Zentraleuropa – Nukleus eines Europa mit Strukturen gemeinsamer Sicherheit

Zentraleuropa – Nukleus eines Europa mit Strukturen gemeinsamer Sicherheit

von Manfred Müller

I

Die europäischen Industriegesellschaften sind kriegsunverträglich geworden. Dennoch sind außerordentliche militärische Kräfte angehäuft. Für sie gibt es keine rationelle Verwendung. Doch die Aufstockung und Modernisierung der sich gegenüberstehenden Militärpotentiale geht weiter. Dafür werden auf beiden Seiten jährlich Mittel im Werte von ca. 600 Mrd. Dollar aufgewendet.

Das wird bisher vor allem mit der Notwendigkeit der Kriegsverhinderung durch Abschreckung begründet. Aber die Drohung beiderseitiger Vernichtung im Kriegsfall kann, akzeptiert man die Notwendigkeit von Abschreckung, mit einem Bruchteil der existierenden Mittel glaubhaft gemacht werden.

Niemand kann beweisen, daß Abschreckung Europa mehr als 40 Jahre Frieden bewahrte. Aber selbst wer daran glaubt, kann nicht die immensen und wachsenden Gefahren übersehen, die aus der Fortsetzung einer Politik entstehen, die auf militärischer Konfrontation ständig wachsender Potentiale beruht.

Andererseits sind in diesen mehr als 40 Jahren Bedingungen und Strukturen entstanden, aus denen keine der beiden Seiten ohne weiteres einseitig aussteigen kann.

Das betrifft den Gesamtrahmen der Abschreckung, aber wichtige einzelne Elemente der militärischen Konfrontation ebenso. Panzer und die Verpanzerung der Infantrie sind nicht nur Ausdruck hoher Beweglichkeit und der Fähigkeit zur Angriffskonzentration, sondern auch Antwort auf die nukleare Bedrohung. Denn die Chance solcher Verbände gegenüber nuklearen Schlägen ist höher. Die Panzer wegzunehmen ohne die nukleare, vor allem Erstschlagbedrohung zu beseitigen, geht deshalb schwerlich. Auch Maßnahmen, vor allem der See- und Luftrüstung, die die Flanken des Warschauer Vertrages bedrohen, machen hohe Beweglichkeit im Interesse der Verteidigung unabdingbar.

Wer die Konzentration von Kräften nahe der Berührungslinie der Bündnisse fürchtet, der kann nicht seine eigene Fähigkeit zu tiefen Schlägen ausbauen. Denn die Gefahr abgeschnitten zu werden zwingt zu noch stärkerer Konzentration von Kräften vorn.

Überwindung der Abschreckung

Diese und andere Fragen verweisen auf ein grundlegendes Dilemma der Situation: Solange eine Seite am Grundsatz der nuklearen und konventionellen Abschreckung festhält und sie immer weiter auszugestalten sucht, sind gemeinsame Konzepte für eine entscheidende Verbesserung der Sicherheitssituation in Europa, die von den entstandenen Realitäten ausgehen, schwerlich auszuarbeiten. Eine wichtige Vorbedingung für gemeinsame Konzepte zur Stärkung der Sicherheit wäre eine gemeinsame, nüchterne und realistische Bewertung der Lage. Hierbei hat die Wissenschaft und haben die Wissenschaftler eine große Aufgabe.

Der entscheidende Gestaltungsgrundsatz solcher Konzepte muß sein, sie auf die schrittweise Überwindung des Systems der gegenseitigen Abschreckung und militärischen Konfrontation zu richten.

Nur auf diesem Wege erreicht man gemeinsame Sicherheit. Das ist das Herangehen der Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages. Dies wollen viele realistisch denkende Kräfte im Westen. Leider jedoch läuft die offizielle NATO-Politik in eine andere Richtung.

Die Kriegsunverträglichkeit europäischer Industriegesellschaften könnte ihrerseits abschreckend wirken und zu vernünftigem Sicherheitsdenken führen. Dazu muß sie überall bewußt gemacht werden.

Gleichzeitig kann man jedoch nicht an der Tatsache vorbei, daß es in der NATO Planungen und Waffenentwicklungen gibt, die die Drohung mit und den Einsatz von militärischer Macht auch unter den veränderten Bedingungen möglich und glaubhaft machen sollen.

Das Konzept des tiefen Hineinwirkens, die Entwicklung der Fähigkeit zu »chirurgischen« Schlägen wie gegen Libyen, von Luft- und Seelandeoperationen zur in-Besitz-nahme sensibler Einrichtungen – diese und andere Arten militärischer Gewaltanwendung wären auch unter den modernen europäischen Bedingungen denkbar. Besonders in Krisensituationen könnte man hoffen, damit militärische Wirkung zu erzielen.

Auch kann das Bestreben der führenden NATO-Staaten nicht unbeachtet bleiben, in Abrüstungsverhandlungen jene militärischen Mittel vor allem zu reduzieren, deren offensiver Einsatz heute sinnlos wäre und bei denen es eine zahlenmäßige Asymmetrie zu Gunsten des Warschauer Vertrages gibt. Dagegen ist man bemüht alle Truppengattungen und Systeme aus den Verhandlungen auszulassen, die unter den modernen Bedingungen weiterhin offensiv einsatzfähig wären und bei denen die NATO überlegen ist oder ein umfassendes Entwicklungsprogramm verwirklicht.

Diese Lage erfordert:

Erstens deutlich sichtbar zu machen, wodurch die sozialistischen Staaten und der europäische Friede heute vor allem militärisch bedroht sind – nämlich durch moderne nicht primär auf große Landnahme, sondern auf wirkungsvolle, offensive militärische Einwirkung zielende Systeme.

Zweitens zu fordern, daß diese Mittel, bei denen Asymmetrien zu unseren Ungunsten existieren oder entstehen, in Verhandlungen über Stabilität und Reduzierungen einbezogen werden.

Drittens daran zu arbeiten, diese Systeme definier-, kontroll- und damit verhandlungsfähig zu machen. Das erfordert z.B. genaue Unterscheidung zwischen Angriffsfliegerkräften und Abfangjägern, zwischen Kampf- und Transporthubschraubern usw.

Mit Recht hat der Warschauer Vertrag darauf verwiesen, daß auch nach Annahme des Wiener Mandats wichtige Bereiche der militärischen Konfrontation in Europa außerhalb von Verhandlungen bleiben. Es bedarf deshalb alsbald der Aufnahme paralleler Verhandlungen zu den taktischen Kernwaffensystemen und auch zu den Seestreitkräften in europäischen Randmeeren.

Ziel: beiderseitige strukturelle Angriffsunfähigkeit

Sinn und Ziel eines solchen komplexen Herangehens an die europäische Abrüstung ist es, beiderseitige strukturelle Angriffsunfähigkeit zu erreichen. Das ist keine kurzfristig lösbare Aufgabe.

Natürlich reicht die Bestimmung des Zieles allein nicht. Gleichzeitig bedarf es der Ausarbeitung von Wegen, und des Bemühens, Prozesse zu diesem Ziel in Gang zu setzen. Die Eigenart und Schwierigkeit bestehen darin, daß dabei von einem Partner auszugehen ist, der andere Ziele verfolgt. Auch wenn wir hoffen, das Abschreckungsdenken zu überwinden, so sind erste Schritte nur durchsetzbar, wenn sie an aus diesem Denken entstehende Verhaltensweisen und Interessen anknüpfen. Unter diesem Aspekt haben offenbar Schritte der weiteren Ausgestaltung militärisch-vertrauensbildender Maßnahmen die besten Aussichten alsbaldiger Verwirklichung.

Schwieriger werden sich die Verhandlungen über konventionelle Stabilität und Reduzierungen gestalten. Dem weitgehenden Drei-Stufen-Plan des Warschauer Vertrages steht auf Seiten der NATO vorläufig vor allem ein Interesse an der Beseitigung zahlenmäßiger Asymmetrien bei Panzern, SPWs und Artillerie gegenüber. Interesse an tiefen Kürzungen der verbleibenden Kräfte sind zwar hier und da auch bei Regierungskräften von NATO-Staaten erkennbar, aber erst Mitte 1989 soll ein NATO-Gesamtkonzept vorliegen, das Aufschluß über die Absichten dieses Bündnisses geben wird.

Vorbehalte werden von maßgeblichen NATO-Vertretern gegenüber einem offiziellen und vor allem zu verifizierenden Datenaustausch geäußert. Dies und manches andere Verhalten mutet wie ein Versteckspiel an: Je mehr wir uns auf frühere NATO-Forderungen zubewegen, desto mehr rückt die NATO von ihnen ab. Das zeigt, eine große, umfassende Arbeit ist zu bewältigen, um wirkliche Fortschritte zu europäischer Abrüstung herbeizuführen.

II

Die Kriegsunverträglichkeit europäischer Industriegesellschaften gilt in besonderem Maße für die Staaten in Mitteleuropa. Hier bedarf es nicht einmal des Krieges, sondern bereits eine zugespitzte Krisensituation würde schwerwiegende Folgen für die Menschen dieses Gebietes hervorbringen. Stabilität nach innen und außen ist eine Grundbedingung normalen Lebens in allen Ländern dieses Raumes. Wenn andere, fernere Länder hoffen können, ein in Zentraleuropa ausbrechender Konflikt könne womöglich rechtzeitig eingedämmt werden – für viele Menschen dieses Gebietes wäre es dann bereits zu spät. Kriegs- und Konfliktverhinderung ist deshalb ein elementares und dominierendes gemeinsames Interesse der Menschen in den mitteleuropäischen Staaten. Zugleich stehen sich in Mitteleuropa die größten Militärpotentiale der beiden Koalitionen gegenüber. Es ist das dringliche Anliegen der Friedens- und Sicherheitspolitik der DDR, hier, an der mit mehr als 1.000 km längsten unmittelbaren Berührungslinie der beiden Pakte, wo nach wie vor eine Reihe sensibler Sicherheitsprobleme existiert, die militärische Konfrontation zu reduzieren.

Die in Mitteleuropa einander gegenüberstehenden militärischen Kräfte sind solche der beiden Bündnisse. Die nationalen Armeen sind in sie eingegliedert. Kann man unter diesen Umständen spezielle Lösungen für Zentraleuropa überhaupt ins Auge fassen? Lohnen sich eigene oder gemeinsame Initiativen aus Ländern dieses Gebietes? Wesentliche Kräfte in der NATO lehnen dies ab. Nicht zuletzt argumentieren sie dabei mit dem geographischen Faktor, der ihrer Meinung nach den Warschauer Vertrag militärisch begünstigt. Die NATO habe, wegen der geringeren Tiefe ihres Territoriums keine Möglichkeit, dieses durch besondere Zonen weiter zu verringern.

Diese Argumentation kann nicht überzeugen. Sie läßt die Lebenssituation Mitteleuropas völlig außer Acht. Einseitig werden auch die rückwärtigen Verbindungen beider Seiten bewertet. Die existierende Infrastruktur der Warschauer Vertragsstaaten läßt kein schnelleres Heranführen von Verstärkungen aus der Tiefe des Raumes zu als bei der NATO. Zudem sind die Landverbindungen viel leichter zu unterbrechen als die überseeischen Linien.

Besondere Arrangements für Mitteleuropa?

Von ihrer Konzeption ausgehend wollen die NATO-Staaten über besondere Arrangements für Mitteleuropa nur im Rahmen gesamteuropäischer Verhandlungen reden, wobei sie Mitteleuropa »vom Atlantik bis zum Ural« oder zumindest von der Kanalküste bis einschließlich der westlichen Militärbezirke der UdSSR definieren. Maßgebliche Vertreter der NATO-Politik sprechen sogar davon, daß dieses Gebiet den eigentlichen Inhalt einer ersten Verhandlungsrunde der 23 ausmachen müsse, in der man die Flanken vernachlässigen könne. Auf diese Weise soll die Einseitigkeit der Forderungen noch verstärkt und jede Beziehung zu den Seestreitkräften vermieden werden.

Sicher ist es richtig, daß grundsätzliche Lösungen für Mitteleuropa, die strukturelle Angriffsunfähigkeit ausdrücken, des gesamteuropäischen Rahmens bedürfen.

Aber eine weite geographische Ausdehnung des Begriffs Mitteleuropa ist außerordentlich problematisch und die damit verbundene Ausklammerung der Flanken unakzeptabel. Ein solches Herangehen widerspricht dem Grundsatz der Gleichheit und gleichen Sicherheit. Auch scheint es nicht gerechtfertigt, mittel- oder besser zentraleuropäische Maßnahmen ausschließlich als Bestandteil gesamteuropäischer Vereinbarungen regeln zu wollen. Wenn man die ständigen Erklärungen ernst nimmt, daß die Reduzierung der Gefahr eines Überraschungsangriffs eine der Hauptsorgen der europäischen Situation ist, dann muß man doch so schnell wie möglich Maßnahmen für jenen Raum vereinbaren, aus denen ein derartiger Angriff vor allem drohen könnte.

Weil die DDR dieses Argument ernst nimmt und ihrerseits interessiert ist, jede Konfliktgefahr zu reduzieren und zu beseitigen, ist sie zu sofortigen Gesprächen und Verhandlungen über Maßnahmen bereit, die für eine Zone entlang der Berührungslinie der beiden Systeme ein besonderes Regime festlegen könnten. Auf diese Weise würden gegenseitige Befürchtungen vor einem Überraschungsangriff abgebaut, das Vertrauen in die friedlichen Absichten gestärkt, die Möglichkeiten der Konfliktentstehung verringert und gegebenenfalls sein Ausmaß reduziert, damit wenigstens die Chance einer Beilegung bleibt.

Der NATO-Strategie, die nicht nur Abschreckung des Krieges, sondern auch innerhalb des Krieges mit dem Ziel seiner Begrenzung und Beendigung vorsieht, müßte eigentlich ein besonderes Regime für diese grenznahen Gebiete entsprechen. Offenbar sind es mehr machtpolitische als sicherheitspolitische Erwägungen, die vor allem die USA bisher negativ auf solche Vorstellungen reagieren lassen.

Die Vorschläge der DDR, die durch die Beschlüsse des Warschauer Vertrages unterstützt werden, sehen vor:

Erstens die Notwendigkeit, im Rahmen grundgesetzlicher Wandlungsprozesse in ganz Europa zu struktureller Angriffsunfähigkeit ein besonderes Regime für Mitteleuropa und für einen grenznahen Streifen auszuarbeiten. Das geht von der Überlegung aus, daß strukturelle Angriffsunfähigkeit nur zu verwirklichen ist, wenn tiefgreifende Reduzierungen und strukturelle Wandlungen der militärischen Kräfte beider Seiten erfolgen. Dies sollte mit einer Dislozierung der verbleibenden konventionellen Kräfte nach dem Grundsatz verbunden werden: je näher zur Berührungslinie der Bündnisse, um so weniger beweglich, schwerer konzentrierbar und nach Bewaffnung und Ausbildung nicht offensivfähig, aber zugleich in hohem Maße zum Halten von Territorium geeignet. Dies kann nur im Ergebnis eines beiderseitigen Wandlungsprozesses über mehrere vereinbarte Stufen erreicht werden.

Zweitens sollte es jedoch möglich sein, bereits jetzt, das heißt vor gesamteuropäischen Lösungen oder auch parallel zur Beseitigung von Asymmetrien, eine Reihe von Festlegungen über Zentraleuropa zu treffen, um in diesem Gebiet die Situation zum Besseren zu verändern.

III

SED und SPD arbeiteten Vorstellungen über die Bildung einer chemiewaffenfreien Zone und eines kernwaffenfreien Korridors aus. Die Regierungen von DDR und CSSR übermittelten diese Vorschläge als offizielle Angebote an die Regierung der BRD. Obwohl diese bisher nicht bereit war, darauf positiv zu reagieren, haben diese Initiativen zunehmend Unterstützung in der Öffentlichkeit gefunden. Sie bleiben aktuell und die Chancen ihrer Realisierung können sich verbessern. Dies um so mehr, als SED und SPD mit ihrer neuen Initiative vom Juli dieses Jahres zur Schaffung einer Zone des Vertrauens und der Sicherheit die bisherigen Vorschläge ergänzten und erweiterten. Es ist kein Geheimnis, daß die Kommission beider Parteien ihre Arbeit fortsetzt, wobei sie auch mögliche erste Schritte zur Verminderung der militärischen Konfrontation in einem Gebiet entlang der Grenzen zwischen beiden Bündnissen erörtert.

Alle diese Initiativen sind als selbständige Maßnahmen zu betrachten. Zugleich bilden sie insgesamt ein Vorschlagsbündel, dessen Verwirklichung einen Streifen entlang der Berührungslinie der beiden Militärkoalitionen bilden würde, aus dem

  • die Kernwaffen und alle Trägersysteme dualer Verwendung abgezogen;
  • die chemischen Waffen beseitigt;
  • besonders offensivfähige Verbände und Waffensysteme reduziert werden würden. Zugleich würden in diesem Raum
  • militärische Bewegungen und Manöver in besonderer Weise begrenzt: und
  • umfassende Systeme der Kontrolle und der Überwachung eingerichtet werden.

Da alle diese Maßnahmen auf beiden Seiten gleichermaßen verwirklicht werden müßten, entstünde keiner Seite ein Nachteil. Mit dem Blick auf die gegenwärtige Situation in diesem Gebiet kann man sogar feststellen, aus dem Streifen östlich der Grenze müßte wahrscheinlich mehr abgezogen werden als aus dem im Westen.

Welche Vorteile entstünden?

Erstens verringert sich drastisch die Möglichkeit eines Überraschungsangriffs. Danach bleiben in dem betreffenden Gebiet nicht genügend und geeignete Truppen. Ihre Konzentration ist unbemerkt nicht möglich. Die Heranführung von Truppen aus anderen Gebieten würde rechtzeitig entdeckt.

Zweitens verringern sich damit die Chancen für eine groß angelegte Offensive. Alle dafür nötigen Vorkehrungen würden rechtzeitig erkannt. Die Frühwarnung und die Frühwarnzeiten wachsen beträchtlich. Damit verringern sich die theoretischen Erfolgschancen eines derartigen Angriffs weiter. Aber mit dem Schwinden der Chancen des Erfolgs schwindet der Anreiz zu einem solchen abenteuerlichen Schritt.

Drittens wachsen entschieden die Möglichkeiten der friedlichen Beilegung eines Konfliktes oder der schnellen Eindämmung eines zufälligen oder nichtautorisierten Zwischenfalls.

Viertens wird das gegenseitige Vertrauen beträchtlich gestärkt.

Fünftens wären solche Maßnahmen geeignet, als Beispiel und auch als Versuchsfeld, vor allem auf dem Gebiete der Kontrolle und Überwachung zu wirken.

Es existieren also genügend Gründe, diese Initiativen fortzuführen und weiter zu entwickeln. Wir sind dazu bereit.

Gleichzeitig enthält die im Juli dieses Jahres veröffentlichte gemeinsame Initiative mit der SPD einen neuen noch weitergehenden Ansatz. Dieser besteht in dem Vorschlag, Maßnahmen zur Stärkung von Sicherheit und Vertrauen mit kooperativen Schritten zu verbinden.

Vertrauensbildende Maßnahmen

Es ist leider festzustellen, daß im militärischen und sicherheitspolitischen Bereich das System bi- oder gar multilateraler Strukturen in Europa sich erst in einem Anfangsstadium der Herausbildung befindet. Während solche Strukturen auf anderen Gebieten, z.B. der Wirtschaft, des Verkehrs usw. bereits z.T. seit langem existieren, gibt es sie auf dem Gebiet der Konfliktprophylaxe und Konfliktlösung, auf dem Gebiet der Bewertung militärischer Entwicklungen bisher kaum.

Erste Ansätze sind hinsichtlich der Vertrauensbildung mit Stockholm I entstanden. Nunmehr wird hoffentlich bald mit den Verhandlungen der 23 ein solches Gremium für konventionelle Abrüstung gebildet.

Aber für die Herbeiführung gemeinsamer Sicherheit reicht dies nicht aus. Notwendig wären zeitweilig oder auch ständig arbeitende Einrichtungen auf bi- oder multilateraler Basis, in denen erörtert werden könnten:

  • Fragen der Militärdoktrinen und der sich daraus ergebenden strategischen, operativen und anderen Vorstellungen;
  • Austausch von Informationen über sicherheitspolitisch wichtige Fragen, gemeinsame Erörterung und Bewertung daraus resultierender Probleme;
  • gemeinsame Auswertung der Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen und ihrer Ergebnisse in vereinbarten Gebieten;
  • schließlich gemeinsame Erörterung von Maßnahmen die verhindern, daß Vereinbarungen durch Modernisierungen unterlaufen werden und der Prozeß des qualitativen Wettrüstens ungebremst weiter geht.

Diese und andere Fragen bedürfen der Zusammenarbeit. In diese sind alle Staaten beider Bündnisse einzubeziehen, soweit es bündnisumfassende Fragen betrifft. Zugleich können regionale und bilaterale Probleme auf diesen Ebenen erörtert werden. Fortschritte im europäischen Entspannungs- und Abrüstungsprozeß bedürfen der Mitwirkung aller Staaten. Nur wenn ein Ausgleich zwischen allen Interessen auf demokratische Weise herbeigeführt wird, kann dieser Prozeß stabil und dauerhaft sein. Jeder Staat hat das Recht an der Erörterung und Regelung aller Fragen mitzuwirken, die ihn und sein Territorium betreffen. Das gilt auch für die Stationierung und die Verringerung eigener und verbündeter Streitkräfte auf seinem Territorium, ihre Verwendung und Dislozierung. Kooperative Strukturen, von einem gesamteuropäischen Konfliktverhütungszentrum bis zu ständigen direkten Verbindungen zwischen den Bündnissen und einzelnen Staaten, vor allem den Nachbarn auf beiden Seiten der Berührungslinie der Bündnisse, sollten aufgebaut werden. In solchen Strukturen wächst Vertrauen und Sicherheit auf kooperativer Basis intensiver als auf andere Weise. Damit könnten Wege zum besseren gegenseitigen Verständnis, und zum Verständnis der Lage entstehen. Die Bedingungen und Voraussetzungen für tiefgreifende Reduzierungen der Truppen und Rüstungen würden wesentlich verbessert. Kooperative Strukturen sind verwirklichte gemeinsame Sicherheit. Ihr Aufbau in Zentraleuropa ist an keine andere Bedingung geknüpft als an guten Willen. Es gibt keinen vernünftigen Grund, den schrittweisen Abbau solcher Strukturen abzulehnen.

Meines Erachtens ist es eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft, die ihrerseits vielfältige Erfahrungen auf diesem Gebiet besitzt, Vorstellungen und Vorschläge für solche kooperativen Schritte auszuarbeiten. Man könnte sich zum Beispiel denken, daß die Ergebnisse dieser Konferenz, der umfassende Nachweis der Kriegsunverträglichkeit der mitteleuropäischen Industriegesellschaften und ihre sicherheitspolitischen Konsequenzen, Grundlage für wissenschaftlichen, aber auch offiziellen Austausch und Erörterung zwischen den Staaten der Region bilden könnten.

Prof. Dr. Manfred Müller ist am Institut für Internationale Beziehungen (IIB) in Potsdam-Babelsberg (DDR) tätig.