Es braucht mehr Solidarität!

Es braucht mehr Solidarität!

Replik auf Velten Schäfer

von Björn Kunter

Am Beispiel der Ukraine macht sich ganz unterschiedliche Kritik an der Außenpolitik der Bundesregierung fest. Einer der umstrittenen Fragen dreht sich darum, ob das außenpolitische Agieren der Bundesregierung in der Ukraine zur Eskalation und damit zum bewaffneten Konflikt beigetragen habe. In W&F 4-2015 vertrat Velten Schäfer in seinem Artikel »Zivile Aggression? Die Ukraine, die deutsche Außenpolitik und die Friedensbewegung« die These, die Friedensbewegung müsse sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass zivilgesellschaftliches Engagement in anderen Ländern „zum Instrument aggressiven außenpolitischen Handelns uminterpretiert“ werden könne und so „zu einer gewalttätigen Eskalation von Konflikten beitragen“ könne. Er empfahl als Gegenstrategie, über eine Politik der strikten Nicht-Einmischung nachzudenken. Björn Kunter ist ganz anderer Meinung und begründet hier, warum.

Velten Schäfer greift in seiner Analyse des deutschen Handelns im Ukrainekonflikt (W&F 4-2016, S.38-40) ein wichtiges Thema auf: Er nimmt einen neuen zivilgesellschaftlichen Interventionismus wahr und hinterfragt die »Partnerschaft mit der Zivilgesellschaft« durch Regierungsstellen. Doch läuft der innenpolitische Redakteur des »neuen deutschland« bei seiner Analyse der Ukrainekrise in eine Falle neokolonialistischen Denkens, die auch in der Friedensbewegung weit verbreitet ist.

Schäfer erkennt zwar an, dass es viel zu kurz greift, „den »Maidan« nur auf diese Politik der »pro-westlichen Landschaftspflege« zurückzuführen und ihn pauschal als extern finanzierten Staatsstreich einzustufen. Solche Bewegungen lassen sich weder einfach von außen »aufbauen« noch sind sie punktgenau zu steuern. Sie haben erhebliche Eigendynamiken, »der Westen« ist für viele Akteure aus verschiedenen Gründen politisch und ökonomisch attraktiv. Die unterstützten Organisationen und Strömungen sind weder einfach Einflussagenten noch steht bei ihnen die Außenpolitik notwendigerweise an erster Stelle; oft kümmern sie sich um reale soziale Probleme.“ Doch wirklich eigene Wirkungsmacht – also die Möglichkeit, das eigene Geschick selbst zu steuern, wie wir es mit Art. 20(2) des Grundgesetzes, „Alle Staatsgewalt geht vom [deutschen] Volke aus“, für uns selbst definieren und fordern – gesteht er den ukrainischen Akteuren nicht zu. Vielmehr konstatiert Schäfer , dass „die »Maidan«-Bewegung bereits in der Entstehung nicht ohne das Kräftefeld denkbar [ist], das von außen aufgebaut wurde, und schon gar nicht ihr »Sieg« ohne den dann demonstrativen Schulterschluss westlicher Regierungen“. Aus ukrainischer Perspektive klingt das herablassend und in etwa so absurd, wie für uns die »Reichsbürger«-Thesen von Deutschlands fortwährender Besetzung.

Schäfers Feststellung ist weder allgemein noch auf die Ukraine bezogen stimmig. Erica Chenoweth und Maria J. Stephan (2011) zeigten in einer vergleichenden Untersuchung gewaltfreier und gewaltsamer Aufstandsbewegungen auf, dass auswärtige Unterstützung zwar auf gewaltsame Bewegungen einen signifikanten Einfluss hat, die Erfolgschancen gewaltfreier Bewegungen jedoch nicht erhöht.1 Bezogen auf die Ukraine ist die Hypothese eines entscheidenden äußeren Einflusses schon deshalb unglaubwürdig, weil die damalige Dominanz Russlands in quasi jedem Bereich der ukrainischen Gesellschaft (Wirtschaft, Verwaltung, Sicherheitsdienste, Politik) unübersehbar war. Wäre das „von außen aufgebaute“ Kräftefeld wirklich so entscheidend, wie Schäfer behauptet, hätte es keinen erfolgreichen »Euromaidan« geben können.

Schäfer belegt seine Theorie nicht mit innerukrainischen Wirkungsbeobachtungen, auch nicht mit den Wirkungsbehauptungen der in der Ukraine tätigen Nichtregierungsorganisationen, sondern mit Absichtserklärungen und symbolischen Gesten der deutschen und europäischen Regierungspolitik. Als Beispiel führt er den Besuch des damaligen Außenministers Westerwelle auf dem Maidan an, der dazu geführt habe, dass „die Entscheidung de facto gefallen“ sei. Außerdem irrt Schäfer, wenn er die Schaffung der »Fazilität für die Zivilgesellschaft in der Östlichen Partnerschaft« und des »Europäischen Fonds für Demokratie« in den Kontext des Arabischen Frühlings stellt. Tatsächlich sind beide Instrumente nur zu verstehen vor dem Hintergrund des langjährigen Scheiterns der europäischen Nachbarschaftspolitik, insbesondere der bis in den Sommer 2011 andauernden brutalen Zerschlagung der belarussischen Opposition nach den Präsidentschaftswahlen vom Dezember 2010.

Kein Masterplan des Westens

Gerade die Entstehung der Östlichen Partnerschaft zeigt, dass die deutsche und europäische Politik gegenüber diesen Staaten bis 2013/14 nicht von einem »Masterplan« oder strategischem Denken geprägt war. Vielmehr nahm die Bedeutung der Zivilgesellschaft für die Außenpolitik aufgrund von zwei ganz anderen Faktoren zu: die Ratlosigkeit angesichts des offensichtlichen Scheiterns der bisherigen Demokratisierungshilfe und die Bedeutungslosigkeit der osteuropäischen Länder für die westliche Politik. Erst das Scheitern der auf zwischenstaatlichen Verträgen basierenden staatlichen Transformationshilfen setzte die Ressourcen frei, um verstärkt zivilgesellschaftliche Demokratisierungshilfe leisten zu können bzw. zu müssen, da die regelmäßigen Krisen in Belarus und in der Ukraine immer wieder (symbolische) Reaktionen erforderten. Angetrieben wurde die Politik nicht nur von den neuen EU-Mitgliedern in Osteuropa, die sich als Paten ihrer Nicht-EU-Nachbarn verstanden, sondern auch aus den zivilgesellschaftlichen Partnerschaften, die (oft in Folge der Tschernobylsolidarität) schon lange zuvor insbesondere in Deutschland, Österreich, Italien, Schweden und den Niederlanden entstanden waren.2 Der Anstieg der Mittel für zivilgesellschaftliche Projekte ist daher weniger auf zentrale strategische Entscheidungen zurückzuführen, sondern überwiegend ein Resultat punktuell erfolgreicher zivilgesellschaftlicher Lobbybemühungen. Ermöglicht wurde dies durch die Bedeutungslosigkeit von Belarus und Ukraine in der außenpolitischen Strategiebildung der EU, die sich selbst zwei Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion vor allem an Moskau orientierte und die östliche Nachbarschaftspolitik eher nebenbei vorantrieb.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Schäfer hat recht, wenn er schreibt, dass die auswärtige Förderung der Zivilgesellschaft zugenommen habe und im Gegensatz zur belächelten Bürgerdiplomatie des Kalten Krieges heute durchaus als wirkmächtig wahrgenommen werde. Er hat auch recht mit der Feststellung, dass zivilgesellschaftliche Bewegungen destabilisierend wirken könnten3 und ihre Förderung aus dem Ausland von den betroffenen Regimen häufig als Aggression wahrgenommen werde. Doch sucht er an der falschen Stelle, wenn er das Handeln der Bundesregierung bzw. der EU als ursächlich vermutet. Selbst der Blick auf die US-Regierung führt diesbezüglich nicht weiter, obgleich US-Regierungsstellen oft strategischer und geschlossener agieren als die EU und die Bundesregierung.4 Zu beobachten ist stattdessen, dass schon die Koordination zwischen den Geldgebern in der Regel nicht funktioniert und erst recht nicht zwischen den untereinander konkurrierenden durchführenden Nichtregierungsorganisationen. Allenfalls lassen sich »Modewellen« feststellen, bei denen viele Akteure zur gleichen Zeit das gleiche fördern. Eine strategische Koordinierung der westlichen Demokratisierungshilfe ist nicht die Regel, sondern eine seltene Ausnahme.

Eine solche Ausnahme stellt die systematische Stärkung der Opposition im Vorfeld der belarussischen Präsidentschaftswahlen 2001 dar, die weitgehend von der OSZE-Beobachtermission in Minsk unter Leitung des ehemaligen Botschafters und BND-Präsidenten Hans-Georg Wieck koordiniert worden war und als (gescheiterter) erster Versuch einer »Farbrevolution« verstanden werden kann.5 Auch lässt sich aufzeigen, dass sich viele relevante Akteure der auswärtigen und lokalen Zivilgesellschaft und ihre staatlichen westlichen Geldgeber vor der »Rosenrevolution« in Georgien (2003) und insbesondere nach der »Orangen Revolution« 2004 in der Ukraine vom Leitbild der gewaltfreien Revolution tragen ließen und solche Ansätze gezielt unterstützten. Teilweise wurde hierbei auch erheblicher Druck auf die Hilfeempfänger ausgeübt, um ein einheitliches Vorgehen zu forcieren.6 Doch nach dem Scheitern weiterer Versuche gewaltfreier Regierungsumstürze (insbesondere Belarus 2006, Aserbaidschan 2008) und angesichts der Ernüchterung über die Selbstzerlegung des »Orange«-Blocks in der Ukraine nach 2004 verlor das Leitbild »Farbrevolution« schnell an Glanz und spielte schon bei den belarussischen Präsidentschaftswahlen 2010 keine Rolle mehr.

Auch der Arabische Frühling bewirkte keine Änderung der westlichen Förderstrategien in Osteuropa. Beispielsweise ergibt sich aus der USAID-Länderstrategie für die Ukraine 2012-16, dass die US-Förderprogramme zu Beginn des »Maidan« vor allem auf eine Umsetzung demokratischer Reformen durch die Regierung von Janukowitsch zielten und den Beitrag der Zivilgesellschaft zur Demokratisierung vor allem bei der Beratung von Gesetzesvorhaben, im Kampf gegen lokale Korruption und in der Stärkung der lokalen Demokratie sahen.7 Aus dem Evaluationsbericht8 des entsprechenden Programms zur Stärkung der Rolle der Zivilgesellschaft bei der Umsetzung demokratischer Reformen (UNITER, 2008-30.9.2013) kann man außerdem viel über die Probleme der ukrainischen Zivilgesellschaft und die begrenzte Wirkung der Förderprogramme erfahren, aber keinesfalls erahnen, dass wenige Wochen später der »Euromaidan« das Land umkrempeln wird. Stattdessen herrschte allenthalben Ratlosigkeit.

Internationale Solidarität

Fatalerweise nutzt Schäfer seine Kritik am deutschen Regierungshandeln in der Ukraine (wiewohl er es in weiten Teilen als „Nicht-Handeln“, „verpasste Chancen“ etc. beschreibt) als Plädoyer für eine grundsätzliche „anti-interventionistische Neuaufstellung“.

Seiner grundsätzlichen Empfehlung, staatliche Außenpolitik nicht mehr mit zivilgesellschaftlichen Mitteln zu verfolgen, kann ich durchaus in Teilen zustimmen. Das gilt insbesondere für die direkte Verknüpfung mit militärischen Einsätzen, wie sie die Bundesregierung in Afghanistan versucht hat.9 Auch in anderen Situationen sind staatliche Stellen selten die besten Geldgeber für die Förderung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten. In der Regel ist das Problem jedoch nicht, dass sie zu viel Einfluss ausüben, sondern dass sie konzeptlos und spontanistisch mehr Schaden als Wirkung zu erzielen drohen, so bei den aktuellen Spontanmitteln zur Förderung der Zivilgesellschaft in der Ukraine und bei der Östlichen Partnerschaft.10 Allerdings kann es auch keine Alternative sein, die (interventionistische) Arbeit für Frieden, Demokratie und Menschenrechte allein der Privatwirtschaft oder dem gemeinnützigen (letztlich doch auch wieder privatwirtschaftlichen) Spendenmarkt zu überlassen. Denn natürlich sind Sponsoren wie Bill Gates, George Soros, die Bertelsmann Stiftung etc. nicht legitimer oder weniger interessengesteuert als Staaten.

Nicht zuletzt aus demokratietheoretischen Gründen würde ich es daher vorziehen, den Staat nicht vollkommen aus der Finanzierung und Aufsicht der Zivilgesellschaft zu entlassen. Institutionen wie das Deutsch-Französische Jugendwerk könnten hier Vorbildcharakter haben, insbesondere wenn es gelingt, die Gesellschaft und Politik der Empfängerländer mit einzubeziehen.

Schäfer kritisiert den deuschen Bundespräsidenten Gauck aus gutem Grund dafür, dass „viele zwischen »Werten« und geostrategischen Interessen des »Westens« keinen Widerspruch sehen. »Wir« sind nun mal die Guten.“ Es wäre sogar konfliktverschärfend, sollten nicht Interessen, sondern Werte durchgesetzt werden, weil die ökonomische Ebene dann durch Kulturkämpfe überlagert würde. Nur weil Gauck in pastoraler Beschränktheit nicht zwischen Werten und Interessen differenzieren kann, sollte die Friedensbewegung dies keinesfalls übernehmen, sondern sich um so vehementer an international vereinbarten Normen orientieren und für den Schutz der Menschenrechte (auch durch die westlichen Staaten und internationalen Institutionen) einsetzen.. Dabei wird es tatsächlich nicht ausreichen, auf die „Verrechtlichung und Institutionalisierung der internationalen Politik zu hoffen“, allerdings nicht so sehr, weil sie ein „totes Pferd“ sei, wie Schäfer urteilt, sondern weil auch der Weg über Institutionen und Gerichte vor allem oder ausschließlich den »Starken« offensteht. Denn selbst wenn sich auch die mächtigen Staaten und Konzerne der internationalen Gerichtsbarkeit unterwerfen, wird es schon armen Staaten sehr schwer fallen, dort Verfahren gegen mächtige GegnerInnen zu führen; unterdrückte Bevölkerungsgruppen werden dies alleine nie leisten können.

In vielen Konfliktkonstellationen können Landlose, KinderarbeiterInnen und -soldatInnen, Näherinnen und verfolgte Minderheiten im Globalen Süden (und Osten) ihre Lebensbedingungen nur durch (nicht-militärische) internationale Intervention beziehungsweise solidarische Hilfe internationaler Organisationen und Netzwerke verbessern und ihre Rechte durchsetzen. Galtung nannte dies die „große Kette der Gewaltlosigkeit“, durch die die Opfer in der globalisierten Welt erst konfliktfähig werden.11 Denn wenn Frieden in galtungscher Definition vor allem als ein Zustand der gewaltfreien Konfliktaustragung definiert ist, muss es, wie Diana Francis (2002) und Véronique Dudouet (2011)12 ausarbeiten, immer auch darum gehen, durch gewaltfreien Widerstand Konfliktaustragung und »faire Bedingungen« erzwingen zu können. In diesem Sinne brauchen wir keine Wiederbelebung des Prinzips der Nichteinmischung in die Politik souveräner Staaten, wie Schäfer meint, sondern mehr und vor allem besseren Interventionismus – als gelebte internationale Solidarität mit den Machtlosen und Unterdrückten.

Erfolgreicher gewaltfreier Widerstand bedeutet zwar immer auch eine Destabilisierung bestehender Herrschaftssysteme, führt aber nicht immer oder gar automatisch zur Demokratisierung, zumal allein ein Elitenwechsel, wie die Ukrainer nach 2004 lernen mussten, noch keine Demokratie garantiert. Wenn wir realpolitisch davon ausgehen, dass es auch in Zukunft (versuchte) Elitenwechsel geben wird, ist es zielführender, genauer zu schauen, unter welchen Bedingungen diese gelingen und friedenspolitisch sinnvoll sind. Die empirischen Studien von Chenoweth und Stephan belegen die positive Bedeutung gewaltfreien Widerstands. Zum einen führten erfolgreiche gewaltfreie Kampagnen in 57% fünf Jahre nach Ende der Kampagne zu demokratischen Verhältnissen, während weniger als 6% der gewaltsamen Regimewechsel zur Errichtung von Demokratien führten. Interessanterweise zeigt sich der Demokratisierungseffekt von gewaltfreien Widerstandskampagnen sogar dann, wenn die Kampagnen (scheinbar) erfolglos bleiben. In immerhin 35% aller Fälle kam es innerhalb von fünf Jahren nach dem Scheitern doch noch zur Entwicklung einer Demokratie. Zum anderen kommt es nur nach 28% aller gewaltfreien Widerstandskampagnen innerhalb von zehn Jahren zu gewaltsamen Konflikten und Bürgerkriegen, während dies nach 42% aller gewaltsamen Widerstandskampagnen der Fall war. Am gefährlichsten sind Widerstandskampagnen, wenn es weitere gewaltsame Konfliktparteien gibt. Hier kommt es in jedem zweiten Fall (49%) zu einem Bürgerkrieg innerhalb der nächsten zehn Jahre.13

Zivile Aggression?

Schäfer betont, dass zivile bzw. gewaltfreie Methoden nicht harmlos sind, und damit hat er recht. So wäre es meines Erachtens zum Beispiel notwendig, Produkte aus Zwangsarbeit so effektiv zu boykottieren, dass sie unverkäuflich werden. Gleichzeitig würden damit aber weltweit auch Wirtschaftszweige und Überlebensmodelle vieler Menschen bedroht, die sich darin eingerichtet haben. Im Extremfall können gute bzw. gut gemeinte Interventionen sogar zum Auslöser für Kriege werden.

Zudem gibt es eine klare Tendenz staatlicher Organe, zivile (gewaltfreie) Methoden mit kriegerischer Absicht einzusetzen. So erregte letztes Jahr die so genannte »Gerasimow-Doktrin« Aufsehen, die von dem russsischen Armeechef Waleri Gerasimow als Reaktion auf den Arabischen Frühling formuliert und bei der Annexion der Krim erfolgreich umgesetzt wurde. Dabei stellte der russische Armeechef fest: „Die Rolle der nichtmilitärischen Mittel zur Erreichung politischer und strategischer Ziele ist gestiegen und in vielen Fällen mächtiger und effektiver als Waffengewalt.“14 Es ist anzunehmen, dass entsprechende Methoden und Kapazitäten der hybriden bzw. nicht-linearen Kriegsführung auch in den NATO-Staaten und -Stäben entwickelt wurden. Hinreichend bekannt sind die NATO-Ansätze zur Einbeziehung der zivilen Bevölkerung im Rahmen der Zivil-Militärischen Kooperation und Aufstandsbekämpfung. Qualitativ neu an Gerasimows Militärdoktrin, bzw. ein Rückgriff auf Strategien des Kalten Krieges, ist die gezielte Nutzung der politischen Opposition im Feindesland im militärischen Interesse. Im Westen hingegen wurden und werden die militärische und die zivile Sphäre in der Regel bewusst voneinander getrennt, insbesondere dort, wo sich – wie in den Anrainerstaaten Russlands – jegliches militärische Engagement verbietet.

Dabei überrascht es nicht, dass Regime einheimischen Aufständischen stets vorwerfen, vom Ausland gestützt oder gar gesteuert zu werden. Denn unabhängig davon, ob und in welchem Maße eine Unterstützung stattfindet und ob diese wirklich effektiv oder eher hinderlich ist, eignet sich die Diskreditierung als ausländische Agenten immer, um interne Oppositionsgruppen von der Bevölkerung zu entfremden. Aus der Inszenierung als Opfer ausländischer Aggression ziehen autoritäre Regime so viel politisches Kapital, dass der US-amerikanische Politikwissenschaftler Konstantin Ash anlässlich der belarussischen Präsidentschaftswahlen 2015 schlussfolgerte, die beste Unterstützung für die Opposition wäre es, alle Hilfen einzustellen.15

Aber auch ausländische Beobachter neigen dazu, den Einfluss ausländischer Unterstützung systematisch zu überschätzen, teils aus der kolonialistischen Annahme, lokale Bewegungen könnten nie mehr als »Marionetten« (nützliche Idioten) der geostrategisch agierenden Mächte sein, und teils, weil sie ihre Analysen auf der Öffentlichkeitsarbeit oder Materialien von Akteuren, wie dem Center for Applied Nonviolent Action and Strategies (CANVAS), dem International Center for Nonviolent Conflict (ICNC) oder dem Albert Einstein Institute (Gene Sharp) aufbauen. So suggerierte die Zeitschrift »Foreign Policy« die absurde Idee, der Erfolg des Arabischen Frühlings in Ägypten könnte auf die Teilnahme eines Aktivisten an einem einwöchigen CANVAS-Training zurückgeführt werden.16 Es ist zwar auffällig, wie sehr sich die Ideen und Methoden der »Strategischen Gewaltfreiheit« in den letzten zehn Jahren weltweit verbreitet haben, doch ist dies vor allem ein Zeichen für den enormen Bedarf an Demokratie, Mitbestimmung und »Protest«.17

Ich denke, es ist somit auch im Sinne Schäfers, den Begriff der »zivilen Aggression« nicht pauschal auf die Verbreitung von Ideen und Methoden anzuwenden, sondern auf die seltenen Fälle zu begrenzen, in denen eine massive Unterstützung durch ausländische Akteure stattfindet. Betrachten wir die Intensität der Hilfe als ein Kontinuum – von der Verbreitung von Ideen über schützende und stützende Partnerschaften mit Opfern autoritärer Gewalt, die Einbindung dieser in internationale Netzwerke und die direkte Unterstützung lokaler Akteure in ihren politischen Auseinandersetzungen bis hin zur monopolistischen Unterstützung, wenn Erfolg und Bestand einer oppositionellen Gruppierung vorrangig oder allein vom Erhalt der (materiellen) Hilfe aus dem Ausland abhängen – so könnte man allenfalls die letzten zwei Punkte als »zivile Aggression« bezeichnen. Alles darunter, insbesondere die Schaffung internationaler Netzwerke der Zivilgesellschaft, aber auch der Schutz von Regimeopfern und Menschenrechtsschützern, sind nach meinem Ermessen so grundlegend, dass es Aufgabe und Pflicht staatlicher wie nichtstaatlicher Akteure sein muss, diese Hilfestellung zu gewährleisten. Wobei durchaus hinterfragt werden muss, ob die jeweiligen Maßnahmen verhältnismäßig und wirkungsvoll sind und möglichst wenig anderen Schaden anrichten (Do No Harm). Denn auch generell sinnvolle Aktionen können in bestimmten Kontexten Schaden anrichten, zum Beispiel wenn die internationale Arbeit für politische Gefangene in Belarus der dortigen Oppositionsbewegung Anreize setzt, Verhaftungen zu provozieren und politisch auszunutzen, anstatt die eigenen Aktiven effektiv vor Verfolgung zu schützen.18

Was also tun?

Friedens-, Menschenrechts- und Solidaritätsbewegungen und insbesondere ihre professionalisierten (und dennoch zivilgesellschaftlichen) Akteure der Zivilen Konfliktbearbeitung und Entwicklungszusammenarbeit müssen auf diese neuen Entwicklungen reagieren. Teilweise ist dies, wie in der Abwehr der zivil-militärischen Vereinnahmung durch die »NRO-Fazilität für Afghanistan«, bereits geschehen. Auch im Rahmen der (deutschen) Entwicklungszusammenarbeit wurden unter den Stichworten »Konfliktsensibilisierung« und »Do No Harm« wichtige Diskussionen geführt und Leitlinien entwickelt, die allerdings noch nicht durchgängig angewandt werden. Insbesondere die Menschenrechtsarbeit und Demokratieunterstützung in Osteuropa erfolgt jedoch noch weitgehend ohne ausreichendes Verständnis über ungewollte Wirkungen oder »Do No Harm«-Analysen. Diese sind nicht nur notwendig, um Krisen und Eskalationen zu verringern, sondern auch, um die lokalen Partner effektiver vor Repression schützen und wirkungsvoll unterstützen zu können.

Die Demokratieunterstützung in Osteuropa muss die Phase der Rat- und Bedeutungslosigkeit überwinden. Anstatt mit immer neuen Hilfsprogrammen auf bevorstehende Wahlen, Repressionen und Krisen zu reagieren, braucht es langfristig finanzierte, auf nachhaltigen Wandel setzende Mechanismen, wahrscheinlich sogar Institutionen, um die Vielfalt der zivilgesellschaftlichen Beziehungen und Vernetzungen zwischen Ost und West überhaupt nutzen und gemeinsame Strategien entwickeln zu können. Wobei gemeinsam vor allem bedeutet, den Menschen aus den Zielländern endlich zu ermöglichen, ihre eigenen Strategien zu entwickeln und zu schauen, welche Hilfeleistungen sie von uns benötigen, damit gewaltfreier Wandel nicht länger nur trotz, sondern mit westlicher Unterstützung möglich wird.

Anmerkungen

1) Erica Chenoweth and Maria J. Stephan (2011): Why Civil Resistance Works – The Strategic Logic of Nonviolent Conflict. New York: Columbia Universiy Press.

2) Dies könnte auch erklären, weshalb bis heute ein Großteil der zivilgesellschaftlichen Mittel nach Belarus und in die Ukraine, nicht aber nach Moldawien fließt.

3) Es ist weitgehend anerkannt, dass Demokratisierung Kriege auslösen kann und eine Reduzierung von Krieg erst nach Erreichen höherer Demokratiestufen eintritt. Siehe dazu Nils Petter Gleditsch and Havard Hegre: Peace and Democracy – Three Levels of Analysis. Journal of Conflict Resolution, April 1997, Vol. 41 No. 2, S.283-310.

4) Die immer wieder pauschal getroffene Aussage, die USA hätten fünf Mrd. US$ in den Euromaidan investiert, ist allerdings eine grobe Übertreibung, da das zugrunde liegende Zitat der stellvertretenden Staatssekretärin Victoria Nuland alle Hilfen von 1991 bis 2013 umfasst, insbesondere auch Zahlungen an die ukrainische Regierung und für ganz andere Bereiche, wie Gesundheitsreformen und die Vernichtung von Massenvernichtungswaffen. Vgl. dazu Katie Sanders: The United States spent $5 billion on Ukraine anti-government riots. politifact.com/punditfact, 19.3.2014.

5) Wiecks Ansatz stützte sich nicht auf die serbischen Erfahrungen vom Oktober 2000, und die »weiße« Revolution von 2001 wird in der Regel nicht zu den Farbrevolutionen gezählt. Dennoch wurde die von ihm unterstützte unabhängige Wahlbeobachtung, mit der er – angelehnt an die Beobachtung der letzten Volkskammerwahl der DDR – die Wahlfälschungen unter Lukaschenko öffentlich machen wollte, fester methodischer Bestandteil der Farbrevolutionen.

6) Björn Kunter: Belarus: Do No Harm – Forderungen an externe Demokratieförderung. Osteuropa 1/2007, 57. Jg., S.35-48.

7) United States Agency for International Development/USAID (o.J.): Ukraine Country Development Cooperation Strategy 2012-2016.

8) USAID (2014): Final Performance Evaluation of the Ukraine National Initiatives to Enhance Reforms (UNITER).

9) Siehe dazu Robert Lindner: Grenzen von ZIMIK in Afghanistan. W&F 1-2011, S.37-41.

10) Björn Kunter: Bundesregierung und Ukraine – Friedensarbeit braucht Kontinuität. Friedensforum 5/2015, S.28/29.

11) Johan Galtung (1988): Die Prinzipien des gewaltlosen Protestes – Thesen über die »Große Kette der Gewaltlosigkeit«. In: Dokumentation des Bundeskongresses »Wege zur Sozialen Verteidigung« vom 17.-19. Juni 1988. Minden: Bund für Soziale Verteidigung, S.82-92.

12) Diana Francis (2002): People, Peace and Power – Conflict Transformation in Action. London: Pluto Press. Véronique Dudouet (2011): Nonviolent Resistance in Power Asymmetries. In: Beatrix Austin, Martina Fischer, Hans J. Giessmann (eds.): Advancing Conflict Transformation. The Berghof Handbook II. Opladen/Framington Hills: Barbara Budrich.

13) Chenoweth and Stephan 2011 (siehe Fußnote 1), S.209-219.

14) Übersetzung des Autors aus: Valerij Gerasimow: Nowye Wysowy trebujut Pereosmyslenija Form i Sposobow Wedenija boewych Dejstwij (Neue Herausforderungen verlangen ein Überdenken der Formen und Methoden militärischen Handelns). Woenno-promyschlennyj Kurer, No. 8-2013 S 1-2; vpk-news.ru. Eine englische Übersetzung der Gerasimov Rede findet sich in: Mark Galeotti: The »Gerasimov Doctrine« and Russian Non-Linear War. Blogeintrag vom 6.7.2014 auf inmoscowsshadows.wordpress.com.

15) Konstantin Ash: Strategische Repression und eine zersplitterte Opposition sichern Lukaschenkos Macht. Belarus Analysen Nr. 23, 19.10.2015, S.2f.

16) Tina Rosenberg: Revolution U – What Egypt learned from the students who overthrew Milosevic. Feature auf foreignpolicy.com, 17.2.2011.

17) Ich werde jedoch meine Einstellung zu CANVAS revidieren, falls es innerhalb von drei Jahren nach der Veröffentlichung von »Protest! Wie man die Mächtigen das Fürchten lehrt« (Fischer Taschenbuch, 2015) des CANVAS Gründers Srdja Popovic zu einer Farbrevolution in Deutschland kommt.

18) Siehe Beispiel in: Vasilij Pinchuk, Sarah Roßa und Björn Kunter: Handlungsfähig trotz Repression in Belarus. In: Bund für Soziale Verteidigung (Hrsg.): Gewaltfrei im Schatten von Gewalt. Hintergrundpapier Nr. 23, August 2013, S.26ff.

Björn Kunter koordiniert und berät seit über 20 Jahren zivilgesellschaftliche Projekte in Osteuropa, zuletzt für den Bund für Soziale Verteidigung und die KURVE Wustrow – Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion. Von 2002 bis 2005 koordinierte er für das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk das Förderprogramm der Bundesregierung für die Zivilgesellschaft in Belarus.

Wie weiter im Ukraine-Konflikt?

Wie weiter im Ukraine-Konflikt?

Einige Streiflichter und Anregungen zur Debatte

von Paul Schäfer

In den Medien ist die Ukraine in den Hintergrund gerückt, andere Schlagzeilen drängen sich auf die Titelseiten und in die Hauptnachrichten. Der Konflikt um die Zukunft des Landes, insbesondere um die östlichen Landesteile, ist aber keineswegs befriedet, sondern momentan nur nicht so »heiß« wie zuvor. Für Paul Schäfer sind die Vereinbarungen zur Verlängerung des Minsker Abkommens ein Hoffnungszeichen, und er nutzt dies als Ausgangspunkt für seine Überlegungen zu weiteren Schritten. Dabei setzt er sich auch mit den Thesen der jüngst erschienenen Streitschrift »Ukraine-Konflikt und Russlandpolitik«von Herwig Roggemann auseinander.

Der Schritt war unspektakulär und Zeitungen nur eine kurze Notiz wert: In einem Telefonat Ende Dezember vereinbarten die Staatschefs Russlands, der Ukraine, Frankreichs und Deutschlands die Fortdauer des Minsker Friedensabkommens (Minsk II) für das Jahr 2016. Mit dem Minsker Abkommen vom Februar 2015 sollten die Voraussetzungen für eine friedliche Lösung des Ukraine-Konflikts geschaffen werden. Doch wichtige Kernelemente – der Waffenstillstand, der Abzug schwerer Waffen aus der Kampfregion, die Monitoring-Mission der OSZE – wurden immer wieder verletzt und mussten durch Nachverhandlungen wenigstens »im Großen und Ganzen« gesichert werden.

So auch im September 2015, als nach andauernden Kampfhandlungen der Waffenstillstand nur mit Mühe wieder hergestellt werden konnte. Vor den Weihnachtsfeiertagen musste erneut eine Ad-hoc-Vereinbarung über eine Waffenruhe her; auch dieses Agreement wurde gebrochen, und die OSZE-Beobachter, die die Umsetzung überwachen sollen, führten Klage, dass sie weiter an der Durchführung ihrer Arbeit gehindert würden. Berichte vor Ort über die Einnahme eines Vororts von Mariupol durch die Rebellenarmee und über die Befestigung ukrainischer Stellungen um die strategisch wichtige Hafenstadt am Schwarzen Meer lassen zudem nichts Gutes erhoffen. Die Bedenken richten sich darauf, was sein wird, wenn der Winter vorbei, die Regeneration der kämpfenden Einheiten erfolgt und die Neugruppierung der militärischen Kräfte abgeschlossen ist. Ist dann wieder mit dem Aufflammen des Krieges und weiterer militärischer Eskalation zu rechnen?

Andererseits ist die Verlängerung von Minsk II ein klarer Hinweis darauf, dass es zu diesem Abkommen gegenwärtig keine Alternative gibt. Die nächste Bewährungsprobe wird schon für Februar erwartet. Dann sollen in der Donbass-Region gesonderte Lokalwahlen durchgeführt werden. Sie wurden von den Verantwortlichen der so genannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk ursprünglich auf Oktober/November 2015 terminiert, aber nicht zuletzt auf russischen Druck verschoben. Offen ist bei Abschluss dieses Artikels, ob diese Wahlen nach ukrainischem Wahlrecht erfolgen und ob eine ausreichende internationale Beobachtung des Wahlvorgangs möglich sein wird. Mit dieser Kommunalwahl soll ein weiterer Schritt der im Minsker Abkommen festgeschriebenen Dezentralisierung des Landes erfolgen, die allgemein als notwendige Bedingung einer Friedensordnung gilt. Die ukrainische Zentralregierung hat immerhin im Parlament gegen heftigen Widerstand ein Gesetz durchgebracht, das für den Donbass eine Sonderstellung vorsieht. Präsident Poroschenko und andere Regierungsverantwortliche gaben aber zu verstehen, dass diese Regelung nur eine Übergangslösung sei, um den Weg für die international geforderte Übereinkunft frei zu machen .

Stolpersteine und Hoffnungszeichen

Der Weg zu einer dauerhaften Friedenslösung ist also noch mit Stolpersteinen gepflastert. Die Dezentralisierung des Landes ist ja nur die eine Seite der Medaille, die andere ist und bleibt die Wiederherstellung der territorialen Souveränität der Ukraine, die wiederum die vollständige Kontrolle der ukrainischen Außengrenzen durch die Zentralregierung einschließt. Dieser Passus des Minsker Abkommens setzt de facto jedoch voraus, dass u.a. die (wirtschaftlichen) Sonderbeziehungen zwischen der Donbass-Region und der Russischen Föderation von der Regierung in Kiew anerkannt und toleriert werden, sonst ist ein Einlenken der von Russland gestützten separatistischen Bewegungen nicht vorstellbar. Aber wie weit soll diese Verklammerung gehen (gegenwärtig gilt in den »abtrünnigen Republiken« der Rubel als Hauptwährung), wie kann hier eine Normalisierung erreicht werden? Diese und andere Fragen sind in Minsk II keineswegs ausreichend geklärt.

Welches sind also die Perspektiven für 2016 und darüber hinaus? Gibt es Hoffnung oder droht eine weitere militärische Zuspitzung, die auch die auswärtigen Akteure, NATO vs. Russland, an den Rand eines Krieges führen könnte? Der Politikwissenschaftler und emeritierte Professor der Bundeswehr-Universität in Hamburg, August Pradetto, hält es für absehbar, dass sich aus dem Ukraine-Krieg ein »Frozen Conflict« herausbilden wird, da keine Seite von ihren Grundpositionen abrücken wolle, eine militärische Eskalation von den maßgeblichen Kräften aber auch nicht gewollt sei. Kiew hat wohl zumindest vorerst den Versuch aufgegeben, den Konflikt militärisch lösen zu wollen (Florian Niederndorfer 2015).

Auch macht Pradetto auf jüngere Entwicklungen aufmerksam, die das Gesamtszenario verändert hätten: die Fokussierung der EU auf die Flüchtlingsfrage, die Notwendigkeit der Kooperation mit Russland im Kampf gegen den IS in Nahost, aber auch die Machtkämpfe in der Ukraine selbst, die Kriegsmüdigkeit der Mehrheit der Menschen in der Region, die beträchtlichen Kosten des heißen und des kalten Krieges in Gestalt der Sanktionen für alle Seiten. Pradetto weist in diesem Kontext auf die überraschende Rede des US-Vizepräsident Jo Biden im Dezember 2015 vor dem ukrainischen Parlament hin, in der erstmals die andauernde Korruption, Oligarchenherrschaft und die unzureichenden Reformbemühungen der Jazenjuk-Regierung angeprangert werden. Dies sei als Zeichen dafür zu werten, dass die ukrainische Regierung nicht mehr mit bedingungsloser Unterstützung rechnen könne. Hinzuzufügen wäre, dass die internationale Position der polnischen Regierung, die neben den baltischen Staaten auf eine besonders harte Linie »des Westens« gegenüber Moskau drängt, durch den verschärft autoritären Kurs der neuen Regierung im Inneren beträchtlich geschwächt ist.

Mit dieser Einschätzung verbindet sich die Hoffnung, und auch dafür gibt es Anzeichen, dass sich relevante Akteure endlich mehr den sozialen und wirtschaftlichen Problemen des Landes zuwenden könnten, was aktuellen Meinungsumfragen zufolge von 80% der Bevölkerung befürwortet würde. Die Unzufriedenheit mit der Kiewer Regierung hat im Land offensichtlich ein beträchtliches Ausmaß erreicht. Aber nur wenn sich diese Stimmung auch politisch zu artikulieren vermag, wird die dominierende Stellung der herrschenden Oligarchen-Gruppen eingeschränkt werden können. Je länger die Waffen schweigen, je mehr die unmittelbare Konfrontation abgeschwächt wird und Fragen der inneren, gesellschaftlichen Entwicklung den Alltag bestimmen, desto eher wird es möglich sein, den militarisierten Verhältnissen und autoritären Machtstrukturen etwas entgegenzusetzen. Das dürfte insbesondere für die Donbass-»Republiken« gelten (siehe dazu Sengling 2016).

Vorbedingungen für Friedensabkommen

Im Themenschwerpunkt »Friedensverhandlungen« von W&F (Ausgabe 3-2015) wurden in einer Reihe von Beiträgen essentielle Bedingungen für einen tragfähigen Friedensschluss herausgearbeitet:

  • Internationale Vermittlung ist oft eine Vorbedingung, dass überhaupt Verhandlungen zustande kommen, eine Vereinbarung erreicht und deren Umsetzung garantiert werden kann. Allerdings kann es ohne den politischen Willen der Akteure vor Ort keinen Frieden geben. Ob dieser Wille in der Ukraine vorhanden ist, darf bezweifelt werden.
  • Ein Grundproblem gerade in innerstaatlichen Gewaltszenarien ist, dass sich die kämpfenden Seiten wechselseitig jegliche Legitimation absprechen. Das gilt auch in der Ukraine: Während die Kiewer Regierung die Aufständischen für Terroristen und Agenten Moskaus hält, vertreten die Rebellen die Auffassung, in Kiew herrsche eine demokratisch nicht legitimierte, von Faschisten dominierte Junta, die nicht befugt sei, für das Land zu sprechen. Diese vertrackte Konstellation hat bis dato verhindert, dass es überhaupt zu direkten Gesprächen zwischen den unmittelbaren Kontrahenten kam.
  • Die Übereinkunft sollte für die Kriegsparteien möglichst eine Win-win-Situation herstellen. Der zu erreichende Interessenausgleich muss beiden Seiten ausreichend Anreize bieten, damit sie vom absoluten Ziel des militärischen Sieges und damit von der Unterwerfung des Gegners unter den eigenen Willen abrücken. Das Minsk-II-Abkommen bietet für die Ukraine diesbezüglich einen Rahmen, der einigermaßen realistisch beschreibt, was den jeweiligen Kontrahenten abzuverlangen ist und was sie im Gegenzug zu gewinnen haben (beispielsweise einen Sonderstatus für den Donbass). Es hat sich allerdings gezeigt, dass die bisherigen Vertragsgrundlagen weder ausreichend noch konkret genug sind, um auf beiden Seiten das nötige Vertrauen (eine ebenfalls sehr wichtige Kategorie!) für eine dauerhafte Vereinbarung zu schaffen. Es muss also weiter verhandelt werden, und die internationale Diplomatie darf nicht in ihrem Bemühen nachlassen, auch wenn sich das Augenmerk der Medien zwischenzeitlich auf andere Weltgegenden richtet.
  • Ohne eine zivilgesellschaftliche Mobilisierung für einen friedlichen Ausgleich in den »Kriegsgesellschaften« selbst, ohne basisnahe Aussöhnungsprozesse bleiben Abkommen oft Stückwerk und fragil. Der Rückfall in die Gewalt ist dann häufig die Folge. Auch wenn es bescheidene Ansätze zu einer Zivilisierung des gesellschaftlichen Lebens in beiden Teilen der Ukraine gibt, kann von einer gesicherten Grundlage noch lange nicht die Rede sein. Solange die Heroisierung des Krieges anhält, die paramilitärischen Verbände über erheblichen politischen Einfluss verfügen und eine offene und demokratische Auseinandersetzungskultur (Handgreiflichkeiten im Parlament und das Werfen mit Wassergläsern gehören nicht dazu) fehlt, kann es nicht wirklich vorangehen.

Der Befund, dass die »inneren Reibungspunkte« nach wie vor enorm sind und kaum lösbar erscheinen, liegt also nahe. Überdies sind die Blockierungen nicht zuletzt der schon wieder festgefahrenen geopolitischen Konfrontation West (sprich: NATO und EU) versus Russland geschuldet. Und ohne einen Wandel dieses Spannungsverhältnisses ist auch kein Frieden in der Ukraine denkbar.

Streit über die Konfliktursachen

Da kommt eine Streitschrift gerade recht, die Antworten jenseits herrschender Meinungen sucht und ein politisches Programm für eine friedliche Lösung des Konflikts skizzieren will. Herwig Roggemann, ausgewiesener Kenner der Region, am Fachbereich Rechtswissenschaft und am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin als Hochschullehrer tätig gewesen, legt in »Ukraine-Konflikt und Russlandpolitik: Ein Diskussionsbeitrag zum Ukraine-Konflikt für eine neue deutsche und europäische Russlandpolitik« (Sept. 2015, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 106 S.) vierzehn Thesen vor, um den Konflikt auf den Punkt zu bringen und Vorschläge für dessen Lösung zu unterbreiten. Seine Hauptaussage: „Kern des gegenwärtigen Ukraine-Konflikts ist Russlands fehlender Platz in einer paneuropäischen Sicherheits- und Wirtschaftsarchitektur […].“

Die geopolitisch motivierte Erweiterung der westlichen Einflusssphären nach Osten und die Nichtberücksichtigung russischer Sicherheitsinteressen werden von Roggemann als Hauptgründe für die gewaltförmige Eskalation in der Ukraine herausgearbeitet. Die Schrift folgt in ihrem Grundtenor damit früheren Beiträgen von Reinhard Krumm (2014), August Pradetto (2014), Erhard Eppler (2015) und anderen Autoren.

Besonders verdienstvoll in der Streitschrift Roggemanns ist die Auseinandersetzung mit der Sanktions- und Embargopolitik der EU und der USA, deren rechtliche Grundlagen er kritisch prüft und deren politische Rationalität bzw. Irrationalität er ins Visier nimmt. Der dicht gedrängte Text, ergänzt um zahlreiche Literaturverweise, vermittelt hierdurch einen recht guten Überblick über die Debatten. Und es ist unumgänglich, sich mit seinen Argumentationsketten auseinanderzusetzen.

Widersprechen möchte ich ihm allerdings gleich an dieser Stelle in einem wichtigen Punkt: Roggemann bagatellisiert die auf der Krim von russischer Seite eingesetzte Gewalt; dadurch erscheint der Anschluss der Halbinsel an die Russische Föderation als ein Vorgang, der zwar etwas fragwürdig im Verfahren, aber in der Sache völlig berechtigt sei. So einfach liegen die Dinge aber nicht. Warum bezieht sich Roggemann an keiner Stelle auf das Budapester Memorandum von 1994, in dem die Rückgabe der ukrainischen Atomwaffen an Russland mit der Garantie der territorialen Unverletzlichkeit des Landes gerade durch Russland verknüpft wurde? Weiter: Die Maidan-Bewegung wird als unbotmäßige und auch von außen gesteuerte Revolte gefasst, in der es a priori nur um einen Austausch der politischen Elite und um die Durchsetzung einer pro-westlichen und antirussischen Politik gegangen sei. Eine solche pauschale Bewertung wird weder der Sachlage gerecht noch vermag sie zu erkennen, dass die durch den Maidan transportierte Idealisierung Europas (in Gestalt der EU) in der Tat eine nachvollziehbare Chiffre war (und ist), um den miserablen Verhältnissen zu entkommen und u.a. einen Wohlfahrtsstaat zu fordern. Und schließlich schlägt die scharfe Abgrenzung des Autors zur »westlichen« Politik immer wieder in eine Tendenz zur Schönfärberei der russischen Politik um, die der von Roggemann angestrebten öffentlichen Debatte über Friedenslösungen nicht förderlich sein kann. Dass die russische Wirtschaft erheblich schwächelt, hat gewiss mit den unsinnigen Sanktionen zu tun, mehr noch mit weltwirtschaftlichen Entwicklungen (z.B. dem für die Förderländer katastrophalen Sturz des Ölpreises), aber auch damit, dass sich Russland in der Ära Putin allzu sehr und schon allzu lange auf die Exporterlöse der fossilen Energiewirtschaft und der Rüstungsindustrie stützt. Bis heute ist jedenfalls kein strategischer Modernisierungspfad erkennbar, der – folgt man Roggemann – Putin vorrangig am Herzen liege.

Die Komplexität der Ukraine Krise

Der Grundthese Roggemanns zur Hauptursache des Konflikts kann aus meiner Sicht schwerlich widersprochen werden: Ohne die gravierenden Fehler in der Russland-Politik des Westens, ohne den fahrlässigen, weil übereilten und undurchdachten Versuch der »Einverleibung« des postsowjetischen Raums in den je eigenen Herrschaftsbereich (sowohl der NATO wie der EU) wäre es wahrscheinlich nicht zur bewaffneten Konfrontation in der Ukraine gekommen. Lag es doch auf der Hand, dass es Abwehrreaktionen der Russischen Föderation geben würde, die sich an die Wand gedrängt fühlte und nun ihren Platz behaupten will. Die Zeichen haben westliche Regierungen in ihrer Selbstgefälligkeit und Arroganz übersehen, oder sie meinten, sie ignorieren zu können.

Und dennoch kann die These »der Westen war’s« die Komplexität der Konfliktursachen in der Ukraine nicht wirklich erfassen. Felix Jaitner, Politikwissenschaftler an der Universität Wien, der sich in seiner Dissertation (2015a) eingehend mit der Entwicklung Russlands nach 1990/1991 beschäftigte (siehe dazu auch Jaitner 2015b), nimmt die sozialökonomischen und politischen Umwälzungen im gesamten postsowjetischen Raum in den Blick. Er gelangt so zu einer Einschätzung der Rolle, die die »neuen Eliten« in diesen Transformationsprozessen spielten und spielen. Ohne diesen »inneren« Faktor sind die Krisenvorgänge im postsowjetischen Raum – wir reden hier im Kern von zunehmender sozialer Ungleichheit und autoritärer politischer Herrschaft – nicht ausreichend erklärbar. Das hat grundlegend mit Kapitalismus zu tun, dessen Implementierung nicht nur von außen »aufgeherrscht«, sondern auch von inneren Interessengruppen vorangetrieben wurde und wird. In diesem Prozess entwickelten sich innerhalb der neuen nationalen Machteliten je eigene Weltbilder, Gesellschaftskonzepte und Ideosynkrasien (siehe auch die Entwicklung in Polen und Ungarn), die ihrerseits im internationalen Kontext konfliktverschärfend wirken (Hinweise dazu auch bei Tim Neshitov 2015).

Jaitner kommt zu folgendem Schluss: „Auch die Eskalation des Konflikts in der Ukraine resultiert wesentlich aus der spezifischen gesellschaftlichen Entwicklung, die das Land in den letzten 25 Jahren genommen hat. Ein nachhaltiger Friedensprozess in der Region müsste deshalb bei den postsowjetischen Krisenphänomenen ansetzen. Dazu gehört, dem Land eine langfristige Entwicklungsperspektive zu eröffnen, die über die Ausbeutung von Rohstoffen hinausweist. Sonst werden wir auch künftig immer wieder gewaltsame Konflikte zu erwarten haben“. (Jaitner 2015b)

Dieser Ansatz, der sich auch kritisch mit der (Geo-) Politik der Oligarchenherrschaft in Russland unter Putin auseinandersetzt, hat indes nichts mit der hierzulande gerne verbreiteten Vorstellung zu tun, die Krise verdanke sich ganz überwiegend einem neuen postsowjetischen Imperialismus. Schon gar nicht folgt daraus eine Politik der weiteren Isolation Russlands, die mit dem starren Festhalten an den Sanktionen und an neuerlicher militärischer Aufrüstung die Lage immer weiter verschärft. Hieran ändert auch wenig, dass manche Staaten, wie die Bundesrepublik in Gestalt ihres Außenministers, gleichzeitig auch um eine De-Eskalation und eine Friedenslösung bemüht sind.

Neue Russlandpolitik als Schlüssel

Es ist also eine Politik nötig, die kohärent und ernsthaft an einer Einbeziehung Russlands in eine neue Europäische Sicherheitsarchitektur arbeitet. In seiner letzten These entwickelt Roggemann dazu eine Reihe von Vorschlägen, die mir sehr plausibel und erweiterungsfähig erscheinen. Seine Vorschläge für einen Neuanlauf der deutschen und europäischen Russlandpolitik (S.84 ff.) beinhalten folgende Elemente:

  • „Aufhebung der beiderseitigen Sanktions- und Blockadepolitik“.
  • „Anerkennung der militärischen Sicherheitsinteressen Russlands“. Das müsste heißen: Neutralitätsstatus der Ukraine wiederherstellen, zumindest aber Verzicht auf einen NATO-Beitritt in absehbarer Zeit; Wiederbelebung des NATO-Russland-Rates; Wiederaufnahme des im Meseberg-Memorandum (2000) vorgesehenen Konzepts der Bildung eines institutionellen sicherheitspolitischen Rahmens zwischen EU und Russland (gemeinsamer Ausschuss). Dieser Vorschlag wäre noch erheblich auszuweiten: Über das immer noch in der Implementierung befindliche Raketenabwehrprogramm der USA und der NATO muss ebenso gesprochen werden wie über die Wiederbelebung und Weiterentwicklung des 1990 im Rahmen der KSZE angenommenen Wiener Dokuments über vertrauensbildende Maßnahmen (das seitdem mehrfach ergänzt und überarbeitet wurde – zuletzt 2011) und über einen neuen Vertrag über konventionelle Rüstungskontrolle und Abrüstung (KSE III).
  • „Anerkennung der wirtschaftlichen Interessen der Ukraine und Russlands“. Roggemann schlägt die Aussetzung des Assoziierungsabkommens EU-Ukraine und eine Neuverhandlung unter Einbeziehung Russlands vor. Dies sei auch deshalb unabweisbar, weil die Assoziierung der Ukraine für die EU finanziell unverdaulich sei und zudem das Mandat der bisherigen EU-Verträge überschreite. An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass eine solche Außerkraftsetzung des Abkommens angesichts der bereits erfolgten beiderseitigen Unterzeichnung wenig wahrscheinlich ist. Bei aller Kritik am Zustandekommen des Abkommens wäre auch zu bedenken, zu welch neuen Verwerfungen ein solcher Schritt in der Ukraine führen könnte. Auch scheint mir die Forderung, Russland an bilateralen Wirtschaftsverhandlungen zwischen der EU und der Ukraine unmittelbar zu beteiligen, über das Ziel hinauszuschießen; die Notwendigkeit, russische Wirtschaftsinteressen einzubeziehen, bleibt davon unberührt. Die von Roggemann formulierte These der grundsätzlichen (finanziellen) Überforderung der EU-Nachbarschaftspolitik (wo die EU doch schon bei der »Griechenland-Sanierung« am Rande ihrer Kapazität laviert habe) sollte ebenfalls hinterfragt werden. Dass die Finanzhilfen für den Wirtschaftsaufbau der Ukraine von beträchtlichem Umfang sein müssen, steht außer Frage. Das gilt aber ebenso für die von Roggemann zu Recht geforderte Weiterentwicklung der europäisch-russischen »Modernisierungspartnerschaft«. Die »Überforderung der EU« stellt sich als Problem vor allem dann, wenn man im Rahmen des gegenwärtigen neoliberal geprägten Integrationskonzepts der EU verharrt. Dann allerdings scheinen manche Probleme tatsächlich unlösbar. Stattdessen ist ein Nachdenken überfällig, wie man neue Potenziale ökonomischer Wiederbelebung erschließen kann. Dazu muss der stupide Austeritätskurs beendet werden, und es müssen mehr Ressourcen für eine zukunftsfähige Investitionspolitik mobilisiert werden. Durch eine solche, auf die ökologische Erneuerung und den Ausbau der Öffentlichen Daseinsvorsorge gerichtete Wirtschaftspolitik müssten schließlich auch die Finanzmittel generiert werden, die für die Hilfe des Wirtschaftsaus- und -umbaus in den Ländern des Ostens wie des Südens benötigt werden. Für diese Neugestaltung der Wirtschaftsbeziehungen zum beiderseitigen Vorteil werden dringend konkretere Konzepte gebraucht. Das konzeptionelle Nachdenken muss sich auch darauf erstrecken, wie das Spannungsverhältnis zwischen Europäischer Union, assoziierten Staaten und Eurasischer Wirtschaftsunion gelöst werden könnte. Aus diesen Elementen wäre dann ein Rahmen für die Neugestaltung der europäischen (und auch der russischen) »Nachbarschaftspolitik« zu zimmern.
  • „Krim-Vertrag und Donbass-Regelung“. Roggemann schlägt einen zwischen Russland und der Ukraine auszuhandelnden Krim-Vertrag vor, der neben der »Neuzuordnung« der Krim die Garantie von Minderheitenrechten, mögliche russische Kompensationszahlungen und die internationale Anerkennung des Beitritts zur Russischen Föderation beinhalten müsste. Doch einen solchen Vertrag wird es in absehbarer Zeit nicht geben. Also wird es zunächst darum gehen, diesen Streitpunkt bei kommenden Verhandlungen und Regelungen auszuklammern. Leider beschäftigt sich Roggemann nicht damit, wie die Rechtsbrüche bei diesem Anschlussvorgang im Nachhinein geheilt werden könnten, z.B. durch ein von der OSZE überwachtes, ordnungsgemäßes Referendum über die Zugehörigkeit der Krim, was folgerichtig wäre, sieht er den Anschluss doch als unabweisbar und gerechtfertigt an. Unbedingt unterstützenswert sind Roggemanns Überlegungen zu einer Entschärfung der Ukraine-Krise durch Übereinkünfte, in denen die speziellen Wirtschaftsverflechtungen zwischen der Donbass-Region und Russland berücksichtigt und Schritte zur Föderalisierung bzw. Dezentralisierung der Ukraine unter wirksamer internationaler Kontrolle festgelegt werden.
  • „Anerkennung der legitimen Sicherheitsinteressen der Ukraine und der anderen osteuropäischen und kaukasischen Anrainerstaaten [Russlands]“. Roggemann erläutert, es müsste in der Ukraine und den anderen Konfliktregionen ein langfristiges internationales Kontrollregime von OSZE und EU installiert werden, dem u.a. die Überwachung von Vereinbarungen über Gewaltverzicht, Unverletzlichkeit der Grenzen, Minderheitenrechte, Zusammenarbeit und regionale Konfliktregelung obliegen sollte. Das ist m.E. vom Grundsatz her richtig. Dabei sollte aber die größte Priorität auf die Revitalisierung der OSZE und ihre Weiterentwicklung als sicherheitspolitisches Kooperationsinstrument gelegt werden. Die OSZE sollte den künftigen friedenspolitischen Rahmen abgeben! Dabei haben wir es heute mit neuen, vertrackten Problemen zu tun, weshalb die einfache Bekräftigung der KSZE-Schlussakte von 1975 und der Charta von Paris 1991 nicht ausreicht: Was ist mit den Grenzen, die nach 1990/1991 »einseitig« und zum Teil gewaltsam verschoben wurden? Die Rede ist vom Kosovo, von Abchasien/Südossetien ebenso wie von der Krim. Ist eine pauschale Anerkennung des geänderten Status quo überhaupt vorstellbar? In naher Zukunft sicher nicht. Wie also könnten Hilfskonstruktionen aussehen, die neuerliche Gewalt ausschließen und einer gedeihlichen Kooperation zwischen den Staaten der Konfliktregion wenigstens den Weg bahnen?
  • „Die Wiederherstellung der Herrschaft des Rechts im Konfliktraum Ukraine“. Natürlich ist es wünschenswert, dass die Rechtsverletzungen und Gewalttaten während der »Revolte« und während des Bürgerkrieges rechtlich, insbesondere strafrechtlich, aufgearbeitet werden, auch wenn dies nicht einfach wird (was kann mit zeitlichem Abstand überhaupt noch ermittelt werden, was nicht). Dabei wird – wie immer bei schwierigen Versöhnungsprozessen – abzuwägen sein, welche Form der Aufarbeitung sich in diesem konkreten Fall eignet, um nicht das neue »Gleichgewicht des Friedens« zu gefährden (Bsp. Wahrheitskommissionen in Südafrika).

Sehr nützlich scheinen mir die Hinweise Roggemanns, was den verschiedenen Akteuren abverlangt werden muss, soll ein wirklicher Neuanfang gewagt werden:

  • Die EU müsse sich von der Vorstellung verabschieden, als Großmacht an geopolitischen Machtkämpfen beteiligt sein zu müssen; ein partnerschaftliches Verhältnis zur Russischen Föderation sei unumgänglich.
  • Die Regierung in Kiew brauche auf ihrem »Weg nach Europa« einen längeren Atem und müsse zum Kompromiss mit Russland bereit sein – auch um den Preis des Verzichts auf die Krim.
  • Die russische Regierung solle sich von überholten sowjetischen Großmachtansprüchen endlich lösen, die Souveränität ihrer Nachbarländer respektieren und internationale Kontrollregime im Rahmen der OSZE unterstützen.
  • Für die USA wäre es ratsam, so Roggemann, von Interventions- und Aufrüstungsambitionen abzulassen.

Diese Auflistung macht unverkennbar, wie weit wir von einer tragfähigen Friedens- und Sicherheitsarchitektur in Europa entfernt sind. Aber vielleicht kann man aus der Prognose Pradettos bescheidene Hoffnung ziehen: Schon das Einfrieren des bewaffneten Konflikts und die zunehmende Orientierung der Akteure auf die Bearbeitung der sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme wäre ein großer Fortschritt, der zumindest mittelfristig die Tür zu einer Friedensordnung öffnen könnte.

Literatur

Erhard Eppler (2015): Demütigung als Gefahr. Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2015.

Felix Jaitner (2015a): Einführung des Kapitalismus in Russland – von Gorbatschow zu Putin. Hamburg: VSA.

Felix Jaitner (2015b): Ukraine als Exempel. Der Zerfall der postsowjetischen Gesellschaft. Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2015.

Florian Niederndorfer (2015): Politologe – „In der Ukraine tobt ein Machtkampf“. Interview mit August Pradetto. Der Standard (Wien), 27.12.2015.

Reinhard Krumm (2014): Krimkrise – Die Schlafwandler des 21. Jahrhunderts. ipg-journal, 4.3.2014.

Tim Neshitov: Russland und Ukraine – Mythen und Propaganda. Le Monde diplomatique, September 2015.

August Pradetto (2014): Die Ukraine-Krise – Geopolitik und Identität im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen. Die Friedenswarte 1-2/2014

Bettina Sengling (2016): Verloren im Niemandsland. STERN 1/2016, S. 48-60.

Paul Schäfer, Soziologe, Publizist, Mitglied der Redaktion von »Wissenschaft und Frieden«, ist seit langem – u.a. als Abgeordneter des Deutschen Bundestages (2005-2013) – mit europäischer Friedens- und Abrüstungspolitik befasst.