Chinas »Global Civilization Initiative«

Chinas »Global Civilization Initiative«

Friedenspolitische Überlegungen im Wertespektrum von Demokratie und Freiheit

von Doris Vogl

Die »Global Civilization Initiative« ist die neueste politische Kampagne der VR China mit internationaler Ausrichtung. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Initiative erscheint notwendig, erhebt sie doch den Anspruch, zu Weltfrieden und zivilisatorischem Fortschritt der Menschheit beizutragen. Kann sie dies erfüllen und welche Widersprüche bestehen? Welche unterschiedlichen internationalen Reaktionen auf die Initiative lassen sich beobachten? Wie ist der innerchinesische Diskurs dazu?

Vor einigen Monaten wurde in Beijing die sogenannte »Global Civilization Initiative« (GCI) präsentiert. Diese hat im Vergleich zu Chinas »Global Development Initiative« und »Global Security Initiative« bislang wenig internationale Beachtung erfahren. Das mag dem Umstand geschuldet sein, dass bis zum jetzigen Zeitpunkt noch kein offizielles GCI-Konzeptpapier des chinesischen Außenministeriums vorliegt. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Initiative erscheint jedoch keineswegs verfrüht.

GDI, GSI, GCI – die geopolitische Signatur Chinas

Die »Global Civilization Initiative« ist das jüngste Puzzleteil im Gesamtbild rezenter politischer Kampagnen der VR China mit internationaler Ausrichtung. Diese begannen mit der Global Development Initiative (GDI), die während der 76. UN-Generalversammlung im September 2021 lanciert wurde. Die unmittelbare Perzeption in den UN-Strukturen war überwiegend positiv, zumal die Zielsetzungen des GDI-Konzeptpapiers weitgehend punktgenau auf die Agenda der 2030 SDGs (»Sustainable Development Goals«) abgestimmt waren.1 So etwa weist das UN Department of Economic & Social Affairs die GDI als UN-Partnerschaft aus.

Ein halbes Jahr später – im April 2022 – wurden von China die Inhalte einer »Global Security Initiative« (GSI) skizziert, das entsprechende Konzeptpapier sollte jedoch erst im Februar 2023 nachfolgen.2 Beijing verzögerte die Publikation des Dokuments, um bei der Finalisierung der GSI-Prinzipien diverse internationale Reaktionen zu berücksichtigen. Als jüngste Initiative wurde von der Staatsführung der VR China nun im März 2023 die »Global Civilization Initiative« in diskursiven Umlauf gebracht (Xinhua News 2023). Das offizielle Konzeptpapier lässt noch auf sich warten.

Die Schicksalsgemeinschaft der Menschheit

Zum besseren Verständnis der Zivilisationsinitiative ist zunächst ein Blick auf ihre theoretische Einbettung hilfreich. Diese lautet: Die Global Civilization Initiative (GCI) sei – ebenso wie GDI und GSI – eingebunden in das überwölbende Konzept der »Community with a Shared Future for Mankind« (chin.: renlei mingyun gongtongti, wörtliche deutsche Übersetzung: Schicksalsgemeinschaft der Menschheit).3 In der politischen Kommunikation Beijings wird unermüdlich auf diesen theoretischen Überbau hingewiesen.

Zahlreich sind allerdings jene Stimmen, die der »Schicksalsgemeinschaft der Menschheit« lediglich den Nennwert eines inhaltsleeren Schlagwortes zuschreiben. Zwei Fakten sprechen jedoch gegen eine Bewertung der »Schicksalsgemeinschaft der Menschheit« als simples Propaganda-Schlagwort. Zum einen wurde das Konzept im März 2018 in die Präambel der Verfassung der VR China aufgenommen; im September 2023 wurde vom Staatsrat ein entsprechendes Weißbuch publiziert (Staatsrat der VR China 2023). Zum anderen ist in der Volksrepublik seit Jahren ein lebhaft geführter, interdisziplinärer Diskurs zur Thematik zu beobachten (vgl. Jiang 2021, Wang und Ling 2020, Liu und Zheng 2018, Ding und Cheng 2017). Beides weist darauf hin, dass sowohl politische als auch akademische Eliten innerhalb des chinesischen Systems dem Konzept einer »globalen Schicksalsgemeinschaft« einen durchaus gewichtigen theoretischen wie auch realpolitischen Stellenwert zuschreiben.

Hingegen treffen im internationalen Außenverhältnis die Bemühungen Beijings, den Terminus »Community with a Shared Future« in der diplomatischen Diktion zu verankern, auf erheblichen Widerstand. Als Hauptargument wird angeführt, dass die eigentliche strategische Zielsetzung Chinas – unter dem Deckmantel globaler Solidarität und Verbundenheit – der Aufbau einer Neuen Weltordnung unter hegemonialer Zwangsausübung durch die VR China sei (vgl. dazu Havrén 2023, Doshi 2021, Rolland 2020).

Die »Global Civilization Initiative«

In den Konzepten der Globalen Entwicklungsinitiative (GDI) und Globalen Sicherheitsinitiative (GSI) nimmt der kulturelle Aspekt eine nebensächliche Rolle ein. Die Globale Zivilisationsinitiative hingegen beruft sich auf das gedankliche Fundament kultureller Diversität und Gleichstellung. Anstelle von Kultur wird jedoch der Topos »Zivilisation« ins Zentrum gerückt. Die vier offiziellen Kernbotschaften der Initiative lauten:

  • China tritt für die Diversität von Zivilisationen auf gleicher Augenhöhe ein.
  • Ebenso befürwortet China die gemeinsamen Werte menschlicher Zivilisation. Diese lauten: Friede, Entwicklung, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit.
  • Das historische Erbe sowie die innovative Kraft von Zivilisationen werden von China als äußerst wichtig eingeschätzt.
  • In diesem Sinne fördert China inter-zivilisatorischen Dialog und kulturellen Austausch.

Die obigen Kernbotschaften sind an die Weltöffentlichkeit gerichtet, dennoch wird China ebenso im Innenverhältnis bezüglich der tatsächlichen Umsetzung selbiger Prinzipien gemessen. Und genau hier drängen sich unweigerlich Widersprüche zu verfassungsrechtlichen Verpflichtungen der VR China auf.4 Insbesondere die Politik kultureller Zwangsassimilierung muslimischer Bevölkerung5 der Autonomen Region Xinjiang-Uighur mittels obligatorischer Schulungsprogramme mit Zwangsinternierung steht im Mittelpunkt China-kritischer Berichterstattung.

Mit Blick auf die Minderheitenpolitik Chinas erscheint der Autorin im Kontext der Zivilisationsdebatte ein Argument von besonderer Relevanz: In der ethnologischen wie auch ethno-historischen Literatur wird den nomadisierenden Steppenkulturen der Weltgeschichte eine eigenständige »zivilisatorische« Kategorie zugesprochen. Daraus folgt, dass wenngleich eine große Mehrheit der mongolischen, uighurischen, kasachischen oder kirgisischen Minderheiten in der VR China des 21. Jahrhunderts sesshaft leben, sie doch – völlig unabhängig von der chinesischen Zivilisation – auf eine ebenso beeindruckend lange Zivilisationsgeschichte von mehr als drei Jahrtausenden zurückblicken.6

Vor dem Hintergrund chinesischer Real­politik im Innenverhältnis nun ein Blick auf die Ausrichtung der Zivilisationsinitiative im Außenverhältnis: In der zweiten Kernbotschaft sind als gemeinsame Werte menschlicher Zivilisation „Friede, Entwicklung, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit“ genannt. Es überrascht keineswegs, wenn „Entwicklung, Gleichheit und Gerechtigkeit“ in der Auflistung den beiden Werten „Demokratie und Freiheit“ voranstehen. Diese Rangordnung zeichnet sich sinngemäß bereits in der GDI und GSI ab und entspricht der von China vertretenen Position in der Menschenrechtsdebatte.

Beijing betont mit Nachdruck, die Globale Zivilisationsinitiative sei letztlich als globale Friedensinitiative zu verstehen. Deshalb sei »Friede« als gemeinsamer Wert menschlicher Zivilisation an erster Stelle angeführt. Dieser pazifistischen Ambition steht allerdings mancherorts eine kritische Bewertung der Positionierung von »Demokratie und Freiheit« als Schlusslichter zivilisatorischer Werte der Menschheit entgegen. So etwa widerspricht Taiwan dieser Schlusslicht-Positionierung auf offizieller Ebene mit einem Gegenentwurf (Sioco 2023), worin Freiheit und Demokratie an vorrangiger Stelle als Werte menschlicher Zivilisation angeführt werden.

Mit Veröffentlichung des GCI-Konzeptpapiers wird sich erwartbar die kontroverse Wertedebatte auch in Europa fortsetzen. In anderen Regionen dieser Erde mag jedoch diese »Friedensinitiative« Chinas überwiegend positiv aufgenommen werden; diese Überlegung darf nicht unerwähnt bleiben.

Einblicke in den chinesischen Diskurs

Abgesehen von starker Divergenz in der Werte-Orientierung ist noch ein weiterer Faktor für eine negative Perzeption der Zivilisationsinitiative in Europa verantwortlich. Hier ist die zunehmend laut vorgetragene Kritik Chinas an westlicher Friedenspolitik in UN-Gremien und anderen internationalen Organisationen zu nennen:

„Die liberale Friedensarbeit (peace building) geht davon aus, dass internationale Intervention ein Privileg westlicher Staaten ist und nicht-westliche Staaten als Interventionsraum fungieren. Es wird vorausgesetzt, dass westliche Expert*innen über Wissen, Technologien und Mittel zur Problemfindung verfügen. Durch Verunglimpfung der nicht-westlichen Welt als rückständiges und turbulentes »Gegenüber«, haben diese Akteure erfolgreich den »Entwicklungsdiskurs« kontrolliert, welcher sich in weiterer Folge zu einer »Diskurshegemonie« und »Diskursherrschaft« entwickelt hat.“ (Li 2022, S. 47)

Die Frage westlicher »Diskurs-Hegemonie« in den Bereichen Friedensförderung und Konfliktmanagement wird ebenso in der GCI-Forderung nach gleicher Augenhöhe im Umgang mit unterschiedlichen Zivilisationen adressiert.

Eine zusätzliche Problemstellung bei der Frage nach friedenspolitischen Konsequenzen der GCI ist die Haltung Chinas hinsichtlich »Einmischung in innere Angelegenheiten«. Hier besteht ein Widerspruch zwischen der Interpretation westlicher Friedenspolitik als »Intervention« einerseits und der äußerst großzügigen Bereitstellung chinesischer Kontingente für UN-Friedensmissionen andererseits. In diesem Sinne ist auch Chinas nachdrückliche Forderung nach »Diskursteilnahme« im Rahmen globaler Friedenspolitik zu verstehen.

Zweifelsohne steht die westliche Perzeption der Zivilisationsinitiative im Gegensatz zum chinesischen Diskurs: Im Globalen Norden wird die GCI als konfrontativ und offensiv wahrgenommen, China hingegen spricht von der Notwendigkeit einer friedenserhaltenden Reaktion auf das gegenwärtige konfrontative Weltgeschehen. Entlang dieser Argumentationslinie wird auf zunehmend rivalisierende Diskurse zum Zivilisationsgedanken in unterschiedlichen Regionen der Welt verwiesen. Als regionale Akteure werden die Türkei, Russland, Indien aber auch die Europäische Union genannt. Vor dem Hintergrund dieses Risiko-Szenarios wird Chinas Aufgabe abgeleitet, der bereits aufkeimenden Rivalität unter den neuen regionalen Zivilisationen friedensbewahrend entgegenzusteuern:

„Zum gegenwärtigen weltgeschichtlichen Zeitpunkt ist Chinas Aufstieg von universeller Bedeutung, nämlich in dem Sinne als der Aufstieg Chinas und das Wiedererwachen des Zivilisationsgedankens in anderen Regionen aufeinander abgestimmt werden muss, um eine neuerliche »clash of civilizations« Tragödie zu vermeiden, wie sie im Kampf regionaler Zivilisationen um Vorherrschaft im Zuge des Niedergangs von Weltreichen stattfindet.“ (Jiang 2023, o.S.)

Die Schlüsselbegriffe der ersten Kernbotschaft der chinesischen Zivilisations­initiative lauten »Diversität« und »gleiche Augenhöhe«. Auch hier hat Beijing das normative Gefälle zwischen Kulturen des Globalen Südens und des Westens im Blick. Der chinesische akademische Diskurs nimmt jedoch ebenso Bezug auf die zivilisatorische Entwicklung Europas:

„Die spätere Entwicklung Europas basiert ebenso auf dem Wettbewerb zwischen verschiedenen Zivilisationen. Die Verteidigung von Pluralismus bedeutet daher, dass wir die Eindämmung von Kreativität innerhalb eines Landes wie auch auf zwischenstaatlicher Ebene durch Monopole oder andere Maßnahmen, die sichtbare und unsichtbare Mauern zur Unterdrückung freier Kommunikation errichten, abwehren müssen.“ (Bai 2022, o.S.)

Interessanterweise werden hier diverse, miteinander konkurrierende, europäische Zivilisationen postuliert. Auch Chinas geopolitisches Selbstverständnis als Schutzmacht für Innovation und Fortschritt ohne Einschränkung, taucht in direkter Verbindung mit der Zivilisationsdebatte auf.

Wohin diese Debatte führen könnte

Anhand der aufgezeigten Diskursmuster ist deutlich erkennbar, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt gerade die Wertung der Aufreihung der Einzelwerte im Wertespektrum in der Zivilisationsdebatte einen globalen Konsens verhindert. Aufbauend auf die vorgelegte Initiative könnte inter-zivilisatorischer Dialog und kultureller Austausch zwar gepflegt und intensiviert werden. Doch beim Kampf um knapper werdende Ressourcen und regionale ökonomische Vormachtstellung rückt die Zivilisationsfrage in den Hintergrund. Nach Ansicht der Autorin werden in der derzeitigen politischen Landschaft jene Elemente der chinesischen Zivilisationsinitiative, die eine globale friedens­erhaltende Botschaft enthalten, nur bei Gefährdung der gesamten menschlichen Zivilisation zum Zug kommen. Erst in einem so konkreten Fall akuter Gefährdung würde das Konkurrenzverhältnis politischer Systeme und ihrer Wertmuster in den Hintergrund rücken. Auf den Punkt gebracht: Kompromissfindung angesichts eines drohenden zivilisatorischen Armageddon. Diese Schlussfolgerung ist wohlweislich ernüchternd und schließt den Kreis mit Verweis auf Chinas Konzept einer »Schicksalsgemeinschaft der Menschheit«.

Anmerkungen

1) In englischer Fassung publiziert als: Ministry of Foreign Affairs of the PR China (21.09.2021): The Global Development Initiative Concept Paper.

2) In englischer Fassung publiziert als: Ministry of Foreign Affairs of the PR China (21.02.2023): The Global Security Initiative Concept Paper.

3) Der Begriff »Schicksalsgemeinschaft« stieß in UNO-Kreisen auf Widerstand, weshalb China die offizielle englische Diktion auf »Zukunftsgemeinschaft« abänderte. Ich halte mich jedoch an die sinngemäße Übersetzung.

4) So besagt die Verfassung der VR China in Art. 119: „Die unabhängigen Organe der autonomen ethnischen Gebiete verwalten die Bildungs-, Wissenschafts-, Kultur-, Gesundheits- und Sportvorhaben in ihren Gebieten eigenverantwortlich, sie schützen das kulturelle Erbe ihrer ethnischen Gruppen und stellen es wieder her; und fördern die Entwicklung und das Gedeihen der ethnischen Kulturen”.

5) Die Autonome Region Xinjiang-Uighur umfasst ebenso autonome Bezirke für die kirgisische und kasachische Volksgruppe.

6) Zeitgleich mit der Shang-Dynastie (ca. 1600-1045 v.Chr.) wurde im Bronze-Zeitalter in der mongolischen Steppe die Domestizierung von Reittieren nachgewiesen, siehe Taylor et al. (2017); siehe auch Studien zu den historischen Reitervölkern der Xiongnu und Wusun.

Literatur

Bai, Tongdong (2022): The margins of civilization. Reflections on the historical position of Chinese civilization and the progress of human civilization. Übersetzt von David Ownby. Online Journal »Reading the China Dream«, ohne Datum.

Ding, Jun; Cheng, Hongjin 2017): China’s proposition to build a community with a shared future for mankind and the Middle East governance. Asian Journal of Middle Eastern and Islamic Studies 2017(4), S. 1-14.

Doshi, R. (2021): The Long Game. Chinas grand strategy to displace American order. Oxford: Oxford University Press.

Havrén, S. A. (2023): Chinas strategy for Europe in 2035. A look at what the future may hold. Per Concordiam – Journal of European Security and Defense Issues, 20.6.2023.

Jiang, Shigong (2023): World empire and the Return of civilization. Taking seriously the post-cold war discourse of civilizational revival. Übersetzt von David Ownby. Online Journal »Reading the China Dream«, ohne Datum.

Jiang, Shixue (2021): China´s contributions to the building of a community with a shared future for mankind. China Quarterly of International Strategic Studies 2021(4), S. 349-381.

Li, Yincai (2022): Beyond liberalism: The logic of liberal peacebuilding and its criticism. In: Guo, Yanjun; Miao, Ji (Hrsg.): Preventive diplomacy, peacebuilding and security in the Asia-Pacific. Singapur: World Scientific Publishing, S. 27-61.

Liu, Hong; Zhang, Yuxuan (2018): Building a community of shared future for mankind – an ethnological perspective. International Journal of Anthropology & Ethnology 2018(2), SpringerOpen, 06.11.2018.

Rolland, N. (2020): China’s vision for a New World Order. NBR Special Report 83, The National Bureau of Asian Research.

Sioco, M.A. (2023): Instead of unification, Taiwanese People want democracy, freedom and human rights: Foreign Ministry. Radio Taiwan International, 3.10.2023.

Staatsrat der VR China (2023): A global community of shared future: China’s proposals and actions. 26.9.2023.

Taylor, W.W. et al.(2017): A Bayesian chronology for early domestic horse use in the Eastern Steppe. Journal of Archaeological Science 81(5), S. 49-58.

Wang, Jinguo; Ling, Xiaoxiong (2020): A community with a shared future for mankind from the perspective of International Discourse Politics. Institute for Central Asian Studies, Lanzhou University, 27.3.2020.

Xinhua News (2023):Full text of Xi Jinping’s keynote address at the CPC in dialogue with world political parties high-level meeting. 16.3.2023.

Doris Vogl ist Lektorin an der Universität Wien und als externe China-Expertin für das österreichische Bundesministerium für Landesverteidigung tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind China, Human Security in Krisengebieten, EU-Sicherheitspolitik.

Polarkreise in der Polykrise

Polarkreise in der Polykrise

Arktis und Antarktis zwischen Konflikt und Kooperation

von Jürgen Scheffran und Verena Mühlberger

Die Polarregionen der Erde befinden sich in einem tiefgreifenden Wandel. Ökosysteme und Ressourcen von Arktis und Antarktis sind essentiell für die globale Stabilität und von der globalen Erwärmung besonders betroffen. Damit verbunden sind Konfliktrisiken, aber auch Chancen der Kooperation zwischen Staaten und der Zivilgesellschaft. Während die Antarktis als globales Gemeingut geschützt ist, wurde die Arktis in das Wettrüsten des Kalten Krieges einbezogen. Die darauf folgende Phase der Stabilität und Kooperation droht durch aktuelle Spannungen verschüttet zu werden. Trotz der heutigen Polykrise muss die Zusammenarbeit in den Polargebieten fortgesetzt und einer geopolitischen Polarisierung entgegengewirkt werden.

Die Arktis und die Antarktis sind planetare Antipoden, die jeweils innerhalb des nördlichen und südlichen Polarkreises liegen, also den Breitengraden beider Hemisphären, an denen die Sonne an den beiden Tagen der Sonnenwende gerade nicht mehr auf- oder untergeht (etwa bei 66° nördlicher/südlicher Breite). Während die kontinentale Landmasse im Südpolarkreis weitgehend naturbelassen ist und temporär nur wenige Menschen auf Forschungsstationen beherbergt, liegt der Nordpol im arktischen Ozean und ist von drei Kontinenten umgeben (Europa, Asien, Nordamerika), die im arktischen Polarkreis von etwa 4 Mio. Menschen bewohnt werden. Ist der antarktische Kontinent ganzjährig eisbedeckt, wird der arktische Ozean vom saisonalen Zyklus des Meereises bestimmt. In beiden Polregionen ist die lokale Flora und Fauna an die extremen klimatischen Bedingungen angepasst und anfällig für Veränderungen. Aufgrund der einzigartigen und zunehmend gefährdeten Natur der Polarregionen hat der Tourismus in den letzten zwei Jahrzehnten merkbar zugenommen und ist eine wachsende Einkommensquelle, übt aber Druck auf die fragilen Ökosysteme aus. Schon früh gab es internationale Bemühungen, die Regionen gemeinsam zu erforschen und auf der Grundlage gegenseitiger Interessen und Vereinbarungen zusammenzuarbeiten. Der 1961 in Kraft getretene Antarktisvertrag vereinbart die gemeinsame und friedliche Erforschung und Nutzung der Antarktis, die für marine Ressourcen nachhaltig erfolgen soll. Für die Arktis liegt ein solch umfassendes internationales Vertragswerk nicht vor.

Angesichts der Nähe zu Staaten und Bevölkerungen und damit verbundener Nutzungen und Konflikte liegt im Folgenden der Fokus auf der Arktisregion (zur Antarktis siehe die Beiträge von Lüdecke, S. 25 und Flamm, S. 29 in dieser Ausgabe). Mit dem Ende der letzten Eiszeit zogen sich die Gletscher, die teilweise auch Norddeutschland bedeckten, immer weiter nach Norden zurück, so dass eine Besiedlung durch Menschen möglich wurde, die sich über Jahrhunderte an die extremen Bedingungen der Arktis anpassten und ihr Leben nach dem Zyklus der Jahreszeiten ausrichteten. Während niedrige Temperaturen und kurze Wachstums­perioden eine kommerzielle Landwirtschaft in der Arktis-Region erschweren oder verhindern, gibt es heutzutage starke wirtschaftliche Interessen an den reichlich vorhandenen Bodenschätzen, insbesondere an Erdöl und Erdgas. Es leben über 40 verschiedene indigene Gruppen in der Arktis, deren traditionelle Subsistenzwirtschaft durch Fischerei und Jagd wie auch durch Rentier- und Karibuzucht geprägt ist. Durch eine frühere Schneeschmelze und Verschiebungen der Baumgrenzen in der arktischen Tundra ist ihr Lebensstil bereits gefährdet und gerät durch neue Wirtschaftsformen zunehmend unter Druck (Hansson et al. 2021).

Zone des Friedens in der Krise

Gegen Ende des Kalten Krieges schlug Michail Gorbatschow im Rahmen der »Murmansk-Initiative« vor, die Arktis in eine »Zone des Friedens« zu verwandeln, eine Sichtweise, die bei den Anrainerstaaten auch die Zeit danach bestimmte. So entwickelte sich die Arktis zu einer Zone der Kooperation, mit grenzüberschreitenden kooperativen Allianzen und Partnerschaften zwischen privaten und staatlichen Akteuren. 1996 wurde in Ottawa, Kanada, der Arktische Rat (»Arctic Council«) gegründet, in dem acht Regierungen und sechs indigene Verbände als Permanente Mitglieder für Frieden, Stabilität und konstruktive Zusammenarbeit in der Arktis kooperierten. Gemeinsame Projekte waren Abkommen in den Bereichen Suche und Rettung, Verhütung von Ölverschmutzung und wissenschaftlicher Kooperation, sowie Plattformen für die arktische Küstenwache und den Arktischen Wirtschaftsrat (Klimenko 2019). Ein Forum für die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in der Barentsregion ist der Barents Euro Arctic Council (BEAC), in dem es unter anderem um vertrauensbildende Maßnahmen und grenzüberschreitende Hilfeleistungen in Notfällen, bei Unfällen und Naturkatastrophen geht.

Trotz alarmistischer Vorhersagen und Spekulationen über ein »Gerangel um die Arktis« sind große Konflikte in der Region bislang ausgeblieben, was eine Debatte über den »arktischen Exzeptionalismus« auslöste (siehe dazu Humrich, S. 15 in dieser Ausgabe). Geopolitische Spannungen und multiple Krisen sind Störfaktoren für die arktische Zusammenarbeit und eine Herausforderung für den arktischen Exzeptionalismus (Käpylä und Mikkola 2019). Das betrifft z.B. Projekte im BEAC über biologische Vielfalt und Umwelt-Hotspots (Klimenko 2019). Mit einer zunehmenden strategischen und wirtschaftlichen Bedeutung der Arktis nehmen die Konfliktpotentiale zu und verdrängen die positive Dynamik der 1990er Jahre. Dabei spielen neben dem Klimawandel nicht zuletzt der Ukrainekrieg und die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen eine Rolle, die zur Aussetzung der Zusammenarbeit mit Russland im Arktischen Rat führten (Broek 2023).

Kipppunkte und Risikokaskaden des Klimawandels

Die Polregionen sind von zentraler Bedeutung für das Weltklima und erwärmen sich mit 3 bis 4 Grad Celsius Zuwachs seit den 1970er Jahren um ein Vielfaches schneller als andere Weltregionen. Die zunehmende Wärmeaufnahme durch die großen Ozean- und Landflächen verändert die physische Umwelt grundlegend (AMAP 2019). Eine Nichtdurchsetzung der Pariser Klimaziele würde die Zukunft der Region erheblich verändern. Viele Gebiete werden anfälliger für Waldbrände und Hitzewellen, der erschwerte Zugang zu sauberem Wasser und Lebensmitteln schafft ein Risiko für die Ausbreitung von Krankheiten, und das Katastrophenmanagement wird herausfordernder, mit Such- und Rettungseinsätzen wie bei den Waldbränden in Nordschweden im Sommer 2018. In beiden Polregionen besteht ein Risiko für sich selbst verstärkende Kipppunkte und Risikokaskaden im globalen Erdsystem, die Ende 2023 im »Global Tipping Points Report« (Lenton et al. 2023) bei der Weltklimakonferenz in Dubai vorgestellt wurden. Steigende Temperaturen führen zu größeren eisfreien Meeresflächen, die dadurch stärker Sonnenwärme aufnehmen als das Eis, und sie führen zum vermehrten Auftauen des Perma­frostes, aus dem das Treibhausgas Methan freigesetzt wird. Beides beschleunigt die globale Erwärmung. Während das Meer in der Arktis besser schiffbar wird, werden die Böden und darauf liegende Infrastrukturen (Verkehrswege, Gebäude, Stromleitungen, Pipelines) instabiler. Die veränderte Verteilung von Temperatur und Salzkonzentration schwächt den Wärmetransport des Golfstroms in den Norden, was dort eine Abkühlung bringen könnte. Das Abschmelzen der Eisschilde in Grönland und der Antarktis lässt den globalen Meeresspiegel ansteigen, was den Verlust von Küsten- und Landflächen weltweit bedeutet (Irrgang et al. 2022).

Ressourcenausbeutung und Ungleichheit

Das Abschmelzen arktischer Eisflächen auf dem Land und zur See ist ein tiefer Eingriff in die arktische Umwelt, die einigen Nachteile, anderen Vorteile bringt. Die Ausbeutung von Öl- und Gasvorkommen oder seltenen Erden und anderen Metallen für Digitalisierung und Energiewende belastet nicht nur das Weltklima, sondern auch die lokale Umwelt, mit Auswirkungen auf Ökosysteme und ihre Artenvielfalt in der Region. Dies untergräbt traditionelle Lebensgrundlagen der lokalen Bevölkerung (z.B. Rodon 2018).

Andere profitieren dagegen von den Veränderungen in der Arktis, durch besser zugängliche Ressourcen für die Energieproduktion (Boersma und Foley 2014), schnellere und direktere Schifffahrts- und Handelsrouten durch das eisfreie Meer, höhere Bodenpreise oder landwirtschaftliche Produktivität. Die Rohstoff-Industrie schafft neue Einkommensquellen und Arbeitsplätze (Keskitalo 2019), macht jedoch Staaten zunehmend von fossilen Brennstoffen abhängig, obwohl sie sich im Pariser Abkommen von 2015 zu einer Abkehr verpflichtet haben, um den Klimawandel abzuschwächen. Gelingt dies nicht, verschärfen sich sozio-ökonomische Ungleichheiten in der Arktis. Diese Konfliktdimensionen sollten nicht unterschätzt werden, da sie vor allem die binnen-nationalen Gefüge massiv betreffen.

Brennglas globaler und lokaler Konflikte

Mit der wachsenden strategischen Bedeutung der Arktis nehmen gesellschaftliche Spannungen und Konflikte zu, die die globale und lokale Ebene in komplexer Weise verbinden. Am Nordpol, wo alle Längengrade sich treffen, kommen geopolitische Ansprüche und Widersprüche geographisch weit auseinanderliegender Weltmächte (USA, Kanada, EU, Russland, China und Japan), deren Territorien zu großen Teilen außerhalb des Arktischen Zirkels liegen, wie in einem Brennglas zusammen. Spannungen zwischen Russland und dem Westen gehen einher mit Destabilisierungstendenzen in Europa und Nordamerika, dem Wandel der transatlantischen Beziehungen und Rivalitäten des Westens mit Ostasien. Damit verbunden sind konkurrierende Interessen von Staaten, Unternehmen und Bevölkerungen um Ressourcen, Transportmittel, Pipelines und Grenzziehungen.

Grafik Arktis-Region

Die Arktis-Region mit Informationen über Permafrost-Gebiete, Bergbauflächen (Minen) und sozial-ökologische Konflikte (Quelle: Mühlberger 2023).

Ein Streitgegenstand ist die Festlegung von Grenzen. Fragen der nationalen Souveränität und des internationalen Rechts betreffen die Ausdehnung des Festlandsockels und die Abgrenzung der Seegrenzen, die den Zugriff auf arktische Ressourcen festlegen. Einige Streitigkeiten konnten erfolgreich beigelegt werden, etwa um die Seegrenzen zwischen Russland und Norwegen in der Barentssee (Harding 2010). Dabei bestehen auch unterschiedliche Vorstellungen zwischen staatlichen und oft nomadischen gesellschaftlichen Gebietsansprüchen. In einigen Fällen sind die Rechte der indigenen Bevölkerung betroffen, etwa um Weideland und traditionelle Jagdgebiete, die durch staatliche Machtansprüche an den Rand gedrängt werden. Die Landfragmentierung beeinträchtigt traditionelle Nahrungs- und Wasserquellen und erschwert in Notfällen das Erreichen von Gesundheitszentren und Schutzräumen (Dudarev et al. 2013). Während Organisationen der indigenen Völker, wie der Sami-Rat, die Auswirkungen von Grenzen einschränken wollen, bewirken staatliche Grenzkontrollen vielerorts das Gegenteil (UNGA 2016). Mit wachsenden zwischenstaatlichen Spannungen reduzieren sich die schon erkämpften Mitsprachemöglichkeiten der indigenen Bevölkerung (vgl. Urueña S. 21 in dieser Ausgabe).

Zunehmend entwickelt sich in den einzelnen Staaten ein oft komplexes Problemgeflecht von zwischenstaatlichen Konflikten über Ressourcenextraktion, Klima- und Umweltveränderungen sowie den sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen auf die Bevölkerung, verstärkt durch Armut und Unterentwicklung, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Dabei werden wirtschaftliche Interessen häufig über die indigener Minderheiten gestellt (Temper und Shmelev 2015).

Militarisierung und Aufrüstung

Der Antarktis-Vertrag sieht die ausschließlich friedliche Nutzung der Antarktis vor und verbietet dort jegliche militärische Aktivitäten. Demgegenüber war die Arktis im Kalten Krieg eine der am stärksten militarisierten Regionen der Welt, an der Schnittstelle der Supermächte, als Überflugzone von Atomwaffen und damit verbundener Infrastrukturen, als Testgelände und für andere militärische Zwecke. Mit der Entspannung und dem Ende des Ost-West-Konflikts wurden die Rüstungsarsenale in der Region verringert, im Rahmen der kooperativen Strukturen sank der Bedarf an Gesprächen über militärische Sicherheitsfragen (Groenning 2016). In den letzten Jahren mehrten sich die Anzeichen für neue Spannungen in der Region, die mit einer zunehmenden Militarisierung verbunden sind. Neben der Kontrolle der Arktis geht es auch um Machtprojektionen in anderen Regionen, vor allem im Nordatlantik (vgl. Humrich, S. 16 in dieser Ausgabe).

Dies gilt insbesondere für Russland, das seit 2011 eine Reihe von Militärstützpunkten wiedereröffnet hat, Flugplätze und Radarstationen instand setzt, seine seegestützten Nuklearstreitkräfte und die der großen Überwasserschiffe modernisiert. Im Dezember 2014 richtete Russland das Gemeinsame Strategische Kommando Nord (JSC North) ein, um die verschiedenen militärischen Armeen und Teilstreitkräfte unter einem Kommando zusammenzufassen, ein Zeichen für das Wiederaufleben des Konzepts der »Strategischen Bastion« im Norden (Boulègue 2018). Nach eigenen Aussagen reagiert Russland auf das sich verändernde Umfeld in der Arktis und neue Sicherheitsherausforderungen durch zunehmenden Schiffsverkehr, räumlich und zeitlich längere Küstenlinien durch Meereisschmelze, Konsolidierung der Nordflotte und strategische Parität mit den USA und NATO, die ihre militärischen Anstrengungen nun ebenfalls mehr auf die Arktis richten (Klimenko 2019; Anthony et al. 2021).

Durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 und den NATO-Beitritt von Finnland und Schweden droht die Arktis zunehmend in einen neuen Kalten Krieg hineingezogen zu werden. Im Westen wurden Befürchtungen geäußert, dass Russland die freie Durchfahrt im Arktismeer beschränken könnte. An der norwegischen Winterkampfübung »Cold Response« im Frühjahr 2022 nahmen rund 30.000 Soldatinnen und Soldaten aus 27 Nationen teil. Ein Jahr später führte Russlands Nordmeerflotte nach eigenen Angaben ein Manöver in den Gewässern der Arktis mit 1.800 Soldaten und mehr als einem Dutzend Schiffen durch. Ohne ernsthafte Bemühungen für Entspannung und Abrüstung droht in der Arktis ein forciertes Wettrüsten, das Atomwaffen, Flugkörper, Abwehrsysteme, U-Boote und Schiffe ebenso umfasst wie Weltraum-, Cyber- und hybride Kriegsführung.

Geopolitische Rivalität zwischen USA und China

Ein aktiver arktischer Akteur ist zunehmend auch China, das seine Visionen und Absichten 2018 in einem Weißbuch zur Arktis dargelegt hat (SCIO 2018). Neben der Wahrung der Souveränitäts- und Verwaltungsrechte der arktischen Staaten will China Mitsprache in Fragen der arktischen Ressourcenentwicklung und Schifffahrt, beansprucht Rechte auf Navigation, Überflüge und Fischerei, für die Verlegung von Unterseekabeln und Pipelines. China investiert in den Bergbau in Grönland, russische Flüssigerdgas-Projekte, die Zunahme der Schifffahrt entlang der »polaren Seidenstraße« sowie in wissenschaftliche Forschung und Diplomatie. Es gibt Befürchtungen einiger Anrainerstaaten im Westen über den wachsenden Einfluss Chinas auf die Arktisregion und damit verbundene sicherheitspolitische Implikationen (Havnes und Seland 2019).

Das hängt auch mit den strategischen Rivalitäten zwischen Russland, China und den USA zusammen, die sich in der Arktis entladen könnten. Der frühere US-Außenminister Mike Pompeo warnte anlässlich des Ministertreffens des Arktischen Rates in Rovaniemi am 6. Mai 2019 vor aggressiven Ambitionen Russlands und Chinas in der Arktis (Pompeo 2019). Entsprechend wurde der Ausbau der US-Marine- und Eisbrecherkapazitäten der Arktis und im Nordatlantik anvisiert, verbunden mit größeren Anstrengungen von Luftwaffe und Heer (DOD 2019). Auch wenn die Biden-Administration die Arktis zunächst als Zone niedriger Spannung ansah, bereiten sich die US-Küstenwache und andere Einrichtungen auf neue strategische Prioritäten vor (Anthony et al. 2021).

Umweltfolgen der Rüstung und ökologische Sicherheit

Rüstung und Krieg hängen eng mit Umweltfolgen und natürlichen Ressourcen in der Arktis zusammen, wodurch hier erweiterte Konzepte menschlicher und ökologischer Sicherheit an Bedeutung gewinnen.

Der Ukrainekrieg und damit verbundene Sanktionen haben zum einen die fortgesetzte Abhängigkeit der Welt von fossilen Energieträgern deutlich gemacht und den Blick daher auf die riesigen (vermuteten) arktischen Vorkommen gelenkt. Somit drohen das fossile Zeitalter und damit verbundene Konflikte perpetuiert zu werden.

Militärische Aktivitäten in der Arktis bringen zum anderen erhebliche Umweltbelastungen und -risiken mit sich, die die Umweltsicherheit gefährden (Hoogensen et al. 2013). So verschmutzt das russische Militär seit vielen Jahrzehnten seine arktischen Inseln, was 2010 zu einer größeren Säuberung von Abfällen führte, die nur teilweise erfolgreich war und kürzlich fortgesetzt wurde (Arctic Russia 2023). Es gab großflächige Zwischenfälle wie der Nuklearunfall auf dem Njonoksa-Testgelände in der Oblast Arkangelsk im Sommer 2019 (Klimenko 2019). Die wachsende Zahl und Intensität von militärischen Aktivitäten hat auch negative Auswirkungen auf die indigenen Gebiete. Militärübungen und Waffentests werden oft in scheinbar abgelegenen Randzonen oder in der vermeintlich »unberührten Wildnis« durchgeführt. Dies wird jedoch von indigenen Völker kritisiert, da militärische Aktivitäten oftmals auf historischem und kulturell relevantem Land stattfinden. Dies kann ihre Lebensgrundlagen beeinträchtigen, durch Landnahme, Verschmutzung und Abfälle, Transport militärischen Geräts, Lärm sowie der Störung von Vieh und Wildtieren (Vladimirova 2024).

Wege zur nachhaltigen Friedenssicherung

Um grenzüberschreitende Herausforderungen der arktischen Sicherheit einzudämmen, ist die Bereitschaft aller Beteiligten zur Zusammenarbeit erforderlich. Ein verstärktes Engagement von Politik und Forschung kann dazu beitragen, das Wissen und die Implementierung nachhaltiger und friedlicher Lösungsansätze auszubauen (Klimenko 2019).

  • Diskussion über Rüstungskontrolle und militärische Sicherheit: Um die Spannungen in der Arktis zu verringern und zu verhindern, dass kooperative Strukturen und Institutionen in eine geopolitische Sackgasse geraten, ist Rüstungskontrolle unabdingbar. Cepinskyte und Paul (2020) schlagen vor, Diskussionsplattformen über militärische Sicherheitsfragen in der Arktis einzurichten. 2012 initiierte Kanada ein Treffen der Verteidigungsstabschefs der arktischen Staaten, das wegen des Konflikts in der Ukraine und der Beendigung der militärischen Zusammenarbeit mit Russland nach 2014 jedoch ausgesetzt wurde. Die Unterbrechung der Kommunikation ist kein Weg zum Abbau der Spannungen in der Region, und einseitige Maßnahmen wie der Arctic Security Forces Roundtable, bei dem Russland nicht beteiligt ist, machen im Sinne einer Verständigung weniger Sinn.
  • Zwischenmenschliche Kontakte und Bildungsmaßnahmen dienen gerade in Zeiten zunehmender Spannungen dem grenzüberschreitenden regionalen Engagement. Mehr Jugendbeteiligung und Bildungsaustausch schaffen Vertrauen und Verständigung zwischen Gesellschaften, Gemeinschaften und Staaten, und verbessern den Wissensaustausch zwischen verschiedenen Gesellschaften und Kulturen. Beispiele sind Initiativen wie der Barents Youth Council und die Arctic Frontiers Emerging Leaders.
  • Ökologische Zusammenarbeit für gemeinsame Sicherheit: Der Austausch von umweltbezogenen Informationen ist ein Beitrag zum Schutz der polaren Gemeingüter. Um auf Notsituationen in Naturkatastrophen reagieren zu können, müssen begrenzte Ressourcen über große Entfernungen und Staatsgrenzen organisiert werden. Suche und Rettung gelten als erfolgreiche Beispiele für effektive Zusammenarbeit und vertrauensbildende Maßnahmen und können potenziell auf andere Bereiche und Akteure ausgeweitet werden, wie in der Strafverfolgung und der maritimen Polizeiarbeit.
  • Forschung zum nachhaltigen Frieden: Während wissenschaftliche Sanktionen der Klimaforschung in der Arktis schaden (Albrecht und Scheffran 2022), kann multidisziplinäre Forschung dazu beitragen, die Folgen menschlicher Aktivitäten in der Arktis für die Lebensmittel-, Wasser- und Gesundheitssicherheit und die Rolle von Technologien zu verstehen (Berner et al. 2016). Um die möglichen Auswirkungen geopolitischer Spannungen und militärischer Aktivitäten auf die arktische Zusammenarbeit zu untersuchen, müssen diese hinsichtlich ihrer Folgen (auch für die Umwelt) untersucht werden. Hierzu gehört auch die Einbeziehung verschiedener Stakeholder, z.B. der Industrie, humanitärer Organisationen und Versicherungen, die das Sicherheits- und Friedensverständnis in der Region erweitern können. Szenariobasierte Forschung und der bessere Zugang zu Daten kann dazu beitragen, Strategien zur Risikominderung und nachhaltigen Friedenssicherung zu entwickeln.
  • Indigenes Wissen und Partizipation: Trotz einiger Fortschritte beim Dialog mit indigenen Gemeinschaften werden ihre Stimmen nur selten von Staaten berücksichtigt, besonders wenn es um sensible Fragen ihrer Sicherheit und Souveränität geht. Um sie stärker einzubeziehen, sind bessere Möglichkeiten der Partizipation und Unterstützung für Forschungsprojekte zu schaffen, in denen die indigenen Völker ihr einzigartiges Wissen über die Arktis für die Problemlösung einbringen können.

Doppelte Transformation zwischen Eiszeit und Heißzeit

Beide Polregionen liegen an der Schnittstelle globaler Probleme und Konflikte und bieten Chancen für die regionale und internationale Kooperation. Sie sind für die Bewahrung der planetaren Grenzen und die Stabilisierung des Klimasystems von zentraler Bedeutung, die durch die nicht-nachhaltige Ausbeutung ihrer Ressourcen gefährdet werden und neue Abhängigkeiten schaffen. Um eine klimatische Heißzeit und eine politische Eiszeit zu vermeiden, braucht es eine doppelte Transformation für einen nachhaltigen und konfliktvermeidenden Umgang mit den Polarkreisen, der im Sinne zukünftiger Generationen auf Vermeidungs- und Anpassungsstrategien unter Beteiligung der lokalen und indigenen Bevölkerungen und ihres Wissens setzt. So können die Orte, um die sich die Erde dreht, zu Zonen des Friedens werden.

Literatur

Albrecht, M.; Scheffran, J. (2022): Wie kann die Wissenschaft noch mit Russland kooperieren? Frankfurter Rundschau, 22.7.2022.

AMAP (2019): Arctic climate change update 2019. Arctic Monitoring and Assessment Programme, Tromsø.

Anthony, I.; Klimenko, E.; Su, F. (2021): A strategic triangle in the Arctic? Implications of China-Russia-United States power dynamics for regional security. SIPRI Insights on Peace and Security 2021/3.

Arctic Russia (2023): Major cleanup in the Arctic: Preliminary results of a project by the Russian Geographical Society. Arctic Russia, 23.8.2023.

Berner, J. et al. (2016): Adaptation in Arctic circumpolar communities: food and water security in a changing climate. International Journal of Circumpolar Health 75, 33820.

Boersma, T.; Foley, K. (2014): The Greenland gold rush. Brookings Center.

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Cepinskyte, A.; Paul, M. (2020): Großmächte in der Arktis. SWP-Aktuell 50.

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Keskitalo, E.C.H. (Hrsg.) (2019): The politics of Arctic resources. Routledge: London.

Klimenko, E. (2019): The geopolitics of a changing Arctic. SIPRI Background Paper 2019/12.

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Dr. Jürgen Scheffran ist Professor (em.) für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.
Verena Mühlberger war Masterstudentin am Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN) der Universität Hamburg und hat in ihrer Abschlussarbeit zu den Auswirkungen des Klimawandels auf die Arktis geforscht.

China auf der Überholspur?


China auf der Überholspur?

Wie die Innovationsoffensive die Welt verändern könnte

von Claudia Wessling

China will bis 2049 – dem 100. Geburtstag der Volksrepublik – die weltweit führende Wissenschaftsnation sein. In Digitalisierung, Anwendungen der Künstlichen Intelligenz oder auch Biotechnologie hat das Land bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Die bisherigen technologischen und wissenschaftlichen Spitzenreiter in den USA und Europa müssen sich auf diese neue Konkurrenz einstellen. Beijings rigides Vorgehen gegen die der Regierung zu groß gewordenen Tech-Konzerne im eigenen Land stellt die chinesische Innovation im Inneren vor Herausforderungen.

Xi Jinping ist ein Mann der starken Worte: China solle das weltweit wichtigste Zentrum der Wissenschaft und die Hochburg der Innovation“ werden, sagte er im Frühjahr 2021 in einer Rede.1 Während andere Staaten mit der Bewältigung der Corona-Pandemie beschäftigt waren, konnte Chinas Staats- und Parteichef schon wieder weitreichende Zukunftspläne schmieden. Einheimische Innovation sowie die Unabhängigkeit von ausländischer Hochtechnologie und ausländischem Know-How in Industrie und Forschung zu erreichen, lautet das nunmehr von Chinas Führung ausgegebene, langfristige Ziel.

Der Aufstieg zur Technologie-Supermacht ist für Beijing zentral (vgl. Drinhausen et al. 2021, S. 45). Vier Jahrzehnte nach dem Beginn der Reform- und Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping, nach Jahren zweistelligen Wirtschaftswachstums und einem beispiellosen Wirtschaftswunder will China weg von seinem Status als Werkbank der Welt und Forschungs-Entwicklungsland. Erfolge wie die geglückte Entsendung eines Erkundungsfahrzeugs auf den Mars im Mai 2021 oder Jubelmeldungen über Rekord-Berechnungen des Quantensupercomputers »Zuchongzi« zeugen von diesem Anspruch und dem Druck, der diesen begleitet.

Notwendige Innovation für die Wohlstandsziele

Wissenschaftlicher Fortschritt und Innovationserfolge (etwa in der Digitalwirtschaft) sind für Xis Kommunistische Partei (KPCh) auch Legitimation der eigenen Herrschaft. Die KPCh verspricht der Bevölkerung, bis 2035 das Wachstum der Wirtschaft zu verdoppeln und einen »gemeinsamen Wohlstand« zu verwirklichen. Mit Billigproduktion allein ist dies nicht zu realisieren angesichts steigender Einkommen, einer alternden Bevölkerung und drängender Umweltprobleme. China braucht, so sieht es die KPCh, qualitativ hochwertige Wertschöpfung.

Umfassend angelegte Strategien wie »Made in China 2025« von 2015 zielen auf grundlegende Modernisierung der chinesischen Industrie, fokussiert auf zehn Schlüsselbereiche (vgl. Abbildung S. 35). Dazu gehören Biomedizin und -technologie, IT der nächsten Generation, Robotik, Erneuerbare Energien und Schienentransporttechnik. Durch die Einrichtung von »Pilotzonen« im ganzen Land, hohe finanzielle Zuschüsse vor allem für Staatsunternehmen und günstige regulatorische Bedingungen schafft der Staat die Voraussetzungen. Solche Wirtschaftslenkung von oben nach unten ist auch in China nicht immer unmittelbar erfolgreich. Doch Zentralregierung und Provinzen haben durch flexible Nachjustierung der Fehlallokation von Ressourcen mitunter durchaus wirksam entgegengesteuert.

Zu Beijings Strategien gehört auch, die heimische Industrie vor ausländischer Konkurrenz zu schützen. Ein Beispiel ist die chinesische Automobilindustrie, insbesondere bei E-Autos und den dazugehörigen Batterien. Chinesischen Unternehmen wurde durch Marktbeschränkungen ermöglicht, in einem geschützten Umfeld heranzureifen und über Joint Ventures mit ausländischen Herstellern Technologien zu erwerben.

Wissenschaftszusammenarbeit und Talentgewinnung

Industrie- und Wissenschaftspolitik ­sollen zur Umsetzung von Chinas Innovationsambition Hand in Hand gehen. Nach den Angaben im aktuellen 14. Fünfjahresplan hat Beijing 2020 2,5 % des Bruttoinlandprodukts für Forschung und Entwicklung (F&E) aufgewendet. Das ist prozentual weniger als die meisten Industriestaaten, doch dieser Anteil soll weiter steigen. Dass F&E-Investitionen in China vor allem vom Staat und Staatsunternehmen getätigt werden, verdeutlicht ebenfalls, wie eng Forschung und nationale Entwicklungspläne verknüpft sind (vgl. Abbildung 2, S. 35).

Ausländische Forschende und Forschungsinstitutionen spielen für Chinas Ambitionen ebenfalls eine zentrale Rolle, da dem Land in vielen Bereichen das Know-How noch fehlt. Erfolgsmeldungen stützen sich häufig auf Kooperationen mit renommierten Forschenden im Ausland oder gehen auf im Ausland ausgebildete chinesische Wissenschaftler*innen zurück.

Massive finanzielle Förderung steckte China daher auch in das sogenannte »1.000-Talente«-Programm und andere Förderformate, durch die begabte chinesische, aber auch ausländische Forschende in die Volksrepublik gelockt werden sollten. Zwischen 2008 und 2016 kamen nach Schätzungen eines US-Senatskomitees etwa 60.000 ins Land (zurück). Die Ausgewählten erhalten hohe Gehälter, Boni und Visumsprivilegien.

China hat sich auch oder gerade wegen der hohen Innovationsdynamik in naturwissenschaftlich-technischen Forschungsbereichen (wie Biotechnologie oder ITC), ungeachtet aller politisch-systemischen Differenzen und Kritik an Forschungsdatensicherheit sowie Herausforderungen in der Zusammenarbeit, zu einem interessanten Forschungsstandort entwickelt.

Digitale Innovationen auch für Kontrolle und Überwachung

Es sind vor allem »Privatunternehmen«, die zum Beispiel in der Digitalisierung China an die Weltspitze haben vorrücken lassen: Huawei etwa ist bei der Entwicklung des aktuellen Telekommunikationsstandards 5G weltweit führend. Der frühere Internethändler Alibaba hat sich binnen 20 Jahren zu einem Digitalriesen mit einem Jahresumsatz von 72 Mrd. US$ gemausert. Das von der Gruppe betriebene Online-Bezahlsystem Alipay hat mehr als eine halbe Milliarde Nutzer*innen und ist aus Chinas Geschäftsleben nicht mehr wegzudenken.

Auf Alibaba geht auch das Bonitätsbewertungssystem »Sesame Credit« zurück, das der chinesischen Regierung als eine Art Blaupause für das im Aufbau befindliche »Social Credit System« dient. Ein digitales Werkzeug, mit dem Beijing seine Bürger*innen und Unternehmen nach eigenem Bekunden zu wirtschaftlichem, aber auch gesellschaftlichem Wohlverhalten lenken will.

Das System ist nach Beobachtung von China-Expert*innen noch lange nicht so umfassend verfügbar wie von Beijing gewünscht. Eher gibt es viele voneinander getrennte, von Städten oder Provinzen oder auch Unternehmen betriebene Systeme. Doch auch wenn diese noch nicht ineinandergreifen: Der Vergleich mit einem Orwellschen Überwachungsstaat liegt kritischen Beobachter*innen auf der Zunge. Auch andere Digitalprodukte chinesischer Firmen, etwa Gesichtserkennungs- oder Tracking­software, werden vom Staat für Überwachung eingesetzt; die viel diskutierte staatliche Überwachung in der Provinz Xinjiang scheint davon zu profitieren.

Das zeigt: Auch in China ist das Vorantreiben der Entwicklung digitaler Technologien verbunden mit den daraus erwachsenden Möglichkeiten der Kontrolle. Mit Blick auf China haben Expert*innen den Begriff des „digitalen Autoritarismus“ geprägt (Yaybroke 2020). Mehr als 980 Mio. Internetnutzer*innen gibt es heute in China, das sind etwa 70 Prozent der Bevölkerung. Die Informationsströme in diesem Raum zu kontrollieren, liegt klar erkennbar im Interesse der chinesischen Führung. China, so formulieren es offizielle Vertreter*innen immer wieder, brauche ein „gesundes Internet“, das „positive Energie“ verbreitet (vgl. Zhang 2021).

Staatliche Regulierung als Wohlfahrts- oder Machtpolitik?

Von ausländischen Einflüssen ist Chinas Internet schon seit den frühen 2000er Jahren durch eine »Great Firewall« abgeschottet: Westliche Plattformen wie Facebook, What’s App oder Twitter sind nicht zugelassen. Chinesische Netizens nutzen Wechat, Weibo und andere einheimische Tools. Diese werden streng zensiert. Es ist nicht zuletzt diese konsequente Abschottung von ausländischer Konkurrenz – gepaart mit einer langjährig schwachen Regulierungspolitik – die Chinas Digitalwirtschaft ermöglichte, ihre eigenen Ökosysteme aufzubauen.

Ob die Innovation in diesem Bereich in China allerdings weiter so voranschreiten wird wie im vergangenen Jahrzehnt, ist derzeit fraglich: Nachdem Beijing die Digitalkonzerne wie Alibaba, Tencent oder Baidu lange ohne strenge Regulierung gewähren und wachsen ließ, hat die Regierung von Xi nun eine Kampagne gegen deren „irrationale Kapitalexpansion“ und „barbarisches Wachstum“ gestartet (vgl. Shen 2021). Xi will soziale Spannungen angesichts der Kluft zwischen immer noch weit verbreiteter Armut und dem enormen Reichtum von Self­made-Milliardär *innen wie Alibaba-Gründer Jack Ma auflösen. Gleichzeitig ist auch zu vermuten, dass dem Staats- und Parteichef manche Wirtschaftsgrößen einfach zu mächtig werden und es sich bei der Regulierung mehr um Machtpolitik handelt.

In der Bevölkerung kommt Xis Ver­sprechen eines gemeinschaftlichen, gleichmäßiger verteilten Wohlstands laut offiziellen Medien gut an. Ob allerdings stärker unter der Kontrolle der Partei stehende Digitalunternehmen noch so innovative Ideen hervorbringen werden, dass sie zu diesem Wohlstand beitragen können, ist eine große Unbekannte in Chinas wirtschaftlicher Innovations­formel.

Globale Konkurrenz unter Zugzwang

Obwohl die Stärke der chinesischen Digitalwirtschaft bislang in der schnellen Umsetzung von der Idee zur Anwendung lag, holt Chinas Digitalwirtschaft auch im Highend-Segment auf: So hat erst in diesem Jahr das Staatsunternehmen BOE den Zuschlag bekommen, faltbare Displays für das neueste iPhone von Apple zu produzieren – und macht damit den koreanischen Platzhirschen von LG und Samsung Konkurrenz (Li et al 2021). Nicht nur deswegen steigt Chinas Interesse an der Sicherung globaler Wertstoffe und Seltener Erden – der globale Wettlauf hat begonnen (vgl. Raimondi 2021).

Ähnlich ergeht es der globalen Autoindustrie: Chinas Unternehmen setzen, unterstützt von der Regierung, in diesem Segment auf neue emissionsarme und energiesparende Technologien (vgl. u.a. Dittmer 2021). Dazu gehört die Batterie- und Ladetechnik, bei der China künftig auch auf dem europäischen Markt mitwirken und Standards setzen will. Noch stecken diese Ambitionen in den Kinderschuhen, doch können sich chinesische Hersteller auf einen riesigen einheimischen Markt stützen. 20 Mio. PKW wurden allein 2020 verkauft.

Es ist nicht zu leugnen: Die hiesige Autoindustrie, die zu lange allein auf Verbrennungsmotoren setzte, muss auch wegen der Dynamik in China ihre veralteten Konzepte überdenken. Positiv gewendet entsteht durch den Druck aus China eine Chance. Allerdings stellt sich neben der Zukunft des Individualverkehrs auch schlicht die Frage, ob es den traditionellen Autobauern noch rechtzeitig gelingen kann, hier wieder aufzuschließen, oder ob chinesische Hersteller schon in nicht allzu ferner Zukunft im Bereich E-Mobilität auch die europäischen Märkte maßgeblich mitbestimmen.

Innovative Technologien für globalen Einfluss

Chinas zielgerichtete Strategie, Schlüsseltechnologien selbst zu entwickeln und global zu vermarkten, hat mitunter erhebliche sicherheitspolitische Implikationen. So wurde in Institutionen für Cybersicherheit weltweit mit Sorge betrachtet, dass Huawei und andere chinesische Hersteller sich in der Telekommunikation mit ihren Hardwareprodukten und ihren Beiträgen zu Standards wie 5G tief in globalen sensiblen Infrastrukturen verankern. Dies führte, neben anderen Befürchtungen um eine zu starke wirtschaftliche Abhängigkeit von chinesischen Produkten, zur Eskalation des Technologie- und Handelskonflikts mit den USA.

Es wird bis auf weiteres schwierig bleiben, eine Manipulation von chinesischer Technologie mit dem Ziel der Zensur oder Spionage eindeutig nachzuweisen. Zu denken geben muss in diesem Kontext allerdings das 2017 verabschiedete Nationale Geheimdienstgesetz. Mit diesem machte Beijing, nach Ansicht von Expert*innen, jede Bürger*in und jedes Unternehmen für die Staatssicherheit mit verantwortlich und verpflichtet diese, relevante Daten – auch aus dem Ausland – an die chinesische Regierung zu übergeben (vgl. Hoffman und Kania 2018).

Doch auch für den direkten Einsatz in der IT-Spionage hat China offenkundig in den vergangenen Jahren erhebliche und gefährliche Expertise aufgebaut: Die weltweite und bis heute nachwirkende Attacke auf Microsoft Exchange Server von zehntausenden Organisationen Anfang diesen Jahres geht nach Angaben aus Sicherheitskreisen der USA, der EU und Großbritanniens auf eine vermutlich mit der chinesischen Regierung verknüpfte Hackergruppe zurück.

Auch die in den letzten Jahren viel mit Blick auf westliche Industriestaaten diskutierte Einflussnahme auf Wahlen hat ihren traurigen Platz gefunden: Taiwan, das die Volksrepublik China als abtrünnige Provinz betrachtet, muss sich seit Jahren gegen chinesische Desinformationskampagnen zur Wehr setzen, die immer wieder bei anstehenden Wahlen durch die sozialen Medien der Inselrepublik rollen (vgl. Krumbein 2002, S. 5f.).

Was bleibt? Konkurrenz und Konfliktpotential

Der Ausbau und die sich neu entwickelnde Selbstständigkeit Chinas bei der (digitalen) Innovation in Schlüsseltechnologien hat spürbare Effekte auf die restliche Welt: neuer Konkurrenzdruck auf den Märkten, das Ringen um Köpfe in Wissenschaft und Forschung, Einflussnahme in verschiedener Hinsicht. Dies bestärkt die nicht nur ideologisch, sondern auch von wirtschaftlichen Motiven getriebene Konkurrenz zwischen dem Westen und China.

Dies offenbart sich derzeit auch militärisch im Indopazifik: Um Chinas geostrategischen Ambitionen ein Gegengewicht zu bieten, haben die USA, Großbritannien und Australien gerade das Sicherheitsbündnis AUKUS geschlossen. Das vermag zwar der Innovationsinitiative nicht viel entgegenzusetzen, kann aber als unverhohlenes Zeichen verstanden werden, dass China klar als »systemischer Konkurrent« und »Bedrohung« wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite rüstet das chinesische Militär (und gerade seine Marine) langsam zwar, aber stetig auf. Die Spannungen wachsen sichtbar.

Anmerkung

1) Vgl. Xi Jinping: Danach streben, ein weltweites Zentrum der Wissenschaft und eine Hochburg der Innovation zu werden (习近平:努力成为世界主要科学中心和创新高地, 来源). Erschienen in »Qiushi« (qstheory.cn), 15. März 2021.

Literatur

Drinhausen, K.; Huotari, M.; Lee, J.; Legarda, H. (2021): The CCP‘s next century. Expanding economic control, digital governance and national security. MERICS Studie 10/2021 (Juni 2021).

Kang, J. (2020): The Thousand Talents Plan is part of China’s long quest to become the global scientific leader. The Conversation, 01.09.2020.

Li, L. et al. (2021): “Apple taps China’s BOE for premium displays for iPhone 13”. Nikkei Asia, 13.10.2021

Raimondi, P. P. (2021): The Scramble for Africa’s Rare Earths: China is not Alone. Italian Institute for International Studies, Juni 2021.

Shen, X. (2021): Xi Jinping says Big Tech crackdown is making progress, calls for Communist Party to ‚guide‘ companies. South China Morning Post, 31.08.2021.

Dittmer, D. (2021): Setzt China den neuen Standard in der E-Mobilität? n-tv, 08.10.2021.

Hoffman, S.; Kania, E. (2018): Huawei and the ambiguity of China’s intelligence and counter-espionage laws. ASPI, 13.09.2018.

Zhang, W. (2021): For Party Centenary, China Wants More ‘Positive Energy’ Online. Sixth Tone, 01.02.2021.

Yaybroke, E. (2020): Promote and Build: A Strategic Approach to Digital Authoritarianism. CSIS Briefs, 15.10.2020.

Krumbein, F. (2020): Taiwan’s Threatened Democracy Stays on Course. SWP-Comment, 07.02.2020.

Claudia Wessling leitet Kommunikation und Publikationen am Mercator Institute for China Studies (MERICS). Die Wissenschaftsjournalistin und Übersetzerin beschäftigt sich thematisch u.a. mit der Digitalisierung in China und der »Neuen Seidenstraße«.

Chinas Zivilgesellschaft


Chinas Zivilgesellschaft

Engagement zwischen Entwicklung, Frieden und Konflikt

von Joanna Klabisch und Christian Straube

Die gegenseitige Durchdringung von Partei, Staat und Gesellschaft hat in der Volksrepublik China zu einem Doppelcharakter zivilgesellschaftlichen Engagements geführt. Diese Entwicklung innerhalb Chinas hat Konsequenzen für das Auftreten und die Rolle chinesischer Organisationen in der ganzen Welt, allen voran im Kontext chinesischer Kampagnen wie der »Belt and Road Initiative«. Welche Rolle spielt die Zivilgesellschaft Chinas zwischen Entwicklung, Frieden und Konflikt im Inneren sowie auf internationaler Ebene?

Zivilgesellschaft eröffnet Dialog. Sie vermag Konfliktparteien an einen Tisch zu bringen und bietet Lösungen aus der Gesellschaft heraus an. Dadurch kann sie zu Frieden beitragen. Internationale zivilgesellschaftliche Kooperationen machen es möglich sich z.B. für Menschenrechte, Frauenrechte, Umwelt- und Sozialgerechtigkeit global, solidarisch und im Dialog einzusetzen. Diese Möglichkeit wirkt sich auf das politische Umfeld einzelner zivilgesellschaftlicher Akteur*innen aus und kann lokale Konflikte durch globale Herangehensweisen in eine positive Richtung lenken. Gilt dieser »people-to-people« Ansatz mit Blick auf die globalen Herausforderungen unserer Zeit auch für die Zivilgesellschaft in der Volksrepublik China?

In China hat sich die Zivilgesellschaft in ihrer Interaktion mit der Kommunistischen Partei und dem Staat anders als z.B. in den Ländern Westeuropas entwickelt.1 Zivilgesellschaftliche Organisationen arbeiten oft neben oder im Auftrag des Staates. Unter Generalsekretär Xi Jinping sollen sie zudem die Verwurzelung der Partei in der Bevölkerung sicherstellen. Kommt es etwa zu Konflikten mit chinesischen staatlichen Akteur*innen in anderen Ländern, schränkt diese Ausgangslage das konfliktlösende Potential der chinesischen Zivilgesellschaft auf der einen Seite ein. Auf der anderen Seite kann die Nähe zu staatlichen Akteur*innen die Position der chinesischen Zivilgesellschaft in internationalen Kontexten, wie z.B. gegenwärtig in der »Belt and Road Initiative« (BRI), auch stärken.

Von Graswurzelbewegungen, sozialen Unternehmen, GONGOs und PONGOs

Ob in China unabhängige Nichtregierungsorganisationen (NGOs) existieren, wird von der internationalen Öffentlichkeit und Forschung immer wieder in Frage gestellt. So entfernt sich das sozio-politische Verständnis des zivilgesellschaftlichen Sektors z.B. in Deutschland immer weiter von der unter Xi Jinping forcierten parteigebundenen Wirklichkeit der chinesischen Zivilgesellschaft. Lawrence Deane von der Universität Manitoba hält jedoch fest, dass „chinesische Bürger*innen weiterhin daran arbeiten, auf öffentliche Angelegenheiten Einfluss zu nehmen,2 wie auch Beispiele im nächsten Abschnitt zeigen.

Die meisten der über 900.000 regis­trierten zivilgesellschaftlichen Organisationen in China sind vergleichsweise jung. Sie sind etwa in Reaktion auf Umweltzerstörung und sozialen Wandel, aber auch im Zuge von Chinas Öffnung für internationale Dialogforen entstanden. Bei einigen hat der Staat eine aktivierende Rolle eingenommen. So wurden z.B. GONGOs, engl. »government organised non-governmental organisations«, aus Ministerialabteilungen initiiert oder werden von Ministerialbeamt*innen geleitet. Mit PONGOs, engl. »party organised non-governmental organisations«, hat zudem direkt die Partei diese aktivierende Rolle eingenommen. Darüber hinaus müssen laut neuen, derzeit im Entwurf vorliegenden Regularien für »soziale Organisationen«, chin. »shèhuì zuzhì« 社会组织, Organisationen aktiv Parteiarbeit leisten und Parteigruppen aufstellen.

Zivilgesellschaftliches Engagement in China hat sich trotz der starken staatlichen Einbettung nicht isoliert von der globalen Zivilgesellschaft entwickelt. Internationale Organisationen wie die Ford Foundation, Mercy Corps und der World Wildlife Fund wirkten bei der Entstehung chinesischer zivilgesellschaftlicher Strukturen mit. Sie waren in allen Themenbereichen vertreten und wurden bis 2017, als das »Gesetz zum Management ausländischer Nichtregierungsorganisationen« in China in Kraft trat und sie unter die Aufsicht des Ministeriums für öffentliche Sicherheit stellte, nur lose vom chinesischen Staat kontrolliert.3

Alle Formen zivilgesellschaftlicher Organisation in China eint, dass eine antagonistische Haltung zu staatlichen Akteur*innen und Plänen, wie auch der Partei, generell nicht geduldet wird. Es ist die Partei, die gesellschaftliche und politische Normen festschreibt. Dazu gehört auch, mit wem wie kooperiert werden darf. Die Interaktion und gegenseitige Durchdringung von Partei, Staat und Gesellschaft in China führt daher zu einem komplexen Doppelcharakter der Zivilgesellschaft, der zivilgesellschaftliches »bottom-up«-Engagement und »top-down«-Regulierung durch Partei und Staat ineinanderfließen lässt.

Zivilgesellschaftliches Engagement als Balanceakt

Die Arbeitsschwerpunkte und Methoden der Zivilgesellschaft in China stehen in einer direkten Beziehung zur sozioökonomischen Entwicklung der Gesellschaft und zu Dynamiken im politischen System der Volksrepublik. Die Umwelt- und Sozialfolgen des rasanten Wirtschaftswachstums brachten besonders seit den 1980er Jahren eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen hervor, die z.B. zur Umweltverschmutzung im Land, Arbeiter*innenrechten und Frauenrechtsthemen arbeiteten. Dieses zivilgesellschaftliche Engagement lief teils entlang, teils auch entgegen staatlicher Prioritäten.

Umweltorganisationen haben sich dem Umwelt- und Ressourcenschutz sowohl in städtischen als auch in ländlichen Lebensräumen verschrieben. Bildung, Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit über die sozialen Medien spielen eine zentrale Rolle in ihrer Arbeit. Als professionelle Ansprechpartner*innen in Umweltfragen für staatliche Behörden versuchen Organisationen vertrauensvolle Beziehungen zu Entscheidungsträger*innen aufzubauen und auf die Formulierung von Regularien Einfluss zu nehmen, betont etwa Zhao Zhong, Begründer von Green Camel Bell in Gansu.4

Zivilgesellschaftliche Akteur*innen verfolgen in ausgewählten Situationen auch einen aktivistischen »Advocacy«-Ansatz, wenn sie z.B. Umweltklagen im öffentlichen Interesse, chin. »huánjìng gongyì sùsòng« 环境公益诉讼, vor Gericht bringen. So berichtete der Korrespondent Georg Fahrion für den SPIEGEL im September 2021 über eine erfolgreiche Klage von Friends of Nature aus Beijing gegen ein Staudammprojekt in Yunnan.5 Die Auflagen und Risiken solcher Prozesse sind jedoch enorm. Zudem bedarf es vieler Ressourcen, z.B. Budgets für Anwält*innen, um einen Prozess erfolgreich durchzustehen. Nur wenige zivilgesellschaftliche Organisationen in China sind dazu in der Lage.

Frauenrechtsthemen wurden insbesondere seit der UN-Weltfrauenkonferenz 1995 in Beijing von der Zivilgesellschaft aufgegriffen. 2015 allerdings gerieten diese auf die Liste staatlich zensierter Themen in den Medien. Die ihnen von der Partei zugeschriebene politische Sensibilität nahm mit der globalen »#metoo«-Bewegung noch zu. »The Feminist Five«, fünf feministische Aktivist*innen, demonstrierten auf den Straßen Beijings in rotbefleckten Hochzeitskleidern gegen häusliche Gewalt und den mangelnden Schutz der Opfer. Die Inhaftierung der Aktivistinnen zog internationale Aufmerksamkeit auf den Umgang der chinesischen Regierung mit der zivilgesellschaftlichen Sphäre. Es wurde sichtbar, wie viele NGOs sich dieser Thematik der Frauenrechte widmen, aber auch wie viele mit administrativen Repressalien und der Aussetzung ihrer Registrierung zu kämpfen haben.

China ist entgegen dem sozialistischen Selbstverständnis eine patriarchalisch und patrilinear geprägte Gesellschaft. Frauen machen weniger als 30 Prozent der Parteimitglieder aus.6 Die Ein-Kind-Politik führte in der Bevölkerung häufig zu der Entscheidung, sich weiblicher Nachkommenschaft zu entledigen und männliche Erben zu bevorzugen. Demographisch ist die Ungleichverteilung der Geschlechter ein Problem und führt verstärkt zu Druck auf Frauen, traditionelle Geschlechterrollen einzunehmen. Die Partei hat unter Xi Jinping nicht nur rechtebasiert arbeitende NGOs und Jurist*innen als Gefahr identifiziert, sie verfolgt auch eine konservative Entwicklung des Verständnisses von Geschlechterrollen in der chinesischen Gesellschaft.

Wollen zivilgesellschaftliche Akteur*innen in China erreichen, dass sich progressive Ansätze später in Regularien oder Gesetzen wiederfinden, so „tendieren sie dazu, ihre Ideen mit den offiziellen Sprachregelungen in Beziehung zu setzen,“ hält Paul Kohlenberg von der Heinrich Böll Stiftung fest.7 Dadurch erlangt ihr Anliegen innenpolitische Legitimität und sie können bestehende Konzepte und damit den Diskurs in ihrem Sinne beeinflussen. Während die Partei versucht, zivilgesellschaftlichen Organisationen die Rolle der öffentlichen Dienstleister*in zuzuschreiben, bemühen sich diese, den offiziell beanspruchten Diskursraum zur eigenen Absicherung, Partizipation und Verfolgung ihrer Ziele zu nutzen bzw. zu weiten. Laut den Forscher*innen Judith ­Shapiro und Yifei Li stellt sich daher weniger die Frage inwieweit zivilgesellschaftliche Akteur*innen in China unabhängig von Staat und Partei arbeiten. Vielmehr sollte es darum gehen, ob Organisationen, wie beispielsweise das Institute of Public and Environmental Affairs, sich innerhalb des Systems für z.B. Informationstransparenz, oder auch die Stärkung von bürgerlicher Partizipation und Institutionen mit dem Ziel des Umweltschutzes einzusetzen vermögen.8

Zivilgesellschaftliches »Hinausgehen« zwischen Frieden und Konflikt entlang der BRI

2013 kündigte Xi Jinping die weltweit kontrovers diskutierte BRI in Kasachstan an. Die Initiative sollte nicht nur chinesischen Unternehmen einen weiteren Schub in ihrer internationalen Aufstellung verleihen, sondern auch zivilgesellschaftliche Akteur*innen zum »Hinausgehen«, chin. »zou chuqù« 走出去, animieren. Bereits während des ersten Seidenstraßenforums 2017 wurde NGOs ein konkreter Platz in der BRI zugedacht: ergänzend zu den wirtschaftlichen und politischen Beziehungen sollen sie die »people-to-people« Beziehungen zwischen China und den Partnerländern verbessern.

Zivilgesellschaftliche Organisationen in anderen Staaten haben jedoch ihr ganz anderes Selbstverständnis und traten in der Folge mancherorts, wie z.B. in Myanmar, chinesischen Unternehmen bis zum Projektstopp entgegen.9 Die chinesische Regierung wiederum bevorzugt eine selektive und auf wirtschaftlicher Entwicklung basierende Einbindung chinesischer und lokaler Akteur*innen, um vor allem Reputationsrisiken für die beteiligten Unternehmen aufzufangen. In diesem Sinne sind auch die »Arbeitsrichtlinien zur grünen Entwicklung von Auslandsinvestitionen und -kooperationen« der chinesischen Ministerien für Außenhandel und wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ökologie und Umweltschutz von 2021 zu verstehen.

In ihrer aktuellen Daseinsform scheint die BRI das ihr von der chinesischen Regierung zugesprochene friedensfördernde Potential nicht erfüllen zu können. Das chinesische Verständnis von Konflikt und Sicherheit ist eng mit dem Konzept von wirtschaftlicher Entwicklung verbunden. So wird von staatlicher chinesischer Seite ein auf wirtschaftlichem Wachstum basierendes Friedensmodell vorangetrieben. Persönliche und politische Freiheiten werden nicht priorisiert. Das Entwicklungsmoment liegt führend bei der Regierung und weniger bei der Zivilgesellschaft, fasst Yin He den sogenannten »developmental peace«-Ansatz hinter der BRI und Chinas globalem Engagement zusammen.10

In der Studie »Conflict Dynamics and the Belt and Road Initiative«, verfasst für Brot für die Welt, kommt Jason Tower vom United States Institute of Peace zu dem Schluss, „dass die BRI konfliktblind ist.11 Demnach fehlt es BRI-Akteur*innen an Richtlinien und Handlungsorientierung in Konfliktgebieten, wie z.B. in den nördlichen Grenzregionen Myanmars. Es sind jedoch gerade auch diese konfliktreichen Umgebungen, in denen etwa Infrastrukturprojekte von chinesischen Unternehmen umgesetzt werden.12 Intersektorale Dialogforen zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen aus China und den Partnerländern könnten somit für mehr Konfliktbewusstsein auf der Seite chinesischer BRI-Akteur*innen sorgen und so eine pluralistischere chinesische Einbindung in transnationale Prozesse fördern.

Lina Benabdallah weist in »China’s Peace and Security Strategies in Africa« auf die Beschränktheit des »developmental peace«-Ansatzes hin. Die Überzeugung, dass „Unterentwicklung an der Wurzel von Konflikten liegt, kann jedoch zu unbeabsichtigten Konsequenzen führen, die sich negativ auf lokale Bevölkerungen, die Umwelt und soziale Gerechtigkeit auswirken.“ 13

Frieden kann nur im Dialog mit der Zivilgesellschaft hergestellt werden. Dies gilt sowohl für die Volksrepublik China im Inneren als auch für chinesische Investitionen in Konfliktregionen. Ob zivilgesellschaftliche Organisationen es schaffen, sich mehr Raum zu erkämpfen, um ihren konfliktmindernden Einfluss auszuüben, ist ungewiss, denn mittlerweile ist das Bild der Zivilgesellschaft als Gefahr für die eigene »harmonische Gesellschaft« und den »friedvollen Aufstieg« Chinas in der Partei sehr gefestigt.14

Anmerkungen

1) Klabisch, J.; Straube, C. (2021): Zivilgesellschaft und China: weniger Raum, mehr Dia­logbedarf. Stiftung Asienhaus.

2) Deane, L. (2021): Will There Be a Civil Society in the Xi Jinping Era? Advocacy and Non-Profit Organising in the New Regime. Made in China Journal, 15.07.2021.

3) Lang, B. (2019): Anpassung, Einhegung, Aneignung: Chinesische Strategien im Umgang mit internationalen Normen und Akteuren der Zivilgesellschaft, ASIEN 152/15.

4) Interview der Autor*innen, 8. September 2021.

5) Fahrion, G. (2021): Wie ein Biologiestudent gegen chinesische Behörden triumphierte. DER SPIEGEL 36/2021, 05.09.2021.

6) Lu, S. (2020): Pretty Lady Cadres: New Data Shows the Limits of Women’s Advancement in China’s Leadership. ChinaFile, 21.12.2020.

7) Fuhr, L. (2021): „Ecological Civilization“ und Schutz biologischer Vielfalt – ein Blick nach China anlässlich der 15. Vertragsstaatenkonferenz der CBD. Heinrich-Böll-Stiftung, 27.08.2021.

8) Li, Y.; Shapiro, J. (2021): China Goes Green: Coercive Environmentalism for a Troubled Planet. Cambridge: Polity Press, S. 29f.

9) Ramachandran, S. (2019): The Standoff Over the Myitsone Dam Project in Myanmar: Advantage China. The Jamestown Foundation, 24.04.2019.

10) He, Y. (2021): A tale of two “peaces”: Liberal peace, developmental peace, and peacebuilding. In: Fung, C. J.; Gehrmann, B.; ­Madenyika, R. F.; Tower, J. G. (Hrsg.): New Paths and Policies towards Conflict Prevention. Chinese and Swiss Perspectives. London: Routledge, S. 42-53.

11) Tower, J.G. (2020): Conflict Dynamics and the Belt and Road Initiative: Ignoring Conflict on the “Road to Peace”, Brot für die Welt.

12) Abb, P.; Swaine, R.; Jones, I. (2021): Road to Peace or Bone of Contention? The Impact of the Belt and Road Initiative on Conflict States. Peace Research Institute Frankfurt (PRIF), S. 14.

13) Benabdallah, L. (2016): China’s Peace and Security Strategies in Africa: Building Capacity is Building Peace?, African Studies Quarterly 16:3-4, S. 26.

14) ChinaFile (2013): Document 9: A ChinaFile Translation.

Joanna Klabisch und Christian Straube leiten das China-Programm der Stiftung Asienhaus. Sie haben Ostasienwissenschaften mit dem Schwerpunkt China bzw. Moderne Sinologie an der Universität Heidelberg und an Universitäten in China studiert. Joanna Klabisch arbeitet seit ihrem Studium und ihren darauffolgenden Aufenthalten in China zur chinesischen Zivilgesellschaft, Umweltschutz und sozialer Gerechtigkeit. Christian Straube hat im Rahmen seiner Promotionsforschung chinesische Investitionen in Ost- und Zentralafrika und den China-Afrika-Diskurs untersucht.

Verflochtene Machtstrukturen


Verflochtene Machtstrukturen

Ökologie, Klima- und Energiepolitik in China

von Anja Senz

Der Beitrag gibt einen Einblick in die aktuelle umwelt- und klimapolitische Situation der Volksrepublik China. Betrachtet werden einerseits die ökologischen Herausforderungen, die aus einer langen Phase des Wirtschaftswachstums resultieren und andererseits die Umsetzungsprobleme in der Umwelt- und Klimapolitik, die sich aus den gegenwärtigen ökonomischen und politischen Strukturen ergeben. Neben den offiziellen klimapolitischen Ambitionen werden unterschiedliche innerchinesische Interessenlagen und Vollzugsdefizite betrachtet, die ein klimapolitisches Umsteuern erschweren.

Die Entwicklungen in China sind seit vielen Jahren Thema in internationalen Debatten zu Umwelt- und Klimaschutz. Als großer Emittent von Treibhausgasen gilt das Land als »Klimasünder« und internationalen Umweltindizes zu Folge hat sich im Zuge der rapiden Wirtschaftsentwicklung in den letzten drei Jahrzehnten die Umweltsituation erheblich verschlechtert. Gesellschaftliche Unzufriedenheit ist ein Resultat des enormen Ausmaßes der Umweltzerstörung. Allerdings ist »Umweltstress« kein neues Phänomen in China. Neben den von Menschen erzeugten Problemen stellen schwierige naturräumliche Gegebenheiten eine Langzeitherausforderung dar. Chinas agrarisch nutzbare Fläche steht seit jeher in ungünstiger Relation zur Bevölkerungsgröße, denn nur etwa 12,5 % des Territoriums ist landwirtschaftlich nutzbar, wobei durch Urbanisierung und Industrialisierung in den letzten Dekaden viele Agrarflächen verlorengingen. Problematisch ist auch die Verfügbarkeit von Wasser: mit sechs Prozent der weltweiten Frischwasserreserven müssen heute knapp 20 % der Weltbevölkerung versorgt werden. Schwer wiegt, dass die Wasserressourcen in Nord-Süd-Richtung ungleich verteilt sind, wodurch der Süden von Wasserreichtum, der Norden jedoch von Trockenheit und häufigen Dürreperioden gekennzeichnet ist. Großprojekte zur Kanalisierung des Wassers nach Norden bewegen die politische Führung daher seit langem.

Die Umweltsituation heute

Luftverschmutzung, ausgelaugte oder mit Schadstoffen belastete Böden und schlechte Wasserqualitäten kennzeichnen China heute landesweit. Besonders die alten Industrieregionen im Nord­osten sowie die Industriezentren am Yangzi- und am Perlflussdelta sind von Emissionseinträgen durch sauren Regen, Chemikalien aus der Landwirtschaft, Industrie- und Bergbauaktivitäten sowie einer ungeregelten Müllbeseitigung betroffen. Großflächige Infrastrukturprojekte, forcierte Ressourcenextraktion, Intensivierung der Landwirtschaft, Urbanisierung, zunehmende Mobilität und Binnenmigration, der steigende Energiebedarf und die Lebensgewohnheiten der wachsenden urbanen Mittelschicht haben als Ausdruck einer auf rasches Wirtschaftswachstum ausgerichteten Entwicklungsstrategie enorme ökologische Konsequenzen.

Bereits Mitte der 2000er Jahre wies die nationale chinesische Umweltbehörde erstmals darauf hin, dass die Steigerung des Bruttoinlandsproduktes durch die Umweltzerstörung aufgezehrt würde, weil die Kosten der Umweltdegradation dem Wert des jährlichen Wirtschaftswachstums entsprächen. Eine aktuelle Weltbankstudie kommt zu einem ähnlichen Resultat. So geraten viele Menschen in finanzielle Not, weil sie die Erträge ihrer verseuchten Böden nicht mehr verkaufen können. Knapp 300 chinesische Städte, deren bisherige ökonomische Basis die Rohstoffextraktion (Kohle, Mineralien, Forstwirtschaft) war, gelten offiziell als »ressourcenerschöpft«. Für Millionen von Menschen bedeutet das den Verlust des Arbeitsplatzes und das Angewiesensein auf staatliche Grundversorgung.

Staat und Gesellschaft

Die Anzahl der (Umwelt-)Proteste hat in den letzten zwei Jahrzehnten stetig zugenommen. Das Internet und neue Möglichkeiten der digitalen Vernetzung erweisen sich als wichtige Informations- und Mobilisierungsinstrumente. Während Effekte des Klimawandels nur in geringem Maße als gesellschaftliche Herausforderung thematisiert werden, rangieren die vielfältigen Umweltprobleme in Umfragen zu den Sorgen der chinesischen Bevölkerung stets auf den vorderen Plätzen. Die Menschen erwarten Lösungen von der Politik (vgl. auch Klabisch und Straube in dieser Ausgabe). Das ist nicht erstaunlich in einem Staat, der der Gesellschaft wenig Freiraum für Debatten und Selbstorganisation lässt und für alle relevanten Fragen Zuständigkeit reklamiert. Doch Chinas Führung hat nicht nur aus Gründen der politischen Stabilität und Legitimation inzwischen ein vitales Interesse an der Verbesserung der Umwelt. Für eine weitere positive ökonomische Entwicklung sind Innovation und die Produktion hochwertiger Güter essentiell. Neue Umwelttechnologien und beispielsweise die Elektromobilität sind mögliche Wege aus der Sackgasse billiger Massenproduktion und ein internationaler Markt mit großem Potential (Senz 2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Dynamiken ab 1978 mit Liberalisierung und Dezentralisierung haben ein politisches System geschaffen, das durch eine Vielzahl von Akteuren mit diversen Eigen­interessen gekennzeichnet ist, die sich in einer komplizierten Matrix aus vertikalen und horizontalen behördlichen Kompetenzen bewegen. Dies erschwert die landesweite Steuerung und Durchsetzung von Politiken, Gesetzen und Mindeststandards und lokale Behörden nutzen die vielfältigen Spielräume für eigene politische Ziele (Senz 2017). Viele Gesetzestexte formulieren nur allgemeine Prinzipien und erweisen sich als lückenhaft im Hinblick auf eindeutige Verantwortlichkeiten. Ein schwaches Rechtssystem vermag die Durchsetzung von Ansprüchen nicht sicherzustellen. Lokaler Protektionismus, Korruption und ein doppeltes Berichtswesen (­Heberer und Senz 2011), in dessen Rahmen inhaltlich variierende Ergebnissen nach oben gemeldet werden sowie eine oft mangelhafte Ausstattung und Qualifikation der lokalen Verwaltungen resultieren in großen Vollzugsdefiziten, gerade auch bei der Implementierung von Umweltgesetzen. Normativ geht Wirtschaft vor Klimaschutz und administrativ erweist sich die Umsetzung umwelt- und klimapolitischer Maßnahmen als kompliziert.

Die Herausforderung der Dekarbonisierung

Etwa 25 % des weltweiten Energieverbrauchs entfallen auf China. Kohlekraft dominiert im chinesischen Energiemix (ca. 58 % in 2019), der Anteil der erneuerbaren Energien liegt derzeit bei ca. 15 %. Während pandemiebedingt der Stromverbrauch in den großen Industrie- und Schwellenländern im Jahr 2020 sank, verzeichnet China weiterhin einen wachsenden Stromverbrauch. Eine Auswertung statistischer Daten ist aufgrund sich teils ändernder Berechnungsgrundlagen u.a. im Bereich der Windenergie sowie der Vermischung mit politischen Zielgrößen (z.B. aus den Fünfjahresplänen) schwierig.

Für die chinesische Ökobilanz wird die langfristige Stromerzeugung über erneuerbare Energien entscheidend sein. Neben der Reduzierung von CO2-Emmissionen durch den Ausbau erneuerbarer Energien und der Verbesserung der Energieeffizienz sowie des Stromnetzes (Yang et al. 2016), ist die Regulierung der heimischen Kohleindustrie von Bedeutung. Eingeleitete, aber oft nur halbherzig umgesetzte Maßnahmen reichen vom Baustopp bei Kohlekraftwerken, strengeren Grenzwerten und Effizienzstandards für Kraftwerke, Importabgaben auf Kohle bis zur angestrebten Deckelung der Kohlekapazitäten bei 55 % im Energiemix.

Doch stellt die Kohleindustrie nicht nur den Löwenanteil der genutzten Energie bereit – etwa die Hälfte der weltweit geförderten Kohle wird in China verbrannt –, sondern war und ist auch ein wichtiger Arbeitgeber. Während strukturell zunächst Staatsunternehmen dominierten, wuchs ab den späten 1970er Jahren die Bedeutung lokaler Minen im kommunalen Besitz. Hiermit konnte der Energiebedarf flexibler gedeckt werden, die kleineren Unternehmen wirtschafteten profitabler, allerdings vielfach um den Preis schwerster Umweltschäden. Neben dem Abbau sind hierbei auch die Effekte des Transportes und der Infra­struktur zu berücksichtigen. Ab den 1990er Jahren waren in der Kohleindustrie nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen sechs und zehn Millionen Menschen direkt beschäftigt (Wright 2012). Die Regulierung dieses Industriezweigs gestaltet sich schwierig: Kleinminen, die aufgrund der gefährlichen Arbeitsbedingungen, ihrer negativen Ökobilanz und der Konkurrenz zu den Großunternehmen in der Kritik stehen, sind zwar in den letzten zwei Jahrzehnten nach und nach geschlossen worden – allerdings mit gravierenden sozialpolitischen Folgen besonders in Regionen, die einseitig von der Kohle abhingen. Auch wirken sich Eingriffe in die Branche auf die Verfügbarkeit von Elektrizität sowie die Strom- und die Verbraucherpreise aus, so dass Regulierungsmaßnahmen auf vielfältige Widerstände stoßen. Häufig werden daher Minen »formal« geschlossen, arbeiten jedoch de facto weiter, wie sich aus nachträglich korrigierten Daten zur Kohleproduktion schlussfolgern lässt.

Klimaschutzambitionen und die Interessen des Energiesektors

Zentral regulierende Akteure des Energiesektors sind die Nationale Entwicklungs- und Reformkommission (NDRC), die Nationale Energiebehörde (NEA) und das Ministerium für Umwelt und Ökologie (MEE). Mit dem zwölften Fünfjahresplan (2011-2015) wurde der Emissionshandel als marktorientierte Maßnahme zur Steuerung von Emissionen testweise in sieben Pilotstädten eingeführt (Heggelund 2021). Nach Auswertung und Anpassung wurde schließlich im Juli 2021 der Startschuss für den nationalen Emissionshandel gegeben. Der Handel erstreckt sich vorerst nur auf Firmen des Energiesektors mit CO2-Emissionen über 26.000 Tonnen pro Jahr (Raiser, Eckardt und Ruta 2021). Bereits der dreizehnte Fünfjahresplan (2016-2020) deckelte erstmals den Kohleanteil an der gesamten Energieproduktion auf 58 %. Ein Aktionsplan gegen Luftverschmutzung sollte zwischen 2013 und 2017 zur Reduktion von Kohlekraft beitragen, wurde jedoch durch ein Gesetz von 2014, nach dem die Provinzen selbst über die Inbetriebnahme von Kohlekraftwerken entscheiden können, konterkariert. Ein Ampelsystem zur Inbetriebnahme von Kohlekraftwerken, das daraufhin im Jahr 2016 angestrebt wurde, erweist sich als zu unspezifisch.

Neben vertikalen Interessen zwischen der Zentrale und den Regionen spielen auch horizontale Belange eine Rolle. Hier stehen zum Beispiel der nationalen Energiebehörde die Staatsbetriebe und der Elektrizitätsrat gegenüber, der die Stromerzeuger vertritt. Das Umsteuern im Energiesektor ist auch bezüglich der Energiesicherheit tückisch: Stromausfälle in zahlreichen Provinzen über das gesamte Jahr 2021 deuten auf erhebliche Engpässe hin; Unternehmen wurden aufgefordert, den Energieverbrauch während der Spitzenlastzeiten zu reduzieren oder die Anzahl der Betriebstage zu begrenzen. Energieintensive Industrien wie die Stahlindustrie, die Aluminiumverhüttung, die Zementherstellung und die Düngemittelproduktion gehören zu den Unternehmen, die am stärksten von den Ausfällen betroffen sind.

Innovativer Klimaschutz?

Zu innovativen Ansätzen des Klimaschutzes gehören seit 2010 Pilotprojekte im Bereich »kohlestoffarmer Städte« (Low Carbon Cities). In diesen Städten sollen Pläne zur Emissionsreduktion erarbeitet und implementiert werden, um den Menschen einen nachhaltigen Lebensstil zu ermöglichen. Allerdings gibt es keine projektspezifischen Ziele. Eine andere Initiative zur »Grünen Finanzierung« soll große Banken dazu bewegen, nachhaltige Projekte durch Kredite und Fonds zu unterstützen, den Nachhaltigkeitsaspekt in ihre Invest­ment­ent­schei­dungen aufzunehmen und u.a. die Pilotstädte zu unterstützen (­Sandalow 2020, S. 108f.). Bisher ist der Erfolg in den Städten und Provinzen jedoch gering. Vielen lokalen Entscheidungsträger*innen fehlt es an Fachkenntnis, wissenschaftlichen Partnern, oft ist auch die Amtszeit schlicht zu kurz, um langfristige Strategien zu verfolgen (Lo, Li und Chen 2020, S. 109). Weil viele Lokalregierungen vor allem in den ärmeren Landesteilen ihren Arbeitsschwerpunkt auf die Förderung der Wirtschaft legen, ist in den letzten Jahren eine Rezentralisierung eingeleitet worden. Unter diesen Bedingungen vermeiden lokal Verantwortliche jedoch zwecks Reduzierung politischer Risiken oftmals innovative Strategien (Zhang, Orbie und Delputte 2020).

Internationale Klimadiplomatie

Nach langer Zurückhaltung verfolgt die chinesische Regierung seit 2015 offiziell einen neuen Klimakurs und formulierte im Kontext der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCC) als nationale Ziele einige Absichten, darunter vor 2030 den Höhepunkt der Emissionen zu erreichen, den Anteil von nicht fossilen Energiequellen auf 20 % zu erhöhen und die CO2-Intensität im Vergleich zu 2005 um 60-65 % senken. Im Jahr 2020 kündigte Staatspräsident Xi Jinping weiterhin an, China solle bis 2060 klimaneutral werden. Im September 2021 sagte er zu, China werde im Ausland keine Kohlekraftwerke mehr bauen. Bisher hatte die chinesische Regierung die Ausrichtung auf fossile Brennstoffe in den Zielländern zum Beispiel im Rahmen von Auslandsinvestitionen der sogenannten »neuen Seidenstraße« unterstützt und gilt mit Blick auf Bau und Finanzierung als einer der globalen Hauptförderer.

Insgesamt erscheint das Land damit in puncto Klima- und Umweltschutz heute als durchaus ambitioniert, ob angesichts der vielen innerchinesischen Herausforderungen die anvisierten Ziele aber auch umgesetzt werden können, bleibt abzuwarten.

Literatur

Heberer, Th.; Senz, A. (2011): Streamlining local behaviour through communication, incentives and control: a case study of local environmental policies in China. Journal of Current Chinese Affairs 3, S. 77-112.

Heggelund, G. M. (2021): China’s climate and energy policy: at a turning point?. International environmental agreements: politics, law and economics 21, S. 9-23.

Lo, K.; Li, H.; Chen, K. (2020): Climate experimentation and the limits of top-down control: local variation of climate pilots in China. Journal of Environmental Planning and Management 63(1), S. 109-126.

Raiser, M.; Eckardt, S.; Ruta, G. (2021): Carbon Market Could Drive Climate Action. The World Bank. Opinion, 19.07.2021.

Sandalow, D. (2020): Guide to Chinese climate policy 2019. Columbia University Sipa, Center on Global Energy Policy.

Senz, A. (2017): Zwischen zerstörter Umwelt und Ökolabor – Perspektiven einer sozial-ökologischen Transformation in China. In: Brand, K.-W. (Hrsg.): Die sozial-ökologische Transformation der Welt. Ein Handbuch. Frankfurt/M.: Campus, S. 351-372.

Senz, A. (2020): China als Trendsetter in der E-Mobilität? Von Smog, industriepolitischen Ambitionen und dem Statussymbol Auto. In: Brunnengräber, A.; Haas, T. (Hrsg.): Baustelle Elektromobilität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Transformation der (Auto-)Mobilität. Bielefeld: transcript, S. 229-254.

Yang, X. J. et al. (2016): China’s renewable energy goals by 2050. Environmental Development 20, S. 83-90.

Zhang, Y.; Orbie, J.; Delputte, S. (2020): China’s climate change policy: central–local governmental interaction. Environmental Policy and Governance 30(3), S. 128-140.

Anja Senz ist Professorin für gegenwartsbezogene Chinaforschung an der Universität Heidelberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen u.a. auf den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft in der chinesischsprachigen Welt sowie Umwelt- und Ressourcenfragen in China.

Symbol und Modell Chongqing


Symbol und Modell Chongqing

Entwicklung und soziale Konflikte im chinesischen Hinterland

von Florian Thünken

Die innergesellschaftlichen Konsequenzen der rasanten urbanen Entwicklungen Chinas stehen im Fokus dieses Beitrags. So klaffen große Lücken zwischen den Metropolen und dem eher vernachlässigten Hinterland: es herrscht ein klares Einkommens-, Wohlstands- und Bildungs­gefälle, ebenso unterscheiden sich im direkten Vergleich Lebensweise und Familienstrukturen zum Teil stark. Kaum eine Stadt bündelt diese Herausforderungen so deutlich wie Chongqing, die »größte Stadt der Welt«.

Die Volksrepublik China wird medial allzu oft durch eine wirtschaftliche Linse betrachtet, bei der stetiges und vermeintlich ungebremstes Wachstum im Fokus steht, meist begleitet von beeindruckenden Bildern chinesischer Megastädte, wie z.B. Beijing, Shanghai oder Shenzhen. Diese Bilder der gigantischen, dicht bevölkerten und im ständigen Wandel befindlichen Metropolen, mit ihren riesigen Hochhauslandschaften und einer hochmodernen Infrastruktur, unterstreichen das Bild einer im Aufbruch befindlichen Nation. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich allerdings ein vielschichtiges Bild, gerade mit Blick auf die kleinen und mittelgroßen Städte jenseits der entwickelten Megastädte. Dabei offenbaren sich große Lücken zwischen den Metropolen und den weniger entwickelten kleinen Städten: ein klares Einkommens-, Wohlstands- und Bildungsgefälle, ebenso unterscheiden sich im direkten Vergleich Lebensweise und Familienstrukturen zum Teil stark. Der Zugang zu den großen Städten, und damit zu wichtigen Ressourcen wie Bildung, Arbeit, sozialen Sicherungssystemen und sozialem Wohnungsbau, wird durch systemische Hürden, wie z.B. dem System der Haushaltsregistrierung, dem »Hukou«, erschwert.

Das daraus entstehende soziale Konfliktpotential, welches sich aus der sich öffnenden Schere zwischen arm und reich sowie zwischen städtischem und ländlichem Raum ergibt und das langfristig die Alleinherrschaft der kommunistischen Partei bedrohen könnte, wird von der Zentralregierung seit Ende der 2000er Jahre mit gezielten Maßnahmen angegangen. Das Programm zur „neuartigen Urbanisierung“, welches mit einer „menschliche[n] Urbanisierung“ von 2014 bis 2020 unter anderem für eine schnellere Entwicklung kleiner und mittelgroßer Städte sorgen sollte, ist eine solche Maßnahme (Meyer-Clement 2015, S. 5-8). Dabei wird der eingeschlagene Weg einer weiteren und stetigen Urbanisierung des Großteils der Landbevölkerung nicht in Frage gestellt. Denn die drohende Überalterung der chinesischen Gesellschaft, noch bevor ein zufriedenstellendes Wohlstandsniveau für große Teile der Bevölkerung realisiert wurde, erhöht den Druck auf die chinesische Regierung, das Land möglichst schnell von der »Werkbank der Welt« hin zu einer Innovationswirtschaft mit höherer Wertschöpfung zu entwickeln.

Im Folgenden sollen die oben beschriebenen Konflikte um Wohlstandsverteilung, Zugang zu Stadt, (Bildungs-)Gerechtigkeit und Differenzen zwischen Stadt und Land am Beispiel der Metropole Chongqing erörtert werden.

Chongqing: geographische und administrative Verortung

Chongqing liegt im Südwesten Chinas am Yangzi und ist die jüngste von fünf sogenannten regierungsunmittelbaren Städten – und die einzige, die nicht an der weiter entwickelten Ostküste liegt. Die Entwicklung des Hinterlands, die Umsiedlung von mehr als einer Million Menschen aufgrund des Baus des Drei-Schluchten-Staudamms in der Nachbarprovinz Hubei, und die Vorgabe, als wirtschaftlicher Motor für große Teile des Südwestens zu wirken, führten dazu, dass Chongqing im Jahr 1997 von der Provinz Sichuan abgespalten wurde. Regierungsunmittelbare Städte unterstehen direkt der Zentralregierung in Beijing und stehen somit auf dem gleichen administrativen Rang wie Provinzen. Zwar handelt es sich administrativ um Städte, doch umfasst das Verwaltungsgebiet oft ein riesiges, wenig urbanisiertes Hinterland. Somit ist es rein formalrechtlich zwar korrekt von Chongqing als größter Stadt der Welt zu sprechen, in Wirklichkeit finden sich neben dem eigentlichen Stadtkern aber viele größere und kleinere Städte sowie kleine und teils sehr arme Gemeinden und Dörfer, die über eine Fläche verstreut sind, die ungefähr der Größe Österreichs entspricht (siehe Karte). Über 65 Prozent der 32 Mio. Einwohner*innen leben bereits heute in Städten und Gemeinden.

In den Fokus des wissenschaftlichen und medialen Interesses rückte die Stadt von 2007 bis 2013, als unter Bo Xilai nicht nur eine radikale Kampagne gegen mafiöse Strukturen geführt wurde, sondern die Verwaltung auch massiv in den sozialen Wohnungsbau investierte, das Hukou-System durchlässiger gemacht und alte sozialistische und maoistische Ideale erneut beschworen wurden. Ähnlich wie in der Nachbarstadt Chengdu in der Provinz Sichuan konzentrierte sich die politische Führung in Chongqing in der Folge auf eine bessere Integration von Stadt und Land, z.B. durch Angleichung der sozialen Sicherungssysteme und Ausbau der Infrastruktur. Damit diente Chongqing auch als Modell: viele der lokalen Experimente spiegeln sich mittlerweile, wenn auch in abgeschwächter Form, in politischen Plänen auf der Zentralebene wider – wie dem »Plan zur neuartigen Urbanisierung«.

Städtischer Wandel und gesellschaftlicher Umbruch im Zentrum

Besucht man die am Berg gebaute Kernstadt Chongqings, so zeigt sich der dramatische Wandel: das historische Stadtzentrum im Bezirk Yuzhong wurde radikal umgestaltet, traditionelle Bauwerke finden sich kaum noch. Viel mehr prägen neue architektonische Landmarken aus Glas und Stahl mittlerweile die städtische Landschaft. Auch die angrenzenden Stadtbezirke vermitteln das Bild einer pulsierenden Metropole, die anscheinend niemals zur Ruhe kommt. Gesellschaftlich ist die Stadt ebenfalls im Wandel begriffen. War das Stadtbild, insbesondere im Zentrum, vor rund zehn Jahren noch von einfachen Lastenträger*innen geprägt, den sogenannten »Bangbang«, so trifft man diese heute nur noch selten an (Qin 2015). Längst haben Expresslieferdienste das traditionelle Gewerbe verdrängt. Wanderarbeiter*innen, die früher oft als »Bangbang« tätig waren, verdingen sich in anderen Branchen und ziehen, auch aufgrund stetig steigender Immobilienpreise, zunehmend in die Peripherie der Großstadt oder kehren gar ganz in ihre Heimatorte zurück, die sich in den letzten Jahren oft teils zu mittelgroßen Städten entwickelt haben. Damit folgen sie vermeintlich der Logik des Urbanisierungsplans der Zentralregierung, der die großen Städte Chinas als wirtschaftliche Motoren versteht, die indirekt umliegende Städte und Gemeinden mit entwickeln sollen.

Die Folgen für die Peripherie

In Chongqing wurden dementsprechend Teile der alten industriellen Basis in Vororte und Satellitenstädte verlegt, in denen sich auch neue Industrien bevorzugt ansiedeln sollen. Zusammen mit der Verschiebung von Arbeitsplätzen wird auch die industrielle Verschmutzung aus den großen urbanen Zentren in die Peripherie verlagert.

Verschlechtert wird die ökologische Situation, gerade in der Peripherie, zusätzlich durch längere Dürreperioden und geringe Niederschlagsmengen. Es wird kontrovers diskutiert, ob dies negative Auswirkungen der Konstruktion des Drei-Schluchten-Staudamms auf das lokale Mikroklima sind, oder, wie die meisten Expert*innen vermuten, es sich eher um Effekte der globalen Erwärmung handelt (Jiao 2013, S. 52f.). Während in der Kernstadt in den letzten Jahren die Luftqualität verbessert wurde, nahm diese in einigen Satellitenstädten rapide ab. Laut Urbanisierungsplan sollen sich Wanderarbeiter*innen und Landbewohner*innen vermehrt in diesen kleinen und mittelgroßen Städten ansiedeln und zur Entwicklung beitragen. Dabei gelten kaum Voraussetzungen für die Ansiedlung, die Haushaltsregistrierung kann in den meisten Fällen problemlos verlegt werden. Die großen Metropolen hingegen sollen den Zuzug stärker reglementieren und dürfen eigene Kriterien für die Niederlassung erlassen. Gängige Kriterien, die oft in Punktesystemen ausgedrückt werden, reichen von einer gesicherten Beschäftigung, einem Dach über dem Kopf oder einer Mindestauf­enthaltsdauer in der Stadt, bis hin zur Verpunktung der eigenen Bildungsbiographie oder der Einzahlung in diverse soziale Sicherungssysteme (Wang 2021, S. 283f.).

Urbanisierung von unten gesehen

Bei Gesprächen mit Menschen, die in kleinen und mittelgroßen Städten in der Peripherie und deren angeschlossenen Gemeinden und Dörfern leben, zeigt sich schnell, dass allerdings nicht nur die politische Lenkung der Migration eine wichtige Rolle bei der Wohnortswahl spielt. Die weitaus größten Faktoren – und oftmals Hindernisse – sind wirtschaftlicher Natur (Zhan 2011, S. 278f.). Dabei üben die großen Metropolen immer noch eine ungebrochene Anziehungskraft aus, insbesondere aufgrund der weitaus besseren Schulen, besser ausgebauter sozialer Sicherungssysteme und eines höheren Lebensstandards.

Die oft unzureichend ausgebildeten Landbewohner*innen können allerdings meist nur um schlecht bezahlte Arbeitsplätze in den Metropolen konkurrieren. Parallel wird das Leben in den großen Städten immer kostspieliger. Somit bleibt vielen Wanderarbeiter*innen letztlich nur die Ansiedlung in weniger beliebten und weniger prosperierenden Städten.

Ein entscheidender Grund dafür, überhaupt in eine kleine Stadt zu ziehen, ist die große Differenz in den Bildungsangeboten zwischen Stadt und Land. Auch wenn die Schulen in kleinen Städten oft immer noch weitaus schlechter ausgestattet sind als jene in den Metropolen, so können durch den Umzug doch die Bildungschancen der eigenen Kinder verbessert werden. Eine bessere Arbeit, berufliche oder gar persönliche Selbstverwirklichung hingegen werden nur selten als Gründe für die Niederlassung in kleineren Städten genannt. Das Verständnis der meisten ist: Nur durch Bildung können die nachfolgenden Generationen einen sozialen Aufstieg erreichen.

Interessanterweise wird das städtische Leben von vielen Landbewohner*innen nicht per se als etwas Erstrebenswertes angesehen, anders als von Partei und Regierung, die Urbanisierung als einzigen Weg zur Modernisierung verstehen. Das Landleben wird generell als ruhiger, selbstbestimmter und gesünder angesehen. Viele neue Stadtbewohner*innen sehen den Aufenthalt in den Städten daher auch als eine Phase, nach deren Ende sie ihren Ruhestand auf dem Land verbringen wollen. Einzig die nachkommenden Generationen sollen langfristig in den Städten Fuß fassen, so das Narrativ.

Konflikte um Boden
und Wohnraum

Bei einem permanenten Umzug in eine Stadt sollte langfristig auch der Hukou in diese Stadt verlegt werden, nur so erhält eine Bewohner*in vollen Zugang zum städtischen System. Um allerdings nicht das Bodennutzungsrecht zu verlieren, das an den Besitz eines ländlichen Hukou geknüpft ist, verlegen Landbewohner*innen oftmals nur den Hukou einer Ehepartner*in in die Stadt. Dieses strategische Kalkül kann zu weiteren Konflikten zwischen ländlicher Bevölkerung und der Regierung führen. Land ist eine knappe Ressource in China, die für die weitere Expansion der Städte, aber auch für die Herstellung der Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln, dringend benötigt wird. Haushalte, die ihre Bodennutzungsrechte nicht aufgeben wollen, stellen aus Sicht der Regierung eine doppelte Belastung dar. Sie nehmen sowohl städtische Leistungen in Anspruch, führen ihren Boden aber nicht einer weiteren wirtschaftlichen Verwertung durch die Lokalregierung zu, sei es als Agrar- oder Bauland.

Aufgrund ihrer oft prekären Lage sind neue Stadtbewohner*innen aber häufig nicht gewillt, den eigenen Boden aufzugeben, gilt er doch als letzte Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit oder Krankheit. Die neuen Wohnverhältnisse spielen hierbei ebenfalls eine Rolle. Selbst wenn Landbewohner*innen über verschiedene Programme, bei denen z.B. Agrarland gegen Wohnraum getauscht wird, vergünstigten Zugang zu städtischen Wohnungen erhalten, sind diese oft nicht auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten – trotz »menschlicher Urbanisierung«. Bemängelt werden unter anderem Größe, Qualität und Lage der Wohnungen. Familien vom Land leben oft mit mehreren Generationen unter einem Dach und haben häufig mehrere Kinder. Ersatzwohnungen sind aber meist nur auf die Kernfamilie zugeschnitten, liegen meist in der Peripherie der Städte und es wird nicht selten am Baumaterial gespart.

Selbst in Chongqing, wo überdurchschnittlich viele Ressourcen in den sozialen Wohnungsbau investiert wurden, genießt dieser keinen guten Ruf und wird allenfalls als Sprungbrett in die Stadt gesehen. In kleineren Gemeinden trifft man auf Familien, die lieber illegal eigene Häuser errichten, die es ihnen erlauben einer eher traditionellen Lebensweise nachzugehen, als städtischen Wohnraum in Anspruch zu nehmen. Hier zeigt sich, dass gerade auf der untersten administrativen Ebene die Umsetzbarkeit politischer Vorgaben aus Beijing problematisch ist und die Entwicklung vor Ort gänzlich vom Plan abweichen kann, auch wenn sich dies nicht unbedingt in den Statistiken niederschlägt. Zwar steigt die Urbanisierungsrate Jahr um Jahr – wie sich der Prozess der Urbanisierung konkret gestaltet, wird aber nicht reflektiert.

Fazit

Am Beispiel der regierungsunmittelbaren Stadt Chongqing können eine Vielzahl aktueller sozialer Konflikte im urbanen Raum veranschaulicht werden, die auch in anderen Teilen der Volksrepublik zutage treten. Konflikte um den Zugang zu Städten und sozialen Sicherungssystemen, Verteilung von Ressourcen, in Form von Boden oder Bildung, sind weiterhin ungelöst und werfen die Frage auf, wer zukünftig wo und wie in China leben kann.

Während Migration in kleine und mittelgroße Städte erleichtert wird, können sich die Megastädte weiter abschotten und ihre Bürger*innen nach einem zunehmend engeren Kriterienkatalog zulassen. Zusammen mit der Verlegung von umweltschädlichen Industrien in administrativ niederrangige Orte und der Schaffung eines Systems von Satellitenstädten, die in Abhängigkeit der Megastädte stehen, ergibt sich ein eher düsteres Bild der urbanen Entwicklung. Zwar wird die große Lücke zwischen Stadt und Land perspektivisch in nicht allzu ferner Zukunft überbrückt werden, da ein Großteil der Landbewohner*innen zu Städter*innen wird, allerdings werden sich die Gräben zwischen Städten unterschiedlicher Größe nur langsam verkleinern. Im Extremfall kann dies dazu führen, dass ein sozialer Aufstieg stark erschwert wird und sich die soziale Schichtenbildung erhärtet, da die großen Städten vornehmlich den gebildeten Eliten offen stehen, während schlechter ausgebildeten Arbeiter*innen der Zutritt verweigert wird. Dies könnte langfristig, anders als von der Regierung und Partei angestrebt, sogar das soziale Konfliktpotential weiter erhöhen und destabilisierend auf die Alleinherrschaft der kommunistischen Partei wirken.

Literatur

Jiao, M. et al. (2013): Addressing the Potential Climate Effects of China’s Three Gorges Project. Bulletin – World Meteorological Organization, 2013 Vol. 62 No. Special Issue, S. 49-53.

Meyer-Clement, E. (2015): Was ist neu an ­Chinas Programm für „neuartige Urbanisierung“? Kompetenznetz Regieren in China, Background Paper No. 1/2015, S. 1-10.

Qin, J. (2015): Chongqing „Bangbang“: Dushi ganzhi yu xiangtu xing. Beijing: SDX Joint Publishing.

Wang, X. (2021): Permits, Points, and Permanent Household Registration: Recalibrating Hukou Policy under „Top-Level Design“. Journal of Current Chinese Affairs, Vol. 49 (3), S. 269-290.

Zhan, S. (2011): What Determines Migrant Workers’ Life Chances in Contemporary China? Hukou, Social Exclusion, and the Market. Modern China, Vol. 37 (3), S. 243-285.

Florian Thünken ist promovierter ­Sinologe am Institut für Kulturwissenschaften Ost- und Südasiens – Sinologie der Julius-­Maximilians-Universität Würzburg. Er hat zur Peripherie Chongqings geforscht.

Mare Nostrum


Mare Nostrum

Die Konflikte um das Südchinesische Meer

von Uwe Hoering

Auch wenn Chinas Ansprüche auf große Teile der südostasiatischen Gewässer historisch und rechtlich auf wackligen Beinen stehen, verschärft die aktuelle US-amerika­nische Politik die nationalistische Haltung Beijings und trägt dazu bei, die Konfrontation und Militarisierung hochzuschaukeln. Insbesondere die kleineren Länder, die stets versucht haben, die Region aus Großmachtkonflikten herauszuhalten, werden gezwungen, sich für eine Seite zu entscheiden. Damit wird ein Forum für eine regionale Beilegung der Konflikte geschwächt.

Die Ankündigung einer besonderen »Sicherheitspartnerschaft« zwischen den USA, Australien und Großbritannien (AUKUS) ist der jüngste Schritt in der Internationalisierung des zunächst regionalen Konflikts im Südchinesischen Meer. Längst wurde er zum Treibsatz für die Eskalation des Streits zwischen den USA und China um die (Führungs-)Rolle in der globalen Ordnung. Die Entwicklungen schüren Warnungen vor einem Abgleiten in einen bewaffneten Konflikt. „Bündnistreue“ und eigene Interessen könnten dazu führen, dass auch weitere europäische Länder wie Deutschland in die Konfrontation hineingezogen werden.1

Stürmische See

Der Konflikt um das sogenannte Südchinesische Meer selbst ist alt. China hatte bereits 1947 historische Ansprüche auf den größten Teil der Gewässer geltend gemacht, die es sich unter anderem mit Vietnam, Indonesien, Taiwan, den Philippinen und Malaysia sowie der internationalen Seefahrt teilt. Seither kursieren unterschiedliche Versionen einer U-förmigen, recht freihändigen Demarkationslinie. So legte die Regierung in Peking 2009 eine Landkarte mit der »Nine-dash-line« (Neun-Striche-Linie) vor, die durch einen zehnten Strich östlich von Taiwan erweitert wurde. Aber auch andere Anrainerstaaten, beispielsweise Vietnam, Philippinen und (seit 1995) Taiwan, erheben mit ähnlichen Begründungen maritime Ansprüche.

Zunächst standen vor allem ökonomische Interessen im Vordergrund: Die Sorge um die wichtige Seehandelsroute, der Zugang zu reichen Bodenschätzen und Fischgründen. Bereits frühzeitig gab es darob auch immer wieder bewaffnete Konflikte, vor allem mit Vietnam und den Philippinen. Durch den Ausbau von Sandbänken und Felsriffen zu dauerhaften Stützpunkten wurden Ansprüche untermauert. Dieses Muster der Okkupation wird von fast allen Anrainerstaaten betrieben – doch von niemandem so konsequent wie von China“ (Seifert 2012, S. 15).2

Nach einem Scharmützel zwischen philippinischen und chinesischen Schiffen um das Scarborough-Riff im Frühjahr 2012, bei dem sich die US-Regierung um Vermittlung bemühte, strengte die Regierung in Manila dann eine Klage vor dem Internationalen Schiedsgerichtshof in Den Haag an. Dessen Entscheidung vom Sommer 2016, dass Beijings Anspruch auf „unser Meer“ gegen UN-Seerecht (UNCLOS) und damit gegen internationales Recht verstößt3, weist die chinesische Regierung bislang brüsk zurück.

Henne oder Ei

Zwei politische Entwicklungen, die ungefähr zeitgleich erfolgten, brachten eine weitere Internationalisierung des Konflikts – das stärkere Engagement der USA in der Region angesichts der wachsenden wirtschaftlichen und politischen Bedeutung Chinas (bekannt als Strategie des »Pivot to Asia«) und Beijings »Belt and Road Initiative« (BRI).

Die aktuelle Politik von US-Präsident Joe Biden, die US-amerikanische Außenpolitik stärker auf den Fernen Osten zu fokussieren, ist keineswegs neu. Bereits im August 2013 schrieben die US-amerikanischen Asienexperten Kurt Campbell und Brian Andrews über den außenpolitischen Kurs der Regierung von Barack Obama: „Die Regierung der Vereinigten Staaten befindet sich in der Anfangsphase eines bedeutenden nationalen Projekts: Sie richtet wesentliche Teile ihrer Außenpolitik auf den asiatisch-pazifischen Raum aus und ermutigt viele ihrer Partner außerhalb der Region, dies ebenfalls zu tun. Dieser vor vier Jahren eingeleitete »strategische Schwenk« beruht auf der Einschätzung, dass der Löwenanteil der politischen und wirtschaftlichen Geschichte des 21. Jahrhunderts im asiatisch-pazifischen Raum geschrieben werden wird.“ (Campbell und Andrews 2013, S. 2)

Dadurch wurden in Beijing Befürchtungen vor einer Einkreisungspolitik verstärkt. Zu den Reaktionen gehörte, die »Going Global«-Politik zu beschleunigen, vor allem in der unmittelbaren Nachbarschaft in Süd- und Südostasien sowie in Eurasien. Pläne für den Ausbau von Land- und Seewegen, die Intensivierung des Handelsaustauschs und die Sicherung der Versorgung mit Rohstoffen firmieren seit 2013 unter der Bezeichnung »One Belt One Road« beziehungsweise BRI als Markenzeichen von Präsident Xi Jinping (vgl. Hoering 2018, S. 136ff). Inzwischen wurden mit weit über 100 Ländern Kooperationen vereinbart. Angekündigt wurden Investitionen in Infrastruktur in mindestens dreistelliger Milliardenhöhe (US $), verbesserte Handels- und Finanzbeziehungen und enge politische Zusammenarbeit. Insbesondere in der westlichen Diskussion wurden diese »Neuen Seidenstraßen« schnell nicht nur als aggressives geoökonomisches, sondern als geostrategisches Projekt eingestuft – und damit als ein zentraler Bestandteil der politischen Herausforderung der globalen Führungsposition der USA durch die Wirtschaftsmacht China und der »Systemkonkurrenz«.

Unsicherheitspolitik

Damit einher gehen eine zunehmende Militarisierung auch des Seekonflikts und die Spirale eines Wettrüstens. Die mächtige Pazifik-Flotte der USA ist dort schon seit längerem im Einsatz und liefert sich Revierkämpfe mit der chinesischen Marine – die schnell durch einen »Zwischenfall« in eine bewaffnete Konfrontation eskalieren könnten.4 Verstärkt sind inzwischen auch europäische Kriegsschiffe, darunter die deutsche Fregatte »Bayern«, in den umstrittenen Gewässern unterwegs, um die »Freiheit der Schifffahrt« zu verteidigen, die durch die Gebietsansprüche Chinas im Südchinesischen Meer und die Nichtanerkennung internationaler Rechtsprechung (wie dem Spruch des Schiedsgerichts von den Haag) angeblich gefährdet sei. Selbst Japan lockert seine Beschränkungen für militärische Allianzen und erhöht ebenso wie Australien, Südkorea, Taiwan und Indien seine Militärausgaben.5

Umgekehrt rüstet China auf, insbesondere seine Marine, die bislang weit unterlegen ist (vgl. Unterseher in dieser Ausgabe). Die strategische Bedeutung der Militäranlagen im Südchinesischen Meer als Vorposten gegen einen möglichen Angriff der USA und deren Verbündeten wächst. Der renommierte Publizist und Politiker Walden Bello (2021) hat dafür durchaus Verständnis: Denn die 7. US-Flotte kontrolliere die Region seit dem Ende des 2. Weltkriegs, die USA verfügten über mehr als 50 größere Militärbasen von Japan bis Diego Garcia im Indischen Ozean.

Außerdem intensivieren beide Seiten ihre Bündnispolitik: China hat beispielsweise mit der 2001 gegründeten »Shanghai Cooperation Organisation« (SCO) eine sicherheitspolitische Allianz geschaffen, die Russland, zentralasiatische Länder, aber auch Pakistan und Indien umfasst.6 Im Rahmen einer »Nachbarschaftsdiplomatie« touren Außenminister Wang Yi und andere hochrangige Politiker regelmäßig in der Region. Angebote im Werkzeugkasten von Beijings »weicher Diplomatie« sind nicht nur BRI-Investitionen, sondern auch die Unterstützung bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie und die Aussicht auf eine digitalisierte »Seidenstraße der Gesundheit«.

Washington seinerseits sucht nach der kurzzeitigen »America First«-Unterbrechung durch Präsident Donald Trump, der vor allem den direkten Schlagabtausch zur Schwächung des wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas suchte, unter Biden wieder seine historisch starken multilateralen Bündnisse in Ostasien und im Pazifik zu stärken. Heftig umworben werden dabei auch neue Kandidaten wie Vietnam, heftigster Kritiker von Chinas Ansprüchen, das in der ersten Jahreshälfte 2021 sowohl von US-Vizepräsidentin Kamala Harris als auch von Verteidigungsminister Lloyd Austin besucht wurde. Im Visier auch Indien7, dessen territoriale und politisch-ideologische Divergenzen mit China erst jüngst wieder zu Scharmützeln in der Himalaya-Region führten. Delhi fühlt seine regionale Vormachtrolle durch BRI bedroht, das sowohl seinen Erzfeind Pakistan fördert, als auch mit einer »Perlenkette« von Häfen im Indischen Ozean Chinas Präsenz stärken könnte.

Gefährdung einer delikaten Balance

Die von beiden Seiten als Bündnispartner umworbenen Nachbarn Chinas, insbesondere die kleineren Länder der südostasiatischen Regionalorganisation ASEAN, geraten zwischen die kämpfenden Elefanten. Die zehn Mitgliedsländer, darunter das reiche Singapur und das arme Laos, die Militärregime in Thailand und Myanmar und Demokratien wie Indonesien und Malaysia, haben in vielen wirtschaftlichen und politischen Fragen sehr unterschiedliche Interessen, was immer wieder eine Einigung erschwert hat.

Wirtschaftlich sind alle auf gute Nachbarschaft mit China angewiesen, die durch einen eskalierenden Konflikt gefährdet ist. Seit Jahren sind ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit der Volksrepublik immer enger geworden: Sie gehören zu den wichtigsten Nutznießern der »Neuen Seidenstraßen«, der Auslagerungen arbeitsintensiver Betriebe und von Chinas steigendem Appetit auf Agrarprodukte und andere Rohstoffe. Mit dem von der ASEAN konzipierten regionalen Wirtschaftsabkommen RCEP ist es Mitte November 2020 gelungen, China in eine breitere Wirtschaftsarchitektur einzubinden, an der auch enge militärische Verbündete der USA wie Japan und Südkorea beteiligt sind.

Sicherheitspolitisch jedoch sind einige von ihnen – wie Singapur und die Philippinen – langjährige Bündnispartner der USA, auch die anderen suchen gerne eine Rückendeckung durch die USA, in der Hoffnung, dass sich die beiden Kontrahenten gegenseitig in Schach halten. Denn angesichts des wachsenden Einflusses und der gefährlichen Abhängigkeit vom Großen Nachbarn im Norden herrscht sowohl bei vielen Regierungen, als auch in der Bevölkerung verbreitetes Misstrauen gegenüber chinesischen Absichten und Beteuerungen angeblich gemeinsamer Interessen.

Re-Regionalisierung der Konfliktlösung

Grundsätzlich sind die Regierungen Südostasiens allerdings eher bestrebt, Frieden, Freiheit und Neutralität in Südostasien zu erhalten und die Kontroversen mit der Regierung in Beijing zu verhandeln. Seit Jahren versuchen sie, eine interne Lösung des Konflikts um das Südchinesische Meer zu erreichen und eine Eskalation zu verhindern. Im November 2002 hatten China und die ASEAN-Länder bereits eine Rahmenerklärung für einen Verhaltenskodex vereinbart. Darin wird unter anderem die Einhaltung der UN-Seerechtskonvention (UNCLOS) und die friedliche Beilegung von territorialen Streitigkeiten zugesagt. Seither gab es allerdings kaum substantielle Fortschritte.

Im August 2021 unternahmen sie jetzt einen neuen Anlauf, die Verhandlungen über einen Verhaltenskodex voranzutreiben. Doch die Positionen in zentralen Fragen sind weit auseinander. Aristyo Darmawan vom International Law Center for Sustainable Ocean Policy an der Universität von Indonesien nennt vier zentrale Streitpunkte (2021): die geographische Reichweite eines Abkommens, seine rechtliche Verbindlichkeit, die Etablierung von Verfahren zur Kontrolle der Einhaltung und die Streit­schlichtung. Nach Auffassung der meisten Beobachter*innen wäre zudem eine Anerkennung des Schiedsspruchs des UN-Seegerichtshofs durch China und damit die Anerkennung internationalen Rechts notwendig. Trotz der schleppenden Fortschritte sieht der Publizist Bill Hayton (2021) aber auch Positives: Seit einem Jahrzehnt sei es weder zu bewaffneten Zusammenstößen noch zur Besetzung weiterer Sandbänke oder Riffe gekommen.

Zudem beansprucht die ASEAN für sich die zentrale diplomatische Rolle in Südostasien und dem westlichen Pazifik, unter anderem als Dialogforum zu sicherheitspolitischen Themen für die beteiligten Staaten. Dagegen würde in einem neuen Kalten Krieg ein »Sicherheitsdialog«, der von Industrieländern und Staaten außerhalb Asiens dominiert wird, die Position und Bedeutung der ASEAN schwächen – und damit den regionalen Multilateralismus entwerten. AUKUS ist ein aktuelles Beispiel für eine solche Spaltung der ASEAN-Länder: Malaysias Premierminister Ismail Sabri Yaakob und Indonesiens Außenministerium zeigten sich tief besorgt über den Beitrag zu einem Wettrüsten in der Region durch die Lieferung von atomar angetriebenen U-Booten, der Außenminister der Philippinen begrüßte den Schritt als Beitrag zur „Wiederherstellung und Erhaltung des Gleichgewichts“ (South China Morning Post vom 21. September 2021), Vietnam, Singapur und Thailand haben es weitgehend vorgezogen, dazu zu schweigen.

Walden Bello (2021) schlägt vor, angesichts der Eskalation, die die Einigungsbemühungen gefährdet, solle ­ASEAN die Initiative ergreifen, um zu erreichen, dass sich sowohl die USA als auch China militärisch zurückziehen. Dann könnten sich die unmittelbar Beteiligten untereinander zusammenraufen. Eine derartige Demilitarisierung würde, so die Hoffnung, die Möglichkeit für positivere Beziehungen zwischen China, den einzelnen Ländern und ­ASEAN eröffnen, um „gemeinsam die Ressourcen des Südchinesischen Meeres zu nutzen und das einmalige Ökosystem zu schützen.

Anmerkungen

1) Verteidigungsministerin Annegret Kramp-­Karrenbauer wird in der South China Morning Post vom 15. September 2021 zitiert, die Europäische Union sollte eine „dauerhafte Präsenz“ in der Region etablieren.

2) Der hier zitierte Text von 2012 gibt immer noch einen guten Überblick über die Lage der Konflikte allgemein.

3) Übrigens haben die USA, die sich zur Verteidigung des internationalen Rechts berufen fühlen, anders als China UNCLOS bislang nicht ratifiziert.

4) Beruhigend allerdings die Einschätzungen von Militärexperten in einem kürzlich erschienenen Bericht in der South China Morning Post vom 29. September 2021. Demnach bemühen sich die Einsatzkräfte vor Ort, den versehentlichen Ausbruch eines Konflikts zu vermeiden. Collin Koh von der S. Rajaratnam School of International Studies in Singapur meint, dass die Zusammenarbeit zwischen den Militärs beider Seiten „sicherheitsbewusst und professionell“ sei, so wie es im Verhaltenskodex für ungeplante Zusammenstöße auf See (Code for Unplanned Encounters at Sea), der 2014 vereinbart wurde, vorgesehen sei.

5) Siehe South China Morning Post vom 29.09.2021: As China strengthens military, Asia-Pacific governments go defence shopping.

6) Beteiligte Länder sind neben der Volksrepublik China, Indien, Kasachstan, Kirgisistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan, neuerdings ist eine Aufnahme von Iran im Gespräch.

7) Indien ist unter anderem Mitglied von QUAD (»Quadrilateral Security Dialogue«), gemeinsam mit Australien, Japan und den USA.

Literatur

Seifert, A. (2012): Territorialkonflikte unter Palmen. Der Konflikt um die Spratley- und Paracel-Inseln. In: Wissenschaft und Frieden 2/2012-2, S. 15-18.

Campbell, K.; Andrews, B. (2013): Explaining the US ‚Pivot to Asia‘. In: Americas 2013/01, August 2013, Chatham House.

Hoering, U. (2018): Der Lange Marsch 2.0. ­Chinas Neue Seidenstraßen als Entwicklungsmodell. Hamburg: VSA Verlag.

Bello, W. (2021): West Philippine Sea and beyond: China, US must both stop destabilization. Philippine Daily Inquirer, 12.06.2021.

Darmawan, A. R. (2021): Towards a rigorous Code of Conduct for the South China Sea. East Asia Forum, 30.07.2021.

Hayton, B. (2021): After 25 Years, there’s still no South China Sea Code of Conduct. China’s reluctance has stifled diplomatic efforts – but they haven’t been futile. Foreign Policy, 21.07.2021.

Uwe Hoering publiziert zu den Auswirkungen der Globalisierung vor allem in Asien und Afrika (www.globe-spotting.de) und kommentiert die Belt and Road Initiative auf seinem Blog www.beltandroad.blog.

Gemeinsame Ziele?


Gemeinsame Ziele?

Die Europäische Union und ihr Umgang mit China

von Andreas Seifert

Das Wort »Einigkeit« kommt nicht in den Sinn, wenn es in der EU um China geht – selbst die Bezeichnung »unterschiedliche Positionen« wäre schon eine diplomatische Formel. Im Umgang der EU mit der Volksrepublik (VR) China stehen selbst geübte Rhetoriker*innen vor der Herausforderung, die weit auseinander liegenden Ansichten noch geschmeidig auf eine glaubhafte Position zu bringen. Der Artikel betrachtet die Herausforderungen im europäischen Umgang mit China und hält fest: Eine EU, die ihre eigenen Differenzen nicht überwinden kann, wird sowohl an der Gestaltung eines positiven Verhältnisses zu China, wie zum Rest der Welt, scheitern.

China ist auf der Weltbühne zurück, hat sich seit den späten 1970er Jahren zu einem ökonomischen Schwergewicht entwickelt und ist zu einem der größten Handelspartner Europas angewachsen. Die Bewältigung globaler Aufgaben, wie der Umgang mit dem Klimawandel oder die Beseitigung weltweiter Armut sind heute ohne die VR weder denk- noch machbar. In den letzten zehn Jahren spitzten sich dabei Handels- und Ressourcenkonflikte immer öfter zu. Grund genug, danach zu fragen, wie sich die Europäische Union positioniert und welchen Einflüssen sie dabei unterliegt.

In Vielfalt geeint?

Die EU-Parlamentarier*innen haben in verschiedenen Beschlüssen seit der Niederschlagung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz 1989 eine kritische Position gegenüber der Regierung in Beijing aufgebaut und gewahrt. Dem Beschluss des EU-Rates von 1989, ein Waffenembargo1 zu verhängen, hat sich das Parlament inhaltlich voll angeschlossen und auch Debatten über dessen Aufhebung immer wieder kritisch begleitet und abgewehrt. Die Besuche des Dalai Lama im Parlament und deutliche Kritik an der Minderheitenpolitik haben dazu beigetragen, das Parlament als einen Ort politischer und moralischer Grundsätze (gegenüber China) zu markieren.

Zuletzt hat sich der Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments (EP) im Juni 2021 intensiv mit der VR befasst. Auf dieser Sitzung wurde aber nicht nur eine Vorlage zu China, sondern auch gleich eine zu Taiwan2 und Russland3 parallel diskutiert – ein Zeichen, dass man hier durchaus einen Zusammenhang erblickt, der eine gemeinsame Diskussion erfordert. In ihrem Berichtsentwurf4 versucht die liberale Abgeordnete Hilde Vautmans nichts weniger als den Entwurf einer neuen China-Strategie, die auf sechs Säulen stehen soll: 1) Offener Dialog über globale Herausforderungen; 2) Engagement für Menschenrechte durch wirtschaftlichen Einfluss; 3) Analyse der Bedrohungen und Herausforderungen; 4) Aufbau von Partnerschaften mit gleichgesinnten Partnern; 5) Förderung offener strategischer Autonomie; 6) Verteidigung grundlegender europäischer Interessen und Werte durch Umwandlung der EU in einen geopolitischen Akteur.

Die Ausführungen zu den einzelnen Säulen sind dabei von zwei Ideen durchzogen: (1) China sei eine Herausforderung für die EU und sein Handeln und Auftreten widerspräche den europäischen »Werten« und »Interessen«; zudem bilde (2) die EU keine Einheit gegenüber China und einzelne Staaten seien blauäugig/blind gegenüber der Herausforderung, die China für die Welt und die EU darstelle.

Letztlich wird im Bericht gefordert, sich sicherheitspolitisch in einer Front mit der NATO zu platzieren und eine strategische Autonomie der EU auf allen Ebenen und in allen Feldern aufzubauen, die eine konzertierte Antwort auf die VR ermöglicht. Die Gestaltung der Beziehungen zu China wird somit zum Anlass genommen, die Disziplinierung der Mitgliedstaaten unter eine einheitliche Linie der EU-Kommission zu fordern und die Bildung einer Verteidigungsunion voranzutreiben.

Man könnte argumentieren, dass es diese Tendenz im Parlament schon immer gegeben hat, eine größere Einheitlichkeit in der EU zu fordern und die pathetisch vorgetragene »europäische Idee« mit mehr (auch militärischem) Leben zu füllen – umgekehrt ist der Widerstand gegen genau diese Idee auch im Parlament mit abgebildet und zeigt sich auch in den Änderungsanträgen zu diesem Entwurf.5 So wird hier und da eine Schippe mehr Moral daraufgelegt und die Wortwahl in der Charakterisierung der Zustände in China und auch im Verhältnis Chinas zu einzelnen Staaten ein bisschen verschärft. Zum anderen werden aber auch Grenzen aufgezeigt, wie weit eine »Bevormundung« der EU-Staaten durch die Kommission erfolgen darf und es werden Elemente des Lobes für China eingefügt, die den Grundtenor aufweichen. Und selbstverständlich bleibt auch die Idee der Verteidigungsunion, die die militärischen Fähigkeiten der Mitgliedsstaaten bündeln soll, nicht unwidersprochen bestehen.

Strategische Souveränität

Auf der Ebene der Kommission war man lange vorsichtig, sich selbst zu China zu äußern. China als einer der großen Handelspartner der EU – insbesondere der großen Staaten innerhalb der EU – wurde politisch milde behandelt. Die EU-Kommission war der Ort, wo mithilfe von Regulationen und Vorgaben der »Schutz« der europäischen Industrien organisiert wurde. Die von der Kommission erlassenen Vorschriften und Qualitätsstandards sollten die Marktmacht chinesischer Unternehmen (und die anderer Länder) beschneiden und europäische Anbieter schützen. Gemeinsam mit China erstellte Listen, wie die über den Schutz geografischer Bezeichnungen vom Ende letzten Jahres6, sind dabei eher die Ausnahme. In der Regel waren es in den letzten Jahrzehnten Qualitätsvorgaben und Prüfkriterien, die aufstrebende chinesische Unternehmen vom direkten Einstieg in den europäischen Markt ausgeschlossen hatten. Dass solche Regularien auch Anbieter aus der EU trafen und nur bestimmte Unternehmen in bestimmten Ländern schützten, zeigt das Dilemma einer solchen Politik auf. In China sah man die Kommission und ihren Hohen Vertreter kaum als Teil des diplomatischen Gepräges, vielmehr als bürokratische Verlängerung europäischer Nationalstaaten: der örtliche Vertreter der Kommission war eben kein Botschafter. Dieses geringe Profil in allen Feldern außerhalb des Handels war dabei durchaus auch etwas, was die europäischen Staatschefs so wollten und sich nicht nur gegenüber China zeigte.

Die EU-Kommission begnügte sich lange damit, den kleinsten europäischen Konsens wiederzugeben, oder sich gleich mit den Zielen der großen Staaten der EU und ihrer nationalen Industrieagenden zu identifizieren. Eingespannt zwischen einem auf Menschenrechte pochenden Parlament und pragmatisch auf den eigenen Vorteil bedachten Nationalstaaten festigte sich in der Brüsseler Bürokratie ein funktionales Verhältnis zu Werten und Normen: Sie sind vor allem dann gute Argumente, wenn andere Staaten »auf Linie« gebracht werden sollten, wenn dies aber nicht gelingt oder es sich als wirtschaftlich schädlich erweist, auf ihre Einhaltung zu bestehen, dann können Werte und Normen schnell zu protokollarischen Randnotizen gerinnen. Von Kritiker*innen auch als »das Pflegen doppelter Standards« benannt, reproduzierte die Kommission jedoch vor allem die Einstellungen der Regierungen der Mitgliedsstaaten, die im Europäischen Rat immer noch alle wesentlichen Entscheidungen zusammenbasteln.

Die Wirtschaftskrisen in Europa ab 2008, bzw. ab 2010 verschoben das Gleichgewicht innerhalb der EU weiter und auch das Ausscheiden des Vereinigten Königreiches aus den Strukturen hat die Konsensfindung nur in bestimmten Bereichen der EU-Politik vereinfacht. Mehr denn je tut sich die EU schwer damit, konsensual zu agieren. Vorschläge hierzu vorzutragen und ihre Umsetzung zu orchestrieren, fällt Kommission und EU-Ratspräsidentschaft immer schwerer. Der Idee, mithilfe einer »strategischen Souveränität« den EU-Institutionen mehr Gewicht zu geben und die nationalstaatlichen Einzelgänge zu reduzieren – gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik und gegenüber China – sind enge Grenzen gesetzt und sie misslingt immer wieder.

Dennoch hat sich die EU-Kommission 2019 in ihrem strategischen Ausblick zu China7 erstmals über den Minimalkonsens hinaus in der Triade von »Partner, Konkurrent und Systemrivale« geäußert und baut dieses Konzept seither aus. Der Vorstoß der Kommissionspräsidentin von der Leyen, die laut einem internen Bericht8 nur wenig Fortschritte im Verhältnis zu China erblickt und perspektivisch konstatiert, dass sich dies auch in absehbarer Zeit nicht ändern wird, wurde als Ball nur widerwillig aufgegriffen. Denn anstatt weiter die existierenden Unterschiede unter den Teppich zu kehren und an einer »strategischen Partnerschaft« festzuhalten, so ihr Vorschlag, müsse realistisch auf Chinas Entwicklung geblickt werden. Die Kommissionsspitze empfahl daher nun, den Schulterschluss mit den USA zu suchen – eine Festlegung, die bisher in den europäischen Staaten, der Kommission und im EU-­Parla­ment mehrheitlich und deutlich zu vermeiden versucht wurde. Die hieraus resultierende »Blockbildung« hätte weitreichende Folgen auch und gerade auch im Hinblick auf die Sicherheitspolitik.

Die Zuspitzung der Konfrontation zwischen den USA und der Volksrepublik China, die unter der Trump-Administration massiv an Fahrt aufgenommen hatte, wird mehr und mehr auch über Dritte, und so auch über die EU, ausgetragen. Dies alleine birgt schon enorme Risiken einer gegebenenfalls auch militärischen Eskalation. Mit der Sicherheitspartnerschaft zwischen Australien, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten (AUKUS), die im September 2021 ausgerufen wurde, ist auch ein neues Kapitel in den Chinesisch-Europäischen Beziehungen aufgeschlagen.9 Europa gerät immer mehr unter Druck, sich einer US-amerikanischen Eskalationspolitik gegenüber China anzuschließen, oder tatsächlich eigenständige Wege zu gehen – Wege allerdings, für die ein Konsens fehlt.

Viele Wege führen nach Beijing

Lange Zeit waren es die großen Industrienationen und deren industriepolitische Vorstellungen, die den Ton Europas gegenüber China angegeben hatten – eine Domäne insbesondere von Deutschland und Frankreich. Sie machten sich industrielle Interessen, beispielsweise der Auto- und Luftfahrtindustrie, zu eigen und hatten ein Interesse an einer zunehmenden Verregelung des Verhältnisses, um Gewinne und Umsätze abzusichern. Sich trotz viel berechtigter Kritik z.B. an Menschenrechten und Umweltproblemen, dennoch an ein positives Verhältnis zur VR zu klammern, wie es die Exportwirtschaft dieser Industriestaaten forderte, konnte als Synonym für die Politik der EU missverstanden werden.

In den kleineren Ländern der EU gab es demgegenüber andere Interessen am Verhältnis zu China. Einerseits waren die wenigsten Ökonomien so konsequent auf einen Export ausgerichtet, wie z.B. die deutsche, zum anderen waren ihre Industrien von dem selektiven Schutz, den die EU über ihre Normensetzung installierte, weit weniger abgedeckt und konnten nur bedingt davon profitieren. Die Kritik dieser Staaten an der EU-China-Politik ist demnach auch eine an den Mechanismen der EU selbst und den größeren Playern in der EU, von denen sie sich missachtet fühlen. Das beförderte die Tendenz, eigene bilaterale Lösungen mit China zu suchen und neue Formate abseits der EU-Linie zu kreieren, die ihnen die Möglichkeit bot, spezifische Interessen durchzusetzen. Das 2012 ins Leben gerufene Format 16+1 (bzw. 17+1: 11 (12) EU-Staaten + 5 Nicht-EU-Staaten vom Balkan + China) war bereits Ausdruck eines im Kern anderen Interesses an einem ökonomischen Austausch mit China.

Auch China hat ein Interesse an vornehmlich bilateralen Beziehungen zu einzelnen EU-Staaten, da aus seiner Sicht nur so passende Programme der Konnektivität in unterschiedlichen wirtschaftlichen Sektoren zu entwickeln sind. Bestes Beispiel hierfür ist dabei die Belt-and-Road-Initiative, die den engagierten Staaten Investitionen und Einbindung in neue Handelsströme in Aussicht stellt und beispielsweise von den Staaten des östlichen Europas, wie auch von Portugal deutlich enthusiastischer aufgegriffen wurde, als z.B. von Deutschland oder Frankreich. Dabei agiert China Analysen zufolge durchaus nicht nach einem oft unterstellten »Plan«, vielmehr ist es ein Austesten unterschiedlicher Optionen. Die Systematik dahinter, so analysiert Nadine Godehardt von der SWP, besteht in dem Versuch der Ausweitung der eigenen Diskursmacht, um zukünftig in der Gestaltung von Wirtschaftsbeziehungen einen Vorteil zu haben.10 Sie besteht hier darin, die Differenzen innerhalb der EU für eine chinesische Einflussnahme zu nutzen.

Einzelne Staaten sind dabei durchaus empfänglich für den impliziten Druck aus Beijing und passen z.B. ihr Abstimmungsverhalten in internationalen Organisationen und innerhalb der EU an die antizipierten Wünsche aus Beijing an.11 Zugeständnisse dieser Staaten im Bereich chinabezogener Politiken der EU sind damit auch ein Verhandlungspfand in anderen Bereichen der EU-Politik geworden. Das Beharren auf »Regelkonformität« oder einer »regelbasierten Weltwirtschaftsordnung« von Seiten der EU reicht heute scheinbar nicht mehr aus, um alle Staaten der EU auf eine einheitliche Linie gegenüber China zu bringen. Der Verweis auf gemeinsame Werte oder auf Menschenrechte hat als Kitt innerhalb der EU an Kraft verloren.

EU als geostrategischer Akteur

Will die EU als Akteurin überhaupt eine Rolle spielen, so muss sie sich zusammenraufen und sich in den wesentlichen Politikfeldern einigen – und das speziell im Umgang mit der Klimakrise und der Bewältigung ihrer sozialen Folgen weltweit. Nur ein überzeugendes Programm hierzu kann die Grundlage für einen Umgang mit anderen Akteuren weltweit sein. Die bisherigen Konstrukte, die vor allem darauf abzielen, den Wohlstand in Teilen Europas zu erhalten und in anderen vielleicht sogar auszubauen, reichen hier nicht aus. Ein positiver Beitrag wäre auch, militärische Mittel und Drohgebärden zur Durchsetzung partikularer Interessen auszuschließen. Waffenproduktion und Waffenexporte zu unterbinden kann ein wichtiger Bestandteil hiervon sein – der Verzicht auf eigene militärische Kapazitäten würde darüber hinaus Ressourcen sparen und das weltweite Risiko bewaffneter Zusammenstöße reduzieren. Darüber hinaus bleibt aber festzuhalten: Eine EU, die ihre eigenen Differenzen nicht überwinden kann, wird sowohl an der Gestaltung eines positiven Verhältnisses zu China, wie zum Rest der Welt, scheitern.

Anmerkungen

1) Das Embargo gilt noch heute, wird aber in den EU-Staaten durchaus unterschiedlich ausgelegt, da der Beschluss zwar ein Embargo ausspricht, aber die VR nicht zu einem Embargo-Land im weiteren Sinne macht.

2) Entwurf eines Berichts über eine Empfehlung des Europäischen Parlament […] zu den politischen Beziehungen und der Zusammenarbeit der EU und Taiwan, 2021/2041, 23.4.2021.

3) Entwurf eines Berichts über eine Empfehlung des Europäischen Parlament […] zu der Ausrichtung der politischen Beziehungen zwischen der EU und Russland, 2021/2042, 5.5.2021.

4) Entwurf eines Berichts über eine neue China-Strategie der EU, 2021/2037, 30.4.2021.

5) Insgesamt stehen den fünf Seiten des Entwurfs 502 Änderungsanträge auf knapp 240 Seiten gegenüber.

6) EU-Council (2020): EU-China: Rat gibt endgültig grünes Licht für Abkommen über geografische Angaben, Pressemitteilung, 23.11.2020.

7) Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat, EU-China – Strategische Perspektiven, JOIN (2019) 5 final, 12.3.2019.

8) Kolb, M. (2021): Bericht ohne Fortschritte, Süddeutsche Zeitung, 28.4.2021.

9) Siehe auch: Wagner, J. (2021): Die Geopolitik des AUKUS-Paktes, IMI-Analyse 42/2021, 24.9.2021.

10) Ausführlich: Godehardt, N. (2020): Wie China Weltpolitik formt. Die Logik von Pekings Außenpolitik unter Xi Jinping, SWP-Studie 19, 12.10.2020.

11) Bendiek, A.; Lippert, B. (2020): Die Europäische Union im Spannungsfeld der sino-amerikanischen Rivalität. In: Lippert, B.; Perthes, V. (Hrsg.), Strategische Rivalität zwischen USA und China, SWP-Studie 1/2020, S. 50-55, hier: S. 51.

Dr. Andreas Seifert ist Sinologe und Vorstandmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Tübingen.

Militär- und Atommacht China


Militär- und Atommacht China

Knappe Analyse des militärischen Profils

von Lutz Unterseher

China ist die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt. In den letzten Dekaden wurde stetig aufgerüstet und das technologische Niveau der Rüstungsgüter hat sich sehr gesteigert. Doch ist das Nuklearwaffen­arsenal immer noch um ein Vielfaches kleiner als das Russlands und der USA, vor wenigen Jahren noch war es nicht größer als das Frankreichs, weniger als 300 nukleare Gefechtsköpfe. Diese Asymmetrie ist im Gesamtzusammenhang von militär­strategischen Überlegungen, zur Verfügung stehenden Ressourcen und der Streitkräftestruktur als Ganzem zu erklären.

Die Weltbank gibt für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Chinas, in Kaufkraft gerechnet, bezogen auf das Jahr 2020 einen Umfang von gut 24,27 Bio. US$ an (Weltbank 2021). Auf dem zweiten Platz rangieren die Vereinigten Staaten mit ca. 20,94 Bio. US$. Bei den Militärausgaben liegen die USA jedoch vorn (Angaben für 2020): mit 778 Mrd. US$ zu »nur« gut 350 Mrd. US$ (kaufkraftbereinigt). Somit liegt der militärische Sektor Chinas etwas unter der Hälfte des US-amerikanischen Aufwands.

Bei der Truppenstärke zeigt sich ein gegenteiliges Bild. Während China fast 2,2 Mio. aktive Militärpersonen hat, sind es in den USA 1,4 Mio. (Mendelson 2021). Legt man die Militärausgaben auf die Truppen um, entfallen also in den USA viel mehr Mittel auf die einzelne Militärperson. Selbst wenn angenommen wird, dass in China die militärischen Personalkosten deutlich niedriger sind als in den USA, spricht dies für einen erheblich höheren Technisierungsgrad der US-Streitkräfte. Das lässt eine deutlich höhere Kampfkraft der US-Streitkräfte vermuten. Allerdings nur dann, wenn ausgeblendet wird, dass einige Kriegsszenarien unserer Tage eher robuste, einfache Strukturen und Ausrüstungskonzepte als Hochtechnologie verlangen.

In den USA machen die Militärausgaben 3,7 % des BIP aus, während es in China etwa 1,5 % sind. Dies spricht dafür, dass – zumindest bisher – die Führung in Beijing den Schlüssel zur Weltgeltung eher in wirtschaftlicher Macht gesehen hat als in militärischer Rüstung. Ebenso hat man in China vor einigen Jahren erkannt, dass direkte zivile Investitionen in eine Volkswirtschaft einen höheren Multiplikatoreffekt haben als der Umweg über die Rüstung (Chalmers 1985).

Gleichwohl hat sich das offizielle Militärbudget Chinas von 1994 bis 2014 um das Fünfzehnfache erhöht (Unterseher 2020, S. 27). Dabei hat sich der Anteil des Militärbudgets am Bruttoinlandsprodukt (BIP) nicht erhöht, der Anstieg folgte dem Gesamtwachstum des chinesischen BIP, das zeitweilig Raten im zweistelligen Bereich aufwies. Diese Zunahme hat sich sehr deutlich in der Ausstattung der Streitkräfte niedergeschlagen, wie im folgenden gezeigt werden wird.

Künftig dürfte das BIP Chinas moderater, aber doch deutlich schneller als beispielsweise das der USA wachsen, auch weil die Pandemie besser überwunden wurde. Vorausgesetzt ist innenpolitische Stabilität, die angesichts soziostruktureller Brüche nicht ohne Fragezeichen ist. Aus Sicht der chinesischen Führung braucht China nur abzuwarten. Wegen des höheren Gesamtwachstums werden in 15 Jahren die Streitkräfte Chinas wohl absehbar die am besten alimentierten der Welt sein.

Atomwaffen und Atomwaffenpolitik Chinas

China ist eine der fünf offiziellen Atommächte. Die landgestützten Träger von Atomwaffen stehen unter dem Kommando der Raketenstreitmacht der Volksbefreiungsarmee (People’s Liberation Army Rocket Force: PLARF) – mit einer Personalstärke von 120.000 (IISS 2019, S. 257). Diese hat auch operativen Zugriff auf die Kernwaffenträger, die in die See- und Luftstreitkräfte integriert sind. Die PLARF gliedert sich in 30 Brigaden, was für eine robuste Dezentralisierung spricht.Mit einer in der Fläche verteilten Dislozierung soll es offenbar einem Angreifer erschwert werden, das Abschreckungspotential auszuschalten. Hierzu passt, dass neuerlich erhebliche Anstrengungen unternommen werden, Langstreckenraketen „gehärtet“ unterzubringen: also in Silos (Sarcasticus 2021).

Hinzu kommen vier strategische Radar-Großanlagen und zahlreiche Stationen zur Verfolgung der Flugbahn. Schätzungen von SIPRI-Forschern ergaben, dass China 2019 über ca. 190 landgestützte Atomraketen verfügte (Kristensen und Korda 2019, S. 2): ein Sammelsurium von Typen zum Teil älteren Konstruktionsjahrs mit Reichweiten zwischen 1.750 bis 13.000 km

Jüngere Typen sind zum Teil landbeweglich. Es befindet sich eine Rakete mit Reichweiten zwischen 12.000 und 15.000 km in der Erprobung, die mehrere Gefechtsköpfe tragen kann und Penetrationshilfen zur Überwindung der feindlichen Abwehr aufweist. Mit ihr dürften zukünftig ältere Systeme in begrenzter Zahl ersetzt werden (Unterseher 2020, S. 65).1

Zum Atompotential zählten 2019 auch ca. 20 inzwischen modernisierte mittlere H-6-Bomber älterer sowjetischer Herkunft (bestückt mit je einer Kernwaffe) sowie vier Atom-U-Schiffe (besonders große U-Boote) mit zusammen bis zu 48 Raketen. Inzwischen werden die H-6-Bomber mit jeweils sechs weitreichenden nuklearen Marschflugkörpern DH 10 ausgestattet. Insgesamt gab es 2019 einschließlich einer Reserve etwa 290 Gefechtsköpfe (Kristensen und Korda 2019). Allerdings wurden für 2020 bereits 320 atomare Sprengsätze gemeldet (Sarovic 2020) und 2021 nennt eine Quelle sogar 350 (Statista 2021a).

Trotz dieses Anstiegs ist Chinas Atomarsenal bislang noch bescheiden. Vergrößerung und Modernisierung erscheinen als Stückwerk, als hätte dies nicht höchste Priorität. Das spricht dafür, dass die Führung bislang dem Konzept der Minimalabschreckung anhängt (Feiveson 1989): China geht davon aus, dass Kernwaffen nicht zur Kriegführung taugen, das Konzept der Eskalationskontrolle samt »Enthauptungsoptionen« also irrig ist, womit Atomwaffen einzig eine Rückversicherung gegenüber atomarer Bedrohung bieten können.

Die USA und Russland dagegen verfügen trotz einiger Abrüstungsschritte immer noch über große Arsenale: jeweils zwischen 5.500 und 6.300 Sprengköpfen insgesamt sowie jeweils um 1.550 für den »sofortigen Gebrauch« (Sarovic 2020).

Für eine chinesische Orientierung am Konzept der Minimalabschreckung spricht auch die fehlende strategische Raketenabwehr, die zu einem Nuklearwaffenarsenal für Zwecke der Kriegführung gehören müsste, um es in seinen Optionen noch glaubwürdiger zu machen (Sloss 1989). Entwicklungsarbeiten in dieser Richtung lassen sich jedenfalls nicht erkennen.

„In Peking wird befürchtet, die von Washington betriebene Entwicklung von Kapazitäten zur Aufklärung, Überwachung und zum ‚conventional prompt strike‘ sowie der Aufbau von Raketenverteidigungssystemen könne die chinesische Zweitschlagsfähigkeit gefährden“ (Rudolf 2018, S. 18). Darum ist wohl eine vorsichtige Vergrößerung des strategischen Arsenals Chinas im Gange (ebd., S. 19). Sie geht einher mit Modernisierung und Diversifizierung: Raketen auf U-Schiffen, Wirkungssteigerung der landgestützten sowie Flexibilisierung der luftgestützten Mittel (Goldstein 2019a, S. 4ff): eine »Triade« nach US-Vorbild – doch auf niedrigerem Niveau.

Die Konventionelle Komponente

Der PLARF unterstehen nicht nur Atomwaffenträger, sondern auch ballistische Raketen mittlerer (80 Systeme) und kürzerer Reichweite (200) sowie landgestützte Marschflugkörper (30), die konventionell bewaffnet sind. China hätte die Ressourcen, um atomar deutlich aufzurüsten. Doch wird der Schwerpunkt erkennbar auf jene Elemente gelegt, von denen man Anwendbarkeit und realen Machtgewinn erwartet.

Die Landstreitkräfte schrumpften von gut drei Millionen in Uniform vor 40 Jahren auf knapp eine Million (IISS 1983, S 84, IISS 2019, S. 257). Dieser Prozess war mit Strukturverbesserungen verknüpft, wie der Einführung eines Brigade/Korps- statt des alten Regiment/Division-Systems.

Die technische Erneuerung jedoch kam nicht so schnell voran. China hat zwar nach den USA die zweitgrößte Panzerflotte im aktiven Dienst (Unterseher 2020, S. 113). Doch ist noch erst ein knappes Viertel davon als modern zu bezeichnen – ohne jedoch den westlichen Standard ganz zu erreichen. Bemerkenswert ist die Leistungssteigerung bei den Kampfschützenpanzern (Träger der »Panzerbegleitinfanterie«). Diese haben an Zahl stark zugenommen und einen hohen technologischen Standard erreicht (ebd., S. 40f.).

Wenn noch die mechanisierte Artillerie (»mechanisiert«: beweglich und gepanzert) vermehrt und weiter verbessert wird, sind die Voraussetzungen für den »Kampf der verbundenen Waffen« erfüllt – womit sich die Stoßkraft der chinesischen Landstreitkräfte bedeutend erhöhen würde. Zeitgemäß spielen luftverlegbare Kräfte und Spezialeinheiten eine zunehmend wichtige Rolle.

Zum Schutz eigenen Territoriums dürfte diese Streitmacht mehr als hinreichen. Dabei verrät die Dislozierung, dass es vor allem auch um die Sicherung des Machtzentrums geht. Erst danach scheinen Szenarien zu rangieren, die sich – in dieser Reihenfolge – auf Nordkorea, Taiwan, Vietnam und Indien beziehen. Die verschiedenen Gruppen von Armeen (bzw. Korps) sind entsprechend der angegebenen Brennpunkte bzw. Stoßrichtungen stationiert: in der Nähe Beijings und gegenüber den erwähnten Nachbarn. Dabei fällt auf, dass vor allem die Truppen in der Nähe des Machtzentrums, aber auch die in der Mandschurei (Richtung Korea) mehr schwere, gepanzerte Kräfte aufweisen als die in den anderen Stationierungsgebieten.

Die Seestreitkräfte, mit rund 250.000 Uniformierten, erneuern schrittweise ihre U-Flotte, wobei immer noch technische Hürden zu nehmen sind (beispielsweise bei der Geräuschdämpfung). Der Schwerpunkt lag bisher aber eher auf der Sicherung des weiteren Küstenvorfeldes durch modernste Raketenschnellboote als Voraussetzung für die Dominanz größerer Einheiten im Ost- und Südchinesischen Meer (vgl. Hoering in dieser Ausgabe) – sowie darüber hinaus bis hin zur weltweiten Präsenz. Das heißt, dass man eine »sichere« Basis geschaffen hat, von der aus weiterreichende Ambitionen zu realisieren sind.

Seit 2012 verfügte China über einen Flugzeugträger (Unterseher 2020, S. 45ff., 108f.), inzwischen hat die Volksrepublik zwei Flugzeugträger in Dienst, mindestens ein weiterer ist im Bau. Während in China 2019 zehn Zerstörer vom Stapel liefen, waren es in den USA nur einer sowie allerdings noch sechs kleinere neuartige Schiffe für den küstennahen Kampfeinsatz (»Littoral Combat Ships«). Ab 2020 lief der chinesischen Marine eine Serie von sieben »Superzerstörern« im Kreuzerformat (Typ 055) zu, die für weltweite Operationen geeignet sind. Die im Ausbau befindliche Marine-Infanterie – weit kleiner als die US-Marines – scheint auf die Küsten Taiwans, aber auch Vietnams, sowie die Inseln im Südchinesischen Meer hin orientiert zu sein.

China verfügt bisher nur über einen Stützpunkt im Ausland – Dschibuti am Indischen Ozean zur Sicherung der Afrika-Route, während die USA hunderte solcher Vorposten betreiben. Dies dürfte frustrierend sein, strebt man doch offenbar langfristig eine weltweite maritime Präsenz an (Goldstein 2019b). Es gibt also einen empfundenen Nachholbedarf Chinas, der eine expansive Außenpolitik erfordert.

Die Luftstreitkräfte, mit einer Personalstärke von ca. 400.000, haben die weltweit zweitgrößte Flotte von taktischen Kampfflugzeugen. Starkes Augenmerk gilt den Jagdbombern bzw. Mehrzweckflugzeugen (Unterseher 2020, S. 53f.). Hier wurde mit dem Typ J-10 technologisch Weltniveau erreicht. Dieses Potential ist eine Herausforderung für alle Anrainer. Diese liegen innerhalb des Aktionsradius des chinesischen taktischen Luftpotentials. Es mangelt allerdings noch an weiträumiger Vernetzung und Luftbetankungskapazität, um etwa auch für US-Fliegerkräfte bedrohlich zu sein.

Die bodengestützte Flugabwehr ist stark, womit angezeigt wird, dass die Luftstreitkräfte auf Balance achten, sich also nicht nur dem Angriffsdenken und seinen Risiken verschreiben. Ein Lenkwaffentyp dürfte nach Verbesserungen zur Bekämpfung taktisch-operativer ballistischer Raketen geeignet sein.

Cyber War und Weltraum-Aktivitäten

Das chinesische Konzept für den Informationskrieg ist das der ganzheitlichen Koordination von Land-, See-, Luft-, Weltraum- und elektromagnetischen Komponenten. Seit 2008 sind größere militärische Übungen Chinas durch integrale Elemente des Cyber Warfare gekennzeichnet. 2015 wurde die SSF (Strategic Support Force) geschaffen, sie verfügt über 120.000 Militärpersonen (IISS 2019, S. 258f.).

Diese hat vermutlich drei Säulen, deren erste der Informationsbeschaffung im Cyber Space zum Zweck militärischer Planung dient. Die zweite ist für Operationen im Weltraum zuständig und nutzt dazu Erdsatelliten unterschiedlicher Funktion, während die dritte mit offen­siver wie defensiver elektronischer Kriegsführung sowie Aufklärung befasst ist. China hat dazu mittlerweile über hundert Erdtrabanten für den vorwiegend militärischen Gebrauch (ebd., S. 259): sechs Kommunikationssatelliten, mehr als 30 zu Zwecken von Navigation bzw. Orts- und Zeitbestimmung, fast 50 für die strategische Radar- und Infrarot-Aufklärung sowie weitere Satelliten mit ELINT/SIGINT-Aufgaben (Electronic/Signal Intelligence).

Perspektiven für Rüstungs­kontrolle und Abrüstung

Zumindest verbal ist das Land bereit, „alle Fragen der strategischen Stabilität, nuklearer Risiken und Abrüstung zu erörtern“. Dennoch beteiligt sich Beijing beispielsweise nicht an den Wiener Verhandlungen über eine Nachfolgevereinbarung zum New-Start-Vertrag der USA und Russland (Krüger 2020, S. 2).

Dass Chinas Atomarsenal keinerlei Kontrolle unterliegt, stößt international auf Kritik. Allerdings wäre es höchst problematisch, wenn im Zuge der Beteiligung an Verhandlungen der Volksrepublik eine begrenzte »Nachrüstung« zugestanden würde. Das wäre Rüstungskontrolle, die Abrüstung sabotiert. Vor allem, wenn mit dieser Aufrüstung die Hinwendung Chinas zum wahnwitzigen atomaren Kriegführungsdenken einherginge.

Bleibt die konventionelle Ebene: Auch hier sind die Chancen für ein Einlenken Beijings in Rüstungskontrollverhandlungen eher schlecht. China verwendet das große Potential, neben der innenpolitischen Funktion, zur Machtprojektion in der Region und darüber hinaus. Der völkerrechtswidrige Anspruch auf das Südchinesische Meer ist für Beijing nicht verhandelbar. Kaum vorzustellen auch, dass man mit Taiwan Rüstungskontrollverhandlungen führt, die ja dessen Unabhängigkeit unterstreichen würden.

Anmerkung

1) Seltsam ist, dass Flüssigkeits- und Feststoffantrieb immer noch koexistieren, auch bei neueren Modellen – erhöht doch Feststoffantrieb die Reaktionsfähigkeit der Flugkörper erheblich.

Literatur

Chalmers, M. (1985): Paying for Defence: Military Spending and British Decline. London: Pluto.

Sarovic, A.(2020): SIPRI-Jahresbericht: Forscher warnen vor neuem Atomwettrüsten. Der Spiegel, 15.06.2020.

Feiveson, H. (1989): Finite Deterrence. In: Shue, H. (Hrsg.): Nuclear Deterrence and Moral Restraint, Cambridge: Cambridge University Press, S. 271-292.

Goldstein, L. (2019a): Why a new missile arms race with China might not be worth the cost. The National Interest, 20.12.2019.

Goldstein, L. (2019b): Why China Wants its Navy to Patrol the Atlantic Ocean. Is this a problem for Washington? The National Interest, 25.12.2019.

Mendelson, B. (2021): Die Länder mit den größten Armeen, Handelsblatt, 10.05.2021.

IISS (1983): The Military Balance 1983-84, Oxford: Oxford University.

IISS (2019): The Military Balance 2019-2020, Oxford: Oxford University.

Kristensen, H. M. Korda, M. (2019): World Nuclear Weapon Stockpile, Waterloo/Ontario: Ploughshares.

Krüger, P.-A. (2020): Schlachtfeld Weltraum, Süddeutsche Zeitung (online), 28.07.2020.

Rudolf, P. (2018): Abschreckung in der Ära neuer Großmachtrivalitäten. SWP-Studie, 11.05.2018.

Sarcasticus (2021): Chinas Silomania, Das Blättchen, Ausgabe 21/11.10.2021.

Sloss, L. (1989): The case for deploying strategic defenses, In: Shue, H. (Hrsg.): a.a.O., S. 343-380.

Statista (2021a): Atomwaffen – Anzahl weltweit, Statista Research Department (online).

Unterseher, L. (2020): Militärmacht China. Berlin: Lit.

Weltbank (2021): GDP, PPP, online unter: data.worldbank.org.

Lutz Unterseher, Soziologe und Politologe, war sicherheitspolitischer Berater und hat an Universitäten sowie Militärakademien im In- und Ausland gelehrt. Sachgebiete u. a.: Militärtheorie, NS-System.

Respektierte Großmacht?


Respektierte Großmacht?

China im globalen Machtgefüge

von Wolfgang Müller

China ist eine Großmacht. Der Westen versucht, das aufsteigende China als aggressive und imperialistische Macht abzustempeln. Doch welche eigenen internationalen Ambitionen lassen sich aus den politischen und ökonomischen Aktivitäten Chinas erkennen? Der Beitrag versucht eine knappe Einordnung von Chinas Stellung im globalen Machtgefüge – ein Blick auf eine eher »nach Innen« und auf wirtschaftliche Prosperität und Ressourcensicherung ausgerichtete Großmacht.

Die Lage ist angespannt: Viele sprechen schon von einem neuen Kalten Krieg zwischen dem jetzigen Hegemon USA und China. China sei nicht nur auf dem Weg zu einer neuen Supermacht, es wolle sein Modell auch in die ganze Welt exportieren. Damit sei die freie Welt, gemeint ist der Westen, in Gefahr. Chinas Wende zu mehr Autokratie sei eine Herausforderung für die Welt, so die Financial Times in einem Kommentar 2019.1 Zweifellos ist China demnächst die führende Wirtschaftsmacht und politisch und auch militärisch eine Großmacht. Auch wenn dies für Beobachter*innen im Vergleich zur sozioökonomischen Situation des Landes noch vor weniger als fünfzig Jahren durchaus erstaunlich ist, aufgrund der Größe des Landes und seiner Bevölkerungszahl ergibt sich diese Position mehr oder weniger zwangsläufig. Anders wäre das nur bei weitgehender Abschottung des Landes. Zudem haben die marktwirtschaftlichen Reformen eine dynamische Kapitalakkumulation in Gang gesetzt. Längst haben die chinesischen Kapitalgruppen die nationalen Schranken für ihre Profitmacherei hinter sich gelassen. Aber ist die Volksrepublik deswegen eine neue aggressive imperialistische Supermacht, eine Bedrohung für den Rest der Welt?

Chinas Vorgehen speziell in Asien lässt sich als Versuch beschreiben, das regionale Umfeld präventiv zu kontrollieren, zum Schutz seiner territorialen Integrität und der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung. Es ist eine weitgehend defensive Einflussnahme, gerichtet auf enge Beziehungen zu den Nachbarländern. Weil China viel größer ist als die meisten Länder in seiner Umgebung und mittlerweile eine um ein Vielfaches höhere Wirtschaftskraft hat, bringt diese Einflussnahme auch Abhängigkeiten mit sich – zuvorderst ökonomische, aber auch politische. Daraus einen aggressiven chinesischen Imperialismus zu konstruieren, geht an den Realitäten vorbei. Denn China hat bislang keine Versuche unternommen, sich Länder in Asien oder anderen Erdteilen gefügig zu machen, also etwa Regimewechsel zu inszenieren. Der einzige Militärstützpunkt außerhalb des Landes im afrikanischen Dschibuti dient westlichen Analysen zufolge allein dem Schutz chinesischer Handelsschiffe vor der Piraterie am Eingang zum Roten Meer.2 Aber schon allein aufgrund seiner Größe, seiner Bevölkerungszahl kombiniert mit seiner wirtschaftlichen und technologischen Stärke, ist China ein viel gefährlicherer Konkurrent für die USA, als es andere Großmächte jemals waren. Irgendwann in den nächsten Jahrzehnten wird sich auch die chinesische Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung der der USA annähern. Dann wird die chinesische Wirtschaft um ein Mehrfaches größer sein als die der USA. Diese historische Kräfteverschiebung in der Welt wollen die USA möglichst verlangsamen. Deshalb die Propaganda von einem neuen Kalten Krieg.

Die globale Ordnung mitgestalten

Alle Belege für die angeblich zunehmend aggressive Außenpolitik Chinas beziehen sich auf Auseinandersetzungen, in denen die staatliche Souveränität Chinas berührt ist, in denen es zumindest aus Sicht der Regierung in Beijing um chinesisches Hoheitsgebiet geht. Das mag im Einzelfall strittig sein. Aber es gibt keine sichtbaren Versuche Chinas, trotz der wahrnehmbaren Aufrüstung der Marine, etwa international oder auch nur regional militärisch einzugreifen.

Der US-Ökonom Jeffrey Sachs beklagte die Behauptungen über Chinas angeblich aggressives Auftreten „ohne die leisesten Hinweise auf die aggressiven und expliziten Versuche der USA, China nach dem alten Lehrbuch der US-Außenpolitik einzudämmen. Die USA haben verschiedene Kriege gestartet, haben hunderte Militärbasen im Ausland, brechen einen internationalen Vertrag nach dem anderen, starten zunehmend schrille, einseitige Handels- und Technologiekriege gegen China, machen äußerst umstrittene Vorwürfe gegen China wegen der Covid-19-Pandemie ohne die behaupteten enormen Beweise. Sie fordern ihre Bündnispartner explizit auf, sich gegen China zu verbünden. Das gegenwärtige Drehbuch der US-Außenpolitik ist geprägt von dem Interesse der USA, ihre Vorherrschaft überall aufrechtzuerhalten.3

Auch ein Blick in Chinas »jüngere« Geschichte gibt keinen Hinweis darauf, dass Xi Jinping und die KPCh an der Umsetzung heimlicher Welteroberungspläne arbeiten. Eher das Gegenteil ist der Fall: War China noch im 18. Jahrhundert ein wirtschaftlich hoch entwickeltes Land (auf China und Indien entfiel die Hälfte der gesamten Wirtschaftsleistung der Welt), so wurde China im Zeitalter des Kolonialismus und Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert von den Kolonialmächten des Westens und später von Japan ausgeplündert. China war zum Spielball fremder Länder geworden. Aus dieser Position hat sich das Land seit 1949 befreit, ist vom »Armenhaus der Welt« zu einem Land mit bescheidenem Wohlstand für die Masse der Bevölkerung geworden und hat sich zur führenden Industrienation und demnächst größten Wirtschaftsmacht entwickelt. Nicht überall im Westen wird das bislang anerkannt.

China will als Großmacht respektiert werden

Das Narrativ von Xi Jinping zielt darauf ab, den Wiederaufstieg Chinas als eines großen, international wichtigen Landes plausibel zu machen. China will international als Großmacht respektiert werden, die zur Neugestaltung einer bislang US-dominierten Weltordnung beitragen will. Damit gilt zwar nicht mehr die früher von Deng Xiaoping propagierte Außenpolitik nach dem Motto: »Den Ball flach halten«. Doch »aggressive Supermacht« geht anders.

2017 gab Xi Jinping einen Hinweis auf Chinas langfristiges Denken, als er erklärte, China habe jetzt auch einen Fahrersitz in internationalen Angelegenheiten und wolle größere Beiträge für die Menschheit leisten. Das bedeutet nicht, Länder mit Chinas Modell vom »Sozialismus mit chinesischer Prägung« zu beglücken. Die KPCh will vielmehr sicherstellen, dass andere Mächte dem Land nicht in die Quere kommen. Die Regierung arbeitet daran, seine Diplomat*innen in einfluss­reichen Positionen in multilateralen Institutionen zu etablieren, sodass sie die globalen Regeln etwa über Internet-Governance oder über Menschenrechte mitgestalten können. Zudem nutzt die Regierung ihre Position im Sicherheitsrat der UN mittlerweile eigenständiger, als noch vor wenigen Jahren beobachtet – nimmt also eine gestaltende Rolle ein, auch wenn dies nicht von allen Seiten gleichermaßen begrüßt wird.

China hat also zweifellos internationale Ambitionen. Aber Wirtschaftsmacht zu sein allein reicht nicht aus, um aus einem Land eine »Supermacht« zu machen. Darauf hat der britische Historiker Adam Tooze hingewiesen. Es habe erst eine Umwälzung der globalen politischen Verhältnisse gebraucht, um den USA die Chance zu bieten, ihre industrielle und finanzielle Stärke auszuspielen. „Darin liegt der Unterschied zwischen Chinas Aufstieg und dem Aufstieg der USA. Die USA stiegen auf vor dem Hintergrund eines totalen Krieges, der Europas Militärmacht ausgelaugt hatte und der das perfekte Vehikel für Amerika bot, seine industrielle und technologische Stärke auszuspielen (…). Die USA beanspruchten die demokratische Führung in der Welt, als der Krieg alle traditionellen Standards der Legitimität untergraben hatte (…). Für China bietet sich keine solche Möglichkeit. Seine relative finanzielle und wirtschaftliche Stärke ist weit geringer als die der USA im frühen 20. Jahrhundert (…). Will Beijing zu einem neuen Kreuzzug für eine Modernisierung mit chinesischen Charakteristiken aufrufen? Sicher nicht4 China will in der Welt vor allem Geschäfte machen, Produkte aus den chinesischen Fabriken verkaufen, mit Auslandsinvestitionen neue Absatzmärkte erschließen und sich Zugriff auf Technologien sichern, um international wettbewerbsfähig zu sein. Außerdem will das rohstoffarme Land, das fast die Hälfte der Weltproduktion von Kupfer, Eisenerz, Seltenen Erden etc. verbraucht, seinen riesigen Rohstoffbedarf absichern. Geschäftliche Interessen dominieren also die chinesische Politik in den Ländern Afrikas und in anderen Regionen des globalen Südens. Dieser Zugriff Chinas auf Märkte, Arbeitskräfte und Ressourcen sollte genauso herrschaftskritisch und kapitalismuskritisch begleitet werden, wie das wirtschaftliche Gebaren anderer Staaten – einen aggressiven Imperialismus stellt es aber nicht dar.

Auch hinter dem von Xi Jinping 2013 angekündigten Projekt der »Neuen Seidenstraße«, die Ost- und Südasien, Europa und den Nahen und Mittleren Osten auf dem Landweg und maritim enger verknüpfen soll, stehen in erster Linie wirtschaftliche Überlegungen. Gleichzeitig ist die Initiative ein großes geopolitisches Programm, um die Distanzen zwischen Ost und West wesentlich zu verkürzen und China als vorherrschende eurasische Macht zu etablieren. Der britische Historiker Peter Frankopan hat darauf hingewiesen, dass mit dem Projekt der »Neuen Seidenstraße« auch die Jahrtausende alte Idee des eurasischen Großkontinents wiederbelebt wird. Langfristig könne sich das Zentrum der Weltwirtschaft vom Atlantik zurück nach Eurasien verlagern.5 Ob die chinesischen Strategen auch solche Gedanken hatten, ist eine andere Frage. Definitiv sichert China damit aber seine wirtschaftliche Einflusssphäre ab.

Neokoloniale Ambitionen?

Die USA unterstellen China neokoloniale Ambitionen in Afrika und Lateinamerika. Für die amerikanische Afrika-Expertin Deborah Braeutigam ist der Vorwurf des chinesischen Neokolonialismus in Afrika überzogen: „Der Kolonialismus hat totale politische Kontrolle bedeutet, für China ist das politische Element eher leicht.6 Afrika ist für China vor allem ein Versuchsfeld für die weitere wirtschaftliche Expansion und Sicherung der Rohstoffzugänge. Die Baukonzerne z.B. üben für Bauprojekte bei mittelgroßen bis großen Bauvorhaben; dort sind sie sehr wettbewerbsfähig. Aus afrikanischer Perspektive bringt Chinas Präsenz bei allen Risiken einzelner Projekte und von Korruptionsfällen, die auch öffentlich diskutiert werden7, handfeste Vorteile bei der Finanzierung und bei Ingenieurleistungen.

Vor allem aber bringt die Volksrepu­blik für die afrikanischen Staaten endlich Wahlmöglichkeiten im Handel und in den wirtschaftlichen Beziehungen. Der US-Ökonom Jeffrey Sachs beschreibt deshalb Chinas Engagement in Afrika als die „wichtigste Entwicklung für Afrika in dieser Generation“.8 Für den sam­bischen Ökonomen Dambisa Moyo, der in seinem Buch »Dead Aid« von 2011 die westliche Entwicklungshilfe an den Pranger gestellt hatte, hat sich „mit China das alte Narrativ von Geberländern und Empfängerländern massiv verändert (…). Afrikanische Länder brauchen Handel und Investitionen. Es ist gut, wenn China oder auch Indien, Türkei, Russland oder Brasilien neue Handels- und Investitionsmöglichkeiten für Afrika bringen.9

Die nach innen gewandte Großmacht

KPCh und Regierung sind weiterhin vorsichtig im Angesicht der riesigen Aufgabe, ein Land mit 1,4 Mrd. Menschen zu regieren. Die Größe und Komplexität Chinas setzt das politische System und die Entscheidungsträger*innen unter extremen Druck. Denn es gibt genügend Probleme im Land. So wird China zwar bald die USA überholen und die weltgrößte Wirtschaftsmacht sein. Für mehr als 120 Länder ist China jetzt schon der wichtigste Handelspartner. Kaufkraftbereinigt ist Chinas Wirtschaftsleistung schon seit Jahren höher als die der USA. Aber angesichts von 1,4 Mrd. Einwohner*innen relativiert sich dieser Vergleich. So ist pro Kopf Chinas Wirtschaftsleistung nicht höher als die von Mexiko oder der Türkei. Es ist also noch viel Luft nach oben. Die KPCh und die Regierung haben deshalb klare Prioritäten: Bis 2025 soll China zur Liga der Länder mit höherem Pro-Kopf-Einkommen aufschließen und bis 2050 zu den 30 reichsten Volkswirtschaften in der Welt gehören. Der Fokus ist also die weitere Entwicklung des eigenen Landes. Aber nicht der Aufbau eines weltweiten Imperiums mit Militärstützpunkten, Agenten und Truppen rund um den Globus, das die globale politische und militärische Dominanz der USA herausfordern soll.

Es besteht zudem die Gefahr einer permanenten strukturellen inneren Überdehnung und einer Überforderung des Systems und seiner Institutionen. Zum Beispiel ist die Bevölkerungsdichte im Osten und Süden des Landes sehr hoch, während der Westen und Südwesten – Regionen mit vielen ethnischen Minderheiten – dünn besiedelt ist. Das wirtschaftliche und soziale Gefälle zwischen einzelnen Landesteilen ist sehr hoch. Solche internen Widersprüche machen eine imperiale Rolle Chinas in der Welt sehr unwahrscheinlich. Die zentralen Interessen der chinesischen Politik sind die weitere Modernisierung des Landes, die politische Stabilität und der Erhalt des Regimes sowie die Einheit Chinas. Diese Prioritäten werden sich langfristig kaum ändern.

Für eine andere Globalisierung

China hat eine andere Vorstellung von Globalisierung als das westlich-liberale Projekt einer Welt, die vom Westen dominiert ist. Xi Jinping verteidigte die Globalisierung 2017 vor der in Davos versammelten globalen politischen und wirtschaftlichen Elite. Er beschränkte sich dabei aber auf die Aspekte der Globalisierung, von denen China profitiert, also den freien Handel. Gleichzeitig beharrt China in den internationalen Beziehungen auf dem Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder, anders als das liberale Projekt der Globalisierung, das Freiheit für das Kapital und gleichzeitig die Übernahme westlicher Werte und Demokratiemodelle impliziert. Xi Jinping insistierte auf Chinas Recht, seinen Entwicklungsweg selbst zu bestimmen. Sein Land habe sich nach seinen eigenen Bedingungen in das globale Wirtschaftssystem eingebracht und binnen einer Generation 600 Mio. Menschen aus der Armut befreit. „China steht zu seinen eigenen Bedingungen und Erfahrungen. Wir haben die Weisheit der chinesischen Zivilisation geerbt und lernen von den Stärken im Osten und Westen (…). Wir lernen, wir kopieren aber nicht von anderen. Wir formulieren unseren eigenen Entwicklungsweg durch kontinuierliches Experimentieren (…). Kein Land sollte den eigenen Weg als den einzig gangbaren Weg aufs Podest stellen“, zitierte die Financial Times den chinesischen Staatspräsidenten.10

In der Logik christlich geprägter, aggressiv-imperialer Welteroberungsstrategien ergibt die Angst vor China sogar begrenzten Sinn, denn wenn China zur größten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigt, dann muss das Land diesen westlichen Vorstellungen zufolge beinahe zwangsläufig ebenfalls auf politische und militärische Expansion setzen, den Westen herausfordern und die USA vom Thron stoßen. Dazu aber schreibt der Ökonom und frühere polnische Außenminister Grzegorz Kolodko 2020: „China will nicht andere Länder zu Feinden abstempeln (…). Es ist erstaunlich, aber China scheint besser zu verstehen, was gegenwärtig auf dem Spiel steht an der gegenwärtigen Kreuzung der Zivilisation.“11

China ist also im globalen Machtge­füge als wirtschaftliche Weltmacht mit enorm­em internationalen Einfluss mittlerweile klar platziert. Die Bedrohungsszenarien der westlichen Propaganda entspringen Ängsten im Westen, ins Hintertreffen zu geraten. Mit einer tatsächlichen, vor allem militärischen Bedrohung der Welt durch China hat all dies wenig zu tun. China muss in seinem primären Bemühen um die innere Stabilität, Regimesicherung und wirtschaftliche Absicherung verstanden werden – und für die Folgen mancher dieser Aspekte fair kritisiert werden. Die globale Angstmache vor einem neuen »Kalten Krieg« hilft hier allerdings niemandem – weder in China noch in den Zivilgesellschaften im Westen oder in den Ländern des globalen Südens.

Anmerkungen

1) Financial Times, 20.7.2019

2) Economist, 9.4.2016

3) Financial Times, 10.6.2020: Letter: US containment policy feeds into China tensions.

4) Financial Times, 24.5.2014: China cannot follow America´s route to world leadership.

5) Frankopan, P. (2015): Das Licht aus dem Osten: Eine neue Geschichte der Welt. Berlin: Rowohlt.

6) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.1.2018

7) Economist, 9.3.2019

8) Financial Times, 14.6.2017: Chinese investment in Africa: Beijing´s testing ground.

9) Financial Times, 25.6.2020: Letter: Africa needs capital and good policies, not aid.

10) Financial Times, 20.1.2017: China is shaping up to be a world leader on climate change.

11) Kolodko, G. (2020): China and the Future of Globalization: The Political Economy of ­China’s Rise. London: IB Tauris Publishers, S. 120.

Wolfgang Müller ist Sozialwissenschaftler und Informatiker und hat nach seinem Berufsverbot mehrere Jahre in Beijing gelebt. Für die IG Metall hat er die Beziehungen zu den chinesischen Gewerkschaften aufgebaut und organisiert seit über 10 Jahren Studienreisen mit dem Schwerpunkt Arbeitswelt in China. Im Frühjahr 2021 erschien im VSA Verlag sein Buch »Die Rätsel Chinas – Wiederaufstieg einer Weltmacht«.