»Die Ukraine wird gewinnen«

»Die Ukraine wird gewinnen«

Einschätzungen aus der Forschung zu Kriegsbeendigungen

von Wolfgang Schreiber

Nach mittlerweile fünf Monaten Krieg1 infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine und angesichts der bisherigen Verluste an Menschenleben stellt sich immer drängender die Frage: Wie kann dieser Krieg beendet werden? Dieser Beitrag versucht den Krieg in der Ukraine in die Erkenntnisse der Forschung zur Beendigung von Kriegen einzuordnen. Ein besonderes Augenmerk wird auf die bisher in diesem Krieg eingesetzten Mittel zur Beendigung (Sanktionen, Waffenlieferungen, diplomatischer Druck) gelegt.

In der deutschen Politik und Öffentlichkeit gibt man sich davon überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird. Da ein direktes militärisches Eingreifen in den Krieg aufgrund der Gefahr einer Eskalation zu einem Dritten Weltkrieg ausgeschlossen ist, sind es vor allem zwei Mittel, die Russland zur Beendigung des Krieges bewegen sollen: Waffenlieferungen an die Ukraine einerseits und die Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland andererseits. Dazu kommt noch ein gewisser diplomatischer Druck, der sich unter anderem in der Resolution der UN-Generalversammlung ausdrückt, in welcher der russische Angriff eindeutig verurteilt wird (UNGA 2022). Dieser Beitrag versucht im Folgenden den Krieg in der Ukraine in die Erkenntnisse der Forschung zur Beendigung von Kriegen einzuordnen.

Bisherige Forschung zu Kriegsbeendigungen

Die Forschung zur Beendigung von Kriegen ist vergleichsweise übersichtlich.2 Ein breiteres Interesse an der Frage zur Beendigung von Kriegen lässt sich erstmals Anfang der 1970er Jahre ausmachen (z.B. Carroll 1970, Iklé 1971). Die nächste Welle breiter Beschäftigung mit dem Thema kann man Mitte der 1990er Jahre beobachten (z.B. Licklider 1993, King 1997, Heraclides 1997).

Statistisch-empirische Untersuchungen zu Kriegsbeendigungen auf der breiten Grundlage einer allgemeinen Kriege- oder Konfliktdatenbank blieben aber eine Ausnahme:3 Bei der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) findet sich in der einschlägigen Publikation zur Datenbank nur ein kurzes Kapitel zu Kriegsbeendigungen (Gantzel und Schwinghammer 1995, S. 160-167). Im Rahmen des Uppsala Conflict Data Program (UCDP) wurde erst 2003 ein Projekt zur Erfassung und Auswertung von Daten zur Beendigung von bewaffneten Konflikten begonnen (Kreutz 2010).

Typen der Kriegsbeendigung

Klassisch wurde bei Forschungen zu Kriegsbeendigungen zwischen zwei Typen unterschieden: Sieg beziehungsweise Niederlage einer Seite oder eine Verhandlungslösung, die formal in einem Friedensvertrag oder Waffenstillstand besiegelt wird. Von den 242 Kriegen, die laut AKUF-Datenbank seit dem Zweiten Weltkrieg beendet wurden, entfallen auf militärische Siege knapp 54 und auf Vereinbarungen etwa 43 Prozent der Kriegsbeendigungen.

Als Ergebnis der Erweiterung der UCDP-Datenbank um Kriegsbeendigungen wurde insbesondere die These aufgestellt, dass zwischen den beiden Grundtypen eine Verschiebung durch das Ende des Ost-West-Konflikts stattgefunden habe: Weniger militärische Entscheidungen und mehr Verhandlungslösungen.

Die Mitte der 2000er Jahre sowohl vom UCDP als auch der AKUF zusammengestellten Daten belegten diese These mit gewissen Einschränkungen auch zunächst. Für die AKUF-Daten bis 2006 ergab sich bei den militärischen Entscheidungen eine Veränderung von gut 54 Prozent während zu etwa 46 Prozent nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes (Schreiber 2011, S. 238). Wie aber den bis 2021 aktualisierten AKUF-Daten aus Tabelle 1 zu entnehmen ist, haben die letzten 15 Jahre dazu geführt, dass es fast keine Unterschiede mehr zwischen den prozentualen Anteilen vor und nach Ende des Ost-West-Konflikts gibt.

gesamt

1945-1988

1989-2021

Summe Militärische Siege

53,7 %

54,2 %

53,3 %

Sieg (Rebellen)

9,9 %

9,2 %

10,7 %

Sieg (Staat)

39,3 %

40,0 %

41,0 %

Sieg (zwischenstaatlich)

4,1 %

5,0 %

3,3 %

Sieg (sonstiges)

0,4 %

0,0 %

0,8 %

Summe Vereinbarungen

43,4 %

42,5 %

44,3 %

Vereinbarung (mit Vermittlung)

32,6 %

30,0 %

35,2 %

Vereinbarung (ohne Vermittlung)

10,7 %

12,5 %

9,0 %

Abbruch

3,3 %

3,3 %

2,5 %

Tabelle 1: Typen der Kriegsbeendigung

Faktoren bei der Beendigung von Kriegen

Wie leicht ersichtlich, haben Auswertungen zu Typen der Kriegsbeendigung ihre Grenzen. Sie sagen wenig darüber aus, unter welchen Bedingungen Kriege beendet werden. Die Benennung von möglichen Faktoren, die zur Kriegsbeendigung beigetragen haben, ist zwar nicht ausschließlich Neuland, wurde bislang nur im Rahmen eines Projektes innerhalb der AKUF an einer der allgemeinen Datenbanken vorgenommen.4 Die in der AKUF herausgearbeiteten Faktoren5 (vgl. Tabelle 2) unterscheiden sich dabei nicht grundlegend von den in der Literatur genannten.

1945-2006

Militärische Situation

74,9 %

Militärische Überlegenheit

60,2 %

Pattsituation

12,8 %

Militärische Erfolge/Niederlagen

1,9 %

Direkte militärische Intervention

8,1 %

Indirekte Interventionen militärischer Art

17,1 %

Externer Druck

26,1 %

Politisch/wirtschaftliche Situation

18,5 %

Regierungswechsel

10,0 %

Heterogenität/Spaltung der Rebellen

14,2 %

Gefangennahme/Tod von Rebellenführern

3,8 %

Sonstiges

14,2 %

alle Nennungen

186,7 %

Tabelle 2: Faktoren bei Kriegsbeendigung

Dass die militärische Situation bei knapp drei Viertel aller Kriegsbeendigungen als Faktor eine Rolle spielt, sollte angesichts der Tatsache, dass wir uns mit Kriegen beschäftigen, kaum verwundern. Direkte militärische Interventionen spielen vor allem auch in der öffentlichen Wahrnehmung eine bedeutende Rolle. Ein weiterer militärischer Faktor sind indirekte Interventionen. Hierunter fallen vor allem Waffenlieferungen, Ausbildungshilfe oder auch aktiv geduldete Rückzugsgebiete für Rebellen. Für Kriegsbeendigungen spielte dabei vor allem aber der Entzug dieser Formen von Unterstützung eine Rolle.

Der wichtigste der nichtmilitärischen Faktoren ist Druck, der von Dritten auf eine oder alle Kriegsparteien in Form von intensiven diplomatischen Bemühungen oder Sanktionen ausgeübt wird. Insbesondere länger andauernde Kriege können die politische oder wirtschaftliche Situation eines Landes oder einer Region so stark beeinflussen, dass dies zu einer Kriegsbeendigung beiträgt. Interessen- und Meinungsunterschiede innerhalb der Kriegsparteien sind ein weiterer Faktor, wenn sie zu Spaltungen oder Wechseln an der Spitze führen. Prominent – aber weniger häufig als Faktor anzutreffen – sind Gefangennahmen oder der Tod von Anführern, die eine Rebellengruppe entweder entscheidend schwächen oder zu einem Kurswechsel bewegen können. Es muss an dieser Stelle deutlich gemahnt werden, dass auch schon King (1997) in seiner Studie für jeden der von ihm herausgearbeiteten Faktoren betonte, dass sie auch in die gegenteilige Richtung, also konflikteskalierend und kriegsverstetigend wirken können.

Der Krieg in der Ukraine und die Forschung zu Kriegsbeendigungen

Welche Rückschlüsse lassen die bisherigen Ergebnisse der Forschung zu Kriegsbeendigungen für den Krieg in der Ukraine zu? Die erste einschränkende Antwort dazu lautet, dass statistische Verteilungen genau dies sind. Es ist daher schlicht nicht vorhersagbar, ob der aktuelle Krieg sich so verhält wie die Mehrheit oder ob er eine Ausnahme darstellt.

Schon die Frage der militärischen Situation lässt sich schwer beantworten: Wann liegt eine militärische Überlegenheit vor? Ist das nur der Unterschied in Material und Truppenstärken? Und – wenn der Krieg weiter andauert – wie sieht die Lage in ein paar Wochen aus? Die Einschätzung der militärischen Situation in einem andauernden Krieg hängt auch von Erwartungen an den zukünftigen Verlauf ab: Wird Russland weitere Gebiete erobern oder wird die Ukraine eine erfolgreiche Gegenoffensive starten können? Oder bleibt der Frontverlauf im Wesentlichen so, wie er sich derzeit darstellt?

Die politische und/oder wirtschaftliche Situation ist ebenfalls ein häufiger Faktor bei der Beendigung von Kriegen. In aller Regel kommt dieser aber erst mit einer gewissen Kriegsdauer zum Tragen. Eine Ausnahme besteht allenfalls dann, wenn der Krieg von vorneherein unpopulär ist. Beides trifft zurzeit weder auf Russland noch die Ukraine zu.

Kommen wir also zu den Faktoren, die NATO- und EU-Staaten derzeit als Mittel einsetzen. Da sind zunächst die indirekten militärischen Interventionen durch Waffenlieferungen für die Ukraine. Wie bereits oben bei der Erläuterung der Faktoren erwähnt, spielt dies für Kriegsbeendigungen vor allem dann eine positive Rolle, wenn diese Form der Unterstützung eingestellt wird. Waffenlieferungen führen im Gegenteil eher zu einer Verlängerung von Kriegen. Z.B. wurden Mitte der 1970er bis Ende der 1980er Jahre auffallend wenige Kriege beendet. In dieser Zeit wurden Kriegsparteien im Rahmen des Ost-West-Konflikts sehr freigiebig aus Moskau oder Washington unterstützt und mit dem Wegfall dieser Unterstützung – meistens in Kombination mit diplomatischen Initiativen – wurden viele dieser Kriege dann Anfang der 1990er Jahre beendet.6 Waffenlieferungen an die Ukraine können also zunächst einmal nur dazu beitragen, dass die Ukraine den Krieg nicht in absehbarer Zeit verliert.

Als zweites bedeutendes Druckmittel setzen EU und NATO Wirtschaftssanktionen gegen Russland ein. Externer Druck ist zwar nach der militärischen Situation der zweithäufigste Faktor, der bei gut einem Viertel aller Kriegsbeendigungen eine Rolle spielt. Allerdings wird in der Datenbank nicht zwischen politisch/diplomatischem und wirtschaftlichem Druck unterschieden. Ein genauerer Blick in die Daten (Probst 2011, S. 280-375) zeigt aber, dass hier vor allem diplomatischer Druck eine große Rolle spielt.7 Dass Wirtschaftssanktionen so selten als mitentscheidender Faktor für Kriegsbeendigungen eine Rolle spielen, hängt auch mit der Natur dieses Mittels ab: Sanktionen können nur dann wirken, wenn es einen substanziellen wirtschaftlichen Austausch zwischen den Sanktionierenden und dem Sanktionierten gibt (vgl. Basedau et al. 2010, S. 3). Das ist zwar zwischen Russland und insbesondere der EU der Fall soweit es um Energierohstoffe wie Gas, Öl und Kohle geht. Diese gegenseitige Abhängigkeit schränkt aber auch die Sanktionsmöglichkeiten ein, da auch für diejenigen, welche Sanktionen verhängen, damit Kosten verbunden sind (Ebd., S. 6): Bestimmte Sanktionen gegen Russland werden daher erst vorgenommen oder angekündigt, wenn die eigene Energieversorgung gesichert scheint. Weitere Faktoren sind, dass es andere Abnehmer für russische Rohstoffe gibt – und nicht unbedingt aus dem Grund, weil diese Russland unterstützen.

Das dritte derzeit gewählte Druckmittel der intervenierenden Staaten ist diplomatischer Druck. Zwar wurde die Resolution der UN-Generalversammlung zur Verurteilung des russischen Angriffskrieges mit einer großen Mehrheit von 141 Ja- zu 5 Nein-Stimmen bei 35 Enthaltungen angenommen. Allerdings ist Russland auch für die Staaten, die der Resolution zugestimmt haben, nicht etwa als Handels- oder auch nur Gesprächspartner diskreditiert. Eine Zeitenwende oder einen Epochenbruch hat für weite Teile der Welt am 24. Februar nicht stattgefunden (Plagemann 2022), wobei die Gründe für einzelne Staaten durchaus unterschiedlich sein können: Traditionelle Verbindungen zu Russland, der Wunsch in den Außenbeziehungen auch in Zukunft mehrere Optionen zu haben, das Verhalten westlicher Staaten in der Vergangenheit ebenso wie die geringe Rücksichtnahme des Westens bei den Sanktionen hinsichtlich der Auswirkungen auf Dritte (vgl. Zumach 2022).

Die Besonderheit des Ukrainekriegs

Es sieht also nicht so aus, als würden im Krieg in der Ukraine in absehbarer Zeit Faktoren zum Tragen kommen, die in der Vergangenheit zu Kriegsbeendigungen beigetragen haben. Auch wenn man sich die Frage stellt, welche ähnlichen Kriege es in der Vergangenheit gegeben hat, sind die Aussichten für ein baldiges Ende des Krieges eher schlecht. Am ehesten lässt sich der Krieg Russlands gegen die Ukraine mit anderen Kriegen vergleichen, wo eine Großmacht einem vermeintlich militärisch unterlegenen Gegner gegenüberstand. Wenn es keine schnellen Siege gab, wie beim Ungarn-Aufstand, oder den Kriegen der USA gegen Grenada oder Panama, so dauerten diese Kriege vergleichsweise lang. Insbesondere für die Erkenntnis, dass ein Krieg nicht zu gewinnen ist, brauchten Großmächte in der Regel lange: Dies galt für Vietnam ebenso wie für die Kriege sowohl der Sowjetunion als auch der USA in Afghanistan.

Inzwischen warnte auch NATO-Generalsekretär Stoltenberg davor, dass der Krieg in der Ukraine Jahre dauern könnte (Tagesschau 2022). Angesichts der bisherigen Opferzahlen würde das Zehntausende von weiteren Toten bedeuten. Was könnte also eine Alternative sein? Zwar erst als Punkt 14, aber dennoch markant platziert fordert die UN-Generalversammlung in ihrer Resolution zur Verurteilung des Angriffs Russlands „nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel“ (UNGA 2022).

Anmerkungen

1) Durch die Aussage „fünf Monate“ darf nicht übersehen werden, dass in der Ostukraine bereits seit 2014 ein Krieg mit russischer Beteiligung stattfindet.

2) Ein Überblick zum Forschungsstand findet sich bei Probst 2011, S. 21-85.

3) Die knappen statistischen Analysen der aktuellsten Publikation des Projektes »Correlates of War« gehen auf Fragen der Kriegsbeendigung nicht ein (Sarkees und Wayman 2010, S. 562-569).

4) Licklider 1993, Heraclides 1997 und King 1997 haben jeweils eigene Datensätze mit begrenzten Zeiträumen oder Konfliktgegenständen erstellt.

5) Die Daten der Tabelle 2 beziehen sich nur auf den Zeitraum 1945-2006. Eine Aktualisierung dieser Daten war – anders als für Tabelle 1 – für diesen Beitrag aufgrund der höheren Komplexität nicht möglich. Die Faktoren summieren sich auf über 100 Prozent da mehrere Faktoren zusammen zu einer Kriegsbeendigung beigetragen haben können.

6) Das lässt sich auch dem im Rahmen des UCDP erstellten Datensatz zur externen Unterstützung in bewaffneten Konflikten entnehmen (Högbladh et al. 2011; der zugehörige Datensatz unter ucdp.uu.se/downloads/).

7) Das gilt noch mehr für zwischenstaatliche Kriege, wo dieser Faktor bei über einem Drittel der Kriegsbeendigungen als relevant eingestuft wurde (Probst 2011, S. 110).

Literatur

Basedau, M.; Portella, C.; von Soest, Ch. (2010): Peitsche statt Zuckerbrot: Sind Sanktionen wirkungslos? (GIGA Focus Global 11/2010), Hamburg.

Carroll, B. A. (1970): War termination and conflict theory: Value premises, theories and policies. In: Annals of the American Academy of Political and Social Science 392(1), S. 14-29.

Gantzel, K. J.; Schwinghammer, T. (1995): Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 bis 1992. Daten und Tendenzen. Münster: LIT Verlag.

Heraclides, A. (1997): The ending of unending conflicts: Separatist wars. In: Millennium: Journal of International Studies 26(3), S. 679-707.

Högbladh, S.; Pettersson, Th.; Themnér, L. (2011): External support in armed conflicts 1975-2009 – presenting new data. Unveröffentlichtes Manuskript, International Studies Association Convention in Montreal 2011.

Iklé, F. Ch. (1971): Every war must end. New York: Columbia University Press.

King, Ch. (1997): Ending civil wars – Adelphi Paper 308. Oxford/New York: Oxford University Press.

Kreutz, J. (2010): How and when armed conflicts end. Introducing the UCDP conflict termination dataset. In: Journal of Peace Research 47(2), S. 243-250.

Licklider, R. (1993): How civil wars end: Questions and methods. In: Ders. (Hrsg.): Stopping the killing. How civil wars end. New York: New York University Press, S. 3-19.

Plagemann, J. (2022): Die Ukraine-Krise im globalen Süden: kein “Epochenbruch” (GIGA Focus Global 2/2022), Hamburg.

Probst, M. (2011): Kriegsbeendigungen. Eine empirische Analyse der Faktoren und Prozesse der Deeskalation von Kriegen. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag.

Sarkees, M. R.; Wayman, F. W. (2010): Resort to war 1816-2007. Washington: Sage.

Schreiber, W. (2011): Wie Kriege enden. In: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hrsg.): Krieg im Abseits. „Vergessene Kriege“ zwischen Schatten und Licht oder das Duell im Morgengrauen um Ökonomie, Medien und Politik. Wien/Berlin: LIT Verlag, S. 233-249.

Tagesschau (2022): Stoltenberg zur Ukraine NATO rechnet mit langem Krieg. 19.06.2022.

UNGA (2022): Resolution der Generalversammlung A/RES/ES/11/1. 18.3.2022.

Zumach, A. (2022): Selektivität und doppelte Standards. Die UNO vor dem Rückfall in die Blockaden des Kalten Krieges. In: W&F 2/2022, S. 21-23.

Wolfgang Schreiber, Dipl.-Math., ist Lehrbeauftragter und Leiter der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Universität Hamburg.

Friedenslogik statt Kriegslogik

Friedenslogik statt Kriegslogik

Zur Begründung friedenslogischen Denkens und Handelns im Ukrainekrieg

von Mitgliedern der AG Friedenslogik der PZKB

Am 24. Februar 2022 hat Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Es ist zwar nicht der erste Krieg nach Ende des Ost-West-Konflikts. Auch ist der Krieg in der Ukraine nicht der einzige, der derzeit geführt wird. Er ist aber der gefährlichste, drohen hier doch mit den NATO-Staaten und Russland die größten Atommächte aufeinanderzuprallen. Sein Eskalationsrisiko bis hin zu einem dritten Weltkrieg ist enorm. Wie konnte es so weit kommen? Schließlich weckte das Ende der Systemkonfrontation 1989/90 doch Hoffnungen auf eine Ära des Friedens und der Kooperation in Europa. W&F dokumentiert an dieser Stelle in gekürzter Form die zweite Stellungnahme aus der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (PZKB) zum Krieg gegen die Ukraine.

Nach dem Ende des Systemkonflikts ist in Europa letztlich keine Friedensordnung entstanden, in der sich alle Beteiligten auch sicherheitspolitisch gut aufgehoben gefühlt hätten. Vielmehr handelte es sich um eine asymmetrische Machtordnung zu Lasten Moskaus. Mithin fehlte es auch an einer inklusiven Einrichtung, die zur konstruktiven Transformation auftauchender Konflikte in der Lage gewesen wäre: Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wurde schon früh politisch marginalisiert; der NATO-Russland-Rat konnte als Institution einer machtpolitisch asymmetrischen Kooperation diese Lücke nicht füllen. Schon lange vor dem Krieg dominierten bei sämtlichen Konfliktbeteiligten sicherheitslogische Denkweisen: Dementsprechend betonten die Akteure (1.) nicht nur die Bedrohungen für das Eigene, sondern sie sahen (2.) Probleme ausschließlich oder zumindest maßgeblich durch andere Akteure verursacht, sie griffen (3.) zu Maßnahmen der Gefahrenabwehr und gegebenenfalls der Verteidigung, sie betonten (4.) den Vorrang eigener Interessen und deuteten den rechtlichen wie politischen Normbestand entsprechend um, und sie neigten (5.) unter Verzicht auf Selbstkritik zur Bestätigung des eigenen Handelns.1

Aufgrund dieser Sichtweise waren alle Parteien schon seit Längerem eher zur Konfrontation als zum Ausgleich disponiert: Die NATO wollte ihre Rolle als Hegemonialakteur behaupten und verweigerte in Sachen Osterweiterung sub­stantielle Zugeständnisse an Russland. Die Ukraine setzte ihren – im eigenen Land je nach Region unterschiedlich stark umstrittenen – Kurs zur NATO-Integration ohne Rücksicht auf russische Bedrohungsperzeptionen konsequent um. Und ein zusehends autoritär und national-chauvinistisch ausgerichtetes Russland pochte sowohl auf seine geostrategischen Sicherheitsanliegen als auch auf seine imperialen Ansprüchen nicht zuletzt gegenüber der Ukraine.

Friedenslogische Positio­nierungen im Ukrainekrieg

Wie lassen sich angesichts der Kriegsbilder aus der Ukraine und des hiesigen Kriegsdiskurses überhaupt noch friedenslogische Positionen vertreten? Zunächst müssen wir einräumen, dass auch wir Ungewissheiten und Dilemmata aushalten müssen: Wir wissen nicht, wie weit die russische Regierung in der Ukraine (und eventuell auch darüber hinaus) bereit ist zu gehen. Wir wissen angesichts der Kriegsentschlossenheit der Parteien und der Rücksichtslosigkeit des russischen Aggressors nicht, ob das friedenslogische Handlungsspektrum jetzt oder zumindest in absehbarer Zukunft eine wirkliche Chance erhalten wird, den Krieg und das Leid der Menschen nachhaltig zu beenden. Einige von uns stellen sich daher die Frage, ob nicht auch einzelne Maßnahmen jenseits der Friedenslogik ergriffen werden müssten. Allerdings haftet auch dem Handlungskatalog der Sicherheits- oder gar der Kriegslogik die gleiche Ungewissheit an. Daher gilt es dringend, vor einem bellizistischen Fehlschluss zu warnen: Nur weil Friedenslogik nicht zum gewünschten Ergebnis führen könnte, bedeutet das lange noch nicht, dass Sicherheitslogik und Kriegslogik hier verlässlicher wären. Eher dürfte sogar das Gegenteil der Fall sein, nämlich dass sicherheits- oder gar kriegslogisches Handeln die Gewalt immer weiter verschlimmert.

Friedenslogische Imperative gegen den Ukrainekrieg

Die friedenslogische Heuristik lässt sich im Kriegskontext in handlungsorientierten Imperativen zuspitzen. Sie lauten:

Alles dafür zu tun, um (1.) die Gewalt zu beenden, (2.) den Konflikt zu deeskalieren und konstruktiv zu transformieren, (3.) Opfer zu schützen und Leid zu mildern, (4.) Völkerrecht und Menschenrechte zu stärken und (5.) Selbstreflexion und Empathie zu fördern.

Das bedeutet auch, alles zu unterlassen, was der Realisierung dieser Ziele entgegenliefe. Die Imperative adressieren prinzipiell alle staatlichen Akteure von der Weltstaatengemeinschaft und ihren Organisationen über regionale Arrangements bis hin zu einzelnen Staaten einschließlich der Kriegsparteien. Sie richten sich aber auch an die Akteure der gesamten Zivilgesellschaft von internationalen und nationalen Nichtregierungsorganisationen bis hin zu den einzelnen Bürger*innen und deren Initiativen. Sie alle sind gefordert, an ihrem Ort im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten im Sinne des Friedens zu handeln.

(1.) Gewaltbeendigung

Der Imperativ der Gewaltbeendigung verlangt zunächst danach, die Gewalt nicht weiter zu befeuern. Die bisherigen Waffenlieferungen haben den Krieg nicht gestoppt, sondern immer weiter in ihn hineingeführt. Sie tragen zu seiner Verlängerung und weiteren Brutalisierung bei. Aber auch die massiven ökonomischen und finanziellen Sanktionen könnten nicht nur den erhofften Effekt zeitigen und die russische Kriegsmaschinerie zum Stillstand bringen, sondern sie sogar weiter anheizen, indem sie dazu animieren, mit immer massiveren Angriffen schneller ans Ziel zu kommen. Nötig wäre stattdessen aber der Fokus auf eine kluge, alle Ebenen und Kanäle einbeziehende Krisendiplomatie, die den Parteien einen gesichtswahrenden Ausstieg aus dem Krieg ermöglicht. Hier bedarf es eines weitaus stärkeren Engagements, um die Verhandlungen wieder voranzubringen.

Wenngleich der Ukraine das Recht auf (auch militärische) Selbstverteidigung zusteht, wäre es dringend geboten, vermehrt auf friedenslogische Alternativen zu einem sich immer weiter entgrenzenden Verteidigungskrieg zu setzen, die sich am Ziel des Gewaltabbaus und der Gewaltbeendigung orientieren. Dazu zählen ergänzend zur unverzichtbaren Krisendiplomatie beispielsweise gewaltfreie Proteste gegen die Invasoren ebenso wie Maßnahmen sozialer Verteidigung, die durch Kooperationsverweigerung den Aufenthalt für die Besatzer erschweren. Gleiches gilt für Kriegsdienstverweigerung und Desertion, die Signale der Tat gegen den Krieg senden.

(2.) Konfliktdeeskalation und Konflikttransformation

Der Imperativ der Konfliktdeeskalation impliziert vor allem, zu verhindern, dass die NATO aktive Kriegspartei wird. Das Bündnis und einzelne Mitgliedstaaten balancieren schon auf ganz schmalem Grat: Dafür stehen beispielsweise die permanente massive Aufrüstung der Ukraine mit immer leistungsfähigerem und zusehends offensivtauglichem Kriegsgerät, die immense finanzielle Militärhilfe sowie Diskussionen über die Einrichtung einer von der Allianz durchzusetzenden Flugverbotszone. Angehörige ukrainischer Streitkräfte werden mittlerweile auch in Deutschland auf US-Stützpunkten und in der Artillerieschule Idar-Oberstein ausgebildet, was gemäß eines Gutachtens der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags „den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen“2 würde. Insofern sollte die NATO den Ritt auf der sprichwörtlichen Rasierklinge einstellen.

Stattdessen müsste es ergänzend zur gewaltbeendenden Krisendiplomatie um eine konstruktive Transformation dieses vielschichtigen Konflikts gehen, in dem sich Auseinandersetzungen innerhalb der Ukraine zwischen Kiew und den Separatistengebieten im Osten des Landes, zwischen der Ukraine und Russland sowie zwischen Russland und dem Westen überlagern. Dazu hätten alle Beteiligten sich nicht nur von einseitigen, gewalt­orientierten Durchsetzungsstrategien zu verabschieden, sondern auch an ihren Dominanzansprüchen bzw. Maximalforderungen Abstriche zu machen. Dass Kiew im Kontext der Istanbuler Verhandlungen Ende März einen Neutralitätsstatus, wenn auch mit Sicherheitsgarantien versehen, ins Spiel gebracht hat, weist in die richtige Richtung.

(3.) Opferschutz und Leidmilderung

Der beste Weg, den Imperativ des Opferschutzes und der Leidmilderung zu verwirklichen, wäre die sofortige Beendigung der Kampfhandlungen. Solange der Krieg jedoch andauert, sollte der Fokus nicht länger auf der Kampfkraftsteigerung der ukrainischen Streitkräfte als den mutmaßlichen Beschützern, sondern auf den Menschen selbst liegen, die Opfer von Gewalt geworden sind oder zu werden drohen. Alle, die die Kampfregionen bzw. das Land verlassen wollen, sollen dies tun können. Es heißt also vornehmlich, sichere Fluchtwege zu vereinbaren und zu organisieren, Geflüchtete in der Erstankunft professionell zu betreuen und ihnen einen sowohl sicheren als auch würdigen Aufenthalt im Zufluchtsland zu garantieren. Menschen, die das Land nicht verlassen können oder wollen, ist freier Zugang zu humanitärer Hilfe zu gewährleisten. Dafür müssten von allen Kriegsparteien akzeptierte humanitäre Korridore eingerichtet werden, damit Hilfsgüter sicher an Ort und Stelle gelangen. Ein zumindest zeitweiliger Waffenstillstand würde die Bewältigung dieser Aufgabe erleichtern, da sich aufgrund der Kriegsdauer die Versorgungs- und Gesundheitslage der Bevölkerung in den umkämpften Gebieten dramatisch zuspitzt.

(4.) Stärkung von Völkerrecht und Menschenrechten

Dieser Imperativ zielt auf die Verteidigung bzw. die Stärkung des Völkerrechts sowie der Menschenrechte, auf die sich auch die Friedenslogik bezieht. Diese sind mit dem Angriffskrieg und den bislang dokumentierten Kriegsverbrechen massiv verletzt worden. Wenngleich sowohl die UNO-Generalversammlung als auch der Internationale Gerichtshof das Vorgehen Russlands verurteilt und somit die Gültigkeit des bestehenden Normsystems bekräftigt haben, geschieht doch die Befolgung völkerrechtlicher Standards durch Staaten auf freiwilliger Basis. Weitere Kriegsverbrechen in der Ukraine können daher zwar nicht effektiv unterbunden werden, möglich bleiben jedoch symbolische Gesten und Appelle an die Kriegsparteien, die Zivilbevölkerung zu verschonen. An – auch zukünftiger – Bedeutung nicht zu unterschätzen sind zudem die Bemühungen nichtstaatlicher Akteure, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Insbesondere nach den Gräueltaten in Butscha ist dies von großer Dringlichkeit und sollte unbedingt unterstützt werden. Zu werben wäre für eine unabhängige und angemessen ausgestattete – etwa von der OSZE mandatierte – Beobachtermission, die zur Verifizierung der Geschehnisse einen wertvollen Beitrag leisten und bestenfalls sogar gewaltmindernde Wirkung erzeugen könnte. Dagegen stehen Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den russischen Präsidenten Putin und seine Führungsmannschaft in einem Spannungsverhältnis zu anderen Imperativen der Friedenslogik, da ein internationaler Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen gegen die Verantwortlichen kaum ihre Verhandlungsbereitschaft in Bezug auf überlebensnotwendige humanitäre Hilfe für die ukrainische Bevölkerung und eine möglichst rasche Beendigung der Kriegshandlungen fördern dürfte. Nichtsdestoweniger sollte die Dokumentation von Kriegsverbrechen auch auf dieser Ebene fortgeführt werden, stehen sie doch auch für den Befolgungsanspruch eines Völkerrechts, das auf Friedensförderung und Gewaltächtung ausgelegt ist.

(5.) Selbstreflexion und Empathie

Dieser letzte Imperativ verlangt nach kritischer Selbstreflexion im friedenslogischen Modus, der die eigenen Anteile sowohl am langen Weg in die Konfrontation seit Ende des Systemkonflikts als auch an der Zuspitzung der letzten Jahre gerade nicht tabuisiert, sondern bewusst thematisiert. Die Kehrseite heißt Empathie. Diese bezeichnet das Bestreben, die Sichtweise der jeweils anderen Konfliktparteien einzunehmen, um sie besser verstehen zu können, ohne sie deshalb gutheißen zu müssen. Der Imperativ adressiert die Kriegsparteien selbst, aber auch alle anderen am Konflikt Beteiligten. Zwar hat im Westen bereits eine öffentliche Selbstvergewisserungsdebatte eingesetzt. Allerdings läuft sie bislang im Wesentlichen darauf hinaus, jegliche (vergangene, aktuelle und zukünftige) Friedenspolitik als naiv zu disqualifizieren und reflexartig für mehr Aufrüstung zu plädieren. Die friedenslogische Antwort auf die Frage, ob die Politik des Westens an zu wenig oder zu viel Friedenspolitik gescheitert sei, lautet aber: an zu wenig. Was nach dem Ende des Systemkonflikts in Gesamteuropa entstanden ist, war eben keine zur konstruktiven Konflikttransformation fähige Friedensordnung, in der alle Beteiligten gleichberechtigt mitwirken konnten, sondern eine vom Westen dominierte asymmetrische Machtordnung, in der Moskaus schon früh geäußerten Einwände ignoriert und seine Initiativen nicht aufgegriffen wurden.

Selbstreflexion bedeutet auch, aus den eigenen Fehlern zu lernen, um sie bei der Neugestaltung der europäischen Ordnung nachdem Ende des Ukrainekriegs zu vermeiden. Zu diesen Korrekturverpflichtungen gehört auf westlicher Seite nicht nur das geostrategische Handlungsprogramm, sondern auch die innere Haltung, auf der es beruht: Demut eingedenk eigener Verfehlungen und eigener limitierter Gestaltungsfähigkeiten, Besinnung auf die Begrenztheit eigener Ansprüche auf die jeweils legitimen Anliegen, Anerkennung der prinzipiellen Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung des politischen Gegenübers, Anerkenntnis der Ungeeignetheit militärischer Mittel für eine gezielte Gestaltung friedensverträglicher inner- wie zwischenstaatlicher Verhältnisse sowie Akzeptanz der Untauglichkeit konfrontativer Strategien für die Gewährleistung eines dauerhaft stabilen negativen Friedens.

Plädoyer für ein Projekt der »Gemeinsamen Sicherheit wider Willen«

Auch wenn es derzeit nur schwer vorstellbar sein mag: Bereits jetzt muss über eine mögliche Ordnung nach dem Ende des Ukrainekriegs nachgedacht werden. Sogar ein Frieden, der sich auf das Ziel einer Vermeidung neuer Kriege beschränken würde, ist nur mit und nicht gegen Russland zu haben. Dabei gilt es, die gegenwärtige Begrenzung des Denkraums auf einen »Kalten Krieg 2.0« zugunsten einer Ordnung zu erweitern, die möglichst viele friedenslogische Elemente adaptiert und damit die Chance zur weiteren Friedensentfaltung impliziert. Diese Nahzielperspektive ließe sich, angesichts der gegenwärtig feindschaftlichen Beziehungsmuster, in der Formel einer »Gemeinsamen Sicherheit wider Willen« verdichten. Sie wird wohl die Identifizierung von Dissensen einschließen und Möglichkeiten ihrer weiteren Bearbeitung aufzeigen müssen.

Für ein solches Projekt wäre die OSZE der am besten geeignete Ort, handelt es sich doch um eine inklusive Einrichtung der Staatenwelt mit Scharnieren in die Gesellschaftswelt: Sie stellt schon jetzt den erforderlichen gesamteuropäischen Rahmen zur Verfügung, in dem alle direkt wie indirekt am Ukrainekonflikt Beteiligten formal gleichberechtigt eingebunden sind. Und die neutralen und nicht-paktgebundenen Teilnehmerstaaten können hier strukturell abgesichert ihre wertvollen Erfahrungen bei der Auflösung festgefahrener Konstellationen mobilisieren.

Ein Projekt der »Gemeinsamen Sicherheit wider Willen« dürfte aber nicht allein an die Staatenwelt delegiert werden. Vielmehr bedarf es der Vorbereitung und Unterstützung durch solche zivilgesellschaftlichen Akteure samt ihrer Netzwerke, die über einschlägige Erfahrungen im Bereich der Mediation und anderer Verfahren konstruktiver Konflikttransformation verfügen.

Der Text wurde am 11. Mai 2022 auf der Homepage der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung veröffentlicht (pzkb.de/friedenslogik-statt-kriegslogik/).

Anmerkungen

1) Siehe hierzu auch: »Für konsequent friedenslogisches Handeln im Ukraine-Konflikt.« Stellungnahme aus der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (17. Februar 2022).

2) Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag (2022): Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme (WD 2-3000-019/22), S. 6.

Verfasser*innen und Unterzeichner*innen aus der AG-Friedenslogik: Annette Fingscheidt, Wilfried Graf, Sabine Jaberg (Federführung), Christiane Lammers, Jochen Mangold, Angela Mickley, Beate Roggenbuck.

Vor dem Sturm

Vor dem Sturm

Eindrücke aus der Ukraine im Oktober 2021 – eine episodische Konfliktannäherung

von Lisa Neal

Beschreibungen des Überfalls auf die Ukraine beziehen sich oft auf geopolitische Zusammenhänge und Psychogramme Putins. Die inneren Konflikte der Ukraine stehen dabei selten im Fokus. Dennoch gehören sie zur Geschichte des bewaffneten Konflikts. Die Autorin reiste im Herbst 2021 kurz vor der Eskalation durch die Ukraine und nähert sich in Episoden den Konflikten im Land an.

Die Ukraine ist das Land, wo zuletzt Menschen für die europäische Fahne gestorben sind“, sagt eine Aktivistin in Kiew. Ich kann ihren Namen nicht nennen.

Im Oktober 2021 bin ich für zehn Tage in einem Land unterwegs, in dem seit 2014 ein von der Weltöffentlichkeit weitgehend vergessener Krieg herrscht. Heute kennt die ganze Welt die Bilder aus Butscha.

2014 erklären prorussische Separatistengruppen im Osten der Ukraine die beiden Verwaltungsgebiete Donezk und Luhansk für unabhängig. Die Separatisten sollen von Russland unterstützt sein. Russische Soldaten besetzen im Süden des Landes die autonome Region Krim. In einem international weitgehend nicht anerkannten Referendum stimmen laut der regionalen prorussischen Regierung die Bewohner*innen der Krim für einen Anschluss an Russland. Trotz eines vereinbarten Waffenstillstands kommt es immer wieder zu Schüssen (Pleines 2022). Die ukrainische Seite zeigt sich beunruhigt über die rund 90.000 russischen Soldaten nahe ihrer Grenze. Ukrainer*innen warnen die Welt vor dem, was sich zusammenbraut. Zu Recht, wie sich wenige Monate später herausstellt. Doch die Welt hört noch nicht zu.

Schon lange prägen Kämpfe um Unabhängigkeit und um die Ausrichtung nach Westen oder Osten die Geschichte der Ukraine. Der Krieg hat bis zu meinem Besuch im Oktober 2021 nach Angaben der UN-Menschenrechtsbeauftragten schätzungsweise mehr als 13.000 Todesopfer gefordert. Er knüpft an eine lange komplizierte Geschichte an.

Als Auslöser für die erneute gewaltsame Eskalation gilt die Weigerung des damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch im November 2013, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union doch nicht zu unterschreiben. Stattdessen will er sich nach Russland orientieren. Es kam zu landesweiten Protesten, welche ihn sein Amt kosteten. Seitdem bemühten sich die nachfolgenden Regierungen um die Aussicht auf einen EU-Beitritt. Doch damit sind nicht alle Ukrainer*innen einverstanden.

Die Gräben beschränken sich nicht auf die umkämpften Gebiete. Sie ziehen sich durch die Köpfe und Herzen der Menschen im ganzen Land. Wo und wie zeigen sie sich?

Kiew: „Heb den Müll auf, wir sind jetzt Europa“

Kiew ist eine leise, bergige Stadt. Die Blätter an den Bäumen sind goldgelb, es riecht nach warmer Herbsterde. Im Stadtbezirk Schewtschenko steht das Denkmal der Völkerfreundschaft, ein großer Steinbogen, der davorstehende Menschen auf Ameisengröße schrumpfen lässt. Er soll die »Bruderfreundschaft« mit Russland symbolisieren. Für den aktuellen Krieg ist ein blitzförmiger Bruch aufgeklebt – aber nicht eingemeißelt. Vom Bogen aus öffnet sich der Blick über den Fluss Dnepr und die nächtliche Stadt. In weiter Entfernung stehen Hochhäuser mit harten eckigen Neonlichtern. „Die Schlafstadt“, erklärt eine Ukrainerin. Die Mieten in den leisen Straßen mit Steinhäusern sind zu hoch. Wie in fast jeder Großstadt dieser Welt.

An den meisten Regierungsgebäuden hängt neben der gelb-blauen ukrainischen Fahne die europäische Flagge. „Heb den Müll auf, wir sind jetzt Europa“, heißt es aus einer anonymen Quelle. Ein europäisches Bewusstsein dringt in den letzten sechs Jahren noch mehr durch, seit es eine visumsfreie Einreise für Ukrainer*innen in die EU gibt. Wer aus dem Westen der Ukraine stammt, dem wird innerhalb des Landes schnell eine proeuropäische Gesinnung unterstellt und wer im Osten der Ukraine lebt und Russisch spricht, dem wird eine prorussische Einstellung nachgesagt. So einfach ist es nicht. Ukrainisch und Russisch gehören beide zu den Hauptsprachen des Landes. In Odessa, an der Erklärtafel zum Denkmal für die russische Zarin Katharina die Große, werden sowohl der ukrainische als auch der russische Text beide mit der ukrainischen Flagge gekennzeichnet. Weder Sprache noch Wohnort reichen aus, um die Menschen zu verorten. Die Orientierung nach Osten oder Westen hängt von persönlichen Geschichten ab, wie Ukrainer*innen mir auf dieser Reise immer wieder aus ihren Erfahrungen berichten.

Krim und Slawjansk: Wo der Krieg begann

Die Krim ist eine Halbinsel im Schwarzen Meer. Glaubt man ihren indigenen Bewohner*innen, den Krimtataren, so ist sie der schönste Ort, an dem ein Mensch leben kann. Die Mitglieder des Medschlis in Kiew – der zentralen Exekutivkörperschaft des Kurultai der Krimtataren – halten sich laut eigener Aussage mittlerweile an den Grundsatz der Gewaltfreiheit. Im Gespräch mit mir wirken sie freundlich, ein bisschen abgekämpft. In ihrer Exilvertretung in Kiew steht eine Vitrine voller Geschenke ausländischer Besucher*innen, die meisten Dinge darin sind Türkisch beschriftet. Für die sunnitischen Krimtataren ist die Krim eng mit ihrer Identität verbunden. Diese zu bewahren bedeutet, zu überleben. Heimkehren auf die Krim: Darin liegen Heilung und Glück, der Wunsch wird zu einem Gebietsanspruch (GfbV 2015). Diese Geschichte wird von Generation zu Generation beschworen. Was in Kriegen zeitweise verloren geht, ist die Sprache, die Fähigkeit, Worte für das zu finden, was als »Verlustschmerz« nicht einmal annähernd das innere Brennen oder die Leere bezeichnen kann. Auf die Frage, was mit den Russ*innen passieren soll, die nun auf der Krim leben, wenn die Krimtataren eines Tages zurückkommen, geben sie keine Antwort. Der Vorsitzende Refat Tschubarow und die anderen Medschlis hoffen, dass die Besatzung der Krim für Russland zu teuer werde und sie abziehen. Im Tauziehen um eine Ost- oder Westorientierung des Landes sind die Krimtataren die großen Verlierer*innen auf beiden Seiten.

Die ersten Schüsse 2014 fallen hunderte Kilometer weit weg von Kiew. Auf dem Weg zu diesem Ort gehen der graue Himmel und die karge Steppe ineinander über. Graubraune Häuser, leere Fabriken und Flächen, unebene Straßen, dazwischen goldene Blätter und leuchtend rote Büsche. Zu den großen Ressourcen der Ukraine gehört ihre Weite.

In Slawjansk, einer Stadt im Osten nahe der Separatistengebiete, begann der Krieg vor acht Jahren. Von den Gefechten zwischen Separatisten und ukrainischen Einheiten sind kaum noch Spuren zu finden, es ist fast alles wieder aufgebaut. Eine kleine Gedenktafel und ein Strauß gelber und roter Blumen erinnern an die Bedeutung des Ortes. Es riecht nach Abgasen und feuchtem Lehm. An einem kleinen Kiosk stehen rauchende Männer mit Mützen, die dem Treiben mäßig interessiert zuschauen. Ein pinker Sportwagen saust vorbei. Der Konflikt ist nicht ethnisch. Es ist einer zwischen Lebensentwürfen und Loyalitäten.

Landesweit: Kämpfe für einen sozial gerechteren Staat

Es gibt die Konflikte, die durch Grenzschilder, Militärposten und schussbereite Waffen erkennbar sind. Und dann gibt es die, die sich an den großen Uhren junger Politiker*innen und den Sorgenfalten der Aktivist*innen erahnen lassen, mit denen ich spreche. Die Korruption in der Ukraine sei epidemisch und überall, berichten letztere. Laut Transparency International befindet sich die Ukraine 2020 auf Platz 117 von 180 des Korruptionswahrnehmungsindex, 2012 war sie noch auf Platz 144 (Transparency International o.J.). Die Korruption war einer der Gründe, weshalb die Menschen im Winter 2013/14 gegen die Regierung von Präsident Janukowitsch protestierten (Kolb 2014). Der Durchschnittslohn in der Ukraine beträgt umgerechnet 450-500 Euro im Monat und Arbeitnehmer*innen haben einen Kündigungsschutz von zwei Wochen. Soziale Gerechtigkeit ist ein großes Anliegen – mit dem auch der derzeitige Präsident Selenskyi 2019 die Wahlen gewann.

Zu den wichtigsten Mitteln der Korruptionsbekämpfung gehören nach Einschätzung des ehemaligen Richters Mykhailo Zhernakov die Entbürokratisierung, die Erhöhung der Gehälter für Beamte und die Bemühungen um eine Justizreform. Dafür setzt sich auch die DEJURE Stiftung ein. Mitbegründer Zhernakov findet harsche Worte: Der Ukraine fehlt Rechtstaatlichkeit und sie hat das juristische System der Sowjetunion geerbt.“ Das bedeutet, dass das juristische System abhängig vom Staat ist. Laut Zhernakov müsse die Veränderung zur Unabhängigkeit graduell verlaufen. Dabei wegweisend sei das nationale Anti-Korruptionsbüro NABU samt Staatsanwalt und Anti-Korruptions-Gericht, einer Art „Anti-Korruptions-FBI“, so drückt er es aus. Aber der größte Veränderungsdruck komme von internationalen Institutionen, durch Verhandlungen mit der EU und dem Wunsch, ein NATO-Bündnispartner zu werden. Sehr zum Missfallen von Russland. Zhernakov geht das alles zu langsam. Putin, wie sich wenige Monate später herausstellt, geht es zu schnell und zu weit.

Kramatorsk: Binnenflucht und begrenzte Staatlichkeit

2014 begann mit der neuen Regierung die Dezentralisierung und damit auch ein Demokratisierungsschub in der Ukraine. Der Krieg mit den Separatisten hat viele Menschen aus den nun besetzten Gebieten im Osten vertrieben. 512.000 Binnenflüchtlinge sollen laut offiziellen Angaben der Verwaltung in den angrenzenden Gebieten leben. Erst waren sie Fremde, jetzt sind sie geduldet und die regionale Regierung baut Mietwohnungen für sie. Die Verwaltung der besetzten Gebiete ist nach Kramatorsk gezogen, von hier aus arbeitet Gouverneur Pavlo Kyrylenko. Er sagt, dass die Binnenflüchtlinge natürlich froh seien, hier zu sein, es ginge ihnen hier besser „als bei den Russen“. Doch der Aufenthalt sei nur vorübergehend. Ist der Krieg einmal beendet, dann würden sie zurückgehen. Was von ihrem Zuhause noch da sein wird, weiß niemand auf dieser Seite der Frontlinie. Es fehlen unabhängige Informationen aus den Separatistengebieten. Den Nationalismus der Menschen müsse man klug handhaben, dann sei dieser in Ordnung, sagt Kyrylenko, Hauptsache, wir bekommen die Sowjetunion aus den Köpfen der Menschen heraus.

Druschkiwka und Majorska: Folter und Minen

Nahe Kramatorsk, etwa 550 Kilometer Luftlinie südöstlich von Kiew, liegt das Dorf Druschkiwka. Es war während der Kämpfe 2014 für kurze Zeit von den Separatisten besetzt. In dieser Zeit soll der ukrainisch-orthodoxe Priester Dionissij Wassyljew für drei Tage im Juni gefangen und verhört worden sein. Er fürchtete um sein Leben und war sich sicher, dass er erschossen werden wird. Jedes Mal, wenn er die heutige Polizeistation betritt, beginnt sein Herz schneller zu schlagen, sagt er. Trotzdem macht er es immer wieder, um anderen zu erzählen, was ihm und seinen Mitgefangenen hier widerfahren ist. Er will, dass aus dem Folterkeller ein Museum wird, als Warnung und in Gedenken an die schreckliche Zeit. Es soll auch daran erinnern, dass bereits die Gestapo in diesen Räumen Menschen gefangen hielten. Im Keller ist es dunkel und kalt, der Strahl einer Taschenlampe leuchtet durch die Gänge. Dionissij zeigt, wo er verhört wurde, wo er schlief, betete und zitterte. Nicht alle wollen hören, was Dionissij zu erzählen hat, er bekomme viele Anfeindungen. Deshalb aufhören? „Niemals!“, sagt er entschieden.

Einige Kilometer weiter im Osten, in Majorska liegt einer von sieben Grenzübergängen zwischen der Separatistenzone und dem ukrainisch kontrollierten Staatsgebiet. Hinter dem Übergang, in der sogenannten »Grauen Zone« zwischen den Fronten, steht die lokale Bezirksverwaltung zu der Rayissa Griegoriwna gehen muss, um sich ihre neue Corona-Impfung bescheinigen zu lassen. Mit ihrer roten Mütze ist sie der fröhlichste Farbfleck in dieser Umgebung. Ihr Alter ist schwer erkennbar, ihr von Runzeln verkerbtes Gesicht wirkt freundlich. Gespannt schaut sie, was die Besucher*innen hier wollen, lächelt unter ihrer halb herunter gezogenen Maske und tippelt weiter. Ein Schritt ab vom Weg und sie könnte auf eine Mine treten. Denn die ganze Region ist von Minen verseucht. Über Jahre hinweg haben Menschen vor Ort die Minen entschärft. Der Krieg hat sich wortwörtlich in diese Landschaft eingegraben.

Odessa: Trauerverbot und Held*innen

Odessa riecht nach Vanille und – mit Puschkin gesagt – nach Europa. Auf manchen Bürgersteigen lösen sich die Steine, die matten Fassaden der Barock- und Jugendstilhäuser bröckeln. Der Kulikowe-Pole-Platz ist mit seinen breiten Wegen zum schnellen Überqueren gemacht. Er wird 2014 trotzdem zum Schauplatz des Konfliktes. „Sie stehlen unseren Toten ihre Blumen“ steht auf einem Papier, das dort an einem Zaun klebt. Es ist nur eine von vielen in Plastik eingeschweißten Botschaften, die über Kerzen und verblassenden Fotos von Verstorbenen hängen. Am 2. Mai 2014 kam es in Odessa zu einer Auseinandersetzung zwischen prorussischen und proukrainischen Demonstrierenden. In einem Bericht der Deutschen Welle heißt es: „Pro-russische Aktivisten und Befürworter einer Abspaltung Odessas von der Ukraine zogen sich in das Gewerkschaftshaus zurück. Ukrainische Nationalisten belagerten das Gebäude. Molotowcocktails flogen, das Haus geriet in Brand. Allein am Gewerkschaftshaus starben damals 42 Menschen“ (Trippe 2017).

Bis heute fehlt die juristische Aufarbeitung der Ereignisse, bis heute gibt es kein Denkmal für die Toten. Die Trauer darf kaum stattfinden, die Blumen der Hinterbliebenen werden weggeschmissen. Das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit wird damit nicht gefördert. Zudem vertrauten die Ukrainer*innen dem Militär oft mehr als ihren Politiker*innen und dem Justizsystem, erzählen verschiedene Aktivist*innen. Während des Krieges haben sich diverse paramilitärische Freiwilligenbataillone der ukrainischen Armee angeschlossen, darunter auch das rechtsextreme Regiment Asow. „Ich würde für mein Heimatland sterben“, sagt Victoria, Ende Zwanzig, die gerade von der Front zurückgekehrt ist und sich mit der Organisation »Come back Alive« für die Reintegration von Soldat*innen einsetzt. Nicht nur bei ihr, sondern auch bei anderen Personen, scheinen militaristische Nationalismen zu blinden Flecken zu werden. Kritische Äußerungen über das Militär? Höre ich kaum, sie sind die Held*innen. Heute mehr denn je.

Wie es weitergeht, ist unklar

Die Ukraine ist im Oktober 2021 Teil der östlichen Partnerschaften der Europäischen Union, sie ist aber noch keine Beitrittskandidatin zur EU. Im Land gibt es vielerorts Hoffnungen, dass dies mittelfristig passieren wird. Die Europa-Begeisterung ist groß. Gleichzeitig gibt es viele Menschen im Land, die ihre Zukunft gemeinsam mit Russland sehen. Was ich im Rahmen meines Besuches erkenne: Was eine Chance auf Vielfalt bedeuten könnte, wird immer mehr zu einer Spaltung. Entlang dieser Spaltung und des fortdauernden Krieges verschärfen sich die Gräben. Korruption, Nationalismus und Flucht reiben das Land von innen auf. Corona hat hässliche Ungleichheiten verstärkt und größer gemacht. Hoffnung auf eine Verbesserung sehen die einen im Westen, die anderen im Osten.

Wörtliche Zitate ohne Quellenangaben stammen aus Interviews, die die Autorin im Rahmen ihrer Reise geführt hat. Diese Reportage ist u.a. durch die Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert worden. Eine inhaltliche Einflussnahme der Stiftung fand zu keinem Zeitpunkt statt.

Literatur

Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) (2015): Krimtataren geraten noch mehr unter Druck. Aktuelles, 23.11.2015.

Kolb, M. (2014): Ukraines Ex-Präsident Janukowitsch: Akten der Arroganz. Süddeutsche Zeitung, 26.02.2014.

Pleines, H. (2022): Analyse: Die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen: Was ist möglich? Ukraine-Analysen Nr. 261. Bundeszentrale für politische Bildung, 14.02.2022.

Transparency International (o.J.): Corruption perceptions index. Online database. transparency.org/en/cpi.

Trippe, Ch. (2017): Bis heute nicht aufgeklärt. Brand im Gewerkschaftshaus in Odessa. DW online, 01.05.2017.

Lisa Neal ist freie Autorin und promoviert zum Thema auswärtige Sicherheitspolitik der EU. Sie arbeitet am Institut für Theologie und Frieden, Hamburg, und lehrt zu Konfliktethik.

Schritte Richtung Frieden

Schritte Richtung Frieden

Fünf Vorschläge zum Krieg gegen die Ukraine

von Werner Wintersteiner

In der Ukraine kämpfen die Menschen verzweifelt gegen die übermächtige russische Armee, die die Zivilbevölkerung nicht schont, Städte dem Erdboden gleichmacht und schreckliche Kriegsverbrechen begeht. Die USA, die NATO und viele europäische Staaten haben ihrerseits Russland den „totalen wirtschaftlichen und Finanzkrieg“1 erklärt, liefern ständig neues Kriegsmaterial und spielen vor unseren Augen das verlogene Stück des humanitären Militarismus. Die Gefahr eines Atomkriegs ist enorm gestiegen. Welchen Ausweg gibt es aus dieser Katastrophe?

Der Ukraine-Krieg müsste für alle, die ernsthaft etwas zu seiner Überwindung beitragen möchten, zunächst ein Anlass zur Selbstkritik sein. Das gilt auch für Friedensforschung und Friedensbewegung: Haben wir die Situation nicht falsch eingeschätzt? Sind wir nicht von der Brutalität der russischen Kriegsführung überrascht? Haben wir angesichts unserer berechtigten und nach wie vor notwendigen Kritik an der Expansionspolitik der NATO als Konfliktfaktor nicht eine ebenso differenzierte Kritik der russischen Politik oft vernachlässigt? Haben wir uns ausreichend bemüht, ein geopolitisches Gesamtbild zu zeichnen? Hat sich die Friedensforschung nicht zu sehr in Detailfragen verstrickt und damit die große Gesamtfrage des Weltfriedens aus den Augen verloren? Haben wir geopolitische Rivalitäten der Großmächte, die Weltkriegsgefahr, die Emanzipationskämpfe des Globalen Südens, die Klimakatastrophe, die Covid-19-Pandemie usw. ausreichend als Phänomene einer Polykrise dargestellt, aus der es friedenspolitische Auswege braucht?

Nun hat der Krieg selbst neue Realitäten geschaffen, die Fronten und die Gefühle verhärtet und unermesslichen Schaden für alle angerichtet. Und wir beobachten auch bei uns eine verstörende Aufrüstung der Kriegsarsenale und der Seelen. Vollkommene Simplifizierungen des komplexen Konflikts werden als fundierte Analysen verkauft. Die breite Solidarität mit den Geflüchteten ist vielleicht die einzige positive Entwicklung. Sie zu stärken und längerfristig zu erhalten ist eine wichtige Aufgabe der Zivilgesellschaft. Doch darüber hinaus muss an Schritten hin zum Frieden gearbeitet werden. Dazu fünf Vorschläge.

1. Gewaltfreie Strategien im Konflikt unterstützen und propagieren

Es gilt, die bestehenden gewaltfreien Widerstandsaktivitäten in der Ukraine wie auch in Russland und Belarus nach Kräften zu unterstützen und bei uns bekannt zu machen (vgl. McCarthy 2022). In ihrer berechtigten Gegenwehr gegen die russische Aggression setzt die ukrainische Regierung ganz auf den militärischen Widerstand und offensichtlich kann sie sich dabei auf eine breite Mehrheit der Bevölkerung stützen. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch gewaltfreie Aktionen gibt, über die bei uns allerdings nur sporadisch und ohne ihren Zusammenhang darzustellen berichtet wird (siehe dazu den Beitrag von Stadtmann in diesem Heft, S. 15). Bei allem Respekt vor dem Recht der ukrainischen Bevölkerung, selbst zu entscheiden, wie sie ihre Verteidigung gestaltet, ist es doch die Aufgabe der Friedensforschung, mit ihrem Wissen und ihren Einschätzungen an diesen Konflikt heranzugehen. Dazu gehört nicht zuletzt die Erkenntnis vom strategischen Wert gewaltfreier Aktionen, wie er etwa in dem inzwischen klassischen Buch »Why Civil Resistance Works« von Maria Stephan und Erica Chenoweth (2011) nachgewiesen wird. In dieser Studie über 100 Jahre »regime change« wird nachgewiesen, dass Gewaltfreiheit deutlich erfolgreicher und nachhaltiger als ein bewaffneter Aufstand ist, wenn es um die Überwindung diktatorischer Regimes geht. Dabei kommen Methoden wie öffentlicher Protest, Mahnwachen, Sit-ins, Blockaden, Streiks oder Ziviler Ungehorsam zum Einsatz. Das entspricht zwar nicht direkt der heutigen Situation der Ukraine, wo derzeit der Widerstand gegen eine ausländische Invasion im Vordergrund steht, dennoch behalten viele Erkenntnisse der Forschung über Gewaltfreiheit ihre Gültigkeit.

Beide Autorinnen arbeiten auch seit einigen Jahren mit Friedenskräften in der Ukraine zusammen (Kroc Institute 2022). Und Organisationen wie die 2019 gegründete »Ukrainische Pazifistische Bewegung« haben den Mut, sich gegen die herrschende Stimmung zu wenden, die Kriegslogik prinzipiell abzulehnen und sich für die derzeit unpopuläre friedliche Lösung einzusetzen. Yurii Sheliazhenko, Sekretär der Bewegung und Vorstandsmitglied des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung, stellt sich mit allen Kräften gegen die russische Invasion, aber er sieht auch den größeren Kontext, in dem die Ukraine als Schlachtfeld in der Konkurrenz zwischen den USA und Russland dient (Democracy Now 2022).

Wenn heute Ukrainer*innen auf Gewaltfreiheit setzen, verfolgen sie damit mehrere Ziele: Zunächst geht es darum, die militärische Invasion zu verlangsamen und zu stören. Ferner sollen Zivilist*innen geschützt, Gewalt gegen sie soll hintangehalten und Zeit gewonnen werden, die ihnen eine Flucht ermöglicht. Den russischen Streitkräften und der Bevölkerung in Russland soll die Illegitimität ihres Krieges bewusst gemacht werden, und das Desertieren russischer Soldaten ist ein erklärtes Ziel. Letztlich kann wohl nur Widerstand in Russland selbst auf die Dauer eine Verhaltensänderung des Putin-Regimes bewirken. Aber noch immer ist die Mehrheit der russischen Bevölkerung von Putins Argument, er müsse sich gegen die Aggression des von Faschisten geführten Nachbarstaates wehren, mehr oder minder überzeugt.2 Deswegen ist es auch sehr wichtig, die sehr mutigen und beharrlichen Proteste in Belarus und Russland zu unterstützen.

2. Kritik der »Aufrüstung der Seelen«

Auch wenn der ukrainische Widerstand gegen die russische Invasion berechtigt ist, müssen wir uns vor Augen halten, dass das Land systematisch Kriegspropaganda betreibt und wir fast ausschließlich seine Sichtweise vermittelt bekommen. Doch je härter der Krieg geführt wird, je mehr der jeweilige Gegner dämonisiert wird, desto schwieriger wird es, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Das gilt auch für das Klima bei uns. Alle Konfliktparteien, auch die jeweiligen Feinde, dürfen nicht dämonisiert, sondern müssen wieder re-humanisiert werden. Das betrifft die Sprache, das Etikettieren des Anderen und die gewählten Narrative. Und das führt zu kritischen Fragen, ob es wirklich sinnvoll ist, auch alle kulturellen und kommunikativen Kontakte zu Russland abzubrechen.

3. Zivilgesellschaftliche Dialoge zwischen den »Feinden«

Die zivilgesellschaftliche Konfliktbearbeitung darf nicht unterschätzt werden. So schlägt Sheliazhenko eine „unabhängige öffentliche Kommission von Expert*innen“ (Sheliazhenko 2022) zur Mediation in diesem Krieg vor. Doch der Frieden in der Ukraine ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf. Politische Vereinbarungen werden für einen dauerhaften Frieden nicht ausreichen. Es bedarf auch eines gesellschaftlichen Dialogs innerhalb der Ukraine wie zwischen der Ukraine und Russland. Die Zivilgesellschaft kann dazu wichtige Kommunikationskanäle schaffen bzw. tut dies bereits. Auch die von Herbert C. Kelman entwickelten »Interactive Problem Solving Workshops« (Kelman 2017) auf Track 2 oder auch auf Track 3 Ebene könnten dazu als Modell genommen werden. Sie sind ein Weg, in einer geschützten Atmosphäre intellektuelle Energien für kreative Lösungen freizusetzen.

4. Kritik der Militarisierung unserer Gesellschaften

Massives Aufrüsten, Stärkung der NATO und ein offener Militarismus sowie ökonomische Abkoppelung von Russland – das ist die »Lehre«, die die politische Klasse unisono aus dem Krieg zieht. Aber die Welt wird durch ein neues Wettrüsten sicher nicht friedlicher. Die hektischen Rufe nach mehr Waffen lenken auch davon ab, genauer zu untersuchen, warum Putin keinen großen Widerstand von EU und NATO erwartet hat. Grund war nicht eine unzulängliche Bewaffnung, sondern Putin hat gesehen, wie leicht es war, die politische Klasse und führende Wirtschaftskapitän*innen in Europa in sein System einzubinden und damit zu korrumpieren. Schließlich wurde ja auch die heute bedauerte Abhängigkeit Westeuropas von fossiler Energie aus Russland nach der Besetzung der Krim und der Ausrüstung der Rebell*innen im Donbas noch verstärkt. Statt einer Rüstungsspirale und Militarisierung brauchen wir vielmehr die politische Entschlossenheit, die Demokratie mit demokratischen Mitteln zu verteidigen.

5. Langfristige Friedensperspektiven für ganz Europa

Ausrüstung der Ukraine mit immer mehr und effizienteren Waffen, flankiert von einem »totalen Wirtschaftskrieg«, der Russland isolieren und seine Wirtschaft nahezu lahmlegen soll; die Reduzierung Russlands auf einen Paria-Staat, wie Joe Biden forderte (Dreisbach 2022) – das ist die rein militärische Logik, die die USA und die westlichen Staaten verfolgen. Aber wie soll das je in einen Friedensschluss münden? Ein zerrüttetes, atombewaffnetes Riesenreich Russland wäre sicher kein Beitrag zu einem stabilen Frieden. Die Grundidee jeder Friedenslösung, eine Lösung für alle beteiligten Seiten, rückt ganz aus dem Blickwinkel.

Die gewaltfreie Option denkt hingegen über den unmittelbaren Konflikt hinaus und bezieht den komplexen Gesamtkontext ein. Dazu gehört auch ein Nachdenken darüber, wie wir dazu beitragen können, die afrikanische Lebensmittelkrise abzufedern, die durch diesen europäischen Krieg ausgelöst wird. Und die Kritik an der Konflikteskalation durch die NATO, ohne deswegen Putins Russland aus seiner Verantwortung für diesen Krieg zu entlassen. Eine langfristige Friedensoption sollte nicht nur eine neutrale Position der Ukraine enthalten, sondern sie braucht eine größere europäische Lösung. Alle Anstrengungen sollten darauf gerichtet werden, heute das zu schaffen, was nach 1989 versäumt wurde, nämlich eine europäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur. Es wäre die Verwirklichung dessen, was Michail Gorbatschow mit dem schönen Bild vom „gemeinsamen europäischen Haus“ intendiert hat.

So bleibt festzuhalten: „Um den Krieg zu stoppen ist es wichtig, den Diskurs der Angst zu überwinden zugunsten eines Diskurses der Hoffnung für eine bessere Zukunft. Denn die Angst führt zu Gewalt, die Hoffnung aber zu Frieden“ (Sheliazhenko 2022).

Anmerkungen

1) So der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire am 1.3.2022 (zitiert nach: Le Monde Diplomatique (franz. Ausgabe), April 2022, S. 28).

2) Eine Umfrage in Russland im März 2022, die nach Alter und Informationskanälen für die Urteilsfindung der Interviewten fragt, kommt zu folgendem Ergebnis: Die Unterstützung für Putins Krieg steigt rasant mit dem Alter und der damit assoziierten ausschließlichen Nutzung staatlicher Informationsquellen: von nur 29 % unter den 18- bis 24-Jährigen zu 72 % unter den Russen über 51 Jahren (Aleksashenko 2022).

Literatur

Aleksashenko, S. (2022): What do polls say? Behind the Iron Curtain Blog, 13.3.2022.

McCarthy, E. (2022): 5 ways to support courageous nonviolent resistance in Ukraine. Waging Nonviolence, 5.3.2022.

Chenoweth, E.; Stephan, M. J. (2011): Why civil resistance works. The strategic logic of nonviolent conflict. New York: Columbia University Press.

Democracy Now (2022): Ukrainian pacifist in Kyiv: Reckless militarization led to this war. All sides must recommit to peace. Interview mit Yurii Sheliazhenko. 1.3.2022.

Kroc Institute (2022): Civil resistance in Ukraine and the region. Webinar vom 22.3.2022.

Sheliazhenko, Y. (2022): Putin, Biden and Zelenskyy, take peace talks seriously! Videobeitrag auf YouTube, 7.3.2022.

Kelman, H. C. (2017): Resolving deep-rooted conflicts. Essays on the theory and practice of interactive problem-solving. Hrsg. von Werner Wintersteiner und Wilfried Graf. London: Routledge.

Dreisbach, S. (2022): „Putin wird ein Paria sein auf internationaler Bühne“. FAZ, 24.02.2022.

Werner Wintersteiner, Univ.-Prof. i.R. Dr., ist Gründer und ehemaliger Leiter des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Eine längere Fassung dieses Beitrages ist Anfang April auf dem Blog von W&F erschienen: Wintersteiner, W. (2022): Der unterschätzte Widerstand. 6.4.2022.

Selektivität und doppelte Standards

Selektivität und doppelte Standards

Die UNO vor dem Rückfall in die Blockaden des Kalten Krieges

von Andreas Zumach

Russlands Krieg gegen die Ukraine verstößt in gravierender Weise gegen die universell gültigen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen, die nach dem tiefen Zivilisationsbruch der Jahre 1933-1945 mit der UNO-Charta sowie in nachfolgenden völkerrechtlich verbindlichen Verträgen international vereinbart wurden. Doch warum haben die UNO und ihre laut Charta für die Bewahrung und Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit zuständigen Institutionen in diesem Konflikt kaum eine politische Rolle gespielt? Und dies weder in der langen Phase vor Russlands Überfall auf die Ukraine, als eine Prävention vielleicht noch möglich gewesen wäre, noch seit Beginn des Krieges?

Durch Russlands Krieg wurden völkerrechtliche und menschenrechtlichen Normen weiter unterminiert, ausgehöhlt und in ihrer Wirksamkeit und politischen Bindungskraft geschwächt. Dieser Schwächungsprozess begann bereits mit Angriffskriegen, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit und Völkermorden, die die vier ständigen und vetoberechtigten Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich in der Phase des Kalten Krieges verübten – in Vietnam, Algerien, Afghanistan, Nordirland, den Falklandinseln und in anderen Ländern des Globalen Südens. Nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 setzte sich dieser Aushöhlungs- und Schwächungsprozess der internationalen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen fort. Unter anderem mit den Kriegshandlungen und Verbrechen der USA und verbündeter NATO-Staaten gegen/in Ex-Jugoslawien, Afghanistan, Irak und der von den USA geführten Drohnenmordkampagne, sowie mit Russlands Kriegen und Verbrechen in Tschetschenien, Syrien und mit der Annexion der Krim.

In den vier Jahrzehnten der Blockkonfrontation hielten sich die Akteure der feindlichen Lager ihre jeweiligen Verstöße nur selten gegenseitig vor. Zuständige Gremien wie der Sicherheitsrat in New York und der Menschenrechtsrat in Genf, durch die diese Verstöße hätten thematisiert, politisch verurteilt oder sogar sanktioniert werden können, waren durch die globale Ost-West-Konfrontation völlig blockiert und handlungsunfähig. Im Kontext dieser Konfrontation wurden auch viele der formal blockunabhängigen UNO-Staaten immer wieder von der einen oder anderen Seite für ihre Interessen instrumentalisiert. Das führte dazu, dass auch die Generalversammlung von der Möglichkeit, bei einem »Bruch des Friedens« einzugreifen, die sie 1950 wegen der monatelange Blockade und Handlungsunfähigkeit des Sicherheitsrates im Korea­krieg durch ein sowjetisches Veto mit ihrer Resolution »Uniting for Peace« geschaffen hatte, seitdem nur in elf weiteren Fällen Gebrauch machte.

Zahnlose Institutionen, schwache Akteure

Zuletzt geschah dies mit der Resolution vom 2. März 2022, in der die Generalversammlung auf einer »Notstandssitzung« Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine mit der Mehrheit von 141 der 193 Mitgliedstaaten als „Bruch der UNO-Charta“ verurteilte und die Regierung Putin zur Einstellung aller Angriffshandlungen und zum „sofortigen, bedingungslosen und vollständigen Abzug“ (UN-Resolution A/RES/ES-11/1) ihrer Invasionstruppen aufforderte. Mit Russland stimmten lediglich Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien gegen die Resolution. Insgesamt 35 Länder, darunter China, Indien, Irak, Pakistan und Südafrika, enthielten sich der Stimme.Vor der Abstimmung in der Generalversammlung vom 2. März 2022 hatte ein entsprechender Resolutionsentwurf im Sicherheitsrat am 24. Februar elf Ja-Stimmen erhalten, war aber am Veto Russlands gescheitert. China, Indien und die Vereinigten Arabischen Staaten (VAE) enthielten sich hier der Stimme. Theoretisch hätte die Generalversammlung über die Verurteilung Russlands hinaus auch konkrete Maßnahmen beschließen können, von Sanktionen bis hin zur Entsendung von UNO-Truppen. Doch die Bereitschaft von UNO-Mitgliedsstaaten außerhalb des Gebiets der OSZE, sich in diesem als innereuropäischer Konflikt wahrgenommenen Ukrainekrieg zu engagieren, ist sehr gering.

Nicht geringe Hoffnung wird auch in dieser Frage immer wieder in die internationalen Gerichtshöfe gelegt. Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat zwar nach den Buchstaben der UNO-Charta die Zuständigkeit für zwischenstaatliche Konflikte und damit auch für die Feststellung und Bewertungen eines Angriffskrieges oder eines Völkermordes, den ein Staat an der Bevölkerung eines anderen Staates verübt. Der IGH kann allerdings nur bindend tätig werden in Konflikten zwischen Staaten, die der Klärung des Falls durch den Gerichtshof zustimmen oder die sich ausdrücklich der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen haben. Diesen Schritt haben bislang lediglich 73 UNO-Mitglieder vollzogen, und das auch häufig noch mit Vorbehalten und Einschränkungen. So hat etwa die deutsche Bundesregierung von ihrer 2008 abgegebenen Unterwerfungserklärung sowohl Einsätze der Bundeswehr im Ausland als auch die Nutzung deutscher Hoheitsgebiete für militärische Zwecke ausgenommen. Auch Russland hat sich dem Gerichtshof nicht unterworfen und somit ist der jetzt ergangene Richterspruch auf vorläufige Maßnahmen im Sinne der Ukraine vom 16. März 2022 relativ zahnlos. Sowohl eine Beilegung des Konfliktes, als auch eine Beendigung des Krieges ist durch die Urteilsverkündung des IGH nicht zu erwarten. Dass der Chefankläger beim Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Voruntersuchungen wegen Kriegsverbrechen aufgenommen hat, begrüßten viele Beobachter*innen. Es ist doch zu erwarten, dass es auch in diesem Fall zu keinen Verfahren kommen wird, denn die Russische Föderation hat ihre schon erfolgte Unterschrift unter das Statut des IStGH wieder zurückgezogen und eine Überweisung eines Verfahrens an den Gerichtshof durch den Sicherheitsrat der UNO wird erkennbar am russischen Veto scheitern.

Ob und wieweit sich die UNO-Generalsekretäre zur Prävention oder Beendigung von Gewaltkonflikten engagierten – und dies notfalls auch im harten Konflikt mit einer oder mehrerer der fünf Vetomächte –, das hing immer auch wesentlich von der jeweiligen Persönlichkeit der Männer ab, die diesen höchsten UN-Posten seit 1945 bekleideten. Generalsekretär Dag Hammarskjöld (1953-1961) bezahlte seinen engagierten Einsatz für die Beilegung des Kongokonflikts mit dem Leben. Ob das Flugzeug, bei dessen Absturz er ums Leben kam, abgeschossen wurde, ist bis heute nicht geklärt und weiterhin Gegenstand von Untersuchungen. Kofi Annan (1997-2006) flog Anfang des Jahrtausends ohne Unterstützung des Sicherheitsrates und gegen massive Einwände der USA mehrfach nach Bagdad zu Gesprächen mit Diktator Saddam Hussein, um einen drohenden Krieg zu verhindern. Annans Nachfolger Ban Ki-moon (2007-2016) zeichnete sich durch besondere Leisetreterei aus und der seit 2017 amtierende Generalsekretär António Guterres enttäuscht(e) viele UNO-Mitarbeiter*innen (und auch den Autor dieses Artikels) schwer, weil er sich in der Vorphase des drohenden Ukrainekrieges nicht zu Deeskalations- und Vermittlungsbemühungen nach Moskau und nach Kiew begeben hat. Seit Beginn des Krieges hat Guterres diesen zwar eindeutig als Bruch der UNO-Charta verurteilt, sich darüber hinaus aber kaum für seine Beendigung engagiert. Es bleibt das Bild der Organe der UNO zurück, die wenig auszurichten vermögen, trotz gegenteiliger Normen, mit denen sie ausgestattet sind.

Selektivität, doppelte Standards und »Whataboutism«

Das liegt auch daran, dass die internationale Debatte außerhalb wie innerhalb der UNO über die Verletzung völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Normen spätestens seit Ende der 1990er Jahre immer stärker geprägt ist durch doppelte Standards, durch die selektive Anwendung dieser Normen und durch »Whataboutism«, also durch den Versuch, von eigenen Verstößen abzulenken oder diese zu verharmlosen durch Verweis auf (tatsächliche oder auch nur vermeintliche) Verstöße Anderer. Das betreiben die westlichen Politiker*innen und viele Medien mit Blick auf Verstöße Russlands genauso wie umgekehrt. Kritik an der völkerrechtlichen Annexion der Krim wird von russischer Seite gekontert mit Kritik am NATO-Luftkrieg gegen Serbien von 1999 und der nachfolgenden Abspaltung des Kosovo.

Nach dem Beginn von Russlands Überfall auf die Ukraine verbreiteten zahlreiche Politiker*innen und Medienkommentare die Behauptung, es handele sich bei diesem Überfall um den ersten völkerrechtswidrigen Einsatz militärischer Gewalt in Europa seit Ende des Kalten Krieges, um den ersten Verstoß gegen die »Europäische Friedensordnung« oder gar den ersten Versuch, die Grenzen eines souveränen Staates gewaltsam zu verändern. „Präsident Putin hat den Krieg zurück nach Europa gebracht“, erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Morgen des 24. Februar 2022. Bereits in der Nacht zuvor bezeichnete die deutsche UNO-Botschafterin Antje Leendertse im Sicherheitsrat die zeitgleich erfolgte Kriegserklärung Putins als „eine militärische Eskalation, wie wir sie in Europa seit Generationen nicht mehr erlebt haben“. Ähnlich äußerten sich Abgeordnete fast aller Parteien in der Sondersitzung des Bundestages am 27. Februar 2022. All diese Äußerungen sind allerdings falsch. Den ersten völkerrechtswidrigen Einsatz militärischer Gewalt in Europa nach Ende des Kalten Krieges betrieben die NATO-Staaten mit ihrem Angriffskrieg gegen Serbien im Jahr 1999. Dieser Krieg führte zur gewaltsamen Veränderung von Grenzen durch die nachfolgende Abspaltung des Kosovo von Serbien.

Der Hinweis auf diese unbestreitbare Tatsache gerät dann allerdings häufig zur versuchten Relativierung, Verharmlosung oder gar zur Rechtfertigung russischer Verstöße gegen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen. Und das nicht nur aus dem Mund russischer Politiker*innen oder Staatsmedien, sondern auch bei Diskussionen zwischen Menschen, die sich zur Friedensbewegung zählen.

Russland und die NATO-Staaten stehen sich auch in kaum etwas nach bei dem Versuch, eigene Angriffskriege – und damit völkerrechtlich klar definierte und strafrechtlich relevante Verstöße gegen die UNO-Charta – durch Orwellschen »Neusprech« als angeblich »legitime« und »notwendige« Handlungen darzustellen. Wladimir Putin bezeichnet seinen Krieg gegen die Ukraine als „militärische Spezialoperation“ mit dem Ziel, einen „Völkermord“ durch die ukrainischen Streitkräfte an der russisch-stämmigen Bevölkerung im Donbas zu verhindern und die Regierung in Kiew zu „entnazifizieren“ (Putin in seiner Rede am 24.2.2022). Die NATO rechtfertigt ihren Luftkrieg von 1999 bis heute als „humanitäre Intervention“, die angeblich zwingend notwendig und auch ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrates erlaubt gewesen sei, um einen „Völkermord“ an den Albanern im Kosovo zu verhindern.

Damals gab es, im Unterschied zum Ukrainekrieg Russlands heute, im Sicherheitsrat aber nicht einmal den Versuch einer Resolution. Denn bei der damaligen Zusammensetzung des Rates schien die zur Annahme mindestens erforderliche Mehrheit von neun Ja-Stimmen aussichtslos und drohte zudem ein sicheres Veto der drei NATO-Staaten USA, Frankreich und Großbritannien. Daher fand auch keine Debatte in der Generalversammlung statt. Allerdings haben bis heute lediglich 115 der 193 UNO-Staaten Kosovo bilateral als Staat anerkannt, der damit kein Mitglied der Weltorganisation ist.

Putins Behauptung vom „Völkermord“ im Donbas ist genauso „lächerlich“ (Olaf Scholz zu Wladimir Putin bei ihrem Treffen am 15. Februar 2022 in Moskau) wie die anschließende Behauptung des Bundeskanzlers, im Kosovo habe 1999 ein „Völkermord“ gedroht.Weder im Kosovo noch im Donbas wurden „Handlungen begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Das ist die Definition von Völkermord in der »Konvention zum Verbot und der Bestrafung des Genozids«, die die UNO-Mitgliedsstaaten 1948 unter dem Eindruck des Holocaust vereinbarten (UNO-Resolution A/RES/3/260).

Zumindest in den Jahrzehnten vor Russlands Krieg gegen die Ukraine wurde in den Ländern des Globalen Südens – nicht nur in autokratisch oder diktatorisch regierten, sondern auch in Demokratien – der selektive Umgang mit Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen in erster Linie als problematisches Verhalten der Staaten der westlichen »Wertegemeinschaft« wahrgenommen. Zu dieser Wahrnehmung hat beigetragen, dass die drei westlichen Vetomächte im Sicherheitsrat es mit ihrer politischen, wirtschaftlichen und militärischen Macht immer verhindert haben, dass sie für ihre völkerrechtswidrigen Kriege oder ihre Kriegs- und Besatzungsverbrechen verurteilt wurden.

Das gilt zum Beispiel für den Vietnam-Krieg der USA (1964-1975), Frankreichs Krieg in Algerien (1954-1962) oder für den gemeinsamen Krieg der USA und Großbritanniens gegen Irak im Jahr 2003. Als Südafrika den Versuch unternahm, diesen Krieg einer »Koalition der Willigen« in einer Resolution der Generalversammlung als völkerrechtswidrig zu qualifizieren, bestellte die damalige US-Regierung von George W. Bush die südafrikanische Botschafterin in Washington ein und erstickte diese Initiative mit massiven Drohungen gegen Pretoria im Keim. Auch diese Erfahrungen haben dazu beigetragen, dass die allermeisten UNO-Mitgliedsstaaten trotz politischer Verurteilung von Russlands Ukrainekrieg die von den USA und der EU initiierten Sanktionen gegen Russland nicht mittragen.

Ebenso hat diese Wahrnehmung einer gewissen Selektivität dazu beigetragen, dass sich bei den Abstimmungen im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung vom 24. Februar und vom 2. März eine Reihe von Staaten des Südens der Stimme enthalten haben. Darunter Indien, Brasilien und Südafrika. Bei der Abstimmung in der Generalversammlung vom 7. April über den Ausschluss Russlands aus dem UNO-Menschenrechtsrat war nicht nur die Zahl der Enthaltungen von Ländern des Globalen Südens, sondern auch die der Gegenstimmen deutlich höher.

Geradewegs in die Blockade

Doppelte Standards und Selektivität bei der Anmahnung völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Normen, »What­aboutism« und Orwellscher Neusprech zur Verschleierung eigener Verstöße – all das wirkt als schleichendes Gift zur Zersetzung und weiteren Schwächung der politischen Bindungskraft der universellen Normen völkerrechtlicher Vereinbarungen. Das Problem hat sich noch verschärft, seit sich China etwa seit Anfang 2021 aktiv an dem Diskurs gegenseitiger Aufrechnung tatsächlicher oder vermeintlicher Verstöße beteiligt. Bis dato hatten die chinesischen Diplomat*innen zwar im Menschenrechtsrat der UNO immer mit viel Energie (und zum Teil auch mit Erfolg) versucht, kritische Resolutionen zur Menschenrechtslage in China zu verhindern. Doch seit Frühjahr 2022 treten Chinas Vertreter*innen in der UNO mit scharfer Kritik an (tatsächlichen oder vermeintlichen) Menschenrechtsverstößen in westlichen Demokratien auf, insbesondere in den USA, und bringen Resolutionsentwürfe zur Verurteilung dieser Verstöße ein. Möglicherweise ist das eine Reaktion auf die Kritik des Westens an der Unterdrückung der Uiguren in der chinesischen Provinz Xinjiang oder auch ein Versuch, die Anwürfe zu kontern, die vor allem der ehemalige US-Präsident Donald Trump nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie Ende 2019 gegen China erhoben hatte.

Der Schulterschluss, den Moskau und Peking zumindest in den ersten sechs Wochen des Ukrainekrieges bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe vollzogen, lässt für die kommenden Jahre oder gar Jahrzehnte einen Rückfall in die Blockade der UNO während des Kalten Krieges befürchten.

Andreas Zumach ist freiberuflicher Journalist und Buchautor, von 1988-2020 war er UNO-Korrespondent für die taz und zahlreiche andere Medien in Genf. Sein jüngstes Buch: »Reform oder Blockade – welche Zukunft hat die UNO?«, Zürich: Rotpunktverlag, 2021.

Das Sanktionsregime gegen Russland

Das Sanktionsregime gegen Russland

Friedenspolitische Reflexionen angesichts des Krieges gegen die Ukraine

von Sascha Werthes und Melanie Hussak

Der Krieg der Atommacht Russland gegen die Ukraine hat zu einer Verhängung weitreichender Sanktionsmaßnahmen einer Vielzahl von Staaten geführt. Der friedenspolitische Nutzen von Sanktionen ist jedoch umstritten, da die Einschätzung der Möglichkeiten einer Erreichung intendierter Ziele eher pessimistisch stimmt, die Erwartung nicht-intendierter Folgen problematisch ist und die Gefahr einer durch die Sanktionen stimulierten eskalierenden Dynamik nicht von der Hand zu weisen ist. Wie können wir also die multilateralen Sanktionen gegen Russland friedenspolitisch einordnen?

Sanktionen sind ein beliebtes und viel genutztes Mittel uni-, pluri- und multilateraler Politik – so auch im Fall des russischen Krieges gegen die Ukraine. Nicht nur als Mittel der Interessendurchsetzung einzelner oder weniger Staaten, sondern ebenso in ihrer multilateralen und transnationalen Form werfen Sanktionen jedoch einige frie­dens­politische und friedensethische Fragen auf (siehe hierzu auch die Beiträge von Schweitzer 2019 und Lohrer 2019 in W&F). Die zum Teil hitzig geführten friedenspolitischen Debatten entstehen hierbei nicht nur aufgrund von Überlegungen zu ihrer umstrittenen politischen Wirksamkeit (s. u.a. Peksen 2019). Vielmehr ist mittlerweile gut dokumentiert, dass umfassende wie auch gezielte Sanktionsregime negative sozioökonomische, politische sowie humanitäre Folgen für die Bevölkerung im jeweils adressierten Zielstaat, im Sendestaat als auch in Drittstaaten haben können (anstelle vieler Meissner und Mello 2022; Early und Peksen 2022).

Wir unternehmen daher einige friedenspolitische Reflexionen zu Missverständnissen, Erwartungen sowie den friedensethischen Dilemmata mit Blick auf das multilaterale Sanktionsregime gegen Russland.

Zwangsbewehrung statt Machtmittel

Aus unserer Sicht gilt es zwei miteinander verwobene Diskursstränge über »Sanktionen« als friedenspolitisches Instrument klar zu unterscheiden. Zum einen, die argumentative Fokussierung auf (zumeist uni- oder plurilaterale) »Sanktionen« als Mittel einer interessengeleiteten Machtpolitik, um (die eigenen) Interessen gegen das Widerstreben anderer durchzusetzen. Zum anderen, ein Verständnis von Sanktionen als Mittel zur Zwangsbewehrung von Normen, um diese zu erhalten oder auch durchzusetzen.

Im ersteren Falle birgt die vermeintliche »Sanktionspolitik« augenscheinlich ein hohes Risiko der Konflikteskalation. Maßnahmen einer interessengeleiteten Machtausübung werden eventuell mit Gegenmaßnahmen beantwortet, welche wiederum in Reaktion hierauf zu weiteren oder verschärften Maßnahmen führen können. Zudem sind Machtausübungen dieser Art auch nur erfolgversprechend, wenn man aus der Position des vermeintlich Stärkeren eine asymmetrische Kräftekonstellation für sich nutzen kann. Allerdings dokumentiert die »Global Sanctions Data Base« in der Auswertung der zwischen 1950 bis 2019 erfassten Sanktionsepisoden nur rund ein Drittel der Fälle als erfolgreich (vgl. Christen und Felbermayr 2022, S. 70). Entlang dieser Betrachtungen bringt Lohrer (2019) in einem früheren Heft von W&F Sanktionen mit reiner Machtpolitik in einen Zusammenhang und lehnt sie als Instrument einer Friedenspolitik zu Recht ab. Denn „nicht jede Machtausübung ist eine Sanktion, sondern nur die, die mit dem Anspruch auftritt, eine allgemeine Norm [sic] zur Geltung zu verhelfen“ (Daase 2019, S. 28f.). Entscheidend für eine friedensethische Bewertung, so kann man im Anschluss an Daase argumentieren, ist daher die argumentativ überzeugende und nicht nur deklaratorische Berufung auf und die Rechtfertigung von allgemeinen Normen, zu deren Erhalt politische oder wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen verhängt werden.

Dies bringt uns zum zweiten Diskursstrang. Hier sollen Sanktionen „als eine Maßnahme der sozialen Kontrolle verstanden werden, also als Reaktionen anderer auf normgemäßes oder von der Norm abweichendes Verhalten eines Sanktionsadressaten“ (Werthes 2019, S. 122f.). Auch wenn hier ebenfalls grundsätzlich die Gefahr besteht, dass Sanktionen zu einer Konflikteskalation beitragen können, so ist die zugrundeliegende Handlungslogik eine fundamental andere. Eine normativ erwünschte Ordnung soll durch die Zwangsbewehrung der entsprechend formulierten Prinzipien und Normen stabilisiert werden. Genau auf dieser Idee beruht auch das System der kollektiven Sicherheit, wie es in der VN-Charta verankert ist und welches das in der Charta verankerte Gewaltverbot (Art. 2.4) im Sinne einer internationalen Friedensordnung absichern soll. Durch ihre Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen haben Staaten grundsätzlich ihre Akzeptanz zu den in der Charta verankerten Prinzipien und Normen erklärt. Das damit verbundene System kollektiver Sicherheit basiert auf der Vorstellung, dass Akteure von Angriffshandlungen sowie von einer friedensbedrohenden oder friedensbrechenden Politik (Art. 39) abgehalten werden, wenn ihnen sonst kollektive nichtmilitärische (Art. 41) oder gar militärische Zwangsmaßnahmen (Art. 42) drohen.

Folgt man den Ausführungen Daases (2019, S. 15-18), so wird hier eine rechtspazifistische Position sichtbar. Die Chance zur Überwindung von Krieg (und Gewalt) wird hier in der rechtlich gestützten Monopolisierung von Zwangsgewalt bei einer internationalen Organisation gesucht. Die friedensethische Legitimität hängt somit von ihrer Normfundierung sowie ihrer regelbasierten Verhängung ab. Eine solche rechtspazifistische Position akzeptiert also das »traurige Notmittel« Sanktionen als friedenspolitische Option „unter bestimmten Voraussetzungen“ (s. auch Schweitzer 2019).

Friedenspolitische Erfolgsparameter von Sanktionsregimen

Hiermit einher geht eine weitere für eine kritische friedenspolitische Debatte über Sanktionen wichtige Überlegung. Die in einer solchen rechtspazifistischen Argumentation verankerte normative Rechtfertigungsnotwendigkeit von Sanktionen verändert die Erfolgsparameter von Sanktionen (hierzu Daase 2019, S. 28). Denn der Aspekt einer machtpolitischen Instrumentalisierung von Sanktionen verliert an Bedeutung. Insofern die Bekräftigung einer allgemeinen Norm die Hauptfunktion von Sanktionen ist und nicht unbedingt die Erzwingung eines bestimmten Handelns, können auch macht- und gewaltlose Sanktionen erfolgreich sein. Entsprechend argumentiert dann auch Daase (ebd.): „Sanktionen scheitern nicht dadurch, dass sie eine beabsichtige Verhaltensänderung nicht erreichen, sondern allenfalls dann, wenn die Berufung auf die zugrundeliegende Norm nicht gelingt und die Sanktion zu Recht als illegitimer Zwang angesehen wird.

Aus rechtspazifistischen Überlegungen heraus, stellt damit die Annahme der Resolution zur Verurteilung der russischen Aggression gegen die Ukraine am 2. März 2022 durch 141 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen eine beeindruckende Missbilligung unter Verweis auf allgemeine Normen (u.a. das allgemeine Gewaltverbot, Recht auf territoriale Integrität, Prinzipien des humanitären Völkerrechts) dar (VN-GA 2022). Auf Grundlage dieser Resolution lässt sich die Zwangsbewehrung dieser Normen mittels Sanktionen friedenspolitisch rechtfertigen.

Aus friedenspolitischen Überlegungen heraus sollte jedoch eine rechtspazifistische Rechtfertigungsmöglichkeit von Zwangsmaßnamen nicht als voraussetzungslose Legitimierung aller beliebigen Zwangsmaßnahmen missverstanden werden. Weitere friedenspolitische Überlegungen sind notwendig.

Friedenspolitische Prüfung der Angemessenheit

Die Zwangsbewehrung von Normen sollte in »friedenspolitischer Absicht« erfolgen. Zwangsmaßnahmen und ihre Aufhebungsbedingungen sollten mit dem Ziel verhängt werden, die Bedingungen eines gewaltfreien Zusammenlebens zu bewahren oder (wieder) herzustellen (Werthes 2019, S. 139ff). Dies bedeutet, Sanktionsmaßnahmen zu vermeiden, die zu einer Eskalation des Konflikts beitragen und eine Transformation und Konfliktbearbeitung erschweren. Die Verhängung von Sanktionen mit dem expliziten oder impliziten Ziel, einen Regierungswechsel im Zielland herbeizuführen, sind daher friedenspolitisch problematisch, da sie die Fronten verhärten und einen diplomatischen Dialog erschweren. Entsprechend sind auch Reisebeschränkungen – zumindest vorübergehend – aufzuheben, damit Regierungsverantwortliche und ggf. weitere politische Eliten des Landes an diplomatischen Gesprächen teilnehmen können. Die Einbettung von Sanktionsmaßnahmen in eine perspektivisch über Jahrzehnte andauernde Eindämmungsstrategie gegenüber Russland – ganz gleich wie sich die Lage in der Ukraine entwickelt – wie sie Lake (2022) einfordert, mag aus sicherheitspolitischer Sicht plausibel erscheinen, eine friedenspolitische Absicht ist hier jedoch nur noch schemenhaft zu erkennen.

Die »ultima ratio« der Zwangsbewehrung von Normen muss es sein, unter allen geeigneten Mitteln die jeweils gewaltärmsten Mittel vorzuziehen. Dies beinhaltet auch die beständige Suche nach alternativen, gegebenenfalls positiven oder gewaltärmeren Sanktionen, mit denen die friedenspolitischen Ziele ebenfalls verfolgt werden können. Zwangsbewehrung sollte in diesem Sinne ein Kontinuum ausnutzen, bei dem unterschiedliche soziale, politische, ökonomische Kosten auferlegt werden, um ein bestimmtes Verhalten zu fördern (Daase 2019, S. 24). Eng verbunden ist hiermit das Kriterium der »Verhältnismäßigkeit der Mittel«: Umfang, Dauer und Intensität der Zwangsmaßnahmen sind auf dasjenige notwendige Mindestmaß zu begrenzen, welches eine Aussicht auf Erfolg offeriert. Im Sinne eines »Unterscheidungsprinzips« sind nicht direkt beteiligte beziehungsweise nicht verantwortliche Personen, Gruppen und Einrichtungen soweit es geht zu schonen. Mit Blick auf politisch-institutionelle, ökonomische, soziale, kulturelle, ökologische und insbesondere auch humanitäre Folgen von Zwangsmaßnahmen gilt es eine »Verhältnismäßigkeit der Folgen« zu beachten.

Eine friedenspolitisch akzeptable Sanktionspolitik erfordert in diesem Sinne ein hohes Maß an »Flexibilität«, da auf die Dynamiken des Konflikts schnell und angemessen reagiert werden sollte. Die Entschärfung oder vorübergehende Aufhebung der Sanktionsmaßnahmen gilt es zu überlegen, sofern sich Gelegenheitsfenster, im Sinne von „Reife-Momenten“ (Zartman 2022), für eine diplomatische Bearbeitung des Konflikts abzeichnen.

Schlussbemerkungen

Wladimir Putin hat mit seiner irredentistischen, expansionistischen Aggressionspolitik gegen die Ukraine nicht zum ersten Mal die Gültigkeit der in der VN-Charta verankerten Prinzipien und Normen missachtet und damit eben auch infrage gestellt. Die klare Missbilligung seiner Aggression gegen die Ukraine durch die Generalversammlung war ein wichtiges, überzeugendes und notwendiges Signal mit dem Anspruch, den in friedenspolitischer Absicht formulierten, allgemeinen Normen (u.a. Gewaltverbot) zur Geltung zu verhelfen, die Gültigkeit aufrechtzuerhalten und eine Beachtung einzufordern. Wäre dies nicht erfolgreich gelungen, stünde die Büchse der Pandora weit offen. In allen Regionen der Welt würde sich das Risiko erhöhen, dass andere seinem Beispiel folgen.

Die in Verbindung hierzu stehenden regelmäßig neu zu befristenden multilateral abgestimmten Sanktionsmaßnahmen mit der Forderung nach Einstellung der Kampfhandlungen und Wiederherstellung der territorialen Integrität können somit für sich eine rechtspazifistische Normfundierung in Anspruch nehmen. Die Sanktionen gegen russische Finanzinstitute, den Energiesektor, den Verkehrssektor, den Technologiesektor, gegen die Medien sowie Sanktionen gegen Politiker*innen, Geschäftsleute und Oligarchen sind weitreichend. Ein Sanktionsregime dieser Art gegen eine G-20 Wirtschaftsnation mit einem ausgeklügelten militärisch-industriellen Komplex und einem diversifizierten Korb von Rohstoffexporten hat es bisher noch nicht gegeben (vgl. Mulder 2022). Die sozio-ökonomischen und politischen Folgen dieser Sanktionsmaßnahmen in Verbindung mit den Kosten und Folgen, die Putins Aggressionspolitik als solche produziert, sind schwer genau zu prognostizieren, werden jedoch nicht nur für die russische Bevölkerung gravierend sein. Diesbezüglich beschreibt Mulder (2022) vier Problematiken, die schon mit den bisherigen Sanktionsmaßnahmen einhergehen: Spillover-Effekte in benachbarte Länder und Märkte, Verstärkungseffekte durch Divestment des Privatsektors, Eskalationseffekte in Form russischer Antworten, und (negative) systemische Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Hinzuzufügen sind negative politische und humanitäre Folgen in Russland und weiteren Staaten.

Dies stellt ein friedenspolitisches Dilemma dar, welches jedoch nicht dazu führen sollte, die bisherigen gezielten und selektiven Sanktionsmaßnahmen aus friedenspolitischen Erwägungen heraus vorschnell abzulehnen. Sanktionen sind in rund einem Drittel der Fälle erfolgreich und können eben auch die militärischen Fähigkeiten zur Kriegsführung eindämmen sowie angesichts der erzeugten Kosten dazu beitragen, den Druck zur Verhandlungsbereitschaft zu erhöhen. Eine naive Sanktionspolitik jedoch, welche darauf hofft, durch immer neue Sanktionen, also mit der Erzeugung von mehr Druck und mehr Leid beim Adressaten ein Umdenken zu forcieren, ist mit Blick auf die oben genannten Prüfkriterien abzulehnen. Das heißt, bei jeder zu diskutierenden neuen Verhängung oder Verlängerung von Sanktionsmaßnahmen müssen die vorgestellten friedenspolitischen Überlegungen zur Prüfung der Angemessenheit von Sanktionsmaßnahmen berücksichtigt werden, wollen politische Entscheidungsträger*innen mit großer Vorsicht und hoffentlich auch friedenspolitischem Geschick vorgehen.

Literatur

Early, B. R.; Peksen, D. (2022): Does Misery Love Company? Analyzing the Global Suffering Inflicted by US Economic Sanctions. Global Studies Quarterly, 2(2): (Online first).

Christen, E.; Felbermayr, G. (2022): Sanktionspolitik gegen Russland. Wirtschaftsdienst (Zeitschrift für Wirtschaftspolitik), 102(2), S. 70-71.

Daase, C. (2019): Vom gerechten Krieg zum legitimen Zwang. Rechtsethische Überlegungen zu den Bedingungen politischer Ordnung im 21. Jahrhundert. In: Werkner, I.; Rudolf, P. (Hrsg.): Rechtserhaltende Gewalt – zur Kriteriologie. Wiesbaden: Springer, S. 13-32.

Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN-GA) (2022): Aggression gegen die Ukraine. UN Doc A/Res/Es-11/1, 2. März 2022. New York: Vereinte Nationen.

Lake, D. A. (2022): Containment 2.0: Sanctions For The Long Haul. Political Violence at a Glance, 9.3.2022.

Lohrer, H. (2019): Sanktionen: Ein friedenspolitisches Instrument – Kein Instrument der Friedenspolitik. W&F 4/2019, S. 37-39.

Meissner, K. L.; Mello, P. A. (2022): The unintended consequences of UN sanctions: A qualitative comparative analysis. Contemporary Security Policy: (Online first, 1-31).

Mulder, N. (2022): The Toll of Economic War. How Sanctions on Russia Will Upend the Global Order. Foreign Affairs, (Online, 22.3.2022)

Peksen, D. (2019): When Do Imposed Economic Sanctions Work? A Critical Review of the Sanctions Effectiveness Literature. Defence and Peace Economics, 30(6), S. 635-647.

Schweitzer, C. (2019): Sanktionen: Ein friedenspolitisches Instrument – Unter bestimmten Voraussetzungen eine Option. W&F 4/2019, S. 35-36.

Werthes, S. (2019): Politische Sanktionen im Lichte rechtserhaltender Gewalt. In: Werkner, I.; Rudolf, P. (Hrsg.): Rechtserhaltende Gewalt – zur Kriteriologie. Wiesbaden: Springer, S. 121-150.

Zartman, I. W. (2022): Understanding Ripeness: Making and Using Hurting Stalemates. In: Mac Ginty, R.; Wanis-St. John, A. (Hrsg.): Contemporary Peacemaking. Peace Processes, Peacebuilding and Conflict. 3. Aufl., Cham: Springer, S. 23-42.

Dr. Sascha Werthes ist Dozent für Internationale Beziehungen und Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Trier.
Melanie Hussak ist Mitglied der Redaktion von W&F und an der Friedensakademie Rheinland-Pfalz assoziiert.

Nicht anerkennen, nicht kooperieren

Nicht anerkennen, nicht kooperieren

Soziale Verteidigung in militärisch eroberten Städten

von Ulrich Stadtmann

Soziale Verteidigung ist ein nicht-militärisches Verteidigungskonzept. Es beruht auf zivilem Widerstand, dynamischer Weiterarbeit ohne Kollaboration und internationaler nicht-militärischer Unterstützung, wie z.B. Sanktionen. Letzteres findet im Ukrainekrieg neben militärischen Maßnahmen statt. Spontaner ziviler Widerstand zeigt sich dort oftmals in militärisch besetzen Städten. Angesichts einer nicht auszuschließenden Ausweitung des Krieges auch auf NATO-Staaten stellt sich für demokratische Gesellschaften die Frage, inwieweit z.B. Städte mit ihrer Zivilbevölkerung in militärische Kampfhandlungen einbezogen oder besser durch Soziale Verteidigung geschützt werden sollen.

In diesem Winter eskalierte die Lage in Europa durch den Truppenaufmarsch Russlands an den ukrainischen Grenzen und mündete am 24. Februar 2022 im Angriffskrieg gegen die ganze Ukraine. Dagegen verteidigt sie sich militärisch und hat damit eine schnelle Besetzung der Hauptstadt Kiew verhindert. Auch weitere Städte werden durch das nationale Militär verteidigt. Einige wurden eingekesselt, andere auch militärisch eingenommen. Für die Menschen in den belagerten Städten ist die Versorgungslage katastrophal. Zum Leben und Überleben braucht es Nahrung, Wasser, Wohnungen, Strom, Heizung und Krankenhäuser. Wenn eine Stadt im Kriegsverlauf zur Ruine wird, in der die Menschen umkommen, ist dort das zerstört, was verteidigt werden soll.

In den Städten der Ukraine, die von Russland besetzt sind, geht der Widerstand jedoch weiter. Es gibt die Bilder von zivilem Widerstand mit Demonstrationen auf Straßen und Plätzen.1 Dort erleben die russischen Truppen täglich, dass sie nicht erwünscht sind. Ihre propagandistisch geprägte Selbstwahrnehmung, sie seien zur Befreiung gekommen, zerbricht an der Wirklichkeit. Ebenso wie die militärische Verteidigung zielt auch der zivile Widerstand auf die Schwächung der Kampfmoral der russischen Truppen und soll auf Russland insgesamt einwirken.

Städte als Zellen des zivilen Widerstands

Das primäre Ziel Russlands scheint trotz der massiven Raketenangriffe nicht zu sein, Städte in Ruinenlandschaften zu verwandeln; vermutlich sollte eigentlich die Beherrschung der Ukraine angestrebt werden. Deshalb müsste die russische Regierung ein Interesse daran haben, möglichst funktionierende Städte zu kontrollieren. Die Zerstörung der Städte ist dann eher ein Kollateralschaden, der sich aus dem militärischen Kampf ergibt, aber sie wird auch gezielt zur Einschüchterung der Bevölkerung betrieben. Mit der militärischen Besetzung einer Stadt ist jedoch noch nicht die Kontrolle über sie erreicht (vgl. Verschwele 2022). Dazu ist die Besatzung auf die Stadtverwaltung, den Handel und die Wirtschaftsunternehmen sowie die Unterstützung durch deren Personal angewiesen. Auf diesen Voraussetzungen beruht Soziale Verteidigung: Eine Zusammenarbeit fände nur soweit statt, wie sie für die Lebensgrundlagen einer Stadt und die Interessen der Bevölkerung erforderlich ist.

In der Sozialen Verteidigung wird diese von Theodor Ebert entwickelte Idee als „Dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration“ (Ebert 1981) bezeichnet und geht über die öffentlichen Proteste des zivilen Widerstands auf Straßen und Plätzen hinaus. Die Lebensmittelversorgung und die Müllabfuhr, aber auch Polizei und Justiz, Kindergärten und Schulen werden gebraucht und sollten aufrecht erhalten werden. Nach dem Vorbild früherer historischer Fälle von Widerstand gegen Besatzung (z.B. Norwegen im 2. Weltkrieg und Finnland als Teil Russlands vor dem 1. Weltkrieg) strebt Soziale Verteidigung aber danach, alles weiter so auszuführen, wie es schon vor dem Krieg selbstbestimmt gemacht wurde.

Schon vor über 100 Jahren gab es von 1899 bis 1905 in Finnland, das seit 1809 eine autonome Region Russlands war, verschiedene Formen des zivilen Widerstands. „Der Widerstand war gewaltfrei und seine Grundsätze waren: ‚nicht gehorchen, nicht anerkennen, nicht zusammenarbeiten‘. Aus Protest gegen die Russifizierungspolitik des Zaren Nikolaus II. führten viele Beamte die Befehle des russischen Generalgouverneurs nicht aus“ (Hänninen, zitiert nach Arajärvi 2022, S. 3). Reetta Hänninen hat sich in ihrer Masterarbeit über diese Ereignisse auf Akten der Ordnungspolizei der russischen Verwaltung gestützt. Für die Vorsitzende des Bund für Soziale Verteidigung (BSV) Outi Arajärvi, die die Arbeit auf deutsch zusammenfasste, ähnelte dieser Widerstand sehr der Sozialen Verteidigung: „Von überall im Lande gab es Berichte über ungehorsame, widerspenstige und aufsässige Beamte der Post, Zoll, Verwaltung, Banken und Eisenbahn. Befehle wurden missdeutet, missachtet oder das Gegenteil wurde ausgeführt“ (ebd., S. 5).

Jede moderne Stadt- oder auch Staatsverwaltung kann jeden Tag bestens ohne neue Beschlüsse eines Stadtrates oder auch lange Zeit ohne eine neue Regierung arbeiten, wie in Zeiten einer lang andauernden Regierungsneubildung immer wieder zu sehen ist. Also versucht sie, unter einer Besatzung weiter gemäß den alten Grundlagen zu arbeiten und widersetzt sich allen neuen Anordnungen. Die Absetzung oder der Austausch einer Stadtregierung wird keine Herrschaft im Sinne der Besatzer*innen schaffen, wenn sie auf breiten Widerstand stoßen. Denn dann müssen sie auch auf untergeordneten Ebenen dafür sorgen, ihre Befehle durchzusetzen. Das erfordert personalintensive direkte Auseinandersetzungen von Mensch zu Mensch, bei denen das Besatzungsregime mit einer weiteren Demoralisierung seiner Truppen rechnen muss, denn sie werden immer wieder damit konfrontiert, dass sie als Besatzer*innen nicht erwünscht sind.

Wie schwierig es ist, eine Stadt zu beherrschen, die sich im zivilen Widerstand befindet, drückt sich aktuell wohl auch im folgenden Beispiel aus: In der besetzten ukrainischen Stadt Melitopol sollte der festgenommene Bürgermeister zur Kollaboration gezwungen werden, musste aber letztlich wieder freigelassen werden und wurde gegen neun gefangene russische Soldaten der Jahrgänge 2002 und 2003 ausgetauscht (vgl. Gnauck 2022). Die militärische Kapitulation einer Stadt bedeutet deshalb in keiner Weise das Ende des Widerstands. Es ist vielmehr der Wechsel von einer militärischen Kampfform, die in erster Linie ein Territorium verteidigt, zu einer Verteidigung des sozialen Gefüges einer städtischen Zivilgesellschaft.

Nach dem Völkerrecht wäre es auch möglich, eine Stadt zur »Offenen Stadt« zu erklären, die nicht militärisch verteidigt wird und deshalb nicht bombardiert werden darf. Diese Schutzfunktion sollte völkerrechtlich auch auf Städte ausgeweitet werden, die sich nur mit zivilem Widerstand ohne Kollaboration verteidigen.

Soziale Verteidigung klar von militärischen Kampfhandlungen trennen

Die Soziale Verteidigung zielt darauf ab, vorrangig das Leben der Zivilbevölkerung und die Infrastruktur einer Stadt zu schützen und darauf aufbauend durch zivilen Widerstand die Kosten für das angreifende Regime in die Höhe zu treiben. Einerseits soll es möglichst keinen Nutzen aus der Besetzung ziehen können und andererseits einen hohen Personaleinsatz zu finanzieren haben. Damit soll das Regime Gefahr laufen, durch eine Demoralisierung seiner eigenen Truppen vor Ort und an der »Heimatfront« den bisherigen Machtbereich aufs Spiel zu setzen. Es muss damit rechnen, dass seine Machtbasis gespalten wird und ein Umsturz droht, so dass es letztlich nichts hinzugewonnen, sondern alles verloren hat.

Ein solches Kosten-Nutzen-Kalkül kann durch internationale Sanktionsmaßnahmen im Rahmen eines nicht-militärischen Eingreifens unterstützt werden, wie es derzeit vor allem durch die Länder der EU und der NATO praktiziert wird. Die Sanktionen treffen jedoch nicht nur die Verantwortlichen des Aggressors – und diese vielleicht noch am wenigsten. Sie beeinträchtigen vor allem die Zivilbevölkerung und zudem noch die Bevölkerung nicht beteiligter Länder, z.B. durch Nahrungsmittelknappheit. Deshalb sollten sie zum einen zielgerichtet sein, um die Kriegsmaschinerie ins Stocken zu bringen. Zum anderen muss klar gegenüber den einflussreichen Kreisen und der Bevölkerung in Russland signalisiert werden, dass die Beeinträchtigungen aufgehoben werden, sobald die russischen Truppen aus der Ukraine abgezogen werden. Sanktionen sollen keine Bestrafungsaktionen sein. Sie sollten vielmehr darauf angelegt sein, einen positiven Anreiz zu geben und dazu beitragen, den Krieg zu beenden.

Die nicht-militärischen Maßnahmen sowohl in der Ukraine als auch international finden derzeit parallel zur militärischen Verteidigung statt, die vom Ausland mit Waffenlieferungen unterstützt wird. Zudem scheinen zur ukrainische Verteidigung auch militärische Kampfhandlungen in den besetzten Gebieten zu gehören (vgl. FAZ 2022). Hierbei kann dann eine durchaus problematische Überschneidung mit dem zivilen Widerstand entstehen. Zwar dürfte die Besatzung es schwer haben, Kollaborierende zu finden und sie als Marionetten einzusetzen, weil sie damit zur Zielscheibe für bewaffnete Widerstandskämpfer*innen werden. Andererseits werden auch die zivilen Kämpfer*innen leichter zu militärischen Zielscheiben, wenn Soldat*innen sich nicht sicher sein können, ob die Zivilbevölkerung nur als Deckung für eine Guerilla genutzt wird, die gegen sie agiert. Eine klare Trennung der Bereiche, in denen militärisch operiert wird, von denen des zivilen Widerstands ist deshalb eine wichtige Grundlage für Soziale Verteidigung.

Im Kalten Krieg des letzten Jahrhunderts wurde die Ergänzung einer militärischen Landesverteidigung um eine Soziale Verteidigung der Städte im Rahmen von Konzepten defensiver Verteidigung diskutiert. Die dänische Regierung hatte zu Beginn der 70er Jahren eine Studie in Auftrag gegeben über die Möglichkeiten von Sozialer Verteidigung (Boserup und Mack 1974). Litauen hat schon 1991 zivilen Widerstand in seine Militärstrategie aufgenommen und im Jahr 2016 als NATO-Mitglied erneuert. Dabei wurden auch zwei Handbücher über die »Formen und Grundsätze des zivilen Widerstands« im Rahmen der Landesverteidigung herausgegeben (vgl. Bartkowski 2021).

Nach der Erfahrung des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine lässt sich auch ein Krieg auf NATO-Gebiet nicht ausschließen, der zumindest zu Beginn konventionell geführt und hoffentlich nicht auf die atomare Ebene eskalieren würde. Ein Atomkrieg in Mitteleuropa würde alles zerstören, was verteidigt werden soll. Das gilt aber für einen konventionellen Krieg in den Städten und dicht besiedelten Gebieten mit ihrer Industrie ebenso. Mindestens in diesen Bereichen sollte deshalb besser eine Soziale Verteidigung vorbereitet werden.

Nichtkooperieren will gelernt sein

Im Jahr 1988 trafen sich über 1.000 Menschen zu einem Kongress über Soziale Verteidigung. Der aus dem Kongress hervorgegangene Bund für Soziale Verteidigung (BSV) veranstaltete 30 Jahre später erneut eine Tagung über Soziale Verteidigung. Die Geschäftsführerin Christine Schweitzer stellte dazu fest, dass „seit dem bewaffneten Konflikt in der Ukraine 2014 […] zunehmend wieder von der Gefahr eines Krieges in Europa gesprochen“ wird (BSV 2018, S. 6). Angesichts dieser Situation hielt sie es für notwendig, wieder zu überlegen „was ohne Gewalt getan werden kann, falls Prävention und Konfliktbearbeitung versagen und es zum Schlimmsten kommt“ (BSV 2018, S. 28).

Das Gründungsmitglied des BSV und der Grünen Roland Vogt erinnerte auf derselben Tagung an seine Forderung aus der Gründungsphase des BSV zu Beginn der 90er Jahre nach einem »Ministerium für Abrüstung, Konversion und Soziale Verteidigung« (BSV 2018, S. 9). Ein solches Ministerium hätte sicherlich das Wissen um die Möglichkeiten von Sozialer Verteidigung institutionell verankert, bis hinunter auf die lokale Ebene einer jeden Stadt. Auch wenn Soziale Verteidigung spontan angewendet werden kann, wäre eine gedankliche und praktische Vorbereitung sicherlich sinnvoll.

Neben Protestformen, die die Größe des Widerstands zeigen und den Zusammenhalt stärken sollen, müsste die im Konzept der Sozialen Verteidigung angelegte „Dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration (Ebert 1981) treten, die das alltägliche Handeln der Menschen an den Arbeitsstellen leiten soll. Es wäre das Gegenteil von Streik, den es nur in den Bereichen gäbe, die dem Aggressor dienen. Ein entsprechendes »Manöver« könnte in Stadtverwaltungen von Städten durchgeführt sowie wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden, um daraus Handlungsempfehlungen für den »Ernstfall« zu erhalten. Bisher wurde darüber nicht nachgedacht, weil kaum jemand mit der Möglichkeit der Wiederkehr eines Krieges nach Mitteleuropa gerechnet hat. Angesichts der zerstörten Städte in der Ukraine auf der einen Seite und der besetzten Städte auf der anderen, stellt sich jedoch auch in Deutschland die Frage, mit welchen Verteidigungsformen die eigene Stadt geschützt werden soll. Die Städte, die sich für eine Soziale Verteidigung aussprechen, wären besonders geeignet für die Durchführung solch exemplarischer Übungen in Sozialer Verteidigung.

Potential ziviler Widerstandsbereitschaft nutzen

Ein Jahr nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges in den Separatistengebieten hatte das Internationale Soziologische Institut in Kiew eine repräsentative Umfrage in der Ukraine durchgeführt zur Frage, wie die Menschen handeln wollen, wenn es zu einem Angriff auf ihre Stadt und zu deren Besetzung käme. Ein Drittel wusste keine Antwort, 15 % wollten fliehen, 25 % wollten sich militärisch wehren und mehr als 25 % sprachen sich für zivilen Widerstand aus (Bartkowski 2021). Eine derart hohe zivile Kampfbereitschaft bietet ein Potential, das bisher bei allen Verteidigungsplanungen ungenutzt bleibt.

In der Ukraine entscheidet derzeit eher der Zufall des Kriegsverlaufs darüber, ob eine Stadt militärisch besetzt wird und es zu spontanem zivilen Widerstand kommt, wie in Cherson, oder ob eine Stadt belagert und zerstört wird, wie Mariupol. Ein Einwohner Chersons wurde am 24. März mit den Worten zitiert: „Niemand hier wolle so leben wie in Mariupol (Verschwele 2022).

Die Frage, wie die eigene Stadt verteidigt wird, sollte die Zivilbevölkerung demokratischer Staaten vor einem Krieg diskutieren, um die Entscheidung darüber nicht später allein den Militärs zu überlassen. Die Debatte darüber, die eigene Stadt durch Soziale Verteidigung zu schützen, muss jetzt geführt werden und nicht erst, wenn man von einem Krieg im eigenen Land überrascht wird.

Anmerkung

1) Siehe dazu die Sammlung an Beispielen auf der Homepage des Bund für Soziale Verteidigung: soziale-verteidigung.de/artikel/ziviler-widerstand-gegen-krieg-ukraine.

Literatur

Arajärvi, O. (2022): Nicht gehorchen, nicht anerkennen, nicht zusammenarbeiten. „Passiver Widerstand“ in Finnland Anfang des 20. Jh. Hintergrund- und Diskussionspapier No. 78. Minden: Bund für Soziale Verteidigung.

Bartkowski, M. (2021): Ukrainians vs. Putin. Potential for nonviolent civilian-based defense. Minds of the Movement Blog, International Center on Nonviolent Conflict, 27.12.2021.

Boserup, A.; Mack, A. (1974): Krieg ohne Waffen? Studie über Möglichkeiten und Erfolge sozialer Verteidigung. Reinbek: Rowohlt Verlag.

Bund für Soziale Verteidigung (BSV) (Hrsg.) (2018): Schnee von gestern oder Vision für Morgen – Neue Wege Sozialer Verteidigung? Dokumentation der BSV-Jahrestagung, April 2018. Erschienen als Hintergrund- und Diskussionspapier No. 58. Minden: BSV.

Ebert, Th. (1981): Dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration. Graswurzel Revolution 56/1981, S. 28-30.

FAZ (2022): Ukrainer melden Teilrückzug russischer Verbände. FAZ online, 25.03.2022 (aktualisiert: 05:51 Uhr).

Gnauck, G. (2022): „Ich bitte die ganze Ukraine um Entschuldigung“. FAZ, 19.03.2022.

Verschwele, L. (2022): Leben in Cherson unter russischer Herrschaft – Ihre Stadt ist besetzt – aber sie sind nicht besiegt. Der Spiegel, 24.03.2022.

Ulrich Stadtmann ist Dipl. Politologe und Vorstandsmitglied im Bund für Soziale Verteidigung (BSV).

Krieg gegen die Ukraine

Krieg gegen die Ukraine

Einschätzungen zur Situation

Gewaltsam eskalierte Konflikte und Kriege stellen Wissenschaft, Soziale Bewegungen und Publizistik international immer vor mehrere Herausforderungen: wie adäquat auf die Krise reagieren? Wie Solidarität zeigen und leben, die nicht nur wohlfeil, anmaßend oder paternalistisch ist? Wie Einfluss auf das Konfliktgeschehen nehmen und dabei friedenspolitisch sinnvoll handeln? So stellt natürlich auch der Krieg gegen die Ukraine dieselben Fragen an uns. In den folgenden Beiträgen versuchen die Mitglieder der Redaktion eine erste vorsichtige Sortierung dessen, was Friedenswissenschaften zur Lösung und Transformation des Konfliktes beitragen könnten, welche Dynamiken es kritisch zu hinterfragen gilt und welche Fragen noch offen sind.
Manche Überlegungen in diesem Schwerpunkt sind noch roh, manche könnten zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Heftes schon wieder hinfällig sein, dennoch wollen wir uns an einer – wie immer temporären – Einordnung versuchen.

Alles über Bord werfen?

Friedenswissenschaft und Friedensbewegung im Kontext des Ukrainekrieges

von Melanie Hussak und Jürgen Scheffran

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg von Russland in der Ukraine hat die Koordinaten der internationalen Ordnung durcheinandergewirbelt. Glaubt man der Darstellung in Massenmedien und Regierungspolitik, herrscht zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Krieg in Europa, ungeachtet der Kriege in Jugoslawien und der ehemaligen Sowjetunion nach 1990. Es wird der Eindruck erweckt, die liberale Weltordnung habe über drei Jahrzehnte den Frieden in der Welt gesichert und wurde nun plötzlich durch einen skrupellosen Diktator aus dem Dornröschenschlaf gerissen. Unter dem Diktat der ausgerufenen »Zeitenwende«, in der alles von der Kriegslogik beherrscht wird, seien frühere Gewissheiten über Krieg und Frieden obsolet oder naiv geworden. Gehört die Friedenspolitik insgesamt auf den Prüfstand?

Wir sehen das nicht so, denn gerade dieser Krieg bestätigt einmal mehr viele frühere Erkenntnisse. Es kann nicht alles über Bord geworfen werden, was zuvor richtig war und auf die Gefahren dieser vertrackten Situation hingewiesen hatte. Im Vorfeld des Krieges gab es genügend Warnungen, die zum Krieg führenden Triebkräfte zu vermeiden und die Eskalationsspirale einzudämmen. Um den Nebel des Krieges zu durchdringen, braucht es dieses Wissen.

Gibt es eine Mitverantwortung?

Die im Westen vorherrschende Meinung ist, dass Wladimir Putin, getrieben von imperialen russischen Großmachtambitionen, allein für diesen Krieg verantwortlich sei. Während dies mit Blick auf den Befehl zum Angriffskrieg korrekt ist, wird die Reduzierung auf einen einzelnen Kriegsaggressor den Dynamiken innerhalb der russischen Führung und Bevölkerung nicht gerecht. Schon vor dem Krieg gab es das geopolitische Ringen zwischen der Durchsetzung der liberalen Weltordnung auf der einen und gezielten Regelverstößen dagegen auf der anderen Seite.

Dieser Konflikt ist nicht zu verstehen ohne die Mitverantwortung des Westens für die vorangegangene Konflikteskalation (vgl. u.a. Zumach 2022). Westliche Staaten (allen voran die USA) haben selbst nicht immer Rücksicht auf ihre eigenen Prinzipien genommen, auch nicht auf das Völkerrecht und seinen Beitrag zum Weltfrieden (vgl. Zumach in dieser Ausgabe, S. 21). So wurden die Chancen für nukleare Abrüstung und die atomwaffenfreie Welt nicht genutzt, bestehende Verträge beiderseits in Frage gestellt bzw. aufgekündigt, neue Abkommen wie der Atomwaffenverbotsvertrag oder die Kontrolle der Weltraumrüstung blockiert. Mit verschiedenen Militärinterventionen haben sich die Hardliner gegenseitig in die Hände gespielt. Die am Krieg verdienende Rüstungsindustrie und Militärstrategen drängen schon länger auf eine »Zeitenwende« geopolitischer Machtkämpfe und eine forcierte Aufrüstung. Die westliche Drohkulisse hat Russland jedoch nicht vom Angriff auf die Ukraine abgehalten. Wurden vor zwei Jahrzehnten Warnungen vor einem kommenden Kalten Krieg noch ignoriert (Scheffran 2000), reden heute fast alle von einem neuen Kalten Krieg oder gar Weltkrieg.

Lehren aus Konfliktanalysen ziehen

Was bleibt in dieser Situation? Lehren aus Konfliktgeschichte und -analyse wurden in diesem Krieg bislang vielfach ignoriert. (Selbst-)Kritische Ansichten werden diskreditiert durch den politisch-medialen Komplex, in dem der Westen Opfer, aber nicht Täter ist. Jede eigene Verantwortung für die Vermeidung der Ursachen wird zurückgewiesen. Der Ukrainekrieg bestätigt jedoch in vielfacher Weise frühere Erkenntnisse der Friedenswissenschaft und -bewegung, darunter:

  • Statt Sicherheit zu schaffen, erhöhen Militär und Rüstung die gegenseitige Bedrohung, die Gegenmaßnahmen und ein Wettrüsten fördert. Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete gießen Öl ins Feuer, verstärken Sicherheitsdilemmata und Gewaltspiralen und verlängern den Krieg.
  • Rüstung und Krieg verbrauchen Finanzmittel und Ressourcen, die für die Bewältigung gesellschaftlicher Probleme nicht zur Verfügung stehen, Umwelt und Klima belasten. Wie andere Krisen und Konflikte der letzten Jahre hat auch dieser Krieg viel mit der expansiven Geschichte kapitalistischer Systeme zu tun, die an verschiedene Grenzen stößt, Umbrüche und Krisen verursacht (Scheffran 2021).
  • Die Systemgrenzen bedingen auch die Renaissance von nationalistischen, autoritären und identitären Verhaltensmustern, die verbunden sind mit gewaltbereitem Großmachtstreben. Dies gilt nicht nur für Russland oder China, sondern gerade auch für die liberalen Demokratien, die im Kampf um ihre Hegemonie Prinzipien über Bord werfen. So wird dem Vorrang für das Zivile und das Gewaltverbot in den internationalen Normen schrittweise die schon dünne Luft entzogen, wodurch die Möglichkeiten gewaltfreier Konflikttransformationen immer kleiner werden.
  • Die Eigendynamik militärischer Gewalt und Eskalation destabilisiert die internationalen Beziehungen, fördert Bedrohungsängste, lässt sich schwer stoppen, erschwert die Suche nach Auswegen und Lösungen (vgl. W&F Ausgabe 3/2015 zu Friedensverhandlungen).
  • Mediale Berichterstattung verstärkt oft Empörungsreflexe wie in einer Echokammer, schafft Feindbilder und Blockkonfrontation (siehe W&F Dossier 80).
  • Militärische Mittel sind für die Bewältigung (sicherheits-)politischer Herausforderungen unserer Zeit (Klimawandel, Pandemien, Ressourcen, Terrorismus, Cyberkonflikte, vernetzte Sicherheit) schlecht geeignet und behindern ihre kooperative Lösung. Sicherheitspolitik sollte vielmehr einer Friedenslogik folgen, die Kriege vermeidet, statt sie zu führen. Das Wissen über Friedenslösungen muss genutzt werden (vgl. W&F Dossier 75)

Alternativen denkbar machen

Dieser Krieg hat globale und systemische Auswirkungen, wie lange kein anderer vor ihm. Die unmittelbaren Folgen treffen hauptsächlich die Menschen in der Ukraine, aber auch die Bevölkerung Russlands und Menschen in der ganzen Welt. Die Schäden und Kosten zerstören allerdings auch die Bedingungen für eine nachhaltige Friedensordnung und ein wieder denkbarer Atomkrieg riskiert das Ende der Menschheit. Problematisch sind auch Wirtschaftskriege, Waffenlieferungen oder Militäraktionen, die die Eskalationsspirale vor und in diesem Krieg angeheizt haben, ebenso Sanktionen, die die Bevölkerung weltweit treffen (vgl. Werthes und Hussak in dieser Ausgabe, S. 18).

Es bedarf also der Alternativen. Zu unterstützen ist humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und Opfer von Gewalt, ebenso der Ausbau der Verbindungen zur Zivilgesellschaft und Friedensbewegung in Russland und der Ukraine, um Bewegungen zur Beendigung des Kriegs zu mobilisieren. Die Zivilgesellschaft muss mit ihren zivilen Prinzipien für menschliches Zusammenleben und Konfliktlösung überall gefördert werden, ebenso Deeskalation und Diplomatie, sofortige Einstellung der Kriegshandlungen und Rückzug der Waffen. Weiterhin braucht es Verhandlung und Vermittlung zwischen den Konfliktparteien, Schutz und Stärkung des Völkerrechts, Schaffung einer europäischen und globalen Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas. Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit setzt auf Diplomatie und »Win-Win«-Lösungen und berücksichtigt nicht nur die eigenen Sicherheitsinteressen, sondern auch die anderer Akteure.

Statt einer »Zeitenwende« für Konfrontation, Aufrüstung und Krieg, brauchen wir eine Zeitenwende für Kooperation, Abrüstung und Frieden, für gemeinsame Sicherheit, Nachhaltigkeit und die Lösung der globalen Probleme durch tragfähige Konzepte für eine »lebenswerte Welt« im gemeinsamen Haus der Erde (Scheffran 2022). Doch dafür müssen diese Konzepte auch gehört und angewendet werden.

Notwendige Verschiebungen in der Friedensforschung?

Die Ereignisse der vergangenen Wochen führen zu alten wie neuen Debatten in Friedensforschung und -bewegung. Sie betreffen Themen wie die europäische Sicherheitsordnung, Aufrüstungsprogramme und Möglichkeiten einer raschen Energiewende. Sie zeigen aber auch die Notwendigkeit neuer thematischer Schwerpunktsetzungen, die zwar vielfach benannt wurden, aber dennoch zu wenig innerhalb der Friedens-Community Raum gefunden haben. So könnte dieser Krieg für die Friedensforschung bedeuten, Frühwarnsystemen wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken und auch stärker militärische Analysen und Szenarien in Risikobewertungen einzubeziehen, auch wenn deren Konfliktbearbeitungsmethoden strikt abgelehnt werden. Zudem bedarf es einer stärkeren Beschäftigung mit politischen Desinformations- und Destabilisierungsbestrebungen Russlands im Ausland sowie deren Unterstützung durch europäische rechte Parteien.

Blickt man auf die zahlreichen Stellungnahmen zum Kriegsausbruch aus Wissenschaft und Bewegung, so wird ein breiter Konsens über eine verpasste Chance der Prävention deutlich (siehe Dokumentation, S. 27). Der größte Handlungsspielraum wird der präventiven Friedensarbeit zugeschrieben, die Instrumentarien wie Dialog und Verhandlung auf unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Ebenen entfaltet (Fischer 2022). Zudem herrscht breite Einigkeit darüber, dass eine nachhaltige Friedensordnung nicht ohne Russland zu erreichen ist.

Uns scheint ein stärkeres Zusammenwirkens von Friedensforschung, Friedensbewegung und Friedenspädagogik unumgänglich. Jede*r dieser Akteur*innen der Friedens-Community kann für je andere Handlungsebenen und Phasen von Konflikten wichtige Beiträge leisten. Der Krieg in der Ukraine kann ein – wenn auch trauriger – Anlass sein, durch die Verständigung über gemeinsame Zielsetzungen das Verhältnis mit- und zueinander neu zu überdenken und den Austausch untereinander zu stärken. Dies ist auch ein Bestreben dieser Zeitschrift.

Jede dieser drei Gruppen hat die Möglichkeit, andere Kommunikationskanäle zu adressieren, Dialogprozesse einzuleiten sowie Spielräume und Gelegenheitsfenster zu nutzen. Als ein Beispiel für ein gelungenes Zusammenwirken können die Dialogprozesse genannt werden, wie sie nach den Kriegshandlungen in den westlichen Bal­kanstaaten ab den 1990er Jahren unter anderem vom »Nansen Dialogue Network« (nansen-dialogue.net) durchgeführt wurden. Eine weitere Methode ist die Theaterarbeit, die vom Hamburger Regisseur Georg Genoux in Russland und der Ukraine durchgeführt wurde (Genoux 2021). Er beschreibt eindrucksvoll die individuellen wie gesellschaftlichen Transformationspotentiale von Konflikten, die in künstlerischen Prozessen entstehen können.

All dies verdeutlicht: Keinesfalls sollten friedenswissenschaftliche Erkenntnisse in Zeiten eskalierten Krieges über Bord geworfen werden; vielmehr ist es an uns, die Verstärkung von Friedensforschung zu fordern, das Verhältnis zur Friedensbewegung neu auszuhandeln und uns resolut für zivile und gewaltfreie Wege zur Konflikttransformation einzusetzen.

Literatur

Fischer, M. (2022): Krieg in der Ukraine. Blog Brot für die Welt, 27.02.2022.

Genoux, G. (2021): Die Seele heilen. Die Kraft des Theaters. Wissenschaft & Frieden 3/2021, S. 42-44.

Scheffran, J (2000): Zurück zum Kalten Krieg? Russland und der US-Hegemonieanspruch. Wissenschaft & Frieden, 2/2000.

Scheffran, J. (2021): Mythen der etablierten Sicherheitspolitik: „Der Westen kann die Weltprobleme lösen“. Die Friedenswarte 3-4/2021, S. 205-227.

Scheffran, J. (2022): Klimaschutz für den Frieden: Der Ukraine-Krieg und die planetaren Grenzen. Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2022, S. 113-120.

Zumach, A. (2022): Putins Krieg, Russlands Krise. Le monde diplomatique, 10.03.2022.

Ein psychologischer Blick auf die Situation

von Klaus Harnack

Ein guter Indikator, wie groß unser Unvermögen ist, diesen Krieg zu verstehen und einordnen zu können, zeigt uns die in den Medien immer wieder aufgeworfene Frage „Wie erkläre ich den Kindern diesen Krieg?“ Ist diese, für sich genommen, legitime Frage, nicht in Wirklichkeit eine Stellvertreterfrage, die zeigt, dass wir bei der Einordnung dieses Krieges selbst noch im völligen Dunkeln stehen? Wir finden uns im ersten Augenblick der Schockstarre mit leeren Händen bezüglich unsere Handlungsoptionen wieder, denn die meisten friedensorientierten Naturwissenschaften basieren auf einem Präventions- anstatt auf einem Interventionsverständnis. Im Angesicht des eskalierten Konfliktes in der Ukraine ist es deswegen jetzt umso wichtiger, weniger auf die eigene mahnende Tätigkeit in der Vergangenheit zu referieren, als vielmehr friedenspsychologische Methoden und Erkenntnisse ausfindig zu machen, die der gegenwärtigen Kriegslogik eine fundierte Logik des Friedens entgegenstellen.

Gruppendenken und Gesichtswahrung

Mit Blick auf den Aggressor könnte die Theorie des »Groupthink« (Janis 1972) zu einer Erklärung des Entstehungsprozesses beitragen, wie es zu dem Angriff kommen konnte. Groupthink oder das Gruppendenken beschreibt einen Prozess innerhalb einer geschlossenen und isolierten Gruppe, bei der die Gruppe für Außenstehende nicht mehr nachvollziehbare und objektiv schlechte Entscheidungen trifft. Dabei wird der Zusammenhalt der eigenen Gruppe für viel wichtiger gehalten als die getroffenen Entscheidungen selbst. Getrieben wird dieser Mechanismus durch die Bedrohung und Isolation der Gruppe. Die Meinungen passen sich immer mehr aneinander an und eigentlich hilfreiche divergierende Standpunkte werden zunehmend aktiv bekämpft und unterdrückt, um die selbstgeformte artifizielle Gruppendynamik zu stabilisieren. Die Abwehr von Bedrohungen der Gruppenüberzeugungen wird so zum primären Ziel. Beispiele dafür lassen sich in den absurd anmutenden, öffentlich abgehaltenen Sitzungen des russischen nationalen Sicherheitsrats in den Tagen vor Kriegsbeginn im Februar 2022 oder auch in den Entscheidungen der ukrainischen Führung, bestimmten Parteien die Ausübung ihres politischen Mandats zu verbieten, sehen.

Während die Theorie des »Groupthink« für die Entstehung der Angriffsentscheidung herangezogen werden kann, kann die Thematisierung der Notwendigkeit für einen gesichtswahrenden Ausstieg einen möglichen Ausweg aus der gegenwärtigen Situation weisen. So schwer es emotional fällt, so notwendig ergibt es sich aus psychologischer Sicht, dass dem Aggressor immer auch eine Hintertür auf diplomatischem Parkett eröffnet wird. Schon Clausewitz betonte, dass nichts schwerer ist, „als der Rückzug aus einer unhaltbaren Position“, denn je mächtiger ein*e Aggressor*in seinem*ihrem Selbstverständnis nach ist, desto enger wird das eigene psychologische Korsett und umso kleiner der eigene Aktionsradius, Handlungen aus der Vergangenheit zu revidieren. Eine Chance liegt hier in der sehr diffusen Kriegsbegründung Russlands, die eine Beilegung des Krieges ohne internen Gesichtsverlust ermöglichen und eine weitere Eskalation verhindern könnte. Hier könnte sich der Kriegsapparat sowohl auf die »geglückte« Unterstützung der Separatistengebiete Luhansk und Donezk, eine Schwächung des westlichen Einflusses innerhalb der Ukraine oder um die »erfolgreiche« Abwehr russischer Nationalinteressen berufen.

Kognitive Dissonanz

Ein psychologischer Klassiker, der das Erleben mittelbar Beteiligter beschreibt, ist das durch den US-Sozialpsychologen Leon Festiger (1957) bekannt gewordene Konstrukt der »kognitiven Dissonanz«. Wie andere Konsistenztheorien beschreibt es die interne Harmonisierung von Kognitionen, Motivation und tatsächlicher Handlung, die nach Widerspruchsfreiheit im eigenen Denken strebt.

Als kognitive Dissonanzreduktion wird die Triebfeder beschrieben, die die Lücke (Inkongruenz) zwischen den eigenen Vorstellungen, Überzeugungen und Wünschen und der Realität zu schließen versucht, indem das Denken die Realitätswahrnehmung den eigenen Vorstellungen und Wünschen systematisch angleicht. Dies kann auf staatlicher Ebene durch Propaganda, aber eben auch als interner Mechanismus individuell geschehen. Die im Vorfeld des Konfliktes aufgezogenen Narrative Russlands und die von westlicher Seite getroffenen Entscheidungen, wie beispielsweise der Umgang mit der NATO-Osterweiterung, Nord Stream 2 oder die vorherige Situation auf der Krim dokumentieren diesen Prozess. Aufbauend auf dieser Erkenntnis könnten zukünftige Entscheidungen besser reflektiert und die Aussagen der beteiligten Parteien auf mögliche Interessen und Ressourcen überprüft werden, um so zukünftige Maßnahmen der Annäherung auf Basis einer breiteren Akzeptanz im politischen Diskurs besser vertreten zu können.

Grundbedürfnisse befriedigen

Für die Zeit nach einer hoffentlich baldigen Beendigung der kriegerischen Gewalt verweist das „bedürfnisbasierte Modell der Versöhnung“ (Shnabel und Nadler, 2008) auf einige grundlegende Aspekte, um den Bedürfnissen aller Konfliktparteien nachzukommen. In aller Kürze besagt das Modell, dass Opfer eine Einschränkung ihres Status und ihrer Macht erfahren haben, während Täterschaft mit einer Einschränkung der moralisch-sozialen Dimension einhergeht. Für eine Versöhnung müssen diese Verluste im Zuge einer Annäherung wieder hergestellt werden, d.h., dass das Opfer für die Bereitschaft zur Versöhnung eine Kompensation des erlittenen Kon­trollverlustes benötigt, während der*die Täter*in wieder Anerkennung vom Opfer und Drittbeteiligten erfahren möchte. Dies sollte besonders in vermittelten Drittparteiengesprächen berücksichtigt werden, um den diplomatischen Prozess zu unterstützen.1

Natürlich stellt diese, wie auch die vorhergenannten Theorien immer nur Teilaspekte dar und werden in ihrer Begrenztheit der Realität nicht umfänglich gerecht; aber alle Theorien zeigen Handlungsoptionen auf, die uns aus dem Unvermögen des Verstehens und der Optionslosigkeit herausführen können. Für die Anwendung bedürfen sie der Erweiterung und Schärfung durch weitere Disziplinen, um das Ziel einer friedensorientierten Doktrin erreichen zu können. Einer Doktrin, die sowohl die gegenwärtige Situation, als auch die Situation nach Beendigung des Konfliktes im Auge hat und mit Hilfe der Werkzeuge der friedensorientierten Wissenschaften die Logik des Friedens auch in Zeiten des Krieges anwendet.

Anmerkung

1) Für weitere mögliche Lektionen aus der psychologischen Verhandlungsforschung siehe auch Frech (2021).

Literatur

Festinger, L. (1957): A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford: Stanford University Press.

Frech, A. (2021): Frieden lernen. Eine Einführung in die Psychologie des Verhandelns. W&F 3/2021, S. 39-41.

Janis, I. L. (1972): Victims of Groupthink: A Psychological Study of Foreign-policy Decisions and Fiascoes. Boston: Houghton, Mifflin.

Shnabel, N.; Nadler, A. (2008): A needs-based model of reconciliation: Satisfying the differential emotional needs of victim and perpetrator as a key to promoting reconciliation. Journal of Personality and Social Psychology 94(1), S. 116-132.

Die Rückkehr des Militärischen

von Marius Pletsch, Paul Schäfer und Marek Voigt

Weltweit ist bei den Rüstungs- und Militärausgaben seit der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und dem bewaffneten Konflikt um die seit 2014 von Russland militärisch unterstützten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk ein deutlicher Trend nach oben zu beobachten. Neben der Rüstung gegen Russland nach 2014 waren weitere Faktoren der amerikanische Politikwechsel des »pivot to Asia« – also der Fokus auf die Einhegung der aufstrebenden Großmacht China – unter Präsident Obama und später die Wahl Trumps, welche die europäischen Staaten veranlassten, mehr für Rüstung auszugeben. Zu der internationalen Aufrüstungsdynamik tragen auch die sich intensivierenden Konflikte über die regionale Vormachtstellung in Südostasien, im Nahen und Mittleren Osten oder westliche »Stabilisierungs- und Ausbildungseinsätze« auf dem afrikanischen Kontinent – insbesondere im Sahel – bei.

Mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar rückte in der Außenpolitik der Fokus wieder abrupt auf »staatliche Sicherheit«. Das ging einher mit der Wiederkehr der Abschreckungslogik(en) des Kalten Krieges und einem neuen, als »systemisch« apostrophierten Konflikt zwischen West und Ost. Beides wird diese Aufrüstungsdynamik über Jahre an Fahrt gewinnen lassen, Mittel und Aufmerksamkeit binden und Kooperation bei globalen Herausforderungen hemmen oder komplett zum Erliegen bringen. Das ist besonders tragisch, da globale Krisen wie die Klimakatastrophe nicht abwarten werden, bis die Blöcke meinen, den Systemkonflikt militärisch entschieden zu haben. Die Aktienkurse der Rüstungsschmieden nach dem Beginn des Krieges waren hier Vorboten. Es wird der „Zwang zur Abschreckung“ (Zellner 2022) ausgerufen, und Friedens- und Konfliktforscher Niklas Schörnig sagte dem evangelischen Pressedienst, „[w]ir müssen gezwungenermaßen wieder wie im Kalten Krieg denken“ (Bayer-Gimm 2022).

Deutsche Aufrüstung in einer »neuen Zeit«?

Die Ukraine wird von der Bundesrepublik mit modernen und weniger modernen Rüstungsgütern direkt unterstützt. Geliefert wurde zunächst aus dem Bestand der Bundeswehr. Da hier die Möglichkeiten erschöpft sind, werden seit Ende März auch Waffen direkt von Rüstungsunternehmen in die Ukraine verschickt.

Für die von diesen unmittelbaren Waffenlieferungen an die Ukraine gänzlich unabhängige Aufrüstung der Bundeswehr soll ein Sondervermögen in der Höhe von 100 Mrd. € geschaffen werden, abgesichert durch das Grundgesetz, zweckgebunden und ausgenommen von der Schuldenbremse. Das Geld wird noch in diesem Haushaltsjahr eingestellt. Nach dem Haushaltsentwurf von Bundesfinanzminister Lindner sieht der jährliche Haushalt 2022 50,334 Mrd. € und 2023 bis 2026 pro Jahr 50,1 Mrd. € für das Bundesverteidigungsministerium vor. Das 2 %-Ziel der NATO soll die nächsten fünf Jahre mithilfe des Sondervermögens erreicht, wahrscheinlich sogar übererfüllt werden.

Folgt man dem öffentlich vermittelten Eindruck, so handelt es sich um eine dramatische Veränderung der deutschen Politik. Der Blick auf den Koalitionsvertrag aus dem Herbst 2021 zeigt jedoch: An den dort erkennbaren Linien und den generellen Absichten und Plänen für die deutsche Verteidigungspolitik hat sich nicht viel geändert. Stichworte sind hier: rasche Klärung der Tornado-Nachfolge für die nukleare Teilhabe, Drohnenbewaffnung, Zusage und Unterstützung an multinationale Großprojekte wie dem »Next Generation Weapon System« im »Future Combat Air System« (FCAS) und dem »Main Ground Combat System« (MGCS). Damit ist offensichtlich: Die Richtung war vorgezeichnet. Allerdings sind Skrupel, Bedenken und Einwände auch aus dem Lager der jetzigen Regierungsparteien gegen diesen Kurs auf einen Streich mit der Rede von Kanzler Scholz am 27. Februar 2022 im Bundestag vom Tisch gewischt worden. Jetzt kann das Angedachte immens beschleunigt, finanziell abgesichert und, ohne Widerstände befürchten zu müssen, durchgezogen werden. Der Ausdruck »Zeitenwende« ist daher mit größter Vorsicht zu betrachten. Genau genommen zielt er eher auf eine Öffentlichkeit ab, die alles Weltgeschehen unter dem Primat militärischer Abschreckung einer »Politik der Stärke« betrachten soll. Die Scholz’sche Überrumpelung des Parlaments und der Öffentlichkeit passte haargenau zu dieser Art »Wende«: Über Sinn und Unsinn einer fixen Aufrüstung (2 %-Ziel), über die Beschaffung spektakulärer Waffen-Großprojekte und über die Einsatzdoktrin der Streitkräfte soll nicht weiter nachgedacht und diskutiert werden. Dabei ist die strategische Debatte, wozu die Bundeswehr von der Politik überhaupt gebraucht und eingesetzt werden soll, bitter notwendig. Herbert Wulf schreibt dazu treffend: „Zuerst Finanzen bereit zu stellen und dann zu fragen, was damit geschehen soll, ist die falsche Reihenfolge“ (Wulf 2022). Was jetzt zu sehen sei, sei „Panikpolitik, die der Bundeswehr kaum nützt“ (ebd.). Unter dem Dach des Auswärtigen Amts soll über die kommenden Monate eine »Nationale Sicherheitsstrategie« erarbeitet werden. Bis die Strategie fertig ist, werden zahlreiche wegweisende Beschlüsse schon den parlamentarischen Prozess passiert haben.

Neue Blöcke?

Die sich über die Jahre langsam, aber stetig zuspitzende neue Blockkonfrontation mit Russland und China auf der einen und »dem Westen« auf der anderen Seite wird sich durch den Krieg gegen die Ukraine beschleunigen. Präsident Biden hat bei seinem Besuch in Polen Ende März 2022 den neuen Systemkonflikt wie folgt beschrieben: Er sehe ihn als eine „große Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer, die von brutaler Gewalt bestimmt wird. Wir müssen dabei klar sehen: Diese Schlacht wird nicht in Tagen geschlagen werden oder in Monaten. Wir müssen uns für einen langen Kampf stählen“ (The White House 2022).

Was an Bidens emphatischer Rede richtig ist: Es gibt in der Tat einen weltweiten Konflikt zwischen autoritären und freiheitlichen Ordnungsvorstellungen, zwischen der konsequenten Umsetzung von Menschenrechten und ihrer Nichtachtung. Nur kann dieser Wertekonflikt nicht bestimmten Staatengruppen oder Allianzen (der »gute« Westen gegen den »bösen« Osten) zugeordnet werden. Der Blick auf die verschiedenen Partner auf der westlichen Hälfte des neuen Großkonflikts zeugt davon, dass die alte Politik der doppelten Standards fortgesetzt werden soll. Wer auf der richtigen Seite steht, darf auf milde Beurteilung hoffen, wenn es um Demokratie und Menschenrechte geht.

Auch die Europäische Union sieht sich dazu aufgerufen, in diesem Wettstreit zwischen Demokratie und Diktatur Farbe zu bekennen. Sie möchte endlich zu einem wirkmächtigen globalen Akteur werden. Offen bleibt, was der strategische Kern dieser Bemühungen sein soll: Eigenständigkeit auch von den USA oder weiter an der Seite der USA gegen Russland/China? Neokoloniale Missachtung der Belange des Globalen Südens oder strikte Ausrichtung auf die globale, gleichberechtigte Kooperation zur Verwirklichung der »Sustainable Development Goals«? Was wir stattdessen wahrnehmen, ist eine Fokussierung auf die militärische Stärkung der EU (siehe z.B. W&F 1/2021). Die durch den Krieg begünstigte relative Einigkeit zwischen den Staaten der EU soll nun genutzt werden, um diesen Prozess voranzutreiben. Der Instrumentenkoffer dafür wurde über die vergangenen Jahre prall gefüllt: die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO), der Europäische Verteidigungsfonds (EDF), die Europäische Friedensfazilität oder auch die seit Jahren zunehmende Dual-Use Forschung in den Forschungsprogrammen der EU (bspw. Horizon 2020). Im Rahmen des »Strategischen Kompasses« soll nun zusätzlich eine neue 5.000-köpfige Eingreiftruppe geschaffen werden, die ab 2025 einsatzfähig sein soll (Demirel und Wagner 2022). Was davon tatsächlich umgesetzt werden wird, ist nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte nicht abschließend zu beantworten. Tatsache bleibt, dass die EU ihre hegemonialen Machtambitionen auf den oben geschilderten systemischen Konflikt ausrichten und militärisch untersetzen will. Damit bleibt auf der Strecke, dass sich die EU in den globalen Auseinandersetzungen der Zukunft als Macht des Interessenausgleichs, der globalen Zusammenarbeit, einer Politik der Deeskalation und der Abrüstung profilieren könnte.

Die NATO scheint immerhin – Stand Anfang April 2022 – nicht gewillt zu sein, sich direkt(er) am Krieg in der Ukraine zu beteiligen – die Risiken einer Eskalation und eines noch größeren Krieges mit aktiver NATO-Beteiligung erscheinen zu hoch. Dennoch werden Truppen und Material in die osteuropäischen Mitgliedsländer in Bewegung gesetzt.

Gleichzeitig ist der nukleare Schrecken zurück in den Köpfen und präsent wie seit über 30 Jahren nicht mehr, unverhohlene Drohungen eines Einsatzes dieser verheerenden Waffen inklusive. Dies ist umso bedrohlicher, da fast alle bi- und multilateralen Sicherungsinstrumente der zwischenstaatlichen Kooperation nicht mehr existieren. Im Bereich der nuklearen Waffen ist nur noch der »New Start«-Vertrag für die Begrenzung der Strategischen Nuklearwaffen verblieben, andere Instrumente der nuklearen und auch konventionellen Rüstungskontrolle wurden mal von den USA, mal von Russland aufgekündigt. Einem absichtlichen, aber auch versehentlichen Einsatz durch Fehleinschätzung und unbeabsichtigte Zwischenfälle muss vorgebeugt werden. Nukleare Abrüstung wird durch die aktuelle Eskalation nicht etwa weniger wichtig, wie die Regierungen auf beiden Seiten zu glauben scheinen, sondern umso dringender. Ein halbherziges Herangehen, wie das Deutschlands, ist nur wenig überzeugend. Dabei könnte Deutschland hier, wie Wolfgang Richter schreibt, einen wichtigen Beitrag leisten. Auch wenn das Signal für die Atomwaffen besitzenden Staaten nicht überschätzt werden solle, „die Glaubwürdigkeit seiner Abrüstungs- und Nichtverbreitungspolitik […] würde gestärkt werden, sollte sich Berlin aus der nuklearen Teilhabe lösen und dies als Beitrag zur globalen Abrüstung kommunizieren. Als politisches Signal würde ein solcher Schritt dem NVV-Prozess einen positiven Impuls geben“ (Richter 2021, S. 99).

Auch wenn sie im Kontext von verstärkter Aufrüstung, Militarisierung und Blockbildung derzeit wenig opportun erscheinen, so müssen Optionen der Deeskalation, diplomatischen Konfliktlösung und Abrüstung jetzt erst recht auf den Tisch.

Literatur

Bayer-Gimm, J. (2022): Friedensforscher: Westen muss für Verständigung aufrüsten. evangelisch.de, 3.3.2022.

Da Silva, D.; Tian, N.; Marksteiner, A. (2021): Trends in World Military Expenditure, 2020. SIPRI Fact Sheet.

Demirel, Ö.; Wagner, J. (2022): Strategischer Kompass weist den Weg zur Militärmacht EU. telepolis, 26.3.2022.

Richter, Wolfgang (2021): Abrüstung, Nichtverbreitung und nukleare Teilhabe. Deutschlands europäische und globale Verantwortung. In: Maihold, G. et al. (Hrsg.): Deutsche Außenpolitik im Wandel. Unstete Bedingungen, neue Impulse. SWP Studie 15, S. 97-100.

The White House (2022): The Royal Castle in Warsaw. Warsaw, Poland. 26.3.2022.

Wulf, H. (2022): Panikpolitik. ipg-journal.de, 15.3.2022.

Zellner, W. (2022): Der Zwang zur Abschreckung: Das Dilemma des Westens. Blätter, 04/2022.

Reflexionen über pazifistisches Handeln und Solidarität

von Christiane Lammers und David Scheuing

Mit Kriegsausbruch in der Ukraine sind pazifistisch begründete Forderungen und Hinterfragungen der Kriegslogik noch weiter in Bedrängnis geraten. Pazifismus und ein Eintreten für Gewaltfreiheit wird als moralisch nicht begründbare Haltung verstanden. Das Einlassen auf die Gewaltspirale sei die einzige Möglichkeit, um die Ukraine, Moldawien und Andere – womöglich auch uns – vor dem Zugriff Putins zu retten. Bleiben noch Möglichkeiten einer gewaltfreien, solidarischen Reaktion, fragen wir uns angesichts der gewaltsamen Eskalation.

In einem Interview zur Dringlichkeit pazifistischen Handelns setzt sich der Wissenschaftsphilosoph Olaf Müller (2022) mit dem Rettungsgedanken in dieser Kriegssituation auseinander, im Sinne des Schutzes von Menschenleben: Es sei kein Verteidigungskrieg denkbar, in dessen Verlauf keine Stadt in Schutt und Asche gelegt wird. An dem Schicksal von Mariupol sehen wir, wie unbarmherzig ein entschlossener Angreifer reagiert – gerade wenn er bzw. die Soldaten sich durch militärische Gegengewalt legitimiert sehen, durch Tötung und Zerstörung die eigene Haut zu retten. Olaf Müller liegt es fern, der Ukraine die Legitimität der (auch gewaltsamen) Verteidigung abzusprechen, aber er macht auf einen schwierigen Punkt aufmerksam: Entspricht es unserem Wertesystem, tausendfache Opfer in der Ukraine in Kauf zu nehmen und, das sei von uns hinzugefügt, hunderttausendfache Hungertote, die vermutlich als »Kollateralschaden« im Globalen Süden in diesem und in den nächsten Jahren sterben werden?

Auch mit dem berechtigten Verweis auf die diesbezügliche Schuld des russischen Aggressors kann man sich nicht aus der Verantwortung ziehen. Ebenso wie es uns fernliegt, der Ukraine Vorschriften zu ihrem eigenen Handeln zu machen, ist es auch unabdingbar, dass wir eigene Entscheidungen bezüglich unseres Handelns treffen und unsere deutsche und europäische Politik selbstkritisch in Zweifel ziehen. Die Hoffnung des Westens ist bislang darauf gerichtet, dass die Wehrkraft der Ukraine, unterstützt durch westliche Militärhilfe und begleitet von massiven Sanktionen gegen Russland, den Krieg beendet. NATO-Diplomat*innen und Militärexpert*innen warnen allerdings schon heute vor einem langanhaltenden Zermürbungskrieg, in dem beide Seiten nur verlieren können und die Wahrscheinlichkeiten für Kriegsverbrechen und hohe zivile Opferzahlen rasant steigen.1

Wenn der Rettungsgedanke von Müller hält, so ergibt sich also schon aus humanitären Gründen die Notwendigkeit, an der Abschaffung aller Gewaltmittel zu arbeiten. Dies allein ist jedoch unzureichend, um der Situation des Überfalls durch einen Aggressor zu begegnen. Außerdem dürfte eine solche Forderung, heute erhoben, in den Ohren der Ukrainer*innen wie Spott klingen. Zu Recht fordern sie unsere Solidarität.

Solidarität als gewaltfördernde oder -mindernde Vokabel

Doch was heißt nun »Solidarität«? Von staatlicher ukrainischer Seite wird unter Solidarität vor allem das Zurverfügungstellen von Waffenhilfe bis hin zum direkten Kriegseintritt verstanden. Wenn allseits in Europa argumentiert wird, dass letztlich vor allem Waffengewalt zählt – so z.B. bei den Begründungen für die massive Steigerung des Rüstungshaushalts in Deutschland – dann ist dies ein konsequentes Verständnis. Diese Gleichsetzung war auch in anderen gewaltförmigen Konflikten zu beobachten – z.B. in der inzwischen schon sprichwörtlichen Formel der »uneingeschränkten Solidarität«, die westliche Staaten nach dem 11. September 2001 gegenüber den USA erklärten.2

Solidarität könnte jedoch auch anders verstanden und umgesetzt werden: als gewaltminderndes Konzept, dessen Ziel es ist, vor allem Menschenleben konkret zu schützen. Hierzu zählt nicht nur die Flüchtlingshilfe, humanitäre Hilfe und alle erdenkliche Diplomatie. Es gilt auch zu prüfen, ob kurzfristig geplant Mittel des Sozialen Widerstands in dieser hoch eskalierten Situation Sinn machen.

  • Zum Stichwort Flüchtlingshilfe: Es muss alles getan werden, damit Fluchtkorridore offen bleiben bzw. neu geöffnet werden. Auch Männern sowie Personen, die den Kriegsdienst verweigern wollen, muss die Flucht ermöglicht werden.
  • Humanitäre Hilfe wird in großem Ausmaß und lange erforderlich sein. Es wird erheblichen Finanzierungsschwierigkeiten zu begegnen sein, da die internationale humanitäre Hilfe weltweit massiv beansprucht wird.
  • Bezüglich bisher öffentlich gewordener diplomatischer Initiativen ist es etwas irritierend, dass, zumindest medial vermittelt, vor allem auf westliche Regierungsvertreter*innen gesetzt wird. Schröders Treffen mit Putin wurden mit Hohn quittiert, von China verlangte man vielseits eine eindeutige Positionierung gegen die russische Regierung, die UN wurde vor allem als Struktur für Deklarationen gegen Russland genutzt (siehe dazu auch Zumach in dieser Ausgabe, S. 21). Das mag alles politisch gut begründbar sein, aber wird dabei nicht verkannt, dass es dringend eines »neutralen Dritten« bedarf, um die Aushandlung eines Waffenstillstands voranzutreiben?

Hoffnungen auf Soziale Verteidigung? Naiv gedacht?

Nun zum Letztgenannten: der solidarischen Unterstützung des Sozialen Widerstands. Die Berichterstattung über das Kriegsgeschehen lässt kein klares Bild entstehen über Art, Ausmaß und Relevanz des Widerstands der ukrainischen Zivilbevölkerung. Die hohen Flüchtlingszahlen innerhalb der Ukraine und in die Nachbarstaaten lassen vermuten, dass der zivile Widerstandswille nicht so groß ist, wie seitens der ukrainischen Regierung vermittelt. Wie dem auch sei: Ziviler Widerstand ist analytisch zu trennen von »Sozialer Verteidigung«.

Ersterer kann auch gewaltförmige Mittel einschließen, also auch Methoden des bewaffneten Partisanenkampfs. Die heroisch anmutenden Bilder von Molotow-Cocktails und Bomben bauenden Ukrainer*innen haben wir vor Augen.3 Gewaltförmiger, zivilgesellschaftlicher Widerstand bedeutet jedoch, dass involvierte Zivilpersonen zu Kombattant*innen im Krieg werden, d.h. nicht mehr völkerrechtlich bzw. durch das Kriegsrecht geschützt sind. Im urbanen Kampfgeschehen werden unbewaffnete Zivilist*innen zu »menschlichen Schutzschilden«. Es wird am Ende kaum mehr zu unterscheiden sein, ob Zivilist*innen im Kampf getötet oder widerrechtlich umgebracht wurden. Die vielen Toten, die nach dem Rückzug der russischen Truppen aus den Kiewer Vorstädten gefunden wurden, geben schon einen bitteren Vorgeschmack darauf, wie die Kriegslogik greift.

Bleibt die Frage, ob solidarisches Handeln auch im Kontext der sogenannten »Sozialen Verteidigung« in dem jetzt hoch eskalierten Konflikt realisierbar wäre. Im Fokus der Sozialen Verteidigung steht nicht die Verteidigung des Territoriums, sondern die aktive Verteidigung der eigenen Lebensweise und Werte. Die dahinterstehende Annahme ist, dass letztlich die Kooperations»bereitschaft« der Bevölkerung darüber entscheidet, ob der Aggressor, hier die russische Regierung, etwas von der Kriegssituation und der Besetzung der ukrainischen Landesteile und Städte hat. Methoden der Sozialen Verteidigung sind etwa: Verlangsamung der Arbeit, Boykott u.a. von Institutionen der Gewaltprofiteure (oft bspw. Banken), Generalstreik oder Demonstrationen. Dabei ist natürlich nicht zu verkennen, dass Gewaltfreiheit unter kriegerischen Zuständen auch gefährlich ist und Menschenleben fordern kann. In Deutschland arbeitet vor allem der Bund für Soziale Verteidigung (BSV) an und mit dem Konzept. Die Frage, ob die Bedingungen für gewaltfreie Soziale Verteidigung in der Ukraine gegeben waren und sind, wird dort bejaht (BSV 2022). Dass es derzeit einen praktizierten gewaltfreien Widerstand sowohl in der Ukraine als auch in Russland gibt, wird vom Metta Center for Nonviolence (2022) eindrucksvoll dokumentiert (siehe auch Wintersteiner in dieser Ausgabe, S. 24).

Unser solidarisches Handeln ist hierbei gefordert: Neben der Notwendigkeit, diesen Ansätzen in den politischen Debatten Gewicht zu geben, heißt es, diese konkret und praktisch zu unterstützen. Solidarität könnte sich ausdrücken in »Zivilem Peacekeeping«, auch wenn dies primär präventiv gedacht ist (vgl. Nonviolent Peaceforce 2021).4 Anwendung könnten Erfahrungen des »Balkan Peace Team« aus den 1990er Jahren finden, die im Rahmen einer internationalen Kooperation mehrerer Friedensorganisationen lokale Friedensfachkräfte, die Schutzbegleitung von Menschenrechtsaktivist*innen, Besuche der Flüchtlingslager, Versöhnungsarbeit, Jugendarbeit und Lobbyarbeit (Regierungen, diplomatische Vertreter*innen und NGOs) beinhaltete (Müller und Foster 2012). Aber auch für solches Vorgehen gilt, dass es seine Wirksamkeit erst dann entfalten kann, wenn es geplant Teil eines Gesamtkonzeptes ist – einer transnationalen Notfallvorbereitung, die Friedensorganisationen in den letzten Jahren haben vermissen lassen.

Pazifismus und Soziale Verteidigung als Grundräson?

Ein Gedankengang zum Schluss: Viele, die in der Friedensarbeit aktiv sind, lehnen das von der Bundesregierung beschlossene Sondervermögen in Höhe von 100 Mrd. € für die Bundeswehr ab. Angesichts der Verunsicherung durch die Unwirksamkeit bisheriger, als konflikteinhegend eingeschätzter Instrumente – von der UN-Charta, internationalen Institutionen bis hin zu ökonomischen Projekten wie Nordstream 2 –, werden wir nicht darum herumkommen zu antworten auf die Fragen: „Was soll geschehen, wenn die Krisenprävention versagt? Wollen wir, dass unser Land sich verteidigen kann?“ Aus den anfangs für die Ukraine genannten Gründen folgt die Frage nach der Form der Selbstverteidigung, die wir bereit wären zu tragen. Dieser Frage sollte nicht ausgewichen werden: Auch deshalb, weil Soziale Verteidigung, der Strategie, der Mittel und der Kompetenzen bedarf. 100 Mrd. € wären hierfür nicht notwendig, aber Planung und Vorbereitung, womöglich auch eine entsprechende gesellschaftliche Kultur. Es ist höchste Zeit, unsere eigene Politik zu hinterfragen und für Soziale Verteidigung zu streiten – in Solidarität mit den akut vom Krieg betroffenen Menschen, wie für unsere eigene Zukunft.

Anmerkungen

1) Siehe z.B. Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß im Interview mit dem Deutschlandfunk (Küpper 2022).

2) Zur Problematisierung der Solidarität im Kontext des Ukraine-Kriegs, siehe auch Vondermaßen und Bieß (2022).

3) »Stern« und »Focus« verifizierten diverse dieser Videos, die Ende Februar 2022 verbreitet wurden.

4) Das Konzept hat erstaunlicherweise auch Eingang in die Leitlinien der Bundesregierung zur Zivilen Krisenprävention von 2017 gefunden.

Literatur

BSV (2022): Gewaltfreie Alternativen zu Krieg und Rüstung. Thesenpapier von Christine Schweitzer, 15.03.2022.

Küpper, M. (2022): Militärstratege Brauß befürchtet „langen Zermürbungskrieg“. DLF, 21.3.2022.

Metta Center for Nonviolence (2022): Resistance to war in Ukraine: Actions, news, analyses, and resources for nonviolence. mettacenter.org/nonviolencereport/resistance-to-war-in-ukraine-resource-list, kontinuierlich aktualisiert.

Müller, B.; Foster, P. (2012): The Balkan Peace Team 1994-2001 Non-violent intervention in crisis areas with the deployment of volunteer teams. Stuttgart: ibidem Verlag.

Müller, O. (2022): Optionen des Pazifismus in kriegerischen Zeiten. Interview mit dem SRF. Vollständiges Transkript, W&F Blog.

Nonviolent Peaceforce (2021): Unarmed civilian protection. Strenghtening civilian capacities to protect civilians against violence. Zweite Edition. Selbstverlag.

Vondermaßen, M.; Bieß, C. (2022): Solidarität mit der Ukraine. Blogbeitrag, BedenkZeiten (Uni Tübingen), pdf bei Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.

Die Lage im Donbass


Die Lage im Donbass

Noch ein eingefrorener Konflikt?

von Agnieszka Legucka

Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sind Georgien, Aserbaidschan, Armenien, Moldawien, die Ukraine und auch die Russische Föderation von eingefrorenen Konflikten betroffen, die sich auf die innenpolitische, wirtschaftliche und soziale Lage im jeweiligen Land ebenso auswirken wie auf die Nachbarländer. Die Autorin beschreibt den Konflikt im Donezbecken (Donbass) der Ostukraine, der bereits mehr als drei Jahre anhält, aus ihrer Sicht. Sie stellt die These auf, dass auch dieser Konflikt einfriert, da sich die Ukraine und Russland nicht über die Zukunft der Region einigen können.

Ein eingefrorener Konflikt ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Auseinandersetzung zwar nicht mehr mit Waffen ausgetragen wird, es jedoch auch nicht gelingt, die Konflikt­ursachen zu lösen. Gleichzeitig bildet sich im umstrittenen Gebiet ein Quasi-Staat heraus, welcher Unterstützung von einer starken Drittpartei erhält, die den Konflikt für ihre eigenen außenpolitischen Ziele nutzt (Kolstø 2006, S. 725).

Die eingefrorenen Konflikte im postsowjetischen Raum durchlaufen in der Regel drei Phasen: die Chaosphase (bewaffneter Konflikt), die Verhandlungs- und Waffenstillstandsphase und die eingefrorene Phase, in welcher sich der Quasi-Staat mit Hilfe einer externen Macht konsolidiert. Diese letzte Phase setzt nicht unbedingt einen Waffenstillstand voraus, es reicht auch ein Abflauen der bewaffneten Auseinandersetzung und eine zumindest informelle Grenzziehung zwischen Separatisten und Mutterstaat (Solak 2009, S. 234).

Die Definition eines eingefrorenen Konflikts ist manchmal unscharf. Manche Wissenschaftler*innen verwenden eher den Begriff »anhaltender« Konflikt (protracted conflict), wenn es auf beiden Seiten noch regelmäßig zu militärischen Auseinandersetzungen und zu Todesopfern, inklusive Zivilist*innen, kommt, wie beispielsweise in Bergkarabach (Secerieru 2013, S. 2). Aktuell werden im post-sowjetischen Raum vier Konflikte als eingefroren bezeichnet. In all diesen Konflikten fanden kriegerische Auseinandersetzungen um umstrittene Gebieten statt: Bergkarabach (1988-1994) (siehe dazu den Text von Azer Babayev auf S. 18), Südossetien (1991-1992) und Abchasien (1992-1994) (siehe dazu den Text von Oliver Wolleh auf S. 21) sowie Transnistrien (1991-1992). In der Folge dieser militärischen Auseinandersetzungen erklärten Abchasien und Südossetien ihre Unabhängigkeit von Georgien, Transnistrien von Moldawien und Berg­karabach von Aserbaidschan (Legucka 2013, S. 100-123).

Seit Anfang 2014 spielt sich auf dem Gebiet der Ukraine ein weiterer Konflikt ab, der »einzufrieren« droht. Hier geht es um die »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk im Donbass-Gebiet, im Osten der Ukraine, deren Grenzen weiterhin militärisch umkämpft sind.

Die Annexion der Krim wird von einigen Wissenschaftler*innen missverständlich als »eingefrorener Konflikt« bezeichnet (Racz 2016). Dieser Fall stellt sich jedoch anders dar. Zum einen ist die Halbinsel seit 2014 unter De-facto-Kontrolle und -Jurisdiktion von Russland, einem völkerrechtlich anerkannten Staat und Mitglied des Europarates. Zum anderen handelt es sich bei der Krim nicht um einen Quasi-Staat, den Russland zur Ausweitung seines außenpolitischen Einflusses nutzt, sondern um ein von der Russischen Föderation besetztes Gebiet. Russland beansprucht die Krim als integralen Bestandteil seines Hoheitsgebietes, weshalb auch keine Friedensgespräche stattfinden. Die Definition für einen eingefrorenen Konflikt passt hier also nicht.

Der Fall Ukraine

Die drei oben beschriebenen Phasen für das Entstehen eines eingefrorenen Konflikts im postsowjetischen Raum treffen aber auf die Ostukraine zu. Militärische Auseinandersetzungen begannen im Donbass im März 2014. Das war die Zeit des Chaos – die erste Phase, die Herausbildung eines Quasi-Staates. Nach einmonatigen Kämpfen wurde am 7. April die Volksrepublik Donezk (Donezkaja narodnaja respublika, DNR) und am 27. April die Volksrepublik Lugansk (Luganskaja narodnaja respublika, LNR) ausgerufen. Russland verfolgte ursprünglich das Projekt »Novorossija« (Neurussland), welches etliche Gebiete im Süden und Osten der Ukraine umfassen sollte, jedoch scheiterte. Daher begann Russland, sich für eine lokale Vertretung der Donbass-Region bei den Friedensgesprächen stark zu machen und legitimierte die DNR und die LNR dadurch als reguläre Konfliktparteien – die zweite Phase des Konflikts. So wollte Russland nicht nur das Vorgehen des ukrainischen Militärs beeinflussen, sondern vor allem Präsident Petro Poroschenko an den Verhandlungstisch zu den Minsker Abkommen zwingen. Wladimir Lukin, in den 1990er Jahren Botschafter der Russischen Föderation in den Vereinigten Staaten und 2014 wiederholt als Vermittler sowie als russischer Menschenrechtsbeauftragter in der Ukraine tätig, sagte: „Vergiss die DNR und die LNR. Ziel [der Gegenoffensive vom August 2014] ist es, Poroschenko klar zu machen, dass er nicht die Oberhand gewinnen wird [… Der Kreml] wird so lange Truppen schicken, bis Poroschenko das versteht und sich mit denjenigen an den Verhandlungstisch setzt, die Putin dort sehen will.“ (Charap 2016, S. 2)

Im Vergleich zu anderen Konflikten im postsowjetischen Raum hat Russland im Donbass größere Mühe, als Mediator und Stabilisierungskraft aufzutreten. Dank seiner Teilnahme an den Friedensgesprächen im Normandie-Format (Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland), bei denen es um die Umsetzung der Abkommen Minsk I und II geht, kann Russland jedoch Vorschläge unterbreiten, wie die Lage im Donbass gelöst werden kann. Russland wirbt für eine dezentralisierte und föderale Ukraine, in der die regionalen Organe erheblichen Einfluss auf die Innen- und Außenpolitik hätten. Die Führungsspitze der Ukraine lehnt dies jedoch ab, da sie befürchtet, die regionalen Vertreter des Donbass beeinträchtigten eine unabhängige Russlandpolitik. Daher wird Russland wohl die Minsker Abkommen nur halbherzig unterstützen und dafür sorgen, dass möglichst wenige der Vereinbarungen umgesetzt werden. Parallel dazu wird Russland die Verwaltungsgremien der DNR und LNR unterstützen und ausstatten. In diesem Sinne erließ der russische Präsident am 18. Februar 2017 ein Dekret zur Anerkennung von Dokumenten und Urkunden, welche von den Regionalverwaltungen im Donbass ausgestellt werden. Damit signalisiert Russland die De-facto-Legimitierung dieser Regionalverwaltungen – möglicherweise läutet dies Konfliktphase drei und somit einen weiteren eingefrorenen Konflikt ein.

Im September 2017 schlug der russische Präsident Putin zwar eine Blauhelm-Mission der Vereinten Nationen im Donbass-Gebiet vor, aber auch dabei geht es wohl vorrangig darum, die Demarkationslinie zwischen den von der Ukraine und den Separatisten beherrschten Gebieten festzuklopfen.

Der Krieg in der Ukraine hat Auswirkungen auf ganz Mittel- und Osteuropa. Auf der Krim sind etwa 24.000 russische Soldation stationiert, und im Südlichen Militärdistrikt [einem von vier strategischen Kommmandos der russischen Streitkräfte; R.H.] stehen etwa 72.000 Soldaten bereit, die jederzeit Richtung Donbass marschieren könnten (Dyner 2016). Auch wenn viele den Konflikt momentan als »eingefroren« einstufen, ist die Sorge vor einer erneuten Eskalation groß. Die Nachbarstaaten fürchten eine russische Aggression und bauen ihre Streitkräfte und ihr Verteidigungspotential entsprechend aus. Auf dem NATO-Gipfel in Warschau im Juli 2016 wurde eine verstärkte Präsenz der NATO an der so genannten Ostflanke des Bündnisses beschlossen. Seit Januar 2017 sind in Polen, Rumänien und den baltischen Staaten multinationale Kampftruppen mit je 1.000 Soldaten stationiert. Diese Truppenverstärkung der NATO empörte Russland dermaßen, dass es seinerseits mit einer Verlagerung zusätzlicher Waffen in den Oblast Kaliningrad reagierte und mit »Sapad-17« das größte je in Westrussland und Belarus stattgefundene Manöver abhielt.

Fazit

Die Sicherheit in Mittel- und Osteuropa hängt davon ab, eine Lösung für die diversen eingefrorenen Konflikte zu finden. Diese wirken insgesamt destabilisierend, beinträchtigen die Beziehungen zwischen den Nachbarstaaten und stärken die Position Russlands, welches die einzelnen Konflikte für eigene außenpolitische Ziele instrumentalisiert. Infolgedessen wird die gesamte Region zunehmend militarisiert, was zu einem Wettrüsten führt, Sicherheitsdilemmata erzeugt und sogar die Gefahr befördert, dass Streitkräfte nicht nur ausgebaut werden, sondern auch zum Einsatz kommen.

Bei vier Konflikten im postsowjetischen Raum waren seit den frühen 1990er Jahren externe Akteure (Vereinte Nationen, OSZE und Russland) an den Friedensprozessen beteiligt. Dennoch dauern diese Konflikte aus vielfältigen Gründen an. Einerseits wurde Russland in den Friedensprozessen bzw. den Verhandlungen über Gebietszugehörigkeiten selbst zum Teil des Problems und scheint im Hinblick auf die andauernden Konflikte einem strategischen Paradigma zu folgen, das als »kontrollierte Instabilität« bezeichnet werden kann. Auf der anderen Seite konsolidiert in den Kriegen und Konflikten die jeweilige politische Elite des Mutterstaats ihre Postion und nutzt die Situation, um Reformen zu verschieben und Probleme im Inneren zu ignorieren.

Der Lage in der Ukraine kommt daher große Relevanz zu, da der Krieg einerseits das Land ökonomisch schwächt; in mancherlei Hinsicht wird der Staatenbildungsprozess im Land aber auch gestärkt und die politische Elite der Ukraine dazu gezwungen, interne Reformen anzustoßen, von denen die Gesellschaft langfristig profitieren könnte. Vieles hängt also vom Willen ab, Reformen tatsächlich durchzuführen, und von der Unterstützung der Europäischen Union.

Literatur

Charap, S., (2016): Russia’s Use of Military Force as a Foreign Policy Tool – Is There a Logic? Ponars Eurasia, Policy Memo No. 443, October 2016.

Dyner, A.M. (2016): Russia Beefs Up Military Potential in the Country’s Western Areas. Polish Institute of International Affairs, Bulletin 35-2017; pism.pol.

Kolstø, P. (2006): The Sustainability and Future of Unrecognized Quasi-States. Journal of Peace Research, Vol. 43, Issue 6.

Kosienkowski, M. (2008): Quasi-panstwo w stosunkach miedzynarodowych [Quasi-states in international relations]. Stosunki Miedzynarodowe [International Relations], No. 3-4/2008, S. 38).

Legucka, A. (2013): Geopolityczne uwarunkowania i konsekwencje konfliktów zbrojnych na obszarze poradzieckim [Geopolitical factors and consequences of the military conflicts on the Post-Soviet area]. Warszawa: Difin.

McDerrmott, R.N. (2016): Brothers disunited – Russia’s use of military power in Ukraine. In: Black, J.L.; Johns, M. (eds): The Return of the Cold War – Ukraine, the West and Russia. London, New York: Routledge.

Racz, A. (2016): The frozen conflicts of the EU’s Eastern neighbourhood and their impact on the respect of human rights. Brussels: European Parliament, Directorate-General for External Policies-Policy Department.

Secrieru, S. (2013): Protracted Conflicts in the Eastern Neigbourhood – Between Averting Wars and Building Trust. Istanbul: Kadir Has Üniversitesi, Neighbourhood Policy Paper, No. 6.

Solak, J. (2009): Moldawia Republika na trzy peknieta – Historyczno-spoleczny, militarny i geopolityczny wymiar »zamrozonego konfliktu« o Naddniestrze [Moldova Republic cracked in three parts – The historical-social, military and geopolitical dimension of the »frozen conflict« of Transnistria]. Torun: Europejskie Centrum Edukacyjne.

Dr. habil. Agnieszka Legucka ist am Polish Institute of International Affairs (pism.pl) Expertin für post-sowjetische Sicherheitsfragen und für russische Außenpolitik. Außerdem ist sie Mitglied der Fakultät Business and International Relations der Vistula University in Warschau.
Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Es braucht mehr Solidarität!

Es braucht mehr Solidarität!

Replik auf Velten Schäfer

von Björn Kunter

Am Beispiel der Ukraine macht sich ganz unterschiedliche Kritik an der Außenpolitik der Bundesregierung fest. Einer der umstrittenen Fragen dreht sich darum, ob das außenpolitische Agieren der Bundesregierung in der Ukraine zur Eskalation und damit zum bewaffneten Konflikt beigetragen habe. In W&F 4-2015 vertrat Velten Schäfer in seinem Artikel »Zivile Aggression? Die Ukraine, die deutsche Außenpolitik und die Friedensbewegung« die These, die Friedensbewegung müsse sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass zivilgesellschaftliches Engagement in anderen Ländern „zum Instrument aggressiven außenpolitischen Handelns uminterpretiert“ werden könne und so „zu einer gewalttätigen Eskalation von Konflikten beitragen“ könne. Er empfahl als Gegenstrategie, über eine Politik der strikten Nicht-Einmischung nachzudenken. Björn Kunter ist ganz anderer Meinung und begründet hier, warum.

Velten Schäfer greift in seiner Analyse des deutschen Handelns im Ukrainekonflikt (W&F 4-2016, S.38-40) ein wichtiges Thema auf: Er nimmt einen neuen zivilgesellschaftlichen Interventionismus wahr und hinterfragt die »Partnerschaft mit der Zivilgesellschaft« durch Regierungsstellen. Doch läuft der innenpolitische Redakteur des »neuen deutschland« bei seiner Analyse der Ukrainekrise in eine Falle neokolonialistischen Denkens, die auch in der Friedensbewegung weit verbreitet ist.

Schäfer erkennt zwar an, dass es viel zu kurz greift, „den »Maidan« nur auf diese Politik der »pro-westlichen Landschaftspflege« zurückzuführen und ihn pauschal als extern finanzierten Staatsstreich einzustufen. Solche Bewegungen lassen sich weder einfach von außen »aufbauen« noch sind sie punktgenau zu steuern. Sie haben erhebliche Eigendynamiken, »der Westen« ist für viele Akteure aus verschiedenen Gründen politisch und ökonomisch attraktiv. Die unterstützten Organisationen und Strömungen sind weder einfach Einflussagenten noch steht bei ihnen die Außenpolitik notwendigerweise an erster Stelle; oft kümmern sie sich um reale soziale Probleme.“ Doch wirklich eigene Wirkungsmacht – also die Möglichkeit, das eigene Geschick selbst zu steuern, wie wir es mit Art. 20(2) des Grundgesetzes, „Alle Staatsgewalt geht vom [deutschen] Volke aus“, für uns selbst definieren und fordern – gesteht er den ukrainischen Akteuren nicht zu. Vielmehr konstatiert Schäfer , dass „die »Maidan«-Bewegung bereits in der Entstehung nicht ohne das Kräftefeld denkbar [ist], das von außen aufgebaut wurde, und schon gar nicht ihr »Sieg« ohne den dann demonstrativen Schulterschluss westlicher Regierungen“. Aus ukrainischer Perspektive klingt das herablassend und in etwa so absurd, wie für uns die »Reichsbürger«-Thesen von Deutschlands fortwährender Besetzung.

Schäfers Feststellung ist weder allgemein noch auf die Ukraine bezogen stimmig. Erica Chenoweth und Maria J. Stephan (2011) zeigten in einer vergleichenden Untersuchung gewaltfreier und gewaltsamer Aufstandsbewegungen auf, dass auswärtige Unterstützung zwar auf gewaltsame Bewegungen einen signifikanten Einfluss hat, die Erfolgschancen gewaltfreier Bewegungen jedoch nicht erhöht.1 Bezogen auf die Ukraine ist die Hypothese eines entscheidenden äußeren Einflusses schon deshalb unglaubwürdig, weil die damalige Dominanz Russlands in quasi jedem Bereich der ukrainischen Gesellschaft (Wirtschaft, Verwaltung, Sicherheitsdienste, Politik) unübersehbar war. Wäre das „von außen aufgebaute“ Kräftefeld wirklich so entscheidend, wie Schäfer behauptet, hätte es keinen erfolgreichen »Euromaidan« geben können.

Schäfer belegt seine Theorie nicht mit innerukrainischen Wirkungsbeobachtungen, auch nicht mit den Wirkungsbehauptungen der in der Ukraine tätigen Nichtregierungsorganisationen, sondern mit Absichtserklärungen und symbolischen Gesten der deutschen und europäischen Regierungspolitik. Als Beispiel führt er den Besuch des damaligen Außenministers Westerwelle auf dem Maidan an, der dazu geführt habe, dass „die Entscheidung de facto gefallen“ sei. Außerdem irrt Schäfer, wenn er die Schaffung der »Fazilität für die Zivilgesellschaft in der Östlichen Partnerschaft« und des »Europäischen Fonds für Demokratie« in den Kontext des Arabischen Frühlings stellt. Tatsächlich sind beide Instrumente nur zu verstehen vor dem Hintergrund des langjährigen Scheiterns der europäischen Nachbarschaftspolitik, insbesondere der bis in den Sommer 2011 andauernden brutalen Zerschlagung der belarussischen Opposition nach den Präsidentschaftswahlen vom Dezember 2010.

Kein Masterplan des Westens

Gerade die Entstehung der Östlichen Partnerschaft zeigt, dass die deutsche und europäische Politik gegenüber diesen Staaten bis 2013/14 nicht von einem »Masterplan« oder strategischem Denken geprägt war. Vielmehr nahm die Bedeutung der Zivilgesellschaft für die Außenpolitik aufgrund von zwei ganz anderen Faktoren zu: die Ratlosigkeit angesichts des offensichtlichen Scheiterns der bisherigen Demokratisierungshilfe und die Bedeutungslosigkeit der osteuropäischen Länder für die westliche Politik. Erst das Scheitern der auf zwischenstaatlichen Verträgen basierenden staatlichen Transformationshilfen setzte die Ressourcen frei, um verstärkt zivilgesellschaftliche Demokratisierungshilfe leisten zu können bzw. zu müssen, da die regelmäßigen Krisen in Belarus und in der Ukraine immer wieder (symbolische) Reaktionen erforderten. Angetrieben wurde die Politik nicht nur von den neuen EU-Mitgliedern in Osteuropa, die sich als Paten ihrer Nicht-EU-Nachbarn verstanden, sondern auch aus den zivilgesellschaftlichen Partnerschaften, die (oft in Folge der Tschernobylsolidarität) schon lange zuvor insbesondere in Deutschland, Österreich, Italien, Schweden und den Niederlanden entstanden waren.2 Der Anstieg der Mittel für zivilgesellschaftliche Projekte ist daher weniger auf zentrale strategische Entscheidungen zurückzuführen, sondern überwiegend ein Resultat punktuell erfolgreicher zivilgesellschaftlicher Lobbybemühungen. Ermöglicht wurde dies durch die Bedeutungslosigkeit von Belarus und Ukraine in der außenpolitischen Strategiebildung der EU, die sich selbst zwei Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion vor allem an Moskau orientierte und die östliche Nachbarschaftspolitik eher nebenbei vorantrieb.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Schäfer hat recht, wenn er schreibt, dass die auswärtige Förderung der Zivilgesellschaft zugenommen habe und im Gegensatz zur belächelten Bürgerdiplomatie des Kalten Krieges heute durchaus als wirkmächtig wahrgenommen werde. Er hat auch recht mit der Feststellung, dass zivilgesellschaftliche Bewegungen destabilisierend wirken könnten3 und ihre Förderung aus dem Ausland von den betroffenen Regimen häufig als Aggression wahrgenommen werde. Doch sucht er an der falschen Stelle, wenn er das Handeln der Bundesregierung bzw. der EU als ursächlich vermutet. Selbst der Blick auf die US-Regierung führt diesbezüglich nicht weiter, obgleich US-Regierungsstellen oft strategischer und geschlossener agieren als die EU und die Bundesregierung.4 Zu beobachten ist stattdessen, dass schon die Koordination zwischen den Geldgebern in der Regel nicht funktioniert und erst recht nicht zwischen den untereinander konkurrierenden durchführenden Nichtregierungsorganisationen. Allenfalls lassen sich »Modewellen« feststellen, bei denen viele Akteure zur gleichen Zeit das gleiche fördern. Eine strategische Koordinierung der westlichen Demokratisierungshilfe ist nicht die Regel, sondern eine seltene Ausnahme.

Eine solche Ausnahme stellt die systematische Stärkung der Opposition im Vorfeld der belarussischen Präsidentschaftswahlen 2001 dar, die weitgehend von der OSZE-Beobachtermission in Minsk unter Leitung des ehemaligen Botschafters und BND-Präsidenten Hans-Georg Wieck koordiniert worden war und als (gescheiterter) erster Versuch einer »Farbrevolution« verstanden werden kann.5 Auch lässt sich aufzeigen, dass sich viele relevante Akteure der auswärtigen und lokalen Zivilgesellschaft und ihre staatlichen westlichen Geldgeber vor der »Rosenrevolution« in Georgien (2003) und insbesondere nach der »Orangen Revolution« 2004 in der Ukraine vom Leitbild der gewaltfreien Revolution tragen ließen und solche Ansätze gezielt unterstützten. Teilweise wurde hierbei auch erheblicher Druck auf die Hilfeempfänger ausgeübt, um ein einheitliches Vorgehen zu forcieren.6 Doch nach dem Scheitern weiterer Versuche gewaltfreier Regierungsumstürze (insbesondere Belarus 2006, Aserbaidschan 2008) und angesichts der Ernüchterung über die Selbstzerlegung des »Orange«-Blocks in der Ukraine nach 2004 verlor das Leitbild »Farbrevolution« schnell an Glanz und spielte schon bei den belarussischen Präsidentschaftswahlen 2010 keine Rolle mehr.

Auch der Arabische Frühling bewirkte keine Änderung der westlichen Förderstrategien in Osteuropa. Beispielsweise ergibt sich aus der USAID-Länderstrategie für die Ukraine 2012-16, dass die US-Förderprogramme zu Beginn des »Maidan« vor allem auf eine Umsetzung demokratischer Reformen durch die Regierung von Janukowitsch zielten und den Beitrag der Zivilgesellschaft zur Demokratisierung vor allem bei der Beratung von Gesetzesvorhaben, im Kampf gegen lokale Korruption und in der Stärkung der lokalen Demokratie sahen.7 Aus dem Evaluationsbericht8 des entsprechenden Programms zur Stärkung der Rolle der Zivilgesellschaft bei der Umsetzung demokratischer Reformen (UNITER, 2008-30.9.2013) kann man außerdem viel über die Probleme der ukrainischen Zivilgesellschaft und die begrenzte Wirkung der Förderprogramme erfahren, aber keinesfalls erahnen, dass wenige Wochen später der »Euromaidan« das Land umkrempeln wird. Stattdessen herrschte allenthalben Ratlosigkeit.

Internationale Solidarität

Fatalerweise nutzt Schäfer seine Kritik am deutschen Regierungshandeln in der Ukraine (wiewohl er es in weiten Teilen als „Nicht-Handeln“, „verpasste Chancen“ etc. beschreibt) als Plädoyer für eine grundsätzliche „anti-interventionistische Neuaufstellung“.

Seiner grundsätzlichen Empfehlung, staatliche Außenpolitik nicht mehr mit zivilgesellschaftlichen Mitteln zu verfolgen, kann ich durchaus in Teilen zustimmen. Das gilt insbesondere für die direkte Verknüpfung mit militärischen Einsätzen, wie sie die Bundesregierung in Afghanistan versucht hat.9 Auch in anderen Situationen sind staatliche Stellen selten die besten Geldgeber für die Förderung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten. In der Regel ist das Problem jedoch nicht, dass sie zu viel Einfluss ausüben, sondern dass sie konzeptlos und spontanistisch mehr Schaden als Wirkung zu erzielen drohen, so bei den aktuellen Spontanmitteln zur Förderung der Zivilgesellschaft in der Ukraine und bei der Östlichen Partnerschaft.10 Allerdings kann es auch keine Alternative sein, die (interventionistische) Arbeit für Frieden, Demokratie und Menschenrechte allein der Privatwirtschaft oder dem gemeinnützigen (letztlich doch auch wieder privatwirtschaftlichen) Spendenmarkt zu überlassen. Denn natürlich sind Sponsoren wie Bill Gates, George Soros, die Bertelsmann Stiftung etc. nicht legitimer oder weniger interessengesteuert als Staaten.

Nicht zuletzt aus demokratietheoretischen Gründen würde ich es daher vorziehen, den Staat nicht vollkommen aus der Finanzierung und Aufsicht der Zivilgesellschaft zu entlassen. Institutionen wie das Deutsch-Französische Jugendwerk könnten hier Vorbildcharakter haben, insbesondere wenn es gelingt, die Gesellschaft und Politik der Empfängerländer mit einzubeziehen.

Schäfer kritisiert den deuschen Bundespräsidenten Gauck aus gutem Grund dafür, dass „viele zwischen »Werten« und geostrategischen Interessen des »Westens« keinen Widerspruch sehen. »Wir« sind nun mal die Guten.“ Es wäre sogar konfliktverschärfend, sollten nicht Interessen, sondern Werte durchgesetzt werden, weil die ökonomische Ebene dann durch Kulturkämpfe überlagert würde. Nur weil Gauck in pastoraler Beschränktheit nicht zwischen Werten und Interessen differenzieren kann, sollte die Friedensbewegung dies keinesfalls übernehmen, sondern sich um so vehementer an international vereinbarten Normen orientieren und für den Schutz der Menschenrechte (auch durch die westlichen Staaten und internationalen Institutionen) einsetzen.. Dabei wird es tatsächlich nicht ausreichen, auf die „Verrechtlichung und Institutionalisierung der internationalen Politik zu hoffen“, allerdings nicht so sehr, weil sie ein „totes Pferd“ sei, wie Schäfer urteilt, sondern weil auch der Weg über Institutionen und Gerichte vor allem oder ausschließlich den »Starken« offensteht. Denn selbst wenn sich auch die mächtigen Staaten und Konzerne der internationalen Gerichtsbarkeit unterwerfen, wird es schon armen Staaten sehr schwer fallen, dort Verfahren gegen mächtige GegnerInnen zu führen; unterdrückte Bevölkerungsgruppen werden dies alleine nie leisten können.

In vielen Konfliktkonstellationen können Landlose, KinderarbeiterInnen und -soldatInnen, Näherinnen und verfolgte Minderheiten im Globalen Süden (und Osten) ihre Lebensbedingungen nur durch (nicht-militärische) internationale Intervention beziehungsweise solidarische Hilfe internationaler Organisationen und Netzwerke verbessern und ihre Rechte durchsetzen. Galtung nannte dies die „große Kette der Gewaltlosigkeit“, durch die die Opfer in der globalisierten Welt erst konfliktfähig werden.11 Denn wenn Frieden in galtungscher Definition vor allem als ein Zustand der gewaltfreien Konfliktaustragung definiert ist, muss es, wie Diana Francis (2002) und Véronique Dudouet (2011)12 ausarbeiten, immer auch darum gehen, durch gewaltfreien Widerstand Konfliktaustragung und »faire Bedingungen« erzwingen zu können. In diesem Sinne brauchen wir keine Wiederbelebung des Prinzips der Nichteinmischung in die Politik souveräner Staaten, wie Schäfer meint, sondern mehr und vor allem besseren Interventionismus – als gelebte internationale Solidarität mit den Machtlosen und Unterdrückten.

Erfolgreicher gewaltfreier Widerstand bedeutet zwar immer auch eine Destabilisierung bestehender Herrschaftssysteme, führt aber nicht immer oder gar automatisch zur Demokratisierung, zumal allein ein Elitenwechsel, wie die Ukrainer nach 2004 lernen mussten, noch keine Demokratie garantiert. Wenn wir realpolitisch davon ausgehen, dass es auch in Zukunft (versuchte) Elitenwechsel geben wird, ist es zielführender, genauer zu schauen, unter welchen Bedingungen diese gelingen und friedenspolitisch sinnvoll sind. Die empirischen Studien von Chenoweth und Stephan belegen die positive Bedeutung gewaltfreien Widerstands. Zum einen führten erfolgreiche gewaltfreie Kampagnen in 57% fünf Jahre nach Ende der Kampagne zu demokratischen Verhältnissen, während weniger als 6% der gewaltsamen Regimewechsel zur Errichtung von Demokratien führten. Interessanterweise zeigt sich der Demokratisierungseffekt von gewaltfreien Widerstandskampagnen sogar dann, wenn die Kampagnen (scheinbar) erfolglos bleiben. In immerhin 35% aller Fälle kam es innerhalb von fünf Jahren nach dem Scheitern doch noch zur Entwicklung einer Demokratie. Zum anderen kommt es nur nach 28% aller gewaltfreien Widerstandskampagnen innerhalb von zehn Jahren zu gewaltsamen Konflikten und Bürgerkriegen, während dies nach 42% aller gewaltsamen Widerstandskampagnen der Fall war. Am gefährlichsten sind Widerstandskampagnen, wenn es weitere gewaltsame Konfliktparteien gibt. Hier kommt es in jedem zweiten Fall (49%) zu einem Bürgerkrieg innerhalb der nächsten zehn Jahre.13

Zivile Aggression?

Schäfer betont, dass zivile bzw. gewaltfreie Methoden nicht harmlos sind, und damit hat er recht. So wäre es meines Erachtens zum Beispiel notwendig, Produkte aus Zwangsarbeit so effektiv zu boykottieren, dass sie unverkäuflich werden. Gleichzeitig würden damit aber weltweit auch Wirtschaftszweige und Überlebensmodelle vieler Menschen bedroht, die sich darin eingerichtet haben. Im Extremfall können gute bzw. gut gemeinte Interventionen sogar zum Auslöser für Kriege werden.

Zudem gibt es eine klare Tendenz staatlicher Organe, zivile (gewaltfreie) Methoden mit kriegerischer Absicht einzusetzen. So erregte letztes Jahr die so genannte »Gerasimow-Doktrin« Aufsehen, die von dem russsischen Armeechef Waleri Gerasimow als Reaktion auf den Arabischen Frühling formuliert und bei der Annexion der Krim erfolgreich umgesetzt wurde. Dabei stellte der russische Armeechef fest: „Die Rolle der nichtmilitärischen Mittel zur Erreichung politischer und strategischer Ziele ist gestiegen und in vielen Fällen mächtiger und effektiver als Waffengewalt.“14 Es ist anzunehmen, dass entsprechende Methoden und Kapazitäten der hybriden bzw. nicht-linearen Kriegsführung auch in den NATO-Staaten und -Stäben entwickelt wurden. Hinreichend bekannt sind die NATO-Ansätze zur Einbeziehung der zivilen Bevölkerung im Rahmen der Zivil-Militärischen Kooperation und Aufstandsbekämpfung. Qualitativ neu an Gerasimows Militärdoktrin, bzw. ein Rückgriff auf Strategien des Kalten Krieges, ist die gezielte Nutzung der politischen Opposition im Feindesland im militärischen Interesse. Im Westen hingegen wurden und werden die militärische und die zivile Sphäre in der Regel bewusst voneinander getrennt, insbesondere dort, wo sich – wie in den Anrainerstaaten Russlands – jegliches militärische Engagement verbietet.

Dabei überrascht es nicht, dass Regime einheimischen Aufständischen stets vorwerfen, vom Ausland gestützt oder gar gesteuert zu werden. Denn unabhängig davon, ob und in welchem Maße eine Unterstützung stattfindet und ob diese wirklich effektiv oder eher hinderlich ist, eignet sich die Diskreditierung als ausländische Agenten immer, um interne Oppositionsgruppen von der Bevölkerung zu entfremden. Aus der Inszenierung als Opfer ausländischer Aggression ziehen autoritäre Regime so viel politisches Kapital, dass der US-amerikanische Politikwissenschaftler Konstantin Ash anlässlich der belarussischen Präsidentschaftswahlen 2015 schlussfolgerte, die beste Unterstützung für die Opposition wäre es, alle Hilfen einzustellen.15

Aber auch ausländische Beobachter neigen dazu, den Einfluss ausländischer Unterstützung systematisch zu überschätzen, teils aus der kolonialistischen Annahme, lokale Bewegungen könnten nie mehr als »Marionetten« (nützliche Idioten) der geostrategisch agierenden Mächte sein, und teils, weil sie ihre Analysen auf der Öffentlichkeitsarbeit oder Materialien von Akteuren, wie dem Center for Applied Nonviolent Action and Strategies (CANVAS), dem International Center for Nonviolent Conflict (ICNC) oder dem Albert Einstein Institute (Gene Sharp) aufbauen. So suggerierte die Zeitschrift »Foreign Policy« die absurde Idee, der Erfolg des Arabischen Frühlings in Ägypten könnte auf die Teilnahme eines Aktivisten an einem einwöchigen CANVAS-Training zurückgeführt werden.16 Es ist zwar auffällig, wie sehr sich die Ideen und Methoden der »Strategischen Gewaltfreiheit« in den letzten zehn Jahren weltweit verbreitet haben, doch ist dies vor allem ein Zeichen für den enormen Bedarf an Demokratie, Mitbestimmung und »Protest«.17

Ich denke, es ist somit auch im Sinne Schäfers, den Begriff der »zivilen Aggression« nicht pauschal auf die Verbreitung von Ideen und Methoden anzuwenden, sondern auf die seltenen Fälle zu begrenzen, in denen eine massive Unterstützung durch ausländische Akteure stattfindet. Betrachten wir die Intensität der Hilfe als ein Kontinuum – von der Verbreitung von Ideen über schützende und stützende Partnerschaften mit Opfern autoritärer Gewalt, die Einbindung dieser in internationale Netzwerke und die direkte Unterstützung lokaler Akteure in ihren politischen Auseinandersetzungen bis hin zur monopolistischen Unterstützung, wenn Erfolg und Bestand einer oppositionellen Gruppierung vorrangig oder allein vom Erhalt der (materiellen) Hilfe aus dem Ausland abhängen – so könnte man allenfalls die letzten zwei Punkte als »zivile Aggression« bezeichnen. Alles darunter, insbesondere die Schaffung internationaler Netzwerke der Zivilgesellschaft, aber auch der Schutz von Regimeopfern und Menschenrechtsschützern, sind nach meinem Ermessen so grundlegend, dass es Aufgabe und Pflicht staatlicher wie nichtstaatlicher Akteure sein muss, diese Hilfestellung zu gewährleisten. Wobei durchaus hinterfragt werden muss, ob die jeweiligen Maßnahmen verhältnismäßig und wirkungsvoll sind und möglichst wenig anderen Schaden anrichten (Do No Harm). Denn auch generell sinnvolle Aktionen können in bestimmten Kontexten Schaden anrichten, zum Beispiel wenn die internationale Arbeit für politische Gefangene in Belarus der dortigen Oppositionsbewegung Anreize setzt, Verhaftungen zu provozieren und politisch auszunutzen, anstatt die eigenen Aktiven effektiv vor Verfolgung zu schützen.18

Was also tun?

Friedens-, Menschenrechts- und Solidaritätsbewegungen und insbesondere ihre professionalisierten (und dennoch zivilgesellschaftlichen) Akteure der Zivilen Konfliktbearbeitung und Entwicklungszusammenarbeit müssen auf diese neuen Entwicklungen reagieren. Teilweise ist dies, wie in der Abwehr der zivil-militärischen Vereinnahmung durch die »NRO-Fazilität für Afghanistan«, bereits geschehen. Auch im Rahmen der (deutschen) Entwicklungszusammenarbeit wurden unter den Stichworten »Konfliktsensibilisierung« und »Do No Harm« wichtige Diskussionen geführt und Leitlinien entwickelt, die allerdings noch nicht durchgängig angewandt werden. Insbesondere die Menschenrechtsarbeit und Demokratieunterstützung in Osteuropa erfolgt jedoch noch weitgehend ohne ausreichendes Verständnis über ungewollte Wirkungen oder »Do No Harm«-Analysen. Diese sind nicht nur notwendig, um Krisen und Eskalationen zu verringern, sondern auch, um die lokalen Partner effektiver vor Repression schützen und wirkungsvoll unterstützen zu können.

Die Demokratieunterstützung in Osteuropa muss die Phase der Rat- und Bedeutungslosigkeit überwinden. Anstatt mit immer neuen Hilfsprogrammen auf bevorstehende Wahlen, Repressionen und Krisen zu reagieren, braucht es langfristig finanzierte, auf nachhaltigen Wandel setzende Mechanismen, wahrscheinlich sogar Institutionen, um die Vielfalt der zivilgesellschaftlichen Beziehungen und Vernetzungen zwischen Ost und West überhaupt nutzen und gemeinsame Strategien entwickeln zu können. Wobei gemeinsam vor allem bedeutet, den Menschen aus den Zielländern endlich zu ermöglichen, ihre eigenen Strategien zu entwickeln und zu schauen, welche Hilfeleistungen sie von uns benötigen, damit gewaltfreier Wandel nicht länger nur trotz, sondern mit westlicher Unterstützung möglich wird.

Anmerkungen

1) Erica Chenoweth and Maria J. Stephan (2011): Why Civil Resistance Works – The Strategic Logic of Nonviolent Conflict. New York: Columbia Universiy Press.

2) Dies könnte auch erklären, weshalb bis heute ein Großteil der zivilgesellschaftlichen Mittel nach Belarus und in die Ukraine, nicht aber nach Moldawien fließt.

3) Es ist weitgehend anerkannt, dass Demokratisierung Kriege auslösen kann und eine Reduzierung von Krieg erst nach Erreichen höherer Demokratiestufen eintritt. Siehe dazu Nils Petter Gleditsch and Havard Hegre: Peace and Democracy – Three Levels of Analysis. Journal of Conflict Resolution, April 1997, Vol. 41 No. 2, S.283-310.

4) Die immer wieder pauschal getroffene Aussage, die USA hätten fünf Mrd. US$ in den Euromaidan investiert, ist allerdings eine grobe Übertreibung, da das zugrunde liegende Zitat der stellvertretenden Staatssekretärin Victoria Nuland alle Hilfen von 1991 bis 2013 umfasst, insbesondere auch Zahlungen an die ukrainische Regierung und für ganz andere Bereiche, wie Gesundheitsreformen und die Vernichtung von Massenvernichtungswaffen. Vgl. dazu Katie Sanders: The United States spent $5 billion on Ukraine anti-government riots. politifact.com/punditfact, 19.3.2014.

5) Wiecks Ansatz stützte sich nicht auf die serbischen Erfahrungen vom Oktober 2000, und die »weiße« Revolution von 2001 wird in der Regel nicht zu den Farbrevolutionen gezählt. Dennoch wurde die von ihm unterstützte unabhängige Wahlbeobachtung, mit der er – angelehnt an die Beobachtung der letzten Volkskammerwahl der DDR – die Wahlfälschungen unter Lukaschenko öffentlich machen wollte, fester methodischer Bestandteil der Farbrevolutionen.

6) Björn Kunter: Belarus: Do No Harm – Forderungen an externe Demokratieförderung. Osteuropa 1/2007, 57. Jg., S.35-48.

7) United States Agency for International Development/USAID (o.J.): Ukraine Country Development Cooperation Strategy 2012-2016.

8) USAID (2014): Final Performance Evaluation of the Ukraine National Initiatives to Enhance Reforms (UNITER).

9) Siehe dazu Robert Lindner: Grenzen von ZIMIK in Afghanistan. W&F 1-2011, S.37-41.

10) Björn Kunter: Bundesregierung und Ukraine – Friedensarbeit braucht Kontinuität. Friedensforum 5/2015, S.28/29.

11) Johan Galtung (1988): Die Prinzipien des gewaltlosen Protestes – Thesen über die »Große Kette der Gewaltlosigkeit«. In: Dokumentation des Bundeskongresses »Wege zur Sozialen Verteidigung« vom 17.-19. Juni 1988. Minden: Bund für Soziale Verteidigung, S.82-92.

12) Diana Francis (2002): People, Peace and Power – Conflict Transformation in Action. London: Pluto Press. Véronique Dudouet (2011): Nonviolent Resistance in Power Asymmetries. In: Beatrix Austin, Martina Fischer, Hans J. Giessmann (eds.): Advancing Conflict Transformation. The Berghof Handbook II. Opladen/Framington Hills: Barbara Budrich.

13) Chenoweth and Stephan 2011 (siehe Fußnote 1), S.209-219.

14) Übersetzung des Autors aus: Valerij Gerasimow: Nowye Wysowy trebujut Pereosmyslenija Form i Sposobow Wedenija boewych Dejstwij (Neue Herausforderungen verlangen ein Überdenken der Formen und Methoden militärischen Handelns). Woenno-promyschlennyj Kurer, No. 8-2013 S 1-2; vpk-news.ru. Eine englische Übersetzung der Gerasimov Rede findet sich in: Mark Galeotti: The »Gerasimov Doctrine« and Russian Non-Linear War. Blogeintrag vom 6.7.2014 auf inmoscowsshadows.wordpress.com.

15) Konstantin Ash: Strategische Repression und eine zersplitterte Opposition sichern Lukaschenkos Macht. Belarus Analysen Nr. 23, 19.10.2015, S.2f.

16) Tina Rosenberg: Revolution U – What Egypt learned from the students who overthrew Milosevic. Feature auf foreignpolicy.com, 17.2.2011.

17) Ich werde jedoch meine Einstellung zu CANVAS revidieren, falls es innerhalb von drei Jahren nach der Veröffentlichung von »Protest! Wie man die Mächtigen das Fürchten lehrt« (Fischer Taschenbuch, 2015) des CANVAS Gründers Srdja Popovic zu einer Farbrevolution in Deutschland kommt.

18) Siehe Beispiel in: Vasilij Pinchuk, Sarah Roßa und Björn Kunter: Handlungsfähig trotz Repression in Belarus. In: Bund für Soziale Verteidigung (Hrsg.): Gewaltfrei im Schatten von Gewalt. Hintergrundpapier Nr. 23, August 2013, S.26ff.

Björn Kunter koordiniert und berät seit über 20 Jahren zivilgesellschaftliche Projekte in Osteuropa, zuletzt für den Bund für Soziale Verteidigung und die KURVE Wustrow – Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion. Von 2002 bis 2005 koordinierte er für das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk das Förderprogramm der Bundesregierung für die Zivilgesellschaft in Belarus.