Ukraine – eine Bilanz der Orangenen Revolution

Ukraine – eine Bilanz der Orangenen Revolution

von Kerstin Zimmer

Fünf Jahre nach der Orangenen Revolution fällt die Bilanz politischer und gesellschaftlicher Reformen in der Ukraine düster aus. Die anfängliche Euphorie und der Optimismus wichen Ernüchterung und Enttäuschung, da sich die hohen Erwartungen an die neuen Machthaber und ihre Reformvorhaben seitens der ukrainischen Bevölkerung und westlicher Politiker und Öffentlichkeiten nur in geringem Maße erfüllt haben. Stattdessen herrscht in der Ukraine seit geraumer Zeit eine politische Dauerkrise. Die Hauptgründe für die geringen Fortschritte bei der angekündigten Demokratisierung, Dezentralisierung und Annäherung an die Europäische Union (EU) sind primär im sowjetischen Erbe und in den post-sozialistischen Hinterlassenschaften der Kutschma-Ära zu suchen. Die Abhängigkeit von Russland in Energiefragen erschwert einen eigenständigen Entwicklungsweg.

Bis 2004 waren zwar die formalen Mindestanforderungen an eine Demokratie erfüllt, jedoch entwickelte sich unter Präsident Leonid Kutschma die Ukraine in einen neopatrimonialen Staat (Zimmer 2006). Der Präsident kontrollierte formell und informell viele Bereiche des politischen und wirtschaftlichen Lebens, indem er den formalen rechtlichen und administrativen Rahmen zum Machterhalt nutzte und auf erpresserische Methoden zurück griff (Darden 2001). Allerdings gelang der Übergang zum Autoritarismus aufgrund der Heterogenität des Landes und der politischen Elite nicht (Levitsky & Way 2002). Die Ukraine stellte vor allem wegen ihrer strategischen Lage mit Grenzen zur EU und zu Russland eine Herausforderung für die EU und die USA dar (Lane 2008). Nationale und internationale Geberorganisationen betrieben Demokratieförderung im Sinne von »soft power« (Nye 2004), um politische Präferenzen zu beeinflussen und einen Institutionenwandel herbeizuführen.

Die Präsidentschaftswahl im Herbst 2004 galt als Richtungswahl, bei der Manipulationen zu Gunsten von Wiktor Janukowytsch, dem von Kutschma designierten Nachfolger, allgemein erwartet wurden. Der erklärte Wahlsieg von Janukowytsch gegen Juschtschenko in der Stichwahl im November 2004 führte zu – in westlichen Fachkreisen und Öffentlichkeiten unerwarteten – Demonstrationen gegen den Wahlbetrug. In der Wiederholungswahl am 26. Dezember 2004 wurde Juschtschenko zum Präsidenten gewählt.

Während die westliche Öffentlichkeit und zahlreiche Autoren die Ereignisse als eine echte Volksrevolution (Karatnycky 2005; Kuzio 2005) und einen demokratischen Durchbruch (Åslund 2009) werteten, setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass hier Machtpolitik im Zentrum stand (Lane 2008). Was in den Medien als »Macht des Volkes« dargestellt wurde, war eine von Eliten gelenkte Demonstration. Die Bevölkerung war nicht zuletzt aufgrund von relativer Deprivation bereit, gegen das bestehende Regime zu protestieren. Das orangene Lager bot nicht nur eine öffentliche Kritik des Kutschma-Regimes, sondern auch eine Alternative dazu und löste das Problem des kollektiven Handelns durch die Bereitstellung von Infrastruktur und selektiven Anreizen für die Demonstranten (Tucker 2007). Die mittelfristigen Ergebnisse der »Revolution« sowie Bevölkerungsumfragen legen nahe, dass die Orangene Revolution ein »revolutionärer Staatsstreich« (Lane 2008) war, welcher sich durch eine starke Partizipation und Führungsrolle von Eliten auszeichnet sowie eine hohe Beteiligung der Bevölkerung – allerdings überwiegend als Zuschauer.

Der revolutionäre Staatsstreich war keine »nachholende Revolution«, die eine post-postkommunistische Phase (Kubicek 2009) einläutete. Entgegen aller Erneuerungsrhetorik waren die Kontinuitäten aus dem Kutschma-Regime und der Sowjetunion stark, vor allem hinsichtlich der politischen Kultur. Es kam zur teilweisen Elitenerneuerung, aber nicht zum Austausch der politischen Klasse oder gar tief greifenden sozialen und ökonomischen Reformen. Um das Kutschma-Regime gewaltlos abzulösen, war eine breite Koalition auch mit Akteuren aus dem alten Regime notwendig gewesen (Cheterian 2009). Zudem war das orangene Lager selbst eine heterogene Ansammlung nationalistischer, liberaler und linker Kräfte und umfasste auch Jugend- und Studentenorganisationen sowie Interessenvertretungen von Teilen der Oligarchen. Es handelte sich nicht um eine Fundamentalopposition, sondern um zumeist erfahrene Politiker aus der post-kommunistischen Phase. Nach dem Ende des Kutschma-Regimes fiel diese Zweckkoalition schnell auseinander und eine politische Dauerkrise, die bisweilen einem grotesken Politikspektakel gleicht, begann.

Institutionenbildung

Die Ende 2004 durch einen Aushandlungsprozess zwischen Kutschma und den orangen Kräften eilig beschlossene Verfassungsänderung trat Anfang 2006 in Kraft. Sie markiert den Übergang von einem faktisch super-präsidentiellen zu einem parlamentarisch-präsidentiellen System. Jedoch ist sie voller Widersprüche und lässt viele Bereiche ungeregelt. Notwendige Begleitgesetze und Ausführungsbestimmungen wurden nicht verabschiedet. Seit der Verfassungsänderung wählt das Parlament den Premierminister und die Mehrheit im Parlament stellt die Regierung. Außerdem wurde ein imperatives Mandat eingeführt, das Fraktionsübertritte verbietet. Jedoch bleiben dem Präsidenten verschiedene Machthebel, zum Beispiel Ernennung des Verteidigungs- und Außenministers sowie das suspensive Vetorecht gegen Parlamentsentscheidungen.

Die Verfassung legt keine wirklichen »Checks and Balances« fest (Cheterian, 2009). Vielmehr verursachen die unklaren Beziehungen zwischen der Präsidentschaft, der Regierung und dem Parlament Spannungen und tragen zur politischen Krise bei. Regierungschefin Tymoschenko und Präsident Juschtschenko nutzen die Ambiguitäten der Verfassung, um ihre Macht zu erweitern. Zudem werden Regeln und Gesetze missachtet, weil Kämpfe über die Regeln häufig Oberhand über politischen Wettbewerb innerhalb festgelegter Regeln gewinnen. Eine erneute Verfassungsreform ist unabdingbar, wobei Tymoschenko ein rein parlamentarisches System bevorzugt, während Juschtschenko die Kompetenzen des Präsidenten erweitern möchte und wiederholt versuchte, die Verfassungsrevision wieder rückgängig zu machen. Da beide danach trachten die bestehenden Rahmenbedingungen durch das Verabschieden passender Gesetze oder Erlasse zu den eigenen Gunsten zu verändern, ist die zukünftige Regierungsform noch unklar.

Korruption und Rechtsunsicherheit bleiben ein strukturelles Problem. Juschtschenko hat sein Versprechen, politische Verbrechen aufzuklären und „alle Verbrecher ins Gefängnis zu schicken“ nicht erfüllt. Stattdessen erhielten viele Akteure aus dem alten Regime Amnestie für ihren Wahlbetrug im Jahr 2004 und Immunität für Abgeordnete auf allen Ebenen, und die zweifelhaften Privatisierungen der Kutschma-Ära wurden nicht weiter untersucht. Die Oligarchisierung der Macht bleibt bestehen, viele Politiker haben ein finanzielles Interesse daran, den korrupten Status Quo aufrecht zu erhalten (Kubicek 2009) – und alle Parteien werden von mehr oder weniger reichen und einflussreichen Oligarchen unterstützt und finanziert.

Nationsbildung

Die in den westlichen Medien betonte Zweiteilung des Landes in eine ukrainisch-sprachige und nach Westen orientierte Westukraine und eine russischsprachige und nach Russland orientierte Ostukraine ist eine starke Vereinfachung und wird der Vielschichtigkeit regionaler Besonderheiten nicht gerecht. Dennoch gibt es unterschiedliche historisch geprägte Identitätskonzepte und politische Kulturen, die unter Kutschma nach dem Teile-und-Herrsche-Prinzip bewusst aufrecht erhalten wurden. Obwohl die Einigung des Landes ein Hauptziel Juschtschenkos war, gelang es ihm nicht, eine gesamtukrainische Identität zu kreieren. Vielmehr vertrat er eher zentral- und westukrainische politische Kräfte und Identitätsvorstellungen, vor allem vor den Parlamentswahlen 2006 und 2007. Dazu zählen die Förderung der ukrainischen Sprache, die Bewertung der Hungersnot der 1930er Jahre als Genozid sowie die Rehabilitierung der Ukrainischen Aufstandsarmee, die im Zweiten Weltkrieg gegen die Rote Armee kämpfte und mit Hitler-Deutschland kollaborierte (Šabiæ 2009). Daher stimmen Wähler in der Ost- und Südukraine eher für Partei der Regionen, weil diese ihre Interessen zu vertreten verspricht. Wahltaktiken und Populismus aller politischen Kräfte führen immer wieder zur Polarisierung der regionalen Bevölkerungsgruppen. Andererseits trägt die innere Gespaltenheit der Ukraine dazu bei, ein autoritäres Regime zu verhindern, da es keine Alternative zum Pluralismus gibt (Simon 2009).

Regierungsfähigkeit

Die Regierungsfähigkeit ist begrenzt, da permanente Regierungskrisen die politische Entscheidungsfähigkeit lähmen. Juschtschenko wurde im Januar 2005 Präsident und das Parlament bestätigte Tymoschenkos Kandidatur als Premierministerin im Februar 2005. Von Beginn an litt ihre Regierung an Uneinigkeit und institutionelle Konkurrenz zwischen dem Sekretariat des Präsidenten, der Regierung und dem Rat für Nationale Sicherheit und Verteidigung, die von rivalisierenden Politikern geleitet wurden, flammte auf. Im September 2005 führten gegenseitige Beschuldigungen der Bestechlichkeit zur Entlassung der Regierung Tymoschenko. Die Wahl der neuen Regierung unter Jurij Jechanurow war nur mit Unterstützung der von Janukowytsch geleiteten »Partei der Regionen« möglich, der im Gegenzug Amnestie für den Wahlbetrug 2004 und Immunität gewährt wurde. Im Januar 2006, nach dem »Gaskrieg« mit Russland, erhielt die Regierung Jechanurow ein Misstrauensvotum des Parlaments, blieb jedoch bis zur Wahl des neuen Premierministers Janukowytsch, dessen Partei als stärkste Kraft aus den Parlamentswahlen im März 2006 hervorgegangen war, im Amt. Im April 2007 löste Juschtschenko – wegen der verbotenen Fraktionsübertritte oppositioneller Abgeordneter – das Parlament auf und rief Neuwahlen aus, womit er eine Verfassungskrise auslöste, welche die Ukraine an den Rand gewaltsamer Auseinandersetzungen brachte. Nach Verhandlungen zwischen Juschtschenko und Janukowytsch wurden vorgezogene Parlamentswahlen für den 30. September 2007 festgelegt, doch wie schon 2006 trugen sie nicht zur Handlungsfähigkeit der Regierung(en) bei. Aber die Wahlen wurden als frei und fair eingeschätzt und alle relevanten politischen Kräfte akzeptierten das Ergebnis. Die »Partei der Regionen« erhielt 34,7%, der »Block Julija Tymoschenko« (BJuT) 30.71% und Juschtschenkos Wahlblock »Unsere Ukraine–Selbstverteidigung des Volkes« 14,61%. Die Bildung einer neuen Regierung gelang erst im Dezember 2007, als eine erneute orange Koalition zwischen BJuT und »Unsere Ukraine« unter der Regierungsführung von Tymoschenko zustande kam.

Doch 2008 war das Parlament zeitweise nicht arbeitsfähig, so dass wichtige Reformen und Entscheidungen blockiert wurden. Nach Monaten gegenseitiger Blockaden zerbrach die orangene Koalition im September 2008, nachdem BJuT – gemeinsam mit der oppositionellen »Partei der Regionen« – Gesetze verabschiedet hatte, die die Macht des Präsidenten begrenzen. Nach gescheiterten Versuchen der Regierungsbildung löste Juschtschenko am 8. Oktober 2008 das Parlament auf und kündigte Neuwahlen an. Aufgrund der akuten Finanz- und Wirtschaftskrise, von der die Ukraine besonders stark betroffen ist, wurden die Wahlen auf ungewisse Zeit verschoben und die Regierung Tymoschenko blieb im Amt. Verschiedene Versuche der Regierungsbildung blieben seitdem erfolglos.

Seit Anfang 2009 hat die Ukraine keinen Außenminister und keinen Verteidigungsminister, da Tymoschenko sie über das Parlament entlassen hatte, eine Ernennung jedoch zum Kompetenzbereich des Präsidenten zählt. Tymoschenko und Juschtschenko können sich nicht auf Nachfolger einigen. Auch die Minister für Transport, Inneres und Finanzen sind zurückgetreten. Das Parlament arbeitet zurzeit fast gar nicht, weil es blockiert wird.

Angesichts der Finanzkrise ist die geringe Handlungsfähigkeit der ukrainischen Regierung problematisch. In den letzten Jahren wurden viele Investitionen über kurzfristige Bankkredite finanziert. Da aufgrund der Liquiditätskrise keine neuen Kredite zur Verfügung stehen, kommt es zu Rezession, steigender Arbeitslosigkeit und verminderten Staatseinnahmen, so dass der Staatsbankrott droht. Ein Notkredit des IWF über 16,4 Milliarden Dollar war mehrfach gefährdet, weil die ukrainische Regierung entsprechende Bedingungen nicht erfüllte.

Vor den Präsidentschaftswahlen, die am 17. Januar 2010 stattfinden, sind keinerlei Reformschritte zu erwarten. Im Gegenteil ist zu befürchten, dass das Haushaltsdefizit steigt, um populistische Maßnahmen vor den Präsidentschaftswahlen zu finanzieren. Der aussichtsreichste Kandidat ist Janukowytsch, denn Tymoschenkos Ratings sinken und Juschtschenko ist chancenlos.

Der Faktor Russland

Seit der Orangenen Revolution haben sich die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland zunehmend verschlechtert. Ein Beispiel ist der Gaskonflikt, der im März 2005 begann, als Russland die Bedingungen für den Transit von Erdgas über ukrainisches Territorium nach Westeuropa sowie den Preis für ukrainische Erdgasimporte zu Gunsten marktorientierter Preispolitik neu festlegte. Seitdem wurde immer wieder neu verhandelt und die zeitweise Einstellung von Gaslieferungen in die Ukraine führte zu Lieferengpässen in verschiedenen europäischen Staaten. Der Konflikt ist nicht beigelegt, weil es auch um Interessen russischer und ukrainischer Wirtschaftsbosse geht. Juschtschenko bevorzugt die Abwicklung über Zwischenhändler, Tymoschenko direkte Verbindungen zwischen Gasprom und dem staatlichen Gasimporteur Naftohas Ukraina. Beide verhandelten getrennt mit der russischen Seite, die zunehmend die Premierministerin und den Präsidenten gegeneinander ausspielte. Schließlich setzte sich Tymoschenko durch. Eine Einmischung Russlands bei den ukrainischen Präsidentschaftswahlen deutet sich bereits an, wobei unklar bleibt, welche Ziele die russische Regierung verfolgt. Im Gegensatz zu 2004, als Moskau offen Janukowytsch unterstützte, legt man sich dieses Mal (noch) nicht auf einen Kandidaten fest, wobei Janukowytsch und Tymoschenko als Moskau-freundlich gelten.

Ein weiterer Streitpunkt ist die Halbinsel Krim, die in der Ukraine einen Autonomiestatus genießt und mehrheitlich von Russen bewohnt wird. Eine mögliche Abspaltung von der Ukraine wurde nach dem Georgien-Krieg wieder Thema, auch wenn Russland die Separatisten offiziell nicht unterstützt. In der Hafenstadt Sewastopol ist die russische Schwarzmeerflotte stationiert. Die ukrainische Führung will den bis 2017 laufenden Stationierungsvertrag nicht verlängern. Der russische Präsident Dmitrij Medwedew brachte ein Gesetz in die Staatsduma ein, das den Auslandseinsatz der russischen Armee erlaubt, unter anderem zum Schutz russischer Bürger im Ausland. In der Ukraine befürchtet man, das Gesetz könne als Vorwand für eine Intervention auf der Krim genutzt werden.

In einem offenen Brief an Juschtschenko warf Medwedew im August 2009 der Ukraine zahlreiche „Fehlleistungen“ vor und drohte mit Konsequenzen. Die Ukraine sei den im Vertrag von 1997 festgelegten Prinzipien von Freundschaft und Partnerschaft untreu geworden und habe im Georgien-Konflikt eine anti-russische Haltung bezogen. Zudem bezichtigte er die ukrainische Führung des Abbruchs ökonomischer Beziehungen und der Verletzung von Eigentumsrechten russischer Investoren. Schließlich betreibe die Ukraine eine anti-russische Geschichtspolitik und verfolge „stur“ eine NATO-Mitgliedschaft, die mit einer – nicht existenten – russischen Bedrohung begründet würde. Erst nach den Präsidentschaftswahlen werde wieder ein russischer Botschafter nach Kiew entsandt. Juschtschenko versuchte die Vorwürfe zu entkräften und ukrainische Intellektuelle richteten einen offenen Brief an die Parlamente, Regierungen und Völker der Welt, in dem sie auf die Bedrohung aufmerksam machen und Unterstützung einforderten. Bislang sind Reaktionen ausgeblieben.

Das Verhalten der russischen Regierung erklärt sich unter anderem durch die politische Verhärtung in Russland und das »post-imperiale Syndrom«. Die russische Führung kann die Unabhängigkeit des »slawischen Brudervolkes« nicht akzeptieren und nutzt ökonomische und andere Mittel, um die Ukraine wieder in den eigenen Einflussbereich zu zwingen. Nach dem Wiedererstarken Russlands kommt es zudem zur Konkurrenz der Transformationsmodelle (Härtel 2009). Russland ist erstarkt, ökonomisch weitgehend stabil und politisch zunehmend autoritär. Die Ukraine ist – wie deutlich geworden ist – instabil, dafür aber relativ pluralistisch und frei. Russland will dieses Konkurrenzmodell nicht dulden und fördert dessen Scheitern und desavouiert es im eigenen Land.

Nach der Orangenen Revolution war die Mitgliedschaft in der Europäischen Union das erklärte Ziel Juschtschenkos. Inzwischen gibt es ein Freihandelsabkommen, die Reisemöglichkeiten für Ukrainer wurden erleichtert und seit 2007 wird über ein vertieftes Abkommen verhandelt. Im September 2008 beschlossen die Ukraine und die EU ein Assoziierungsabkommen, das bis Ende 2009 unterzeichnet sein soll; und im Mai 2009 trat die Ukraine der Östlichen Partnerschaft bei. Weitere Annäherungen sind möglich, aber aufgrund der unberechenbaren ukrainischen Innenpolitik ist eine Beitrittsperspektive in weite Ferne gerückt. Die Haltung der EU gegenüber der Ukraine bleibt nebulös. Vor allem Deutschland und Frankreich wollen aus Rücksichtnahme auf Russland keine EU-Mitgliedschaft der Ukraine und bleiben auch angesichts der Krise und russischer Drohgebärden ruhig.

Schlussfolgerungen

Viele angekündigte post-orange Reformen haben nicht stattgefunden und die Kampflinien zwischen verschiedenen politischen Gruppierungen sind wieder verschwommen. Der formale Rahmen wird wiederholt instrumentalisiert und ausgehöhlt, ohne dass das System als solches in Frage gestellt wird. Zumindest hat die Orangene Revolution die Restauration autoritärer Macht verhindert, und das Chaos und die Heterogenität der Landesteile und der politischen Elite in der Ukraine verhindern dies weiterhin. Mit Russland ist keine gleichberechtigte Partnerschaft möglich. Eine EU-Integration ist aufgrund innenpolitischer Faktoren und der Haltung mehrerer EU-Staaten mittelfristig unwahrscheinlich. Daher wird die Ukraine ihrer Randlage1 vorerst nicht entkommen können.

Literatur

Åslund, Anders (2009): How Ukraine Became a Market Economy and Democracy. Washington: Peterson Institute for International Economics.

Cheterian, Vicken (2009): From Reform and Transition to »Coloured Revolutions«, in: Journal of Communist Studies and Transition Politics 25:2, S.136-160.

Darden, Keith A. (2001): Blackmail as a Tool of State Domination: Ukraine under Kuchma, in: East European Constitutional Review 10:10.

Härtel, André (2009): Gezwungen zur Bruderschaft? Zum Stand der ukrainisch–russischen Beziehungen, in: Ukraine-Analysen Nr. 60, S.17-20.

Karatnycky, Adrian (2005): Ukraine‘s Orange Revolution, in: Foreign Affairs 84:2, S.35-52.

Kubicek, Paul (2009): Problems of Post-Post-Communism: Ukraine after the Orange Revolution, in: Democratization 16:2, S.323-343.

Kuzio, Taras (2005): Ukraine‘s Orange Revolution. The Opposition‘s Road to Success, in: Journal of Democracy 16:2, S.117-130.

Lane, David (2008): The Orange Revolution: »People‘s Revolution« or Revolutionary Coup?, in: British Journal of Politics and International Relations 10:4, S.525-549.

Levitsky, Steven & Way, Lucan (2002): The Rise of Competitive Authoritarianism, in: Journal of Democracy 13:2, S.51-65.

Nye, Joseph S. (2004): Soft Power: The Means to Success in World Politics. New York: Public Affairs.

Šabiæ, Claudia (2009): Wer spaltet die Ukraine? Über die Wandlungsresistenz neopatrimonialer Systeme, in: Tr@nsit online.

Simon, Gerhard (2009): After the Orange Revolution: The Rocky Road to Democracy, in: Juliane Besters-Dilger (ed.): Ukraine on Its Way to Europe. Interim Results of the Orange Revolution, Frankfurt: Lang: S.13-26.

Tucker, Joshua A. (2007): Enough! Electoral Fraud, Collective Action Problems, and Post-Communist Colored Revolutions, in: Perspectives on Politics 5:3, S.535-551.

Zimmer, Kerstin (2006): Machteliten im ukrainischen Donbass. Bedingungen und Konsequenzen der Transformation einer alten Industrieregion. Münster: LIT.

Anmerkung

1) Ukraine heißt wörtlich übersetzt: am Rande.

Dr. Kerstin Zimmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie und am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg. Zurzeit vertritt sie eine Professur an der Universität Kassel.

Zur Zukunft des Nationalismus in Europa

Zur Zukunft des Nationalismus in Europa

Unvollendeter Nationenbau oder postnationale Gesellschaft?

von Rainer Bauböck

Wie Eric Hobsbawm in seinem jüngsten Buch über Nationen und Nationalismus feststellt, gibt es einen Konsens der neueren Literatur zu diesem Thema, daß Nationen Phänomene der Moderne, genauer gesagt der letzten zweihundert Jahre sind und nur in ihrem Bezug auf den modernen bürokratisch verwalteten Territorialstaat bestimmt werden können. „Nicht Nationen bilden Staaten und Nationalismen, sondern umgekehrt.“ (Hobsbawm 1990, S.10, ähnlich Krippendorff 1985, S.301).

Ferner besteht weitgehende Einigkeit, daß eine Definition von Nationen anhand einer Liste objektiver Merkmale wie Sprache, Territorium, gemeinsame Abstammung, Wirtschaftsgemeinschaft etc., wie sie z.B. von Stalin 1913 formuliert wurde, unmöglich ist. Subjektive Definitionen der Nation als politische Willensgemeinschaft wiederum setzen tautologisch voraus, was zu erklären ist – die Herausbildung einer nationalen Gemeinschaftsidee (Bauböck 1991).

Nationalismus ist für Ernest Gellner (1983/1990) die Forderung nach der Übereinstimmung von kulturellen und staatlichen Grenzen. Benedict Anderson untersucht die Entstehungsbedingungen von Nationen als „imaginierten Gemeinschaften“ (Anderson 1983/1988). Etienne Balibar und Immanuel Wallerstein befassen sich in ihrem Dialog mit der Frage, wie im Rahmen eines kapitalistischen Weltsystems die „Konstruktion von Völkern“ mit den Kategorien der Rasse, der Nation und der Ethnizität erfolgt. (Balibar/Wallerstein 1988/1990). Bei aller Verschiedenheit des Zugangs teilen diese Autoren eine Überzeugung. Das Rätsel der Nation entspringt aus einer falsch gestellten Frage. Es läßt sich erst lösen, wenn sie nicht lautet: Wie erzeugen die zuvor bestehenden religiösen und ethnischen Kulturgemeinschaften die moderne Nation, sondern umgekehrt: Wie erzeugt der moderne Staat jene Kulturgemeinschaft und jene historischen Traditionen, durch die er sich selbst als Nation legitimiert? Gellners Antwort darauf scheint mir die bisher überzeugendste: Die soziale Arbeitsteilung in der industrialisierten Gesellschaft bedingt eine Homogenisierung von Kultur in nationalen Standardsprachen, welche in erster Linie durch ein staatliches Bildungssystem herbeigeführt wird. Dies bedingt auch eine grundlegende Veränderung der Legitimation politischer Ordnung.

In der für den modernen Nationalstaat charakteristischen Vorstellung, daß das Volk der Souverän der politischen Ordnung sei, wird dieses Volk immer auch als Kulturgemeinschaft gedacht (in pluri-nationalen Staaten als gegenüber Außenstehenden exklusive Föderation mehrerer Kulturgemeinschaften). Souveränität im Nationalstaat ist daher auch nicht an das demokratische Legitimationsprinzip der Partizipation auf der Grundlage gleicher Rechte gebunden. Dieser Widerspruch zwischen demokratischer und nationaler Selbstbestimmung ist der rote Faden des folgenden Essays. Er soll zunächst durch das Labyrinth der neuen nationalen Ideologien und Kämpfe führen und am Ausgang in einige theoretische und politische Folgerungen eingeflochten werden.

Symptome einer postnationalen Epoche

Hobsbawm deutet den Aufschwung der Nationalismus-Forschung in den letzten 20 Jahren als Signal eines historischen Niedergangs des analysierten Phänomens. Solange er wirksam war, hielt der Mythos der Nation auch seine politischen Gegner, die Internationalisten und Kosmopoliten gefangen. Erst wenn er seine Kraft verliert, können wir ihn als Mythos begreifen und überwinden. Es gibt auch andere und weniger esoterische Symptome einer zunehmend postnationalen Entwicklung, die jedoch von Gegentendenzen begleitet werden.

Die Rolle von Nationalstaaten in der Weltökonomie hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg tiefgreifend verändert. Gab es zuvor einen breiten Konsens, daß ein Minimum an Bevölkerung, Territorium und materiellen Ressourcen unerläßlich sei für die Lebensfähigkeit eines Staates, so hat sich seither eine neue Arbeitsteilung entwickelt, in der nicht mehr Nationalökonomien die zentrale Rolle einnehmen, sondern „global cities“ (Saskia Sassen 1991), die zu Drehscheiben weltweiter Ströme von Kapital, Waren, Dienstleistungen, Informationen und auch Arbeitsmigrationen werden. Es könnte sein, daß die Epoche der internationalen Struktur des ökonomischen Weltsystems nur eine Phase zwischen den transnationalen Strukturen des 16.-18. Jahrhunderts und der Gegenwart war (Hobsbawm 1990, S.174f.).

Paradoxerweise begünstigt jedoch gerade dieser ökonomische Bedeutungsverlust des Nationalstaats die Proliferation von Nationalismen. Schon in der Phase der Dekolonisierung nach 1945 konnten beliebige, nach rein administrativen Gesichtspunkten durch die Kolonialmächte gezogene Grenzen durch Befreiungsbewegungen zu nationalen umgedeutet werden. Wenn heute in Osteuropa die Ansprüche auf kollektive Selbstbestimmung von den ökonomischen Bedingungen ihrer Einlösung entkoppelt werden, so ermöglicht dies zugleich die Vervielfältigung dieser Ansprüche. Erfolg oder Scheitern hängt dann nur mehr von politischen und militärischen Machtverhältnissen ab. Die Kettenreaktion kommt erst dann zum Stillstand, wenn die verbleibenden Minderheiten zu schwach sind, um ihrerseits souverän zu werden oder sich einem Mutterland anzuschließen.

Der Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts hatte seine Grundlage nicht nur in der ökonomischen Struktur des Weltsystems, sondern auch in der internen sozialen Transformation industrieller Gesellschaften. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts beobachten wir jedoch gerade in den Metropolen Zerfallserscheinungen nationaler Kulturgemeinschaften und ihrer institutionellen Voraussetzungen: die ideologische Kritik und partielle Rücknahme der wohlfahrtsstaatlichen Regulierung des Kapitalismus; eine Aufweichung des staatlichen Bildungsmonopols mit sozialen und kulturellen Segregationstendenzen in den Grundschulen; einen Funktionsverlust von Grundbildung und standardisierter Kommunikation für die unteren Segmente eines zersplitterten Arbeitsmarktes; die Subkulturalisierung von Mehrheitsbevölkerungen und dauerhafte kulturelle Grenzziehungen gegenüber zugewanderten Minderheiten.

Die Zersetzung der institutionellen Grundlagen des Nationalismus bewirkt jedoch noch nicht sein Verschwinden, sondern eine Verwandlung seiner Manifestationen: Er wird zunehmend negativ definiert, d.h. als Abgrenzung gegenüber Fremdgruppen, wobei die inneren von größerer Bedeutung sind als die externen. Er verbindet sich mit einem politischen Populismus, welcher gegen die technokratische Legitimation politischer Entscheidungen gerichtet ist, aber wenn er zur Macht kommt, selbst das technokratische Modernisierungsprogramm exekutiert (siehe Schedler 1991). Nationalismus wird solange nicht überwunden werden, als er nicht durch ein anderes Legitimationsprinzip politischer Ordnung ersetzt werden kann.

Europäische Ungewißheiten

Noch nie seit 1945 schien die zukünftige politische Gestalt Europas so ungewiß wie jetzt. In politischen Feuilletons ebenso wie in halbamtlichen Dokumenten finden sich drei ganz verschiedene Skizzen für den Umbau.

  • Erstens ein geeintes Europa vom Atlantik bis zum Ural, in dem staatliche Grenzen an Bedeutung verlieren und Nationalismus die harmlosere Gestalt des Regionalismus annimmt.
  • Zweitens ein solches postnationales Europa im Westen innerhalb einer um die EFTA-Staaten erweiterten EG bei gleichzeitiger Desintegration des ehemaligen Ostens in zahlreiche nationale Kleinstaaten und Verwandlung dieser größeren Hälfte in einen halbkolonialen Hinterhof des reichen Westens.
  • Drittens die Verkleinstaatlichung ganz Europas, bei der die Krise des Ostens in den Westen überschwappt und zu einem neuen Gleichgewicht auf der Basis der Selbstbestimmung aller Nationalitäten unabhängig von ihrer Größe führt.

Die Unsicherheit über die Zukunft Europas speist sich aus zwei Quellen: Erstens aus der Ungewißheit, welches dieser Szenarien das wahrscheinlichste ist; zweitens aus der Uneinigkeit, welches darunter das wünschbarste wäre. Was für die einen eine Horrorvision ist, gilt den anderen als bessere Zukunft. Der europäische Umbruch hat die These vom Ende der Geschichte gründlich widerlegt, aber zugleich jene vom Ende der abendländischen Geschichtsphilosophie ebenso gründlich bestätigt. Wir können nicht mehr an ein durch den Sinn der Geschichte verbürgtes Ziel glauben, aber zugleich scheint auch ein spätaufklärerischer Konsens abhanden gekommen zu sein, daß die Überwindung des Nationalismus ein erstrebenswertes Ziel sei. Wenn allerdings die Teleologie nicht nur aus der Geschichtsdeutung, sondern auch aus der politischen Praxis verschwindet, dann ist die Zukunft nicht nur ungewiß, sondern wird zum unbeeinflußbaren Schicksal.

Self-accelerating prophecies

Die Verwirrung im Westen wie im Osten Europas hält sich allerdings in Grenzen – jenen, die durch die Trennlinie der beiden Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme vorgegeben war. Westlich davon dominiert die Grundüberzeugung, daß die europäische Vereinigung ein unumkehrbarer Prozeß sei, östlich davon die gegenteilige, daß die Kettenreaktion der Verselbständigung von Nationalitäten zu Nationalstaaten kaum gebremst werden kann. Insofern scheint das zweite der eingangs skizzierten Szenarien einer Addition der Stimmungen in beiden Hälften Europas zu entsprechen.

Dies könnte zu einer self-fulfilling prophecy werden. Solche Vorhersagen werden von manchen auch in der Absicht gemacht, dieses Resultat herbeizuführen. Ein befriedetes, aber erschöpftes und in ökonomisch impotente Kleinstaaten zersplittertes Osteuropa, das keinerlei internationale Verhandlungsmacht einzubringen hat, würde durchaus ein geeignetes Hinterland für ein prosperierendes und geeintes Westeuropa abgeben. Aber auch jene Propheten, welche auf die sich selbst erfüllende Wirkung ihrer Voraussagen vertrauen, könnten sich als Zauberlehrlinge wiederfinden: Gerade das Eintreffen der Erwartung kann den Prozeß jeder Steuerung entziehen.

Dieses Paradox möchte ich als selfaccelerating prophecy bezeichnen. Die Vereinigung Deutschlands kann als Exempel für eine solche modernisierte Variante der self-fulfilling prophecy angeführt werden. Die nationalistische Umdeutung der Demokratiebewegung vom »Wir sind das Volk« zum »Wir sind ein Volk« erzeugte erst den Konsens, „daß zusammenwachsen muß, was zusammen gehört“. Die Folge dieser Prophezeiung war nicht nur ihre Erfüllung, sondern eine Beschleunigung ihrer Einlösung, welche eine technokratisch rationale Steuerung dieses Prozesses weitgehend außer Kraft setzte. Genau umgekehrt verläuft die Entwicklung in Mittel-Süd-Ost-Europa. Die Erwartung eines unaufhaltsamen Zerfalls des Sowjetimperiums und des titoistischen Staates weckte die nationalistischen Geister, welche diesem Zerfall einen neuen Sinn unterlegen: jenen der Selbstbestimmung der so lange unterdrückten Völker. Dies setzte jedoch eine Dynamik in Gang, die vor keinen einmal etablierten staatlichen Grenzen Halt macht, wenn ihr nicht mit den Mitteln der gewaltsamen Unterdrückung von Minderheiten Einhalt geboten wird. Die daraus entstehende Ordnung ist um nichts gerechter oder weniger konfliktträchtig als die alte, nicht einmal gemessen an jenem Selbstbestimmungsrecht, in dessen Namen sie erzwungen wird.

Die mathematische Chaos-Forschung hat illustriert, daß Rückkoppelungsprozesse, wie sie der self-accelerating prophecy zugrunde liegen, unter Umständen auch zu völlig unvorhersehbaren Resultaten führen. Eine solche fatale Schleife wird erzeugt, wenn die jeweils dominierenden Erwartungen zur Grundlage von Vorhersagen über die europäische Entwicklung gemacht werden, welche ihrerseits die politischen Handlungsorientierungen beeinflussen.

Zu den Rückkoppelungsprozessen kommen als weitere Beiträge zur Verunsicherung von Zukunft auch noch Interaktionseffekte hinzu. Das Senario der getrennten Entwicklungswege berücksichtigt nicht, daß bereits der Zusammenbruch der spätstalinistischen Ordnung auch ein Ergebnis verstärkter Wechselwirkungen zwischen West und Ost war. Vor allem die von west- wie osteuropäischen Regierungen in den 80er Jahren gemeinsam betriebene Politik der Verschuldung hatte den doppelten Effekt der Verringerung innerer ökonomischer Reserven und der Verstärkung äußerer politischer Abhängigkeit. Daß auf die jetzige Phase der rapiden Umbrüche ein neuer Isolationismus folgt, ist schwer vorstellbar. Aber ob die fast zwangsläufig zunehmende Interaktion zwischen West und Ost einen stabilisierenden oder destabilisierenden Einfluß auf die Gesamtentwicklung haben wird, ist keineswegs schon ausgemacht.

Die Feststellung, daß die Verwirrungen über die Zukunft innerhalb beider Teile Europas sich in Grenzen halten, hilft uns also nicht besonders weiter. Die Unsicherheit wird verschärft durch die weitere Feststellung, daß die Verwirrungen über die Vergangenheit und die Ursachen der jetzigen Krise grenzenlos scheinen, vor allem wenn man als »Beobachter zweiter Ordnung« den westlichen Blick nach Osten analysiert. Um einen kleinen Beitrag zur Entwirrung zu leisten, soll im folgenden versucht werden, drei Erklärungsmuster für das Aufleben des Nationalismus in Mittel-Süd-Ost-Europa zu unterscheiden, die m.E. in der Reihenfolge ihrer Präsentation an Verbreitung ab-, aber an Plausibilität zunehmen.

Kühltruhe, Dampfkessel oder Akzelerator

Die gängigste Erklärung möchte ich als Kühltruhentheorie bezeichnen. Sie geht davon aus, daß der Nationalismus eine urtümliche Kraft im gesellschaftlichen Leben sei, die zwar vorübergehend unterdrückt werden kann, aber zusammen mit einer Befreiung von Diktatur sich unweigerlich von neuem manifestieren muß. Der Stalinismus habe den Nationalismus also nur vorübergehend eingefroren und damit ein Auf- und Abarbeiten dieser Primärenergie verhindert. Was wir jetzt erleben, sei einfach das Wiederanknüpfen an einer 1917 bzw. 1945 unterbrochenen Entwicklung. Diese These stützt sich auf eine noch immer nicht ausgerottete Variante der Geschichtsphilosophie, jene, die in Deutschland von Herder begründet wurde und deren ursprünglich demokratischer Gehalt in zwei Jahrhunderten eliminiert worden ist. Es ist die Vorstellung, daß Völker das Subjekt der Geschichte seien und ihre Befreiung in Form der Eigenstaatlichkeit nicht nur das Ziel, sondern auch ein unaufhaltsamer Prozeß sei.

Außer von jenen, die einen neuen Völkerfrühling im Osten spüren, wird die Tiefkühltheorie meist mit einer spezifischen Rückständigkeit des Ostens in Zusammenhang gebracht. Demnach hätte der Westen durch die fortgeschrittene industrielle Entwicklung unter demokratischem und kapitalistischem Vorzeichen nach den heftigen Krisen der 30er und 40er Jahre endlich zu einer abgeklärten Form des Nationalismus gefunden, in welcher die Gewalt der Eruptionen gerade dadurch verringert wird, daß die Grundforderung »ein Volk – ein Staat – eine Kultur« im wesentlichen erfüllt sei. Im Osten und Südosten dagegen stünden eben noch einige Flurbereinigungen aus.

Eine optimistische Variante dieser Auffassung könnte als Latenzzeit-These bezeichnet werden. Nach Freud knüpft die Persönlichkeitsentwicklung in der Pubertät nicht einfach an den frühkindlichen Erfahrungen an; die in der Latenzphase verdrängte Sexualität bricht nun in neuen Formen hervor, um schließlich in einen Reifungsprozeß zu münden. Ebenso sei der osteuropäische Nationalismus nach der Unterbrechung durch den Stalinismus zwar kaum weniger gewalttätig, aber gleichzeitig doch reifer geworden. Als Indikator dafür dient der Umstand, daß die neuen populistischen oder auch extrem autoritären Kräfte immerhin durch demokratische Wahlen an die Macht gespült worden seien. Darin und im gesamteuropäischen Integrationsprozeß wird oft eine Art institutionelle Garantie für eine zunehmend ruhigere Entwicklung gesehen. In der Sicht der Latenzzeit-These hätte die stalinistische Diktatur nicht nur die nationalen Triebe unterdrückt, sondern mit ihren massenhaften Vertreibungen bis hin zum Genozid an manchen Nationalitäten sogar bessere Voraussetzungen für eine dauerhafte Lösung durch die Separierung der Völker in Staaten geschaffen.

Gärung im Kessel, Feuer unter dem Topf

Die Dampfkessel-Theorie teilt mit der Tiefkühlthese die Grundannahme einer nationalen Urkraft. Sie argumentiert jedoch anders hinsichtlich des Einflusses, den der Stalinismus gehabt hat, und gelangt zu wesentlich pessimistischeren Schlüssen. In dieser Perspektive bewirkte die Phase des bürokratischen Staatsmonopolismus kein Einfrieren, sondern ein Aufstauen der alten Nationalismen: Erst dadurch hätten sie die jetzt beobachtete Explosivität erhalten. Dies setzt ein differenzierteres Bild der Gesellschaft in der stalinistischen Phase voraus. Zwar hat es keine entwickelte Zivilgesellschaft gegeben, aber in der Privatsphäre der informellen Netze und Beziehungen konnten sich die ethnischen Traditionen behaupten und sogar entwickeln, um nun als Nationalismen neu in Erscheinung zu treten. Unterschwellige Gärung hat also die innere Hitze vergrößert. Zusätzlich heizte der Stalinismus auch das Feuer an, auf dem der Kessel stand. Jetzt ist der Deckel weggeflogen und der Topf quillt über.

In ihren öffentlichen Manifestationen war die Herrschaft der Kommunistischen Parteien eine Schule in brutaler Machtpolitik von oben, durch welche als Beteiligte oder als Opfer auch die jetzigen politischen Führungen der unterdrückten Nationalitäten gegangen sind. Die Masse der Bevölkerung sei gleichzeitig durch realsozialistische Sozialisation zu Passivität, Unmündigkeit und Mitläufertum erzogen worden. Die Ausbrüche der neuen Xenophobie in Ostdeutschland wurden besonders gerne mit einem eigenen stalinistischen Sozialisationstyp erklärt, bis sich Hoyerswerda im Westen wiederholte und zuvor nicht beachtete Untersuchungen zeigten, daß das rassistische Potential in den alten Bundesländern mindestens ebenso groß ist wie in den neuen.

In der Reihenfolge Kühltruhen-, Latenzzeit- und Dampfkessel-These steigt jeweils die Bedeutung der jüngeren Vergangenheit für die Erklärung der Gegenwart. Allen diesen Erklärungen ist jedoch die Annahme gemeinsam, daß der Urgrund des Nationalismus letztlich zeitlos sei oder in einer fernen stammesgeschichtlichen Vergangenheit liege. Es gibt in dieser Sicht einen uneingelösten Wechsel der Geschichte und es scheint nur eine Frage der Zeit und günstigen Gelegenheit, wann er präsentiert wird. Die Oberflächenerscheinung, daß sich die osteuropäischen Nationalismen als unbefriedigte Ansprüche von Völkern auf Selbstbestimmung äußern, wird zur einzig relevanten Ursache umgedeutet. Dabei ist doch nicht nur erklärungbedürftig, warum diese Ansprüche gerade jetzt so heftig geltend gemacht werden, sondern auch unter welchen Bedingungen sie überhaupt entstehen.

Statt nun diese Ideen ausführlicher zu kritisieren, will ich im folgenden nur zwei Aspekte skizzieren, die von ihnen ausgeblendet werden, aber m.E. entscheidend zum neuen Nationalismus beitragen.

Neue Eliten auf Staatssuche

Der erste Aspekt bezieht sich auf eine Neubewertung der stalinistischen Regime, so daß diese nicht nur als Unterdrücker, sondern zugleich als Wegbereiter der gegenwärtigen Nationalismen erkennbar werden.

Die bürokratischen Diktaturen haben von Anfang an oder relativ kurz nach der Unterdrückung aller revolutionär-demokratischen Bewegungen und Experimente zu einer Stagnation der politischen Entwicklung geführt, welche die Entfaltung einer vom Staat unabhängigen Zivilgesellschaft verhinderte. Dennoch fand in dieser Epoche die bis dahin umfassendste Transformation dieser Gesellschaften in sozioökonomischer Hinsicht statt. Die staatlich forcierte Industrialisierung, die Kollektivierung der Landwirtschaft (mit der einzigen Ausnahme Polens), die massive Verstädterung, das Aufbrechen traditioneller Familienstrukturen durch allgemeine Lohnarbeit der Frauen, die wechselseitige ökonomische Abhängigkeit früher fast autarker Regionen, all das zerstörte die Voraussetzungen für ein Überleben der alten agrarischen Volkskulturen ebenso gründlich wie es die industriellen Revolutionen im Westen getan hatten. Allerdings erwies sich nach anfänglichen, um den Preis des Massenterrors erzielten Erfolgen die zentralstaatliche bürokratische Steuerung als Hemmschuh für eine zweite, »qualititative« Industrialisierung. Das Grundproblem war nicht die Unfähigkeit, High Technologies zu entwickeln, sondern die Lähmung der Gesellschaft durch eine vertikale Kommandostruktur, welche die Umsetzung von Produktivitätssteigerungen in wachsenden Wohlstand verhinderte. Dies mündete in der Breschnew-Ära in eine ökonomische Stagnation, welche schließlich die sozialen Grundlagen der Regime unterminierte.

AII das ist wohlbekannt. Weniger beachtet wird jedoch, daß es zumindest ein Gebiet gibt, auf dem in allen diesen Staaten bis in die 80er Jahre hinein Erfolgsbilanzen vorgewiesen werden konnten – dies ist die Bildungspolitik. Über der Kritik an der ideologischen Orientierung wird meist vergessen, daß außer in Ostdeutschland, der Tschechoslowakei und Polen diese Gesellschaften vor der stalinistischen Machtübernahmen von weit verbreitetem Analphabetismus geprägt waren. In dieser Hinsicht wurde im Osten unter »realsozialistischem« Vorzeichen wiederholt, was im Westen Europas einige Dekaden zuvor unter kapitalistischem geschehen war.

Erstens schuf die Massenerziehung in standardisierten Schriftsprachen überhaupt erst eine potentielle Basis für nationale Kommunikationsgemeinschaften und politische Bindungen zwischen Bildungseliten und den breiteren Bevölkerungsschichten. Gemessen an diesem starken und vom Gesellschaftssystem ziemlich unabhängigen Struktureffekt ist die Wirkung der jeweiligen ideologischen Indoktrination offensichtlich von geringerer Bedeutung. Zweitens wurde Bildung in den Gesellschaften sowjetischen Typs, in denen die persönliche Akkumulation von Kapital unterdrückt war, noch stärker als im Westen zum wichtigsten symbolischen Kapital der Aufstiegsorientierten. Drittens wurden durch die staatlich gelenkten Bildungssysteme auch die internen kulturellen Differenzen als territoriale zwischen Nationalitäten neu definiert.

Die explosiven Folgen dieser Politik kommen nun am stärksten dort zum Ausdruck, wo der Staat selbst als Föderation von Nationalitäten definiert worden war, also in Jugoslawien, in der Sowjetunion und nach 1968 in der CSSR. Die strikte Unterordnung aller lokalen Zweige des Machtapparats unter die Zentrale ging Hand in Hand mit der Förderung und Privilegierung lokaler Eliten und einer gleichzeitig anhaltenden ethnischen Durchmischung der Peripherien. In der Sowjetunion wurde innerhalb jeder Republik der namensgebenden ethnisch-nationalen Gruppe ein Vorrang beim Zugang zu den Bildungseinrichtungen ebenso wie zu den lokalen Machtapparaten eingeräumt. Das interne Paßsystem regulierte die Mobilität zwischen Regionen und vor allem den Zuzug in die Großstädte und schrieb gleichzeitig die Nationalität jeder Person fest. Die kombinierte Wirkung beider Maßnahmen war aber nicht eine ethnische Homogenisierung, sondern vielmehr eine künstliche Schichtung der Bürger nach Nationalität innerhalb jeder politischen Region. (Zaslavsky 1991, S.12 ff.). Diese Widersprüche mußten aufbrechen, sobald die mittels der Partei ausgeübte politische Kontrolle der Zentralmacht zusammenbrach. Das »Teile und Herrsche« der Stalinschen Nationalitätenpolitik schuf die Voraussetzungen dafür, daß die Herrschaft schließlich jenen zufiel, die sich ihrer im Namen der Teile bemächtigen konnten.

In diesem politischen Kontext wurden also Bildungseliten geschaffen, die mit der Bevölkerung innerhalb ihrer Nationalkulturen kommunizieren konnten. Ein Teil davon suchte den Zugang zur politischen Macht durch Integration in die Nomenklatura, in deren Hierarchie jedoch keine nationalen Sonderinteressen toleriert wurden. Ein anderer blieb frustriert vom Zugang zur politischen Herrschaft ausgesperrt. Es ist keineswegs verwunderlich, daß im Prozeß des Umbruchs die Machtansprüche beider Schichten in der Sprache des Nationalismus formuliert wurden, denn im Rahmen eines demokratisierten, aber weiterhin zentralisierten politischen Systems wie es wohl Gorbatschows Projekt war, hätten die meisten von ihnen nur untergeordnete Plätze einnehmen können. Die Multiplikation autonomer Staatsapparate ist zwar vom Standpunkt ökonomischer Rationalität im Übergang zur Marktwirtschaft aus gesehen widersinnig, aber die Forderung nach nationaler Souveränität für die jeweils eigene Gruppe ergibt als Strategie zur Maximierung der Macht dieser neuen Gruppen durchaus Sinn.

Die gegenwärtigen Nationalismen sind also nicht einfach ein Ergebnis der Demokratisierung nach einer Phase der Unterdrückung; sie knüpfen vielmehr an Ansprüche auf nationale Autonomie an, die sich zumindest in papierener Form schon innerhalb der stalinistischen Regime Legitimität verschaffen konnten. Gemeinsamkeiten der Sozialstrukturen und der Nationalitätenpolitik im sowjetischen Machtbereich zeigen sich heute darin, daß in allen Regionen und Staaten nationalistische Potentiale aktiviert und linksliberale und demokratische Strömungen an den Rand gedrängt wurden. Die beträchtlichen Unterschiede zwischen den Manifestationen der Nationalismen haben weniger mit dem politischen Erbe als mit dem ökonomischen Entwicklungsstand zu tun.

In den am stärksten entwickelten Regionen wie Slowenien oder den baltischen Staaten ist die dominante Forderung jene nach staatlicher Autonomie. In letzteren haben trotz der vehement antirussischen Kampagnen der neuen Republikführungen sogar die russischen Minderheiten für die Lostrennung gestimmt – in der Hoffnung, daß eine privilegierte Beziehung zum Westen den Erfolg der ökonomischen Reformen garantieren könnte. In Zentralasien dagegen und in den südlichen jugoslawischen Republiken überwiegt die Tendenz, nach neuen Formen des Zusammenschlusses mit einem externen Zentrum zu suchen, weil die wirtschaftliche Autarkie ein fürchterlicher Preis für die staatliche Autonomie wäre (siehe auch Zaslavsky 1991, S. 34ff.). Der Zerfall der UdSSR und die Instabilität der GUS haben für den islamischen Süden eine zweite Option eröffnet – der Iran und die Türkei scheinen durchaus willens als neue Regionalmächte an die Stelle Moskaus zu treten. Die Albaner des Kosovo befinden sich dagegen in einer viel schwierigeren Lage. Mit extremer Repression durch die alte Hegemionalmacht Serbien konfrontiert, bleibt für sie die Orientierung auf den Zusammenschluß mit einem von politischen Krisen und ökonomischen Katastrophen gebeutelten Mutterland ein wenig attraktiver Ausweg.

In jenen Regionen, wo Nationalismus mit ökonomisch motivierten Ohnmachtsgefühlen geladen ist und sich nicht ungehemmt gegen das bisherige politische Zentrum richten kann, wird das Schüren von Haß gegen Minderheiten zum probatesten Mittel für Machthungrige, Unterstützung zu mobilisieren.

Modernisierungsschock und negative Ethnizität

Daß sie diese Unterstützung auch erhalten, ist wesentlich schwieriger zu erklären als das national verbrämte Eigeninteresse der neuen Eliten selbst. Woher kommt die Bereitschaft, den offenkundig falschen Versprechungen zu trauen, daß nationale Souveränität auch schon eine Besserung ihrer materiellen Situation brächte; woher die noch viel weitergehende, für die neuen Vaterländer zu töten oder getötet zu werden?

Vielleicht ist gegenüber diesen Fragen zunächst einmal Skepsis angebracht. Wir kennen im wesentlichen nur die Worthülsen der machthabenden oder zur Macht strebenden Nationalisten und sollten deren Echo im Fernsehinterview mit dem kroatischen, serbischen, georgischen oder litauischen Bauern oder Arbeiter nicht von vornherein als eine adäquate Wiedergabe von Interessen und Meinungen akzeptieren. (Die Bäuerinnen oder Arbeiterinnen, deren Söhne in Bürgerkriege geschickt werden, äußern sich selbst im Fernsehen oft recht dissident). Dazu kommt die Erfahrung, daß in Staaten wie Polen oder Ungarn, in denen die Glut nicht von einem internen Nationalitätenkonflikt permanent angefacht wird, recht bald Ernüchterung gegenüber populistischen Führungen eingesetzt hat, die jedoch angesichts fehlender Alternativen meist in Apathie umschlägt.

Es scheint, daß der Grundbestand des gegenwärtigen Nationalismus im Osten ebenso wie im Westen eine negativ definierte symbolische Ethnizität geworden ist. Deren Antriebskraft wie bereits erwähnt ist nicht so sehr die Neudefinition des staatlichen Rahmens nationaler Selbstbestimmung, sondern vielmehr die Abgrenzung gegen Fremdgruppen. Daher ist es auch schwer, diesen Nationalismus mit politischer Demokratisierung zu verknüpfen. Die resignierende Verbitterung wie die gewalttätigen Ausbrüche dieses negativ definierten Nationalismus können vielleicht am ehesten als Folgen eines sozialen Modernisierungsschocks begriffen werden. Die marktwirtschaftliche Transformation der ost-mittel-süd-europäischen Gesellschaften hat zusammen mit den bescheidenen materiellen Sicherheiten auch jene der bisherigen Formen der Lebensplanung eliminiert. Dabei wird sowohl die Zukunft unsicher als auch die Vergangenheit entwertet. Nicht nur Randgruppen von Dauerarbeitslosen, sondern ganze Generationen von Dreißig-, Vierzig- oder Fünfzigjährigen erleben heute das Trauma einer rapiden Dequalifikation ihres beruflichen Wissens und ihrer erlernten sozialen Fähigkeiten. Wenn diese Analyse zutrifft, so können die strategischen Projekte der nationalen Eliten zwar mit keiner dauerhaften Massenunterstützung rechnen, aber die ethnophobe – gegen Minderheiten gerichtete – Deutung sozialer Krisen kann immer wieder in der Erfahrung sozialer Minderwertigkeit von Mehrheitsbevölkerungen ihren Resonanzboden finden.

Zusammenfassend könnte diese Analyse als Akzelerator-Theorie bezeichnet werden, in welcher stalinistisches Erbe und marktwirtschaftliche Modernisierung nicht zu einem Wiederaufleben alter, sondern zu genuin neuen Nationalismen führen, die sich jedoch in traditionelle Gewänder kleiden, um ihre Machtansprüche historisch zu fundieren. Sowohl der Stalinismus der Zwangsindustrialisierung als auch die derzeitige kapitalistische Umgestaltung sind in dieser Sicht politisch induzierte Beschleunigungen sozialen Wandels. Auf eine Kurzformel gebracht war die Erzeugung einer Massenbasis für Nationalkulturen paradoxerweise ein Hauptresultat der Sowjetpolitik, die politische Formierung nationaler Machteliten ein Ergebnis ihres Zusammenbruchs und die Mobilisierbarkeit der Bevölkerung für deren Ziele Folge einer Modernisierungspolitik ohne soziale Sicherheitsgurte.

 Westeuropa – bleibt der Geist in der Flasche?

Die Bedingungen für die Herausbildung neuer Nationalismen in beiden Teilen Europas sind denkbar verschieden. Im Osten erleben wir eine Implosion astronomischer Größenordnung. Die sowjetische Supernova dehnte sich in zwei Schüben nach dem ersten und zweiten Weltkrieg auf ihre maximale Größe aus. Seit den späten 50er Jahren erlahmte die Aktivität in ihrem Kern – das Innere erkaltete und die gewaltige Hülle verkrustete. 35 Jahre lang erschütterten periodische Beben einige der Peripherien, aber das Zentrum selbst schien aufgrund seines Repressionsapparats und einer elaborierten militärischen Gleichgewichtsbeziehung mit seinem westlichen Gegenpart durch nichts aus den Angeln zu heben. Niemand hatte vorhergesehen, daß die Sowjetgesellschaften letztlich nicht an der Diktatur und dem Terror scheitern würden, sondern am mutigen Versuch, in einem extremen politischen Vakuum Reformen in Gang zu setzen. Gorbatschows Appell zur Umgestaltung richtete sich an Partei und Volk. Seine Hoffnung war, daß dieses »und« noch mit Bedeutung gefüllt werden könnte. Das war sein entscheidender Fehler, an dem er hartnäckig festhielt. Aber wer kann heute schon sagen, ob 1956 oder 1968 eine Demokratisierung á la Gorbatschow Aussichten auf Erfolg gehabt hätte? Sicherlich nicht im Sinn einer Stabilisierung der bürokratischen Herrschaft, aber doch vielleicht in Richtung eines damals überaus populären »dritten Weges«? Jetzt fliegen die Trümmer des Sowjetreichs durch den politischen Raum und erschlagen Menschen.

Im Westen Europas ist es gerade umgekehrt: Die äußere Hülle ist über Jahrzehnte soweit gefestigt worden, daß ihre schrittweise Ausdehnung risikoarm scheint. Hier gibt es im Inneren kein Vakuum, sondern eine mit Macht gesättigte Lösung. Aber auch in dieser Lösung kann Nationalismus kristallisieren. Statt eine Folge von Destabilisierung scheint der neue Nationalismus hier paradoxerweise das Resultat von anhaltender politischer Stabilität bei raschem sozialen Wandel. Gesicherte Ordnung hier wird nicht nur durch ein kräftiges Skelett von Repressionsapparaten erzeugt, sondern dieses wird von einem dichten Nervengewebe mit einer Überfülle miteinander verflochtener und sich wechselseitig stabilisierender Knoten der Macht überlagert und gesteuert. Wie bei einem gut gebauten Kartenhaus macht die vielfach abgestützte Statik des westeuropäischen Hauses es sogar theoretisch möglich, einzelne Mauern herauszunehmen und auszutauschen, ohne daß das Gebilde selbst einzustürzen droht.

Vielleicht ist das wichtigste Merkmal, das die relative Stabilität Westeuropas seit den 50er Jahren erklären kann, der allmähliche Souveränitätsverlust von Nationalstaaten. Dies ist eine ungleichmäßige Entwicklung, sie erfolgt in Schüben und betrifft nicht alle Gebiete staatlicher Politik in gleicher Weise. Das Wesentliche scheint mir jedoch zu sein, daß Souveränitätsverlust ohne Demokratiegewinn nationalistische Gegenbewegungen auslöst.

Zwischen einem auf der Ebene der ökonomischen und politischen Machtzentren integrierten Europa und solchen Gegenströmungen gibt es jedoch keine grundlegende Unvereinbarkeit. Zwar sehen sich einzelne dominierende Parteien durch nationale Populisten bedrängt, doch ihre gemeinsamen Projekte sind noch keineswegs gefährdet und würden wohl sogar den einen oder anderen Durchbruch von Rechtsextremisten überleben. Wir leben heute nicht nur in einem Europa der »zwei Geschwindigkeiten« auf dem einen Weg in die Integration, sondern auch in einem Europa der zwei Fahrtrichtungen. Drei Phänomene zeigen, daß der Konsens über die Zukunft Westeuropas weniger breit ist, als seine Vorbeter glauben machen wollen: erstens die neue Virulenz eines xenophoben westlichen Nationalismus, zweitens anhaltende und neubelebte Konflikte um Autonomie für alte nationale Minderheiten und drittens die Beschwörung der nationalen Souveränität im wachsenden Widerstand gegen die westeuropäische Integration auf der Basis des Maastrichter Vertrags.

Das Programm der Ent-Fremdung als Selbstvergewisserung

Wo in der Vergangenheit noch Verfassungspatriotismus und demokratisch fundierter Staatsnationalismus gepredigt wurde, gibt es heute eine Rückkehr zu integralen und kulturalistischen Definitionen der nationalen Identität. In einer beliebten Gattung von Witzen geht es darum, was denn nun »die Deutschen«, »die Franzosen«, »die Briten« charakterisiere, wenn sie in den Himmel oder in die Hölle kommen. Daraus wird plötzlich die mit unerträglichem Ernst gestellte Frage, was denn uns Deutsche, uns Franzosen oder uns Briten von anderen unterscheide, wenn wir in das postmoderne Europa eintreten. Dieser Diskurs wird viel weniger an Stammtischen gepflegt als von einer neuen nationalen Intelligenzia, die sich nicht mehr ausschließlich rechts verorten läßt, und er findet sein Echo in den Reden der seriösesten Politiker.

Wer dabei als »die anderen« herhalten muß, um verunsicherten Europäern ihre aufgefrischte Identität zu verschaffen, sind in erster Linie Flüchtlinge und Immigranten. Xenophobie und Rassismus, die sich gegen außereuropäische, aber auch gegen osteuropäische Einwanderer richten, grassieren in praktisch allen Staaten des industriell entwickelten Europa. Auch Immigration und die Forderung nach Gleichberechtigung für die Immigrierten wird als Verlust von Souveränität erlebt, denn diese ermächtigte seit jeher zur Kontrolle über den Zugang zum Gemeinwesen und zur Unterscheidung zwischen Bürgern und Fremden.

Das selbsterzeugte Dilemma der Immigrationspolitik ist: Wirtschaftlicher Zusammenschluß plus Deregulierung von Arbeitsmärkten wirken als Magneten für Einwanderung. Gleichzeitig hat die Steuerung der Immigration durch die Nachfrage der Unternehmen einen weiteren Abbau sozialer Sicherung zur Folge – in erster Linie für die vorletzten Einwanderer. Offene Grenzen erzeugen unter diesen Bedingungen Angst und nicht nur unter jenen, die gute Gründe haben, sich bedroht zu fühlen. Die selektive Schließung der Grenzen für bestimmte Gruppen (vor allem Flüchtlinge und Migranten aus islamischen Regionen) und deren interne Diskriminierung als Lohnarbeiter, Wohnungssuchende und Bürger zweiter Klasse beseitigt diese Angst nicht, sondern präsentiert der rassistischen Gewalt auch noch ihre Zielscheiben.

Alte Minderheiten neue Eskalationen

Der neue Nationalismus richtet sich jedoch nicht nur gegen die neuen Bewohner Westeuropas, sondern ebenso gegen seine alten Minderheiten. Nur bietet er für letztere im Unterschied zu ersteren auch eine Chance, ihre Forderungen nach Autonomie oder Souveränität stärker anzumelden. In dieser Hinsicht ist nicht so sehr mit neuen Bruchlinien als mit einer Vertiefung der bestehenden zu rechnen.

Vor allem jene Streitfragen, in denen aufgrund langwieriger Verhandlungen allen ethnischen Kollektiven ein Zipfel der Macht garantiert wurde, können leicht eskalieren. Ausgerechnet kurz vor der Erfüllung der letzten noch offenen Punkte des Südtirol-Pakets brach innerhalb der Einheitspartei der Deutschsprachigen eine Debatte um Autonomie und staatliche Zugehörigkeit auf. Und wer würde heute so unvorsichtig sein, eine Hypothek bis zum Jahr 2000 auf den Fortbestand des belgischen Staates aufzunehmen? In diesen und anderen Fällen hat eine rigide Politik des Ethno-Proporzes den Streit nur oberflächlich beigelegt. Die Festschreibung ethnischer Machtverhältnisse führt bei fortlaufenden sozialen und ökonomischen Veränderungen (etwa durch demographische und Wanderungsbewegungen) zu erhöhter sozialer Reibungsenergie. Wo diese frei wird, versuchen politische Bewegungen, sich einen Teil jener Souveränität zu holen, die von den Nationalstaaten an ein vereinigtes Westeuropa abgegeben wird. Dies gilt noch stärker in Regionen wie Schottland oder Katalonien, wo Nationalbewegungen bei der friedlichen Eroberung der kulturellen und politischen Hegemonie in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht haben. Die Entwertung staatlicher Souveränität im westlichen Integrationsprozeß könnte sie für jene durchaus erschwinglich machen, die bisher als Sprecher minderer Sprachen vom Konzert der Nationen ausgeschlossen wurden.

Gerade in jenen beiden Konflikten in Euzkadi (Bakenland) und Nordirland, die schon bisher einen hohen Blutzoll gefordert haben und das Gespenst nationalistischer Bürgerkriege in Westeuropa am Leben erhalten haben, gibt es dagegen Anlaß zur Hoffnung, daß alte Gräben nicht weiter vertieft sondern zugeschüttet werden. Hier könnten die militanten Nationalisten zunehmend ihre Unterstützung in der Bevölkerung verlieren, wenn die Föderalisierung Europas neue Chancen auf symbolische oder auch reale Abkoppelung von alten Hegemonialmächten eröffnet.

Selbstbestimmung  jenseits der Nation?

Für zeitgenössische politische Wissenschaft würde es sich lohnen, über die Frage nachzudenken: Was geht verloren, wenn nationale Souveränität schwindet und wodurch wäre der Verlust ersetzbar? Die Reflexion über die Zukunft des Nationalismus in Europa würde dann auch eine Diskussion über Alternativen eröffnen. Ich kann dazu vorläufig nur ein paar Gedankensplitter beitragen:

Demokratische oder nationale Souveränität?

Souveränität ist nicht dasselbe wie Staatlichkeit. Im internationalen politischen System, in der Außen- und Sicherheitspolitik, werden weiterhin Staaten die wesentlichen Akteure sein. Und auch in der internen Struktur politischer Gemeinwesen wird die Ebene des Staates gegenüber jener der Gemeinden, der förderalen Einheiten und der übernationalen Bündnisse wohl auf lange Sicht deutlich hervorgehoben bleiben. Was diese Ebene heute und in absehbarer Zukunft auszeichnet, ist die Konzentration, aber nicht mehr das Monopol, der Gesetzgebung. Staatlichkeit fixiert einen vorläufig unverzichtbaren Bezugsrahmen für alle Politik, aber nicht jeder Instanzenzug im politischen Spiel endet in derselben souveränen Spitze.

Jean Bodin hat 1576 die klassische Definition formuliert: „Souveränität ist die dem Staat eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt“ (Bodin 1576/1981, S.205). Gemessen an dieser Begriffsbestimmung gibt es zwei mal zwei Einschränkungen von Souveränität: die externe durch Unterwerfung, aber auch mit der freiwilligen Einfügung in einen dauerhaften Staatenbund; die interne, wenn das Allgemeinwohl partikularen Interessen geopfert wird, aber auch mit der Beschränkung staatlicher Macht durch Bürger- und Menschenrechte. Im Grunde werfen schon Montesquieu's und Locke's Theorien der Gewaltenteilung die Frage auf, ob nicht demokratische Souveränität ein in sich widersprüchliches Konzept ist.

Auch das nationale Selbstbestimmungsrecht hat zwei Bedeutungen – eine mythologische: die Emanzipation von unterdrückten Völkern als Nationen; und eine historische: die Legitimierung des Strebens nach Souveränität, nachdem dynastische und imperiale Ansprüche auf dieses höchste politische Gut normativ außer Kraft gesetzt wurden. Nur in diesem letzteren Sinn war und ist das Selbstbestimmungsrecht auch eine Emanzipationschance, weil es die Egalität der Staaten untereinander postuliert (Wallerstein in Balibar/Wallerstein 1988, S 111 f.). Es gebührt den Opfern kolonialer, rassistischer oder ethnischer Unterdrückung, weil sie nur so und zunächst nur als Kollektive jene Gleichrangigkeit erreichen können, die ihnen zuvor als Bürger verwehrt wurde.

Zugleich ist das Selbstbestimmungsrecht unabhängig von der internen Verfassung des Staates d.h. es ist nicht das Recht der politischen Selbstbestimmung, sondern das Recht jener, die erfolgreich im Namen der Nation die souveräne Gewalt ausüben. In der demokratischen Tradition ist das nationale Selbstbestimmungsrecht die Voraussetzung, aber nicht schon die Einlösung der politischen Selbstbestimmung:

Dem aufgrund seiner Rechte in der Zivilgesellschaft souveränen Bürger muß ein in seiner Sphäre souveräner Staat korrespondieren, innerhalb dessen diese Rechte garantiert werden.

Wenn die äußere Souveränität nicht unterjocht, sondern diffus wird, dann gibt es darauf zwei verschiedene politische Antworten: erstens die symbolische, aber in der Eskalation von Konflikten unter Umständen auch gewaltsame Rückforderung der Souveränität im Namen der Nation; zweitens das Auffüllen der neu entstandenen politischen Räume durch demokratische Bürgerrechte.

Multiplikation von Mitgliedschaft

Was einen politischen Raum zur Nation macht, sind nicht seine territorialen Grenzen, sondern die kollektive Selbstabgrenzung seiner Bürger gegen jene, die nicht dazugehören. Wenn in Europa ausschließlich die EG als transnationaler politischer Raum konstruiert wird, dann wird sich in der Abgrenzung von den Peripherien des Ostens und Südens und vor allem in der Abwehr der Einwanderer aus diesen Regionen eine Art westeuropäischer Hypernationalismus entwickeln.

Die Alternative dazu wäre die Anreicherung und Überwindung traditioneller Staatsbürgerschaften durch transnationale ebenso wie subnationale Bürgerschaften. Der institutionelle Raum, innerhalb dessen solche Rechte eingefordert werden können, hätte keine einheitliche Gestalt und scharfen Konturen mehr. Doppelstaatsbürgerschaften, die Angleichung sozialer und politischer Rechte niedergelassener Ausländer an jene der Inländer, die Einräumung spezifischer Einwanderungsrechte auf jenen Verbindungswegen, die in den bisherigen Migrationen ausgebaut wurden und schließlich die stärkere institutionelle Verankerung universeller Menschenrechte, dies wären einige Elemente einer transnationalen Bürgerschaft, welche über Staatenbünde hinausreicht (Bauböck 1992).

Hand in Hand damit könnte die Entwicklung von spezifischen lokalen und Stadtbürgerschaften gehen, welche im Gegensatz zum ethnisch oder pseudo-ethnisch begründeten Föderalismus die Ausdifferenzierung von Funktionen anstelle der Abgrenzung von Regionen und Kulturen als Anknüpfungspunkt politischer und sozialer Rechte nimmt. So wie egalitäre Rechte im Staat den Spielraum für gesellschaftliche Differenzierung durch Erweiterung individueller Wahlchancen eröffnen, so müßte der Anspruch auf adäquate kommunale Infrastrukturen zu einem gleichen Grundrecht für alle Bewohner werden. Um das zu realisieren bedarf es einer negativ bestimmten und einer positiven Leitidee: erstens einer Politik der Desegregation, welche der territorialen Sortierung von Bevölkerungsgruppen in Stadtviertel ebenso entgegenwirkt wie ihrer Zuordnung in vorbestimmte Plätze in institutionellen Hierarchien, und zweitens einer Förderung von Chancengleichheit in den Grundfunktionen städtischen Lebens: Wohnen, Arbeit, Konsum, Bildung, Freizeit, Verkehr.

Multiple Bürgerschaft korrespondiert dann mit multipler Souveränität, welche auf ihre einfachste Bedeutung reduziert wäre: daß jedem Recht eine jeweils höchste Instanz der Gesetzgebung zugeordnet sein muß. Es gäbe dann allerdings nicht mehr eine einzige oberste Instanz für alle Bürgerrechte, sondern eine komplexe Ordnung von vertikal wie lateral angeordneten institutionellen Endpunkten.

Gegen dieses m.E. attraktive Bild gibt es einen wahrhaft schlagenden Einwand: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (Schmitt 1990). Man könnte ergänzen: Der Krieg ist die ultima ratio der Souveränität. In der Logik des Krieges ist diffuse Souveränität tatsächlich eine Schwächung der Angriffs- wie der Verteidigungschancen. In einer Logik der Verhinderung von Kriegen könnte sie dagegen eine Variable mit positivem Vorzeichen werden. Die alte und noch immer gegenwärtige politische Ordnung der Welt ist aus Nationalstaaten als Bausteinen gefügt. In den Fugen gibt es viel Mörtel und hier und da existieren solide Mauern, mit deren Zusammenbruch niemand rechnen würde. Aber bei einem Erdbeben ist jede Mauerfuge eine potentielle Bruchlinie, entlang derer das Ganze zerfallen kann. Die Automobilkonstrukteure standen bei der Entwicklung brauchbarer Windschutzscheiben vor einem ähnlichen Problem: Beim Aufprall eines Fremdkörpers zerbricht Glas in große zusammenhängende Splitter, welche die Fahrgäste schwer verletzen können. Die von den Ingenieuren gefundene Lösung ist vorbildlich: Statt die Scheibe durch aufwendige Panzerung völlig bruchsicher zu machen, erfanden sie eine Sorte Glas mit einer durchsichtigen Netzstruktur. Beim Zusammenstoß wird dieses Netz als Mosaik von Teilchen und Linien sichtbar und je dichter es ist, umso geringer die Gefahr, daß ein Stück herausbricht.

Anmerkung

Bei dem Text handelt es sich um einen Beitrag für den Friedensbericht 1992 der schweizerischen, deutschen und österreichischen Gesellschaft für Friedensforschung.

Literatur

Benedict Anderson (1983/1988): Imagined Communities, deutsch: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Campus Verlag: Frankfurt a.M.

Etienne Balibar<|>/<|>Immanuel Wallerstein (1988/1990): Race, Classe, Nation. Les identités ambigues. Paris, deutsch: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Argument-Verlag: Berlin.

Rainer Bauböck (1991) Nationalismus versus Demokratie, Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, Heft 1, S. 73-90.

Rainer Bauböck (1992): Immigration and the Boundaries of Citizenship. Monograph in Ethnic Relations, Centre for Research in Ethnic Relations, University of Warwick.

Jean Bodin (1567/81): Sechs Bücher über den Staat, Buch I-III, Beck-Verlag: München.

Ernest Gellner (1983/90): Nations and Nationalism. Cambridge Oxford, deutsch: Nationalismus und Moderne, Rotbuch: Berlin

Eric J. Hobsbawm (1990/1991): Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality, Cambridge. deutsch: Nationen und Nationalismus seit 1789. Mythos und Realität, Campus Verlag: Frankfurt a.M.

Ekkehart Krippendorff (1985): Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft. Frankfurt/Main: suhrkamp.

Saskia Sassen (1991): The Global City. New York, London, Tokyo. Princeton.

Andreas Schedler (1991): Die Nicht-repräsentative Demokratie. Unveröffentlichtes Manuskript. Institut für Höhere Studien, Wien.

Carl Schmitt (1990): Politische Theologie; Duncker und Humblot, Berlin.

Josef Stalin (1913): Marxismus und nationale Frage, Stern-Verlag: Wien. Victor Zaslavsky (1991): Das russische Imperium unter Gorbatschow. Seine ethnische Struktur und ihre Zukunft. Wagenbach: Berlin.

Rainer Bauböck ist Mitarbeiter im Institut für höhere Studien in Wien.

Die Unabhängigkeit der Balten

Die Unabhängigkeit der Balten

Mit Nuancen zum gemeinsamen Ziel

von Manfred Klein

Vorzüglich abgestimmter Gleichklang in der politischen Öffentlichkeitsarbeit und koordiniertes Vorgehen der drei Baltischen Republiken in der Auseinandersetzung mit Moskau suggerieren dem Beobachter das Bild einer mit einheitlichen Voraussetzungen operierenden Interessengemeinschaft. Das Panorama hält nur an der Oberfläche aktuellster Interessenlage was es verspricht. Darunter offenbaren sich bei näherer Betrachtung historische und gegenwärtige Bedingungen für die politischen Perspektiven, die doch gravierende Unterschiede aufweisen.

Nationaler Mythos und Lutherbibel

Die augenfälligste Divergenz betrifft das Staatsbewußtsein bzw. dessen Grundlagen; Esten und Letten beziehen es auf die historisch kurzlebige Eigenstaatlichkeit der beiden Jahrzehnte zwischen den Weltkriegen. Vorher hatten beide Völker, kolonisiert von Deutschen, Skandinaviern und Russen, keine eigenen Staatswesen organisieren können. Ungleich tiefer in der Vergangenheit wurzelt hingegen der Nationalstaatsgedanke der Litauer, die im 14. und 15. Jahrhundert ein feudales Großreich errichtet hatten, dessen Grenzen von der Düna im Norden bis zum Schwarzen Meer im Süden reichten und das sie zuerst in eine dynastische Personal- und schließlich auch in eine politische Union mit Polen (Union von Lublin, 1569) einbrachten.

Vor allem die Schlacht bei Calgiris (Grünwald), die wir Deutschen als die von Tannenberg bezeichnen, ging als ein nationaler Mythos ersten Ranges aus dieser Vergangenheit in das Bewußtsein der Litauer ein. 1410 hatten an diesem Ort die vereinigten Heere des Großfürstentums Litauen und Polens den Deutschen Orden vernichtend geschlagen, dem damit ein weiteres Vordringen aus Ostpreußen über die Memel hinaus nach Litauen endgültig verwehrt war. Der Wille zur nationalen Selbstbehauptung verbindet sich seither bis in die Gegenwart mit diesem historischen Topos Calgiris.

Geriet Litauen im Zuge dieser Vorgänge nachhaltig unter polnisch geprägten kulturellen Einfluß samt der damit verbundenen katholischen Religion, so waren Esten und Letten im urbanen Umfeld der Hanse deutschen und skandinavischen Einflüssen ausgesetzt und wurden Protestanten, was sie größtenteils auch in den späteren Ostseeprovinzen – Estland, Kurland, Livland – des Russischen Reiches (seit 1705) blieben. Wann immer in der Gegenwart die ideologische Formel »Zurück nach Europa« bemüht und die kulturelle (und politische) Orientierung am »Westen« betont wird, vergißt man in Estland und Lettland nicht, an diese protestantische, nach Deutschland und Skandinavien tendierende, Tradition zu erinnern. Sie ist Grundlage des Bewußtseins, zu Mitteleuropa und damit zum Kulturkreis von Humanismus und Aufklärung zu gehören.

Die autochthonen Völker des Baltikums bilden auch ethnisch und sprachlich keine Einheit. Während Letten und Litauer mit ihren Sprachen den baltischen Zweig der indo-europäischen Völkerfamilie bilden, sprechen die Esten ein finnisch-ugrisches Idiom, das sie in die Lage versetzt, ihre geographisch nächsten Nachbarn, die Finnen, ohne Schwierigkeiten zu verstehen. Es war deshalb kein Wunder, daß die Esten in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg als die bestinformierten Sowjetbürger galten, waren sie doch in der Lage, die Sendungen der nahegelegenen finnischen Rundfunk- und Fernsehstationen zu verfolgen.

In Litauen wiederum konnte man die politisch wegweisenden Vorgänge des vergangenen Jahrzehnts in Polen aus erster Hand verfolgen; dank des jahrhundertelangen kulturellen Nahverhältnisses ist Polnisch immer noch eine in den Bildungsschichten geläufige Fremdsprache. Wenn auch insgesamt von einem historisch bedingten Bildungsvorsprung in den baltischen Republiken im Vergleich zu anderen Regionen der UdSSR gesprochen werden kann – in Litauens Hauptstadt Vilnius findet sich die älteste Universität der Sowjetunion (gegr. 1579) – so war doch bereits im 19. Jh. in den protestantischen Ostseeprovinzen ein ungleich höherer Alphabetisierungsgrad auch der bäuerlichen Bevölkerung erreicht als irgendwo sonst in Rußland. Auch Litauen konnte da keine Ausnahme bilden, maß doch die evangelische Lehre der Bibellektüre und dem Gebrauch des Gesangbuches entschieden mehr Bedeutung zu als die katholische.

Schließlich ist auch die erheblich frühere Bauernbefreiung in der durch die deutsch-baltische Ritterschaft geprägten Region (1804 und 1819) zu erwähnen, der die Aufhebung der Leibeigenschaft im übrigen Rußland, also auch in Litauen, erst 1861 folgte. Sie war, neben der Intensivierung der Landwirtschaft, einer relativ zeitigen und kräftigen Industrialisierung und Urbanisierung, vor allem der bedeutenden Hafenstädte Libau, Riga und Reval (Tallinn), förderlich. Zählte das Gebiet des heutigen Estland und Lettland schon vor dem Ersten Weltkrieg zu den Industriezentren des zaristischen Rußlands, so waren die litauischen Gouvernements im Vergleich dazu fast reine Agrargebiete mit wenig (an der Agrarproduktion orientierter) Kleinindustrie geblieben. In der Folge entwickelte sich vor allem in Lettland, aber auch in Estland eine zahlenmäßig stärkere, klassenbewußte Industriearbeiterschaft als in Litauen.

Die gemeinsam vorgetragenen Strategien der drei Baltischen Republiken zur Lösung aus der Sowjetunion stützen sich vorzugsweise auf die Parallelen in der jüngeren Geschichte und die durchaus ähnlichen leidvollen Erfahrungen ihrer Völker mit eben dieser Union. Entstanden im Machtvakuum nach Ende des Ersten Weltkrieges zwischen Deutschland und Rußland, aus dessen Territorium sie sich gelöst hatten, fanden sie zunächst die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit durch die bolschewistische Regierung Lenins (1920), gerieten jedoch allzu bald wieder in den Sog der sich neu entwickelnden imperialistischen Interessen der beiden Mächte. Litauen vermochte zudem von vornherein nicht, seine historisch begründeten territorialen Ansprüche zu behaupten: Das ebenfalls im Ergebnis des Ersten Weltkrieges wiedererstandene Polen besetzte den Südosten Litauens, das sog. Wilna-Gebiet mit der historischen Hauptstadt Vilnius (1920), womit der jungen Republik ein Konfliktherd ersten Ranges entstanden war. Im Westen eignete sich im Gegenzug Litauen das dem Völkerbund unterstellte Memel-Gebiet an (1923) und geriet damit in einen folgenreichen Gegensatz zum Deutschen Reich.

Gefährdete Demokratien

Der Aufbau demokratischer Staatswesen verlief in den drei Republiken in den beiden Jahrzehnten zwischen den Weltkriegen in vergleichbarer Abfolge: Parlamentarische Systeme und Verfassungen mit deutlichen Anklängen an die Strukturen der Weimarer Republik funktionierten nur relativ kurze Zeit und wichen autoritären Konstruktionen wie z.B. in Litauen, wo ein Präsident, Antanas Smetona, gestützt auf das Kriegsrecht mit diktatorischen Vollmachten von 1926 bis 1940 regierte. Lediglich in Estland gelang es, 1938 wenigstens teilweise zu einer demokratischen Verfassung zurückzukehren. Im Hinblick auf die späteren Ereignisse darf auch nicht verhehlt werden, daß in allen drei Republiken ein mehr oder weniger militanter Antikommunismus praktiziert wurde, der die Bolschewiki außer Landes oder in die Illegalität trieb.

Eines läßt sich auch aus historischem Abstand nicht behaupten: daß die Baltischen Republiken der Zwischenkriegszeit wirtschaftlich nicht überlebensfähig gewesen wären. Abgesehen von Weltwirtschaftskrise und Boykottmaßnahmen von außen (so durch Deutschland gegen Litauen im Zuge der Memel-Krise) erwiesen sich die Volkswirtschaften des Baltikums als im bescheidenen Rahmen stabil, – ein Umstand, der heute das Selbstvertrauen in eine erfolgreiche wirtschaftliche Zukunft auf eigenen Füßen erheblich stärkt. Auch ein anderes Problem der unmittelbaren Zukunft wurde in der ersten Jahrhunderthälfte schon einmal wenigstens im Ansatz vorbildlich – in den Verfassungen gelöst, wenn auch die Praxis dann mitunter zu wünschen übrig ließ: die Wahrung der Rechte nationaler Minderheiten, die es in den drei Ländern auch damals schon in bemerkenswertem Umfang gab.

Das Trauma der sowjetischen Annexion von 1940 verbindet sich für die Balten mit einer weiteren gemeinsamen Erfahrung: In der existentiellen Bedrohung ihrer Unabhängigkeit waren sie allein, Hitler und Stalin hatten ihre Interessensphären untereinander abgesteckt, Hilfe von außen war nicht zu erwarten. Dieser Situation der Isolation vorausgegangen war die Unfähigkeit der baltischen Staaten, zu einem wirklich verbindlichen Zusammenschluß in Form einer »Baltischen Entente« zu kommen. 1934 hatte es lediglich zu einem Konsultativ-Vertrag gereicht, der jedoch ausgerechnet alle militärischen Belange ausschloß. Vor dem Hintergrund dieses Versäumnisses ist der Schulterschluß der drei Republiken in der aktuellen Situation ein deutliches Signal auch für eine gemeinsame Zukunft. Bereits am 12. Mai 1990 beschlossen ihre Präsidenten bei einem Treffen in Estlands Hauptstadt Tallinn die »Wiederbelebung« jenes Baltischen Rates von 1934, die seither eine weitgehende Koordination des Vorgehens beim Kampf um die Unabhängigkeit ermöglicht.

Konfrontation und flexible Taktik

Koordination heißt, wie sich zeigt, nicht Gleichschritt, die unterschiedlichen historischen Voraussetzungen machen sich in der politischen Taktik bemerkbar. Litauens politische Opposition, im ersten Stadium der Perestrojka noch so kleinlaut, daß die Leute lieber die kühneren russischsprachigen Zeitungen lasen als die übervorsichtigen eigenen, mauserte sich seit dem Herbst 1988 zur kompromißlosesten Front gegen Gorbatschows Pläne für eine erneuerte Union.

Bewaffneter Widerstand gegen die Wiederherstellung der Sowjetmacht war nach 1944 in allen baltischen Ländern geleistet worden, – in Litauen dauerte er am längsten, bis 1952/53, forderte die meisten Opfer und die größte Brutalität bei seiner Niederschlagung, die Menge der Deportierten war beispiellos. Der seit Anfang der 70er Jahre wieder aufgenommene Widerstand formierte sich als »Helsinki-Komitee« und vor allem um die Untergrund-Zeitschrift »Chronik der Katholischen Kirche Litauens«. Nationale Bewegung und Katholizismus bilden in Litauens Geschichte seit dem 19. Jh. eine scheinbar unauflösliche Allianz, die sich auch bei der Bildung der Volksfront »Sajüdis« 1988 und den folgenden Massen-Manifestationen wieder bewährte. Demonstration, politisches Handeln, Gebet, Gesang und Gottesdienst verflechten sich in der politischen Alltagspraxis der Menschen zu emotional aufgeladenem »Wir«-Bewußtsein und erheblicher Bereitschaft zum Risiko.

Von Süd nach Nord zunehmende operative Vorsicht und Bereitschaft zu zäher Diplomatie charakterisieren in etwa die taktischen Varianten der Baltischen Völker im Kampf für das gleiche Ziel – korrespondierend dazu aber auch die Reaktionen der Moskauer Zentralregierung. Wie Litauen erklärten 1990 auch Estland und Lettland die Beitrittsakte zur UdSSR von 1940 für ungültig, ebenso beschlossen ihre Parlamente die Unabhängigkeit und benannten die »Sowjetrepubliken« zur »Republik Estland« bzw. »Unabhängigen demokratischen Republik Lettland« um. Im Gleichklang knüpften die drei Republiken damit staatsrechtlich an die de jure noch existenten Staatswesen der Zwischenkriegsjahre an, Estland setzte sogar am 8. Mai 1990 ausdrücklich die Präambel seiner historischen Verfassung wieder in Kraft. Dennoch vermieden die nördlichen Nachbarn Litauens die unmittelbare Konfrontation mit der Union durch den Verzicht auf sofortige Umsetzung ihrer Beschlüsse in die Praxis. Estland deklarierte einen »stufenweisen« Übergang zur Unabhängigkeit, während das lettische Parlament zugleich mit dem juristischen Akt Verhandlungen mit Moskau zu seiner Verwirklichung beschloß.

Ganz im Gegensatz dazu erklärte der »Oberste Rat der Republik Litauen« am 11. März 1990 nicht nur die Unabhängigkeit von der UdSSR und setzte deren Verfassung auf litauischem Territorium außer Kraft, sondern begann auch gleich mit der faktischen Umsetzung durch Ausübung von Hoheitsrechten in Legislative, Exekutive und Jurisdiktion. Die Reaktion des Volksdeputiertenkongresses bzw. des Präsidenten der UdSSR war zwar zunächst in allen drei Fällen formal gleich; die Beschlüsse der Parlamente in Vilnius, Tallinn und Riga wurden für ungültig erklärt; dennoch trafen vorläufig nur Litauen wirklich massive Maßnahmen.

Diplomatie als Ausweg

Eine ganz wesentliche Bedingung dieser abgestuften Schritte zur Lösung aus der UdSSR stellen, neben den erwähnten historischen Voraussetzungen, die unterschiedlichen ethnischen Mehrheitsverhältnisse in den Baltischen Republiken dar. Vergegenwärtigt man sich, daß die Litauer im Gebiet ihrer Republik 80% der Bevölkerung, die Esten entsprechend 65% und die Letten nur noch 54% ausmachen, dann wird deutlich, in wie unterschiedlichem Maße sich die Mehrheitsethnien jeweils zur politischen Rücksichtnahme auf die Minderheiten verpflichtet fühlen. Insbesondere der Anteil der Russen, der in Litauen zur Zeit bei etwa 9%, in Estland bei 28% und in Lettland bei 33% liegt, wird angesichts der potenten Schutzmacht sorgfältig ins politische Kalkül gezogen, zumal sie einen beträchtlichen Teil der Industriearbeiterschaft und technischen Intelligenz stellen und dementsprechend konzentriert an bestimmten Industriestandorten leben. Dort, wo sie arbeiten, meist in den Großbetrieben, die den Moskauer Ministerien unterstellt sind, findet sich auch der entschiedenste Widerstand aus der Bevölkerung gegen die Politik der völligen Unabhängigkeit. Litauen wird zudem noch mit den 7% Polen zu rechnen haben, die auf Autonomie in den von ihnen bewohnten Rayons im Südosten der Republik drängen, wobei der alte »Wilna-Konflikt« unversehens wieder aktualisiert werden könnte.

Wie immer schließlich die Konstruktionen unter Einschluß der Interessen der UdSSR und ihrer Russischen Republik (Stichwort: Kaliningrader Gebiet und der Zugang dazu) aussehen mögen, – ohne Respektierung der Souveränität der Baltischen Republiken und der Unabhängigkeitswünsche ihrer Bevölkerungsmehrheit wird eine Lösung der Spannungen in dieser Region nicht möglich sein. Wie der blutige Einsatz der Fallschirmjäger-Einheiten im Januar 1991 in Vilnius, später auch abgeschwächt in Riga, zeigte, ist die Bereitschaft zur Gewaltanwendung seitens der Zentrale nicht auszuschließen. Wenn auch jüngst wieder Verhandlungen zwischen Vilnius und Moskau begonnen wurden, – eine neuerliche gewalttätige Eskalation ist jederzeit denkbar. Über taugliche Strategien zur Vermeidung von Gewalt verfügen beide Seiten kaum, am wenigsten die Truppen des Innenministeriums oder gar Fallschirmjäger bei ihrer Konfrontation mit den Emotionen der Bevölkerung. Die litauische Führung ihrerseits hat wenig getan, eine solche Konfrontation zu verhindern, Trauer und Wut angesichts der erschossenen oder von Panzern zerfetzten Opfer unter der Bevölkerung wird auch nicht dazu beitragen. Zudem nimmt in Litauen die Neigung zur Bewaffnung nicht nur der eigenen Polizei, sondern auch von Zivilpersonen zu. Das mitunter chaotische Nebeneinander von Regierungs- und Exekutivorganen der Republik und der Unionsregierung – es gibt faktisch zwei getrennte Apparate – garantiert keinesfalls mehr Sicherheit, die Souveränität bleibt ohnehin Fiktion unter solchen Verhältnissen.

Der flexiblere Weg Estlands (und zum Teil auch Lettlands) hat bislang kaum weniger wirksame Schritte in die Unabhängigkeit gesetzt als der Parforce-Ritt Litauens. Da außenpolitische Reisen baltischer Politiker nicht wesentlich behindert wurden, sah man in beharrlicher Diplomatie und Sympathiewerbung (vor allem in den skandinavischen Ländern mit Erfolg) einen gangbaren Weg zur Verifizierung der Souveränität, der freilich Zeit kosten wird. Die wiederum ist angesichts der wirtschaftlichen Katastrophe und der Zerfallserscheinungen in der UdSSR knapp. Dennoch: der Schlüssel zur Lösung der baltischen Probleme liegt weiterhin in Moskau.

Dr. Manfred Klein, Historiker, Hochschullehrer an der Fachhochschule Bielefeld.

Zentraleuropa – Nukleus eines Europa mit Strukturen gemeinsamer Sicherheit

Zentraleuropa – Nukleus eines Europa mit Strukturen gemeinsamer Sicherheit

von Manfred Müller

I

Die europäischen Industriegesellschaften sind kriegsunverträglich geworden. Dennoch sind außerordentliche militärische Kräfte angehäuft. Für sie gibt es keine rationelle Verwendung. Doch die Aufstockung und Modernisierung der sich gegenüberstehenden Militärpotentiale geht weiter. Dafür werden auf beiden Seiten jährlich Mittel im Werte von ca. 600 Mrd. Dollar aufgewendet.

Das wird bisher vor allem mit der Notwendigkeit der Kriegsverhinderung durch Abschreckung begründet. Aber die Drohung beiderseitiger Vernichtung im Kriegsfall kann, akzeptiert man die Notwendigkeit von Abschreckung, mit einem Bruchteil der existierenden Mittel glaubhaft gemacht werden.

Niemand kann beweisen, daß Abschreckung Europa mehr als 40 Jahre Frieden bewahrte. Aber selbst wer daran glaubt, kann nicht die immensen und wachsenden Gefahren übersehen, die aus der Fortsetzung einer Politik entstehen, die auf militärischer Konfrontation ständig wachsender Potentiale beruht.

Andererseits sind in diesen mehr als 40 Jahren Bedingungen und Strukturen entstanden, aus denen keine der beiden Seiten ohne weiteres einseitig aussteigen kann.

Das betrifft den Gesamtrahmen der Abschreckung, aber wichtige einzelne Elemente der militärischen Konfrontation ebenso. Panzer und die Verpanzerung der Infantrie sind nicht nur Ausdruck hoher Beweglichkeit und der Fähigkeit zur Angriffskonzentration, sondern auch Antwort auf die nukleare Bedrohung. Denn die Chance solcher Verbände gegenüber nuklearen Schlägen ist höher. Die Panzer wegzunehmen ohne die nukleare, vor allem Erstschlagbedrohung zu beseitigen, geht deshalb schwerlich. Auch Maßnahmen, vor allem der See- und Luftrüstung, die die Flanken des Warschauer Vertrages bedrohen, machen hohe Beweglichkeit im Interesse der Verteidigung unabdingbar.

Wer die Konzentration von Kräften nahe der Berührungslinie der Bündnisse fürchtet, der kann nicht seine eigene Fähigkeit zu tiefen Schlägen ausbauen. Denn die Gefahr abgeschnitten zu werden zwingt zu noch stärkerer Konzentration von Kräften vorn.

Überwindung der Abschreckung

Diese und andere Fragen verweisen auf ein grundlegendes Dilemma der Situation: Solange eine Seite am Grundsatz der nuklearen und konventionellen Abschreckung festhält und sie immer weiter auszugestalten sucht, sind gemeinsame Konzepte für eine entscheidende Verbesserung der Sicherheitssituation in Europa, die von den entstandenen Realitäten ausgehen, schwerlich auszuarbeiten. Eine wichtige Vorbedingung für gemeinsame Konzepte zur Stärkung der Sicherheit wäre eine gemeinsame, nüchterne und realistische Bewertung der Lage. Hierbei hat die Wissenschaft und haben die Wissenschaftler eine große Aufgabe.

Der entscheidende Gestaltungsgrundsatz solcher Konzepte muß sein, sie auf die schrittweise Überwindung des Systems der gegenseitigen Abschreckung und militärischen Konfrontation zu richten.

Nur auf diesem Wege erreicht man gemeinsame Sicherheit. Das ist das Herangehen der Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages. Dies wollen viele realistisch denkende Kräfte im Westen. Leider jedoch läuft die offizielle NATO-Politik in eine andere Richtung.

Die Kriegsunverträglichkeit europäischer Industriegesellschaften könnte ihrerseits abschreckend wirken und zu vernünftigem Sicherheitsdenken führen. Dazu muß sie überall bewußt gemacht werden.

Gleichzeitig kann man jedoch nicht an der Tatsache vorbei, daß es in der NATO Planungen und Waffenentwicklungen gibt, die die Drohung mit und den Einsatz von militärischer Macht auch unter den veränderten Bedingungen möglich und glaubhaft machen sollen.

Das Konzept des tiefen Hineinwirkens, die Entwicklung der Fähigkeit zu »chirurgischen« Schlägen wie gegen Libyen, von Luft- und Seelandeoperationen zur in-Besitz-nahme sensibler Einrichtungen – diese und andere Arten militärischer Gewaltanwendung wären auch unter den modernen europäischen Bedingungen denkbar. Besonders in Krisensituationen könnte man hoffen, damit militärische Wirkung zu erzielen.

Auch kann das Bestreben der führenden NATO-Staaten nicht unbeachtet bleiben, in Abrüstungsverhandlungen jene militärischen Mittel vor allem zu reduzieren, deren offensiver Einsatz heute sinnlos wäre und bei denen es eine zahlenmäßige Asymmetrie zu Gunsten des Warschauer Vertrages gibt. Dagegen ist man bemüht alle Truppengattungen und Systeme aus den Verhandlungen auszulassen, die unter den modernen Bedingungen weiterhin offensiv einsatzfähig wären und bei denen die NATO überlegen ist oder ein umfassendes Entwicklungsprogramm verwirklicht.

Diese Lage erfordert:

Erstens deutlich sichtbar zu machen, wodurch die sozialistischen Staaten und der europäische Friede heute vor allem militärisch bedroht sind – nämlich durch moderne nicht primär auf große Landnahme, sondern auf wirkungsvolle, offensive militärische Einwirkung zielende Systeme.

Zweitens zu fordern, daß diese Mittel, bei denen Asymmetrien zu unseren Ungunsten existieren oder entstehen, in Verhandlungen über Stabilität und Reduzierungen einbezogen werden.

Drittens daran zu arbeiten, diese Systeme definier-, kontroll- und damit verhandlungsfähig zu machen. Das erfordert z.B. genaue Unterscheidung zwischen Angriffsfliegerkräften und Abfangjägern, zwischen Kampf- und Transporthubschraubern usw.

Mit Recht hat der Warschauer Vertrag darauf verwiesen, daß auch nach Annahme des Wiener Mandats wichtige Bereiche der militärischen Konfrontation in Europa außerhalb von Verhandlungen bleiben. Es bedarf deshalb alsbald der Aufnahme paralleler Verhandlungen zu den taktischen Kernwaffensystemen und auch zu den Seestreitkräften in europäischen Randmeeren.

Ziel: beiderseitige strukturelle Angriffsunfähigkeit

Sinn und Ziel eines solchen komplexen Herangehens an die europäische Abrüstung ist es, beiderseitige strukturelle Angriffsunfähigkeit zu erreichen. Das ist keine kurzfristig lösbare Aufgabe.

Natürlich reicht die Bestimmung des Zieles allein nicht. Gleichzeitig bedarf es der Ausarbeitung von Wegen, und des Bemühens, Prozesse zu diesem Ziel in Gang zu setzen. Die Eigenart und Schwierigkeit bestehen darin, daß dabei von einem Partner auszugehen ist, der andere Ziele verfolgt. Auch wenn wir hoffen, das Abschreckungsdenken zu überwinden, so sind erste Schritte nur durchsetzbar, wenn sie an aus diesem Denken entstehende Verhaltensweisen und Interessen anknüpfen. Unter diesem Aspekt haben offenbar Schritte der weiteren Ausgestaltung militärisch-vertrauensbildender Maßnahmen die besten Aussichten alsbaldiger Verwirklichung.

Schwieriger werden sich die Verhandlungen über konventionelle Stabilität und Reduzierungen gestalten. Dem weitgehenden Drei-Stufen-Plan des Warschauer Vertrages steht auf Seiten der NATO vorläufig vor allem ein Interesse an der Beseitigung zahlenmäßiger Asymmetrien bei Panzern, SPWs und Artillerie gegenüber. Interesse an tiefen Kürzungen der verbleibenden Kräfte sind zwar hier und da auch bei Regierungskräften von NATO-Staaten erkennbar, aber erst Mitte 1989 soll ein NATO-Gesamtkonzept vorliegen, das Aufschluß über die Absichten dieses Bündnisses geben wird.

Vorbehalte werden von maßgeblichen NATO-Vertretern gegenüber einem offiziellen und vor allem zu verifizierenden Datenaustausch geäußert. Dies und manches andere Verhalten mutet wie ein Versteckspiel an: Je mehr wir uns auf frühere NATO-Forderungen zubewegen, desto mehr rückt die NATO von ihnen ab. Das zeigt, eine große, umfassende Arbeit ist zu bewältigen, um wirkliche Fortschritte zu europäischer Abrüstung herbeizuführen.

II

Die Kriegsunverträglichkeit europäischer Industriegesellschaften gilt in besonderem Maße für die Staaten in Mitteleuropa. Hier bedarf es nicht einmal des Krieges, sondern bereits eine zugespitzte Krisensituation würde schwerwiegende Folgen für die Menschen dieses Gebietes hervorbringen. Stabilität nach innen und außen ist eine Grundbedingung normalen Lebens in allen Ländern dieses Raumes. Wenn andere, fernere Länder hoffen können, ein in Zentraleuropa ausbrechender Konflikt könne womöglich rechtzeitig eingedämmt werden – für viele Menschen dieses Gebietes wäre es dann bereits zu spät. Kriegs- und Konfliktverhinderung ist deshalb ein elementares und dominierendes gemeinsames Interesse der Menschen in den mitteleuropäischen Staaten. Zugleich stehen sich in Mitteleuropa die größten Militärpotentiale der beiden Koalitionen gegenüber. Es ist das dringliche Anliegen der Friedens- und Sicherheitspolitik der DDR, hier, an der mit mehr als 1.000 km längsten unmittelbaren Berührungslinie der beiden Pakte, wo nach wie vor eine Reihe sensibler Sicherheitsprobleme existiert, die militärische Konfrontation zu reduzieren.

Die in Mitteleuropa einander gegenüberstehenden militärischen Kräfte sind solche der beiden Bündnisse. Die nationalen Armeen sind in sie eingegliedert. Kann man unter diesen Umständen spezielle Lösungen für Zentraleuropa überhaupt ins Auge fassen? Lohnen sich eigene oder gemeinsame Initiativen aus Ländern dieses Gebietes? Wesentliche Kräfte in der NATO lehnen dies ab. Nicht zuletzt argumentieren sie dabei mit dem geographischen Faktor, der ihrer Meinung nach den Warschauer Vertrag militärisch begünstigt. Die NATO habe, wegen der geringeren Tiefe ihres Territoriums keine Möglichkeit, dieses durch besondere Zonen weiter zu verringern.

Diese Argumentation kann nicht überzeugen. Sie läßt die Lebenssituation Mitteleuropas völlig außer Acht. Einseitig werden auch die rückwärtigen Verbindungen beider Seiten bewertet. Die existierende Infrastruktur der Warschauer Vertragsstaaten läßt kein schnelleres Heranführen von Verstärkungen aus der Tiefe des Raumes zu als bei der NATO. Zudem sind die Landverbindungen viel leichter zu unterbrechen als die überseeischen Linien.

Besondere Arrangements für Mitteleuropa?

Von ihrer Konzeption ausgehend wollen die NATO-Staaten über besondere Arrangements für Mitteleuropa nur im Rahmen gesamteuropäischer Verhandlungen reden, wobei sie Mitteleuropa »vom Atlantik bis zum Ural« oder zumindest von der Kanalküste bis einschließlich der westlichen Militärbezirke der UdSSR definieren. Maßgebliche Vertreter der NATO-Politik sprechen sogar davon, daß dieses Gebiet den eigentlichen Inhalt einer ersten Verhandlungsrunde der 23 ausmachen müsse, in der man die Flanken vernachlässigen könne. Auf diese Weise soll die Einseitigkeit der Forderungen noch verstärkt und jede Beziehung zu den Seestreitkräften vermieden werden.

Sicher ist es richtig, daß grundsätzliche Lösungen für Mitteleuropa, die strukturelle Angriffsunfähigkeit ausdrücken, des gesamteuropäischen Rahmens bedürfen.

Aber eine weite geographische Ausdehnung des Begriffs Mitteleuropa ist außerordentlich problematisch und die damit verbundene Ausklammerung der Flanken unakzeptabel. Ein solches Herangehen widerspricht dem Grundsatz der Gleichheit und gleichen Sicherheit. Auch scheint es nicht gerechtfertigt, mittel- oder besser zentraleuropäische Maßnahmen ausschließlich als Bestandteil gesamteuropäischer Vereinbarungen regeln zu wollen. Wenn man die ständigen Erklärungen ernst nimmt, daß die Reduzierung der Gefahr eines Überraschungsangriffs eine der Hauptsorgen der europäischen Situation ist, dann muß man doch so schnell wie möglich Maßnahmen für jenen Raum vereinbaren, aus denen ein derartiger Angriff vor allem drohen könnte.

Weil die DDR dieses Argument ernst nimmt und ihrerseits interessiert ist, jede Konfliktgefahr zu reduzieren und zu beseitigen, ist sie zu sofortigen Gesprächen und Verhandlungen über Maßnahmen bereit, die für eine Zone entlang der Berührungslinie der beiden Systeme ein besonderes Regime festlegen könnten. Auf diese Weise würden gegenseitige Befürchtungen vor einem Überraschungsangriff abgebaut, das Vertrauen in die friedlichen Absichten gestärkt, die Möglichkeiten der Konfliktentstehung verringert und gegebenenfalls sein Ausmaß reduziert, damit wenigstens die Chance einer Beilegung bleibt.

Der NATO-Strategie, die nicht nur Abschreckung des Krieges, sondern auch innerhalb des Krieges mit dem Ziel seiner Begrenzung und Beendigung vorsieht, müßte eigentlich ein besonderes Regime für diese grenznahen Gebiete entsprechen. Offenbar sind es mehr machtpolitische als sicherheitspolitische Erwägungen, die vor allem die USA bisher negativ auf solche Vorstellungen reagieren lassen.

Die Vorschläge der DDR, die durch die Beschlüsse des Warschauer Vertrages unterstützt werden, sehen vor:

Erstens die Notwendigkeit, im Rahmen grundgesetzlicher Wandlungsprozesse in ganz Europa zu struktureller Angriffsunfähigkeit ein besonderes Regime für Mitteleuropa und für einen grenznahen Streifen auszuarbeiten. Das geht von der Überlegung aus, daß strukturelle Angriffsunfähigkeit nur zu verwirklichen ist, wenn tiefgreifende Reduzierungen und strukturelle Wandlungen der militärischen Kräfte beider Seiten erfolgen. Dies sollte mit einer Dislozierung der verbleibenden konventionellen Kräfte nach dem Grundsatz verbunden werden: je näher zur Berührungslinie der Bündnisse, um so weniger beweglich, schwerer konzentrierbar und nach Bewaffnung und Ausbildung nicht offensivfähig, aber zugleich in hohem Maße zum Halten von Territorium geeignet. Dies kann nur im Ergebnis eines beiderseitigen Wandlungsprozesses über mehrere vereinbarte Stufen erreicht werden.

Zweitens sollte es jedoch möglich sein, bereits jetzt, das heißt vor gesamteuropäischen Lösungen oder auch parallel zur Beseitigung von Asymmetrien, eine Reihe von Festlegungen über Zentraleuropa zu treffen, um in diesem Gebiet die Situation zum Besseren zu verändern.

III

SED und SPD arbeiteten Vorstellungen über die Bildung einer chemiewaffenfreien Zone und eines kernwaffenfreien Korridors aus. Die Regierungen von DDR und CSSR übermittelten diese Vorschläge als offizielle Angebote an die Regierung der BRD. Obwohl diese bisher nicht bereit war, darauf positiv zu reagieren, haben diese Initiativen zunehmend Unterstützung in der Öffentlichkeit gefunden. Sie bleiben aktuell und die Chancen ihrer Realisierung können sich verbessern. Dies um so mehr, als SED und SPD mit ihrer neuen Initiative vom Juli dieses Jahres zur Schaffung einer Zone des Vertrauens und der Sicherheit die bisherigen Vorschläge ergänzten und erweiterten. Es ist kein Geheimnis, daß die Kommission beider Parteien ihre Arbeit fortsetzt, wobei sie auch mögliche erste Schritte zur Verminderung der militärischen Konfrontation in einem Gebiet entlang der Grenzen zwischen beiden Bündnissen erörtert.

Alle diese Initiativen sind als selbständige Maßnahmen zu betrachten. Zugleich bilden sie insgesamt ein Vorschlagsbündel, dessen Verwirklichung einen Streifen entlang der Berührungslinie der beiden Militärkoalitionen bilden würde, aus dem

  • die Kernwaffen und alle Trägersysteme dualer Verwendung abgezogen;
  • die chemischen Waffen beseitigt;
  • besonders offensivfähige Verbände und Waffensysteme reduziert werden würden. Zugleich würden in diesem Raum
  • militärische Bewegungen und Manöver in besonderer Weise begrenzt: und
  • umfassende Systeme der Kontrolle und der Überwachung eingerichtet werden.

Da alle diese Maßnahmen auf beiden Seiten gleichermaßen verwirklicht werden müßten, entstünde keiner Seite ein Nachteil. Mit dem Blick auf die gegenwärtige Situation in diesem Gebiet kann man sogar feststellen, aus dem Streifen östlich der Grenze müßte wahrscheinlich mehr abgezogen werden als aus dem im Westen.

Welche Vorteile entstünden?

Erstens verringert sich drastisch die Möglichkeit eines Überraschungsangriffs. Danach bleiben in dem betreffenden Gebiet nicht genügend und geeignete Truppen. Ihre Konzentration ist unbemerkt nicht möglich. Die Heranführung von Truppen aus anderen Gebieten würde rechtzeitig entdeckt.

Zweitens verringern sich damit die Chancen für eine groß angelegte Offensive. Alle dafür nötigen Vorkehrungen würden rechtzeitig erkannt. Die Frühwarnung und die Frühwarnzeiten wachsen beträchtlich. Damit verringern sich die theoretischen Erfolgschancen eines derartigen Angriffs weiter. Aber mit dem Schwinden der Chancen des Erfolgs schwindet der Anreiz zu einem solchen abenteuerlichen Schritt.

Drittens wachsen entschieden die Möglichkeiten der friedlichen Beilegung eines Konfliktes oder der schnellen Eindämmung eines zufälligen oder nichtautorisierten Zwischenfalls.

Viertens wird das gegenseitige Vertrauen beträchtlich gestärkt.

Fünftens wären solche Maßnahmen geeignet, als Beispiel und auch als Versuchsfeld, vor allem auf dem Gebiete der Kontrolle und Überwachung zu wirken.

Es existieren also genügend Gründe, diese Initiativen fortzuführen und weiter zu entwickeln. Wir sind dazu bereit.

Gleichzeitig enthält die im Juli dieses Jahres veröffentlichte gemeinsame Initiative mit der SPD einen neuen noch weitergehenden Ansatz. Dieser besteht in dem Vorschlag, Maßnahmen zur Stärkung von Sicherheit und Vertrauen mit kooperativen Schritten zu verbinden.

Vertrauensbildende Maßnahmen

Es ist leider festzustellen, daß im militärischen und sicherheitspolitischen Bereich das System bi- oder gar multilateraler Strukturen in Europa sich erst in einem Anfangsstadium der Herausbildung befindet. Während solche Strukturen auf anderen Gebieten, z.B. der Wirtschaft, des Verkehrs usw. bereits z.T. seit langem existieren, gibt es sie auf dem Gebiet der Konfliktprophylaxe und Konfliktlösung, auf dem Gebiet der Bewertung militärischer Entwicklungen bisher kaum.

Erste Ansätze sind hinsichtlich der Vertrauensbildung mit Stockholm I entstanden. Nunmehr wird hoffentlich bald mit den Verhandlungen der 23 ein solches Gremium für konventionelle Abrüstung gebildet.

Aber für die Herbeiführung gemeinsamer Sicherheit reicht dies nicht aus. Notwendig wären zeitweilig oder auch ständig arbeitende Einrichtungen auf bi- oder multilateraler Basis, in denen erörtert werden könnten:

  • Fragen der Militärdoktrinen und der sich daraus ergebenden strategischen, operativen und anderen Vorstellungen;
  • Austausch von Informationen über sicherheitspolitisch wichtige Fragen, gemeinsame Erörterung und Bewertung daraus resultierender Probleme;
  • gemeinsame Auswertung der Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen und ihrer Ergebnisse in vereinbarten Gebieten;
  • schließlich gemeinsame Erörterung von Maßnahmen die verhindern, daß Vereinbarungen durch Modernisierungen unterlaufen werden und der Prozeß des qualitativen Wettrüstens ungebremst weiter geht.

Diese und andere Fragen bedürfen der Zusammenarbeit. In diese sind alle Staaten beider Bündnisse einzubeziehen, soweit es bündnisumfassende Fragen betrifft. Zugleich können regionale und bilaterale Probleme auf diesen Ebenen erörtert werden. Fortschritte im europäischen Entspannungs- und Abrüstungsprozeß bedürfen der Mitwirkung aller Staaten. Nur wenn ein Ausgleich zwischen allen Interessen auf demokratische Weise herbeigeführt wird, kann dieser Prozeß stabil und dauerhaft sein. Jeder Staat hat das Recht an der Erörterung und Regelung aller Fragen mitzuwirken, die ihn und sein Territorium betreffen. Das gilt auch für die Stationierung und die Verringerung eigener und verbündeter Streitkräfte auf seinem Territorium, ihre Verwendung und Dislozierung. Kooperative Strukturen, von einem gesamteuropäischen Konfliktverhütungszentrum bis zu ständigen direkten Verbindungen zwischen den Bündnissen und einzelnen Staaten, vor allem den Nachbarn auf beiden Seiten der Berührungslinie der Bündnisse, sollten aufgebaut werden. In solchen Strukturen wächst Vertrauen und Sicherheit auf kooperativer Basis intensiver als auf andere Weise. Damit könnten Wege zum besseren gegenseitigen Verständnis, und zum Verständnis der Lage entstehen. Die Bedingungen und Voraussetzungen für tiefgreifende Reduzierungen der Truppen und Rüstungen würden wesentlich verbessert. Kooperative Strukturen sind verwirklichte gemeinsame Sicherheit. Ihr Aufbau in Zentraleuropa ist an keine andere Bedingung geknüpft als an guten Willen. Es gibt keinen vernünftigen Grund, den schrittweisen Abbau solcher Strukturen abzulehnen.

Meines Erachtens ist es eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft, die ihrerseits vielfältige Erfahrungen auf diesem Gebiet besitzt, Vorstellungen und Vorschläge für solche kooperativen Schritte auszuarbeiten. Man könnte sich zum Beispiel denken, daß die Ergebnisse dieser Konferenz, der umfassende Nachweis der Kriegsunverträglichkeit der mitteleuropäischen Industriegesellschaften und ihre sicherheitspolitischen Konsequenzen, Grundlage für wissenschaftlichen, aber auch offiziellen Austausch und Erörterung zwischen den Staaten der Region bilden könnten.

Prof. Dr. Manfred Müller ist am Institut für Internationale Beziehungen (IIB) in Potsdam-Babelsberg (DDR) tätig.