Multilateralismus chinesischer Prägung

Multilateralismus chinesischer Prägung

Die Shanghaier Fünf auf dem Weg zum Regionalismus?

von Gudrun Wacker

Am 14. und 15. Juni 2001 fand in Shanghai das sechste Gipfeltreffen der sogenannten Shanghaier Fünf (im folgenden kurz: S-5) statt. Bei diesem Gipfel trat den S-5 (Russische Föderation, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und China) mit Usbekistan erstmals ein weiteres Vollmitglied bei und gleichzeitig formierten sich die S-5 unter der Bezeichnung »Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit« (chin.: Shanghai hezuo zuzhi, russ.: Šanchajskaja organizacija sotrudni…estva, im folgenden kurz: SOZ) neu. Weitgehend unbemerkt vom Westen ist damit im Laufe der 90er Jahre ein – zumindest der Form nach – multilaterales Gebilde entstanden, das von den beteiligten Staaten als Beitrag zur Multipolarisierung der Welt und als regionale Antwort auf die ökonomische und informationstechnologische Globalisierung präsentiert wird. Kernanliegen der SOZ aber ist regionale Sicherheit.1
Im folgenden wird die Entwicklungsgeschichte der S-5 von ihren Anfängen bis zur Gründung der SOZ vorgestellt. Leitfragen sind: Was waren die gemeinsamen Interessen, die zur Bildung der S-5 geführt haben? Worin bestehen ihre Erfolge? Welche Perspektiven hat die neu gegründete SOZ in den verschiedenen Bereichen der Kooperation? Lässt sich der S-5/SOZ-Prozess als »qualitativer Multilateralismus« (Martin 1992) bezeichnen? Und schließlich: Können von diesem Mechanismus Impulse für ein weiteres asiatisches Sicherheitsregime, eine Art asiatische KSZE ausgehen?

Durch die Initiative Gorbatschows, der China Verhandlungsbereitschaft bezüglich der drei Hindernisse2 signalisiert hatte, deren Beseitigung die chinesische Seite als Voraussetzung für eine wirkliche Normalisierung der bilateralen Beziehungen gefordert hatte, war es in den 80er Jahren zu einer schrittweisen Annäherung zwischen Sowjetunion und China gekommen. Im Rahmen dieses Prozesses hatten beide Staaten auch mit Gesprächen über den umstrittenen Grenzverlauf sowie über vertrauensbildende Maßnahmen und Truppenabbau entlang der gemeinsamen Grenze begonnen. Bis zur Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 waren diese Verhandlungen zwar nicht vollendet, jedoch hatten beide Seiten Einigung über die allgemeinen Prinzipien für den weiteren Prozess sowie über den mehr als 4000 km langen Ostabschnitt der chinesisch-sowjetischen Grenze (April 1991) erzielt.

Das Ende der Sowjetunion und die 4+1 Gespräche

Nach der Auflösung der Sowjetunion wurden die Gespräche über Grenzverlauf, vertrauensbildende Maßnahmen im militärischen Bereich und Truppenabbau entlang der gemeinsamen Grenzen unter den neuen politischen Vorzeichen weitergeführt, nämlich zwischen China und den direkt angrenzenden Staaten der ehemaligen Sowjetunion, also der Russischen Föderation und den zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan. Aus diesen „4+1“-Verhandlungen, die mehrmals im Jahr stattfanden, gingen verschiedene bilaterale Abkommen über den Grenzverlauf zwischen China und jeweils einem der benachbarten Staaten hervor. Dabei wurde nach dem Prinzip verfahren auch Teillösungen vertraglich zu fixieren. D.h. Grenzabschnitte, über die keine Einigung erzielt werden konnte, blieben aus den Abkommen ausgespart, um später nach einer für beide Seiten akzeptablen Lösung zu suchen. Auf diese Weise wurde bis zum Herbst 2000 der gesamte Grenzverlauf zwischen China und der ehemaligen Sowjetunion fixiert – mit Ausnahme von drei kleinen Inseln in den Grenzflüssen am Ostabschnitt der chinesisch-russischen Grenze und der Grenze zwischen China und Tadschikistan, für die erst ein Teilabkommen abgeschlossen werden konnte. (Xia 2001, p.36; Xinhua 1999)

Von Gipfel zu Gipfel: 1996 bis 2000

Im April 1996 trafen die Präsidenten aller fünf am 4+1-Prozeß beteiligten Staaten erstmals in Shanghai zusammen und unterzeichneten ein Abkommen über vertrauensbildende Maßnahmen im militärischen Bereich.3 Bereits zu diesem Zeitpunkt erklärten die beteiligten Präsidenten, ihre Gruppierung sei nicht gegen dritte Staaten gerichtet und grundsätzlich auch für weitere Mitglieder offen. Etwa ein Jahr später folgte in Moskau der Abschluss eines Abkommens über Truppenabbau entlang der gemeinsamen Grenzen. In ihren Kommentaren wiesen die fünf Präsidenten auf die Bedeutung beider Vereinbarungen hin: Diese hätten Vorbildcharakter für den gesamten asiatisch-pazifischen Raum und seien – im Gegensatz zur NATO mit ihren Erweiterungsplänen und der im April 1996 erneuerten amerikanisch-japanischen Sicherheitsallianz – nicht mehr dem Denken des Kalten Krieges verhaftet. Für die Implementierung und Überwachung der Abkommen wurde eine gemeinsame Kontrollgruppe eingerichtet.

Strenggenommen handelt es sich bei den beiden Dokumenten von 1996 und 1997 nicht um multilaterale Abkommen, denn sie wurden zwar von den fünf Präsidenten unterzeichnet, jedoch stellen die vier ex-sowjetischen Staaten gemeinsam eine Vertragsseite, die VR China die andere. Ihr Geltungsbereich bezieht sich ausschließlich auf eine Zone von 100 km diesseits und jenseits der ehemaligen sino-sowjetischen Grenze, nicht aber auf die Grenzgebiete zwischen den post-sowjetischen Republiken.

Auf den 1998 bis 2000 folgenden jährlichen Gipfeltreffen in Almaty, Bischkek und Duschanbe weitete die nun als »Shanghaier Fünf« bezeichnete Gruppe ihre Agenda schrittweise auf die Bereiche Wirtschaft und Handel, Verkehrs- und Infrastruktur (»neue Seidenstraße«), Kultur und Umweltschutz aus – zumindest bekundeten die S-5 ihren Willen zur Vertiefung multilateraler Kooperation auf all diesen Gebieten. Regelmäßige Zusammenkünfte auf Ministerebene sowie ein noch formell zu konstituierender »Rat nationaler Koordinatoren«, dessen Mitglieder von den einzelnen Regierungen benannt werden, sollen für die angestrebte Intensivierung der Zusammenarbeit sorgen.

In den jeweils bei den Gipfeln unterzeichneten Deklarationen demonstrierten die Präsidenten auch eine gemeinsame Haltung in Fragen der internationalen Beziehungen. Anti-westliche bzw. anti-amerikanische Untertöne waren darin unüberhörbar – die Dokumente enthalten Passagen gegen Hegemonismus, Machtpolitik, eine unipolare (d.h. von den USA dominierte) Weltordnung und gegen die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten (»neuer Interventionismus«, »humanitäre Intervention«). Darin kommen nationale Interessen der einzelnen S-5-Mitgliedstaaten zum Ausdruck: Insbesondere die ohne UN-Mandat durchgeführte NATO-Intervention in Jugoslawien Anfang 1999 hat zu der Befürchtung geführt, im Falle massiver ethnischer Konflikte oder Menschenrechtsverletzungen nicht nur mit Kritik und externem Druck, sondern möglicherweise auch mit einem militärischen Eingreifen des Westens rechnen zu müssen. Russland und China sehen ihr internationales Mitspracherecht durch die Nichtkonsultation des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen entwertet, leiten sie doch u.a. aus ihrem ständigen Sitz in diesem Gremium ihren Status auf der Bühne der Weltpolitik ab.

Eigentlicher Fokus der S-5 blieb aber die Sicherheitspolitik innerhalb der Region. Die beteiligten Staaten sehen ihre innere Stabilität in den letzten Jahren zunehmend durch Terrorismus, Separatismus und religiösen Extremismus (»drei Kräfte«) gefährdet. Dabei sind allerdings signifikante Unterschiede in den einzelnen Ländern festzustellen: Mit Sezessionsbestrebungen sind de facto nur Russland (Tschetschenien) und China (in Xinjiang, Tibet und Taiwan) konfrontiert. In den zentralasiatischen Republiken dagegen spielen separatistische Gruppierungen eigentlich keine Rolle. Usbekistan und Kirgistan haben sich seit Sommer 1999 mit terroristischen Anschlägen und Überfällen von Anhängern eines islamistischen Extremismus auseinander zu setzen, insbesondere seitens der »Islamischen Bewegung Usbekistans«, deren erklärtes Ziel der Sturz des usbekischen Präsidenten ist. Der Bürgerkrieg, der in Tadschikistan ab 1992 herrschte, wurde zwar 1997 mit Hilfe internationaler Vermittlungsbemühungen beigelegt, doch gelang es nicht, alle Kräfte der Opposition, darunter auch islamistische Gruppen, in das Friedensarrangement einzubinden. Der externe Faktor, der die Bedrohungsperzeptionen aller S-5/SOZ-Staaten miteinander verbindet, ist die Taliban-Regierung in Afghanistan, die als die destabilisierende Kraft für die Region betrachtet wird. In ihr hat man nicht nur den Verursacher grenzüberschreitender Kriminalität (Drogen- und Waffenschmuggel) identifiziert, sondern auch die Quelle ideologischer, logistischer und materieller Unterstützung für religiös-extremistische Vereinigungen. Zur koordinierten Bekämpfung der »drei Kräfte« beschlossen die S-5 in Duschanbe – dem Zusammentreffen im Juli 2000, an dem erstmals der Präsident Usbekistans als Beobachter teilnahm – die Einrichtung eines gemeinsamen Antiterrorismus-Zentrums mit Hauptquartier in Bischkek.

Moskau hat vor allem seit dem zweiten Tschetschenienkrieg (1999) die transnationalen Verflechtungen islamistischer Kräfte vom Kaukasus über Zentralasien bis nach Afghanistan in den Vordergrund der Argumentation gerückt. In Chinas Nordwesten, der Autonomen Region Xinjiang-Uighur, einem ressourcenreichen Gebiet mit überwiegend muslimischer Bevölkerung, gab es vor und nach Gründung der Volksrepublik immer wieder Unruhen, Proteste und Aufstände, die mit der Reformperiode in den 80er Jahren wieder an Häufigkeit und Heftigkeit zunahmen. Auch Beijing sieht dabei externe Unterstützung am Werk und bekämpft seit 1996 mit einer »strike hard«-Kampagne jede Form von nicht-autorisierter Ausübung des Islam in der Region (z.B. nicht zugelassene Koranschulen u.ä.). Wie stark islamistische Gruppierungen in den SOZ-Mitgliedstaaten tatsächlich sind, inwieweit sie miteinander verflochten sind und welchen Rückhalt sie in der Bevölkerung genießen, lässt sich aufgrund der betriebenen Informationspolitik nicht mit Sicherheit sagen, jedoch vertreten ausländische Beobachter überwiegend die Auffassung, dass es gerade das undifferenzierte Vorgehen Chinas und auch Usbekistans gegen jedwede Religionsausübung außerhalb staatlicher Kontrolle ist, das einen Solidarisierungseffekt bei breiteren Schichten der Bevölkerung auslösen und die »islamistische Bedrohung« zur self-fulfilling prophecy machen könnte.

Juni 2001: Gründung der SOZ

Drei Dokumente unterzeichneten die Präsidenten bei ihrem sechsten Treffen in Shanghai im Juni 2001: Erstens eine »Gemeinsame Erklärung«, deren wesentlicher Inhalt sich auf die formelle Aufnahme Usbekistans bezieht, zweitens die »Gründungserklärung der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit«, in der die Ergebnisse und Prinzipien der vorangegangenen Gipfel bekräftigt werden, und drittens eine »Konvention über den Kampf gegen Terrorismus, Separatismus und religiösen Extremismus«.

Der volle Wortlaut dieser »Konvention«, die von den Parlamenten der einzelnen Staaten ratifiziert werden muss, wurde noch nicht publiziert; nach den offiziellen Kommentaren soll sie die rechtliche Grundlage für das im Jahr 2000 beschlossene Antiterrorismus-Zentrum in Bischkek bereitstellen, und sie definiert, was unter den »drei Kräften« (Terrorismus, Separatismus und religiöser Extremismus) zu verstehen ist. Die Zusammenarbeit sieht u.a. Informationsaustausch, Unterstützung bei Ermittlungen und die Ausarbeitung vorbeugender Maßnahmen vor. Noch weitgehend unklar ist offenbar, wie die Koordinierung bzw. Arbeitsteilung zwischen dem Antiterrorismus-Zentrum der S-5/SOZ – das noch eines eigenen Abkommens bedarf – und der gleichnamigen Einrichtung in Bischkek, die im Rahmen des Kollektiven Sicherheitsvertrages der GUS beschlossen wurde, aussehen soll.4

Perspektiven der SOZ

Wie schon bei den früheren Gipfeln der S-5 hat vieles, was in den im Juni 2001 unterzeichneten Dokumenten zur Sprache kommt, deklaratorischen Charakter. Der Wille zur Vertiefung der Zusammenarbeit in allen Bereichen wurde seit 1998 (Almaty) jedes Jahr wiederholt. In den Deklarationen des Jahres 2000 und 2001 werden erstmalig Gremien benannt, die mit der Schaffung eines institutionellen Rahmens für die SOZ betraut werden sollen. Die Festlegung der Aufgaben des »Rates nationaler Koordinatoren« obliegt den Außenministern; dieser Rat selbst wird die Ausarbeitung einer Charta für die Shanghaier Organisation übernehmen. Diese Charta, für die ein Entwurf bis zum nächstjährigen Gipfel in Sankt Petersburg vorliegen soll, wird Ziele, Bereiche, Aufgaben und die Richtung der künftigen Kooperation im Rahmen der SOZ und andere organisatorische Fragen umfassen. Um einen Plan für verstärkte Zusammenarbeit in Wirtschaft und Handel aufzustellen, werden im Herbst 2001 erstmals die Ministerpräsidenten der sechs Staaten gesondert zusammenkommen.

Was die Aufnahme weiterer Mitglieder in die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit betrifft, so kann man davon ausgehen, dass die beteiligten Staaten, nachdem Usbekistan nun beigetreten ist, diese Frage mit großer Vorsicht behandeln werden.5 Ein Antrag Pakistans war bereits im Vorfeld des Shanghaier Gipfels auf ziemlich einhellige Ablehnung gestoßen. Insbesondere Tadschikistan wies eine Mitgliedschaft Pakistans aufgrund der engen Beziehungen zwischen Islamabad und den Taliban rundheraus zurück. Russland wertete das Interesse anderer Staaten an einem Beitritt zu den S-5 zwar als Zeichen für die wachsende Bedeutung des regionalen Zusammenschlusses, scheint aber keineswegs auf seine Ausweitung zu drängen. China wird v.a. darauf achten, dass der regionale und thematische Fokus der neuen Organisation nicht verloren geht.

Die Aussichten der neuen SOZ sind für die einzelnen Ebenen Wirtschaft, regionale Sicherheit und Weltpolitik unterschiedlich zu beurteilen. Die S-5 hatte in der Vergangenheit Erfolge zu verzeichnen, wenn sie ein gemeinsames Interesse an der Lösung ganz konkreter Probleme teilten. Zu diesen Erfolgen gehören die schrittweise Lösung der Frage des Grenzverlaufs sowie die Abkommen von 1996 und 1997. Um diese Kooperation erfolgreich auch auf andere Bereiche übertragen und ausweiten zu können, sind nicht nur gemeinsame Absichtserklärungen notwendig, sondern dazu bedarf es konkreter Planungen sowie der Schaffung von einheitlichen Verfahrensregeln für deren Umsetzung.

Der SOZ als »regionale Antwort« auf die ökonomische Globalisierung stehen eine Reihe von Hemmnissen entgegen. Betrachtet man die Wirtschaftsbeziehungen zwischen China und den übrigen SOZ-Mitgliedern, so sind nur die zu Russland (bilateraler Handel 2000: ca. 8 Mrd. US$) und Kasachstan (ca. 1,6 Mrd. US$) von einigem Gewicht. Zudem – darauf wurde in der russischen Presse kurz nach dem Shanghaier Gipfel verwiesen (Germanovi… 2001) – verfolgen die Staaten unterschiedliche Modelle und Projekte, die teilweise in direkter Konkurrenz miteinander stehen. So sieht z.B. Russland den von der EU geförderten TRASEKA-Transportkorridor von Europa durch Transkaukasus nach Zentralasien und China als Konkurrenz zur Transsibirischen Eisenbahnlinie. Angesichts der wirtschaftlichen Schwäche der SOZ-Staaten werden große gemeinsame Infrastrukturvorhaben wie der Bau von Öl- und Gas-Pipelines (»neue Seidenstraße«) jedenfalls kaum ohne massive Investitionen und Beteiligung ausländischer Firmen realisierbar sein. Beijing und Moskau versuchen seit Jahren, ihren Wirtschaftsbeziehungen durch Treffen auf Ministerpräsidenten- und Ministerebene mehr Leben einzuhauchen, jedoch blieb dieser Bereich bislang deutlich hinter den beiderseits formulierten Erwartungen und Zielen zurück. Eine Vielzahl von Großprojekten ist seit Jahren zwischen beiden Ländern in der Diskussion – die wenigsten davon sind auf dem Weg der Realisierung.

Auf der Ebene regionaler Sicherheitspolitik wird weiterhin an der Umsetzung der Abkommen von 1996 und 1997 gearbeitet. Die gemeinsame Kontrollkommission hat offenbar ihre Arbeit aufgenommen und wird gemeinsame Inspektionen durchführen (Xinhua 2001). Der Kampf gegen Terrorismus, Separatismus und religiösen Extremismus wird sich voraussichtlich nicht einfach gestalten, denn es gibt organisatorische, finanzielle und rechtliche Fragen zu lösen und zu überwinden, bis das Antiterrorismus-Zentrum der SOZ in Bischkek funktionsfähig wird. Würde die Mitgliedschaft Usbekistans in der SOZ dazu führen, dass künftig mehr Konsultation und Koordination in Sachen Grenzregime zwischen den zentralasiatischen Staaten stattfände, so wäre dies als Fortschritt zu werten.6 Allerdings ist davon auszugehen, dass sowohl China als auch Usbekistan an den harschen Mitteln festhalten werden, die sie gegen die Praktizierung von Formen des Islam, die außerhalb der staatlich gesetzten Grenzen liegen, einsetzen.

Eine nicht auszuschließende Perspektive der SOZ wäre die weitgehender Bedeutungslosigkeit. Dann würden zwar weitere Gipfel der Präsidenten und Treffen auf Ministerebene stattfinden und weitere Gemeinsame Deklarationen verabschiedet werden, ohne dass dies jedoch zu einer tatsächlichen Intensivierung der Kooperation führt. Vor einem solchen Schicksal warnte bereits ein russischer Presseartikel (Strokan‘ 2001). Im post-sowjetischen Raum existieren bereits zahlreiche, sich gegenseitig überlappende Arrangements, die in der Praxis wenig Wirkung entfalten.

Lateralismus und Vorbildfunktion für Asien

Bis zu ihrem 3. Gipfeltreffen 1998 in Almaty konnten die S-5 strenggenommen nicht als multilaterales Forum gelten. Die Phase zwischen 1998 und 2001 lässt sich als »nomineller« Multilateralismus charakterisieren, wenn dieser der Definition von Ruggie entsprechend{b} {/b}als „institutionelle Form, welche die Beziehungen{i} {/i}zwischen drei oder mehr Staaten auf der Basis allgemeiner Verhaltensregeln koordiniert“ (Hier ist irgendwas unvollständig) (Ruggie 1993, p.11), verstanden wird: Abgesehen von den beiden Abkommen über vertrauensbildende Maßnahmen und Truppenabbau entlang der Grenzen gab es in dieser Zeit keinerlei verbindliche Regeln, aus denen sich für einen der Mitgliedstaaten irgendeine Verpflichtung ergeben hätte. Vielmehr erschöpfte sich der S-5-Prozess weitgehend darin, dass die Präsidenten in ihren Gemeinsamen Deklarationen den Willen und die Absicht zur Vertiefung der Kooperation in allen möglichen Bereichen zum Ausdruck brachten. Eine Arbeitsebene für die Umsetzung dieser Erklärungen existierte nur in ersten Ansätzen in Form von unregelmäßigen Treffen auf Ministerebene.

Für eine mögliche Entwicklung hin zum »qualitativen« Multilateralismus, der sich durch unteilbare/allgemein verbindliche Regeln für einen bestimmten Handlungsbereich, und damit einhergehend mit Einbußen an Flexibilität sowie dem Verzicht auf kurzfristige Vorteile zugunsten mittel- und langfristigen Nutzens auszeichnet, sind Voraussetzungen erst mit dem Gipfeltreffen im Juni 2001 und der Gründung der SOZ geschaffen worden: Der Beschluss, aus den nationalen Koordinatoren ein festes Gremium zu bilden, der SOZ eine Charta zu geben, in der auch die Kriterien für die Aufnahme weiterer Mitglieder festgelegt werden{b}, {/b}kann jedenfalls als ein Schritt in Richtung Institutionalisierung gesehen werden. Entscheidend wird sein, mit welchen Befugnissen und Kompetenzen der Rat nationaler Koordinatoren ausgestattet sein wird.

In einem Aufsatz vom Sommer 2000 beleuchtet der amerikanische Politologe Miles Kahler (Kahler 2000) die existierenden Erklärungsansätze für den sogenannten »Asian/ASEAN way«, d.h. die Bevorzugung informeller Gesprächsforen, des Konsensprinzips und einer gradualistischen Vorgehensweise in den regionalen Organisationen (ASEAN, APEC und ASEAN Regionalforum) kritisch. Er kommt zu dem Schluss, dass fehlende oder schwache Institutionalisierung und Verrechtlichung nicht erschöpfend durch den Verweis auf kulturelle Besonderheiten (»asiatische Werte«, unterschiedliche Rechtstradition etc.), wie sie von den asiatischen Staaten selbst ins Feld geführt werden, erklärt werden können. Die Entscheidung für oder gegen die Festschreibung verbindlicher Regeln und eines Durchsetzungsmechanismus seien vielmehr von instrumentellen und strategischen Überlegungen der einzelnen Länder geleitet. D.h. ausschlaggebend ist zum einen die Frage, ob der Zugewinn für die nationalen Interessen deutlich höher ist als der dafür in Kauf zu nehmende Verlust (v.a. an nationaler Souveränität), zum anderen die der relativen Stärke der anderen in den Aushandlungsprozess involvierten Staaten und des sich daraus ergebenden eigenen Spielraumes bei der Festlegung der Regeln.

Die Volksrepublik China hat zwar im Laufe der letzten Jahrzehnte ihre grundsätzliche Haltung zum Multilateralismus verändert (Wang 2000), wie der bevorstehende WTO-Beitritt zeigt, bevorzugt aber nach wie vor gerade im sicherheitspolitischen Bereich bilaterale Lösungen. Für die S-5-Konstellation kann konstatiert werden, dass sie sich aufgrund sehr spezifischer Rahmenbedingungen gebildet hat: Zum Zeitpunkt der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 war der Normalisierungsprozess zwischen Moskau und Beijing zwar abgeschlossen, nicht jedoch waren alle Fragen der gemeinsamen Grenze und der Abrüstung geklärt. Für die gerade unabhängig gewordenen zentralasiatischen Republiken, die über die zu diesem Zeitpunkt noch nicht von Aufweichungserscheinungen geprägte GUS in einen gemeinsamen Rahmen mit Russland eingebunden waren und die eigene Armeen und Grenzschutztruppen noch aufbauen mussten, bedeutete eine gemeinsame Delegation mit Russland eine stärkere Position in den anstehenden Verhandlungen mit China. Beijing konnte umgekehrt nicht daran gelegen sein, durch bilaterale Regelungen mit den zentralasiatischen Republiken ohne Konsens mit Russland spätere Konflikte vorzuprogrammieren. Moskau betrachtete schließlich Zentralasien weiterhin als seine vitale Interessenssphäre (da wäre mir der ursprünglich Satz lieber!). Bei den Abkommen über vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung entlang der Grenzen von 1996 und 1997 konnten China und Russland als relativ gleichwertige Mächte die Regeln selbst bestimmen, d.h. diese wurden nicht von einer weit überlegenen Macht diktiert.

Da alle SOZ-Mitgliedstaaten nationale Souveränität und Nichteinmischung in innere Angelegenheiten geradezu zu konstituierenden Prinzipien ihrer neuen Organisation erklärt haben, lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, dass eine Übertragung nationalstaatlicher Souveränität auf ein transnationales Gremium der SOZ auf absehbare Zeit nicht stattfinden wird.

Verschiedentlich machten S-5-Mitgliedstaaten Vorschläge, ihr Sicherheitsarrangement auf eine größere Region zu übertragen bzw. als Vorbild dafür zu nutzen. Von russischer Seite versuchte man, chinesische Unterstützung für ein Sicherheitsregime in Nordostasien zu bekommen, Kasachstan wirbt für eine »Versammlung für Zusammenarbeit und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien«. In den S-5-Deklarationen wurde diese letztere Idee, die der kasachische Präsident bereits 1992 erstmals auf einer UNO-Vollversammlung eingebracht hatte, zwar begrüßt, jedoch scheinen aus der Initiative außer einigen Treffen in Almaty, an denen sich die S-5-Mitglieder sowie eine Reihe weiterer Staaten beteiligten, keine greifbaren Ergebnisse hervorgegangen zu sein. (Deklaraciju 16 gosudarstv, 1999) China reagierte auf solche Initiativen zwar verbal zustimmend, im Kern jedoch passiv bis ablehnend. Insofern sind starke Impulse vom S-5/SOZ-Prozess zur Bildung einer »asiatischen KSZE« nicht zu erwarten.

Literatur

Deklaraciju 16 gosudarstv (1999) [Deklaration von 16 Staaten]: SPB Vedomsti, 15.9.99 [o.S.].

Germanovi…, Aleksej (2001): Trudnye dorogi v Kitaj [Schwierige Wege nach China], 15.6.01, http://www.vedomsti.ru/stories/2001/06/15-02-03.html (download: 16.6.01).

Halbach, Uwe (2000): Sicherheit in Zentralasien. Teil 1, Köln 2000 (Berichte des BIOst, 24-2000).

Kahler, Miles (2000): Legalization as Strategy, The Asia-Pacific Case, International Organization, Vol.54, No.3 (Summer 2000), pp. 549-571.

Martin, Lisa L. (1992): Interests, power, and multilateralism, International Organization, Vol. 46, No. 4 (Autumn 1992), pp.765-792.

Ruggie, John Gerard (1993): Multilateralism: The Anatomy of an Institution, Multilateralism Matters, hg.v. John Gerard Ruggie, New York and Oxford, Columbia University Press, 1993, pp. 3-47.

Strokan‘, Sergej (2001): Bol’šaja Politika. Šanchajskaja gramota [Große Politik. Shanghaier Urkunde], Kommersant Vlast‘, 26.6.01, p. 28.

Wang Hongying (2000): Multilateralism in Chinese foreign policy, Asian Survey, Vol. 15, No. 3 (May/June 2000), pp. 475-491.

Xia Yixi (2001): Fazhan zhong de »Shanghai Wuguo« jizhi (Der »Shanghai Five«-Mechanismus in der Entwicklung), Guoji Wenti Yanjiu, 2001, No. 3, pp. 34-38.

Xinhua (2000): 30.3.00, zitiert nach SWB FE/3806, 4.4.00, pp. G/1-2.

Xinhua (1999): 5.8.99, zitiert nach Summary of World Broadcast, Part 3, Far East/3624 (27.8.1999), pp. G/1-2.

Anmerkungen

1) Text = Siehe dazu die Gründungsdeklaration der SOZ. Volltext in chinesischer Sprache auf der Homepage des chinesischen Außenministeriums (http://www.fmprc.gov.cn/chn/13552.html, download 24.6.01). Zusammenfassung siehe [o. Verf.] Podpisana Deklaracija o sozdanii Šanchajskoj organizacii sotrudni…estva [Deklaration über die Errichtung der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit unterzeichnet], 15.6.01, http://www.strana.ru/state/foreign/2001/06/15/992574591.html (download 15.6.01).

2) Text = Die drei Hindernisse, deren Beseitigung die chinesische Seite als Voraussetzung für eine wirkliche Normalisierung der bilateralen Beziehungen gefordert hatte, waren: die massive sowjetische Truppenpräsenz an den gemeinsamen Grenzen im Osten und Westen sowie in der Mongolei, die sowjetische Unterstützung für die Besetzung Kambodschas durch Vietnam und schließlich die sowjetische Okkupation Afghanistans.

3) Text = Volltext in englischer Sprache unter http://russia.shaps.hawaii.edu/fp/russia/shanghai_19960426.html.

4) Text = Die Einrichtung dieses Zentrums sowie die Aufstellung einer »schnellen Eingreiftruppe« wurden in Eriwan im April 2001 beschlossen. Da Usbekistan 1999 aus dem Kollektiven Sicherheitsvertrag der GUS austrat, ist es hieran nicht beteiligt.

5) Text = Grundsätzlich haben neben Pakistan auch Indien, die Mongolei und Iran ihr Interesse an einer Beteiligung bekundet. Nach Angaben des russischen Botschafters in Beijing sind auch die USA an einem Beobachterstatus interessiert.

6) Text = Als Reaktion auf die Bedrohung durch Terroranschläge und Überfälle griff zunächst Usbekistan zu unilateralen Maßnahmen und verminte die Grenze zu Tadschikistan. (Halbach 2000, p.22).

Gudrun Wacker ist Sinologin und leitet seit 1.1.2001 die Forschungsgruppe Asien der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin (http://www.swp-berlin.org). Fachgebiete: chinesische Außen- und Sicherheitspolitik, Internet in China.

China im Umbruch

China im Umbruch

von Susanne Feske

China befindet sich im Umbruch – wohl kaum ein Staat sieht sich so vielen Konflikten, Widersprüchen und Herausforderungen gegenüber wie die Volksrepublik. Und dennoch: Bislang lässt sich nicht erkennen, dass China von seinem bisherigen innen- und außenpolitischen Kurs abweicht oder Zeichen der Instabilität aufweist. China befindet sich auf dem Weg, eine globale Hegemonialmacht zu werden, die die Vormachtstellung der USA herausfordern kann. Es liberalisiert seine Wirtschaft, während es gleichzeitig politische Reformen ablehnt und mit unerbittlicher Härte gegen jede Art von Dissidenten vorgeht. Es steht kurz davor, Mitglied in der Welthandelsgesellschaft (WTO) zu werden; es weist höhere Wirtschaftswachstumsraten als Japan und Südkorea auf. Und in China werden so viele Todesurteile vollstreckt, wie in allen anderen Ländern der Welt zusammen. Der US-Außenminister Powell bezeichnete China als »einen Freund« der USA. Trotzdem ist von einem neuen Kalten Krieg zwischen den USA und China die Rede. China ist in vielfältiger Weise in multilaterale Dialoge der ASEAN eingebunden. Dennoch empfinden viele südostasiatische Staaten die Volksrepublik als die größte Bedrohung für Sicherheit und Stabilität in ihrer Region. Kann man das »Rätsel China« erklären?
Mit großer Spannung wird im Land selbst, aber auch auf internationaler Ebene der 2002 stattfindende Parteikongress erwartet, auf dem sich erweisen soll, ob die regierende Kommunistische Partei Chinas sich den neuen nationalen und globalen Herausforderungen stellen kann. Innenpolitisch gilt es vor allem, die eigene Machtbasis zu erhalten und sich als glaubwürdige, handlungsfähige politische Kraft zu präsentieren. Nach außen gilt es, angemessene Antworten auf die Herausforderungen der ökonomischen Globalisierung und der rasanten technologischen Entwicklung zu finden und sich im globalen Kräftespiel zu behaupten.

Staatspräsident Jiang Zemin hat es sich zum Ziel gesetzt, das Schicksal anderer KPs, besonders das der sowjetischen, zu vermeiden. Ein Öffnungsprozess soll in geordneten Bahnen verlaufen und findet seine klaren Grenzen in der Beibehaltung des Ein-Parteien-Systems.

Im Vorfeld des Parteikongresses und auf Druck der Öffentlichkeit hat die Regierung dem angeblich schlimmsten Übel der chinesischen Gesellschaft den Kampf angesagt: der Korruption. Auf allen Ebenen werden Vergehen in diesem Zusammenhang mit schweren Strafen geahndet. Dazu gehört auch die Bekämpfung der Korruption in den eigenen Reihen. Auch ranghohe Parteikader werden zur Verantwortung gezogen und unter großer Aufmerksamkeit der Medien wird in schweren Fällen sogar die Todesstrafe vollstreckt.

Aber Korruption ist nicht das einzige Übel, dem sich Chinas Regierung gegenübersieht. Zu der langen Liste von Problemen gehören politische Opposition, religiöse und ethnische Minderheiten und zunehmend auch soziale Probleme wie Armut und Arbeitslosigkeit. Die politische Führung setzt bei der Bewältigung dieser Probleme in erster Linie auf Gewalt: Unrechtmäßige Verhaftungen und Verurteilungen, Folter und Todesstrafe gehören zur Tagesordnung.

Die politische Opposition deckt ein weites Spektrum ab, das von Forderungen nach Reformen innerhalb der Partei bis hin zu Demokratisierungsbewegungen reicht. Nach der blutigen Niederschlagung der Studentendemonstrationen auf dem Tiananmen-Platz am 4. Juni 1989 konnte sich jedoch nicht wieder eine ähnlich geeinte und geschlossene Protestbewegung bilden. Am 10. Jahrestag des Ereignisses 1999 kam es zu keinen nennenswerten Zwischenfällen. Im Oktober des gleichen Jahres hingegen fanden auf dem Tiananmen-Platz die öffentlichen Feiern zum 50. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik statt, aus deren Anlass auch die erste Militärparade seit 15 Jahren abgehalten wurde. Der Regierung war es gelungen, mehr als 1,5 Millionen Menschen für dieses Ereignis zu mobilisieren. Dennoch gibt es in vielen Teilen der Bevölkerung Unmut über die herrschenden politischen Verhältnisse.

Eine neue Gefahrenquelle sieht die politische Führung in der Tatsache, dass die politische Opposition sich mehr und mehr des Internet bedient, um Informationen zu erhalten oder zu verbreiten. Der Versuch einiger Dissidenten, eine pro-demokratische Website einzurichten, endete mit der Schließung dieser Seite und der Verhaftung und Anklage von Internetnutzern. Im Jahr 2000 erließ die Regierung neue Richtlinien, um die Nutzung des Internet zu kontrollieren. Auch verbietet sie regelmäßig Nachrichtendienste und Diskussionsforen. Freie Meinungsäußerung im Internet wird als »staatsschädigende« Aktivität verfolgt und mit schweren Strafen geahndet.1

Ein weiteres Problem sieht die chinesische Führung in den Aktivitäten von religiösen Minderheiten. Große internationale Aufmerksamkeit erfährt der Umgang der Regierung mit der religiösen Sekte Falun Gong, die innerhalb weniger Jahre eine große Zahl von Anhängern in China, aber auch weltweit, fand.

Am 22. Juli 2000 erklärte sie die Falun Gong-Sekte zu einer illegalen Organisation. Als Reaktion kam es zu schweren Ausschreitungen auf dem Tianamen-Platz, bei denen es zahlreiche Tote und Verletzte gab. Sektenmitglieder werden regelmäßig zu hohen Strafen verurteilt. Trotz internationaler Proteste bleibt die chinesische Führung bei der unnachgiebigen Verfolgung der Sektenmitglieder. Zunehmend wird die Sekte auch zu einem außenpolitischen Problem.

Falun Gong ist sicher das prominenteste Beispiel für religiöse Verfolgung. Weniger spektakulär, aber nicht weniger drakonisch ist der Umgang mit anderen Religionsanhängern, insbesondere protestantische und katholische Christen und Moslems.

Ein dritter Konfliktherd sind ethnische Spannungen. Zu den »Problemregionen« Chinas gehören vor allem Tibet und Xinjang. Die größte internationale Aufmerksamkeit erfährt Tibet, nicht zuletzt wegen seines charismatischen und reiselustigen Dalai Lama. Seit mehr als 20 Jahren kämpft in Tibet erneut eine Unabhängigkeitsbewegung für eine Loslösung von China, das die tibetische Religion und Kultur unterdrückt und zu großen Teilen vernichtet hat. Zu den Mitgliedern der Unabhängigkeitsbewegung zählen auch viele Mönche und Nonnen. Das nimmt die chinesische Führung zum Anlass, ihre Kontrolle über die Klöster weiter auszudehnen und damit gleichzeitig die lamaistische Religionsausübung einzuschränken. Weit weniger Aufmerksamkeit erfahren die Unruhen in der Autonomen Uighurischen Region Xinjiang, die vorwiegend von Moslems bewohnt wird. Die zunehmende wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Benachteiligung dieser Region führte zu Auseinandersetzungen zwischen Uighuren und der Regierung in Beijing.2 Ein vierter und relativ neuer Konfliktherd für China sind soziale Unruhen.

Mit der Liberalisierung der Wirtschaft gehen soziale Probleme einher, für die die Regierung bislang noch keine wirksamen Gegenmaßnahmen ergriffen hat. Aufgrund fehlender Sozialfürsorge beispielsweise muss die wachsende Zahl der Arbeitslosen ein Leben am Rand des Existenzminimums fristen. Arbeiter erhalten oft monatelang keinen Lohn und es fehlen Hilfsmaßnahmen für Bauern, die von schweren Dürrekatastrophen heimgesucht wurden. Die daraus entstehenden Unruhen werden lediglich mit der Anwendung und Anordnung von Gewalt beantwortet.

Angesichts dieser Vielzahl von Problemen und Unruheherden kommt amnesty international in ihrem Jahresbericht 2001 zu dem Urteil, dass sich die Menschenrechtssituation in China nicht verbessert hat. Zwar hat die Volksrepublik eine Reihe von internationalen Abkommen zur Einhaltung von Menschenrechten unterzeichnet und unterhält mit einigen Ländern – so auch mit den USA – einen so genannten Menschenrechtsdialog. Angesichts der politischen Realität im Land drängt sich allerdings der Eindruck auf, dass all diese Maßnahmen nur dazu dienen sollen, Chinas internationales Ansehen zu verbessern. In der Substanz bleibt die Regierung bei ihrem harten Kurs, in dem sie die einzige Möglichkeit sieht, Ruhe und Ordnung und letztlich ihre eigene Machtbasis aufrechtzuerhalten.

Die wirtschaftlichen Erfolge der Volksrepublik können sich indes sehen lassen. Das durchschnittliche jährliche Wachstum des Bruttoinlandsprodukts lag in den Jahren 1990-98 bei 11,2 %. Damit liegt die Volksrepublik weit vor den ostasiatischen Tigerstaaten Südkorea (6,1 %) und Taiwan (6,5 %) und noch deutlicher vor Japan (1,5 %).3 Schätzungen des IMF zufolge liegen die Wachstumsraten für das Jahr 2001 bei 7,3 %, das ist höher als die Rate aller wichtigen Industrieländer weltweit. Der Vergleich des jährlichen Pro-Kopf-Einkommens führt indes zu einem anderen Bild. In der Volksrepublik liegt es bei 750 US-$, in Japan bei 32.350, in Südkorea bei 8.600 und in Taiwan bei 13.325 US-$. Es ist allerdings deutlich höher als das Pro-Kopf-Einkommen vieler »Entwicklungsländer« in Asien. Als Beispiele seien hier Indien (440 US-$), Vietnam (350 US-$) und Kambodscha (250 US-$) genannt. Die Höhe des Pro-Kopf-Einkommens lässt jedoch wenig Rückschlüsse über die Einkommensverteilung zu. Angesichts der wachsenden Armut vieler Teile der Landbevölkerung, der Arbeitslosen und der Beschäftigten in weniger erfolgreichen Branchen oder Regionen ist zu erwarten, dass sich das Wohlstandsgefälle zwischen Arm und Reich weiter vergrößert. Damit werden auch die sozialen Spannungen zunehmen.Die asiatische Finanzkrise von 1997 traf China bei weitem nicht so hart wie andere Länder der Region. Sie blieb jedoch nicht völlig ohne Auswirkungen auf die chinesische Wirtschaft. So gingen die Exportraten in andere asiatische Länder drastisch zurück und der Zufluss ausländischer Investitionen verringerte sich erheblich. Hinzu kamen besonders in den letzten Jahren eine schwache Inlandsnachfrage bei sinkenden Preisen sowie eine Reihe von strukturellen negativen Faktoren wie der defizitäre staatliche Sektor und die technisch gesehen insolventen Staatsbanken.4Chinas Außenbeziehungen bewegen sich in dem Spannungsfeld von Konflikt und Kooperation, zumindest was die Beziehungen zu seinen unmittelbaren Nachbarn in Südostasien anbelangt.5 Während China in einer ganzen Reihe von Institutionen, informellen und formellen Dialogforen mit den zehn südostasiatischen Staaten eingebunden ist, ist die Liste von bilateralen Konfliktpunkten zu vielen der südostasiatischen Staaten lang.

Historisch gesehen war das Verhältnis Chinas zu seinen südostasiatischen Nachbarn schwierig. China betrachtet die Region als traditionell zu ihrer Einflusssphäre gehörend. Die südostasiatischen Länder hingegen reagieren empfindlich auf die Versuche Beijings eine dominierende Rolle in der Region zu spielen. Kompliziert wurden die Beziehungen zusätzlich durch den Umstand, dass in den meisten südostasiatischen Ländern größere chinesische Minderheiten leben, die lange Zeit als »Fünfte Kolonne Beijings« galten und generell Ressentiments hervorriefen. Die Reaktionen darauf (und sicher auch verursacht durch Sozialneid, den die durchweg wohlhabenden Chinesen hervorrufen) weisen das gesamte Spektrum von Diskriminierungen über Verfolgungen bis hin zu Pogromen auf. In der heißen Phase des Kalten Krieges unterstützte die Volksrepublik finanziell und moralisch die in den Ländern operierenden kommunistischen Guerillabewegungen, was zu einer Verschärfung dieses Konflikts führte. Beide Seiten versuchen heute, ihre Beziehungen auf eine kooperative Grundlage zu stellen.

Die Beziehungen zwischen China und der ASEAN haben sich nicht nur stabilisiert, sondern sie bewegen sich in verschiedenen Bereichen in Richtung einer stärkeren Institutionalisierung. Bereits jetzt gibt es neben der Mitgliedschaft Chinas im ARF (ASEAN Regional Forum) eher informelle Foren, in denen die ASEAN-Staaten auf Minister- oder Gipfelebene regelmäßig mit ihren chinesischen Amtskollegen zusammentreffen. Dies sind das ASEAN-Plus-Drei-Treffen (gemeinsam mit Japan und Südkorea), die ASEAN-China-Gipfeltreffen und das ASEAN-China-Treffen über einen »Code of Conduct« im Südchinesischen Meer. Zusätzlich hat China die Errichtung einer Freihandelszone zwischen ASEAN und China vorgeschlagen. Damit will die chinesische Führung die Besorgnis der ASEAN-Staaten zerstreuen, dass die zukünftige Mitgliedschaft Chinas in der WTO negative ökonomische Folgen in der Region mit sich bringen könnte. Ferner wird darüber nachgedacht, die ASEAN-Plus-Drei-Gipfeltreffen stärker zu formalisieren und sie in ein ostasiatisches Gipfeltreffen umzuwandeln. An dieser Serie multilateraler Aktivitäten zeigt sich eine gewandeltes außenpolitisches Profil Chinas, das lange Zeit auf rein bilateralen Kontakten bestanden hatte.

In den bilateralen Beziehungen zeigt sich jedoch deutlicher das Konfliktpotenzial, das zwischen China und einzelnen Staaten der Region besteht. Im Wesentlichen sind es hier drei Bereiche, in denen die Volksrepublik ihre Interessen gegenüber den südostasiatischen Staaten durchzusetzen sucht:

  • die ideologische Differenz zwischen China und Vietnam und die daraus resultierende Konkurrenz um Einflussnahme in Laos und Kambodscha,
  • der Territorialkonflikt im Südchinesischen Meer
  • und das Problem der Falun Gong-Sekte.

Die Beziehungen zu Vietnam haben sich mit der Unterzeichnung einer Vereinbarung über militärischen Austausch und verstärkte Zusammenarbeit in sicherheitspolitischen Fragen weiter entspannt. Grundlage hierfür war die Unterzeichnung eines Abkommens über die Demarkation des maritimen Territoriums im Golf von Tonkin. Eine Einigung über die seit Jahrzehnten umstrittenen Territorialansprüche kann als historischer Meilenstein gewertet werden. Trotz dieser Annäherung wird in der Politik Chinas gegenüber Kambodscha und Laos deutlich, dass China den vietnamesischen Einfluss zurückdrängen will um sich selbst ein stärkeres Mitspracherecht in der Region zu sichern und so seinen historisch begründeten Hegemonialanspruch zu unterstreichen. In der Strategie zur Umsetzung dieser Ziele setzt China vorrangig auf wirtschaftliche Mittel.

Kambodscha zählt zu den Empfängern der höchsten Entwicklungshilfe, die China anderen Staaten gewährt. Und im Gegensatz zu den westlichen Geberländern, die ihre Hilfsleistungen beispielsweise an die Einhaltung bestimmter Menschenrechtsstandards knüpfen, stellt China keine derartigen Bedingungen. Mit diesen großzügigen Hilfsleistungen verbindet China die Erwartung, die enge Bindung der Hun-Sen-Regierung an Vietnam zu lockern.6

Wirtschaftliche Mittel setzt China auch in Laos ein, in dessen regierender kommunistischer Partei (Lao People’s Revolutionary Party, LPRP) offensichtlich ein Flügelkampf zwischen den pro-chinesischen und den pro-vietnamesischen Fraktionen ausgetragen wird. 1999 beispielsweise, als in Laos eine Wirtschaftskrise drohte, gewährte China zinsfreie Darlehen und andere Hilfsleistungen, um die laotische Wirtschaft zu stabilisieren.

Auf politischer Seite betont China immer wieder seine Unterstützung für die laotische Regierung in ihrem Kampf gegen Regimegegner, zu denen hauptsächlich Angehörige der Hmong-Minderheit gehören. Zu diesem Zweck fördert es die Modernisierung der laotischen Armee besonders für Aufgaben der Aufstandsbekämpfung. An angekündigten Veränderungen in der politischen Führung lässt sich eine Dominanz des pro-chinesischen Flügels erkennen7, so dass die chinesischen Bemühungen hier bereits die ersten Erfolge zeitigen.

Im politischen Bereich hat es China in Kambodscha wesentlich schwerer. Zwar gibt es starke, bis weit in die Geschichte zurückreichende Animositäten gegenüber Vietnam, aber besonders in den letzten Jahren wird China von Teilen der Bevölkerung wegen Beijings jahrelanger Unterstützung für das Terrorregime der Khmer Rouge angeklagt. Die Forderungen an China reichen von einer öffentlichen Entschuldigung bis hin zu Entschädigungen für die Opfer. Die chinesische Regierung nimmt diese Forderungen nicht zur Kenntnis und übt statt dessen Druck auf die Regierung in Phnom Penh aus, ein internationales Straftribunal zur Untersuchung der Khmer-Rouge-Verbrechen zu verhindern. China befürchtet, auf einem solchen von den Vereinten Nationen geforderten Tribunal für seine Unterstützung der Khmer Rouge zur Rechenschaft gezogen zu werden. Anders als in Laos, wo China an ideologische Gemeinsamkeiten mit der dort regierenden kommunistischen Partei anknüpfen kann, handelt es sich bei Kambodscha um einen Staat auf dem Wege der Demokratisierung. Chinas Bemühungen um Einflussnahme sind deshalb politische Grenzen gesetzt.

Auf die im Südchinesischen Meer gelegenen Spratly-Inseln (wobei es sich vielfach nur um Riffe handelt) erhebt China territoriale Ansprüche. Teile der Inselkette werden jedoch auch von Vietnam, Taiwan, den Philippinen, Malaysia und Brunei beansprucht. Die Inseln liegen in einem strategisch wichtigen Gebiet und verfügen außerdem über einen großen Fischreichtum. Vermutet werden ferner Erdöl- und Erdgasvorkommen. Völkerrechtlich eindeutig lassen sich die sich überlappenden Gebietsansprüche nicht klären. Die Volksrepublik hatte lange Zeit darauf bestanden, nur auf bilateraler Ebene über die Inseln zu verhandeln. Seit einigen Jahren finden jedoch multilaterale Verhandlungen im Rahmen des ARF, des »Code of Conduct«-Forums und der von Indonesien initiierten Workshops statt.

Ein entscheidender Durchbruch ist trotz der Entwicklung unterschiedlicher Konfliktlösungsmodelle bislang nicht erzielt worden. Immer wieder belasten Zwischenfälle die Beziehungen zwischen China und den anderen Anspruch erhebenden Staaten (mit Ausnahme Bruneis). In den letzten Jahren betraf dies insbesondere die Beziehungen zu den Philippinen. Zu den Zwischenfällen gehörten illegaler Fischfang, in letzter Zeit auch zunehmend Drogenschmuggel durch chinesische Banden, in den nach Einschätzung philippinischer Politiker auch Angehörige der chinesischen Volksbefreiungsarmee verwickelt sind. Regelmäßig werden darüber diplomatische Protestnoten ausgetauscht. Die neue philippinische Präsidentin Arroyo bemüht sich gegenwärtig, den Konflikt zu entschärfen und die Beziehungen zu China grundlegend zu verbessern.

Die Falun-Gong-Sekte, die China zu einem »bösen Kult« erklärt hat, ist für die Volksrepublik nicht nur ein innenpolitisches Problem. Die Sekte hat in den chinesischen Minderheiten anderer Länder weltweit tausende von Anhängern, die regelmäßig gegen die Verhaftung von Glaubensbrüdern durch die chinesischen Behörden protestieren. China wiederum übt erheblichen Druck auf die jeweiligen Länder aus, Falun Gong ebenfalls zu verbieten, was diese Staaten als Einmischung in die inneren Angelegenheiten und als Verstoß gegen das Recht der Religionsfreiheit auf das Schärfste zurückweisen. In Südostasien wird diese Auseinandersetzung besonders mit Thailand ausgetragen. Der thailändische Premierminister Thaksin hat erklärt, dass dieser Konflikt nicht nachhaltig die chinesisch-thailändischen Beziehungen belasten sollte. Gegenwärtig scheint sich aber eher eine Eskalation anzubahnen, denn die chinesische Regierung drohte mit Einfuhrbeschränkungen für thailändische Agrarprodukte als Vergeltung für die unnachgiebige thailändische Haltung.

Die Beziehungen zwischen China und Südostasien ergeben ein ambivalentes Bild. China ist darum bemüht, seinen Einfluss in der Region zu vergrößern. Begünstigt wird dieses Ziel durch die Asien-Politik der neuen US-amerikanischen Regierung unter George W. Bush. Aus Sicht der meisten südostasiatischen Staaten hat die Regierung weder ein kohärentes Konzept noch ein artikuliertes Interesse, sich stärker in dieser Region zu engagieren. Dennoch können Jahrzehnte und teilweise Jahrhunderte alte Animositäten und ideologische Differenzen nicht einfach überwunden werden. Hinzu kommt, dass viele südostasiatische Staaten in der Modernisierung der chinesischen Streitkräfte und in der konfrontativen Politik Beijings im Spratly-Konflikt Anzeichen dafür sehen, dass China eine Bedrohung für die Sicherheit und Stabilität in der Region darstellen könnte. Vertrauensbildende Maßnahmen, wie sie etwa im Rahmen des ARF vereinbart werden, können diese Wahrnehmung allenfalls schrittweise abbauen.

An den innen- und außenpolitischen Problemen Chinas wird sichtbar, dass wirtschaftliche Erfolge allein nicht ausreichen um das Land zu stabilisieren und ihm einen gleichberechtigten Platz neben anderen Großmächten in der internationalen Gemeinschaft zu sichern.

Anmerkungen

1) amnesty international, Jahresbericht 2001.

2) Far Eastern Economic Review, 13.4.00, S. 24f. »Hear Our Prayer«.

3) Zahlen aus Asia Yearbook 2001 des Far Eastern Economic Review.

4) Vgl. Margot Schüller: VR China, in: Wirtschaftshandbuch Asien-Pazifik 1999/2000, S. 121-151 (128).

5) An dieser Stelle soll nur auf diesen Eckpunkt der chinesischen Außenbeziehungen eingegangen werden, da die anderen wichtigen Beziehungen in Einzelbeiträgen dieses Heftes ausführlich behandelt werden.

6) Premierminister Hun Sen, ein früheres Mitglied der Khmer Rouge, war in den siebziger Jahren nach Vietnam geflohen und im Zuge der vietnamesischen Okkupation Kambodschas 1979 von Hanoi als Premierminister in Phnom Penh eingesetzt worden.

7) Charlyle A. Thayer: Regional Rivalries and Bilateral Irritants, in: Comparative Connections, 3rd Quarter 2000 (www.csis.org/pacfor/cc/0101Qchina_asean.html).

Dr. Susanne Feske ist Professorin für Politwissenschaften an der Universität Münster mit dem Schwerpunkt Politik Südostasiens

Partnerschaft oder Konfrontation

Partnerschaft oder Konfrontation

George W. Bushs Chinapolitik

von Jörn Brömmelhörster

Der Wechsel von Demokraten zu Republikanern wie auch von Republikanern zu Demokraten beginnt in den USA in der Regel mit einer Revision der bisherigen Politiken. Von der alten Regierung erlassene »policies« werden aufgekündigt und ruhen, bis neue formuliert sind. Mit dem Regierungsantritt von George W. Bush am 20. Januar 2001 war es in Bezug auf China nicht anders. Die unter dem Demokraten Clinton erlassene China-Politik, die eine strategische Partnerschaft vorsah, wird erst einmal überarbeitet. Ob eine gänzlich andere Politik das Ergebnis sein wird, ist noch nicht entschieden. China, das steht in jedem Fall bereits fest, wird für die USA politisch, ökonomisch und militärisch immer wichtiger. Umso schwieriger ist es auch, eine Politik zu formulieren, die allen Facetten gleichmäßig gerecht wird. Entscheidend ist, dass das Wechselspiel zwischen US-amerikanischer Missionssucht auf der einen Seite und chinesischem Stolz auf der anderen Seite nicht aus der Balance gerät.
In den ersten Wochen der zweiten Bush-Administration haben sich außenpolitisch besonders die Militärs Gehör verschafft. Verteidigungsminister Rumsfeld kämpft weiterhin für die Umsetzung eines Raketenschutzschildes, auch wird an einer radikalen Neufassung der bisherigen Militärdoktrin gearbeitet; statt des bisherigen »Zwei-Kriege-Prinzips« soll der strategische Fokus stärker nach Asien ausgerichtet werden. Bushs kritische Haltung zu China führte zu der Festsetzung regelmäßiger Spionageflüge vor der chinesischen Küste. Weltweit wurde dieses Vorgehen zur Schau gestellt, als China sich dieser Politik der Stärke widersetzte, was letztlich zum Verlust eines chinesischen Abfangjägers, aber auch zur Notlandung eines US-Spionageflugzeugs führte. Diese kritische Situation wurde, und das sei an dieser Stelle vorweggeschickt, besonnen gelöst und führte nicht zur Eskalation.

Was leitet die Chinapolitik der USA?

Gemeinhin werden Politiken durch Fakten, Verträge und Zielvorstellungen geprägt. Die Fakten, die während der Clinton-Regierung Geltung erlangten, trugen der gewachsenen Rolle Chinas seit Beendigung des Kalten Krieges Rechnung. Mit über 1,2 Mrd. Menschen ist China das bevölkerungsreichste Land der Erde und besitzt nach Russland und Kanada die größte Landmasse. Zudem verfügt China über ein Nukleararsenal und ist eine aufstrebende Militärmacht, der bezüglich regionaler Stabilität eine Schlüsselrolle zufällt. Darüber hinaus gehört China zu den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und besitzt ein Vetorecht, es kann damit wichtige Resolutionen, z.B. zu internationalen Militäreinsätzen oder zu regionalen Konflikten, unterstützen oder zu Fall zu bringen. Letztlich weist China seit seiner Öffnungspolitik Ende der 1970er Jahre ein beispielloses Wachstum auf; im beginnenden 21. Jahrhundert wird es zu den wichtigsten Wirtschaftsmächten aufsteigen (U.S. Department of State, 1997: 1).

Vertragliche Bindungen zu China wurden 1972 mit dem sog. Shanghai Communique eingeleitet. Hiermit nahm die USA die Ein-China-Politik an, womit zum Ausdruck gebracht wird, dass »beide Chinas« jenseits der Taiwan-Straße nur ein (vereinigtes) China kennen und dass Taiwan Teil dieses Gesamtgebildes ist. Mit anderen Worten wurde von Präsident Nixon eine Weltsicht angenommen, die in Beijing und Taipeh sehr unterschiedlich verstanden wird. 1979, nachdem China sich der Öffnungspolitik verschrieben hatte, wurde auch die Beziehung zu Beijing von den Vereinigten Staaten neu bestimmt. Gebunden durch die Ein-China-Politik brachen die USA die diplomatischen Beziehungen zu Taiwan ab und nahmen sie zu Beijing auf. In einem gemeinsamen Communiqué erklärten sich China und die USA damit einverstanden, dass die USA auch weiterhin wirtschaftliche, kulturelle und andere inoffizielle Kontakte zu Taiwan unterhalten. In der Folge rückte die Volksrepublik China anstelle der Republik China auf Taiwan als Ständiges Mitglied in den Sicherheitsrates der Vereinten Nationen auf.

Präsident Clinton umfasste seine Zielvorstellungen im September 1993 als eine Politik des »comprehensive engagement«. Ziel waren konstruktive Beziehungen zu einem starken, stabilen, offenen, wohlhabenden China, welches in der internationalen Gemeinschaft eingebunden ist und sich als verantwortungsvolles Mitglied verhält. Erstens sollte eine konstruktive Teilnahme der Chinesen im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erreicht werden um der Beilegung regionaler Konflikte und der weltweiten Förderung von Frieden und Sicherheit zu dienen. Zweitens sollte eine aktive Teilnahme der Chinesen an multilateralen Abkommen gegen die Verbreitung und Herstellung von Massenvernichtungswaffen bewirkt werden. Drittens ging es um die Förderung von Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, die sich mit US-Interessen decken. Viertens sind internationale Standards von Menschenrechten und Rechtstaatlichkeit zu respektieren. Fünftens wird die Kooperation bei globalen Themen gesucht, insbesondere im Kampf gegen Menschen- und Rauschgiftschmuggel sowie im Schutz der Umwelt (U.S. Department of State, 1997: 2f).

Neben diesen speziell auf China gerichteten Vorstellungen ist die Kenntnis der US-Sicherheitspolitik sehr wichtig. Traditionell bedeutet Sicherheitspolitik »Verteidigungspolitik«, die als militärische Vorkehrungen eines Staates zum Schutze seines Territoriums und seiner Bürger gegen Bedrohung und Waffengewalt von außen verstanden wird. Sicherheit wird in vielen Staaten mittlerweile weiter gefasst, so dass sich die staatliche Sicherheit nicht nur auf das eigene Gebiet beschränkt. Seit Beendigung des Kalten Krieges gehen die sicherheitspolitischen Vorstellungen der USA am weitesten. Dazu gehören die Erhöhung der Sicherheit (enhance security), die Wohlstandsförderung (promote prosperity) und die Förderung der Demokratie (promote democracy). In diesem Beispiel wird nicht nur deutlich, um was für breit gefasste Anliegen das US-amerikanische Sicherheitsbedürfnis kreist, sondern auch dass viele dieser Ziele weit entfernt vom Mutterland umzusetzen sind. Bis 1994 hieß das zweite Ziel nicht Wohlstandsförderung im globalen Rahmen, sondern Wohlstandsförderung im Inland (prosperity at home)! (The White House, 1997) Es ist in diesem Zusammenhang nicht falsch, von einer missionarischen Sicherheitspolitik zu sprechen, deren Umsetzung natürlich dann auf Schwierigkeiten stößt, wenn Länder andere Wertvorstellungen pflegen und wenn sie – aus welchen Gründen auch immer – Wert auf eigene Wege legen.

Wichtige Ereignisse

In Clintons Amtszeit fielen insbesondere fünf Ereignisse, die Aufschluss über das chinesisch-amerikanische Verhältnis geben. (Der Katalog ließe sich ausweiten, da auch wichtige sicherheitspolitische Resolutionen oder auch Chinas Bemühen um Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation direkt vom US-chinesischen Verhältnis abhängen.)

Ein Ereignis ist das regelmäßige Ritual, ob die Chinesen die Meistbegünstigungsklausel erhalten, um günstiger, d.h. unter normalen Bedingungen, in die Vereinigten Staaten exportieren zu können. In der Clintonzeit wurde die Meistbegünstigung jedes Jahr erteilt, doch gab es wiederholt Probleme, ob eine Gewährung mit anderen US-amerikanischen Interessen verquickt werden sollte oder nicht. Bis 1994 war die Erzielung der Meistbegünstigung auch an Fortschritte zur Einhaltung der Menschenrechte in China geknüpft. Die Genehmigung der Meistbegünstigungsklausel folgte später direkt dem Motto: erst der Handel bzw. der Wirtschaftsaufbau und dann die Menschenrechte.

Sicherheitspolitisch ist zweitens das Vordringen Chinas ins südchinesische Meer beachtenswert, da dieses Gebiet vollständig von China und anteilmäßig von allen Anrainerstaaten beansprucht wird. Für besondere Aufregung sorgte 1995 der Aufbau einer chinesischen Kommunikationsstation auf dem Mischief Reef, das innerhalb der 200-Meilen-Zone vor den Philippinen liegt und ca. 1000 Seemeilen von Chinas Küste entfernt ist. Die Gebiete um die beiden Inselgruppen Spratley und Paracel sind rohstoff- und fischreich und strategisch äußerst wertvoll, da durch sie die direkte Schifffahrtslinie aus der Malakka-Straße zu den japanischen Inseln führt. Unscharfe Grenzziehungen sind häufig Grundlage militärischer Auseinandersetzungen, einer Schaffung von vollendeten Tatsachen wird gegenwärtig in verschiedenen Gesprächs- und Verhandlungsforen (z.B. ASEAN Regional Forum) entgegengewirkt. Für die USA ist die friedliche Beilegung des Territorialdisputs im südchinesischen Meer neben der Eindämmung der nordkoreanischen Nukleartechnologie eines der wichtigsten sicherheitspolitischen Ziele in Ostasien.

Das dritte Ereignis war der Besuch des taiwanesischen Staatschefs Lee Teng-hui 1996 in den USA, wo er seinen ehemaligen Studienort, die Universität Cornell, privat besuchte. Für die Chinesen war dieser Besuch ein Affront gegen die Ein-China-Politik. Die VR China setzte daraufhin ein umfangreiches Manöver an, das zu Hafenschließungen auf Taiwan führte. Die USA antworteten auf diese Überreaktion mit einer Demonstration der Stärke. Sie entsandten zwei Flugzeugträger, von denen einer auch die Taiwanstraße durchfuhr. Für China war es ein untrügliches Signal, dass militärisches Vorgehen, welches die regionale Stabilität in diesem Raum gefährdet, nicht teilnahmslos von den USA hingenommen wird.

Ein drittes, äußerst kontrovers diskutiertes Ereignis war die US-amerikanische Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad während des Kosovo-Krieges. Die Chinesen wandten sich gegen eine Intervention, weil diese für sie eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Jugoslawiens bedeutete. Auch gehörte China zu den Ländern, die die Jugoslawien auferlegten Embargos umgangen haben. Laut amerikanischer Auffassung war die Zerstörung der chinesischen Botschaft ein Versehen, da Karten vertauscht wurden. Fakt ist allerdings auch, dass es sich um »chirurgische« Treffer handelte, die die Kommunikationszentrale der Botschaft zielgenau zerstörten. Falls es Absicht war, dann war es sehr gefährlich, denn in der Geschichte wurden schon durch kleinere Ereignisse größere Konflikte ausgelöst. Die Protestwelle in China nach der Bombardierung zeigte, wie schnell ein Anti-Amerikanismus dort eine Massenbasis finden kann.

Das wohl wichtigste Ereignis während der Amtszeit Clintons war die Erkenntnis, dass China die USA massiv und erfolgreich nach Waffentechnologien ausspioniert hat. Für China sind diese Erkenntnisse sehr wichtig, da das Land in den meisten Technologiebereichen den Vereinigten Staaten 20 bis 30 Jahre hinterher hängt (Godwin, 1997: 39, Cox Report, 1999). Für die USA kam das Ausmaß der Spionage überraschend, es wurde erst 1995 durch einen chinesischen Überläufer bekannt. China hat z.B. Zugang zum Design von kleineren Waffenköpfen erhalten. Mit diesen Erkenntnissen lassen sich Technologien entwickeln, die Abwehrschilde durchbrechen können (Cox Report, 1999: S 72ff). Schon bestehende »pockets of excellence« können somit ausgebaut werden. Es sei in diesem Zusammenhang auch an die UdSSR erinnert, wo 1979 mehr als die Hälfte der Rüstungsprojekte auf Forschungen und Technologien aus dem Westen beruhten (Andrew; Mitrokhin, 1999: S. 284). Das Potenzial für China kann sogar erheblich größer sein, zum einen ist der militärtechnologische Abstand zwischen den beiden Ländern wesentlich größer, zum anderen sind in der Forschungslandschaft der USA besonders viele Chinesen sehr erfolgreich. Ein Großteil der ehemaligen Studenten ist nicht zurückgekehrt und stattdessen US-Staatsbürger geworden. Bedenkt man die perfiden Methoden der Rekrutierung des KGB, dann ist davon auszugehen, dass ein ähnlich autoritäres Einparteienregime wie das der VR China ähnlich vorgeht.

Chinapolitik in der Bush-Welt

Gleich zu Beginn seiner Regierungszeit zeigte Bush, dass er gewillt ist, das Militär zur Machtdemonstration einzusetzen. Nach der Wiederaufnahme von Spionageflügen unmittelbar vor Chinas Küste kam es im April 2001 zu einem Zwischenfall, als ein chinesischer Abfangjäger mit einem US-Aufklärungsflugzeug kollidierte. Das Spionageflugzeug musste auf Hainan notlanden, die US-amerikanische Mannschaft wurde nach Tagen von den Chinesen ausgeliefert und das Flugzeug wurde, nach eingehender Untersuchung, an Bord einer russischen Antonov verladen und erreichte am 4. Juli (!) US-amerikanisches Territorium. Für die USA sind die Flüge nicht nur zur Nachrichtengewinnung wichtig, sie dienen vor allem der Projektion US-amerikanischer Präsenz, um ein eigenmächtiges chinesisches Vordringen besonders in dem Gebiet, in dem es zum Zwischenfall kam, zu unterbinden. Der Konflikt wurde, insgesamt gesehen, besonnen von beiden Seiten gelöst. Der aufkeimende Anti-Amerikanismus, der sich in chinesischen Zeitungsüberschriften wie „Amerikanisches Flugzeug überfällt China“ und besonders durch den Aufbau des abgestürzten chinesischen Piloten, Wang Wei, zum Nationalhelden niederschlug, konnte von der Regierung gut dosiert werden. An einer Eskalation war – und das zeigte der Vorfall – beiden Ländern nicht gelegen.

Positiv für das amerikanisch-chinesiche Verhältnis ist auch zu werten, dass es Beijing nun im zweiten Anlauf geschafft hat, Austragungsort der Olympischen Spiele zu werden. Diese Entscheidung wurde möglich, weil die US-Regierung nicht Menschenrechtsfragen – für die Chinesen »Einmischung in innere Angelegenheiten« – mit der Austragung von olympischen Spielen in den Vordergrund rückte.

Was wird nun so anders werden unter George W. Bush? Eigentlich nicht viel, da die bisherige US-amerikansiche Außenpolitik durch Kontinuität gekennzeichnet ist. Geleitet wird sie selbst in Konfliktphasen primär von Wirtschaftsinteressen (LaFaber, 1994; Hacke, 2000). Der weitere Aufbau des Handels ist auch in Chinas Interesse. Die Chinesen sind sich sehr bewusst, wie erfolgreich Taiwan und die so genannten Übersee-Chinesen sind. Diesen Erfolg will auch China. In den letzten 20 Jahren wuchs Chinas Volkswirtschaft weltweit am schnellsten. Eine Vervierfachung des Pro-Kopf-Einkommens konnte erzielt werden, doch ist der Abstand zum anderen China, zu Taiwan, immer noch beträchtlich. In 2000 erreichte Taiwan ein Pro-Kopf-Einkommen von 13.906 US- Dollar, während es in der VR China bei 872 US-Dollar lag. (Economist Intelligence Unit, May 2001).

Bushs Rhetorik ist allerdings eine andere als Clintons. Die plumpe »schwarz-weiß« oder »good boy-bad boy«-Logik, die letztmals Ronald Reagan umsetzte, findet sich auch bei George W. Bush. Bush propagiert ein starkes Amerika. Ökonomisch und militärisch ist es das schon, doch scheint es Bushs erklärtes Ziel, besonders im militärischen Bereich diesen Abstand weiter zu vergrößern. Auf die USA entfielen in 2000 rd. 38 Prozent der weltweiten Militärausgaben.

Gegen wen richten sich diese gewaltigen Militärausgaben eigentlich, wenn selbst die NATO-Allianz immer größer wird und wenn die NATO bereits heute 63 Prozent der weltweiten Militärausgaben tätigt? In diesem Zusammenhang ist auch die aktuelle Diskussion um den Aufbau eines Raketenabwehrschildes zu sehen. Gegen wen soll sich der Schutzschild eigentlich richten? Wird damit nicht für die USA ein falsches Sicherheitsgefühl aufgebaut, welches nur Irritationen in anderen Ländern und insbesondere in China auslöst?

Verbunden mit dem Aufbau des Raketenschutzschildes ist besonders Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der schon unter Reagan einer der maßgeblichen Verfechter der »star wars«-Pläne war. Bislang ist der Plan an der technischen Machbarkeit, den exorbitanten Kosten und dem Wegbrechen des Feindes (des Warschauer Paktes) gescheitert. 1998, unter Clinton, wurde ein erneuter Anlauf gewagt, das Feindbild wurden jetzt die Schurkenstaaten (später euphemistisch als »states of concern« bezeichnet), deren Raketenpotenzial größer sein soll als vorher angenommen. Die sog. Rumsfeld Kommission empfahl deshalb den Aufbau eines nationalen Schutzschildes (National Missile Defense, NMD). Gegen die »Schurken« wird der Erfolg des Systems bezweifelt, weil sich diese auch, zur Überwindung der militärischen Suprematie der USA, asymmetrischer Kriegsführung (z.B. terroristischer Angriffe) bedienen können. In seiner jetzigen Ausgestaltung richtet sich der Schild weniger gegen Russland, da dieses durch die schiere Anzahl von Langstreckenwaffen den Schutzschild leicht durchbrechen kann. China verfügt allerdings noch nicht über genügend Langstreckenwaffen, um den geplanten Schild zu durchbrechen. Gelingt es den Vereinigten Staaten, NMD wirkungsvoll zu installieren, dann ist es nur noch ein kleiner Weg zu regionalen Varianten (Theater Missile Defense, TMD). Mit letzteren wird China erst recht herausgefordert, da der Einsatz auch zum Schutz Taiwans genutzt werden kann. Kommt es zur Umsetzung, dann wird nicht nur der 1972er ABM-Vertrag obsolet, dann droht eine neue Aufrüstungsspirale. Rüstet China nach, dann kann auch Gleiches von den Nachbarn Indien und Pakistan erwartet werden. Die Folge wird für alle betroffenen Länder sein, dass die Rüstungsausgaben dramatisch ansteigen und den Staaten damit weniger Geld zum Wirtschaftsaufbau verbleibt.

Hierbei ist zu bedenken, dass Länder, die weniger Geld für die Entwicklung zur Verfügung haben, eher die nationalistische Karte (siehe schon Pakistan) spielen werden, um sich den Rückhalt in der Bevölkerung zu sichern. Im Falle Chinas kann dieser Nationalismus, wie die Beispiele des Bombardements der Botschaft und der Zwangslandung des US- Spionageflugzeugs zeigen, sehr schnell eine Massenbasis gewinnen. Dass die Länder dadurch stabiler und kalkulierbarer werden, ist zu bezweifeln.

Im Falle Chinas ist zu beachten, dass schon jetzt zahlreiche innere Probleme vorliegen, die durchaus zu einer Destabilisierung führen können. Innenprobleme sind z.B. zunehmendes Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land und von der Küste zum Landesinneren. Gelingt die Disparitätenverringerung oder kommt es zu neuen Migrationen? Wie entwickelt sich die städtische Arbeitslosigkeit, wie die Infrastruktur? Welche Auswirkungen hat die Umweltauslastung (z.B. Wasserknappheit im Norden) bzw. -verschmutzung (höhere Krankheitskosten, höhere Belastung der Sozialsysteme)? Wer trägt die Kosten der hohen Korruption? Auf eine Kurzformel gebracht, je mehr China für seine Rüstung ausgeben wird oder muss, desto weniger steht für die Lösung der inneren Probleme zur Verfügung. Können diese aber nicht gelöst werden bzw. macht sich innere Unruhe und artikulierte Unzufriedenheit breit, dann besteht die altbekannte Gefahr, dass man »äußere Anlässe« nutzt, um von den inneren Schwierigkeiten abzulenken.

Bei aller Rhetorik ist nicht zu erwarten, dass Bush eine Politik des Kalten Krieges für Ostasien plant. China ist konstruktives Mitglied in vielen multilateralen Organisationen, es teilt nicht immer die Meinung der USA (warum sollte es auch?), doch ist es als Handelsnation viel kalkulierbarer als Mitglieder, die ein anderes ideologisches Grundverständnis haben. China ist zwar noch immer sozialistisch und wird von einer Einheitspartei geführt, doch zeigt die nervöse Reaktion gegenüber der Falun Gong-Sekte, wie wenig man sich seiner Sache überhaupt noch sicher ist. Man fühlt sich schon als alte Dynastie, deren Ablösung in Chinas Geschichte oftmals durch Sekten- oder Bauernerhebungen eingeleitet wurde. Mit dem weiteren Wohlstand werden auch die Auslandskontakte zunehmen, ein Wertewandel ist schon seit langem in Gange. Diese Karte zu spielen ist für die USA viel erfolgversprechender als mit anachronistischen Rüstungsprojekten Destabilisierungspolitik zu betreiben, deren letztendliche Kosten und Auswirkungen unabsehbar sind.

Zeigt die US-amerikanische wirtschaftsorientierte Außenpolitik auch unter Bush Kontinuität? Sicherlich mag NMD dem amerikanischen »gun belt« endlich wieder Aufträge sichern, doch ist es ökonomisch kurzsichtig, nur das Wohl der eigenen Rüstungsindustrie im Auge zu haben. Eine Vollkostenanalyse eines Waffensystems muss auch Opportunitätskosten miteinbeziehen. Bezieht man letztere auch auf Folgen des Impulses zur Wiederaufnahme der Rüstungsspirale, dann kann der Plan auch ökonomisch nicht gerechtfertigt werden. Die Bush-Administration muss sich darüber klar werden, dass es wichtig ist die Gesamtkosten von NMD zu ermitteln, denn sonst ist ihre Außenpolitik nicht wirtschaftsorientiert.

Literatur

Andrew, Christopher und Vasili Mitrokhin (1999): The Metrokhin Archive, London, Allen Lane.

Commission to Assess the Ballistic Missile Threat to the United States (1998): Report of the Commission to Assess the Balistic Missile Threat to the United States, Washington, Government Printing Office.

Cox Report (1999): US National Security and Military/Commercial Concerns with the People’s Republic of China, Washington.

Economist Intelligence Unit (May 2001).

Godwin, Paul (1997): Military technology and doctrine in Chinese military planning: compensating for obsolescence. In Eric Arnett (Hrsg.), Military capacity and the risk of war: China, India, Pakistan and Iran. Oxford: Oxford University Press. S. 39-60.

Hacke, Christian (2000): Zur Weltmacht verdammt – Amerikanische Außenpolitik von Kennedy bis George W. Bush, Bonn.

LaFaber, Walter (1994): U.S. Foreign Policy At Home And Abroad – 1750 To The Present, New York.

The White House (1997): A National Security Strategy for A New Century, May 1997.

U.S. Department of State (1997): Fact Sheet by the Bureau of East Asian and Pacific Affairs on U.S.-China Relations, Washington, 20 June 1997.

Dr. Jörn Brömmelhörster, Ökonom und Sinologe, leitet das »International Military Expenditure Project (IMEP)« in Bonn, welches internationale Militärausgaben disaggregiert vergleichbar macht