China und der Westen: Neuer Kalter Krieg?


China und der Westen:
Neuer Kalter Krieg?

von Marius Pletsch und Jürgen Scheffran

Vor genau 20 Jahren hatte sich Wissenschaft und Frieden zuletzt schwerpunktmäßig mit der Volksrepublik China beschäftigt. Der Titel des Beitrages von Jörn Brömmelhörster passt auch heute noch: „Partnerschaft oder Konfrontation“ (vgl. 4/2001). Es lohnt, sich die damalige Situation vor Augen zu führen, in der kritische Ereignisse ohne größere Eskalation bewältigt werden konnten. Hierzu gehört die US-Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad 1999 während des Kosovo-Krieges oder die Kollision eines amerikanischen Spionageflugzeugs mit einem chinesischen Abfangjäger 2001, wobei die US-Maschine in China notlanden musste und der chinesische Pilot nie gefunden wurde. Würden solche Situationen auch heute noch ohne militärische Eskalation enden?

Im Rahmen ihres Modernisierungsprojekts ist die Volksrepublik enorm gewachsen (siehe den Beitrag von Chunchun Hu), wie man an den Zahlen der Weltbank sieht: Das Bruttoinlandsprodukt wuchs im Zeitraum von 2001 bis 2021 von 1,34 Bio. US $ auf geschätzte 16,64 Bio. US $, in den letzten zehn Jahren hat es sich verdreifacht. Unter der fraglichen nationalen Armutsgrenze lebten 2019 weniger als 0,6 % der Bevölkerung statt 49,8 % wie noch im Jahr 2000; die Lebenserwartung stieg in diesem Zeitraum erheblich und die Bevölkerung wuchs vor allem in urbanen Räumen (vgl. Florian Thünken). Obwohl China mittlerweile die Klimaneutralität bis 2060 anstrebt, haben die CO2-Emissionen zugenommen, von 2,8 Tonnen pro Kopf im Jahr 2001 auf 7,4 (2018) (vgl. Anja Senz). Dieses Wachstum birgt in vielen Bereichen aber auch ein enormes Konfliktpotenzial, sowohl im Inneren wie im Äußeren.

Außenpolitisch ist die Situation stark von einem Antagonismus geprägt: Während die USA derzeit erneut um ihre globalpolitische Führungsrolle kämpfen, versucht China, seinen Einfluss stetig auszuweiten. Mit den »Neuen Seidenstraßen« entsteht ein Netz von Infrastrukturprojekten von Ostasien bis Europa und Afrika. Bei Schlüsseltechnologien fordert China Europa, Japan und die USA heraus (vgl. Claudia Wessling). Auch verfügt China mittlerweile über die Mittel, militärisch mitzuhalten. Laut SIPRI wuchsen die Militärausgaben zwischen 2001 und 2020 von 48,8 auf 252,3 Mrd. US $ an, etwa ein Drittel der USA, und auch eine Modernisierung der Atomwaffen ist im Gange (vgl. Lutz Unterseher).

Es zeichnen sich Konflikte und ein neues Wettrüsten zwischen China und den westlich orientierten Staaten ab. Die jüngste Ausgabe der Zeitschrift Foreign Affairs (6/2021) spricht von einem neuen Kalten Krieg, nun vor allem mit China, das im Westen als doppelte Bedrohung angesehen wird: politisch-ideologisch als kommunistischer Systemrivale und wirtschaftlich-technologisch als kapitalistischer Konkurrent (vgl. Wolfgang Müller). Fokus der Konflikte ist derzeit besonders das Südchinesische Meer. Wachsende Spannungen zwischen China und Taiwan zeigen sich an der Zahl der beobachteten chinesischen Militärflüge in die Luftverteidigungsidentifikationszone Taiwans, das wie Hongkong als chinesisches Territorium angesehen wird. Dies heizt die mediale Berichterstattung im Westen über das Feindbild China an (siehe den Beitrag von Mechthild Leutner), während China der Welt seine koloniale Unterdrückung in Erinnerung ruft. Anders als Staaten wie die USA, hat China keine vergleichbare Geschichte weltweiter militärischer Interventionen. Dass die USA ihre Bereitschaft erklären, Taiwan zu verteidigen, dürfte chinesische Bedrohungswahrnehmungen noch steigern. Sieht so das Skript zum Dritten Weltkrieg aus?

Der Konflikt zwischen der aufstrebenden Macht China und der vermeintlich absteigenden Macht USA beeinflusst zunehmend die Weltpolitik, vor allem im Indo-Pazifik-Raum. Nach dem Handelskrieg Donald Trumps schmieden die USA nun unter Präsident Joe Biden Bündnisse gegen China, wie die QUAD-Allianz mit Indien, Australien und Japan oder das Militärbündnis von Australien, Großbritannien und USA (AUKUS). Die Lieferung nukleargetriebener U-Boote löste Verstimmungen mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron aus und stieß auch bei den europäischen Verbündeten auf Unbehagen. Australien provoziert damit Konflikte und könnte selbst Ziel eines Nuklearkrieges werden. Am Ende könnte die gesamte Region hochgerüstet sein. Durch die Verschiebung von US-Interessen wird der Ruf nach europäischer Autonomie lauter, zugleich entwickelt die NATO Ambitionen weit außerhalb des Bündnisgebiets. Einen Überblick über die verschiedenen Akteure und Konflikte im Indo-Pazifik gibt der Beitrag von Uwe Hoering, und Andreas Seifert skizziert die unklar ambivalente Einstellung europäischer Institutionen und Staaten zu China.

Vieles in China deutet auf eine Konfrontation im Verhältnis USA-China hin, obwohl doch die Zusammenarbeit für die Bewältigung gemeinsamer globaler Herausforderungen wie Pandemie, Flucht und Klimawandel in der multipolaren Welt dringlicher denn je ist. Welche Rolle die Zivilgesellschaft dabei spielen kann, ist eine offene Frage (vgl. Joanna Klabisch und Christian Straube), ebenso wie stabil China gegenüber den rasanten Entwicklungen ist.

Marius Pletsch und Jürgen Scheffran

Ein eigener Ansatz


Ein eigener Ansatz

Die Atomwaffendoktrin Chinas

von Gregory Kulacki

Die Volksrepublik China hat ein relativ kleines ­Atomwaffenarsenal, eher vergleichbar mit dem von Frankreich und dem Vereinigten Königreich als mit den viel größeren Arsenalen von Russland und den Vereinigten Staaten. Die strategische Logik hinter dem Bau und der Aufrechterhaltung dieser kleinen Atomstreitkraft ist das Ergebnis der chinesischen Geschichte der Neuzeit. Sie unterscheidet sich von den strategischen Überlegungen der anderen Atomwaffenstaaten und wird sich höchstwahrscheinlich nicht ändern. Es ist daher davon auszugehen, dass die chinesischen Atomstreitkräfte zwar qualitativ und technologisch ausgebaut werden, die relative Größe des chinesischen Arsenals und sein Verwendungszweck aber unverändert bleiben. China ist zur vollständigen Abrüstung seines Arsenals bereit, wenn die anderen Atomwaffenstaaten zustimmen, das gleiche zu tun.

China hat einige Hundert Atom­sprengköpfe und genug waffen­taugliches Plutonium für einige Hundert weitere. Die chinesische Führung hat die genaue Zahl der Sprengköpfe nie offiziell bekanntgegeben aus Furcht, ein Gegner könnte dann versucht sein, einen vernichtenden Erstschlag auszuführen. Sie hat aber zugestimmt, sich an einem freiwilligen Moratorium für die Produktion von waffentauglichem Plutonium zu beteiligen. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass nicht beabsichtigt ist, das chinesische Atomwaffenarsenal nennenswert auszubauen.

China könnte mit seinen landgestützten Interkontinentalraketen momentan 75 bis 100 seiner Sprengköpfe gegen seinen Hauptgegner, die USA, richten. Es könnte mit Mittelstreckenraketen, die atomwaffentauglich sind, etwa 100 weitere Atomsprengköpfe auf Ziele abschießen, die näher an China liegen, wie Guam, Russland oder Indien. Die komplette landgestützte Atomstreitkraft ist nicht in ständiger Alarmbereitschaft, sondern die Sprengköpfe werden separat von den Raketen gelagert.

Bald 60 U-Boot-gestützte ballistische Raketen könnten jeweils einen Sprengkopf tragen, die U-Boote sind aber – anders als die Frankreichs, des Vereinigten Königreichs, Russlands und der Vereinigten Staaten – nicht auf bewaffneter Patrouille. Auch hat China momentan keine Atomwaffen an Bord von Flugzeugen; allerdings gibt es unbestätigte Berichte, dass China einen luftgestützten Marschflugkörper entwickelt hat, der mit einem Atomsprengkopf bestückt werden könnte.

Die strategische Logik: »nukleare Erpressung« vermeiden

Im Oktober 1950 drohte die Regierung der Vereinigten Staaten mit einem Atomangriff auf China, nachdem chinesische Truppen Nordkorea Hilfe geleistet hatten. Im März 1955 drohten die Vereinigten Staaten während einer Krise um Taiwan erneut mit einem Atomwaffeneinsatz gegen China. Die chinesische Führung bezeichnete diese Drohungen vonseiten der USA als »Erpressung« mit Atomwaffen.

Als China im Oktober 1964 seinen ersten Atomwaffentest durchführte, ließ es die Welt wissen, es entwickle Atomwaffen, „um der imperialistischen US-Politik der nuklearen Erpressung und der nuklearen Bedrohungen entgegenzutreten“. Die chinesische Regierung argumentierte, durch die Entwicklung eigener Atomwaffen „wäre [die US-] Politik der nuklearen Erpressung und der nuklearen Bedrohung nicht mehr so wirksam“. Sie versprach der Weltöffentlichkeit, China würde nicht an „die Allmacht von Atomwaffen“ glauben, hätte nicht vor, sie einzusetzen, sondern wolle mit seinen eigenen Atomwaffen „das nukleare Monopol der Nuklearmächte durchbrechen und Atomwaffen abschaffen“ (New York Times 1964).

Die strategische Logik hinter diesen Äußerungen ergibt sich in der Interpretation der heutigen Generation chinesischer Militärvertreter aus dem „wesentlichen Charakteristikum“ der Atomwaffen: ihrem gewaltigen Zerstörungspotential (Strategic Research Department 2013). Werden ballistische Raketen mit Atomsprengköpfen bestückt, gibt es keine gesicherte Verteidigung gegen dieses Zerstörungspotential. Folglich sollte die „bloße Existenz“ chinesischer Atomwaffen jeden vernünftigen Gegner aus Furcht vor Vergeltung vom Einsatz von Atomwaffen gegen China abhalten. Die chinesische Führung glaubt, dass sie jegliche Drohungen mit einem Atomwaffeneinsatz gegen China als »Papiertiger« abtun kann, solange sie die Mittel für einen Vergeltungsschlag in der Hand hat.

In ihrer Stellungnahme 1964 „erklärt“ die chinesische Regierung hiermit feierlich, das China zu keiner Zeit und unter keinen Umständen als erstes Atomwaffen einsetzen wird“ (New York Times 1964). Diese Zusicherung entspringt weniger moralischen Gründen denn einer rationalen Erkenntnis: Wenn man glaubt, dass es gegen das immense Zerstörungspotential eines nuklearen Vergeltungsschlages keine gesicherte Verteidigung gibt, dann macht es auch keinen Sinn, selbst mit einem Ersteinsatz zu drohen. China sicherte außerdem zu, niemals Atomwaffen gegen Nicht-Atomwaffenstaaten einzusetzen oder diesen mit dem Einsatz zu drohen.

Der Ausschluss eines Ersteinsatzes in der Erklärung von 1964, den chinesische Regierungsvertreter*innen in internationalen Foren bis heute wiederholen, erklärt auch, warum China keine nukleare Parität mit Russland und den Vereinigten Staaten anstrebt, obgleich es technisch und ökonomisch dazu in der Lage wäre: Es gibt keinen Grund, in ein nukleares Gleichgewicht zu investieren, wenn die Vergeltungsfähigkeit genauso gut mit einem deutlich kleineren Arsenal gesichert werden kann.

Zukunftspläne

Kurz nachdem Xi Jinping 2012 Staatspräsident wurde, veröffentlichte die Chinese Academy of Military Science (CMS) eine Studie, die die Entwicklung von Raketenabwehrsystemen, Weltraumwaffen, Cyberwaffen und konventionellen Präzisionslenkwaffen großer Reichweite als die größte Herausforderung für die Gewährleistung dafür bezeichnet, dass China nach einem Atomwaffenangriff Vergeltung üben könnte. Die Verfasser*innen warnten die chinesische Führung, China stünde einer nuklearen Erpressung der USA wehrlos gegenüber, wenn diese die neuen Waffentypen gegen das chinesische Atomwaffenarsenal sowie die wesentlichen Kommunikations-, Kommando- und Kontrollsysteme eingesetzt würden.

Die CMS-Studie deutet an, dass China Maßnahmen ergreifen wird, die es ihm ermöglichen, sein Vertrauen in die Fähigkeit zu einem Vergeltungsschlag aufrechtzuerhalten und gleichzeitig an der Nicht-Ersteinsatz-Doktrin festzuhalten sowie den Einsatzzweck des chinesischen Atomwaffenarsenals auf das Kontern der nuklearen Erpressung zu begrenzen. Die Studie stellt fest, das dazu „angemessene Anpassungen“ der Größe und Fähigkeiten der chinesischen Nuklearstreitkräfte ebenso erforderlich seien wie die Stärkung all der unterschiedlichen Subsysteme, die diese Streitkräfte unterstützen. Dabei bliebe es Chinas Ziel, eine „kleine, aber erstklassige“ Nuklearstreitkraft zu unterhalten, die gegnerischen Versuchen, sie zu schwächen, widerstehen könne.

Zu diesen Anpassungen gehört die Einführung neuer, mobiler atomwaffenfähiger Mittel- und Langstreckenraketen, die mit Festtreibstoff betrieben werden. Zwei solche Raketen, die DF-26 und die DF-41, wurden im Oktober 2019 bei einer Parade in Beijing präsentiert. Es heißt, die DF-41 könne mehrere Sprengköpfe gleichzeitig tragen – eine deutliche Erschwernis für die US-Raketenabwehr.

Eine weitere Anpassung, die in China erwogen, aber wieder verworfen wurde, ist der Aufbau eines Frühwarnsystems, vergleichbar dem der USA und Russlands. Ein solches System würde China in die Lage versetzen, einen Vergeltungsschlag auszulösen, sobald ein Atomwaffenangriff gemeldet wird. Die CMS-Studie argumentiert, dies wäre keine Verletzung der Selbstverpflichtung, keinen Ersteinsatz durchzuführen. Der Generaldirektor der Abrüstungsabteilung im chinesischen Außenministerium hingegen rief alle Atomwaffenstaaten kürzlich auf, ihre Politik aufzugeben, schon bei einer Warnung vor einem Atomwaffenangriff den Start von Atomwaffen vorzubereiten. Vor internationalen Rüstungskontrollexperten erklärte er im Oktober 2019, diese ständige Alarmbereitschaft sei nicht kompatibel mit einer Nicht-Ersteinsatz-Doktrin.

Unterstützung für Rüstungskontrolle und Abrüstung durch Völkerrecht

Die Stellungnahme der chinesischen Regierung von 1964 endete mit dem Versprechen, sie werde „alle Anstrengungen aufbieten, um das edle Ziel eines vollständigen Verbots und der kompletten Beseitigung von Atomwaffen durch internationale Verhandlungen zu fördern“ (New York Times 1964). China trat 1992 dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag bei, unterzeichnete 1996 das Umfassende Atomteststoppverbot und beteiligt sich aktuell an den Treffen der Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen in Genf. Dort unterstützt China die Aufnahme von Verhandlungen über ein Verbot der Produktion von Spaltmaterialien und brachte weiterführende Vorschläge ein für einen Vertrag zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum.

China lehnt es ab, an bi- oder multilateralen Verhandlungen über die Reduzierung von Atomwaffen mit Russland und den Vereinigten Staaten mitzuwirken. Es gibt internationalen Verhandlungen den Vorzug, die von den Vereinten Nationen ausgerichtet werden und auf bindende völkerrechtliche Abkommen zielen, die gleichermaßen für alle Staaten gelten. China sieht auch keine Grundlage für konstruktive Abrüstungsgespräche mit Russland oder den Vereinigten Staaten, bis diese ihre Atomwaffenarsenale auf eine Größe reduziert haben, die der der britischen, französischen und chinesischen Arsenale entspricht. Sowohl die USA als auch Russland besitzen jeweils mehr als 6.000 Atomsprengköpfe, während die drei anderen offiziellen Atomwaffenstaaten jeweils einige Hundert vorhalten. Dieses erhebliche Ungleichgewicht ist einer der Gründe, warum China den Vorschlag der beiden Staaten, es solle sich an trinationalen Verhandlungen zur Bewahrung des Mittelstreckenvertrages beteiligen, als nicht ernst gemeint einstufte.

Literatur

Kristensen, H.; Korda, M. (2019): Nuclear Notebook – Chinese nuclear forces, 2019. Bulletin of the Atomic Scientists, Vol. 75, Nr. 4, S. 171-177.

Kulacki, G. (2015): The Chinese Military Updates China’s Military Strategy. Cambridge: Union of Concerned Scientists, 10 S.

New York Times (1964): Statement by Peking on Nuclear Test. 17.10.1964, S. 10.

Strategic Research Department of the Chinese Academy of Military Science (2013): The Science of Military Strategy. Beijing: Military Science Publishing House.

Zhang, H. (2018): China’s Fissile Material Production and Stockpile. Princeton: International Panel on Fissile Materials.

Dr. Gregory Kulacki lebt und arbeitet zur Zeit in Tokio, Japan. Er ist Senior Analyst der Union of Concerned Scientists (­ucsusa.org) und dort im Rahmen des Global Security Program Leiter des Chinaprojektes. Außerdem ist er Visiting Fellow am Re­search Center for Nuclear Weapons Aboli­tion (recna.nagasaki-u.ac.jp/recna/en-top) an der Nagasaki University.

Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Volksrepublik China


Volksrepublik China

Zivilisationsanspruch und Wahrnehmung hybrider Bedrohung

von Doris Vogl

China wird zunehmend mit hybrider Kriegsführung im Hochtechnologie-Bereich in Zusammenhang gebracht; die Position Pekings bleibt jedoch zumeist unterbelichtet. Im Sinne eines ausgewogenen Diskurses sollen daher im Folgenden grundlegende chinesische Begrifflichkeiten und Sichtweisen zum Thema Sicherheitspolitik näher untersucht werden.

Zunächst eine Vorbemerkung zum Begriff »Hybride Kriegsführung«. Dazu ein kurzer Rückblick auf die 1980er Jahre, als in der Politikwissenschaft der Begriff »Kriegsführung mit niedriger Intensität« (low intensity warfare) äußerst kontrovers diskutiert wurde. Der damalige US-amerikanische Referenzrahmen für »low intensity warfare« beinhaltete nicht-gewaltsame Mittel zu Zwecken von Information und Desinformation oder gesellschaftlicher Destabilisierung ebenso wie das außenpolitische Instrument des massivem wirtschaftlichen Drucks (Embargo, Strafzölle etc.) (vgl. Klare und Kornbluh 1987). Das Low-intensity-Konzept der Reagan-Ära leitete sich seinerseits aus dem Konzept »Counterinsurgency« ab, das auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges nach der Kubanischen Revolution 1959 aufkam.

Die Jahrzehnte davor war im sicherheitspolitischen Kontext der Begriff »Interventionismus« weit verbreitet. Auch in diesem Kontext spielten Operationen und Täuschungsmanöver auf der medialen oder psychologischen Ebene eine wesentliche Rolle. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Diskurs über »Hybride Kriegsführung« ein Phänomen betrifft, welches im Lauf der Jahrzehnte bereits mehrere Begrifflichkeiten durchlaufen hat. Die strategische Ausrichtung ist dabei dieselbe geblieben, der Instrumentenkoffer weist allerdings einen zeitgemäßen technologischen Wandel auf.

Die chinesische Sichtweise

Aus der Sicht Pekings weisen alle oben genannten Begrifflichkeiten eine grundlegende und für die Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) wesentliche Gemeinsamkeit auf: Sie sind westlichen Ursprungs und folgen westlichen Narrativen.1 Dieser Umstand ist Grund genug für chinesische akademische Zirkel, um dem gegenwärtigen globalen Diskurs des jüngsten Begriffs »Hybride Kriegsführung« möglichst wenig Folge zu leisten. Dies heißt jedoch nicht, dass das Thema in chinesischen Publikationen oder Diskussionsforen ausgeklammert bleibt: Hybride Bedrohungsszenarien werden eingehend in diversen Medien diskutiert, jedoch weitgehend unter Anwendung anders lautender – von chinesischer Seite bevorzugter – Begrifflichkeiten. Diese Vorgangsweise folgt einer umfassenden strategischen Linie, die Peking keineswegs verborgen hält: Diskursen, die als hegemonistisch wahrgenommen werden, sollte argumentativ entgegengesteuert werden, ohne die entsprechenden international gängigen Schlüsselbegriffe anzuwenden.

Die eigentliche Zielsetzung besteht darin, in diverse globale Diskurse auch die chinesische Sichtweise – ergo chinesische Narrative – einzuweben. Im Idealfall gelingt es Peking, ein genuin chinesisches Narrativ zu schaffen, wie etwa die »Belt & Road Initiative«, die »Schicksalsgemeinschaft der Menschheit«. Diese Strategie der internationalen Verbreitung eigenständiger chinesischer Narrative mit entsprechenden Begrifflichkeiten wird insbesondere seit der Ära Xi Jinping konsequent verfolgt; der sicherheitspolitische Bereich spielt hier selbstverständlich eine besonders sensible Rolle.

In diesem Kontext sei auf einen Bestseller hingewiesen, der im Jahr 2011 – noch vor dem Amtsantritt von Präsident Xi – unerwartet große Popularität auf dem heimischen chinesischen Buchmarkt erreichte. In seinem Buch »The China Wave – Rise of a Civilizational State« (Zhongguo Zhenzhan; englische Ausgabe 2012) setzt sich Prof. Zhang Weiwei mit der Frage auseinander, welchen Beitrag China in globalen politischen Diskursen leisten könnte, und schlägt Konzepte aus der klassischen und jüngeren chinesischen Ideengeschichte vor.2 Im Vordergrund der Diskussion steht hier die Frage der chinesischen Zivilisation: Im Gegensatz zu einem Nationalstaat – so Prof. Zhang Weiwei – hat China nicht nur sein Staatsterritorium oder ein politisches System zu verteidigen, sondern eine einzigartige Zivilisation, welche sich seit dem vorchristlichen Römischen Imperium weiterentwickelt hat. Besonders aufschlussreich sind seine Empfehlungen zur selektiven Annahme westlicher politischer Werte und Modelle:

„Was China angeht, sollte es all die Vorstellungen, Konzepte und Standards, die durch den Westen geformt oder definiert wurden, wie Demokratie, Menschenrechte, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, das Mehrparteiensystem, Autokratie, die Marktwirtschaft, die Rolle des Staates, Zivilgesellschaft, in der Öffentlichkeit stehende Intellektuelle, das Bruttoinlandsprodukt, den Gini-Koeffizient und den Human Development Index, unter Berücksichtigung Chinas eigener Vorstellungen kritisch betrachten. China sollte nutzen, was immer an ihnen richtig ist, und verwerfen, was immer an ihnen falsch ist, und sie bereichern und neu definieren, wenn es nötig ist, und in diesem Prozess Chinas eigene Diskurse und Standards schaffen.“ (Zhang 2012, S. 137)

Bei genauerem Hinsehen enthalten diese Empfehlungen genau jenen springenden Punkt, welcher in der Diskussion zu Hybrider Kriegsführung zum Tragen kommt. Prof. Wang spricht von „bereichern“, in weiterer Folge von „neu definieren“ westlicher Standards und Konzepte. In letzter Konsequenz wird allerdings die Schaffung genuin chinesischer Diskurse angeraten. In unserer heutigen Zeit benötigt diese Zielsetzung auf analoger wie auch virtueller Ebene entsprechende mediale und soziale Netzwerke quer über den Globus. Mittlerweile ist es nicht mehr zu übersehen, dass China eben diese Zielsetzung mit Konsequenz und Nachdruck verfolgt. Die internationale Gemeinschaft nimmt dieses Bestreben als »hybride Bedrohung« – oder, um mit einem älteren Begriff zu hantieren, als »insurgency« – wahr. Tatsächlich ist die ideologisch-politische Realität der Volksrepublik nicht mit westlichen demokratischen Mehrparteien-Systemen kompatibel und wird logischerweise als rivalisierendes System eingestuft.

Die chinesischen Begriffe

Etwa um die Zeit, als das Thema »Hybride Kriegsführung« infolge der völkerrechtswidrigen Annektierung der Halbinsel Krim durch Russland im Publikationsbereich seinen Hype erlebte, veröffentlichte der Chinesische Staatsrat eine Neuversion der nationalen Sicherheitsstrategie unter dem Titel »China‘s Military Strategy« (State Council 2015). In diesem Weißbuch scheint das Wort »hybrid« nicht auf, jedoch werden die Begriffe »Informationisierung« sowie »informationalisierte Kriegsführung« wiederholt verwendet:

„Der Weltraum und der Cyberspace wurden zu neuen Kommandohöhen im strategischen Wettbewerb zwischen allen Parteien. Die Form von Krieg beschleunigt die Evolution hin zur Informationisierung. […] Die zuvor genannten revolutionären Veränderungen der Militärtechnologien und der Form von Krieg hatten nicht nur erhebliche Auswirkungen auf die internationale politische und militärische Landschaft, sondern stellten die militärische Sicherheit Chinas vor neue und ernste Herausforderungen.“ (State Council 2015, Chapter 1)

„Die chinesischen Streitkräfte werden Waffen und Ausrüstung schneller auf den neuen Stand bringen und an der Entwicklung eines Waffen- und Ausrüstungssystems arbeiten, das wirksam auf informationisierte Kriegsführung reagieren und helfen kann, die Missionen und Aufgaben zu erfüllen.“ (State Council 2015, Chapter 4)

Besonders augenfällig ist, dass auch der Begriff »Digitalisierung« nicht verwendet wird. Die Sphäre des Internet wird jedoch als neues Bedrohungsszenario für die nationale Sicherheit der Volksrepublik angeführt. In diesem Zusammenhang wird auch darauf verwiesen, dass China eines der Hauptziele für Hacker-Attacken sei:

„Der Cyberspace wurde zu einem neuen Pfeiler der ökonomischen und sozialen Entwicklung und zu einer neuen Domäne der nationalen Sicherheit. Während der internationale strategische Wettbewerb im Cyberspace immer schärfer tobt, sind einige Staaten dabei, ihre militärischen Cyberkräfte zu entwickeln. Als eines der größten Opfer von Hackerangriffen ist China mit schwerwiegenden Sicherheitsbedrohungen seiner digitalen Infrastruktur konfrontiert.“ (State Council 2015, Chapter 4).

Im regionalen Strategie-Weißbuch »China‘s Policies on Asia-Pacific Security Cooperation« vom Januar 2017 werden nachdrücklich die Bemühungen Chinas dargelegt, auf UN-Ebene internationale Richtlinien für digitalisierte Kommunikation zu initiieren. Derartige Richtlinien sollten gemäß Pekings Ansicht sowohl ethische Maßstäbe als auch politische Parameter, wie Nicht-Diskriminierung, beinhalten. Dabei wird die aktive Rolle Pekings bei der Forderung nach einem »zivilisiert« geführten Internet mit international gültigem Regelwerk in diversen UN-Gremien sowie im Rahmen des jährlichen Internet Governance Forum hervorgehoben (Ministry of Foreign Affairs, Chapter 4).

Die westliche Sichtweise

Die Einflusssphäre des Internet – Cyberattacken und Nachrichtenzensur inbegriffen – nimmt eine zunehmend gewichtige Rolle bei der Thematik hybrider Bedrohungen ein. Entsprechend betrachten Menschenrechtsorganisationen oder politische Institutionen, wie das Europäische Parlament, die gegenwärtige chinesische Einflussnahme im Cyberspace keineswegs als zivilisationsförderlich. In einem Bericht von »Reporter ohne Grenzen« (2018) findet sich zu der jährlich unter chinesischem Vorsitz in Zhejiang (Wuzhen) abgehaltenen »World Internet Conference« folgender Kommentar:

„Die »World Internet Conference« lädt die internationale Gemeinschaft ein, sich dem Aufbau »einer gemeinsamen Zukunft im Cyberspace« anzuschließen. Unter dem Vorwand, sich für gute Praktiken im Internet einzusetzen, nutzt China diese Konferenzen, um seine Zensur- und Überwachungspraktiken zu exportieren.“ (Reporters without Borders 2018, S. 8)

Die Aufweichung nationaler Grundrechte und universeller Menschenrechte durch Zensur und digitale Observierungstechnologien mit Unterstützung Pekings außerhalb Chinas Grenzen wird zunehmend als bedrohliche hybride Praktik eingestuft. Es ist davon auszugehen, dass es in diesem thematischen Bereich zu keiner Kompromissfindung kommen wird. Allzusehr weicht die chinesische, hausgemachte Definition von Menschenrechten (»Menschenrechte chinesischer Prägung«) von der UN-Menschenrechtscharta ab.

Der lange Schatten des Krim-Szenarios

Immer häufiger findet sich in China-Analysen die Frage, ob in einem etwaigen Konfliktszenario mit verdeckt kämpfenden chinesischen Einheiten auf fremdem Territorium gerechnet werden kann. Als Referenzrahmen dient der Einsatz russischer Spezialeinheiten ohne Hoheitszeichen auf der Halbinsel Krim im Frühjahr 2014. Bei derartigen Überlegungen bleibt jedoch ein Punkt zumeist unbeachtet: Es war für ein russisches Einsatzkommando durchaus problemlos, sich in Zivil (oder auch grün gekleidet) unter Menschen mit ähnlichem äußeren Erscheinungsbild zu mischen. Doch wie sollte eine verdeckte chinesische Spezialeinheit etwa in Afrika, Europa oder Südasien unerkannt bleiben? Selbst ohne jegliches Hoheitsabzeichen würde die chinesische Nationalität von der lokalen Bevölkerung sehr rasch erkannt werden. Geht es jedoch um den Einsatz uniformierter Spezialkräfte der Volksbefreiungsarmee in Übersee, so bewegen wir uns bereits auf dem Terrain konventioneller Kriegsführung, ergo abseits hybrider Kampftaktiken. Wesentlich realistischer als hybride Bedrohung erscheint hier die verdeckte Anwendung von Künstlicher Intelligenz (KI). Dazu zählen etwa im Zivilbereich eingesetzte Drohnen mit Observierungsauftrag und beschränkter Entscheidungskompetenz. Auch wird von chinesischer Seite mit durchaus transparent gehaltener wissenschaftlicher Ambition daran gearbeitet, chinesische BeiDou-Navigationssatelliten mit KI-Technologie zu vernetzen. Dies würde zum Beispiel eine wesentlich raschere Auswertung von Personenerkennungsdaten durch Künstliche Intelligenz ermöglichen.

Das chinesische Selbstverständnis

China sieht sich als Nation des Friedens und beteiligt sich seit einigen Jahren mit großem Engagement an UN-Friedensmissionen. Selbst eingefleischte US-amerikanische China-Kritiker*innen müssen eingestehen, dass die chinesische Volksbefreiungsarmee (VBA) während der letzten 40 Jahre kaum Kampferfahrungen außerhalb der eigenen Grenzen sammeln konnte. Die letzte grenzüberschreitende Großoffensive (chinesische Diktion: Selbstverteidigungs- und Gegenangriffskampf an der chinesisch-vietnamesischen Grenze; vietnamesische Diktion: Krieg gegen den chinesischen Expansionismus) fand im Frühjahr 1979 statt, dauerte fünf Wochen und endete mit einem Rückzug der VBA. Die Jahrzehnte danach wurde zwar innerhalb der VR China mehrmals das Kriegsrecht verhängt (Lhasa: April 1989-Mai 1990, 2008; Beijing: Mai 1989-Januar 1990), die Konfrontation mit Vietnam auf dem Festland (1988) und zur See (2014) erreichte jedoch nur ein sehr eingeschränktes Ausmaß. Die maritimen Streitigkeiten der Volksrepublik mit den Philippinen (Höhepunkt: 2011-2014) um einige Spratly-Inseln sowie die kurzfristige Konfrontation mit indischen Grenzeinheiten in Ladakh (April-Mai 2013) erregten zwar erhebliches mediales Aufsehen, es waren allerdings auf keiner Seite Tote zu beklagen.

Betrachten wir also das chinesische Selbstverständnis als friedliebende Nation, so spricht die Faktenlage der letzten Jahrzehnte deutlich mehr für diese Einschätzung als dagegen. Wo liegt nun das Problem? Die eigentliche Problematik scheint in der unseligen Verflechtung von zwei völlig unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmungen zu liegen: Zum einen entsteht vor uns das dystopische Bild einer »unsichtbaren« – nicht fassbaren – Kriegstaktik, die sämtliche unserer Lebensbereiche auch in Friedenszeiten durchdringen kann; zum anderen beunruhigt der Unsicherheitsfaktor einer neuen Weltmacht, die demokratische Regelwerke nach westlichem Muster in Zweifel zieht.

Anmerkungen

1) Der Diskurs zu Hybrider Kriegsführung wurde zunächst vom US-amerikanischen Autor Frank G. Hoffman initiiert und fand in Europa ein lebhaftes Echo sowie rasche Ausbreitung.

2) Zhang Weiwei schlägt in Kapitel 5.3, »The Rise of a New Political Discourse«, folgende Konzepte vor: Shishi qiushi (Seeking Truth from Facts); Minsheng weida (Primacy of People’s Livelihood); Zhengti siwei (Holistic Thinking); Zhengfu shi biyaodeshan (Government is a Necessary Virtue); Liangzheng shanzhi (Good Governance); Minxin xiangbei and xuanxian renneng (Winning the Hearts and Minds of the People and Meritocracy); Jianshou bingxu (Selective Learning and Adaptation); Hexie zhongdao (Harmony and Moderation).

Literatur

Klare, T.; Kornbluh, P. (1987): Low Intensity Warfare – Counterinsurgency, Proinsurgency, and Antiterrorism in the Eighties. New York: Pantheon; ein Beitrag dieses Sammelbandes findet sich auf thirdworldtraveler.com.

Ministry of Foreign Affairs of the PRC (2017): China’s Policies on Asia-Pacific Security Cooperation. 11.1.2017; fmprc.gov.cn/mfa_eng/.

Reporters without Borders (2018): China´s Pursuit of a New World Media Order. Paris.

The State Council Information Office of the People’s Republic of China (2015): China’s Military Strategy. 26 May 2015; eng.mod.gov.cn/.

Zhang, W. (2012): The China Wave – Rise of a Civilizational State. Singapur: World Century Publishing.

Mag. Dr. Doris Vogl (Sinologie und Politikwissenschaft) ist externe Lektorin an der Universität Salzburg und assoziierte Mitarbeiterin am Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (IFK) in Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind China, Human Security in Krisengebieten, EU-Sicherheitspolitik.

Chinas neue Seidenstraße

Chinas neue Seidenstraße

Eine friedensbringende Initiative

von Maximilian Mayer

Bislang hatte die Volksrepublik China den Schwerpunkt ihrer Entwicklungsbestrebungen vor allem auf das eigene Land gerichtet. Mit dem Projekt »Neue Seidenstraße« (auch »Ein Gürtel, eine Straße« genannt) versucht das Land nun zum ersten Mal, gezielt und mit Nachdruck seine eigenen Themen auch auf die internationale Tagesordnung zu setzen. Worauf muss sich die Weltgemeinschaft im Zuge der wachsenden Rolle Chinas und vor allem im Rahmen des Projekts »Neue Seidenstraße« gefasst machen? Wird China durch sein wirtschaftliches Engagement den Frieden fördern oder entstehen stattdessen neue geopolitische Spannungen?
W&F bat zwei Autoren um ihre Analyse dieser Fragen. Die beiden folgenden, jeweils aus unterschiedlicher Perspektive geschriebenen Texte zeigen Übereinstimmung in etlichen Punkten. Was die friedenspolitischen Konsequenzen der Initiative angeht, setzen die Autoren aber durchaus unterschiedliche Akzente.

Chinas Initiative für eine neue Seidenstraße hat weltweit unterschiedlichste Reaktionen hervorgerufen. Vom Vorwurf eines neokolonialen Projektes oder der angeblichen Zielsetzung, eine sinozentrische Weltordnung zu errichten, reichen diese hin bis zur hoffnungsvollen Überzeugung, dass durch verstärkten Handel »win-win«-Situationen geschaffen werden. Chinas Staatspräsident und Parteivorsitzender Xi Jinping, der seine Reputation mit dem Seidenstraßen-Projekt (offiziell als »Gürtel und Straße«-Initiative bezeichnet) verknüpft hat, sieht darin poetisch „Chinas Traum“ vereint mit den Träumen der restlichen Welt. Gewaltige Infrastrukturinvestitionen in Bahn- und Straßenverbindungen, Pipelines, Glasfaserkabel und Stromproduktion, ermöglicht durch großzügige chinesische Kredite, sollen nicht nur Handel und Wachstum ankurbeln, sondern auch nachhaltige Entwicklung und gesellschaftliche Stabilität in den beteiligten Ländern schaffen. Beim jüngsten Gipfeltreffen betonte Peking überdies den friedensbringenden Charakter der Initiative (An 2017).

Und tatsächlich entfaltet sich das Seidenstraßen-Projekt mit lawinenartiger Geschwindigkeit“ (Stanzel 2017). Es erfährt weitaus größere Zustimmung als selbst chinesische Außenpolitik-Experten erwartet hatten. Die Begeisterung vieler Regierungen ist aber nicht nur vorzüglicher Propagandaarbeit geschuldet sowie der Tatsache, dass Kredite in Billionenhöhe angekündigt wurden. Ein weiterer Grund ist der inklusive Ansatz Pekings. Während auf Karten verzeichnete Korridore von Zentralasien bis Europa reichen und Seeverbindungen durch den Indischen Ozean und den Mittleren Osten bis ins Mittelmeer verlaufen, wurden keinerlei offizielle Einschränkungen hinsichtlich der politischen Ausrichtung oder geographischen Lage potentieller Partnerländer gemacht. Positive Resonanz gab es auch auf neue Kreditinstitutionen, wie die Asian Infrastructure Investment Bank, die gegründet wurden, um die moderne Seidenstraße zu finanzieren.

China – Ein verlässlicher Partner in unsicheren Zeiten?

Um die Attraktivität der Seidenstraße als Friedensprojekt zu verstehen, muss sie vor dem Hintergrund einer zunehmend volatilen und kompetitiven Gemengelage in den internationalen Beziehungen betrachtet werden. Die von US-Präsident Trumps Regierung offenbar bewusst herbei geführte Unberechenbarkeit hat Amerikas Partner in Europa und Ostasien zutiefst verunsichert. Es ist unklar, wie weit man sich in Sachen Freihandel, Klimaschutz und Verteidigungspolitik noch auf Washington verlassen kann. Gerade südosteuropäische Länder, wo China in Häfen und Eisenbahnverbindungen investiert, haben sich schnell mit der Seidenstraßen-Idee angefreundet. Sogar Japans Regierung, die sich gegenüber Pekings Vorstoß zunächst sehr reserviert verhielt, möchte nun kooperieren. Schließlich haben die USA im Mai 2017 eine hochrangige Delegation zum Pekinger Gipfel gesendet. Lediglich Indien verwies erzürnt auf Infrastrukturprojekte im pakistanischen Teil von Kaschmir und schlug eine Einladung aus (Miglani 2017).

Kurz gesagt, scheint sich Pekings stabile Haltung wohltuend von anderen internationalen Akteuren abzusetzen. Weder beschwört China Kultur- oder Zivilisationskonflikte herauf, noch stellen chinesische Eliten den Pariser Klimapakt in Frage. Wie beim Davoser Treffen Anfang 2017 deutlich wurde, präsentiert sich Präsident Xi als Verteidiger des freien Warenhandels und der weiteren wirtschaftlichen Vernetzung. Die positive Botschaft der weiteren Öffnungspolitik ist zumindest erfolgreich genug, dass sich viele Regierungen, Unternehmen und Investoren, die von Trumps plump-nationalistischer Abschottungsrhetorik abgeschreckt sind, um einen Tisch versammeln.

Außerdem weist die neue Seidenstraße trotz anderslautender Berichterstattung und Spekulationen (siehe Tiezzi 2014) bislang keine militärischen Komponenten auf. China rüstet zwar seit mehr als zwei Dekaden ununterbrochen seine Seestreitkräfte auf. Doch dürfte das Land kaum dazu in der Lage sein, in den ausgedehnten Korridoren der neuen Seidenstraße als bestimmender sicherheitspolitischer Akteur aufzutreten. Die einzige Ausnahme ist womöglich Südostasien. Dort befinden sich China und die Anrainerstaaten am Südchinesischen Meer in einem Territorialkonflikt. Die chinesische Regierung hat erst Landaufschüttungsmaßnahmen vorgenommen, dann militärische Stützpunkte auf Riffen errichtet und schreckt laut Medienberichten nicht vor der Androhung militärischer Gewaltanwendung zurück.

Für die Seidenstraße aber hat die Kommunistische Führung sicherheitspolitische Aspekte bewusst heruntergespielt, um dem Verdacht einer auf Hegemonie bedachten Strategie den Wind aus den Segeln zu nehmen. Intern wurde diese Strategie allerdings kritisiert, da keine Kapazitäten vorhanden sind, um im Ernstfall chinesische Investitionen und Projekte zu schützen. Die jüngsten Spannungen in der Golfregion zeigen, dass Chinas Führung kein stabiles Sicherheitsumfeld garantieren kann (Hollingsworth 2017). Mit anderen Worten: Die erfolgreiche Umsetzung des Seidenstraßen-Projekts ist maßgeblich von der US-amerikanischen Sicherheits- und Stabilitätspolitik abhängig. Doch selbst wenn sich Peking entscheiden sollte, der ersten chinesischen Militärbasis im ostafrikanischen Dschibuti weitere hinzuzufügen, bleibt Chinas militärische Präsenz sowohl regional als auch global sehr begrenzt.

Kapitalistischer Frieden

Dieser kursorische Überblick umreißt lediglich einige der Gründe, warum die Seidenstraße vor dem Hintergrund von Chinas rasendem Aufstieg bislang wenig Konfliktpotential bietet. Er sollte durch eine systematischere Sichtweise ergänzt werden. Kann die liberale Friedenstheorie darüber Aufschluss geben, ob sich verstärkte chinesische Investitionen und Handelsbeziehungen positiv auf die internationalen Beziehungen auswirken könnten? Im Falle Chinas, wo die kommunistische Partei das unangefochtene Machtmonopol in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft besitzt, geht es analytisch offenkundig nicht um den kantischen Frieden zwischen Republiken. Stattdessen scheint das Konzept des »kapitalistischen Friedens« einen Erklärungsansatz zu bieten. Im Gegensatz zum Konzept des »demokratischen Friedens«, das einen Krieg zwischen demokratisch verfassten Staaten kategorisch ausschließt, folgt aus dem weiter gefassten Ansatz »Frieden durch Handel«, dass mehr Handel den Wohlstand vergrößert, während er die zwischenstaatliche Kriegswahrscheinlichkeit sinken lässt (Russet and Oneal 2004). Dieser Zusammenhang besteht prinzipiell unabhängig von der Art des politischen Systems oder der wirtschaftlichen Entwicklungsstufe eines Landes.

Darüberhinaus wird angenommen, dass eine Ausweitung des Außenhandels in Entwicklungsländern die Lebensbedingungen verbessert, den Lebensstandard hebt und somit erst die Bedingungen für stabile demokratische Institutionen geschaffen werden. Dieser Ansatz wurde bereits auf China angewendet. Im Zuge seiner ökonomischen Öffnung nach 1978 wurde der Außenhandel deutlich ausgeweitet, und es wurden massive ausländische Direktinvestitionen nach China gelockt. Vertreter des »kapitalistischen Friedens« blicken daher optimistisch auf die Möglichkeit, eine friedliche Eingliederung Chinas in ein regelbasiertes kapitalistisches Weltsystem zu erreichen (Weede 2005, S. 180ff; Ikenberry 2008).

Während China – trotz seines phänomenalen wirtschaftlichen Aufstiegs – weit davon entfernt ist, demokratische Reformen umzusetzen, hat es sich in eine globale Handelsmacht verwandelt. Chinesische Firmen haben ihrerseits begonnen, im Ausland zu investieren. Die Seidenstraßen-Initiative ist der jüngste offizielle Schub, mit dem die kommunistische Führung nicht nur neue Exportmärkte erschließen und Rohstofflieferanten absichern will, sondern auch das chinesische Entwicklungsmodell exportieren möchte. Die Softpower wirkt. In Ländern wie Pakistan, Sri Lanka, Kenia oder Myanmar werden Sonderwirtschaftszonen errichtet und Transportkorridore gebaut. Chinesische Staatsunternehmen bauen neue logistische Knotenpunkte, um vom Welthandel abgeschnittene Gebiete in Zentralasien zugänglicher zu machen.

Höhere Hürden für eine militärische Konfliktaustragung

Pekings gebetsmühlenartig wiederholte Betonung einer »win-win«-Situation spiegelt dabei klar die Annahme der Theorie des »kapitalistischen Friedens« wieder, die von einem durch Handel und Investitionen geschaffenen Positivsummenspiel ausgeht. Trotz der hohen finanziellen Risiken dieser Projekte spricht vieles dafür, dass quer durch Eurasien neue wirtschaftliche Vernetzungen entstehen. Ein sich rasch vertiefendes Geflecht von wirtschaftlichen und finanziellen Interdependenzen innerhalb eines China-zentrierten Großraumes erhöht einerseits die Hürden für mögliche militärische Auseinandersetzungen oder Allianzbildungen, die sich gegen China richten. Anderseits werden diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen langfristig und vertraglich gebunden. Regelmäßiger Austausch zwischen Ministerien, Expert*innen und Entscheidungsträger*innen schafft gegenseitiges Vertrauen und eine breitere diplomatische Basis, um mögliche Spannungen zu bearbeiten.

Es bleibt aber abzuwarten, ob eine China-zentrierte wirtschaftliche Verflechtung jenen sozioökonomischen Prozess erzeugen kann, in dem – wie theoretisch erwartet – aus steigendem Wohlstand und einer wachsenden Mittelklasse auch demokratische Strukturen erwachsen. Es ist keineswegs auszuschließen, dass zwischen Wladiwostok und Istanbul eine Zone »autokratischen Friedens« Gestalt annehmen könnte. Ein solches Ergebnis der Seidenstraßen-Initiative entspräche zumindest dem ambitionierten ideologischen Selbstverständnis chinesischer Politiker*innen. Chinesische Intellektuelle sprechen bereits von der »Globalisierung 2.0«, die nicht wie Weltbank und Internationaler Währungsfond die lokale Entwicklung einfach übersieht, sondern vom chinesischen Modell – wirtschaftliche Liberalisierung kombiniert mit strikter politischer Kontrolle – inspiriert ist. Zumindest erhofft sich Peking mit dem angekündigten Investitionspaket von ca. einer Billion US-Dollar, die Sicherheitslage in Chinas unmittelbarer Umgebung zu verbessern und schließlich jene wirtschaftlichen und institutionellen Pfadabhängigkeiten zu generieren, die ein eurasisches Konzert unter chinesischer Federführung ermöglichen.

Reaktionen der großen und kleinen Nachbarn

In dieser kontinentalen Neuvermessung befinden sich kleinere Länder, wie die südostasiatischen Staaten, einerseits und Großmächte, wie Russland und Indien, andererseits in ganz unterschiedlichen Positionen. In Anbetracht seiner wirtschaftlichen Übermacht bleibt Chinas Nachbarländern, wie Vietnam, Mongolei oder die Philippinen, schon heute nichts anderes mehr übrig, als auf enge Zusammenarbeit zu setzen, um von chinesischen Infrastrukturinvestitionen zu profitieren. Die aus europäischer Sicht überraschend zurückhaltende Reaktion der Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres auf das Urteil des Schiedsgerichts in Den Haag im Juli 2016 über die umstrittenen Inseln und Meeresgebiete verweist darauf, dass China längst zum ausschlaggebenden Sicherheitsakteur geworden ist (Mahoney und Mayer 2016).

Das friedensstiftende Motiv der Seidenstraße wird zudem durch den chinesischen Beitrag zu regionalen Integrationsbemühungen glaubwürdig, wie etwa im Falle des Verbands Südostasiatischer Nationen ASEAN und der Afrikanischen Union, aber auch im Rahmen der Shanghai Cooperation Organisation. Beobachter wirtschaftlicher Reformen in vielen der beteiligten Länder vermerken, dass die Kernforderungen des »Washington Consensus« zu Transparenz bei Verwaltung und Wettbewerbsregeln unter chinesischem Einfluss von lokalen Eliten meist umfassender umgesetzt werden als je zuvor. Die offiziellen Dokumente der Seidenstraßen-Initiative deuten an, dass Peking Bestrebungen für eine effizientere Verwaltung und verlässliche Rechtsprechung unterstützen wird, ohne ein einheitliches Modell vorzugeben. Dieser grundsätzlich flexible Ansatz – ökonomische Integration zu unterstützen – ist vielleicht auch der Überdehnung der chinesischen Diplomatie geschuldet. Er entspricht jedenfalls eher einer Neuinterpretation des »Tianxia Model« (Callahan 2008, Godehardt 2016) als dem Anspruch, eine neue Weltordnung zu begründen.

Ob sich der gewünschte Frieden tatsächlich mittels eines konzertierten, von China ausgehenden Globalisierungsschubs absichern lässt, hängt aber letztlich nicht an der Stabilisierung asymmetrischer Beziehungen mit kleinen Ländern und der Abwehr von Terroranschlägen, wie etwa in Pakistan (Arduino 2018). Ausschlaggebend ist vielmehr die politische Bewertung in Neu-Delhi, Moskau und Tokio. Die Reaktionen dort sind bislang uneinheitlich. Während sich die Allianz zwischen Kreml und Zhongnanhai, die auch in Zentralasien für Stabilität sorgte, besonders seit dem Ukraine-Konflikt noch vertieft hat und bereits beschlossen wurde, Seidenstraße und Eurasische Wirtschaftsunion zu verbinden, reagierten die japanische und die indische Regierung weitaus kühler und vereinbarten konkurrierende Infrastrukturprojekte (Chaudhury 2017). Vor allem Indien sieht sich zunehmend umzingelt durch chinesische Infrastrukturprojekte. Die Seidenstraße gilt als Versuch, die Vormachtstellung im indischen Hinterhof zu erlangen und den Rivalen Pakistan zu stärken. Dennoch sind es gerade die wirtschaftlichen Interessen, die Präsident Modis Regierung zum Einlenken bewegen könnten. So strebt Indiens Führung danach, wichtige regionale Transportverbindungen mit China als Partner zu realisieren und wurde bereits zum Hauptprofiteur des chinesisch finanzierten Containerhafens in Sri Lankas Hauptstadt Colombo.

Friedlichere, aber nicht konfliktfreie Zukunft

Insgesamt verfügt die Seidenstraße im Sinne des »kapitalistischen Friedens« über großes Potential. Konzeptionell präzise ist hiermit die Abwesenheit von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Staaten gemeint. Keinesfalls jedoch wächst Chinas weltpolitisches Gewicht spannungs- und konfliktfrei. Handelsrivalitäten dürften alleine schon aufgrund der rapiden technologischen Neuerungen sowie einer Verlagerung in den Produktionsketten unvermeidbar sein (Wong 2017). Auch wenn hier eine vorsichtig optimistische Sichtweise vertreten wird, bedarf es einiger Einschränkungen, die sich gut mit der normativen Ausdifferenzierung des Friedensbegriffs (Meyers 2011) illustrieren lassen. Da ich letztere aufgrund der notwendigen Kürze nicht eingehend diskutieren kann, möchte ich lediglich zwei Friedensdimensionen herausgreifen, die ausdrücklich nicht Bestandteil meines positiven Plädoyers sind, aber trotzdem relevant für eine friedenspolitische Deutung der Seidenstraße.

Zum einen meine ich damit die sozialen Auswirkungen großer Infrastrukturprojekte, die oftmals mittels erzwungener Umsiedlung, anhaltender Unterdrückung und Überwachung der ortsansässigen Bevölkerung umgesetzt werden. Proteste gegen chinesische Großprojekte gibt es nicht nur in Laos und Pakistan, sondern auch in der chinesischen Provinz Xinjiang, die eine zentrale Drehscheibe des neuen logistischen Netzwerks werden soll. Zum anderen gilt es die ökologischen Folgewirkungen zu bedenken. Trotz der Beteuerung, auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz zu achten, wird ein ressourcenintensiver, fossiler und letztlich umweltzerstörerischer Pfad eingeschlagen. Auch wenn die volkswirtschaftlichen Vorteile klar auf der Hand liegen: Die Seidenstraße ist ein klassisches modernistisches Entwicklungsprojekt, dem aus sozialer und ökologischer Perspektive eine nachhaltige Friedensorientierung fehlt.

Nichtsdestotrotz liegt es im europäischen Interesse, die Friedenspotentiale dieses chinesischen Globalisierungsschubs zu erkennen und zu nützen. Gerade im Mittleren Osten und in Nordafrika wäre das unmittelbar notwendig. Zudem sollte die wirtschaftliche, diplomatische und technologische Zusammenarbeit mit China in allen Seidenstraßen-Ländern verstärkt und auf die Einbindung Indiens und Japans hingearbeitet werden. Es bleibt abzuwarten, ob Europa eine konsistente Strategie entwickeln kann, um diese Herausforderungen zu meistern und eine Friedensdividende zu ernten.

Literatur

Arduino, A. (2018): China-Pakistan Economic Corridor – Security and Inclusive Development Needed. IAPS Dialogue, 18. Juli 2018.

An, B. (2017): Xi calls for joint efforts to turn Belt and Road into path for peace, prosperity. China Daily, 14.5.2017.

Callahan, W.A. (2008): Chinese Visions of World Order – Post-Hegemonic or a New Hegemony? International Studies Review 10 (4), S. 749-61.

Chaudhury, D.R. (2017): Pushing back against China’s One Belt One Road, India, Japan build strategic »Great Wall«. The Economic Times, 16.5.2017.

Nadine Godehardt (2016): No End of History – A Chinese Alternative Concept of International Order? SWP Research Paper 2-2016..

Hollingsworth, J. (2017): How the Gulf row is blocking China’s new Silk Road. South China Morning Post. 5 June 2017.

Ikenberry, G. (2008): The Rise of China and the Future of the West – Can the Liberal Systems Survive? Foreign Affairs, Vol. 87, No. 1, S. 23-37.

Mahoney J.G. and Mayer, M. (2016): How to make the South China Sea more secure – for both China and its neighbours. South China Morning Post, 9.8.2016.

Meyers, R. (2011): Krieg und Frieden. In: Gießmann, H.G. und Rinke, B. (Hrsg.): Handbuch Frieden. Wiesbaden: Springer VS, S. 21-50.

Miglani, S. (2017): India cool on Beijing summit as »Silk Road« stirs unease. Reuters, 12.5.2017.

Russett, B.M. und J.R. Oneal (2004): Triangulat­ing Peace – Democracy, Interdependence, and International Organizations. New York: W.W. Norton.

Stanzel, V. (2017): Der Mega-Marshallplan – Wie Chinas Mammut-Projekt »Neue Seidenstraße« ein Erfolg werden könnte – und wie nicht. ipg-journal.de, 17.5.2017.

Tiezzi, S. (2014): The Maritime Silk Road Vs. The String of Pearls. The Diplomat, 13.3.2014.

Weede, E. (2004): The Diffusion of Prosperity and Peace by Globalization. The Independent Review, Vol. IX, No. 2.

Wong, C. (2017): How a history of divisive tactics has made the European Union suspicious of China. South China Morning Post, 5.6.2017.

Dr. Maximilian Mayer ist Forschungsprofessor am Deutschland-Forschungszentrum der Tongji Universität, Shanghai.

Kein Garant für Frieden und Wohlstand

von Gregor Grossman

Westliche Theorien zum Verhältnis zwischen Frieden und Stabilität können zu den Fragen, die Chinas Projekt für eine neue Seidenstraße aufwirft, unterschiedliche Perspektiven aufzeigen. In der liberalen Tradition ist die Ansicht verbreitet, dass engere Handelsbeziehungen die Wahrscheinlichkeit kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen zwei Staaten reduzieren, da die Kosten solcher Konflikte für beide Seiten steigen. Vor allem neomarxistische Kritiker weisen hingegen darauf hin, dass Handel nicht immer allen Beteiligten gleichermaßen zugute kommt. Aus den daraus entstehenden Spannungen ergibt sich wiederum ein Konfliktpotenzial, welches in bewaffnete Auseinandersetzungen ­münden kann. Seit einigen Jahren versuchen Studien, quantitative Antworten auf die Frage der friedensstiftenden Wirkung von Handel zu finden, bisher jedoch ohne eindeutige Ergebnisse (siehe z.B. Martin/Mayer/Thoenig 2008 und Lee/Pyun 2016).

Chinas neue Seidenstraße basiert auf einer Logik, die der liberalen Friedenstheorie ähnelt. Bei der Initiative handelt es sich um ein weitreichendes Projekt, welches den Anschein erweckt, die gesamte chinesische Außenpolitik neu auszurichten. Dabei gehört der Ausbau, aber auch die Neuausrichtung des Handels zwischen den teilnehmenden Ländern zu den Hauptzielen der neuen Seidenstraße. Die einflussreiche Nationale Entwicklungs- und Reformkommission, Nachfolgerin der Mao-zeitlichen Staatlichen Planungskommission, erläutert in ihrem Grundsatztext zur neuen Seidenstraße folgende Vision: „Der beschleunigte Ausbau des Gürtels und der Straße kann den wirtschaftlichen Wohlstand der Länder entlang des Gürtels und der Straße sowie die regionale Wirtschaftszusammenarbeit fördern, den Austausch und das gegenseitige Lernen zwischen Zivilisationen stärken und Frieden und Entwicklung auf der Welt voranbringen.“ (NDRC 2015)

Gibt es also Grund zum Optimismus, dass die neue Seidenstraße den Weg zu Frieden und Stabilität unter und in den beteiligten Staaten ebnet? Ein Blick auf die bisherige Bilanz lässt Zweifel aufkommen.

Handelspolitik mit chinesischen Eigenschaften

Im Rahmen der neuen Seidenstraße wird der Handel nicht nur ausgeweitet, sondern auch gemäß chinesischen Interessen umgestaltet. So verfolgt China etwa beim Ausbau des China-Pakistan-Wirtschaftskorridors, einem Teilprojekt der neuen Seidenstraße, gleich mehrere Ziele. Vor allem soll China für seinen Warenhandel weniger abhängig von der Straße von Malakka werden. Daher sollen Güter, die über den Indischen Ozean kommen, ab Gwadar auf der Landroute durch Pakistan nach China transportiert werden. Auch für Chinas interne Entwicklung soll das Vorhaben Vorteile bringen, indem es der westchinesischen Region Xinjiang neue Wachstumsperspektiven eröffnet und einen Beitrag zur Beilegung der dortigen ethnischen Konflikte leistet. Während das Projekt also chinesische Interessen voranbringt, führt es gleichzeitig zu Spannungen mit Indien, dem strategischen Rivalen Pakistans. Der Wirtschaftskorridor führt durch umstrittene Gebiete und nährt gleichzeitig Ängste, Chinas Engagement könnte das militärische Gleichgewicht zwischen Pakistan und Indien gefährden (Nataraj and Sekhani 2016).

Auch in Zentralasien hat die neue Seidenstraße geopolitische Auswirkungen, da sie in der Region eine Machtverschiebung von Russland zu China vorantreibt. Gasleitungen und Transportwege, welche seit Sowjetzeiten eine Nord-Süd-Orientierung haben, führen zunehmend gen Osten. In einer von Rohstoffreichtum geprägten Region hat die China National Petroleum Corporation die russische Gazprom als wichtigsten Akteur in der Energiebranche abgelöst.

Zusätzlich versucht China in Zentralasien für den Handel mit Europa Alternativen zur Seefracht zu entwickeln. Neue und ausgebaute Eisenbahnverbindungen sollen den Güterhandel auf der Landroute zwischen China und Europa wirtschaftlich machen. Viele Länder entlang der Route bleiben China gegenüber jedoch misstrauisch. Dr. Steve Tsang, Leiter des Chinainstituts an der School of Oriental and African Studies in London, findet es „bezeichnend, dass mehrere der Länder sich damit schwer tun, ihre Bahnverbindungen auf Normalspur umzubauen, was eine Voraussetzungen wäre, um schnelle und effiziente Zugverbindungen zwischen China und Europa zu ermöglichen. Warum zögern sie oder weigern sich, wenn sie Vertrauen in China haben?“ (Tsang 2017)

Der Handel mit China ist für viele Staaten ein zweischneidiges Schwert. In den vergangenen Jahren hat sich Chinas Anteil am Export vieler rohstoffreicher Länder erheblich vergrößert (Drummond and Liu 2013). In Zeiten großer Nachfrage konnten so Länder wie die Mongolei oder Angola von hohen Wachstumsraten profitieren. Unter diesen Umständen schien es auch sinnvoll, Kredite für chinesische Infrastrukturprojekte aufzunehmen. In den letzten Jahren haben sich diese Bedingungen jedoch geändert. Das Wachstum in China hat sich nicht nur verlangsamt, sondern es basiert auch weniger auf Investitionen bzw. ist weniger rohstoffintensiv geworden. Dementsprechend kämpfen viele dieser Länder heute mit niedrigerem Wachstum und mit chinesischen Krediten, die nicht mehr so leicht zu bedienen sind (Hayes 2017).

In Bezug auf die Regierungsführung in den Ländern entlang der neuen Seidenstraße scheint das Projekt ebenfalls eine ambivalente Wirkung zu haben. So hat es Berichte von reger Korruption im Zusammenhang mit der chinesischen Initiative gegeben. Letztes Jahr musste der kirgisische Präsident als Reaktion auf einen Korruptionsskandal zurücktreten, in den eine chinesische Firma involviert war. In der Tat untergräbt Korruption nicht nur die politische und soziale Stabilität, sondern kann auch negative Auswirkungen auf die effektive Nutzung neuer Infrastruktur haben. Alexander Cooley stellte zuletzt fest, dass sich der Zeitbedarf für die Ein- und Ausfuhr von Gütern in der Region Zentralasien trotz milliardenschwerer Investitionen zwischen 2006 und 2014 kaum verkürzt hat. Grund sei in vielen Fällen der Missbrauch von Infrastruktur durch lokale Eliten, etwa indem sie Schmiergelder für deren Nutzung verlangen (Cooley 2016).

Myanmar geht eigene Wege

In Myanmar hat ein politischer Wandel zu einem anderen Umgang mit chinesischen Investitionen geführt. Dort versucht China seit Jahren den Bau der 3,6 Mrd. US$ teuren Myitsone-Talsperre voranzutreiben. Das Bauwerk sollte im Oberlauf des Irawadi gebaut werden und ein Gebiet überfluten, welches als die Wiege der burmesischen Kultur gilt. Was die Talsperre in der burmesischen Bevölkerung zusätzlich unbeliebt machte, war die Tatsache, dass nach einer Vereinbarung zwischen China und der ehemaligen Militärregierung bis zu 90 % des erzeugten Stroms nach China fließen sollten. Als in Myanmar im Jahre 2011 eine Zivilregierung an die Macht kam, stieg diese vorerst aus dem Projekt aus (Fuller 2011). Zwar steht das Projekt heute wieder auf der Tagesordnung, doch haben sich die Bedingungen grundsätzlich verändert. Myanmar unternahm erste Schritte, um seine Umweltgesetzgebung zu stärken, öffentliche Diskurse spielen in dem Land nun eine größere Rolle, und die demokratische Regierung ist der Bevölkerung stärker verpflichtet als die frühere (Bowman 2016). Es deutet einiges darauf hin, dass das Land heute besser in der Lage ist, chinesische Investitionen in nachhaltigere Bahnen zu lenken.

Der sicherheitspolitische Schatten der Seidenstraße

Parallel zum wirtschaftlichen Programm der neuen Seidenstraße findet eine schleichende Militarisierung statt. Handelswege, die China mit den Ländern der neuen Seidenstraße verbinden, sollen geschützt werden. Gleichzeitig sucht China bzw. suchen chinesische Firmen Investitionsmöglichkeiten in Regionen, die besonders risikoreich sind. Daher wundert es kaum, dass China zunehmend Maßnahmen ergreift, um seine Interessen zu sichern.

Historisch betrachtet war die Volksrepublik China Verfechter des Prinzips der Nichteinmischung in Angelegenheiten anderer Länder. In den letzten Jahrzehnten hat China jedoch seine militärische Präsenz im Ausland ausgeweitet. Dies lässt sich zum einen an der Beteiligung des Landes an UN-Friedensmissionen ablesen. Begann China in den 1990er Jahren zunächst, solche Missionen finanziell zu unterstützen, stellte es später auch Truppenkontingente zur Verfügung. Heute zählt China zu den Ländern, die am meisten Truppen für Friedensmissionen bereitstellen. Außerdem hat es in den Südsudan erstmalig Kampftruppen für einen solchen Einsatz entsandt (Fung 2016). Am Beispiel des Südsudan lassen sich auch die Verflechtungen zwischen den wirtschaftlichen und den militärischen Dimensionen des chinesischen Engagements erkennen: In dem Land tätigte China einige seiner wichtigsten Investitionen im afrikanischen Energiesektor.

Um die Projekte der neuen Seidenstraße zu sichern, setzt China entlang der gesamten Seidenstraße sicherheitspolitische Maßnahmen ein. In Tadschikistan ist China am Bau von Grenzposten an der Grenze zu Afghanistan beteiligt. Ein Anschlag auf die chinesische Botschaft in Bischkek (Kirgistan) hat auch dort zu einer Intensivierung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit geführt. In Pakistan, wo die Seidenstraße durch die von Gewalt und Unruhen geprägte Provinz Belutschistan führt, versucht die Regierung mit Tausenden von Soldaten, das Projekt zu sichern. Und Steve Tsang weist darauf hin, dass „Chinas Militär bereit dazu ist, in Afghanistan sein Engagement zu erhöhen, wenn die US-NATO-Präsenz unter ein Niveau fällt, bei dem chinesische Investitionen und chinesisches Personal nicht mehr effektiv geschützt werden können“ (Tsang 2017).

Die Sicherung von maritimen Handelswegen hat ebenfalls oberste Priorität für die chinesische Regierung. Seit 2008 beteiligt sich das Land an der internationalen Mission zur Bekämpfung von Piratenbooten im Golf von Aden und lässt vermehrt Schiffe im Indischen Ozean patrouillieren. Am bedeutendsten ist jedoch, dass im Frühjahr 2017 in Dschibuti mit dem Bau des ersten chinesischen Marinehafens außerhalb Chinas (und dem südchinesischen Meer) begonnen wurde (Jacobs and Perlez 2017). Das wurde in Indien mit Sorge zur Kenntnis genommen. Dort spekulieren Beobachter seit Jahren über eine mögliche «Perlenkette» chinesischer Militärhäfen an den Küsten des Indischen Ozeans.

Es gilt als wahrscheinlich, dass China sich in den kommenden Jahren auf den Aufbau so genannter Dual-use-Häfen im Ausland konzentrieren wird, die die kommerzielle wie militärische Nutzung erlauben, und nur begrenzt reine Militärbasen aufbauen wird. Gerade dieser Ansatz macht jedoch die enge Verzahnung von Wirtschafts- und Sicherheitspolitik deutlich. So war etwa eine der größten chinesischen Reedereien an der Versorgung von Kriegsschiffen im Golf von Aden beteiligt (Clemens 2015).

Dass China überhaupt die Kapazitäten hat, diese Operationen durchzuführen, hängt mit einer langfristigen Modernisierung der chinesischen Streitkräfte zusammen. Dabei werden die ehemals auf die reine Landesverteidigung ausgelegten Streitkräfte zu einer Truppe mit der Fähigkeit zur Machtprojektion nach außen umgebaut. Am meisten hat davon die chinesische Marine profitiert, die inzwischen 300 Schiffe umfasst und eine Schlüsselrolle bei der Kontrolle des Südchinesischen Meeres und der Sicherung von Handelswegen spielt. Zur Zeit wird der erste Flugzeugträger aus chinesischer Eigenproduktion auf Einsätze ab dem Jahr 2020 vorbereitet.

Am internationalen Waffenhandel ist China zunehmend beteiligt. In Subsahara-Afrika ist es bereits größter Waffenexporteur, und Pakistan ist für Chinas Waffenindustrie wichtigster Absatzmarkt im Ausland (Office of the Secretary of Defense 2016).

Zusammengenommen handelt es sich bei all diesen Maßnahmen laut Sabine Mokry vom Mercator Institute for China Studies um eine „Globalisierung der nationalen chinesischen Sicherheitspolitik“ (Mokry 2016). Dabei liefern die neue Seidenstraße und die damit verbundenen Interessen eine wichtige Begründung für weitere Militärausgaben. China wird damit zu einem führenden Akteur in dem sich immer klarer herausbildenden asiatischen Rüstungswettlauf. Während die Militärausgaben in Asien bis 2020 um 23 % steigen werden, sollen Ausgaben für die Marine in der Region voraussichtlich um 60 % zulegen (Hein 2017).

Mit Blick auf die bisherige Entwicklung der neuen Seidenstraße wäre es ein Fehler zu hoffen, Handel und Investitionen alleine würden ausreichen, um den Frieden in den beteiligten Regionen zu stärken. Ganz im Gegenteil zeigt die Seidenstraße die Risiken einer Handelspolitik auf, die bilaterale über multilaterale Ansätze stellt, Interessen der Lokalbevölkerung außer Acht lässt und zum regionalen Rüstungswettlauf beiträgt. Nur wenn China diese Risiken berücksichtigt, kann es sein Versprechen in Bezug auf Frieden und Wohlstand in den Ländern entlang der neuen Seidenstraße einlösen.

Literatur

Bowman, V. (2016): China faces tougher laws in Myanmar. In: Geall, S. (ed.): China ­Remakes the Map – Green Perspectives. London: ­chinadialogue, S. 62-70.

Clemens, M. (2015): The Maritime Silk Road and the PLA. Paper for the CNA conference »China as a ‘Maritime Power’«, Arlington, VA, 28.-29.7.2015.

Cooley, A. (2016): The Emerging Political Economy of OBOR: The Challenges of Promoting Connectivity in Central Asia and Beyond. ­Washington, D.C.:Center for Strategic and International Studies, October 2016.

Drummond, P. and Liu X. (2013): Africa’s Rising Exposure to China – How Large are Spillovers Through Trade? IMF Working Paper (African Department), November 2013.

Fuller, T. (2011): Myanmar Backs Down, Suspend­ing Dam Project. New York Times, 30.9.2011.

Fung, C. (2016): China’s Troop Contributions to UN Peacekeeping. Peace Brief, 212 (July 2016).

Hayes, N. (2017): The Impact of China’s One Belt One Road Initiative on Developing Countries. International Development LSE Blog, 30.1.2017.

Hein, C. (2017): Asien rüstet kräftig auf – mit deutscher Hilfe. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.5.2017.

Jacobs, A. and Perlez, J. (2017): U.S. Wary of Its New Neighbor in Djibouti – A Chinese Naval Base. New York Times, 25.2.2017.

Lee, J. and Pyun, J. (2016): Does Trade Integration Contribute to Peace? Review of Development Economics, 20(1), S. 327-344.

Martin, P.; Mayer, T.; Thoenig, M. (2008): Make Trade not War? Review of Economic Studies, 75(3), S. 865-900.

Mokry, S. (2016): Is the Belt and Road Initiative Globalizing China’s National Security Policy? The Diplomat, 17.10.2016.

Nataraj, G. and Sekhani, R. (2015): China’s One Belt One Road – An Indian Perspective. Eco­nomic and Political Weekly, 50(49), S. 67-71.

National Development and Reform Commission (NDRC), Ministry of Foreign Affairs, and Ministry of Commerce of the People’s Repub­lic of China (2015): Visions and Actions on Jointly Building Silk Road Economic Belt and 21st-Century Maritime Economic Belt. 28.03.2015.

Office of the [U.S.] Secretary of Defense (2016): Annual Report to Congress – Military and ­Security Developments Involving the People’s Republic of China. Washington, D.C.: United States Department of Defense, April 2016.

Tsang, S. (2017): Email-Verkehr mit dem Autor. 29.5.2017.

Gregor Grossman studiert Chinastudien im Master an der School of Oriental and African Studies der Universität London.

Am Rande des Imperiums

Am Rande des Imperiums

Chinas Staatskapitalismus zwischen
Rivalität und Interdependenz

von Jenny Simon

China hat so stark an internationaler Bedeutung zugenommen, dass heute eine Herausforderung der US-geführten Weltordnung durch ein chinesisches Gegenprojekt diskutiert wird. Chinesische Eliten scheinen derzeit aber weder willens noch in der Lage, ein sino-kapitalistisches Ordnungsmodell international zu verankern. Wahrscheinlicher ist die Etablierung eines internationalisierten Staatskapitalismus als alternatives Ordnungsmuster zur liberalen Wirtschaftsordnung.
Ob es in Folge zur Integration der aufstrebenden Schwellenländer in den US-geführten, expansiv-liberal ausgerichteten Wirtschaftsraum oder zur Konsolidierung eines staatskapitalistischen Ordnungsmodells kommt, ist noch offen.

China gewann in der vergangenen Dekade derart an ökonomischer Bedeutung, dass heute die Frage nach einer Herausforderung der US-geführten Weltordnung durch einen chinesischen Gegenentwurf im Raum steht. Als Anzeichen werden etwa die Entwicklung Chinas zur zweitgrößten Ökonomie und größten Handelsnation bewertet. Auch in den globalen Finanzbeziehungen wird China seit der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise eine zunehmend wichtige Rolle beigemessen. Insbesondere die Höhe der chinesischen Devisenreserven, der Gläubigerstatus gegenüber den USA sowie Chinas neue Rolle in der Entwicklungszusammenarbeit werden als Faktoren genannt. Schließlich verweist auch die führende Rolle in der zunehmenden politischen Kooperation aufstrebender Schwellenländer auf Chinas wachsende geopolitische Bedeutung.

Allerdings besteht Uneinigkeit in der Bewertung dieser Entwicklung. Die Einschätzungen reichen von einer Integration Chinas in die liberale Weltwirtschaft über die Entstehung einer multipolaren Weltordnung bis hin zur Ablösung der liberalen Ordnung durch einen globalen Sino-Kapitalismus (Boris 2016; McNally 2012; Arrighi 2008; Panitch and Gindin 2008). Die Frage, ob es zur Entwicklung eines alternativen Ordnungsmodells chinesischer Prägung kommt und welche Konflikte damit einher gehen könnten, ist nicht nur ausschlaggebend für die weitere Dynamik des globalen Kapitalismus, sondern wird auch Einfluss auf die Frage künftiger militärischer Konfrontationen nicht nur im asiatischen Raum haben.

Hand in Hand

Betrachten wir die Entstehung eines Ordnungsmodells chinesischer Prägung in einer längerfristigen Perspektive, so fällt zunächst nicht die Konkurrenz, sondern der wechselseitige Zusammenhang zwischen liberaler Weltmarktordnung und der chinesischen Entwicklungsweise auf. Dieser entstand vor allem über zwei Kanäle: Zum einen begegnete man im Kontext der weltwirtschaftlichen Reorganisation seit den 1970er Jahren der Profitabilitätskrise in den Zentrumsökonomien mit einer Verlagerung von Wertschöpfung nach China und in andere (semi-) periphere Ökonomien. Während dies in den Zentren zur Deindustrialisierung und gleichzeitig zum Import günstiger Konsumgüter aus den neuen Produktionsstandorten führte, trugen der Zufluss von Kapital und die Ansiedlung von Produktionskapazitäten in Kombination mit den marktwirtschaftlichen Reformprozessen in China maßgeblich zur Entstehung einer auf Export ausgerichteten Industrialisierungs- und Wachstumsstrategie bei. Die zunehmend internationalisierten Finanzbeziehungen bilden das zweite Bindeglied: Deren Liberalisierung ermöglichte die Investition der in der Exportproduktion erwirtschafteten Devisenreserven in amerikanische Staatsanleihen. Dieser Kapitalexport in die USA trug wesentlich zur Ausweitung der Finanzwirtschaft in den USA bei und finanziert indirekt den Import chinesischer Produkte (Ivanova 2013, S. 65; Ho 2008).

Die chinesische Entwicklungsweise entstand zunächst auf Basis der sich unter US-Führung etablierenden liberalen Weltmarktordnung. Andersherum trug die Entwicklungsweise Chinas und anderer semiperipherer Ökonomien zur Transformation der wirtschaftlichen Entwicklung der USA bei. Die Ordnungsstrukturen standen, bei ungleichen Machtverhältnissen, zunächst nicht in Konkurrenz zueinander, sondern ermöglichten sich in gewisser Weise gegenseitig.

Von Chinas Entwicklungsweise …

Chinas ökonomische Strategie entwickelte sich im Rahmen dieses Wechselverhältnisses schrittweise zum Erfolgsmodell mit eigenständiger Entwicklungsweise. Diese ist durch eine neue, wettbewerbs­orientierte Form des „Staatskapitalismus 3.0“ (ten Brink und Nölke 2013) gekennzeichnet. Wertschöpfung erfolgt auf Basis eines Niedriglohnmodells im Rahmen von heterogenen Unternehmensformen, die überwiegend durch nationales Kapital dominiert werden, um eine Kontrolle ökonomischer Schlüsselbereiche durch ausländisches Kapital zu vermeiden (Nölke et al. 2015, S. 546ff.; ten Brink 2014, S. 38). Die Akkumulationsstrategie ist auf die Exportproduktion sowie massive staatlich geförderte Investitionen in Industrie- und Infra­strukturprojekte gerichtet. Gleichzeitig wird der Binnenmarkt immer wichtiger. Die chinesische Ökonomie ist dabei zwar abhängig von globalen Märkten und ausländischen Investitionen, zugleich führt die starke Regulierung und Abschirmung von Schlüsselsektoren, des Binnenmarkts und des Finanzsystems aber zu einer asymmetrischen Integration in den Weltmarkt.

Ökonomische Stabilität und makro­ökonomische Erfolge stellen zusammen mit der Kontrolle zentraler Wirtschaftsbereiche ein wesentliches Moment des Machterhalts der politischen Eliten in den Partei- und Staatsapparaten dar.

Mit der »Go-out-Strategie«, dem gezielten Engagement und Investment chinesischer Unternehmen im Ausland, und verstärkt seit der Krise 2008/2009 ist eine Internationalisierung des chinesischen Ordnungsmodells zu beobachten (Schmalz 2015, S. 552ff.). Dies ist eng verbunden mit der zunehmenden politischen Zusammenarbeit der Regierungen semiperipherer Staaten. Im Rahmen dieses semiperipheren Multilateralismus wird zum einen um die Akzeptanz staatskapitalistischer Ordnungsprinzipien in den bestehenden internationalen Organisationen (Welthandelsorganisation/WTO, Internationaler Währungsfonds/IWF usw.) gerungen. Zum anderen wird eine Strategie der Institutionalisierung der Kooperation zwischen den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) und allgemein die Etablierung neuer internationaler Institutionen, etwa der New Development Bank oder der Asian Infrastructure Investment Bank, verfolgt. Diese werden parallel zu den bestehenden Institutionen aufgebaut und genutzt um Prinzipien einer staatskapitalistischen Entwicklungsweise auf internationaler Ebene zu verankern.

… zum internationalisierten Staatskapitalismus

China ist derzeit jedoch weder willens noch in der Lage, im Alleingang ein alternatives Ordnungsmodell durchzusetzen. Angesichts der Kooperation staatskapitalistisch orientierter Schwellenländer zeichnet sich eher die Entwicklung eines breiteren staatskapitalistischen Ordnungsmodells ab, in dem Entwicklungsweisen verschiedener semiperipherer Ökonomien verallgemeinert werden (Nölke et al. 2015, S. 561).

Dabei handelt es sich um eine klar kapitalistische Grundordnung auf der Basis privaten Eigentums, in der global ausgerichteten Akkumulationsstrategien große Bedeutung zukommt. Sie unterscheidet sich allerdings deutlich von der liberalen Wirtschaftsordnung. Zentral ist zunächst eine sichtbar koordinierende Rolle (halb-) staatlicher Akteure, etwa bei transnationalen Infrastruktur- und Ressourcenprojekten oder bei grenzüberschreitenden Direktinvestitionen. Wichtige Regulierungsmechanismen basieren auf Allianzen zwischen (halb-) staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren, informellen Beziehungen, Hierarchien und marktförmiger Regulierung. Dies wird abgesichert, indem die Unternehmensfinanzierung in zentralen Bereichen durch nationales Kapital erfolgt (Nölke et al 2015; Schmalz 2015).

Deutlich zeichnet sich in den Strategien zur Etablierung einer alternativen Finanzordnung der Kontrast zur liberalen Wirtschaftsordnung ab. Dabei wird der zentralen Rolle des US-Dollar das Konzept eines multipolaren Währungssystems gegenübergestellt. Die explizite Kritik der BRICS-Staaten am dollarbasierten Finanzsystem, Maßnahmen zur Internationalisierung des chinesischen Renminbi oder der Handel zwischen Schwellenländern in Eigenwährung sind Ausdruck dieser Strategie. Zudem wird eine von einzelnen Nationalstaaten unabhängige internationale Reservewährung angestrebt. Den marktliberalen Regeln des international freien Kapitalverkehrs und den deregulierten Finanzbeziehungen wird eine starke staatliche Regulierung der nationalen Finanzsysteme sowie des internationalen Kapitalverkehrs gegenübergestellt. Die Liberalisierung des Marktzugangs erfolgt nicht durch universelle Liberalisierung und Deregulierung im Sinne des Freihandels, sondern eher kontrolliert durch bi- und multilaterale Verträge.

Damit liegt zwar bislang kein voll entwickeltes, kohärentes Ordnungsmodell vor, allerdings zeichnet sich eine nicht-liberale staatskapitalistische Alternative zur liberalen Wirtschaftsordnung ab.

Rivalitäten

Die Formierung eines alternativen Ordnungsmodells führt zu einer widersprüchlichen Konstellation aus Interdependenz und Konkurrenz. Die kapitalistische Eigentumsordnung und die ökonomische Globalisierung werden dabei aber keineswegs grundsätzlich in Frage gestellt. Es handelt sich klar um innersystemische Widersprüche und Konflikte. Zudem reproduziert und stabilisiert die zunehmende weltwirtschaftliche Integration der großen Schwellenländer kurz- und mittelfristig die bestehende Ordnung, indem etwa Investitionen in die aufstrebenden Ökonomien profitsuchendes Kapital der Zentren absorbiert oder chinesische Investitionen in amerikanische Staatsanleihen während der Krise das globale Finanzsystem stabilisierten.

Allerdings stehen einige Elemente eines staatskapitalistischen Ordnungsmodells in deutlichem Widerspruch zu den Prinzipien einer liberalen Marktwirtschaft. So führten Themen wie die Gestaltung der globalen Finanzbeziehungen, Standards der Corporate Governance oder die Regulierung des Zugangs insbesondere zu Produktmärkten zu Auseinandersetzungen in internationalen Organisationen (Nölke et al. 2015, S. 558ff.). Auch Chinas zunehmend wichtige Rolle als internationaler Kreditgeber und die entstehende Konkurrenz zum IWF führen zu Spannungen. Die internationale Kreditvergabe durch (halb-) staatliche chinesische Institutionen in der (Semi-) Peripherie übertrifft mittlerweile das Niveau von IWF- und Weltbank-Krediten. China bietet einen alternativen Zugang zu Liquidität für in Zahlungsschwierigkeiten geratene Regierungen, was potentiell den Einfluss des IWF und dessen Politik der Strukturanpassung zur internationalen Durchsetzung marktliberaler Prinzipien deutlich einschränkt. Auch der noch am Anfang stehende Konflikt um die internationale Führungsrolle des US-Dollar ist in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen.

In den USA werden China und ein mit ihm verbundenes staatskapitalistisches Ordnungsmodell klar als Herausforderung wahrgenommen. Um dieser zu begegnen, setzt die US-Außenpolitik auf eine umfassende Strategie, angefangen bei ihrer Blockadehaltung in internationalen Organisationen über den Abschluss weitreichender Investitions- und Freihandelsabkommen bis hin zur Erweiterung militärischer Kapazitäten in Ostasien (Schmalz 2015, S. 558ff.). Auch wenn die Rivalitäten derzeit überwiegend in internationalen Organisationen ausgetragen werden, handelt es sich doch nicht um einfache, auf institutioneller Ebene zu behebende Inkompatibilitäten zwischen den konkurrierenden Wirtschaftsmodellen. Freier Kapitalverkehr und Marktzugang, Privatisierung und die Möglichkeit des ungehinderten Engagements im Ausland sind zentrale Bestandteile der Strategien transnationaler Unternehmen und Investoren aus den Zentren des Globalen Nordens (Nölke et al. 2015, S. 561).

Die Verallgemeinerung der Prinzipien liberaler Marktwirtschaft sichert die Einbindung der (Semi-) Peripherie in den politischen Macht- und den ökonomischen Verwertungsbereich des US-geführten »Heartland«, des Kerngebiets des US-geführten expansiv-liberal ausgerichteten Wirtschaftsraums (van der Pijl 2006, S. 6ff.). Die Regulierung des Kapitalverkehrs, der nationalen Finanzbeziehungen und des Zugangs zum Binnenmarkt, der Einfluss auf Staatsbanken und -unternehmen und die selektive Internationalisierung sind auf der anderen Seite zentrale Voraussetzungen für die in China verfolgte Entwicklungsweise und den Machterhalt der politischen Eliten des Landes. Die widersprüchlichen Ordnungsstrukturen sind damit fundamentaler Ausdruck unterschiedlicher Formen der Integration in den Weltmarkt, verschiedener Strategien der Akkumulation und der Machtsicherung einflussreicher Akteure in den jeweiligen Ökonomien.

Fragmentierung globaler Kräfteverhältnisse

Der geoökonomische Aufstieg Chinas schlägt sich nur langsam auch in geopolitischen Strukturen nieder. Dies ist unter anderem in einer starken Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung unterschiedlicher Machtressourcen begründet: Die strukturelle Macht über die Funktionsprinzipien der globalen Ökonomie sowie das militärische Übergewicht liegen nach wie vor in den alten Zentren (Schmalz 2015, S. 559; Schmalz und Ebenau 2011, S. 172).

Allerdings ist eine Phase der Fragmentierung globaler Kräfteverhältnisse zu erkennen, in der die US-geführte liberale Weltordnung nicht mehr den alternativ­losen Pol bildet. Kurz- und mittelfristig wird die marktliberale Ordnung zwar durch die Internationalisierung aufstrebender Schwellenländer stabilisiert, die hier verfolgte Entwicklungsweise und das sich etablierende staatskapitalistische Ordnungsmuster führen jedoch trotz Integration und Interdependenz zu erheblicher Rivalität.

Ob es zur spannungsreichen Integration der aufstrebenden Schwellenländer in das »Heartland« oder zur Konsolidierung eines staatskapitalistischen Ordnungsmodells als Alternative zur liberalen Wirtschaftsordnung kommt, ist noch nicht entschieden. Dies wird ebenso von der Entwicklung der Kräfteverhältnisse innerhalb Chinas und anderer Schwellenländer, ihrer ökonomischen Entwicklung sowie von den Strategien des liberalen Machtbocks abhängen. Zentral ist zudem, ob es den Protagonisten des staatskapitalistischen Ordnungsmodells gelingt, die Anforderungen ihrer jeweiligen Akkumulationsstrategien sowie die eingegangenen Kompromisse und Bündnisse zu verallgemeinern, auf internationaler Ebene zu verankern und dabei die Interessen anderer Akteure zu berücksichtigen.

Deutlich ist bereits jetzt, dass der Einfluss des liberalen Ordnungsmodells am Rand des »Heartland« zurückgedrängt wird und unter den Vorzeichen eines semiperpipheren Multilateralismus die Konflikte um die Gestaltung der Weltwirtschaft nicht mehr exklusiv unter den kapitalistischen Zentren ausgetragen werden. Wir befinden uns in einer Phase der Reorganisation globaler Konkurrenz- und Machtverhältnisse, einer Transformation des globalisierten Kapitalismus, die allerdings dessen grundlegende Funktionsprinzipien unberührt lässt.

Literatur

Arrighi, G. (2008): Adam Smith in Beijing – Die Genealogie des 21. Jahrhunderts, Hamburg: VSA.

Boris, D. (2016): BRICS und die neue Weltordnung. Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 106, S. 67-77

Ho, H. (2008): Rise of China and the Global Overaccumulation Crisis. Review of Interna­tional Political Economy 15, S. 149-179.

Ivanova, M. (2013): Marx, Minsky, and the Great Recession. Review of Radical Political Economics 45(1), S. 59-75.

McNally, C. (2012): Sino-Capitalism – China’s Reemergence and the International Political Economy. World Politics 64(4), S. 741-776.

Nölke, A. et al. (2015): Domestic Structures, ­Foreign Economic Policies and Global Economic Order. European Journal of International Relations 21(3), S. 538-567.

Panitch L.; Gindin, S. (2008): Finance and American Empire. In: Panitch, L.; Konings, M. (eds.): American Empire and the Political Economy of Global Finance. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 17-47.

Schmalz, S. (2015): An den Grenzen des American Empire – Geopolitische Folgen des chinesischen Aufstiegs. Prokla 45(4), S. 545-562.

Schmalz, S.; Ebenau, M. (2011): Auf dem Sprung – Brasilien, Indien und China, Berlin: Dietz.

Ten Brink, T. (2014): The Challenge of China’s Non-Liberal Capitalism for the Liberal Global Economic Order. Harvard Asia Quaterly 16(2), S. 36-44.

ten Brink, T.; Nölke, A. (2013): Staatskapitalismus 3.0. Der moderne Staat, 6(1), S. 21-3.

van der Pijl, K. (2006): Global Rivalries- From the Cold War to Iraq. London: Pluto Press.

Jenny Simon promoviert zur Rolle Chinas in der internationalen politischen Ökonomie der globalisierten Finanzbeziehungen an der Universität Kassel.

Konflikt, Kooperation und Konkurrenz

Konflikt, Kooperation und Konkurrenz

Indiens China-Perspektiven

von Herbert Wulf

China und Indien, die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Erde, beide mit einer dynamischen, jüngst aber etwas stotternden Wirtschaft ausgestattet, werden in den nächsten Jahrzehnten vermutlich nicht nur die asiatische, sondern die globale Politik entscheidend mitgestalten. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern, über Jahrzehnte sehr schwankend und widersprüchlich, sind geprägt von Konflikten und Konkurrenz, aber auch durch Kooperation. Wenn sich das Verhältnis zwischen beiden Ländern kooperativ gestaltet, könnte dies positive Folgen für die Weltpolitik haben, gleichzeitig aber auch die Vormachtstellung der USA und des alten Europa weiter in Frage stellen. Bleibt es aber bei ernster Rivalität, möglicherweise gar verbunden mit einem Wettrüsten, dürften die globalen Herausforderungen eher negativ beeinflusst werden.

Die guten indisch-chinesischen Beziehungen des „hindi-chini bhai bhai“ (Inder und Chinesen sind Brüder) der frühen Jahre unter Jawaharlal Nehru und Mao Tsedong sind längst vorbei. 1954 hatten die beiden Regierungen ein Abkommen unterzeichnet, das in fünf Prinzipien die friedliche Koexistenz und die territoriale Integrität zwischen beiden Ländern regeln sollte. Doch das Abkommen verhinderte nicht den Krieg von 1962 um eine Grenzregion im Himalaya, der für Indien mit einer militärischen Niederlage endete – einem Trauma, das die indische Elite bis heute nicht überwunden hat. Seither prägen Spannungen und Misstrauen die Beziehungen, gelegentlich unterbrochen von Perioden der Annäherung. Es dauerte nach der militärischen Auseinandersetzung Jahrzehnte, bis vorsichtige Schritte zu einer Normalisierung der Beziehungen unternommen wurden.1

Belastende Konflikte – komplizierte Beziehungen

Mindestens drei Konflikte mit China irritieren indische Außen- und Sicherheitspolitiker seit Langem. Trotz vieler Bemühungen und Verhandlungen sowie der Einsetzung zahlreicher bilateraler Arbeitsgruppen bleibt der Grenzkonflikt bis heute ungelöst, weil keine der beiden Seiten den eigenen Anspruch auf die umstrittenen Territorien aufgibt. Zeitweise beanspruchte China Teile von oder sogar den gesamten indischen Bundesstaat Arunachal Pradesh für sich und bezeichnete dieses Gebiet als Südtibet.2 Damit zusammenhängend bestehen bislang unüberbrückbare Differenzen zur Rolle Chinas in Tibet. Die Anwesenheit von mehr als einer Million tibetischer Flüchtlinge und vor allem des Dalai Lama in Indien veranlasst die chinesische Führung immer wieder zu Kritik. Schließlich beunruhigt Indiens Außen- und Sicherheitspolitiker Chinas Politik in einigen indischen Nachbarländern: die Unterstützung Chinas für Pakistan,3 unter anderem auch für die pakistanischen Streitkräfte, aber auch die chinesischen Ambitionen in Nepal, Myanmar und Sri Lanka.

Aus chinesischer Perspektive wird dagegen die Wiederannäherung zwischen Indien und den USA, nach Jahrzehnten der Distanz, mit Argwohn betrachtet. Der Abschluss des indisch-amerikanischen Nuklearabkommens im Jahr 2005, trotz des indischen Atomwaffenprogramms, war die Grundlage für die Verbesserung der Beziehungen der beiden Länder. Es war Teil einer Strategie der damaligen Bush-Regierung zur Eindämmung des chinesischen Einflusses in Asien. Und auch die Obama-Regierung folgt mit ihrer Asienstrategie einem Muster, in dem Indien eine wichtige Rolle spielt.4

Diese Annäherung ist aus chinesischer Perspektive ebenso Besorgnis erregend wie das indische Atomwaffenprogramm. Indien wird dabei von den USA als Gegengewicht und als politischer, wirtschaftlicher und vielleicht sogar militärischer Konkurrent zu China in der Region und darüber hinaus gesehen. Vom Kampf des „Elefanten gegen den Drachen“ ist die Rede5, und im Westen wird Indien, die größte Demokratie der Welt, als strategischer Partner betrachtet, der Chinas Expansionsdrang in Asien neutralisieren könnte.6

Wettrüsten und militärische Konkurrenz?

Besonders der indisch-pakistanische Konflikt, in dem China eindeutig Pakistan unterstützt, und die territorialen Streitigkeiten haben alle indischen Regierungen in den letzten fünf Jahrzehnten veranlasst, verstärkt in die Streitkräfte zu investieren. Mit einer Personalstärke von 1,2 Millionen, ausgerüstet mit modernen Waffen, gehört Indiens Armee zu den größten der Welt.

Neuerdings werden die diplomatischen, wirtschaftlichen und maritimen Ambitionen Chinas im Indischen Ozean von Strategen in Indien als Bedrohung wahrgenommen.

China hat seit Jahren konsequent aufgerüstet und vor allem deutlich gemacht, eine Seemacht werden zu wollen. Während die Konflikte im Südchinesischen Meer zwischen China und Japan sowie den Philippinen und Vietnam weltweites Interesse weckten, sorgten Chinas Aktivitäten im Indischen Ozean in Indien für Ängste. China baut die Häfen in Gwadar (Pakistan), Hambantota (Nord-Sri-Lanka), Chittagong (Bangladesch) sowie Hafen- und Kommunikationsanlagen in Myanmar aus.7 Kategorisch dementiert die chinesische Regierung, dass sie damit auch militärische Ziele verfolgt.

Indiens Marine baut ihrerseits die Marinebasis auf den Andamanen und Nicobaren aus und verfolgt eine Strategie gutnachbarschaftlicher Beziehungen mit den Anrainern der Straße von Malakka, einer wichtigen Wasserstraße für die Öllieferungen Chinas. General Deepak Kapoor, der ehemalige Stabschef der indischen Streitkräfte, unterstellt China, eine „Perlenkette“ entlang der Küste des Indischen Ozeans zu schaffen.8 Indische Strategen sprechen in klassischer geopolitischer Terminologie alarmistisch von einem deutlichen Fußabdruck in Indiens Interessensphäre und gar von Einkreisung, der nur mit dem Ausbau einer hochseefähigen Marine begegnet werden könne.9 Tatsächlich investiert auch Indien kräftig in seine Marine und beschafft moderne Flugzeugträger, Fregatten und U-Boote. In den letzten zehn Jahren war Indien der größte Rüstungsimporteur der Welt.10 Die Regierung verfolgt mit ihrer Militärdiplomatie, mit Rüstungskooperation, Marinemanövern und Flottenbesuchen in asiatischen Ländern (und in Zusammenarbeit mit der US-Marine) eine Politik, die Chinas Aktivitäten etwas entgegen setzen soll.11

Die Konsequenz ist klar: ein maritimes Wettrüsten der beiden größten asiatischen Länder, das auf indischer Seite wegen jüngst erfolgter wirtschaftlicher Einbrüche etwas gebremst wurde. Der Vergleich des militärischen Kräfteverhältnisses weist deutlich die chinesische Vormachtstellung aus. Beide Länder haben die Militärausgaben in den letzten 15 Jahren rasant gesteigert, doch die chinesischen sind mit rund US $ 130 Milliarden viermal so hoch wie die indischen12 (siehe Abb. 1).

Abb. 1: Trend der Militärausgaben in Indien und China (1996-2011)

Trend der Militärausgaben in Indien und China (1996-2011)

Quelle: SIPRI Military Expenditure Database

Kooperation statt Konkurrenz und Konflikt?

Manche außenpolitischen Berater interpretieren die indisch-chinesischen Beziehungen ausschließlich als geopolitische Konkurrenz und glauben, Indien müsse unbedingt in einer Machtbalance zu Beijing stehen, um als gleichwertig anerkannt zu sein.13 Neben der wirtschaftlichen und der sich anbahnenden militärischen Konkurrenz existieren aber auch politische und wirtschaftliche Felder der Kooperation. Der bilaterale Handel ist seit der Liberalisierung der Wirtschaft Indiens zu Beginn der 1990er Jahre beträchtlich gestiegen. China ist inzwischen der wichtigste Handelspartner Indiens und hat die USA von ihrem Spitzenplatz verdrängt.14 Allerdings ist Indien nur der zehntgrößte Handelspartner Chinas. Die wirtschaftliche Kooperation bietet beiden Ländern ein großes Potenzial. Doch angesichts des großen Energiebedarfs der beiden rasch wachsenden Volkswirtschaften ist die Energieversorgung ebenfalls ein Feld großer Rivalität. Beide Länder sind auf absehbare Zeit vom Import von Öl und anderen Rohstoffen abhängig und machen sich vor allem in den Öl exportierenden Ländern des Mittleren Ostens Konkurrenz.

Politisch bieten sich viele Felder der Kooperation, nicht nur bilateral und regional, sondern vor allem auch global. Im Rahmen der BRICS-Initiative (einem losen Zusammenschluss der aufstrebenden Länder Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) kooperieren Indien und China, u.a. auch mit dem Ziel, die westlich dominierte Governance-Architektur in den großen globalen Foren zu verändern (Entscheidungen zur Finanzkrise, die Rolle des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, Klimaverhandlung usw.). BRICS repräsentiert ungefähr 40% der Weltbevölkerung. Doch BRICS ist keine homogene Gruppe, und die Regierungen sind längst nicht immer einig bei Schlüsselentscheidungen. Angesichts der unterschiedlichen Prioritäten der BRICS-Mitglieder, der unterschiedlichen ökonomischen Ausrichtungen und Potenziale sowie der unterschiedlichen politischen Regime wundert es nicht, dass ökonomische Dynamik allein noch kein Garant für eine einheitliche Politik ist. Darüber hinaus hat sich die chinesische Regierung bislang eher gegen als für eine Änderung der Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrates ausgesprochen, in dem Indien seit Langem erfolglos einen Platz fordert.

Die chinesisch-indischen Beziehungen sind heute von widersprüchlichen Faktoren geprägt. Neben den Konflikten und der wirtschaftlichen und der sich anbahnenden militärischen Konkurrenz pflegen die beiden großen Nachbarn auch die Kooperation. Die beiden aufstrebenden Mächte könnten die globale Kräftebalance nachhaltig verändern. In diesem von Konflikten, Konkurrenz und Kooperation geprägten Verhältnis ist China ökonomisch dynamischer und militärisch stärker. Indiens »soft power« jedoch – die funktionierende Demokratie, der politische Pluralismus, die freie Presse, die Kultur und religiöse Vielfalt – zählt als Aktivposten langfristig ebenso.

Das wiedererwachte Selbstvertrauen der politischen Elite Indiens und die Forderung nach mehr Mitsprache in globalen Fragen mögen durch das Wirtschaftswachstum befördert worden sein, doch die eigentlichen Gründe für Indiens neue außenpolitische Ansprüche liegen tiefer. Indien verfügt über ein beachtenswertes Maß an »soft power«.15 »Soft power« ist das, was eine Gesellschaft für andere attraktiv macht. Anerkennung wird nicht durch Nötigung, Druck oder Bezahlung erzielt, sondern durch die Kultur und die politischen Werte. Es kommt nicht von ungefähr, dass das Potenzial indischer »soft power« parallel zur wirtschaftlichen Liberalisierung diskutiert wird. Der Liberalismus hebt hervor, dass für das Funktionieren eines Staates Ideen, Kultur und das Governance-System bedeutender sind als Macht. Die indische Kultur, das Regierungssystem, das Nebeneinander verschiedener Religionen, die Vielfalt des Landes machen es zu einem attraktiven Partner, wenn auch das Image Indiens als unterentwickeltes Land mit einem korrupten politischen System, dem Kastenwesen, mit einem miserablen Ruf der Politiker, mit laxer Rechtsanwendung und mit einem hohem Gewaltpotenzial der »soft power« Abbruch tut. Dennoch leisten so unterschiedliche Aspekte wie Gandhis Gewaltfreiheit, die indische Küche, Bollywood-Filme, Musik, Literatur und Wissenschaft, Ayurveda und Yoga einen Beitrag zu Indiens Ansehen in der Welt. Politische Ideale, Bildung und Wissen sind Teil dessen, was »soft power« ausmacht.16 Es ist das moralische und ideologische Kapital des Landes, das die Regierung für ihre globalen Ambitionen nutzen will.

Stehen sich damit in Asien zwei konkurrierende oder gar gegensätzliche Gesellschaftsmodelle gegenüber: hier das demokratische Indien, dort das autoritäre China? Dies ist eine im Westen, vor allem in den USA, gepflegte Perspektive und entspricht nicht der Wahrnehmung in Indien. Über Jahrzehnte haben sich die verschiedenen indischen Regierungen geweigert, das demokratische Indien als Modell für andere Länder zu empfehlen oder gar exportieren zu wollen. Indiens Regierung hatte beispielsweise keine Probleme, mit dem Militärregime in Myanmar zu kooperieren. Die unterschiedlichen politischen Regime in China und Indien sind aus indischer Sicht kein Grund für eine indisch-chinesische Konkurrenz. Sollte es gelingen, die territorialen Konflikte zwischen den beiden Mächten beizulegen, dann scheint der Weg für eine intensivere ökonomische und auch politische Kooperation möglich.

Anmerkungen

1) Malone, David M. (2011): Does the Elephant Dance? Contemporary Indian Foreign Policy. Oxford: Oxford University Press, S.129-152.

2) Bai, Leon (2012): Resolving the India-China Boundary Dispute. New Delhi: Observer Research Foundation, ORF Occasional Paper #33, Mai.

3) Mohan, C. Raja (2012): Managing Multipolarity: India’s Security Strategy in a Changing World. In: C. Raja Mohan und Ajai Sahni: India’s Security Challenges at Home and Abroad. The National Bureau of Asian Research, Special Report No. 39, Mai, S.48.

4) Goswami, Namrata (2013): Limits to Encirclement in the Indian Ocean. United States Institute for Peace.

5) Chachavalpongpun, Pavin (2011): Look East meets Look West: India-Southeast Asia Evolving Relations. In: Gaur, Mahendra (ed.): Focus: India’s Look East Policy. Foreign Policy Research Centre Journal, Nr. 8, S.66-67.

6) Baral, J. K. (2012): Cooperation and Conflict in India-China Relations. Journal of Defence Studies, Vol. 6, Nr. 2, S.78.

7) Baral, a.a.O.

8) Kapoor, Deepak (2012): India’s China Concern. Strategic Analysis, Vol. 36, Nr. 4, Juli-August 2012, S.663-679.

9) Kumar, Rajiv und Santosh Kumar (2010): In the National Interest. A strategic foreign policy for India. New Delhi: BS Books, S.79. Vasan, R.S. (2012): India’s Maritime Core Interests. Strategic Analysis, Vol. 36, Nr. 3, S.413-423.

10) SIPRI Arms Transfer Database.

11) Jha, Pankaj Kumar (2011): India’s Defence Diplomacy in Southeast Asia. Journal of Defence Studies, Vol. 5, Nr. 1, S.47-63. Parmar, Sarabjeet Singh (2012): The Maritime Dimension in India’s National Strategy. In: Krishnappa Venkatshamy und Princy George (eds.): Grand Strategy for India 2020 and Beyond. New Delhi: Institute for Defence Studies and Analyses, S.83-92. Athawale, Yogesh V. (2012): Maritime Developments in the South Western Indian Ocean and the Potential for India’s Engagement with the Region. Strategic Analysis, Vol. 36, Nr. 3, S.424-439.

12) Nach Auskunft von SIPRI hatte China im Jahr 2011 die zweithöchsten Militärausgaben. Indien lag auf Rang 7, ungefähr auf dem gleichen Niveau wie Deutschland.

13) Mohan a.a.O, S.37-38.

14) Government of India, Department of Commerce (2013): Export-Import Data Bank; commerce.nic.in.

15) Wagner, Christian (2010): India’s Soft Power. Prospects and Limitations. India Quarterly, Vol. 66, Nr. 4, S.333-342.

16) Kumar und Kumar a.a.O., S.45.

Prof. Dr. Herbert Wulf lebte vier Jahre in Indien. Er ist Senior Expert Fellow am Käte Hamburger Kolleg (Global Cooperation Research Centre), Universität Essen/Duisburg, wo er ein Projekt zur globalen Rolle Indiens durchführt.

Territorialkonflikte unter Palmen

Territorialkonflikte unter Palmen

Der Konflikt um die Spratly-und Paracel-Inseln

von Andreas Seifert

Die Diskussion um die Spratly- und Paracel-Inseln taucht seit den 1970er Jahren mit der gleichen Regelmäßigkeit auf der politischen Agenda auf, wie die Wirbelstürme über diese Inseln im Südchinesischen Meer ziehen – mit gefährlicher Tendenz zu einem bewaffneten Konfliktaustrag. Das Streben Beijings nach der Vormachtstellung im Südchinesischen Meer erhöht die Gefahr regionaler Konflikte und beschleunigt die Aufrüstungsspiralen in Ost- und Südostasien. Der folgende Beitrag beleuchtet den Konflikt in seinem jetzigen Stand und untersucht die Auswirkungen auf die Rüstung in den Staaten Südostasiens. Ebenso werden die Implikationen des Konfliktes auf das Verhältnis der Region zu den weiter entfernt liegenden Staaten Indien und Japan angesprochen, um die Bedeutung des Konfliktes für das militärische Gleichgewicht in der Region und darüber hinaus zu verdeutlichen.

Von den knapp 200 Inseln, Sandbänken und Riffen der Spratly- und Paracel-Gruppen sind nur sehr wenige für die dauerhafte Besiedelung geeignet. Die große Mehrheit der Inseln besteht nur aus kleineren Felsspitzen, die sich die meiste Zeit des Jahres unter der Wasseroberfläche befinden. Lediglich auf einigen Inseln sind zumindest temporär Menschen anzutreffen. Gelegen im Südchinesischen Meer zwischen der Volksrepublik China, der Republik China auf Taiwan, den Philippinen, Malaysia, Brunei und Vietnam sind die Inseln Gegenstand von erbitterten Streitereien zwischen den Parteien geworden. Jeder der genannten Staaten erhebt Ansprüche auf die Inseln oder auf Teile der Archipele. Sie liegen strategisch günstig zu den Schifffahrtsrouten der chinesischen, japanischen und koreanischen Häfen auf dem Weg in den Mittleren Osten und Europa. Überdies wird vermutet, dass der sie umgebende Meeresboden Bodenschätze aller Art beherbergt. Die Kontrolle der Inseln geht zudem mit dem Zugriff auf ein gigantisches Areal von Fischgründen einher.

Erstmals eskalierte der Streit um die Inseln in den 1970er Jahren, als sich chinesische Schiffe und Soldaten mit der vietnamesischen Marine Scharmützel lieferten. Dies löste eine ganze Welle von »Besetzungen« aus, die von der Befestigung kleinerer Inseln bis zur Etablierung von Armeestützpunkten reichten. Ende der 1980er Jahre wiederholte sich diese Zuspitzung erneut und führte zu den ersten Toten in dem Konflikt.1 1995 reagierten die Philippinen auf die Einrichtung und Befestigung eines chinesischen Stützpunkts mit einer diplomatischen Offensive und Machtdemonstrationen zur See. Hohe Kosten und geringer ökonomischer Nutzen solcher Besetzungen haben umgekehrt auch immer wieder dafür gesorgt, dass Inseln zeitweise oder komplett wieder geräumt wurden. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts ändert sich dies jedoch dramatisch. Neue technische Möglichkeiten und die verstärkte internationale Konkurrenz um Ressourcen lassen die gezielte Suche nach Rohstoffen im Südchinesischen Meer inzwischen als potentiell lukratives Geschäft erscheinen. Gesteigerte militärische Möglichkeiten vermitteln überdies die Illusion, einmal Erobertes auch behalten zu können. Daher ist die Zahl der auf den Inseln stationierten Soldaten aller Parteien kontinuierlich angewachsen. 2002 einigten sich die Parteien in einem Memorandum darauf, keine weiteren Aktionen zur »Destabilisierung« der Situation zu unternehmen – allerdings mit begrenztem Erfolg.

Chinas territoriale Ansprüche …

Auch die Volksrepublik China hat das Memorandum 2002 unterzeichnet, erhebt gleichzeitig aber die wohl weitreichendsten Ansprüche in der Region. Die VR China reklamiert nicht nur fast alle Inseln beider Inselgruppen für sich, sondern auch noch den Raum dazwischen als eigenes Hoheitsgebiet. Ein Gebiet so groß wie das Mittelmeer. Auf Landkarten, die in der VR China gedruckt werden, wird das Gebiet als Staatsgebiet gekennzeichnet. Einzelne Inseln (Riffe) wurden zu regelrechten Festungen ausgebaut und sind von rotierenden Einheiten der Volksbefreiungsarmee »bewohnt«. Dieses Muster der Okkupation wird von fast allen Anrainern betrieben – doch von niemanden so konsequent wie von China.

Begleitet werden die Besetzungen von einer geradezu grotesken Propaganda in den chinesischen Medien. Regelmäßige Berichte über den Zustand der Inseln und der »aufopfernden Hingabe« ihrer militärischer Bewohner werden im Fernsehen und in Hochglanzmagazinen verbreitet. Zur Untermauerung der Ansprüche wurden Delegationen von Archäologen auf die Inseln entsandt, um anhand von Porzellanscherben eine frühe Besiedelung durch Chinesen nachzuweisen. Dies verweist auf die innenpolitische Dimension, die der Konflikt hat. Seit den erste »Okkupationen« in den 1970er Jahren wird darüber aus einer Militärperspektive berichtet, die den »Kampf« um die Inseln zur nationalen Ehrensache erhebt.

In Taiwan, sonst von Beijing als abtrünnige Provinz bezeichnet, findet die VR China einen gleich gesinnten Verbündeten. Anders als die VR China verfügt Taiwan auf einer der Inseln über eine Landebahn und kann die von ihr beanspruchten Inseln ganzjährig schnell erreichen. Aber auch dort ist man inzwischen besorgt über den Ton, der auf dem Festland angeschlagen wird.

In einem Artikel für die in Beijing auf Englisch erscheinende Zeitung »Global Times« Ende September 2011 kam der Analyst Long Tao zu dem Schluss, es sei Zeit, den Anrainern eine militärische Lektion zu erteilen.2 Die Global Times gilt als ein wichtiges Sprachrohr der Kommunistischen Partei Chinas in Fragen der Außenpolitik. Long Tao schlug in dem Artikel vor, dass ein begrenzter Krieg gegen Vietnam und die Philippinen die Möglichkeit böte, dem »aggressiven Verhalten« dieser Staaten ein Ende zu bereiten. In einem Online-Kommentar zwei Tage später wiederholte er seine Kernaussagen und behauptete mit Verweis auf das russische Eingreifen in Georgien 2008, dass die internationale Gemeinschaft ein solches Verhalten hinnehmen würde.3 Auch wenn in Beijing kein Politiker sich öffentlich hinter eine solche Aussage stellen wollte, verfehlte sie ihre Wirkung nicht. In Vietnam und auf den Philippinen war die Aufregung groß, und Taiwan, selbst um seine Inseln besorgt, beeilte sich zu betonen, dass die Lösung des Konfliktes nur friedlich und einvernehmlich erfolgen sollte.4 Longs Ausbruch an Nationalismus unmittelbar vor dem chinesischen Nationalfeiertag am 1. Oktober ist nicht ungewöhnlich für einen Kommentar in der chinesischen Presse, doch in seinem drastischen Ruf nach Krieg und Eskalation einzigartig.

Das Jahr 2011 sah eine stufenweise Eskalation, die vorläufig in Longs Aufruf gipfelte, aber sicher nicht ihr Ende gefunden haben dürfte. Im Februar 2011 bedrohten chinesische Kriegsschiffe vietnamesische Fischer. Im März 2011 attackierten chinesische Schiffe ein philippinisches Explorationsschiff, das in dem Gebiet nach Öl suchen sollte. Im Mai eskalierte der Streit mit Vietnam, das Konzessionen für Explorationen in strittigem Gebiet an eine amerikanische Ölfirma vergeben hatte: Chinesische Schiffe kappten ein Kabel eines Forschungsschiffes. Im gleichen Monat riefen vietnamesische Fischer dazu auf, die Gewässer stärker vor der Überfischung durch chinesische Fabrikboote zu schützen – was Beijing mit der Entsendung eines der größten Fischereischutzboote beantwortete, um seinerseits für die »Pflege« des Bestandes an Fischen zu sorgen. Vietnam reagierte mit einem Seemanöver gemeinsam mit der US Navy vor der Küste als Machtdemonstration. Der Verteidigungsminister der VR China, General Liang Guanlie, stellte im Juni bei einem Treffen der ASEAN in Singapur die Lage im Südchinesischen Meer als stabil und sicher dar – eine Einschätzung, die von keinem der anwesenden Diplomaten geteilt, sondern als Ignoranz gegenüber der tatsächlichen Situation gewertet wurde. Die Reaktionen, insbesondere der Anrainer ans Südchinesische Meer, reichten von Unverständnis bis Protest.

2012-2-Seifert_Spratly-Paracel

… und wachsende Rüstung zur See

Die chinesische Marine wird seit Jahren systematisch aus- und umgebaut. Wie im Bereich des Heeres und der Luftwaffe verfolgt die VR China einen Umbau von der Masse zur Klasse, d.h. eine Reduktion der Mannstärke bei gleichzeitiger technischer Aufrüstung. Dabei erscheint die Ankündigung eines Flugzeugträgers besonders hervorzustechen, ist aber nur ein kleiner Teil der eigentlichen Aufrüstung.5 Neue Fregattenklassen und Verbesserungen bei den U-Booten sind hier letztlich ausschlaggebendere Faktoren. Die Marine baut zudem ihre Kapazitäten bei Landungsbooten aus und erwirbt damit die Fähigkeit, größere Truppenmengen anzulanden – ein wichtiger Faktor sowohl für mögliche Taiwan-Szenarien wie auch für Szenarien im Südchinesischen Meer. Der Ausbau der Basis Sanya zu einem nicht einsehbaren U-Boot-Hafen an der Südspitze von Hainan, dem südlichsten Zipfel des chinesischen Festlandes, erregte viel Aufmerksamkeit.

Mit der Weiterentwicklung der DF-21 Mittelstreckenrakete verfügen die Chinesen erstmals über eine ballistische Rakete, die in der Lage sein soll, fahrende Ziele zur See zu treffen. Diese Waffe, auch als Carrier-Killer bezeichnet, ändert die Spielregeln zur See deutlich und gleicht Defizite, die die chinesische Marine in einer direkten Auseinandersetzung z.B. mit den USA hätte, aus.

Ebenfalls von Bedeutung ist, dass China die Struktur seiner Landesverteidigung ändert. Die Fischereiaufsichtsbehörde, früher eher ein vernachlässigtes Anhängsel der Armee, hat eine höhere Autonomie und neues Material erhalten. Die größten Boote der Behörde kommen in Größe und Geschwindigkeit an ältere Fregatten heran, sind aber nicht in gleicher Weise bewaffnet. Die unmittelbare Küstenverteidigung ist neu organisiert und wird teilweise der Bewaffneten Polizei (People’s Armed Police) überlassen. Auch hier bilden Neuanschaffungen wie die Boote der Houbei-Klasse/Type 22 (schnelle Katamaranboote mit Raketenbewaffnung) einen Zugewinn an Einsatzfähigkeit. Die Marine versucht sich in ihren Einsatz- und Trainingsszenarien zusehends auf Aufgaben zur hohen See zu konzentrieren.

Als Begründung für die Aufrüstung zur See werden die gestiegene Bedeutung Chinas in der Welt und seine Exportabhängigkeit angeführt, die – in Analogie zur Argumentation in Europa – sichere Handelswege erfordere.6 Eines der expliziten Ziele der chinesischen Aufrüstung ist es, in begrenzten, lokalen und hoch technisierten Konflikten bestehen zu können.7

Behält das Land das Tempo und den Fokus seiner Aufrüstungsbemühungen bei, wie es sich mit dem jüngst bekannt gegebenen Zuwachs der Militärausgaben um 11,2% für 2012 andeutet, werden die Nachbarn wohl versuchen, hier mitzuhalten. China verlässt mit dieser Haushaltssteigerung auch die Kopplung an die Steigerungsraten des Brutto-Inlandprodukts (BIP), die in der Region üblich ist. Um der stärker werdenden chinesischen Marine etwas entgegen zu setzen, versuchen jetzt schon fast alle Anrainer, ihre maritimen Fähigkeiten auszubauen.8

Aufrüstung der Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres

Land 2004
in Mio US$
2004
% BIP
2010
in Mio US$
2010
% BIP
Importe 2006-2010*
in Mio US$
Rang*
China** 52.954 2,1 119.400 2,2 7.724 2
Taiwan 7.864 2,2 9.078 2,4 947 32
Malaysia 3.640 2,3 3.626 2,0 3.500 11
Philippinen 1.310 0,9 1.626 0,8 57 91
Singapur 6.382 4,6 8.399 4,3 4.402 7
Vietnam 1.369 2,0 2.385 2,5 793 37
Indien 26.679 2,8 41.284 2,8 11.139 1
Australien 14.705 1,8 23.972 1,9 4.054 9
zum Vergleich
EU 282.000   285.000      
Deutschland 46.183 1,4 45.152 1,4 813 36
USA 527.799 4,0 698.281 4,7 3.995 10
* Volumen der Waffenimporte nach SIPRI-Berechnungen (Trend Indicator Values) 
** Berechnungen von SIPRI
Quelle: SIPRI Yearbook 2011

Rüstungstrends in Asien

Der Konflikt um die Inseln hat nicht zuletzt durch seine Implikationen für die Aufrüstungsbemühungen der Anrainerstaaten eine weit über die Region hinaus gehende Bedeutung erreicht. Dies gilt für zwei große Mächte in der unmittelbaren Nachbarschaft besonders: Japan und Indien.

Mit Japan ist die VR China durch den Streit um die Diaoyu/Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer durch einen ähnlichen Konflikt entzweit. Auch hier geht es nicht um die weitestgehend unbewohnbaren Inseln (die seit neuestem alle sowohl einen chinesischen wie ein japanischen Namen tragen), sondern um die Nutzung des Meeresbodens. Das Vorhaben einer gemeinsamen Erkundung der Ressourcen am Meeresgrund durch China und Japan wird immer wieder durch Provokationen der einen wie der anderen Seite unterbrochen. Das Drohgespenst eines hoch gerüsteten China hat in Japan die Diskussion um die Aufrechterhaltung des Artikels 9 der Verfassung befeuert, der Japan eine reguläre Armee untersagt und in der Praxis bisher die Größe und Ausrüstung der japanischen Streitkräfte auf »Selbstverteidigungskräfte« limitiert. Konservative Kräfte in Japan haben bereits die Anschaffung von Hubschrauberträgern der Hyuga-Klasse durchgesetzt, die aufgrund ihrer Größe und Fähigkeiten in China als (gemäß japanischer Verfassung) verbotene, offensive Flugzeugträger gewertet werden. Japans Interesse an sicheren Handelswegen und die Angst, von den Energieströmen aus dem Mittleren Osten abgeschnitten zu werden, spiegeln die Argumente der chinesischen Strategiepapiere wider. Auf beiden Seiten heizt Nationalismus die Debatte an und droht immer wieder gemeinsame Interessen zu verdecken.

Indien perzipiert die Aufrüstung in China und das chinesische Bündnis mit Pakistan als direkte Bedrohung. Die Präsenz der VR China im Indischen Ozean aufgrund seiner Beteiligung an der UN-Flotte vor der somalischen Küste und der Ausbau verschiedener Häfen in Myanmar und Pakistan mit chinesischer Beteiligung9 haben diesen Eindruck verstärkt und zu einer nahezu beispiellosen Aufrüstungsoffensive in Indien geführt. Die angenommene »Einkreisung« durch chinesische Kräfte hat den bisherigen Fokus der Aufrüstung vom Heer – eine Folge der gestörten Beziehungen zum nördlichen Nachbarn Pakistan – auf die Marine verschoben. Der betagte, ehemals britische Flugzeugträger INS Viraat soll 2013 durch ein russisches Modell ersetzt werden, bis die Eigenentwicklung Vikrant in Dienst gestellt werden kann. Angestrebt wird der parallele Betrieb von zwei Flugzeugträgern. Auch bei Atom-U-Booten verfährt Indien in dieser Form. Ein Boot der russischen Akula II-Klasse sollte im Frühjahr 2012 an die indische Marine übergeben werden, während Indien gleichzeitig an einer entsprechenden Eigenentwicklung arbeitet. Die Entwicklung von Lenkwaffen zur Unterstützung des Küstenschutzes wie auch die Verbesserung der Mittelstreckenrakete Agni-IV mit einer Reichweite bis 3.000 Kilometer sind ebenfalls vorgesehen. Die Verstärkung des Militärpostens auf den Nicobaren, direkt vor der Einfahrt in die Straße von Malakka, und auch die Einrichtung einer Basis auf Madagaskar deuten den Einflussrahmen an, den Indien sich für seine Streitkräfte wünscht: Das Land versucht, sich im Indischen Ozean als dominante Militärmacht zu etablieren.

Ohne an dieser Stelle auf die spezifische Rolle und die Motive des US-amerikanischen Engagements in den Seegewässern Ost- und Südostasiens genau eingehen zu können, sei zumindest erwähnt, dass eine stärkere Rolle der USA in der Region nur bedingt als stabilisierender Faktor angesehen werden kann. Der offensive Charakter exklusiver Manöver, die z.B. nur Teile der im Südchinesischen Meer auftretenden Parteien einbinden, wirkt nachhaltig gegen vertrauensbildende Maßnahmen an anderer Stelle. So üben US-Marineverbände zusammen mit südkoreanischen oder vietnamesischen Verbänden in der Reichweite chinesischer Gewässer.

Von einer Lösung weit entfernt

Mit vielen beteiligten Parteien und der Vermischung territorialer Ansprüche und ökonomischer Interessen im Südchinesischen Meer wurde eine prekäre Situation geschaffen, die im Gefüge des militärischen Gleichgewichts in Asien insgesamt die Tendenz zur Eskalation aufweist. Gegenseitige Provokationen und direkte Auseinandersetzungen nehmen an Zahl und Intensität zu. Vorhandene Möglichkeiten, den Konflikt einer friedlichen Regelung zuzuführen, z.B. über die ASEAN, werden nicht genutzt. Grund dafür sind einerseits Vorbehalte gegenüber multilateralen Verträgen (so bei der VR China), andererseits wurden historische Erfahrungen nicht in adäquater Weise aufgearbeitet. Dies betrifft auch die Vermittlung der Ansprüche der jeweiligen Länder auf die einzelnen Inseln. Am Beispiel Chinas wurde mit Verweis auf den Kommentator Long Tao gezeigt, welche autistische und arrogante Weltsicht die Konzentration auf nationalistische Interessen in dem Konflikt hervorbringen kann. Für Vietnam und die anderen Anrainer ließen sich ähnliche, wenngleich weniger gravierende Beispiele aufführen. Die unglückliche chinesische Darstellung des Konflikts gibt Dritten (wie Japan, Indien, den USA oder den europäischen Mächten) die Rechtfertigung, sich ihrerseits in Position zu bringen.

Deutlich wird dabei erkennbar, dass der Konflikt um die Inseln einen Vorwand bietet, Kapazitäten für größer angelegte strategische Programme zu schaffen, um Seeräume (nicht nur in Asien) in Einflusszonen aufzuteilen. »Kontrolle« über Ozeane bestimmten Mächten zuzuschreiben wird jedoch weit mehr Konflikte heraufbeschwören als Sicherheit z.B. für die Handelsschifffahrt schaffen. Letztlich ist es diese Perspektive, die es notwendig macht, den Konflikt um die Spratly- und Paracel-Inseln einer friedlichen und kooperativen Lösung zuzuführen.

Anmerkungen

1) Zentraler Bedeutung kommt dabei der »Schlacht« vom März 1988 zwischen chinesischen und vietnamesischen Kriegsschiffen zu, bei denen neun Tote, 32 Verletzte und über 60 Vermisste gezählt wurden. Der chinesischen Darstellung nach haben die Vietnamesen versucht, auf einem der Riffe die Nationalflagge zu hissen; laut vietnamesischer Darstellung wurden Versorgungseinheiten der Inseln ohne Vorwarnung angegriffen.

2) Long Tao: The Time to Use Force Has Arrived in the South China Sea. Global Times, 27.9.2011.

3) Long Tao: Time to teach those around South China Sea a lesson. Global Times, 29.9.2011.

4) J. Michael Cole: Chinese analyst calls for war in South China Sea. Taipei Times, 30.9.2011.

5) Siehe hierzu genauer: Andreas Seifert und Shi Lang: Chinas erster Flugzeugträger. In: Ausdruck, Ausgabe 3/2011, S.27-29.

6) Information Office of the State Council of the People’s Republic of China: China’s National Defense in 2010. 31. März 2011.

7) Ibid.

8) Beispielsweise baut Taiwan seine Flotte von raketenbestückten Patroullienbooten des Typs Kuang Hua VI aus, und Vietnam schafft umfänglich russische Gepard-Fregatten, Svetlyak-Kanonenboote und Molinya-Raketenboote an.

9) Der Hafen Gwadar in Pakistan wurde mit Hilfe chinesischer Konstrukteure und Mittel gebaut. Äußerungen der pakistanischen Führung, Beijing möge den Hafen doch als Basis nutzen, haben den Eindruck einer Versorgungskette chinesischer Militäreinrichtungen auf dem Weg vom Südchinesischen Meer Richtung Mittleren Osten entstehen lassen, der als »String of Pearls« Eingang in verschiedene europäische Bedrohungsszenarien gefunden hat (z.B. James Rogers: From Suez to Shanghai. European Union Institute for Security Studies/ISS, Occasional Paper 77, März 2009).

Andreas Seifert ist freier Wissenschaftler und im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung e.V. in Tübingen.

Keine NATO des Ostens

Keine NATO des Ostens

Die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit als eurasisches Großprojekt

von Peter Linke

Alle Hoffnungen auf eine »multipolare Welt« haben sich bislang nicht erfüllt. Die Welt von heute ist eher »nicht-polar« (Richard Haass) – mit all den daraus resultierenden Gefahren für globale und regionale Sicherheitszusammenhänge. Verstärkt richtet sich daher das Augenmerk auf Strukturen, die einer multipolaren Welt potentiell Vorschub leisten. Dabei von besonderem Interesse: Die Neustrukturierung des postsowjetischen Raums, die Herausbildung verschiedener postsowjetischer »Subräume«, ihr Verhältnis zueinander, die Konstituierung regionaler und subregionaler politischer Kulturen im Spannungsfeld zwischen säkularer Krise und religiöser Wiedergeburt sowie die dabei zutage tretende Rolle externer Akteure.

Im postsowjetischen Raumkonglomerat tummeln sich inzwischen nicht wenige Organisationen: von der so genannten GUAM (gegründet 1997 durch Georgien, die Ukraine, Aserbaidschan und Moldowa unter aktiver Mithilfe Washingtons) über die »Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit« (ODKB) – ein 2002 auf Initiative Moskaus aus der Taufe gehobener militärischer Beistandspakt, dem neben Russland Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan angehören – bis hin zur »Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft« (EwrAsES), deren Gründungsvertrag 2000 im kasachischen Astana von Belarus, Kasachstan, Kirgisien, Russland und Tadschikistan unterzeichnet wurde.

Die geostrategisch und geokulturell interessanteste Struktur ist und bleibt jedoch die »Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit« (russisch: SchOS).

Vorläufer der SchOS war die so genannte Schanghaier Fünfergruppe, deren Mitglieder China, Russland, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan sich Mitte der neunziger Jahre in mehreren Abkommen zu „militärischer Vertrauensbildung und gegenseitiger Streitkräftereduzierung im grenznahen Raum“ verpflichtet hatten. Nach dem Beitritt Usbekistans konstituierte man sich 2001 zur SchOS. Hauptanliegen der neuen Organisation war „der gemeinsame Kampf gegen Terrorismus, Separatismus und Extremismus, die Förderung wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und kultureller Zusammenarbeit zwischen den Teilnehmerstaaten, die Gewährleistung von Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Region sowie die Etablierung einer neuen, demokratischen und gerechten Weltordnung.“1 2004 gewährte die Organisation der Mongolei und 2005 Indien, Pakistan und dem Iran den Status von Beobachtern und erweiterte damit ihren geopolitischen Spielraum um ein Vielfaches.

Neben diversen Gesprächsforen verfügt die SchOS über zwei ständige Organe: ein Sekretariat in Peking sowie eine »Regionale Antiterrorstruktur« in Taschkent. Deutlich verstärkt hat sich in den letzten Jahren die sicherheitspolitische Zusammenarbeit im Rahmen der SchOS, was insbesondere in diversen multilateralen »Antiterror-Manövern« zum Ausdruck kommt.

Doch auch wirtschaftspolitisch rückt man immer enger zusammen. Jüngstes Beispiel: die zwischen Moskau und Peking im April 2009 vereinbarten Maßnahmen zur gemeinsamen Entwicklung des Russischen Fernen Ostens.

Wohin die weitere Reise der Organisation gehen soll, machte der Kreml vor wenigen Wochen deutlich, als er im ostrussischen Jekaterinburg den inzwischen 9. SchOS-Gipfel elegant mit dem 1. BRIC-Gipfel2 verband.

Insbesondere US-Strategen taten sich zunächst schwer damit, die SchOS ernst zu nehmen, verspotteten sie als „widersprüchlichste Organisation der Gegenwart“, die versuche, zu umfassen, was sich nicht umfassen lasse, und daher eine „Todgeburt“ sei.3 Ein Sinneswandel setzte erst 2005 ein, als die geopolitischen Schwergewichte Indien und Iran Beobachterstatus erhielten: Während sich einige Analysten damit begnügten, die SchOS als anti-amerikanische Verschwörung zu verteufeln, die einzig und allein das Ziel verfolge, Washington den Stuhl vor die eurasische Tür zu stellen, versuchten andere, mit Hilfe alternativer Konzepte wie dem eines »Greater Middle East« oder einer »Greater Central Asia Partnership for Cooperation and Development« der SchOS geopolitisch den Wind aus den Segeln zu nehmen. Unterstützung fanden Letztere insbesondere unter japanischen Kollegen, die SchOS durchaus aufgeschlossen gegenüberstanden und mit Vorschlägen wie dem einer »Eurasischen Interaktionsinitiative« danach trachteten, ihr eigenes Land sowie die USA und EU-Europa als »Dialogpartner« an die SchOS anzudocken. Mit Blick auf die Europäische Union ein durchaus kurioses Anliegen, zeigte sich diese doch an der neuen Struktur im Osten wenig interessiert. Ein Zustand, an dem sich bis heute wenig geändert hat.

Nüchtern betrachtet, ist die SchOS weder eine Todgeburt, noch eine Bedrohung für die »freie Welt«, sondern eine junge Organisation auf der Suche nach einem eigenständigen, unverwechselbaren Platz im künftigen transeurasischen Sicherheitsgefüge.

Eine »Organisation neuen Typs«

Laut Generaloberst Leonid Iwaschow, Präsident der Moskauer Akademie für geopolitische Probleme, strebt die SchOS als eine »Organisation neuen Typs« (Jewgenij Primakow) ein Sicherheitssystem an, das sich von dem der NATO, der ODKB und anderer militärischer Blöcke prinzipiell unterscheidet. Gleichzeitig bemühe sich die Organisation um ein eigenes Entwicklungsmodell, basierend auf einem System gemeinsamer, transzivilisatorischer Werte.

Dies sei besonders wichtig angesichts erheblicher Armut in vielen Mitgliedsländern sowie anhaltender ethnokonfessioneller Spannungen in der gesamten Region. Die SchOS brauche mehr als eine bloße Wachstumsideologie, sie brauche eine komplexe Entwicklungsstrategie, die die Veränderung der Wirtschaftstruktur in den einzelnen Mitgliedsstaaten zum Ziel habe und darauf orientiere, die Lebensqualität durch die Förderung von Kultur, Wissenschaft, Bildung sowie einer komfortablen Lebensweise bei gleichzeitiger Schonung der Natur nachhaltig zu verbessern.

Vor allem Russland mit seinen gewaltigen »Transformationsproblemen« habe dies frühzeitig erkannt. Es sei kein Zufall, so Iwaschow, dass gerade russische Diplomaten und Militärs bereits 1998 Kurs auf die Umwandlung der Schanghaier Fünfergruppe in eine stärker strukturierte Organisation genommen hätten. Dazu gedrängt habe sie eine zunehmend unipolare Weltordnung mit Hang zur Schaffung einer „Diktatur der militärischen Stärke“, aber auch die Dominanz liberaler Marktbeziehungen, in deren Folge die Zerrüttung der Weltwirtschaft, die Störung des globalen ökologischen Gleichgewichts sowie die Behinderung friedlichen zivilisatorischen Miteinanders eine neue, gefährliche Qualität angenommen hätten.

Einen Kontrapunkt habe man damals setzen, der individualistisch-konsumorientierten Gesellschaft des Westens eine Art Gegenentwurf präsentieren wollen: die Vision eines „zweiten Pols der Menschheit“, der aufgrund alternativer lebensphilosophischer Ansätze – basierend auf neuen Einsichten in das Verhältnis von Mensch und Natur sowie gemeinschaftsorientierten Wertmaßstäben – „harmonische Beziehungen zwischen Staaten und Zivilisationen“ aktiv befördere sowie ein „auf ausbalancierten Kräften und Potentialen fußendes Sicherheitssystem“ anstrebe.4 Mit der Gründung der SchOS habe man dieser Absicht erstmals praktisch Nachdruck verliehen. Die Suche nach einem komplexen Sicherheitsverständnis sei sehr schnell zum Markenzeichen der neuen Organisation geworden.

Russisch-chinesische Missverständnisse

Iwaschows Ausführungen verdeutlichen auf recht anschauliche Weise, welch gewaltige globalpolitischen Absichten russische Strategieplaner von Anfang an mit der SchOS verfolgten. Ein Ansatz, der aber von Strategieplanern anderer Mitgliedsländer, insbesondere Chinas, so nicht geteilt wird. Im Unterschied zu Russland war Chinas Engagement in der Organisation bislang eher taktischer Natur.

Seit Deng Xiaoping betrachtet Peking als zentrales Ziel seiner Außenpolitik, sich mit den entscheidenden internationalen Akteuren über eine (Neu-)Aufteilung der Welt in Interessen- und Verantwortungssphären zu verständigen, ohne dabei selbst eine globale Führungsrolle anzustreben oder (insbesondere gegenüber den USA) konfrontativ aufzutreten. Offiziell »Strategie der harmonischen Entwicklung« genannt, lässt dieser Ansatz letztlich wenig Raum für aktives globalpolitisches Engagement.

China weigere sich, Verantwortung für die Aufrechterhaltung von Stabilität im Weltmaßstab zu übernehmen, begnüge sich mit stabilen Verhältnissen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft, so Alexander Koltjukow, Chef des Instituts für Militärgeschichte des Russischen Verteidigungsministeriums. Der Weg dorthin führe aus Sicht der chinesischen Führung über die Anbindung der benachbarten Volkswirtschaften an die eigene Volkswirtschaft. Aus genau diesem Grunde verweigere sich Peking militärischen Blöcken oder wirtschaftlicher Integration nach dem Vorbild der EU; es bevorzuge, sämtliche politische und wirtschaftliche Fragen auf bilateraler Ebene zu klären.

Vor diesem Hintergrund sieht Koltjukow wesentliche Unterschiede im Herangehen Russlands und Chinas an mögliche Kooperationsformen im Rahmen der SchOS: Während Russland nach vertiefter Integration auf Grundlage einer teilweisen Delegierung staatlicher Souveränitätsrechte an supranationale Organe (etwa des ODKB oder der EwrAsES) strebe, weigere sich China, seine Souveränität mit irgendjemandem zu teilen. Pekings Interesse sei darauf gerichtet, gegenüber Moskau und Delhi eine Abgrenzung von Interessen- und Verantwortungssphären in der Region durchzusetzen. Russland freilich betrachte die ehemaligen südlichen Sowjetrepubliken längst als Sphäre seiner Interessen.

Zentralasiatische Schaukelpolitik

Die offensichtlichen Interessengegensätze zwischen Russland und China verführten die Zentralasiaten selbst zu einer teilweise abenteuerlichen Schaukelpolitik, von der letztlich, wenn überhaupt, nur Dritte profitieren würden. Koltjukow: „Die zentralasiatischen Republiken sind noch nicht lange genug souverän, um wirklich bereit zu sein, in supranationalen Strukturen mitzuarbeiten. Von gefestigten außenpolitischen Traditionen kann keine Rede sein. Noch suchen die Staaten der Region nach einem eigenständigen, das bestehende Kräftegewicht berücksichtigenden Entwicklungspfad. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Suche zur Aufkündigung der strategischen Partnerschaft mit Russland führt…“5

Moskaus Integrationsverheißungen irritieren viele zentralasiatische Entscheidungsträger, ist deren Durst nach Souveränität doch längst nicht gestillt. Gleichzeitig beunruhigt sie Pekings massive wirtschaftliche Expansion in die Region. Um zwischen Integrationsdruck einerseits und wirtschaftlicher Überfremdung anderseits nicht zerrieben zu werden, spielen sie nur allzu gern die US-Karte.

Gefährlicher Bilateralismus der »Beobachter«

Den Scharaden der Vollmitglieder skeptisch gegenüberstehend, konzentrieren sich die vier Beobachter bislang auf die Pflege bilateraler Kontakte, was die Organisation nicht wirklich voranbringt: Delhi versteht die SchOS vor allem als Vehikel, preiswerter als je zuvor an russische Waffen zu gelangen, seine militärpolitische Präsenz in Zentralasien zu festigen (etwa durch den Ausbau des Luftwaffenstützpunktes Ajni in Tadschikistan) sowie den Einfluss Pakistans in der Region möglichst klein zu halten. Islamabad versucht mit Hilfe der Organisation nicht nur, seine gravierenden Energieprobleme in den Griff zu bekommen, sondern auch Delhis wachsendes Engagement in und um Afghanistan zu konterkarieren. Teheran nutzt seinen Beobachterstatus, um seine sicherheitspolitischen Aktivitäten in der Region zu diversifizieren sowie bei fortgesetzter Frontstellung gegen Washington die Integration der Islamischen Republik in die Weltwirtschaft voranzutreiben. Ulan-Bator hofft, über die SchOS zusätzliche Mittel zur Entwicklung seiner Verkehrs- und sonstigen Infrastruktur akquirieren zu können, ohne dabei (erneut) in allzu große Abhängigkeit von Moskau oder Peking zu geraten.

Mangelnde Abstimmung zwischen den »SchOS-Lokomotiven« Russland und China, latentes Misstrauen der »Kleinen« (Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisien) gegenüber den »Großen« (Russland, China, Kasachstan) sowie ein die Organisation überwuchernder Bilateralismus, insbesondere zwischen den »Kleinen« und den Beobachtern verhindern bislang die tatsächliche Etablierung der SchOS als »Organisation neuen Typs«.

Strategische Reserven

Nach Meinung vieler Beobachter handelt es sich bei den o.g. Differenzen im Wesentlichen um Kinderkrankheiten einer noch im Werden begriffenen Struktur. Diese zu überwinden sollte der SchOS perspektivisch möglich sein, wurde sie doch als ein Instrument praktischer Vertrauensbildung konzipiert.

Als solches kann die Organisation einen einzigartigen Beitrag zum Abbau gegenseitiger negativer Klischees (etwa im Verhältnis Russland-China) bzw. Feindbilder (insbesondere im indisch-pakistanischen Kontext), zur Förderung multilateraler Sicherheitsarrangements zwischen Vollmitgliedern und Beobachtern, zu effektiver wirtschaftlicher Kooperation und damit ultimativ zur räumlichen Neustrukturierung Transeurasiens mit erheblich gesteigerten geopolitischen Handlungsoptionen, insbesondere für die Staaten Zentralasiens (direkter Zugang zum Meer dank strategischer Infrastrukturprojekte mit Pakistan und dem Iran etc.) leisten.

Neuer Eurasismus

Auf diesem Wege könnte die SchOS tatsächlich zum Rückgrat eines alternativen eurasischen Sicherheitssystems werden, das transregionalen Verkehrsinfrastrukturprojekten ebenso viel Aufmerksamkeit entgegen bringt wie Initiativen zur nachhaltigen Bodennutzung oder kulturellen Selbstbehauptung. Damit würden sich der SchOS reale Handlungsoptionen weit über den eigenen, unmittelbaren Tätigkeitsrahmen hinaus eröffnen (Vernetzung mit OSZE, ASEAN/ARF etc.).

Die »eurasische Option« wird immer mehr zu einer Grundkonstante geopolitischen Denkens im postsowjetischen Raum. Bereits Mitte der 1990er Jahre trat der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew mit der Idee einer Eurasischen Union an die Öffentlichkeit. Auch wenn Nasarbajews Ansatz im Kreml zunächst eher skeptisch gesehen wurde, stieß er bei russischen Geostrategen sofort auf offene Ohren: Russland als einzige Kontinentalmacht mit massiver Territorialpräsenz in Europa und Asien sowie mit mehr eurasischen Nachbarn als irgendein anderer Staat, so der bekannte Moskauer Militärhistoriker Wjatscheslaw Simonin, könne entscheidend zur Schaffung eines einheitlichen und universellen »Eurasischen Systems der Sicherheit, Zusammenarbeit und Entwicklung« (EASBSR) auf Grundlage existierender institutioneller und nichtstaatlicher Organisationen beitragen, wobei der OSZE, der SchOS, dem ASEAN-Regionalforum (ARF) sowie dem Asien-Europa-Treffen (ASEM) eine Schlüsselrolle zukomme.

Dass dem Kreml derartige Gedanken nicht gänzlich fremd sind, demonstrierte Wladimir Putin erstmals im Dezember 2001, als er auf einer Pressekonferenz mit kargen Worten umriss, was faktisch einem eurasischen Sicherheitssystem vom Atlantik bis zum Pazifik gleichkam.

Wie ein derartiges System praktisch-konkret aussehen könnte, beschreibt Jahre später der Petersburger Geograph Jurij Krupnow. Seiner Meinung nach besteht die wichtigste geopolitische und diplomatische Aufgabe Russlands in den nächsten zwanzig Jahren in der Umwandlung Zentralasiens und des Mittleren Ostens – von Kasachstan bis Nordindien und dem Persischen Golf – in eine prinzipiell neue Makroregion, die für Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung auf Grundlage beschleunigter Industrialisierung und systemischer Zusammenarbeit zwischen Russland, Indien, China, dem Iran, Afghanistan, Pakistan, der Mongolei, Kasachstan, Turkmenistan, Kirgisien, Tadschikistan, Aserbaidschan und der Türkei steht. Ausgangspunkt eines solchen Makroprojektes müsse die Schaffung eines einheitlichen geoökonomischen und geokulturellen Raums sein, der weder geopolitische Grenzziehungen, noch nationale geostrategische Egoismen kenne. Fern jeder Instrumentalisierung durch einzelne Länder könne eine solche Makroregion den Kern eines zentraleurasischen gemeinsamen Marktes sowie ein Dialogforum für die in der Region beheimateten Zivilisationen und Völker bilden.

Spätestens die von Krupnow vorgeschlagene Bezeichnung »Neuer Mittlerer Osten« (NSW) für die geplante Makroregion macht deutlich, dass sie nicht zuletzt als Antwort auf die US-Konzeption eines »Greater Middle East« gedacht ist. Sie darauf zu reduzieren, wäre jedoch grundfalsch. In Krupnows Ansatz widerspiegelt sich vor allem der Versuch, auf eine Reihe für Russland sehr realer Herausforderungen mit einem ganzheitlichen Lösungsansatz zu reagieren:

Mobilisierung dringend benötigter externer Ressourcen für die Entwicklung des asiatischen Teils Russlands;

infrastrukturelle Entwicklung Sibiriens und des russischen Fernen Ostens, nicht zuletzt durch systematische Nutzung zentralasiatischer Arbeitskräfte;

Ausbau strategisch bedeutsamer Pipeline-Systeme und Transportkorridore, insbesondere durch enge Kooperation mit dem Iran;

nachhaltige Boden- und Wassernutzung, vor allem im sibirisch-zentralasiatischen Grenzgebiet;

Gewährleistung transregionaler Nahrungsmittelsicherheit;

Delegitimierung ethnischer Gewalt durch Kultivierung eines neuen Transkulturalismus.

Gesucht: Eine neue strategische Kultur

Insbesondere die letzten drei Herausforderungen bedingen einen Sicherheitsansatz, der weit über das hinausgeht, was gemeinhin als »vernetzte Sicherheit« bezeichnet wird. Ein solcher Ansatz müsste vor allem prophylaktischer Natur sein, was wiederum eine qualitativ neue strategische Kultur6 voraussetzt. Qualitativ neu bedeutet dabei nicht, das Militärische nachhaltig zu marginalisieren, sondern eher im Gesamtkoordinatensystem moderner sicherheitspolitischer Herausforderungen anders zu verorten.

Dem wiederum müsste ein neuer Gewaltbegriff zugrunde liegen, der dem zunehmend dualen Charakter moderner Waffensysteme ebenso Rechnung trägt, wie der wachsenden Komplexität von Mensch-Maschine-Systemen sowie praktischer künstlicher Intelligenz. Auf diesem Wege könnte ein nicht unwesentlicher Beitrag zur Formierung einer neuen, die Grenzen zwischen militärischer und nichtmilitärischer Selbstbehauptung des Menschen aufhebenden Ethik für das heraufziehende posthumane Zeitalter geleistet werden. Ein ideales Betätigungsfeld für die SchOS, will sie tatsächlich eine »Organisation neuen Typs« sein.

Die SchOS als Wiege einer neuen transeurasischen Zivilisation, basierend auf einer neuen strategischen Kultur – eine ehrgeizige Vision, aber dennoch realistisch unter der Voraussetzung, dass sich die beiden »Lokomotiven« der Organisation endlich ihrer kollektiven Potenz bewusst werden.

Höchste Zeit, dass beide »Großen« gemeinsam und in enger Abstimmung mit den nicht ganz so Großen sowie allen Beobachtern über Grundbausteine einer neuen strategischen Kultur für den transeurasischen Raum nachdenken. Moskaus Entscheidung vom April 2009, der wirtschaftlichen Expansion Pekings in Russlands Fernen Osten sowie nach Zentralasien nicht länger im Weg zu stehen, kann durchaus als eine vertrauensbildende Maßnahme gelten, ist jedoch noch kein Schritt hin zu einer wirklich neuen strategischen Kultur.

Notwendig wäre eine gewaltige intellektuelle Anstrengung in Sachen eurasischer Idee jenseits aller Nationalismen. Ein komplexes Geschichtsbewusstsein, die genaue Kenntnis der weltlichen und religiösen Traditionen Eurasiens sind dafür ebenso Voraussetzung wie ein fundiertes Gespür für neue und neueste Trends in Wissenschaft und Gesellschaft.

Woran es der SchOS nach wie vor ermangelt, ist eine Art Grand Strategy, eine Vision, die den Menschen Transeurasiens eine gemeinsame Zukunft verheißt, ohne sie ihrer individuellen Vergangenheit zu berauben.

Chinas Vision für die SchOS, kritisiert der bekannte chinesische Geostratege Jia Qingguo, bleibe abstrakt und schlecht definiert, da das Land nicht in der Lage sei, einen konkreten Wertekatalog vorzulegen, der sowohl Chinesen als auch andere Völker in den Mitgliedstaaten der Organisation ansprechen würde. Die Schwäche der SchOS, resümiert Leonid Iwaschow, bestehe darin, dass sie über keinerlei fundamentale Theorie zur Beschreibung eines derartigen transzivilisatorischen Gebildes verfüge, über keinerlei formierte philosophische Weltanschaung, Konzeptionen und Algorhythmen zur Strukturierung dieses gewaltigen Raums. Es bleibt also viel zu tun!

Weiterführende Literatur

Lusjanin, Sergej (2007): Wostotschnaja Politika Wladimira Putina (Die Ostpolitik Wladimir Putins), Moskwa, Wostok-Sapad.

Zhao, Quansheng (1996): Interpreting Chinese Foreign Policy, Oxford University Press.

Anmerkungen

1) Siehe Erklärung über die Gründung der SchOS vom 15. Juni 2001 unter www.sectsco.org/RU/show.asp?id=83.

2) Informelle Verabredung zwischen Brasilien, Russland, Indien und China, „neue ökonomische Programme zu erarbeiten“ sowie „die internationalen Finanzbeziehungen zu reformieren.“ (Dmitrij Medwedjew).

3) Siehe z.B. Thomas Ambrosio (2005): Challenging America´s Global Preeminence: Russia´s Quest for Multipolarity, Aldershot: Ashgate, S.138.

4) Leonid Iwaschow (2007): SchOS i geopolititscheskije interesy Rossii w Jewrasii (Die SchOS und die geopolitischen Interessen Russlands in Eurasien), in: Schanchajskaja Organisazija Sotrudnitschestwa i jejo rol w sosdanii alternatiwnoj besopasnosti w Asii (Die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit und ihre Rolle bei der Schaffung einer alternativen Sicherheitsarchitektur in Asien), Moskwa, ROPZ, S.22.

5) Alexander Koltjukow (2008): Wlijanije Schanchajskoj organisazii sotrudnitschestwa na raswitije i besopasnost Zentralno-Asiatskowo regiona (Der Einfluss der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit auf die Entwicklung und die Sicherheit der zentralasiatischen Region), in: Schanchajskaja Organisazija Sotrudnitschestwa – k nowym rubesham raswitija (Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit – auf zu neuen Entwicklungshorizonten), Moskwa, IDW, S.282.

6) Im Sinne einer Garnitur aus „gemeinschaftlichen Glaubenssätzen, Annahmen und Verhaltensweisen, abgeleitet aus gemeinsam gemachten Erfahrungen und allgemein akzeptierten Erzählungen (mündlicher wie schriftlicher Art), die kollektive Identität stiften, das Verhältnis zu anderen Gruppen prägen sowie von zentraler Bedeutung bei der Wahl angemessener Mittel und Wege zum Erreichen von Sicherheitszielen sind.“ Siehe Darryl Howlett (2006): The Future of Strategic Culture, Defense Threat Reduction Agency, Advanced Systems and Concepts Office, 31 October 2006, S.3.

Peter Linke leitet das Moskauer Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Ressourcenkonflikte zwischen China und Indien

Ressourcenkonflikte zwischen China und Indien

von Saskia Hieber

Berichte über die Konkurrenz und das gegenseitige »Ausbooten« chinesischer und indischer Energiefirmen im Persischen Golf oder in Afrika haben Diskussionen über mögliche Ressourcenkonflikte zwischen den asiatischen Großmächten befördert. Tatsächlich bewirkt der wirtschaftliche Aufstieg der asiatischen Schwellenländer einen wachsenden Rohstoffbedarf. Asiatische Firmen kaufen Gasfelder, Öllieferungen, Konzessionen, Minen, Metalle, Farmen und Landwirtschaftsprodukte auf der gesamten Südhalbkugel – gleichzeitig suchen Investoren neue Anlagemöglichkeiten.

Einerseits ist diese Entwicklung insofern potentiell problematisch, weil dies in einem größeren sicherheitspolitischen Kontext zu verorten ist und zusätzlich die »Energiekonkurrenz« mit älteren, erfolgreichen Volkswirtschaften in Asien – wie Japan – besteht, das fast 90% seiner Energie importieren muss. Strategische Planungen wie etwa Pipelinerouten und der Ausbau von Verkehrsverbindungen, Kommunikationswegen und militärischen Anlagen in den jeweiligen Nachbarländern tragen genauso zum gegenseitigen Misstrauen bei wie die historischen Feindseligkeiten zwischen China und Indien und alte Machtkonstellationen im asiatischen Raum (Indien und die Sowjetunion gegen China und Pakistan).

Andererseits dürfen die Möglichkeiten und Schritte zu regionaler Kooperation nicht unterschätzt werden. Neben bilateralen Einigungen besteht ein großes Potential, regionale und flexible Lösungen zu entwickeln. Als Beispiel sei der »Code of Conduct« der Anrainer des Südchinesischen Meeres genannt.1 Schließlich sind die Notwendigkeit wirtschaftlichen Handels und der in der Region traditionelle Pragmatismus, der eine Kooperation auch auf wenig institutioneller Ebene ermöglicht, konstruktive Merkmale.

Der politische Rahmen

Die Beziehungen zwischen China und Indien waren schlecht. Als Gründe gelten die Grenzkriege 1962 und die Konkurrenz um Einfluss in Südostasien, in der Himalayaregion und auf der Südhalbkugel. Die Territorialdispute, Atomprogramme und Rüstungsvorhaben sind weitere Belastungsfaktoren, ebenso wie die Instrumentalisierung alter Machtkonstellationen in Bezug auf Strukturen des Kalten Krieges, terroristische Bedrohungen und die Zukunft Pakistans. Ebenfalls für Misstrauen hat der Ausbau von Verkehrs- und Kommunikationswegen und militärischer Anlagen in Nachbarstaaten gesorgt. Hier ist insbesondere Myanmar zu nennen, durch das sich China einen Zugang zum Indischen Ozean verspricht. Auch Chinas Engagement in Pakistan und der Ausbau des Golf-Hafens Gwadar wurden in Neu-Delhi kritisch betrachtet. Umgekehrt trifft Indiens neue Präsenzstrategie, die nicht nur auf die eigenen Küstengewässern abzielt, sondern auf das gesamte Arabische Meer und den Indischen Ozean, auf Besorgnis in ganz Asien. Mohan Malik argumentierte 2004, dass die bilateralen Beziehungen eher von Wettbewerb als von Kooperation geprägt werden, da das Verbindende bzw. die ähnlich gelagerte Herausforderung genau das sei, was China und Indien trenne.2

Nun haben die Piratenüberfälle im Golf von Aden und vor der afrikanischen Küste neue Bedingungen und neue Notwendigkeiten der Kooperation geschaffen. Etwa zwei Drittel des Golf-Öls geht nach Asien. Asiens Volkswirtschaften sind nicht nur abhängig von Energieimporten, sondern auch von den Exportwegen, um die produzierten Güter auf die Märkte der Erde zu bringen. Die Offenhaltung und Freiheit von Seeverkehrswegen ist nirgendwo wichtiger als in Ostasien, das alleine weit über die Hälfte des Weltcontainerverkehrs ableistet. Das indische Militär hat in der Vergangenheit mehrfach Piraten nicht nur vor den eigenen Küsten, sondern auch in internationalen Gewässern bekämpft. Die Indische Marine beschreibt in ihrem »Vision Document« von 2006 etwa die Bedeutung, die ein dreidimensionaler, flexibler Ansatz für die Fähigkeit hat, im gesamten Konfliktspektrum sowohl in den eigenen Küstengewässern, als auch auf hoher See zu operieren.3

Chinas jüngstes maritimes Engagement Richtung Westen hat noch keine Tradition und steht in zeitlichem Zusammenhang mit dem Piratenüberfall auf einen chinesischen Frachter am 16. November 2008 im Indischen Ozean. Zwei Aussagen der Zeitung »China Daily« zu diesem Zwischenfall sind interessant: »Beijing ready to combat pirates« und der fast anklagende Hinweis, dass der Überfall im Verantwortungsgebiet der 5. Amerikanischen Flotte stattgefunden hatte (und nicht verhindert wurde). So kritisch das Pentagon und asiatische Nachbarn Chinas Marineaktivitäten betrachten, so erstaunlich ist es, dass Beijing nicht schon früher Schiffe entsandte. Ein entsprechendes Papier, in dem die Chinesische Regierung beispielsweise ankündigt, Auslandsinvestitionen im Rohstoffsektor nicht nur zu fördern, sondern auch zu schützen, liegt seit 2003 vor.4

Energiepolitik und Energieträger

In China und Indien bestimmen ähnliche Faktoren die Ressourcenproblematik und die Energiepolitik: Auf der Versorgungsseite stehen in beiden Ländern sehr große Kohlevorräte, deren Nutzungsausbau aus Gründen der Luftqualität aber problematisch ist; die eigene Öl- und Gasproduktion und die vorhandenen Anlagen sind nicht ausreichend. Beide Länder müssen immer mehr Öl importieren (Indien ca. 2/3 des Bedarfs, China fast die Hälfte); beide Länder verfügen über noch unerschlossene Energiereserven, diese liegen allerdings z.T. Offshore oder in anderweitig schwierig zu erschließenden geologischen Strukturen. Die Infrastrukturmängel stellen jeweils einen empfindlichem Engpass in der Sicherung der Energieversorgung dar. Beide Länder verfügen über große Wasserkraftpotentiale, die aber aufgrund von Umwelt- und anderen Bedenken nicht mehr so massiv ausgebaut werden können. Hinzu kommt, dass Wasserkraftprojekte die Beziehungen zu den im Vergleich zu Chinas und Indiens Größe immer kleineren Flussnachbarn belasten. Im Falle Chinas sind das südostasiatische Staaten; in Bezug auf Indien sind es Nepal, Pakistan und Bangladesch.

Auf der Bedarfsseite ist zu sehen: Das hohe Wirtschaftswachstum führt zu steigendem Energieverbrauch und der wachsende Transportsektor benötigt immer mehr Treibstoff. Der Wohlstand der wachsenden Mittelschicht vervielfacht den Strombedarf für Haushaltselektronik; Ineffizienz und Stromausfälle zeichneten die staatlichen Versorger aus. Die bisher zu niedrigen Verbraucherpreise haben zu Verschwendung und zu Einkommensverlusten bei den Energiefirmen geführt und die Erfolge von Sparprogrammen geschmälert. Beide Länder sind zunehmend auf Ölimporte angewiesen und haben ihren Jahres-Ölverbrauch in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt: China von 160 auf fast 370 Millionen Tonnen, Indien von 75 auf fast 130 Millionen Tonnen. Es geht auch anders – wie der Vergleich mit hochindustrialisierten und produktiven Volkswirtschaften zeigt: Japan konnte seinen Ölverbrauch in den vergangenen 10 Jahren von 268 Millionen Tonnen auf 230 Millionen Tonnen reduzieren. Das industriell hoch entwickelte Deutschland verbraucht »nur« 112 Millionen Tonnen Öl pro Jahr.5 Dies hängt unmittelbar mit den durch die Ölkrisen der 1970er Jahre entstandenen Energiesparmaßnahmen und Effizienzsteigerungen zusammen.

China ist heute nach den USA der zweitgrößte Ölverbraucher und Ölimporteur der Welt. Indien steht an sechster Stelle. Chinas Ölindustrie gehört inzwischen zu den weltgrößten Produzenten, der größte Teil der Produktion wird aber im Land selbst verbraucht. Auch Indiens Ölindustrie muss sich immer mehr um internationale Projekte und Konzessionen bemühen, um den steigenden Ölbedarf des Landes zu decken. Die großen asiatischen Energiefirmen investieren inzwischen auf dem gesamten Globus, um ihre Lieferungen, Lieferanten und Lieferrouten zu diversifizieren. Zwar fließen etwa zwei Drittel des Öls des Persischen Golfs nach Ostasien und die Zahl der »Strategischen Ölpartnerschaften« mit den Öllieferanten der arabischen Welt wächst. Doch werden zunehmend Afrika und Lateinamerika zu wertvollen Energiepartnern. Angola beispielsweise liefert seit 2006 mehr Öl nach China als Saudi-Arabien.6

Die Gasmärkte sind regionalisiert: Südostasien liefert hauptsächlich an die ostasiatischen Großabnehmer, vornehmlich an Japan; Nordafrika und Russland liefern an Europa. Japan hat die Gasnutzung früh ausgebaut, in Südostasien den weltgrößten Flüssiggasmarkt aufgebaut und gehört zu den größten Gasnutzern. Erstaunlich ist der geringe Gas-Anteil von unter 4% in Chinas Energiestruktur und etwa 8% in Indien. Dies hat industrietraditionelle Gründe (Gas wurde zur Düngemittelproduktion verwendet) und mit der fehlenden Infrastruktur zu tun. Zur Gasnutzung ist ein Leitungsnetz von der Quelle bis zum Endverbraucher notwendig, was angesichts der geographischen Ausdehnung und der politisch-strategischen Landschaft Probleme bereitet. Ungeachtet vieler Pipelinepläne und Projekte und mit Ausnahme kleiner nationaler Anschlüsse verbinden bisher keine transkontinentale Leitungen etwa China mit den reichen Gasfeldern Sibiriens oder Indien mit Iran. Russlands Gas fließt bisher fast ausnahmslos nach Westen. Bis 2015 und 2020 sollen jedoch Leitungen von Sibirien nach China und Japan gebaut werden. Ein Grund für die Verzögerungen liegt in der Frage über die Kontrolle und das Aufbringen jeweils zweistelliger Milliardensummen für diese Bauvorhaben. Indien und China sind auch im Gasbereich Konkurrenten. Nicht nur vor Indiens Westküste liegen Gasvorkommen, auch Myanmar verfügt über reiche Offshore-Felder.

China verfeuert über 1.300 Millionen Tonnen Kohle pro Jahr zur Energieerzeugung, Indien 208 Millionen Tonnen. Kohle hat in China immer noch einen Anteil von 68% an der Gesamtenergiestruktur und die chinesische Regierung hat wenig Spielraum, dieses Dilemma zu lösen, ohne den Ölanteil (ca. 20%) und damit die teuren Ölimporte zu erhöhen. In Indien liegt der Kohleanteil bei 53% und der Ölanteil am Gesamtenergieverbrauch ist mit über 30% sogar noch höher als in China. Die erneuerbaren und »sauberen« Formen (dazu gehört Atomkraft) stellen nur einen Anteil von etwa 8% in China und ca. 7% in Indien an der Gesamtstruktur.7 Auf China fällt die Hälfte des weltweiten Kohleverbrauchs; nimmt man Indien und das restliche Asien hinzu, entsteht das erschreckende Bild, dass auf Asien ca. drei Viertel des Weltkohleverbrauchs entfallen. Regelungen zur Emissionskontrolle und zum Klimaschutz müssen folglich asiatische Regierungen stärker mit einbeziehen und in Verantwortung nehmen. China steht aber vielen internationalen Vereinbarungen, z.B. über verbindliche Ziele zur Reduzierung von Emissionen, zögerlich gegenüber.8 Indien setzt sich aus Gründen der Armutsbekämpfung gegen Vereinbarungen über Emissionsreduzierungen ein. Weitere indische Interessen beinhalten die Beziehungen zu den USA, auch unter dem Gesichtspunkt des Ausbaus des indischen Nuklearprogramms.

Um die Energieversorgung zu sichern, müssen die Staaten Asiens die vorhandene Energieindustrie ausbauen, Sparmaßnahmen durchsetzen und die Nutzung aller Energieformen und -träger ausbauen.9 So hat die Verwendung von Biomasse in Asien eine gewisse Tradition, wird aber erst langsam entwickelt. Dies liegt zum einen an der Dominanz der Kohle im Versorgungssystem, an der Bedeutung von Ölprodukten für den rasant wachsenden Verkehrssektor und an Mängeln in der Infrastruktur. Wasserkraft wird überall in Asien gefördert. China hat das größte Wasserkraftpotential der Welt und wird in diesen Sektor weiter investieren – ungeachtet ökologischer, sozialer und kulturhistorischer Bedenken. Indiens große Staudammprojekte haben schon früher durch ihre rücksichtslose Durchsetzung gegenüber Einheimischen für Schlagzeilen gesorgt. Nuklearkraft spielt nur in Japan eine große Rolle für die Energiegewinnung. China will zwar in den kommenden Jahren bis zu 40 Atomkraftwerke bauen, da der Energiebedarf insgesamt jedoch so stark steigt, wird diese Energieform auch in Zukunft nur etwa 2% zur Energieversorgung beitragen. In Indien beträgt der Nuklearkraftanteil ca. 1%.

Konflikt und Kooperation im Auslandsengagement

China und – mit etwas Verspätung – Indien betreiben heute eine diversifizierte Wirtschaftspolitik und sorgen durch weltweite Investitionen und den Kauf von Konzessionen im Rohstoffbereich für Versorgungssicherheit. So verschafft sich die Volksrepublik nicht nur in Nachbarstaaten, sondern auch im weiteren Asien, in Ozeanien, Afrika und Südamerika Zugang zu Energie- und Metallvorkommen.10 In Afrika wird beispielsweise ein ganzes Bündel von wirtschaftlichen und politischen Aktivitäten bemüht, nicht nur Rohstoffausbeutung und Handel, sondern auch die »Süd-Süd-Solidarität« gegen amerikanisches »Hegemoniestreben«, kaum konditionierte Hilfs- und Aufbauleistungen und Schuldenerlässe. Chinas Afrikagipfel hatte seinen Ausgangspunkt 2003, der erste Indien-Afrika Gipfel fand erst 2008 statt. Asiatische Regierungen zeigen hier einerseits neue Machtansprüche, sind aber im Gegensatz zu vielen westlichen Ländern auch bereit, Milliardensummen in den Kontinent zu investieren. Afrikanischen Länder sind alternative Ordnungsmodelle und das Nichteinmischungsprinzip willkommen. Es muss allerdings klar erkannt und kritisch kommuniziert werden, dass Chinas unkonditionierte Leistungen internationale Bemühungen in Bezug auf Korruptionsbekämpfung, »good governance«, Finanztransparenz und damit insgesamt Konfliktprävention unterlaufen.

Die chinesische Regierung hat ihrem Energie- und Rohstoffsektor ein Auswärtsprogramm verordnet und fordert Investitionen im Ausland. Im Ergebnis hat China im Vergleich zu Indien bisher etwa die zehnfache Summe in internationale Ölrechte investiert. Doch auch China hat nicht immer Erfolge – wie das abgewiesene Angebot von CNOOC (China National Offshore Oil Corporation) für Unocal zeigte. Indische Energiefirmen hatten bisher beim Versuch, ihr internationales Engagement zu vergrößern, oft das Nachsehen gegenüber der chinesischen Konkurrenz und wurden beispielsweise bei Ölgeboten in Sudan, Angola, Indonesien und Ecuador von China ausgestochen. Ein Ausdruck der chinesisch-indischen Rivalität war das chinesische Gebot von 2,3 Milliarden US-Dollar für einen 45%-Anteil am Nigerianischen Akpo-Offshore-Feld, wogegen Indien chancenlos war.11 Ein weiteres prominentes Beispiel war der indische Versuch, Ende 2005 die kanadische PetroKazakhstan zu kaufen, dabei jedoch gegen CNPC (China National Petroleum Corporation) verlor.12 Indiens Diplomatie kann sich selten gegen chinesische Interessen durchsetzen, die außerdem massiv durch außenpolitische Initiativen gestützt werden. Dennoch engagieren sich indische Firmen inzwischen in Energieprojekten in Russland, Vietnam, Indonesien, Sri Lanka (offshore), Kasachstan, Algerien, Libyen, Syrien, Yemen und Iran und investieren zunehmend auch in Afrika und Lateinamerika. Mit Iran hat Indien beispielsweise einen 40 Milliarden US-Dollar Vertrag über die Lieferung von 7,5 Millionen Tonnen Flüssiggas über 25 Jahre abgeschlossen und investiert in iranische Häfen und Straßennetze, die Verbindungen nach Afghanistan und Zentralasien verbessern sollen.13 Das indisch-iranische Hafenprojekt Chabahar steht in Konkurrenz zum chinesisch-pakistanischen Hafen Gwadar.

Allerdings erschweren angespannte Beziehungen zu Nachbarstaaten Indiens die Energiepolitik zusätzlich. Eine Gasleitung von Iran oder Turkmenistan nach Indien führt durch pakistanisches Gebiet und ist daher ohne Einigung mit der Regierung in Islamabad nicht zu realisieren. Ähnliches gilt für eine Gasleitung von Myanmar nach Indien, die durch Bangladesh laufen müsste. Myanmar gilt als Schlüsselspieler für Chinas Zugang zum Indischen Ozean – entsprechend wurde der Ausbau von Verkehrswegen von Südwest-China nach Myanmar und der Ausbau von Hafenanlagen betrieben.

China und Indien hoffen auf neue Projekte in Iran, Irak, Zentralasien und im Pazifik. Viele asiatische Länder folgen dem Instrumentenkatalog der Internationalen Energieagentur zur Versorgungssicherung: Energiesparmaßnahmen, Ausbau der eigenen Energieindustrie, Diversifizierung und Investitionen in die Infrastruktur. Offshore-Produktionen haben sowohl im Indischen Ozean als auch in den ostasiatischen Meeren neue Vorkommen erschlossen. Einige dieser Felder sind aber teilweise aufgrund technischer Schwierigkeiten (Tiefe, Qualität) und territorialer Dispute nicht erfolgreich zu bewirtschaften. Ein weiteres Problem bestand und besteht für die relativ jungen chinesischen und indischen Energiefirmen darin, dass sie im Vergleich zu den älteren westlichen Multis wie BP, Royal Dutch Shell oder Exxon Mobil weder am Gewinn der Hochpreisjahre teilhaben konnten noch über ausreichend Erfahrung verfügten und feststellen mussten, dass die »billigen« und leicht zugänglichen Felder in der Welt des Öls schon lange vergeben waren und sie zumindest bis Ende der 1990er Jahre unter einem Mangel an Managementqualifikation und Kapital litten.

Ein weiteres Feld in der Energiekonkurrenz sind ausländische Investitionen in die eigenen Raffinerien und Pipelines. Arabische Länder haben Interesse, insbesondere in China zu investieren: Saudi-Aramco und Kuwait steckten fast 8 Milliarden US-Dollar in südchinesische Raffineriekomplexe. Bei den Pipelineplänen ist auf die hohe Komplexität, die politischen Unsicherheiten, die Interessen der Großmächte und die großen Investitionssummen hinzuweisen. Deshalb erstaunt die Fülle der Projekte nicht. In Ost-West-Richtung verlaufen folgende Planungen: Russland-China-Japan, Russland-Kasachstan-China, Russland-Japan direkt, Iran-Indien und weiter im Westen SouthStream und die BTC-(Baku-Tbilisi-Ceyhan)-Leitung. In Nord-Süd-Richtung verlaufen Pläne, China mit dem Indischen Ozean, Russland mit Iran und Indien und jeweils Iran und Pakistan mit West- und Zentralasien zu verbinden. Zu den kleineren Projekten gehört die White-Oil-Pipeline, die den pakistanischen Hafen Qasim mit dem Norden des Landes verbindet und von der chinesischen China Petroleum Engineering and Construction Company gebaut wurde.14

Inzwischen gibt es aber auch Beispiele für Kooperationen zwischen chinesischen und indischen Energiefirmen. Im Iran haben sich beide Länder für die gemeinsame Nutzung einer Konzession entschieden: Irans größtes Ölfeld, Yadavaran, wird von China (50%), Indien (20%) und Iran (30%) gemeinsam betrieben. In Syrien kauften indische und chinesische Firmen gemeinsam die Rechte der kanadischen Petro-Canada an Al Furat Petroleum.15 Nach der »Strategischen Partnerschaft« 2005 wurde im Januar 2006 endlich ein chinesisch-indisches »Memorandum on Cooperation in Oil and Gas« beschlossen.

Zu der Bekämpfung der Umweltzerstörung stehen in den meisten asiatischen Ländern ausreichende Gesetze zur Verfügung – es hapert an der Umsetzung. Das Prinzip »Öffentlichkeit« birgt Chancen. So ist die chinesische Sepa (State Environmental Protection Agency) zwar relativ machtlos, konnte aber mit der Drohung, Umweltverstöße öffentlich zu machen z.B. einen Stahlproduzenten bewegen, fünf große und veraltete Werke zu schließen. Die indische Regierung tut sich durch eine andere und längere juristische Tradition leichter, Rechtsverstöße zu ahnden. Regionale Kooperation wäre hier wünschenswert, eine über Absichtserklärungen und Machbarkeitsstudien hinausgehende Umsetzung ist allerdings nicht sichtbar.

Fazit

Asien spielt für die internationale Energiesicherheit eine entscheidende Rolle durch seine wirtschaftliche Entwicklung und den anhaltend wachsenden Energiebedarf. Nicht nur China beeindruckt seit fast drei Jahrzehnten mit Wirtschaftswachstumsraten von 8-11%, auch andere asiatische Länder haben die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise von 1996/76 längst überwunden und benötigen immer mehr Energie. Die Sicherung von Asiens Energieversorgung erfordert eine langfristige regionale und internationale Kooperation. Dazu wäre eine Art »asiatische Energieagentur« sinnvoll. China und Indien wären ein machtvolles Käuferkartell auf internationalen Ölmärkten. Ein weiterer Baustein in der regionalen Energiesicherheit wären gemeinsame regionale strategische Lager. Insgesamt ist ein konfrontativer Ansatz nicht förderlich und die Einbeziehung Japans unerlässlich. Für den Westen gibt es Gründe, angesichts des asiatischen Ölverbrauchs dennoch nicht in Panik zu verfallen: Die anlaufenden Sparprogramme und Preissteigerungen, das Produktionspotential der OPEC, die nicht genutzten Produktionskapazitäten in Iran und Irak und die Tatsache, dass mit Ausnahme der USA der Ölbedarf der westlichen Welt nicht mehr wächst. Die IEA sollte die Hand weiter nach Asien ausstrecken. Schließlich kommen von dort nicht nur Nachfragen nach verschiedenen Energieträgern, sondern auch nach der entsprechenden Förder-, Verarbeitungs- und Transporttechnologie und auch gewaltige Investitionen in die internationale Energieindustrie. Die gegenwärtige Situation allerdings lässt trotz gelegentlicher Zusammenarbeit chinesischer und indischer Energiefirmen durch die nationalstaatlich geprägte Interessenpolitik und innenpolitische Zwänge bisher zu wenig Raum für kooperative, regionale Lösungen.

Anmerkungen

1) Joint Declaration on the Conduct of Parties in the South China Sea, 2002, http://www.aseansec.org/13163.htm.

2) Mohan Malik (2004): India-China Relations. Giants Stir, Cooperate and Compete; In: Special Assessment Asia’s Bilateral Relations; APCSS.

3) Headquarters of the Ministry of Defence – Indian Navy: Vision Document 2006; New-Delhi, http://indiannavy.nic.in/vision.pdf.

4) State Council Information Office: China’s Policy on Mineral Resources, Beijing, http://www.china.org.cn/e-white/20031223/index.htm.

5) BP Statistical Review of World Energy 2008, www.bp.com.

6) Vgl. FACTS Inc.: China Oil and Gas Monthly, 2006.

7) Energy Information Administration (EIA): Country Analysis Brief China, Country Analysis Brief India, www.eia.doe.gov.

8) Vgl. G8 Research Group – Oxford: »Outreach Five« Country Objectives Report; Heiligendamm Summit, 2007; www.g7.utoronto.ca/oxford/g8org-ox-objectives2007.pdf, S 7 ff.

9) Chinas moderne Energiepolitik ist beispielsweise im White Paper von 2007 abgebildet: State Council Information Office: White Paper on Energy, www.china.org.cn.

10) Vgl. Saskia Hieber: Chinas Energiesicherheit; In: China aktuell; 33 (April 2004) 4.

11) People’s Daily, 13. Januar 2006.

12) Energy Security, 16. Januar 2006, www.iags.org.

13) India, China locked in energy game; in: Asiatimes, 17. März 2005.

14) www.gasandoil.com, 21. Februar 2002

15) International Herald Tribune, 22. Dezember 2002.

Dr. Saskia Hieber ist als Sinologin und Politikwissenschaftlerin an der Arbeitsstelle Internationale Politik der Akademie für Politische Bildung Tutzing und als Lehrbeauftragte am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft der Universität München tätig.

Die EU und Ostasien

Die EU und Ostasien

Zum Stellenwert der Sicherheitspolitik

von Dirk Nabers und Günter Schucher

Die EU betreibt eine zunehmend aktivere Außenpolitik. Die Beziehungen zu Ostasien bleiben dabei allerdings weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Die Institutionalisierung der politischen Beziehungen zwischen Asien und Europa hat zwar eine lange Geschichte, ist aber bis heute nicht über das Stadium des regelmäßigen Dialogs hinaus gekommen.

Entsprechend gering ist bisher der Nutzen für die Beziehungen einzelner asiatischer und europäischer Staaten untereinander gewesen. Dies änderte sich auch nicht, als am 1. März 1996 25 Staats- und Regierungschefs aus der EU und Ostasien zum ersten Gipfel des seither »Asia-Europe Meeting« (ASEM) genannten Forums zusammenkamen. In der Folge wurden zwar mannigfaltige Themen diskutiert, doch das Treffen hat bisher die Konsultationsphase nicht hinter sich gelassen. Wo ASEM in der deutschen Prioritätenliste rangiert, zeigt sich auch daran, dass die Bundesregierung nicht bereit war, am 4. Treffen der Staats- und Regierungschefs in Kopenhagen teilzunehmen, weil das Treffen am Tag der Bundestagswahlen (22. September 2002) stattfand.

Ähnlich steht es mit der Rolle der EU in den sicherheitspolitischen Brennpunkten der Region: auf der koreanischen Halbinsel und in der Taiwan-Straße. Auch hier spielen die Europäer die Rolle eines externen Beobachters, der kaum in der Lage ist, die Agenda der Hauptbeteiligten – vor allem der USA und Chinas – zu beeinflussen. Allein bei der Befriedung der indonesischen Bürgerkriegsregion Aceh spielte die EU im Rahmen einer Beobachtermission eine aktive Rolle, die bereits als Leitbild für künftige friedenserhaltende Maßnahmen außerhalb Europas diskutiert wird.

Wie sich die sicherheitspolitische Rolle der EU in den genannten Problemfeldern im Einzelnen darstellt und sich in die Programmatik der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) einfügt, soll im Folgenden analysiert werden. Dazu wird der Blick zunächst auf die programmatischen Grundlagen der EU-Außenpolitik gegenüber Ostasien gerichtet. In einem zweiten Schritt wird nach den Gründen für die geringen Fortschritte von ASEM im sicherheitspolitischen Bereich gefragt, um schließlich die Rolle der EU in den Beziehungen der VR China mit Taiwan, auf der koreanischen Halbinsel und in Aceh zu beleuchten. Am Ende des Beitrags werden die Ergebnisse in den Gesamtzusammenhang der ESVP gestellt.

Programmatik: Kein Sicherheitskonzept für Ostasien

Die politischen Beziehungen der EU zu Asien haben sich erst nach dem Ende des Kalten Krieges in den 1990er Jahren entwickelt. Bis dahin war die EU vor allem mit ihrem eigenen Integrationsprozess befasst. Außenpolitische Beziehungen erfolgten auf der bilateralen Ebene von Land zu Land und blieben daher in hohem Maße inkongruent. Das galt auch für Ostasien, dessen strategische Bedeutung sich aufgrund der hohen Wirtschaftsdynamik seit Mitte der 1980er Jahre kontinuierlich vergrößerte. Erst mit dem Vertrag von Maastricht (Dezember 1991) wurde begonnen, die bisherige Besuchsdiplomatie zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik weiter zu entwickeln.

Der erste Dialog auf Gipfelebene begann 1991 mit Japan. Später wurden ähnliche Gipfelkontakte zu China, kürzlich auch zu Südkorea sowie im Rahmen des ASEM-Prozesses zu ganz Ostasien aufgenommen. 1994 verabschiedete die EU ihre erste offizielle Asien-Strategie, Konzeptpapiere zur Stärkung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit einzelnen Ländern und Subregionen wurden seit 1993 präsentiert: Korea (1993), China (1995), Japan (1995) und Südostasien (1996). Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wird dieses Rahmenwerk durch die Einbeziehung weiterer Länder komplettiert und die bestehenden Konzepte werden regelmäßig den Veränderungen in Asien, Europa und zwischen beiden Regionen angepasst.1 Dabei nehmen die eher beschreibenden Teile an Umfang ab und die politisch-strategischen zu. Einen Überblick über die sicherheitsrelevanten Aspekte dieser Konzepte gibt Tabelle 1.

Tabelle 1: Sicherheitsrelevante Inhalte der EU-Konzepte zu Asien und der Europäischen Sicherheitsstrategie
Jahr Policy Paper Sicherheitsrelevante Inhalte
1994 „Towards a New Asia Strategy“ COM (94) 314
13. Juli 1994
Stärkung der wirtschaftlichen Präsenz in Asien, Beitrag zur Stabilität in Asien, Förderung der ökonomischen Entwicklung, Beitrag zur Entwicklung und Konsolidierung von Demokratie, Rechtstaatlichkeit sowie Menschen- und Freiheitsrechten. Prioritäten u.a.: Weitere Stärkung der bilateralen Beziehungen, Hebung des Profils von Europa in Asien
Politischer Dialog als Charakteristikum des neuen »Politischen Ansatzes«
2001 „Europe and Asia: A Strategic Framework for Enhanced Partnerships“ COM (2001) 469
4. August 2001
Stärkung der politischen und wirtschaftlichen Präsenz der EU in Asien entsprechend dem wachsenden globalen Gewicht der EU, u.a.: Beitrag zu Frieden und Sicherheit in der Region und Global, Beitrag zum Schutz von Menschenrechten und zur Verbreitung von Demokratie, Good Governance und Rechtstaatlichkeit, Aufbau globaler Partnerschaften und Allianzen mit asiatischen Ländern und Stärkung der Wahrnehmung Europas in Asien
Spannungsherde und Konfliktpunkte: Aceh, Mindanao, Taiwan-Straße, Südchinesisches Meer, Koreanische Halbinsel
2003 „A Secure Europe in a Better World“, European Security Strategy,
12. Dezember 2003
Übernahme von Verantwortung für die globale Sicherheit. Drei strategische Ziele: Bekämpfung der Bedrohungen (Terrorismus, Proliferation, Regionale Konflikte, u.a. Koreanische Halbinsel), Sicherheit in der Nachbarschaft, multilaterale internationale Ordnung
Asien: Entwicklung strategischer Partnerschaften mit Japan, China, Indien

Die erste Asienstrategie von 1994 nahm ausdrücklich Bezug auf das wachsende Gewicht Asiens in der Weltwirtschaft und legte entsprechend das Schwergewicht auf wirtschaftliche Aspekte. Die EU entwickelte zugleich einen »neuen politischen Ansatz« als Bestandteil einer künftigen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Europa sollte in die Lage versetzt werden, seine Interessen und Werte zu schützen und eine konstruktive Rolle in der Weltpolitik zu spielen. Als angemessenes Mittel zur Umsetzung wurde der »politische Dialog« festgelegt.

Mit der neuen Strategie von 2001 nahm die EU unter Bezugnahme auf den Erweiterungsprozess für sich eine größere internationale Rolle in Anspruch und proklamierte entsprechend das Ziel, diese auch in Asien ausüben zu wollen. Wirtschaftliche Ziele wurden daher durch (sicherheits-)politische ergänzt. Europa soll in Asien nicht nur präsenter sein und eine aktivere Rolle spielen, es soll vor allem auch stärker als Akteur wahrgenommen werden. Verweisen konnte man nicht nur auf die Ausweitung der politischen Dialoge, sondern auch auf konkrete Beiträge zur Schaffung von Frieden und Sicherheit wie in Kambodscha, Osttimor und Afghanistan sowie zur Korean Energy Development Organization (KEDO).

Im Rahmen der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS), die 2003 im Anschluss an das europäische Debakel im Irakkrieg formuliert wurde, kommt Asien nur am Rande vor; konkret erwähnt wird einzig der Konflikt auf der Koreanischen Halbinsel. Um global eine größere Rolle zu spielen, will die EU u.a. auf die Partner setzen, die für sie wichtig sind, und in Asien mit Japan, China und Indien strategische Partnerschaften entwickeln. Dies ist ein deutlicher Verweis auf die wachsende Bedeutung Asiens, was die EU-Kommissarin für externe Beziehungen Ferrero-Waldner ausdrücklich bestätigte: „We want to have a more coherent, effective and visible impact on world affairs… That will also mean working more closely politically with our Asian dialogue partners“ (Ferrero-Waldner 2007).

Insgesamt bleibt die EU-Strategie gegenüber Asien weiterhin stark beeinflusst vom wirtschaftlichen Wert der Region. Insofern stehen auch die wirtschaftlich dynamischen Länder in Ostasien sowie die südostasiatische Staatengemeinschaft ASEAN im Fokus. Sicherheitsrelevante Fragen spielen nur eine marginale Rolle, kommerzielle und politische Überlegungen sind weit wichtiger. Ein umfassendes kohärentes Sicherheitskonzept für die gesamte Region, das der proklamierten globalen Rolle der EU gerecht wird, alle in den einzelnen Konzepten durchaus benannten Krisenpunkte wie z.B. die Taiwanstraße einschließt und die Beziehungen zu den Kooperationspartnern USA und Japan klar definiert, fehlt völlig (van der Putten 2007). Die EU setzt auch weiterhin auf die Stärkung der ökonomischen Präsenz, den Ausbau bilateraler Beziehungen und auf politischen Dialog. Das sicherheitspolitische Engagement beschränkt sich dabei auf Stellungnahmen. Es bleibt unklar, was die strategischen Partnerschaften letztlich charakterisiert, zumal die Dialoge selten als intensive Diskussionsforen von Sicherheitsfragen genutzt werden.

Institutionalisierung des multilateralen Dialogs: Das Asia-Europe Meeting (ASEM)

Ein Beispiel für den wenig institutionalisierten Dialogprozess zwischen Asien und Europa ist das am 1. und 2. März 1996 in Bangkok erstmals abgehaltene Asia-Europe Meeting (ASEM).2 Drei Themenbereiche wurden bei der Gründung des Forums für künftige Treffen als vordringlich eingestuft: a) politischer Dialog, b) wirtschaftliche Zusammenarbeit und c) Zusammenarbeit in anderen Bereichen, darunter Wissenschaft und Technologie, Umwelt, Entwicklungszusammenarbeit und Kultur. In den ersten Jahren waren die Diskussionen stark auf wirtschafts- und kulturpolitische Themen gerichtet. So stand die Finanz- und Wirtschaftskrise in Südostasien im Vordergrund der Gespräche von ASEM 2 in London 1998. Erstmals wurde im Rahmen von ASEM 3 im Jahr 2000 in Seoul eine sicherheitspolitisch relevante Deklaration verabschiedet, die »Seoul Declaration for Peace on the Korean Peninsula«, in der es jedoch an konkreten Vorschlägen zur Verbesserung des Klimas zwischen beiden koreanischen Staaten mangelt.

Erst seit den Anschlägen auf New York und Washington vom 11. September 2001 spielen innerhalb von ASEM auch politische und sicherheitspolitische Aspekte eine Rolle. So stand neben der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus abermals Nordkorea auf der Agenda des vierten Asia-Europe-Meetings in Kopenhagen 2002. Es wurde eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, in der die Mitglieder des Forums ihre Unterstützung für den Friedensprozess auf der koreanischen Halbinsel festschrieben. Auch dem Normalisierungsprozess zwischen Nordkorea und Japan wurde volle Unterstützung zugesichert. Künftig müsse Nordkorea durch alle ASEM-Mitgliedsstaaten aktiv in wirtschaftliche und politische Initiativen eingebunden werden, so das Schlusskommuniqué der Konferenz (Japan aktuell 4/2002, Ü 47). In der Folge von ASEM 4 wurde in Berlin eine ASEM-Konferenz zum internationalen Terrorismus durchgeführt. Erklärtes Ziel war es, wissenschaftliche Erkenntnisse zum Terrorismus direkt für die Diskussionen innerhalb von ASEM nutzbar zu machen.

Auch auf den Folgetreffen 2004 in Vietnam und 2006 in Finnland standen sicherheitspolitische Themen auf der Tagesordnung. In keinem Falle wurden jedoch konkrete Handlungsleitlinien für die ASEM-Staaten festgelegt. Dem Forum fehlt es an Handlungsbefugnissen; es besitzt bisher kein ständiges Sekretariat, das die Treffen auf Arbeitsebene koordinierend vorbereiten könnte. Es ist nur schwer vorstellbar, dass informelle Zusammenarbeit auf Dauer ein funktionales Äquivalent zu formaler Kooperation sein kann, wenn es um Themen wie Marktzugang, Investitionsschutz oder Terrorismus geht (Loewen/Nabers 2005).

In der Rede des deutschen Staatssekretärs Silberberg im Rahmen der Veranstaltungsreihe »EU-Countdown: In 100 Tagen zur EU-Ratspräsidentschaft« am 4. Oktober 2006 kam Ostasien nicht vor, während den Beziehungen mit Russland, Zentralasien, dem Nahen Osten und Afrika erhöhte Bedeutung zugemessen wurden (Auswärtiges Amt 2006). Dies muss angesichts des wirtschaftlichen Potenzials der Region und seiner bestehenden sicherheitspolitischen Herausforderungen als verpasste Chance angesehen werden.

Beim europäisch-asiatischen Außenministertreffen 2007 in Hamburg wurde die EU durch den deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier vertreten. Themen, die auf der Tagesordnung standen, bezogen sich auf den möglichst baldigen Abschluss eines europäisch-asiatischen Zollabkommens, die Zusammenarbeit auf den Gebieten der Regulierung von Finanzdienstleistungen und des geistigen Eigentums, bei der Energie- und Ressourcensicherheit, der Forschung und Entwicklung im Hochtechnologiebereich, des Umweltschutzes, der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der Terrorbekämpfung. Von politischer Seite wurde dabei darauf hingewiesen, dass es zuvorderst darauf ankomme, sich überhaupt zu treffen und über politische Ansichten zu diskutieren3, weniger auf die am Ende veröffentlichten gemeinsamen Deklarationen. Während es weltweit eine Reihe internationaler Institutionen gibt, die verbindliche Handlungsleitlinien erlassen, ist dies somit innerhalb von ASEM auf absehbare Zeit nicht der Fall.

VR China: Wirtschaftsbeziehungen dominant

Die Beziehungen zur Volksrepublik China machen die Dominanz wirtschaftlicher Beziehungen und die nahezu vollständige Abwesenheit von Sicherheitsüberlegungen besonders deutlich. Die EU hat zwar die Situation in der Taiwanstraße als einen der Hauptkonfliktpunkte in Ostasien benannt und mit dem Waffenembargo gegen China ein diplomatisches Instrument in der Hand, verfügt aber dennoch über kein kohärentes Sicherheitskonzept im Umgang mit der Volksrepublik.

Das Embargo über Waffenexporte wurde im Juni 1989 gegen China verhängt, verbunden mit der Aufforderung an die chinesische Regierung, die Repressionen gegen alle Chinesen zu stoppen, die ihre demokratischen Rechte in legitimer Weise einforderten (European Council 1989). Der konkrete Umfang des Embargos ist dabei nicht klar definiert und offen für unterschiedliche Interpretationen, aufgehoben werden kann es aber nur durch einstimmige Entscheidung, die durch die EU-Erweiterung noch schwieriger wurde. Vor allem Bundeskanzler Schröder und Frankreichs Staatspräsident Chirac versuchten diese seit Herbst 2003 herbeizuführen, scheiterten aber schließlich an einer Kombination verschiedener Faktoren, darunter dem Widerspruch der USA und der Nichtberücksichtigung der Taiwanfrage. Vornehmlich hatten sie bilaterale Wirtschaftsinteressen im Blick und vernachlässigten darüber ebenso die transatlantischen Beziehungen wie die globalen und regionalen Sicherheitsaspekte. Als der chinesische Volkskongress dann im März 2005 das Anti-Sezessions-Gesetz gegen Taiwan verabschiedete, war die Aufhebung des Embargos in der EU nicht mehr durchsetzbar.

Ist das Embargo im Prinzip ein Instrument, Chinas Menschenrechts- und Taiwan-Politik zu kritisieren, so hat sich die EU hier selbst geschwächt, als sie sowohl im Europarat in Rom 2003 als auch auf dem EU-China-Gipfel im Dezember 2004 ankündigte, sie werde es in der ersten Hälfte 2005 aufheben. Seitdem drängt China auf die Einhaltung dieser Zusage. Auf der anderen Seite wurde seitens der EU im letzten »policy paper« zu China vom Oktober 2006 die Verbesserung der Beziehungen zwischen China und Taiwan zur Voraussetzung für eine mögliche Aufhebung des Embargos gemacht und damit beide Fragen miteinander verknüpft (Commission 2006). Dennoch fehlt auch weiterhin die klare Einbeziehung der Taiwanfrage in die sicherheitspolitische Agenda der EU. Wie sich die EU im Falle einer Krise in der Taiwanstraße verhalten wird, bleibt demnach offen.

Nordkorea: Unterstützende Rolle der EU

Auch im Hinblick auf eine aktivere Rolle der EU auf der koreanischen Halbinsel bleibt eine Reihe von Fragen unbeantwortet. Nordkorea ist ein gutes Beispiel für die Schwierigkeiten der internationalen Staatengemeinschaft, mit legalen, politischen und militärischen Maßnahmen das Aufkommen einer neuen Nuklearmacht zu unterbinden. Gleichwohl konnte mit der Unterzeichnung eines »Agreed Framework« zwischen den USA und Nordkorea am 21. Oktober 1994 sowie der Schaffung der Organisation für die Energieentwicklung auf der Koreanischen Halbinsel (KEDO) am 9. März 1995 eine viel versprechende Grundstruktur für eine Regimebildung im Bereich nuklearer Nonproliferation geschaffen werden. In einem quid pro quo einigten sich die USA und Nordkorea, dass Pyongyang die aus Russland stammenden Graphit-Atommeiler in Yongbyon stilllege, den Bau von zwei weiteren Reaktoren stoppe und IAEO-Inspektionen zuzulassen habe. Im Gegenzug sicherten die USA die Lieferung von zwei modernen 1.000 MW-Leichtwasserreaktoren aus Südkorea und von bis zu 500.000 Tonnen Rohöl jährlich bis zur Fertigstellung der Reaktoren zu (Nabers 2006). 1997 trat die EU dem Konsortium bei und förderte die Arbeiten in Nordkorea in der Folge mit 118 Mio. Euro. Seit 1995 hat die EU Nordkorea zusätzlich mit humanitären Hilfen in Höhe von 450 Mio. Euro unterstützt.

Inzwischen ist die Übereinkunft gescheitert, nachdem Nordkorea im Oktober 2002 überraschend zugegeben hatte, heimlich an der Entwicklung von Atomwaffen gearbeitet zu haben. Mit seinem Eingeständnis löste das Regime eine neue Krise insbesondere in den Beziehungen zu den USA aus (Japan aktuell 2/2003, Ü 43). Das internationale Konsortium zur Konstruktion der Leichtwasserreaktoren in Nordkorea beschloss, kein Rohöl mehr an Nordkorea zu liefern. Ein Jahr später wurde dann der Bau der Reaktoren eingestellt (KEDO 2005).

Um dem nordkoreanischen Atomwaffenprogramm Einhalt zu gebieten, fand seit 2003 eine Reihe so genannter »Sechs-Parteien-Gespräche« statt. An dieser Runde nehmen Vertreter der Volksrepublik China, Nordkoreas, der USA, Russlands, Japans und Südkoreas teil. Die EU ist nicht beteiligt. Daher blieb das Verhältnis der EU zu Nordkorea auf intensive humanitäre Hilfe und die politische Unterstützung bei den Sechser-Gesprächen beschränkt. Als Nordkorea am 9. Oktober 2006 einen Atombombentest durchführte, leitete dies die schwerste Krise zwischen der EU und Nordkorea seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Jahr 2001 ein (Schwinger 2006). Aktiv ist die EU seither nicht an der Beilegung des Nuklearprogramms beteiligt. Man beschränkt sich hier stattdessen auf enge Konsultationen mit den USA.

Aceh: Die erste europäische Friedensmission

Im Gegensatz zur weit gehenden Passivität der EU in den brennenden Konflikten der Region ist die erste Friedensmission der Europäer in Asien eine Erfolgsgeschichte. Nach 30 Jahren des Bürgerkriegs wurde in der indonesischen Provinz Aceh von September 2005 bis Dezember 2006 eine 227 Kopf starke Beobachtermission unter der Führung der Europäer durchgeführt (Aceh Monitoring Mission, AMM), die mit freien Wahlen am 11. Dezember 2006 endete. Seit 1976 hatte die »Bewegung Freies Aceh« (GAM) für die Unabhängigkeit gekämpft. Die Führer der Rebellenbewegung hatten eine Regierung im Exil gegründet und ihre Kämpfer in einen Guerillakrieg geschickt, der mindestens 15.000 Menschen das Leben gekostet hat. Im Jahr 2001 war ein Waffenstillstand gescheitert, und die Zentralregierung hatte eine massive Militäroperation mit 40.000 Soldaten gestartet. Erst der verheerende Tsunami vom 26. Dezember 2004 hatte ein Ende der Feindseligkeiten bewirkt (Ufen 2007).

Die historische Wahl war nun der Höhepunkt eines zweijährigen Friedensprozesses, der nach dem Tsunami eingeleitet worden war. In der Zeit der finnischen Ratspräsidentschaft war am 15. August 2005 in Helsinki ein Memorandum of Understanding (MoU) zwischen der GAM und der indonesischen Zentralregierung unterzeichnet worden, das als Grundlage für die folgende Friedensmission diente (EU 2006a). 131 der Beobachter kamen aus der EU, der Schweiz und Norwegen, 96 aus Mitgliedstaaten der südostasiatischen Staatengemeinschaft ASEAN. Hauptziel der Mission war die Entwaffnung und Wiedereingliederung der Rebellen sowie die Überwachung indonesischer Truppenverbände aus der Region. Die EU unterstützte die Mission mit insgesamt 260 Mio. Euro (EU 2006b).

Zur Wahl im Dezember entsandte die EU zusätzlich eine Wahlbeobachtungsmission. Das Team bestand aus 33 Langzeit- und 44 Kurzzeitbeobachtern. Dazu stellte die Kommission 2,4 Mio. Euro im Rahmen der europäischen Initiative für Demokratie und Menschenrechte bereit. Die Wähler waren aufgerufen, am 11. Dezember den Gouverneur, vier Bürgermeister, 15 Distriktleiter und ihre jeweiligen Stellvertreter zu wählen. Mehr als 10.000 Polizisten und mehrere Tausend Wahlbeobachter aus der Region waren im Einsatz.

Der größte Erfolg der Europäer liegt wohl darin, überhaupt von dem stark auf seine nationale Souveränität bedachten Indonesien ins Land gelassen worden zu sein. Nach dem »Verlust« Ost-Timors, bei dem Australien als externe Macht eine große Rolle gespielt hatte, stand die Masse von Bevölkerung und Politik der Rolle ausländischer Mächte bei der Regelung innerer Angelegenheiten skeptisch gegenüber. Auch die Vereinten Nationen schieden als Beobachter aus, da sie bereits die Friedenserhaltenden Maßnahmen in Ost-Timor durchgeführt hatten. Als sich die EU mit der ASEAN auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt hatte, wurde ihre Friedensmission schließlich auch von der indonesischen Regierung akzeptiert.

Rückblickend wurde die Mission daher von der EU gerühmt. Sie habe erstens zu einer Annäherung mit Indonesien geführt. Das entstandene Vertrauen könne als Grundlage für ein langfristiges Engagement der EU in Südostasien dienen. Zweitens habe die ESVP durch die Mission Auftrieb erhalten. Künftig werde die Aceh-Mission als Beispiel für eine erfolgreiche Friedensmission der EU im Ausland herangezogen werden können (EU 2006c).

Schluss

Es ist erklärtes Interesse der EU, als globaler Sicherheitsakteur in Ostasien Stabilität und Wirtschaftswachstum zu fördern. Seit Beginn des 21. Jahrtausends gibt es auch Ansätze zur Formulierung einer umfassenden Sicherheitsstrategie; Ostasien bleibt davon allerdings weit gehend ausgeklammert. Hier sind die intensiven Wirtschaftsbeziehungen dominant. Sicherheitsfragen spielen nur eine marginale Rolle und die sicherheitspolitische Präsenz der EU ist weiterhin gering. Bisher scheint sie eher versucht zu haben, ihre politische Rolle im Gepäck der Wirtschaftskooperation zu vergrößern. Auch von Seiten der asiatischen Länder wird die EU daher zwar als ökonomischer Partner, aber weniger als sicherheitspolitischer Akteur wahrgenommen.

Erst seit dem gescheiterten Versuch, das Waffenembargo gegen China aufzuheben, sind seitens der EU Ansätze erkennbar, die Beziehungen zu den USA und anderen Kooperationspartnern, d.h. vor allem Japan, in die sicherheitspolitische Strategie einzubeziehen. Dabei ist es durchaus nicht leicht für die EU, sich neben den USA als globaler Sicherheitsakteur zu beweisen.

Entsprechend nachrangig ist die Rolle der EU als Akteur in den wichtigsten Krisenherden der Region, der Taiwan-Straße und der koreanischen Halbinsel. Allein im Rahmen der Beobachtermission in der indonesischen Provinz Aceh konnte ein Erfolg auf der Weltbühne verzeichnet werden. Alles in allem ist das für die EU, die sich selbst gerne als »Zivilmacht EU« gegenüber der Militärmacht USA versteht, viel zu wenig. Als Zivilmacht hat man sich die Zähmung und Einhegung von Gewalt in allen Teilen der Welt, die Verregelung und Verrechtlichung internationaler Beziehungen, die Intensivierung multilateraler Kooperation und die Förderung sozialer Ausgewogenheit und Gerechtigkeit auf globaler Ebene auf die Fahne geschrieben. In all diesen Bereichen ist die europäische Asienpolitik indes bis heute unterentwickelt.

Literatur

Auswärtiges Amt (2006): „Ausblick auf die deutsche EU-Präsidentschaft: Stand der Vorbereitung in der Bundesregierung“ (Rede von Staatssekretär Silberberg, 04.10.2006), http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Infoservice/Presse/Reden/2006/061004-SilberbergEuropa.html [10. Juli 2007].

Commission (2006): „Communication from the Commission to the Council and the European Parliament. EU-China: Closer Partners, Growing Responsibilities“, Brussels, COM (2006) 631, Commission of the European Communities, S.1.

Dent, Christopher (2004): „The Asia-Europe Meeting and Inter-Regionalism“, in: Asian Survey 44:2, S.213-236.

The European Council (1989): „Declaration on China“ (Madrid 27 June 1989), Annex I of European Union Factsheet, http://ue.eu.int/uedocs/cmsUpload/FACTSHEET_ON_THE_EU_AND_CHINA.pdf [4.7.07].

Europäische Union (2006a): „EU monitoring mission in Aceh“, 7 September 2006, http://www.consilium.europa.eu/aceh [27. Juni 2007].

Europäische Union (2006b): „EU entsendet Wahlbeobachtungsmission in die indonesische Provinz Aceh“, IP/06/1570.

Europäische Union (2006c): „Council Conclusions on Indonesia/Aceh“, 11 December 2006, http://www.consilium.europa.eu/Newsroom [27. Juni 2007].

Ferrero-Waldner, Benita (2007): „Common Experiences, Common Hopes and Engagement in our Common Interest“, in: Asia Europe Journal 5:1, S.9-11.

KEDO (2005): „A Message from the Executive Director, Ambassador Charles Kartman“ (April 2005), http://www.kedo.org/ [16. September 2005].

Loewen, Howard/Nabers, Dirk (2005): „Transregional Security Cooperation after 9/11 – Asia, Europe and the United States“, in: Asia-Europe Journal 3:3, S.333-346.

Nabers, Dirk (2006): „Krise und Identitätswandel in Japan“, in: Die Friedens-Warte. Journal of International Peace and Organization 81:3-4, S.43-60.

Schwinger, Philipe (2006): „Europas Reaktion auf ein nukleares Nordkorea“, in: europa-digital, http://www.europa-digital.de/aktuell/dossier/aussenbez/nord_korea.shtml [27. Juni 2007].

Ufen, Andreas (2007): „Wahlen in Aceh – Neue Hoffnung auf Frieden?“, GIGA Focus Asien Nr. 1/2007.

van der Putten, Frans Paul (2007): „The EU Arms Embargo, Taiwan, and Security Interdependence between China, Europe and the United States“, in: The Indian Journal of Asian, Spring, http://www.clingendael.nl/publications/2007/20070400_cscp_art_putten.pdf [retrieved 8. Mai 2007].

Anmerkungen

1) Strategiepapiere der EU-Kommission: „Relations between the European Community and the Republic of Korea“, COM, 1993, unpubl.; „European Union Policy towards the Republic of Korea“, COM (1998) 714; „Europe and Japan: The Next Steps“, COM (95) 73; „A Long-term Policy for China-Europe Relations“, COM (95) 279, „The EU‘s Relations with China: Building a Comprehensive Partnership with China“ COM (1998) 181, „EU Strategy towards China: Implementation of the 1998 Communication and Future Steps for a more Effective EU Policy“ COM (2001) 265; „A new partnership with South East Asia“, COM (2003) 399/4.

2) Neben den Mitgliedstaaten der EU nahmen auf asiatischer Seite die ASEAN-Mitglieder Brunei, Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur, Thailand, Vietnam sowie die VR China, Japan und Südkorea teil.

3) Siehe dazu das Interview mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Hamburger Abendblatt vom 26. Mai 2007.

PD Dr. Dirk Nabers nimmt derzeit eine Lehrstuhlvertretung für Internationale Beziehungen und Europäische Integration an der Universität Stuttgart wahr. Dr. Günter Schucher ist Kommissarischer Direktor des German Institute of Global and Area Studies (GIGA)