren (vgl. Forensic Architecture 2013). Diese Fallstudie wurde anschließend in mehreren Ausstellungen gezeigt und war der Gründungsmoment einer seither von Forensic Architecture weiterentwickelten Interview-Methodik des „situated testimony“ (Weizman 2020). Die Untersuchung und das Ergebnis wurden außerdem vom UN-Sonderberichterstatter zu Menschenrechten und Terrorismusbekämpfung in einem Bericht sowie vor der Generalversammlung der UN präsentiert (vgl. HRC 2014, S. 12f.). Er stellt damit ein erstes Beispiel der kollaborativen Menschenrechtsarbeit verschiedener NGOs vor verschiedenen Foren – Gerichten, UN-Organen und Kulturinstitutionen – dar.

Von besonderer Bedeutung ist außerdem die Aufarbeitung des Brandes in der Textilfabrik Ali Enterprise in Karachi im September 2011 bei dem 259 Personen starben. Gemeinsam mit und im Namen von Hinterbliebenen und Überlebenden reichte das ECCHR eine Schadensersatzklage gegen einen der Hauptabnehmer der Textilfabrik, den deutschen Textildiscounter KiK, beim Landgericht Dortmund ein (vgl. ECCHR 2019). Seinerzeit wurde Forensic Architecture beauftragt, den Brand selbst sowie die tödlichen Auswirkungen der zugestellten oder verschlossenen Fluchtwege nachzustellen (vgl. Forensic Architecture 2018). Basierend auf Untersuchungsberichten zum Fabrikbrand, offiziellen Unterlagen und gesetzlichen Bestimmungen zum Brandschutz in Pakistan, Zeug*innenaussagen sowie Satelliten- und Fotoaufnahmen des Fabrikgebäudes, zeigt die Untersuchung das Fehlen oder fehlerhafte Funktionieren von Treppen, Notausgängen, Alarmsirenen und Feuerlöschern im Fabrikgebäude. Forensic Architecture kommt zu dem Schluss, dass viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn Sorgfaltspflichten im Brandschutz eingehalten worden wären. Aus Sicht der beiden Organisationen zeigte die Untersuchung die Verantwortung von KiK als Hauptproduzent in der Fabrik auf, der seinen Einfluss nicht genutzt hatte, um auf bessere Arbeits- und Feuerschutzmaßnahmen zu bestehen. In Deutschland war dieser Fall wegweisend für die Bemühungen eines Bundesgesetzes zu menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten (das sogenannte »Lieferkettengesetz«), das 2021 verabschiedet wurde.

Völkerrechtsverbrechen im Jemen

Im Juni 2021 wurde das erste Projekt des neugegründeten Investigative Commons vorgestellt. Es basiert auf einer Strafanzeige, die das ECCHR gemeinsam mit Mwatana for Human Rights und weiteren europäischen Partnerorganisationen im Dezember 2019 beim Internationalen Strafgerichtshof eingereicht hatte. Die Anzeige benannte die strafrechtliche Verantwortlichkeit von staatlichen Stellen und Rüstungskonzernen in fünf europäischen Ländern für ihre Waffenexporte nach Saudi Arabien und für die mit diesen Waffen begangenen völkerrechtswidrigen Luftangriffe.

Die interaktive Online-Plattform, die in der Folge von Forensic Architecture und dem ECCHR gemeinsam mit den Organisationen Bellingcat und Yemeni Archive entwickelt wurde, zeigt den Fußabdruck eben dieser europäischen Waffenexporte im Krieg in Jemen.3 Sie stellt Luftangriffe zwischen 2015 und 2020 auf einer Landkarte und einem Zeitstrahl dar und setzt diese jeweils in Beziehung zu europäischen Rüstungsfirmen. Diese Beziehung ist entweder nachgewiesen, wenn am Tatort identifizierbare Trümmerteile der Waffen aufgefunden wurden, oder vermutet, da die die technische Ausstattung der saudischen Luftwaffe darauf hinweist, dass europäische Waffen eingesetzt wurden. Nutzer*innen der Plattform können die Frequenz der Luftangriffe mit anderen relevanten Ereignissen zum Export europäischer Waffen und der Verletzung des humanitären Völkerrechts abgleichen und dabei feststellen, dass (a) völkerrechtswidrige Luftangriffe im Jemen keine Seltenheit oder Einzelfälle sind; und dass (b) dies weithin bekannt war und weder zu einer Einstellung oder dem Widerruf von Exportgenehmigungen noch zu einem Aussetzen der Exporte aus Europa geführt hat.

Die Plattform visualisiert also die Beweisführung, die in der Strafanzeige zum Internationalen Strafgerichtshof vorgetragen wurde. Auf dem Zeitstrahl ist erkennbar, dass sowohl europäische Rüstungsfirmen als auch Regierungen von Anfang an von den Verbrechen Kenntnis hatten, daraus aber die einzig richtige Konsequenz nicht gezogen wurde: der Stopp der Waffenexporte an die saudisch geführte Koalition. Die Strafanzeige fordert daher Konsequenzen ein und will das System der europäischen Waffenexporte und die damit begangenen Kriegsverbrechen aufzeigen.

Identifizierung von Täter*innen

Inwiefern die Weiterentwicklung der unterschiedlichen oben angesprochenen Methoden und der Kooperation im Rahmen des Investigative Commons zur besseren Identifizierung weiterer Täter*innen führen kann, die dann auch vor Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden, bleibt abzuwarten. Jedenfalls zeigen die oben aufgeführten Beispiele schon jetzt, dass Täter*innen keinesfalls immer Individuen sein müssen. Auch wenn hinter Unternehmen im Endeffekt natürliche Personen stehen, können auch juristische Personen für Unrecht juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Ähnlich auch staatliche Politiken, die zwar von Menschen gemacht werden, aber durch Verfahren der Staatenverantwortlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden können.

Außerdem ist ersichtlich, dass es sich bei vielen Tatkomplexen um arbeitsteilig organisierte und aufgeteilte Kriminalität handelt. Zum einen sollen natürlich Führungspersönlichkeiten dieser Systeme zur Anklage gebracht werden. Zum anderen sollen durch das Investigative Commons aber auch das jeweils dahinterstehende Zusammenspiel verschiedener Akteur*innen und Strukturen bei der Begehung von Menschenrechtsverletzungen und Umweltverbrechen durchleuchtet, der Öffentlichkeit aufgezeigt und letztendlich zur Verantwortung gezogen werden. Beim Aufklären von systematischen Menschenrechtsverletzungen oder Umweltgewalt geht es also nicht zwangsläufig darum, individuelle Täter*innen zu identifizieren und einem strafrechtlichen Verfahren zuzuführen. Vielmehr ist es notwendig, alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um die Taten bekannt zu machen, aufzuklären und dann mit verschiedenen Mitteln Verantwortung einzufordern – vor Gerichten, in den Medien oder in Museen.

Ausblick

Neben der Fallarbeit wird das Investigative Commons auch öffentlich eine kritische Debatte über aktuelle politische Herausforderungen, Technologie, Menschenrechte, Medien und Ästhetik fördern – in offenen Seminaren für ein breiteres Publikum und in geschlossenen Workshops. Den ersten Anstoß dazu gab die Ausstellung »Investigative Commons« im Sommer 2021 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Darauf folgte im Oktober 2021 die Konferenz »Socializing Evidence«, die unterschiedliche forensische Analysemethoden und ihre Nutzbarkeit in verschiedenen künstlerischen und juristischen Interventionen diskutierte. Weitere werden folgen.

Anmerkungen

1) Alle geschilderten Beispiele sind über die Homepages von Forensic Architecture (forensic-architecture.org) und dem ECCHR (ecchr.eu) zu finden.

2) Die Ausstellung »Forensis« von 2014 ist immer noch über die Homepage des HKW abrufbar: hkw.de.

3) Die Plattform lässt sich unter yemen.forensic-architecture.org finden.

Literatur

ECCHR (2013): Gezielte Tötung durch Kampfdrohnen. Gutachterliche Stellungnahme zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch den Generalbundesanwalt. Oktober 2013. Berlin.

ECCHR (2019): KiK-Verfahren belegt: Deutschland muss Haftungspflichten von Unternehmen grundlegend reformieren. Pressemitteilung, 21.5.2019.

Forensic Architecture (2013): Drone strike in Mir Ali. Homepage, 16.4.2013.

Forensic Architecture (2018): The Ali Enterprise factory fire. Homepage, 30.01.2018.

Human Rights Council (2014): Report of the Special Rapporteur on the promotion and protection of human rights and fundamental freedoms while countering terrorism, Ben Emmerson. A/HRC/25/59, 11.3.2014.

Weizman, E. (2020): The Architecture of Memory. Interview von Nick Axel. E-flux Architecture, November 2020.

Anne Schroeter ist Koordinatorin des Investigative Commons beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR).

Warum töten sie?

Warum töten sie?

Motivationen von Täter*innen im Völkermord

von Timothy Williams

Warum beteiligen sich Menschen an Völkermord und tragen dabei zur Auslöschung ganzer Gruppen bei? In Ruanda, Bosnien oder Indonesien, in Kambodscha oder auch unter dem Nationalsozialismus? So divers diese Fälle sein mögen, so ist sich die Forschung zu Täter*innen in verschiedenen Völkermorden spätestens seit der Goldhagen-Debatte in den 1990er Jahren einig, dass es sich eigentlich um gewöhnliche Männer und Frauen handelt. Dennoch stellt sich die Frage: Warum töten Sie?

Warum beteiligen sich Menschen an Völkermord und tragen dabei zur Auslöschung ganzer Gruppen bei? In Ruanda, Bosnien oder Indonesien haben Menschen ihre Freund*innen und Nachbar*innen getötet, mit denen sie ihr ganzes Leben zusammen verbracht haben. In Kambodscha wurden Kindersoldat*innen zu Henker*innen des neuen Regimes der Roten Khmer. In den Dörfern Osteuropas sowie den Konzentrationslagern der Nationalsozialist*innen haben gewöhnliche Deutsche die jüdische Bevölkerung zu vernichten versucht. So divers diese Fälle sein mögen, so ist sich die Forschung zu Täter*innen in verschiedenen Völkermorden spätestens seit der Goldhagen-Debatte in den 1990ern einig, dass es sich eigentlich um gewöhnliche Männer und Frauen handelt (Browning 2001 [1994]), die aber ganz Ungewöhnliches verübt haben.

Umso mehr drängt sich die Frage auf, warum sich Menschen an Völkermord beteiligen, wenn sie doch so gewöhnlich sind. Mit dieser Frage beschäftigen sich Forschende verschiedener Disziplinen – von der Politikwissenschaft zur Psychologie, von der Anthropologie zur Soziologie, Kriminologie und Geschichtswissenschaft – und man kann auf wichtige Studien zu verschiedenen Fällen aufbauen, vor allem zum Holocaust (Browning 2001 [1994]) und Ruanda (Fujii 2009; McDoom 2021; Straus 2006). In meinem neuen Buch »The Complexity of Evil. Perpetration and Genocide« (Williams 2021) bringe ich die Erkenntnisse aus den verschiedenen Disziplinen und den unterschiedlichen Fällen mit eigenen Daten aus Feldforschung mit ehemaligen Roten Khmer in Kambodscha zusammen, um ein konzeptionelles Modell zur Erklärung dieser Beteiligung an Völkermord zu schaffen. In dem Modell zur »Komplexität des Bösen« argumentiere ich, dass es eine Vielzahl von Beweggründen für Täter*innenschaft gibt und dass viele dieser Beweggründe recht alltäglicher Natur sind (Williams 2021). Das Modell unterscheidet systematisch zwischen verschiedenen Motivationen, erleichternden Faktoren und Kontextbedingungen und erlaubt damit ein kausal komplexeres Verständnis von Faktoren, die für eine Beteiligung an Völkermord wichtig sind. In diesem Beitrag werde ich zunächst diskutieren, um wen es hier bei Täter*innen überhaupt geht, warum sie sich an Völkermord beteiligen, in welchem Kontext sie sich bewegen (und welchen Einfluss dieser hat) sowie ob und wie wir hieraus für die Prävention etwas lernen können.

Wer ist Täter*in?

Bei einer Erklärung von Täter*innenschaft im Völkermord muss zunächst geklärt werden, wer denn überhaupt als Täter*in und was als Tat zu gelten hat. Denn Völkermord wird als kollektives Verbrechen begangen, in dem Gewalt arbeitsteilig ausgeübt und oftmals in breitere, organisierte Prozesse eingebunden ist. Damit haben Menschen, die nicht zur Waffe greifen und die Morde implementieren, trotzdem aber auch eine Verantwortung für den Beitrag ihres Handelns für die Gewalt. In meiner Forschung verfolge ich also ein breites Verständnis, wer als Täter*in zu gelten hat, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ganz viele Formen der Beteiligung mit ihrer Wirkung zum Völkermord beitragen können (siehe Williams 2018). Offenkundig gehören hier auch die obersten Führer*innen eines Regimes dazu, die Ideologien verbreiten, Gesetze erlassen und den Rahmen schaffen, in dem der Völkermord denkbar und machbar wird. Andere tragen durch ihre Organisation zur Logistik des Völkermords bei, wie Adolf Eichmann und seine Koordination der Züge im Holocaust. Wiederum andere verbreiten hetzerische Ideologien durch journalistische oder kulturelle Arbeit, wie Ferdinand Nahimana, der den extremistischen ruandischen Radiosender »Radio Télévision Libre des Mille Collines« (RTLM) gründete, dessen Sendungen während des Völkermords die Hutu-Bevölkerung aufhetzte und zur Beteiligung am Völkermord gegen die Tutsi anstachelte.

Die Komplexität des Bösen

Um die Frage zu beantworten, warum sich Menschen an Völkermord beteiligen, bedient sich das »Komplexität des Bösen«-­Modell verschiedener Disziplinen – von der Psychologie zur Kriminologie, von der Soziologie zur Anthropologie – und Erkenntnissen aus der Forschung zum Holocaust, Ruanda und Bosnien sowie meiner eigenen Feldforschung in Kambodscha. Das Modell zeigt auf, dass es Muster gibt, die sich über Völkermorde in verschiedenen Ländern hinweg ähneln, aber dass es hier eine hohe Diversität der Faktoren gibt, die jeweils Einfluss auf einzelne Täter*innen ausgeübt haben. Das Modell unterscheidet hierbei zwischen drei verschiedenen Typen von Einflussfaktoren, die zusammenwirken, dass sich jemand an Völkermord beteiligt: Motivationen, erleichternde Faktoren und Kontextbedingungen. Eine Übersicht über die wichtigsten Faktoren findet sich in Graphik 1.

Grafik Beteiligung am Völkermard

Graphik 1: Modell der »Komplexität des Bösen« ©Rutgers University Press / Timothy Williams

Motivationen von Täter*innen im Völkermord

Motivationen sind der grundlegende Impuls zur Beteiligung, ohne die es nicht zur Täter*innenschaft kommen würde. Hierbei ist es zunächst unwesentlich, welche Motivation vorhanden ist, aber mindestens eine muss auftreten, damit sich jemand an Völkermord beteiligt. Welche Motivation sich jeweils wesentlich auf eine Entscheidung für die Täter*innenschaft auswirkt, kann sich über die Zeit auch ändern (Reinermann und Williams 2020). Es gibt drei wesentliche Kategorien von Motivationen: Ingroup-bezogene, Outgroup-bezogene und opportunistische Motivationen.

Die erste Gruppe von Motivationen speist sich aus Dynamiken innerhalb der Gruppe der Täter*innen. Einfluss auf die Täter*innen kann hierbei hierarchisch-vertikal von Vorgesetzten oder kollegial-horizontal von Kamerad*innen oder Freund*innen ausgehen und explizit in Befehlen oder Aufforderungen oder implizit durch Annahmen und soziale Erwünschtheit ausgeübt werden; in diesen Beziehungen kann auch manchmal die Androhung oder Ausführung von Zwang als Motivation wirken. Weiter können Menschen durch ihre Beteiligung einen Aufstieg im sozialen Status oder Ansehen erhoffen oder sie können Rollen annehmen, in denen sich die Täter*innenschaft als sinnhaft darstellt. So hat ein ehemaliger Kader der Roten Khmer im Interview erklärt, dass er wusste, als er zu den Roten Khmer kam, habe er ein Tiger werden müssen und damit so handeln und denken wie ein Tiger und keine Moral haben, wie ein Tiger.

Eine zweite Gruppe von Motivationen fokussiert auf die Gruppe der Opfer. Hier können Menschen emotionale Reaktionen auf Mitglieder der Opfergruppe entwickeln, z. B. Hass, Neid, Angst oder Ekel. Ihre Täter*innenschaft ist damit eine emotionale Reaktion auf ihre Wahrnehmung der Situation und der Opfergruppe. Weiter – und prominent in populären Darstellungen von Völkermord – können Ideologien motivierend wirken (vgl. Goldhagen-Debatte). Empirisch gibt es aber relativ wenige Personen, die von Ideologien motiviert werden, sondern Ideologien spielen wichtigere Rollen als erleichternde Faktoren und als Kontextbedingungen (siehe unten).

Als dritte Kategorie finden sich opportunistische Motivationen, die den Eigennutz, den sich Täter*innen von ihrer Beteiligung erhoffen, in den Vordergrund stellen. Täter*innen können auf materielle Vorteile hoffen, wenn sie ihre Opfer ausrauben dürfen oder für ihre Beteiligung bezahlt werden, andere hoffen auf einen schnelleren Karrierefortschritt oder die Vermeidung von Nachteilen, oder sie versuchen persönliche oder politische Konflikte unter dem Deckmantel der neuen ideologischen Ordnung neu zu verfolgen.

Erleichternde Faktoren

Erleichternde Faktoren ergänzen Motivationen als Beweggründe, die zwar als nicht notwendig für eine Beteiligung gelten, aber diese erleichtern, indem sie die Teilnahme psychologisch einfacher machen oder sonst begünstigen. Hier finden sich konzeptionell eine Vielzahl von erleichternden Faktoren, die sich in vier Gruppen einordnen lassen. Erstens spielen hier Ideologien ihre zentrale Rolle, in dem sie das Töten legitimieren oder sogar als notwendig darstellen; durch die ideologische Rechtfertigung können Täter*innen sich moralisch im Reinen fühlen und moralische Hemmungen abgebaut werden. Personen können dann durch gruppendynamische oder opportunistische Motivationen tatsächlich zur Beteiligung bewegt werden.

Als zweite Gruppe findet man verschiedene Faktoren, die eine Abkopplung der Tat von den generellen moralischen Vorstellungen der Täter*innen erlaubt. Hier kann z. B. durch die Dehumanisierung der Opfergruppe ihre Menschlichkeit aus Perspektive der Täter*innen verringert oder der Tötungsprozess sehr beschönigend benannt werden und damit ein Töten weniger problematisch erscheinen (bspw. in der Darstellung als Insekten oder Objekte); auch physische oder soziale Distanz zwischen Täter*in und Opfer können eine moralische Abkopplung befördern.

Auch spielen als dritte Kategorie Gruppendynamiken erleichternd eine Rolle, wenn z. B. Verantwortung an Vorgesetzte oder Kamerad*innen abgegeben oder in großen Gruppen Anonymität befördert werden kann.

Zuletzt spielt auch die Zeit eine erleichternde Rolle, wenn Menschen sukzessive an eine Täter*innenschaft herangeführt werden oder sich über die Zeit an Gewalt und ihre Täter*innenschaft gewöhnen können und sich dadurch später einfacher beteiligen können, als noch am Anfang ihrer Beteiligung.

Der Völkermord als Kontext

Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass diese Motivationen und erleichternden Faktoren eben nur überhaupt denkbar und relevant werden, wenn die handelnde Person sich in einem Kontext bewegt, in dem Täter*innenschaft möglich ist. Keine der Täter*innen töten einfach so und ohne Zusammenhang, sondern erst im Kontext des Völkermords selbst. Zunächst spielen dafür staatliche und gesellschaftliche Strukturen eine Rolle, da sie die sozialen Beziehungen innerhalb und zwischen Gruppen strukturieren und es ausreichend politischer Macht bedarf, einen genozidalen Plan zu erarbeiten und zu implementieren. Auch spielt hier zentral wieder die Ideologie eine Rolle: Damit es zum Völkermord kommt, bedarf es einer ideologischen Grundlage, die eine Gruppe als anders und minderwertig klassifiziert und diese als auslöschungswürdig konstruiert. Hier wird eben auf der Kontextebene ein ideologischer Rahmen aufgespannt, in dem die Täter*innenschaft verständlich und sinnvoll erscheint. Zudem sind Unsicherheitssituationen wie Krieg, Revolution oder ähnliches förderlich als Kontextbedingungen, da sie die Individuen in neue Situationen stürzen, in denen sie sich erst einmal orientieren müssen. In diesen Zeiten beziehungsweise Umständen richten sie sich stärker an vertraute Personen und akzeptieren (aus Angst) schneller Unsicherheitszuschreibungen über die (zukünftige) Opfergruppe.

Aussicht für künftige Prävention?

Bei jeglicher wissenschaftlicher Beschäftigung mit Gewalt schwingt immer die Frage nach den Konsequenzen dieser Forschung für eine mögliche Verhinderung künftiger Gewalt mit. Und so muss man sich zum Abschluss dieses Beitrags fragen: Was bedeutet das Modell für eine Prävention von Täter*innenschaft in Völkermord?

Das Modell weist vehement auf die Wichtigkeit hin, jenseits großer Bögen der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, auf die Mikro-Ebene zu schauen. Hier spielen sich Dynamiken ab, die natürlich von den makropolitischen Gegebenheiten beeinflusst, aber nicht determiniert werden; die Vielzahl der verschiedenen Motivationen und erleichternden Faktoren zeigt auf die Komplexität der Zusammenhänge und individuellen Beweggründe, die in den Blick genommen werden müssen, um die Gewalt richtig verstehen zu können.

In seiner Konzeption ist das Modell darauf angelegt, möglichst breit angewandt werden zu können und es soll verschiedene Formen der Täter*innenschaft in diversen Fällen erklären können. Auch wenn Täter*innenschaft im Völkermord in Kambodscha oder während des Holocausts ganz anders aussieht als Täter*innenschaft in Ruanda, Bosnien oder Guatemala, so sind doch viele Gemeinsamkeiten auf der Individualebene bezüglich der Motivationen, erleichternden Faktoren und Kontextbedingungen zu verzeichnen. Diese Muster über die Fälle hinweg lassen erhoffen, dass systematischer gegen Teilnahme am Völkermord vorgegangen werden könnte. Doch trotz der Muster zeichnet die Komplexität des Modells ein ernüchterndes Bild für die präventionsorientierte Praxis. Wenn viele der Motivationen eben doch recht alltäglich sind, und es so viele verschiedene gibt, wie können hier sinnvolle Programme zur Prävention auferlegt werden?

Sicherlich gibt es keine Programme, die umfassend Täter*innenschaft verhindern können, doch wären Ansätze aussichtsreich, die einzelne Teile des Modells aufgreifen. So könnte beispielsweise eine Intervention, die herrschaftskritische Reflexion, selbstbewusste Menschenrechtsorientierung und eine kritische Analyse sozialer Eingebundenheit in den Vordergrund stellt, vielversprechend sein. Ein solcher Ansatz erlaubt es Menschen, kritisch über ihre eigenen sozialen Beziehungen sowie deren Wirkung auf sich selbst nachzudenken. Ein solcher Ansatz kann somit auf Motivationen und erleichternde Faktoren einwirken, die auf Dynamiken innerhalb der Gruppe der (potentiellen) Täter*innen fußen.

Fazit

Als Hannah Arendt von der „Banalität des Bösen“ schrieb, brach sie fundamental mit bisherigen Verständnissen zu Täter*innenschaft im Holocaust, die von ideologisch überzeugten Täter*innen ausgingen. Arendt wies auf die „Gedankenlosigkeit“ hin, mit der Adolf Eichmann seine Karriere verfolgte und wie er in bürokratischer Effizienz versuchte, seine Ziele umzusetzen, auch wenn diese eben die Logistik der Massenvernichtung waren (vgl. Arendt 1994 [1963]). Das Modell der »Komplexität des Bösen« spannt den Bogen noch weiter und zeigt systematisch auf, dass über verschiedene Fälle hinweg Menschen an Völkermord teilnehmen, da sie aus Dynamiken in der Ingroup, Einstellungen gegenüber der Outgroup oder aus Eigennutz motiviert werden. Doch gleichzeitig spielen auch weitere Einflussfaktoren eine andere kausale Rolle – als erleichternde Faktoren oder Kontextbedingungen. Diese Komplexität des Modells erlaubt ein differenzierteres Bild der grundlegenden Dynamiken, die Gewalt im Völkermord bedingen, erlaubt gleichzeitig aber leider keine einfachen Antworten, wie diese Dynamiken durchbrochen werden können, um die Gewalt sinnvoll zu verhindern.

Literatur

Arendt, H. (1994 [1963]): Eichmann in Jerusalem: A report on the banality of evil. New York. NY: Penguin Books.

Browning, C. (2001): Ordinary men. Reserve police battalion 101 and the Final Solution in Poland. New York, NY: Harper Collins.

Fujii, L.A. (2009): Killing neighbours. Networks of violence in Rwanda. Ithaca, NY: Cornell University Press.

McDoom, O.S. (2021): The path to genocide in Rwanda. Security, opportunity, and authority in an ethnocratic state. Cambridge: Cambridge University Press.

Reinermann, J.; Williams, T. (2020): Motivational change in the perpetration of violence. Violence: An International Journal 1(1), S. 144-165.

Straus, S. (2006): The order of genocide. Race, power, and war in Rwanda. Ithaca, NY: Cornell University Press.

Williams, T. (2018): Thinking beyond perpetrators, bystanders, heroes: A typology of action in genocide. In: Williams, T.; Buckley-Zistel, S. (Hrsg.): Perpetrators and perpetration of mass violence: Dynamics, motivations and concepts. Abingdon: Routledge, S. 17-35.

Williams, T. (2021): The complexity of evil. Perpetration and genocide. New Brunswick, NJ: Rutgers University Press.

Timothy Williams ist Juniorprofessor für Unsicherheitsforschung und gesellschaftliche Ordnungsbildung an der Universität der Bundeswehr München und Vizepräsident der International Association of Genocide Scholars. Im Jahr 2021 erschien sein Buch »The Complexity of Evil. Perpetration and Genocide« bei Rutgers Universtiy Press und ist kostenfrei als open access Version beim Verlag erhältlich.

»Slow Violence«


»Slow Violence«

Zeitlichkeit(en) von Frieden und  Konflikten

von Natascha Mueller-Hirth

Obwohl es mit Debatten rund um strukturelle Gewalt in Einklang gebracht werden kann, hat das Konzept der »slow violence« (langsamer, schleichender Gewalt) bislang noch wenig Verwendung in der Friedens- und Konfliktforschung gefunden. »Slow violence« nimmt Bezug auf allmähliche und verzögerte Gewalt, die unsichtbar wird durch das Fortschreiten der Zeit und einem gesellschaftlich dominanten Verständnis von Krisen als spektakulären und plötzlichen Ereignissen. Der Beitrag diskutiert die Kernelemente der »slow violence« und setzt diese in Bezug zu feministischen und postkolonialen Ansätzen der Gewaltforschung sowie zu jüngeren Arbeiten über die Zeitlichkeiten von Frieden und Konflikten.

Vor zehn Jahren wurde das Konzept der »slow violence« von Rob Nixon in seinem Buch »Slow Violence and the Environmentalism of the Poor« eingeführt. Nixon beschreibt diese Form der Gewalt als eine Gewalt, die sich allmählich und außer Sichtweite realisiert, eine Gewalt der verzögerten Zerstörung die über Zeit und Raum verteilt ist, eine Gewalt der Zermürbung, die üblicherweise gar nicht als Gewalt verstanden wird“ (Nixon 2011, S. 2).

Sein disziplinärer Hintergrund in der sozialwissenschaftlichen Umweltforschung erklärt Nixons speziellen Fokus auf die Zerstörung der Umwelt im Kapitalismus, indem er betont, dass sich die verzögerten Folgen des Klimawandels, der Verschmutzung, des Ressourcenabbaus und der Kriegsführung oft erst nach Jahrzehnten zeigen. Für Nixon wird »slow violence« dadurch ermöglicht, dass es eine spezifische Erkenntnis- und Konstruktionsweise von Krisen und Desastern gebe: Gewalt müsse spektakulär, explosiv und überraschend sein, um in den Medien abgebildet zu werden oder von der Politik und strategischen Planungsvorhaben mit berücksichtigt zu werden. Dem hält er entgegen, dass Gewalt auch allmählich, stufenweise, schleichend und akkumulierend wirken kann und das über weitaus längere Zeitfenster. Beispiele dessen, was Nixon eindrücklich »lange Tode« (long dyings) nennt, lassen sich im ökologischen Kollaps des Nigerdeltas infolge der Ölförderungen, in der Strahlung, die von zerfallender Uranmunition aus den Golfkriegen stammt oder auch »Umweltflüchtlingen« finden, die von Mega-Staudamm Projekten vertrieben werden.

Die Auswahl dieser Beispiele verdeutlicht auch, dass das Verständnis von Gewalt nicht nur einer Auseinandersetzung über Zeitlichkeit, sondern auch über Geographie bedarf: Der globale Kapitalismus führt zu ungleichen Entwicklungen und sozialer wie ökologischer Ungerechtigkeit, in der Gemeinschaften oder Staaten mit niedrigen Einkommen üblicherweise diejenigen sind, die solche (lebens)gefährlichen Orte aufweisen, eine höhere Verletzlichkeit gegenüber den Folgen des Klimawandels aufweisen und möglicherweise weniger Ressourcen für die Anpassung aufbringen können.

Andere Forscher*innen haben das Konzept jenseits seines umweltwissenschaftlichen Kontextes zu erweitern versucht, indem sie sich der »slow violence« im Verhältnis zu Polizeiarbeit und staatlich unterstützten rassistischen Verbrechen, im Verhältnis zur Bildung, sozialer Stigmatisierung, Grenzregimen oder dem Niedergang des Wohnungsmarktes annäherten, um nur einige Anwendungsgebiete zu erwähnen.

Die Unsichtbarkeit der Gewalt

Friedens- und Konfliktforscher*innen mag der Klang von »slow violence« vertraut vorkommen. Nixon erkennt auch explizit die Bedeutung von Johan Galtungs Konzept der strukturellen Gewalt (1969) – das normalisierte und oft nicht bemerkte Leiden, das den Menschen durch ungleiche Lebenschancen und die Verweigerung von Grundbedürfnissen zugefügt wird – für sein eigenes Werk. Er argumentiert aber, dass strukturelle Gewalt statisch sei und Fragen von Bewegung, Wandel und Handlungsmacht vernachlässige. Obwohl »slow violence« Formen struktureller Gewalt beinhalten kann, stellt es als Konzept eher auf die Ausübung vieler möglicher Formen der Gewalt über Zeit ab und antwortet damit auf gegenwärtige »Politiken der Beschleunigung« und auf ein sich wandelndes Verständnis vom massiven menschlichen Einfluss auf den Planeten.

»Slow violence« wird jedoch vorgeworfen, gerade die Gegensatzpaare zu verdinglichen (wie sichtbar/unsichtbar, abrupt (hot)/schleichend (slow) oder spektakulär/alltäglich), die feministische und postkoloniale Forschende seit langem schon infrage stellen. Ihre Kritik lautet, dass es ein Kontinuum der Gewalt von »spektakulärer« hin zu alltäglicher struktureller Gewalt gibt, die viele marginalisierte Gruppen erleben, dass es aber auch Kontinuen geschlechtsbezogner oder ethnischer Gewalt gibt, die sich zwischen dem »Krieg« und sogenannten »Friedenszeiten« aufspannen. Die Unsichtbarkeit bestimmter Formen der Gewalt sei also nicht nur von Zeitlichkeit abhängig, sondern vielmehr auch beeinflusst von „größeren vergeschlechtlichten und rassifizierten Epistemologien [Erkenntnisweisen] die das Öffentliche, das Schnelle, das Aufgeheizte und das Spektakuläre privilegieren“ (Christian und Dowler 2019, S. 1066; ebenso George 2014 für den Versuch, »slow violence« auf geschlechtsbezogene Gewalt zu beziehen). Davies (2019) Arbeit mit Communities in den giftigen Landschaften der petrochemischen Industrie Louisianas zeigt dabei deutlich, wie strukturelle Ungleichheit zu »slow violence« gerinnen kann. Seine Kritik an Nixons Behauptung, dass »slow violence« „Spektakel-defizitär“ sei, wirft ein grelles Licht auf epistemische Gewalt: Davies argumentiert, dass es eher die Politiken der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid marginalisierter Gruppen sind als die reine Unsichtbarkeit an sich, die »slow violence« verstetige und am Leben hielte. Seinen Ausführungen nach ist es daher zentral, sich mit den gelebten Erfahrungen und informellen Wissensformen derjenigen auseinanderzusetzen, die mit diesem schleichenden Umweltstress leben müssen, für die die »slow violence« oft „klar und geradeheraus zu sehen ist“ (ibid. 2019, S. 13).

Die Betroffenen der »slow violence«

»Slow violence« ruft Herausforderungen der Repräsentation und politische Herausforderungen hervor. Das Verstreichen der Zeit, und seine Beschleunigung (siehe unten), trennt die Ursachen der Gewalt von ihren Konsequenzen, was wiederum die Möglichkeiten behindert, auf sich langsam entfaltende Umweltkrisen entsprechend aufmerksam zu machen – geschweige denn, dagegen zu mobilisieren.

Zudem verschärft »slow violence« das Problem der politischen Verantwortung – politischer Wandel passiert deutlich schneller als die Erholung der Umwelt –, und Gesetzgebung, die Umweltzerstörung wirklich nachhaltig angehen könnte, lässt sich nicht mit Wahlperioden oder Amtszeiten in Einklang bringen.

In der Konsequenz führt also die Engführung von Gewalt auf einzelne Ereignisse oder kurze, klar definierte Perioden zu einer Vernachlässigung derer, die unter den verzögert wirkenden oder sich akkumulierenden Auswirkungen von Umweltkatastrophen leben, leiden oder daran sterben. Strahlung oder chemische Verschmutzung verursachen Krebsgeschwüre und Verseuchungen; Ressourcenabbau und Klimawandel verringern die Chancen, menschliches Leben auf der Erde sicherzustellen; die 100 Millionen nicht explodierten Minen verschiedener Kriege weltweit liegen in den Böden vorwiegend ärmerer Länder konzentriert und führen dort zu Verstümmelungen und Toden. Fortlaufende und intergenerationelle Gewalt könnte ein chronisches Trauma verursachen (Pain 2020). In diesem Sinne verstärkt »slow violence« Bedrohungen exponentiell und kann dazu beitragen, langfristige Spannungen und Konflikte weiter anzuheizen.

Mit all diesen Argumenten setzt sich Nixon in seinem Werk nicht explizit auseinander, sie sind aber in der Forschung zu den Folgen von Massengewalt erkundet worden – von Volkans „Zeitenkollaps“ (1997), in dem Gruppen Ideen und Gefühle im Zusammenhang mit einem „erwählten Trauma“ aus der Vergangenheit mit denen aktueller Krisen ineinanderfalten, bis zu den „zeitlichen Konflikten“ (Mueller-Hirth 2017) zwischen den Bedürfnissen und Rhythmen der Heilung der Überlebenden auf der einen Seite und gesellschaftlichem und politischem Streben nach Übergang und Versöhnung auf der anderen Seite.

Zeitlichkeit(en) von Frieden und Konflikten

Allgemeiner gesprochen hat es in jüngerer Zeit Bewegungen in der Friedens- und Konfliktforschung gegeben, die impliziten Konzepte linearer Zeit zu kritisieren und dagegen die Weisen auf die Zeit und Macht miteinander verschränkt sind ernstzunehmen. Diese Arbeiten beziehen sich oft auf postkoloniale Forschungsarbeiten, die explizit die „imperiale Idee der linearen Zeit“ ablehnen, um die Kontinuitäten zwischen kolonialer Vergangenheit und Gegenwart nachzuzeichnen (McClintock 1995, S. 9; siehe auch Christian und Dowler 2019 zu feministischen und antirassistischen Kritiken).

Diese Kritik eröffnet einen Blick auf die vielfältigen Zeitlichkeiten im Erleben der Gewalterfahrungen und darauf, wie dominante Zeitlichkeiten ungleiche Machtverhältnisse reproduzieren (z.B. Igreja 2012, Mueller-Hirth und Rios Oyola 2018). Zum Beispiel werden Überlebende von Gewaltakten oft nach einer gewissen Zeit als anachronistisch porträtiert, als lehnten sie es ab »voranzugehen«; dominante Zeitlichkeiten von Konflikt und Frieden versuchen, die (gewaltvollen) Vergangenheiten und die (friedliche) Gegenwart als binäre Oppositionen zu konstruieren, was aber mit der gelebten Erfahrung derer nicht übereinstimmt, die sich von Traumata, Gewalt oder Leid zu erholen versuchen.

Zeitliche Dominanz kann durch die Macht bestimmter Akteure ausgedrückt werden, Zeitfenster für Friedensprozesse zu setzen, und kann dann z.B. in Verzögerungen und Wartezeiten auf Kompensationsleistungen für die Überlebenden beobachtet werden.

Wir müssen uns an dieser Stelle also fragen, ob Nixons Konzept selbst überhaupt Gewalt und die Erfahrung von Gewalt angemessen „verzeitlicht“. Die Soziologie der Zeit hat schon vor Langem auf die soziale Konstruiertheit und die diversen Formen menschlicher Zeitlichkeiten hingewiesen, im spezifischen auf dynamische Beziehungen der Zeitverhältnisse, Zeitfenster, Tempo, Timing, Sequenzierung und Muster (Adam 2004). Vergleichbar enthalten Ökosysteme so viele »Zeiten«, wie sie Objekte enthalten“ (Huebener 2020, S. 344).

Während das Konzept der »slow violence« also den Fokus bedeutsamerweise auf das Verstreichen der Zeit lenkt, das die Ursachen von Umweltverletzungen unsichtbar macht und nicht mehr nachvollziehbar werden lässt, ist es in Nixons Konzept dennoch unklar, was genau an »Zeit«, oder einer bestimmten »Zeitlichkeit«, diese Verschleierung erlaubt. Beispielsweise bezieht er sich auf den technologischen Wandel und die gegenwärtigen »Politiken der Geschwindigkeit« (Nixon 2011, S. 13), dafür maßgebliche theoretische Zugänge zu technologischer und sozialer Beschleunigung zieht er allerdings nicht heran (vgl. z.B. Rosa 2003).

In der Tat liegt dem Ansatz der »slow violence« ein linear-chronologisches Zeitlichkeitskonzept zugrunde, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als distinkte Einheiten betrachtet. Es scheint aber doch gerade solche zeitlich und räumlich verteilte schleichende Gewalt zu sein, die diese distinkten Grenzen und eine chronologische Konzeption der Zeit aufzulösen beginnt. Vom Standpunkt einer kritischen Zeitlichkeitsforschung leidet das Konzept der »slow violence« also an einer ungenügenden Berücksichtigung multipler oder alternativer Konzeptionen der Zeit.

Der »slow violence« entgegentreten?

Wie von seinem Untertitel angedeutet, dreht sich Nixon auch um den Widerstand gegen »slow violence« durch das, was er »(Um-)Weltverhältnisse der Armen« nennt, sowie diejenigen, die Zeug*innen solcher Umweltbewegungen werden. Er bezieht sich auf postkolonial inspirierte aktivistische Intellektuelle wie Ken Saro-Wiwa, Wangari Maathai, Arundhati Roy und viele andere, um zu erkunden wie »slow violence« „für die Sinne verständlich gemacht werden kann durch wissenschaftliche und imaginative Bezeugungen“ (Nixon 2011, S. 14). In Ergänzung argumentiert Davies (siehe oben), dass »slow violence« für die davon Betroffenen keinesfalls versteckt ist, dass deren Aussagen oder Erzählungen aber regelmäßig ignoriert würden. Lokale, informelle Wissensbestände und die „visuelle, verkörperte und gelebte Erfahrung dieser toxischen Orte“ (Davies 2019, S. 11) sollten in Feststellungen von Umweltrisiken und -gefahren mit einbezogen werden, um wissenschaftliche Ergebnisse und Expert*innenaussagen zu ergänzen. Für Forschende bringt dies zusätzlich die Aufgabe mit sich, die eigenen Fähigkeiten zu pflegen, Zeit(lichkeiten) kritisch analysieren zu können (Huebener 2020) – in einem Bewusstsein für die vielzähligen Beziehungen der Individuen zu Gewalt und Zeit, für mehrfache Zeitlichkeiten und für die Art und Weisen in denen Zeit als Mittel zu sozialer Kontrolle und Machtausübung verwendet werden kann.

Es lässt sich festhalten, dass das Konzept der »slow violence« in der sozialwissenschaftliche Umweltforschung einflussreich geworden ist und viel dazu beitragen kann, Themen der Sichtbarkeit und Zeitlichkeit von Gewalt in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken – und doch ist es wohl am ehesten dazu geeignet, umwelt(ökologische) Katastrophen verstehbar zu machen, wie Nixon in seinem Werk schon selbst anmerkte.

Es muss aber auch betont werden, dass »slow violence« in wissenschaftlicher, medialer und allgemein gesellschaftlicher Debatte deutlich breiter diskutiert werden muss, nicht zuletzt um das Leid derer sichtbar zu machen, die allzuoft ignoriert werden – so bereichert das Konzept auch gegenwärtige Debatten um Umweltgerechtigkeit und -rassismus.

Literatur

Adam, B. (2004): Time. Cambridge: Polity

Christian, J. M.; Dowler, L. (2019): Slow and fast violence. ACME: An International Journal for Critical Geographies 18(5), S. 1066-1075.

Davies, T. (2019): Slow violence and toxic geographies: ‘Out of sight’ to whom?. Environment and Planning C: Politics and Space, doi.org/10.1177/2399654419841063.

Galtung, J. (1969): Violence, peace, and peace research. Journal of peace research 6(3), S. 167-191.

George, N. (2014): Promoting women, peace and security in the Pacific Islands: Hot conflict/slow violence. Australian Journal of International Affairs 68(3), S. 314-332.

Huebener, P. (2018): Timely ecocriticism: reading time critically in the environmental humanities. ISLE: Interdisciplinary Studies in Literature and Environment 25(2), S. 327-344.

Igreja, V. (2012): Multiple temporalities in indigenous justice and healing practices in Mozambique. International Journal of Transitional Justice 6(3), S. 404-422.

McClintock, A. (1995): Imperial leather: Race, gender, and sexuality in the colonial contest. London: Routledge.

Mueller-Hirth, N. (2017): Temporalities of victimhood: Time in the study of postconflict societies. Sociological Forum 32(1), S. 186-206.

Mueller-Hirth, N., & Rios Oyola, S. (Eds.) (2018): Time and Temporality in Transitional and Post-Conflict Societies. London: Routledge.

Nixon, R. (2011): Slow Violence and the Environmentalism of the Poor. Harvard: Harvard University Press.

Pain, R. (2020): Geotrauma: Violence, place and repossession. Progress in Human Geography, doi.org/10.1177/0309132520943676.

Rosa, H. (2003): Social acceleration: ethical and political consequences of a desynchronized high–speed society. Constellations 10(1), S. 3-33.

Volkan, V. (1997): Bloodlines. From ethnic pride to ethnic terrorism. New York: Farrar, Straus & Giroux.

Natascha Mueller-Hirth ist Lehrbeauftragte für Soziologie an der Robert Gordon Universität Aberdeen, Schottland. Eines ihrer Forschungsgebiete ist Zeitlichkeit und die Politiken der Zeit im Verhältnis zu Transitional Justice und Peacebuilding.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.