Krieg und Frieden auf Social Media

Krieg und Frieden auf Social Media

Herausforderungen für die Friedensbildung

von Cora Bieß1

Der enorme Digitalisierungsschub der Gesellschaft ist in aller Munde. Überdeutlich lässt er auch Leerstellen in digitalen Ansätzen der Friedensbildung zu Tage treten. Inzwischen ist die Rede von einer »digitalen Transformation«, Kinder und Jugendliche wachsen zunehmend in einer mediatisierten Welt auf. Doch welche Auswirkungen haben digitale Konfliktdynamiken und Gewalt in der Onlinekommunikation auf Kinder? Mit welchen Repräsentationen von Kriegsinhalten werden Kinder auf Social Media konfrontiert? Der Beitrag leistet eine erste Einordnung und gibt Impulse, wie neue digitale Formate der Friedensbildung verbunden mit einer kinderrechtlichen Perspektive aussehen könnten.

Durch das Aufkommen der sozialen Medien und die Verbreitung von mobilen Endgeräten stellt das Internet inzwischen den Raum für eine dauerhaft vernetzte Öffentlichkeit. Auch die Interaktionen und Dialogräume von Kindern sind durch die Nutzung dieser Medien zunehmend virtuell. Darin sind Kinder nicht mehr nur Konsumierende oder Rezipierende von Mediendarstellungen, sondern selbst über die Möglichkeiten dieser Plattformen miteinander und mit der Öffentlichkeit im Dialog. Kinder öffnen oder verantworten sogar eigenständig Dialogräume. Daher kann das Internet nicht mit anderen Medien gleichgesetzt werden, die in vorherigen Generationen überwiegend genutzt wurden und in denen Kinder primär Rezipierende darstellten (Presse, Funk, Fernsehen).

Durch diesen digitalen Strukturwandel entstehen also neue interaktive Kommunikations- und Dialogräume, die einerseits Chancen für Partizipation, Vernetzung und Inklusion von jungen Menschen bieten. Durch die beschleunigte Vernetzung und sekundenschnelle Übertragung von Inhalten entstehen zudem neue Mobilisierungsformen. Insbesondere das Bedürfnis „nach Kommunikation und der Möglichkeit, ständig mit Anderen in Kontakt zu sein, aber auch [das] Bedürfnis nach Selbstdarstellung und Anerkennung“, kann durch digitale Räume gestillt werden (Hilt et al. 2021, S. 38). Doch „diese neue Kommunikationskultur und die ständige Erreichbarkeit durch die mobilen Endgeräte bringen auch neue Möglichkeiten mit sich, andere Nutzer zu verletzen“ (ebd.).

Neue Digitale Gewalt

Hierbei entstehen somit auch neue Konfliktdynamiken und Gewaltformen in der virtuellen Welt, die laut Hofstetter (2021) neue Konfliktakteur*innen hervorbringen. Verletzende und gewalthaltige Inhalte können kopiert, weitergeleitet, endlos verändert und gleichzeitig innerhalb von Sekunden einem großen Publikum geteilt werden (Hilt et al. 2021). Sowohl die häufige »Anonymität« der Tatverantwortlichen im Internet als auch die Unüberblickbarkeit des Publikums charakterisieren die Neuartigkeit von digitalen Gewaltformen. Hinzu kommt die „fehlende Wahrnehmung der Verletztheit des Opfers“ (ebd.).

Durch Gewalterfahrungen im Netz können Heranwachsende in ihren Partizipationschancen, in ihrer personalen Integrität sowie in ihren Potentialen zur freien Entfaltung und Entwicklung eingeschränkt werden. Ein möglichst gewaltfreies Aufwachsen von jungen Menschen und die Befähigung zu einem konstruktiven Konfliktumgang sind jedoch wesentlich für das Wohlergehen, die Zukunftsbildung und Vertrauensbildung der gesamten Gesellschaft. Prävention, Bearbeitung und Nachsorge von digitaler Gewalt steckt in vielerlei Hinsicht allerdings noch in den sprichwörtlichen »Kinderschuhen«. Staatliche Regulierungsbemühungen gegen diese Gewaltformen hinken, auch im internationalen Kontext, oft hinterher.

Allerdings sind auch der Moderation der Gewalterfahrungen von Kindern durch Erwachsene mitunter deutliche Grenzen gesetzt. Im analogen Raum können Kinder grenzüberschreitendes Verhalten durch die Reaktion von Erwachsenen erkennen, im digitalen Raum jedoch sind Erwachsene oftmals nicht präsent, wodurch eine regulierende soziale Kontrolle durch Erziehungs- und Sorgeberechtigte schwach ausgeprägt ist. Digitale Gewalt findet nämlich häufig in dynamischen, halböffentlichen Räumen, wie beispielsweise in Whats-App-Klassenchats oder auf Plattformen wie Instragram, TikTok oder Discord statt. Dies ist mit ein Grund dafür, warum digitale Gewalt, die Kinder erleben, von Erwachsenen häufig so spät erkannt wird. Zudem wird die Intervention von Erwachsenen oft nicht als kompetent angesehen, da sie ebenso wie die Kinder nicht „über wirksame Mittel der Hilfe und des Einschreitens verfügen“ (Hilt et al. 2021, S. 40). In digitalen Räumen können somit Kommunikations- und Gewaltdynamiken entstehen, in deren Folge sich Kinder verstärkt von Erwachsenen abgrenzen. Durch den gleichzeitigen Zuwachs an kommunikativer Autonomie etablieren Kinder im digitalen Raum zunehmend ihre eigenen Regeln.

Kriegsbilder im Ukrainekrieg

Mögliche Folgen werde ich im Folgenden beispielhaft anhand einiger Repräsentationen aus dem Ukrainekrieg auf der Plattform »TikTok« erläutern. TikTok ist ein Videoportal, das vom chinesischen Unternehmen ByteDance betrieben wird. Ursprünglich ist diese Plattform durch das Verbreiten von kurzen Tanzvideos bekannt geworden. Durch die Funktion der Lippensynchronisation können dort animierte Videos für Unterhaltungszwecke erstellt werden, was unter Kindern und Jugendlichen sehr beliebt ist. Im Unterschied zu anderen Plattformen weist TikTok damit eine Besonderheit auf: Anwender*innen können durch die Audiofunktion den Ton des ursprünglichen Videos entfernen und durch alternative Tonspuren ersetzen. Dies kann einerseits im Bereich von Satire und Parodie zu lustigen Ton-Video-Kombinationen führen, auf der anderen Seite bietet diese Funktion sehr niederschwellige Möglichkeiten für Manipulation (Reveland 2022).

TikTok wird inzwischen als ein Ort für politische Kommunikation wahrgenommen (Bösch und Köver 2022) und ist gegenwärtig zu einer zentralen Plattform sowohl für die Kommunikation über Konflikte als auch für die Austragung von Konflikten geworden. Diese Tatsache wird besonders seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine sichtbar. Die Zeitschrift »The New Yorker« bezeichnete den Ukrainekonflikt sogar als den weltweit ersten „TikTok Krieg“ (Chayka 2022). Denn TikTok kann durch seinen Zuschnitt auf kurze Videosegmente und eine quasi nicht-existente Moderation gezielt für Desinformationskampagnen genutzt werden, beispielsweise indem Videos aus einem Kontext in einen anderen ohne Kennzeichnung übertragen werden. Dadurch ist es möglich, dass Videomaterialien „fälschlicherweise den aktuellen Krieg in der Ukraine zeigen sollen, aber eigentlich aus einem anderen Kontext stammen (Reveland 2022). Ein Beispiel dafür ist ein Video, „auf dem ein Reporter vor mit Leichensäcken abgedeckten Personen steht. Es soll angeblich ukrainische Leichen zeigen“ (ebd.). Laut Reveland stammte dieses Video jedoch von „einem Klimaprotest in Österreich im Februar“ (ebd.).

Auch Betroffene im Ukrainekrieg nutzen TikTok für ihre Berichterstattung „als eine Art Kriegstagebuch“ (Domdey, Pesci und Thiel 2022). Beispielsweise porträtiert in einem Video eine Jugendliche ihren Kriegsalltag in einem Bombenkeller2 und unterlegt dies mit dem Song »Che La Luna – Louis Prima«, einem sizilianischen Lied mit weltweit hoher Popularität. Das Lied fällt in das Genre folkloristisch, komödiantischer Musik. Der Songtext handelt von einem Dialog zwischen einer Mutter und einer Tochter über ihre Hochzeit. Die Lebensrealität im unterirdischen Bunker und die eingeblendeten Bilder der zerstörten Stadt an der Oberfläche, unterlegt mit der Leichtigkeit der Lebensrealität in diesem fröhlichen Song, rufen einen unwirklichen Kontrast hervor, der irritierend und verstörend wirken kann. Kindern und Jugendlichen aus einem anderen Kontext, wie beispielsweise Deutschland, ist es mitunter nicht möglich, diese widersprüchlichen visuellen und auditiven Reize des Videos ihren Intentionen gemäß einzuordnen und angemessen zu verarbeiten. In einem weiteren Video von derselben TikTok-Userin wird ersichtlich, dass ihr Bruder im Ukrainekrieg gestorben ist. Eine Hypothese könnte daher lauten, dass die humoristische Darstellung einerseits auf unmenschliche Kriegszustände aufmerksam machen soll, andererseits ihre Wut über den Verlust ausdrückt und der Trauerverarbeitung dient.

Eine weitere Form der Kriegsrepräsentationen findet sich in einem Video, das mit den Worten „dance if you going to beat Russia“ („tanzt, wenn ihr Russland schlagen werdet“)3 beginnt. Nachdem in einer ersten Szene Putin zu sehen ist , werden verschiedene tanzende Soldat*innen in dem Video gezeigt. Das Video ist mit dem Hashtag „@world.war._.3“ versehen. Zu Beginn tanzt ein britischer Soldat, anschließend ein amerikanischer und dann ein ukrainischer Soldat, alle uniformiert und mit der Waffe in der Hand. Am Ende des Videos formieren sich Soldat*innen in einem Kreis und schauen einem aus­tralischen Soldaten bei seiner Break-Dance Performance zu.

Nun gibt es hier mindestens zwei Lesarten, wie die Botschaft dieses Video interpretiert werden könnte:

  • Einerseits so, dass kriegerische Konflikte in Form eines Tanz-Battles ausgehandelt werden sollten, anstelle mit militärischen Mitteln. Dies könnte eine Botschaft für gewaltfreie Konfliktaustragung beinhalten.
  • Eine andere, gewaltverherrlichende Interpretation dagegen könnte lauten, dass es Soldat*innen geradezu Spaß bereitet, sich auf einen Kampf vorzubereiten. Dieser Eindruck kann dadurch verstärkt werden, dass der erste Soldat, der Großbritannien repräsentiert, lächelnd Swivel-Tanzschritte macht. Hierbei könnte die Leichtigkeit einer Siegesgewissheit („to beat“) im Einklang mit der Gewaltanwendungsbereitschaft („to beat“) stehen.

Wie bei diesen beiden möglichen Interpretationen sichtbar wurde, ist die Intention der Videobotschaft auf TikTok nicht bekannt. Dies kann für Kinder in hohem Maße verstörend wirken, da die Kontextualisierung der im Stream vorgeschlagenen Videos fehlt. So können User*innen ungewollt von Tanzvideos unmittelbar zu Gewaltdarstellungen gelangen. Zudem finden sich solche Kriegsinhalte ohne Vorwarnung „zwischen Urlaubsbildern, Tanzvideos und Comedy“ (Domdey, Pesci und Thiel 2022). Diese „groteske Mischung aus unterhaltsamen und nachrichtlichen Inhalten“ erschwert zudem eine kontext- und altersgerechte Verarbeitung von kriegerischen Inhalten (ebd.). Für Menschen, die selbst Gewalt erfahren haben, kann darüber hinaus durch diese ungefilterte Darstellung ohne Triggerwarnung die Gefahr bestehen, dass ihre Erinnerungen an Gewalterfahrungen auf TikTok reaktiviert werden (sogenannte »Retraumatisierung«).

Wie eingangs beschrieben, nutzen viele Kinder und Jugendliche virtuelle Räume, die nicht primär von Erwachsenen genutzt werden. Somit besteht die Gefahr, dass wir Erwachsenen also gar nicht wissen, wie Kinder und Jugendliche derzeit in Kontakt mit Repräsentationen des Ukrainekrieges kommen. Wichtig ist es daher, dass Multiplikator*innen der Friedensbildung Kinder und Jugendliche als Expert*innen ihrer eigenen Lebenswelten sehen und anerkennen, denn sie erleben digitale Räume anders, als es Erwachsene tun. Aus einer kritischen Kinderrechtsperspektive bedeutet das, dass Erwachsene lernen, Kinder zu hören und ihre Denk- und Handlungsweisen zu verstehen beginnen. Der Fokus auf eine mediatisierte Kindheit kann mit einer Ausgestaltung einer digitalen Friedensbildung Hand in Hand gehen, indem

  • zum einen Friedenskompetenzen in Bezug auf Medien generationenübergreifend gestärkt werden. Aufgabe der Friedensbildung in der digitalen Welt muss es zudem werden, die Frage der eigenen Mediennutzung mehr in den Fokus zu stellen, indem altersgerechte und lebensweltnahe Bezüge zu aktuellen Themen hergestellt werden, wie zum Beispiel der Repräsentation des Ukrainekriegs auf TikTok.
  • zum anderen digitale Friedensfähigkeiten weiterentwickelt werden, die im Bereich der Medienkompetenzbildung integriert werden könnten, beispielsweise in Form einer gewaltfreien Kommunikation im Netz, einer konstruktiven digitalen Konfliktbearbeitung oder digitaler Zivilcourage.

Friedenspädagogische Leerstellen füllen

Aufgabe der Friedensbildung in der digitalen Welt sollte es einerseits im Analogen sein, einen geschützten Dialograum zwischen Kindern und Eltern bzw. Erziehungsberechtigten sowie zwischen Kindern und Lehrkräften zu eröffnen, um beispielsweise in der Schule zu thematisieren, welche Repräsentationen von Krieg und Gewalt auf Social Media gegenwärtig sein können. Darauf aufbauende Strategien, wie sich Kinder vor überwältigenden Kriegsinhalten auf Social Media schützen können, sollten im Einklang mit der 25. Allgemeinen Bemerkung der UN-Kinderrechtskonvention stehen, welche die Anwendbarkeit der Kinderrechte im Digitalen betont (OHCHR 2021). Das bedeutet, dass nicht allein der Schutz von Kindern im Fokus steht, sondern Kinder auch ein Recht auf Beteiligung und Befähigung haben. Der Zugang zu Informationen und Medien kann Kindern nicht grundsätzlich verwehrt werden. Deshalb müssen sowohl die Gefahren als auch die Chancen der digitalen Welten unter Berücksichtigung der Kinderrechte mit jungen Heranwachsenden altersgerecht thematisiert werden, um einen generationenübergreifenden und einordnenden Dialog über Krieg, Gewalt, Konflikt und Frieden in Zeiten der fortschreitenden Digitalisierung gelingend zu gestalten.

Denkbar wäre es andererseits, digitale friedenspädagogische Zugangs- und Kontaktangebote im Internet zu den Kernthemen Krieg, Gewalt, Konflikt und Frieden zu etablieren. Der Ansatz der »digital streetwork«4 verfolgt das Ziel, in mediatisierten Lebenswelten mit Kindern und Jugendlichen direkt zu interagieren, und versteht sich als komplementäres Angebot im Bereich aufsuchender Arbeit. Inspiriert durch das Konzept »digital streetwork« könnten Akteur*innen der Friedensbildung auf Social Media virtuell-aufsuchend agieren, wenn beispielsweise junge User*innen vermehrt über Krieg und Gewalt berichten. Zudem könnten online-gestützte friedenspädagogische Gesprächsangebote eine Anlaufstelle für junge Menschen auf Social Media bieten, die über Kriegsinhalte (wie beispielsweise die oben beschriebenen TikTok Videos zum Ukrainekrieg) reden möchten. In diesen Gesprächsangeboten könnten Akteur*innen aus der Friedensbildung mit Kindern zunächst ins Gespräch darüber kommen, welche Inhalte Kinder und Jugendliche online konsumieren, und was diese Inhalte in ihnen auslösen. Sollte sich im Gespräch herausstellen, dass Kinder mit Desinformationskampagnen bespielt werden, könnte gemeinsam nach seriösen journalistischen Nachrichtenangeboten auf Social Media gesucht werden.5

Weitergehend könnte spezifisch ausgeführt werden, welche Unterstützungsmöglichkeiten (analog und digital) je nach Bedarf denkbar wären. Ziel der Friedensbildung zu Gewalt und Konflikten im Digitalen sollte es sein, das Gefühl von Macht- und Einflusslosigkeit (nicht nur in Zeiten von Kriegen) in Kindern aufzufangen sowie das veränderte Nähe- und Distanz-Verhältnis von Krieg auf Social Media zu thematisieren. Denn durch Social Media können Kriegsorte inzwischen buchstäblich im Kinderzimmer präsent sein. Dennoch ist es Aufgabe der Friedensbildung, ein Gefühl von Wirkmächtigkeit zu fördern, indem Friedensvisionen kontextspezifisch formuliert werden können. Das kann beispielsweise die Thematisierung von individuellen Einflussmöglichkeiten als Friedensmacher*innen in ihren Kontexten sein.

Abschließend lässt sich sagen, dass Social Media bei der heranwachsenden Generation großen Einfluss auf die Wahrnehmung von Krieg, Gewalt, Konflikt und Frieden hat. Grundsätzlich aber kann die Berichterstattung über Kriegserlebnisse durch die unmittelbare Erreichbarkeit auf Social Media-Kanälen auch Empathie, Mitgefühl und Verständnis für betroffene Kinder und Jugendliche im Krieg stärken und einen peer-to-peer Erfahrungsaustausch zwischen den Jugendlichen ermöglichen. Denn insbesondere junge Heranwachsende nutzen Social Media als einen Ort, um sich „politisch zu engagieren (Baetz 2021) und könnten sich perspektivisch im Internet auch als junge Friedenstifter*innen ermächtigen. Hierfür ist eine strukturelle Stärkung von Friedensbildung im digitalen Raum folglich ein wichtiger Beitrag für eine friedlichere digitale Transformation.

Anmerkungen

1) Ein ganz großer Dank geht an David Scheuing für die wertvollen Anmerkungen im Begutachtungsprozess sowie für das Editieren des Beitrags.

2) tiktok.com/@valerisssh/­video/7071270332891483397

3) tiktok.com/@cherzus/­video/7068396008488684805

4) Weitere Informationen zu »digital streetwork« finden sich beim Institut für Medienpädagogik JFF.

5) „[MrWissen2go, die.da.oben, news_wg, tickr.news]) bieten zielgruppengerecht gestaltete Informationen zum Krieg in der Ukraine“ (Domdey, Pesci und Thiel 2022).

Literatur

Baetz, B. (2021): Junge User nutzen die Videoplattform für politische Statements. Deutschlandfunk, 25.01.2021.

Bösch; M.; Köver, C. (2021): Schluss mit lustig? TikTok als Plattform für politische Kommunikation. Studien 7/2021. Berlin: RLS.

Chayka, K. (2022): Watching the world’s “first TikTok war”. The New Yorker, 03.03.2022.

Domdey, P.; Pesci, M.; Thiel, K. (2022): Krieg auf TikTok und Instagram. Media Research Blog. Der Blog des Leibniz-Instituts für Medienforschung Hans-Bredow-Institut. URL: leibniz-hbi.de/de/blog/krieg-auf-tiktok-und-instagram.

Hilt, F.; Grüner, T.; Schmidt, J.; Beyer, A.; Kimmel, B.; Rack, S.; Tatsch, I. (2021): Was tun bei (Cyber)Mobbing?: Systemische Intervention und Prävention in der Schule (4. Aufl.). klicksafe c/o Medienanstalt Rheinland-Pfalz.

Hofstetter, J.-S. (2021): Digital technologies, peacebuilding and civil society: Addressing digital conflict drivers and moving the digital peacebuilding agenda forward (INEF Report Nr. 114/2021). Bonn: Institute for Development and Peace.

OHCHR (Hrsg.). (2021): General comment No. 25 (2021) on children’s rights in relation to the digital environment. Online verfügbar unter: ohchr.org

Reveland, C. (2022): Faktenfinder. TikTok. Brutale Kriegsbilder statt lustiger Videos. Tagesschau.de, 09.03.2022.

Cora Bieß arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften im Projekt SIKID (Sicherheit für Kinder in der digitalen Welt – Regulierung verbessern, Akteure vernetzen, Kinderrechte umsetzen). Bei der Berg­hof Foundation betreut sie derzeit die Kinderseite Frieden-Fragen.de. An der Alpen-Adria Universität promoviert sie zu der Frage, wie Konfliktsensibilität Zivilcourage fördern kann, um Kinder(rechte) in der Onlinekommunikation zu stärken.

Wenn Hilfe zu Konflikten führt

Wenn Hilfe zu Konflikten führt

Auswirkungen des Krieges in der Ukraine in deutschen Kommunen

von Kathrin Buddendieck und Lena Heuer

Nach Beginn des Kriegs in der Ukraine wurden auf allen Ebenen in einer beispiellosen Schnelligkeit und Entschlossenheit Maßnahmen umgesetzt, um ukrainische Geflüchtete in Deutschland zu unterstützen. Doch Hilfsmaßnahmen wie diese können unbeabsichtigte Auswirkungen auf bestehende Konflikte haben. Vor dem Hintergrund der Arbeit der Autor*innen im K3B – Kompetenzzentrum Kommunale Konfliktberatung des VFB Salzwedel e.V.1 werden in diesem Beitrag mögliche Konfliktdynamiken auf kommunaler Ebene erläutert und Potenziale skizziert, die durch eine konfliktsensible Gestaltung von Hilfsmaßnahmen und eine konstruktive Bearbeitung der Konflikte entstehen.

Anfang März dieses Jahres aktivierte die Europäische Union (EU) erstmalig die sogenannte EU-Massenzustrom-Richtlinie. Infolgedessen können sich Geflüchtete mit ukrainischem Pass frei in Europa bewegen, sie erhalten einen sicheren Aufenthaltsstatus für bis zu drei Jahre sowie eine Arbeitserlaubnis, ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Rund 870.000 Geflüchtete wurden in den ersten vier Monaten seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im deutschen Ausländerzentralregister registriert (Mediendienst Integration 2022)2. Innerhalb kürzester Zeit wurden Wohnraum, Kita- und Schulplätze, Sprachkurse und weitere Integrationsangebote in den Kommunen geschaffen. Eine große Solidarität in der Bevölkerung sorgte für viel Hilfsbereitschaft, die sich unter anderem in der Aufnahme vieler Menschen in privaten Haushalten sowie in Geld-, Kleidungs- und Lebensmittelspenden und ehrenamtlichem Engagement ausdrückte. Doch all diese Hilfe kommt auch nicht ohne Konflikte – vor allem auf kommunaler Ebene. Eine Sensibilität für die Konfliktpotenziale bei der Implementierung von Maßnahmen wie diesen kann tiefgreifenden negativen Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben vorbeugen und die positiven Wirkungen verstärken.

Unser Beitrag analysiert die Maßnahmen und Unterstützungsleistungen mit dem aus der internationalen Friedens- und Entwicklungszusammenarbeit bekannten Do-No-Harm-Ansatz (dt.: »Richte keinen Schaden an«, Anderson 1999) als Rahmen. Er dient als Werkzeug für eine konfliktsensible Analyse, Planung und Gestaltung von Interventionen und zeigt auf, wie unbeabsichtigten (negativen) Wirkungen von Maßnahmen auf lokale Konfliktdynamiken vorgebeugt werden kann, beziehungsweise wie die Maßnahmen eine Konfliktbearbeitung unterstützen können. Dabei bietet der Blick auf Konflikte und die Sensibilität für deren Potenziale, wie nachfolgend beschrieben, die Chance für alle Beteiligten, bestehende Missstände zu erkennen und zu verändern.

Konkurrenz um (vermeintlich) knappe Ressourcen

Die Wahrnehmung einer gemeinsamen Bedrohung oder Herausforderung kann zu Solidarität und einem »Zusammenrücken« in einer Gesellschaft führen. Dabei werden zusätzliche Ressourcen mobilisiert, um die gemeinsame Krise zu bewältigen. Dieses Phänomen konnte auch beim Umgang mit dem Krieg in der Ukraine und der Ankunft von ukrainischen Geflüchteten in Deutschland beobachtet werden. Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Staat haben auf allen Ebenen in einem beispiellosen Ausmaß Ressourcen eingebracht, um ukrainische Geflüchtete zu unterstützen.

Eine solche Mobilisierung und (Um-)Verteilung von Ressourcen kann aber auch existierende Spannungen verschärfen oder neue entstehen lassen. Kommt in gesellschaftlichen Gruppen z.B. der Eindruck auf, Ressourcen würden nun ungleicher verteilt beziehungsweise der eigene Zugang aufgrund der neu angekommenen Gruppe verschlechtert, entstehen gerade vor Ort, also auf kommunaler Ebene, Konfliktpotenziale. In der aktuellen Situation zeigen sich solche z.B. mit Blick auf die Verteilung der knappen Güter Wohnraum sowie Kita- und Schulplätze, aber auch die personelle Unterstützung von Seiten der Kommunalverwaltung.

Konkret: Kommunen standen Anfang des Jahres vor der Herausforderung, in kürzester Zeit Unterkünfte für die ankommenden ukrainischen Geflüchteten bereitzustellen. In manchen Orten wurden die Geflüchteten, die bisher in den Gemeinschaftsunterkünften lebten, zum Auszug aufgefordert oder in andere Unterkünfte verlegt, um Platz für die Neuankommenden zu schaffen. Betroffene verloren dadurch ihre sozialen Netzwerke; es sind Fälle bekannt, bei denen auch der Verlust des Arbeitsplatzes mit einem solch erzwungenen Umzug verbunden war (vgl. z.B. von Hardenberg 2022). Manche dieser nun verlegten Geflüchteten hätten zwar bereits das Recht gehabt, in eine eigene Wohnung zu ziehen, konnten dies aber aufgrund des Wohnungsmangels und weit verbreiteter Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt nicht umsetzen. Seitens eines Sozialamts wurde uns berichtet, dass Wohnungseigentümer*innen ihre Mietwohnungen der Kommune „nur für Ukrainer*innen“ zur Verfügung stellen wollten, weshalb die Stadt befürchtete, den Wohnraum zur Nutzung zu verlieren, wenn sie diesem Anspruch nicht nachkommen würde. Dieses Risiko wird in der Wahrnehmung durch kommunale Akteure umso bedeutender, steigen doch die Spannungen auf dem Wohnungsmarkt ganz unabhängig: Der soziale Wohnungsbau kommt nicht entsprechend voran, Baumaterialien sind knapp und steigende Preise und Kreditkosten tun ihr Übriges dazu (ZEIT Online 2022).

Ähnlich verhält es sich mit dem Zugang zu Schulen und Kitas. Während einerseits mancherorts auf sehr kreative Weise eine schnelle und unbürokratische Aufnahme von ukrainischen Kindern in Schulen und Kindergärten ermöglicht wurde, ist andererseits seit Jahren und auch durch die Covid-19-Pandemie zunehmend das System, insbesondere das Personal, überlastet. Die Hilfsmaßnahmen für die Einen laufen Gefahr, den Eindruck der Ungleichbehandlung und der Konkurrenz bei den Anderen zu verstärken. Ein Sozialdezernent einer ländlichen Kommune erzählte uns: Wie soll ich den Eltern, deren Kindern seit Jahren auf einen Schulplatz in der Nähe warten und die stattdessen lange Wege mit dem Schulbus fahren, erklären, dass diese Schule nun für ukrainische Kinder geöffnet wird?“

Die Situation bringt auch eine zusätzliche Belastung der Kommunalverwaltung mit sich und die Personalressourcen sind auch dort knapp. Infolgedessen wächst bei nicht-ukrainischen Geflüchteten die Sorge, dass sie gegenüber den Neuankommenden zurückgestellt werden beziehungsweise ihre Anliegen langsamer bearbeitet werden. Längere Wartezeiten auf Termine bei Ämtern bedeutet konkret für manche eine Verlängerung ihrer ohnehin prekären Lebenssituation, wie z.B. das weitere Warten auf Familiennachzug.

Implizite Botschaften und mediale Verstärkung

Die Art und Weise wie Hilfsmaßnahmen gestaltet werden wirkt sich nicht nur auf den Zugang zu Ressourcen aus, sondern sendet auch implizite Botschaften. Ukrainer*innen erfahren durch die Aktivierung der EU-Massenzustrom-Richtlinie besonderen Schutz und Freiheiten. Gleichzeitig bemühen sich Staat, Zivilgesellschaft, Kunst und Kultur sowie Wirtschaftsunternehmen, ihnen die Ankunft in Deutschland so leicht wie möglich zu gestalten, indem sie freien Eintritt in Museen und kulturelle Einrichtungen sowie mancherorts die kostenlose Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ermöglichen. Außerdem erhalten ukrainische Geflüchtete seit dem 01. Juni 2022 Zugang zu Sozialleistungen nach SGB II und XII und damit zu umfassenden Gesundheitsleistungen nach dem GKV-Leistungskatalog.

All diesen Maßnahmen ist gemein, dass sie in der Regel ausschließlich für Geflüchtete mit ukrainischem Pass gelten. Diese Ungleichbehandlungen von Kriegsgeflüchteten senden implizite Botschaften über die unterschiedliche Wertigkeit von Menschen. Sie reproduzieren rassistische und kulturalistische Ansichten und führen zu einer weiteren Ausgrenzung und Marginalisierung von nicht-ukrainischen Geflüchteten. Dies passiert, wie oben beschrieben, einerseits durch die ungleiche Vergabe von wichtigen Ressourcen und Rechten, die Geflüchteten eine Teilhabe und Integration in der Aufnahmegesellschaft erlauben. Durch die einseitigen Maßnahmen entsteht andererseits bei den nicht-ukrainischen Geflüchteten der Eindruck, dass sie nicht willkommen und ihre Bedürfnisse weniger wichtig seien. Eine Folge dieser Diskriminierungserfahrung kann beispielsweise sein, dass diese geflüchteten Menschen noch mehr den Kontakt mit der Aufnahmegesellschaft vermeiden und sich in parallele Strukturen zurückziehen, möglicherweise aber auch, dass sie ihre Rechte, Teilhabe und Anerkennung einfordern.

Konfliktpotenziale für die Gesellschaft entstehen zudem auch durch Kommunikation und Medienberichterstattung über Maßnahmen und Hilfen. Das gilt erst recht, wenn es sich um Gerüchte und Falschinformationen handelt. Beobachten ließ sich dies beispielsweise bei der Meldung aus dem Mai 2022: „Ukrainer*innen dürften ohne Abitur in Deutschland studieren“ (Thust 2022). Die tatsächliche Entscheidung der Kultusministerkonferenz war um einiges komplexer als diese vereinfachende Meldung. Der Eindruck der Ungleichbehandlung bei anderen Personen, die ein Studium anstreben, wurde dadurch allerdings verstärkt.

Konfliktsensibilität: Chancen und Potenziale

Hilfsmaßnahmen sollten daher dringend konfliktsensibel gestaltet und bereits umgesetzte Maßnahmen entsprechend angepasst werden, um solch unbeabsichtigte und unnötige Konfliktverstärkung auf materieller, symbolischer und kommunikativer Ebene zu verhindern. Für Politik und Zivilgesellschaft gilt es, sich offen für die gleiche Behandlung von allen Menschen einzusetzen und eine klare Haltung für Gleichberechtigung zu beziehen. Dies ist in der aktuellen Situation beispielsweise bei der Verteilung von Wohnraum zentral. Hier gilt es bei der Gestaltung von Hilfsmaßnahmen die Bedarfe aller betroffenen Gruppen zu berücksichtigen und so zu vermeiden, dass am Wohnungsmarkt benachteiligte Gruppen auch noch gegeneinander ausgespielt werden.

Für eine erfolgreiche und nachhaltige Bearbeitung von bereits vorhandenen Konflikten ist es allerdings auch erforderlich, existierende Machtasymmetrien zwischen den beteiligten Gruppen zu erkennen. Bearbeitungsprozesse sollten daher inklusiv gestaltet werden, sodass jede der am Konflikt beteiligten und vom Konflikt betroffenen Gruppen ihre Perspektiven, Interessen und Bedürfnisse einbringen kann. Das bedeutet auch, dass Gruppen, die Unterdrückung und Diskriminierung erfahren, einen besonderen Bedarf an Unterstützung haben, um an Prozessen zur Konfliktbearbeitung teilhaben zu können. Dies ist keine unerhebliche Feststellung, wenn mit Blick auf die in diesem Beitrag angerissenen Konfliktdimensionen erklärt werden muss: die vorhandenen personellen, institutionellen und finanziellen Ressourcen der zuständigen Kommunen werden mit Sicherheit für die Bearbeitung solcher Herausforderungen nicht ausreichen.

Unseres Erachtens stecken jedoch in der Zurkenntnisnahme der aufkommenden und sich vermutlich noch verstärkenden Konflikte auch Chancen: Verdeckte gesellschaftliche Missstände werden offensichtlich, bestehende Ungleichbehandlung in der Gesellschaft transparent. Eine konstruktive, konfliktsensible Bearbeitung der Konflikte kann Veränderungsprozesse grundsätzlicherer Art ermöglichen, aktivierend wirken und zu mehr Teilhabe, Gleichheit und Anerkennung führen.

In der Mobilisierung von zusätzlichen Mitteln für Geflüchtete sowie dem Sichtbarwerden von Ungleichheiten liegt dann auch eine Chance für positive Veränderung. Oder, mit den Worten eines Geflüchteten aus Syrien, mit dem wir im Vorfeld sprachen: „Die Hoffnung, dass sich zukünftig etwas für Alle ändern kann“.

Anmerkungen

1) Das K3B berät Gemeinden, Städten und Landkreisen Beratung bei Konflikten im kommunalen Raum. Für mehr Informationen zum Ansatz der Kommunalen Konfliktberatung siehe Berndt und Gessler 2021.

2) Die Zahl ist allerdings ungenau, da ukrainische Staatsbürger*innen ohne Visum in die EU einreisen und sich im Schengen-Raum frei bewegen können. Möglicherweise sind einige der Personen bereits weitergereist oder wieder zurückgekehrt.

Literatur

Anderson, M. B. (1999): Do No Harm: How aid can support peace – or war. Boulder, CO: Lynne Rienner Publishers.

Berndt, H.; Gessler, O. (2021): Kommunale Konfliktberatung. Herausforderungen gesellschaftlicher Veränderungen friedenslogisch bearbeiten. W&F 4/2021, S. 44-46.

Mediendienst Integration (2022): Flüchtlinge aus der Ukraine. Homepage, Stand 06.07.2022.

Thust, S. (2022): Ohne Abi zur Uni? Was hinter dem Beschluss der Kultusministerkonferenz für Geflüchtete aus der Ukraine steckt. Correctiv.org, 19.05.2022.

Von Hardenberg, N. (2022): Sie sollen Platz machen. Süddeutsche Zeitung, 27.03.2022.

ZEIT Online (2022): Weniger Baugenehmigungen für Wohnungen und Einfamilienhäuser. ZEIT Online, 17.06.2022.

Kathrin Buddendieck ist als freiberufliche Konfliktberaterin für das K3B tätig und arbeitet seit mehreren Jahren für den Zivilen Friedensdienst im In- und Ausland.
Lena Heuer ist Projektmitarbeiterin im Vorhaben »Herausforderungen gesellschaftlicher Integration gemeinsam verstehen und bearbeiten« durchgeführt im K3B.

Atomwaffen sind patriarchale Gewalt!

Atomwaffen sind patriarchale Gewalt!

Feministischer Essay zur nuklearen Bedrohung im Kontext des Ukraine-Kriegs

von Magdalena Fackler

Eine Generation junger Menschen übt feministische Kritik an Atomwaffen, ruft nach dem politischen Ende der atomaren Bewaffnung und schafft sogar international bindende Verträge. Dennoch ist die Gefahr nuklearer Kriegsführung aktueller denn je: im Kontext des Ukraine-Krieges und als Folge seiner Eskalation werden alte Narrative und Sicherheitsvorstellungen gegenseitiger Abschreckung erneut platziert, die in langer Tradition patriarchaler »Sicherheit« stehen. Wie funktioniert diese patriarchale Gewalt, wodurch zeigt sie sich und welche Möglichkeiten der Überwindung bleiben?

Geboren Ende der 90er Jahre, bin ich nach dem Kalten Krieg aufgewachsen. Das Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion kenne ich nur aus den Geschichtsbüchern und das Versprechen von »Frieden in Europa« hat mich über Jahre hinweg begleitet. Plötzlich stehe ich vor dem Bundestag und halte Protestschilder gegen die Neuanschaffung atomwaffenfähiger Kampfflugzeuge in die Höhe. Eine ganze Generation, die mit dem romantisierten Bild von »Frieden in Europa« aufgewachsen ist, wurde am 24. Februar eines Besseren belehrt. Denn die Invasion Russlands in die Ukraine hat gezeigt, dass Krieg in Europa sehr wohl möglich ist und dass dieser Krieg im Kontext der letzten Jahrzehnte und patriarchaler Machtstrukturen betrachtet werden muss. Vor allem aber wurde sichtbar: die nukleare Bedrohung ist real und nie weg gewesen.

Von Sicherheit und dem Risiko eines Atomkrieges

Die Erzählung um Sicherheit nicht nur in Europa, sondern auch in der Welt, stützt sich auf die Doktrin der nuklearen Abschreckung, die in ihrer eigenen Logik Kriege verhindern soll. Den Krieg in der Ukraine hat sie nicht verhindert. Und doch dominieren nun Stimmen den Diskurs, die eben gerade unter Verweis auf den Krieg gegen die Ukraine und damit als direkte Folge ein Festhalten an Atomwaffen zu legitimieren versuchen: Dass es für das internationale Machtgleichgewicht notwendig sei, an der nuklearen Strategie der NATO festzuhalten, besonders jetzt mit dem Gegner Putin. Dass Deutschland seinen Teil dazu beizutragen habe und deswegen die US-Atomwaffen in Büchel auch die nächsten Jahrzehnte stationiert bleiben sollten. Es wurden gar Stimmen laut, die erneut für die Idee von eigenen Atomwaffen in der EU warben und über eine Ausweitung des Atomwaffenprogramms in Frankreich diskutierten.

Diese Erzählung von Sicherheit scheint zu wirken. Nach einer Umfrage sprach sich zum ersten Mal eine knappe Mehrheit der Deutschen für den Verbleib der US-Atomwaffen in Deutschland aus. 40 Prozent der Befragten befürworteten die Stationierung, zwölf Prozent sprachen sich gar für eine Modernisierung und Aufstockung aus. 39 Prozent gaben an, für einen Abzug der Atomwaffen zu sein (Bongen, Rausch und Schreijäg 2022). Es ist beängstigend, dass die Mehrheit der Deutschen die Gefahr, die von Atomwaffen ausgeht, scheinbar zu akzeptieren bereit ist. Friedensforscher*innen warnten erst kürzlich erneut vor dem Risiko einer nuklearen Eskalation vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine. Im Friedensgutachten 2022 mit dem Titel »Friedensfähig in Kriegszeiten« äußerten sie sich besorgt über die Tatsache, dass alle neun Staaten, die Atomwaffen besitzen, auch neue Trägersysteme für nukleare Waffen entwickeln. In ihrem Gutachten machten die Wissenschaftler*innen sehr deutlich, wie massiv sich die Gefahr eines Atomkrieges erhöht hat. Dies hängt eng mit dem Krieg in der Ukraine und dem Einsatz von Nuklearwaffen als Druckmittel zusammen sowie dem Fehlen von vertrauenswürdigen Verpflichtungen gegenüber Abrüstungsverträgen (BICC et al. 2022, S. 94f.).

Zudem beruht das »nukleare Gleichgewicht« auf einem fragilen Vertrauen: Die »Sicherheit« der Abschreckung ist kein Automatismus, sondern zutiefst von menschlichen Entscheidungen und Emotionen abhängig. Gerade der derzeitige Krieg in der Ukraine zeigt auf, wie schwer die nukleare Abschreckung das Eingreifen in den Krieg macht, da sorgfältig abgewogen werden muss, welche Schritte eine atomare Reaktion hervorrufen könnten. Auch durch die auf ein Minimum heruntergesetzte Kommunikation zwischen Russland und den USA kann es schnell zu fatalen Missverständnissen kommen, die einen Atomschlag auslösen könnten. Die globalen humanitären und ökologischen Konsequenzen eines solchen Einsatzes und eskalierenden Nuklearkrieges sind offensichtlich. Kein Gesundheitssystem und keine Infrastruktur dieser Welt wäre auf die Folgen vorbereitet.

Trotzdem, so zeigt die oben genannte Umfrage, wird diese enorme Gefahr nicht auf die Existenz von Atomwaffen zurückgeführt, sondern im Gegenteil die nukleare Bedrohungssituation als eine Form »letzter Sicherheit« wahrgenommen, die stabilisiert werden muss. Dies legt nahe, dass diese Überzeugung nicht aus einer akuten Situation heraus entwickelt wird, sondern die Wurzeln dafür gesellschaftlich tiefer liegen: Die Überzeugung, nukleare Waffen gehörten zur letztlichen Sicherheit der Menschheit, ist eng mit Machtsystemen verknüpft, die immer noch die internationale Staatengemeinschaft und unsere Gesellschaften dominieren. Es braucht daher eine machtkritische Analyse, um aufzuzeigen, inwiefern die Erneuerung der globalen nuklearen Bedrohung im Rahmen des Ukraine-Kriegs mit dem Fortbestand patriarchaler Machttraditionen und Unterdrückungsformen zusammenhängt.

Atomwaffen und das Patriarchat

Feministische Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen analysieren seit Jahren den Zusammenhang zwischen Patriarchat und Atomwaffen (vgl. für eine ausführliche Kritik Acheson 2021). Die Maskulinität, die im Patriarchat zu Macht führt, zeichnet sich durch »mannhafte Stärke« aus, die sich vorwiegend in Form von Gewalt, Militarisierung und bewaffneten Konflikten ausdrückt – oder in der Bereitschaft, diese anzuwenden bzw. zu eskalieren. Damit sichert sie die Macht derjenigen, die Zugang zu diesen Mitteln haben. In der extremsten Form potentiell möglicher Gewaltausübung sind also, der feministischen Kritik nach, Atomwaffen Ausdruck wahnhaft übersteigerter »männlicher« Machtphantasmen. Die Entscheidungsträger einiger weniger Staaten halten gemäß dieser Analyse an Massenvernichtungswaffen fest, um damit ihre (individuell sehr geringe, immer bedrohte) Macht zu sichern basierend auf dem (totalen, dauerhaft etablierten) Risiko der vollständigen Zerstörung ganzer Erdteile (am konkretesten in der Abschreckungsdoktrin der »gegenseitig versicherten Zerstörung«).

Diese Dimensionen zeigen sich auch gerade wieder im Krieg gegen die Ukraine. Viele feministischen Denker*innen sehen in der Person Putin einen Akteur, der eben diese ständig bedrohte Macht durch eine Demonstration »männlicher« Stärke zu sichern sucht. Dem folgt der gesamte militärische und administrative Apparat des Staates sowie viele der kulturellen und religiösen Institutionen – das Patriarchat ist gesellschaftlich tief sedimentiert. Anhand seiner medialen Inszenierungen und seiner Drohungen, Nuklearwaffen einzusetzen, zeigt Putin, wie er mit Hilfe einer letztlich fatalen Lösung – denn in einem Atomkrieg kann es keine Gewinner*innen geben – den eigenen prekären Willen, nämlich die Eroberung der Ukraine, erreichen will. Doch nicht nur Putin führt die Erzählung weiter, auch andere Staatschefs fügen sich in dieses Narrativ ein – gerade dadurch geht diese Taktik auf. So geht es darum, sich gegenseitig »Stärke« zu beweisen, nicht nachzugeben und mit dem Festhalten an Nuklearwaffen ebenfalls patriarchale Macht zu demonstrieren, die auch bereit ist, die gesamte Menschheit in »Geiselhaft« zu halten.

Dabei kommen verschiedene Instrumente des Patriarchats zum Einsatz, die die Existenz von Atomwaffen sichern sollen und auch im Kontext des Krieges sichtbar werden. Ein Werkzeug stellt das »Gaslighting« dar. Der Begriff beschreibt üblicherweise die psychische Manipulation jemandes Wahrnehmung der Realität, die zum Machterhalt über die Person bzw. zur Fortführung der Ausübung von Gewalt dienen soll (Acheson 2018). Das fehlende Eingehen des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden auf die Drohgebärden von Putin kann zwar so gedeutet werden, dass er die Gefahr eines Angriffs mit Nuklearwaffen für hoch einschätzt und eine weitere Eskalation vermeiden möchte, was natürlich zu begrüßen ist. Gleichzeitig wird durch die Regierungen der NATO-Staaten ein Bild an die Öffentlichkeit vermittelt, das das Potential eines Atomschlages verschleiert und es als nicht diskussionswürdig verkennt. Als Olaf ­Scholz sein langes Zögern schwere Waffen in die Ukraine zu liefern damit begründete, dass er keinen Atomkrieg riskieren möchte, wurde er politisch und medial heftig für seine Kommunikation kritisiert. »Der Angstmach-Kanzler« (Reitz 2022) und ähnlich titelten daraufhin deutsche Zeitungen. Dies zeigt, wie das Risiko heruntergespielt, als Panikmache denunziert und die Realität, in der das Risiko für den Einsatz tatsächlich gestiegen ist, verzerrt wird.

Dies deutet auf ein weiteres tief verankertes patriarchales Machtinstrument hin, das im Diskurs um Atomwaffen wirkt, nämlich die »Verweiblichung« jeglicher Bemühungen dagegen. Noch im November 2021 titelte beispielsweise The Economist: »Verbündete fürchten, dass die neugewählte Bundesregierung bei Atomwaffen weich wird«, um die Besorgnis gegenüber möglichen Abrüstungsbestrebungen auszudrücken (The Economist 2021). Dieses Beispiel reiht sich in eine Tradition von Situationen und Aussagen, in denen die Bemühungen von Diplomat*innen und Aktivist*innen zur Abrüstung von ihren Gegenspieler*innen auf Seiten der Nuklearstaaten neben »schwach« auch als »emotional«, »naiv« oder »unrealistisch« bezeichnet wurden. Diese in der Globalgeschichte staatlicher Gewalt geschlechtsspezifisch zugeordneten Adjektive stützen die Aufrechterhaltung der konstruiert maskulinen Dominanz in den Diskursen um Atomwaffen.

Dafür wird auch eine weitere patriarchale Technik genutzt, die »Opferbeschuldigung«. In einer perfiden sicherheitslogischen Drehung der historischen Ereignisse wird nicht selten darauf hingewiesen, dass die Ukraine ja einmal Atomwaffen besaß bzw. lagerte und die Abgabe dieser Arsenale womöglich ein Fehler war, da sich die Ukraine dieser Argumentation zufolge dadurch angreifbar gemacht hätte.

Über die Ukraine hinausblicken

Kriege und Krisen, die die bestehende Ordnung durcheinanderschütteln, schaffen ein Momentum in der Geschichte, in dem wir uns entscheiden müssen: machen wir so weiter wie bisher oder schlagen wir eine andere Richtung ein? Wenn wir es ernst meinen mit Frieden und Sicherheit, dann ist es jetzt an der Zeit neue Normen zu setzen. Diese Entscheidung reicht weit über den Krieg gegen die Ukraine hinaus. Es geht dabei um das internationale System und wie darin »Sicherheit« verstanden und diskutiert wird, und darum, wie die bisherige Staatenordnung mit ihren patriarchalen Strukturen Aufrüstung und die nukleare Bedrohung als Reaktion auf Konflikte ermöglicht und zementiert.

Eine feministische Perspektive stellt demgegenüber den Menschen bzw. die menschliche Sicherheit in den Mittelpunkt und weniger die Sicherheit des Staates. Sie verschiebt damit das traditionelle Sicherheitsverständnis der realistischen Denkschule der Internationalen Beziehungen (das gerade wieder einen massiven Aufwind erfährt) und betrachtet die Sicherheit von Menschen in ihren unterschiedlichen Dimensionen (Centre for Feminist Foreign Policy 2021). Dieses Verständnis stellt eine Alternative zum traditionellen Sicherheitsbegriff dar. Die derzeitigen Entwicklungen und der hegemoniale Diskurs laufen allerdings Gefahr, die Errungenschaften von Friedensaktivist*innen und Feminist*innen sowie die Erfolge von Abrüstungsbestrebungen der vergangenen Jahre vollständig zu untergraben.

Der Krieg in der Ukraine sowie sein kriegsökonomisches System im Umfeld funktionieren wie ein Brennglas, das das Zusammenwirken verschiedener Machtsysteme, Ungleichheiten und Unterdrückungen aufzeigt. So müssen wir die nukleare Bedrohungsrhetorik im Ukraine-Krieg in ihren Zusammenhängen mit anderen Unterdrückungs- und Gewaltmechanismen verstehen. Die diskriminierenden Übergriffe an den Grenzen gegenüber nicht-weißen Geflüchteten aus der Ukraine, der rassistisch-sexistische Diskurs über Schutzsuchende aus Ländern des Globalen Südens im Vergleich zu Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und das Fehlen von klimagerechten Alternativen sowie die Duldung von Menschenrechtsverletzungen aufgrund der Priorisierung ökonomischer Handelsbeziehungen – all das ist Ausdruck von jahrhundertealten Machtstrukturen, die auf Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt entlang von ethnischen, geschlechtlichen und sozialen Linien beruhen. Feministischer Kritik an atomarer Bewaffnung geht es also nicht alleinig um die Beseitigung der Nuklearwaffen, sondern um eine umfassende Kritik patriarchaler Gewaltverhältnisse, ihre Zusammenhänge mit Rassismus und Kapitalismus und um ihre Überwindung.

Doch diese bündeln sich im Kampf gegen Atomwaffen: Durch die Bemühungen feministischer Aktivist*innen, der Friedensbewegungen und einiger Diplomat*innen und Regierungen, allen voran aus dem Globalen Süden, ist es gelungen, mit dem Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) eine Möglichkeit für ein Ende der nuklearen Gewalt zu schaffen. Eine überwältigende Mehrheit der Staaten ist für die Abrüstung von Atomwaffen. Den ratifizierenden Staaten des Abkommens ist klar, dass Atomwaffen nicht von heute auf morgen abzuschaffen sind. Es geht vielmehr darum, Stück für Stück glaubwürdige Schritte in der Abrüstung zu gehen und Nuklearwaffen derart zu ächten, dass ein Einsatz undenkbar und daher auch eine Abrüstung unabdingbar wird. Der AVV ist aber gleichzeitig auch der erste Versuch einer systematischen Aufarbeitung und des Ausgleichs gegenüber den von kolonialen Atomwaffenversuchen betroffenen Gesellschaften im Globalen Süden. Der AVV geht also über die reine Abrüstung deutlich hinaus.

Die derzeitigen Entwicklungen durch den Krieg in der Ukraine machen von Neuem deutlich, was nach 1990 schnell in den Hintergrund geriet: das nukleare Risiko ist real und es bedroht uns alle. Anstatt dieses Risiko kleinzureden und schweigend in Kauf zu nehmen, müssen wir jetzt die Lehren aus dem Krieg in der Ukraine ziehen und das historische Momentum nutzen, um auf langfristige und nachhaltige Sicherheit und Frieden hinzuwirken. Die Analyse hat gezeigt, wie das patriarchale System wirkt und welche Machtstrukturen wir abbauen müssen, um unsere Gesellschaft und die Staatengemeinschaft zu transformieren. Wir müssen unsere Kämpfe gegen die Klimakrise, patriarchale und rassistische Strukturen sowie ausbeuterische ökonomische Verhältnisse mit dem Einsatz gegen Massenvernichtungswaffen verbinden. Im selben Atemzug, in dem wir uns um eine klimagerechte, antirassistische, antisexistische und gleichberechtigte Gesellschaft bemühen, müssen wir die Abrüstung von Atomwaffen, als höchstem Mittel patriarchaler Gewalt, einfordern.

Literatur

Acheson, R. (2018): Eine feministische Kritik der Atombombe. Heinrich-Böll-Stiftung, 19.10.2018.

Acheson, R. (2021): Banning the bomb, smashing the patriarchy. Maryland: Rowman & Littlefield.

BICC, HSFK, IFSH, INEF (2022): Friedensgutachten 2022. Friedensfähig in Kriegszeiten. Bielefeld: transcript Verlag.

Bongen, R.; Rausch, H.-J.; Schreijäg, J. (2022): Umfrage in Deutschland: Erstmals Mehrheit für Atomwaffen-Verbleib. Tagesschau, 02.06.2022.

Centre for Feminist Foreign Policy (2021): The CFFP Glossary. März 2021.

Reitz, U. (2022): Der Angstmach-Kanzler: Scholz muss den Deutschen endlich Mut machen. Focus Online, 04.05.2022.

The Economist (2021): Allies fear Germany’s incoming government will go soft on nukes. What will happen to the nuclear bombs deployed there? Homepage, 20.11.2021.

Magdalena Fackler hat Politikwissenschaft und Nahoststudien in Erlangen und Kairo studiert. Seit einem Praktikum bei ICAN Deutschland engagiert sie sich als ICAN-Botschafterin.

Zukunftsorientierte Wissenschaft statt Geopolitik

Zukunftsorientierte Wissenschaft statt Geopolitik

Friedenslogische Perspektiven zum Ukrainekrieg

von Jürgen Scheffran

Dass Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, ist unbestreitbar. Fraglich ist, wie dem zu begegnen ist. Geopolitik scheint das Mittel der Stunde zu sein, eine friedenslogische Antwort dagegen wird weitgehend ausgeblendet. Doch geopolitische Strategien fördern Rivalitäten und gefährden die Zukunft des Planeten. Es bedarf daher einer zukunftsorientierten Friedenswissenschaft – mehr denn je.

Am 16. Oktober 1914, nach der deutschen Kriegserklärung an Russland und Frankreich, unterstützte fast die gesamte Dozentenschaft deutscher Universitäten und Technischer Hochschulen den Krieg. Sie folgten dem sogenannten Manifest der 93 »An die Kulturwelt!«, das den Verteidigungskampf rechtfertigte: „Von deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden. […] Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden“.

Die damalige Stimmung reichte vom Erschauern gegenüber der übermächtigen Bedrohung bis zur Begeisterung über die endlich erreichte nationale Einheit. Gab es zunächst massive Proteste und Antikriegsdemonstrationen, vollzog die SPD-Führung mit Kriegsbeginn eine Kehrtwende und stimmte in einem »Burgfrieden« mit den Kaisertreuen im Reichstag Kriegskrediten zu.

Einsam gegen den Krieg

Doch nicht alle beugten sich den Kriegsbestrebungen. Albert Einstein war von der patriotischen Stimmung fast aller Wissenschaftlerkollegen erschreckt, fühlte sich als Intellektueller und Pazifist einsam. Zusammen mit zwei weiteren Kollegen unterschrieb er im Sommer 1914 den von Georg Friedrich Nicolai verfassten »Aufruf an die Europäer«, der mangels weiterer Unterstützung nicht veröffentlicht wurde. Weitsichtig heißt es da: „Der Kampf, der heute tobt, wird wahrscheinlich keinen Sieger hervorbringen; es wird wohl nur die Besiegten lassen.“ Sie erwarteten, dass „alle europäischen Beziehungsbedingungen in einen instabilen […] Zustand gerieten“. Dass die Verfasser richtig lagen, zeigte sich bald. Der Kriegsalltag machte vielen zu schaffen, Massenarbeitslosigkeit, Lebensmittelpreise stiegen und Armut nahm zu. Wissenschaftler starben an der Front oder brachten ihr Fachwissen in den Krieg ein.

So wie das katastrophale Ende des Ersten Weltkriegs absehbar war, so war es auch der Weg dahin. Einige Wissenschaftler*innen und Intellektuelle, die die sozio-ökonomischen, industriellen und militärlogischen Zeitläufte beobachteten, ahnten die großen Systemkonfrontationen vorher. So beschrieb beispielsweise der mit Bertha von Suttner befreundete polnisch-russische Industrielle Ivan (Jan) von Bloch in seinem sechsbändigen Werk von 1898 den kommenden großen Krieg (Scheffran 2014). Dafür wurde er für den ersten Friedensnobelpreis 1901 nominiert, kurz bevor er starb. Auch das Beispiel des britischen Meteorologen Lewis Frye Richardson zeigt die Relevanz nüchterner Wissenschaft. Richardson untersuchte nach dem Ersten Weltkrieg mit einem Modell, wie die Rüstungsdynamik sich aufgeschaukelt hatte, was ihn später zu Warnungen vor dem Zweiten Weltkrieg veranlasste (Scheffran 2020).

Die Gegenwart der Vergangenheit

Knapp hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg sieht sich eine deutsche Regierung wieder in einen Krieg verwickelt, in dem mit Waffengewalt Grenzen verschoben werden sollen. Ein deutscher Kanzler der SPD fordert eine Zeitenwende und mobilisiert Kriegskredite für Aufrüstung und Waffenlieferungen in einen heißen Krieg, der nicht verloren werden dürfe. Die öffentliche Stimmung schwankt zwischen Erschauern über die Bedrohung und Begeisterung über eine bis dahin nicht erreichte Einheit Europas. Geopolitische Erwägungen beherrschen die öffentliche Debatte, für abweichende Meinungen bleibt wenig Raum. Die Wirtschaft droht in eine tiefe Krise zu kippen, die Bevölkerungen aller Kriegsparteien müssen für den Krieg zahlen, leiden unter Sanktionen und hohen Lebensmittelpreisen. Der Kampf hinterlässt nur Besiegte.

Angesichts solcher Assoziationen lässt sich einwenden, dass die historische Situation heute völlig anders sei als vor hundert Jahren und Ähnlichkeiten durch allgemeine Kriegslogiken erklärbar sind. Deutschland habe aus den verlorenen Weltkriegen und dem gewonnenen Kalten Krieg gelernt, sei ziviler geworden, führe nicht selbst Krieg, sondern stehe der angegriffenen Seite bei, legitimiert durch ein demokratisch gewähltes Parlament. Heute gehe es nicht mehr um »Vaterländer«, sondern um eine feministische Außenpolitik.

Allerdings darf die Frage gestellt werden, ob nicht die Wahl der Mittel all dies aufs Spiel setzt. Indem Russland und die Ukraine militärische Mittel einsetzen, der Westen härteste Sanktionen und schwere Waffen bereitstellt, eskalieren alle Parteien den Konflikt und verlängern ihn mit wachsenden Schäden. Sie untergraben Lehren der Geschichte, beleben geopolitische Machtkämpfe mit kalten und heißen Kriegen, legen den Grundstein für neue Gewaltkonflikte, verbrauchen enorme Ressourcen, verbauen Verhandlungslösungen, marginalisieren Zivilgesellschaft, Friedenskräfte und Andersdenkende. Verdrängt wird die Frage, wie es dazu kam, wie gegenseitige Missachtungen und Bedrohungen dazu beigetragen haben.

Zurück in die Zukunft

Neben der Vergangenheit wird auch die Zukunft ausgeblendet, über die angeblich nichts gesagt werden kann. Wie schon bei den Weltkriegen, wurden die Gefahren der heutigen Weltlage zuvor beschrieben – auch vom Verfasser dieses Beitrags, zusammenfassend in einem Artikel vier Monate vor Kriegsbeginn (Scheffran 2021). Darin wird unter anderem aufgezeigt, dass nach Putins Amtsbeginn vor einem neuen Kalten Krieg gewarnt wurde (2000), der Irakkrieg und andere Kriege des Westens den Weg dafür bereiteten (2003), komplexe Krisen und Konflikte die internationale Sicherheit gefährdeten (2008), eine instabile Weltlage wie beim Ersten Weltkrieg möglich sei (2009), Verbindungen zwischen Klimawandel, Flucht und Konflikten entstehen (2012) oder sich multiple Krisen in der globalisierten Welt entwickelten (2016). Die Schlussfolgerung: „Die Lage erinnert an die Umbrüche vor hundert Jahren, mit Erstem Weltkrieg, Spanischer Grippe, Weltwirtschaftskrise und Faschismus, der zum Zweiten Weltkrieg führte“ (Scheffran 2021, S. 218).

Aussagen über die Zukunft werden in der Politik oft als Besserwisserei abgetan, gegenüber der »unsicheren« Präventionswissenschaft wird der Vorzug der »sicheren« Katastrophenwissenschaft gegeben, die erst an die Front gerufen wird, wenn es schon brennt. Um auch wissenschaftlich zulässig in die Zukunft zu schauen, braucht es aber keine Weissagungen, es reicht, Entwicklungsrichtungen, Pfadabhängigkeiten oder rote Linien zu erkennen, deren Zusammenwirken kritische Grenzen überschreitet. Diese Betrachtungen sind auch insofern nicht deterministisch, als die betrachteten Systeme von Menschen gemacht und gelenkt werden und mit politischen Entscheidungen verändert werden können. Dies setzt voraus, dass die Wahrheit öffentlich ausgesprochen werden kann. Im »freien Westen« sollte dies selbstverständlich sein, ohne persönlich diskreditiert zu werden, selbst wenn es um Kategorien von »Gut« und »Böse« geht. Mit dem Wiederaufleben von Geopolitik in Politik und Medien allerdings gerät die unabhängige Friedenswissenschaft unter Druck.

Wiederkehr der Geopolitik

Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Theorie der »Geopolitik« im Gefolge der von Europa ausgehenden kolonialistischen Tradition der Geographie, die sich für Machtpolitik instrumentalisieren ließ.1 War die Geopolitik in Deutschland durch ihre personelle und ideelle Verflechtung mit dem Nationalsozialismus lange diskreditiert, erlangte sie nach der deutschen Wiedervereinigung wieder an Bedeutung. Mit dem Ukrainekrieg nimmt der Einfluss geopolitischer Think Tanks zu. Erkennbar sind geopolitische Argumentationen aufseiten der neuen alten Systemkonkurrenten. Putins neo-imperiale Bestrebungen knüpfen an die koloniale Expansion Russlands (Beispiel Krimkrieg 1853-1856) und die darauf basierende Gründung der Sowjetunion an. Umgekehrt weckte die eurasische Landmasse Begehrlichkeiten im Westen, von Napoleons Eroberung Moskaus bis zur Geopolitik der USA im Kalten Krieg und danach. Immer noch und wieder wird heute als zentrale Argumentation das Buch des früheren Nationalen Sicherheitsberaters der USA Zbigniew Brzezinski »Grand Chessboard« (1997) herangezogen. Darin formulierte er das Ziel der US-Geostrategie, dass es keinen Herausforderer geben dürfe, der die eurasische Landmasse kontrolliert und die US-Dominanz herausfordert.

Diese Ziele lassen sich wiederum von Putin nutzen, um Bedrohungen russischer Sicherheitsinteressen durch den Westen anzuprangern. Nachdem er zunächst um Anerkennung Russlands im Westen warb, und sich auf Partnerschaft und Handel einließ, zerstörte die fortwährende Verschlechterung der Beziehungen alle Hoffnungen. Die rund 16fache militärische Überlegenheit der NATO, die NATO- und EU-Osterweiterungen, westliche Militärinterventionen in Kosovo, Irak und Afghanistan, der Aufbau einer europäischen Raketenabwehr und die Aufkündigung von Rüstungskontrollverträgen motivierten russische Droh- und Gewaltaktionen im postsowjetischen Raum.

Dies betrifft auch den Krieg gegen die Ukraine und seine Vorgeschichte. Als Russlands militärische Drohkulisse an der Grenze zur Ukraine Anfang 2022 nicht zu Verhandlungen führte, begann Putin den Angriff auf die Ukraine. Unterstützung für die Separatisten, Territorialgewinne in der Ukraine und »Bestrafung« für ihre Westorientierung sind mögliche Motive für die Invasion, die zugleich als Hebel dient, die westliche Ohnmacht vor der Welt aufzeigen. Dafür ist er bereit, einen hohen Preis zu zahlen, der ihn von seinem waghalsigen Vorhaben ebenso wenig abgehalten hat wie die westliche Übermacht. Mit Kriegsbeginn wurden solch rationalisierende Erklärungen russischen Verhaltens in die Ecke der »Putinversteher« gedrängt, während sich Putinologen übertrumpften mit Spekulationen, wer Putin am besten versteht. Sie schwankten zwischen dem strategischen Genie, dem irrationalen Dämon und dem skrupellosen Diktator – Erklärungen, deren wissenschaftliche Grundlagen fragwürdig sind.

Wenn Europa und Russland sich gegenseitig schwächen und die europäische Friedensordnung darnieder liegt, muss dies nicht den Interessen der USA widersprechen, im Gegenteil. Kurzfristig stärkt es die bedingungslose Einheit des Westens und der NATO unter amerikanischer Führung, zementiert die Trennung Russlands von Deutschland und Europa, erlaubt Gewinne durch Frackinggas, die Mobilisierung der Rüstungsmaschinerie, provoziert den ideologischen Kampf zwischen Demokratie und Autokratie wie im Kalten Krieg und eröffnet innenpolitische Vorteile bei kommenden Wahlen. Auch wenn manche den Schlüssel zur Bewältigung des Ukrainekriegs in Washington sehen, bleibt unerfindlich, ob und wann dieser Schlüssel genutzt wird.

Schließlich können dieser Krieg und seine Folgen auch als Vorbereitung und Testfall für die Auseinandersetzung mit China gesehen werden, dem derzeit eigentlichen Herausforderer und Gegenpol der US-Hegemonie. So könnte der Konflikt mit Russland die Bedingungen für den kommenden Krieg mit China fördern (Mobilisierungsbereitschaft der NATO-Mitglieder, Führungsanspruch der USA, militarisierte Rhetorik und Antwort auf Entwicklungen in China).

Blockkonfrontation und Globaler Süden

Mit dem Ukrainekrieg spielt der Globale Süden zunehmend eine Rolle als geopolitischer Akteur. Die UNO-Generalversammlung verabschiedete zwar am 2. März 2022 eine Resolution gegen den russischen Angriffskrieg mit einer Mehrheit von 141 Staaten, doch die 35 Enthaltungen (darunter China und Indien) und fünf Gegenstimmen (Russland, Belarus, Nordkorea, Syrien, Eritrea) zeigten signifikante Differenzen. Einige Staaten äußerten Verständnis für die russische Position, unterstützten nicht die westliche Koalition und sind bereit, sich einer Gegenkoalition der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) anzuschließen. Sie sehen Chancen, in einer Blockkonfrontation ihre Interessen einzubringen – wie schon im Kalten Krieg.

Aufgrund kolonialer Erfahrungen wird ein »Globaler Westen« kritisch gesehen, ihm wird Eurozentrismus, Doppelmoral und Ungerechtigkeit bei der Durchsetzung seiner Interessen vorgeworfen, bei Bedarf auch mit Gewalt und gegen die Regeln. So erscheint der Westen als »Bösewicht« (von Weizsäcker 2022), der anderen sein wertebasiertes Modell der liberalen Demokratie aufdrängen will, für das er selbst Jahrhunderte gebraucht hat, teils auf Kosten der Kolonien. Die von Brzezinski (1997) und anderen anvisierten geostrategischen Schachspiele berühren nicht nur die Interessen Russlands und Chinas, sondern auch Zentralasiens, Indiens, Irans, Pakistans und Afghanistans, die sich nicht den westlichen Demokratien zurechnen.

Gelingt Putin eine neue Spaltung der Welt (»The West and the rest«), wäre das für ihn ein Erfolg, der über den Ukrainekrieg und sein Regime hinaus reicht. War der Westen zunächst berauscht von der neuen Einigkeit, scheint die Erkenntnis über die Zerrissenheit der Welt seit dem G7-Gipfel im Juni 2022 auch bei den Führungsnationen einer westlich orientierten Weltordnung angekommen zu sein, zumal der parallel laufende BRICS-Gegengipfel nicht zufällig kam. Nun muss die westliche Weltordnung zeigen, was sie gegenüber Mitkonkurrenten bieten kann. Wenn Waffen und Sanktionen den Westen und die Welt destabilisieren und Gesellschaften polarisieren, können sie kontraproduktiv werden. Die entsprechenden populistischen Bewegungen warten nicht nur in westlichen Demokratien auf ihre Chance, diese Schwäche zu ihren Gunsten zu nutzen.

Aufrüstung ist keine Zeitenwende

Seit Jahren steigen die Rüstungsausgaben weltweit. Die von Kanzler Olaf Scholz ausgerufene »Zeitenwende« forciert diese Aufrüstung, um die bestehende Weltordnung gewaltsam aufrechtzuerhalten. Dies ist jedoch keine Zeitenwende – es ist ein Weg zurück, zumal dieser schon vor 2022 vorbereitet wurde (vgl. etwa Bunde et al. 2020).

Eher zu einer wahren Zeitenwende geeignet sind drei Megatrends: die sozial-ökologische Transformation, der Einfluss des Globalen Südens und die Rolle von sozialen Medien und der Zivilgesellschaft (Scheffran 2021, S. 222): „Die genannten Trends haben das Potential zur Zeitenwende, wie nach der Französischen Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts oder mit dem Ersten Weltkrieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts.“

Für eine solche Zeitenwende brauchen wir eine resiliente Energieversorgung und nachhaltigen Klimaschutz innerhalb planetarer Grenzen, die auch der Friedenssicherung dienen und Wege in eine lebensfähige und lebenswerte Welt (»viable world«) im gemeinsamen Haus der Erde aufzeigen. Die Koexistenz und Kohabi­tation verschiedener Weltordnungen zur Bewältigung dieser Probleme ist erfolgversprechender als weitere geopolitische Machtkämpfe, die nicht nur den Westen aufs Spiel setzen, sondern auch den Planeten. Friedenswissenschaft muss sich daher für eine friedenslogische Transformation einsetzen – auch und gerade in Zeiten dominanter Geopolitik.

Anmerkung

1) Zur Historie und Tradition geopolitischer Welt(erklärungs)bilder und Kriegslogiken siehe W&F 1/2013 »Geopolitik«.

Literatur

Brzezinski, Z. (1997): The grand chessboard. American primacy and its geostrategic imperatives. New York: Basic Books.

Bunde, T. et al. (2020): Zeitenwende / Turning Times. Special Report, Munich Security Conference.

Scheffran, J. (2014): Der unmögliche Krieg: Jan Bloch und die Mechanik des Ersten Weltkriegs. W&F 2/2014, S. 38-42.

Scheffran, J. (2020): Weather, war and chaos. In: Gleditsch, N. P. (Hrsg.): Lewis Fry Richardson: His Intellectual Legacy and Influence in the Social Sciences. Cham: Springer, S. 87-99.

Scheffran, J. (2021): Mythen der etablierten Sicherheitspolitik: „Der Westen kann die Weltprobleme lösen“. Die Friedens-Warte 3-4, S. 205-236.

Von Weizsäcker, E. (2022): Der Westen als Bösewicht. Gastbeitrag, Blog der Republik, 14.4.2022.

Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.

Der europäische Krieg um die Nation

Der europäische Krieg um die Nation

Eine Überlegung zur Überwindung einer Konfliktursache

von Chunchun Hu

Nach dem Ende der Kampfhandlungen werden sich für die Ukraine und Russland Fragen der Konflikttransformation stellen. In der in einer globalen Perspektive eher als »europäischer Krieg« wahrgenommenen Auseinandersetzung wird es auch darum gehen, eine nachhaltige Lösung zu erarbeiten. Einer der zentralen Knackpunkte scheint auch der Charakter der ukrainischen und russischen Verfasstheit als Nationalstaaten zu sein. Der Beitrag versucht, an diesem Knackpunkt vorsichtige Ideen für alternative Verständnisse politischer Verfasstheit zu denken. Könnte eventuell eine postnationale Integration in ein europäisches Ganzes eine Option sein?

Seit dem 24. Februar wirkt der denkende Mensch aus der Fassung gebracht. Von diesem Seelenzustand zeugen nicht zuletzt die im deutschsprachigen Raum polemisch geführten Debatten zur Beendigung des Krieges gegen die Ukraine. Der Grund für diese Verstörtheit liegt nicht nur konkret im Entsetzen über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine – vor allem gegen die ukrainische Zivilbevölkerung –, der im offenen Kontrast zum Minimalkonsens der Unverletzlichkeit sowohl der territorialen Integrität jedes Staats als auch der Menschenrechte steht. Durch den Bruch Russlands mit dem geltenden Völkerrecht droht auch das Gerüst der Weltordnung auseinanderzufallen, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Hinblick auf den Weltfrieden mühsam aufgebaut wurde. Das verstört erkennbar. Doch nicht überall und gleichermaßen. Und es ist fraglich, welche intellektuellen Konsequenzen aus dieser Analyse erwachsen sollten.

Die Idee der Nation: Krieg der Narrative

Dass ein Krieg mehr als nur militärische Handlungen auf dem Schlachtfeld umfasst, und dass die Deutungshoheit über den Krieg auch zum Siegesfaktor gehört, prägt schon seit der Antike das Verständnis des Krieges. Auffällig ist im Ukraine-Krieg, dass ein komplexes Bild von Kriegsnarrativen zu verschiedenen Wahrnehmungen des Kriegs geführt hat – wobei die von Russland ausgehende, völkerrechtswidrige Aggression grundsätzlich unbestritten ist.

Putins Argumente für die Gewaltanwendung wirken machtpolitisch konsequent, moralisch-argumentativ aber fragwürdig bis widersprüchlich. In den vielen Aufsätzen und Reden Putins zu historischen Themen lässt sich ein eigentümliches Ukraine-Narrativ Russlands erkennen, welches als ein integraler Teil eines Großrusslands-Narrativs konstruiert ist.

Den Hauptstrang dieser Erzählung stellt eine russische Genealogie dar, die von der Kiewer Rus über das Zarenreich und die Sowjetunion bis zum heutigen Russland reicht. Mit Blick auf die Geschichte erhebt Putin Anspruch auf Revision von gefühlten Ungerechtigkeiten, die Russland nach dem Zerfall der Sowjet­union erfahren haben soll, und reklamiert ein »Zurückholen« von historisch russischen Gebieten. Bemerkenswert an dieser Genealogie ist ihre um Ungereimtheiten bereinigte, positiv konnotierte“ (Stewart 2020, S. 9) Kontinuität: So werden einige wichtige Ereignisse wie die Revolutionen von 1917 und der Untergang der Sowjetunion, die der Kontinuitätsthese eher widersprechen, nur ungern thematisiert. Im Gegensatz dazu stellt der »Große Vaterländische Krieg« das gesellschaftlich wie geschichtlich versöhnende Element dar, an das sich Russland als Sieger über Nazi-Deutschland gern erinnert.

Zu diesem Großrussland-Narrativ gehört eine Überzeugung von der Entstehung der Ukraine als einer Nation, die im 19. Jahrhundert als »Kleinrussland« im Rahmen der „großen russischen Nation“ ihre kulturelle Identität habe entwickeln können. Es sei die sowjetische „Nationalpolitik“ gewesen, die aus der großen russischen Nation endgültig drei getrennte slawische Völker gemacht habe: Russisch, Ukrainisch und Weißrussisch. „Die moderne Ukraine ist also ausschließlich ein Produkt der Sowjetzeit“, so erklärte es Putin (2021) selbst – und konsequent in dieser Logik fortdenkend, dies sei zu einem erheblichen Teil auf Kosten der historischen Gebiete Russlands geschehen.

Mit dieser historischen Argumentationslogik erklärt Putin seinen Angriffskrieg zu einem gerechtfertigten Präventionsschlag gegen einen bevorstehenden und größeren Konflikt mit der NATO. Aber in Putins Argumentation zeigt sich schon der innere Widerspruch des russischen Ukraine-Narrativs: Die Ukraine als ein historisch russisches Land und somit ein legitimes russisches Interessengebiet zu betrachten, dem die „Entmilitarisierung“ gilt, ist russisch-imperial/imperialistisch. Mit der „Entnazifizierung“ soll Russland aber auf die diskriminierende Politik der Ukraine gegen die dortige russischsprachige Bevölkerung abgezielt haben. Die selbst ernannte Schutzmacht des Russischen orientiert sich offensichtlich an einer russisch-national/nationalistischen Idee, die einer ukrainischen Nation feindlich gegenübersteht. Diese aber dürfte es nach dem russisch-imperialen/imperialistischen Narrativ von der „einen Nation“ gar nicht geben.

Die offene Widersprüchlichkeit zwischen russisch-imperialen/imperialistischen und russisch-national/nationalistischen Bezügen erinnert an den antiken Melierdialog aus Thukydides’ »Geschichte des Peloponnesischen Kriegs«, in dem es um das Verhalten der spartanischen Kolonie Melos gegenüber dem Eroberungswillen Athens geht. Die beiden athenischen Generäle Kleomedes und Teisias verzichten auf schön klingende Rechtfertigung und reden realpolitischen Klartext: Der Stärkere stelle die Bedingung, die vom Schwächeren akzeptiert werden müsste. Der Krieg gegen Melos bzw. dessen Unterwerfung sei deshalb notwendig, weil jede andere Alternative dazu als Schwäche Athens ausgelegt und bei anderen in Athens Machtbereich Widerstand hervorrufen würde (Walzer 2006, S. 5).

Die Ukraine kämpft seit der russischen Aggression demgegenüber einen gerechten Selbstverteidigungskrieg. Die öffentliche Empörung über die Tatsache, dass Krieg in Europa im 21. Jahrhundert noch möglich ist, sorgt dafür, dass die Kriegsdeutung auf einer höheren und wertegebundenen Ebene stattfindet. So wurde aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine schnell ein Krieg „gegen alles, was Demokratie ausmacht: Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Selbstbestimmung, Menschenwürde“ (Scholz 2022). Die pathetische Metapher vom „Kampf zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Diktatur“ (Melkozerova 2022) erfasste die breite Öffentlichkeit und gibt den Konsens der Kriegswahrnehmung in den westlichen Ländern und Gesellschaften wieder. Das Narrativ hat sich inzwischen vom virtuellen Raum des ideologischen Endkampfes auf das reale Feld der globalen Systemkonkurrenz ausgeweitet, in der Demokratie als politisches und gesellschaftliches Modell als existentiell bedroht angesehen wird (Gibaja und Hudson 2022, S. 10).

So moralisch unangefochten das westliche Narrativ des Ukraine-Kriegs auch scheint, so ambivalent wird es vor allem im Globalen Süden aufgenommen (Plagemann 2022). Hier unterscheiden sich die Erinnerungen an und die Erfahrungen aus der Vergangenheit einschließlich der Jahrhunderte des Kolonialismus, der beiden Weltkriege, des Kalten Krieges und anderer vom Westen geführten Kriege gegen Staaten des Globalen Südens grundlegend von denen in Europa und dem Westen. Sowohl die moralisch-ideelle Umdeutung des Ukraine-Krieges mit absoluten Werten als auch der aus diesem Krieg abgeleitete Weltkonflikt zwischen zwei sich formierenden Großmachtblöcken wird als euro- bzw. westzentrisch und bigott empfunden.1 Entsprechend fehlt es diesen Narrativen außerhalb Europas bzw. des Westens an Überzeugungskraft. Die Schwäche des westlichen Kriegsnarrativs tritt dadurch offen zutage, dass sich fast alle Staaten in Afrika, Asien, Nahost und Lateinamerika den von den westlichen Staaten erlassenen Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen haben. In der Wahrnehmung des Globalen Südens soll der Ukraine-Krieg auf die Dimension einer europäischen Angelegenheit begrenzt werden, deren Gründe im europäischen Kontext zu verstehen und deren Lösungen vor allem zwischen den europäischen Staaten zu klären sind. Das fasste die kenianische Wissenschaftlerin Martha Bakwesegha-Osula schon im März wie folgt zusammen: „Europäische Lösungen für europäische Probleme!“ (Bakwesegha-Osula 2022)

Krieg der Nationen/Nationalstaaten im Werden

Den Ukraine-Krieg als einen europäischen Krieg zu betrachten, in dem es nicht in erster Linie um Verteidigung absoluter Werte wie Demokratie und Freiheit geht, ist aus der wissenschaftlichen Perspektive kein Alibi etwa für undemokratische oder realpolitische Gesinnung. Denn es sind einige Faktoren, neben dem geographischen, die diesen Krieg ideell und geschichtlich zu einem »europäischen« Krieg machen. Zuvorderst steht hier das bei beiden Kriegsparteien des Ukraine-Kriegs treibende Motiv, was unter dem Stichwortpaar europäischer Provenienz zusammenzufassen ist: Nation und Nationalstaat. Es steht zu erwarten, dass dieser Krieg als eine Form eines (erneuten) »Gründungskrieges« sowohl für die ukrainische Nation und ihren Nationalstaat als auch für die russische Nation und den russischen Nationalstaat in die jeweiligen Nationalmythen eingehen wird.

Der Nationalstaat als die moderne Form des Staatswesens vereint zwei wichtige Aspekte der „imaginären“ Zugehörigkeit: Kultur und Lebensraum (Anderson 2006). Die Selbstidentifizierung des souveränen Bürgers mit einer übergeordneten Gemeinschaft löst das Untertan-Herrscher-Verhältnis der vormodernen Zeit ab und bildet die Projektionsfläche für das „geistige“ Bedürfnis – eines der fundamentalen menschlichen Bedürfnisse und Handlungsmotive (Lebow 2008, S. 61ff.). Die ersten modernen Nationen und Nationalstaaten sind im neuzeitlichen Europa entstanden. Die historische Ambivalenz des nationalstaatlichen Konzepts ist, dass sein enormes Mobilisierungspotential sowohl zu zivilgesellschaftlichen Errungenschaften als auch zu blutigen Kriegen geführt hat. Vor allem wird mit dem Konzept eine kulturelle und ethnische Homogenität unter den Angehörigen der Nation suggeriert, die in einem gegen andere Nationen klar abgegrenzten Staat leben sollen. Diese Vorstellung erfuhr nach dem Ersten Weltkrieg durch die idealistische und seinerzeit fortschrittlichste Idee des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ von Woodrow Wilson einen zusätzlichen Schwung in Mittel- und Osteuropa (Mamatey 1972). Die europäische Landkarte von Nationalstaaten ist auch nach den beiden verheerenden Weltkriegen, die in Europa ihren Anfang nahmen und ihren Hauptschauplatz hatten, gemäß den erklärten Absichten einer Reihe von politischen, religiösen oder ethnisch organisierten Interessengruppen längst nicht so eindeutig und endgültig geklärt, wie Völkerrechtler es lehren.

Überhaupt muss der jetzige Ukra­ine-Krieg als der neueste Krieg – und vermutlich nicht der letzte – gemäß dieser nationalstaatlichen Geschichtslogik gesehen werden. Nach dem Ersten Weltkrieg, der den Untergang großer europäischer Imperien besiegelte, kam es zur ersten großen Welle der Bildung neuer, kleinerer Nationalstaaten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg fortsetzte. Mit dem Ende des Kalten Kriegs bzw. dem Zerfall der Sowjet­union setzte die zweite Welle von Staatsgründungen in Europa ein, die nicht alle friedlich verlaufen sind. Neuverhandlungen von Grenzen und Sezessionskriege wie die jugoslawischen Nachfolgekriege sowie Russlands Kriege in Tschetschenien und Georgien gehören auch zu diesem Prozess. Durch den jetzigen Krieg will Russland seine Grenze zur Ukraine, d.h. aber auch die Grenze des russischen Nationalstaats, neu definieren.

Der Ukraine-Krieg rückt die nationalstaatliche Geschichtslogik erneut in den Mittelpunkt des Denkens zur Gestaltung Europas. Er zwingt vor allem zur Neubewertung von politischen wie gesellschaftlichen Wandlungsprozessen im postsowjetischen Raum (Smith et al. 1998). Die deutsche bzw. westeuropäische Nachkriegserfahrung mit der Demokratisierung und der europäischen Integration wird sich jetzt mit der nachholenden »Vernationalstaatlichung« in Teilen Europas auseinandersetzen müssen. Dabei hat sich als ein Blindpunkt Europas bei der Beurteilung des Ukraine-Kriegs gezeigt, dass es eine fehlende Wahrnehmung davon gibt, dass beide Kriegsparteien – Russland und die Ukraine – verhältnismäßig junge Nationalstaaten sind, deren kulturelle und politische Identitäten einschließlich der Staatsgrenzen Prozesscharakter aufweisen (Plokhy 2015). Die Nationalstaatsbildung der Ukraine war vor dem Krieg in der Wissenschaft eingehend erörtert worden. Dabei galt das Augenmerk der Forschungen vor allem den Szenarien, wie sich eine demokratische politische Gemeinschaft in den in der Unabhängigkeitserklärung vom 24. August 1991 angekündigten und völkerrechtlich anerkannten Staatsgrenzen würde entfalten können. Ein wesentliches Ergebnis: Der kulturellen, geschichtlichen wie ethnischen Heterogenität sowie dem geopolitischen Umfeld der Ukraine sollte Rechnung getragen werden, indem alternative politische Möglichkeiten wie die „Staatsnation“ („state-nation“) und der „Einheitsstaat“ („unitary state“) – im Gegensatz zum „Nationalstaat“ – diskutiert werden (Stepan 2008; Stepan et al. 2011, S. 173ff.).

Auch wenn vieles in der ukrainischen Nationalstaatsbildung durch den Krieg zerstört bzw. verändert wird (Diner 2022), verdienen die Überlegungen des amerikanischen Politikwissenschaftlers Alfred Stepan und seiner Kollegen auch heute wieder ein genaueres Hinschauen, die sich wie eine Mahnung an die zukünftige Ukraine – aber auch an alle anderen multinationalen Staatsbildungen – lesen:

„Geopolitisch gesehen sind Staaten Mitglieder einer Welt, die aus Staaten besteht. Es ist möglich, dass in einigen internationalen Kontexten – insbesondere wenn ein Land an einen militärisch mächtigeren Staat grenzt, der ihm gegenüber irredentistische Tendenzen hat – der asymmetrische Föderalismus, ja jede Art von Föderalismus, Gefahren für den Aufbau einer neuen demokratischen politischen Gemeinschaft über die klassische Politik der Staatsnation birgt. Die sicherste Lösung könnte ein Einheitsstaat sein. Innenpolitisch hingegen wäre es auch demokratisch gefährlich und politisch nicht durchführbar, eine klassische starke nationalstaatliche Politik durchzusetzen, wenn die politisch bedeutenden Eliten in Bezug auf die Kulturpolitik tief gespalten sind.“ (Stepan et al. 2011, S. 173)

Ein erweitertes Projekt Europa als Lösung?

Mit dem in Aussicht gestellten Beitritt der Ukraine in die EU wird sich die Frontlinie zwischen Russland und dem Westen nur nach Osten verschieben. Ein weiteres Paradox in diesem Prozess wird sein, dass die EU mit ihrer postnationalen Verfasstheit und postmodern orientierten Lebensform ausgerechnet die Ukraine in der Nationalisierung fördert. Eine realistische Lösung der hier geschilderten Dimension des Russland-Ukraine-Konflikts ist auch wegen großer Denkhemmung nicht in Sicht. Gefordert ist aber „gemeinsame politische Vorstellungskraft“ („collective political imaginations“, Stepan et al. 2011, S. 174).

Diese entsteht nicht im luftleeren Raum und auch nicht unter aktiven kriegerischen Voraussetzungen. Die EU kann hier als historisches Vorbild dienen. Denn die Versöhnung zwischen den einstigen Erzfeinden Frankreich und Deutschland sowie die weitgehende Integration innerhalb einer bis zwei Generationen sind eine weltgeschichtlich beispiellose Erfolgsgeschichte. Ist Europa bereit, die Kraft zur Anstrengung wie nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal zu sammeln, um Europa nach Osten zukunftssicher zu gestalten?

Der deutsche Philosoph Oskar Negt hat nach der europäischen Finanzkrise von 2008 zu neuen europäischen „kollektiven Lernprozessen“ aufgerufen, die sich an den historischen Lernprozessen orientieren (Negt 2012). Die historischen Bemühungen um Frieden nach dem Dreißigjährigen Krieg und nach dem Zweiten Weltkrieg fasst Negt jeweils mit der Aufgabe eines „friedenswirksamen Vergessens“ und „friedenswirksamen Erinnerns“ zusammen. Angesichts der durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Krise, die sich durchaus als eine Sinnkrise Europas interpretieren lässt, bietet es sich an, das Projekt Europa als eines der „größten politischen und sozialen Projekte der Moderne“ in der Erinnerung an seine historischen Erfahrungen weiter zu denken. Schließlich ist Europa fast nach allen Krisen erstarkt neu auferstanden. Dafür gilt es auch jetzt zu streiten.

Anmerkung

1) Vgl. hierzu: Hu 2022. Die Bigotterie des westlichen Narrativs bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den Verstoß gegen allgemeine Moralprinzipien im Rahmen der Moralphilosophie und ist nicht politisch-instrumental zu interpretieren. Vgl. hierzu: Bayertz 2014, S. 16.

Literatur

Anderson, B. (2006): Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism. London/N.Y.: Verso.

Bakwesegha-Osula, M. K. (2022): Why Africa is divided over the Russia-Ukraine war. International Politics and Society Journal, 16.03.2022.

Bayertz, K. (2014): Warum überhaupt moralisch sein? 2., überarbeitete Auflage. München: C.H. Beck.

Diner, D. (2022): Das Gedächtnis des Krieges. Süddeutsche Zeitung, 05.05.2022.

Gibaja, A.F.; Hudson, A. (2022): The Ukraine war and the struggle to defend democracy in Europe and beyond. The Global State of Democracy (GSoD) – In Focus, Nr. 12. International Institute for Democracy and Electoral Assistance.

Hu, C. (2022): Europas historische Verantwortung im Ukraine-Krieg. Eine chinesische Sicht. WeltTrends. Das außenpolitische Journal, Nr. 187, 30. Jg., S. 52-57.

Lebow, R. N. (2008): A cultural theory of international relations. Cambridge u.a.: Cambridge University Press.

Mamatey, V. S. (1972): The United States and East Central Europe 1914-1918. A study in Wilsonian diplomacy and propaganda. Port Washington, N.Y./London: Kennikat Press.

Melkozerova, N. (2022): I’m in Kyiv, and it is terrifying. The New York Times, 25.02.2022.

Negt, O. (2012): Gesellschaftsentwurf Europa. Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen, Göttingen: Steidl.

Plagemann, J. (2022): Die Ukraine-Krise im globalen Süden: kein „Epochenbruch“. GIGA Focus Global, Nr. 2.

Plokhy, S. (2015): The gates of Europe. A history of Ukraine. New York: Basic Books.

Putin, V. (2021): On the historical unity of Russians and Ukrainians, 12.07.2021.

Scholz, O. (2022): Warum wir krisenfester sind als die autoritären Staaten. Die Welt, 29.04.2022.

Smith, G.; et al. (1998): Nation-building in the Post-Soviet borderlands. The politics of national identities. Cambridge u.a.: Cambridge University Press.

Stepan, A. (2008): Comparative theory and political practice: Do we eed a “state-nation” model as well as a “nation-state” model? Government and Opposition 43(1), S. 1-25.

Stepan, A.; Linz, J.J; Yadav, Y. (2011): Crafting state-nations. India and other multinational democracies. Baltimore: The Johns Hopkins University Press.

Stewart, S. (2020): Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands. Wie die Gegenwart die Vergangenheit beeinflusst. SWP-Studie 22.

Walzer, M. (2006): Just and unjust wars. A moral argument with historical illustrations. New York: Basic Books.

Chunchun Hu ist Associate Professor an der Shanghai Academy of Global Governance & Area Studies, Shanghai International Studies University (SISU) und Direktor des Programms Europastudien.

Die Eskalationsspirale durchbrechen

Die Eskalationsspirale durchbrechen

Impulse für eine neue Friedensordnung

von Martina Fischer

Mit der Forderung nach Intensivierung der Diplomatie durchzudringen ist angesichts der dramatischen Bilder und des Kriegsverlaufs in der Ukraine nicht leicht – dennoch bleibt letztlich keine andere Wahl. Es geht darum, Menschenleben zu retten, die Ukraine als souveränen Staat zu erhalten und eine Ausweitung des Kriegs zu verhindern. Doch wie können die mit dem Krieg verbundenen Konflikte transformiert werden, und welche historischen Entwicklungen gilt es dabei zu berücksichtigen? Kann angesichts erneuter Blockkonfrontation in Europa überhaupt noch eine neue Sicherheits- und Friedensordnung entstehen? Welche Rolle können die EU und ihre Mitgliedstaaten dabei spielen?

Der Angriffskrieg der russischen Regierung auf die Ukraine stellt einen massiven Völkerrechtsbruch und Zerstörungsakt gegen die multilaterale Ordnung dar, und er verhöhnt das humanitäre Völkerrecht, das zum größtmöglichen Schutz der Zivilbevölkerung verpflichtet. Die Gräueltaten, die diese Kämpfe begleiten, sollten von unabhängigen Gerichten untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Entscheidungen von internationalen Organisationen und Einzelstaaten für Sanktionen in den Bereichen Finanzen, Technologietransfer und – soweit möglich – auch im Bereich der Energie sind als weltweites Signal und aus Gründen der Solidarität mit der Ukraine unbedingt erforderlich. Allerdings werden sie vermutlich erst längerfristig Wirkung entfalten.

Auch wenn die Bilder von Tod, Leid und Zerstörung in der Ukraine es sehr schwer machen, so müssen alle diplomatischen Kanäle genutzt werden. Es geht darum Menschenleben zu retten, die Ukraine als souveränen Staat zu erhalten und eine Ausweitung des Kriegs zu verhindern. Dafür muss auch der alles überwölbende Konflikt zwischen der NATO und Russland deeskaliert werden, denn letztlich will der Kreml mit diesem Krieg gegenüber der NATO seine Macht demonstrieren und die »westliche Vorherrschaft« brechen. Die Hoffnung auf eine neue Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa sollte man nicht aufgeben, auch wenn sie sich wohl allenfalls langfristig realisieren lassen wird. Eine Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, die Vergangenheit kritisch zu reflektieren und nach neuen Wegen für Rüstungskontrolle zu suchen.

Gefährliche Dynamik einhegen

Eine Politik der Stärke, wie sie durch internationale Institutionen, die EU-Mitgliedsländer und weitere Staaten mithilfe von Sanktionen beschlossen wurde, ist wichtig, um auf die russische Regierung Druck auszuüben. Die EU hat sich in unerwartet rascher Einmütigkeit zu mehreren Sanktionspaketen entschlossen. Allerdings weisen erfahrene Friedensforscher wie Tobias Debiel und Herbert Wulf (2022) auf die Ambivalenz und auch auf das eskalierende Potenzial von Sanktionen hin: Sie müssten Russland hart treffen, aber nicht vernichten. Tatsächlich muss man bei der Festlegung von Sanktionen die Wirkung für alle Seiten sorgfältig kalkulieren. Diese Herausforderung und die Betrachtung friedenspolitischer Minimalvoraussetzungen für Sanktionen (vgl. Werthes und Hussak 2022) sind wesentlich für den Erfolg von Sanktionsregimen. Die Einmütigkeit der Staaten der EU aus den ersten Kriegstagen ist allerdings mittlerweile einem eher gemischten Bild gewichen.

Weniger schwer taten sich die Mitgliedstaaten dagegen beim Thema Waffenlieferungen: Über die 2021 geschaffene und von vielen NGOs nicht nur wegen des irreführenden Namens kritisierte sogenannte »Europäische Friedensfazilität« (vgl. Fischer 2021), mit der neuerdings auch Waffen und Munition aus europäischer Produktion im Rahmen von Militärhilfe an Drittstaaten übergeben werden dürfen, wurden in den vergangenen Monaten große Mengen von Kriegsmaterial in die Ukraine geliefert.

Das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine steht angesichts eines Angriffskriegs außer Frage. Aber auch bei der militärischen Unterstützung sei Vorsicht geboten, so argumentieren die Friedensforscher Debiel und Wulf: Wenn sie über die Lieferung von Defensivwaffen hinausgehe, sei das „ein Spiel mit dem Feuer“ und ein Schritt auf die nächste Stufe der Eskalationsleiter. „Dies gilt insbesondere für die zeitweise diskutierte Entsendung polnischer MIG 29-Kampfflugzeuge. Allein deren logistische Verbringung in die Ukraine würde gefährlich die Schwelle zu einer unmittelbaren NATO-Kriegsbeteiligung streifen“ (Ebd. 2022). Die Eskalation in einen dritten Weltkrieg aber gilt es unbedingt zu verhindern.

Um sie zu verhindern, braucht es intensive diplomatische Bemühungen auf unterschiedlichen Ebenen. Aktuell müssten alle beteiligten Parteien mehr miteinander reden denn je, denn Fehlleistungen, die schon in Friedenszeiten zum militärischen Alltag gehören (z.B. Luftraumverletzungen), können in einer hocheskalierten Situation zum Desaster führen. Der Konfliktforscher Friedrich Glasl (2022a) hat überzeugend illustriert, wohin es führt, wenn nicht mehr gesprochen wird und sich die Energie nur mehr auf die Vernichtung des gegnerischen Systems richtet: gemeinsam in den Abgrund. Um im Gespräch zu bleiben, so Glasl, sind Dämonisierung und Polemik der falsche Weg.

Hin zum Waffenstillstand?

Die amerikanischen Politikwissenschaftler Thomas Graham (Council on Foreign Relations, New York) und Rajan Menon (City University of New York) haben in einem Aufsatz in »Foreign Affairs« (2022) bedenkenswerte Vorschläge unterbreitet. Sie gehen davon aus, dass sich der Krieg Jahre oder Jahrzehnte hinziehen und enorme Opfer und ökonomische Schäden mit sich bringen wird, womit sich die Gefahr erhöht, dass er sich ausweitet und dass die NATO-Staaten hineingezogen werden. Mit den Bildern weiterer Gräueltaten verstärke sich das Risiko, dass mit Maßnahmen reagiert werde, die weitere Eskalationsgefahren mit sich bringen – mittlerweile haben die bekannten Massaker in der Ukraine genau dies geschaffen: sich schließende Fenster für Gesprächsbereitschaft und weitere Eskalation.

Graham und Menon fordern, das Leiden durch diplomatisches Engagement und eine politische Übereinkunft zu beenden. Ein Waffenstillstand würde eine humanitäre Versorgung von Verwundeten und Geflüchteten innerhalb und jenseits der Ukraine ermöglichen und die Voraussetzungen für die Anbahnung von Verhandlungen verbessern. Die Ukraine und ihre Unterstützer*innen müssten überlegen, welche Kompromisse sie mittragen könnten. Aus ukrainischer Sicht wären Sicherheitsgarantien westlicher Länder für eine Neutralitätslösung zwingend, und diese müssten von Russland akzeptiert werden, das sich auch an den Kosten für den Wiederaufbau beteiligen müsste. Die westlichen Staaten wiederum müssten klären, unter welchen Bedingungen sie die Sanktionen gegenüber Russland wieder lockern könnten, um einen Anreiz für Kooperation zu schaffen.

Es sei das Recht der Ukraine, die Bedingungen für einen Waffenstillstand zu definieren, so Graham und Menon. Aber Verhandlungen könnten sich nicht auf die Ukraine und Russland beschränken, denn neben der geopolitischen Orientierung der Ukraine müsse man auch Moskaus Bedenken bezüglich der europäischen Sicherheitsarchitektur adressieren. Dazu werde der Kreml mit den Vereinigten Staaten verhandeln wollen, die als einziges Land – neben Russland – über das militärische Potenzial verfügen, die Machtbalance auf dem Kontinent zu beeinflussen. Die USA müssten folglich als Garant für ein Friedensabkommen fungieren. Die NATO-Osterweiterung stehe im Zentrum einer solchen Debatte. Bislang, so Graham und Menon, hätten die USA und ihre Alliierten jegliche Diskussion dazu kategorisch abgelehnt. Da der Kreml seinen Widerstand gegen den Beitritt der Ukraine nicht fallen lassen werde, müsse man ausloten, ob er die militärische Kooperation einer neutralen Ukraine mit westlichen Ländern akzeptieren würde, die eine Selbstverteidigung ermögliche, wenn ausgeschlossen wird, dass NATO-Kampftruppen, -Waffen oder -Stützpunkte in die Ukraine verlagert werden. Im Gegenzug müsste Russland auf die Stationierung militärischer Arsenale im Grenzgebiet verzichten.

Alle diplomatischen Foren und Kanäle nutzen

Die ukrainische Regierung hat im März die Möglichkeit einer Neutralität mit Sicherheitsgarantien und einen Sonderstatus der Gebiete in der Ostukraine als mögliches Verhandlungsthema in den Raum gestellt. Der russische Präsident deutete an, der Krieg könne enden, wenn die Ukraine auf den Donbass, die Krim und einen NATO-Beitritt verzichte. Allerdings wurden diese Optionen offenbar bislang nicht ernsthaft verhandelt. Ob der Kreml derzeit überhaupt an Verhandlungen interessiert ist, ist schwer zu beurteilen. Aktuell scheint er Feuerpausen eher für die Umgruppierung von Truppen zu nutzen. Das könnte sich aber ändern, wenn irgendwann die Kosten und Verluste auf der eigenen Seite und der Preis weiterer Kriegsführung (z.B. die Folgen von Sanktionen) als zu hoch eingeschätzt werden.

Für diesen Moment sollten alle direkt und indirekt beteiligten Konfliktparteien vorbereitet und daher für diplomatische Optionen offenbleiben. Dann könnte eine Vermittlung durch dritte Parteien ins Spiel kommen, die mit den Beteiligten nach einem gesichtswahrenden Ausstieg suchen. So könnte etwa ein Team von mediationserfahrenen Diplomat*innen unter Leitung einer*s UN-Sonderbeauftragten mit Russland, der Ukraine und der NATO nach Kompromissen suchen. Vermittler*innen sollten aus Staaten kommen, die nicht direkt in den Konflikt eingebunden und für alle Seiten akzeptabel sind. Irland, in Gestalt seiner ehemaligen Präsidentin und UN-Menschenrechtsbeauftragten Mary Robinson könnte dafür beispielsweise in Frage kommen, zusammen mit der OSZE-Generalsekretärin Helga Schmid, einer erfahrenen Diplomatin, die das Atomabkommen mit dem Iran maßgeblich mitverhandelt hat. Die Potenziale der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sollten dafür unbedingt genutzt werden. Ihre diplomatischen und sicherheitspolitischen Instrumente, wie Dialog- und Mediationsformate sowie Beobachtungsmaßnahmen, kamen im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine bereits zum Einsatz, wurden jedoch nie ausreichend unterstützt. Um das zu verstehen, ist ein historischer Rückblick nützlich.

Verpasste Chancen 1990-2022

Für den Historiker Bernd Greiner (2022) wurden nach der Auflösung der Sowjetunion viele Chancen verpasst, Frieden und Sicherheit in Europa zu stärken. Die 1990er-Jahre bezeichnet er gar als ein „sicherheitspolitisch vergeudetes Jahrzehnt“ (Ebd.). Statt auf die OSZE zu setzen und eine Sicherheitsarchitektur gemeinsam mit Russland zu entwerfen, setzten einflussreiche Berater*innen und Regierungen insbesondere in den USA auf die Erweiterung des westlichen Militärbündnisses – ohne Not und in einer Zeit, in der Russland keinerlei Bedrohung für die NATO darstellte. Der UN-Experte Andreas Zumach (2022) sprach in diesem Zusammenhang von der „Hybris“ der westlichen Mächte. Eine Reihe von erfahrenen Diplomat*innen und Politiker*innen hatten vor solchen Schritten gewarnt. Sie befürchteten, dass diese Expansionspolitik all jenen Auftrieb geben könnte, die die Auflösung des sowjetischen Großreichs schwer verwinden konnten und sich weiterhin an imperialen, großrussischen Ideen orientierten, so Zumach. Mit der Besorgnis lagen sie offenbar nicht ganz falsch. Nicht nur im Kreml, sondern auch in nicht unerheblichen Teilen der russischen Gesellschaft stieß die NATO-Osterweiterung auf Ablehnung.

Fehler Nr. 1: Militärische Bündnispolitik statt »kooperativer Sicherheit«

Zwar wurde in der NATO-Russland-Grundakte die Integration der osteuropäischen Staaten in den 1990er Jahren noch gemeinsam verhandelt. Gleichwohl berief sich die russische Regierung in den vergangenen Jahren zunehmend auf eine Ankündigung der Regierung Kohl/Genscher und von US-Außenminister James Baker von 1990, auf eine NATO-Osterweiterung zu verzichten. Als die Ukraine und Georgien neben der EU-Mitgliedschaft auch die Aufnahme in die NATO begehrten, reagierten die deutsche und die französische Regierung daher entsprechend zurückhaltend. Jedoch signalisierte die NATO auf dem Gipfel in Bukarest 2008 auf Drängen der USA, dass die Tür für eine Mitgliedschaft beiden Ländern offenstehe, wobei der Zeitrahmen offengelassen wurde. Eine »Warnrede«, die Putin 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz zu diesem Thema gehalten hatte, wurde ignoriert. Die in Bukarest gefundene Formel wertete der Kreml als „NATO-Mitgliedschaftsperspektive und eine nicht hinnehmbare Bedrohung der von Russland traditionell geforderten Einflusssphäre“, so berichtete der vormalige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger (2021). Bei einer Pressekonferenz am 14.2.2022 bezeichnete er diesen Schritt als gravierende Fehlentscheidung des Bündnisses (Ischinger 2022).

2014 bekräftigte der NATO-Generalsekretär erneut die Offenheit für den ukrainischen Beitritt. Putin reagierte mit einer Destabilisierung der beitrittswilligen Länder, indem er die Konflikte in Georgien eskalierte, pro-russische Separatisten im Donbass unterstützte und schließlich die Krim annektierte. Im selben Jahr verlieh die US-amerikanische Regierung der Ukraine den Status eines »major-non-­NATO-ally«, was umfangreiche militärische und wirtschaftliche Unterstützung ermöglichte, und stattete sie fortan umfassend mit Waffen aus. Am 1.9. und 20.11.2021 vereinbarten die US-amerikanische und die ukrainische Regierung schließlich eine »strategische Partnerschaft« beider Länder, mit der die USA zusicherten, die vollständige Integration der Ukraine in die europäischen und euro-atlantischen Institutionen zu unterstützen, sowie die Souveränität und territoriale Integrität des Landes zu sichern (US Department of State 2021).

Auch auf wirtschaftlicher Ebene gab es massive Zerwürfnisse: Während Russland in den 2010er-Jahren in Europa eine Eurasische Wirtschaftsunion unter Einschluss der Ukraine anstrebte, betonten westliche Regierungen die Selbstbestimmung des Landes und seine Einbindung in den Westen. Das Assoziierungsabkommen, das die EU 2014 mit der Ukraine, Moldau und Georgien unterzeichnete, war Teil des Wettlaufs konkurrierender und einander ausschließender Integrationskonzepte. Insofern ist die EU aus der Sicht des Kreml Teil des Problems und nicht der Lösung – sie konnte daher auch nicht wirklich eine Mediationsfunktion in der aktuellen Situation übernehmen. In der gegenwärtigen Situation scheint das auch nicht gewünscht zu sein.

Zur Verschlechterung der Beziehungen trugen weitere Faktoren bei, etwa Völkerrechtsverletzungen der NATO-Mitgliedstaaten im Krieg um Kosovo, im Irak-Krieg und durch Überschreitung des UN-Mandats in Libyen (siehe Zumach in W&F 2/2022).

Fehler Nr. 2: Erosion der Rüstungskontrolle

Dazu kamen die Auflösung aller vertrauensbildenden Foren und der Abbruch von Rüstungskontrollvereinbarungen, die in der Endphase des Kalten Kriegs errungen worden waren, auf Initiative von US-Regierungen. Wolfgang Richter (2016) verweist in einem Hintergrundaufsatz auf den hoffnungsvollen Start, der 1990 mit der Charta von Paris und 1992 mit der Unterzeichnung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) mit acht Nachfolgestaaten der Sowjetunion einschließlich Russlands gegeben war. Dieser sah ein militärisches Blockgleichgewicht auf niedrigem Niveau und geographische Stationierungsbegrenzungen vor.

Mit der Entscheidung über den Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns zur NATO im Jahr 1997, mit dem der Kreml die Pariser Vereinbarung gefährdet sah, verband man immerhin noch das Versprechen, keine substanziellen Kampfgruppen dauerhaft in den Beitrittsländern zu stationieren, die OSZE zu stärken und die Sicherheitskooperation mit Russland auf der Grundlage der NATO-Russland-Grundakte zu intensivieren. Weiterhin galt das in der Europäischen Sicherheitscharta verankerte Prinzip der freien Bündniswahl, jedoch verknüpft mit der Klausel, dass kein Staat oder Bündnis die eigene Sicherheit zu Lasten von Partnern stärken oder privilegierte Einflusssphären schaffen dürfe. So sollte – auf der Basis der KSE-Grundakte – ein „zentraleuropäischer Stabilitätsraum von Deutschland bis zur Ukraine mit besonderen Rüstungskontrollverpflichtungen geschaffen und der Abzug russischer Stationierungstruppen aus Georgien und Moldau mithilfe der OSZE und durch bilaterale Vereinbarungen geregelt werden. Dass diese politische Meisterleistung in den Folgejahren nicht umgesetzt wurde, ist die tiefere Ursache der gegenwärtigen europäischen Sicherheitskrise“, so Wolfgang Richter schon vor einigen Jahren.

Der Grund dafür lag im Kurswechsel, den die USA unter der Bush-Administration vollzogen. Vorschläge aus dem Kreml, die OSZE durch eine verbindliche Charta zu stärken oder einen neuen Sicherheitsvertrag zu schließen, wiesen die USA mit Unterstützung von Verbündeten zurück. Man forcierte stattdessen die Erweiterung der NATO um das Baltikum, Rumänien und Bulgarien bis ans Schwarze Meer. Die USA stationierten Kampfgruppen im südöstlichen Flankengebiet und strategische Raketenstellungen in Polen und Tschechien. 2001 kündigte Präsident George W. Bush den ABM-Vertrag zum Verbot antiballistischer Raketenabwehr. Danach kündigte die US-Regierung den Aufbau einer strategischen Raketenabwehr in Europa an, und schließlich suspendierte sie auch noch die Ratifizierung der Anpassungsvereinbarung des KSE-Vertrags. Vor diesem Hintergrund bildeten die Pläne zu weiterer Bündnisausdehnung aus Sicht des Kreml eine Provokation, meint Wolfgang Richter in seinem Aufsatz. Auch unter Präsident Obama habe die Rüstungskontrolle keinen Neuanfang erlebt. Die NATO-Strategie von Lissabon habe 2010 unverändert die Bündniserweiterung als bestes Mittel für die Stabilität Europas beschrieben, ohne die OSZE auch nur zu erwähnen. Auch der NATO-Russland-Rat habe versagt, denn „anders als vereinbart, trat die Allianz in wichtigen europäischen Sicherheitsfragen wie der Rüstungskontrolle und der Raketenabwehr mit geschlossenen Blockpositionen gegen Russland auf. In der Krise suspendierte die NATO den Dialog, statt ihn zu suchen“ (Ebd.).

»Kooperative Sicherheit« wird weiterhin benötigt

Die genannten Versäumnisse und Fehlentscheidungen rechtfertigen keinesfalls die Reaktionen der russischen Regierung, weder die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, noch die Förderung des Kriegs in der Ostukraine, der schon von 2014 bis Ende 2021 mehr als 14.000 Todesopfer forderte (Swissinfo 2022). Sie rechtfertigen schon gar nicht einen Angriffskrieg, wie ihn die Ukraine nun erleiden muss. Für diese militärische Eskalation, für die toten und versehrten Menschen und Seelen trägt ausschließlich der Kreml Verantwortung. Aber die Erosion der Rüstungskontrolle und dass Russland wiederholt von westlicher Seite in wichtigen Entscheidungen und Verhandlungsforen an den Rand gedrängt wurde, sind wichtige Wegmarken in der Geschichte eines Konflikts, der sich seit vielen Jahren entwickelt und immer weiter zugespitzt hat (vgl. Fischer 2022). Das Verhalten der NATO-Mitgliedstaaten hat zur Verschlechterung der Beziehungen beigetragen und den großrussischen Kräften, die jetzt den Kurs bestimmen, entscheidende Argumente für die Legitimation der Aggression geliefert.

Wer den Krieg und Putins Rhetorik nun für umfassende Schuldzuweisungen an die Architekt*innen der Entspannungspolitik des 20. Jahrhunderts nutzt, macht es sich zu einfach. Das Konzept der »kooperativen Sicherheit«, die Verständigung zwischen den Staaten der NATO und des Warschauer Vertrags und die schon erwähnten Rüstungskontrollvereinbarungen haben entscheidend zur Auflösung der Blockkonfrontation beigetragen und ermöglicht, dass in Europa mehr Menschen als je zuvor in relativer Sicherheit und demokratischen Verhältnissen leben konnten. Man hätte diese Ansätze nicht leichtfertig über Bord werfen und auf die Dominanz der militärischen Logik setzen dürfen (vgl. auch Greiner 2022).

Man sollte die Hoffnung auf eine langfristige europäische Sicherheits- und Friedensarchitektur nicht einfach aufgeben. Wenngleich eine mehrjährige Konferenz, die sich um die Schaffung einer neuen Sicherheitsordnung in Europa bemüht, wie sie noch 2021 von ehemaligen Bundeswehroffizieren, Diplomaten und Friedensforscher*innen gefordert wurde (Varwick et al 2021), kurzfristig nicht umsetzbar erscheint, ist sie nicht völlig obsolet. Eine Neuauflage des »Helsinki-Prozesses« wäre wichtig, meint auch Herbert Wulf (2022): ein politisches Projekt, in dem atomare Abschreckung eingehegt wird, mit dem Ziel, wieder zu einer vorhersagbaren Politik zurückzukehren und den Weg für Rüstungskontrollverhandlungen über grenznahe Waffensysteme zu ebnen. Voraussetzung dafür sei die Respektierung völkerrechtlicher Prinzipien, die in den vergangenen Jahren nicht nur von Russland, sondern auch von westlichen Akteuren verletzt wurden.

Was es braucht

Wir brauchen eine europäische Sicherheitsarchitektur, die von allen Seiten mitgetragen wird, die garantiert, dass Grenzen geachtet werden und dass sich Sicherheit nicht nur an militärischer Logik, sondern an den Bedürfnissen der Menschen – also am UN-Konzept der »menschlichen Sicherheit« orientiert. Auch die EU kann dazu beitragen, indem sie die UNO und OSZE als Systeme kollektiver und kooperativer Sicherheit in Zukunft noch viel umfassender als bisher unterstützt, anstatt sich auf den Ausbau eigener Militärpotenziale und die Stärkung der NATO zu konzentrieren. Eine solche Struktur sollte weder von Russland diktiert, noch von den Vereinigten Staaten dominiert werden, sondern eine neue, europäische Ausrichtung haben. Die Grundlage dafür bietet die OSZE, nicht der Ausbau von Militärbündnissen, die sich waffenstarrend gegenüberstehen. Dialogforen, die Vertrauensbildung und Rüstungsbegrenzung ermöglichen, müssen wiederbelebt und reformiert werden. Gleichzeitig ist zu hoffen, dass sich im Kreml irgendwann wieder Berater*innen Gehör verschaffen, die die Vorteile kooperativer Sicherheitsstrukturen zu schätzen wissen.

Man sollte alles daransetzen, die in der OSZE existierenden Instrumente für Rüstungskontrolle weiterzuentwickeln. Ziel ist eine überprüfbare Konvention über das Verbot unkonventioneller und irregulärer Kriege (Verzicht auf die Unterstützung von bewaffneten Akteuren in Drittstaaten durch Waffen, mediale Einflussnahme und Cyberattacken – bislang ist all das sowohl in der russischen als auch in der US-amerikanischen Militärdoktrin verankert). Zudem sollte man die USA und Russland dafür gewinnen, dem kürzlich (von der Trump-Regierung) gekündigten Open-Skies-Abkommen, das vertrauensbildende Maßnahmen im Luftraum vorsieht, wieder beizutreten. Das Überleben der Menschheit wird maßgeblich davon abhängen wird, ob es gelingt, mit den damaligen Partnern der KSE-, SALT-, START-Abkommen, aber auch mit China, Indien, Iran und Israel eine globale Sicherheits- und Friedensarchitektur auszuhandeln (vgl. Glasl 2022b).

Auch auf globaler Ebene müssen Kommunikationskanäle und Abkommen etabliert werden, die einen »Weltkrieg aus Versehen« und ein völlig entgrenztes Wettrüsten verhindern, das in einer multipolaren Welt noch viel gefährlichere Formen annimmt, als im Kalten Krieg. Schon jetzt übertreffen die Arsenale der NATO-Mitgliedstaaten die Potenziale Russlands übrigens um das Vier- bis Fünffache. Das sollte für effektive Landes-und Bündnisverteidigung reichen. Weitere Hochrüstung würde nicht mehr Sicherheit schaffen, sondern die Mittel vernichten, die für die Bewältigung der großen Krisen, die die Menschheit herausfordern – Pandemien, die Klimakrise und das Artensterben – dringend benötigt werden.

Der Text von Martina Fischer wurde in veränderter Form am 26.4.2022 von der Bundeszentrale für politische Bildung online veröffentlicht: „Die Hoffnung auf eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur nicht aufgeben“, in: Deutschland Archiv (bpb.de/507623).

Literatur

Debiel, T.; Wulf, H. (2022): Eskalation und Deeskalation im Ukraine-Krieg. INEF Development and Peace Blog, 14.3.2022.

Fischer, M. (2021): Zivile Potentiale der EU ausbauen. Krisenprävention und Friedensförderung stärken. In: W&F 1/2021, S. 10-13.

Fischer, M. (2022): Warum es in der Ukraine-Krise Kooperation braucht. Blogbeitrag, Brot für die Welt, 07.02.2022.

Glasl, F. (2022a): Konfliktdynamik und Friedenschancen in der Ukraine. Online-Vortrag, 24.03.2022. Aufzeichnung des Vortrags steht online zur Verfügung.

Glasl, F. (2022b): Aufruf an verantwortungsbewusste Menschen in Politik und Zivilgesellschaft zum Beenden des Ukraine-Kriegs. Trigon Entwicklungsberatung, 28.03.2022.

Graham, Th.; Menon, R. (2022): How to make peace with Putin. The west must move quickly to end the war in Ukraine. Foreign Affairs, 21.03.2022.

Greiner, B. (2022): Was lief schief seit dem Ende des Kalten Krieges? Deutschland Archiv Blog, bpb, 01.04.2022.

Ischinger, W. (2021): Was jetzt zu tun ist. Süddeutsche Zeitung, 30.12.2021.

Ischinger, W. (2022): Präsentation des Munich Security Report 2021 auf der Bundespressekonferenz, 14.02.2022.

Richter, W. (2016): Meinung: Der Westen trägt eine Mitverantwortung für die Ukraine-Krise. Thema Kriege und Konflikte, bpb Homepage, 05.09.2016.

Swissinfo (2022): Dauerkonflikt in der Ostukraine: UN erhöht Opferzahl deutlich, 12.01.2022.

US Department of State (2021): U.S.-Ukraine charter on strategic partnership. Presseerklärung, 10.11.2021.

Varwick, J.; u.v.a. (2021): Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland. Stellungnahme, 05.12.2021.

Werthes, S.; Hussak, M. (2022): Das Sanktionsregime gegen Russland. Friedenspolitische Reflexionen angesichts des Krieges gegen die Ukraine. In W&F 2/2022, S. 18-21.

Wulf, H. (2022): Escalation, de-escalation and perhaps – eventually – an end to the war? Toda Policy Brief 128, Toda Peace Institute, April 2022.

Zumach, A. (2022): Putins Krieg, Russlands Krise. Le Monde Diplomatique – Deutsche Edition, 10.03.2022.

Zumach, A. (2022): Selektivität und doppelte Standards. Die UNO vor dem Rückfall in die Blockaden des Kalten Krieges. In: W&F 2/2022, S. 21-23.

Martina Fischer ist Politikwissenschaftlerin und war knapp 20 Jahre bei der Berg­hof Foundation in Berlin tätig. Seit 2016 arbeitet sie bei »Brot für die Welt« als Referentin für Frieden und Konfliktbearbeitung.

Rückblick als Vorausblick?

Rückblick als Vorausblick?

Eine Eventdatenanalyse des ersten Kriegsjahres in der Ukraine

von Jan Niklas Rolf

Rückblick: Am 17. Juli 2014 wurde ein Passagierflugzeug der Malaysia Airlines mit 298 Insassen über der Ostukraine abgeschossen, was den seit Monaten tobenden Krieg in der Ukraine nochmals auf eine neue Eskalationsstufe hob. Doch wer war für den Abschuss verantwortlich und war eine solche Eskalation vorhersehbar? Anhand einer quantitativen Analyse der Ereignisse des Jahres 2014 versucht dieser Beitrag Antworten auf diese Fragen zu liefern. Der Aufforderung von Melanie Hussak und Jürgen Scheffran (2022) im vorherigen Heft folgend, „Frühwarnsystemen wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken und auch stärker militärische Analysen und Szenarien in Risikobewertungen einzubeziehen“, soll untersucht werden, ob die Ereignisse Rückschlüsse über die mögliche Wahl von unkonventionellen Mitteln durch Russland in der Ukraine zulassen.

Am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine mahnte Wladimir Putin in seiner Fernsehansprache: „Wer immer sich uns in den Weg stellt oder gar unser Land, unser Volk bedroht, muss wissen, dass Russlands Antwort augenblicklich erfolgen wird, und sie wird Folgen haben, wie Sie sie in Ihrer Geschichte noch nicht erlebt haben“ (zit. in Gillmann 2022). Auf diese Drohung folgte wenige Tage später die Versetzung der russischen Abschreckungswaffen – darunter der strategischen Atomwaffen – in besondere Alarmbereitschaft. Diese doppelte Drohgebärde schien ihre Wirkung nicht zu verfehlen, argumentierten führende Politiker*innen im Westen doch fortan, dass eine aktive Unterstützung der Ukraine – etwa in Form der Entsendung von Soldat*innen oder der Errichtung einer Flugverbotszone – unmöglich sei, da sie nahezu unweigerlich in einem Atomkrieg münde.1

In Anbetracht der territorialen (aber auch personellen und materiellen) Verluste Russlands im Verlauf der ersten Kriegsmonate im Jahr 2022 warnten Expert*innen zudem vor dem Einsatz taktischer Atomwaffen, mit denen Russland einen Sieg doch noch erzwingen könne. „Angesichts der Rückschläge, die sie [Präsident Putin und die russische Führung] bisher militärisch hinnehmen mussten,“ so CIA-Direktor William Burns am 14. April 2022, „kann niemand von uns die Bedrohung durch einen möglichen Rückgriff auf taktische Nuklearwaffen oder Nuklearwaffen mit geringer Reichweite auf die leichte Schulter nehmen“ (zit. nach Strobel 2022).

Tatsächlich geht die von den Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky (1979) entwickelte Erwartungstheorie (englisch: »Prospect Theory«) davon aus, dass Individuen im Angesicht von Verlusten größere Risiken einzugehen bereit sind als im Angesicht von Gewinnen: Befinden wir uns in einer vorteilhaften Position, agieren wir eher vorsichtig, um unsere Gewinne zu sichern. Befinden wir uns dagegen in einer nachteiligen Position, neigen wir zu riskantem Verhalten, um unsere Verluste umzukehren. Lässt sich mit dieser auf Laborexperimenten beruhenden Theorie auch das Verhalten Russlands im aktuellen Ukraine-Krieg vorhersagen?2 Wie so oft kann auch diesmal ein Blick in die Vergangenheit helfen, erwartbare Ereignisse einzuordnen.

Der Krieg in der Ukraine begann nicht etwa mit dem russischen Überfall am 24. Februar 2022, sondern bereits im Frühjahr 2014, als auf der Krim und insbesondere im Osten der Ukraine heftige Kämpfe zwischen ukrainischen Truppen und von Moskau unterstützten pro-russischen Separatisten ausbrachen. Im Gegensatz zu Russland verfügen die pro-russischen Separatisten zwar über keine atomar bestückten Raketen, wohl aber über von Russland zur Verfügung gestellte mobile Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen. Wie die nachfolgende Eventdatenanalyse offenbart, kamen diese Raketen just in dem Moment zum Einsatz, in dem die Separatisten massiv zurückgedrängt wurden. Zwar ist der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17 im Sommer 2014 – bei aller Tragik – nicht mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen zu vergleichen, er zeigt jedoch, dass Akteure, die sich in der Defensive befinden, bereit sind, zu – für ihre Verhältnisse – unkonventionellen Mitteln zu greifen.

Unkonventionelle Mittel

Die hier angestellte Eventdatenanalyse stützt sich auf die mehr als 2.000 Ereignisse, die die täglich aktualisierte, aber inzwischen eingestellte »Ukraine Crisis Timeline« der unabhängigen US-amerikanischen Denkfabrik »Center for Strategic and International Studies« für den Zeitraum von November 2013 bis Februar 2017 ausweist. Ereignisse sind verbale oder physische Signale, denen ein Sender und Empfänger zugeordnet werden kann. Die insgesamt 357 von Januar bis Dezember 2014 zwischen der ukrainischen Regierung und den pro-russischen Separatisten ausgetauschten feindlichen Signale wurden für die hier angestellte Analyse herausgefiltert, gemäß Edward Azar und Thomas Sloan (1975) einer von sieben Ereigniskategorien zugeordnet und – da es sich bei einer »Kriegshandlung« um ein weitaus feindlicheres Signal als beispielsweise einer »Unmutsbekundung« handelt – mit den entsprechenden, von einem Expert*innenpanel vorgeschlagenen Faktoren multipliziert (siehe Tabelle 1).

Ereigniskategorie

Faktor

Umfangreiche Kriegshandlung

102

Begrenzte Kriegshandlung

65

Militärische Aktion geringen Ausmaßes

50

Politisch-militärische feindliche Handlung

44

Diplomatisch-wirtschaftliche feindliche Handlung

29

Starke verbale Unmutsbekundung

16

Leichte verbale Unmutsbekundung

6

Tabelle 1: Kodierungsschema nach Azar und Sloan (1975)

Grafik Abbildung 1

Abbildung 1: Intensität der 2014 von ukrainischer Regierung und pro-russischen Separatisten ausgesandten feindlichen Signale

Aggregiert in monatliche Einheiten, ergibt sich das Kurvendiagramm in Abbildung 1. In den ersten sechs Monaten sind die beiden Kurven nahezu deckungsgleich, was davon zeugt, dass die ukrainische Regierung und die pro-russischen Separatisten ihre feindlichen Signale symmetrisch (de-)eskalierten. Dieses »tit-for-tat«-Muster ist typisch für Gewaltkonflikte, in denen auf eine feindliche Aktion stets eine gleichwertige Reaktion erfolgt (siehe beispielsweise Azar 1972; Fielding und Shortland 2010; Linke, Witmer und O’Loughlin 2012).

Nach einer ersten Deeskalationsphase im sechsten Monat steigen die beiden Kurven im siebten Monat wieder an. Doch während die Kurve der ukrainischen Regierung auf einen Wert von 1249 steigt, nimmt die Kurve der pro-russischen Separatisten nur einen Wert von 918 an, das heißt, auf ein feindliches Signal der ukrainischen Regierung kommen nur noch 0,73 feindliche Signale der pro-russischen Separatisten.3 Die entstehende Lücke ist ein Indikator dafür, dass die pro-russischen Separatisten der ukrainischen Regierung merklich weniger entgegenzusetzen hatten. Tatsächlich begann die ukrainische Armee in diesem Monat ihre Juli-Offensive, in deren Verlauf sie zahlreiche Städte im Donbass zurückerobern konnte. Um die eintreffenden feindlichen Signale zu erwidern, blieb den Separatisten scheinbar nichts anderes übrig, als zu unkonventionellen Mitteln zu greifen. Der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen ist ein solch – für eine Volksmiliz – unkonventionelles Mittel. Nachdem am 14. Juli 2014 bereits eine ukrainische Militärmaschine in über 6.500 Metern Höhe abgeschossen wurde, folgte am 17. Juli 2014 der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17.

Umstrittene Ereignisse

Der Abschuss von MH17 – ob beabsichtigt oder nicht – ist nicht nur ein besonders fatales, sondern auch ein besonders umstrittenes Ereignis. So beschuldigen sich die ukrainische Regierung und die pro-russischen Separatisten bis zum heutige Tage, das vollbesetzte Passagierflugzeug zum Absturz gebracht zu haben. Der Umstand, dass die Frage nach der Täterschaft zunächst offen blieb, mag neben der Tatsache, dass bei dem Absturz keine ukrainischen Staatsbürger*innen ums Leben kamen, erklären, warum die Ukraine in den Folgemonaten nicht mehr, sondern weniger feindliche Signale sendete und es zu einer vorübergehenden »Resymmetrierung« der feindlichen Signale auf niedrigerem Niveau kam. Erst im Jahr 2016 gelangte eine Ermittlungsgruppe unter niederländischer Führung zu dem Ergebnis, dass das Flugzeug mit einer russischen Boden-Luft-Rakete vom Typ Buk-M1 abgeschossen wurde, die von einem von pro-russischen Separatisten kontrollierten Feld aus abgefeuert wurde. Sollte dies der Wahrheit entsprechen, wovon bei aller gebotenen Vorsicht auszugehen ist, bestätigt dies, was sich bereits aus den obigen Daten ablesen lässt: Dass der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen für die pro-russischen Separatisten eine Möglichkeit – vielleicht die einzige Möglichkeit – war, die Symmetrie der ersten sechs Monate wiederherzustellen.

Dabei ist der Abschuss von MH17 bei weitem nicht das einzige umstrittene Kriegsereignis der letzten Jahre.4 Im Syrien-Krieg gab es beispielsweise eine Reihe von Giftgasangriffen, die keiner Kriegspartei eindeutig zugeordnet werden konnten. Zwar richtete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einen gemeinsamen Untersuchungsmechanismus ein, doch wurde die Erneuerung seines Mandats wiederholt von Russland blockiert. Auch hier könnte ein enges Monitoring der Geschehnisse dabei helfen, die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes von unkonventionellen Mitteln zu bestimmen und die Täter*innen eines nicht zuzuordnenden Angriffs zu identifizieren: Weist die Interaktion der Kriegsparteien wie im obigen Fall ein starkes Muster der Reziprozität auf, und weicht eine Partei für einige Zeit von diesem Muster ab, indem sie deutlich weniger feindliche Signale sendet als sie empfängt, könnte dies darauf hindeuten, dass die Partei nicht mehr in der Lage ist, mit konventionellen Mitteln mitzuhalten. Im Gegensatz dazu ist es eher unwahrscheinlich, dass eine Partei, die in der Lage ist, die eingehenden feindlichen Signale zu erwidern (oder die bereits mehr feindliche Signale sendet als sie empfängt), zu unkonventionellen Mitteln greift.

Ein gesichtswahrender Ausweg: Losung und Lösung?

Der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen durch eine in die Defensive gedrängte Volksmiliz zeugt davon, dass Kriegsakteure im Angesicht von Verlusten dazu bereit sind, unkonventionelle Mittel zu ergreifen. Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass Russland, wenn militärisch in die Enge getrieben, einen Ausweg im Einsatz taktischer Atomwaffen sucht. Das Massaker von Butscha – ein weiteres umstrittenes (oder besser: von Russland bestrittenes) Ereignis – mag hier nur ein trauriger Vorbote gewesen sein. Was bedeutet das für die Ukraine? Aus moralischer wie taktischer Sicht kann man ihr kaum dazu raten, den russischen Angriff weniger resolut zurückzuschlagen. Deshalb kann die Losung nur lauten, Putin nicht komplett in die Ecke zu drängen, sondern ihm einen gesichtswahrenden Ausweg zu lassen, so schwer es angesichts des von ihm begonnenen Angriffskriegs und der von ihm befehligten Gräueltaten auch fallen mag.

Dies wird noch dadurch erschwert, dass der russische Präsident nicht nur etwaige Rückschläge auf dem Schlachtfeld, sondern die Unabhängigkeit der Ukraine als solche als Verlust betrachtet. So hat er der Ukraine, die er als historisch russisches Land ansieht, mehrfach ihr Existenzrecht abgesprochen. Dies mag eine Erklärung (aber keinesfalls eine Rechtfertigung) dafür liefern, weshalb Putin einen höchst risikobehafteten Angriffskrieg in der Ukraine führt. Für Jeffrey Taliaferro (2004) sind risikoreiche Interventionen (und sicherlich auch Invasionen) dagegen eher eine Folge von relativen Macht- und Ansehensverlusten. Der Zerfall der Sowjetunion, von Putin als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet, sowie Barack Obamas Verunglimpfung Russlands als Regionalmacht mögen schlussendlich also auch einen Teil zum gegenwärtigen Krieg in der Ukraine und der Schwierigkeit seiner Befriedung beigetragen haben.

Anmerkungen

1) Siehe etwa Olaf Scholz, zitiert in Der Spiegel (2022).

2) Für einen ersten, im Lichte des russischen Angriffskriegs allerdings unbefriedigenden Versuch, siehe Aleprete (2017). Siehe auch He und Feng (2013), die die Erwartungstheorie auf mehrere außenpolitische Entscheidungen im asiatisch-pazifischen Raum angewandt haben.

3) Der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17 wurde zum Zwecke der besseren graphischen Darstellung nicht kodiert. Bis zum Abschuss des Flugzeuges am 17. Juli weisen die von der ukrainischen Regierung gesendeten feindlichen Signale einen Wert von 794 und die von den pro-russischen Separatisten gesendeten feindlichen Signale einen Wert von 554 auf, das heißt auf ein feindliches Signal der ukrainischen Regierung kommen 0,69 feindliche Signale der pro-russischen Separatisten.

4) Siehe etwa Bauer, Ruby und Pape (2017).

Literatur

Aleprete, M. (2017): Minimizing loss: explaining Russian policy choices during the Ukrainian crisis. The Soviet and Post Soviet Review 44(1), S. 53-75.

Azar, E. E. (1972): Conflict escalation and conflict reduction in an international crisis: Suez, 1956. Journal of Conflict Resolution 16(2), S. 183-201.

Azar, E. E.; Sloan, T. J. (1975): Dimensions of interaction: a source book for the study of 31 nations from 1948 through 1973. Studies of Conflict and Peace, Department of Political Science, University of North Carolina at Chapel Hill.

Bauer, V.; Ruby, K.; Pape, R. (2017): Solving the problem of unattributed political violence. Journal of Conflict Resolution 61(7), S. 1537-1564.

Der Spiegel (2022): »Es darf keinen Atomkrieg geben«. Bundeskanzler Scholz im Interview mit dem SPIEGEL. 22.04.2022

Fielding, D.; Shortland, A. (2010): ‘An eye for an eye, a tooth for a tooth’: political violence and counter-insurgency in Egypt. Journal of Peace Research 47(4), S. 433-447.

Gillmann, B. (2022): Atomwaffen: Wie ernst ist die nukleare Bedrohung durch Russland? Handelsblatt, 20.05.2022.

He, K.; Feng, H. (2013): Prospect theory and foreign policy analysis in the Asia Pacific: rational leaders and risky behavior. New York: Taylor and Francis.

Hussak, M.; Scheffran, J. (2022): Alles über Bord werfen? Friedenswissenschaft und Friedensbewegung im Kontext des Ukrainekrieges. W&F 2/2022, S. 6-8.

Kahneman, D.; Tversky, A. (1979): Prospect theory: an analysis of decision under risk. Econometrica 47(2), S. 263-291.

Linke, A. M.; Witmer F. D. W.; O’Loughlin, J. (2012): Space-time granger analysis of the war in Iraq: a study of coalition and insurgent action-reaction. International Interactions 38(4), S. 402-425.

Taliaferro, J. W. (2004): Power politics and the balance of risk: hypotheses on great power intervention in the periphery. Political Psychology 25(2), S. 177-210.

Strobel, W. P. (2022): CIA chief: Don’t ‘take lightly’ threat Putin could use limited nuclear strike. The Wall Street Journal, 15.04.2022.

Dr. Jan Niklas Rolf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europapolitik und Internationale Beziehungen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Drohnenkrieg in der Ukraine

Drohnenkrieg in der Ukraine

Fakten und erste Folgenabschätzung

von Hans-Jörg Kreowski

Am 24. Februar 2022 hat Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen, der den seit 2014 anhaltenden Krieg in Teilen der Ostukraine auf das ganze Land ausweitete. Zum Einsatz kommen nahezu alle verfügbaren konventionellen Waffensysteme. Von beiden Kriegsparteien werden aber mit unbemannten Luftfahrzeugen auch neuartige Systeme eingesetzt, die erst seit Kurzem zum Waffenarsenal auf dem Schlachtfeld gehören. Diese teils bewaffneten, teils unbewaffneten Drohnen spielen eine nicht zu unterschätzende, aber begrenzte Rolle in diesem Krieg, die im Folgenden näher beleuchtet werden soll.

Die Geschichte der Drohnenkriegsführung ist eine kurze Geschichte. Unbemannte Waffensysteme knüpfen zwar an ferngelenkte Waffen an, deren Militärgeschichte weiter zurückreicht – die tatsächliche Entwicklung ist allerdings in den letzten 30 bis 40 Jahren geschehen. Ein bedeutender Ausgangspunkt für die Entwicklung unbemannter Waffen war die auf zehn Jahre ausgelegte Strategic Computing Initiative (SCI) der USA, in der ab 1983 mit mehreren hundert Mio. US$ Forschungskapital auf der Basis Künstlicher Intelligenz unter anderem autonome Landfahrzeuge entwickelt werden sollten. Auch wenn SCI Ende der 1980er Jahre als gescheitert galt, ging die Entwicklung von unbemannten Vehikeln und insbesondere von unbemannten Luftfahrzeugen von da an weiter, so dass neben Aufklärungsdrohnen auch Killerdrohnen am Anfang des 21. Jahrhunderts einsatzbereit waren und inzwischen viele tausend Einsätze in Afghanistan, Pakistan und mehreren anderen Kriegsschauplätzen der Welt hinter sich haben. Dem »Krieg gegen den Terror« der USA und ihrer Verbündeten sind in völkerrechtswidriger Weise vor allem auch tausende Zivilpersonen zum Opfer gefallen. Dass Kampfdrohnen mittlerweile auch in einem Krieg zwischen zwei regulären Armeen ein entscheidender Faktor sein können, hat sich spätestens 2020 im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan gezeigt. Hier konnten die angreifenden Truppen Aserbaidschans durch Einsatz unbemannter Waffensysteme – in diesem Fall der türkischen Kampfdrohne »Bayraktar TB2« – Übermacht gegenüber den armenischen Truppen erlangen.

Im Krieg Russlands gegen die Ukraine offenbart sich nun, dass es inzwischen eine breite Palette kriegsverwendbarer Kampf- und Aufklärungsdrohnen gibt. Die dazu verfügbaren Informationen sind mit einiger Vorsicht zu genießen, weil sie mit Propaganda, Über- und Untertreibung und Irreführung gemischt sind und so manches geheim gehalten wird. Dennoch zeichnet sich erkennbar ab, dass mit den verschiedenen Typen der Drohnen ein neues Waffensystem in das ohnehin schon weitgefächerte Arsenal der Tötungsmaschinerie eingefügt worden ist.

Drohnen auf Seiten der Ukraine

Die größte mediale Aufmerksamkeit hat die von der Ukraine eingesetzte Kampf- und Aufklärungsdrohne »Bayraktar TB2« erfahren – dies betraf die umstrittene Anschaffung und erst recht die militärische Kampfverwendung in den Jahren 2019 und 2020. Sie wird von der türkischen Rüstungsschmiede Baykar Defense hergestellt und für rund 5 Mio. Euro pro Stück verkauft. Ihr Erstflug war 2014. Sie fliegt vollautonom, kann 24 Stunden in mittlerer Höhe in der Luft bleiben, hat eine Reichweite von rund 150km und lässt sich mit lasergelenkten »Minibomben« mit einem Gewicht zwischen 6 und 22kg oder Luft-Boden-Panzerabwehrraketen bewaffnen.1 Die Ukraine hat bereits 2019 die ersten sechs TB2-Drohnen beschafft und vor allem zu Aufklärungszwecken gegen die prorussischen Separatisten in der Ostukraine eingesetzt. Zu Beginn des russischen Angriffs verfügte die Ukraine über mindestens 20 (eher zwei- oder dreimal so viele) dieser Drohnen, die anscheinend anfangs auch sehr erfolgreich bei der Erstellung von Lagebildern und direkt gegen russische Panzer und Artillerie eingesetzt wurden. Das ist etwas überraschend, weil solche Drohnen relativ langsam und niedrig fliegen und deshalb vergleichsweise leicht von Flugabwehrsystemen abgeschossen werden können. In den ersten Kriegswochen hatte die russische Seite damit anscheinend einige Probleme, zumal die TB2 gegenüber sonstigen Drohnen dieser Art klein ist und deshalb vom Radar schwerer zu erfassen. Inzwischen konnte aber die russische Seite eine ganze Reihe TB2-Drohnen abschießen, so dass mit ihnen in letzter Zeit wohl wesentlich weniger Wirkung zu erzielen war.

Daneben sind auch viel kleinere Drohnen im Einsatz. So haben die USA der Ukraine in den ersten Kriegswochen Drohnen vom Typ »Puma« und »Switchblade« zur Verfügung gestellt, die beide vom US-Unternehmen AeroVironment hergestellt werden. Puma ist eine Leichtgewichtsdrohne in Form eines Modellflugzeugs mit einer Reichweite von 20 bis 60km, die bis sechs Stunden in der Luft bleiben kann und der Aufklärung dient. Switchblade ist eine Kamikaze-Drohne, von denen die Ukraine mehrere hundert Stück geliefert bekommen hat. Sie passt in einen Rucksack und wird aus einem Rohr abgeschossen. Die größere Version wiegt 15kg, fliegt bis zu 40 Minuten, hat eine Reichweite von 40km, und ihr Gefechtskopf kann gepanzerte Fahrzeuge zerstören. Sie kann per Tablet ferngesteuert werden oder autonom in einem vorgegebenen Gebiet eigenständig Ziele suchen. Wird der Abschuss freigegeben, stürzt sie sich in ihr Ziel. Ansonsten zerstört sie sich selbst nach Ablauf der 40 Minuten. Der besondere Vorteil gegenüber sonstigen Granaten ist, dass ihr Ausgangspunkt vom Gegner nicht zurückverfolgt werden kann.

Darüber hinaus ist eine ganze Reihe von Drohnen aus ukrainischer Eigenentwicklung im Einsatz. Sie sind relativ klein, in der Art größerer Modellflugzeuge, und haben teilweise sehr einfache Sprengladungen, die über den erreichten Zielen abgeworfen werden. Dennoch deuten Berichte darauf hin, dass sie als Aufklärungsdrohnen bei der Zielermittlung für Artilleriestellungen zeitnah sehr brauchbare Lagebilder liefern. Es heißt auch, dass der Einsatz kleiner Drohnen in den ersten Tagen des Krieges maßgeblich geholfen hat, die 60km lange Panzerkolonne der russischen Armee zu stoppen und die Einnahme eines Flughafens nahe Kiew zu verhindern – ein herber Rückschlag für die russischen Angreifer.

Drohnen auf Seiten Russlands

Die russische Seite verfügt ebenfalls über ein ganzes Arsenal an Drohnen – über die zur Verfügung stehende Anzahl kann nur spekuliert werden, da es keine Einsicht in die entsprechenden Produktionszahlen der russischen Seite gibt. Dazu gehören taktische Drohnen wie die »Forpost-R« und die »Orlan-10«. Die Forpost-R-Drohne wird in Russland mit einer israelischen Lizenz gebaut. Sie ist etwas kleiner als die TB2, hat aber ähnliche technische Eigenschaften. Sie war ursprünglich nur für Aufklärungszwecke vorgesehen, kann inzwischen aber mit einer Lenkrakete bewaffnet werden und wurde bereits gegen eine ukrainische Raketenstellung eingesetzt. Die Orlan-10 ist eine kleine Drohne aus russischer Entwicklung, die seit 2010 produziert wird. Sie hat eine mittlere Reichweite von 120km bei Fernsteuerung und bis zu 1.000km bei autonomem Flug, und kann für viele Aufgaben rund um Überwachung und Aufklärung eingesetzt werden. Zumindest in der Kriegsphase zwischen 2016-2020 wurde sie bei der elektronischen Kriegsführung eingesetzt, beispielsweise zum Versenden von drohenden, einschüchternden oder irreführenden Meldungen an die ukrainischen Soldaten (DRF Lab 2017). Die russische Armee verfügt außerdem mit der »Orion« auch über eine Aufklärungs- und Kampfdrohne, ähnlich der TB2 auf ukrainischer Seite. Sie wird von der Kronstadt Group gebaut und ist erst seit Kurzem im Einsatz. Erwähnenswert ist auch die vom Kalaschnikow-Konzern hergestellte Kamikaze-Drohne »KUB-BLA«, die mit mehr als 100km/h 30 Minuten lang fliegen und drei Kilogramm Sprengstoff mit sich führen kann. Sie dient der Bekämpfung entfernter Bodenziele – auch sie stürzt sich in ihr Ziel. Es wird vermutet, dass diese Drohne bereits mit einem Modus ausgestattet ist, der sie vollständig autonom agieren lässt.

Trotz der Investition von umgerechnet mehreren Milliarden US$ in die Entwicklung und Produktion von russischen Drohnen in den letzten zehn Jahren sieht es danach aus, dass ihre Verfügbarkeit eingeschränkt ist, dass sie nur selten eingesetzt werden und sie keine sonderlichen Wirkungen erzielen (vgl. hierfür Bode und Nadibaidze 2022). Eine Erklärung dafür könnte sein, dass sich das seit der Annexion der Krim gegen Russland bestehende Handelsembargo für technologische Güter und insbesondere hochwertige Elektronik an dieser Stelle mittlerweile als wirksam erweist. Ein weiteres Indiz in diese Richtung ist, dass bei der Untersuchung abgeschossener russischer Drohnen improvisierte und eigentlich zivile Bauteile entdeckt wurden.

Drohnen einer dritten Seite

Eine weitere Drohne spielt in diesem Krieg vermutlich eine sehr spezifische Rolle: die Riesendrohne »Global Hawk«. Sie wird von keinem der beiden Kriegsgegner eingesetzt, sondern von den US Air Force und der NATO. Sie kann 24 Stunden lang autonom in bis zu 20km Höhe fliegen und während eines Einsatzes mit hochauflösenden Kameras und Seitensichtradar ein Gebiet der Größe Österreichs überwachen. Die Global Hawk wird schon seit 2015 regelmäßig eingesetzt, um russische Truppenbewegungen nahe der Ukraine zu beobachten. Es wird vermutet, dass die ukrainische Militärführung von der NATO großflächige und präzise Lagebilder zur Verfügung gestellt bekommt (siehe z.B. Monroy 2022, Wiener Zeitung 2022). Die Drohne hat keine aktive Kampffähigkeit.

Eine noch sehr vorläufige Bilanz

Im Krieg Russlands gegen die Ukraine werden von beiden Seiten Aufklärungs- und Kampfdrohnen eingesetzt, wobei die bewaffneten Drohnen eher keinen entscheidenden Faktor darstellen. Aufklärungsdrohnen scheinen dagegen eine wichtige Rolle bei der Erstellung von präzisen Lagebildern und der Zielfindung – und damit für den gezielten Einsatz konventioneller Waffen – zu spielen. Drohnen tragen also zur Effizienzsteigerung der konventionellen Kriegsführung bei und werden von allen Kriegsparteien verwendet. Sie stellen insofern also keine Ausnahme mehr dar. Vermutlich werden sie durch ihre Aufklärungskapazitäten eher zu einer Verlängerung der Kampfhandlungen in der Ukraine beitragen, da Kriegsparteien sich schneller einen Überblick über die Lage verschaffen können und eine Einschätzung zur Sinnhaftigkeit der Aufrechterhaltung einer Kampfhandlung treffen können. Ganz im Gegensatz zur Erzählung von »chirurgischer Präzision« und »Lufthoheit« sind unbemannte Luftfahrzeuge erwartbar vor allem eine Erweiterung der Artilleriekapazitäten einer Kriegspartei. Der Krieg in der Ukraine wird dadurch weder humaner noch schneller beendet werden können.

Nach den Erfahrungen im Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien und vorher schon in Syrien und Libyen werden bewaffnete und unbewaffnete Drohnen auf den Schlachtfeldern der Zukunft ein integrales Element der Kriegsführung im Gesamtarsenal der Tötungsmaschinerie sein – mit wachsender Bedeutung, wie der aktuelle Krieg unter Beweis stellt. Der österreichische Oberst des Generalstabsdienstes sagt: „Drohnen sind im Gefecht nicht mehr wegzudenken.“ (Berliner Zeitung 2022, S. 2) Das gilt umso mehr, als ihr Einsatz die eigenen Soldat*innen nicht unmittelbar gefährdet. Denn bei einer fliegenden Drohne lässt sich ihr Ausgangspunkt nicht bestimmen.

Es gibt inzwischen ein breites Angebot an Drohnen, wobei insbesondere die kleinen, aber sehr wirkungsvollen Drohnen billig und vergleichsweise leicht zu bauen und zu beschaffen sind. Nicht nur sehr viele Staaten der Welt können sich das leisten, sondern auch Rebellen- und Terrorgruppen. Es gibt also ein eklatantes und hochgefährliches Proliferationsproblem. Diesen Geist hätte man nie aus der Flasche lassen dürfen.

Wider das globale Drohnen-Wettrüsten

Da sich Politik und Militär in vielen Ländern der Welt von Kriegsdrohnen eine militärische Überlegenheit versprechen, hat in diesem Bereich ein Rüstungswettlauf begonnen, dessen Folgen noch gar nicht absehbar sind. Eine tatsächliche oder vermeintliche Überlegenheit durch die Verfügbarkeit von Drohnen könnte die Schwelle zu militärischen Abenteuern senken. Es könnte sich aber auch herausstellen, dass bewaffnete Drohnen gar nicht sonderlich taugen, wenn der Gegner über eine funktionierende Luftabwehr verfügt.

Drohnen sind besonders perfide Waffen, weil sie allein durch ihre Präsenz im Luftraum des Einsatzgebiets über einen längeren Zeitraum hinweg die in der Nähe befindlichen Soldat*innen und Zivilpersonen in Angst und Schrecken versetzen können – wie unter anderem Erfahrungen in Afghanistan und dem Irak gezeigt haben.

Zudem wird mit Hochdruck an vollautonomen Systemen gearbeitet. Es muss davon ausgegangen werden, dass bei einigen Drohnentypen solche Entscheidungsprogramme längst installiert sind und vielleicht sogar inoffiziell bereits aktiviert wurden – trotz aller ethischer Bedenken. Und was nicht ist, kann noch werden (vgl. Kreowski et al 2021; Altmann et al. 2020; Fuchs et al. 2020).

Auf UN-Ebene wurde daher die »Group of Govermental Experts on Lethal Autonomous Weapons« gebildet, zu der über 100 Staaten gehören und die seit 2017 jährlich für rund zwei Wochen in Genf formell über ein Verbot tödlicher autonomer Waffen berät. Da die USA, viele weitere NATO-Staaten, Russland, China und andere gegen ein Verbot votieren, werden die Verhandlungen bestenfalls auf eine Regulierung hinauslaufen. Das ist deshalb besonders enttäuschend, weil die aufgeführten Argumente zum Proliferationsproblem, zum Drohnenrüstungswettlauf und zur abgesenkten Kriegsschwelle bei der Verfügbarkeit von Kriegsdrohnen ein Verbot nahelegen. Und das gilt nicht nur für letale autonome Drohnen, sondern auch für teilautonome Killerdrohnen sowie Aufklärungs- und Zielfindungsdrohnen, die direkt mit tödlichen Waffen gekoppelt sind. Denn diese drei Formen von Kriegsdrohnenverwendung unterscheiden sich in ihrer Wirkung kaum voneinander.

Anmerkung

1) Im Folgenden stammen technische Informationen zu einzelnen Drohnentypen überwiegend aus öffentlich dazu einsehbaren Quellen. Von einzelnen Belegen wird daher abgesehen. Ansonsten stützt sich der kurze Abriss zum Drohneneinsatz auf russischer und auf ukrainischer Seite auf die lesenswert detaillierte IMI-Studie 3/2022 von Marischka (2022) und dem c’t-Artikel von Bode und Nadibaidze (2022), soweit kein anderer Verweis angegeben ist. Beide Publikationen sind umfangreich recherchiert.

Literatur

Altmann, J. et al. (2020): Autonome Waffensysteme – auf dem Vormarsch? W&F Dossier 90.

Berliner Zeitung (2022): Kompaktes Kriegsgerät. 20.06.2022, S. 2.

Bode, I.; Nadibaidze, A. (2022): Autonome Drohnen und KI-Waffen im Ukraine-Krieg. c’t 2022, Heft 10, S. 128-131.

DRF Lab (Atlantic Council Digital Forensic Research Lab) (2017): Electronic warfare by drone and SMS. How Russia-backed separatists use “pinpoint propaganda” in the Donbas. Blogbeitrag @DRFLab auf Medium.com, 18.05.2017.

Fuchs, A. et al. (2020): Mit Kampfdrohnen und Killerrobotern – für gerechten Frieden? W&F Dossier 89.

Kreowski, H.-J. et al. (2021): Künstliche Intelligenz zieht in den Krieg. W&F Dossier 93.

Marischka, Ch. (2022): Drohnen im Ukraine-Krieg. Technologietransfer als Gamechanger – und Kriegsgrund? IMI-Studie 2022/03. Tübingen: Selbstverlag, 26.02.2022.

Monroy, M. (2022): NATO-Spionagedrohnen machen Überstunden. Netzpolitik.org, Blogbeitrag, 23.05.2022.

Wiener Zeitung (2022): Ukraine-Krise: Russischer Sand im diplomatischen Getriebe, 21.02.2022.

Hans-Jörg Kreowski ist Professor (i. R.) für Theoretische Informatik an der Universität Bremen. Er ist Mitglied im Vorstand des Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) im Vorstand von W&F.

»Die Ukraine wird gewinnen«

»Die Ukraine wird gewinnen«

Einschätzungen aus der Forschung zu Kriegsbeendigungen

von Wolfgang Schreiber

Nach mittlerweile fünf Monaten Krieg1 infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine und angesichts der bisherigen Verluste an Menschenleben stellt sich immer drängender die Frage: Wie kann dieser Krieg beendet werden? Dieser Beitrag versucht den Krieg in der Ukraine in die Erkenntnisse der Forschung zur Beendigung von Kriegen einzuordnen. Ein besonderes Augenmerk wird auf die bisher in diesem Krieg eingesetzten Mittel zur Beendigung (Sanktionen, Waffenlieferungen, diplomatischer Druck) gelegt.

In der deutschen Politik und Öffentlichkeit gibt man sich davon überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird. Da ein direktes militärisches Eingreifen in den Krieg aufgrund der Gefahr einer Eskalation zu einem Dritten Weltkrieg ausgeschlossen ist, sind es vor allem zwei Mittel, die Russland zur Beendigung des Krieges bewegen sollen: Waffenlieferungen an die Ukraine einerseits und die Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland andererseits. Dazu kommt noch ein gewisser diplomatischer Druck, der sich unter anderem in der Resolution der UN-Generalversammlung ausdrückt, in welcher der russische Angriff eindeutig verurteilt wird (UNGA 2022). Dieser Beitrag versucht im Folgenden den Krieg in der Ukraine in die Erkenntnisse der Forschung zur Beendigung von Kriegen einzuordnen.

Bisherige Forschung zu Kriegsbeendigungen

Die Forschung zur Beendigung von Kriegen ist vergleichsweise übersichtlich.2 Ein breiteres Interesse an der Frage zur Beendigung von Kriegen lässt sich erstmals Anfang der 1970er Jahre ausmachen (z.B. Carroll 1970, Iklé 1971). Die nächste Welle breiter Beschäftigung mit dem Thema kann man Mitte der 1990er Jahre beobachten (z.B. Licklider 1993, King 1997, Heraclides 1997).

Statistisch-empirische Untersuchungen zu Kriegsbeendigungen auf der breiten Grundlage einer allgemeinen Kriege- oder Konfliktdatenbank blieben aber eine Ausnahme:3 Bei der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) findet sich in der einschlägigen Publikation zur Datenbank nur ein kurzes Kapitel zu Kriegsbeendigungen (Gantzel und Schwinghammer 1995, S. 160-167). Im Rahmen des Uppsala Conflict Data Program (UCDP) wurde erst 2003 ein Projekt zur Erfassung und Auswertung von Daten zur Beendigung von bewaffneten Konflikten begonnen (Kreutz 2010).

Typen der Kriegsbeendigung

Klassisch wurde bei Forschungen zu Kriegsbeendigungen zwischen zwei Typen unterschieden: Sieg beziehungsweise Niederlage einer Seite oder eine Verhandlungslösung, die formal in einem Friedensvertrag oder Waffenstillstand besiegelt wird. Von den 242 Kriegen, die laut AKUF-Datenbank seit dem Zweiten Weltkrieg beendet wurden, entfallen auf militärische Siege knapp 54 und auf Vereinbarungen etwa 43 Prozent der Kriegsbeendigungen.

Als Ergebnis der Erweiterung der UCDP-Datenbank um Kriegsbeendigungen wurde insbesondere die These aufgestellt, dass zwischen den beiden Grundtypen eine Verschiebung durch das Ende des Ost-West-Konflikts stattgefunden habe: Weniger militärische Entscheidungen und mehr Verhandlungslösungen.

Die Mitte der 2000er Jahre sowohl vom UCDP als auch der AKUF zusammengestellten Daten belegten diese These mit gewissen Einschränkungen auch zunächst. Für die AKUF-Daten bis 2006 ergab sich bei den militärischen Entscheidungen eine Veränderung von gut 54 Prozent während zu etwa 46 Prozent nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes (Schreiber 2011, S. 238). Wie aber den bis 2021 aktualisierten AKUF-Daten aus Tabelle 1 zu entnehmen ist, haben die letzten 15 Jahre dazu geführt, dass es fast keine Unterschiede mehr zwischen den prozentualen Anteilen vor und nach Ende des Ost-West-Konflikts gibt.

gesamt

1945-1988

1989-2021

Summe Militärische Siege

53,7 %

54,2 %

53,3 %

Sieg (Rebellen)

9,9 %

9,2 %

10,7 %

Sieg (Staat)

39,3 %

40,0 %

41,0 %

Sieg (zwischenstaatlich)

4,1 %

5,0 %

3,3 %

Sieg (sonstiges)

0,4 %

0,0 %

0,8 %

Summe Vereinbarungen

43,4 %

42,5 %

44,3 %

Vereinbarung (mit Vermittlung)

32,6 %

30,0 %

35,2 %

Vereinbarung (ohne Vermittlung)

10,7 %

12,5 %

9,0 %

Abbruch

3,3 %

3,3 %

2,5 %

Tabelle 1: Typen der Kriegsbeendigung

Faktoren bei der Beendigung von Kriegen

Wie leicht ersichtlich, haben Auswertungen zu Typen der Kriegsbeendigung ihre Grenzen. Sie sagen wenig darüber aus, unter welchen Bedingungen Kriege beendet werden. Die Benennung von möglichen Faktoren, die zur Kriegsbeendigung beigetragen haben, ist zwar nicht ausschließlich Neuland, wurde bislang nur im Rahmen eines Projektes innerhalb der AKUF an einer der allgemeinen Datenbanken vorgenommen.4 Die in der AKUF herausgearbeiteten Faktoren5 (vgl. Tabelle 2) unterscheiden sich dabei nicht grundlegend von den in der Literatur genannten.

1945-2006

Militärische Situation

74,9 %

Militärische Überlegenheit

60,2 %

Pattsituation

12,8 %

Militärische Erfolge/Niederlagen

1,9 %

Direkte militärische Intervention

8,1 %

Indirekte Interventionen militärischer Art

17,1 %

Externer Druck

26,1 %

Politisch/wirtschaftliche Situation

18,5 %

Regierungswechsel

10,0 %

Heterogenität/Spaltung der Rebellen

14,2 %

Gefangennahme/Tod von Rebellenführern

3,8 %

Sonstiges

14,2 %

alle Nennungen

186,7 %

Tabelle 2: Faktoren bei Kriegsbeendigung

Dass die militärische Situation bei knapp drei Viertel aller Kriegsbeendigungen als Faktor eine Rolle spielt, sollte angesichts der Tatsache, dass wir uns mit Kriegen beschäftigen, kaum verwundern. Direkte militärische Interventionen spielen vor allem auch in der öffentlichen Wahrnehmung eine bedeutende Rolle. Ein weiterer militärischer Faktor sind indirekte Interventionen. Hierunter fallen vor allem Waffenlieferungen, Ausbildungshilfe oder auch aktiv geduldete Rückzugsgebiete für Rebellen. Für Kriegsbeendigungen spielte dabei vor allem aber der Entzug dieser Formen von Unterstützung eine Rolle.

Der wichtigste der nichtmilitärischen Faktoren ist Druck, der von Dritten auf eine oder alle Kriegsparteien in Form von intensiven diplomatischen Bemühungen oder Sanktionen ausgeübt wird. Insbesondere länger andauernde Kriege können die politische oder wirtschaftliche Situation eines Landes oder einer Region so stark beeinflussen, dass dies zu einer Kriegsbeendigung beiträgt. Interessen- und Meinungsunterschiede innerhalb der Kriegsparteien sind ein weiterer Faktor, wenn sie zu Spaltungen oder Wechseln an der Spitze führen. Prominent – aber weniger häufig als Faktor anzutreffen – sind Gefangennahmen oder der Tod von Anführern, die eine Rebellengruppe entweder entscheidend schwächen oder zu einem Kurswechsel bewegen können. Es muss an dieser Stelle deutlich gemahnt werden, dass auch schon King (1997) in seiner Studie für jeden der von ihm herausgearbeiteten Faktoren betonte, dass sie auch in die gegenteilige Richtung, also konflikteskalierend und kriegsverstetigend wirken können.

Der Krieg in der Ukraine und die Forschung zu Kriegsbeendigungen

Welche Rückschlüsse lassen die bisherigen Ergebnisse der Forschung zu Kriegsbeendigungen für den Krieg in der Ukraine zu? Die erste einschränkende Antwort dazu lautet, dass statistische Verteilungen genau dies sind. Es ist daher schlicht nicht vorhersagbar, ob der aktuelle Krieg sich so verhält wie die Mehrheit oder ob er eine Ausnahme darstellt.

Schon die Frage der militärischen Situation lässt sich schwer beantworten: Wann liegt eine militärische Überlegenheit vor? Ist das nur der Unterschied in Material und Truppenstärken? Und – wenn der Krieg weiter andauert – wie sieht die Lage in ein paar Wochen aus? Die Einschätzung der militärischen Situation in einem andauernden Krieg hängt auch von Erwartungen an den zukünftigen Verlauf ab: Wird Russland weitere Gebiete erobern oder wird die Ukraine eine erfolgreiche Gegenoffensive starten können? Oder bleibt der Frontverlauf im Wesentlichen so, wie er sich derzeit darstellt?

Die politische und/oder wirtschaftliche Situation ist ebenfalls ein häufiger Faktor bei der Beendigung von Kriegen. In aller Regel kommt dieser aber erst mit einer gewissen Kriegsdauer zum Tragen. Eine Ausnahme besteht allenfalls dann, wenn der Krieg von vorneherein unpopulär ist. Beides trifft zurzeit weder auf Russland noch die Ukraine zu.

Kommen wir also zu den Faktoren, die NATO- und EU-Staaten derzeit als Mittel einsetzen. Da sind zunächst die indirekten militärischen Interventionen durch Waffenlieferungen für die Ukraine. Wie bereits oben bei der Erläuterung der Faktoren erwähnt, spielt dies für Kriegsbeendigungen vor allem dann eine positive Rolle, wenn diese Form der Unterstützung eingestellt wird. Waffenlieferungen führen im Gegenteil eher zu einer Verlängerung von Kriegen. Z.B. wurden Mitte der 1970er bis Ende der 1980er Jahre auffallend wenige Kriege beendet. In dieser Zeit wurden Kriegsparteien im Rahmen des Ost-West-Konflikts sehr freigiebig aus Moskau oder Washington unterstützt und mit dem Wegfall dieser Unterstützung – meistens in Kombination mit diplomatischen Initiativen – wurden viele dieser Kriege dann Anfang der 1990er Jahre beendet.6 Waffenlieferungen an die Ukraine können also zunächst einmal nur dazu beitragen, dass die Ukraine den Krieg nicht in absehbarer Zeit verliert.

Als zweites bedeutendes Druckmittel setzen EU und NATO Wirtschaftssanktionen gegen Russland ein. Externer Druck ist zwar nach der militärischen Situation der zweithäufigste Faktor, der bei gut einem Viertel aller Kriegsbeendigungen eine Rolle spielt. Allerdings wird in der Datenbank nicht zwischen politisch/diplomatischem und wirtschaftlichem Druck unterschieden. Ein genauerer Blick in die Daten (Probst 2011, S. 280-375) zeigt aber, dass hier vor allem diplomatischer Druck eine große Rolle spielt.7 Dass Wirtschaftssanktionen so selten als mitentscheidender Faktor für Kriegsbeendigungen eine Rolle spielen, hängt auch mit der Natur dieses Mittels ab: Sanktionen können nur dann wirken, wenn es einen substanziellen wirtschaftlichen Austausch zwischen den Sanktionierenden und dem Sanktionierten gibt (vgl. Basedau et al. 2010, S. 3). Das ist zwar zwischen Russland und insbesondere der EU der Fall soweit es um Energierohstoffe wie Gas, Öl und Kohle geht. Diese gegenseitige Abhängigkeit schränkt aber auch die Sanktionsmöglichkeiten ein, da auch für diejenigen, welche Sanktionen verhängen, damit Kosten verbunden sind (Ebd., S. 6): Bestimmte Sanktionen gegen Russland werden daher erst vorgenommen oder angekündigt, wenn die eigene Energieversorgung gesichert scheint. Weitere Faktoren sind, dass es andere Abnehmer für russische Rohstoffe gibt – und nicht unbedingt aus dem Grund, weil diese Russland unterstützen.

Das dritte derzeit gewählte Druckmittel der intervenierenden Staaten ist diplomatischer Druck. Zwar wurde die Resolution der UN-Generalversammlung zur Verurteilung des russischen Angriffskrieges mit einer großen Mehrheit von 141 Ja- zu 5 Nein-Stimmen bei 35 Enthaltungen angenommen. Allerdings ist Russland auch für die Staaten, die der Resolution zugestimmt haben, nicht etwa als Handels- oder auch nur Gesprächspartner diskreditiert. Eine Zeitenwende oder einen Epochenbruch hat für weite Teile der Welt am 24. Februar nicht stattgefunden (Plagemann 2022), wobei die Gründe für einzelne Staaten durchaus unterschiedlich sein können: Traditionelle Verbindungen zu Russland, der Wunsch in den Außenbeziehungen auch in Zukunft mehrere Optionen zu haben, das Verhalten westlicher Staaten in der Vergangenheit ebenso wie die geringe Rücksichtnahme des Westens bei den Sanktionen hinsichtlich der Auswirkungen auf Dritte (vgl. Zumach 2022).

Die Besonderheit des Ukrainekriegs

Es sieht also nicht so aus, als würden im Krieg in der Ukraine in absehbarer Zeit Faktoren zum Tragen kommen, die in der Vergangenheit zu Kriegsbeendigungen beigetragen haben. Auch wenn man sich die Frage stellt, welche ähnlichen Kriege es in der Vergangenheit gegeben hat, sind die Aussichten für ein baldiges Ende des Krieges eher schlecht. Am ehesten lässt sich der Krieg Russlands gegen die Ukraine mit anderen Kriegen vergleichen, wo eine Großmacht einem vermeintlich militärisch unterlegenen Gegner gegenüberstand. Wenn es keine schnellen Siege gab, wie beim Ungarn-Aufstand, oder den Kriegen der USA gegen Grenada oder Panama, so dauerten diese Kriege vergleichsweise lang. Insbesondere für die Erkenntnis, dass ein Krieg nicht zu gewinnen ist, brauchten Großmächte in der Regel lange: Dies galt für Vietnam ebenso wie für die Kriege sowohl der Sowjetunion als auch der USA in Afghanistan.

Inzwischen warnte auch NATO-Generalsekretär Stoltenberg davor, dass der Krieg in der Ukraine Jahre dauern könnte (Tagesschau 2022). Angesichts der bisherigen Opferzahlen würde das Zehntausende von weiteren Toten bedeuten. Was könnte also eine Alternative sein? Zwar erst als Punkt 14, aber dennoch markant platziert fordert die UN-Generalversammlung in ihrer Resolution zur Verurteilung des Angriffs Russlands „nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel“ (UNGA 2022).

Anmerkungen

1) Durch die Aussage „fünf Monate“ darf nicht übersehen werden, dass in der Ostukraine bereits seit 2014 ein Krieg mit russischer Beteiligung stattfindet.

2) Ein Überblick zum Forschungsstand findet sich bei Probst 2011, S. 21-85.

3) Die knappen statistischen Analysen der aktuellsten Publikation des Projektes »Correlates of War« gehen auf Fragen der Kriegsbeendigung nicht ein (Sarkees und Wayman 2010, S. 562-569).

4) Licklider 1993, Heraclides 1997 und King 1997 haben jeweils eigene Datensätze mit begrenzten Zeiträumen oder Konfliktgegenständen erstellt.

5) Die Daten der Tabelle 2 beziehen sich nur auf den Zeitraum 1945-2006. Eine Aktualisierung dieser Daten war – anders als für Tabelle 1 – für diesen Beitrag aufgrund der höheren Komplexität nicht möglich. Die Faktoren summieren sich auf über 100 Prozent da mehrere Faktoren zusammen zu einer Kriegsbeendigung beigetragen haben können.

6) Das lässt sich auch dem im Rahmen des UCDP erstellten Datensatz zur externen Unterstützung in bewaffneten Konflikten entnehmen (Högbladh et al. 2011; der zugehörige Datensatz unter ucdp.uu.se/downloads/).

7) Das gilt noch mehr für zwischenstaatliche Kriege, wo dieser Faktor bei über einem Drittel der Kriegsbeendigungen als relevant eingestuft wurde (Probst 2011, S. 110).

Literatur

Basedau, M.; Portella, C.; von Soest, Ch. (2010): Peitsche statt Zuckerbrot: Sind Sanktionen wirkungslos? (GIGA Focus Global 11/2010), Hamburg.

Carroll, B. A. (1970): War termination and conflict theory: Value premises, theories and policies. In: Annals of the American Academy of Political and Social Science 392(1), S. 14-29.

Gantzel, K. J.; Schwinghammer, T. (1995): Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 bis 1992. Daten und Tendenzen. Münster: LIT Verlag.

Heraclides, A. (1997): The ending of unending conflicts: Separatist wars. In: Millennium: Journal of International Studies 26(3), S. 679-707.

Högbladh, S.; Pettersson, Th.; Themnér, L. (2011): External support in armed conflicts 1975-2009 – presenting new data. Unveröffentlichtes Manuskript, International Studies Association Convention in Montreal 2011.

Iklé, F. Ch. (1971): Every war must end. New York: Columbia University Press.

King, Ch. (1997): Ending civil wars – Adelphi Paper 308. Oxford/New York: Oxford University Press.

Kreutz, J. (2010): How and when armed conflicts end. Introducing the UCDP conflict termination dataset. In: Journal of Peace Research 47(2), S. 243-250.

Licklider, R. (1993): How civil wars end: Questions and methods. In: Ders. (Hrsg.): Stopping the killing. How civil wars end. New York: New York University Press, S. 3-19.

Plagemann, J. (2022): Die Ukraine-Krise im globalen Süden: kein “Epochenbruch” (GIGA Focus Global 2/2022), Hamburg.

Probst, M. (2011): Kriegsbeendigungen. Eine empirische Analyse der Faktoren und Prozesse der Deeskalation von Kriegen. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag.

Sarkees, M. R.; Wayman, F. W. (2010): Resort to war 1816-2007. Washington: Sage.

Schreiber, W. (2011): Wie Kriege enden. In: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hrsg.): Krieg im Abseits. „Vergessene Kriege“ zwischen Schatten und Licht oder das Duell im Morgengrauen um Ökonomie, Medien und Politik. Wien/Berlin: LIT Verlag, S. 233-249.

Tagesschau (2022): Stoltenberg zur Ukraine NATO rechnet mit langem Krieg. 19.06.2022.

UNGA (2022): Resolution der Generalversammlung A/RES/ES/11/1. 18.3.2022.

Zumach, A. (2022): Selektivität und doppelte Standards. Die UNO vor dem Rückfall in die Blockaden des Kalten Krieges. In: W&F 2/2022, S. 21-23.

Wolfgang Schreiber, Dipl.-Math., ist Lehrbeauftragter und Leiter der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Universität Hamburg.

Friedenslogik statt Kriegslogik

Friedenslogik statt Kriegslogik

Zur Begründung friedenslogischen Denkens und Handelns im Ukrainekrieg

von Mitgliedern der AG Friedenslogik der PZKB

Am 24. Februar 2022 hat Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Es ist zwar nicht der erste Krieg nach Ende des Ost-West-Konflikts. Auch ist der Krieg in der Ukraine nicht der einzige, der derzeit geführt wird. Er ist aber der gefährlichste, drohen hier doch mit den NATO-Staaten und Russland die größten Atommächte aufeinanderzuprallen. Sein Eskalationsrisiko bis hin zu einem dritten Weltkrieg ist enorm. Wie konnte es so weit kommen? Schließlich weckte das Ende der Systemkonfrontation 1989/90 doch Hoffnungen auf eine Ära des Friedens und der Kooperation in Europa. W&F dokumentiert an dieser Stelle in gekürzter Form die zweite Stellungnahme aus der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (PZKB) zum Krieg gegen die Ukraine.

Nach dem Ende des Systemkonflikts ist in Europa letztlich keine Friedensordnung entstanden, in der sich alle Beteiligten auch sicherheitspolitisch gut aufgehoben gefühlt hätten. Vielmehr handelte es sich um eine asymmetrische Machtordnung zu Lasten Moskaus. Mithin fehlte es auch an einer inklusiven Einrichtung, die zur konstruktiven Transformation auftauchender Konflikte in der Lage gewesen wäre: Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wurde schon früh politisch marginalisiert; der NATO-Russland-Rat konnte als Institution einer machtpolitisch asymmetrischen Kooperation diese Lücke nicht füllen. Schon lange vor dem Krieg dominierten bei sämtlichen Konfliktbeteiligten sicherheitslogische Denkweisen: Dementsprechend betonten die Akteure (1.) nicht nur die Bedrohungen für das Eigene, sondern sie sahen (2.) Probleme ausschließlich oder zumindest maßgeblich durch andere Akteure verursacht, sie griffen (3.) zu Maßnahmen der Gefahrenabwehr und gegebenenfalls der Verteidigung, sie betonten (4.) den Vorrang eigener Interessen und deuteten den rechtlichen wie politischen Normbestand entsprechend um, und sie neigten (5.) unter Verzicht auf Selbstkritik zur Bestätigung des eigenen Handelns.1

Aufgrund dieser Sichtweise waren alle Parteien schon seit Längerem eher zur Konfrontation als zum Ausgleich disponiert: Die NATO wollte ihre Rolle als Hegemonialakteur behaupten und verweigerte in Sachen Osterweiterung sub­stantielle Zugeständnisse an Russland. Die Ukraine setzte ihren – im eigenen Land je nach Region unterschiedlich stark umstrittenen – Kurs zur NATO-Integration ohne Rücksicht auf russische Bedrohungsperzeptionen konsequent um. Und ein zusehends autoritär und national-chauvinistisch ausgerichtetes Russland pochte sowohl auf seine geostrategischen Sicherheitsanliegen als auch auf seine imperialen Ansprüchen nicht zuletzt gegenüber der Ukraine.

Friedenslogische Positio­nierungen im Ukrainekrieg

Wie lassen sich angesichts der Kriegsbilder aus der Ukraine und des hiesigen Kriegsdiskurses überhaupt noch friedenslogische Positionen vertreten? Zunächst müssen wir einräumen, dass auch wir Ungewissheiten und Dilemmata aushalten müssen: Wir wissen nicht, wie weit die russische Regierung in der Ukraine (und eventuell auch darüber hinaus) bereit ist zu gehen. Wir wissen angesichts der Kriegsentschlossenheit der Parteien und der Rücksichtslosigkeit des russischen Aggressors nicht, ob das friedenslogische Handlungsspektrum jetzt oder zumindest in absehbarer Zukunft eine wirkliche Chance erhalten wird, den Krieg und das Leid der Menschen nachhaltig zu beenden. Einige von uns stellen sich daher die Frage, ob nicht auch einzelne Maßnahmen jenseits der Friedenslogik ergriffen werden müssten. Allerdings haftet auch dem Handlungskatalog der Sicherheits- oder gar der Kriegslogik die gleiche Ungewissheit an. Daher gilt es dringend, vor einem bellizistischen Fehlschluss zu warnen: Nur weil Friedenslogik nicht zum gewünschten Ergebnis führen könnte, bedeutet das lange noch nicht, dass Sicherheitslogik und Kriegslogik hier verlässlicher wären. Eher dürfte sogar das Gegenteil der Fall sein, nämlich dass sicherheits- oder gar kriegslogisches Handeln die Gewalt immer weiter verschlimmert.

Friedenslogische Imperative gegen den Ukrainekrieg

Die friedenslogische Heuristik lässt sich im Kriegskontext in handlungsorientierten Imperativen zuspitzen. Sie lauten:

Alles dafür zu tun, um (1.) die Gewalt zu beenden, (2.) den Konflikt zu deeskalieren und konstruktiv zu transformieren, (3.) Opfer zu schützen und Leid zu mildern, (4.) Völkerrecht und Menschenrechte zu stärken und (5.) Selbstreflexion und Empathie zu fördern.

Das bedeutet auch, alles zu unterlassen, was der Realisierung dieser Ziele entgegenliefe. Die Imperative adressieren prinzipiell alle staatlichen Akteure von der Weltstaatengemeinschaft und ihren Organisationen über regionale Arrangements bis hin zu einzelnen Staaten einschließlich der Kriegsparteien. Sie richten sich aber auch an die Akteure der gesamten Zivilgesellschaft von internationalen und nationalen Nichtregierungsorganisationen bis hin zu den einzelnen Bürger*innen und deren Initiativen. Sie alle sind gefordert, an ihrem Ort im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten im Sinne des Friedens zu handeln.

(1.) Gewaltbeendigung

Der Imperativ der Gewaltbeendigung verlangt zunächst danach, die Gewalt nicht weiter zu befeuern. Die bisherigen Waffenlieferungen haben den Krieg nicht gestoppt, sondern immer weiter in ihn hineingeführt. Sie tragen zu seiner Verlängerung und weiteren Brutalisierung bei. Aber auch die massiven ökonomischen und finanziellen Sanktionen könnten nicht nur den erhofften Effekt zeitigen und die russische Kriegsmaschinerie zum Stillstand bringen, sondern sie sogar weiter anheizen, indem sie dazu animieren, mit immer massiveren Angriffen schneller ans Ziel zu kommen. Nötig wäre stattdessen aber der Fokus auf eine kluge, alle Ebenen und Kanäle einbeziehende Krisendiplomatie, die den Parteien einen gesichtswahrenden Ausstieg aus dem Krieg ermöglicht. Hier bedarf es eines weitaus stärkeren Engagements, um die Verhandlungen wieder voranzubringen.

Wenngleich der Ukraine das Recht auf (auch militärische) Selbstverteidigung zusteht, wäre es dringend geboten, vermehrt auf friedenslogische Alternativen zu einem sich immer weiter entgrenzenden Verteidigungskrieg zu setzen, die sich am Ziel des Gewaltabbaus und der Gewaltbeendigung orientieren. Dazu zählen ergänzend zur unverzichtbaren Krisendiplomatie beispielsweise gewaltfreie Proteste gegen die Invasoren ebenso wie Maßnahmen sozialer Verteidigung, die durch Kooperationsverweigerung den Aufenthalt für die Besatzer erschweren. Gleiches gilt für Kriegsdienstverweigerung und Desertion, die Signale der Tat gegen den Krieg senden.

(2.) Konfliktdeeskalation und Konflikttransformation

Der Imperativ der Konfliktdeeskalation impliziert vor allem, zu verhindern, dass die NATO aktive Kriegspartei wird. Das Bündnis und einzelne Mitgliedstaaten balancieren schon auf ganz schmalem Grat: Dafür stehen beispielsweise die permanente massive Aufrüstung der Ukraine mit immer leistungsfähigerem und zusehends offensivtauglichem Kriegsgerät, die immense finanzielle Militärhilfe sowie Diskussionen über die Einrichtung einer von der Allianz durchzusetzenden Flugverbotszone. Angehörige ukrainischer Streitkräfte werden mittlerweile auch in Deutschland auf US-Stützpunkten und in der Artillerieschule Idar-Oberstein ausgebildet, was gemäß eines Gutachtens der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags „den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen“2 würde. Insofern sollte die NATO den Ritt auf der sprichwörtlichen Rasierklinge einstellen.

Stattdessen müsste es ergänzend zur gewaltbeendenden Krisendiplomatie um eine konstruktive Transformation dieses vielschichtigen Konflikts gehen, in dem sich Auseinandersetzungen innerhalb der Ukraine zwischen Kiew und den Separatistengebieten im Osten des Landes, zwischen der Ukraine und Russland sowie zwischen Russland und dem Westen überlagern. Dazu hätten alle Beteiligten sich nicht nur von einseitigen, gewalt­orientierten Durchsetzungsstrategien zu verabschieden, sondern auch an ihren Dominanzansprüchen bzw. Maximalforderungen Abstriche zu machen. Dass Kiew im Kontext der Istanbuler Verhandlungen Ende März einen Neutralitätsstatus, wenn auch mit Sicherheitsgarantien versehen, ins Spiel gebracht hat, weist in die richtige Richtung.

(3.) Opferschutz und Leidmilderung

Der beste Weg, den Imperativ des Opferschutzes und der Leidmilderung zu verwirklichen, wäre die sofortige Beendigung der Kampfhandlungen. Solange der Krieg jedoch andauert, sollte der Fokus nicht länger auf der Kampfkraftsteigerung der ukrainischen Streitkräfte als den mutmaßlichen Beschützern, sondern auf den Menschen selbst liegen, die Opfer von Gewalt geworden sind oder zu werden drohen. Alle, die die Kampfregionen bzw. das Land verlassen wollen, sollen dies tun können. Es heißt also vornehmlich, sichere Fluchtwege zu vereinbaren und zu organisieren, Geflüchtete in der Erstankunft professionell zu betreuen und ihnen einen sowohl sicheren als auch würdigen Aufenthalt im Zufluchtsland zu garantieren. Menschen, die das Land nicht verlassen können oder wollen, ist freier Zugang zu humanitärer Hilfe zu gewährleisten. Dafür müssten von allen Kriegsparteien akzeptierte humanitäre Korridore eingerichtet werden, damit Hilfsgüter sicher an Ort und Stelle gelangen. Ein zumindest zeitweiliger Waffenstillstand würde die Bewältigung dieser Aufgabe erleichtern, da sich aufgrund der Kriegsdauer die Versorgungs- und Gesundheitslage der Bevölkerung in den umkämpften Gebieten dramatisch zuspitzt.

(4.) Stärkung von Völkerrecht und Menschenrechten

Dieser Imperativ zielt auf die Verteidigung bzw. die Stärkung des Völkerrechts sowie der Menschenrechte, auf die sich auch die Friedenslogik bezieht. Diese sind mit dem Angriffskrieg und den bislang dokumentierten Kriegsverbrechen massiv verletzt worden. Wenngleich sowohl die UNO-Generalversammlung als auch der Internationale Gerichtshof das Vorgehen Russlands verurteilt und somit die Gültigkeit des bestehenden Normsystems bekräftigt haben, geschieht doch die Befolgung völkerrechtlicher Standards durch Staaten auf freiwilliger Basis. Weitere Kriegsverbrechen in der Ukraine können daher zwar nicht effektiv unterbunden werden, möglich bleiben jedoch symbolische Gesten und Appelle an die Kriegsparteien, die Zivilbevölkerung zu verschonen. An – auch zukünftiger – Bedeutung nicht zu unterschätzen sind zudem die Bemühungen nichtstaatlicher Akteure, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Insbesondere nach den Gräueltaten in Butscha ist dies von großer Dringlichkeit und sollte unbedingt unterstützt werden. Zu werben wäre für eine unabhängige und angemessen ausgestattete – etwa von der OSZE mandatierte – Beobachtermission, die zur Verifizierung der Geschehnisse einen wertvollen Beitrag leisten und bestenfalls sogar gewaltmindernde Wirkung erzeugen könnte. Dagegen stehen Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den russischen Präsidenten Putin und seine Führungsmannschaft in einem Spannungsverhältnis zu anderen Imperativen der Friedenslogik, da ein internationaler Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen gegen die Verantwortlichen kaum ihre Verhandlungsbereitschaft in Bezug auf überlebensnotwendige humanitäre Hilfe für die ukrainische Bevölkerung und eine möglichst rasche Beendigung der Kriegshandlungen fördern dürfte. Nichtsdestoweniger sollte die Dokumentation von Kriegsverbrechen auch auf dieser Ebene fortgeführt werden, stehen sie doch auch für den Befolgungsanspruch eines Völkerrechts, das auf Friedensförderung und Gewaltächtung ausgelegt ist.

(5.) Selbstreflexion und Empathie

Dieser letzte Imperativ verlangt nach kritischer Selbstreflexion im friedenslogischen Modus, der die eigenen Anteile sowohl am langen Weg in die Konfrontation seit Ende des Systemkonflikts als auch an der Zuspitzung der letzten Jahre gerade nicht tabuisiert, sondern bewusst thematisiert. Die Kehrseite heißt Empathie. Diese bezeichnet das Bestreben, die Sichtweise der jeweils anderen Konfliktparteien einzunehmen, um sie besser verstehen zu können, ohne sie deshalb gutheißen zu müssen. Der Imperativ adressiert die Kriegsparteien selbst, aber auch alle anderen am Konflikt Beteiligten. Zwar hat im Westen bereits eine öffentliche Selbstvergewisserungsdebatte eingesetzt. Allerdings läuft sie bislang im Wesentlichen darauf hinaus, jegliche (vergangene, aktuelle und zukünftige) Friedenspolitik als naiv zu disqualifizieren und reflexartig für mehr Aufrüstung zu plädieren. Die friedenslogische Antwort auf die Frage, ob die Politik des Westens an zu wenig oder zu viel Friedenspolitik gescheitert sei, lautet aber: an zu wenig. Was nach dem Ende des Systemkonflikts in Gesamteuropa entstanden ist, war eben keine zur konstruktiven Konflikttransformation fähige Friedensordnung, in der alle Beteiligten gleichberechtigt mitwirken konnten, sondern eine vom Westen dominierte asymmetrische Machtordnung, in der Moskaus schon früh geäußerten Einwände ignoriert und seine Initiativen nicht aufgegriffen wurden.

Selbstreflexion bedeutet auch, aus den eigenen Fehlern zu lernen, um sie bei der Neugestaltung der europäischen Ordnung nachdem Ende des Ukrainekriegs zu vermeiden. Zu diesen Korrekturverpflichtungen gehört auf westlicher Seite nicht nur das geostrategische Handlungsprogramm, sondern auch die innere Haltung, auf der es beruht: Demut eingedenk eigener Verfehlungen und eigener limitierter Gestaltungsfähigkeiten, Besinnung auf die Begrenztheit eigener Ansprüche auf die jeweils legitimen Anliegen, Anerkennung der prinzipiellen Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung des politischen Gegenübers, Anerkenntnis der Ungeeignetheit militärischer Mittel für eine gezielte Gestaltung friedensverträglicher inner- wie zwischenstaatlicher Verhältnisse sowie Akzeptanz der Untauglichkeit konfrontativer Strategien für die Gewährleistung eines dauerhaft stabilen negativen Friedens.

Plädoyer für ein Projekt der »Gemeinsamen Sicherheit wider Willen«

Auch wenn es derzeit nur schwer vorstellbar sein mag: Bereits jetzt muss über eine mögliche Ordnung nach dem Ende des Ukrainekriegs nachgedacht werden. Sogar ein Frieden, der sich auf das Ziel einer Vermeidung neuer Kriege beschränken würde, ist nur mit und nicht gegen Russland zu haben. Dabei gilt es, die gegenwärtige Begrenzung des Denkraums auf einen »Kalten Krieg 2.0« zugunsten einer Ordnung zu erweitern, die möglichst viele friedenslogische Elemente adaptiert und damit die Chance zur weiteren Friedensentfaltung impliziert. Diese Nahzielperspektive ließe sich, angesichts der gegenwärtig feindschaftlichen Beziehungsmuster, in der Formel einer »Gemeinsamen Sicherheit wider Willen« verdichten. Sie wird wohl die Identifizierung von Dissensen einschließen und Möglichkeiten ihrer weiteren Bearbeitung aufzeigen müssen.

Für ein solches Projekt wäre die OSZE der am besten geeignete Ort, handelt es sich doch um eine inklusive Einrichtung der Staatenwelt mit Scharnieren in die Gesellschaftswelt: Sie stellt schon jetzt den erforderlichen gesamteuropäischen Rahmen zur Verfügung, in dem alle direkt wie indirekt am Ukrainekonflikt Beteiligten formal gleichberechtigt eingebunden sind. Und die neutralen und nicht-paktgebundenen Teilnehmerstaaten können hier strukturell abgesichert ihre wertvollen Erfahrungen bei der Auflösung festgefahrener Konstellationen mobilisieren.

Ein Projekt der »Gemeinsamen Sicherheit wider Willen« dürfte aber nicht allein an die Staatenwelt delegiert werden. Vielmehr bedarf es der Vorbereitung und Unterstützung durch solche zivilgesellschaftlichen Akteure samt ihrer Netzwerke, die über einschlägige Erfahrungen im Bereich der Mediation und anderer Verfahren konstruktiver Konflikttransformation verfügen.

Der Text wurde am 11. Mai 2022 auf der Homepage der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung veröffentlicht (pzkb.de/friedenslogik-statt-kriegslogik/).

Anmerkungen

1) Siehe hierzu auch: »Für konsequent friedenslogisches Handeln im Ukraine-Konflikt.« Stellungnahme aus der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (17. Februar 2022).

2) Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag (2022): Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme (WD 2-3000-019/22), S. 6.

Verfasser*innen und Unterzeichner*innen aus der AG-Friedenslogik: Annette Fingscheidt, Wilfried Graf, Sabine Jaberg (Federführung), Christiane Lammers, Jochen Mangold, Angela Mickley, Beate Roggenbuck.