Jenseits von NAVCO
Jenseits von NAVCO
Neue Datensätze zu zivilem Widerstand
von Julia Nennstiel
In der quantitativen Forschung zu zivilem Widerstand ebenso wie in friedensbewegten Bezugnahmen auf diese Forschung nimmt die von Chenoweth und Stephan publizierte Studie »Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict« (2011) und der ihr zugrundeliegende »Nonviolent and Violent Campaigns and Outcomes«-Datensatz (NAVCO) eine prominente Rolle ein. Doch stehen mittlerweile zahlreiche weitere Datensätze zur Verfügung, die sich zur quantitativen Untersuchung zivilen Widerstands eignen. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über diese Datensätze. Ein kritischer Vergleich mit NAVCO zeigt, dass die jüngeren Datensätze es ermöglichen, neue bewegungsrelevante Forschungsfragen zu zivilem Widerstand zu stellen und alte Fragen differenzierter zu bearbeiten.
Die Studie von Chenoweth und Stephan (2011) lässt sich wohl als ein »neuer Klassiker« der empirischen Forschung zu zivilem Widerstand bezeichnen. Sie beanspruchte, die Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands quantitativ zu prüfen – mit dem wohlbekannten und häufig zitierten Befund, dass „gewaltfreie Widerstandskampagnen fast doppelt so häufig kompletten oder partiellen Erfolg erzielten, wie ihre gewaltsamen Alternativen“ (ebd., S. 7). Als Kernstück des Projekts diente der NAVCO-Datensatz, der weltweit zwischen 1900 und 2006 erfolgte gewaltsame und gewaltfreie Widerstandskampagnen auflistete und deren jeweilige Dauer, Größe, ihren Ausgang u.a. erfasste.
Die Studie erhielt seither beachtliche wissenschaftlich-politische Aufmerksamkeit. Zum einen schien ihre quantitative Analyse der Forschung zu zivilem Widerstand eine bis dato nicht gegebene »methodische Wissenschaftlichkeit« im Sinne der US-amerikanisch geprägten empirischen Politikwissenschaft zu verleihen. Damit stieß sie eine Vielzahl neuer Untersuchungen zu zivilem Widerstand an, vor allem auch in Forschungskreisen, die sich dieser empirisch-quantitativen Schule verschrieben haben. Zum anderen fand die Studie von Chenoweth und Stephan weitreichende Resonanz unter (friedens-)politisch aktiven Menschen. Neben Klassikern der Gewaltfreiheit wie etwa Mohandas Gandhi oder Gene Sharp zitiert, dient sie als der empirische Nachweis der Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands. Als besonderer Vorzug erscheint dabei die durch den globalen Datensatz gewonnene Universalität und Generalität der Ergebnisse. Sowohl für empirische Forschung als auch für aktivistisch-politische Bezugnahmen dienen die NAVCO-Datensätze – welche mittlerweile aktualisiert (NAVCO 1.3 umfasst den Zeitraum 1900-2019) und um alternative Analyseeinheiten wie Widerstandskampagnen-Jahre (NAVCO 2.1, Chenoweth und Lewis 2013) sowie -Ereignisse (NAVCO 3.0, Chenoweth et al. 2018) erweitert worden sind – nach wie vor als Kernreferenz.
Diese Popularität verdeckt, dass mittlerweile eine ganze Bandbreite weiterer Datensätze vorhanden ist, die sich für empirische Untersuchungen über zivilen Widerstand nutzen lassen (vgl. Tabelle, S. 14). Viele dieser Datensätze sind im Vergleich zu NAVCO begrenzt hinsichtlich Zeitraum, Region oder Art der erfassten Widerstandsbewegungen – häufig ermöglichen sie aber differenziertere, vielseitigere oder methodisch sauberere Analysen als die NAVCO-Datensätze. Ohne die Notwendigkeit qualitativer Forschung zu zivilem Widerstand in Frage zu stellen, möchte ich mich im Folgenden auf diese neuen Datensätze fokussieren und ihre Bedeutung für bewegungsrelevante quantitative Forschung diskutieren.
Datensatz |
Quelle |
Kodierungseinheit |
Geographie der Datenbank |
Zeitlicher Umfang |
Fallzahl |
NAVCO 1.3 |
Chenoweth und Stephan 2011 |
Kampagnen |
global |
1900-2019 |
622 |
NAVCO 2.1 |
Chenoweth und Lewis 2013 |
Kampagnen-Jahre |
global |
1945-2013 |
(384 Kamp.) |
NAVCO 3.0 |
Chenoweth et al. 2018 |
Ereignisse |
26 Staaten (weltweit) |
1990-2011 |
– |
REVMOD |
Acosta 2019 |
Organisations-Jahre |
global |
1940-2014 |
(536 Org.) |
ARC |
Butcher et al. 2022 |
Organisations-Jahre |
Afrika |
1990-2015 |
3,407 (1,426 Org.) |
MMD |
Clark und Regan 2013 |
Ereignisse |
162 Staaten weltweit |
1990-2020 |
– |
SRDP |
Cunningham et al. 2020 |
Organisations-Jahre |
global |
1960-2005 |
(1,124 Org.) |
SMD |
Griffiths 2015 |
Bewegungs-Jahre |
global |
1816-2011 |
1279 (315 Bew.) |
SMD(b) |
Griffiths und Wasser 2019 |
Bewegungen |
global |
1816-2011 |
315 |
STCNA |
Griffiths 2021 |
Bewegungen |
global |
– |
– |
SCAD |
Salehyan et al. 2012 |
Ereignisse |
Afrika, Mittel- u. Südamerika |
1990-2017 |
– |
SDM |
Sambanis et al. 2018 |
Bewegungen |
global |
1945-2012 |
464 |
MMAD |
Weidmann und Rød 2019 |
Ereignisse |
93 (nicht-demokratische) Staaten |
2003-2019 |
– |
MAROB |
Wilkenfeld et al. 2011 |
Organisations-Jahre |
West Asien und Nord Afrika |
1980-2004 |
(118 Org.) |
ACLED |
– |
Ereignisse |
global |
(abhängig je Staat, Beginn zwischen 1997 und 2020, bis Gegenwart) |
– |
Tabelle: Übersicht zur Verfügung stehender Bewegungsdatenbanken; Zusammenstellung: Julia Nennstiel
Erfolg/Misserfolg
Ein entscheidender Mangel der NAVCO-Datensätze ist, dass sie den Ausgang einer Widerstandskampagne nur auf einer eindimensionalen Skala erfassen. Eine Kampagne hat entweder Erfolg, partiellen oder keinen Erfolg. Einige der neueren Datensätze bieten deutlich detailliertere Angaben über den Ausgang eines Widerstands.
Dies gilt etwa für das »Secessionist Movements Dataset« (Griffiths 2015) und das »Secessionist Methods Dataset« (Griffiths und Wasser 2019), sowie das »Self-Determination Movements Dataset« (Sambanis et al. 2018). Letzteres beispielsweise unterscheidet hinsichtlich Widerstandsbewegungen, die auf politische Selbstbestimmung abzielen, ob sie territoriale Gewinne, Zugang zu staatlicher Macht, kulturelle oder sonstige politische Zugeständnisse erzielt haben, oder aber Einschränkungen kultureller oder politischer Art erfahren. Die beiden erstgenannten Datensätze enthalten unter anderem Informationen darüber, ob die Forderungen einer Bewegung ignoriert, (verbal) abgelehnt oder gewaltsam unterdrückt wurden.
Mit solch einer nuancierten Unterscheidung verschiedener Arten des Ausgangs einer Widerstandsbewegung werden auch differenziertere Analysen der Wirksamkeit gewaltfreien (oder auch gewaltsamen) Widerstands möglich. Sie erlauben beispielsweise, genauer zu untersuchen, bei welchen Formen der Konflikt-»Lösung« die besondere Stärke gewaltfreien Widerstands liegt. Auch gestatten sie etwa (da die Datensätze für jede Bewegung ihren Ausgang bzw. Stand in Jahresabständen abzeichnen) zu analysieren, in welchen Sequenzen sich durch gewaltfreien Widerstand partielle Erfolge unterschiedlicher Art aufeinander aufbauen lassen. Dies erlaubt dabei auch Analysen der Gelingensbedingungen für die strategische Staffelung von Forderungen.
Organisation und Struktur
Weitere Datensätze rücken von dem Fokus der NAVCO-Datensätze auf gesamte Widerstandskampagnen (Chenoweth und Stephan 2011; Chenoweth und Lewis 2013) ab. Stattdessen werfen sie einen genaueren Blick auf an einem Widerstand beteiligte Gruppen und Organisationen. Damit ermöglichen sie eine differenziertere Einsicht in das Innenleben von Widerstandsbewegungen.
Zu den Datensätzen, die Organisationen, die an einer Widerstandsbewegung beteiligt sind, als Grundkodierungseinheit nehmen, zählen etwa das »Strategies of Resistance Data Project« (SRDP; Cunningham et al. 2020), das »Anatomy of Resistance Campaigns«-Dataset (ARC; Butcher et al. 2022), das von Acosta (2019) vorgestellte »Revolutionary and Militant Organizations Dataset« (REVMOD) sowie Wilkenfeld et al.’s (2011) »Minorities at Risk-Organizational Behavior«-Datenbank (MAROB). Das »Ethnic Groups in Contention Dataset« von Thurber (2018) hingegen gibt als hilfreiche Erweiterung für in NAVCO aufgelistete Widerstandskampagnen an, welche ethnische Gruppen jeweils beteiligt waren.
Eine Stärke dieser Datensätze liegt darin, dass sie es ermöglichen, die organisatorische Zusammensetzung eines Widerstands analytisch in den Blick zu bekommen. Beispielsweise lässt sich die Zahl der an einem zivilen Widerstand beteiligten organisatorischen Einheiten genau bestimmen. Darüber hinaus enthalten einige der genannten Datensätze Angaben zum Typ einer Organisation (Parteien, Gewerkschaften, religiöse Organisationen, Jugendorganisationen, Dachorganisationen, bewaffnete Gruppen bzw. Rebellgruppen etc.), zu ihrer sozialen Basis oder zu den in ihr vertretenen sozialen Gruppen (das gilt für ARC, REVMOD und MAROB) oder zu ihrer politischen bzw. ideologischen Position (gilt nur für MAROB).
Während die NAVCO-Datensätze verschiedene Formen der Diversität einer Kampagne, wenn überhaupt, lediglich binär (»ja«, »nein«) angeben (Chenoweth und Stephan 2011; Chenoweth und Lewis 2013), lässt sich dies anhand neuerer Datensätze systematischer und detaillierter erfassen. Damit kann etwa fundierter untersucht werden, in welcher Weise sich die ideologische oder soziale Diversität der beteiligten Organisationen auf die Erfolgschancen eines Widerstands, seine Widerstandsfähigkeit gegenüber Repression oder auf die Wahrscheinlichkeit von »gewalttätigen Flanken« auswirkt. Auch lässt sich der Frage nachgehen, wie die Zusammensetzung eines Widerstands potenziell bestimmte gewaltfreie Methoden oder Aktionen (siehe unten, Kapitel Strategien) erleichtern oder erschweren kann.
Über die allgemeine Zusammensetzung eines Widerstands hinaus erlauben es diese Datensätze teilweise sogar, inner-organisatorische Eigenschaften und Bedingungen zu erfassen und analytisch zu berücksichtigen. Dies ist eine Dimension, über die NAVCO tatsächlich keinerlei Informationen liefert. Dazu eignen sich beispielsweise Angaben über die Führungs- bzw. Entscheidungsstruktur der jeweiligen Organisation, ihren Grad der Zentralisierung, über Geschlecht und Amtsdauer ihrer Führung oder über ihre Offenheit (im ARC-Datensatz, REVMOD-Datensatz bzw. im MAROB-Datensatz). Werden diese Detailinformationen zu den beteiligten Organisationen dann für jede Widerstandskampagne bzw. -bewegung jeweils zusammengeführt, lassen sich Kenntnisse etwa darüber gewinnen, wie Organisationen welcher Art und Führungsstruktur als Fundament eines wirksamen oder resilienten zivilen Widerstands mehr oder weniger geeignet scheinen.
Darüber hinaus gestatten einige Datensätze auch systematischen Einblick in zwischen-organisatorische Verbindungen. Auch diese Dimension wird in den NAVCO-Datensätzen vollkommen ausgeklammert. Das gilt insbesondere für den ARC-Datensatz, der für jede kodierte Organisation auch diejenigen Organisationen angibt, mit denen formale Verbindungen bestehen und/oder gemeinsame Aktionen unternommen wurden, sowie ihre Beteiligung an institutionalisierten Netzwerken bzw. Dachorganisationen. Weniger detaillierte, aber dennoch unter Umständen hilfreiche Angaben bietet auch der REVMOD-Datensatz mit der Anzahl externer und interner »Verbündeter« einer Organisation. Der MAROB-Datensatz wiederum unterscheidet zahlreiche Varianten externer Unterstützung durch Diaspora-Gruppen, Drittstaaten, internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Mithilfe dieser Daten lässt sich etwa untersuchen, welche organisatorische Netzwerkstruktur den Widerstand gegen bestimmte Formen der Repression resilienter machen kann (vgl. Butcher et al. 2022). Dabei sei auch erwähnt, dass sich für eine solche Untersuchung erforderliche Daten zur Repression z.T. aus denselben Datensätzen gewinnen lassen (z.B. Daten zu gezielten Angriffen auf eine Organisationsführung aus dem REVMOD-Datensatz, zu juristischen und physischen Sanktionen gegen eine Organisation aus dem MAROB-Datensatz), oder alternativ aus eigenständigen Repressions-Ereignisdatensätzen (z.B. das »Ill-Treatment & Torture Data Collection Project« (Conrad et al. 2014) oder der »UCDP One-Sided Violence«-Datensatz (Eck und Hultman 2007; Davies et al. 2023)).
Schließlich bieten diese organisations-zentrierten Datensätze neben ihrem informativen Gehalt einen analytischen Vorteil gegenüber NAVCO dadurch, dass sie Widerstandsorganisationen (statt kampagnen) zur Grundkodierungseinheit nehmen: Sie ermöglichen es, auch solchen Widerstand einzubeziehen, der vor allem von einzelnen Organisationen getragen wird oder sich primär auf Widerstandsmethoden stützt, die weniger sichtbar sind als Proteste, und damit eventuell nicht den Umfang einer »großen« Widerstandskampagne erreicht, während sich NAVCO auf Letztere beschränkt (vgl. Cunningham et al. 2020). Gerade die Berücksichtigung der von NAVCO ignorierten Fälle aber kann wertvolle Hinweise geben, um den Weg eines kleinen (bzw. kleiner werdenden) Widerstands hin zu einer »großen« Kampagne in den Blick zu nehmen und zu untersuchen, unter welchen Umständen und durch welche Dynamiken (siehe unten) solch eine Entwicklung realistisch werden könnte.
Strategien
Eine weitere bedeutende Schwachstelle der NAVCO-Datensätze besteht darin, dass sie (neben dem Ausgang einer Widerstandskampagne, siehe oben) auch hinsichtlich der Gewaltfreiheit oder Gewaltsamkeit eines Widerstands lediglich eine binäre Unterscheidung bieten: die Kodierungen lauten »primär gewaltfrei« oder »primär gewaltsam« (Chenoweth und Stephan 2011; Chenoweth und Lewis 2013; für Kritik an diesem Vorgehen vgl. Anisin 2020). In Reaktion auf die Kritik führten folgende Kodierdurchgänge zur Einführung der – allerdings ebenfalls binären – Variable zu sogenannten »gewaltsamen Flanken«. Auch in dieser Hinsicht bieten einige neuere Datensätze einen deutlich differenzierteren Blick.
Zum einen ermöglichen diese eine präzisere Einordnung einer Widerstandskampagne auf einem Gewaltfreitheit/Gewaltsamkeits-Spektrum. Denn die oben genannten organisations-zentrierten Datensätze bieten Angaben zur Anwendung gewaltsamer und gewaltfreier Methoden seitens der einzelnen am Widerstand beteiligten Organisationen. Indem diese Angaben auf der Ebene der Widerstandskampagne zusammengeführt werden, lässt sich die genaue Kombination (oder der genaue »Mix«) gewaltsamer und gewaltfreier Ansätze innerhalb einer Kampagne deutlich nuancierter bestimmen. Dies eröffnet die Möglichkeit, zu untersuchen, wie sich z.B. die relative Anzahl und Größe an gewaltfrei- und gewaltsam operierenden Organisationen oder die Intensität der Vernetzung (s.o. Kapitel Organisation und Struktur) unterschiedliche Widerstandsstrategien verfolgender Organisationen auf eine Kampagne auswirken kann.
Darüber hinaus nehmen einige Datensätze gezielt eine feinere Unterteilung und nicht-binäre Kodierung verschiedener Widerstandsmethoden jenseits einer (eindimensionalen) Gewaltfreiheit/Gewaltsamkeits-Skala vor und eröffnen damit die Gelegenheit qualitativ differenzierterer Analysen. Beispielsweise unterscheidet der SRDP-Datensatz zwischen den fünf gewaltfreien Methodentypen von »Protest«, »politischer«, »wirtschaftlicher« oder »sozialer Nichtkooperation« und »gewaltfreier Intervention«, und gibt für jede am Widerstand beteiligte Organisation an, ob sie eine oder mehrere dieser Methoden in einem gegebenen Jahr anwandte. Einen etwas anderen Schwerpunkt setzend, erfasst das von Griffiths (2021) zusammenstellte »Secessionist Tactics of Compellence and Normative Appeal«-Dataset, welche diskursive Strategie eine Widerstandsbewegung anwandte und auf welche (internationalen) Normen bzw. Prinzipien sie sich zur Begründung und Untermauerung ihrer politischen Forderung berief. Mithilfe dieser Informationen lässt sich nicht nur die Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands für verschiedene Methoden und Ansätze im Einzelnen beleuchten. Sie lassen auch die Frage zu, welche unterschiedlichen (gewaltfreien) Methoden sich in welchen Kontexten oder auch Stadien eines Widerstands miteinander kombinieren lassen, und wie sich dies auf den Erfolg des Widerstands im Ganzen auswirkt.
Aktionen und Dynamiken
Viertens schließlich ermöglichen einige der alternativen Datensätze die Analyse von Widerstandsdynamiken in ihrer zeitlichen Dimension. Während die NAVCO (1.x und 2.x) Datensätze ganze Kampagnen(-Jahre) zur Grundeinheit nehmen und die zeitliche Dimension lediglich in der Kodierung einzelner Variablen (Kampagnen-Beginn und Ende, Kampagnenerfolg) berücksichtigen, fokussieren einige jüngere Datensätze auf die einzelnen Widerstandsereignisse bzw. –aktionen (die gemeinsam eine Kampagne konstituieren). Diese listen systematisch Protest- oder andere Widerstandsaktionen in einem bestimmten Zeitraum auf und erfassen für jede dieser Aktionen bestimmte (sich je nach Datensatz leicht unterscheidende) Attribute. Einen ähnlichen Versuch unternimmt auch NAVCO 3.0 (dies macht sichtbar, dass den Ersteller*innen von NAVCO die Begrenztheit von und die Kritik an ihren Datensätzen bekannt und bewusst sind), allerdings nur für eine willkürliche Auswahl von 26 Staaten, und anhand von einer einzigen Nachrichtenquelle (Chenoweth et al. 2018).
Zu solchen umfangreicheren Ereignisdatensätzen zählen das »Mass Mobilization Protest«-Dataset (MMD) von Clark und Regan (2016) und die von Weidmann und Rød (2019) publizierte »Mass Mobilization in Autocracies Database« (MMAD). Sie beide erfassen unter anderem das Datum und den genaueren Ort einer Aktion, die mit ihr verbundene politische Forderung, die Teilnehmer*innenzahl, gegebenenfalls Gewaltanwendung seitens der Widerstandsakteure sowie die unmittelbare staatliche Reaktion auf die jeweilige Aktion (Repression bzw. Zugeständnisse). Nennenswert ist auch die »Social Conflict Analysis Database« (SCAD) von Salehyan et al. (2012), die im Gegensatz zu den vorangegangenen Datensätzen zwischen organisierten und spontanen Protestaktionen unterscheidet und vor allem jenseits von Protestaktionen auch General- und begrenzte Streiks mit einbezieht. Etwas weniger Variablen, dafür aber eine größere Zahl an Fällen, bietet hingegen das »Armed Conflict Location & Event Data«-Project (ACLED), das entgegen seiner Bezeichnung auch gewaltfreie Aktionen erfasst. Je nach der zu untersuchenden Forschungsfrage lassen sich diese Ereignisdatensätze zu Widerstandsaktionen sinnvoll kombinieren mit nach Tag spezifizierten Ereignisdaten zu Repressionsgeschehen, etwa aus dem SCAD oder ACLED, die neben Widerstandsereignissen auch Repressionsereignisse erfassen, oder auch aus anderen Datensätzen wie dem »MMAD Repressive Actors«-Dataset (Rød et al. 2023) oder der »Global Terrorism Database« (START 2022).
Diese Datensätze lassen somit eine Vielzahl neuer Fragen zu. Es könnte beantwortet werden, welche Aktionssequenzen tendenziell zu einer Vergrößerung des Widerstandes führen oder aber mit einer Verschärfung der Repression einherzugehen geneigt sind. Des Weiteren lässt sich auch genauer untersuchen, wie verschiedene Arten der gewaltfreien Eskalation – etwa in Form einer wachsenden Anzahl von Aktionen pro Tag, von Teilnehmenden pro Aktion oder auch eine geographische Ausweitung der Aktionen in weitere oder kleinere Städte – sich kurz- und mittelfristig auf eine zivile Widerstandsbewegung auswirken können. Hierzu gab es bislang maximal qualitative Einzelfallstudien – oftmals auch anthropologische Untersuchungen –, die so quantitativ ergänzt werden könnten.
Erwähnt sei an dieser Stelle auch, dass sich durch den ARC-Datensatz die Möglichkeit ergibt, die Analyse zeitlicher Widerstandsdynamiken mit der Analyse der organisatorischen Struktur eines Widerstands zu verknüpfen. Dieser Datensatz zeigt, an welchen Widerstandsaktionen bzw. -ereignissen aus dem MMD, SCAD oder dem ACLED-Datensatz eine gegebene Organisation erkennbar beteiligt war. Damit lässt sich etwa fragen, welche Rolle Organisationen verschiedener Art bei bestimmten Aktionen oder in einzelnen Phasen des Widerstandes spielen und zu welchen Konsequenzen dies im weiteren Verlauf führte.
Noch kein Fazit: Fehlende Anwendung
Neuere Datensätze zu gewaltfreiem und gewaltsamen Widerstand liefern vielerlei Informationen, die weit über die der vielzitierten NAVCO-Datensätze hinausreichen. Noch kann kein abschließendes Fazit gezogen werden, fehlt doch bislang die breitere empirische Anwendung dieser Datensätze auf hier angerissene Fragestellungen. Für künftige quantitative Studien bietet es sich an, vermehrt diese alternativen Datensätze zu nutzen, um alte (bislang nur anhand von NAVCO untersuchte) Fragen zu zivilem Widerstand differenzierter zu bearbeiten und neue – in Bezug auf die NAVCO-Datensätze (noch) nicht formulierbare – bewegungsrelevante Fragen zu stellen und anzugehen.
Literatur
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Julia Nennstiel studierte an der Universität Manchester Internationale Beziehungen (M.A.) mit Schwerpunkt Kritische Sicherheits- und Militärstudien. Aktuell promoviert sie zur Rolle und dem Verhalten von Streit- und Sicherheitskräften in Kontexten ziviler Widerstandsbewegungen.