Ressourcenkonflikte zwischen China und Indien

Ressourcenkonflikte zwischen China und Indien

von Saskia Hieber

Berichte über die Konkurrenz und das gegenseitige »Ausbooten« chinesischer und indischer Energiefirmen im Persischen Golf oder in Afrika haben Diskussionen über mögliche Ressourcenkonflikte zwischen den asiatischen Großmächten befördert. Tatsächlich bewirkt der wirtschaftliche Aufstieg der asiatischen Schwellenländer einen wachsenden Rohstoffbedarf. Asiatische Firmen kaufen Gasfelder, Öllieferungen, Konzessionen, Minen, Metalle, Farmen und Landwirtschaftsprodukte auf der gesamten Südhalbkugel – gleichzeitig suchen Investoren neue Anlagemöglichkeiten.

Einerseits ist diese Entwicklung insofern potentiell problematisch, weil dies in einem größeren sicherheitspolitischen Kontext zu verorten ist und zusätzlich die »Energiekonkurrenz« mit älteren, erfolgreichen Volkswirtschaften in Asien – wie Japan – besteht, das fast 90% seiner Energie importieren muss. Strategische Planungen wie etwa Pipelinerouten und der Ausbau von Verkehrsverbindungen, Kommunikationswegen und militärischen Anlagen in den jeweiligen Nachbarländern tragen genauso zum gegenseitigen Misstrauen bei wie die historischen Feindseligkeiten zwischen China und Indien und alte Machtkonstellationen im asiatischen Raum (Indien und die Sowjetunion gegen China und Pakistan).

Andererseits dürfen die Möglichkeiten und Schritte zu regionaler Kooperation nicht unterschätzt werden. Neben bilateralen Einigungen besteht ein großes Potential, regionale und flexible Lösungen zu entwickeln. Als Beispiel sei der »Code of Conduct« der Anrainer des Südchinesischen Meeres genannt.1 Schließlich sind die Notwendigkeit wirtschaftlichen Handels und der in der Region traditionelle Pragmatismus, der eine Kooperation auch auf wenig institutioneller Ebene ermöglicht, konstruktive Merkmale.

Der politische Rahmen

Die Beziehungen zwischen China und Indien waren schlecht. Als Gründe gelten die Grenzkriege 1962 und die Konkurrenz um Einfluss in Südostasien, in der Himalayaregion und auf der Südhalbkugel. Die Territorialdispute, Atomprogramme und Rüstungsvorhaben sind weitere Belastungsfaktoren, ebenso wie die Instrumentalisierung alter Machtkonstellationen in Bezug auf Strukturen des Kalten Krieges, terroristische Bedrohungen und die Zukunft Pakistans. Ebenfalls für Misstrauen hat der Ausbau von Verkehrs- und Kommunikationswegen und militärischer Anlagen in Nachbarstaaten gesorgt. Hier ist insbesondere Myanmar zu nennen, durch das sich China einen Zugang zum Indischen Ozean verspricht. Auch Chinas Engagement in Pakistan und der Ausbau des Golf-Hafens Gwadar wurden in Neu-Delhi kritisch betrachtet. Umgekehrt trifft Indiens neue Präsenzstrategie, die nicht nur auf die eigenen Küstengewässern abzielt, sondern auf das gesamte Arabische Meer und den Indischen Ozean, auf Besorgnis in ganz Asien. Mohan Malik argumentierte 2004, dass die bilateralen Beziehungen eher von Wettbewerb als von Kooperation geprägt werden, da das Verbindende bzw. die ähnlich gelagerte Herausforderung genau das sei, was China und Indien trenne.2

Nun haben die Piratenüberfälle im Golf von Aden und vor der afrikanischen Küste neue Bedingungen und neue Notwendigkeiten der Kooperation geschaffen. Etwa zwei Drittel des Golf-Öls geht nach Asien. Asiens Volkswirtschaften sind nicht nur abhängig von Energieimporten, sondern auch von den Exportwegen, um die produzierten Güter auf die Märkte der Erde zu bringen. Die Offenhaltung und Freiheit von Seeverkehrswegen ist nirgendwo wichtiger als in Ostasien, das alleine weit über die Hälfte des Weltcontainerverkehrs ableistet. Das indische Militär hat in der Vergangenheit mehrfach Piraten nicht nur vor den eigenen Küsten, sondern auch in internationalen Gewässern bekämpft. Die Indische Marine beschreibt in ihrem »Vision Document« von 2006 etwa die Bedeutung, die ein dreidimensionaler, flexibler Ansatz für die Fähigkeit hat, im gesamten Konfliktspektrum sowohl in den eigenen Küstengewässern, als auch auf hoher See zu operieren.3

Chinas jüngstes maritimes Engagement Richtung Westen hat noch keine Tradition und steht in zeitlichem Zusammenhang mit dem Piratenüberfall auf einen chinesischen Frachter am 16. November 2008 im Indischen Ozean. Zwei Aussagen der Zeitung »China Daily« zu diesem Zwischenfall sind interessant: »Beijing ready to combat pirates« und der fast anklagende Hinweis, dass der Überfall im Verantwortungsgebiet der 5. Amerikanischen Flotte stattgefunden hatte (und nicht verhindert wurde). So kritisch das Pentagon und asiatische Nachbarn Chinas Marineaktivitäten betrachten, so erstaunlich ist es, dass Beijing nicht schon früher Schiffe entsandte. Ein entsprechendes Papier, in dem die Chinesische Regierung beispielsweise ankündigt, Auslandsinvestitionen im Rohstoffsektor nicht nur zu fördern, sondern auch zu schützen, liegt seit 2003 vor.4

Energiepolitik und Energieträger

In China und Indien bestimmen ähnliche Faktoren die Ressourcenproblematik und die Energiepolitik: Auf der Versorgungsseite stehen in beiden Ländern sehr große Kohlevorräte, deren Nutzungsausbau aus Gründen der Luftqualität aber problematisch ist; die eigene Öl- und Gasproduktion und die vorhandenen Anlagen sind nicht ausreichend. Beide Länder müssen immer mehr Öl importieren (Indien ca. 2/3 des Bedarfs, China fast die Hälfte); beide Länder verfügen über noch unerschlossene Energiereserven, diese liegen allerdings z.T. Offshore oder in anderweitig schwierig zu erschließenden geologischen Strukturen. Die Infrastrukturmängel stellen jeweils einen empfindlichem Engpass in der Sicherung der Energieversorgung dar. Beide Länder verfügen über große Wasserkraftpotentiale, die aber aufgrund von Umwelt- und anderen Bedenken nicht mehr so massiv ausgebaut werden können. Hinzu kommt, dass Wasserkraftprojekte die Beziehungen zu den im Vergleich zu Chinas und Indiens Größe immer kleineren Flussnachbarn belasten. Im Falle Chinas sind das südostasiatische Staaten; in Bezug auf Indien sind es Nepal, Pakistan und Bangladesch.

Auf der Bedarfsseite ist zu sehen: Das hohe Wirtschaftswachstum führt zu steigendem Energieverbrauch und der wachsende Transportsektor benötigt immer mehr Treibstoff. Der Wohlstand der wachsenden Mittelschicht vervielfacht den Strombedarf für Haushaltselektronik; Ineffizienz und Stromausfälle zeichneten die staatlichen Versorger aus. Die bisher zu niedrigen Verbraucherpreise haben zu Verschwendung und zu Einkommensverlusten bei den Energiefirmen geführt und die Erfolge von Sparprogrammen geschmälert. Beide Länder sind zunehmend auf Ölimporte angewiesen und haben ihren Jahres-Ölverbrauch in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt: China von 160 auf fast 370 Millionen Tonnen, Indien von 75 auf fast 130 Millionen Tonnen. Es geht auch anders – wie der Vergleich mit hochindustrialisierten und produktiven Volkswirtschaften zeigt: Japan konnte seinen Ölverbrauch in den vergangenen 10 Jahren von 268 Millionen Tonnen auf 230 Millionen Tonnen reduzieren. Das industriell hoch entwickelte Deutschland verbraucht »nur« 112 Millionen Tonnen Öl pro Jahr.5 Dies hängt unmittelbar mit den durch die Ölkrisen der 1970er Jahre entstandenen Energiesparmaßnahmen und Effizienzsteigerungen zusammen.

China ist heute nach den USA der zweitgrößte Ölverbraucher und Ölimporteur der Welt. Indien steht an sechster Stelle. Chinas Ölindustrie gehört inzwischen zu den weltgrößten Produzenten, der größte Teil der Produktion wird aber im Land selbst verbraucht. Auch Indiens Ölindustrie muss sich immer mehr um internationale Projekte und Konzessionen bemühen, um den steigenden Ölbedarf des Landes zu decken. Die großen asiatischen Energiefirmen investieren inzwischen auf dem gesamten Globus, um ihre Lieferungen, Lieferanten und Lieferrouten zu diversifizieren. Zwar fließen etwa zwei Drittel des Öls des Persischen Golfs nach Ostasien und die Zahl der »Strategischen Ölpartnerschaften« mit den Öllieferanten der arabischen Welt wächst. Doch werden zunehmend Afrika und Lateinamerika zu wertvollen Energiepartnern. Angola beispielsweise liefert seit 2006 mehr Öl nach China als Saudi-Arabien.6

Die Gasmärkte sind regionalisiert: Südostasien liefert hauptsächlich an die ostasiatischen Großabnehmer, vornehmlich an Japan; Nordafrika und Russland liefern an Europa. Japan hat die Gasnutzung früh ausgebaut, in Südostasien den weltgrößten Flüssiggasmarkt aufgebaut und gehört zu den größten Gasnutzern. Erstaunlich ist der geringe Gas-Anteil von unter 4% in Chinas Energiestruktur und etwa 8% in Indien. Dies hat industrietraditionelle Gründe (Gas wurde zur Düngemittelproduktion verwendet) und mit der fehlenden Infrastruktur zu tun. Zur Gasnutzung ist ein Leitungsnetz von der Quelle bis zum Endverbraucher notwendig, was angesichts der geographischen Ausdehnung und der politisch-strategischen Landschaft Probleme bereitet. Ungeachtet vieler Pipelinepläne und Projekte und mit Ausnahme kleiner nationaler Anschlüsse verbinden bisher keine transkontinentale Leitungen etwa China mit den reichen Gasfeldern Sibiriens oder Indien mit Iran. Russlands Gas fließt bisher fast ausnahmslos nach Westen. Bis 2015 und 2020 sollen jedoch Leitungen von Sibirien nach China und Japan gebaut werden. Ein Grund für die Verzögerungen liegt in der Frage über die Kontrolle und das Aufbringen jeweils zweistelliger Milliardensummen für diese Bauvorhaben. Indien und China sind auch im Gasbereich Konkurrenten. Nicht nur vor Indiens Westküste liegen Gasvorkommen, auch Myanmar verfügt über reiche Offshore-Felder.

China verfeuert über 1.300 Millionen Tonnen Kohle pro Jahr zur Energieerzeugung, Indien 208 Millionen Tonnen. Kohle hat in China immer noch einen Anteil von 68% an der Gesamtenergiestruktur und die chinesische Regierung hat wenig Spielraum, dieses Dilemma zu lösen, ohne den Ölanteil (ca. 20%) und damit die teuren Ölimporte zu erhöhen. In Indien liegt der Kohleanteil bei 53% und der Ölanteil am Gesamtenergieverbrauch ist mit über 30% sogar noch höher als in China. Die erneuerbaren und »sauberen« Formen (dazu gehört Atomkraft) stellen nur einen Anteil von etwa 8% in China und ca. 7% in Indien an der Gesamtstruktur.7 Auf China fällt die Hälfte des weltweiten Kohleverbrauchs; nimmt man Indien und das restliche Asien hinzu, entsteht das erschreckende Bild, dass auf Asien ca. drei Viertel des Weltkohleverbrauchs entfallen. Regelungen zur Emissionskontrolle und zum Klimaschutz müssen folglich asiatische Regierungen stärker mit einbeziehen und in Verantwortung nehmen. China steht aber vielen internationalen Vereinbarungen, z.B. über verbindliche Ziele zur Reduzierung von Emissionen, zögerlich gegenüber.8 Indien setzt sich aus Gründen der Armutsbekämpfung gegen Vereinbarungen über Emissionsreduzierungen ein. Weitere indische Interessen beinhalten die Beziehungen zu den USA, auch unter dem Gesichtspunkt des Ausbaus des indischen Nuklearprogramms.

Um die Energieversorgung zu sichern, müssen die Staaten Asiens die vorhandene Energieindustrie ausbauen, Sparmaßnahmen durchsetzen und die Nutzung aller Energieformen und -träger ausbauen.9 So hat die Verwendung von Biomasse in Asien eine gewisse Tradition, wird aber erst langsam entwickelt. Dies liegt zum einen an der Dominanz der Kohle im Versorgungssystem, an der Bedeutung von Ölprodukten für den rasant wachsenden Verkehrssektor und an Mängeln in der Infrastruktur. Wasserkraft wird überall in Asien gefördert. China hat das größte Wasserkraftpotential der Welt und wird in diesen Sektor weiter investieren – ungeachtet ökologischer, sozialer und kulturhistorischer Bedenken. Indiens große Staudammprojekte haben schon früher durch ihre rücksichtslose Durchsetzung gegenüber Einheimischen für Schlagzeilen gesorgt. Nuklearkraft spielt nur in Japan eine große Rolle für die Energiegewinnung. China will zwar in den kommenden Jahren bis zu 40 Atomkraftwerke bauen, da der Energiebedarf insgesamt jedoch so stark steigt, wird diese Energieform auch in Zukunft nur etwa 2% zur Energieversorgung beitragen. In Indien beträgt der Nuklearkraftanteil ca. 1%.

Konflikt und Kooperation im Auslandsengagement

China und – mit etwas Verspätung – Indien betreiben heute eine diversifizierte Wirtschaftspolitik und sorgen durch weltweite Investitionen und den Kauf von Konzessionen im Rohstoffbereich für Versorgungssicherheit. So verschafft sich die Volksrepublik nicht nur in Nachbarstaaten, sondern auch im weiteren Asien, in Ozeanien, Afrika und Südamerika Zugang zu Energie- und Metallvorkommen.10 In Afrika wird beispielsweise ein ganzes Bündel von wirtschaftlichen und politischen Aktivitäten bemüht, nicht nur Rohstoffausbeutung und Handel, sondern auch die »Süd-Süd-Solidarität« gegen amerikanisches »Hegemoniestreben«, kaum konditionierte Hilfs- und Aufbauleistungen und Schuldenerlässe. Chinas Afrikagipfel hatte seinen Ausgangspunkt 2003, der erste Indien-Afrika Gipfel fand erst 2008 statt. Asiatische Regierungen zeigen hier einerseits neue Machtansprüche, sind aber im Gegensatz zu vielen westlichen Ländern auch bereit, Milliardensummen in den Kontinent zu investieren. Afrikanischen Länder sind alternative Ordnungsmodelle und das Nichteinmischungsprinzip willkommen. Es muss allerdings klar erkannt und kritisch kommuniziert werden, dass Chinas unkonditionierte Leistungen internationale Bemühungen in Bezug auf Korruptionsbekämpfung, »good governance«, Finanztransparenz und damit insgesamt Konfliktprävention unterlaufen.

Die chinesische Regierung hat ihrem Energie- und Rohstoffsektor ein Auswärtsprogramm verordnet und fordert Investitionen im Ausland. Im Ergebnis hat China im Vergleich zu Indien bisher etwa die zehnfache Summe in internationale Ölrechte investiert. Doch auch China hat nicht immer Erfolge – wie das abgewiesene Angebot von CNOOC (China National Offshore Oil Corporation) für Unocal zeigte. Indische Energiefirmen hatten bisher beim Versuch, ihr internationales Engagement zu vergrößern, oft das Nachsehen gegenüber der chinesischen Konkurrenz und wurden beispielsweise bei Ölgeboten in Sudan, Angola, Indonesien und Ecuador von China ausgestochen. Ein Ausdruck der chinesisch-indischen Rivalität war das chinesische Gebot von 2,3 Milliarden US-Dollar für einen 45%-Anteil am Nigerianischen Akpo-Offshore-Feld, wogegen Indien chancenlos war.11 Ein weiteres prominentes Beispiel war der indische Versuch, Ende 2005 die kanadische PetroKazakhstan zu kaufen, dabei jedoch gegen CNPC (China National Petroleum Corporation) verlor.12 Indiens Diplomatie kann sich selten gegen chinesische Interessen durchsetzen, die außerdem massiv durch außenpolitische Initiativen gestützt werden. Dennoch engagieren sich indische Firmen inzwischen in Energieprojekten in Russland, Vietnam, Indonesien, Sri Lanka (offshore), Kasachstan, Algerien, Libyen, Syrien, Yemen und Iran und investieren zunehmend auch in Afrika und Lateinamerika. Mit Iran hat Indien beispielsweise einen 40 Milliarden US-Dollar Vertrag über die Lieferung von 7,5 Millionen Tonnen Flüssiggas über 25 Jahre abgeschlossen und investiert in iranische Häfen und Straßennetze, die Verbindungen nach Afghanistan und Zentralasien verbessern sollen.13 Das indisch-iranische Hafenprojekt Chabahar steht in Konkurrenz zum chinesisch-pakistanischen Hafen Gwadar.

Allerdings erschweren angespannte Beziehungen zu Nachbarstaaten Indiens die Energiepolitik zusätzlich. Eine Gasleitung von Iran oder Turkmenistan nach Indien führt durch pakistanisches Gebiet und ist daher ohne Einigung mit der Regierung in Islamabad nicht zu realisieren. Ähnliches gilt für eine Gasleitung von Myanmar nach Indien, die durch Bangladesh laufen müsste. Myanmar gilt als Schlüsselspieler für Chinas Zugang zum Indischen Ozean – entsprechend wurde der Ausbau von Verkehrswegen von Südwest-China nach Myanmar und der Ausbau von Hafenanlagen betrieben.

China und Indien hoffen auf neue Projekte in Iran, Irak, Zentralasien und im Pazifik. Viele asiatische Länder folgen dem Instrumentenkatalog der Internationalen Energieagentur zur Versorgungssicherung: Energiesparmaßnahmen, Ausbau der eigenen Energieindustrie, Diversifizierung und Investitionen in die Infrastruktur. Offshore-Produktionen haben sowohl im Indischen Ozean als auch in den ostasiatischen Meeren neue Vorkommen erschlossen. Einige dieser Felder sind aber teilweise aufgrund technischer Schwierigkeiten (Tiefe, Qualität) und territorialer Dispute nicht erfolgreich zu bewirtschaften. Ein weiteres Problem bestand und besteht für die relativ jungen chinesischen und indischen Energiefirmen darin, dass sie im Vergleich zu den älteren westlichen Multis wie BP, Royal Dutch Shell oder Exxon Mobil weder am Gewinn der Hochpreisjahre teilhaben konnten noch über ausreichend Erfahrung verfügten und feststellen mussten, dass die »billigen« und leicht zugänglichen Felder in der Welt des Öls schon lange vergeben waren und sie zumindest bis Ende der 1990er Jahre unter einem Mangel an Managementqualifikation und Kapital litten.

Ein weiteres Feld in der Energiekonkurrenz sind ausländische Investitionen in die eigenen Raffinerien und Pipelines. Arabische Länder haben Interesse, insbesondere in China zu investieren: Saudi-Aramco und Kuwait steckten fast 8 Milliarden US-Dollar in südchinesische Raffineriekomplexe. Bei den Pipelineplänen ist auf die hohe Komplexität, die politischen Unsicherheiten, die Interessen der Großmächte und die großen Investitionssummen hinzuweisen. Deshalb erstaunt die Fülle der Projekte nicht. In Ost-West-Richtung verlaufen folgende Planungen: Russland-China-Japan, Russland-Kasachstan-China, Russland-Japan direkt, Iran-Indien und weiter im Westen SouthStream und die BTC-(Baku-Tbilisi-Ceyhan)-Leitung. In Nord-Süd-Richtung verlaufen Pläne, China mit dem Indischen Ozean, Russland mit Iran und Indien und jeweils Iran und Pakistan mit West- und Zentralasien zu verbinden. Zu den kleineren Projekten gehört die White-Oil-Pipeline, die den pakistanischen Hafen Qasim mit dem Norden des Landes verbindet und von der chinesischen China Petroleum Engineering and Construction Company gebaut wurde.14

Inzwischen gibt es aber auch Beispiele für Kooperationen zwischen chinesischen und indischen Energiefirmen. Im Iran haben sich beide Länder für die gemeinsame Nutzung einer Konzession entschieden: Irans größtes Ölfeld, Yadavaran, wird von China (50%), Indien (20%) und Iran (30%) gemeinsam betrieben. In Syrien kauften indische und chinesische Firmen gemeinsam die Rechte der kanadischen Petro-Canada an Al Furat Petroleum.15 Nach der »Strategischen Partnerschaft« 2005 wurde im Januar 2006 endlich ein chinesisch-indisches »Memorandum on Cooperation in Oil and Gas« beschlossen.

Zu der Bekämpfung der Umweltzerstörung stehen in den meisten asiatischen Ländern ausreichende Gesetze zur Verfügung – es hapert an der Umsetzung. Das Prinzip »Öffentlichkeit« birgt Chancen. So ist die chinesische Sepa (State Environmental Protection Agency) zwar relativ machtlos, konnte aber mit der Drohung, Umweltverstöße öffentlich zu machen z.B. einen Stahlproduzenten bewegen, fünf große und veraltete Werke zu schließen. Die indische Regierung tut sich durch eine andere und längere juristische Tradition leichter, Rechtsverstöße zu ahnden. Regionale Kooperation wäre hier wünschenswert, eine über Absichtserklärungen und Machbarkeitsstudien hinausgehende Umsetzung ist allerdings nicht sichtbar.

Fazit

Asien spielt für die internationale Energiesicherheit eine entscheidende Rolle durch seine wirtschaftliche Entwicklung und den anhaltend wachsenden Energiebedarf. Nicht nur China beeindruckt seit fast drei Jahrzehnten mit Wirtschaftswachstumsraten von 8-11%, auch andere asiatische Länder haben die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise von 1996/76 längst überwunden und benötigen immer mehr Energie. Die Sicherung von Asiens Energieversorgung erfordert eine langfristige regionale und internationale Kooperation. Dazu wäre eine Art »asiatische Energieagentur« sinnvoll. China und Indien wären ein machtvolles Käuferkartell auf internationalen Ölmärkten. Ein weiterer Baustein in der regionalen Energiesicherheit wären gemeinsame regionale strategische Lager. Insgesamt ist ein konfrontativer Ansatz nicht förderlich und die Einbeziehung Japans unerlässlich. Für den Westen gibt es Gründe, angesichts des asiatischen Ölverbrauchs dennoch nicht in Panik zu verfallen: Die anlaufenden Sparprogramme und Preissteigerungen, das Produktionspotential der OPEC, die nicht genutzten Produktionskapazitäten in Iran und Irak und die Tatsache, dass mit Ausnahme der USA der Ölbedarf der westlichen Welt nicht mehr wächst. Die IEA sollte die Hand weiter nach Asien ausstrecken. Schließlich kommen von dort nicht nur Nachfragen nach verschiedenen Energieträgern, sondern auch nach der entsprechenden Förder-, Verarbeitungs- und Transporttechnologie und auch gewaltige Investitionen in die internationale Energieindustrie. Die gegenwärtige Situation allerdings lässt trotz gelegentlicher Zusammenarbeit chinesischer und indischer Energiefirmen durch die nationalstaatlich geprägte Interessenpolitik und innenpolitische Zwänge bisher zu wenig Raum für kooperative, regionale Lösungen.

Anmerkungen

1) Joint Declaration on the Conduct of Parties in the South China Sea, 2002, http://www.aseansec.org/13163.htm.

2) Mohan Malik (2004): India-China Relations. Giants Stir, Cooperate and Compete; In: Special Assessment Asia’s Bilateral Relations; APCSS.

3) Headquarters of the Ministry of Defence – Indian Navy: Vision Document 2006; New-Delhi, http://indiannavy.nic.in/vision.pdf.

4) State Council Information Office: China’s Policy on Mineral Resources, Beijing, http://www.china.org.cn/e-white/20031223/index.htm.

5) BP Statistical Review of World Energy 2008, www.bp.com.

6) Vgl. FACTS Inc.: China Oil and Gas Monthly, 2006.

7) Energy Information Administration (EIA): Country Analysis Brief China, Country Analysis Brief India, www.eia.doe.gov.

8) Vgl. G8 Research Group – Oxford: »Outreach Five« Country Objectives Report; Heiligendamm Summit, 2007; www.g7.utoronto.ca/oxford/g8org-ox-objectives2007.pdf, S 7 ff.

9) Chinas moderne Energiepolitik ist beispielsweise im White Paper von 2007 abgebildet: State Council Information Office: White Paper on Energy, www.china.org.cn.

10) Vgl. Saskia Hieber: Chinas Energiesicherheit; In: China aktuell; 33 (April 2004) 4.

11) People’s Daily, 13. Januar 2006.

12) Energy Security, 16. Januar 2006, www.iags.org.

13) India, China locked in energy game; in: Asiatimes, 17. März 2005.

14) www.gasandoil.com, 21. Februar 2002

15) International Herald Tribune, 22. Dezember 2002.

Dr. Saskia Hieber ist als Sinologin und Politikwissenschaftlerin an der Arbeitsstelle Internationale Politik der Akademie für Politische Bildung Tutzing und als Lehrbeauftragte am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft der Universität München tätig.

Die EU und Ostasien

Die EU und Ostasien

Zum Stellenwert der Sicherheitspolitik

von Dirk Nabers und Günter Schucher

Die EU betreibt eine zunehmend aktivere Außenpolitik. Die Beziehungen zu Ostasien bleiben dabei allerdings weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Die Institutionalisierung der politischen Beziehungen zwischen Asien und Europa hat zwar eine lange Geschichte, ist aber bis heute nicht über das Stadium des regelmäßigen Dialogs hinaus gekommen.

Entsprechend gering ist bisher der Nutzen für die Beziehungen einzelner asiatischer und europäischer Staaten untereinander gewesen. Dies änderte sich auch nicht, als am 1. März 1996 25 Staats- und Regierungschefs aus der EU und Ostasien zum ersten Gipfel des seither »Asia-Europe Meeting« (ASEM) genannten Forums zusammenkamen. In der Folge wurden zwar mannigfaltige Themen diskutiert, doch das Treffen hat bisher die Konsultationsphase nicht hinter sich gelassen. Wo ASEM in der deutschen Prioritätenliste rangiert, zeigt sich auch daran, dass die Bundesregierung nicht bereit war, am 4. Treffen der Staats- und Regierungschefs in Kopenhagen teilzunehmen, weil das Treffen am Tag der Bundestagswahlen (22. September 2002) stattfand.

Ähnlich steht es mit der Rolle der EU in den sicherheitspolitischen Brennpunkten der Region: auf der koreanischen Halbinsel und in der Taiwan-Straße. Auch hier spielen die Europäer die Rolle eines externen Beobachters, der kaum in der Lage ist, die Agenda der Hauptbeteiligten – vor allem der USA und Chinas – zu beeinflussen. Allein bei der Befriedung der indonesischen Bürgerkriegsregion Aceh spielte die EU im Rahmen einer Beobachtermission eine aktive Rolle, die bereits als Leitbild für künftige friedenserhaltende Maßnahmen außerhalb Europas diskutiert wird.

Wie sich die sicherheitspolitische Rolle der EU in den genannten Problemfeldern im Einzelnen darstellt und sich in die Programmatik der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) einfügt, soll im Folgenden analysiert werden. Dazu wird der Blick zunächst auf die programmatischen Grundlagen der EU-Außenpolitik gegenüber Ostasien gerichtet. In einem zweiten Schritt wird nach den Gründen für die geringen Fortschritte von ASEM im sicherheitspolitischen Bereich gefragt, um schließlich die Rolle der EU in den Beziehungen der VR China mit Taiwan, auf der koreanischen Halbinsel und in Aceh zu beleuchten. Am Ende des Beitrags werden die Ergebnisse in den Gesamtzusammenhang der ESVP gestellt.

Programmatik: Kein Sicherheitskonzept für Ostasien

Die politischen Beziehungen der EU zu Asien haben sich erst nach dem Ende des Kalten Krieges in den 1990er Jahren entwickelt. Bis dahin war die EU vor allem mit ihrem eigenen Integrationsprozess befasst. Außenpolitische Beziehungen erfolgten auf der bilateralen Ebene von Land zu Land und blieben daher in hohem Maße inkongruent. Das galt auch für Ostasien, dessen strategische Bedeutung sich aufgrund der hohen Wirtschaftsdynamik seit Mitte der 1980er Jahre kontinuierlich vergrößerte. Erst mit dem Vertrag von Maastricht (Dezember 1991) wurde begonnen, die bisherige Besuchsdiplomatie zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik weiter zu entwickeln.

Der erste Dialog auf Gipfelebene begann 1991 mit Japan. Später wurden ähnliche Gipfelkontakte zu China, kürzlich auch zu Südkorea sowie im Rahmen des ASEM-Prozesses zu ganz Ostasien aufgenommen. 1994 verabschiedete die EU ihre erste offizielle Asien-Strategie, Konzeptpapiere zur Stärkung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit einzelnen Ländern und Subregionen wurden seit 1993 präsentiert: Korea (1993), China (1995), Japan (1995) und Südostasien (1996). Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wird dieses Rahmenwerk durch die Einbeziehung weiterer Länder komplettiert und die bestehenden Konzepte werden regelmäßig den Veränderungen in Asien, Europa und zwischen beiden Regionen angepasst.1 Dabei nehmen die eher beschreibenden Teile an Umfang ab und die politisch-strategischen zu. Einen Überblick über die sicherheitsrelevanten Aspekte dieser Konzepte gibt Tabelle 1.

Tabelle 1: Sicherheitsrelevante Inhalte der EU-Konzepte zu Asien und der Europäischen Sicherheitsstrategie
Jahr Policy Paper Sicherheitsrelevante Inhalte
1994 „Towards a New Asia Strategy“ COM (94) 314
13. Juli 1994
Stärkung der wirtschaftlichen Präsenz in Asien, Beitrag zur Stabilität in Asien, Förderung der ökonomischen Entwicklung, Beitrag zur Entwicklung und Konsolidierung von Demokratie, Rechtstaatlichkeit sowie Menschen- und Freiheitsrechten. Prioritäten u.a.: Weitere Stärkung der bilateralen Beziehungen, Hebung des Profils von Europa in Asien
Politischer Dialog als Charakteristikum des neuen »Politischen Ansatzes«
2001 „Europe and Asia: A Strategic Framework for Enhanced Partnerships“ COM (2001) 469
4. August 2001
Stärkung der politischen und wirtschaftlichen Präsenz der EU in Asien entsprechend dem wachsenden globalen Gewicht der EU, u.a.: Beitrag zu Frieden und Sicherheit in der Region und Global, Beitrag zum Schutz von Menschenrechten und zur Verbreitung von Demokratie, Good Governance und Rechtstaatlichkeit, Aufbau globaler Partnerschaften und Allianzen mit asiatischen Ländern und Stärkung der Wahrnehmung Europas in Asien
Spannungsherde und Konfliktpunkte: Aceh, Mindanao, Taiwan-Straße, Südchinesisches Meer, Koreanische Halbinsel
2003 „A Secure Europe in a Better World“, European Security Strategy,
12. Dezember 2003
Übernahme von Verantwortung für die globale Sicherheit. Drei strategische Ziele: Bekämpfung der Bedrohungen (Terrorismus, Proliferation, Regionale Konflikte, u.a. Koreanische Halbinsel), Sicherheit in der Nachbarschaft, multilaterale internationale Ordnung
Asien: Entwicklung strategischer Partnerschaften mit Japan, China, Indien

Die erste Asienstrategie von 1994 nahm ausdrücklich Bezug auf das wachsende Gewicht Asiens in der Weltwirtschaft und legte entsprechend das Schwergewicht auf wirtschaftliche Aspekte. Die EU entwickelte zugleich einen »neuen politischen Ansatz« als Bestandteil einer künftigen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Europa sollte in die Lage versetzt werden, seine Interessen und Werte zu schützen und eine konstruktive Rolle in der Weltpolitik zu spielen. Als angemessenes Mittel zur Umsetzung wurde der »politische Dialog« festgelegt.

Mit der neuen Strategie von 2001 nahm die EU unter Bezugnahme auf den Erweiterungsprozess für sich eine größere internationale Rolle in Anspruch und proklamierte entsprechend das Ziel, diese auch in Asien ausüben zu wollen. Wirtschaftliche Ziele wurden daher durch (sicherheits-)politische ergänzt. Europa soll in Asien nicht nur präsenter sein und eine aktivere Rolle spielen, es soll vor allem auch stärker als Akteur wahrgenommen werden. Verweisen konnte man nicht nur auf die Ausweitung der politischen Dialoge, sondern auch auf konkrete Beiträge zur Schaffung von Frieden und Sicherheit wie in Kambodscha, Osttimor und Afghanistan sowie zur Korean Energy Development Organization (KEDO).

Im Rahmen der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS), die 2003 im Anschluss an das europäische Debakel im Irakkrieg formuliert wurde, kommt Asien nur am Rande vor; konkret erwähnt wird einzig der Konflikt auf der Koreanischen Halbinsel. Um global eine größere Rolle zu spielen, will die EU u.a. auf die Partner setzen, die für sie wichtig sind, und in Asien mit Japan, China und Indien strategische Partnerschaften entwickeln. Dies ist ein deutlicher Verweis auf die wachsende Bedeutung Asiens, was die EU-Kommissarin für externe Beziehungen Ferrero-Waldner ausdrücklich bestätigte: „We want to have a more coherent, effective and visible impact on world affairs… That will also mean working more closely politically with our Asian dialogue partners“ (Ferrero-Waldner 2007).

Insgesamt bleibt die EU-Strategie gegenüber Asien weiterhin stark beeinflusst vom wirtschaftlichen Wert der Region. Insofern stehen auch die wirtschaftlich dynamischen Länder in Ostasien sowie die südostasiatische Staatengemeinschaft ASEAN im Fokus. Sicherheitsrelevante Fragen spielen nur eine marginale Rolle, kommerzielle und politische Überlegungen sind weit wichtiger. Ein umfassendes kohärentes Sicherheitskonzept für die gesamte Region, das der proklamierten globalen Rolle der EU gerecht wird, alle in den einzelnen Konzepten durchaus benannten Krisenpunkte wie z.B. die Taiwanstraße einschließt und die Beziehungen zu den Kooperationspartnern USA und Japan klar definiert, fehlt völlig (van der Putten 2007). Die EU setzt auch weiterhin auf die Stärkung der ökonomischen Präsenz, den Ausbau bilateraler Beziehungen und auf politischen Dialog. Das sicherheitspolitische Engagement beschränkt sich dabei auf Stellungnahmen. Es bleibt unklar, was die strategischen Partnerschaften letztlich charakterisiert, zumal die Dialoge selten als intensive Diskussionsforen von Sicherheitsfragen genutzt werden.

Institutionalisierung des multilateralen Dialogs: Das Asia-Europe Meeting (ASEM)

Ein Beispiel für den wenig institutionalisierten Dialogprozess zwischen Asien und Europa ist das am 1. und 2. März 1996 in Bangkok erstmals abgehaltene Asia-Europe Meeting (ASEM).2 Drei Themenbereiche wurden bei der Gründung des Forums für künftige Treffen als vordringlich eingestuft: a) politischer Dialog, b) wirtschaftliche Zusammenarbeit und c) Zusammenarbeit in anderen Bereichen, darunter Wissenschaft und Technologie, Umwelt, Entwicklungszusammenarbeit und Kultur. In den ersten Jahren waren die Diskussionen stark auf wirtschafts- und kulturpolitische Themen gerichtet. So stand die Finanz- und Wirtschaftskrise in Südostasien im Vordergrund der Gespräche von ASEM 2 in London 1998. Erstmals wurde im Rahmen von ASEM 3 im Jahr 2000 in Seoul eine sicherheitspolitisch relevante Deklaration verabschiedet, die »Seoul Declaration for Peace on the Korean Peninsula«, in der es jedoch an konkreten Vorschlägen zur Verbesserung des Klimas zwischen beiden koreanischen Staaten mangelt.

Erst seit den Anschlägen auf New York und Washington vom 11. September 2001 spielen innerhalb von ASEM auch politische und sicherheitspolitische Aspekte eine Rolle. So stand neben der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus abermals Nordkorea auf der Agenda des vierten Asia-Europe-Meetings in Kopenhagen 2002. Es wurde eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, in der die Mitglieder des Forums ihre Unterstützung für den Friedensprozess auf der koreanischen Halbinsel festschrieben. Auch dem Normalisierungsprozess zwischen Nordkorea und Japan wurde volle Unterstützung zugesichert. Künftig müsse Nordkorea durch alle ASEM-Mitgliedsstaaten aktiv in wirtschaftliche und politische Initiativen eingebunden werden, so das Schlusskommuniqué der Konferenz (Japan aktuell 4/2002, Ü 47). In der Folge von ASEM 4 wurde in Berlin eine ASEM-Konferenz zum internationalen Terrorismus durchgeführt. Erklärtes Ziel war es, wissenschaftliche Erkenntnisse zum Terrorismus direkt für die Diskussionen innerhalb von ASEM nutzbar zu machen.

Auch auf den Folgetreffen 2004 in Vietnam und 2006 in Finnland standen sicherheitspolitische Themen auf der Tagesordnung. In keinem Falle wurden jedoch konkrete Handlungsleitlinien für die ASEM-Staaten festgelegt. Dem Forum fehlt es an Handlungsbefugnissen; es besitzt bisher kein ständiges Sekretariat, das die Treffen auf Arbeitsebene koordinierend vorbereiten könnte. Es ist nur schwer vorstellbar, dass informelle Zusammenarbeit auf Dauer ein funktionales Äquivalent zu formaler Kooperation sein kann, wenn es um Themen wie Marktzugang, Investitionsschutz oder Terrorismus geht (Loewen/Nabers 2005).

In der Rede des deutschen Staatssekretärs Silberberg im Rahmen der Veranstaltungsreihe »EU-Countdown: In 100 Tagen zur EU-Ratspräsidentschaft« am 4. Oktober 2006 kam Ostasien nicht vor, während den Beziehungen mit Russland, Zentralasien, dem Nahen Osten und Afrika erhöhte Bedeutung zugemessen wurden (Auswärtiges Amt 2006). Dies muss angesichts des wirtschaftlichen Potenzials der Region und seiner bestehenden sicherheitspolitischen Herausforderungen als verpasste Chance angesehen werden.

Beim europäisch-asiatischen Außenministertreffen 2007 in Hamburg wurde die EU durch den deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier vertreten. Themen, die auf der Tagesordnung standen, bezogen sich auf den möglichst baldigen Abschluss eines europäisch-asiatischen Zollabkommens, die Zusammenarbeit auf den Gebieten der Regulierung von Finanzdienstleistungen und des geistigen Eigentums, bei der Energie- und Ressourcensicherheit, der Forschung und Entwicklung im Hochtechnologiebereich, des Umweltschutzes, der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der Terrorbekämpfung. Von politischer Seite wurde dabei darauf hingewiesen, dass es zuvorderst darauf ankomme, sich überhaupt zu treffen und über politische Ansichten zu diskutieren3, weniger auf die am Ende veröffentlichten gemeinsamen Deklarationen. Während es weltweit eine Reihe internationaler Institutionen gibt, die verbindliche Handlungsleitlinien erlassen, ist dies somit innerhalb von ASEM auf absehbare Zeit nicht der Fall.

VR China: Wirtschaftsbeziehungen dominant

Die Beziehungen zur Volksrepublik China machen die Dominanz wirtschaftlicher Beziehungen und die nahezu vollständige Abwesenheit von Sicherheitsüberlegungen besonders deutlich. Die EU hat zwar die Situation in der Taiwanstraße als einen der Hauptkonfliktpunkte in Ostasien benannt und mit dem Waffenembargo gegen China ein diplomatisches Instrument in der Hand, verfügt aber dennoch über kein kohärentes Sicherheitskonzept im Umgang mit der Volksrepublik.

Das Embargo über Waffenexporte wurde im Juni 1989 gegen China verhängt, verbunden mit der Aufforderung an die chinesische Regierung, die Repressionen gegen alle Chinesen zu stoppen, die ihre demokratischen Rechte in legitimer Weise einforderten (European Council 1989). Der konkrete Umfang des Embargos ist dabei nicht klar definiert und offen für unterschiedliche Interpretationen, aufgehoben werden kann es aber nur durch einstimmige Entscheidung, die durch die EU-Erweiterung noch schwieriger wurde. Vor allem Bundeskanzler Schröder und Frankreichs Staatspräsident Chirac versuchten diese seit Herbst 2003 herbeizuführen, scheiterten aber schließlich an einer Kombination verschiedener Faktoren, darunter dem Widerspruch der USA und der Nichtberücksichtigung der Taiwanfrage. Vornehmlich hatten sie bilaterale Wirtschaftsinteressen im Blick und vernachlässigten darüber ebenso die transatlantischen Beziehungen wie die globalen und regionalen Sicherheitsaspekte. Als der chinesische Volkskongress dann im März 2005 das Anti-Sezessions-Gesetz gegen Taiwan verabschiedete, war die Aufhebung des Embargos in der EU nicht mehr durchsetzbar.

Ist das Embargo im Prinzip ein Instrument, Chinas Menschenrechts- und Taiwan-Politik zu kritisieren, so hat sich die EU hier selbst geschwächt, als sie sowohl im Europarat in Rom 2003 als auch auf dem EU-China-Gipfel im Dezember 2004 ankündigte, sie werde es in der ersten Hälfte 2005 aufheben. Seitdem drängt China auf die Einhaltung dieser Zusage. Auf der anderen Seite wurde seitens der EU im letzten »policy paper« zu China vom Oktober 2006 die Verbesserung der Beziehungen zwischen China und Taiwan zur Voraussetzung für eine mögliche Aufhebung des Embargos gemacht und damit beide Fragen miteinander verknüpft (Commission 2006). Dennoch fehlt auch weiterhin die klare Einbeziehung der Taiwanfrage in die sicherheitspolitische Agenda der EU. Wie sich die EU im Falle einer Krise in der Taiwanstraße verhalten wird, bleibt demnach offen.

Nordkorea: Unterstützende Rolle der EU

Auch im Hinblick auf eine aktivere Rolle der EU auf der koreanischen Halbinsel bleibt eine Reihe von Fragen unbeantwortet. Nordkorea ist ein gutes Beispiel für die Schwierigkeiten der internationalen Staatengemeinschaft, mit legalen, politischen und militärischen Maßnahmen das Aufkommen einer neuen Nuklearmacht zu unterbinden. Gleichwohl konnte mit der Unterzeichnung eines »Agreed Framework« zwischen den USA und Nordkorea am 21. Oktober 1994 sowie der Schaffung der Organisation für die Energieentwicklung auf der Koreanischen Halbinsel (KEDO) am 9. März 1995 eine viel versprechende Grundstruktur für eine Regimebildung im Bereich nuklearer Nonproliferation geschaffen werden. In einem quid pro quo einigten sich die USA und Nordkorea, dass Pyongyang die aus Russland stammenden Graphit-Atommeiler in Yongbyon stilllege, den Bau von zwei weiteren Reaktoren stoppe und IAEO-Inspektionen zuzulassen habe. Im Gegenzug sicherten die USA die Lieferung von zwei modernen 1.000 MW-Leichtwasserreaktoren aus Südkorea und von bis zu 500.000 Tonnen Rohöl jährlich bis zur Fertigstellung der Reaktoren zu (Nabers 2006). 1997 trat die EU dem Konsortium bei und förderte die Arbeiten in Nordkorea in der Folge mit 118 Mio. Euro. Seit 1995 hat die EU Nordkorea zusätzlich mit humanitären Hilfen in Höhe von 450 Mio. Euro unterstützt.

Inzwischen ist die Übereinkunft gescheitert, nachdem Nordkorea im Oktober 2002 überraschend zugegeben hatte, heimlich an der Entwicklung von Atomwaffen gearbeitet zu haben. Mit seinem Eingeständnis löste das Regime eine neue Krise insbesondere in den Beziehungen zu den USA aus (Japan aktuell 2/2003, Ü 43). Das internationale Konsortium zur Konstruktion der Leichtwasserreaktoren in Nordkorea beschloss, kein Rohöl mehr an Nordkorea zu liefern. Ein Jahr später wurde dann der Bau der Reaktoren eingestellt (KEDO 2005).

Um dem nordkoreanischen Atomwaffenprogramm Einhalt zu gebieten, fand seit 2003 eine Reihe so genannter »Sechs-Parteien-Gespräche« statt. An dieser Runde nehmen Vertreter der Volksrepublik China, Nordkoreas, der USA, Russlands, Japans und Südkoreas teil. Die EU ist nicht beteiligt. Daher blieb das Verhältnis der EU zu Nordkorea auf intensive humanitäre Hilfe und die politische Unterstützung bei den Sechser-Gesprächen beschränkt. Als Nordkorea am 9. Oktober 2006 einen Atombombentest durchführte, leitete dies die schwerste Krise zwischen der EU und Nordkorea seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Jahr 2001 ein (Schwinger 2006). Aktiv ist die EU seither nicht an der Beilegung des Nuklearprogramms beteiligt. Man beschränkt sich hier stattdessen auf enge Konsultationen mit den USA.

Aceh: Die erste europäische Friedensmission

Im Gegensatz zur weit gehenden Passivität der EU in den brennenden Konflikten der Region ist die erste Friedensmission der Europäer in Asien eine Erfolgsgeschichte. Nach 30 Jahren des Bürgerkriegs wurde in der indonesischen Provinz Aceh von September 2005 bis Dezember 2006 eine 227 Kopf starke Beobachtermission unter der Führung der Europäer durchgeführt (Aceh Monitoring Mission, AMM), die mit freien Wahlen am 11. Dezember 2006 endete. Seit 1976 hatte die »Bewegung Freies Aceh« (GAM) für die Unabhängigkeit gekämpft. Die Führer der Rebellenbewegung hatten eine Regierung im Exil gegründet und ihre Kämpfer in einen Guerillakrieg geschickt, der mindestens 15.000 Menschen das Leben gekostet hat. Im Jahr 2001 war ein Waffenstillstand gescheitert, und die Zentralregierung hatte eine massive Militäroperation mit 40.000 Soldaten gestartet. Erst der verheerende Tsunami vom 26. Dezember 2004 hatte ein Ende der Feindseligkeiten bewirkt (Ufen 2007).

Die historische Wahl war nun der Höhepunkt eines zweijährigen Friedensprozesses, der nach dem Tsunami eingeleitet worden war. In der Zeit der finnischen Ratspräsidentschaft war am 15. August 2005 in Helsinki ein Memorandum of Understanding (MoU) zwischen der GAM und der indonesischen Zentralregierung unterzeichnet worden, das als Grundlage für die folgende Friedensmission diente (EU 2006a). 131 der Beobachter kamen aus der EU, der Schweiz und Norwegen, 96 aus Mitgliedstaaten der südostasiatischen Staatengemeinschaft ASEAN. Hauptziel der Mission war die Entwaffnung und Wiedereingliederung der Rebellen sowie die Überwachung indonesischer Truppenverbände aus der Region. Die EU unterstützte die Mission mit insgesamt 260 Mio. Euro (EU 2006b).

Zur Wahl im Dezember entsandte die EU zusätzlich eine Wahlbeobachtungsmission. Das Team bestand aus 33 Langzeit- und 44 Kurzzeitbeobachtern. Dazu stellte die Kommission 2,4 Mio. Euro im Rahmen der europäischen Initiative für Demokratie und Menschenrechte bereit. Die Wähler waren aufgerufen, am 11. Dezember den Gouverneur, vier Bürgermeister, 15 Distriktleiter und ihre jeweiligen Stellvertreter zu wählen. Mehr als 10.000 Polizisten und mehrere Tausend Wahlbeobachter aus der Region waren im Einsatz.

Der größte Erfolg der Europäer liegt wohl darin, überhaupt von dem stark auf seine nationale Souveränität bedachten Indonesien ins Land gelassen worden zu sein. Nach dem »Verlust« Ost-Timors, bei dem Australien als externe Macht eine große Rolle gespielt hatte, stand die Masse von Bevölkerung und Politik der Rolle ausländischer Mächte bei der Regelung innerer Angelegenheiten skeptisch gegenüber. Auch die Vereinten Nationen schieden als Beobachter aus, da sie bereits die Friedenserhaltenden Maßnahmen in Ost-Timor durchgeführt hatten. Als sich die EU mit der ASEAN auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt hatte, wurde ihre Friedensmission schließlich auch von der indonesischen Regierung akzeptiert.

Rückblickend wurde die Mission daher von der EU gerühmt. Sie habe erstens zu einer Annäherung mit Indonesien geführt. Das entstandene Vertrauen könne als Grundlage für ein langfristiges Engagement der EU in Südostasien dienen. Zweitens habe die ESVP durch die Mission Auftrieb erhalten. Künftig werde die Aceh-Mission als Beispiel für eine erfolgreiche Friedensmission der EU im Ausland herangezogen werden können (EU 2006c).

Schluss

Es ist erklärtes Interesse der EU, als globaler Sicherheitsakteur in Ostasien Stabilität und Wirtschaftswachstum zu fördern. Seit Beginn des 21. Jahrtausends gibt es auch Ansätze zur Formulierung einer umfassenden Sicherheitsstrategie; Ostasien bleibt davon allerdings weit gehend ausgeklammert. Hier sind die intensiven Wirtschaftsbeziehungen dominant. Sicherheitsfragen spielen nur eine marginale Rolle und die sicherheitspolitische Präsenz der EU ist weiterhin gering. Bisher scheint sie eher versucht zu haben, ihre politische Rolle im Gepäck der Wirtschaftskooperation zu vergrößern. Auch von Seiten der asiatischen Länder wird die EU daher zwar als ökonomischer Partner, aber weniger als sicherheitspolitischer Akteur wahrgenommen.

Erst seit dem gescheiterten Versuch, das Waffenembargo gegen China aufzuheben, sind seitens der EU Ansätze erkennbar, die Beziehungen zu den USA und anderen Kooperationspartnern, d.h. vor allem Japan, in die sicherheitspolitische Strategie einzubeziehen. Dabei ist es durchaus nicht leicht für die EU, sich neben den USA als globaler Sicherheitsakteur zu beweisen.

Entsprechend nachrangig ist die Rolle der EU als Akteur in den wichtigsten Krisenherden der Region, der Taiwan-Straße und der koreanischen Halbinsel. Allein im Rahmen der Beobachtermission in der indonesischen Provinz Aceh konnte ein Erfolg auf der Weltbühne verzeichnet werden. Alles in allem ist das für die EU, die sich selbst gerne als »Zivilmacht EU« gegenüber der Militärmacht USA versteht, viel zu wenig. Als Zivilmacht hat man sich die Zähmung und Einhegung von Gewalt in allen Teilen der Welt, die Verregelung und Verrechtlichung internationaler Beziehungen, die Intensivierung multilateraler Kooperation und die Förderung sozialer Ausgewogenheit und Gerechtigkeit auf globaler Ebene auf die Fahne geschrieben. In all diesen Bereichen ist die europäische Asienpolitik indes bis heute unterentwickelt.

Literatur

Auswärtiges Amt (2006): „Ausblick auf die deutsche EU-Präsidentschaft: Stand der Vorbereitung in der Bundesregierung“ (Rede von Staatssekretär Silberberg, 04.10.2006), http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Infoservice/Presse/Reden/2006/061004-SilberbergEuropa.html [10. Juli 2007].

Commission (2006): „Communication from the Commission to the Council and the European Parliament. EU-China: Closer Partners, Growing Responsibilities“, Brussels, COM (2006) 631, Commission of the European Communities, S.1.

Dent, Christopher (2004): „The Asia-Europe Meeting and Inter-Regionalism“, in: Asian Survey 44:2, S.213-236.

The European Council (1989): „Declaration on China“ (Madrid 27 June 1989), Annex I of European Union Factsheet, http://ue.eu.int/uedocs/cmsUpload/FACTSHEET_ON_THE_EU_AND_CHINA.pdf [4.7.07].

Europäische Union (2006a): „EU monitoring mission in Aceh“, 7 September 2006, http://www.consilium.europa.eu/aceh [27. Juni 2007].

Europäische Union (2006b): „EU entsendet Wahlbeobachtungsmission in die indonesische Provinz Aceh“, IP/06/1570.

Europäische Union (2006c): „Council Conclusions on Indonesia/Aceh“, 11 December 2006, http://www.consilium.europa.eu/Newsroom [27. Juni 2007].

Ferrero-Waldner, Benita (2007): „Common Experiences, Common Hopes and Engagement in our Common Interest“, in: Asia Europe Journal 5:1, S.9-11.

KEDO (2005): „A Message from the Executive Director, Ambassador Charles Kartman“ (April 2005), http://www.kedo.org/ [16. September 2005].

Loewen, Howard/Nabers, Dirk (2005): „Transregional Security Cooperation after 9/11 – Asia, Europe and the United States“, in: Asia-Europe Journal 3:3, S.333-346.

Nabers, Dirk (2006): „Krise und Identitätswandel in Japan“, in: Die Friedens-Warte. Journal of International Peace and Organization 81:3-4, S.43-60.

Schwinger, Philipe (2006): „Europas Reaktion auf ein nukleares Nordkorea“, in: europa-digital, http://www.europa-digital.de/aktuell/dossier/aussenbez/nord_korea.shtml [27. Juni 2007].

Ufen, Andreas (2007): „Wahlen in Aceh – Neue Hoffnung auf Frieden?“, GIGA Focus Asien Nr. 1/2007.

van der Putten, Frans Paul (2007): „The EU Arms Embargo, Taiwan, and Security Interdependence between China, Europe and the United States“, in: The Indian Journal of Asian, Spring, http://www.clingendael.nl/publications/2007/20070400_cscp_art_putten.pdf [retrieved 8. Mai 2007].

Anmerkungen

1) Strategiepapiere der EU-Kommission: „Relations between the European Community and the Republic of Korea“, COM, 1993, unpubl.; „European Union Policy towards the Republic of Korea“, COM (1998) 714; „Europe and Japan: The Next Steps“, COM (95) 73; „A Long-term Policy for China-Europe Relations“, COM (95) 279, „The EU‘s Relations with China: Building a Comprehensive Partnership with China“ COM (1998) 181, „EU Strategy towards China: Implementation of the 1998 Communication and Future Steps for a more Effective EU Policy“ COM (2001) 265; „A new partnership with South East Asia“, COM (2003) 399/4.

2) Neben den Mitgliedstaaten der EU nahmen auf asiatischer Seite die ASEAN-Mitglieder Brunei, Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur, Thailand, Vietnam sowie die VR China, Japan und Südkorea teil.

3) Siehe dazu das Interview mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Hamburger Abendblatt vom 26. Mai 2007.

PD Dr. Dirk Nabers nimmt derzeit eine Lehrstuhlvertretung für Internationale Beziehungen und Europäische Integration an der Universität Stuttgart wahr. Dr. Günter Schucher ist Kommissarischer Direktor des German Institute of Global and Area Studies (GIGA)

Beginn eines Wettrüstens im All?

Beginn eines Wettrüstens im All?

Der chinesische ASAT-Test

von Götz Neuneck

Am 11. Januar 2007 hat China, das jahrelang Gegner der Bewaffnung des Weltraums war, einen Anti-Satelliten (ASAT)-Test durchgeführt: Es zerstörte einen eigenen Wettersatelliten in einer Höhe von ca. 865km mittels einer Mittelstreckenrakete. Neben den USA und Russland bewies nun auch China die Fähigkeit, Satelliten über dem eigenen Territorium »abzuschießen«. Damit unterstreicht es seine Ambitionen auf dem Gebiet der militärischen Raumfahrt, es beschwört aber auch die Gefahr eines Rüstungswettlaufs im All herauf. Denn sollten sich in Washington die Hardliner durchsetzen, könnten Programme zum Schutz eigener Satelliten und damit die Weltraumbewaffnung forciert werden. Weitere Staaten könnten in eine ressourcenverschlingende Konkurrenz einsteigen.

Viele Regierungen zeigten sich besorgt über diesen Test. Seitens der EU verwies ein Sprecher vor der Genfer Abrüstungskonferenz darauf, dass dieser Test unvereinbar mit den internationalen Anstrengungen zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum sei. Leider sind diese Aktivitäten bereits länger durch die USA und China blockiert. Auch ein US-Sprecher zeigte sich beunruhigt. Dabei haben die USA wenig Anrecht auf eine Verurteilung Chinas, schließlich haben sie mit ihren Raketenabwehrtests im All den drohenden Rüstungsschub ausgelöst und eine Rüstungskontrolle im Weltraum bisher kategorisch abgelehnt. Im aktuellen US-Rüstungsbudget ist ca. 1 Mrd. US-Dollar eingestellt für Programme, die auf eine Bewaffnung des Weltraums hinzielen: Ein »Space-based Interceptor Test Bed« ist für 2008 geplant; entwickelt werden manövrierbare Mini-Satelliten, ASAT-Laser und neue Flugkörper. Die diversen Raketenabwehrprogramme, bei denen der Abfangvorgang eines anfliegenden Sprengkopfes im Wesentlichen im All stattfindet, haben inhärente ASAT-Fähigkeiten. Studien unterbreiten Vorschläge für Weltraumwaffen. Die neue »US National Space Policy« vom August 2006 verfügt, dass die USA ihre „Aktionsfreiheit im Weltraum“ sichern müssen. Der Schutz der US-Weltraumfähigkeiten wird initiiert, indem den Gegnern der USA die Nutzung des Weltraums für feindliche Zwecke »verweigert« werden soll.

Auch andere Staaten sind nicht untätig. Viele Raumfahrt treibende Staaten besitzen Vorläufertechnologien wie Minisatelliten oder Raketen. Das bestehende Weltraumrecht bietet bisher aber nur begrenzte Verbotstatbestände. Ein Gutachten des »International Court of Justice« zur Legitimität einer einseitig vorgenommen Einführung von Weltraumwaffen vor dem Hintergrund der Bestimmungen des Weltraumvertrages könnte hier Rechtsklarheit schaffen.

Nun wird es entscheidend darauf ankommen, ob es gelingt, rechtlich verbindliche, überprüfbare und wirkungsvolle Regelungen zu schaffen, um eine Bewaffnung des Weltraums zu verhindern. es gibt fünf herausragende Gründe für eine präventive Rüstungskontrolle im Weltraum:

  • das Eskalationspotenzial von Weltraumwaffen,
  • die begrenzte Zahl der Raumfahrtakteure,
  • die teuren und wenig effektiven Technologien für Waffenzwecke,
  • das zunehmende Weltraumschrottproblem und
  • die guten Überwachungschancen im All.

In der Vergangenheit wurden diverse Vorschläge erarbeitet um den Weltraum auf multilateraler Grundlage waffenfrei zu halten. Die Implementierung von konkreten Maßnahmen, wie z.B. einem »Code of Conduct«, wäre ein erster wichtiger Schritt. Rechtsverbindliche Regeln, wie der Verzicht »Satelliten anzugreifen«, würden die Grundlage für Rüstungskontrolle im Weltraum schaffen. Ein »Moratorium für Weltraumtests« könnte ein erster Schritt sein hin zu einem Vertrag, in dem alle Weltraumwaffen geächtet werden. Die Einhaltung eines »Null-Waffen-Vertrags« ist schließlich leichter zu überprüfen als ein Vertrag, der zwischen unterschiedlichen Zahlen und Arten von Waffen differenziert.

Eine Gruppe von »like-minded states«, wie Deutschland, Schweden, Kanada, Brasilien, Japan, könnte eine UN-Resolution einbringen, die einen internationalen Verhandlungsprozess, ähnlich dem Ottawa-Prozess, in Gang bringt. Die Einführung Transparenz bildender Schritte vieler Nationen würde die US-Administration isolieren und möglicherweise zu einer Aufgabe der Blockade in Genf zwingen. Die UN selbst könnte zur Begleitung des Prozesses eine »Group of Experts« berufen, die z.B. ein Zusatzprotokoll zum Weltraumvertrag ausarbeitet.

Die EU sollte auf diesem Sektor die Initiative nicht anderen Staaten überlassen. Aufgabe Europäischer Sicherheits- und Friedenspolitik muss es sein, dafür Sorge zu tragen, dass die Gestalt annehmende EU-Weltraumpolitik die Weltraumbewaffnung ausschließt und dass andere, mit der EU kooperierende Staaten, zur Waffenfreiheit des Weltraums beitragen. Deutschland könnte zum 40. Jahrestages des Weltraumvertrages in den nächsten Monaten – auch in der Funktion der EU-Ratspräsidentschaft – entscheidende Impulse dazu geben.

Dr. Götz Neuneck ist Leiter des Arbeitsbereichs Abrüstung und Rüstungskontrolle am Institut für Frieden und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH) und Verfasser einer Studie zum Thema, die bei der Deutschen Stiftung Friedensforschung erschienen ist.

China: bedenklich sicher

China: bedenklich sicher

Zum Zusammenhang von Dissens, Innerer Sicherheit und Außenpolitik in der VR China

von Andreas Seifert

Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden

Auf der ersten Sitzung des 12. Nationalen Volkskongresses 2013 (5.-17. März) wurde die neue Führung um die Partei- und Staatschefs Xi Jinping und Li Keqiang gewählt. Die neue Führung löst die Regierung von Hu Jintao und Wen Jiabao ab, die seit 2003 über das Land geherrscht hatte.

Der Nationale Volkskongress war früher einmal ein Zustimmungsgremium zu den Beschlüssen der Partei und Staatsführung; in den letzten 20 Jahren nahmen sich die Delegierten allerdings zunehmend die Freiheit, zu diskutieren und eigenständig zu denken. Dennoch bleibt der Volkskongress ein Gremium mit beschränktem Einfluss.

Die neue Führung steht vor vielen Herausforderungen, sowohl im Inland als auch im Verhältnis zum Ausland. Das internationale Engagement Chinas im Rahmen von UN-Friedensmissionen hat genauso zugenommen wie sein wirtschaftliches Engagement rund um den Globus. Längst ist China nicht mehr nur die Werkstatt der Welt, sondern es wird immer öfter aufgefordert, international eine aktive politische Rolle zu spielen. China ist eine der größten Volkswirtschaften der Welt, somit beeinflusst seine Wirtschaftsentwicklung zunehmend andere Länder, u.a. in Afrika. Die Interdependenz hat zugenommen, und die Abhängigkeiten in einer »globalisierten Welt« machen vor China nicht Halt. Es ist dies auch ein Perspektivwechsel für die Führung in Beijing, die sich mit ständig neuen »Anforderungen« konfrontiert sieht, denen sie entsprechen soll.

Viele Konflikte lauern vor der Haustür. Die Spannungen zwischen den beiden Koreas, von denen man geglaubt hatte, sie mit den Sechs-Parteien-Gesprächen weitgehend in friedliche Bahnen gelenkt zu haben, befinden sich auf dem Wege zur Eskalation. Die jüngsten Drohungen Nordkoreas, einen Krieg mit dem südlichen Teil vom Zaune zu brechen und die USA mit Atomwaffen anzugreifen, sind ungewohnte Herausforderungen für die chinesische Diplomatie. Die kleineren und größeren Grenzkonflikte mit den Staaten Südostasiens oder mit Indien sind weniger präsent, aber nicht gelöst. Die Streitereien um die Inselgruppen Spratly und Paracels im Südchinesischen Meer1 und um die Diaoyutai-/Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer sind weit entfernt von einer geregelten Konfliktlösung. Mehr noch: Sie entwickeln sich zu veritablen internationalen Krisenherden mit Tendenz zum gewaltsamen Konfliktaustrag.

Diese Konflikte haben Auswirkungen auf die Innenpolitik Chinas, da die Regierung sie instrumentalisiert, um inneren Dissens zu überdecken oder bestimmte Politiken als legitim durchzusetzen. Der vom Staat zu diesem Zwecke initiierte Nationalismus, so die These hier, braucht ständig neue Feindbilder, um nach innen befriedend zu wirken und soziale Konflikte zu überdecken. Innenpolitik und die Ausgestaltung von innergesellschaftlichen Dialogen entwickeln sich daher immer mehr zum gewichtigen Faktor bei der Gestaltung der Außenpolitik – bis hin zur Frage, ob China bereit ist, einen bewaffneten Konflikt mit einem seiner Nachbarländer zu führen, um dem nationalen Sediment wieder Halt zu geben.

Das W&F-Dossier geht dieser Frage nach und legt dazu die prekäre innenpolitische Situation unter dem Blickwinkel von Ordnung und Innerer Sicherheit dar. Ausgehend von einem kurzen Exkurs zu den Mechanismen chinesischer Politik sollen die Ansatzpunkte für Protest und Dissens auf einer strukturellen Ebene Erwähnung finden. In einem zweiten Schritt sollen die Mechanismen des Staates angesprochen werden, mit Dissens umzugehen, und die Instrumente, die ihm zur Repression zur Verfügung stehen. Schließlich sollen die Rückwirkungen dieser Politik auf den Staat und seine Außenpolitik in den Fokus kommen.

Es wird argumentiert, dass das chinesische »Wirtschaftswunder« durch eine umfassende Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen ermöglicht wurde. Nun wird just die Dezentralisierung zum Hemmschuh für die effektive Bearbeitung der negativen Auswirkungen dieser wirtschaftlichen Entwicklung (klaffende Einkommensschere, verheerende Umweltbilanz, etc.). Beijing setzt vor diesem Hintergrund auf den Nationalismus als einigendes Element für eine auseinanderdriftende Gesellschaft. Die Führung versucht zudem, aufkeimenden Dissens mit Mitteln der Repression zu deckeln, um Zeit für überfällige administrative Reformen zu gewinnen. Damit schafft sie ein Klima der Angst und Gewalt, was weder den Umgang mit inneren Problemen noch mit äußeren Konflikten vereinfacht.

Grundvoraussetzungen: Ein Staat im Dauerumbruch?

Die Volksrepublik China ist keine Demokratie, und sie entwickelt sich derzeit auch nicht in diese Richtung. China ist heute ein autoritäres System, das von der Kommunistischen Partei Chinas geführt wird. Und obgleich diese sich von vielen distinktiven Elementen einer kommunistischen Partei verabschiedet und das Land in den letzten Jahren mit vielen Reformen auf einen staatskapitalistischen Weg getrimmt hat, klammert sie sich weiterhin an die Macht.

Die massiven Dezentralisierungen des vormals zentralistisch organisierten Staates in den 1980er Jahren legten den Grundstein für den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und beförderten gleichzeitig, quasi als Nebeneffekt, die stärkere Durchdringung des Landes mit Bürokratie und anderen staatlichen Strukturen. Politikformulierung nicht mehr mithilfe allgemeiner Parolen und Kampagnen, sondern mittels Gesetzen, wie es das erklärte Ziel der Führung in Beijing ist, wurde einerseits dadurch erst möglich, droht andererseits aber genau daran zu scheitern. Denn die Verteilung der Entscheidungskompetenzen ist im Zuge der Entwicklung der 1980er Jahre von der Zentrale in die Untergliederungen diffundiert. Fortschrittliche Gesetze, z.B. die Umweltgesetzgebung oder das Wahlrecht auf der Ebene der Dörfer, werden nur dort umgesetzt, wo es den Vertretern der unmittelbar mit der Ausführung betrauten Ebenen opportun erscheint. Der Zentralregierung bleibt nur die Möglichkeit, die Umsetzung ihrer Politikvorstellungen über Personalentscheidungen abzusichern. Beijing kann aber nur die obersten Ebenen direkt besetzen und ist ansonsten auf den Kaskadeneffekt der sich daraus ableitenden Besetzungen aller weiteren Ebenen angewiesen. Erzwingen kann die Staatsführung die Umsetzung einer einzelnen Maßnahme also nicht.

Dieses von Kenneth Lieberthal als »fragmentierter Autoritarismus«2 bezeichnete Phänomen einer strukturellen Uneinheitlichkeit und Ungleichzeitigkeit der Entscheidungsinstitutionen und -prozeduren bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Machtanspruchs durch die Partei begrenzt den unmittelbaren Einfluss der Regierung, ermöglicht aber die gleichzeitige Existenz unterschiedlicher Lösungen für spezifische Probleme in den Regionen. Dies schafft den Raum für die Experimente, die die chinesische Politik der letzten dreißig Jahre prägten. Die Einrichtung der »Wirtschaftssonderzonen« in den 1980er Jahren ist ein bekanntes Beispiel.

»Experimentelle« Politik bedeutet hier, dass einzelne Regionen oder bürokratische Untergliederungen mit neuen Methoden versuchen, spezifische Probleme zu lösen. Über verschiedene Evaluierungsprozesse wird dann ein Vergleich unterschiedlicher Ansätze vorgenommen, bevor eine »best practice« auf einer höheren Ebene eingeführt oder gar als landesweite Politik umgesetzt wird.3 Es entstanden komplexe bürokratische Apparate, die aufeinander bezogen sind, aber über unterschiedliche Grade von Autonomie und Entscheidungskompetenzen verfügen und ggf. mehr gegeneinander als kooperativ miteinander arbeiten. Im Wettbewerb um Ressourcen stehen sie zum Teil in offener Konkurrenz zueinander. Die parallel hierzu existente Parteistruktur doppelt dabei viele Funktionen der Bürokratie, bildet aber den entscheidenden Rahmen, da sie hierarchisch auf die Führung der Partei ausgerichtet ist. Damit stellt sie sozusagen das Element der Kontinuität in der chinesischen Politik dar, die ansonsten von stark divergierenden Interessen geprägt wäre.

Ein weiterer wichtiger Faktor für die Analyse der derzeitigen Zustände ist die politische Elite. Die personelle Zusammensetzung der chinesischen Führung spiegelt die Tendenzen, die der jeweils vorangegangenen Führung als Rekrutierungsmuster für neue Kader gedient hatten – womöglich eines der letzte Elemente der Planwirtschaft, die sich bis heute erhalten haben. Dabei ist der »Plan« nicht allein an den Erfordernissen einer antizipierten Entwicklungsperspektive (z.B. Schwerpunkten in der Wirtschaftsstrategie) ausgerichtet. Vielmehr wirken hieran auch Seilschaften mit. Diese können sich landsmannschaftlich, politisch oder anhand individueller Biographien sammeln und durchaus feste Organisationsstrukturen aufweisen. Der dominante Faktor, der entscheidenden Einfluss auf die Rekrutierung von Staatsbeamten für die unmittelbare Aufgabenerfüllung hat und die Selektion im Karriereprozess bestimmt, sind jedoch die politischen Präferenzen hinsichtlich der Ausrichtung der Entwicklungsperspektive. Dieses Grundgerüst der Rekrutierung ist vom unmittelbaren Erfolg bestimmter Politiken oder von Ereignissen beeinflusst, die das politische Gewicht der jeweiligen Personen(gruppen) im Gesamtgefügte verschieben können.

Eine »aktuelle« Führung ist also immer das Ergebnis mehrerer dynamischer Prozesse, die ggf. weit in die Vergangenheit zurückreichen, aber auch unmittelbar von der aktuellen Lage im Land bestimmt sind. Das System verbindet ein hohes Maß an Kontinuität mit der Fähigkeit, sich notfalls flexibel zu zeigen. Konsistenz wird dadurch gewährleistet, dass der Weg in die Spitze der Partei und damit des Staates ein langer ist. Politische Führer, die deutlich unter sechzig Jahre alt sind, gibt es in der obersten Ebene nur wenige, daran hat auch die Dynamik der letzten dreißig Jahre nichts geändert. Dabei hat das »Hochdienen« neben dem Aspekt, dass es die »Gefahr« (und das Potential) plötzlicher politischer Änderungen weitgehend minimiert, den für das Überleben der Führung fundamentalen Vorteil, dass es lange Zeiträume gibt, in denen die Aspiranten im System Netzwerke und Präferenzen ausbilden. Hierbei ist entscheidend, dass der innerste Kreis sich auf eine (!) Perspektive einigt und nicht in unterschiedliche Positionen auseinanderfällt. Geschieht Letzteres, entwickeln sich langfristig konkurrierende Gruppen innerhalb der Partei bzw. des Staates, deren Netzwerke sich nicht mehr überschneiden. Damit wächst die »Gefahr« grundlegender Neuorientierungen, und die Stabilität des Systems wird in Frage gestellt.

Die Führungswechsel seit dem Abgang Deng Xiaopings Ende der 1980er Jahre gestalteten sich nach diesem Muster »harmonisch«, d.h. sie verliefen weitgehend analog zur aktuellen Politik der wirtschaftlichen Liberalisierung (sozialistische Marktwirtschaft mit chinesischer Prägung).4 Grundlage dafür war die Zurückdrängung einer als dogmatisch bezeichneten »Linken« innerhalb der Partei, der die Kulturrevolution und ihre Auswüchse angelastet wurde.

Eine »Linke« gab es dennoch weiter, und sie gewann angesichts der zunehmenden Ungleichheit in der wirtschaftlichen Entwicklung und der Verteilung des aus der Politik von »Reform und Öffnung« resultierenden Wohlstandes sogar wieder an Bedeutung. Dies war nicht zuletzt der Fall, weil sich das System bei der Kontrolle der Bevölkerung der gleichen Muster bediente wie in den 1960er und 1970er Jahren. Die »linken« Kader wurden also nach wie vor benötigt und eingesetzt, um die bäuerlich geprägte Bevölkerung im Zaum zu halten. Ausdruck dafür ist z.B. die Ein-Kind-Politik, in der sich Phasen rigider Kontrolle und vorsichtiger Lockerung abwechseln.5 Ein anderes Beispiel sind Haushaltsregistrierungen, die eine restriktive Mobilitätbeschränkung bedeuten und die chinesischen Bürger weiterhin in Bauern mit wenig und Städter mit höherer Mobilität unterteilen und damit deren Grad der Freiheit bei der Arbeitsplatz-, Wohnort- und Bildungswahl bestimmen.6 Einzelne Personen aus dem »linken« Spektrum gewannen somit an Prominenz und mit ihren jeweiligen Netzwerken wiederum an Bedeutung.

Die Reaktivierung sozialistischer Ideale und Formen stieß dabei gerade bei den Chinesen auf Zuspruch, die Korruption und Missmanagement mit den »kapitalistischen« Tendenzen der chinesischen Wirtschaftspolitik und demgegenüber »Ehrlichkeit«, »Verlässlichkeit« und »gleichmäßige Verteilung von Reichtum« mit explizit sozialistischen Tugenden und der Zeit vor 1978 verbinden. Diese Sehnsucht nach »alten Zeiten« ist nicht als Verklärung abzutun, sondern Ausdruck einer Spaltung der Gesellschaft. Als »sozialistisch« bezeichnete Modelle bekommen damit wieder Konjunktur. Die »neue« Linke innerhalb der Partei stellte in einem gewissen Rahmen sogar das Gegenprogramm zur fortgesetzten Öffnung und Integration Chinas in die (kapitalistische) Weltwirtschaft dar. Bo Xilai, der von der Führung in Beijing 2007 als Gouverneur von Chongqing eingesetzt und als große Hoffnung gehandelt, auf dem Parteitag 2012 aber wieder abgesetzt wurde, ist dabei nur ein prominenter Exponent dieser Richtung. Dennoch sollte man die »neue« Linke in der Partei mit dem Abgang Bos keinesfalls abschreiben.

Am Beispiel der innerparteilichen Bedeutung der neuen Linken beweist sich erneut, dass die Kommunistische Partei eben kein monolithischer Block ist. Wie weit diese Strömungen sich in fest gefügten Fraktionen organisieren und wo die Trennlinien zwischen ihnen verlaufen, kann in weiten Teilen nur vermutet werden. Vor nicht allzu langer Zeit ließen sich die so genannten »Reformer« noch von den anderen unterscheiden, die man als »Konservative« titulierte. Heute erscheinen solche Zuschreibungen wenig hilfreich, um den Zustand und vor allem die Perspektive von Staat und Partei abzubilden. Das komplexe System bürokratischer Institutionen mit eigenen Befugnissen schafft Möglichkeiten zur Karrieregestaltung, die vorher nicht vorhanden waren. Daraus ergibt sich eine Tendenz zu ausdifferenzierten Positionen, die sich kaum noch in einer einheitlichen Struktur zusammenführen lassen. Noch ist die Partei aber in der Lage, diese Fäden zu ordnen und in das bestehende System zu integrieren.

Diese Fähigkeit der Partei zur Integration divergierender Kräfte und das sichtbare Vermögen staatlicher Institutionen, sich an komplexe Herausforderungen anzupassen, lassen einige Autoren (z.B. Andrew Nathan) davon sprechen, dass sich China unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei in ein »ultrastabiles System«7 verwandelt habe, das gute Chancen hat, sich erfolgreich in einer globalisierten Welt zu behaupten. Andere sehen das System bereits so geschwächt und ausdifferenziert, dass ein Kollaps unausweichlich scheint. Quasi zwischen den Extremen von Kollaps einerseits und ewig fortgesetzter Herrschaft durch die Kommunistische Partei andererseits stellen sich einige vor, China könnte entweder den Weg in die Demokratie finden (also in die demokratische Anpassung der Partei und die Ausbildung demokratischer Institutionen) oder aber auf halbem Wege hängen bleiben und mittelfristig die Adaptationsfähigkeit wieder einbüßen. Letzteres wäre verbunden mit einer zunehmenden Repression, um die Macht bestimmter Eliten aufrecht zu erhalten.8

Insgesamt ist die Volksrepublik China seit den 1980er Jahren also durch folgende Faktoren gekennzeichnet:

  • Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen,
  • Exportorientierung (Stimulation ausländischer Investitionen, Protektionismus des heimischen Marktes),
  • Stimulation der Wirtschaftsentwicklung durch Infrastrukturprogramme,
  • Abbau des staatlichen Dirigismus (Abschaffung der Volkskommunen, Aufhebung von Produktions- und Konsumquoten, Beschneidung der Privilegien von Staatsbetrieben, Aufhebung der Arbeitsplatzzuweisung, …),
  • Erprobung neuer Lösungswege durch regional oder sektoral beschränkte Experimente,
  • restriktive Mobilitätsbeschränkungen (vor allem für die Landbevölkerung) bei gleichzeitig forcierter Urbanisierung.

Die Politik kann folgende Erfolge verzeichnen:

  • hohes Wirtschaftswachstum,
  • starke Verringerung des Anteils der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze lebt,
  • mehr Konsummöglichkeiten für die Mehrheit der Gesellschaft und ein insgesamt deutlich gestiegener Wohlstand sowie bessere Lebensbedingungen für große Teile der Bevölkerung,
  • eine moderne Infrastruktur,
  • mehr Informationsmöglichkeiten und weniger beschränkbare Kommunikation.

Andererseits sind negative Effekte zu verzeichnen:

  • eine auseinanderklaffende Einkommensschere,
  • zunehmende regionale Unterschiede bei den Einkommen sowie insbesondere im Bereich des Zugangs zu Bildung und Gesundheit (u.a. Zusammenbruch des Schul- und Gesundheitssektors in vielen ländlichen Gebieten),
  • massive Umweltprobleme und eine steigende Anzahl von Umwelt- und Lebensmittelskandalen,
  • Verlust von fruchtbarem Land durch Urbanisierung und Desertifikation,
  • steigende Korruption.

Darüber hinaus kämpft die Volksrepublik mit einem massiven demographischen Problem, das zum Teil, aber nicht ausschließlich, auf die Ein-Kind-Politik zurückzuführen ist. Zwischen 1979 und 2004 wurde einem Ehepaar nur ein Kind zugestanden, Zuwiderhandlung war massiv sanktioniert. Seither wurde die Regel gelockert, aber nicht abgeschafft. Einerseits überaltert China durch die schmaler werdenden Generationen erschreckend schnell, zum anderen haben die traditionellen Wertevorstellungen einen »Überschuss« an Männern befördert. Viele dieser Männer werden aufgrund des Mangels an Ehepartnerinnen keine Chance haben, eine eigene Familie zu gründen. Stellt dies vor allem ein bereits akut gewordenes soziales Problem dar, wirft die Überalterung der Gesellschaft die generelle Frage auf, ob die sozialen Systeme Chinas in der Lage sein werden, immer mehr Menschen mit immer weniger Arbeitskräften zu ernähren. Der demographische Wandel ist ein besonderer Faktor bei Richtungsentscheidungen der Wirtschafts- und Sozialpolitik– nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch in allen Konflikten auf regionaler und kommunaler Ebene.

Diese kurze Übersicht soll als Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen und Betrachtungen zum Umgang mit Dissens und zur Inneren Sicherheit in China dienen.

Dissens wird von unterschiedlichen Ebenen der Bürokratie und der Partei als »Bedrohung« wahrgenommen. Sie reagieren darauf, indem sie die Sicherheitsorgane zur Hilfe ziehen. Wie die Regierung der Volksrepublik die Innere Sicherheit gestaltet, ist somit entscheidend für den Versuch, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in tragfähigen Strukturen weiter voranzutreiben. Andere, nicht minder wichtige Punkte sind in diesem Kontext der Abbau von Korruption und hemmendem Bürokratismus durch umfangreiche Verwaltungsreformen und das Beschreiten neuer Wege bei der Gestaltung von Sozial- und Bildungssystemen. Die Regierung der Volksrepublik China wird die Entwicklung partizipatorischer Regierungsformen und die Verregelung der sozialen Kämpfe mithilfe von neuen Strukturen nicht ewig vor sich her schieben können. Im Augenblick liegt der Umgang mit Dissens aber oftmals noch in den Händen der Sicherheitsorgane.

Bevölkerung an der kurzen Leine?

Zur Zahl der Demonstrationen in der Volksrepublik China liegen nur Schätzungen vor. Sie dürfte bei fast 100.000 pro Jahr liegen, also ca. 270 pro Tag. Allen Untersuchungen zu diesen Zahlen ist gemein, dass sie, bei allen konzeptionellen Differenzen, eine massive Zunahme seit 1997 beschreiben. Als Beispiel sei die Zusammenstellung von Florini, Lai und Tan genannt, die für 1993 von weniger als 10.000 Demonstrationen in China ausgehen. Die Zahl stieg nach ihren Recherchen bis 2001 auf mehr als 50.000 und erreichte 2006 fast 90.000.9 Zugleich wurden die einzelnen Demonstrationen größer und sind zum allergrößten Teil friedlicher Natur. Spontane Demonstrationen mit mehreren Tausend Teilnehmern sind keine Seltenheit. Allerdings werden gerade spontane Demonstrationen immer häufiger von gewaltsamen Ausschreitungen begleitet. Bilder von Protesten zeigen dann nicht selten brennende Autos, Plünderungen oder zerstörte Staatssymbole, wie brennende Polizeiwagen oder eingeschlagene Fenster von Verwaltungsbauten.

Die meisten Demonstrationen kreisen um ein Set von immer gleichen Themen. So sind im städtischen und industrienahen Bereich Demonstrationen häufiger geworden, die Umweltthemen aufgreifen – seien es Anklagen gegen einzelne Betriebe, deren Umweltverschmutzung das erträgliche Maß längst überschritten hat, oder sich wiederholende Lebensmittelskandale, die die lokalen Gesellschaften bedrohen. Im ländlichen Bereich überwiegen Land- und Wasserkonflikte, die nicht selten mit konkreten Anklagen gegen lokale Beamte oder Parteiangehörige verknüpft sind, denen man Machtmissbrauch oder Korruption vorwirft.

Außerdem gibt es eine große Bandbreite von Protestformen. Zu der fast schon traditionell zu bezeichnenden Einreichung einer Petition an den Nationalen Volkskongress bzw. an die staatliche Petitionsstelle in Beijing haben sich die Einreichung von Klageschriften bei Gericht oder gar die Veröffentlichung von Protestbriefen gesellt. Demonstrationen »zu organisieren« ist immer noch ein Risiko für die Organisatoren, und die Gefahr, bereits im Vorfeld einer Demonstration von Polizei, Geheimdiensten oder beauftragten Schlägern behelligt zu werden, ist durchaus real. Selbst legale Wege sind nicht ohne Risiko. Anwälte, die sensible Themen aufgreifen, werden in ihrer Arbeit behindert und zum Teil körperlich bedroht. Organisierter, themenzentrierter Dissens, der den Protest an den unterschiedlichen Orten bündeln könnte, fehlt fast vollständig.10 Diese Kräfte zusammenzuführen ist für die Organisatoren mit dem Risiko verbunden, sich persönlich zu exponieren, das heißt, sich direkter Repression auszusetzen.

Repression gegen jede Form von Dissens geht in erster Linie von der Partei bzw. den individuellen Parteimitgliedern oder Beamten vor Ort aus. Sie begreifen lokalen Widerstand als Bedrohung ihrer Position und mobilisieren die ihnen zur Verfügung stehenden Kräfte. Die Bekämpfung von Dissens setzt in vielen der berichteten Fälle sehr früh an und beginnt bei der Identifikation von »Störenfrieden« durch die Partei oder den Geheimdienst. Befragungen und kleinere Schikanen werden eingesetzt, um den potentiellen Störenfried zum Einlenken zu bewegen. Erstaunlich oft wird hierbei auf Gewalt oder Androhung von Gewalt zurückgegriffen. Gerade bei Fällen von Korruption oder in Konflikten um Landressourcen kommt verstärkt Gewalt zum Einsatz – und dies nicht nur durch die staatlichen Institutionen selbst, sondern auch durch angeheuerte Schläger. Hier finden sich in den wissenschaftlichen Beschreibungen und tagesaktuellen Presseberichten aus China immer öfter Verweise auf einen fließenden Übergang zwischen staatlicher Autorität und organisierter Kriminalität. Selbst Unternehmer oder Fabrikbesitzer greifen zur Durchsetzung ihrer Interessen auf Gewalt zurück.

Je prominenter ein Konflikt wird, desto eher werden staatliche Organe höherer Ebenen in die Lösung des Konfliktes einbezogen und lokale Institutionen werden zurückgedrängt. Die mögliche Gewaltspirale geht dann von lokalen Schlägern und lokaler Polizei auf Einheiten aus dem nächst größeren Ort oder auf Einheiten der Bewaffneten Polizei über, die eng an obere Führungsebenen innerhalb der Provinzen angelehnt sind. Die Bewaffnete Polizei (People’s Armed Police) trägt paramilitärische Züge und besteht aus kasernierten Einheiten. Sie verfügt über Spezialeinheiten zur Aufstandsbekämpfung (siehe auch weiter unten).

Diese wenig ermutigenden Ausgangsbedingungen haben zu einigen spezifischen Mustern des Protestes geführt, die im Folgenden kurz angerissen werden sollen.

Petitionswesen – Widerstand für die Führung sichtbar machen

Petitionen können auf jeder Ebene und bei allen staatlichen Stellen eingebracht werden und haben sich als Form des sozialen Protestes fest etabliert. Eine Petition zentral vorzubringen zeigt an, dass lokale Lösungsversuche gescheitert sind. Eine Petition über einen lokalen Konflikt bei der nationalen Petitionsstelle in Beijing einzubringen, erscheint angesichts der theoretischen Möglichkeiten einer Klage beim zuständigen Gericht auf untergeordneterer Ebene im 21. Jahrhundert ein Anachronismus zu sein, und doch wird diese Möglichkeit häufig genutzt.11 Dabei sind es nicht nur die ländlichen Regionen, aus denen die Petitionen ihren Weg nach Beijing finden, sondern oftmals auch das Umfeld größerer Städte.

Eine Petition erhöht den Druck auf die lokalen Verantwortlichen, ein Problem zu lösen, und gibt diese der Gefahr preis, dass Korruption oder Machtmissbrauch höheren Ebenen bekannt werden. Eine Petition kann also in erster Linie ein Instrument sein, vorgeordnete Stellen über die Zustände auf den unteren Ebenen zu informieren – eine Garantie auf Lösung stellt sie nicht dar. Die Aufrechterhaltung dieses Systems ist auch im Interesse der Beijinger Führung, da es einer der wenigen unabhängigen Wege der Informationsvermittlung aus den Provinzen darstellt – alle anderen sind den Hierarchien von Partei und Bürokratie untergeordnet. Das System der Petitionen hat sich aus Sicht der Regierung auch bewährt, um Protest zu kanalisieren – einzelne Wissenschaftler sehen in dem System einen Beleg dafür, dass autoritäre Regime wie das chinesische durchaus von Widerstand profitieren können und damit letztlich sogar stabiler werden.12

Das Gericht – auf Einhaltung von Gesetz und Ordnung klagen

Die Unabhängigkeit chinesischer Gerichte steht immer noch in weiten Teilen in Frage – sie sind mehr ein Instrument der Bürokratie und Partei als eine unparteiische Institutionen. Öfter wird die Phrase »rule of law« in ein »rule by law«13 umformuliert, sollen die Zustände in China beschrieben werden. Andererseits machen die chinesischen Bürger mehr und mehr Gebrauch von der Möglichkeit, den Staat zu verklagen und damit den Druck auf die Verantwortlichen zu erhöhen, bereits erlassene Gesetze zu befolgen. Und auch wenn die Mehrheit der Klagen im Sande verläuft oder vom Gericht erst gar nicht zugelassen werden, sind die Mechanismen in der Bevölkerung doch bekannt geworden. Jährlich werden inzwischen weit über 100.000 Klagen gegen die Regierung und ihre Organisationen erhoben.14

Kommunikation ist alles – das Internet als Ersatzöffentlichkeit

Das Internet hat wie überall auf der Welt auch in China seinen Siegeszug angetreten und damit die Kommunikation unter den Chinesen selbst ganz wesentlich beflügelt. Es ist einer der Kanäle geworden, staatliche Medienangebote zu ergänzen und zu hinterfragen. Chinesen nutzen das Internet auch dazu, ihre Unzufriedenheit mit dem politischen System oder mit einzelnen Maßnahmen des Regimes zu äußern. Hier sind Freiräume für Dissidenten und Bürgerrechtler entstanden, sich auszutauschen und Informationen über Missstände zu sammeln. Blogs und die Kommentarfunktionen der Medien werden genutzt, um Kritik zu äußern und zu verbreiten.

Der Staat hat mit mehreren Maßnahmen versucht, diesen Freiraum zu beschneiden oder zumindest steuerbar zu machen. Solche Maßnahmen umfassen z.B. das Posten eigener (regierungstreuer) Beiträge in Blogs, das Abschalten kritischer Seiten oder das Zensieren einzelner Beiträge. Seit 2012 müssen sich chinesische Internetnutzer mit ihren echten Namen registrieren lassen, wenn sie bestimmte Funktionen nutzen wollen – das soll, so die offizielle Begründung, dem »Hooliganismus« im Internet einen Riegel vorschieben und krasse Statements unterbinden. Letztlich dient es vor allem dazu, den Bereich der Anonymität im Netz abzuschaffen und Dissens eindeutig Personen zuzuordnen, die man dann repressiv behandeln kann. Zensur im Netz gestaltet sich dennoch schwierig, da sich chinesische Blogger die Besonderheiten der chinesischen Sprache zunutze machen.15 Bei allen Chancen, die das Internet bietet, ist jedoch zu bedenken, dass eher eine kleine Gruppe diese Möglichkeiten nutzt. Große Teile der Bevölkerung nutzen Internet nur für Entertainment oder haben gar keinen Zugang. Das gilt insbesondere für ländliche Gebiete, die von bestimmten Konflikten in besonderer Weise betroffen sind.

Trittbrett fahren – wenn nichts als die Straße bleibt

Aus obiger Beschreibung der verschiedenen Dissensformen wurde deutlich, dass der Staat sich vielfältige Eingriffsmöglichkeiten vorbehält, um Protest frühzeitig zu identifizieren und mit Repression zu beantworten. Bestimmte Kanäle, wie Klagen vor Gericht oder Petitionen, erfordern einen Beschwerdeführer, der Protest nicht nur sichtbar, sondern auch bürokratisch fassbar macht. Der anonyme Freiraum für Kritik im Internet wird immer wieder beschnitten und scheidet für die Organisation von Widerstand weitgehend aus: Der Protestierende muss davon ausgehen, dass der Staat oder die Kritisierten mithören und mitmischen.

Ist es also letztlich unmöglich, Kritik zu äußern, ohne Gefahr zu laufen, dass man persönlich angegangen wird, sucht man andere Wege. Einer davon ist, erlaubte/geduldete Demonstrationen zu nutzen, um Forderungen zu formulieren, die über den unmittelbaren Anlass hinausgehen, oder um mittels der Zerstörung staatlicher Symbole Unzufriedenheit zu äußern. Eine staatlich zumindest nicht unterbundene Demonstration gegen die japanische Position zur Diaoyutai-/Sengaku-Inselgruppe wurde so dazu genutzt, Autos japanischer Fabrikate zu zerstören – interessanterweise handelte es sich dabei um Polizeiautos. Große Demonstrationen bieten sozusagen den Schutzraum, sich an staatlichen Institutionen zu vergreifen. Dass dieser »Schutzraum« nicht nur für politisch motivierte Proteste genutzt wird, sondern sich hier auch Formen von Zerstörungslust finden, ist dabei ebenso wenig auszuschließen, wie die Präsenz von beauftragten Provokateuren, die einen Protest diskreditieren wollen.

Weiterer Anlass für den weitgehend ungezielten Protest sind einzelne, mitunter kleinere Akte staatlicher Willkür, die innerhalb kürzester Zeit zu spontanen Massendemonstrationen führen, in deren Verlauf z.B. Polizeistationen zerstört oder Regierungsgebäude besetzt werden. Solche Demonstrationen sind selbst für die Einheiten der Bewaffneten Polizei kaum zu stoppen. Im Kern sind Ausschreitungen dieser Art ein Anzeichen für das Fehlen anderer Verregelungsmechanismen und sich aufstauender Unzufriedenheit. Sie wecken umgekehrt Zweifel, ob wirklich der Anlass der Demonstration die Menschen zur Teilnahme motiviert. Wenn, wie jüngst in Qidong, eine große Demonstration für eine sauberere Umwelt von Zerstörung und Ausschreitungen begleitet wird, stellt sich die Frage, ob es manchen Teilnehmern wirklich um eine saubere Umwelt geht oder nicht vielmehr um Protest gegen staatliche Willkür, um einen Denkzettel für Offizielle.16 Dies gilt insbesondere bei Demonstrationen zu außenpolitischen Positionen der Volksrepublik China, worauf weiter unten eingegangen werden soll.

Das Unvermögen der zuständigen Behörden, alternative Lösungswege und Optionen für Meinungsäußerungen anzubieten, führt zu einer immer geringeren Identifikation der Bürger mit diesen Organen. Behörden und einzelne Kader werden erst recht als korrupt und unehrlich empfunden, je mehr die Ordnung über Gewalt und Repression sichergestellt wird. Dabei ist der Vertrauensverlust auf der untersten lokalen Ebene am stärksten und nimmt in den Hierarchieebenen nach oben ab. Dies führt zu dem Paradox, dass die zentrale Führung in Beijing immer noch hohes Vertrauen genießt, obwohl sie maßgeblich für die Situation verantwortlich zeichnet. Die öffentlichen Auftritte des nun ausgeschiedenen Premierminister Wen Jiabao an verschiedenen Krisen- und Katastrophenorten haben die emotionale Bindung an die Führung des Staates deutlich gestärkt.

Nationalismus als universelle Waffe gegen Dissens

Eines der wesentlichen Motive des Alltags in der VR China ist die Omnipräsenz nationaler Symbolik – sie wirkt in vielfacher Art und Weise auf das Verhalten der Bevölkerung zurück. Ausgangspunkt für die Forcierung des Nationalismus durch die Regierung war der Versuch, Kitt für eine Gesellschaft zu finden, die sich sozial immer weiter auseinander entwickelt. Das Leitmotiv der »harmonischen Gesellschaft«,17 das die Regierung Hu/Wen besonders betonte, wird maßgeblich über nationale Symbole und Rituale vermittelt. Der Rückgriff auf die Geschichte, wie z.B. bei den Eröffnungsfeierlichkeiten der Olympischen Spiele 2008 in Beijing, wird dabei mit nationalem Pathos aufgeladen und soll den Bürgern über ethnische und soziale Grenzen hinweg ein Gefühl des Zusammenhalts vermitteln. Als Negativfolie werden Feindbilder aktualisiert oder herausgebildet – Japan und die Vereinigten Staaten sind als staatlich akzeptierte Ziele für Ressentiments etabliert.

»Nationalstolz« hat ganz wesentlich dazu beigetragen, dass Chinesen ihr Land mit Selbstbewusstsein vertreten – weit mehr als der für viele immer noch nicht greifbare wirtschaftliche Erfolg ihres Landes. Öffentlich nach ihren Motiven für ihren hohen persönlichen Arbeitseinsatz gefragt, verweisen viele Chinesen reflexartig auf »ihren« Beitrag zum Aufbau des Landes; persönlicher Reichtum und Erfolg werden als Motivationsgründe in öffentlichen Äußerungen nicht genannt. Der nationale Aufstieg rechtfertigt jedes Mittel, und so stehen die Interessen z.B. ausländischer Unternehmen nach Patentschutz oder fairen Marktzugangsbedingungen hinten an. Der unternehmerische Erfolg einzelner wird eingebettet in den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas als »nationales Projekt« und wird damit auch von denen vertreten, die ggf. überhaupt nicht davon profitieren. »Nation« egalisiert somit einen Teil der Unterschiede zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, und kritische Anmerkungen von Ausländern stoßen auf eine geschlossene Front der Ablehnung.

Doch was von außen, z.B. aus der Perspektive eines westlichen Unternehmers, in China hermetisch und homogen erscheint, ist lediglich Fassade und bedeutet nicht zwangsläufig einen »Konsens« nach innen. Aus der Innensicht ist das Leitmotiv »Nation« immer weniger geeignet, Konflikte mehr als nur zu kaschieren. Kritik durch Chinesen begegnet die Führung nicht selten mit dem Etikett »Geheimnis-« oder »Landesverrat« oder sogar »Spionage für das Ausland« und stellt sie damit auf eine Ebene mit der Kritik durch Ausländer: Sie wird per se als nicht gerechtfertigt zurückgewiesen. Dadurch kommt dem Nationalismus zunehmend eine disziplinierende Funktion zu. Selbst für kritische Chinesen ist deshalb ein gewisses Maß an nationalem Pathos unerlässlich, um bestehen zu können.

Andererseits bieten nationale Motive (häufig) die einzige Möglichkeit zu einer freien Meinungsäußerung. Jemand, der einen beleidigenden Kommentar zu einem aktuellen Thema im Internet platziert, darf dies ungestraft tun, solange er ihn mit verletztem Nationalstolz begründet. Die Kommentarspalten englischsprachiger chinesischer Webseiten füllen sich binnen Minuten mit nationalistischen und sogar rassistischen Einträgen, wenn Fragen der nationalen Integrität berührt sind. Streitigkeiten um die Inseln im Südchinesischen Meer oder um die Diaoyutai-Inseln im Ostchinesischen Meer bieten die Chance, sich ungehindert verbal auszutoben. Sollte es, wie im Falle des Konflikts mit Japan um die Diaoyutai-Inseln, zusätzlich die Möglichkeit geben, das Dampfablassen auf der Straße fortzusetzen, so wird auch diese Chance weidlich genutzt. Dabei ist dies keineswegs einfach als fehlgeleiteter Nationalismus einzustufen, sondern als Ausdruck des latent in der Bevölkerung vorhandenen Konflikt- und Gewaltpotentials.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen in diesem Zusammenhang soziale Kämpfe, die oftmals als Kämpfe zwischen ethnischen Gruppen interpretiert werden. In der Hierarchisierung von »Nation« stehen die Han-Chinesen nicht nur zahlenmäßig an der Spitze, sondern ebenso in allen staatlichen Leitungsfunktionen und im Wirtschaftsleben. Han-Chauvinismus, der fest von einer Überlegenheit der Han-Chinesen gegenüber den chinesischen Minderheiten ausgeht, unterfüttert ein Verhalten, das von den Minderheiten teils als kolonial, zumindest aber als arrogant empfunden wird. Hier kippt die Wahrnehmung von »Nation« und führt bei den Minderheiten, die bislang kaum vom Wirtschaftsboom profitieren, zur Distanzierung, bei den Han-Chinesen hingegen zur Verstärkung des Gefühls eigener Überlegenheit. Dazu gehört auch die generelle Abwertung von Minderheiten, wie Tibeter oder Uiguren, als rückständig, wenn nicht sogar als minderwertig. Hierin liegt ein großes Konfliktpotential, das wiederum ein großes Gewaltpotential birgt. Der Han-Chauvinismus bildet die Folie, auf der sich Separationsbewegungen als Alternative darstellen. Die besondere Repression, der nationale Minderheiten in der Volksrepublik China ausgesetzt sind, lassen das Potential und die Wahrscheinlichkeit für Terrorismus anwachsen.

Umbau der Sicherheitsarchitektur des Landes

Der Nationale Volkskongress 2013 hat einer Erhöhung des Verteidigungsbudgets um mehr als elf Prozent zugestimmt, d.h. der Trend der stetigen und massiven Budgeterhöhungen setzt sich fort. Chinas Aufrüstung geht weiter und wird damit den Anstieg der Verteidigungsausgaben in anderen asiatischen Ländern weiter beschleunigen. Die Tendenz in China geht zur weiteren Verkleinerung der eigentlichen Truppe und zur Verbesserung der technischen Ausrüstung. Schwerpunkte sind vermutlich die weitere Aufrüstung der chinesischen Flotte und die Modernisierung der Luftwaffe. Viel Technologie wird im Ausland gekauft, und auch europäische Konzerne verdienen daran mit. Nach Innen wird die Aufrüstung der Volksbefreiungsarmee mit »nationalen« Motiven verknüpft und legitimiert. Die Verteidigung des Vaterlandes und die neue Größe der Nation sind wiederkehrende Muster bei der Rechtfertigung von Rüstung und Militär. Die Aufrüstung der Volksbefreiungsarmee hat in den westlichen Medien weithin Beachtung gefunden, daher soll an dieser Stelle nicht weiter darauf eingegangen werden. Im Weiteren wird vielmehr ein Aspekt beschrieben, der häufig zu wenig Beachtung findet, aber unmittelbar mit dem Ausbau der Volksbefreiungsarmee im Zusammenhang steht: der Komplex der Inneren Sicherheit der Volksrepublik China.

Dieser wird gerne übersehen oder auf wenige Schlagwörter reduziert, dabei ist er seit dem Start der Reformpolitik zu Beginn der 1980er Jahre tief greifenden Wandlungen unterworfen. China hat im Vergleich zu vielen anderen Ländern mit einem Verhältnis von ca. 0,8 Polizisten pro 1.000 Einwohner eine kleine Polizei (Deutschland kommt auf drei Polizisten pro 1.000 Einwohner).18 Die Verteilung der Polizei innerhalb Chinas ist jedoch sehr unterschiedlich und korrespondiert nur wenig mit der tatsächlichen Bevölkerungsdichte. Die Polizei gliedert sich zudem in unterschiedliche Bereiche wie Forst-, Bahn- oder Kriminalpolizei, so ist der für die Bevölkerung einsatzfähige Teil noch kleiner.

Umgekehrt sind die Aufgaben, die der Polizei übertragen wurden, in den letzten 30 Jahren deutlich gewachsen. Dies hat zum Teil damit zu tun, dass bestimmte Aufgaben, wie z.B. ein Mindestmaß an Kontrolle in den Betrieben oder großen Wohnquartieren aufrechtzuerhalten, von den ursprünglichen Trägern, nämlich den »Einheiten«,19 nicht mehr erfüllt werden. Abnehmende soziale Kontrolle und gestiegene Unterschiede im Lebensstandard haben in China zu steigender Kriminalität geführt, was sich in zusätzlicher Arbeit für die Polizei niederschlägt. Insbesondere die höhere Mobilität, also sämtliche Aspekte von Verkehr, beschäftigt die Polizei heute mehr als noch vor zehn oder 15 Jahren.

Für bestimmte Aufgaben hat die Polizei selbst ab ca. 1990 Lösungen außerhalb der eigenen Ränge geschaffen. Die in China omnipräsenten Sicherheitsdienste sind ein Beispiel dafür. In den großen Städten wie Beijing oder Shanghai gibt es fast ebenso viele Mitarbeiter von Sicherheitsfirmen wie Polizisten. Diese Dienste agieren zwar unabhängig von der Polizei und ihr sozialer Status ist deutlich niedriger anzusetzen, sie wurden aber im Regelfall von der Polizei gegründet und sind in deren »Besitz«, d.h. die Polizei muss ihre Aktivitäten genehmigen, sobald sie im öffentlichen Raum tätig oder gar bewaffnet sind. Sicherheitsdienste werden oft in sensiblen Bereichen eingesetzt und sind nicht selten selbst Ursache von Streitigkeiten, zu denen dann wiederum die Polizei gerufen wird.

Die Unterhaltung der Polizei ist nicht allein Aufgabe des Staates, sondern auch der Kommunen und Provinzen, d.h. bestimmte Polizeitruppen unterstehen staatlichen, andere kommunalen Institutionen. Die Demobilisierung von Soldaten im Zuge der Truppenreduktionen der 1980er und 1990er Jahre und die Neudefinition der Aufgaben bestimmter Truppenteile haben in den 1990er Jahren eine parallele Polizeistruktur entstehen lassen, die seither kontinuierlich ausgebaut wurde. Die »Bewaffnete Polizei« mit fast zwei Millionen Angehörigen ist dabei zum Rückgrat der Aufstandsbekämpfung geworden. Sie wird anders als die reguläre Polizei vom Zentralstaat eingesetzt und über die Innen- bzw. Sicherheitsministerien der Provinzen besonders eng an die zentralen Parteistrukturen angebunden. Der im Staatshaushalt vorgesehene Etat für Innere Sicherheit, der vor allem diese Truppe sowie Grenzpolizeien und Sicherheitsdienste speist, übersteigt den Etat der Volksbefreiungsarmee bereits seit einiger Zeit. Im neuen Staatsbudget von 2013 wurden für Innere Sicherheit knapp 95 Milliarden Euro veranschlagt (+8,7% gegenüber dem Vorjahr), wohingegen sich die Verteidigungsausgaben auf 91 Milliarden summieren (+10,7%).20

Die Bewaffnete Polizei, deren Grundstamm von Wehrpflichtigen gestellt wird, hat professionelle Sondereinsatzkommandos und Truppen zur Aufstandsbekämpfung gebildet, deren Ausbildung und Ausrüstung den militärischen Einsatzkommandos in nichts nachsteht. Für den flüchtigen Beobachter ist sie von regulärem Militär nicht zu unterscheiden, hat aber explizit polizeiliche Aufgaben. Sie genießt z.B. im Straßenverkehr ähnliche Privilegien wie das Militär. Die im Straßenbild von Beijing oder Lhasa wahrgenommene erdrückende Präsenz von Militär entpuppt sich bei näherem Besehen meist als Bewaffnete Polizei. Da sie an die oberen Führungsebenen angebunden ist, sind dem Einsatz der Bewaffneten Polizei bei lokalen Konflikten Grenzen gesetzt. Sie ist mithin keine Truppe, die ein nachgeordneter Kader in der Provinz für persönliche Ziele oder zur schnellen Befriedung von Unruhen einsetzen kann. Die Bewaffnete Polizei kommt dann zum Einsatz, wenn große Menschenmengen zusammenkommen bzw. dann, wenn lokale Polizeieinheiten sich überfordert zeigen.

Ebenfalls einen kontinuierlichen Ausbau hat die Staatssicherheit erfahren, die meist in Zivil auftritt und vor allem das Gefühl von ständiger Beobachtung vermittelt. Die Staatssicherheit ist nicht nur im Straßenbild präsent, wo sie ununterscheidbar von anderen Parteispitzeln die Überwachung z.B. von Dissidenten oder Journalisten übernimmt. Sie ist außerdem hinter den Kulissen aktiv und zeichnet für die verschiedensten Akte der Internetzensur und -manipulation verantwortlich. Die Staatssicherheit schikaniert ausländische wie inländische Journalisten und behindert unliebsame Recherchen durch Drohanrufe oder die Einschüchterung von Gesprächspartnern. In den letzten zwei Jahre hat sie überdies ganz wesentlich dazu beigetragen, die Zahl aktiver Menschen-, Arbeits- oder Umweltrechtsanwälten zu dezimieren, indem sie diese massiv unter Druck gesetzt hat, andere Tätigkeitsfelder anzusteuern.21

Die unterste Ebene des Sicherheitsapparates wird von lokalen Kadern und ihren eigenen Hilfstruppen zur Repression gebildet. Oftmals als interne Sicherheitsdienste organisiert, sind es meist Schlägertrupps, die loyal zu einem einzelnen Kader stehen und deren Rolle sich vom Personenschutz zur universell einsetzbaren Truppe zur Durchsetzung von Partikularinteressen gewandelt hat. Hier ist die Schwelle zum Einsatz von Gewalt besonders niedrig, und es kommt immer wieder zu massiven, auch körperlichen Übergriffen. Einerseits ist der Zentralregierung die Existenz solcher Strukturen unangenehm, andererseits sind ihre diesbezüglichen Einflussmöglichkeiten tatsächlich begrenzt. Außerdem fehlt es der Führung in Beijing am Willen, diese Strukturen wieder zu beseitigen. Die Macht der lokalen Kader speist sich dabei aus der Dezentralisierung von Entscheidungen, die eingangs erwähnt wurde – sie sollten damit die Möglichkeit erhalten, wirtschaftliches Wachstum in ihrem Bereich zu fördern. Überdies müssen sie ihre Strukturen selbst finanzieren, auch hierfür wurden ihnen Freiheiten eingeräumt. Das Fehlen von Vorgaben für unmittelbar anzuwendende Regelungsmechanismen im Streitfall oder bei Interessenskollisionen hat diese Ebene zusehends in kleine Königtümer verwandelt, in denen Partei- bzw. Staatskader unumschränkt »herrschen«. Die Motivation der einzelnen Personen sowie die anschwellende administrative Struktur dieser Gebilde haben der Tendenz zur Ausbildung mafiöser Strukturen Vorschub geleistet.

Die neue Führung unter Xi Jinping hat sich unter anderem vorgenommen, eine der Institutionen zu beschneiden, wenn nicht sogar vollständig abzuschaffen, die ganz wesentlich Bestandteil lokaler Repression ist. Das unter dem Stichwort »laogai« () oder »laojiao« (), also »Umgestaltung durch Arbeit« oder »Umerziehung durch Arbeit« bekannte Phänomen umfasst nicht nur die offiziell eingerichteten Lager, in die Personen von Gerichten (in »laogai«) bzw. bis zu vier Jahre sogar ohne Gerichtsverhandlung direkt durch die Polizei (in »laojiao«) eingewiesen werden können – bei letzteren spricht man von ca. 350 Lagern mit 160.000 Insassen22 –, sondern darüber hinaus inoffizielle und damit illegale Lager lokaler Machthaber.23 Das von Willkür gekennzeichnete Arbeitslagersystem soll nun zurechtgestutzt werden – ob damit aber die Eingriffsrechte der Polizei ebenfalls eingeschränkt werden, ist bisher nicht bekannt.

Betrachtet man die Entwicklungen der letzten Jahre im Zusammenhang, so ist einerseits festzustellen, dass die Ansätze, die zunehmend eskalierende und unmittelbare Repression durch lokale Kader zurückzudrängen, eher halbherzig verfolgt werden, sich die Führung in Beijing aber andererseits Instrumente schafft, um strukturelle Repression langfristig selbst ausüben zu können. Es deutet sich somit ein gradueller und langsamer Übergang an, wobei die Instrumente der Kontrolle verfeinert werden. Die damit einhergehende Zunahme der Kontrolle durch Beijing wird von all den Chinesen begrüßt werden, die die bisherige lokale Repression als Ausdruck persönlicher Verfehlungen lokaler Kader begriffen haben. Ob aber hiermit auch das Gewalt- und Repressionspotential insgesamt wieder abnimmt, ist eher anzuzweifeln. Zentral gesteuerte Instrumente wie die Bewaffnete Polizei werden die Fragmentierung der Inneren Sicherheit kaum rückgängig machen.

Brüche in der »harmonischen Gesellschaft«

Das beängstigende Ausmaß, das Kontrolle und Repression in der VR China erreicht haben, stellt den »Konsens«, der nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 zwischen Regierung und Gesellschaft hergestellt wurde, zunehmend in Frage. Galt nach 1989 das Versprechen von wirtschaftlichem Aufstieg und wachsendem Wohlstand als ausreichend, um sozialen und politischen Protest zu deckeln und Forderungen nach einer demokratischen Gesellschaft und Mitbestimmung hintan zu stellen, so werden die Fehlentwicklungen und Auswüchse des Systems von der Bevölkerung nun immer weniger toleriert. Eine Rolle spielen dabei soziale Ungleichheiten, die in offenen Kämpfen resultieren, sowie bewusster Dissens zur Regierung in Form von Bürgerrechtsaktivitäten. Daraus entsteht eine anschwellende Unzufriedenheit, die die Stimmung im Land prägt und sich jederzeit entzünden kann. Gewaltsame Übergriffe nehmen an Häufigkeit und Intensität zu und gefährden weit mehr als »nur« die unmittelbar Beteiligten: Was leidet ist der Glaube an »die Gemeinschaft«.

Die oben beschriebenen Elemente zur Kontrolle der Bevölkerung in China haben nicht nur den Spielraum einzelner Personen eingeschränkt, sondern sie verunmöglichen jede Solidarisierung, die über das persönliche Umfeld hinausgeht. Jeder Form von Interessensvereinigung, die kein staatliches Plazet zu erwarten hat, sich also nicht allen aufgezeigten Strukturen unterordnet, ist potentiell der Verfolgung ausgesetzt. Chinesische Bürger setzen sich trotzdem immer öfter über dieses Diktum hinweg und stellen damit die Hierarchie und die Leistungsfähigkeit der staatlichen Verantwortlichen in Frage. Das System beweist zwar immer wieder aufs Neue, wie anpassungsfähig es ist, doch zeigen sich mehr und mehr Brüche im offiziellen Weltbild. Kleine Reformen und insbesondere die schier unglaubliche Fähigkeit der Partei, sich vom Fehlverhalten ihrer Kader zu distanzieren, beruhigen die Protestierenden allerdings immer noch so weit, dass die sich aufdrängenden Systemfragen nicht gestellt werden und Proteste wieder abebben.

Parallel zu dieser Entwicklung ist wie erwähnt die Zunahme eines Gewaltpotentials zu beobachten, einerseits im staatlichen Rahmen, in dem Übergriffe durch Polizei und Sicherheitsdienste zunehmen, andererseits im privaten Raum, wo Gewalt zur Durchsetzung privater Interessen angewendet wird. Im staatlichen Bereich unterscheiden sich Polizei, Bewaffnete Polizei und Mitarbeiter der Staatssicherheit graduell hinsichtlich ihres Gewalteinsatzes. Private Sicherheitsdienste zur Bewachung von Gebäuden oder öffentlicher Einrichtung sind unbewaffnet und ihre Möglichkeiten sind beschränkt; sie genießen zudem nicht den Schutz vor Verfolgung, wie dies beispielsweise bei den Sicherheitsdiensten bzw. Personen der Fall ist, die einzelnen Beamten oder Parteikadern zugeordnet sind. Spätestens bei diesen löst sich zwar die formale Verbindung zum Staat auf, aufgrund ihrer Verbindung zu den Beamten und Parteimitgliedern, die sie beauftragen, bleiben sie aber straffrei, obwohl sie eigentlich nur gedungene Schläger sind.

Diese staatlicherseits vorgelebte Gewaltaffinität färbt massiv auf die Bevölkerung ab. Die angesichts der Übermacht staatlicher Organe empfundene Ohnmacht und Hilflosigkeit mündet in die Bereitschaft, Gewalt gegen Sachen oder gegen Personen in Kauf zu nehmen bzw. angedrohter Gewalt mit ebensolcher zu begegnen. Wenige und schnell ausgeschöpfte legale Mittel, bei deren Inanspruchnahme sich Kritiker oftmals der Gefahr von Repressionen aussetzen, lassen die Frustration zusätzlich in Gewaltbereitschaft münden.

Im Kontext der eingangs erwähnten strukturellen Fragmentierung des Staates wird also deutlich, dass der chinesische Staat sein Gewaltmonopol verliert. Mehrere Akteure unterschiedlicher Ebenen nehmen den Einsatz von Gewalt als legitimes Mittel in Anspruch und treten teilweise in offene Konkurrenz. Hat die Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen in den 1980er und 1990er Jahren einen wirtschaftlichen Boom ermöglicht, so erweisen sich diese Dezentralisierungen nun als Hemmschuh bei der Verregelung sozialer Konflikte. Die Versuche der Zentrale, ihr Gewaltmonopol zurückzugewinnen, scheinen sich vielfach im Ausbau repressiver Strukturen zu erschöpfen. Demonstrationen, besonders jene, die in Gewalt und Zerstörung münden, bieten für die Zentrale einen Vorwand, die »Sicherheit« weiter auszubauen und die Kontrolle zu verstärken.

Außenpolitik unter den Bedingungen zugespitzter innerer Konflikte

Am Beispiel des schwelenden Territorialkonfliktes mit Japan wird besonders deutlich, wie das nationalistische Sediment nicht nur zu großen und zum Teil gewaltsamen Demonstrationen in China selbst hinleitet, sondern auch negative Auswirkungen auf die diplomatischen Lösungsmöglichkeiten entfaltet.

Die Felsspitzen der fünf Inseln und drei Felsenriffe umfassenden Diaoyutai-/Senkaku-Gruppe ragen 330 Kilometer vor der chinesischen Küste und 170 Kilometer nordwestlich von Taiwan aus dem Wasser. Die nächste bewohnte japanische Insel ist ca. 150 Kilometer entfernt. Sie sind mit insgesamt knapp fünf Quadratkilometer zu klein für eine dauerhafte Besiedelung und verfügen über keine nennenswerten Bodenschätze. Sie wurden 1895 von Japan zum Staatsgebiet erklärt und nach dem Zweiten Weltkrieg von den Vereinigten Staaten verwaltet. 1972 gaben die USA die Inseln an Japan zurück und zementierten damit den heutigen Zustand. Die Volksrepublik China wie Taiwan haben aber zeitgleich ihrerseits einen Anspruch auf die Inseln bekräftigt.

Die Diskussion um die Zugehörigkeit der Inseln flammte ab Mitte der 1990er Jahre verstärkt auf, als Probebohrungen in der Zone zwischen Japan und China die Vermutung größerer Gas- bzw. Ölfelder auf dem Meeresgrund erhärteten. Letztendlich erweitern oder verkleinern die Inseln die jeweiligen Nutzungsansprüche auf die Bodenschätze in der Region, oder präziser: Es geht um Energieressourcen und viel Geld. Auf die Inseln zu verzichten, bedeutet für Japan somit weit mehr als den Verlust von ein paar aus dem Wasser ragenden Felsspitzen, sondern ggf. den Verzicht auf den Zugriff auf Gas- und Ölvorkommen.

Als weiteres, durchaus ernst zu nehmendes Motiv, die Inseln unter Kontrolle zu bringen, spielen geostrategische Überlegungen eine Rolle. Die Volksrepublik China sieht sich durch die japanische Inselkette von einem direkten und ungehinderten Zugang zum Pazifik abgeschnitten. Mit einem militärischen Posten auf den Inseln ließe sich eine Route zwischen den japanischen Inseln Okinawa im Norden und Ishigaki im Süden leichter sicherstellen – und die Volksrepublik könnte sich nordöstlich von Taiwan in Stellung bringen. Diese Facette des Konfliktes spielt in der chinesischen (wie in der akademischen) Diskussion über die Inseln eine nachgeordnete Rolle, und auch in den japanischen Begründungen für den Anspruch auf die Inseln bestimmen nationalistische Untertöne die Melodie, die so gar nichts mit den handfesten Interessen zu tun haben.

Die Streitigkeiten werden durch symbolische Aktionen beider Seiten angeheizt: Ultranationalisten aus Japan errichteten Leuchttürme auf den Inseln (1996). Chinesische (VR und Taiwan) Fischer hissten eine Flagge auf einer der Inseln und fischten in der Umgebung (ab 1997). 2010 rammten chinesische Fischer ein Boot der japanischen Küstenwache, woraufhin der chinesische Kapitän in Japan verhaftet wurde. Seitdem reißen die Zwischenfälle nicht mehr ab. Als 2012 die japanische Regierung die Inseln formal käuflich erwarb, brach in China und auf Taiwan ein nationalistischer Sturm los. Hongkonger Aktivisten segelten zu den Inseln und versuchten, auf ihnen zu landen; sie wurden von der japanischen Küstenwache festgesetzt und einige Tage festgehalten. Chinesische Schiffe durchkreuzen das Gebiet in regelmäßigen Abständen, und die japanische Küstenwache sieht sich zunehmend mit aggressivem Verhalten der chinesischen Kapitäne konfrontiert. Oftmals sind es Fischereiboote, die durch Provokationen auffallen und von der Küstenwache zurechtgewiesen werden, worauf die chinesische Seite mit der Entsendung größerer Fischereischutzboote reagiert.

Hier wirkt die Fragmentierung der chinesischen Behörden eskalierend, da nicht weniger als vier unterschiedliche chinesische Dienste miteinander wetteifern, ihren Patriotismus zu beweisen. Neben der Marine, die sich an diesen Konflikten bisher nicht aktiv beteiligte,24 sind im Bereich der See der Zoll, die Küstenwache (als Teil der Bewaffneten Polizei), die Fischereibehörde und die Ozeanografische Überwachung mit Aufgaben betraut.25 Nicht zuletzt aufgrund der unmittelbaren Erfahrungen mit dieser Art Konflikt wurde dem Nationalen Volkskongress 2013 eine Reform dieser Dienste vorgelegt.26 Mit der nun angestrebten Vereinigung der Dienste unter dem Kommando der »State Marine Administration« ist dabei nicht nur an eine Behörde gedacht, die einen planvollen Umgang mit maritimen Ressourcen vorantreiben soll, sondern auch an eine Institution, die eine einheitliche Bearbeitung von (See-) Konflikten überhaupt erst ermöglicht.

Der eigentliche Streit um die Inseln spielt sich jedoch in den Medien und auf den Straßen in China ab. Als Antwort auf die Aktionen der Hongkonger Aktivistengruppe vom August 2012 kam es zu »patriotischen« Demonstrationen in Hongkong und in verschiedenen Städten in China. Vor der japanischen Botschaft in Beijing wurden große Kundgebungen abgehalten. Im Laufe der Ereignisse wurden die anfänglich an Japan gerichteten Forderungen nach Rückgabe der Inseln und nach dem Eingeständnis der japanischen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg um innenpolitische Elemente ergänzt, z.B. um Lebensmittelskandale und Korruption. In Shenzhen kam es während der Proteste zu Ausschreitungen und Zerstörungen. Auch Mao-Bilder und solche von Bo Xilai wurden in die Höhe gehalten, womit Anspielungen auf die aktuelle innenpolitische Lage und den Sturz Bos ihren Platz fanden. Im Internet und in den Printmedien gingen diese Demonstrationen weiter, und das anti-japanische Spektrum der Gesellschaft reagierte mit Forderungen nach der Vernichtung Japans. Vor japanischen Geschäften und Firmen kam es immer wieder zu Demonstrationen, ebenso wurden Übergriffe auf japanische Bürger verzeichnet, und zwar so viele und so extrem, dass die Stimmung umschlug und sich viele Chinesen gegen die Proteste aussprachen und in Blogs zur Mäßigung aufgerufen wurde. Der aktive Ruf nach einem Krieg gegen Japan, davon ist derzeit auszugehen, wird von der überwältigenden Mehrheit der chinesischen Bevölkerung abgelehnt.

Die chinesische Führung hat sich in dieser Zeit bedeckt gehalten und weder zur Mäßigung aufgerufen noch weiter Öl in die Flammen gegossen. Die Führungsriege der Partei verschwand in dieser Zeit fast vollständig aus der Öffentlichkeit. Das verwundert, sind der Konflikt und die Demonstrationen doch durchaus vorhersehbar gewesen. Die wahrscheinlichste Erklärung dafür ist, dass die Demonstrationen »erlaubt« bzw. »gesteuert« wurden, um der Bevölkerung eine Möglichkeit zur Umgehung der engen Kontrollen zu geben. Weniger glaubwürdig hingegen scheint, dass diese Demonstrationen bewusst eskaliert wurden, um ein Ventil für den aufgestauten Ärger zu schaffen.27 Die Demonstrationen sind wohl in erster Linie eskaliert, weil das Korsett für die chinesische Bevölkerung zu eng geworden ist und »patriotische Demonstrationen« inzwischen das letzte für Bürger noch gestaltbare Feld sind.

Das Schweigen der Führung wurde auch mit dem Wunsch erklärt, vor dem bevorstehenden Parteitag, auf dem der Wechsel von Hu Jintao zu Xi Jinping vollzogen werden sollte, weitere Unruhe in der Partei zu vermeiden. Das würde allerdings bedeuten, dass es innerhalb der Partei schon keinen Konsens mehr dafür gibt, den Konflikt friedlich zu lösen. Es ist zumindest ein Anzeichen dafür, dass die Führung sich in dieser Sache lieber nicht persönlich positioniert, weil dies Implikationen für die Zusammensetzung der Führungsriege und damit für die zukünftige Politikgestaltung haben könnte.

Die nationale Karte auszuspielen wird für die Regierung also immer gefährlicher, da die verbindende Funktion zusehends schwindet. Die Führung ist vielmehr vermehrt mit einem aggressiven, auf Veränderungen drängenden Potential konfrontiert, das sich immer weniger an staatlicher Autorität orientiert. Und auch in der internationalen Diplomatie erweisen sich die Demonstrationen als wenig hilfreich. Die Radikalität der Äußerungen und die gewaltsamen Übergriffe, wie man sie zuletzt bei den anti-japanischen Demonstrationen erleben konnte, lösen neben diplomatischer Besorgnis auch persönliche Ängste bei in China lebenden Japanern und anderen Ausländern aus. Damit steigt letztlich die Wahrscheinlichkeit eines gewaltsamen Konfliktaustrags.

Anmerkungen

1) Siehe hierzu auch Andreas Seifert: Territorialkonflikte unter Palmen – Der Konflikt um die Spratly- und Paracel-Inseln. Wissenschaft und Frieden, 2/2012, S.15-18.

2) Kenneth G. Lieberthal (1992): Introduction: The »Fragmented Authoritarianism« Model and Its Limitations. In: Kenneth Lieberthal and David M. Lampton (eds.): Bureaucracy, Politics, and Decision-Making in Post-Mao China. Berkeley and Los Angeles: University of California Press, S.1-30.

3) Siehe hierzu in umfänglicher Form: Ann Florini, Hairong Lai and Yeling Tan (2012): China Experiments: From Local Innovations to National Reform. Washington: Brookings Institution.

4) Die von Deng Xiaoping unter dem Titel »Reform und Öffnung« angeregte Politik umfasst die selektive Inkorporation von Marktelementen in die Planwirtschaft und sieht auch Elemente von Privatwirtschaft vor. In manchen Wirtschaftssektoren wurden die Privatisierungen und Lockerungen in den 2000er Jahren wieder teilweise zurückgenommen. Sichtbarste Elemente sind ein Bauboom, ausgelöst durch die Förderung privater Wohnungen, und die Dekollektivierung auf dem Land, die in den 1980er Jahren wesentlich zur Produktivitätssteigerung und zu steigenden Bauerneinkommen geführt hatte. Zentrales Element der Politik ist die Exportorientierung der chinesischen Wirtschaft, die einerseits ausländische Investitionen fördert, andererseits aber den Binnenmarkt schützt.

5) Die Ein-Kind-Politik wurde zum Teil mit drakonischen Maßnahmen durchgesetzt und hat, je nach Region, heute wesentliche Lockerungen erfahren. Bevölkerungsregulation stellt in bestimmten Landesteilen immer noch ein Problem dar und ist von Korruption und sekundären Effekten wie Baby-Raub oder Zwangsheiraten begleitet.

6) Das »hukou« () genannte System unterbindet den unkontrollierten Zuzug von ländlicher Bevölkerung in die Städte und gibt der Polizei ein Instrument, Zugezogene in ihrer Bewegungsfreiheit zu kontrollieren. Der »hukou« bestimmt, wo man Zugang zu Sozialleistungen hat und der Schulbesuch möglich ist. So ist es Kindern von Personen, die sich nur aufgrund einer temporären Aufenthaltserlaubnis in den Städten niedergelassen haben (»Wanderarbeiter«), nicht möglich, am Aufenthaltsort ihrer Eltern eine reguläre Schule zu besuchen.

7) Nathans Begriff ist „authoritarian resilience“. Andrew Nathan: Authoritarian Resilience. In: China’s Changing of the Guard. Journal of Democracy, 14, Nr. 1, Januar 2003, S.11.

8) Z.B. Minxin Pei (2008): China’s Trapped Transition: The Limits of Developmental Autocracy. Harvard.

9) Florini, Lai, Tan, op.cit., S.8.Neuere, aber nicht verifizierbare Zahlen sprechen von bis zu 180.000 Demonstrationen allein 2010.

10) Nichtregierungsorganisationen, die in China arbeiten, unterliegen strengen Auflagen und einer Genehmigungspflicht. Im Bereich sozialer Fragen (Arbeits- oder Landrechte) sind sie in der Regel außerhalb Chinas angesiedelt und sammeln vor allem Informationen. Unabhängige Gewerkschaften existieren nur im Untergrund. Für ArbeiterInnenkämpfe siehe z.B. die Webseite der Initiative gongchao//Streik (gongchao.org). Umweltinitiativen haben es vergleichsweise einfach, treten aber auch nicht als Organisatoren z.B. von koordinierten Aktionen auf. Siehe hierzu auch den Beitrag von Nora Sausmikat: Beschirmte Unabhängigkeit. iz3w, Nr. 325, 2011, Dossier S.10.

11) Das »Staatliche Büro für Beschwerden« () existiert seit der Gründung der Volksrepublik 1949 in der Hauptstadt und auf Provinzebene und hat durch Reformen in den 1990er und 2000er Jahren an Gewicht gewonnen (gjxfj.gov.cn). Lokale Kader versuchen bisweilen, die Einreichung von Beschwerden gegen ihre Person mit Gewalt zu verhindern. Siehe beispielsweise Kirstin Kupfer: Die revoltierenden Bittsteller von Peking. ZEIT ONLINE, 25.4.2009.

12) Xi Chen spricht beispielsweise von einem »streitbaren« Autoritarismus und betont die Routine, die das Regime im Umgang damit erreicht hat. Xi Chen (2012): Social Protest and Contentious Authoritarianism in China. Cambridge.

13) Florini, Lai, Tan, op.cit., S.23.

14) Florini, Lai, Tan, op.cit., S.8.

15) Von staatlicher Seite geblockte Begriffe werden dabei durch solche ersetzt, deren Aussprache die gleiche, deren Zeichen jedoch andere sind – für einen chinesischen Leser bleiben die Begriffe erkennbar, für eine Maschine sind sie jedoch schwieriger zu identifizieren. Ein Beispiel ist das vom chinesischen Künstler Ai Weiwei auch in Europa bekannt gemachte »caonima« (siehe urbandictionary.com/define.php?term=Cao%20ni%20ma und en.wikipedia.org/wiki/Grass_Mud_Horse).

16) Chinese protesters plead guilty after water pollution riot in Qidong – Thousands stormed local government buildings to demonstrate against wastewater pipeline emptying into sea. The Guardian, 31.1.2013.

17) Die »Harmonische Gesellschaft« () als nationales und die »Harmonische Welt« () als internationales Konzept dominieren seit 2004 bzw. 2005 den Diskurs um gesellschaftlichen Ausgleich in China. Sie werden auf Hu Jintao zurückgeführt.

18) Zur Polizeidichte liegen unterschiedlichste Statistiken vor. Im Regelfall geht man von einer Personalstärke von 1,78 Mio. Polizisten für die Volksrepublik aus. Für einen internationalen Vergleich siehe den Eintrag »List of countries by number of police officers« bei Wikipedia sowie die chinesische Version des Eintrags.

19) »Einheiten« () können z.B. große Industriebetriebe oder Universitäten sein, die in der Staatsorganisation eine wichtige Rolle gespielt haben (und wo sie noch existieren immer noch spielen). Eine Einheit übernimmt dabei die Fürsorge für große Bereiche des täglichen Lebens ihrer Mitglieder, von der Gesundheitsversorgung über den Bildungsbereich bis hin zum Wohnraum. Einheiten waren geschlossene Gesellschaften, die sich über einfache Hierarchiemechanismen quasi selbst kontrollierten. Eine Polizei war nur dann von Nöten, wenn es zu Kapitalverbrechen oder ähnlichen Vorkommnissen kam.

20) Zu beiden Etats sind weitere Kosten zu addieren, will man ein realistisches Bild der Ausgaben erhalten. Rechnete man die regionalen bzw. kommunalen Ausgaben für Polizei und Sicherheit hinzu, dürfte sich die erste Zahl geschätzt verdoppeln, wohingegen eine Verdopplung der Verteidigungsausgaben durch Hinzurechnung weiterer Querfinanzierung zu hoch erscheint.

21) Amnesty Interational: China – Dark times for lawyers as repression intensifies. 30. Juni 2011.

22) Siehe dazu Johnny Erling: Laojiao – China will illegale Straflager abschaffen. Die Welt, 4.3.2013. Das chinesische Infoportal Baidu spricht von ca. 300 Lagern mit 260.000 Insassen (baike.baidu.com/view/5088.htm).

23) Die Zahl dieser Lager und ihrer Insassen ist nicht bekannt, chinesische Medienberichte haben in den letzten Jahren aber immer wieder Lager dieser Art behandelt. Oftmals sind sie als Grubenunternehmen oder Ziegeleien getarnt und haben menschenunwürdige Arbeitsbedingungen. Medien berichten z.T. von Kinderarbeit oder systematischer körperlicher Misshandlung. 2007 erschütterte die Aufdeckung eines Zwangsarbeitslagers die chinesische Öffentlichkeit. Siehe John Can: Skandal um Sklavenarbeit erschüttert China. Word Socialist Web Site, 30. Juni 2007.

24) Anfang 2013 gab es einzelne Berichte über chinesische Kriegsschiffe, die Handelsschiffe in der Region mit ihrem Feuerleitradar angepeilt haben sollen. Inwieweit dies aber mit dem Konflikt zusammenhing, lässt sich nicht feststellen. Im Januar 2013 ist es wieder zu Zusammenstößen gekommen, in die auch Flugzeuge der beiden Armeen verwickelt waren. Siehe: Provokation im Inselstreit – Chinas Marine nimmt japanisches Schiff ins Visier. SPIEGEL ONLINE 5.2.2013; sowie: Streit zwischen Japan und China – Wieder Kampfjets über Senkaku. n-tv online, 11.1.2013.

25) Die Auswirkungen dieser Konkurrenz hat die International Crisis Group für das Südchinesische Meer und die Paracel- und Spratly-Inseln analysiert. Siehe: International Crisis Group: Stirring Up the South China Sea. Asia Report 223, April 2012.

26) Wu Jiao, PuZhendong: Nation merging maritime patrol forces. China Daily, 11.3.2013.

27) Intellektuelle und Künstler wie Ai Weiwei nehmen an, dass Demonstrationen bewusst eskaliert werden, um mehr Kontrolle und Sicherheit durchzusetzen oder um als Ventil für den Ärger zu dienen. Siehe z.B. Bianca Diers: Anti-japanische Protestwelle in China. Büro Beijing der Konrad-Adenauer-Stiftung, Länderberichte, 24.9.2012.

Dr. phil. Andreas Seifert ist Sinologe, freier Wissenschaftler und im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung e.V. in Tübingen.

Chinas »Zwei-Korea-Politik«

Chinas »Zwei-Korea-Politik«

Schlüssel für den Frieden?

von Hans Scheerer

Die koreanische Halbinsel gehört seit jeher zur Interessenssphäre Chinas. Wenn es seine Ressourcen bzw. die militärische Macht in der Vergangenheit zuließen, dann übte das Reich der Mitte auch die Kontrolle über die koreanische Halbinsel aus. Im zurückliegenden Jahrhundert sah sich China verschiedentlich in Konkurrenzsituationen mit anderen Mächten, die den Einfluss und die Interessen Chinas auf der koreanischen Halbinsel gefährdeten. Im Koreakrieg (25.06.1950 – 27.07.1953) griff die erst 1949 gegründete Volksrepublik China daher zugunsten des nordkoreanischen Regimes ein, beeinflusste das weitere Kriegsgeschehen maßgeblich und schien bis in die 1980er Jahre einer der letzten Verbündeten des nordkoreanischen Regimes Kim Il-Songs zu sein.1 Betrachtet man die politischen Entwicklungen in den Beziehungen der VR China zu den beiden koreanischen Teilstaaten im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts, dann wird ersichtlich, dass die Beziehungen Beijings zu Pjöngjang keineswegs so unverbrüchlich waren, wie dies die offizielle Rhetorik lange Zeit Glauben machen wollte. Ersichtlich wird auch, dass die VR China im Vergleich zu anderen Staaten (etwa Japan, USA, UdSSR/Russland) recht erfolgreich in ihren Bemühungen war, eine »Zwei-Korea-Politik« zu etablieren. Mit Blick auf eine Reihe sicherheitspolitischer Probleme, die auf Nordkoreas undurchsichtigem Agieren hinsichtlich einer nuklearen Option und dem Handel mit Trägertechnologie gründe(te)n, ist umstritten, inwieweit die VR China hierbei tatsächlich einen mäßigenden Einfluss auf Pjöngjang ausüben kann oder will und damit in der Lage ist, zu einer sicherheitspolitischen Stabilisierung auf der nordkoreanischen Halbinsel beizutragen.2

Nach dem Koreakrieg erkannte Beijing die Demokratische Volksrepublik Korea (DPRK) mit dem Regime Kim Il-Songs als einzigen rechtmäßigen koreanischen Staat an. Kontakte zwischen Beijing und Seoul gab es – zumindest offiziell – keine. Ende der 1970er und Mitte der 1980er Jahre sollten zwei Ereignisse dies grundlegend ändern:

  • Die innenpolitischen Veränderungen in der VR China, wie sie sich Ende 1978 manifestierten, führten auch zu einer Kurskorrektur in der Außenpolitik und in den außenwirtschaftlichen Beziehungen. In der Folgezeit wurden, wenngleich indirekt, inoffiziell und zögerlich, Handelskontakte zu Seoul aufgebaut. Bis Mitte der 1980er Jahre hatte die VR China entgegen der offiziellen Rhetorik und der diplomatischen Beziehungen zu Nordkorea schließlich de facto eine »Zwei-Korea-Politik« etabliert, in der die Beziehungen zu Seoul auf kulturellem, akademischen und sportlichen Terrain sukzessive ausgebaut wurden.
  • Die »Tauwetterphase« im Verhältnis zwischen Beijing und Moskau ab 1985 relativierte unter anderem auch das Konkurrenzverhältnis beider Länder auf der koreanischen Halbinsel und räumte so der VR China einen größeren Handlungsspielraum ein.

1986 nahm die VR China an den in Südkorea ausgerichteten Asian Games teil, 1988 an den ebenfalls in Seoul stattfindenden Olympischen Spielen. Im gleichen Jahr kündigte Seoul eine umfassende diplomatische Initiative an, die unter dem Schlagwort »Northern-Diplomacy« bzw. »Nordpolitik« bekannt wurde. Sie zielte darauf ab, günstige Rahmenbedingungen für eine (Wieder-)Vereinigung der beiden koreanischen Staaten zu schaffen und die Beziehung Seouls zu den sozialistischen Ländern, vor allem die zur VR China, zu verbessern: Im Januar 1989 nahm Seoul diplomatische Beziehungen zu Ungarn auf, es folgte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur UdSSR im September 1990 und schließlich zur VR China im August 1992.

Beijings Rolle im Rahmen der nordkoreanischen Nuklearkrise 1993/94

Aufgrund seiner geostrategischen Lage – die VR China grenzt über eine Länge von ca. 450 km an Nordkorea – und den daraus resultierenden sicherheitspolitischen Interessen setzt Beijing auf internationalem Parkett auf die Diplomatie und auf eine Politik des Dialogs, wenn es um Korea geht. Dies gilt sowohl, was die Beziehungen zwischen den beiden koreanischen Staaten als auch was den Umgang mit Nordkorea in der internationalen Politik betrifft. China hat ein vitales Interesse daran, dass der Staat Nordkorea, gewissermaßen als Pufferstaat, erhalten bleibt und versucht daher, wo immer dies möglich ist, Tendenzen, die eine Destabilisierung der Regimes in Pjöngjang nach sich ziehen könnten, entgegenzuwirken.

Auch auf internationaler Ebene wurde der VR China hinsichtlich der Krise um die angebliche Produktion waffenfähigen Spaltmaterials in nordkoreanischen Reaktoranlagen 1993/943 – ganz unabhängig von deren Interessenlage – eine Schlüsselrolle beigemessen. Die USA versuchten hier – trotz der angespannten Beziehungen zwischen Beijing und Washington – die VR China in Verhandlungen zu einer Entschärfung der Krise mit einzubinden. Als sich die Krise im Frühjahr 1994 weiter zuspitzte, wurde auch von japanischer Seite betont, dass es wichtig sei, die VR China dafür zu gewinnen, mäßigend auf Nordkorea einzuwirken. Im Rahmen eines japanisch-südkoreanischen Gipfeltreffens Ende März stimmten die Delegationen beider Länder ihre Positionen insbesondere hinsichtlich einer möglichen Einbindung der VR China ab. Am 31. Mai 1994 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat eine Resolution, in der Nordkorea zur Kooperation mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) aufgerufen wurde. Beijing hatte zuvor angedeutet, eine gegen Nordkorea gerichtete Resolution mit ihrem Veto zu blockieren. Dass dies nicht geschah, wird vor allem darauf zurückgeführt, dass die USA und Südkorea Beijing davon überzeugen konnten, dass es sich um eine inhaltlich sehr gemäßigte Resolution handeln würde.4

Wenngleich unklar ist, inwieweit es tatsächlich der Einflussnahme Beijings zu verdanken ist, dass Nordkorea schließlich auf seine »nukleare Option« verzichtete, so machte diese Situation auf jeden Fall deutlich, dass Beijings politische Führung darin reüssierte, diese externe Krisensituation zur Wahrung seiner eigenen sicherheitspolitischen Interessen zu nutzen und das eigene Standing auf diplomatischem Parkett zu verbessern. Dass die VR China ihre sicherheitspolitischen Interessen auf der koreanischen Halbinsel bzw. den Erhalt Nordkoreas keineswegs mit einem Fortbestand der »Kim-Dynastie« verknüpft, macht folgende Aussage deutlich: „Beijing’s ultimate concern in North Korea is not who will be the next Great Leader, but whether the DPRK will remain as a stable and friendly buffer state. From Beijing’s point of view, although Kim Jr. may loose the international power struggle, there should be no reason why China cannot come out as a winner.“5

Beijings Beziehungen zu den koreanischen Staaten in den 1990er Jahren

Aus der Perspektive Beijings betrachtet, boten die seit 1992 nunmehr offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Südkorea eine Reihe von Vorteilen:

  • Verbesserte ökonomische Beziehungen: Waren die Beziehungen zu Nordkorea in dieser Hinsicht für die VR China ein Verlustgeschäft (weshalb Beijing wie auch die Sowjetunion seit Beginn der 1990er Jahre Waren nur noch gegen Devisen und nicht im Tauschhandel nach Nordkorea lieferte), bot der Handel mit Südkorea ungleich bessere Aussichten.
  • Eine Ausdehnung des diplomatischen Einflusses. Das war für Beijing vor dem Hintergrund der – vorübergehenden – diplomatischen Isolierung infolge des Tian’anmen-Massakers in den Jahren 1989/90 von großer Bedeutung.
  • Gleichzeitig verkleinerte Beijing damit erneut den Kreis der Staaten, die diplomatische Beziehungen zur Republik China auf Taiwan unterhalten, die von der VR China nach wie vor als abtrünnige Provinz und »unabtrennbarer Teil« der Volksrepublik China betrachtet wird. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Volksrepublik China machte es für Seoul notwendig, die – offiziellen – diplomatischen Beziehungen mit Taibei6 zu beenden.

Kurz- und mittelfristig scheint Beijings »Zwei-Korea-Politik« daher darauf abzuzielen, gegenüber Seoul eine geo-ökonomische, gegenüber Pjöngjang eine geostrategische Politik zu verfolgen.

Wenig überraschend dürfte sein, dass diese Maßnahmen das Verhältnis der VR China zu Pjöngjang sehr strapazierten und China in den Augen des ehemaligen Bundesgenossen in Pjöngjang zunehmend als wenig vertrauenswürdiger Partner betrachtet wurde. Die Weigerung Nordkoreas wiederum, ihr marodes ökonomisches System nach dem Vorbild der VR China umzustrukturieren, stieß in Beijing auf Befremden und Unverständnis. Hinter vorgehaltener Hand wurde die Haltung Pjöngjangs als unrealistisch, das politische System der Demokratischen Volksrepublik Korea gar als »bizarr« bezeichnet.

Während sich der Einfluss auf bzw. das Interesse Beijings an Nordkorea bis Mitte der 1990er Jahre vor allem punktuell in Krisensituationen manifestierte, scheint sich ab 1997 eine gewisse Kontinuität in den Beziehungen zwischen beiden Ländern abzuzeichnen – bedingt vor allem durch die sich in Nordkorea ständig verschlechternde Versorgungssituation, deren Auswirkungen unter anderem auch die VR China mit umfangreichen Hilfsgüterlieferungen entgegenzuwirken versucht. 1997 lieferte die VR China Nahrungsmittel, Energie und andere Güter, die für den Fortbestand des Regimes überlebensnotwendig waren. 1998 lieferte Beijing 5.000 t Rohöl sowie 25 % aller Nahrungsmittelimporte in die Demokratische Volksrepublik Korea.

Gleichzeitig fungierte die VR China in den ausgehenden 1990er Jahren auch als Mittler zur Anbahnung von Kontakten zwischen Nord- und Südkorea sowie als neutraler Treffpunkt für innerkoreanische Treffen, die dem offiziellen Treffen zwischen Nord- und Südkorea im Juni 2000 vorausgingen.

Als sicherer Indikator für die Verbesserung der Beziehungen zwischen der VR China und Nordkorea kann der Besuch des nordkoreanischen Staatschefs Kim Jong-Il in der chinesischen Botschaft Pjöngjangs im März 2000 gewertet werden. Diesem Besuch folgten zwei als »geheim« eingestufte Besuche Kims in der VR China im Mai 2000 und im Januar 2001. Im Rahmen des ersten Besuches soll in erster Linie das damals bevorstehende innerkoreanische Treffen zwischen Kim Dae-Jung und Kim Jong-Il im Juni 2000 auf der Tagesordnung gewesen sein. Unklar ist, inwieweit die VR China hier maßgeblich Einfluss auf die Positionen Nordkoreas in dem bevorstehenden Gipfeltreffen zwischen Pjöngjang und Seoul hat nehmen können. Es darf jedoch angenommen werden, dass Beijing auf jeden Fall versucht hat, Nordkorea die chinesische Perspektive zu diesem Thema näher zu bringen. Die zweite Reise hatte hingegen einen eindeutig ökonomischen Fokus, in deren Verlauf sich Kim einen Eindruck von den Errungenschaften der Ökonomie im sozialistischen System chinesischer Prägung verschaffte und diese explizit guthieß. Auch wenn dies Anzeichen für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Beijing und Pjöngjang sind, wäre es ein Trugschluss, hieraus die Wiederherstellung der in den 1950er Jahren »mit Blut besiegelten« Beziehung beider Länder abzuleiten. Hierzu ist zum einen das Misstrauen auf nordkoreanischer Seite zu groß, vor allem jedoch entspräche eine Wiederbelebung dieses Bündnisses keinesfalls den Interessen Beijings.

Das Interessenprofil der VR China

Die VR China verfolgt im Zuge ihrer »Zwei-Korea-Politik« – unter Einbeziehung intensiverer Beziehungen zu Pjöngjang – vor allem die folgenden Interessen:

  • Den Staat Nordkorea als Pufferstaat unbedingt am Leben zu erhalten – dies kann, muss aber nicht unter dem Regime Kim Jong-Ils sein. Eine instabile Situation in Nordkorea oder ein Zusammenbruch des nordkoreanischen Staates birgt aus der Sicht Beijings in sicherheitspolitischer Hinsicht folgende Risiken:
  • Einen möglicherweise auf die chinesischen Grenzprovinzen Jilin und Liaoning übergreifender Bürgerkrieg,
  • Flüchtlingsströme in Richtung Nordchina mit der Folge eines erhöhten Krisenpotentials in den betroffenen Gebieten,
  • eine erhöhte US-Militärpräsenz,
  • die Perspektive, dass die VR China am Ende unter Umständen eine Grenze zu einem unter südkoreanischer Ägide vereinigten Korea unterhält – mit den Truppen der Republik Korea, vielleicht auch mit denen der USA an der Grenze.
  • Aus den oben genannten Aspekten ergibt sich daher fast zwangsläufig, dass Beijing ein vitales Interesse daran hat, dass das Regime in Pjöngjang keine Nuklearwaffenambitionen hegt7, d.h. weder die Herstellung dieser Waffentechnologie anstrebt noch in diesbezügliche Handelsbeziehungen involviert ist. Pjöngjangs Ambitionen auf Nuklearwaffen und eigene Trägerraketen – seien sie nun real oder nur ein camouflierter Erpressungsversuch – sie wirken potenziell destabilisierend, weil sie die Sicherheit in der Region gefährden und damit die USA als Schutzmacht auf den Plan rufen. Zudem erhielte hierdurch das Argument der USA für die Notwendigkeit des NMD-Programms neue Nahrung; nichts dergleichen liegt in Beijings Interesse.8 Insofern macht es für die VR China sicherheitspolitisch durchaus Sinn, von dem zu Beginn der 1990er Jahre eingeschlagenen Weg, Waren nur noch gegen Devisen zu liefern, abzurücken und Pjöngjang in großen Umfang Wirtschaftshilfe (Lieferung von Energie und Nahrungsmitteln) zu leisten – um eben einer Destabilisierung der Situation in Nordkorea entgegen zu wirken.
  • Es ist für Beijing auch wichtig, einen möglichst großen Einfluss auf den innerkoreanischen Entwicklungsprozess nehmen zu können, um
  • bilateralen Gesprächen, wie sie zwischen den USA und Nordkorea stattgefunden haben, wenn nicht die Existenzberechtigung zu nehmen, so doch zumindest deren Bedeutung zu relativieren, und der Entstehung bilateraler Beziehungen, die den Interessen Beijings zuwiderlaufen könnten, entgegenwirken zu können;
  • auf eine eventuelle Vereinigung der beiden koreanischen Staaten – so diese denn kommen sollte – Einfluss nehmen zu können. Kurzfristig betrachtet ist diese Befürchtung Beijings jedoch eher unbegründet. Keiner der beiden koreanischen Staaten dürfte dieses Ziel in naher Zukunft anstreben: Pjöngjang nicht, weil es einem politischen Suizid gleichkommen würde, Seoul nicht, weil es fürchtet, an den ökonomischen Konsequenzen einer solchen Wiedervereinigung zu zerbrechen.
  • Neben diesen sicherheitspolitisch und mit Blick auf Südkorea ökonomisch motivierten Interessen zeigt Chinas Vorgehensweise in den 1990er Jahren hinsichtlich Nordkorea, dass Beijing den ehemaligen Bündnispartner auch als eine Art »bargaining chip« betrachtet, der dazu dienen soll, auf internationalem Parkett das politische Gewicht der Volksrepublik China zu mehren.

Fazit

Vor dem Hintergrund des oben geschilderten Sachverhalts spricht durchaus einiges dafür, dass Beijing auf der koreanischen Halbinsel eine stabilisierende Rolle ausübt. Freilich darf dies nicht isoliert, sondern kann nur im weiteren Kontext chinesischer Diplomatie und Außenpolitik betrachtet werden. Ein Blick auf das Verhältnis Chinas zu einigen anderen Nachbarstaaten, vor allem jedoch auf die gespannten Beziehungen zu Taiwan, relativiert das Bild genauso, wie das Agieren Beijings im Südchinesischen Meer. Bei einer umfassenderen Betrachtung entsteht eher der Eindruck, dass die Volksrepublik China die von ihr einst postulierten fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz9 sehr individuell auslegt und von Fall zu Fall neu interpretiert.

Anmerkungen

1) Siehe hierzu unter anderem Cumings, Bruce (1981): The Origins of the Korean War. Liberation and the Emergence of Separate Regimes, 1945-1947, Princeton, Princeton University Press; ders. (1990): The Origins of the Korean War, Volume II, The Roaring of the Cataract, 1947-1950. Princeton, Princeton University Press sowie Chen Jian (1996): China’s Road to the Korean War. The Making of the Sino-American Confrontation. New York, Columbia University Press.

2) Han, Yong-Sup (1994): China´s Leverages over North Korea, in: Korea and World Affairs, Summer 1994, pp. 233-248.

3) Zu Nordkoreas nuklearen Ambitionen siehe unter anderem Bayer, James / Robert E. Bedeski (1993): North Korea‘s Nuclear Option. Observations and Reflections on the Recent NPT Crisis, in: Korea Journal of Defense Analysis 5 (1993) 2, pp. 107-113; Bermudez, Joseph S. (1991): North Korea‘s Nuclear Programme, in: Jane‘s Intelligence Review, September 1991, pp. 404-411; Maull, Hanns W. (1994): Nordkoreas Atomwaffenprogramm. Genese, Motive, Implikationen, in: Außenpolitik 45 (1994) 4, S. 354-363 und Mazarr, Michael J. (1995): North Korea and the Bomb. A Case Study in Nonproliferation, Houndsmill, MacMillan.

4) Siehe hierzu unter anderem Harnisch, Sebastian / Hanns W. Maull (1997): Zivilmächte und Nukleare Non-Proliferation. Die USA und Japan in der Nordkoreakrise 1989-1995, Fallstudie im Rahmen des DFG-Projekts »Zivilmächte«. Eine moderate Ausgestaltung der Resolution war keinesfalls nur ein Zugeständnis an die VR China sondern auch ganz im Sinne der USA, Japans und Südkoreas, was vermuten lässt, dass die Drohung Pjöngjangs, es werde eine Resolution als feindlichen Akt werten, mit einem gewissen Unbehagen zur Kenntniss genommen wurde.

5) Yi, Xiaoxiong: China‘s Korea Policy. From »One Korea« to »Two Koreas«, in: Asian Affairs, Summer 1995, p. 133.

6) Teilweise wird anstatt dieser auch noch die Schreibweise »Taipeh« benutzt, die der amerikanischen Transskription nach Wade-Giles entspricht. In diesem Artikel werden alle chinesischen Namen in der international gebräuchlichen pinyin-Umschrift der VR China transskribiert (so z.B. auch »Beijing« anstatt »Peking«), daher die Verwendung der Schreibweise »Taibei«.

7) „We do not want to see the existence of nuclear weapons on the Korean Pensinsula. We hope to see the parties concerned engage in effective consultation to find a solution to this problem, but we do not wish to see any international pressure“, so der damalige Außenminister der VR China, Qian Qichen, im Rahmen des APEC-Treffens bereits im November 1991, zit. nach Friedman, Thomas L.: China Stalls Anti-Atom Effort On Korea, in: New York Times, 15. November 1991.

8) NMD = National Missile Defense. Ein Interesse, das Nord- und Südkorea und die VR China überdies eint, ist die Ablehnung des Raketenschutzprogramms NMD der USA.

9) Die fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz wurden von der VR China 1955 im Rahmen der Konferenz von Bandung postuliert und dienten – auf deklaratorischer Ebene – fortan als Richtschnur für die Gestaltung der Beziehungen zu anderen Ländern. Die 5 Prinzipien umfassen 1) die gegenseitige Achtung der territorialen Unverletzlichkeit und Souveränität, 2) den gegenseitigen Nichtangriff, 3) die gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, 4) gegenseitigen Nutzen und Gleichheit und 5) die friedliche Koexistenz. Siehe hierzu u.a. Wiethoff, Bodo (1977): Grundzüge der neueren chinesischen Geschichte, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 152 und Hsü, Immanuel C. Y. (1990): The Rise of Modern China, 4th Ed., New York/Oxford, Oxford University Press, S. 730.

Hans Scheerer, M.A, . Studium der Sinologie und Politikwissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, dem Centre of Asian Studies in Durham (1992) und der Furen University in Taibei (1993/94). Arbeitsschwerpunkte: Außen- uns Sicherheitspolitik der VR China, Sicherheitspolitik im asiatisch-pazifischen Raum (APR), Chinas Beziehungen zu den Ländern Südostasiens.

Macht und die Sicherheit der Energieversorgung

China:

Macht und die Sicherheit der Energieversorgung

von M. Parvizi Amineh

China hat vor kurzem Japan im Bereich des Öl- und Gasverbrauchs überholt und steht damit weltweit an zweiter Stelle. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann der Ölverbrauch den der Vereinigten Staaten übersteigen wird, da Prognosen davon ausgehen, dass Chinas Bruttoinlandsprodukt (GDP) zwischen 2002 und 2025 jährlich um 6,2 Prozent ansteigen wird. Damit würde China zur weltweit größten Wirtschaftsmacht, wenn man das Bruttoinlandsprodukt zu Grunde legt. Diese Entwicklung wird nicht nur die Strategie und die Politik Chinas zur Sicherung der Ölversorgung für den eigenen Bedarf bestimmen, sondern auch einen beträchtlichen Einfluss auf die geopolitischen Beziehungen ausüben.

Chinas wirtschaftliches Wachstum hat seinen Energiebedarf rapide ansteigen lassen. Bereits seit 1993 ist China Nettoimporteur von Öl. Diese Entwicklung wird sich in der Zukunft noch verstärken. 2004 überstieg der Bedarf, der sich auf insgesamt 6,5 Millionen Barrel/Tag belief, deutlich die heimische Ölproduktion, die laut internationaler Prognose der US Energy Information Administration (EIA) von 2005 3,6 Millionen Barrel/Tag betrug.

Abhängigkeit vom Energieimport

Prognosen für das Jahr 2025 sagen voraus, dass der Ölverbrauch Chinas bei 14,2 Millionen Barrel/Tag liegen wird. Zwischen 2002 und 2015 wird der Verbrauch jährlich um 5,8 Prozent ansteigen, in den verbleibenden Jahren der Voraussage wird sich das Wachstum halbieren. Obwohl China versucht, die heimische Produktion zu erhöhen, wird bis 2025 ein Netto-Import von 10,9 Millionen Barrel/Tag erwartet. Das bedeutet ein Anstieg des Ölimports um ungefähr 960 Prozent in den nächsten beiden Dekaden. Damit wird der Erdölimport nahezu 70 Prozent des chinesischen Energiebedarfs abdecken. Durch die wachsende Abhängigkeit Chinas von Ölimporten wächst auch die Sorge der chinesischen Regierung um die Sicherheit der Energieversorgung und um die Befriedigung des wachsenden Bedarfs.

Im Jahr 2003 hatte der Erdgasverbrauch Chinas nur einen Anteil von ca. 3 Prozent am gesamten Energieverbrauch und er wurde von der heimischen Produktion mit 33,6 Mill. Kubikmeter abgedeckt. Man erwartet jedoch, dass das Niveau des Gasverbrauchs sich bis 2010 verdoppeln und bis 2025 auf 170 Mrd. Kubikmeter anwachsen wird, das wären dann 3,5 Prozent des Weltgasverbrauchs. Das Anwachsen des Gasverbrauchs soll durch wachsende heimische Produktion und Importe durch Pipelines und Flüssiggas befriedigt werden.

Wie wird China seinen Energiebedarf befriedigen?

Die größten Öl- und Gasreserven konzentrieren sich auf zwei Regionen: der persische Golf umfasst annähernd 60 Prozent der bekannten Ölreserven, während in der Region des Kaspischen Meeres mit den fünf Anrainerstaaten Aserbaidschan, Kasachstan, Turkmenistan, Iran und Russland fast 35 Prozent der bekannten globalen Gasreserven lagern. China wird diese Quellen weiter anzapfen müssen, um eine ausreichende Energieversorgung zu sichern.

Sechzig Prozent der chinesischen Ölimporte kommen heute schon aus dem Persischen Golf. 2003 war Iran mit 14 Prozent des Gesamtimports der zweitgrößte Öllieferant Chinas. Gleichzeitig war China Irans Hauptlieferant von dual-use Technologien, obwohl China zu den Unterzeichnerstaaten der internationalen Übereinkünfte gehört, die die Weiterverbreitung von Technologien verbieten, die zur Herstellung nuklearer, chemischer und biologischer Waffen dienen können. Oman und Jemen werden ebenfalls immer wichtigere Handelspartner im Ölgeschäft.

Saudi-Arabien ist Chinas größter Öllieferant, während umgekehrt China Saudi-Arabiens größter Kunde ist. Saudi-Arabien wird laut Washington Times (vom 16. September 2004) bald nicht mehr zu den Top 5 der US-Öllieferanten zählen. Gleichzeitig führt seine wachsende Bindung an China zu erhöhten Spannungen zwischen der Bush-Regierung und den Saudis, besonders nach dem 11. September. Die Saudis sind sich bewusst, dass sie allein mit den Vereinigten Staaten ihr Regime nicht werden verteidigen können, woraus der Wunsch resultiert, ihre Sicherheitspolitik zu diversifizieren. Dabei erscheint China als interessierter Partner. Hierbei stellen die Waffenlieferungen Chinas an den Persischen Golf eine potenzielle Gefahr für die Sicherung US-amerikanischer Interessen in der Region dar. So warnte bereits die Kommission zur Überwachung der amerikanisch-chinesischen Wirtschafts- und Sicherheitsbelange, die vom amerikanischen Kongress geschaffen wurde, um die Beziehungen der Vereinigten Staaten und China zu überwachen, im Jahre 2002 davor, dass „der Handel mit diesen Regimes eine wachsende Bedrohung US-amerikanischer Sicherheitsinteressen im Nahen Osten“ darstelle. Die Haupttriebfeder der Beziehungen Chinas zu Regierungen, denen vorgeworfen wird den Terrorismus zu fördern, ist seine Abhängigkeit von ausländischem Öl zur Entwicklung der eigenen Wirtschaft. Diese Abhängigkeit wird in den kommenden Jahrzehnten weiter wachsen. Man ist sich in China der Tatsache bewusst, dass die Sicherheit seiner Energieversorgung kurzfristig von der Kooperation mit den Vereinigten Staaten abhängt. Aber chinesische Politiker sehen auch, dass die Vereinigten Staaten von Amerika versuchen, eine beherrschende Stellung am Persischen Golf zu erreichen und den chinesischen Einfluss einzudämmen.

Der Zugang zum Persischen Golf wird somit neben der Taiwan-Frage, den Handelsbeziehungen und den Menschenrechtsfragen zu einem weiteren zentralen Konfliktelement in den chinesisch-US-amerikanischen Beziehungen.

Dies ist ein wesentlicher Grund für Chinas Hinwendung zur Kaspischen Region. China muss Zugang zu den gewaltigen Ölreserven der Region gewinnen, um seine Energieabhängigkeit am Persischen Golf zu reduzieren. Um das zu erreichen, treibt China eine Stabilitätspolitik in der Region der fünf zentralasiatischen Republiken (Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan) voran und stellt sich zugleich dem Vordringen des US-amerikanischen Einflusses entgegen.

Unter geographischem Gesichtspunkt ist die Kaspische Region für China aufgrund der unmittelbaren Nachbarschaft zugänglicher als der Persische Golf. Russland, Zentral-Asien und China teilen sich die eurasische Landmasse, wodurch überirdische Öl- und Gaspipelines eine attraktive Option für den Energietransport darstellen. So versprach 1997 die »China Nationale Petroleum Gesellschaft« 9,5 Mrd. US-Dollar in den Bau von Pipelines und der Erschließung von Ölfeldern zu investieren. Chinas nationale Ölgesellschaften haben damit begonnen in Kasachstan zu investieren. Kasachstan ist bisher der einzige zentral-asiatische Staat, der Öl nach China exportiert. Kasachisches Öl wird bislang über die Bahn transportiert. Dies wird sich allerdings ändern, sobald die 1.000 Kilometer lange Pipeline von Kasachstans Karaganda Region in den Westen Chinas fertig gestellt sein wird.

Im Jahre 2002 schlossen Russland und China eine Durchführbarkeitsstudie für eine chinesisch-russische Pipeline ab, die von Angarsk (Russland) nach Daqing (China) führen soll. Der Baubeginn war für Juli 2003 geplant. Jedoch waren auch die Japaner interessiert und unterbreiteten Russland attraktive Investitionsangebote. Vor diesem Hintergrund schlug die russische »Transneft Open Joint Stock Oil Transporting Co« eine alternative Route von Angarsk zum russischen Pazifikhafen Nakhodka vor. Jedoch favorisierte der russische Minister für Rohstoffe die Angarsk-Daqing Route und erhielt darin die Unterstützung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der die strategische Relevanz dieser Route hervorhob.

Allerdings garantiert die geographische Verschiebung der chinesischen Ölimport-Interessen in die Kaspische Region keine höhere Versorgungssicherheit. Mit Ausnahme Russlands ist die gegenwärtige politische und wirtschaftliche Stabilität in der Kaspischen Region wie auch der Region des Persischen Golfes von Unwägbarkeiten bedroht.

In einem durch geopolitische Konkurrenzkämpfe um die Ressourcen gekennzeichneten Umfeld, können diese beiden instabilen Regionen durch äußeren Druck leicht weiter destabilisiert werden, wenn es nicht gelingt, die dortigen Öl- und Gasmärkte mit ökonomischer und politischer Stabilität zu verbinden.

Die Kontrolle über die Förderung und den Transport der Öl- und Gasreserven des Kaspischen Raums und des Persischen Golfs wird einen erheblichen Einfluss auf die politische und ökonomische Zukunft nicht nur für diese beiden Regionen haben. Öl und Gas sind für Jahrzehnte die beiden primären Energiequellen gewesen und stellten somit einen Machtfaktor dar. Es wird erwartet, dass bis 2020 etwa 70 Prozent des Energiebedarfs weiterhin über diese beiden Energieträger abgedeckt wird.

Laut der US Energy Information Administration (EIA) wird der Ölverbrauch von 82 Mio. Barrel/Tag im Jahre 2004 auf 100 Mio. Barrel/Tag im Jahre 2015 und 119 Mio. Barrel/Tag für das Jahr 2025 anwachsen. Angesichts dieses wachsenden Energiehungers zeigen sich Experten beunruhigt über die begrenzt vorhandenen Kapazitäten: Bestehende Öl- und Gasressourcen befänden sich im Niedergang und die Entdeckung und Erschließung neuer Gas- und Ölfelder gestalteten sich enttäuschend. In Folge dessen werden die großen Erdöl importierenden Länder eine vermutlich aggressivere Politik verfolgen, um ihren Energiehunger befriedigen zu können. Militärische Interventionen zur Sicherung der Förderung und des Transportes dieses Energieträgers werden wahrscheinlicher. Diese Entwicklung wird ein bestimmender Faktor in Fragen des globalen Friedens und der Sicherheit werden.

Künftiges geopolitisches Szenario

Auf der Grundlage der gegenwärtig nachweisbaren weltweiten Öl- und Gasvorkommen stellt die Kaspische Region neben dem Persischen Golf einen Schwerpunkt dar. Bedenkt man, dass nicht nur in China sondern auch in anderen Staaten – wie USA, Japan, die EU und Indien – der Energiebedarf wächst, lässt sich vorhersagen, dass alle diese Akteure ein zunehmendes Interesse an einen Zugriff auf die Öl- und Gasreserven der Regionen um den Persischen Golf und das Kaspische Meer sowie Russlands haben werden. Als Antwort auf ihre wachsende Importabhängigkeit werden die Energieimporteure ihre energiepolitischen Sicherheitsstrategien auf diese Entwicklung einstellen. Die zentrale Frage ist hierbei, ob hinsichtlich des wachsenden chinesischen Energiehungers die übrigen großen Erdöl importierenden Staaten gegenüber China eine konkurrierende Position einnehmen oder ob sich eine Kooperationslösung zwischen ihnen und den Erdölförderländern generieren lässt.

Es ist bislang nicht deutlich erkennbar, ob die drei wichtigsten konkurrierenden Mächte – die USA, Russland und China – sich als Rivalen, Verbündete oder als eine Art Kombination von beidem betrachten: Russland und China formulieren ein gemeinsames Interesse in der Kaspischen Region, haben allerdings bislang noch keine gemeinsamen praktischen Schritte unternommen. Die USA hingegen werden politischen, ökonomischen und vielleicht militärischen Druck anwenden, um ihren Einfluss in dieser Region zu erweitern und versuchen alle Hürden, die den sicheren Energiefluss gefährden, zu beseitigen. Wie groß die Entschlossenheit der USA hierzu ist, beweist deren Kriegspolitik gegenüber dem Irak und die Nuklearkrise um den Iran. Russland und China sind derzeit noch nicht in der Lage, dem konventionellen US-amerikanischen Militärpotenzial etwas entgegen zu setzen und werden daher eine unmittelbare militärische Konfrontation vermeiden. Vielmehr werden sie versuchen, sich mit den lokalen Mächten in der Kaspischen Region zu verbünden, um auf diese Weise ihre dortigen Interessen zu verteidigen. Der Albtraum aller drei Mächte ist eine Allianz zwischen zwei von ihnen, die sich gegen den dritten richtet. Der schlimmste Fall für die Welt wäre eine unmittelbare direkte Konfrontation der drei Mächte.

Die Bush-Administration beispielsweise will diese Region dominieren, sich Russland und China als die beiden größten Herausforderer unterordnen und eine strategische Allianz zwischen beiden verhindern. Zur gleichen Zeit könnte die Rivalität um das Kaspische Öl und die Erdgasvorkommen zu einer für die USA ungünstigen Entwicklung führen: Das Entstehen eines Energiemarktes und eines sicherheitspolitischen Konstruktes unter (teilweisem) Ausschluss der USA. Bilaterale Abkommen zwischen China und Russland, China und Iran, Russland und Iran, aber auch regionale Kooperationsformen wie die Schanghai Kooperation Organisation können als erste Schritte für eine solche Entwicklung gewertet werden.

Dieser Supermacht-Wettbewerb wird bereits als »the new great game« (das neue große Machtspiel) in Anlehnung an den Kampf zwischen Großbritannien und Russland im 19. Jahrhundert über die Erbmasse des Ottomanischen und Persischen Reiches bezeichnet.

Dr. M. Parvizi Amineh ist Programm Direktor (Energy Program Asia) und Senior Research Fellow am Internationalen Institut für Asien Studien (IIAS) in Leiden, Niederlande Übersetzung: Dr. Alexander Neu

Sicherheitspolitik im Wandel

Sicherheitspolitik im Wandel

Die Taiwan-Perspektive

von Jo Fleischle

Mitte der 90er Jahre bestanden begründete Hoffnungen, demokratische Reformen auf Taiwan wirkten sich mittelfristig positiv auf die Beilegung des Konfliktes zwischen Taiwan und der VR China aus. Dass politische Liberalisierung und gesellschaftliche Pluralisierung auf Taiwan einerseits und die Reform- und Öffnungspolitik der VR China andererseits zu einer inkrementalistischen Annäherung beider Konfliktparteien, zu einer institutionalisierten Konfliktbearbeitung und wenigstens tendenziell zu einem kontrollierbaren und weniger intensiven Konfliktaustrag führten, blieb indes bloßes Wunschdenken. Paradoxerweise verschärfte aus taiwanesischer Sicht die Demokratisierung des politischen Systems der Republik China auf Taiwan (ROC) den Konflikt zwischen beiden Staaten und verschlechterte zudem Taiwans außen- und sicherheitspolitische Lage.
Als am 20. Mai 2000 erstmals die größte Oppositionspartei, die Democratic Progressive Party (DPP), nach freien Wahlen die Guomindang-Regierung (GMD – Nationalpartei) ablöste und den Präsidenten stellte, war dies der vorläufige Schlusspunkt eines beachtlich zügigen und staatlich gelenkten Demokratisierungsprozesses. In einem evolutionären, keineswegs aber nur gewaltfreien Prozesses hatte sich Taiwan von einer Entwicklungsdiktatur zu einem demokratischen Staatswesen entwickelt. Das politische System der ROC war noch bis Anfang der 80er Jahre durch eine Ein-Parteien-Herrschaft der GMD, durch Zentralisierung von Macht in einem obersten Führungszirkel, durch »Entscheidungsfindungsprozesse« von oben nach unten und tendenziell durch Konfliktlösung mit repressiven Mitteln gekennzeichnet. Ideologisch wurde Politik im Rahmen der Staatsideologie interpretiert, die auf den nur rudimentär überlieferten Lehren des »Vaters der Republik« Sun Yat-Sen gründete.

Der autoritäre Staat, in dem bis Mitte der 80er Jahre nur segmentierte und begrenzte pluralistische Tendenzen erkennbar waren, legitimierte sich in erster Linie durch eine erfolgreiche nachholende ökonomische Entwicklung. Ausgehend von einer Boden- und Agrarreform in den 50er Jahren, über eine importsubstituierende und exportorentierte Industrialisierung in den 70er und 80er Jahren konnte nachhaltiges Wirtschaftswachstum erzielt werden, das im ökonomischen Bereich einer großen Mehrheit der Bevölkerung Taiwans Aufstiegschancen eröffnete. Charakteristisch war für Taiwan die korporatistische Verflechtung von Staat, Partei und großen staatlichen, später auch privaten Unternehmen.

Mit der Verhängung des Kriegsrechtes, der Grundlage für eine Verfassungsänderung, den »Zeitweiligen Bestimmungen für die Dauer der kommunistischen Rebellion« von 1948, wurde die Verflechtung zwischen Regierung, GMD und der militärischer Kommandostruktur institutionalisiert. Noch bis in die 80er Jahre besaß das Militär weit reichende Einwirkungsmöglichkeiten in den politischen und v.a. auch gesellschaftlichen Bereich, vom Militärunterricht an Schulen über Zensur oder Durchsetzung von Versammlungsverboten bis hin zu Entscheidungen darüber, ob und wann die öffentliche Ordnung gefährdet war – so dass durchaus von einer »militaristischen Gesellschaft« die Rede sein konnte.

Mit wenig Erfolg wurde von der Regierung versucht, die Herrschaft der ROC auf Taiwan mit einem kruden Kultur-Chauvinismus chinesischer Provenienz zu legitimieren, der unmittelbare politische Konsequenzen nach sich zog. Die ROC verstand sich nach dem Rückzug auf Taiwan unter dem damaligen Präsidenten Chiang Kai-Shek (Jiang Jieshi), infolge des verlorenen Bürgerkrieges auf dem Festland gegen die kommunistische VBA, als legitime Vertreterin Gesamt-Chinas und Bewahrerin chinesischer Kultur und Tradition. Um den politischen Willen der militärischen Führung und der politischen Elite zur Rückeroberung des Festlandes zu unterstreichen, wurde die Politik der ROC mittelfristig ausschließlich auf die Zeit nach der Rückeroberung des Festlandes ausgerichtet und eine politische Partizipation der Taiwanesen weitest gehend unterbunden. Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung, deren Wurzeln in der 50jährigen japanischen Kolonialzeit Taiwans (1895-1945) liegen und deren langfristiges Ziel ein eigenständiger taiwanesischer Staat ist, wurde als separatistische Bedrohung verstanden und verboten. Der Konflikt zwischen Taiwanesen einerseits, die stark mit der Unabhängigkeitsbewegung sympathisierten und denen ein Zugang zu politischen Entscheidungsgremien bis in die 80er Jahre de facto verwehrt blieb, und Festländern andererseits, die mit Chiang Kai-Shek nach Taiwan geflohen waren, die aber die Politik dominierten, brach erstmals offen am 28.02.1947 aus und zog sich bis Ende der 90er Jahre durch die gesamte politische Entwicklung Taiwans.

Sicherheit und Sicherheitspolitik während des Kalten Krieges

Unter den Bedingungen des Kalten Krieges wurde bis Mitte der 80er Jahre »Sicherheit« von der Regierung ausschließlich in militärischen Parametern definiert, die sich auf die Gewährleistung der territorialen Integrität der Hauptinsel Taiwan bezogen und die zum Herrschaftsgebiet der ROC zugerechneten und dem chinesischen Festland vorgelagerten Inseln Mazu und Jinmen einschlossen. Sicherheitspolitisch war und ist die ROC auf Taiwan noch immer von der Schutzmacht USA abhängig, die indirekt durch Militärhilfe und den Verkauf von Rüstungsgütern zur militärischen Sicherheit der ROC auf Taiwan beitrug und bis Ende der 70er Jahre die Bereitschaft signalisiert hatte, zum Schutze Taiwans auch direkt zu intervenieren. Die ROC auf Taiwan hatte damit stets Zugang zu modernen Waffensystemen und avancierte zeitweise zum wichtigsten und kaufkräftigsten Importeur US-amerikanischer Rüstungsgüter. Entsprechend hoch waren die Verteidigungsausgaben, die nach offiziellen Angaben in den 60er und 70er Jahren zwischen 9 und 10% des gesamten BSP in Anspruch nahmen, die zu Beginn der 80er Jahre teilweise noch über den wirtschaftlichen Wachstumsraten lagen und 1985, also vor Beginn der politischen Reformen, mehr als 50% des Regierungshaushaltes ausmachten.1

Die USA sahen sich bis zu Beginn der 70er Jahre kaum politischem Druck ausgesetzt, die Rüstungslieferungen an die ROC zu unterbinden, schließlich war Taiwan bis 1971 souveränes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft und vertrat Gesamt-China in den Vereinten Nationen. Erst als die ROC zugunsten der VR China ihren Sitz in den Vereinten Nationen niederlegen musste und sich die USA mit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zur VR China verpflichteten, ihre Waffenverkäufe an die ROC auf Taiwan zu reduzieren, nahm die Kritik an den amerikanischen Rüstungslieferungen zu. Die Verpflichtung der USA auch in Zukunft an der Verteidigung und Sicherheit Taiwans mitzuwirken sowie die Praxis der Rüstungslieferungen an Taiwan wurde im Taiwan Relations Act (TRA), einem nationalen Gesetz der Vereinigten Staaten, festgelegt.2

Demokratisierungsprozess

In den 80er Jahren durchlief Taiwan einen politischen Transformationsprozess, dessen Charakteristika eine schnelle Demokratisierung des politischen Systems und die Entstehung liberaler zivilgesellschaftlicher Arenen waren – mit weit reichenden Folgen für Taiwans Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Im Laufe des Transformationsprozesses kam es zur Beendigung der Ein-Parteienherrschaft der GMD und einer Pluralisierung der Parteienlandschaft, zur Institutionalisierung politischer Partizipation und zum Beginn einer tendenziell korporatistischen Entflechtung von Staat und Wirtschaft, einer »Taiwanisierung« der Politik, die den Konflikt zwischen Taiwanesen und Festländern weit gehend beilegte und zu Bestrebungen, Politik transparent zu gestalten. Das sog. »Sonnenscheingesetz«, das die Offenlegung der Einkommen von Politikern – einschließlich des Präsidenten – verlangt, ist hierfür nur ein Beispiel.

Der Demokratisierungsprozess wurde unter dem populären Politiker Chiang Chingguo (Jiang Jingguo, 1978-1988), dem Sohn Chiang Kai-Sheks, initiiert und unter seinem Nachfolger Lee Teng-Hui (1990-2000), dem ersten Taiwanesen, der das Präsidentenamt bekleidetet, fortgeführt.

Die Gründe für die politischen Veränderungen sind auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln und erklären nur in ihrem Zusammenwirken, dass auf das »Wirtschaftswunder« der 60er und 70er Jahre nun das »Politik-Wunder« der 90er Jahre folgte.

Nach 40 Jahren Rückzug der GMD auf Taiwan waren diejenigen, die die politischen Geschicke Taiwans bis dato bestimmt hatten, verstorben oder aus Altersgründen ausgeschieden. Zudem war eine Generation herangewachsen, die sich kaum noch mit China identifiziert und deren historischer gesellschaftlicher und politischer Referenzpunkt Taiwan ist. Die GMD konnte seit Ende der 70er Jahre nicht mehr als eine monolithische Blockpartei beschrieben werden. Innerhalb der GMD bildete sich eine Gruppe von jüngeren Parteimitgliedern und Funktionären heraus, die offen für mehr Partizipation und eine moderate Demokratisierung eintraten und dabei durchaus auf den demokratischen Anspruch Sun Yat-Sens verweisen konnten. Gesellschaftliche Pluralisierung und Modernisierung im Zuge wirtschaftlicher Entwicklung stellten das autoritäre System und die Militarisierung der Gesellschaft grundsätzlich zur Disposition – sie wurden bereits zu Beginn der 80er Jahre auf Taiwan als Anachronismus empfunden. Einflüsse aus dem Ausland, insbesondere der amerikanische Druck auf die Regierung der ROC politische Reformpläne umzusetzen, beschleunigten die Reformvorhaben.

Seit Mitte der 90er Jahre, darauf weisen Umfragen hin, trat die Legitimation des politischen Systems über wirtschaftliche Modernisierung hinter die Legitimation durch demokratische Entscheidungsfindungsprozesse und Institutionen zurück. Selbst Skandale, in deren Zentrum die Verflechtung zwischen Staat, GMD und Unternehmen stehen, stellen Liberalisierung und Demokratisierung nicht grundsätzlich in Frage.

Die Reformen eröffneten zugleich Arenen, in denen sich unterschiedlichste politische Interessen artikulieren und komplexe Problembereiche von Identität bis Festlandpolitik verhandelt werden konnten. Die Ergebnisse facettenreicher politischer Diskurse kamen politischen Imperativen gleich, von denen die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik Taiwans nicht unberührt bleiben konnte.

Vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels und dem politischen Einfluss der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung, wurde »Sicherheit« nun in einem breiteren Kontext definiert, nicht mehr ausschließlich militärisch, sondern im Sinne einer »Comprehensive Security«, die wirtschaftliche Stabilität, außenpolitische und dabei v.a. diplomatische Aufwertung einschloss.

Die Verfechter der Unabhängigkeitsbewegung Taiwans stellen keineswegs in Abrede, dass Taiwanesen im anthropologischen und ethnischen Sinne Chinesen sind und mit diesen gemeinsame historische und kulturelle Wurzeln teilen, sie lehnen aber die politische Schlussfolgerung einer zwangsläufigen Identität von ethnischer Zugehörigkeit und politischem System entschieden ab. Politisch umformuliert heißt dies, für die Zukunft Taiwans sind Taiwans Bürger zuständig, sie müssen darüber unabhängig und demokratisch entscheiden können, ohne Druck anderer Länder (i.e. der VR China oder den USA) oder der internationalen Staatengemeinschaft. Oberste Aufgabe der Regierung der ROC bestehe demnach darin, die demokratischen Errungenschaften der Bevölkerung Taiwans zu schützen und nicht etwa auf eine Vereinigung mit dem chinesischen Festland hinzuarbeiten.

Hatte die ROC noch bis Anfang der 90er Jahre in bilateralen Beziehungen versucht, den Alleinvertretungsanspruch für Gesamt-China durchzusetzen und infolgedessen mit denjenigen Ländern die diplomatische Beziehungen abgebrochen, die diplomatische Beziehungen mit der VR China aufnahmen, konnte bereits Ende der 80er Jahre von der chinesischen Variante der Hallstein-Doktrin seitens der ROC keine Rede mehr sein.3 Eine grundlegende Veränderung des internationalen Paria-Status der ROC konnte damit jedoch nicht herbeigeführt werden – die VR China setzte ihrerseits eine »Ein-China-Politik« durch, die die ROC international isolierte. Kurzfristige Verbesserungen der diplomatischen Situation der ROC konnten in den 90er Jahren erreicht werden. Kleinere Transformationsstaaten des ehemaligen Ostblocks konnten mit massiver Auslandshilfe dazu bewogen werden, die ROC diplomatisch anzuerkennen. Zuletzt brach jedoch Mazedonien wieder seinerseits die Beziehungen zur ROC ab, weil die VR China im Sicherheitsrat eine Verlängerung der UN-Sicherheitsmission für Mazedonien erfolgreich verhindert hatte.4

Von größter politischer Bedeutung, wenn auch ohne nachhaltigen Erfolg, war eine über mehrere Jahre angelegte Kampagne zur Wiederaufnahme in die Vereinten Nationen. Mitte der 90er Jahre präsentierte sich die ROC als vollwertiges Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft, dem trotz eines demokratischen politischen Systems und seines wirtschaftlichen Gewichts die politische Anerkennung verwehrt wurde. Die ökonomische Implikation bestand im dem Bestreben Taiwans, der Welthandelsorganisation WTO beizutreten, ein Schritt, der zwar auch von Ökonomen längst als überfällig erachtet wird, durch die VR China bislang aber erfolgreich verhindert wurde.

Der intendierte Beitritt zu den Vereinten Nationen ist zudem integraler Teil der Internationalisierungsstrategie der Taiwan-Frage.5 Obwohl während der Manöver der VR China und der Raketentests 1995 und 1996 vor Taiwans Küsten die USA ihre Streitkräfte in die Straße von Formosa entsandten, kamen in Taiwan berechtigte Zweifel auf, ob die Schutzmacht oder die internationale Staatengemeinschaft im Falle eines Angriffes der VR China intervenieren würden. Im Krisenfall sollen unter dem Dach der Vereinten Nationen Foren zur Verfügung stehen, in denen eine Lösung oder Beilegung der Konfrontation ausgearbeitet werden kann.

Taiwan und die VR China

Das Verhältnis zwischen Taiwan und der VR China hat sich seit dem Systemwandel der ROC eher verschlechtert. Mit Misstrauen wurde in politischen Kreisen der VR China der ständig wachsende politische Einfluss der DPP verfolgt. Die Signalwirkung, die von dem Erstarken der Oppositionspartei und von der Unabhängigkeitsbewegung ausging und nach der freie Wahlen die Voraussetzung für eine Vereinigung sind, wurde erkannt.6 Es bestehen kaum Zweifel, dass die Raketentests und Manöver der VR China Ende der 90er Jahre in der Straße von Formosa, die zeitlich mit Präsidentschafts- und Parlamentswahlen koinzidierten, die Wähler einschüchtern und die Position der VR China nachdrücklich unterstreichen sollten.7

Auf Taiwan rückten seit Mitte der 90er Jahre sicherheitspolitische Aspekte der wirtschaftlichen Verflechtung zwischen der VR China und Taiwan ins Blickfeld. In den 90er Jahren wurden indirekt Wirtschaftsbeziehungen über die Straße von Formosa möglich. Taiwan stieg binnen eines Jahrzehnts zu einem der wichtigsten Investoren und Exporteure für die VR China auf. Die Höhe und das Volumen der Investitionen und Exporte taiwanesischer Unternehmen – sie nehmen noch immer den Umweg Hongkong und müssen offiziell in Taiwan registriert werden – wurden in Regierungskreisen auf Taiwan mit Misstrauen begleitet, man befürchtete eine Schwächung der Verhandlungsposition gegenüber der VR China und einen möglichen Druck auf taiwanesische Unternehmen, die ihrerseits die ROC zu weiteren Zugeständnissen in der Frage einer Vereinigung bewegen könnten. Dies könne dazu führen, dass die Regierung der ROC gezwungen wäre, auf die langjährigen Forderungen der VR China einzugehen, die »drei Verbindungen« (san tong) zu ermöglichen – direkte Verkehrsverbindungen, direkter Handel und Kommunikation, einschließlich Postdienst.8 Versuche, über Entwicklungszusammenarbeit die Infrastruktur vornehmlich südostasiatischer Länder zu fördern, um Investitionen und Exporte regional zu diversifizieren und so mögliche wirtschaftliche und politische Abhängigkeiten für die ROC zu reduzieren, waren wenig erfolgreich.

Um Probleme der technischen Abwicklung bei Besuchen, von Handel und Investitionen zu bearbeiten, wurden Anfang der 90er Jahre von den Regierungen weisungsgebundene Stiftungen gegründet, die ARATS (Association for Relations across the Taiwan Strait) der VR China und die SEF (Straits Exchange Foundation) der ROC. Diese Institutionen stellen einen unverzichtbaren Konfliktbearbeitungsmechanismus dar. Impulse, die zur Lösung des Konflikts oder zu einem Mehr an (nicht nur ökonomischer) Sicherheit Taiwans hätten beigetragen können, gingen von ihnen aber nicht aus.

Wandel der Verteidigungspolitik

Durch gesellschaftlichen Wandel und politische Liberalisierungen wurden auch wichtige Reformen in der Verteidigungspolitik angestoßen. Mit einer Novellierung des »Gesetzes über die nationale Verteidigung«, die im Jahr 2000 verabschiedet wurde, wurden militärische Kommandostruktur und politische Entscheidungsfindung zusammengelegt, der Generalstabschef untersteht nun dem Verteidigungsminister. Die Neufassung des Gesetzes erhöht einerseits die politische Kontrolle über das Militär, andererseits ist sie Ausdruck eines neuen integrativen Sicherheitskonzeptes, in dem militärische, aber auch politische, außenpolitische und wirtschaftliche Dimensionen konvergieren.9 Bereits mit der Veröffentlichung des ersten Verteidigungsweißbuches 199210 sollte die Transparenz im militärischen Bereich erhöht werden. Kritikern gehen die Veröffentlichungen aber nicht weit genug und noch immer unterliegen über 20% der Mittel des Verteidigungshaushaltes strikter Geheimhaltung.

Anfang der 90er Jahre wurde der Pflichtwehrdienst auf 22 Monate reduziert. Zudem war das Ausreiseverbot für männliche Jugendliche unter 18 Jahren, die bislang noch keinen Wehrdienst geleistet hatten, politisch kaum noch durchzusetzen und wurde weit gehend aufgehoben. Seit Mai 2000 ist ein Zivildienstgesetz in Kraft getreten, in dem Wehrdienstverweigerung aus familiären, religiösen und Gewissensgründen ermöglicht und geregelt wird.11 Kriegsdienstverweigerer können ihren Wehrersatzdienst bei Polizei und Feuerwehr, im Umweltschutz und durch Sozialarbeit (z.B. Altenpflege) ableisten. Regulär beläuft sich der Wehrersatzdienst auf 26 Monate.

Die Reduzierung der Wehrdienstzeit und die Verabschiedung des Wehrdienstverweigerungsgesetzes wurden erst durch eine grundlegende Revision der Verteidigungspolitik möglich. Strategisch konzentriert sich die ROC auf die Verteidigung von Taiwans Küstengewässern und der Straße von Formosa. Die massive Aufrüstung an den Küsten der VR China und die Stationierung von Marschflugkörpern veranlasste die ROC Ende der 90er Jahre verstärkt an der Entwicklung von Mittel- und Langstreckenraketen zu arbeiten.12 Die neue Verteidigungspolitik der ROC sieht zudem eine Verringerung der Truppenstärke von 450.000 zu Beginn der 90er Jahre auf derzeit 380.000 Soldaten vor und beinhaltet eine anteilsmäßige Kürzung des Verteidigungsetats am Regierungshaushalt von 35% (1990) auf 24,5% (2000). Für 2001 ist eine weitere Reduzierung auf ca. 17% geplant.

Trotz Etatstreichungen wurde massiv in modernste Waffensysteme und in bessere Ausrüstung und Ausbildung investiert. Defizite in der Ausbildung der Soldaten wurden erstmals Ende der 90er Jahre eingeräumt. Vor dem Hintergrund der Kritik an den hohen Verteidigungsausgaben und im Zuge gesellschaftlicher Pluralisierungsprozesse konnte insbesondere immer weniger qualifiziertes Personal für den militärischen Führungsnachwuchs rekrutiert werden. Die Streitkräfte versuchten diesem Trend mit besserer Ausbildung und höherem Sold entgegenzuwirken. Ob sich dadurch aber auch mittelfristig die Abwanderung von Fachpersonal in den ungleich lukrativeren zivilen Sektor verhindern lässt, bleibt abzuwarten.

Bei den Umstrukturierungen zur Hightech-Armee konzentriert sich die ROC auf den Ankauf v.a. US-amerikanischer Waffensysteme, verstärkt aber auch Eigenentwicklungen. Trotz politischer Reformen sind nur wenige Staaten wie die USA und mit Einschränkungen auch Frankreich bereit, der ROC moderne und komplexe Waffensysteme zu liefern. Die Bundesrepublik Deutschland und die Niederlande haben zuletzt im Mai 2001 erklärt, keine Rüstungstechnologie an Taiwan weiterzugeben und damit dem Verkauf von acht dieselbetriebenen Unterseebooten eine Absage erteilt.13 Die USA haben hingegen im April 2001 zugesagt, Taiwan weiter mit Rüstungsgütern zu beliefern, wenn auch nicht im gewünschten Umfang. Der Verkauf von Zerstörern, die mit modernstem Aegis-Radar sowie mit landgestützen Patriot PAC-3 Anti-Raketensystemen und HARM Raketen ausgerüstet sind, wird derzeit verweigert.14 In den letzten Jahren wurde in Taiwan immer wieder Kritik an den US-amerikanischen Waffenlieferungen geübt. Den USA wurde vorgeworfen, Taiwan nur älteres Kriegsgerät zu überhöhten Preisen oder in technologisch minderwertiger Ausstattung zu verkaufen und damit die internationale politische Isolierung Taiwans auszunützen.15

Diese Kritik, die Problematik der Waffenkäufe und die technologische Aufrüstung in Chinas Küstengebieten beschleunigten Taiwans Investitionen in elektronische und computergestützte Kriegsführung und in F&E im Rüstungsbereich. Zwei Institutionen stehen im Zentrum von Rüstungsproduktion, militärischer Forschung und Entwicklung: Die Aerospacial Industrial Development Corporation (AIDC) und das Zhongshan Institute für Wissenschaft und Technik (CSIST), das bereits 1969 gegründet wurde.16 AIDC begann bereits 1981 gemeinsam mit amerikanischer Hilfe die Entwicklung eigener Transportflugzeuge und Helikopter. 1988 wurde dann erstmals der Indigenous Defense Fighter (Spitzname: I don’d fly) vorgestellt, von dem bis zum Jahr 2000 bereits 130 Maschinen ausgeliefert worden waren. Das CSIST, in dem derzeit ca. 3.800 Wissenschaftler und 4.600 Techniker beschäftigt sind, hat seit Ende der 90er Jahre mit den Veränderungen der Verteidigungsstrategie der ROC stark an Bedeutung gewonnen, v.a. durch die Entwicklung von Luft-Luft- und Boden-Luft-Raketen (beispielsweise die Hsiung-Feng-Raketen, Sky Bow II SAM oder Sky Sword II AAM). Diese Anstrengungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ROC bei der Entwicklung eigener Waffensysteme nach wie vor in großem Maße auf Know-how aus den USA angewiesen ist, deren Einfluss auf technische Ausrüstung und indirekt auf die strategische Ausrichtung der nationalchinesischen Armee weiter gestiegen ist.

In den letzten Jahren gab es Bestrebungen, durch eine enge Zusammenarbeit mit privaten Unternehmen die technologischen Abhängigkeiten zu verringern. Die Auftragsvergabe nutzte bisher aber fast ausschließlich den Unternehmen, für Militär und Staat zahlte sie sich bislang nicht aus. Ob diese neueren Tendenzen zur Verflechtung bereits als Keimzelle eines neuen militärisch-industriellen Komplexes auf Taiwan gedeutet werden können, der dann letzten Endes wieder zu einer neuen Militarisierung der Gesellschaft führt, bleibt abzuwarten.

Anmerkungen

1) S. Guofang Baogao shu, hg. Guofangbu (Verteidigungsministerium), Taibei: Liming wenhua shiye, 1992, S. 72.

2) Zu den Verfahrensrichtlinien und der Auslegung des Gesetzes in unterschiedlichen Präsidentschaften, s. Lee, Wei-chin. US arms transfer policy to Taiwan: from Carter to Clinton. In: Journal of Contemporary China 9(2000)23. S.53-75.

3) Zur offiziellen Darstellung der ROC-Außenpolitik, s. Duiwai guanxi yu waijiao xingzheng (Auswärtige Beziehungen und Diplomatie): Waijiao baogao shu (Bericht zur Außenpolitik), hg. Wajiaobu (Außenministerium), Taibei: o.V., 1992.

4) S. China Aktuell 06.2001, S.613.

5) Anthony Goodman, China blocks Taiwan bid to join U.N. for sixth year, www.taiwansecurity.org./Reu/Reuters-980911.htm.

6) Timothy Ka-ying Wong. The impact of state development in Taiwan on cross-straits relations, in: Asian Perspective 21(1997)1. S. 171-212.

7) Vgl. Shaw, Yu-ming, Taiwan’s presidential election and relations with the mainland, in: Missile diplomacy and Taiwan’s future: innovations in politics and military power, hg. Greg Austin, Canberra: Strategic and Defence Studies Centre, 1997, S.1-8.

8) Erst in den letzten Monaten näherte sich die ROC den Forderungen der VR China (und taiwanesischer) Unternehmen an, indem sie die drei Mini-Verbindungen (xiao san tong), die direkte Kontakte zwischen den unter Verwaltungshoheit der ROC stehenden Inseln Kinmen, Mazu und dem chinesischen Festland ermöglichen. Shi Qiping, Xin Zhongguo [Neues China] 21.shiji haixia liang’an de chulu [Auswege für Taiwan und China im 21. Jahrhundert.], Taibei: Gongshang shibao [Economic Times], 1996, S.105.

9) Li Zhengyi., Tai Hai anquan yu Taiwan de guofang zhengce (Sicherheit in der Straße von Formosa und die Vertedigungspolitik Taiwans), in: Maixang 21 shiji de Taiwan (Taiwan an der Schwelle des 21. Jahrhunderts), hg. Xu Qinfu, Taibei: Zheng Zhong, 1994, S.138-152.

10) Guofang Baogao shu, hg. Guofangbu (Verteidigungsministerium), Taibei: Liming wenhua shiye, 1992.

11) S. China Aktuell 05.2000. S.496f.

12) S.China Aktuell 12.1999, S.1250.

13) S. China Aktuell, 05.2001, S.287.

14) S. The Economist, 28.04.01, S.62-63.

15) Oscar Chung, Si vis pacem, para bellum, in: Taipeh heute (2001)05/06, S. 16-23.

16) Andrew Nien-dzu Yang, Taiwan’s defensive capacities, in: Missile diplomacy and Taiwan’s future: innovations in politics and military power, hg. Greg Austin. Canberra: Strategic and Defence Studies Centre, 1997, S. 143-159, insb. S. 148-149.

Jo Fleischle, M.A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Sinologie und Koreanistik der Universität Tübingen und Managing Director des European Centre for Chinese Studies

Venimus, Vidimus, Dolavimus – wir kamen, wir sahen, wir hackten

Venimus, Vidimus, Dolavimus – wir kamen, wir sahen, wir hackten

Ein Einblick in Chinas Vorbereitung auf einen digitalen Krieg

von Junhua Zhang

In der heutigen Zeit, in der sich die Leistungsfähigkeit der digitalen Technologie alle 18 Monate verdoppelt, hat der Begriff »Information Warfare« (IW) besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dies gilt nicht nur für die USA und andere westliche Länder, sondern auch für China. Schon im Frühjahr 1987 erschien in der Zeitschrift Xuejunshi (Kriegsführung Lernen) ein Bericht von einem damals noch unbekannten jungen Offizier der Volksbefreiungsarmee (VBA) namens Shen Weiguang unter dem Titel »Beginn des Informationskriegs«. Drei Jahre später wurde sein Buch Xinxizhang (Informationskrieg) in China publiziert. Damals schenkte die Öffentlichkeit dem Autor kaum Aufmerksamkeit. Das hat sich grundlegend verändert.
Der Golfkrieg von 1991 und nicht zuletzt die rasante Entwicklung der Informations- und Telekommunikationsindustrie haben Anstöße für die Erforschung der IW gegeben. Dabei muss besonders erwähnt werden, dass Jiang Zemin schon im Jahr 1991 die Anweisung erteilt hat, mit großer Priorität Telekommunikationsinfrastruktur und Informationsnetzwerke sowohl für zivile als auch militärische Zwecke aufzubauen. In den letzten Jahren gewinnt die Diskussion über die IW nicht nur in chinesischen Militärkreisen, sondern auch in der chinesischen Öffentlichkeit zunehmend an Gewicht. Immer mehr gut ausgebildete Offiziere der chinesischen Streitkräfte widmen sich fanatisch diesem Thema.

Trotz sehr unterschiedlicher Definitionen, auch unter den chinesischen Autoren, möchte ich das chinesische Verständnis von IW in zweierlei Hinsicht zusammenfassen:

IW im weiteren Sinne bedeutet für viele chinesische Kriegstheoretiker Konfrontation der eigenen C 4 I (Der Begriff C 4 I bezieht sich hier auf »command, control, communication, computer and intelligence«) gegen die feindlichen C 4 I. Nach Li Xianyao und Zhou Bisong ist IW eine Art Kriegsführung, die auf Informationen basiert und durch informatisierte Waffen realisierbar ist. Sie beinhaltet fünf Aspekte:

  • IW ist ein Produkt der Informationsgesellschaft.
  • Die Waffen der IW sind informatisiert, intelligent und kompakt.
  • Das Ziel der IW besteht im Attackieren der feindlichen Seite beim Informationen sammeln, bei der Kontrolle der Information und deren Gebrauch.
  • Die IW verläuft an drei unterschiedlichen Fronten – der militärischen, politischen und wirtschaftlichen. Sie wird durchgeführt in materieller und immaterieller Form, mit und ohne militärische Gewalt.
  • Die Kerngegenstände der IW sind Information und Wissen.

Entwicklung einer chinesischen Theorie für den digitalen Krieg

Li und Zhou sprechen in ihrem Buch »Information Warfare« von fünf Modellen, die die IW verkörpern.(Li Xianyao / Zhou Bisong, 1998: 95-238)

  • Das erste Modell nennt sich »Kampf um die nützlichen Daten« (Qinbaozuozhan). Nach dem altchinesischen Strategen Sun Zi, „Der Unbesiegbare ist der, der über sich und über die anderen Bescheid weiß“, ist es von großer Bedeutung, über alle Wege Informationen über die mutmaßlichen Feinde zu sammeln und zu bearbeiten. Die Aufgabe der IW ist also das Spionieren – sei es in versteckter oder offener Form, um ein klares Bild von der Sachlage zu bekommen.
  • Das zweite Modell nennt sich »Elektro-Kampf«. Dabei wird elektromagnetische Energie verwendet, um die gegnerische elektromagnetische Frequenz zu manipulieren. Dadurch sollen die elektronischen Anlagen und moderne Waffensysteme einschließlich der C 4 I der feindlichen Seite funktionsunfähig gemacht werden.
  • Beim dritten Modell handelt es sich um eine völlig neue Kriegsführung, nämlich den Kampf via Internet. Dieser Kampf basiert auf der Computerisierung bzw. Digitalisierung der Truppen. Die Objekte sind nicht nur militärische Anlagen, sondern auch Zivileinrichtungen wie etwa Banken oder Verkehrsknotenpunkte. Die Methoden bestehen in der Verbreitung eines Virus, im Hacken und dergleichen. Hohe Effizienz und niedrige Kosten machen den Vorteil dieser Art Kriegsführung aus.
  • Das vierte Modell wird »Kampf durch Exaktheit« genannt. Dieser erfordert eine mehrdimensionale Kooperation aller Kriegsanlagen und -einrichtungen. Diese Art Kriegsführung wird auch »Akupunkturkrieg« genannt, da sie eine haargenaue Lokalisation der Schwachpunkte im »Nervensystem« des Feindes voraussetzt.
  • Schließlich kommt der »Psycho-Kampf« als das fünfte Modell hinzu. Hier werden sowohl die traditionellen Medien, vor allem aber auch das neue Medium Internet, als Instrumente eingesetzt um die gegnerischen Informationsressourcen zu manipulieren.

Hinsichtlich der gegenwärtigen Theoreme der IW ist das 1999 erschienene Buch »Chaoxianzhan« (Ein uneingeschränkter Krieg) besonders zu erwähnen. Autoren sind Qiao Liang und Wang Xianhui, beide Oberstleutnant der chinesischen Luftwaffe, die den Golfkrieg mit regem Interesse verfolgt haben und selbst auch in mehreren militärischen Manövern der VBA als Offiziere beteiligt waren. Schon kurze Zeit nach der Veröffentlichung ihres Werks wurde es zur Pflichtlektüre für hochrangige Offiziere des chinesischen Militärs. Auch die Minister der Zivilbehörden sollen inzwischen mit diesem Buch recht vertraut sein. Nach der Hongkonger Wochenzeitung Yazhou Zhoukan (Asia Weekly) soll sogar in der renommiertesten US Military Academy, in West Point, dieses Buch zur Sonderlektüre für die künftigen Offiziere zählen.

Bei oben genanntem Buch handelt es sich zunächst um die Analyse des Irak- und Golfkriegs und anderer von den USA durchgeführten »Antiterror-Aktionen«. Beide Autoren sehen in den Entwicklungen seit der Beendigung des Kalten Kriegs einen neuen Trend der Kriegsführung. Bei der modernen Kriegsführung komme es nicht allein auf die militärischen Kräfte, sondern vielmehr auf die Kombination der »Module« an. D.h. es werden multidimensionale und branchenübergreifende Strategien und Taktiken verwendet, die über die Definition eines konventionellen Kriegs hinausgehen. Die Verfasser erklären damit die bisherigen Spielregeln der Kriegsführung für hinfällig. Sie plädieren für eine beinahe skrupellose Anwendung terroristischer Methoden (einschließlich des digitalen Angriffs auf zivile Objekte). Einen erfolgreich geführten Krieg durch die neuen »mobilisierten Kriegsressourcen« beschreiben die beiden Autoren folgendermaßen: „In einer sehr unauffälligen Weise wird eine große Geldsumme digital zusammengeführt. Dann beginnt die Intervention auf dem Finanzmarkt des Gegners (um eine Finanzkrise im gegnerischen Land zu provozieren). Nachdem die Finanzkrise ausgebrochen ist, werden die in den gegnerischen Computernetzwerken versteckten Agenten und Hacker aktiviert, um die Netzwerke einschließlich Strom-, Verkehr-, Banken-, Kommunikations- und Mediennetzwerken lahm zu legen, so dass Unruhen gestiftet und die Behörden regierungsunfähig gemacht werden.“ (Qiao Liang, 1999: 156).

Die »neuen Spielregeln« der Kriegsführung ohne Einschränkungen lassen sich in dem Satz zusammenfassen: „Scheue bloß nicht, einen »schmutzigen Krieg« zu führen!“1 Kein Wunder, dass Clausewitz in den Augen der Autoren »out of date« ist und nur Machiavelli wegen seiner Schlauheit noch Lob verdient.

Viele westliche Experten sehen in diesem Buch einerseits Ausdruck der Depression und Ohnmacht des chinesischen Militärs gegenüber den hochmodernisierten Amerikanern, andererseits einen wichtigen Versuch, eine eigenständige Theorie für die Kriegsführung aufzustellen.2 Ohne Zweifel hat dieses Buch zu der wiederholt entflammten »Hackerattacke« beigetragen, auf die weiter unten eingegangen wird.

Während Qiao und Wang sich bei der Konzipierung eines uneingeschränkten Kriegs durch die reflexive Bewertung von Bin Laden oder George Soros inspirieren ließen, versuchten andere Autoren aus dem militärischen Bereich, neue Ansätze in der chinesischen Tradition zu akquirieren. Neben den berühmten 36 Strategien von Sun Zi – einem berühmten Strategen vor zweitausend Jahren – wird Mao Zedongs Idee vom »Volkskrieg« offenbar wieder belebt. „Even as to government mobilized troops, the numbers and roles of traditional warriors will be sharply less than those of technical experts in all lines (…) since thousands of personal computers can be linked up to perform a common operation, to perform many tasks in place of a large-scale military computer, an IW victory will very likely be determined by which side can mobilize the most computer experts and part-time fans. That will be a real Peoples War.“3

Dass die Idee eines Volkskriegs in der IW an Bedeutung gewinnt, zeigt sich nicht nur in den diversen Schriften von Offizieren, sondern auch in der Rede von Verteidigungsminister Chi Haotian. Chi hat im Jahre 1998 an der Chinesischen Universität für Nationalverteidigung einen Vortrag gehalten, dessen Titel »Issues Concerning the Modern High Tech Peoples War«4 lautete. Angesichts der Tatsache, dass die Informationstechnologie sowohl im Militär als auch in den Zivilsektoren verwendet wird, glaubt Chi, eine neue Dimension eines digitalen Kriegs durch die Beteiligung ziviler Computer- und Internetnutzer erreichen zu können: „We must focus on studying the characteristics and laws of fighting a Peoples War building our defence, and waging high-tech military struggles; seize the commanding point of contemporary military theory; and actively create new strategies and tactics that meet the needs of waging a high-tech Peoples War.“5

China ist sich durchaus darüber im Klaren, dass es dem US-Militär nicht gewachsen ist. Um so mehr hofft es, in einer unkonventionellen Weise den Gegner besiegen zu können, indem die Computer- und Internetspezialisten mobilisiert werden, nach dem oben dargestellten Modell zu operieren. Es ist zwar weder bei den chinesischen Autoren noch bei der Führung des chinesischen Militärs ganz klar, wie die Logistik des »Volkskriegs« genau zu formulieren sein wird, die Bedeutung des Modells »Kampf via Internet« ist jedoch nicht zu verkennen. Auch wenn behauptet wird, alle bisherigen IW-Theorien in China seien Kopien von Pentagon-Papieren, so muss doch akzeptiert werden, dass die neue Theorie des digitalen Volkskriegs ein Produkt chinesischen Gedankengutes ist.

Institutioneller Aufbau als Vorbereitung der IW und die dazu gehörige Praxis

Der oben besprochenen IW-Vorstellung entsprechend wurden in China seit 1998 mehrere Institutionen und Organisationen eingerichtet, die teils militärischen, teils paramilitärischen bzw. zivilen Charakter aufweisen.

  • Schon im Jahr 1997 wurde auf einem Symposium der 4. Abteilung des Generalstabs ein Plan zur Gründung einer IW-Führungsgruppe vorgelegt. Inzwischen ist ein physisch vom Internet getrenntes Informationsnetzwerk für die führenden Offiziere errichtet worden.6
  • In den letzten fünf Jahren sind nach den Angaben der Zeitung der VRA bereits mehr als 1.000 Netzwerke innerhalb des Militärs eingerichtet worden, die für Verteidigung, Training und Forschung gebraucht werden.7
  • Zwecks der Ausbildung einer IW-orientierten Armee wurden an mehreren Universitäten bzw. Hochschulen Ausbildungszentren eingerichtet.
  • Immer mehr »Computer-Soldaten« (Jisuanjibing) und »Netzwerk-Kämpfer« (Wangluozhanshi) werden in die Armee rekrutiert. Sie kennen zumindest eine Fremdsprache und arbeiten daran die Feinde »digital« zu vernichten.8
  • Seit 1999 werden in zahlreichen Städten »digitale Milizen« gegründet. Die Milizen unterstehen im Kriegsfall unmittelbar dem Kommando des Militärs. In der Region Echeng von der Provinz Hubei wurde 1999 ein IW-Regiment errichtet, das aus Fachkräften verschiedener Sektoren u.a. des Telekommunikations- und Internetbereichs besteht.9 Das dafür zuständige »Peoples Armed Forces Department« (PAFD) verfügt über ein »Network-Warfare-Bataillon«, ein Elektronisches Warfare-Bataillon und mehrere Intelligenz- und Psychologische Warfare-Bataillone. Zugleich wurde dort eine »Informaticized Peoples Warfare Network Simulation Exercise« durchgeführt.10
  • Zu den ersten »digitalen Miliztruppen« gehört auch die Miliztruppe von der Zaozhuan-Telekom der Provinz Shangdong, die aus 48 gut ausgebildeten Hochschulabsolventen besteht. Ihre Aufgabe besteht darin, die bestehende Telekommunikationsinfrastruktur zu verwalten, Aufsicht über das Internet zu führen und nicht zuletzt Informationen zu sammeln, die für einen digitalen Krieg nützlich sein könnten.11
  • In Shanghai wurde 2000 das »Zentrum der Armeereserven der Informationskontrolle« gegründet, das aus dem Shanghaier Armee-Reserven-Bataillon und der »Kompanie der Mobiltelekommunikation« besteht. Zugleich wurden mehrere E-Gruppen errichtet, die sich jeweils mit Satellitenkommunikation, Mikrowellen, Internet- und Elektro-Warfare befassen.12 Ähnliche E-Gruppen wurden zwecks der Durchführung von IW in anderen Provinzen bzw. Großstädten zusammengestellt.

Neben dem institutionellen Aufbau gab es in den letzten beiden Jahren mehrere Manöver:

  • Im Mai 2000 führte das Raketen-Regiment der Beijinger Luftwaffe ein Manöver mit vernetzten Computern erfolgreich durch.
  • Im Juni 2000 hat der Chendu-Militärbezirk eine 96-stündige Operation namens »Xinan 2000« durchgeführt, in der dutzende Netzwerke (Intranet) und mehrere hundert Endgeräte mit dem Internet verbunden waren und an dem über 70% der führenden Offiziere beteiligt gewesen sein sollen. Eines der wichtigsten Ziele der Operation bestand darin, die Sicherheitsmaßnahmen der digitalen Netzwerke zu checken.13
  • Im August 2000 fand eine kombinierte Aktion im Militärbezirk Beijing statt. Hier wurden ebenfalls IW-Strategien in die konventionelle Kriegsführung eingebettet und die Theorien des Elektro-Kriegs in der Praxis erprobt.14
  • Vom 28. Mai bis zum 2. Juni dieses Jahres gab es ein erfolgreiches Hightech-Manöver von Luftwaffe, Artillerie- und Fallschirmjägertruppen der Militärbezirke Shenyang-, Beijing- und Chendu. 15

Hackerangriffe – Experimente eines digitalen Volkskriegs?

Wie bereits angedeutet, ist das Motiv für einen digitalen Volkskrieg leicht erkennbar:

China ist derzeit noch nicht in der Lage, hochmoderne Waffen für eine umfassende IW herzustellen. Um jedoch den USA bei einem eventuell eskalierten Taiwan-Konflikt Paroli bieten zu können, sieht sich das chinesische Militär dazu gezwungen, einen »asymmetrischen (regionalen) Krieg« mit niedrigen Kosten zu führen.

Ein Volkskrieg im modernen Sinne beinhaltet somit drei Aspekte:

  • Erstens soll die zivile Produktion mit der militärischen Industrie im Hinblick auf die Entwicklung von Software und Hardware bzw. den Aufbau von Netzwerken kombiniert werden, damit die Kosten für die moderne Aufrüstung des Militärs gesenkt werden können.
  • Zweitens sollen die digitalen Milizen in die Volksarmee integriert werden, damit die Fachkräfte zum militärischen Zweck verwendet werden können.
  • Drittens soll laufend Nachwuchs ausgebildet werden, so dass es technisch die Möglichkeit einer »take-home battle«16 gibt.

Ein Volkskrieg in diesem Sinne enthält vier Momente: Die Akteure sind die Computercracker, der Computer dient als Waffe, das Wissen wird als Munition bezeichnet und schließlich ist die vernetzte Welt das Schlachtfeld.17

Offiziell hält sich die chinesische Regierung gegenüber den Hackern zurück. Zeitweise gab es sogar scharfe Kritik seitens der Regierung an ihnen. Dennoch werden die Hacker offenkundig von den chinesischen Behörden zumindest toleriert und oft sogar unterstützt. Die Tatsache allein, dass einige Dutzende Hackerwebseiten, darunter die Webseiten von der »Honker Union of China« (H.U.C.) auch während der heftigsten Phase des »Hackerkriegs« nicht geschlossen wurden, bestätigt dies.

Wie ein digitaler Volkskrieg aussehen kann, zeigen folgende Beispiele:18

  • Als sich mehrere gewalttätige Vorfälle gegen die in Indonesien lebenden Chinesen ereigneten, attackierten Hacker aus der VR China die mutmaßlichen antichinesischen Webseiten in Indonesien.
  • Nach dem Bombardement der chinesischen Botschaft in Belgrad im Mai 1999 wurden viele Netzwerke der NATO und zugleich zahlreiche Webseiten der US-amerikanischen Regierungsorgane von chinesischen Hackern angegriffen.
  • Im Juli 1999, als der taiwanesische Präsident Li Denghui seine These von »zwei Staaten« publik machte, wurden zahlreiche taiwanesische Regierungshomepages von den festlandchinesischen Hackern heimgesucht. Am 22. August 1999 wurde sogar eine Betriebsstörung von über 1.000 Geldautomaten in Taibei durch den »Hackerkrieg« verursacht.19
  • Im Januar 2000 wurden aus Protest gegen eine Versammlung japanischer Rechtsradikaler in Osaka die Webseiten verschiedener japanischer Organisationen von den chinesischen Hackern »operiert«.
  • Im Februar und März dieses Jahres haben die chinesischen Hacker noch einmal eine digitale Protestwelle gegen die Rechtsradikalen in Japan organisiert. Viele Regierungswebseiten aus Japan wurden mit Parolen verziert.
  • Das Spionageflugzeug-Ereignis im April dieses Jahres hat einen heftigen »digitalen Krieg« zwischen den chinesischen und US-amerikanischen Hackerorganisationen ausgelöst.20 Mehrere Webseiten, darunter www.KillUSA.com, www.cnhonker.com, wurden zum Zweck der Ausbildung von Anfängern errichtet, in denen »Lerning by doing«-Anweisungen für die Anwendung bestimmter Hackerprogramme gegeben wurden. Viele amerikanische Webseiten wurden mit einer chinesischen Flagge und Parolen etwa wie „China have atom bombs too!“, „Down with the US Imperialism!“ überschrieben. Nach den Angaben von chinesischen Hackern sollen über 1.600 in den USA registrierte Webseiten bzw. Portale während dieses »digitalen Kriegs« teils paralysiert, teils beschädigt worden sein. Das Hauptquartier des »U.S. Pacific Command« (CINCPAC) musste deshalb die Alarmstufe von »Normal« auf »Alpha« erhöhen.21 Am 8. Mai berichtete das amerikanische »Computer Emergency Response Team« (CERT) von einem aus China stammenden »Wurm«, der sich auf die mit dem Betriebssystem »Solaris« verbundenen Computer richtete.22

Über den letzten »Hackerkrieg« gab es in China sehr unterschiedlichen Meinungen. Zhang Zhaozhong, Professor für militärische Technologie an der Verteidigungsuniversität Chinas, hat zwar eine zurückhaltende Haltung gegenüber der jungen Hacker-Generation in China, hebt jedoch hervor, dass diese Art »Hackerkrieg« der beste Übungsplatz für einen wahrhaftigen digitalen »Volkskrieg« sei.23

Ausblick

Ein von China ausgehender digitaler Krieg kann wahrscheinlich nur in Zusammenhang mit einem Konflikt um Taiwan ausbrechen. Der allgemeinen Einschätzung zufolge sind allerdings die Erfolgschancen für das chinesische Militär in den nächsten fünf Jahren sehr gering.24 Dabei genügt es, sich folgende Aspekte näher anzuschauen.

  • China hat einen großen Nachholbedarf an Informationssicherheit. Schon seit langer Zeit ist es besonders wachsam gegenüber den aus dem Ausland importierten Computern. Die von James Adams bestätigte Feststellung, dass amerikanische und britische Geheimdienste seit Jahren systematisch Computer und technische Geräte, die nach China exportiert werden, mit »Trojanischen Pferden« präparieren, erhärtet den Argwohn des chinesischen Militärs gegenüber den Hightech Ländern wie den USA und Taiwan. (Dean, 1999: S. 25 / Goad, 2000).25 Durch mehrere »Hackerkriege« hat China selbst einsehen müssen, dass die chinesischen PCs und Netzwerke für Angriffe sehr anfällig sind.26 China bemüht sich deshalb darum, möglichst wenig IW-Angriffsflächen zu bieten, indem beispielsweise die zum militärischen Zweck gebrauchten Netzwerke physisch vom Internet getrennt sind und eigene Firewall-Software und Chips entwickelt werden. Dazu gehört beispielsweise die Herstellung des eigenen Betriebssystems »Red Flag Linux«, um eine mutmaßliche Falltür von Microsoft zu vermeiden. Dennoch hat China im Hinblick auf die Computer- und Netzwerk-Sicherheit noch einen langen Weg zu gehen. Nach der Statistik können über 90% der kommerziellen Webseiten und ein guter Teil der Regierungswebseiten vor Hackerangriffen kaum geschützt werden.
  • Die finanziellen Ressourcen Chinas sind begrenzt. Auch im digitalen Zeitalter ist kein Krieg ohne konventionelle, auf Higtech basierende Waffen zu gewinnen. Trotz Chinas offenkundiger Ambition, sich als ein Pol der Weltordnung darzustellen und trotz seines energischen Aufbaus der IW-Truppen ist die Gesamtkapazität des chinesischen Militärs recht gering. Das Hauptproblem ist die Finanzierung. Während die USA im letzten Jahr 3,2 Prozent ihres Etats, das waren 270 Mrd. Dollar, für den Verteidigungshaushalt ausgaben, waren es in China nur 1,2 Prozent, d.h. 14,5 Mrd. Dollar.27
  • Es gibt einige unbestimmte Variablen. Die chinesische Führung hat in der Taiwanfrage an sich eine recht ambivalente Haltung. Einerseits will sie nicht dabei zusehen, wie die so genannte Wiedervereinigung eine ungewisse Angelegenheit der fernen Zukunft bleibt. Andererseits bewahrt sie noch eine gewisse »Rationalität«, indem sie versucht, das Militär davon zu überzeugen, dass nur der Fortschritt der Wirtschaft die Modernisierung der Verteidigung vorantreiben kann. Auch bemüht sie sich darum, möglichst mit diplomatischen Mitteln statt mit Gewalt die »de jure-Unabhängigkeit« von Taiwan zu verhindern.

Ob und wann jedoch die Irrationalität das rationale Denken und Handeln der chinesischen Führung besiegt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Dazu zählen die Diplomatie seitens der USA und Taiwans genauso wie die inneren Spannungen zwischen dem Staatsrat und dem Militär Chinas sowie die politische Stabilität des Landes. Dass der Staatsrat, vor allem aber das Außenministerium, im Unterschied zum Militär in der Taiwanfrage und dementsprechend auch in der Grundhaltung zu den USA, oft einen weichen Ton hat, zeigt, dass die Zeit der Harmonie zwischen der Regierung und dem Militär, die es in der Ära von Mao Zedong und Deng Xiaoping gegeben hat, vorbei ist. Immer mehr Zeichen deuten darauf hin, dass das Militär mit der »sanften« Taiwanpolitik der Zentralregierung nicht zufrieden ist.28 Auch die innere politische Instabilität könnte die chinesische Staatsführung dazu verleiten, die Bevölkerung durch die Invasion auf Taiwan von den vorhandenen Problemen abzulenken.

Literatur

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Delio, Mchelle (2001): It This World Cyber War I? in: www.wired.com (01.05.2001).

Forno, Richard/Baklarz, Ronald (1999): The Art of Information Warfare: Insight into the Knowledge Warrior Philosophy.

Goad Pierre G./Holland, Lorien (2000): China Joins Linux Bandwagon, in: Far Eastern Economic Review Feb. 24. 2000.

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Mulvenon, James C. (1999): The Peoples Liberation Army in the Information Age, RAND.

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Thacker. Jr., John A. (2001): Chinas Secret Weapon for Information Warfare, in: www.specialoperations.com/Foreign/China/IW.htm (12.08.2001).

Thomas, Timothy L. (1998): Behind the Great Firewall of China: A Look at RMA/IW Theory From 1996-1998, in: Foreign Military Studies Office (http://call.army.mil/fmso/fmsopubs/issues/chinarma.htm). – (1999): Like Adding Wings to the Tiger: Chinese Information War Theory and Practice, in: Foreign Military Studies Office (http://call.army.mil/fmso/fmsopubs/issues/chinarma.htm). – (2001): Chinas Electronic Strategies, in: Military Review, May-June 2001. – Virtual Peacemaking: A Military View of Conflict Prevention Through the Use of Information Technology, in: Military Review, Dec 1998/Jan-Feb 1999 S. 44-57.

Zhang, Ming (1999): War Without Rules, in: Bulletin of the Atomic Scientists, Nov/Dec 1999, Vol. 55. No. 6, S. 16-18.

Chinesischsprachige Literatur

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Wang Jianghau/Li Jin (2001): Shenmi muoce wangluozhan (Geheimnisvoller Internetkrieg), Beijing.

Li Xianyao/Zhou Bisong (2000): Xinxi zhanzheng (Information Warfare), Beijing.

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Zhang Feng (1999): Quanwei xinxihua zhanzheng (Multidimensionale Information Warfare), Beijing.

Wang Zhiyuan/Li Changwei/Jiang Yan (2000): Juesheng xinxi shidai (Der entscheidende Sieg im Informationszeitalter), Beijing.

Anmerkungen

1) Qiao Liang begründet seine Einführung eigener »neuer Spielregeln« damit, dass die vorhandenen Spielregeln von den westlichen Großmächten zu ihren Gunsten festgelegt und daher nicht legitim seien. (http://jczs.sina.com.cn) 04.07.2000.

2) Cf. David Harrison and Damien McElroy (1999): China´s Military Plots »Dirty War« Against The West (in: www.infowar.com/mil_c4i/99/mil_c4i_101899_i_shtml).

3) Beijing Zhongguo Guofang Keji, X, Sep-Dec. 1996, No 5/6, pp.90-93. Zitiert nach T. L. Thomas (1999), S. 3.

4) Cf. Timothy Lee Thomas (1998): Behind the Great Firewall of China: A Look at RMA/IW Theory From 1996-1998 (http://call.army.mil/fmso/fmsopubs/issues/chinarma.htm).

5) Beijing Xinhua Domestic Service, 0921GMT 8 Jan 1998. Zitiert nach Thomas (1998), S. 20 (http://call.army.mil/fmso/fmsopubs/issues/chinarma.htm).

6) Asia Weekly 2001, (www.yzzk.com/current/19brla.htm).

7) Jiefangjunbao, 27.10.2000.

8) Asia Weekly 2001, (www.yzzk.com/current/19brla.htm).

9) China National Defense News, 26 Jan. 2000.

10) Cf. http://ezarmy.net

11) Asia Weekly 2001, (www.yzzk.com/current/19brla.htm).

12) Wangluobao (Net

13) Jiefangjunbao, 02.08.2000.

14) Jiefangjunbao, 11.08.2000.

15) www.chinesenewsnet.com (08.06.2001)

16) Damit ist ein von zu Hause aus mit einem Laptop geführter digitaler Krieg gemeint.

17) www.yzzk.com/current/19br1a.htm (13.05.2001); Jiefangjunbao, 02.08.2000.

18) http://tech.sina.com.cn/i/c/65812.shtml (09.05.2001).

19) Xinxin Huaren (Juli 2001), S. 13.

20) Zhongguo Qinnianbao 17.05.2001.

21) Es gibt fünf Stufen als Maßnahmen gegen die Bedrohung des militärischen Informationssystems: Normal, Alpha (setting up security one notch above normal), Bravo (shutting down access to selected sites), Charlie (pulling all government and military systems off line), Delta (calling for a system shutdown). (Siehe www.chinaonline.com 27.April 2001). Die Angaben von der chinesischen Seite sind allerdings nur mit Vorsicht zu genießen. Tatsache ist, dass viel mehr chinesische Webseiten beschädigt waren als amerikanische. Siehe http://tech.sina.com.cn/i/c/66560.shtml (16.05.2001).

22) www.sina.com.cn (09.05.2001).

23) http://tech.sina.com.cn/i/c/66560.shtml (16.05.2001).

24) www.bignews.org/2001206.txt (06.12.2000).

25) http://tech.sina.com.cn/i/c/66560.shtml (16.05.2001).

26) Allein in Beijing wurde am 27 April über 10.000 Computer durch den CIH-Virus lahmgelegt. Während des »Hackerkriegs« vom Mai 2001 wurden mehr als 1.100 chinesische Webseiten bzw. Portals von den US-amerikanischen Gegnern paralysiert. (www.chinaonline.com 13.05.2001; http://tech.sina.com.cn/focus/hkjf.shtml 09.05.2001).

27) Newsweek, 26. April 2001

28) Hierzu www.bignews.org/20001210.txt (10.12.2000); www.yzzk.com/current/25ae1a.htm (22.06.2001); www.bignews.org/20010607 (0806.2001)

Dr. Junhua Zhang ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin mit dem Schwerpunkt: Politik Chinas und Ostasiens.

Die Mauer als Organisationsschema

Die Mauer als Organisationsschema

Die organisatorische Durchdringung der chinesischen Gesellschaft

von Andreas Seifert

Die Große Mauer ist lang – 5000 Kilometer schlängelt sie sich durch die chinesische Landschaft. Und die westliche Welt hat sie nicht erst wahrgenommen, seitdem sogar US-amerikanische Astronauten sie vom Mond aus gesehen haben wollen. Der Mythos vom exotischen China ist schon seit Jahrhunderten mit dem steinernen Wall verbunden. Aber eine Mauer grenzt ab – trennt zwei Bereiche. So galt denn auch lange die Große Mauer als steingewordener Wille eines Volkes, das nichts mit anderen Völkern zu tun haben wollte. Doch trifft das noch für das heutige China zu? Was ist geblieben vom Mythos der Mauer, welchen Einfluss hat sie noch in den Strukturen der chinesischen Gesellschaft?
Wenn man vom Mond zurück ist und vor die Große Mauer tritt, so kann man zwei Erfahrungen machen. Die erste: Es handelt sich um eine internationale Touristenattraktion, die heute weit mehr dazu angetan ist, den Dialog der Völker zu befördern, als diese voneinander zu trennen. Die zweite: In den nicht restaurierten Teilen ist die Mauer ein langer Schutthaufen, der heute nicht einmal eine Schafherde zurückhalten kann und schon aus hundert Metern kaum mehr zu erkennen ist. Als Touristenattraktion und Treffpunkt für Reisende aller Herren Länder dient die Mauer als Kommunikationsfläche und sogar der gelben deutschen Post als Schaufläche eigener Leistungsfähigkeit – bestückt mit den Produkten unseres Müllkonsums, arrangiert in einer 1000-köpfigen Armee aus Blechkumpanen, jede ein Unikat, fast wie die Terrakottaarmee am Grab des ersten Kaisers in Xi’an. Aber als Schutthaufen ist die Mauer auch Symbol: Symbol des zerrütteten Abgrenzungswillens des chinesischen Volkes bzw. seiner Führer; die seit den frühen 80er Jahren betriebene Öffnungspolitik findet in diesem Zerfall ihren handgreiflichen Ausdruck.

Die Große Mauer ist aber nicht die einzige Mauer in China. Der Reisende lernt schnell: China ist das Land der Mauern. Man trifft permanent auf sie, sie versperren den Blick, man fährt zwischen Mauern – selbst Bauzäune sind gemauert anzutreffen. Hier ist die Mauer noch das Instrument der Abgrenzung und Integration gleichermaßen – sie grenzen eine äußere Welt von einer inneren ab, für die sie den Stand der Gemeinsamkeit setzten. Und auch die Philosophie bemüht die Mauer für ihre Kulturkritik. In seiner prägnantesten Form bei dem Autor Sun Longji, der mit dem »Ummauerten Ich« eine adäquate Beschreibung der Tiefenpsychologie der Chinesen gefunden hat. Aber taugt die Mauer eigentlich noch als Metapher für ein »abgeschlossenes Volk«, wenn dessen schiere Kopfzahl schon ins Unvorstellbare abgedriftet ist und wenn dessen Produkte in jedem westlichen Kinderzimmer zuhauf herumliegen?

Man wird sehen, das sie nicht (mehr) taugt – dass sich die neuen wie die alten, die realen und gedachten Mauern im Abbröckeln befinden, zum Sichtschutz verkommen und ihre abschottende wie integrierende Funktion verlieren. Man wird aber vielleicht auch erkennen, dass es wieder neue Mauern geben wird, die nicht mehr unbedingt sichtbar, dennoch vorhanden sind: elektronische und psychologische Mauern.

Grenzziehung innerhalb der Gesellschaft

Über lange Zeit waren die Ordnungseinheiten der chinesischen Gesellschaft ein zentrales Thema gegenwärtiger, modern ausgerichteter Chinaforschung: Die eher städtischen Produktionseinheiten (chin: Danwei) und die ländlichen Kommunen, beide in einem restriktiven System der Aufenthaltserlaubnis (chin: hukou) zementiert. Die Volkskommunen haben ihren Niedergang bereits hinter sich – ohne dass sich dadurch die Mobilität verbessert hätte. Ländliche Migration ist heute in Form von leicht in die Illegalität zu drängenden Wanderarbeitern allgegenwärtig. Bessere Verdienstmöglichkeiten in den Boom-Gegenden an der Ostküste und im Süden locken die ländliche Jugend von den Dörfern in die größeren Städte und von dort aus weiter in die entfernten Metropolen – doch jederzeit auf die Gefahr hin, am Zielort von der Polizei wieder heim geschickt zu werden. Ihr Aufenthalt ist abhängig vom »Bedarf« und von der »Genehmigung«.

In städtischen Zusammenhängen ist dies noch ein wenig anders: Jeder ist, oder besser, jeder war in einer Einheit fest organisiert. Sie ist dabei als konkrete organisatorische Kategorie zu verstehen, das kann eine Universität, eine Fabrik, ein Laden oder was auch immer sein. Die Größe einer Danwei kennt letztlich keine natürlichen Grenzen. In erster Linie leistet die »Einheit« für ihre Mitglieder alles zum Leben Notwendige mit unterschiedlicher Vollständigkeit – d.h. eine kleine Danwei organisiert für ihre Mitglieder alles Notwendige durch Allokation externer Leistungen, eine große Danwei hat dies vielleicht schon integriert: eigene Schulen, eigene Krankenhäuser, eigene Läden, etc. Sie ist ein Staat im Kleinen, sie ermöglicht auch alle notwendigen sozialen Kontakte. Die Vollständigkeit des Angebots, die »eiserne Reisschüssel«, als Garantie der Lebensumstände und Grundversorgung ist so zum Sinnbild der Danwei geworden.

Heute wird dieses System von vielen Seiten in Frage gestellt. Der Staat will und kann wohl auch nicht mehr die Garantien übernehmen, für welche die Danwei steht und unrentable Unternehmen möchten den Ballast loswerden, der sich mit den Verpflichtungen gegenüber den alten Mitgliedern angesammelt hat. Sie aufzulösen ist weniger ein Problem für die jungen Arbeiter, als für die alten Rentner. Sie werden plötzlich in eine konsumorientierte Welt entlassen, die für alle Leistungen die Hand aufhält. Krankenversorgung wird für sie zu einem unerschwinglichen Luxus, kann sie und ihre Familie an den Rande des Ruins treiben. Das dichte soziale Netz der Danwei wird löchrig und zwingt z.B. mehr und mehr Menschen ärztliche Behandlungen abzubrechen, da sie für die Kosten nicht mehr aufkommen können. Neue Unternehmen und alte Staatsbetriebe möchten Arbeitskräfte rekrutieren können, ohne die Verpflichtungen einzugehen, die mit dem Status einer Danwei einhergehen. Staatsunternehmen, die sich für den kommenden Beitritt der Volksrepublik China in die Welthandelsorganisation (WTO) fit machen wollen, drängen auf die Flexibilisierung ihrer eigenen Strukturen.

Ist die Danwei also passé? Allen Unkenrufen zum Trotz sind noch die meisten Chinesen in einer Danwei organisiert und nicht allen geht es wirklich schlecht. Reiche Danweis sind die Motoren des Konsums in China und sie lassen sich nur ungern in die Karten schauen – eine weitere Funktion, die Mauern erfüllen können.

Mauern verhindern Transparenz und viele der Entscheidungen scheinen hinter hohen Mauern im Dickicht von Hierarchien und Vetternwirtschaft zu fallen. Dies trägt letztlich dazu bei, den Vorwurf der Korruption zu nähren und ein System der direkten Abhängigkeiten, Beziehungen und willkürlichen Zuständigkeiten zu unterstellen, das vielleicht gar nicht so existiert. Die bürokratische Durchdringung der einzelnen Einheiten ist jedoch eines ihrer bezeichnenden Merkmale und minimiert die Möglichkeiten der Mitglieder, selbst in Entscheidungsprozesse einzugreifen. Wer Beziehungen (chin: guanxi) hat, kann sich Vorteile erarbeiten, die er im verregelten Alltag nicht hat, und damit seinen eigenen sozialen Status aufbessern – wirklich verändern kann er ihn damit allerdings noch nicht. Die Differenzierung zwischen inner- und außerhalb der Danwei wird hier um die der sozialen Staffelung innerhalb der Danwei selbst erweitert und betriebsübergreifende Solidarität damit zusehends in Frage gestellt.

Machtmauern

Die alleinherrschende Kommunistische Partei Chinas bietet den Hintergrund für die klassische Erklärung der chinesischen Realität. Alles Schlechte wird ihr pauschal in die Schuhe geschoben, ihre Macht als nahezu unumschränkt und ihre Legitimität als konstruiert angesehen. So einfach dieses Muster ist, so problematisch ist es auch. Unbestreitbar ist die Partei der Bezugspunkt einer jeden Entscheidung in China – wichtige Entscheidungsposten in Staat und Wirtschaft sind an die Mitgliedschaft in der Partei gebunden. Und es existiert mit der Partei eine parallele Struktur zur staatlichen Bürokratie, die durch straffe Organisation wahrscheinlich sogar schneller agieren kann, als die staatliche. Jedoch einen monolithischen Block zu unterstellen, der jedes Parteimitglied zu einem Büttel Jiang Zemins macht, trägt kaum zur Erklärung der Realität bei. Man kann wiederum die hohen Mauern bemühen, die den Betrachter daran hindern, Strömungen innerhalb der Partei oder des Staatsapparates zu differenzieren, doch kann man die Existenz dieser Strömungen kaum leugnen. Fraktionen hat es in der Partei seit ihrer Gründung gegeben und diese sind nicht allein auf Vetternwirtschaft zu reduzieren, sondern auch Ausdruck von unterschiedlichen Vorstellungen über die Entwicklung des Landes. Längst ist das Bewusstsein, einem ideologischen Auftrag untergeordnet zu sein, der sich auf die Schriften von Mao, Marx und Engels bezieht und in dessen Mittelpunkt die Interessen der Arbeiterklasse stehen, einem institutionellen Pragmatismus gewichen, der sich weit mehr an der Ausgestaltung von Entscheidungen nach nachvollziehbaren Kriterien orientiert. Dengs Reformen und die sozialistische Marktwirtschaft, die eine Mischung sozialistischer Planung und kapitalistischen Marktmechanismen markieren soll, wirken hier auch zurück auf die Partei selbst, die neue Formen der Entscheidungsfindung fordert.

Lokale Interessen von Provinzen, Kreisen und Städten bekommen vor diesem Hintergrund einen höheren Stellenwert und der Staat tritt mehr und mehr in unterschiedlichen Rollen auf, von denen die des gesamtstaatlichen Dirigenten, der fest mit der höchsten Parteiebene verbunden ist, eben nur eine ist. Aufgabenfelder wie die Ansiedelung von Unternehmen, die lokale Bereitstellung von Infrastruktur oder die Aufrechterhaltung des sozialen Systems und die Steuerung des Arbeitsmarktes fallen zusehends aus der zentralen in eine lokale Verantwortung und unterliegen damit auch anderen Mechanismen der Politikfindung. Öffentlich gemachte Korruptionsfälle zeigen die verschiedenen Facetten auf, die staatliche Aktivität auf dem untersten Level angenommen hat: überforderte Beamte und Parteimitglieder, die mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen nach Gutdünken haushalten. In der unglaubwürdigen Erfüllung der ihnen zugedachten Aufgaben liegt das Legitimationsproblem des gesamten Systems. Machtmissbrauch und Korruption sind auch keine Phänomene der untersten Ebene, sondern gehen quer zu allen Entscheidungsstrukturen und -ebenen und stellen die moralische Integrität der Partei als Ganzem, des Staatsapparates und des Wirtschaftssystems in Frage.

Die mangelnde Trennschärfe zwischen Partei, Staat und Wirtschaft bzw. die organisatorische Verflechtung dieser drei Bereiche erweckt bei uns den Eindruck von einem Willkürregime, das dirigistische Methoden bevorzugt und Repression begünstigt. Es fragt sich allerdings, ob die Auswüchse der Machtausübung, die von chinesischer Seite gerne mit der Masse der zu »beherrschenden« Menschen entschuldigt wird, die ihren Anfang in der Gängelung im Kindergarten nehmen und in der Organentnahme Exekutierter ihren wohl barbarischsten Ausdruck finden, nur das gezielte Produkt der Willkürherrschaft der Partei sind. Es erscheint widersprüchlich, auf der einen Seite einen autoritären Staat zu unterstellen, dessen Agenten bis in den letzten Winkel Kontrolle und Repression ausüben können, und auf der anderen Seite ein durch lokale Interessen motiviertes Netzwerk anzunehmen, das mit Beziehungen (guanxi) diese Struktur untergräbt bzw. die Effektivität gesamtstaatlicher Politikentwürfe beeinträchtigt. Staatliche Repression findet nicht hinter geschlossenen Türen statt, sie kann der chinesischen Öffentlichkeit nicht vorenthalten werden. Auch eine systematische Zensur kann nicht verhindern, dass sich Vorfälle herumsprechen. Indes, was fehlt, ist die Solidarität in der Gesellschaft, denn zu viele leben zu gut mit dem System und es sind wiederum die Mauern um Danweis, Wohnquartiere und soziale Schichtungen, die Solidarität behindern.

Kommunikationsmauern

Der Zugang zu Informationen und die Kommunikation untereinander sind durch die neuen Medien leichter geworden – auch in China. So schnell sich neue Formen der Kommunikation ergeben, z.B. über das Internet, so schnell ist damit zu rechnen, dass Parteimitglieder wie Staatsorgane daran teilhaben wollen. Daran gewöhnt, dass sich der Inhalt der Medien aus dem (von der Partei) angenommenen Konsens speist, sind die vielfältigeren Medienangebote eine erschreckende Vision für die »zuständigen Stellen«. Die technologische Hochrüstung der neuen Medien wie auch das immer unüberschaubarer werdende Angebot von Printprodukten und Fernsehkanälen überfordert die Zensur in gleichem Maße wie die diffusen Wünsche der Konsumenten. Entertainment, Wirtschaftsnachrichten, Klatsch und Tratsch sind immer noch etwas Neues und werden begierig aufgesogen. Die neuen elektronischen Zensur-Mauern haben viel mit der großen chinesischen Mauer gemein, sie sind ähnliche Monumentalprojekte, die zu umgehen kein Ding der Unmöglichkeit ist. Als ein mehr oder minder auf die großen Städte beschränktes Phänomen sollte man hingegen die neuen Medien nicht überbewerten, doch ein Großteil derjenigen, die Zugang zu ihnen haben, besitzt auch genug Knowhow, um mögliche Sperren und Einschränkungen zu umgehen.

Auch kulturell drifteten Stadt und Land auseinander – bäuerlich dominierte Gegenden (ca. 80% Chinas) verharren in ihrer kulturellen Entwicklung auf dem Niveau der 50er Jahre, wohingegen die Großstädte entlang der Küste keine Probleme haben, zu westeuropäischen Metropolen aufzuschließen. Das Angebot von Musik über Film, Theater und Kunst in Beijing und Shanghai kann sich international sehen lassen. Produkte wie die chinesische Kunstavantgarde und Kunst-Filme vornehmlich im Westen bekannter chinesischer Filmemacher finden in China selten ein Massenpublikum, weder in der Stadt noch auf dem Land. Von Städtern bevorzugte Medienformate und ihr Konsum gleichen sich westlichen/japanischen Vorbildern an: schnell produzierte Soap-Opern im Fernsehen, Frauenzeitschriften und Sportnachrichten in sensationslüsterner Aufmachung für die Erwachsenen und katong, die chinesische Variante japanischer Manga (Comics) und Anime (Animationsfilme), für die Jugend. Einem ländlichen Bedarf entsprechen diese Formate kaum und der Preis schließt diese Konsumentenschicht auch weit gehend aus – falls, wie im Falle des Fernsehens, nicht ohnedies technische Hürden zu überwinden sind.

Dermaßen auseinander driftend verfestigen sich die in den 80er und 90er Jahren entstandenen Bilder, die Städter von der Landbevölkerung und umgekehrt die Landbevölkerung von den Städtern haben. Sie speisen sich unter anderem aus den bereits erwähnten Aufenthaltsbeschränkungen und der unterschiedlichen Qualifikation/Ausbildung, sie werden durch enorme Einkommensunterschiede immer weiter verschärft. Der Bauer verschwindet aus dem Bewusstsein der Städter und wird allenfalls noch als verklärte Ikone einen Platz in der Ahnentafel finden, in seinem Verhalten jedoch geht der Städter auf Distanz. Dieser Verdrängungsversuch wird heute noch gestützt durch die rigide Trennung der Bereiche (qua hukou). Doch in dem Maße, wie sich das System der hukou aufzulösen beginnt, werden die Widersprüche zwischen der ländlichen und der städtischen Entwicklung zutage treten und in Konflikte münden. Wie letztlich schon die Wanderarbeiter zeigen: Es sind noch die Mauern der Baustellen, die die Wanderarbeiter von der Urbanität fern halten, die sie selbst mit aufbauen. Heute wird deutlich, dass den divergierenden Bewegungen in dem Riesenreich nicht mit den klassischen Methoden der Abgrenzung beizukommen ist, sondern integrative Strategien gefragt sind, die eine behutsame Angleichung ermöglichen. Das System von Mauern hat ausgedient!

Andreas Seifert ist Doktorand am Seminar für Sinologie und Koreanistik der Universität Tübingen

China im Umbruch

China im Umbruch

von Susanne Feske

China befindet sich im Umbruch – wohl kaum ein Staat sieht sich so vielen Konflikten, Widersprüchen und Herausforderungen gegenüber wie die Volksrepublik. Und dennoch: Bislang lässt sich nicht erkennen, dass China von seinem bisherigen innen- und außenpolitischen Kurs abweicht oder Zeichen der Instabilität aufweist. China befindet sich auf dem Weg, eine globale Hegemonialmacht zu werden, die die Vormachtstellung der USA herausfordern kann. Es liberalisiert seine Wirtschaft, während es gleichzeitig politische Reformen ablehnt und mit unerbittlicher Härte gegen jede Art von Dissidenten vorgeht. Es steht kurz davor, Mitglied in der Welthandelsgesellschaft (WTO) zu werden; es weist höhere Wirtschaftswachstumsraten als Japan und Südkorea auf. Und in China werden so viele Todesurteile vollstreckt, wie in allen anderen Ländern der Welt zusammen. Der US-Außenminister Powell bezeichnete China als »einen Freund« der USA. Trotzdem ist von einem neuen Kalten Krieg zwischen den USA und China die Rede. China ist in vielfältiger Weise in multilaterale Dialoge der ASEAN eingebunden. Dennoch empfinden viele südostasiatische Staaten die Volksrepublik als die größte Bedrohung für Sicherheit und Stabilität in ihrer Region. Kann man das »Rätsel China« erklären?
Mit großer Spannung wird im Land selbst, aber auch auf internationaler Ebene der 2002 stattfindende Parteikongress erwartet, auf dem sich erweisen soll, ob die regierende Kommunistische Partei Chinas sich den neuen nationalen und globalen Herausforderungen stellen kann. Innenpolitisch gilt es vor allem, die eigene Machtbasis zu erhalten und sich als glaubwürdige, handlungsfähige politische Kraft zu präsentieren. Nach außen gilt es, angemessene Antworten auf die Herausforderungen der ökonomischen Globalisierung und der rasanten technologischen Entwicklung zu finden und sich im globalen Kräftespiel zu behaupten.

Staatspräsident Jiang Zemin hat es sich zum Ziel gesetzt, das Schicksal anderer KPs, besonders das der sowjetischen, zu vermeiden. Ein Öffnungsprozess soll in geordneten Bahnen verlaufen und findet seine klaren Grenzen in der Beibehaltung des Ein-Parteien-Systems.

Im Vorfeld des Parteikongresses und auf Druck der Öffentlichkeit hat die Regierung dem angeblich schlimmsten Übel der chinesischen Gesellschaft den Kampf angesagt: der Korruption. Auf allen Ebenen werden Vergehen in diesem Zusammenhang mit schweren Strafen geahndet. Dazu gehört auch die Bekämpfung der Korruption in den eigenen Reihen. Auch ranghohe Parteikader werden zur Verantwortung gezogen und unter großer Aufmerksamkeit der Medien wird in schweren Fällen sogar die Todesstrafe vollstreckt.

Aber Korruption ist nicht das einzige Übel, dem sich Chinas Regierung gegenübersieht. Zu der langen Liste von Problemen gehören politische Opposition, religiöse und ethnische Minderheiten und zunehmend auch soziale Probleme wie Armut und Arbeitslosigkeit. Die politische Führung setzt bei der Bewältigung dieser Probleme in erster Linie auf Gewalt: Unrechtmäßige Verhaftungen und Verurteilungen, Folter und Todesstrafe gehören zur Tagesordnung.

Die politische Opposition deckt ein weites Spektrum ab, das von Forderungen nach Reformen innerhalb der Partei bis hin zu Demokratisierungsbewegungen reicht. Nach der blutigen Niederschlagung der Studentendemonstrationen auf dem Tiananmen-Platz am 4. Juni 1989 konnte sich jedoch nicht wieder eine ähnlich geeinte und geschlossene Protestbewegung bilden. Am 10. Jahrestag des Ereignisses 1999 kam es zu keinen nennenswerten Zwischenfällen. Im Oktober des gleichen Jahres hingegen fanden auf dem Tiananmen-Platz die öffentlichen Feiern zum 50. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik statt, aus deren Anlass auch die erste Militärparade seit 15 Jahren abgehalten wurde. Der Regierung war es gelungen, mehr als 1,5 Millionen Menschen für dieses Ereignis zu mobilisieren. Dennoch gibt es in vielen Teilen der Bevölkerung Unmut über die herrschenden politischen Verhältnisse.

Eine neue Gefahrenquelle sieht die politische Führung in der Tatsache, dass die politische Opposition sich mehr und mehr des Internet bedient, um Informationen zu erhalten oder zu verbreiten. Der Versuch einiger Dissidenten, eine pro-demokratische Website einzurichten, endete mit der Schließung dieser Seite und der Verhaftung und Anklage von Internetnutzern. Im Jahr 2000 erließ die Regierung neue Richtlinien, um die Nutzung des Internet zu kontrollieren. Auch verbietet sie regelmäßig Nachrichtendienste und Diskussionsforen. Freie Meinungsäußerung im Internet wird als »staatsschädigende« Aktivität verfolgt und mit schweren Strafen geahndet.1

Ein weiteres Problem sieht die chinesische Führung in den Aktivitäten von religiösen Minderheiten. Große internationale Aufmerksamkeit erfährt der Umgang der Regierung mit der religiösen Sekte Falun Gong, die innerhalb weniger Jahre eine große Zahl von Anhängern in China, aber auch weltweit, fand.

Am 22. Juli 2000 erklärte sie die Falun Gong-Sekte zu einer illegalen Organisation. Als Reaktion kam es zu schweren Ausschreitungen auf dem Tianamen-Platz, bei denen es zahlreiche Tote und Verletzte gab. Sektenmitglieder werden regelmäßig zu hohen Strafen verurteilt. Trotz internationaler Proteste bleibt die chinesische Führung bei der unnachgiebigen Verfolgung der Sektenmitglieder. Zunehmend wird die Sekte auch zu einem außenpolitischen Problem.

Falun Gong ist sicher das prominenteste Beispiel für religiöse Verfolgung. Weniger spektakulär, aber nicht weniger drakonisch ist der Umgang mit anderen Religionsanhängern, insbesondere protestantische und katholische Christen und Moslems.

Ein dritter Konfliktherd sind ethnische Spannungen. Zu den »Problemregionen« Chinas gehören vor allem Tibet und Xinjang. Die größte internationale Aufmerksamkeit erfährt Tibet, nicht zuletzt wegen seines charismatischen und reiselustigen Dalai Lama. Seit mehr als 20 Jahren kämpft in Tibet erneut eine Unabhängigkeitsbewegung für eine Loslösung von China, das die tibetische Religion und Kultur unterdrückt und zu großen Teilen vernichtet hat. Zu den Mitgliedern der Unabhängigkeitsbewegung zählen auch viele Mönche und Nonnen. Das nimmt die chinesische Führung zum Anlass, ihre Kontrolle über die Klöster weiter auszudehnen und damit gleichzeitig die lamaistische Religionsausübung einzuschränken. Weit weniger Aufmerksamkeit erfahren die Unruhen in der Autonomen Uighurischen Region Xinjiang, die vorwiegend von Moslems bewohnt wird. Die zunehmende wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Benachteiligung dieser Region führte zu Auseinandersetzungen zwischen Uighuren und der Regierung in Beijing.2 Ein vierter und relativ neuer Konfliktherd für China sind soziale Unruhen.

Mit der Liberalisierung der Wirtschaft gehen soziale Probleme einher, für die die Regierung bislang noch keine wirksamen Gegenmaßnahmen ergriffen hat. Aufgrund fehlender Sozialfürsorge beispielsweise muss die wachsende Zahl der Arbeitslosen ein Leben am Rand des Existenzminimums fristen. Arbeiter erhalten oft monatelang keinen Lohn und es fehlen Hilfsmaßnahmen für Bauern, die von schweren Dürrekatastrophen heimgesucht wurden. Die daraus entstehenden Unruhen werden lediglich mit der Anwendung und Anordnung von Gewalt beantwortet.

Angesichts dieser Vielzahl von Problemen und Unruheherden kommt amnesty international in ihrem Jahresbericht 2001 zu dem Urteil, dass sich die Menschenrechtssituation in China nicht verbessert hat. Zwar hat die Volksrepublik eine Reihe von internationalen Abkommen zur Einhaltung von Menschenrechten unterzeichnet und unterhält mit einigen Ländern – so auch mit den USA – einen so genannten Menschenrechtsdialog. Angesichts der politischen Realität im Land drängt sich allerdings der Eindruck auf, dass all diese Maßnahmen nur dazu dienen sollen, Chinas internationales Ansehen zu verbessern. In der Substanz bleibt die Regierung bei ihrem harten Kurs, in dem sie die einzige Möglichkeit sieht, Ruhe und Ordnung und letztlich ihre eigene Machtbasis aufrechtzuerhalten.

Die wirtschaftlichen Erfolge der Volksrepublik können sich indes sehen lassen. Das durchschnittliche jährliche Wachstum des Bruttoinlandsprodukts lag in den Jahren 1990-98 bei 11,2 %. Damit liegt die Volksrepublik weit vor den ostasiatischen Tigerstaaten Südkorea (6,1 %) und Taiwan (6,5 %) und noch deutlicher vor Japan (1,5 %).3 Schätzungen des IMF zufolge liegen die Wachstumsraten für das Jahr 2001 bei 7,3 %, das ist höher als die Rate aller wichtigen Industrieländer weltweit. Der Vergleich des jährlichen Pro-Kopf-Einkommens führt indes zu einem anderen Bild. In der Volksrepublik liegt es bei 750 US-$, in Japan bei 32.350, in Südkorea bei 8.600 und in Taiwan bei 13.325 US-$. Es ist allerdings deutlich höher als das Pro-Kopf-Einkommen vieler »Entwicklungsländer« in Asien. Als Beispiele seien hier Indien (440 US-$), Vietnam (350 US-$) und Kambodscha (250 US-$) genannt. Die Höhe des Pro-Kopf-Einkommens lässt jedoch wenig Rückschlüsse über die Einkommensverteilung zu. Angesichts der wachsenden Armut vieler Teile der Landbevölkerung, der Arbeitslosen und der Beschäftigten in weniger erfolgreichen Branchen oder Regionen ist zu erwarten, dass sich das Wohlstandsgefälle zwischen Arm und Reich weiter vergrößert. Damit werden auch die sozialen Spannungen zunehmen.Die asiatische Finanzkrise von 1997 traf China bei weitem nicht so hart wie andere Länder der Region. Sie blieb jedoch nicht völlig ohne Auswirkungen auf die chinesische Wirtschaft. So gingen die Exportraten in andere asiatische Länder drastisch zurück und der Zufluss ausländischer Investitionen verringerte sich erheblich. Hinzu kamen besonders in den letzten Jahren eine schwache Inlandsnachfrage bei sinkenden Preisen sowie eine Reihe von strukturellen negativen Faktoren wie der defizitäre staatliche Sektor und die technisch gesehen insolventen Staatsbanken.4Chinas Außenbeziehungen bewegen sich in dem Spannungsfeld von Konflikt und Kooperation, zumindest was die Beziehungen zu seinen unmittelbaren Nachbarn in Südostasien anbelangt.5 Während China in einer ganzen Reihe von Institutionen, informellen und formellen Dialogforen mit den zehn südostasiatischen Staaten eingebunden ist, ist die Liste von bilateralen Konfliktpunkten zu vielen der südostasiatischen Staaten lang.

Historisch gesehen war das Verhältnis Chinas zu seinen südostasiatischen Nachbarn schwierig. China betrachtet die Region als traditionell zu ihrer Einflusssphäre gehörend. Die südostasiatischen Länder hingegen reagieren empfindlich auf die Versuche Beijings eine dominierende Rolle in der Region zu spielen. Kompliziert wurden die Beziehungen zusätzlich durch den Umstand, dass in den meisten südostasiatischen Ländern größere chinesische Minderheiten leben, die lange Zeit als »Fünfte Kolonne Beijings« galten und generell Ressentiments hervorriefen. Die Reaktionen darauf (und sicher auch verursacht durch Sozialneid, den die durchweg wohlhabenden Chinesen hervorrufen) weisen das gesamte Spektrum von Diskriminierungen über Verfolgungen bis hin zu Pogromen auf. In der heißen Phase des Kalten Krieges unterstützte die Volksrepublik finanziell und moralisch die in den Ländern operierenden kommunistischen Guerillabewegungen, was zu einer Verschärfung dieses Konflikts führte. Beide Seiten versuchen heute, ihre Beziehungen auf eine kooperative Grundlage zu stellen.

Die Beziehungen zwischen China und der ASEAN haben sich nicht nur stabilisiert, sondern sie bewegen sich in verschiedenen Bereichen in Richtung einer stärkeren Institutionalisierung. Bereits jetzt gibt es neben der Mitgliedschaft Chinas im ARF (ASEAN Regional Forum) eher informelle Foren, in denen die ASEAN-Staaten auf Minister- oder Gipfelebene regelmäßig mit ihren chinesischen Amtskollegen zusammentreffen. Dies sind das ASEAN-Plus-Drei-Treffen (gemeinsam mit Japan und Südkorea), die ASEAN-China-Gipfeltreffen und das ASEAN-China-Treffen über einen »Code of Conduct« im Südchinesischen Meer. Zusätzlich hat China die Errichtung einer Freihandelszone zwischen ASEAN und China vorgeschlagen. Damit will die chinesische Führung die Besorgnis der ASEAN-Staaten zerstreuen, dass die zukünftige Mitgliedschaft Chinas in der WTO negative ökonomische Folgen in der Region mit sich bringen könnte. Ferner wird darüber nachgedacht, die ASEAN-Plus-Drei-Gipfeltreffen stärker zu formalisieren und sie in ein ostasiatisches Gipfeltreffen umzuwandeln. An dieser Serie multilateraler Aktivitäten zeigt sich eine gewandeltes außenpolitisches Profil Chinas, das lange Zeit auf rein bilateralen Kontakten bestanden hatte.

In den bilateralen Beziehungen zeigt sich jedoch deutlicher das Konfliktpotenzial, das zwischen China und einzelnen Staaten der Region besteht. Im Wesentlichen sind es hier drei Bereiche, in denen die Volksrepublik ihre Interessen gegenüber den südostasiatischen Staaten durchzusetzen sucht:

  • die ideologische Differenz zwischen China und Vietnam und die daraus resultierende Konkurrenz um Einflussnahme in Laos und Kambodscha,
  • der Territorialkonflikt im Südchinesischen Meer
  • und das Problem der Falun Gong-Sekte.

Die Beziehungen zu Vietnam haben sich mit der Unterzeichnung einer Vereinbarung über militärischen Austausch und verstärkte Zusammenarbeit in sicherheitspolitischen Fragen weiter entspannt. Grundlage hierfür war die Unterzeichnung eines Abkommens über die Demarkation des maritimen Territoriums im Golf von Tonkin. Eine Einigung über die seit Jahrzehnten umstrittenen Territorialansprüche kann als historischer Meilenstein gewertet werden. Trotz dieser Annäherung wird in der Politik Chinas gegenüber Kambodscha und Laos deutlich, dass China den vietnamesischen Einfluss zurückdrängen will um sich selbst ein stärkeres Mitspracherecht in der Region zu sichern und so seinen historisch begründeten Hegemonialanspruch zu unterstreichen. In der Strategie zur Umsetzung dieser Ziele setzt China vorrangig auf wirtschaftliche Mittel.

Kambodscha zählt zu den Empfängern der höchsten Entwicklungshilfe, die China anderen Staaten gewährt. Und im Gegensatz zu den westlichen Geberländern, die ihre Hilfsleistungen beispielsweise an die Einhaltung bestimmter Menschenrechtsstandards knüpfen, stellt China keine derartigen Bedingungen. Mit diesen großzügigen Hilfsleistungen verbindet China die Erwartung, die enge Bindung der Hun-Sen-Regierung an Vietnam zu lockern.6

Wirtschaftliche Mittel setzt China auch in Laos ein, in dessen regierender kommunistischer Partei (Lao People’s Revolutionary Party, LPRP) offensichtlich ein Flügelkampf zwischen den pro-chinesischen und den pro-vietnamesischen Fraktionen ausgetragen wird. 1999 beispielsweise, als in Laos eine Wirtschaftskrise drohte, gewährte China zinsfreie Darlehen und andere Hilfsleistungen, um die laotische Wirtschaft zu stabilisieren.

Auf politischer Seite betont China immer wieder seine Unterstützung für die laotische Regierung in ihrem Kampf gegen Regimegegner, zu denen hauptsächlich Angehörige der Hmong-Minderheit gehören. Zu diesem Zweck fördert es die Modernisierung der laotischen Armee besonders für Aufgaben der Aufstandsbekämpfung. An angekündigten Veränderungen in der politischen Führung lässt sich eine Dominanz des pro-chinesischen Flügels erkennen7, so dass die chinesischen Bemühungen hier bereits die ersten Erfolge zeitigen.

Im politischen Bereich hat es China in Kambodscha wesentlich schwerer. Zwar gibt es starke, bis weit in die Geschichte zurückreichende Animositäten gegenüber Vietnam, aber besonders in den letzten Jahren wird China von Teilen der Bevölkerung wegen Beijings jahrelanger Unterstützung für das Terrorregime der Khmer Rouge angeklagt. Die Forderungen an China reichen von einer öffentlichen Entschuldigung bis hin zu Entschädigungen für die Opfer. Die chinesische Regierung nimmt diese Forderungen nicht zur Kenntnis und übt statt dessen Druck auf die Regierung in Phnom Penh aus, ein internationales Straftribunal zur Untersuchung der Khmer-Rouge-Verbrechen zu verhindern. China befürchtet, auf einem solchen von den Vereinten Nationen geforderten Tribunal für seine Unterstützung der Khmer Rouge zur Rechenschaft gezogen zu werden. Anders als in Laos, wo China an ideologische Gemeinsamkeiten mit der dort regierenden kommunistischen Partei anknüpfen kann, handelt es sich bei Kambodscha um einen Staat auf dem Wege der Demokratisierung. Chinas Bemühungen um Einflussnahme sind deshalb politische Grenzen gesetzt.

Auf die im Südchinesischen Meer gelegenen Spratly-Inseln (wobei es sich vielfach nur um Riffe handelt) erhebt China territoriale Ansprüche. Teile der Inselkette werden jedoch auch von Vietnam, Taiwan, den Philippinen, Malaysia und Brunei beansprucht. Die Inseln liegen in einem strategisch wichtigen Gebiet und verfügen außerdem über einen großen Fischreichtum. Vermutet werden ferner Erdöl- und Erdgasvorkommen. Völkerrechtlich eindeutig lassen sich die sich überlappenden Gebietsansprüche nicht klären. Die Volksrepublik hatte lange Zeit darauf bestanden, nur auf bilateraler Ebene über die Inseln zu verhandeln. Seit einigen Jahren finden jedoch multilaterale Verhandlungen im Rahmen des ARF, des »Code of Conduct«-Forums und der von Indonesien initiierten Workshops statt.

Ein entscheidender Durchbruch ist trotz der Entwicklung unterschiedlicher Konfliktlösungsmodelle bislang nicht erzielt worden. Immer wieder belasten Zwischenfälle die Beziehungen zwischen China und den anderen Anspruch erhebenden Staaten (mit Ausnahme Bruneis). In den letzten Jahren betraf dies insbesondere die Beziehungen zu den Philippinen. Zu den Zwischenfällen gehörten illegaler Fischfang, in letzter Zeit auch zunehmend Drogenschmuggel durch chinesische Banden, in den nach Einschätzung philippinischer Politiker auch Angehörige der chinesischen Volksbefreiungsarmee verwickelt sind. Regelmäßig werden darüber diplomatische Protestnoten ausgetauscht. Die neue philippinische Präsidentin Arroyo bemüht sich gegenwärtig, den Konflikt zu entschärfen und die Beziehungen zu China grundlegend zu verbessern.

Die Falun-Gong-Sekte, die China zu einem »bösen Kult« erklärt hat, ist für die Volksrepublik nicht nur ein innenpolitisches Problem. Die Sekte hat in den chinesischen Minderheiten anderer Länder weltweit tausende von Anhängern, die regelmäßig gegen die Verhaftung von Glaubensbrüdern durch die chinesischen Behörden protestieren. China wiederum übt erheblichen Druck auf die jeweiligen Länder aus, Falun Gong ebenfalls zu verbieten, was diese Staaten als Einmischung in die inneren Angelegenheiten und als Verstoß gegen das Recht der Religionsfreiheit auf das Schärfste zurückweisen. In Südostasien wird diese Auseinandersetzung besonders mit Thailand ausgetragen. Der thailändische Premierminister Thaksin hat erklärt, dass dieser Konflikt nicht nachhaltig die chinesisch-thailändischen Beziehungen belasten sollte. Gegenwärtig scheint sich aber eher eine Eskalation anzubahnen, denn die chinesische Regierung drohte mit Einfuhrbeschränkungen für thailändische Agrarprodukte als Vergeltung für die unnachgiebige thailändische Haltung.

Die Beziehungen zwischen China und Südostasien ergeben ein ambivalentes Bild. China ist darum bemüht, seinen Einfluss in der Region zu vergrößern. Begünstigt wird dieses Ziel durch die Asien-Politik der neuen US-amerikanischen Regierung unter George W. Bush. Aus Sicht der meisten südostasiatischen Staaten hat die Regierung weder ein kohärentes Konzept noch ein artikuliertes Interesse, sich stärker in dieser Region zu engagieren. Dennoch können Jahrzehnte und teilweise Jahrhunderte alte Animositäten und ideologische Differenzen nicht einfach überwunden werden. Hinzu kommt, dass viele südostasiatische Staaten in der Modernisierung der chinesischen Streitkräfte und in der konfrontativen Politik Beijings im Spratly-Konflikt Anzeichen dafür sehen, dass China eine Bedrohung für die Sicherheit und Stabilität in der Region darstellen könnte. Vertrauensbildende Maßnahmen, wie sie etwa im Rahmen des ARF vereinbart werden, können diese Wahrnehmung allenfalls schrittweise abbauen.

An den innen- und außenpolitischen Problemen Chinas wird sichtbar, dass wirtschaftliche Erfolge allein nicht ausreichen um das Land zu stabilisieren und ihm einen gleichberechtigten Platz neben anderen Großmächten in der internationalen Gemeinschaft zu sichern.

Anmerkungen

1) amnesty international, Jahresbericht 2001.

2) Far Eastern Economic Review, 13.4.00, S. 24f. »Hear Our Prayer«.

3) Zahlen aus Asia Yearbook 2001 des Far Eastern Economic Review.

4) Vgl. Margot Schüller: VR China, in: Wirtschaftshandbuch Asien-Pazifik 1999/2000, S. 121-151 (128).

5) An dieser Stelle soll nur auf diesen Eckpunkt der chinesischen Außenbeziehungen eingegangen werden, da die anderen wichtigen Beziehungen in Einzelbeiträgen dieses Heftes ausführlich behandelt werden.

6) Premierminister Hun Sen, ein früheres Mitglied der Khmer Rouge, war in den siebziger Jahren nach Vietnam geflohen und im Zuge der vietnamesischen Okkupation Kambodschas 1979 von Hanoi als Premierminister in Phnom Penh eingesetzt worden.

7) Charlyle A. Thayer: Regional Rivalries and Bilateral Irritants, in: Comparative Connections, 3rd Quarter 2000 (www.csis.org/pacfor/cc/0101Qchina_asean.html).

Dr. Susanne Feske ist Professorin für Politwissenschaften an der Universität Münster mit dem Schwerpunkt Politik Südostasiens