China auf der Überholspur?


China auf der Überholspur?

Wie die Innovationsoffensive die Welt verändern könnte

von Claudia Wessling

China will bis 2049 – dem 100. Geburtstag der Volksrepublik – die weltweit führende Wissenschaftsnation sein. In Digitalisierung, Anwendungen der Künstlichen Intelligenz oder auch Biotechnologie hat das Land bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Die bisherigen technologischen und wissenschaftlichen Spitzenreiter in den USA und Europa müssen sich auf diese neue Konkurrenz einstellen. Beijings rigides Vorgehen gegen die der Regierung zu groß gewordenen Tech-Konzerne im eigenen Land stellt die chinesische Innovation im Inneren vor Herausforderungen.

Xi Jinping ist ein Mann der starken Worte: China solle das weltweit wichtigste Zentrum der Wissenschaft und die Hochburg der Innovation“ werden, sagte er im Frühjahr 2021 in einer Rede.1 Während andere Staaten mit der Bewältigung der Corona-Pandemie beschäftigt waren, konnte Chinas Staats- und Parteichef schon wieder weitreichende Zukunftspläne schmieden. Einheimische Innovation sowie die Unabhängigkeit von ausländischer Hochtechnologie und ausländischem Know-How in Industrie und Forschung zu erreichen, lautet das nunmehr von Chinas Führung ausgegebene, langfristige Ziel.

Der Aufstieg zur Technologie-Supermacht ist für Beijing zentral (vgl. Drinhausen et al. 2021, S. 45). Vier Jahrzehnte nach dem Beginn der Reform- und Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping, nach Jahren zweistelligen Wirtschaftswachstums und einem beispiellosen Wirtschaftswunder will China weg von seinem Status als Werkbank der Welt und Forschungs-Entwicklungsland. Erfolge wie die geglückte Entsendung eines Erkundungsfahrzeugs auf den Mars im Mai 2021 oder Jubelmeldungen über Rekord-Berechnungen des Quantensupercomputers »Zuchongzi« zeugen von diesem Anspruch und dem Druck, der diesen begleitet.

Notwendige Innovation für die Wohlstandsziele

Wissenschaftlicher Fortschritt und Innovationserfolge (etwa in der Digitalwirtschaft) sind für Xis Kommunistische Partei (KPCh) auch Legitimation der eigenen Herrschaft. Die KPCh verspricht der Bevölkerung, bis 2035 das Wachstum der Wirtschaft zu verdoppeln und einen »gemeinsamen Wohlstand« zu verwirklichen. Mit Billigproduktion allein ist dies nicht zu realisieren angesichts steigender Einkommen, einer alternden Bevölkerung und drängender Umweltprobleme. China braucht, so sieht es die KPCh, qualitativ hochwertige Wertschöpfung.

Umfassend angelegte Strategien wie »Made in China 2025« von 2015 zielen auf grundlegende Modernisierung der chinesischen Industrie, fokussiert auf zehn Schlüsselbereiche (vgl. Abbildung S. 35). Dazu gehören Biomedizin und -technologie, IT der nächsten Generation, Robotik, Erneuerbare Energien und Schienentransporttechnik. Durch die Einrichtung von »Pilotzonen« im ganzen Land, hohe finanzielle Zuschüsse vor allem für Staatsunternehmen und günstige regulatorische Bedingungen schafft der Staat die Voraussetzungen. Solche Wirtschaftslenkung von oben nach unten ist auch in China nicht immer unmittelbar erfolgreich. Doch Zentralregierung und Provinzen haben durch flexible Nachjustierung der Fehlallokation von Ressourcen mitunter durchaus wirksam entgegengesteuert.

Zu Beijings Strategien gehört auch, die heimische Industrie vor ausländischer Konkurrenz zu schützen. Ein Beispiel ist die chinesische Automobilindustrie, insbesondere bei E-Autos und den dazugehörigen Batterien. Chinesischen Unternehmen wurde durch Marktbeschränkungen ermöglicht, in einem geschützten Umfeld heranzureifen und über Joint Ventures mit ausländischen Herstellern Technologien zu erwerben.

Wissenschaftszusammenarbeit und Talentgewinnung

Industrie- und Wissenschaftspolitik ­sollen zur Umsetzung von Chinas Innovationsambition Hand in Hand gehen. Nach den Angaben im aktuellen 14. Fünfjahresplan hat Beijing 2020 2,5 % des Bruttoinlandprodukts für Forschung und Entwicklung (F&E) aufgewendet. Das ist prozentual weniger als die meisten Industriestaaten, doch dieser Anteil soll weiter steigen. Dass F&E-Investitionen in China vor allem vom Staat und Staatsunternehmen getätigt werden, verdeutlicht ebenfalls, wie eng Forschung und nationale Entwicklungspläne verknüpft sind (vgl. Abbildung 2, S. 35).

Ausländische Forschende und Forschungsinstitutionen spielen für Chinas Ambitionen ebenfalls eine zentrale Rolle, da dem Land in vielen Bereichen das Know-How noch fehlt. Erfolgsmeldungen stützen sich häufig auf Kooperationen mit renommierten Forschenden im Ausland oder gehen auf im Ausland ausgebildete chinesische Wissenschaftler*innen zurück.

Massive finanzielle Förderung steckte China daher auch in das sogenannte »1.000-Talente«-Programm und andere Förderformate, durch die begabte chinesische, aber auch ausländische Forschende in die Volksrepublik gelockt werden sollten. Zwischen 2008 und 2016 kamen nach Schätzungen eines US-Senatskomitees etwa 60.000 ins Land (zurück). Die Ausgewählten erhalten hohe Gehälter, Boni und Visumsprivilegien.

China hat sich auch oder gerade wegen der hohen Innovationsdynamik in naturwissenschaftlich-technischen Forschungsbereichen (wie Biotechnologie oder ITC), ungeachtet aller politisch-systemischen Differenzen und Kritik an Forschungsdatensicherheit sowie Herausforderungen in der Zusammenarbeit, zu einem interessanten Forschungsstandort entwickelt.

Digitale Innovationen auch für Kontrolle und Überwachung

Es sind vor allem »Privatunternehmen«, die zum Beispiel in der Digitalisierung China an die Weltspitze haben vorrücken lassen: Huawei etwa ist bei der Entwicklung des aktuellen Telekommunikationsstandards 5G weltweit führend. Der frühere Internethändler Alibaba hat sich binnen 20 Jahren zu einem Digitalriesen mit einem Jahresumsatz von 72 Mrd. US$ gemausert. Das von der Gruppe betriebene Online-Bezahlsystem Alipay hat mehr als eine halbe Milliarde Nutzer*innen und ist aus Chinas Geschäftsleben nicht mehr wegzudenken.

Auf Alibaba geht auch das Bonitätsbewertungssystem »Sesame Credit« zurück, das der chinesischen Regierung als eine Art Blaupause für das im Aufbau befindliche »Social Credit System« dient. Ein digitales Werkzeug, mit dem Beijing seine Bürger*innen und Unternehmen nach eigenem Bekunden zu wirtschaftlichem, aber auch gesellschaftlichem Wohlverhalten lenken will.

Das System ist nach Beobachtung von China-Expert*innen noch lange nicht so umfassend verfügbar wie von Beijing gewünscht. Eher gibt es viele voneinander getrennte, von Städten oder Provinzen oder auch Unternehmen betriebene Systeme. Doch auch wenn diese noch nicht ineinandergreifen: Der Vergleich mit einem Orwellschen Überwachungsstaat liegt kritischen Beobachter*innen auf der Zunge. Auch andere Digitalprodukte chinesischer Firmen, etwa Gesichtserkennungs- oder Tracking­software, werden vom Staat für Überwachung eingesetzt; die viel diskutierte staatliche Überwachung in der Provinz Xinjiang scheint davon zu profitieren.

Das zeigt: Auch in China ist das Vorantreiben der Entwicklung digitaler Technologien verbunden mit den daraus erwachsenden Möglichkeiten der Kontrolle. Mit Blick auf China haben Expert*innen den Begriff des „digitalen Autoritarismus“ geprägt (Yaybroke 2020). Mehr als 980 Mio. Internetnutzer*innen gibt es heute in China, das sind etwa 70 Prozent der Bevölkerung. Die Informationsströme in diesem Raum zu kontrollieren, liegt klar erkennbar im Interesse der chinesischen Führung. China, so formulieren es offizielle Vertreter*innen immer wieder, brauche ein „gesundes Internet“, das „positive Energie“ verbreitet (vgl. Zhang 2021).

Staatliche Regulierung als Wohlfahrts- oder Machtpolitik?

Von ausländischen Einflüssen ist Chinas Internet schon seit den frühen 2000er Jahren durch eine »Great Firewall« abgeschottet: Westliche Plattformen wie Facebook, What’s App oder Twitter sind nicht zugelassen. Chinesische Netizens nutzen Wechat, Weibo und andere einheimische Tools. Diese werden streng zensiert. Es ist nicht zuletzt diese konsequente Abschottung von ausländischer Konkurrenz – gepaart mit einer langjährig schwachen Regulierungspolitik – die Chinas Digitalwirtschaft ermöglichte, ihre eigenen Ökosysteme aufzubauen.

Ob die Innovation in diesem Bereich in China allerdings weiter so voranschreiten wird wie im vergangenen Jahrzehnt, ist derzeit fraglich: Nachdem Beijing die Digitalkonzerne wie Alibaba, Tencent oder Baidu lange ohne strenge Regulierung gewähren und wachsen ließ, hat die Regierung von Xi nun eine Kampagne gegen deren „irrationale Kapitalexpansion“ und „barbarisches Wachstum“ gestartet (vgl. Shen 2021). Xi will soziale Spannungen angesichts der Kluft zwischen immer noch weit verbreiteter Armut und dem enormen Reichtum von Self­made-Milliardär *innen wie Alibaba-Gründer Jack Ma auflösen. Gleichzeitig ist auch zu vermuten, dass dem Staats- und Parteichef manche Wirtschaftsgrößen einfach zu mächtig werden und es sich bei der Regulierung mehr um Machtpolitik handelt.

In der Bevölkerung kommt Xis Ver­sprechen eines gemeinschaftlichen, gleichmäßiger verteilten Wohlstands laut offiziellen Medien gut an. Ob allerdings stärker unter der Kontrolle der Partei stehende Digitalunternehmen noch so innovative Ideen hervorbringen werden, dass sie zu diesem Wohlstand beitragen können, ist eine große Unbekannte in Chinas wirtschaftlicher Innovations­formel.

Globale Konkurrenz unter Zugzwang

Obwohl die Stärke der chinesischen Digitalwirtschaft bislang in der schnellen Umsetzung von der Idee zur Anwendung lag, holt Chinas Digitalwirtschaft auch im Highend-Segment auf: So hat erst in diesem Jahr das Staatsunternehmen BOE den Zuschlag bekommen, faltbare Displays für das neueste iPhone von Apple zu produzieren – und macht damit den koreanischen Platzhirschen von LG und Samsung Konkurrenz (Li et al 2021). Nicht nur deswegen steigt Chinas Interesse an der Sicherung globaler Wertstoffe und Seltener Erden – der globale Wettlauf hat begonnen (vgl. Raimondi 2021).

Ähnlich ergeht es der globalen Autoindustrie: Chinas Unternehmen setzen, unterstützt von der Regierung, in diesem Segment auf neue emissionsarme und energiesparende Technologien (vgl. u.a. Dittmer 2021). Dazu gehört die Batterie- und Ladetechnik, bei der China künftig auch auf dem europäischen Markt mitwirken und Standards setzen will. Noch stecken diese Ambitionen in den Kinderschuhen, doch können sich chinesische Hersteller auf einen riesigen einheimischen Markt stützen. 20 Mio. PKW wurden allein 2020 verkauft.

Es ist nicht zu leugnen: Die hiesige Autoindustrie, die zu lange allein auf Verbrennungsmotoren setzte, muss auch wegen der Dynamik in China ihre veralteten Konzepte überdenken. Positiv gewendet entsteht durch den Druck aus China eine Chance. Allerdings stellt sich neben der Zukunft des Individualverkehrs auch schlicht die Frage, ob es den traditionellen Autobauern noch rechtzeitig gelingen kann, hier wieder aufzuschließen, oder ob chinesische Hersteller schon in nicht allzu ferner Zukunft im Bereich E-Mobilität auch die europäischen Märkte maßgeblich mitbestimmen.

Innovative Technologien für globalen Einfluss

Chinas zielgerichtete Strategie, Schlüsseltechnologien selbst zu entwickeln und global zu vermarkten, hat mitunter erhebliche sicherheitspolitische Implikationen. So wurde in Institutionen für Cybersicherheit weltweit mit Sorge betrachtet, dass Huawei und andere chinesische Hersteller sich in der Telekommunikation mit ihren Hardwareprodukten und ihren Beiträgen zu Standards wie 5G tief in globalen sensiblen Infrastrukturen verankern. Dies führte, neben anderen Befürchtungen um eine zu starke wirtschaftliche Abhängigkeit von chinesischen Produkten, zur Eskalation des Technologie- und Handelskonflikts mit den USA.

Es wird bis auf weiteres schwierig bleiben, eine Manipulation von chinesischer Technologie mit dem Ziel der Zensur oder Spionage eindeutig nachzuweisen. Zu denken geben muss in diesem Kontext allerdings das 2017 verabschiedete Nationale Geheimdienstgesetz. Mit diesem machte Beijing, nach Ansicht von Expert*innen, jede Bürger*in und jedes Unternehmen für die Staatssicherheit mit verantwortlich und verpflichtet diese, relevante Daten – auch aus dem Ausland – an die chinesische Regierung zu übergeben (vgl. Hoffman und Kania 2018).

Doch auch für den direkten Einsatz in der IT-Spionage hat China offenkundig in den vergangenen Jahren erhebliche und gefährliche Expertise aufgebaut: Die weltweite und bis heute nachwirkende Attacke auf Microsoft Exchange Server von zehntausenden Organisationen Anfang diesen Jahres geht nach Angaben aus Sicherheitskreisen der USA, der EU und Großbritanniens auf eine vermutlich mit der chinesischen Regierung verknüpfte Hackergruppe zurück.

Auch die in den letzten Jahren viel mit Blick auf westliche Industriestaaten diskutierte Einflussnahme auf Wahlen hat ihren traurigen Platz gefunden: Taiwan, das die Volksrepublik China als abtrünnige Provinz betrachtet, muss sich seit Jahren gegen chinesische Desinformationskampagnen zur Wehr setzen, die immer wieder bei anstehenden Wahlen durch die sozialen Medien der Inselrepublik rollen (vgl. Krumbein 2002, S. 5f.).

Was bleibt? Konkurrenz und Konfliktpotential

Der Ausbau und die sich neu entwickelnde Selbstständigkeit Chinas bei der (digitalen) Innovation in Schlüsseltechnologien hat spürbare Effekte auf die restliche Welt: neuer Konkurrenzdruck auf den Märkten, das Ringen um Köpfe in Wissenschaft und Forschung, Einflussnahme in verschiedener Hinsicht. Dies bestärkt die nicht nur ideologisch, sondern auch von wirtschaftlichen Motiven getriebene Konkurrenz zwischen dem Westen und China.

Dies offenbart sich derzeit auch militärisch im Indopazifik: Um Chinas geostrategischen Ambitionen ein Gegengewicht zu bieten, haben die USA, Großbritannien und Australien gerade das Sicherheitsbündnis AUKUS geschlossen. Das vermag zwar der Innovationsinitiative nicht viel entgegenzusetzen, kann aber als unverhohlenes Zeichen verstanden werden, dass China klar als »systemischer Konkurrent« und »Bedrohung« wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite rüstet das chinesische Militär (und gerade seine Marine) langsam zwar, aber stetig auf. Die Spannungen wachsen sichtbar.

Anmerkung

1) Vgl. Xi Jinping: Danach streben, ein weltweites Zentrum der Wissenschaft und eine Hochburg der Innovation zu werden (习近平:努力成为世界主要科学中心和创新高地, 来源). Erschienen in »Qiushi« (qstheory.cn), 15. März 2021.

Literatur

Drinhausen, K.; Huotari, M.; Lee, J.; Legarda, H. (2021): The CCP‘s next century. Expanding economic control, digital governance and national security. MERICS Studie 10/2021 (Juni 2021).

Kang, J. (2020): The Thousand Talents Plan is part of China’s long quest to become the global scientific leader. The Conversation, 01.09.2020.

Li, L. et al. (2021): “Apple taps China’s BOE for premium displays for iPhone 13”. Nikkei Asia, 13.10.2021

Raimondi, P. P. (2021): The Scramble for Africa’s Rare Earths: China is not Alone. Italian Institute for International Studies, Juni 2021.

Shen, X. (2021): Xi Jinping says Big Tech crackdown is making progress, calls for Communist Party to ‚guide‘ companies. South China Morning Post, 31.08.2021.

Dittmer, D. (2021): Setzt China den neuen Standard in der E-Mobilität? n-tv, 08.10.2021.

Hoffman, S.; Kania, E. (2018): Huawei and the ambiguity of China’s intelligence and counter-espionage laws. ASPI, 13.09.2018.

Zhang, W. (2021): For Party Centenary, China Wants More ‘Positive Energy’ Online. Sixth Tone, 01.02.2021.

Yaybroke, E. (2020): Promote and Build: A Strategic Approach to Digital Authoritarianism. CSIS Briefs, 15.10.2020.

Krumbein, F. (2020): Taiwan’s Threatened Democracy Stays on Course. SWP-Comment, 07.02.2020.

Claudia Wessling leitet Kommunikation und Publikationen am Mercator Institute for China Studies (MERICS). Die Wissenschaftsjournalistin und Übersetzerin beschäftigt sich thematisch u.a. mit der Digitalisierung in China und der »Neuen Seidenstraße«.

Chinas Zivilgesellschaft


Chinas Zivilgesellschaft

Engagement zwischen Entwicklung, Frieden und Konflikt

von Joanna Klabisch und Christian Straube

Die gegenseitige Durchdringung von Partei, Staat und Gesellschaft hat in der Volksrepublik China zu einem Doppelcharakter zivilgesellschaftlichen Engagements geführt. Diese Entwicklung innerhalb Chinas hat Konsequenzen für das Auftreten und die Rolle chinesischer Organisationen in der ganzen Welt, allen voran im Kontext chinesischer Kampagnen wie der »Belt and Road Initiative«. Welche Rolle spielt die Zivilgesellschaft Chinas zwischen Entwicklung, Frieden und Konflikt im Inneren sowie auf internationaler Ebene?

Zivilgesellschaft eröffnet Dialog. Sie vermag Konfliktparteien an einen Tisch zu bringen und bietet Lösungen aus der Gesellschaft heraus an. Dadurch kann sie zu Frieden beitragen. Internationale zivilgesellschaftliche Kooperationen machen es möglich sich z.B. für Menschenrechte, Frauenrechte, Umwelt- und Sozialgerechtigkeit global, solidarisch und im Dialog einzusetzen. Diese Möglichkeit wirkt sich auf das politische Umfeld einzelner zivilgesellschaftlicher Akteur*innen aus und kann lokale Konflikte durch globale Herangehensweisen in eine positive Richtung lenken. Gilt dieser »people-to-people« Ansatz mit Blick auf die globalen Herausforderungen unserer Zeit auch für die Zivilgesellschaft in der Volksrepublik China?

In China hat sich die Zivilgesellschaft in ihrer Interaktion mit der Kommunistischen Partei und dem Staat anders als z.B. in den Ländern Westeuropas entwickelt.1 Zivilgesellschaftliche Organisationen arbeiten oft neben oder im Auftrag des Staates. Unter Generalsekretär Xi Jinping sollen sie zudem die Verwurzelung der Partei in der Bevölkerung sicherstellen. Kommt es etwa zu Konflikten mit chinesischen staatlichen Akteur*innen in anderen Ländern, schränkt diese Ausgangslage das konfliktlösende Potential der chinesischen Zivilgesellschaft auf der einen Seite ein. Auf der anderen Seite kann die Nähe zu staatlichen Akteur*innen die Position der chinesischen Zivilgesellschaft in internationalen Kontexten, wie z.B. gegenwärtig in der »Belt and Road Initiative« (BRI), auch stärken.

Von Graswurzelbewegungen, sozialen Unternehmen, GONGOs und PONGOs

Ob in China unabhängige Nichtregierungsorganisationen (NGOs) existieren, wird von der internationalen Öffentlichkeit und Forschung immer wieder in Frage gestellt. So entfernt sich das sozio-politische Verständnis des zivilgesellschaftlichen Sektors z.B. in Deutschland immer weiter von der unter Xi Jinping forcierten parteigebundenen Wirklichkeit der chinesischen Zivilgesellschaft. Lawrence Deane von der Universität Manitoba hält jedoch fest, dass „chinesische Bürger*innen weiterhin daran arbeiten, auf öffentliche Angelegenheiten Einfluss zu nehmen,2 wie auch Beispiele im nächsten Abschnitt zeigen.

Die meisten der über 900.000 regis­trierten zivilgesellschaftlichen Organisationen in China sind vergleichsweise jung. Sie sind etwa in Reaktion auf Umweltzerstörung und sozialen Wandel, aber auch im Zuge von Chinas Öffnung für internationale Dialogforen entstanden. Bei einigen hat der Staat eine aktivierende Rolle eingenommen. So wurden z.B. GONGOs, engl. »government organised non-governmental organisations«, aus Ministerialabteilungen initiiert oder werden von Ministerialbeamt*innen geleitet. Mit PONGOs, engl. »party organised non-governmental organisations«, hat zudem direkt die Partei diese aktivierende Rolle eingenommen. Darüber hinaus müssen laut neuen, derzeit im Entwurf vorliegenden Regularien für »soziale Organisationen«, chin. »shèhuì zuzhì« 社会组织, Organisationen aktiv Parteiarbeit leisten und Parteigruppen aufstellen.

Zivilgesellschaftliches Engagement in China hat sich trotz der starken staatlichen Einbettung nicht isoliert von der globalen Zivilgesellschaft entwickelt. Internationale Organisationen wie die Ford Foundation, Mercy Corps und der World Wildlife Fund wirkten bei der Entstehung chinesischer zivilgesellschaftlicher Strukturen mit. Sie waren in allen Themenbereichen vertreten und wurden bis 2017, als das »Gesetz zum Management ausländischer Nichtregierungsorganisationen« in China in Kraft trat und sie unter die Aufsicht des Ministeriums für öffentliche Sicherheit stellte, nur lose vom chinesischen Staat kontrolliert.3

Alle Formen zivilgesellschaftlicher Organisation in China eint, dass eine antagonistische Haltung zu staatlichen Akteur*innen und Plänen, wie auch der Partei, generell nicht geduldet wird. Es ist die Partei, die gesellschaftliche und politische Normen festschreibt. Dazu gehört auch, mit wem wie kooperiert werden darf. Die Interaktion und gegenseitige Durchdringung von Partei, Staat und Gesellschaft in China führt daher zu einem komplexen Doppelcharakter der Zivilgesellschaft, der zivilgesellschaftliches »bottom-up«-Engagement und »top-down«-Regulierung durch Partei und Staat ineinanderfließen lässt.

Zivilgesellschaftliches Engagement als Balanceakt

Die Arbeitsschwerpunkte und Methoden der Zivilgesellschaft in China stehen in einer direkten Beziehung zur sozioökonomischen Entwicklung der Gesellschaft und zu Dynamiken im politischen System der Volksrepublik. Die Umwelt- und Sozialfolgen des rasanten Wirtschaftswachstums brachten besonders seit den 1980er Jahren eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen hervor, die z.B. zur Umweltverschmutzung im Land, Arbeiter*innenrechten und Frauenrechtsthemen arbeiteten. Dieses zivilgesellschaftliche Engagement lief teils entlang, teils auch entgegen staatlicher Prioritäten.

Umweltorganisationen haben sich dem Umwelt- und Ressourcenschutz sowohl in städtischen als auch in ländlichen Lebensräumen verschrieben. Bildung, Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit über die sozialen Medien spielen eine zentrale Rolle in ihrer Arbeit. Als professionelle Ansprechpartner*innen in Umweltfragen für staatliche Behörden versuchen Organisationen vertrauensvolle Beziehungen zu Entscheidungsträger*innen aufzubauen und auf die Formulierung von Regularien Einfluss zu nehmen, betont etwa Zhao Zhong, Begründer von Green Camel Bell in Gansu.4

Zivilgesellschaftliche Akteur*innen verfolgen in ausgewählten Situationen auch einen aktivistischen »Advocacy«-Ansatz, wenn sie z.B. Umweltklagen im öffentlichen Interesse, chin. »huánjìng gongyì sùsòng« 环境公益诉讼, vor Gericht bringen. So berichtete der Korrespondent Georg Fahrion für den SPIEGEL im September 2021 über eine erfolgreiche Klage von Friends of Nature aus Beijing gegen ein Staudammprojekt in Yunnan.5 Die Auflagen und Risiken solcher Prozesse sind jedoch enorm. Zudem bedarf es vieler Ressourcen, z.B. Budgets für Anwält*innen, um einen Prozess erfolgreich durchzustehen. Nur wenige zivilgesellschaftliche Organisationen in China sind dazu in der Lage.

Frauenrechtsthemen wurden insbesondere seit der UN-Weltfrauenkonferenz 1995 in Beijing von der Zivilgesellschaft aufgegriffen. 2015 allerdings gerieten diese auf die Liste staatlich zensierter Themen in den Medien. Die ihnen von der Partei zugeschriebene politische Sensibilität nahm mit der globalen »#metoo«-Bewegung noch zu. »The Feminist Five«, fünf feministische Aktivist*innen, demonstrierten auf den Straßen Beijings in rotbefleckten Hochzeitskleidern gegen häusliche Gewalt und den mangelnden Schutz der Opfer. Die Inhaftierung der Aktivistinnen zog internationale Aufmerksamkeit auf den Umgang der chinesischen Regierung mit der zivilgesellschaftlichen Sphäre. Es wurde sichtbar, wie viele NGOs sich dieser Thematik der Frauenrechte widmen, aber auch wie viele mit administrativen Repressalien und der Aussetzung ihrer Registrierung zu kämpfen haben.

China ist entgegen dem sozialistischen Selbstverständnis eine patriarchalisch und patrilinear geprägte Gesellschaft. Frauen machen weniger als 30 Prozent der Parteimitglieder aus.6 Die Ein-Kind-Politik führte in der Bevölkerung häufig zu der Entscheidung, sich weiblicher Nachkommenschaft zu entledigen und männliche Erben zu bevorzugen. Demographisch ist die Ungleichverteilung der Geschlechter ein Problem und führt verstärkt zu Druck auf Frauen, traditionelle Geschlechterrollen einzunehmen. Die Partei hat unter Xi Jinping nicht nur rechtebasiert arbeitende NGOs und Jurist*innen als Gefahr identifiziert, sie verfolgt auch eine konservative Entwicklung des Verständnisses von Geschlechterrollen in der chinesischen Gesellschaft.

Wollen zivilgesellschaftliche Akteur*innen in China erreichen, dass sich progressive Ansätze später in Regularien oder Gesetzen wiederfinden, so „tendieren sie dazu, ihre Ideen mit den offiziellen Sprachregelungen in Beziehung zu setzen,“ hält Paul Kohlenberg von der Heinrich Böll Stiftung fest.7 Dadurch erlangt ihr Anliegen innenpolitische Legitimität und sie können bestehende Konzepte und damit den Diskurs in ihrem Sinne beeinflussen. Während die Partei versucht, zivilgesellschaftlichen Organisationen die Rolle der öffentlichen Dienstleister*in zuzuschreiben, bemühen sich diese, den offiziell beanspruchten Diskursraum zur eigenen Absicherung, Partizipation und Verfolgung ihrer Ziele zu nutzen bzw. zu weiten. Laut den Forscher*innen Judith ­Shapiro und Yifei Li stellt sich daher weniger die Frage inwieweit zivilgesellschaftliche Akteur*innen in China unabhängig von Staat und Partei arbeiten. Vielmehr sollte es darum gehen, ob Organisationen, wie beispielsweise das Institute of Public and Environmental Affairs, sich innerhalb des Systems für z.B. Informationstransparenz, oder auch die Stärkung von bürgerlicher Partizipation und Institutionen mit dem Ziel des Umweltschutzes einzusetzen vermögen.8

Zivilgesellschaftliches »Hinausgehen« zwischen Frieden und Konflikt entlang der BRI

2013 kündigte Xi Jinping die weltweit kontrovers diskutierte BRI in Kasachstan an. Die Initiative sollte nicht nur chinesischen Unternehmen einen weiteren Schub in ihrer internationalen Aufstellung verleihen, sondern auch zivilgesellschaftliche Akteur*innen zum »Hinausgehen«, chin. »zou chuqù« 走出去, animieren. Bereits während des ersten Seidenstraßenforums 2017 wurde NGOs ein konkreter Platz in der BRI zugedacht: ergänzend zu den wirtschaftlichen und politischen Beziehungen sollen sie die »people-to-people« Beziehungen zwischen China und den Partnerländern verbessern.

Zivilgesellschaftliche Organisationen in anderen Staaten haben jedoch ihr ganz anderes Selbstverständnis und traten in der Folge mancherorts, wie z.B. in Myanmar, chinesischen Unternehmen bis zum Projektstopp entgegen.9 Die chinesische Regierung wiederum bevorzugt eine selektive und auf wirtschaftlicher Entwicklung basierende Einbindung chinesischer und lokaler Akteur*innen, um vor allem Reputationsrisiken für die beteiligten Unternehmen aufzufangen. In diesem Sinne sind auch die »Arbeitsrichtlinien zur grünen Entwicklung von Auslandsinvestitionen und -kooperationen« der chinesischen Ministerien für Außenhandel und wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ökologie und Umweltschutz von 2021 zu verstehen.

In ihrer aktuellen Daseinsform scheint die BRI das ihr von der chinesischen Regierung zugesprochene friedensfördernde Potential nicht erfüllen zu können. Das chinesische Verständnis von Konflikt und Sicherheit ist eng mit dem Konzept von wirtschaftlicher Entwicklung verbunden. So wird von staatlicher chinesischer Seite ein auf wirtschaftlichem Wachstum basierendes Friedensmodell vorangetrieben. Persönliche und politische Freiheiten werden nicht priorisiert. Das Entwicklungsmoment liegt führend bei der Regierung und weniger bei der Zivilgesellschaft, fasst Yin He den sogenannten »developmental peace«-Ansatz hinter der BRI und Chinas globalem Engagement zusammen.10

In der Studie »Conflict Dynamics and the Belt and Road Initiative«, verfasst für Brot für die Welt, kommt Jason Tower vom United States Institute of Peace zu dem Schluss, „dass die BRI konfliktblind ist.11 Demnach fehlt es BRI-Akteur*innen an Richtlinien und Handlungsorientierung in Konfliktgebieten, wie z.B. in den nördlichen Grenzregionen Myanmars. Es sind jedoch gerade auch diese konfliktreichen Umgebungen, in denen etwa Infrastrukturprojekte von chinesischen Unternehmen umgesetzt werden.12 Intersektorale Dialogforen zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen aus China und den Partnerländern könnten somit für mehr Konfliktbewusstsein auf der Seite chinesischer BRI-Akteur*innen sorgen und so eine pluralistischere chinesische Einbindung in transnationale Prozesse fördern.

Lina Benabdallah weist in »China’s Peace and Security Strategies in Africa« auf die Beschränktheit des »developmental peace«-Ansatzes hin. Die Überzeugung, dass „Unterentwicklung an der Wurzel von Konflikten liegt, kann jedoch zu unbeabsichtigten Konsequenzen führen, die sich negativ auf lokale Bevölkerungen, die Umwelt und soziale Gerechtigkeit auswirken.“ 13

Frieden kann nur im Dialog mit der Zivilgesellschaft hergestellt werden. Dies gilt sowohl für die Volksrepublik China im Inneren als auch für chinesische Investitionen in Konfliktregionen. Ob zivilgesellschaftliche Organisationen es schaffen, sich mehr Raum zu erkämpfen, um ihren konfliktmindernden Einfluss auszuüben, ist ungewiss, denn mittlerweile ist das Bild der Zivilgesellschaft als Gefahr für die eigene »harmonische Gesellschaft« und den »friedvollen Aufstieg« Chinas in der Partei sehr gefestigt.14

Anmerkungen

1) Klabisch, J.; Straube, C. (2021): Zivilgesellschaft und China: weniger Raum, mehr Dia­logbedarf. Stiftung Asienhaus.

2) Deane, L. (2021): Will There Be a Civil Society in the Xi Jinping Era? Advocacy and Non-Profit Organising in the New Regime. Made in China Journal, 15.07.2021.

3) Lang, B. (2019): Anpassung, Einhegung, Aneignung: Chinesische Strategien im Umgang mit internationalen Normen und Akteuren der Zivilgesellschaft, ASIEN 152/15.

4) Interview der Autor*innen, 8. September 2021.

5) Fahrion, G. (2021): Wie ein Biologiestudent gegen chinesische Behörden triumphierte. DER SPIEGEL 36/2021, 05.09.2021.

6) Lu, S. (2020): Pretty Lady Cadres: New Data Shows the Limits of Women’s Advancement in China’s Leadership. ChinaFile, 21.12.2020.

7) Fuhr, L. (2021): „Ecological Civilization“ und Schutz biologischer Vielfalt – ein Blick nach China anlässlich der 15. Vertragsstaatenkonferenz der CBD. Heinrich-Böll-Stiftung, 27.08.2021.

8) Li, Y.; Shapiro, J. (2021): China Goes Green: Coercive Environmentalism for a Troubled Planet. Cambridge: Polity Press, S. 29f.

9) Ramachandran, S. (2019): The Standoff Over the Myitsone Dam Project in Myanmar: Advantage China. The Jamestown Foundation, 24.04.2019.

10) He, Y. (2021): A tale of two “peaces”: Liberal peace, developmental peace, and peacebuilding. In: Fung, C. J.; Gehrmann, B.; ­Madenyika, R. F.; Tower, J. G. (Hrsg.): New Paths and Policies towards Conflict Prevention. Chinese and Swiss Perspectives. London: Routledge, S. 42-53.

11) Tower, J.G. (2020): Conflict Dynamics and the Belt and Road Initiative: Ignoring Conflict on the “Road to Peace”, Brot für die Welt.

12) Abb, P.; Swaine, R.; Jones, I. (2021): Road to Peace or Bone of Contention? The Impact of the Belt and Road Initiative on Conflict States. Peace Research Institute Frankfurt (PRIF), S. 14.

13) Benabdallah, L. (2016): China’s Peace and Security Strategies in Africa: Building Capacity is Building Peace?, African Studies Quarterly 16:3-4, S. 26.

14) ChinaFile (2013): Document 9: A ChinaFile Translation.

Joanna Klabisch und Christian Straube leiten das China-Programm der Stiftung Asienhaus. Sie haben Ostasienwissenschaften mit dem Schwerpunkt China bzw. Moderne Sinologie an der Universität Heidelberg und an Universitäten in China studiert. Joanna Klabisch arbeitet seit ihrem Studium und ihren darauffolgenden Aufenthalten in China zur chinesischen Zivilgesellschaft, Umweltschutz und sozialer Gerechtigkeit. Christian Straube hat im Rahmen seiner Promotionsforschung chinesische Investitionen in Ost- und Zentralafrika und den China-Afrika-Diskurs untersucht.

Verflochtene Machtstrukturen


Verflochtene Machtstrukturen

Ökologie, Klima- und Energiepolitik in China

von Anja Senz

Der Beitrag gibt einen Einblick in die aktuelle umwelt- und klimapolitische Situation der Volksrepublik China. Betrachtet werden einerseits die ökologischen Herausforderungen, die aus einer langen Phase des Wirtschaftswachstums resultieren und andererseits die Umsetzungsprobleme in der Umwelt- und Klimapolitik, die sich aus den gegenwärtigen ökonomischen und politischen Strukturen ergeben. Neben den offiziellen klimapolitischen Ambitionen werden unterschiedliche innerchinesische Interessenlagen und Vollzugsdefizite betrachtet, die ein klimapolitisches Umsteuern erschweren.

Die Entwicklungen in China sind seit vielen Jahren Thema in internationalen Debatten zu Umwelt- und Klimaschutz. Als großer Emittent von Treibhausgasen gilt das Land als »Klimasünder« und internationalen Umweltindizes zu Folge hat sich im Zuge der rapiden Wirtschaftsentwicklung in den letzten drei Jahrzehnten die Umweltsituation erheblich verschlechtert. Gesellschaftliche Unzufriedenheit ist ein Resultat des enormen Ausmaßes der Umweltzerstörung. Allerdings ist »Umweltstress« kein neues Phänomen in China. Neben den von Menschen erzeugten Problemen stellen schwierige naturräumliche Gegebenheiten eine Langzeitherausforderung dar. Chinas agrarisch nutzbare Fläche steht seit jeher in ungünstiger Relation zur Bevölkerungsgröße, denn nur etwa 12,5 % des Territoriums ist landwirtschaftlich nutzbar, wobei durch Urbanisierung und Industrialisierung in den letzten Dekaden viele Agrarflächen verlorengingen. Problematisch ist auch die Verfügbarkeit von Wasser: mit sechs Prozent der weltweiten Frischwasserreserven müssen heute knapp 20 % der Weltbevölkerung versorgt werden. Schwer wiegt, dass die Wasserressourcen in Nord-Süd-Richtung ungleich verteilt sind, wodurch der Süden von Wasserreichtum, der Norden jedoch von Trockenheit und häufigen Dürreperioden gekennzeichnet ist. Großprojekte zur Kanalisierung des Wassers nach Norden bewegen die politische Führung daher seit langem.

Die Umweltsituation heute

Luftverschmutzung, ausgelaugte oder mit Schadstoffen belastete Böden und schlechte Wasserqualitäten kennzeichnen China heute landesweit. Besonders die alten Industrieregionen im Nord­osten sowie die Industriezentren am Yangzi- und am Perlflussdelta sind von Emissionseinträgen durch sauren Regen, Chemikalien aus der Landwirtschaft, Industrie- und Bergbauaktivitäten sowie einer ungeregelten Müllbeseitigung betroffen. Großflächige Infrastrukturprojekte, forcierte Ressourcenextraktion, Intensivierung der Landwirtschaft, Urbanisierung, zunehmende Mobilität und Binnenmigration, der steigende Energiebedarf und die Lebensgewohnheiten der wachsenden urbanen Mittelschicht haben als Ausdruck einer auf rasches Wirtschaftswachstum ausgerichteten Entwicklungsstrategie enorme ökologische Konsequenzen.

Bereits Mitte der 2000er Jahre wies die nationale chinesische Umweltbehörde erstmals darauf hin, dass die Steigerung des Bruttoinlandsproduktes durch die Umweltzerstörung aufgezehrt würde, weil die Kosten der Umweltdegradation dem Wert des jährlichen Wirtschaftswachstums entsprächen. Eine aktuelle Weltbankstudie kommt zu einem ähnlichen Resultat. So geraten viele Menschen in finanzielle Not, weil sie die Erträge ihrer verseuchten Böden nicht mehr verkaufen können. Knapp 300 chinesische Städte, deren bisherige ökonomische Basis die Rohstoffextraktion (Kohle, Mineralien, Forstwirtschaft) war, gelten offiziell als »ressourcenerschöpft«. Für Millionen von Menschen bedeutet das den Verlust des Arbeitsplatzes und das Angewiesensein auf staatliche Grundversorgung.

Staat und Gesellschaft

Die Anzahl der (Umwelt-)Proteste hat in den letzten zwei Jahrzehnten stetig zugenommen. Das Internet und neue Möglichkeiten der digitalen Vernetzung erweisen sich als wichtige Informations- und Mobilisierungsinstrumente. Während Effekte des Klimawandels nur in geringem Maße als gesellschaftliche Herausforderung thematisiert werden, rangieren die vielfältigen Umweltprobleme in Umfragen zu den Sorgen der chinesischen Bevölkerung stets auf den vorderen Plätzen. Die Menschen erwarten Lösungen von der Politik (vgl. auch Klabisch und Straube in dieser Ausgabe). Das ist nicht erstaunlich in einem Staat, der der Gesellschaft wenig Freiraum für Debatten und Selbstorganisation lässt und für alle relevanten Fragen Zuständigkeit reklamiert. Doch Chinas Führung hat nicht nur aus Gründen der politischen Stabilität und Legitimation inzwischen ein vitales Interesse an der Verbesserung der Umwelt. Für eine weitere positive ökonomische Entwicklung sind Innovation und die Produktion hochwertiger Güter essentiell. Neue Umwelttechnologien und beispielsweise die Elektromobilität sind mögliche Wege aus der Sackgasse billiger Massenproduktion und ein internationaler Markt mit großem Potential (Senz 2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Dynamiken ab 1978 mit Liberalisierung und Dezentralisierung haben ein politisches System geschaffen, das durch eine Vielzahl von Akteuren mit diversen Eigen­interessen gekennzeichnet ist, die sich in einer komplizierten Matrix aus vertikalen und horizontalen behördlichen Kompetenzen bewegen. Dies erschwert die landesweite Steuerung und Durchsetzung von Politiken, Gesetzen und Mindeststandards und lokale Behörden nutzen die vielfältigen Spielräume für eigene politische Ziele (Senz 2017). Viele Gesetzestexte formulieren nur allgemeine Prinzipien und erweisen sich als lückenhaft im Hinblick auf eindeutige Verantwortlichkeiten. Ein schwaches Rechtssystem vermag die Durchsetzung von Ansprüchen nicht sicherzustellen. Lokaler Protektionismus, Korruption und ein doppeltes Berichtswesen (­Heberer und Senz 2011), in dessen Rahmen inhaltlich variierende Ergebnissen nach oben gemeldet werden sowie eine oft mangelhafte Ausstattung und Qualifikation der lokalen Verwaltungen resultieren in großen Vollzugsdefiziten, gerade auch bei der Implementierung von Umweltgesetzen. Normativ geht Wirtschaft vor Klimaschutz und administrativ erweist sich die Umsetzung umwelt- und klimapolitischer Maßnahmen als kompliziert.

Die Herausforderung der Dekarbonisierung

Etwa 25 % des weltweiten Energieverbrauchs entfallen auf China. Kohlekraft dominiert im chinesischen Energiemix (ca. 58 % in 2019), der Anteil der erneuerbaren Energien liegt derzeit bei ca. 15 %. Während pandemiebedingt der Stromverbrauch in den großen Industrie- und Schwellenländern im Jahr 2020 sank, verzeichnet China weiterhin einen wachsenden Stromverbrauch. Eine Auswertung statistischer Daten ist aufgrund sich teils ändernder Berechnungsgrundlagen u.a. im Bereich der Windenergie sowie der Vermischung mit politischen Zielgrößen (z.B. aus den Fünfjahresplänen) schwierig.

Für die chinesische Ökobilanz wird die langfristige Stromerzeugung über erneuerbare Energien entscheidend sein. Neben der Reduzierung von CO2-Emmissionen durch den Ausbau erneuerbarer Energien und der Verbesserung der Energieeffizienz sowie des Stromnetzes (Yang et al. 2016), ist die Regulierung der heimischen Kohleindustrie von Bedeutung. Eingeleitete, aber oft nur halbherzig umgesetzte Maßnahmen reichen vom Baustopp bei Kohlekraftwerken, strengeren Grenzwerten und Effizienzstandards für Kraftwerke, Importabgaben auf Kohle bis zur angestrebten Deckelung der Kohlekapazitäten bei 55 % im Energiemix.

Doch stellt die Kohleindustrie nicht nur den Löwenanteil der genutzten Energie bereit – etwa die Hälfte der weltweit geförderten Kohle wird in China verbrannt –, sondern war und ist auch ein wichtiger Arbeitgeber. Während strukturell zunächst Staatsunternehmen dominierten, wuchs ab den späten 1970er Jahren die Bedeutung lokaler Minen im kommunalen Besitz. Hiermit konnte der Energiebedarf flexibler gedeckt werden, die kleineren Unternehmen wirtschafteten profitabler, allerdings vielfach um den Preis schwerster Umweltschäden. Neben dem Abbau sind hierbei auch die Effekte des Transportes und der Infra­struktur zu berücksichtigen. Ab den 1990er Jahren waren in der Kohleindustrie nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen sechs und zehn Millionen Menschen direkt beschäftigt (Wright 2012). Die Regulierung dieses Industriezweigs gestaltet sich schwierig: Kleinminen, die aufgrund der gefährlichen Arbeitsbedingungen, ihrer negativen Ökobilanz und der Konkurrenz zu den Großunternehmen in der Kritik stehen, sind zwar in den letzten zwei Jahrzehnten nach und nach geschlossen worden – allerdings mit gravierenden sozialpolitischen Folgen besonders in Regionen, die einseitig von der Kohle abhingen. Auch wirken sich Eingriffe in die Branche auf die Verfügbarkeit von Elektrizität sowie die Strom- und die Verbraucherpreise aus, so dass Regulierungsmaßnahmen auf vielfältige Widerstände stoßen. Häufig werden daher Minen »formal« geschlossen, arbeiten jedoch de facto weiter, wie sich aus nachträglich korrigierten Daten zur Kohleproduktion schlussfolgern lässt.

Klimaschutzambitionen und die Interessen des Energiesektors

Zentral regulierende Akteure des Energiesektors sind die Nationale Entwicklungs- und Reformkommission (NDRC), die Nationale Energiebehörde (NEA) und das Ministerium für Umwelt und Ökologie (MEE). Mit dem zwölften Fünfjahresplan (2011-2015) wurde der Emissionshandel als marktorientierte Maßnahme zur Steuerung von Emissionen testweise in sieben Pilotstädten eingeführt (Heggelund 2021). Nach Auswertung und Anpassung wurde schließlich im Juli 2021 der Startschuss für den nationalen Emissionshandel gegeben. Der Handel erstreckt sich vorerst nur auf Firmen des Energiesektors mit CO2-Emissionen über 26.000 Tonnen pro Jahr (Raiser, Eckardt und Ruta 2021). Bereits der dreizehnte Fünfjahresplan (2016-2020) deckelte erstmals den Kohleanteil an der gesamten Energieproduktion auf 58 %. Ein Aktionsplan gegen Luftverschmutzung sollte zwischen 2013 und 2017 zur Reduktion von Kohlekraft beitragen, wurde jedoch durch ein Gesetz von 2014, nach dem die Provinzen selbst über die Inbetriebnahme von Kohlekraftwerken entscheiden können, konterkariert. Ein Ampelsystem zur Inbetriebnahme von Kohlekraftwerken, das daraufhin im Jahr 2016 angestrebt wurde, erweist sich als zu unspezifisch.

Neben vertikalen Interessen zwischen der Zentrale und den Regionen spielen auch horizontale Belange eine Rolle. Hier stehen zum Beispiel der nationalen Energiebehörde die Staatsbetriebe und der Elektrizitätsrat gegenüber, der die Stromerzeuger vertritt. Das Umsteuern im Energiesektor ist auch bezüglich der Energiesicherheit tückisch: Stromausfälle in zahlreichen Provinzen über das gesamte Jahr 2021 deuten auf erhebliche Engpässe hin; Unternehmen wurden aufgefordert, den Energieverbrauch während der Spitzenlastzeiten zu reduzieren oder die Anzahl der Betriebstage zu begrenzen. Energieintensive Industrien wie die Stahlindustrie, die Aluminiumverhüttung, die Zementherstellung und die Düngemittelproduktion gehören zu den Unternehmen, die am stärksten von den Ausfällen betroffen sind.

Innovativer Klimaschutz?

Zu innovativen Ansätzen des Klimaschutzes gehören seit 2010 Pilotprojekte im Bereich »kohlestoffarmer Städte« (Low Carbon Cities). In diesen Städten sollen Pläne zur Emissionsreduktion erarbeitet und implementiert werden, um den Menschen einen nachhaltigen Lebensstil zu ermöglichen. Allerdings gibt es keine projektspezifischen Ziele. Eine andere Initiative zur »Grünen Finanzierung« soll große Banken dazu bewegen, nachhaltige Projekte durch Kredite und Fonds zu unterstützen, den Nachhaltigkeitsaspekt in ihre Invest­ment­ent­schei­dungen aufzunehmen und u.a. die Pilotstädte zu unterstützen (­Sandalow 2020, S. 108f.). Bisher ist der Erfolg in den Städten und Provinzen jedoch gering. Vielen lokalen Entscheidungsträger*innen fehlt es an Fachkenntnis, wissenschaftlichen Partnern, oft ist auch die Amtszeit schlicht zu kurz, um langfristige Strategien zu verfolgen (Lo, Li und Chen 2020, S. 109). Weil viele Lokalregierungen vor allem in den ärmeren Landesteilen ihren Arbeitsschwerpunkt auf die Förderung der Wirtschaft legen, ist in den letzten Jahren eine Rezentralisierung eingeleitet worden. Unter diesen Bedingungen vermeiden lokal Verantwortliche jedoch zwecks Reduzierung politischer Risiken oftmals innovative Strategien (Zhang, Orbie und Delputte 2020).

Internationale Klimadiplomatie

Nach langer Zurückhaltung verfolgt die chinesische Regierung seit 2015 offiziell einen neuen Klimakurs und formulierte im Kontext der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCC) als nationale Ziele einige Absichten, darunter vor 2030 den Höhepunkt der Emissionen zu erreichen, den Anteil von nicht fossilen Energiequellen auf 20 % zu erhöhen und die CO2-Intensität im Vergleich zu 2005 um 60-65 % senken. Im Jahr 2020 kündigte Staatspräsident Xi Jinping weiterhin an, China solle bis 2060 klimaneutral werden. Im September 2021 sagte er zu, China werde im Ausland keine Kohlekraftwerke mehr bauen. Bisher hatte die chinesische Regierung die Ausrichtung auf fossile Brennstoffe in den Zielländern zum Beispiel im Rahmen von Auslandsinvestitionen der sogenannten »neuen Seidenstraße« unterstützt und gilt mit Blick auf Bau und Finanzierung als einer der globalen Hauptförderer.

Insgesamt erscheint das Land damit in puncto Klima- und Umweltschutz heute als durchaus ambitioniert, ob angesichts der vielen innerchinesischen Herausforderungen die anvisierten Ziele aber auch umgesetzt werden können, bleibt abzuwarten.

Literatur

Heberer, Th.; Senz, A. (2011): Streamlining local behaviour through communication, incentives and control: a case study of local environmental policies in China. Journal of Current Chinese Affairs 3, S. 77-112.

Heggelund, G. M. (2021): China’s climate and energy policy: at a turning point?. International environmental agreements: politics, law and economics 21, S. 9-23.

Lo, K.; Li, H.; Chen, K. (2020): Climate experimentation and the limits of top-down control: local variation of climate pilots in China. Journal of Environmental Planning and Management 63(1), S. 109-126.

Raiser, M.; Eckardt, S.; Ruta, G. (2021): Carbon Market Could Drive Climate Action. The World Bank. Opinion, 19.07.2021.

Sandalow, D. (2020): Guide to Chinese climate policy 2019. Columbia University Sipa, Center on Global Energy Policy.

Senz, A. (2017): Zwischen zerstörter Umwelt und Ökolabor – Perspektiven einer sozial-ökologischen Transformation in China. In: Brand, K.-W. (Hrsg.): Die sozial-ökologische Transformation der Welt. Ein Handbuch. Frankfurt/M.: Campus, S. 351-372.

Senz, A. (2020): China als Trendsetter in der E-Mobilität? Von Smog, industriepolitischen Ambitionen und dem Statussymbol Auto. In: Brunnengräber, A.; Haas, T. (Hrsg.): Baustelle Elektromobilität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Transformation der (Auto-)Mobilität. Bielefeld: transcript, S. 229-254.

Yang, X. J. et al. (2016): China’s renewable energy goals by 2050. Environmental Development 20, S. 83-90.

Zhang, Y.; Orbie, J.; Delputte, S. (2020): China’s climate change policy: central–local governmental interaction. Environmental Policy and Governance 30(3), S. 128-140.

Anja Senz ist Professorin für gegenwartsbezogene Chinaforschung an der Universität Heidelberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen u.a. auf den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft in der chinesischsprachigen Welt sowie Umwelt- und Ressourcenfragen in China.

Symbol und Modell Chongqing


Symbol und Modell Chongqing

Entwicklung und soziale Konflikte im chinesischen Hinterland

von Florian Thünken

Die innergesellschaftlichen Konsequenzen der rasanten urbanen Entwicklungen Chinas stehen im Fokus dieses Beitrags. So klaffen große Lücken zwischen den Metropolen und dem eher vernachlässigten Hinterland: es herrscht ein klares Einkommens-, Wohlstands- und Bildungs­gefälle, ebenso unterscheiden sich im direkten Vergleich Lebensweise und Familienstrukturen zum Teil stark. Kaum eine Stadt bündelt diese Herausforderungen so deutlich wie Chongqing, die »größte Stadt der Welt«.

Die Volksrepublik China wird medial allzu oft durch eine wirtschaftliche Linse betrachtet, bei der stetiges und vermeintlich ungebremstes Wachstum im Fokus steht, meist begleitet von beeindruckenden Bildern chinesischer Megastädte, wie z.B. Beijing, Shanghai oder Shenzhen. Diese Bilder der gigantischen, dicht bevölkerten und im ständigen Wandel befindlichen Metropolen, mit ihren riesigen Hochhauslandschaften und einer hochmodernen Infrastruktur, unterstreichen das Bild einer im Aufbruch befindlichen Nation. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich allerdings ein vielschichtiges Bild, gerade mit Blick auf die kleinen und mittelgroßen Städte jenseits der entwickelten Megastädte. Dabei offenbaren sich große Lücken zwischen den Metropolen und den weniger entwickelten kleinen Städten: ein klares Einkommens-, Wohlstands- und Bildungsgefälle, ebenso unterscheiden sich im direkten Vergleich Lebensweise und Familienstrukturen zum Teil stark. Der Zugang zu den großen Städten, und damit zu wichtigen Ressourcen wie Bildung, Arbeit, sozialen Sicherungssystemen und sozialem Wohnungsbau, wird durch systemische Hürden, wie z.B. dem System der Haushaltsregistrierung, dem »Hukou«, erschwert.

Das daraus entstehende soziale Konfliktpotential, welches sich aus der sich öffnenden Schere zwischen arm und reich sowie zwischen städtischem und ländlichem Raum ergibt und das langfristig die Alleinherrschaft der kommunistischen Partei bedrohen könnte, wird von der Zentralregierung seit Ende der 2000er Jahre mit gezielten Maßnahmen angegangen. Das Programm zur „neuartigen Urbanisierung“, welches mit einer „menschliche[n] Urbanisierung“ von 2014 bis 2020 unter anderem für eine schnellere Entwicklung kleiner und mittelgroßer Städte sorgen sollte, ist eine solche Maßnahme (Meyer-Clement 2015, S. 5-8). Dabei wird der eingeschlagene Weg einer weiteren und stetigen Urbanisierung des Großteils der Landbevölkerung nicht in Frage gestellt. Denn die drohende Überalterung der chinesischen Gesellschaft, noch bevor ein zufriedenstellendes Wohlstandsniveau für große Teile der Bevölkerung realisiert wurde, erhöht den Druck auf die chinesische Regierung, das Land möglichst schnell von der »Werkbank der Welt« hin zu einer Innovationswirtschaft mit höherer Wertschöpfung zu entwickeln.

Im Folgenden sollen die oben beschriebenen Konflikte um Wohlstandsverteilung, Zugang zu Stadt, (Bildungs-)Gerechtigkeit und Differenzen zwischen Stadt und Land am Beispiel der Metropole Chongqing erörtert werden.

Chongqing: geographische und administrative Verortung

Chongqing liegt im Südwesten Chinas am Yangzi und ist die jüngste von fünf sogenannten regierungsunmittelbaren Städten – und die einzige, die nicht an der weiter entwickelten Ostküste liegt. Die Entwicklung des Hinterlands, die Umsiedlung von mehr als einer Million Menschen aufgrund des Baus des Drei-Schluchten-Staudamms in der Nachbarprovinz Hubei, und die Vorgabe, als wirtschaftlicher Motor für große Teile des Südwestens zu wirken, führten dazu, dass Chongqing im Jahr 1997 von der Provinz Sichuan abgespalten wurde. Regierungsunmittelbare Städte unterstehen direkt der Zentralregierung in Beijing und stehen somit auf dem gleichen administrativen Rang wie Provinzen. Zwar handelt es sich administrativ um Städte, doch umfasst das Verwaltungsgebiet oft ein riesiges, wenig urbanisiertes Hinterland. Somit ist es rein formalrechtlich zwar korrekt von Chongqing als größter Stadt der Welt zu sprechen, in Wirklichkeit finden sich neben dem eigentlichen Stadtkern aber viele größere und kleinere Städte sowie kleine und teils sehr arme Gemeinden und Dörfer, die über eine Fläche verstreut sind, die ungefähr der Größe Österreichs entspricht (siehe Karte). Über 65 Prozent der 32 Mio. Einwohner*innen leben bereits heute in Städten und Gemeinden.

In den Fokus des wissenschaftlichen und medialen Interesses rückte die Stadt von 2007 bis 2013, als unter Bo Xilai nicht nur eine radikale Kampagne gegen mafiöse Strukturen geführt wurde, sondern die Verwaltung auch massiv in den sozialen Wohnungsbau investierte, das Hukou-System durchlässiger gemacht und alte sozialistische und maoistische Ideale erneut beschworen wurden. Ähnlich wie in der Nachbarstadt Chengdu in der Provinz Sichuan konzentrierte sich die politische Führung in Chongqing in der Folge auf eine bessere Integration von Stadt und Land, z.B. durch Angleichung der sozialen Sicherungssysteme und Ausbau der Infrastruktur. Damit diente Chongqing auch als Modell: viele der lokalen Experimente spiegeln sich mittlerweile, wenn auch in abgeschwächter Form, in politischen Plänen auf der Zentralebene wider – wie dem »Plan zur neuartigen Urbanisierung«.

Städtischer Wandel und gesellschaftlicher Umbruch im Zentrum

Besucht man die am Berg gebaute Kernstadt Chongqings, so zeigt sich der dramatische Wandel: das historische Stadtzentrum im Bezirk Yuzhong wurde radikal umgestaltet, traditionelle Bauwerke finden sich kaum noch. Viel mehr prägen neue architektonische Landmarken aus Glas und Stahl mittlerweile die städtische Landschaft. Auch die angrenzenden Stadtbezirke vermitteln das Bild einer pulsierenden Metropole, die anscheinend niemals zur Ruhe kommt. Gesellschaftlich ist die Stadt ebenfalls im Wandel begriffen. War das Stadtbild, insbesondere im Zentrum, vor rund zehn Jahren noch von einfachen Lastenträger*innen geprägt, den sogenannten »Bangbang«, so trifft man diese heute nur noch selten an (Qin 2015). Längst haben Expresslieferdienste das traditionelle Gewerbe verdrängt. Wanderarbeiter*innen, die früher oft als »Bangbang« tätig waren, verdingen sich in anderen Branchen und ziehen, auch aufgrund stetig steigender Immobilienpreise, zunehmend in die Peripherie der Großstadt oder kehren gar ganz in ihre Heimatorte zurück, die sich in den letzten Jahren oft teils zu mittelgroßen Städten entwickelt haben. Damit folgen sie vermeintlich der Logik des Urbanisierungsplans der Zentralregierung, der die großen Städte Chinas als wirtschaftliche Motoren versteht, die indirekt umliegende Städte und Gemeinden mit entwickeln sollen.

Die Folgen für die Peripherie

In Chongqing wurden dementsprechend Teile der alten industriellen Basis in Vororte und Satellitenstädte verlegt, in denen sich auch neue Industrien bevorzugt ansiedeln sollen. Zusammen mit der Verschiebung von Arbeitsplätzen wird auch die industrielle Verschmutzung aus den großen urbanen Zentren in die Peripherie verlagert.

Verschlechtert wird die ökologische Situation, gerade in der Peripherie, zusätzlich durch längere Dürreperioden und geringe Niederschlagsmengen. Es wird kontrovers diskutiert, ob dies negative Auswirkungen der Konstruktion des Drei-Schluchten-Staudamms auf das lokale Mikroklima sind, oder, wie die meisten Expert*innen vermuten, es sich eher um Effekte der globalen Erwärmung handelt (Jiao 2013, S. 52f.). Während in der Kernstadt in den letzten Jahren die Luftqualität verbessert wurde, nahm diese in einigen Satellitenstädten rapide ab. Laut Urbanisierungsplan sollen sich Wanderarbeiter*innen und Landbewohner*innen vermehrt in diesen kleinen und mittelgroßen Städten ansiedeln und zur Entwicklung beitragen. Dabei gelten kaum Voraussetzungen für die Ansiedlung, die Haushaltsregistrierung kann in den meisten Fällen problemlos verlegt werden. Die großen Metropolen hingegen sollen den Zuzug stärker reglementieren und dürfen eigene Kriterien für die Niederlassung erlassen. Gängige Kriterien, die oft in Punktesystemen ausgedrückt werden, reichen von einer gesicherten Beschäftigung, einem Dach über dem Kopf oder einer Mindestauf­enthaltsdauer in der Stadt, bis hin zur Verpunktung der eigenen Bildungsbiographie oder der Einzahlung in diverse soziale Sicherungssysteme (Wang 2021, S. 283f.).

Urbanisierung von unten gesehen

Bei Gesprächen mit Menschen, die in kleinen und mittelgroßen Städten in der Peripherie und deren angeschlossenen Gemeinden und Dörfern leben, zeigt sich schnell, dass allerdings nicht nur die politische Lenkung der Migration eine wichtige Rolle bei der Wohnortswahl spielt. Die weitaus größten Faktoren – und oftmals Hindernisse – sind wirtschaftlicher Natur (Zhan 2011, S. 278f.). Dabei üben die großen Metropolen immer noch eine ungebrochene Anziehungskraft aus, insbesondere aufgrund der weitaus besseren Schulen, besser ausgebauter sozialer Sicherungssysteme und eines höheren Lebensstandards.

Die oft unzureichend ausgebildeten Landbewohner*innen können allerdings meist nur um schlecht bezahlte Arbeitsplätze in den Metropolen konkurrieren. Parallel wird das Leben in den großen Städten immer kostspieliger. Somit bleibt vielen Wanderarbeiter*innen letztlich nur die Ansiedlung in weniger beliebten und weniger prosperierenden Städten.

Ein entscheidender Grund dafür, überhaupt in eine kleine Stadt zu ziehen, ist die große Differenz in den Bildungsangeboten zwischen Stadt und Land. Auch wenn die Schulen in kleinen Städten oft immer noch weitaus schlechter ausgestattet sind als jene in den Metropolen, so können durch den Umzug doch die Bildungschancen der eigenen Kinder verbessert werden. Eine bessere Arbeit, berufliche oder gar persönliche Selbstverwirklichung hingegen werden nur selten als Gründe für die Niederlassung in kleineren Städten genannt. Das Verständnis der meisten ist: Nur durch Bildung können die nachfolgenden Generationen einen sozialen Aufstieg erreichen.

Interessanterweise wird das städtische Leben von vielen Landbewohner*innen nicht per se als etwas Erstrebenswertes angesehen, anders als von Partei und Regierung, die Urbanisierung als einzigen Weg zur Modernisierung verstehen. Das Landleben wird generell als ruhiger, selbstbestimmter und gesünder angesehen. Viele neue Stadtbewohner*innen sehen den Aufenthalt in den Städten daher auch als eine Phase, nach deren Ende sie ihren Ruhestand auf dem Land verbringen wollen. Einzig die nachkommenden Generationen sollen langfristig in den Städten Fuß fassen, so das Narrativ.

Konflikte um Boden
und Wohnraum

Bei einem permanenten Umzug in eine Stadt sollte langfristig auch der Hukou in diese Stadt verlegt werden, nur so erhält eine Bewohner*in vollen Zugang zum städtischen System. Um allerdings nicht das Bodennutzungsrecht zu verlieren, das an den Besitz eines ländlichen Hukou geknüpft ist, verlegen Landbewohner*innen oftmals nur den Hukou einer Ehepartner*in in die Stadt. Dieses strategische Kalkül kann zu weiteren Konflikten zwischen ländlicher Bevölkerung und der Regierung führen. Land ist eine knappe Ressource in China, die für die weitere Expansion der Städte, aber auch für die Herstellung der Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln, dringend benötigt wird. Haushalte, die ihre Bodennutzungsrechte nicht aufgeben wollen, stellen aus Sicht der Regierung eine doppelte Belastung dar. Sie nehmen sowohl städtische Leistungen in Anspruch, führen ihren Boden aber nicht einer weiteren wirtschaftlichen Verwertung durch die Lokalregierung zu, sei es als Agrar- oder Bauland.

Aufgrund ihrer oft prekären Lage sind neue Stadtbewohner*innen aber häufig nicht gewillt, den eigenen Boden aufzugeben, gilt er doch als letzte Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit oder Krankheit. Die neuen Wohnverhältnisse spielen hierbei ebenfalls eine Rolle. Selbst wenn Landbewohner*innen über verschiedene Programme, bei denen z.B. Agrarland gegen Wohnraum getauscht wird, vergünstigten Zugang zu städtischen Wohnungen erhalten, sind diese oft nicht auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten – trotz »menschlicher Urbanisierung«. Bemängelt werden unter anderem Größe, Qualität und Lage der Wohnungen. Familien vom Land leben oft mit mehreren Generationen unter einem Dach und haben häufig mehrere Kinder. Ersatzwohnungen sind aber meist nur auf die Kernfamilie zugeschnitten, liegen meist in der Peripherie der Städte und es wird nicht selten am Baumaterial gespart.

Selbst in Chongqing, wo überdurchschnittlich viele Ressourcen in den sozialen Wohnungsbau investiert wurden, genießt dieser keinen guten Ruf und wird allenfalls als Sprungbrett in die Stadt gesehen. In kleineren Gemeinden trifft man auf Familien, die lieber illegal eigene Häuser errichten, die es ihnen erlauben einer eher traditionellen Lebensweise nachzugehen, als städtischen Wohnraum in Anspruch zu nehmen. Hier zeigt sich, dass gerade auf der untersten administrativen Ebene die Umsetzbarkeit politischer Vorgaben aus Beijing problematisch ist und die Entwicklung vor Ort gänzlich vom Plan abweichen kann, auch wenn sich dies nicht unbedingt in den Statistiken niederschlägt. Zwar steigt die Urbanisierungsrate Jahr um Jahr – wie sich der Prozess der Urbanisierung konkret gestaltet, wird aber nicht reflektiert.

Fazit

Am Beispiel der regierungsunmittelbaren Stadt Chongqing können eine Vielzahl aktueller sozialer Konflikte im urbanen Raum veranschaulicht werden, die auch in anderen Teilen der Volksrepublik zutage treten. Konflikte um den Zugang zu Städten und sozialen Sicherungssystemen, Verteilung von Ressourcen, in Form von Boden oder Bildung, sind weiterhin ungelöst und werfen die Frage auf, wer zukünftig wo und wie in China leben kann.

Während Migration in kleine und mittelgroße Städte erleichtert wird, können sich die Megastädte weiter abschotten und ihre Bürger*innen nach einem zunehmend engeren Kriterienkatalog zulassen. Zusammen mit der Verlegung von umweltschädlichen Industrien in administrativ niederrangige Orte und der Schaffung eines Systems von Satellitenstädten, die in Abhängigkeit der Megastädte stehen, ergibt sich ein eher düsteres Bild der urbanen Entwicklung. Zwar wird die große Lücke zwischen Stadt und Land perspektivisch in nicht allzu ferner Zukunft überbrückt werden, da ein Großteil der Landbewohner*innen zu Städter*innen wird, allerdings werden sich die Gräben zwischen Städten unterschiedlicher Größe nur langsam verkleinern. Im Extremfall kann dies dazu führen, dass ein sozialer Aufstieg stark erschwert wird und sich die soziale Schichtenbildung erhärtet, da die großen Städten vornehmlich den gebildeten Eliten offen stehen, während schlechter ausgebildeten Arbeiter*innen der Zutritt verweigert wird. Dies könnte langfristig, anders als von der Regierung und Partei angestrebt, sogar das soziale Konfliktpotential weiter erhöhen und destabilisierend auf die Alleinherrschaft der kommunistischen Partei wirken.

Literatur

Jiao, M. et al. (2013): Addressing the Potential Climate Effects of China’s Three Gorges Project. Bulletin – World Meteorological Organization, 2013 Vol. 62 No. Special Issue, S. 49-53.

Meyer-Clement, E. (2015): Was ist neu an ­Chinas Programm für „neuartige Urbanisierung“? Kompetenznetz Regieren in China, Background Paper No. 1/2015, S. 1-10.

Qin, J. (2015): Chongqing „Bangbang“: Dushi ganzhi yu xiangtu xing. Beijing: SDX Joint Publishing.

Wang, X. (2021): Permits, Points, and Permanent Household Registration: Recalibrating Hukou Policy under „Top-Level Design“. Journal of Current Chinese Affairs, Vol. 49 (3), S. 269-290.

Zhan, S. (2011): What Determines Migrant Workers’ Life Chances in Contemporary China? Hukou, Social Exclusion, and the Market. Modern China, Vol. 37 (3), S. 243-285.

Florian Thünken ist promovierter ­Sinologe am Institut für Kulturwissenschaften Ost- und Südasiens – Sinologie der Julius-­Maximilians-Universität Würzburg. Er hat zur Peripherie Chongqings geforscht.

Mare Nostrum


Mare Nostrum

Die Konflikte um das Südchinesische Meer

von Uwe Hoering

Auch wenn Chinas Ansprüche auf große Teile der südostasiatischen Gewässer historisch und rechtlich auf wackligen Beinen stehen, verschärft die aktuelle US-amerika­nische Politik die nationalistische Haltung Beijings und trägt dazu bei, die Konfrontation und Militarisierung hochzuschaukeln. Insbesondere die kleineren Länder, die stets versucht haben, die Region aus Großmachtkonflikten herauszuhalten, werden gezwungen, sich für eine Seite zu entscheiden. Damit wird ein Forum für eine regionale Beilegung der Konflikte geschwächt.

Die Ankündigung einer besonderen »Sicherheitspartnerschaft« zwischen den USA, Australien und Großbritannien (AUKUS) ist der jüngste Schritt in der Internationalisierung des zunächst regionalen Konflikts im Südchinesischen Meer. Längst wurde er zum Treibsatz für die Eskalation des Streits zwischen den USA und China um die (Führungs-)Rolle in der globalen Ordnung. Die Entwicklungen schüren Warnungen vor einem Abgleiten in einen bewaffneten Konflikt. „Bündnistreue“ und eigene Interessen könnten dazu führen, dass auch weitere europäische Länder wie Deutschland in die Konfrontation hineingezogen werden.1

Stürmische See

Der Konflikt um das sogenannte Südchinesische Meer selbst ist alt. China hatte bereits 1947 historische Ansprüche auf den größten Teil der Gewässer geltend gemacht, die es sich unter anderem mit Vietnam, Indonesien, Taiwan, den Philippinen und Malaysia sowie der internationalen Seefahrt teilt. Seither kursieren unterschiedliche Versionen einer U-förmigen, recht freihändigen Demarkationslinie. So legte die Regierung in Peking 2009 eine Landkarte mit der »Nine-dash-line« (Neun-Striche-Linie) vor, die durch einen zehnten Strich östlich von Taiwan erweitert wurde. Aber auch andere Anrainerstaaten, beispielsweise Vietnam, Philippinen und (seit 1995) Taiwan, erheben mit ähnlichen Begründungen maritime Ansprüche.

Zunächst standen vor allem ökonomische Interessen im Vordergrund: Die Sorge um die wichtige Seehandelsroute, der Zugang zu reichen Bodenschätzen und Fischgründen. Bereits frühzeitig gab es darob auch immer wieder bewaffnete Konflikte, vor allem mit Vietnam und den Philippinen. Durch den Ausbau von Sandbänken und Felsriffen zu dauerhaften Stützpunkten wurden Ansprüche untermauert. Dieses Muster der Okkupation wird von fast allen Anrainerstaaten betrieben – doch von niemandem so konsequent wie von China“ (Seifert 2012, S. 15).2

Nach einem Scharmützel zwischen philippinischen und chinesischen Schiffen um das Scarborough-Riff im Frühjahr 2012, bei dem sich die US-Regierung um Vermittlung bemühte, strengte die Regierung in Manila dann eine Klage vor dem Internationalen Schiedsgerichtshof in Den Haag an. Dessen Entscheidung vom Sommer 2016, dass Beijings Anspruch auf „unser Meer“ gegen UN-Seerecht (UNCLOS) und damit gegen internationales Recht verstößt3, weist die chinesische Regierung bislang brüsk zurück.

Henne oder Ei

Zwei politische Entwicklungen, die ungefähr zeitgleich erfolgten, brachten eine weitere Internationalisierung des Konflikts – das stärkere Engagement der USA in der Region angesichts der wachsenden wirtschaftlichen und politischen Bedeutung Chinas (bekannt als Strategie des »Pivot to Asia«) und Beijings »Belt and Road Initiative« (BRI).

Die aktuelle Politik von US-Präsident Joe Biden, die US-amerikanische Außenpolitik stärker auf den Fernen Osten zu fokussieren, ist keineswegs neu. Bereits im August 2013 schrieben die US-amerikanischen Asienexperten Kurt Campbell und Brian Andrews über den außenpolitischen Kurs der Regierung von Barack Obama: „Die Regierung der Vereinigten Staaten befindet sich in der Anfangsphase eines bedeutenden nationalen Projekts: Sie richtet wesentliche Teile ihrer Außenpolitik auf den asiatisch-pazifischen Raum aus und ermutigt viele ihrer Partner außerhalb der Region, dies ebenfalls zu tun. Dieser vor vier Jahren eingeleitete »strategische Schwenk« beruht auf der Einschätzung, dass der Löwenanteil der politischen und wirtschaftlichen Geschichte des 21. Jahrhunderts im asiatisch-pazifischen Raum geschrieben werden wird.“ (Campbell und Andrews 2013, S. 2)

Dadurch wurden in Beijing Befürchtungen vor einer Einkreisungspolitik verstärkt. Zu den Reaktionen gehörte, die »Going Global«-Politik zu beschleunigen, vor allem in der unmittelbaren Nachbarschaft in Süd- und Südostasien sowie in Eurasien. Pläne für den Ausbau von Land- und Seewegen, die Intensivierung des Handelsaustauschs und die Sicherung der Versorgung mit Rohstoffen firmieren seit 2013 unter der Bezeichnung »One Belt One Road« beziehungsweise BRI als Markenzeichen von Präsident Xi Jinping (vgl. Hoering 2018, S. 136ff). Inzwischen wurden mit weit über 100 Ländern Kooperationen vereinbart. Angekündigt wurden Investitionen in Infrastruktur in mindestens dreistelliger Milliardenhöhe (US $), verbesserte Handels- und Finanzbeziehungen und enge politische Zusammenarbeit. Insbesondere in der westlichen Diskussion wurden diese »Neuen Seidenstraßen« schnell nicht nur als aggressives geoökonomisches, sondern als geostrategisches Projekt eingestuft – und damit als ein zentraler Bestandteil der politischen Herausforderung der globalen Führungsposition der USA durch die Wirtschaftsmacht China und der »Systemkonkurrenz«.

Unsicherheitspolitik

Damit einher gehen eine zunehmende Militarisierung auch des Seekonflikts und die Spirale eines Wettrüstens. Die mächtige Pazifik-Flotte der USA ist dort schon seit längerem im Einsatz und liefert sich Revierkämpfe mit der chinesischen Marine – die schnell durch einen »Zwischenfall« in eine bewaffnete Konfrontation eskalieren könnten.4 Verstärkt sind inzwischen auch europäische Kriegsschiffe, darunter die deutsche Fregatte »Bayern«, in den umstrittenen Gewässern unterwegs, um die »Freiheit der Schifffahrt« zu verteidigen, die durch die Gebietsansprüche Chinas im Südchinesischen Meer und die Nichtanerkennung internationaler Rechtsprechung (wie dem Spruch des Schiedsgerichts von den Haag) angeblich gefährdet sei. Selbst Japan lockert seine Beschränkungen für militärische Allianzen und erhöht ebenso wie Australien, Südkorea, Taiwan und Indien seine Militärausgaben.5

Umgekehrt rüstet China auf, insbesondere seine Marine, die bislang weit unterlegen ist (vgl. Unterseher in dieser Ausgabe). Die strategische Bedeutung der Militäranlagen im Südchinesischen Meer als Vorposten gegen einen möglichen Angriff der USA und deren Verbündeten wächst. Der renommierte Publizist und Politiker Walden Bello (2021) hat dafür durchaus Verständnis: Denn die 7. US-Flotte kontrolliere die Region seit dem Ende des 2. Weltkriegs, die USA verfügten über mehr als 50 größere Militärbasen von Japan bis Diego Garcia im Indischen Ozean.

Außerdem intensivieren beide Seiten ihre Bündnispolitik: China hat beispielsweise mit der 2001 gegründeten »Shanghai Cooperation Organisation« (SCO) eine sicherheitspolitische Allianz geschaffen, die Russland, zentralasiatische Länder, aber auch Pakistan und Indien umfasst.6 Im Rahmen einer »Nachbarschaftsdiplomatie« touren Außenminister Wang Yi und andere hochrangige Politiker regelmäßig in der Region. Angebote im Werkzeugkasten von Beijings »weicher Diplomatie« sind nicht nur BRI-Investitionen, sondern auch die Unterstützung bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie und die Aussicht auf eine digitalisierte »Seidenstraße der Gesundheit«.

Washington seinerseits sucht nach der kurzzeitigen »America First«-Unterbrechung durch Präsident Donald Trump, der vor allem den direkten Schlagabtausch zur Schwächung des wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas suchte, unter Biden wieder seine historisch starken multilateralen Bündnisse in Ostasien und im Pazifik zu stärken. Heftig umworben werden dabei auch neue Kandidaten wie Vietnam, heftigster Kritiker von Chinas Ansprüchen, das in der ersten Jahreshälfte 2021 sowohl von US-Vizepräsidentin Kamala Harris als auch von Verteidigungsminister Lloyd Austin besucht wurde. Im Visier auch Indien7, dessen territoriale und politisch-ideologische Divergenzen mit China erst jüngst wieder zu Scharmützeln in der Himalaya-Region führten. Delhi fühlt seine regionale Vormachtrolle durch BRI bedroht, das sowohl seinen Erzfeind Pakistan fördert, als auch mit einer »Perlenkette« von Häfen im Indischen Ozean Chinas Präsenz stärken könnte.

Gefährdung einer delikaten Balance

Die von beiden Seiten als Bündnispartner umworbenen Nachbarn Chinas, insbesondere die kleineren Länder der südostasiatischen Regionalorganisation ASEAN, geraten zwischen die kämpfenden Elefanten. Die zehn Mitgliedsländer, darunter das reiche Singapur und das arme Laos, die Militärregime in Thailand und Myanmar und Demokratien wie Indonesien und Malaysia, haben in vielen wirtschaftlichen und politischen Fragen sehr unterschiedliche Interessen, was immer wieder eine Einigung erschwert hat.

Wirtschaftlich sind alle auf gute Nachbarschaft mit China angewiesen, die durch einen eskalierenden Konflikt gefährdet ist. Seit Jahren sind ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit der Volksrepublik immer enger geworden: Sie gehören zu den wichtigsten Nutznießern der »Neuen Seidenstraßen«, der Auslagerungen arbeitsintensiver Betriebe und von Chinas steigendem Appetit auf Agrarprodukte und andere Rohstoffe. Mit dem von der ASEAN konzipierten regionalen Wirtschaftsabkommen RCEP ist es Mitte November 2020 gelungen, China in eine breitere Wirtschaftsarchitektur einzubinden, an der auch enge militärische Verbündete der USA wie Japan und Südkorea beteiligt sind.

Sicherheitspolitisch jedoch sind einige von ihnen – wie Singapur und die Philippinen – langjährige Bündnispartner der USA, auch die anderen suchen gerne eine Rückendeckung durch die USA, in der Hoffnung, dass sich die beiden Kontrahenten gegenseitig in Schach halten. Denn angesichts des wachsenden Einflusses und der gefährlichen Abhängigkeit vom Großen Nachbarn im Norden herrscht sowohl bei vielen Regierungen, als auch in der Bevölkerung verbreitetes Misstrauen gegenüber chinesischen Absichten und Beteuerungen angeblich gemeinsamer Interessen.

Re-Regionalisierung der Konfliktlösung

Grundsätzlich sind die Regierungen Südostasiens allerdings eher bestrebt, Frieden, Freiheit und Neutralität in Südostasien zu erhalten und die Kontroversen mit der Regierung in Beijing zu verhandeln. Seit Jahren versuchen sie, eine interne Lösung des Konflikts um das Südchinesische Meer zu erreichen und eine Eskalation zu verhindern. Im November 2002 hatten China und die ASEAN-Länder bereits eine Rahmenerklärung für einen Verhaltenskodex vereinbart. Darin wird unter anderem die Einhaltung der UN-Seerechtskonvention (UNCLOS) und die friedliche Beilegung von territorialen Streitigkeiten zugesagt. Seither gab es allerdings kaum substantielle Fortschritte.

Im August 2021 unternahmen sie jetzt einen neuen Anlauf, die Verhandlungen über einen Verhaltenskodex voranzutreiben. Doch die Positionen in zentralen Fragen sind weit auseinander. Aristyo Darmawan vom International Law Center for Sustainable Ocean Policy an der Universität von Indonesien nennt vier zentrale Streitpunkte (2021): die geographische Reichweite eines Abkommens, seine rechtliche Verbindlichkeit, die Etablierung von Verfahren zur Kontrolle der Einhaltung und die Streit­schlichtung. Nach Auffassung der meisten Beobachter*innen wäre zudem eine Anerkennung des Schiedsspruchs des UN-Seegerichtshofs durch China und damit die Anerkennung internationalen Rechts notwendig. Trotz der schleppenden Fortschritte sieht der Publizist Bill Hayton (2021) aber auch Positives: Seit einem Jahrzehnt sei es weder zu bewaffneten Zusammenstößen noch zur Besetzung weiterer Sandbänke oder Riffe gekommen.

Zudem beansprucht die ASEAN für sich die zentrale diplomatische Rolle in Südostasien und dem westlichen Pazifik, unter anderem als Dialogforum zu sicherheitspolitischen Themen für die beteiligten Staaten. Dagegen würde in einem neuen Kalten Krieg ein »Sicherheitsdialog«, der von Industrieländern und Staaten außerhalb Asiens dominiert wird, die Position und Bedeutung der ASEAN schwächen – und damit den regionalen Multilateralismus entwerten. AUKUS ist ein aktuelles Beispiel für eine solche Spaltung der ASEAN-Länder: Malaysias Premierminister Ismail Sabri Yaakob und Indonesiens Außenministerium zeigten sich tief besorgt über den Beitrag zu einem Wettrüsten in der Region durch die Lieferung von atomar angetriebenen U-Booten, der Außenminister der Philippinen begrüßte den Schritt als Beitrag zur „Wiederherstellung und Erhaltung des Gleichgewichts“ (South China Morning Post vom 21. September 2021), Vietnam, Singapur und Thailand haben es weitgehend vorgezogen, dazu zu schweigen.

Walden Bello (2021) schlägt vor, angesichts der Eskalation, die die Einigungsbemühungen gefährdet, solle ­ASEAN die Initiative ergreifen, um zu erreichen, dass sich sowohl die USA als auch China militärisch zurückziehen. Dann könnten sich die unmittelbar Beteiligten untereinander zusammenraufen. Eine derartige Demilitarisierung würde, so die Hoffnung, die Möglichkeit für positivere Beziehungen zwischen China, den einzelnen Ländern und ­ASEAN eröffnen, um „gemeinsam die Ressourcen des Südchinesischen Meeres zu nutzen und das einmalige Ökosystem zu schützen.

Anmerkungen

1) Verteidigungsministerin Annegret Kramp-­Karrenbauer wird in der South China Morning Post vom 15. September 2021 zitiert, die Europäische Union sollte eine „dauerhafte Präsenz“ in der Region etablieren.

2) Der hier zitierte Text von 2012 gibt immer noch einen guten Überblick über die Lage der Konflikte allgemein.

3) Übrigens haben die USA, die sich zur Verteidigung des internationalen Rechts berufen fühlen, anders als China UNCLOS bislang nicht ratifiziert.

4) Beruhigend allerdings die Einschätzungen von Militärexperten in einem kürzlich erschienenen Bericht in der South China Morning Post vom 29. September 2021. Demnach bemühen sich die Einsatzkräfte vor Ort, den versehentlichen Ausbruch eines Konflikts zu vermeiden. Collin Koh von der S. Rajaratnam School of International Studies in Singapur meint, dass die Zusammenarbeit zwischen den Militärs beider Seiten „sicherheitsbewusst und professionell“ sei, so wie es im Verhaltenskodex für ungeplante Zusammenstöße auf See (Code for Unplanned Encounters at Sea), der 2014 vereinbart wurde, vorgesehen sei.

5) Siehe South China Morning Post vom 29.09.2021: As China strengthens military, Asia-Pacific governments go defence shopping.

6) Beteiligte Länder sind neben der Volksrepublik China, Indien, Kasachstan, Kirgisistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan, neuerdings ist eine Aufnahme von Iran im Gespräch.

7) Indien ist unter anderem Mitglied von QUAD (»Quadrilateral Security Dialogue«), gemeinsam mit Australien, Japan und den USA.

Literatur

Seifert, A. (2012): Territorialkonflikte unter Palmen. Der Konflikt um die Spratley- und Paracel-Inseln. In: Wissenschaft und Frieden 2/2012-2, S. 15-18.

Campbell, K.; Andrews, B. (2013): Explaining the US ‚Pivot to Asia‘. In: Americas 2013/01, August 2013, Chatham House.

Hoering, U. (2018): Der Lange Marsch 2.0. ­Chinas Neue Seidenstraßen als Entwicklungsmodell. Hamburg: VSA Verlag.

Bello, W. (2021): West Philippine Sea and beyond: China, US must both stop destabilization. Philippine Daily Inquirer, 12.06.2021.

Darmawan, A. R. (2021): Towards a rigorous Code of Conduct for the South China Sea. East Asia Forum, 30.07.2021.

Hayton, B. (2021): After 25 Years, there’s still no South China Sea Code of Conduct. China’s reluctance has stifled diplomatic efforts – but they haven’t been futile. Foreign Policy, 21.07.2021.

Uwe Hoering publiziert zu den Auswirkungen der Globalisierung vor allem in Asien und Afrika (www.globe-spotting.de) und kommentiert die Belt and Road Initiative auf seinem Blog www.beltandroad.blog.

Gemeinsame Ziele?


Gemeinsame Ziele?

Die Europäische Union und ihr Umgang mit China

von Andreas Seifert

Das Wort »Einigkeit« kommt nicht in den Sinn, wenn es in der EU um China geht – selbst die Bezeichnung »unterschiedliche Positionen« wäre schon eine diplomatische Formel. Im Umgang der EU mit der Volksrepublik (VR) China stehen selbst geübte Rhetoriker*innen vor der Herausforderung, die weit auseinander liegenden Ansichten noch geschmeidig auf eine glaubhafte Position zu bringen. Der Artikel betrachtet die Herausforderungen im europäischen Umgang mit China und hält fest: Eine EU, die ihre eigenen Differenzen nicht überwinden kann, wird sowohl an der Gestaltung eines positiven Verhältnisses zu China, wie zum Rest der Welt, scheitern.

China ist auf der Weltbühne zurück, hat sich seit den späten 1970er Jahren zu einem ökonomischen Schwergewicht entwickelt und ist zu einem der größten Handelspartner Europas angewachsen. Die Bewältigung globaler Aufgaben, wie der Umgang mit dem Klimawandel oder die Beseitigung weltweiter Armut sind heute ohne die VR weder denk- noch machbar. In den letzten zehn Jahren spitzten sich dabei Handels- und Ressourcenkonflikte immer öfter zu. Grund genug, danach zu fragen, wie sich die Europäische Union positioniert und welchen Einflüssen sie dabei unterliegt.

In Vielfalt geeint?

Die EU-Parlamentarier*innen haben in verschiedenen Beschlüssen seit der Niederschlagung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz 1989 eine kritische Position gegenüber der Regierung in Beijing aufgebaut und gewahrt. Dem Beschluss des EU-Rates von 1989, ein Waffenembargo1 zu verhängen, hat sich das Parlament inhaltlich voll angeschlossen und auch Debatten über dessen Aufhebung immer wieder kritisch begleitet und abgewehrt. Die Besuche des Dalai Lama im Parlament und deutliche Kritik an der Minderheitenpolitik haben dazu beigetragen, das Parlament als einen Ort politischer und moralischer Grundsätze (gegenüber China) zu markieren.

Zuletzt hat sich der Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments (EP) im Juni 2021 intensiv mit der VR befasst. Auf dieser Sitzung wurde aber nicht nur eine Vorlage zu China, sondern auch gleich eine zu Taiwan2 und Russland3 parallel diskutiert – ein Zeichen, dass man hier durchaus einen Zusammenhang erblickt, der eine gemeinsame Diskussion erfordert. In ihrem Berichtsentwurf4 versucht die liberale Abgeordnete Hilde Vautmans nichts weniger als den Entwurf einer neuen China-Strategie, die auf sechs Säulen stehen soll: 1) Offener Dialog über globale Herausforderungen; 2) Engagement für Menschenrechte durch wirtschaftlichen Einfluss; 3) Analyse der Bedrohungen und Herausforderungen; 4) Aufbau von Partnerschaften mit gleichgesinnten Partnern; 5) Förderung offener strategischer Autonomie; 6) Verteidigung grundlegender europäischer Interessen und Werte durch Umwandlung der EU in einen geopolitischen Akteur.

Die Ausführungen zu den einzelnen Säulen sind dabei von zwei Ideen durchzogen: (1) China sei eine Herausforderung für die EU und sein Handeln und Auftreten widerspräche den europäischen »Werten« und »Interessen«; zudem bilde (2) die EU keine Einheit gegenüber China und einzelne Staaten seien blauäugig/blind gegenüber der Herausforderung, die China für die Welt und die EU darstelle.

Letztlich wird im Bericht gefordert, sich sicherheitspolitisch in einer Front mit der NATO zu platzieren und eine strategische Autonomie der EU auf allen Ebenen und in allen Feldern aufzubauen, die eine konzertierte Antwort auf die VR ermöglicht. Die Gestaltung der Beziehungen zu China wird somit zum Anlass genommen, die Disziplinierung der Mitgliedstaaten unter eine einheitliche Linie der EU-Kommission zu fordern und die Bildung einer Verteidigungsunion voranzutreiben.

Man könnte argumentieren, dass es diese Tendenz im Parlament schon immer gegeben hat, eine größere Einheitlichkeit in der EU zu fordern und die pathetisch vorgetragene »europäische Idee« mit mehr (auch militärischem) Leben zu füllen – umgekehrt ist der Widerstand gegen genau diese Idee auch im Parlament mit abgebildet und zeigt sich auch in den Änderungsanträgen zu diesem Entwurf.5 So wird hier und da eine Schippe mehr Moral daraufgelegt und die Wortwahl in der Charakterisierung der Zustände in China und auch im Verhältnis Chinas zu einzelnen Staaten ein bisschen verschärft. Zum anderen werden aber auch Grenzen aufgezeigt, wie weit eine »Bevormundung« der EU-Staaten durch die Kommission erfolgen darf und es werden Elemente des Lobes für China eingefügt, die den Grundtenor aufweichen. Und selbstverständlich bleibt auch die Idee der Verteidigungsunion, die die militärischen Fähigkeiten der Mitgliedsstaaten bündeln soll, nicht unwidersprochen bestehen.

Strategische Souveränität

Auf der Ebene der Kommission war man lange vorsichtig, sich selbst zu China zu äußern. China als einer der großen Handelspartner der EU – insbesondere der großen Staaten innerhalb der EU – wurde politisch milde behandelt. Die EU-Kommission war der Ort, wo mithilfe von Regulationen und Vorgaben der »Schutz« der europäischen Industrien organisiert wurde. Die von der Kommission erlassenen Vorschriften und Qualitätsstandards sollten die Marktmacht chinesischer Unternehmen (und die anderer Länder) beschneiden und europäische Anbieter schützen. Gemeinsam mit China erstellte Listen, wie die über den Schutz geografischer Bezeichnungen vom Ende letzten Jahres6, sind dabei eher die Ausnahme. In der Regel waren es in den letzten Jahrzehnten Qualitätsvorgaben und Prüfkriterien, die aufstrebende chinesische Unternehmen vom direkten Einstieg in den europäischen Markt ausgeschlossen hatten. Dass solche Regularien auch Anbieter aus der EU trafen und nur bestimmte Unternehmen in bestimmten Ländern schützten, zeigt das Dilemma einer solchen Politik auf. In China sah man die Kommission und ihren Hohen Vertreter kaum als Teil des diplomatischen Gepräges, vielmehr als bürokratische Verlängerung europäischer Nationalstaaten: der örtliche Vertreter der Kommission war eben kein Botschafter. Dieses geringe Profil in allen Feldern außerhalb des Handels war dabei durchaus auch etwas, was die europäischen Staatschefs so wollten und sich nicht nur gegenüber China zeigte.

Die EU-Kommission begnügte sich lange damit, den kleinsten europäischen Konsens wiederzugeben, oder sich gleich mit den Zielen der großen Staaten der EU und ihrer nationalen Industrieagenden zu identifizieren. Eingespannt zwischen einem auf Menschenrechte pochenden Parlament und pragmatisch auf den eigenen Vorteil bedachten Nationalstaaten festigte sich in der Brüsseler Bürokratie ein funktionales Verhältnis zu Werten und Normen: Sie sind vor allem dann gute Argumente, wenn andere Staaten »auf Linie« gebracht werden sollten, wenn dies aber nicht gelingt oder es sich als wirtschaftlich schädlich erweist, auf ihre Einhaltung zu bestehen, dann können Werte und Normen schnell zu protokollarischen Randnotizen gerinnen. Von Kritiker*innen auch als »das Pflegen doppelter Standards« benannt, reproduzierte die Kommission jedoch vor allem die Einstellungen der Regierungen der Mitgliedsstaaten, die im Europäischen Rat immer noch alle wesentlichen Entscheidungen zusammenbasteln.

Die Wirtschaftskrisen in Europa ab 2008, bzw. ab 2010 verschoben das Gleichgewicht innerhalb der EU weiter und auch das Ausscheiden des Vereinigten Königreiches aus den Strukturen hat die Konsensfindung nur in bestimmten Bereichen der EU-Politik vereinfacht. Mehr denn je tut sich die EU schwer damit, konsensual zu agieren. Vorschläge hierzu vorzutragen und ihre Umsetzung zu orchestrieren, fällt Kommission und EU-Ratspräsidentschaft immer schwerer. Der Idee, mithilfe einer »strategischen Souveränität« den EU-Institutionen mehr Gewicht zu geben und die nationalstaatlichen Einzelgänge zu reduzieren – gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik und gegenüber China – sind enge Grenzen gesetzt und sie misslingt immer wieder.

Dennoch hat sich die EU-Kommission 2019 in ihrem strategischen Ausblick zu China7 erstmals über den Minimalkonsens hinaus in der Triade von »Partner, Konkurrent und Systemrivale« geäußert und baut dieses Konzept seither aus. Der Vorstoß der Kommissionspräsidentin von der Leyen, die laut einem internen Bericht8 nur wenig Fortschritte im Verhältnis zu China erblickt und perspektivisch konstatiert, dass sich dies auch in absehbarer Zeit nicht ändern wird, wurde als Ball nur widerwillig aufgegriffen. Denn anstatt weiter die existierenden Unterschiede unter den Teppich zu kehren und an einer »strategischen Partnerschaft« festzuhalten, so ihr Vorschlag, müsse realistisch auf Chinas Entwicklung geblickt werden. Die Kommissionsspitze empfahl daher nun, den Schulterschluss mit den USA zu suchen – eine Festlegung, die bisher in den europäischen Staaten, der Kommission und im EU-­Parla­ment mehrheitlich und deutlich zu vermeiden versucht wurde. Die hieraus resultierende »Blockbildung« hätte weitreichende Folgen auch und gerade auch im Hinblick auf die Sicherheitspolitik.

Die Zuspitzung der Konfrontation zwischen den USA und der Volksrepublik China, die unter der Trump-Administration massiv an Fahrt aufgenommen hatte, wird mehr und mehr auch über Dritte, und so auch über die EU, ausgetragen. Dies alleine birgt schon enorme Risiken einer gegebenenfalls auch militärischen Eskalation. Mit der Sicherheitspartnerschaft zwischen Australien, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten (AUKUS), die im September 2021 ausgerufen wurde, ist auch ein neues Kapitel in den Chinesisch-Europäischen Beziehungen aufgeschlagen.9 Europa gerät immer mehr unter Druck, sich einer US-amerikanischen Eskalationspolitik gegenüber China anzuschließen, oder tatsächlich eigenständige Wege zu gehen – Wege allerdings, für die ein Konsens fehlt.

Viele Wege führen nach Beijing

Lange Zeit waren es die großen Industrienationen und deren industriepolitische Vorstellungen, die den Ton Europas gegenüber China angegeben hatten – eine Domäne insbesondere von Deutschland und Frankreich. Sie machten sich industrielle Interessen, beispielsweise der Auto- und Luftfahrtindustrie, zu eigen und hatten ein Interesse an einer zunehmenden Verregelung des Verhältnisses, um Gewinne und Umsätze abzusichern. Sich trotz viel berechtigter Kritik z.B. an Menschenrechten und Umweltproblemen, dennoch an ein positives Verhältnis zur VR zu klammern, wie es die Exportwirtschaft dieser Industriestaaten forderte, konnte als Synonym für die Politik der EU missverstanden werden.

In den kleineren Ländern der EU gab es demgegenüber andere Interessen am Verhältnis zu China. Einerseits waren die wenigsten Ökonomien so konsequent auf einen Export ausgerichtet, wie z.B. die deutsche, zum anderen waren ihre Industrien von dem selektiven Schutz, den die EU über ihre Normensetzung installierte, weit weniger abgedeckt und konnten nur bedingt davon profitieren. Die Kritik dieser Staaten an der EU-China-Politik ist demnach auch eine an den Mechanismen der EU selbst und den größeren Playern in der EU, von denen sie sich missachtet fühlen. Das beförderte die Tendenz, eigene bilaterale Lösungen mit China zu suchen und neue Formate abseits der EU-Linie zu kreieren, die ihnen die Möglichkeit bot, spezifische Interessen durchzusetzen. Das 2012 ins Leben gerufene Format 16+1 (bzw. 17+1: 11 (12) EU-Staaten + 5 Nicht-EU-Staaten vom Balkan + China) war bereits Ausdruck eines im Kern anderen Interesses an einem ökonomischen Austausch mit China.

Auch China hat ein Interesse an vornehmlich bilateralen Beziehungen zu einzelnen EU-Staaten, da aus seiner Sicht nur so passende Programme der Konnektivität in unterschiedlichen wirtschaftlichen Sektoren zu entwickeln sind. Bestes Beispiel hierfür ist dabei die Belt-and-Road-Initiative, die den engagierten Staaten Investitionen und Einbindung in neue Handelsströme in Aussicht stellt und beispielsweise von den Staaten des östlichen Europas, wie auch von Portugal deutlich enthusiastischer aufgegriffen wurde, als z.B. von Deutschland oder Frankreich. Dabei agiert China Analysen zufolge durchaus nicht nach einem oft unterstellten »Plan«, vielmehr ist es ein Austesten unterschiedlicher Optionen. Die Systematik dahinter, so analysiert Nadine Godehardt von der SWP, besteht in dem Versuch der Ausweitung der eigenen Diskursmacht, um zukünftig in der Gestaltung von Wirtschaftsbeziehungen einen Vorteil zu haben.10 Sie besteht hier darin, die Differenzen innerhalb der EU für eine chinesische Einflussnahme zu nutzen.

Einzelne Staaten sind dabei durchaus empfänglich für den impliziten Druck aus Beijing und passen z.B. ihr Abstimmungsverhalten in internationalen Organisationen und innerhalb der EU an die antizipierten Wünsche aus Beijing an.11 Zugeständnisse dieser Staaten im Bereich chinabezogener Politiken der EU sind damit auch ein Verhandlungspfand in anderen Bereichen der EU-Politik geworden. Das Beharren auf »Regelkonformität« oder einer »regelbasierten Weltwirtschaftsordnung« von Seiten der EU reicht heute scheinbar nicht mehr aus, um alle Staaten der EU auf eine einheitliche Linie gegenüber China zu bringen. Der Verweis auf gemeinsame Werte oder auf Menschenrechte hat als Kitt innerhalb der EU an Kraft verloren.

EU als geostrategischer Akteur

Will die EU als Akteurin überhaupt eine Rolle spielen, so muss sie sich zusammenraufen und sich in den wesentlichen Politikfeldern einigen – und das speziell im Umgang mit der Klimakrise und der Bewältigung ihrer sozialen Folgen weltweit. Nur ein überzeugendes Programm hierzu kann die Grundlage für einen Umgang mit anderen Akteuren weltweit sein. Die bisherigen Konstrukte, die vor allem darauf abzielen, den Wohlstand in Teilen Europas zu erhalten und in anderen vielleicht sogar auszubauen, reichen hier nicht aus. Ein positiver Beitrag wäre auch, militärische Mittel und Drohgebärden zur Durchsetzung partikularer Interessen auszuschließen. Waffenproduktion und Waffenexporte zu unterbinden kann ein wichtiger Bestandteil hiervon sein – der Verzicht auf eigene militärische Kapazitäten würde darüber hinaus Ressourcen sparen und das weltweite Risiko bewaffneter Zusammenstöße reduzieren. Darüber hinaus bleibt aber festzuhalten: Eine EU, die ihre eigenen Differenzen nicht überwinden kann, wird sowohl an der Gestaltung eines positiven Verhältnisses zu China, wie zum Rest der Welt, scheitern.

Anmerkungen

1) Das Embargo gilt noch heute, wird aber in den EU-Staaten durchaus unterschiedlich ausgelegt, da der Beschluss zwar ein Embargo ausspricht, aber die VR nicht zu einem Embargo-Land im weiteren Sinne macht.

2) Entwurf eines Berichts über eine Empfehlung des Europäischen Parlament […] zu den politischen Beziehungen und der Zusammenarbeit der EU und Taiwan, 2021/2041, 23.4.2021.

3) Entwurf eines Berichts über eine Empfehlung des Europäischen Parlament […] zu der Ausrichtung der politischen Beziehungen zwischen der EU und Russland, 2021/2042, 5.5.2021.

4) Entwurf eines Berichts über eine neue China-Strategie der EU, 2021/2037, 30.4.2021.

5) Insgesamt stehen den fünf Seiten des Entwurfs 502 Änderungsanträge auf knapp 240 Seiten gegenüber.

6) EU-Council (2020): EU-China: Rat gibt endgültig grünes Licht für Abkommen über geografische Angaben, Pressemitteilung, 23.11.2020.

7) Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat, EU-China – Strategische Perspektiven, JOIN (2019) 5 final, 12.3.2019.

8) Kolb, M. (2021): Bericht ohne Fortschritte, Süddeutsche Zeitung, 28.4.2021.

9) Siehe auch: Wagner, J. (2021): Die Geopolitik des AUKUS-Paktes, IMI-Analyse 42/2021, 24.9.2021.

10) Ausführlich: Godehardt, N. (2020): Wie China Weltpolitik formt. Die Logik von Pekings Außenpolitik unter Xi Jinping, SWP-Studie 19, 12.10.2020.

11) Bendiek, A.; Lippert, B. (2020): Die Europäische Union im Spannungsfeld der sino-amerikanischen Rivalität. In: Lippert, B.; Perthes, V. (Hrsg.), Strategische Rivalität zwischen USA und China, SWP-Studie 1/2020, S. 50-55, hier: S. 51.

Dr. Andreas Seifert ist Sinologe und Vorstandmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Tübingen.

Militär- und Atommacht China


Militär- und Atommacht China

Knappe Analyse des militärischen Profils

von Lutz Unterseher

China ist die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt. In den letzten Dekaden wurde stetig aufgerüstet und das technologische Niveau der Rüstungsgüter hat sich sehr gesteigert. Doch ist das Nuklearwaffen­arsenal immer noch um ein Vielfaches kleiner als das Russlands und der USA, vor wenigen Jahren noch war es nicht größer als das Frankreichs, weniger als 300 nukleare Gefechtsköpfe. Diese Asymmetrie ist im Gesamtzusammenhang von militär­strategischen Überlegungen, zur Verfügung stehenden Ressourcen und der Streitkräftestruktur als Ganzem zu erklären.

Die Weltbank gibt für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Chinas, in Kaufkraft gerechnet, bezogen auf das Jahr 2020 einen Umfang von gut 24,27 Bio. US$ an (Weltbank 2021). Auf dem zweiten Platz rangieren die Vereinigten Staaten mit ca. 20,94 Bio. US$. Bei den Militärausgaben liegen die USA jedoch vorn (Angaben für 2020): mit 778 Mrd. US$ zu »nur« gut 350 Mrd. US$ (kaufkraftbereinigt). Somit liegt der militärische Sektor Chinas etwas unter der Hälfte des US-amerikanischen Aufwands.

Bei der Truppenstärke zeigt sich ein gegenteiliges Bild. Während China fast 2,2 Mio. aktive Militärpersonen hat, sind es in den USA 1,4 Mio. (Mendelson 2021). Legt man die Militärausgaben auf die Truppen um, entfallen also in den USA viel mehr Mittel auf die einzelne Militärperson. Selbst wenn angenommen wird, dass in China die militärischen Personalkosten deutlich niedriger sind als in den USA, spricht dies für einen erheblich höheren Technisierungsgrad der US-Streitkräfte. Das lässt eine deutlich höhere Kampfkraft der US-Streitkräfte vermuten. Allerdings nur dann, wenn ausgeblendet wird, dass einige Kriegsszenarien unserer Tage eher robuste, einfache Strukturen und Ausrüstungskonzepte als Hochtechnologie verlangen.

In den USA machen die Militärausgaben 3,7 % des BIP aus, während es in China etwa 1,5 % sind. Dies spricht dafür, dass – zumindest bisher – die Führung in Beijing den Schlüssel zur Weltgeltung eher in wirtschaftlicher Macht gesehen hat als in militärischer Rüstung. Ebenso hat man in China vor einigen Jahren erkannt, dass direkte zivile Investitionen in eine Volkswirtschaft einen höheren Multiplikatoreffekt haben als der Umweg über die Rüstung (Chalmers 1985).

Gleichwohl hat sich das offizielle Militärbudget Chinas von 1994 bis 2014 um das Fünfzehnfache erhöht (Unterseher 2020, S. 27). Dabei hat sich der Anteil des Militärbudgets am Bruttoinlandsprodukt (BIP) nicht erhöht, der Anstieg folgte dem Gesamtwachstum des chinesischen BIP, das zeitweilig Raten im zweistelligen Bereich aufwies. Diese Zunahme hat sich sehr deutlich in der Ausstattung der Streitkräfte niedergeschlagen, wie im folgenden gezeigt werden wird.

Künftig dürfte das BIP Chinas moderater, aber doch deutlich schneller als beispielsweise das der USA wachsen, auch weil die Pandemie besser überwunden wurde. Vorausgesetzt ist innenpolitische Stabilität, die angesichts soziostruktureller Brüche nicht ohne Fragezeichen ist. Aus Sicht der chinesischen Führung braucht China nur abzuwarten. Wegen des höheren Gesamtwachstums werden in 15 Jahren die Streitkräfte Chinas wohl absehbar die am besten alimentierten der Welt sein.

Atomwaffen und Atomwaffenpolitik Chinas

China ist eine der fünf offiziellen Atommächte. Die landgestützten Träger von Atomwaffen stehen unter dem Kommando der Raketenstreitmacht der Volksbefreiungsarmee (People’s Liberation Army Rocket Force: PLARF) – mit einer Personalstärke von 120.000 (IISS 2019, S. 257). Diese hat auch operativen Zugriff auf die Kernwaffenträger, die in die See- und Luftstreitkräfte integriert sind. Die PLARF gliedert sich in 30 Brigaden, was für eine robuste Dezentralisierung spricht.Mit einer in der Fläche verteilten Dislozierung soll es offenbar einem Angreifer erschwert werden, das Abschreckungspotential auszuschalten. Hierzu passt, dass neuerlich erhebliche Anstrengungen unternommen werden, Langstreckenraketen „gehärtet“ unterzubringen: also in Silos (Sarcasticus 2021).

Hinzu kommen vier strategische Radar-Großanlagen und zahlreiche Stationen zur Verfolgung der Flugbahn. Schätzungen von SIPRI-Forschern ergaben, dass China 2019 über ca. 190 landgestützte Atomraketen verfügte (Kristensen und Korda 2019, S. 2): ein Sammelsurium von Typen zum Teil älteren Konstruktionsjahrs mit Reichweiten zwischen 1.750 bis 13.000 km

Jüngere Typen sind zum Teil landbeweglich. Es befindet sich eine Rakete mit Reichweiten zwischen 12.000 und 15.000 km in der Erprobung, die mehrere Gefechtsköpfe tragen kann und Penetrationshilfen zur Überwindung der feindlichen Abwehr aufweist. Mit ihr dürften zukünftig ältere Systeme in begrenzter Zahl ersetzt werden (Unterseher 2020, S. 65).1

Zum Atompotential zählten 2019 auch ca. 20 inzwischen modernisierte mittlere H-6-Bomber älterer sowjetischer Herkunft (bestückt mit je einer Kernwaffe) sowie vier Atom-U-Schiffe (besonders große U-Boote) mit zusammen bis zu 48 Raketen. Inzwischen werden die H-6-Bomber mit jeweils sechs weitreichenden nuklearen Marschflugkörpern DH 10 ausgestattet. Insgesamt gab es 2019 einschließlich einer Reserve etwa 290 Gefechtsköpfe (Kristensen und Korda 2019). Allerdings wurden für 2020 bereits 320 atomare Sprengsätze gemeldet (Sarovic 2020) und 2021 nennt eine Quelle sogar 350 (Statista 2021a).

Trotz dieses Anstiegs ist Chinas Atomarsenal bislang noch bescheiden. Vergrößerung und Modernisierung erscheinen als Stückwerk, als hätte dies nicht höchste Priorität. Das spricht dafür, dass die Führung bislang dem Konzept der Minimalabschreckung anhängt (Feiveson 1989): China geht davon aus, dass Kernwaffen nicht zur Kriegführung taugen, das Konzept der Eskalationskontrolle samt »Enthauptungsoptionen« also irrig ist, womit Atomwaffen einzig eine Rückversicherung gegenüber atomarer Bedrohung bieten können.

Die USA und Russland dagegen verfügen trotz einiger Abrüstungsschritte immer noch über große Arsenale: jeweils zwischen 5.500 und 6.300 Sprengköpfen insgesamt sowie jeweils um 1.550 für den »sofortigen Gebrauch« (Sarovic 2020).

Für eine chinesische Orientierung am Konzept der Minimalabschreckung spricht auch die fehlende strategische Raketenabwehr, die zu einem Nuklearwaffenarsenal für Zwecke der Kriegführung gehören müsste, um es in seinen Optionen noch glaubwürdiger zu machen (Sloss 1989). Entwicklungsarbeiten in dieser Richtung lassen sich jedenfalls nicht erkennen.

„In Peking wird befürchtet, die von Washington betriebene Entwicklung von Kapazitäten zur Aufklärung, Überwachung und zum ‚conventional prompt strike‘ sowie der Aufbau von Raketenverteidigungssystemen könne die chinesische Zweitschlagsfähigkeit gefährden“ (Rudolf 2018, S. 18). Darum ist wohl eine vorsichtige Vergrößerung des strategischen Arsenals Chinas im Gange (ebd., S. 19). Sie geht einher mit Modernisierung und Diversifizierung: Raketen auf U-Schiffen, Wirkungssteigerung der landgestützten sowie Flexibilisierung der luftgestützten Mittel (Goldstein 2019a, S. 4ff): eine »Triade« nach US-Vorbild – doch auf niedrigerem Niveau.

Die Konventionelle Komponente

Der PLARF unterstehen nicht nur Atomwaffenträger, sondern auch ballistische Raketen mittlerer (80 Systeme) und kürzerer Reichweite (200) sowie landgestützte Marschflugkörper (30), die konventionell bewaffnet sind. China hätte die Ressourcen, um atomar deutlich aufzurüsten. Doch wird der Schwerpunkt erkennbar auf jene Elemente gelegt, von denen man Anwendbarkeit und realen Machtgewinn erwartet.

Die Landstreitkräfte schrumpften von gut drei Millionen in Uniform vor 40 Jahren auf knapp eine Million (IISS 1983, S 84, IISS 2019, S. 257). Dieser Prozess war mit Strukturverbesserungen verknüpft, wie der Einführung eines Brigade/Korps- statt des alten Regiment/Division-Systems.

Die technische Erneuerung jedoch kam nicht so schnell voran. China hat zwar nach den USA die zweitgrößte Panzerflotte im aktiven Dienst (Unterseher 2020, S. 113). Doch ist noch erst ein knappes Viertel davon als modern zu bezeichnen – ohne jedoch den westlichen Standard ganz zu erreichen. Bemerkenswert ist die Leistungssteigerung bei den Kampfschützenpanzern (Träger der »Panzerbegleitinfanterie«). Diese haben an Zahl stark zugenommen und einen hohen technologischen Standard erreicht (ebd., S. 40f.).

Wenn noch die mechanisierte Artillerie (»mechanisiert«: beweglich und gepanzert) vermehrt und weiter verbessert wird, sind die Voraussetzungen für den »Kampf der verbundenen Waffen« erfüllt – womit sich die Stoßkraft der chinesischen Landstreitkräfte bedeutend erhöhen würde. Zeitgemäß spielen luftverlegbare Kräfte und Spezialeinheiten eine zunehmend wichtige Rolle.

Zum Schutz eigenen Territoriums dürfte diese Streitmacht mehr als hinreichen. Dabei verrät die Dislozierung, dass es vor allem auch um die Sicherung des Machtzentrums geht. Erst danach scheinen Szenarien zu rangieren, die sich – in dieser Reihenfolge – auf Nordkorea, Taiwan, Vietnam und Indien beziehen. Die verschiedenen Gruppen von Armeen (bzw. Korps) sind entsprechend der angegebenen Brennpunkte bzw. Stoßrichtungen stationiert: in der Nähe Beijings und gegenüber den erwähnten Nachbarn. Dabei fällt auf, dass vor allem die Truppen in der Nähe des Machtzentrums, aber auch die in der Mandschurei (Richtung Korea) mehr schwere, gepanzerte Kräfte aufweisen als die in den anderen Stationierungsgebieten.

Die Seestreitkräfte, mit rund 250.000 Uniformierten, erneuern schrittweise ihre U-Flotte, wobei immer noch technische Hürden zu nehmen sind (beispielsweise bei der Geräuschdämpfung). Der Schwerpunkt lag bisher aber eher auf der Sicherung des weiteren Küstenvorfeldes durch modernste Raketenschnellboote als Voraussetzung für die Dominanz größerer Einheiten im Ost- und Südchinesischen Meer (vgl. Hoering in dieser Ausgabe) – sowie darüber hinaus bis hin zur weltweiten Präsenz. Das heißt, dass man eine »sichere« Basis geschaffen hat, von der aus weiterreichende Ambitionen zu realisieren sind.

Seit 2012 verfügte China über einen Flugzeugträger (Unterseher 2020, S. 45ff., 108f.), inzwischen hat die Volksrepublik zwei Flugzeugträger in Dienst, mindestens ein weiterer ist im Bau. Während in China 2019 zehn Zerstörer vom Stapel liefen, waren es in den USA nur einer sowie allerdings noch sechs kleinere neuartige Schiffe für den küstennahen Kampfeinsatz (»Littoral Combat Ships«). Ab 2020 lief der chinesischen Marine eine Serie von sieben »Superzerstörern« im Kreuzerformat (Typ 055) zu, die für weltweite Operationen geeignet sind. Die im Ausbau befindliche Marine-Infanterie – weit kleiner als die US-Marines – scheint auf die Küsten Taiwans, aber auch Vietnams, sowie die Inseln im Südchinesischen Meer hin orientiert zu sein.

China verfügt bisher nur über einen Stützpunkt im Ausland – Dschibuti am Indischen Ozean zur Sicherung der Afrika-Route, während die USA hunderte solcher Vorposten betreiben. Dies dürfte frustrierend sein, strebt man doch offenbar langfristig eine weltweite maritime Präsenz an (Goldstein 2019b). Es gibt also einen empfundenen Nachholbedarf Chinas, der eine expansive Außenpolitik erfordert.

Die Luftstreitkräfte, mit einer Personalstärke von ca. 400.000, haben die weltweit zweitgrößte Flotte von taktischen Kampfflugzeugen. Starkes Augenmerk gilt den Jagdbombern bzw. Mehrzweckflugzeugen (Unterseher 2020, S. 53f.). Hier wurde mit dem Typ J-10 technologisch Weltniveau erreicht. Dieses Potential ist eine Herausforderung für alle Anrainer. Diese liegen innerhalb des Aktionsradius des chinesischen taktischen Luftpotentials. Es mangelt allerdings noch an weiträumiger Vernetzung und Luftbetankungskapazität, um etwa auch für US-Fliegerkräfte bedrohlich zu sein.

Die bodengestützte Flugabwehr ist stark, womit angezeigt wird, dass die Luftstreitkräfte auf Balance achten, sich also nicht nur dem Angriffsdenken und seinen Risiken verschreiben. Ein Lenkwaffentyp dürfte nach Verbesserungen zur Bekämpfung taktisch-operativer ballistischer Raketen geeignet sein.

Cyber War und Weltraum-Aktivitäten

Das chinesische Konzept für den Informationskrieg ist das der ganzheitlichen Koordination von Land-, See-, Luft-, Weltraum- und elektromagnetischen Komponenten. Seit 2008 sind größere militärische Übungen Chinas durch integrale Elemente des Cyber Warfare gekennzeichnet. 2015 wurde die SSF (Strategic Support Force) geschaffen, sie verfügt über 120.000 Militärpersonen (IISS 2019, S. 258f.).

Diese hat vermutlich drei Säulen, deren erste der Informationsbeschaffung im Cyber Space zum Zweck militärischer Planung dient. Die zweite ist für Operationen im Weltraum zuständig und nutzt dazu Erdsatelliten unterschiedlicher Funktion, während die dritte mit offen­siver wie defensiver elektronischer Kriegsführung sowie Aufklärung befasst ist. China hat dazu mittlerweile über hundert Erdtrabanten für den vorwiegend militärischen Gebrauch (ebd., S. 259): sechs Kommunikationssatelliten, mehr als 30 zu Zwecken von Navigation bzw. Orts- und Zeitbestimmung, fast 50 für die strategische Radar- und Infrarot-Aufklärung sowie weitere Satelliten mit ELINT/SIGINT-Aufgaben (Electronic/Signal Intelligence).

Perspektiven für Rüstungs­kontrolle und Abrüstung

Zumindest verbal ist das Land bereit, „alle Fragen der strategischen Stabilität, nuklearer Risiken und Abrüstung zu erörtern“. Dennoch beteiligt sich Beijing beispielsweise nicht an den Wiener Verhandlungen über eine Nachfolgevereinbarung zum New-Start-Vertrag der USA und Russland (Krüger 2020, S. 2).

Dass Chinas Atomarsenal keinerlei Kontrolle unterliegt, stößt international auf Kritik. Allerdings wäre es höchst problematisch, wenn im Zuge der Beteiligung an Verhandlungen der Volksrepublik eine begrenzte »Nachrüstung« zugestanden würde. Das wäre Rüstungskontrolle, die Abrüstung sabotiert. Vor allem, wenn mit dieser Aufrüstung die Hinwendung Chinas zum wahnwitzigen atomaren Kriegführungsdenken einherginge.

Bleibt die konventionelle Ebene: Auch hier sind die Chancen für ein Einlenken Beijings in Rüstungskontrollverhandlungen eher schlecht. China verwendet das große Potential, neben der innenpolitischen Funktion, zur Machtprojektion in der Region und darüber hinaus. Der völkerrechtswidrige Anspruch auf das Südchinesische Meer ist für Beijing nicht verhandelbar. Kaum vorzustellen auch, dass man mit Taiwan Rüstungskontrollverhandlungen führt, die ja dessen Unabhängigkeit unterstreichen würden.

Anmerkung

1) Seltsam ist, dass Flüssigkeits- und Feststoffantrieb immer noch koexistieren, auch bei neueren Modellen – erhöht doch Feststoffantrieb die Reaktionsfähigkeit der Flugkörper erheblich.

Literatur

Chalmers, M. (1985): Paying for Defence: Military Spending and British Decline. London: Pluto.

Sarovic, A.(2020): SIPRI-Jahresbericht: Forscher warnen vor neuem Atomwettrüsten. Der Spiegel, 15.06.2020.

Feiveson, H. (1989): Finite Deterrence. In: Shue, H. (Hrsg.): Nuclear Deterrence and Moral Restraint, Cambridge: Cambridge University Press, S. 271-292.

Goldstein, L. (2019a): Why a new missile arms race with China might not be worth the cost. The National Interest, 20.12.2019.

Goldstein, L. (2019b): Why China Wants its Navy to Patrol the Atlantic Ocean. Is this a problem for Washington? The National Interest, 25.12.2019.

Mendelson, B. (2021): Die Länder mit den größten Armeen, Handelsblatt, 10.05.2021.

IISS (1983): The Military Balance 1983-84, Oxford: Oxford University.

IISS (2019): The Military Balance 2019-2020, Oxford: Oxford University.

Kristensen, H. M. Korda, M. (2019): World Nuclear Weapon Stockpile, Waterloo/Ontario: Ploughshares.

Krüger, P.-A. (2020): Schlachtfeld Weltraum, Süddeutsche Zeitung (online), 28.07.2020.

Rudolf, P. (2018): Abschreckung in der Ära neuer Großmachtrivalitäten. SWP-Studie, 11.05.2018.

Sarcasticus (2021): Chinas Silomania, Das Blättchen, Ausgabe 21/11.10.2021.

Sloss, L. (1989): The case for deploying strategic defenses, In: Shue, H. (Hrsg.): a.a.O., S. 343-380.

Statista (2021a): Atomwaffen – Anzahl weltweit, Statista Research Department (online).

Unterseher, L. (2020): Militärmacht China. Berlin: Lit.

Weltbank (2021): GDP, PPP, online unter: data.worldbank.org.

Lutz Unterseher, Soziologe und Politologe, war sicherheitspolitischer Berater und hat an Universitäten sowie Militärakademien im In- und Ausland gelehrt. Sachgebiete u. a.: Militärtheorie, NS-System.

Respektierte Großmacht?


Respektierte Großmacht?

China im globalen Machtgefüge

von Wolfgang Müller

China ist eine Großmacht. Der Westen versucht, das aufsteigende China als aggressive und imperialistische Macht abzustempeln. Doch welche eigenen internationalen Ambitionen lassen sich aus den politischen und ökonomischen Aktivitäten Chinas erkennen? Der Beitrag versucht eine knappe Einordnung von Chinas Stellung im globalen Machtgefüge – ein Blick auf eine eher »nach Innen« und auf wirtschaftliche Prosperität und Ressourcensicherung ausgerichtete Großmacht.

Die Lage ist angespannt: Viele sprechen schon von einem neuen Kalten Krieg zwischen dem jetzigen Hegemon USA und China. China sei nicht nur auf dem Weg zu einer neuen Supermacht, es wolle sein Modell auch in die ganze Welt exportieren. Damit sei die freie Welt, gemeint ist der Westen, in Gefahr. Chinas Wende zu mehr Autokratie sei eine Herausforderung für die Welt, so die Financial Times in einem Kommentar 2019.1 Zweifellos ist China demnächst die führende Wirtschaftsmacht und politisch und auch militärisch eine Großmacht. Auch wenn dies für Beobachter*innen im Vergleich zur sozioökonomischen Situation des Landes noch vor weniger als fünfzig Jahren durchaus erstaunlich ist, aufgrund der Größe des Landes und seiner Bevölkerungszahl ergibt sich diese Position mehr oder weniger zwangsläufig. Anders wäre das nur bei weitgehender Abschottung des Landes. Zudem haben die marktwirtschaftlichen Reformen eine dynamische Kapitalakkumulation in Gang gesetzt. Längst haben die chinesischen Kapitalgruppen die nationalen Schranken für ihre Profitmacherei hinter sich gelassen. Aber ist die Volksrepublik deswegen eine neue aggressive imperialistische Supermacht, eine Bedrohung für den Rest der Welt?

Chinas Vorgehen speziell in Asien lässt sich als Versuch beschreiben, das regionale Umfeld präventiv zu kontrollieren, zum Schutz seiner territorialen Integrität und der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung. Es ist eine weitgehend defensive Einflussnahme, gerichtet auf enge Beziehungen zu den Nachbarländern. Weil China viel größer ist als die meisten Länder in seiner Umgebung und mittlerweile eine um ein Vielfaches höhere Wirtschaftskraft hat, bringt diese Einflussnahme auch Abhängigkeiten mit sich – zuvorderst ökonomische, aber auch politische. Daraus einen aggressiven chinesischen Imperialismus zu konstruieren, geht an den Realitäten vorbei. Denn China hat bislang keine Versuche unternommen, sich Länder in Asien oder anderen Erdteilen gefügig zu machen, also etwa Regimewechsel zu inszenieren. Der einzige Militärstützpunkt außerhalb des Landes im afrikanischen Dschibuti dient westlichen Analysen zufolge allein dem Schutz chinesischer Handelsschiffe vor der Piraterie am Eingang zum Roten Meer.2 Aber schon allein aufgrund seiner Größe, seiner Bevölkerungszahl kombiniert mit seiner wirtschaftlichen und technologischen Stärke, ist China ein viel gefährlicherer Konkurrent für die USA, als es andere Großmächte jemals waren. Irgendwann in den nächsten Jahrzehnten wird sich auch die chinesische Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung der der USA annähern. Dann wird die chinesische Wirtschaft um ein Mehrfaches größer sein als die der USA. Diese historische Kräfteverschiebung in der Welt wollen die USA möglichst verlangsamen. Deshalb die Propaganda von einem neuen Kalten Krieg.

Die globale Ordnung mitgestalten

Alle Belege für die angeblich zunehmend aggressive Außenpolitik Chinas beziehen sich auf Auseinandersetzungen, in denen die staatliche Souveränität Chinas berührt ist, in denen es zumindest aus Sicht der Regierung in Beijing um chinesisches Hoheitsgebiet geht. Das mag im Einzelfall strittig sein. Aber es gibt keine sichtbaren Versuche Chinas, trotz der wahrnehmbaren Aufrüstung der Marine, etwa international oder auch nur regional militärisch einzugreifen.

Der US-Ökonom Jeffrey Sachs beklagte die Behauptungen über Chinas angeblich aggressives Auftreten „ohne die leisesten Hinweise auf die aggressiven und expliziten Versuche der USA, China nach dem alten Lehrbuch der US-Außenpolitik einzudämmen. Die USA haben verschiedene Kriege gestartet, haben hunderte Militärbasen im Ausland, brechen einen internationalen Vertrag nach dem anderen, starten zunehmend schrille, einseitige Handels- und Technologiekriege gegen China, machen äußerst umstrittene Vorwürfe gegen China wegen der Covid-19-Pandemie ohne die behaupteten enormen Beweise. Sie fordern ihre Bündnispartner explizit auf, sich gegen China zu verbünden. Das gegenwärtige Drehbuch der US-Außenpolitik ist geprägt von dem Interesse der USA, ihre Vorherrschaft überall aufrechtzuerhalten.3

Auch ein Blick in Chinas »jüngere« Geschichte gibt keinen Hinweis darauf, dass Xi Jinping und die KPCh an der Umsetzung heimlicher Welteroberungspläne arbeiten. Eher das Gegenteil ist der Fall: War China noch im 18. Jahrhundert ein wirtschaftlich hoch entwickeltes Land (auf China und Indien entfiel die Hälfte der gesamten Wirtschaftsleistung der Welt), so wurde China im Zeitalter des Kolonialismus und Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert von den Kolonialmächten des Westens und später von Japan ausgeplündert. China war zum Spielball fremder Länder geworden. Aus dieser Position hat sich das Land seit 1949 befreit, ist vom »Armenhaus der Welt« zu einem Land mit bescheidenem Wohlstand für die Masse der Bevölkerung geworden und hat sich zur führenden Industrienation und demnächst größten Wirtschaftsmacht entwickelt. Nicht überall im Westen wird das bislang anerkannt.

China will als Großmacht respektiert werden

Das Narrativ von Xi Jinping zielt darauf ab, den Wiederaufstieg Chinas als eines großen, international wichtigen Landes plausibel zu machen. China will international als Großmacht respektiert werden, die zur Neugestaltung einer bislang US-dominierten Weltordnung beitragen will. Damit gilt zwar nicht mehr die früher von Deng Xiaoping propagierte Außenpolitik nach dem Motto: »Den Ball flach halten«. Doch »aggressive Supermacht« geht anders.

2017 gab Xi Jinping einen Hinweis auf Chinas langfristiges Denken, als er erklärte, China habe jetzt auch einen Fahrersitz in internationalen Angelegenheiten und wolle größere Beiträge für die Menschheit leisten. Das bedeutet nicht, Länder mit Chinas Modell vom »Sozialismus mit chinesischer Prägung« zu beglücken. Die KPCh will vielmehr sicherstellen, dass andere Mächte dem Land nicht in die Quere kommen. Die Regierung arbeitet daran, seine Diplomat*innen in einfluss­reichen Positionen in multilateralen Institutionen zu etablieren, sodass sie die globalen Regeln etwa über Internet-Governance oder über Menschenrechte mitgestalten können. Zudem nutzt die Regierung ihre Position im Sicherheitsrat der UN mittlerweile eigenständiger, als noch vor wenigen Jahren beobachtet – nimmt also eine gestaltende Rolle ein, auch wenn dies nicht von allen Seiten gleichermaßen begrüßt wird.

China hat also zweifellos internationale Ambitionen. Aber Wirtschaftsmacht zu sein allein reicht nicht aus, um aus einem Land eine »Supermacht« zu machen. Darauf hat der britische Historiker Adam Tooze hingewiesen. Es habe erst eine Umwälzung der globalen politischen Verhältnisse gebraucht, um den USA die Chance zu bieten, ihre industrielle und finanzielle Stärke auszuspielen. „Darin liegt der Unterschied zwischen Chinas Aufstieg und dem Aufstieg der USA. Die USA stiegen auf vor dem Hintergrund eines totalen Krieges, der Europas Militärmacht ausgelaugt hatte und der das perfekte Vehikel für Amerika bot, seine industrielle und technologische Stärke auszuspielen (…). Die USA beanspruchten die demokratische Führung in der Welt, als der Krieg alle traditionellen Standards der Legitimität untergraben hatte (…). Für China bietet sich keine solche Möglichkeit. Seine relative finanzielle und wirtschaftliche Stärke ist weit geringer als die der USA im frühen 20. Jahrhundert (…). Will Beijing zu einem neuen Kreuzzug für eine Modernisierung mit chinesischen Charakteristiken aufrufen? Sicher nicht4 China will in der Welt vor allem Geschäfte machen, Produkte aus den chinesischen Fabriken verkaufen, mit Auslandsinvestitionen neue Absatzmärkte erschließen und sich Zugriff auf Technologien sichern, um international wettbewerbsfähig zu sein. Außerdem will das rohstoffarme Land, das fast die Hälfte der Weltproduktion von Kupfer, Eisenerz, Seltenen Erden etc. verbraucht, seinen riesigen Rohstoffbedarf absichern. Geschäftliche Interessen dominieren also die chinesische Politik in den Ländern Afrikas und in anderen Regionen des globalen Südens. Dieser Zugriff Chinas auf Märkte, Arbeitskräfte und Ressourcen sollte genauso herrschaftskritisch und kapitalismuskritisch begleitet werden, wie das wirtschaftliche Gebaren anderer Staaten – einen aggressiven Imperialismus stellt es aber nicht dar.

Auch hinter dem von Xi Jinping 2013 angekündigten Projekt der »Neuen Seidenstraße«, die Ost- und Südasien, Europa und den Nahen und Mittleren Osten auf dem Landweg und maritim enger verknüpfen soll, stehen in erster Linie wirtschaftliche Überlegungen. Gleichzeitig ist die Initiative ein großes geopolitisches Programm, um die Distanzen zwischen Ost und West wesentlich zu verkürzen und China als vorherrschende eurasische Macht zu etablieren. Der britische Historiker Peter Frankopan hat darauf hingewiesen, dass mit dem Projekt der »Neuen Seidenstraße« auch die Jahrtausende alte Idee des eurasischen Großkontinents wiederbelebt wird. Langfristig könne sich das Zentrum der Weltwirtschaft vom Atlantik zurück nach Eurasien verlagern.5 Ob die chinesischen Strategen auch solche Gedanken hatten, ist eine andere Frage. Definitiv sichert China damit aber seine wirtschaftliche Einflusssphäre ab.

Neokoloniale Ambitionen?

Die USA unterstellen China neokoloniale Ambitionen in Afrika und Lateinamerika. Für die amerikanische Afrika-Expertin Deborah Braeutigam ist der Vorwurf des chinesischen Neokolonialismus in Afrika überzogen: „Der Kolonialismus hat totale politische Kontrolle bedeutet, für China ist das politische Element eher leicht.6 Afrika ist für China vor allem ein Versuchsfeld für die weitere wirtschaftliche Expansion und Sicherung der Rohstoffzugänge. Die Baukonzerne z.B. üben für Bauprojekte bei mittelgroßen bis großen Bauvorhaben; dort sind sie sehr wettbewerbsfähig. Aus afrikanischer Perspektive bringt Chinas Präsenz bei allen Risiken einzelner Projekte und von Korruptionsfällen, die auch öffentlich diskutiert werden7, handfeste Vorteile bei der Finanzierung und bei Ingenieurleistungen.

Vor allem aber bringt die Volksrepu­blik für die afrikanischen Staaten endlich Wahlmöglichkeiten im Handel und in den wirtschaftlichen Beziehungen. Der US-Ökonom Jeffrey Sachs beschreibt deshalb Chinas Engagement in Afrika als die „wichtigste Entwicklung für Afrika in dieser Generation“.8 Für den sam­bischen Ökonomen Dambisa Moyo, der in seinem Buch »Dead Aid« von 2011 die westliche Entwicklungshilfe an den Pranger gestellt hatte, hat sich „mit China das alte Narrativ von Geberländern und Empfängerländern massiv verändert (…). Afrikanische Länder brauchen Handel und Investitionen. Es ist gut, wenn China oder auch Indien, Türkei, Russland oder Brasilien neue Handels- und Investitionsmöglichkeiten für Afrika bringen.9

Die nach innen gewandte Großmacht

KPCh und Regierung sind weiterhin vorsichtig im Angesicht der riesigen Aufgabe, ein Land mit 1,4 Mrd. Menschen zu regieren. Die Größe und Komplexität Chinas setzt das politische System und die Entscheidungsträger*innen unter extremen Druck. Denn es gibt genügend Probleme im Land. So wird China zwar bald die USA überholen und die weltgrößte Wirtschaftsmacht sein. Für mehr als 120 Länder ist China jetzt schon der wichtigste Handelspartner. Kaufkraftbereinigt ist Chinas Wirtschaftsleistung schon seit Jahren höher als die der USA. Aber angesichts von 1,4 Mrd. Einwohner*innen relativiert sich dieser Vergleich. So ist pro Kopf Chinas Wirtschaftsleistung nicht höher als die von Mexiko oder der Türkei. Es ist also noch viel Luft nach oben. Die KPCh und die Regierung haben deshalb klare Prioritäten: Bis 2025 soll China zur Liga der Länder mit höherem Pro-Kopf-Einkommen aufschließen und bis 2050 zu den 30 reichsten Volkswirtschaften in der Welt gehören. Der Fokus ist also die weitere Entwicklung des eigenen Landes. Aber nicht der Aufbau eines weltweiten Imperiums mit Militärstützpunkten, Agenten und Truppen rund um den Globus, das die globale politische und militärische Dominanz der USA herausfordern soll.

Es besteht zudem die Gefahr einer permanenten strukturellen inneren Überdehnung und einer Überforderung des Systems und seiner Institutionen. Zum Beispiel ist die Bevölkerungsdichte im Osten und Süden des Landes sehr hoch, während der Westen und Südwesten – Regionen mit vielen ethnischen Minderheiten – dünn besiedelt ist. Das wirtschaftliche und soziale Gefälle zwischen einzelnen Landesteilen ist sehr hoch. Solche internen Widersprüche machen eine imperiale Rolle Chinas in der Welt sehr unwahrscheinlich. Die zentralen Interessen der chinesischen Politik sind die weitere Modernisierung des Landes, die politische Stabilität und der Erhalt des Regimes sowie die Einheit Chinas. Diese Prioritäten werden sich langfristig kaum ändern.

Für eine andere Globalisierung

China hat eine andere Vorstellung von Globalisierung als das westlich-liberale Projekt einer Welt, die vom Westen dominiert ist. Xi Jinping verteidigte die Globalisierung 2017 vor der in Davos versammelten globalen politischen und wirtschaftlichen Elite. Er beschränkte sich dabei aber auf die Aspekte der Globalisierung, von denen China profitiert, also den freien Handel. Gleichzeitig beharrt China in den internationalen Beziehungen auf dem Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder, anders als das liberale Projekt der Globalisierung, das Freiheit für das Kapital und gleichzeitig die Übernahme westlicher Werte und Demokratiemodelle impliziert. Xi Jinping insistierte auf Chinas Recht, seinen Entwicklungsweg selbst zu bestimmen. Sein Land habe sich nach seinen eigenen Bedingungen in das globale Wirtschaftssystem eingebracht und binnen einer Generation 600 Mio. Menschen aus der Armut befreit. „China steht zu seinen eigenen Bedingungen und Erfahrungen. Wir haben die Weisheit der chinesischen Zivilisation geerbt und lernen von den Stärken im Osten und Westen (…). Wir lernen, wir kopieren aber nicht von anderen. Wir formulieren unseren eigenen Entwicklungsweg durch kontinuierliches Experimentieren (…). Kein Land sollte den eigenen Weg als den einzig gangbaren Weg aufs Podest stellen“, zitierte die Financial Times den chinesischen Staatspräsidenten.10

In der Logik christlich geprägter, aggressiv-imperialer Welteroberungsstrategien ergibt die Angst vor China sogar begrenzten Sinn, denn wenn China zur größten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigt, dann muss das Land diesen westlichen Vorstellungen zufolge beinahe zwangsläufig ebenfalls auf politische und militärische Expansion setzen, den Westen herausfordern und die USA vom Thron stoßen. Dazu aber schreibt der Ökonom und frühere polnische Außenminister Grzegorz Kolodko 2020: „China will nicht andere Länder zu Feinden abstempeln (…). Es ist erstaunlich, aber China scheint besser zu verstehen, was gegenwärtig auf dem Spiel steht an der gegenwärtigen Kreuzung der Zivilisation.“11

China ist also im globalen Machtge­füge als wirtschaftliche Weltmacht mit enorm­em internationalen Einfluss mittlerweile klar platziert. Die Bedrohungsszenarien der westlichen Propaganda entspringen Ängsten im Westen, ins Hintertreffen zu geraten. Mit einer tatsächlichen, vor allem militärischen Bedrohung der Welt durch China hat all dies wenig zu tun. China muss in seinem primären Bemühen um die innere Stabilität, Regimesicherung und wirtschaftliche Absicherung verstanden werden – und für die Folgen mancher dieser Aspekte fair kritisiert werden. Die globale Angstmache vor einem neuen »Kalten Krieg« hilft hier allerdings niemandem – weder in China noch in den Zivilgesellschaften im Westen oder in den Ländern des globalen Südens.

Anmerkungen

1) Financial Times, 20.7.2019

2) Economist, 9.4.2016

3) Financial Times, 10.6.2020: Letter: US containment policy feeds into China tensions.

4) Financial Times, 24.5.2014: China cannot follow America´s route to world leadership.

5) Frankopan, P. (2015): Das Licht aus dem Osten: Eine neue Geschichte der Welt. Berlin: Rowohlt.

6) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.1.2018

7) Economist, 9.3.2019

8) Financial Times, 14.6.2017: Chinese investment in Africa: Beijing´s testing ground.

9) Financial Times, 25.6.2020: Letter: Africa needs capital and good policies, not aid.

10) Financial Times, 20.1.2017: China is shaping up to be a world leader on climate change.

11) Kolodko, G. (2020): China and the Future of Globalization: The Political Economy of ­China’s Rise. London: IB Tauris Publishers, S. 120.

Wolfgang Müller ist Sozialwissenschaftler und Informatiker und hat nach seinem Berufsverbot mehrere Jahre in Beijing gelebt. Für die IG Metall hat er die Beziehungen zu den chinesischen Gewerkschaften aufgebaut und organisiert seit über 10 Jahren Studienreisen mit dem Schwerpunkt Arbeitswelt in China. Im Frühjahr 2021 erschien im VSA Verlag sein Buch »Die Rätsel Chinas – Wiederaufstieg einer Weltmacht«.

»Projekt modernes China«


»Projekt modernes China«

Versuch einer Vermittlung Chinas im europäischen Kontext

von Chunchun Hu

China als »Zivilisationsstaat« ist in den kulturellen und theoretischen Prämissen des Westens oft nur schwer zu vermitteln – zu leicht wird in Erzählungen der »Bedrohung durch China« und andere Narrative eingestimmt. China jedoch durchlebt und erlebt einen Traditionsbruch fulminanten Ausmaßes, dem es durch die Neuverhandlung seiner moralisch-ethischen Grundverständnisse zu begegnen versucht. In diesem Text soll der Versuch unternommen werden, das »Projekt modernes China« aus einer kulturellen und historischen Warte zu betrachten und die Entwicklungen für eine europäische Leser*innenschaft einzuordnen.

Zugegeben: Es ist angesichts der derzeitigen Weltlage nicht unbedingt erkenntnisversprechend, sich ideell und wissenschaftlich im europäischen Kontext mit China zu beschäftigen, ohne es in einem schrillen und ideologisch gefärbten Licht geschehen zu lassen. Zu sehr überwiegt die Versuchung oder die Nervosität, in einer allgemein heraufbeschworenen „systemischen Rivalität“ (Rühlig 2021) zwischen einem sich als aufgeklärt, humanitär, wohltätig, nicht interessengeleitet verstehenden, liberal-demokratischen Westen und dem anscheinend autoritären, Regeln nicht einhaltenden, Menschenrechte verachtenden, sich im angsteinflößenden Tempo entwickelnden und nach Außen entsprechend selbstbewusster und aggressiver“ (Jerdén 2014) verhaltenden China rechtzeitig auf der sicheren und richtigen Seite des Ersteren zu stehen (Von Marschall 2021, Groitl und Viola 2021). Das Problematische an diesem Narrativ ist, dass die stichwortartig aufgelisteten Attribute, die hier China zugewiesen werden, dermaßen ambivalent und bigott sind, dass sie höchstens selbstreferentiell zur Verwendung in politischen Think-Tank- und Regierungspapieren des Westens geeignet sind, als Maßstab einer universellen Moralität – wie sie vom »Wertewesten« für sich beansprucht wird – dagegen kaum.

In diesem Sinne mag es von der Position eines Kulturwissenschaftlers betrachtet interessant sein, dass nicht wenige US-amerikanische Politikberater*innen und -wissenschaftler*innen medienwirksam an der »Theorie der chinesischen Bedrohung« (»Chinese Threat Theory«) arbeiten, gefolgt von europäischen Gleichgesinnten (vgl. auch Leutner in dieser Ausgabe). Die gesuchte und auch gefundene chinesische »Große Strategie« (»Grand Strategy«) erstens zur Verdrängung der US-amerikanischen Welthegemonie und zweitens zur Unterwerfung der gesamten Welt kann sich in China des sicheren Status der ­Science-Fiction- bzw. Polit-Thriller-Lektüre erfreuen (vgl. für solche »Theorien«: Pillsbury 2015, Scobell u.a. 2020, Doshi 2021).

China: Innenperspektive auf Kontinuität und Brüche

Aus dieser Fehldeutung ergibt sich für die seriöse wissenschaftliche Beschäftigung mit einer der ältesten Kulturen der Menschheit, die eine ununterbrochene zweitausendjährige Tradition offizieller Geschichtsschreibung aufzuweisen hat und deren kulturelles Selbstbewusstsein als selbstverständlich gilt, die Frage, die zugleich eine Herausforderung ist: Lässt sich China im europäischen bzw. west­lichen Diskurs überhaupt vermitteln?

Diese China-Frage hat ihre Wurzel im 19. Jahrhundert. Das direkte Aufeinandertreffen zwischen dem altertümlichen China und dem aufgeklärten und aufstrebenden Europa, das in den beiden Opiumkriegen seinen signifikanten Ausdruck fand (Lovell 2011), brachte das sinozentrierte Weltverständnis Chinas zum Kollaps. Unter dem Anpassungsdruck der von Europa vorgegebenen Moderne wurde und wird bis heute der Bedeutungsschwund der eigenen Kultur schmerzlich als geschichtlicher Bruch interpretiert. Eine pedantische, aber für traditionsbewusste Chines*innen zentrale Frage ist: Wie soll nach dem Untergang der mehr als zweitausend Jahre währenden dynastischen Geschichte die Genealogie Chinas, die sogenannten »Vierundzwanzig Dynastiegeschichten«, fortgeschrieben werden, und von wem? In dieser Frage bzw. der Beantwortung dieser Frage liegt der Schlüssel zur Legitimation des chinesischen Staates sowie zur kulturellen Identität Chinas, die es also zu verstehen gilt.

Denn seit dem bahnbrechenden Werk »Shiji« (»Aufzeichnungen der Chronisten«), das als die erste Geschichtsschreibung Chinas zwischen dem 2. und 1. Jahrhundert vor Christus entstanden ist, hat sich die Tradition entwickelt, dass eine neue Dynastie die Geschichte der voran- und untergegangenen Dynastie schreibt und sie sich somit in die Abfolge der legitimen Herrschaft einreiht. Anders als in Europa zeichnet sich die Kulturgeschichte am anderen Ende des eurasischen Kontinents durch ein sonderbares Bekenntnis zu und ein widerstandsfähiges Festhalten an der Idee der politischen, territorialen und kulturellen Integrität aus. Diese zwar imaginäre, aber historisch erlebte Idee von »China« hat im Laufe der Geschichte allen Perioden des Auf und Ab, der Einigung und Teilung, der Invasionen und Fremdherrschaften getrotzt und wurde wie ein Religionsersatz im ansonsten weitgehend areligiösen China gehütet. „Aus westlicher Sicht ist das heutige China so, als hätte das Europa des Römischen Reiches und Karls des Großen bis heute überdauert und würde nun versuchen, als ein einziger Nationalstaat zu funktionieren.“ (Pye 1990, S. 58) Diese scherzhaft anmutende Metapher hat in Wirklichkeit einen ernsten Kern.

Mit der langsamen Zerbröckelung und der unausweichlichen Auflösung des Kaiserreichs in den Jahren 1911/1912 verlor auch die konfuzianische Grundlehre, die mit ihrer Formel „nei sheng wai wang“ („Heiligsein im Inneren und Königlichsein im Äußeren“) zwischen individueller Bildung und sozialer Ordnung vermittelte und seit gefühlter Ewigkeit als staats- und kulturtragend galt, an Überzeugungskraft. Wehmütig müsste es einem konfuzianisch Gebildeten beim Anblick des gelebten Ideals ergangen sein: „Es gilt schon seit alter Zeit der Grundsatz, daß eine Beeinflussung der Welt durch Ausübung der wahren Tugend nur dann möglich ist, wenn zuerst die Staaten in Ordnung gehalten werden; man kann aber nur dann die Staaten in Ordnung halten, wenn in den Familien Ordnung herrscht; dies ist aber wieder bedingt durch die innere Vervollkommnung der Einzelnen.“ (Eucken und Chang 1922, S. 60, Zitat aus dem konfuzianischen Klassiker »Daxue«, der »Großen Lehre«) Drohte der Staat auseinanderzufallen – im China des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war es der Fall –, so wurden die Chines*innen zu „unbehausten Menschen“, wie Hans Egon Holthusen sprichwörtlich die conditio humana der Moderne (mit dem besonderen Blick auf die katastrophalen Folgen des Zweiten Weltkriegs) beschrieb.

An der Schwelle zur Moderne stand plötzlich jahrtausendelang Bewährtes zur Disputation: Würde China in seiner historisch gewachsenen Formation weiter bestehen können? Oder droht China das Schicksal anderer altertümlicher Großreiche, die in kleine, neu konstruierte Nationalstaaten zerfallen und selbst dadurch historisch geworden sind? Hat die chinesische Kultur überhaupt noch Wert, den ästhetischen ausgenommen?

Li Hongzhang (1823-1901), einer der wichtigsten Politiker und konservativen Reformer der Spät-Qing-Zeit, Seelenverwandter und Besucher Bismarcks, bezeichnete diese von der Bildungselite empfundene Erschütterung angesichts der umfassenden Überlegenheit der europäischen Kultur als eine „seit drei Jahrtausenden nicht gekannten Ausmaßes“ (Hu 2021, S. 48).

Dieses Krisen- bzw. Bruchbewusstsein hat verschiedene Lösungskonzepte hervorgebracht, die eines gemeinsam haben: den unbedingten Willen, der auch im Einklang mit der gefühlten Gesetzmäßigkeit der Geschichte stand, die Kontinuität der chinesischen Kultur in die Moderne zu retten. Das »Projekt modernes China« begann; dies bedeutet nichts mehr und nichts weniger als eine doppelte Mammutaufgabe: die synchrone Transformation von kulturellen und politischen Verhältnissen gleichermaßen, wobei die Unzulänglichkeit des seinerseits in der bis dato bekannten Welt geltenden universalistischen Anspruchs des Konfuzianismus überwunden und eine souveräne Antwort auf die umfassende Herausforderung durch die westliche Moderne gefunden werden sollte (Wang 2016, S. 41ff.). Nur in diesem historischen Kontext und Spannungsverhältnis zwischen Bruch und Kontinuität lässt sich das China des 20. und des 21. Jahrhunderts mit all seinen Widersprüchen adäquat verstehen und deuten.

Zum Beispiel bedeutete die politische Transformation vor allem die Suche nach einer neuen Staatsform, die an die Stelle des Kaiserreichs treten und die Integrität des Kaiserreichs dennoch bewahren sollte. Nach einer kurzen Phase der Verwirrung – fast alle Teile des Reichs hatten sich autonom bzw. unabhängig erklärt und waren in bürgerkriegsähnliche Zustände verwickelt – hat sich die konstitutionelle Republik durchgesetzt. Damit ist nur eine Teillösung erreicht. Denn die Republik hat zwar die Form des staatlichen Gebildes geliefert. Ideell und damit substanziell stand sie aber auf fragilem Fundament: Gesinnungsrichtungen und Ideologien aller Couleur, die von revolutionär-radikalen und liberalen über kulturkonservative bis hin zu utopischen reichten, waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter der chinesischen Bildungselite zu finden. Diese Gesinnungsrichtungen konkurrierten miteinander um die Gestaltung des zukünftigen China. „Alle politischen Fragen seit der späten Qing-Dynastie haben ihren Ursprung in der Transformation der Ideen in der ganzen Welt“ (Wang 2016, S. 92). Weimarer Verhältnisse lassen grüßen.

Die spätere Auseinandersetzung zwischen Nationalist*innen und Kommunist*innen, die auch mit Waffengewalt ausgetragen und zu Gunsten der Letzteren entschieden wurde – mit der Ausnahme der letzten Zuflucht der Ersteren auf Taiwan –, ist auf den Wettstreit um die Deutungshoheit über das »Projekt modernes China« zurückzuführen. Die große Transformation der Verhältnisse betraf aber auch die Menschen und deren Zugehörigkeit – also die kulturelle Transformation. China ist im Prozess der modernen Transformation zwar die politisch-territoriale Integrität gelungen. Aber konnte aus den einstigen Untertanen des Kaisers ein modernes Staatsvolk (»Nation«) mündiger Bürger und Bürgerinnen werden, das sich auch zu diesem Staat bekennt? Dass nicht nur ein gesamt­nationales Bewusstsein, sondern auch viele Formen der regionalen, ethnischen, religiösen, sozialen und anderer Identitäten parallel und nicht selten im Widerstreit zueinander entstanden oder immer noch im Entstehen sind, zeigt die Schwierigkeit eines verspäteten und nachzuholenden »Nation-building«. Die neu zu begründende Nation musste gleichzeitig auch der alten Idee von »China«, der zufolge Vielfalt in der Einheit und Anerkennung des konfuzianischen Wertesystems erlaubt war, angepasst werden.

Adaption oder Befreiung vom westlichen Diskurs?

Gewillt oder gezwungen: Das moderne China ist ohne ideelle Befruchtung durch den Westen und ständiges Sich-Messen am Westen undenkbar. Diese Westen-fixierte Sichtweise gleicht aber einem zweischneidigen Messer: Sind die chinesischen Fragen genuine Fragen von China, oder sind sie nur vom Westen ausformulierte Fragen über China, die wiederum von Chines*innen rezitiert werden?

Denn hinter dieser Frage verbirgt sich ein kollektives Unterbewusstsein im westlich dominierten China- bzw. Moderne-Diskurs. In Anlehnung an Edward Saids Konzept des »Orientalismus« wird inzwischen vom »Sinologismus« gesprochen (Gu 2013), also von „oft unbewussten erkenntnistheoretischen und methodologischen Annahmen, die die verborgene Logik der westlichen Diskurse über China bilden“ (Miller 2013, S. XVI). Damit wird aber mehr gefordert als Selbstreflexion des Westens. Denn einige diskursive Paradigmata, in denen vor allem westliche Erfahrungen mit der Geschichte und Moderne zum universellen Maßstab erhoben werden, müssen in Bezug auf China einer kritischen Überprüfung unterzogen werden.

Zum Beispiel verdient die akademische Diskussion darüber mehr Beachtung, ob das moderne China seine Staatlichkeit weiterhin auf Konzepten wie »Nationalstaat« aufbauen soll, obwohl dieses europäisch geprägte Konzept eine verhängnisvolle Rolle in der Weltgeschichte gespielt und im chinesischen Kontext immer noch viele Adaptionsprobleme aufzuweisen hat. Eine bekannte These wird inzwischen zum geflügelten Wort: „China ist eine Zivilisation, die vorgibt, ein Staat zu sein.“ (Pye 1990, S. 58) Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei chinesischen Intellektuellen (Zhang 2012, Wang 2014).

Ein »Zivilisationsstaat« – im Gegensatz zum Konzept des »Nationalstaats« – würde unter anderem bedeuten, dass die schwierige Richtungssuche im Prozess zur Erschaffung eines modernen China, die in den Bürgerkriegen und politischen Kampagnen ein hohes Opfer gefordert hat, doch konzeptionell bedingt sein könnten, und dass dem vormodernen und traditionsreichen chinesischen Selbstverständnis mehr Rechnung getragen werden sollte. Ein solches Verständnis wird in der Forschung als »Kulturalismus« beschrieben, „der auf einem gemeinsamen historischen Erbe und der Akzeptanz gemeinsamer Überzeugung­en beruht, und nicht als Nationalismus, der auf dem modernen Konzept des Nationalstaats basiert.“ (Harrison 1969, S. 2) Nach diesem Verständnis gleicht China einer selbstgenügsamen Welt, in deren Ordnungssystem »Tianxia« (»alles unter dem Himmel«, Zhao 2020) die chinesische Kultur einen unangefochtenen, universalistischen Charakter hat. Auch der Sicherung des inneren Friedens wird in einem großdimensionalen Zivilisationsstaat hohe Priorität eingeräumt im Gegensatz zum Nationalstaat, der sich dem Wesen nach durch Ausgrenzung der »Anderen« definiert.

Daraus lässt sich ein weiteres Beispiel herleiten, das die Frage nach der Bestimmung des politisch-wirtschaftlichen Systems Chinas stellt. Hierzu zeigt sich eine große Diskrepanz zwischen dem subjektiven Anspruch, der nicht frei von ideologischem Einfluss ist, und der objektiven Deskription. In der Verfassung der Volksrepublik wird China als ein „sozialistischer Staat der Diktatur des Proletariats“ definiert, in der Wissenschaft dagegen überwiegend als ein meritokratisch und autoritär organisiertes System mit einer staatskapitalistisch gelenkten Wirtschaft, das sich erstaunlich anpassungs- und lernfähig zeigt. Dies auch verstehen zu wollen, ruft nach theoretischer Horizonterweiterung jenseits der dichotomen Denkmuster »Kapitalismus vs. Sozialismus/Kommunismus« oder »Plan- vs. Marktwirtschaft«. In diesem Sinne erlebt der Konfuzianismus nach dem Abebben des kommu­nistisch-revolutionären Elans und gemäß der seit der Reform- und Öffnungspolitik gewonnenen Erfahrungen mittlerweile eine neue Bewertung. In einer neuen Variante des Konfuzianismus, die durch westlich-demokratische Elemente erweitert wird, sehen nicht wenige Intellektuelle ein nötiges Korrektiv für das westlich definierte, inzwischen aber ins Dysfunktionale gekippte Projekt der Moderne (u.a. Bai 2020). Die politische Legitimation nach dem egalitär-elitären Prinzip „of the people, for the people, but not by the people“ (Bai 2020, S. 34-52) wäre in dieser Perspektive der bessere mittlere Weg zwischen Ideal und Realität.

Die gemeinsame Herausforderung

Wohin das »Projekt modernes China« steuert, hat der amerikanische Sinologe Benjamin Schwartz schon früh erahnt. Am chinesischen Frühaufklärer Yan Fu (1854-1921), der die geistige Welt des modernen Europas nach China vermittelte, stellt Schwartz die Ankunft Chinas in der Moderne fest. Es ist ein Befund, der den Nerv der öst-westlichen Annäherung und Entfremdung trifft:

„Indem sie sich mit diesen Problemen befassen, haben Yan Fu und China bereits das unbekannte Meer der modernen Welt betreten, in dem wir alle schwimmen. Das Problem des Verhältnisses zwischen der faustischen Religion des grenzenlosen Strebens nach Reichtum und Macht und der Verwirklichung gesellschaftspolitischer Werte – und noch grundlegenderer menschlicher Werte – bleibt für uns genauso ein Problem wie für sie.“ (Schwartz 1964, S. 60)

Dabei konzentrierte sich Schwartz auf das Wesentliche und das Verbindende: die Moderne ist, ohne dass man sich ihrer Formation und ihres Ausgangs bewusst ist, die alternativlose Destination sowohl für den Westen als auch für China. Die anderen kulturell bedingten Denk- und Verhaltensmuster haben sich dem Wesentlichen unterzuordnen. Und dieses Wesentliche ist Abgrund und Höhenflug zugleich, faustisch und ideal. Indem Schwartz einerseits dieses moderne, um ein Vielfaches beschleunigte und grenzenlose Streben nach Reichtum und Macht herausarbeitet und andererseits auf den Willen des Menschen zum Guten hinweist, eine Überzeugung, die ebenfalls modern geprägt ist, sollte man sich eines gewiss sein: Das Verständnis vom »Projekt modernes China«, das in seinem Wesen zum Projekt Moderne gehört, ist nur die andere Seite des Verständnisses vom Westen.

Literatur

Bai, T. (2020): Against Political Equality. The Confucian Case. Princeton, Oxford: Princeton University Press.

Doshi, R. (2021): The Long Game. China’s Grand Strategy to Displace American Order. New York: Oxford University Press.

Eucken, R.; Chang, C. (1922): Das Lebensproblem in China und in Europa. Leipzig: Quelle & Meyer.

Groitl, G.; Viola, L. A. (2021): Die strategische Rivalität mit China. In: Overhaus, M. (Hrsg.): State of the Union. Langfristige Trends in der US-amerikanischen Innen- und Außenpolitik und ihre Konsequenzen für Europa, SWP-Studie 6, Berlin, S. 32-35.

Gu, M. D. (2013): Sinologism. An Alternative to Orientalism and Postcolonialism. London, New York: Routledge.

Harrison, J. (1969): Modern Chinese Nationalism. New York: Hunter College of the City of New York, Research Institute on Modern Asia.

Hu, C. (2021): Von der Utopie zur Wirklichkeit. Die Kommunistische Partei Chinas wird 100. WeltTrends. Das außenpolitische Journal, Nr. 179, S. 48-52.

Jerdén, B. (2014): The Assertive China ­Narrative: Why It Is Wrong and How So Many Still Bought into It. The Chinese Journal of Inter­national Politics, S. 47–88.

Lovell, J. (2011): The Opium War. Drugs, Dream and the Making of China. Basingstoke/Oxford: Picador.

Von Marschall, C. (2021): Große Mächte und ihre Interessen im Indopazifik. Der Tagesspiegel, 18.09.2021.

Miller, J. H. (2013): Foreword. In: Gu (2013): a.a.O., S. XIV-XIX.

Pillsbury, M. (2015): The Hundred-Year Marathon. China’s Secret Strategy to Replace America as the Global Superpower. New York: Henry Holt and Company.

Pye, L. W. (1990): China: Erratic State, Frustrated Society. Foreign Affairs 69(4), S. 56-74.

Rühlig, T. (2021): Aktionsplan China und Außenpolitik. Was Deutschland tun muss, um im Systemwettbewerb mit China zu bestehen. In: DGAP Bericht, September 2021.

Scobell, A.; Burke, E. J.; u.a. (2020): China’s Grand Strategy. Trends, Trajectories, and Long-Term Competition. RAND Corporation.

Wang, H. (2014): China from Empire to Nation-­State. Cambridge, London: Harvard University Press.

Wang, H. (2016): China’s Twentieth Century. Revolution, Retreat and the Road to Equality. Edited by Saul Thomas. London, New York: Verso.

Zhang, W. (2012): The China Wave. Rise of a Civilizational State. New Jersey, Shanghai and Singapore: World Century Publishing Corporation.

Zhao, T. Y. (2020): Alles unter dem Himmel: Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung. Berlin: Suhrkamp.

Chunchun Hu ist Associate Professor an der Shanghai Academy of Global Governance & Area Studies, Shanghai International Studies University und Direktor des Programms Europastudien.

Alte Klischees neu konfiguriert


Alte Klischees neu konfiguriert

Die Konstruktion Chinas als Bedrohung

von Mechthild Leutner

Das Bild eines für die Welt bedrohlichen Chinas ist alt und voller rassistischer Konnotationen. Es entfaltet seine Wirkung vornehmlich im Zusammenhang mit globalstrategischen Überlegungen und dient der Legitimation von Konfrontation und Aufrüstung. Seit den 2000er Jahren wird ein »neues« Bedrohungsszenario entwickelt – mindestens auf drei Ebenen: China gilt als ökonomische, politisch-ideologische und militärische Bedrohung. Der Beitrag versucht die Entwicklung und die Konsequenzen dieses Narrativs nachzuzeichnen.

China als Gefahr für die Welt – dieses Narrativ knüpft an koloniale Feindbilder des 19. Jahrhunderts an, die China und Chines*innen als andersartig, „rassisch minderwertig“ und „halbzivilisiert konstruierten und die »Gelbe Gefahr«“ beschworen. Das Feindbild legitimierte die Expansion der imperialistischen Mächte, die in den Opium­kriegen 1840/41, 1858/60 und im Boxerkrieg 1900/01 ihre katastrophalen Höhepunkte hatte. Kaiser Wilhelm II. forderte in der berüchtigten »Hunnenrede« 1900: „Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! (…) Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen (…) sich einen Namen gemacht (…), so möge der Name Deutscher in China auf 1.000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“

Die Aggression des mit NS-Deutschland verbündeten Japan im Zweiten Weltkrieg knüpfte an die Kolonialzeit an, in Deutschland wurden Chines*innen diskriminiert. Der im Kalten Krieg in der Bundesrepublik virulente Antikommunismus führte zur Erweiterung des Bedrohungsnarrativs, siehe stellvertretend den Buchtitel »Die Gelbe Gefahr hat rote Hände. Ein Chinabericht aus dem Winter 1962/63« von Pieter van Blättjen (1963).

Das Feindbild China ist langlebig (Sommer 1991) und wird mit seinen kolonial-rassistischen Klischees immer wieder neu belebt (Suda u.a. 2020) – per politischem Diskurs, aber auch medial.1 Das zeigt sich diskursiv in der Dichotomisierung von Demokratie versus Diktatur, im Anspruch des Westens auf „kulturelle Hegemonie (Edward Said) und der Überzeugung von der Höherwertigkeit des eigenen Ordnungsmodells, während Chinas Entwicklungsmodell als Bedrohung des Eigenen konstruiert wird. Das »andere« Ordnungsmodell beunruhigt (Vogel 2019).

Systematische »Pflege« des Feindbilds

Das im kollektiven Gedächtnis verankerte Feindbild entfaltet in Wechselwirkung mit geopolitischen Interessen seine Wirksamkeit. Das gegenwärtige Bedrohungsnarrativ hat sich wesentlich unter dem Einfluss der USA durchgesetzt, die ihren globalen Führungsanspruch zu sichern suchen. US-Denkfabriken entwickelten dazu ab den 1990er Jahren eine entsprechende Strategie und erklärten die Menschenrechte zum außenpolitisch relevanten argumentativen Kernanliegen. Viele öffentliche Intellektuelle äußerten sich zu diesen Bedrohungsszenarien: Samuel Huntington schürte mit der These vom »naturgemäß zu erwartenden Kampf der Kulturen« Ängste; Zbigniew Brzezinski betrachtete 1999 die Ausdehnung des Einflusses Chinas als nicht hinnehmbar (so unter anderem in seinem viel zitierten Werk »The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives«); Bill Gertz von der evangelikalen Moon-Bewegung publizierte »The China Threat« (2000).

Mit der erfolgreichen Entwicklung Chinas wurde das Bedrohungsnarrativ ausgebaut, zumal das Land sich einer uneingeschränkten neoliberalen Transformation verweigerte. Präsident Obama leitete die Politik des »Pivot to Asia« ein. 2018 bestimmte Präsident Trump Russland und China als Priorität der US-Außenpolitik, noch vor dem »Krieg gegen den Terror«. China wurde zum »strategischen Rivalen« erklärt, ein Handelskonflikt und eine Debatte um einen neuen Kalten Krieg initiiert, wie sich dies in Schlagzeilen manifestierte: »Trump is preparing for a New Cold War With China« (»Trump bereitet sich auf einen neuen Kalten Krieg mit China vor«; The Atlantic, 27.2.2018). Die Politik der Eindämmung Chinas (»Containment«) wurde von amerikanischen Denkfabriken begründet und medial durchgesetzt.

Denkfabriken spielen auch in anderen Kontexten eine zentrale Rolle. Als „Architektin der Theorie von China als Bedrohung in Australien“ wird beispielsweise die australische Denkfabrik »Australian Strategic Policy Institute« (ASPI) genannt. Kaum zufällig wird ASPI vom australischen Verteidigungsministerium mit 4 Mio. US$ finanziert, weitere 5 Mio. US$ seines Budgets zahlen Rüstungsunternehmen, Technologiekonzerne sowie die NATO und die britischen und US-amerikanischen Außenministerien (Robin 2020). Auch in Deutschland wird China als ein »dem Westen« entgegengesetztes System konstruiert, welches »unsere« Freiheit und Demokratie in aggressiver Weise bedrohe und die bestehende Weltordnung infrage stelle (Jia u.a. 2021, S. 54); auch medial wird dieses Szenario in Szene gesetzt – so illustrierte schon 2004 ein die Weltkugel spaltender Drache ein Cover des ­SPIEGEL. Der Bedrohung müsse mit einer robusten Chinapolitik begegnet werden, um Deutschlands »Sicherheit, Wohlstand und Freiheit«, auch durch Auslands­einsätze, zu schützen (vgl. Major und Mölling 2021).

Elemente eines Feindbilds

Verschiedene Komponenten konstituieren das aktuelle Feindbild.

  • 2018 wurde das Diktum von der ökonomischen Bedrohung in den Diskurs eingespeist (Benner et al 2018; kritisch dazu: Rogelja/Tsimonis 2020, S. 103ff.): Aktivitäten chinesischer Unternehmen seien angesichts des feindlichen autoritären Regimes der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) eben nicht mehr nur ökonomische Konkurrent*innen auf dem Weltmarkt, sondern ein Sicherheitsrisiko und drohten, Menschenrechte und Demokratie zu unterminieren.

Die Corona-Pandemie und das Hongkonger Sicherheitsgesetz boten Anlässe, das Bedrohungsnarrativ um politische Komponenten zu erweitern.

  • Chinas weltweite Unterstützung mit Masken und Impfstoffen erfuhr eine Rahmung als »Masken-« bzw. »Impf­diplomatie«. Chinesische Diplomat*innen, die eine Politisierung der Pandemie kritisierten, wurden teils als aggressive „Wolfskrieger“ bezeichnet (Heide 2020), die Abhängigkeit Deutschlands von chinesischen Waren zum Sicherheitsinteresse erklärt.
  • Das Sicherheitsgesetz wurde als Verletzung des Völkerrechts, als „Warnung für den Westen“ (Brüggmann 2020) und in einer Linie mit Chinas aggressivem Vorgehen im südchinesischen Meer, den Drohgebärden gegen Taiwan, der brutalen Unterdrückung der Uiguren und den opportunistischen Versuchen, die Coronakrise für Einflusskampagnen zu nutzen“, präsentiert (SPIEGEL 2020).
  • Dies stützte das Diktum von der „angestrebten globalen Hegemonie Chinas“.2 China sei unter all den mächtigen Feinden von Menschenrechten, demokratischer Entscheidungsfindung und Rechtsstaatlichkeit „der vermutlich bedrohlichste dieser Feinde“, der die westlichen Demokratien „unterwandert“ und die Welt „lautlos erobert“ (Hamilton/Ohlberg 2020, Klappentext).

»Eroberung« verweist auf die militärische Komponente des Bedrohungsnarrativ.

  • Am 7. März 2021 titelte die FAZ „Verteidigungsministerium warnt vor Bedrohung durch China“ und zitierte Militärexperten der Bundeswehr zur „weltweiten Einflussnahme [Chinas], unter anderem bezüglich Rüstungsverkäufen und Militärkooperationen“.3
  • NATO-Generalsekretär Stoltenberg stellte China als „eine systemische Herausforderung“ dar. Seine Relativierung: „China ist nicht unser Gegner, nicht unser Feind“ und man stehe nicht vor einem neuen Kalten Krieg,4 wurde allerdings von einem der Axel Springer SE mehrheitlich zugehörigen Medium anders interpretiert: »China als neue Bedrohung: So will sich die Nato gegen die ehrgeizige Supermacht aufstellen« (Business Insider 2021). Inzwischen geraten verstärkt Taiwan und das südchinesische Meer in den Fokus. Eine mögliche Invasion Taiwans wird als „größte militärische Gefahr, die von China ausgeht“ postuliert.5
  • Die Durchsetzung des Militärpaktes AUKUS gilt nun folgerichtig als „new U.S. alliance responding to the Chinese threat” (Neue US-Allianz als Antwort auf die chinesische Bedrohung, Washington Post, 15.9.2021). China, nicht die USA und ihre Kriege, ist darin eine Bedrohung globaler Stabilität. Von „Einschüchterungs- und Erpressungspolitik“ in den Meeren des West-Pazifik durch China ist die Rede, der nicht mehr mit einer »Appeasement-Politik« begegnet werden könne (vgl. Winkler 2021).

Das Feindbild ist also gesetzt: China ist »strategischer Rivale« in einer globalen Systemauseinandersetzung und ökonomische, politische und militärische Bedrohung, da aggressiver Gegenpol eines demokratisch-liberalen westlichen Ordnungsmodells. Es wird getitelt: »Weltmacht China: Eine Bedrohung« (Süddeutsche Zeitung) und »Chinas Marsch nach Westen: Wie gefährlich die „Neue Seiden­straße“ wirklich ist«. Das Handelsblatt karikiert einen lächelnden chinesischen Staatspräsidenten, der auf der nördlichen Welthalbkugel ein Lasso nach Europa auswirft. Das Bild lehnt sich an eine alte Karikatur von Cecil Rhodes an, der breitbeinig auf dem afrikanischen Kontinent stehend Telegraphenlinien spannt und den britischen Kolonialanspruch verdeutlicht.6 Die Leichtigkeit, mit der kolonial-rassistische Karikaturen wieder aufgenommen werden, ist frappierend.

Die Folgen des Feindbildes: Aufrüstung und Drohungen

Das Feindbild China ist zu einer „ideologischen Hauptwaffe“ (Sommer 1991) bei der Festschreibung des globalen Führungsanspruches der USA geworden. Kritische Stimmen problematisieren die in Gang gesetzte Eskalationsspirale, verweisen auf unterschiedliche Interessenlagen von USA und Europa/Deutschland sowie auf mögliche Folgen des Feindbildes.

Schon jetzt haben Debatten um die Erhöhung der Rüstungsausgaben Auftrieb, ein für alle Staaten kostspieliges militärisches Wettrüsten hat eingesetzt, die Gefahr eines Krieges steigt. Die Entsendung des deutschen Kriegsschiffes »Bayern« in den Indo-Pazifik (vgl. Hoering in dieser Ausgabe) lässt Parallelen ziehen zum deutschen Ostasiengeschwader (1869-1914) an Chinas Küsten.

Das Feindbild dient zugleich der Selbstvergewisserung westlicher Höherwertigkeit und Relativierung eigener Probleme, z.B. in der Pandemie-Bekämpfung und beim Klimaschutz, und fungiert als soziales Stabilisierungselement. Die von evangelikalen Kreisen in den USA postulierte gottgegebene Mission zur Rettung Chinas, das »kommunistische« »Reich des Bösen«, kann zwar in Deutschland kaum mobilisieren, doch deutsche evangelikale Rechte wie Adrian Zenz haben das allerorten wiederholte Narrativ des repressiven chinesischen Staates und seiner globalen Bedrohung in essentiellen Teilen mit etabliert (vgl. Sachs 2020; Chin 2019).7 Bellizistische Töne finden sich auch bei Politiker*innen, die sich in der »Inter-Parlamentarischen Allianz zu China (Inter-Parliamentary Alliance on China)« zusammengeschlossen haben. Das Bedrohungsnarrativ wirkt sich zudem auf die asiatischen Communities im Westen aus. Seit Beginn der Corona-Pandemie 2020 ist auch in Deutschland vermehrt anti-asiatischer Rassismus zu beobachten, befeuert durch Diskussionen um mögliche Schuldzuweisungen an China. Abbildungen in den Medien stigmatisieren Masken tragende Chines*innen, asiatisch gelesene Menschen werden verbal attackiert, Kabarettisten verhunzen die chinesische Sprache.

Ins Visier der Protagonist*innen des Feindbildes geraten weiter auch diejenigen, die sich gegen die doppelten Standards der Bewertung und für Kooperation mit China einsetzen. Sie werden diskreditiert und eine skeptische Haltung zu Kooperationen mit China und Chines*innen (Stichwort »Gelbe Spione«) wird bemerkbar. Für die USA wird von manchen befürchtet, dass sich eine so starke Anti-China-Rhetorik entwickeln könnte, die mit der vorgeblich antikommunistischen Rhetorik der McCarthy-Ära vergleichbar wäre.8 Das gefährdet gemeinsame Projekte, dies umso mehr, als die Wirkung des Feindbildes China auch diejenigen in China schwächt, die sich für umfassende Kooperation einsetzen.

Nach dem Afghanistan-Rückzug titelte die New York Times „What Comes After the War on Terrorism? War on China?“ (07.09.2021). Der Autor, Thomas Friedman, warnte dringend davor, einem »Krieg« gegen China nun oberste Priorität zu geben – eine Warnung die wir ernst nehmen sollten.

Anmerkungen

1) Siehe auch minima sinica: Zeitschrift zum chinesischen Geist, 32 (2020), mit einem Dossier zum Thema China als Drohkulisse, hrsg. v. Roderich Ptak/Ylva Monschein, OSTASIEN Verlag 2021.

2) Menschenrechtspolitischer Sprecher der CDU, Michael Brand, in: Ismar und Wang 2020.

3) Noch ein Jahr zuvor hatte ein Militärexperte wegen seines im Verhältnis zu den USA und Russland geringen nuklearen Potentials eine militärische Bedrohung durch China ausgeschlossen; siehe Lüdeking 2020.

4) Hier zitiert nach SPIEGEL 2021.

5) So Francis Fukuyama im Interview mit dem Tagesspiegel, vgl. Schäuble und Lehming 2021.

6) Vgl. die originale Karikatur von Edward Sambourne: The Rhodes Colossus. Punch 1892.

7) Zenz sagte selbst: Ich spüre, dass Gott mich leitet, das zu tun“ (I feel very clearly led by God to do this“), in Wall Street Journal 2019.

8) Hier der ehemalige Botschafter Max Baucus im CGTN-Interview (CGTN 2020).

Literatur

Benner, Th.; Weidenfeld, J.; Ohlberg, M.; Poggetti, L.; Shi-Kupfer, K. (2018): Authoritarian Advance: Responding to China’s Growing Political Influence in Europe. Global Public Policy Institute and Mercator Institute for China Studies.

Brüggmann, M. (2020): Warnung für den Westen. Handelsblatt, 08.07.2020.

Business Insider Deutschland (2021): China als neue Bedrohung: So will sich die Nato gegen die ehrgeizige Supermacht aufstellen. 14.06.2021.

CGTN (2020): Former U.S. Amb. to China Max Baucus: Being constructive & honest could save U.S.-China relations. World Insight with Tian Wei,15.05.2020.

Chin, J. (2019): The German Data Diver Who Exposed China’s Muslim Crackdown. Wall Street Journal, 21.05.2019.

Hamilton, C.; Ohlberg, M. (2020): Die lautlose Eroberung. Wie China westliche Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet. München: DVA.

Heide, D. (2020): China schadet sich mit seiner aggressiven Außenpolitik selbst. Handeslblatt, 13.5.2020.

Ismar, G.; Wang, N. (2020): Auf Abstand, Tagesspiegel, 23.06.2020.

Jia Ch.; Leutner, M.; Xiao M. (2021): Die China-­Berichterstattung in deutschen Medien im Kontext der Corona-Krise. Studie im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung 12/2021, Berlin.

Lüdeking, R. (2020): 50 Jahre Atomwaffensperrvertrag. Ein Plädoyer für atomare Abrüstung und Nichtverbreitung in Zeiten der Coronapandemie. BAKS-Arbeitspapier 4/2020.

Major, C.; Mölling, Ch. (2021): Nach dem Rückzug kein Rückzug! Tagesspiegel, 12.09.2021.

Robin, M. (2020): The think tank behind Australia’s changing view of China. Financial Review, 15.02.2020.

Rogelja, I.; Tsimonis, K. (2020): Narrating the China Threat: Securitising Chinese Economic Presence in Europe. The Chinese Journal of International Politics 13(1), S. 103–133.

Sachs, J. (2020): Amerikas heilloser Kreuzzug gegen China. Aus dem Englischen von Sandra Pontow. Project-Syndikate.org, 05.08.2020.

Schäuble, J.; Lehming, M. (2021): Francis Fukuyama zu 9/11 und Afghanistan: „Die wirklichen Fehler wurden später unter Obama gemacht“. Der Tagesspiegel, 07.09.2021.

Sommer, G. (1991): Zur Relevanz von Feindbildern – am Beispiel des Golfkrieges. Dossier No.09, Beilage zu Wissenschaft und Frieden 3/1991.

SPIEGEL (2020): Ich werde die letzte Stimme der Hongkonger sein. Interview mit Nathan Law von Jörg Schindler. Der Spiegel, 8.8.2020.

SPIEGEL (2021): Nato stuft China als »systemische Herausforderung« ein. Der Spiegel, 14.06.2021.

Suda, K., Mayer, S.; Nguyen, Ch. (2020): Antiasiatischer Rassismus in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. (Anti-)Rassismus, No. 42-44, S. 39-44.

Vogl, D. (2019): Volksrepublik China. Zivilisationsanspruch und Wahrnehmung hybrider Bedrohung. Wissenschaft und Frieden 3/2019, S. 20-22.

Winkler, P. (2021): Neues Bündnis im Südpazifik: Australien wählt das Lager der Freiheit. Neue Zürcher Zeitung, 16.09.2021.

Mechthild Leutner ist emeritierte Professorin für Staat und Gesellschaft des modernen China an der Freien Universität Berlin. Sie hat zahlreiche Publikationen vorgelegt zur neueren und neuesten Geschichte Chinas, zu den deutsch-­chinesischen Beziehungen und zur Wahrnehmung Chinas.