Kalter Frieden in Nordirland


Kalter Frieden in Nordirland

Vom Brexit zusätzlich bedroht?

von Corinna Hauswedell

Der nordirische Friedensprozess mit dem Belfaster Abkommen von 1998 galt vielen als Modell für eine gelungene Bearbeitung eines Gewaltkonflikts. Doch die Konfliktursachen werden weiterhin nur halbherzig adressiert, und die Belfaster Regionalregierung ist Anfang 2017 zerbrochen. Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (Brexit), der beim Referendum von einer Mehrheit der Nordir*innen auch deshalb abgelehnt wurde, weil er die EU-Grenze zwischen dem Norden und dem Süden der Insel errichten würde, hätte das Potential, den ohnehin schon »Kalten Frieden« zusätzlich zu gefährden und alte Gräben wieder aufzureißen. Die schwache britische Premierministerin Theresa May muss sich nun bei der Umsetzung des Brexit ausgerechnet auf die zehn Abgeordneten der unionistischen Partei Nordirlands, DUP, stützen.

Die Situation in Nordirland wird – verglichen mit anderen andauernden Gewaltkonflikten in Europa, im asiatischen Raum oder auf dem afrikanischen Kontinent – mit der Einstufung als »eingefrorener Konflikt« nur teilweise erfasst. Die (all-) tägliche Gewalt des Bürgerkriegs (»The Troubles« von 1968-1998) ist inzwischen vielmehr einem fast 20 Jahre währenden »Kalten Frieden« gewichen: Das Belfaster Abkommen (Good Friday Agreement von 1998)1 hat einen konstitutionellen Kompromiss ermöglicht, den Paramilitarismus gezähmt, eine bedeutsame Polizeireform eingeleitet und 2007 auch eine Regierungskoalition (power sharing) zwischen den beiden radikalen Konfliktparteien, der republikanisch-irisch orientierten Sinn Fein und der unionistisch-britisch orientierten Democratic Unionist Party (DUP), auf den Weg gebracht. Wichtige Vorhaben für eine Postkonflikt-Gesellschaft in den Bereichen der Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik, der kulturellen Anerkennung und der Aufarbeitung der Gewaltgeschichte sind allerdings noch umstritten. Im Januar 2017 zerbrach die regionale Regierungskoalition; seither wird Belfast von seinen Beamten verwaltet, und es droht erneut die direkte Verwaltung (direct rule) aus London.

Nordirland – Modell der Ambivalenzen

Die euphemistisch als »Troubles« bezeichneten dreißig Jahre der Gewalt­exzesse zwischen vorwiegend protestantischen, probritischen Unionist*innen und vorwiegend katholischen, irisch orientierten Republikaner*innen kosteten zwischen 1968 und 1998 über 3.000 Menschen das Leben; weitere 150 Nordir*innen starben bis heute als Opfer politisch motivierter Anschläge. In dieser Zeit des Bürgerkrieges im europäischen »Mutterland der Demokratie« avancierte die Irisch-Republikanische Armee (IRA), nicht zuletzt wegen ihrer Attentate auch außerhalb Nordirlands, zur meist gefürchteten internationalen »Terrororganisation«. 1980/81 starben zehn ihrer Anhänger in einem Hungerstreik, bei dem es wesentlich um die Anerkennung der politischen Dimension des Konflikts, die ethnisch-soziale Ausgrenzung der irisch-katholischen Minderheit und die Trennung des Nordens der Insel von der Republik Irland ging.

Der Hungerstreik markierte einen Wendepunkt in der Konfliktspirale. Die Gewaltakteure, zu denen neben der IRA und der britischen Polizei und Armee auch loyalistische (britisch-treue) paramilitärische Verbände zählten, hielten eine militärische »Lösung« immer weniger für aussichtsreich. Begünstigt durch die politische Entspannung gegen Ende des Kalten Krieges, wurden Initiativen zu einer Deeskalation ergriffen. Zunächst fanden Geheimgespräche zwischen den nordirischen Republikaner*innen und den britischen Sicherheitskräften statt. Ab 1996 wurde unter intensiver Vermittlung des damaligen US-Senators George Mitchell ein komplexes Verhandlungspaket ausgearbeitet, um interne und externe Konfliktparteien, einschließlich der irischen und der britischen Regierung, an einen Tisch zu bekommen.

Der nordirische Friedensprozess galt vielen zunächst als ein erfolgreiches Modell für andere, ähnlich gelagerte Gewaltkonflikte.2 Viel wurde über die »constructive ambiguities« dieses Prozesses –das konstruktive Potential seiner Mehrdeutigkeiten – geschrieben. Beispielsweise wurde versucht, die sicherheitspolitischen Dimensionen, vor allem die Abrüstung der paramilitärischen Waffen (decommissioning), nicht zur Vorbedingung für eine demokratische Partizipation bzw. Regierungsbeteiligung zu machen.3 Die in diesem Prozess angelegte Tendenz, beim Umgang mit Konfliktursachen und bei der Nachsorge auf halbem Wege stehen zu bleiben, ist jedoch nach fast 20 Jahren unübersehbar und prägt das Klima eines »Kalten Friedens«. Richard Haass, Präsident des US Council on Foreign Relations und anlässlich der Belfaster »Flaggenproteste«4 als Vermittler tätig, warnte bereits 2013/14, „[d]ie Gewalt könnte wieder aufflammen, wenn es keinen Fortschritt im Umgang mit der Geschichte der »Troubles« gibt“.5 Er verwies damit auf den Umstand, dass aus einem verschleppten Konflikt rührende, unreflektierte Identitätsansprüche bzw. -verunsicherungen leicht in eine Art neuen »Kulturkrieg« münden können.

Wandel der Identitäten?

In Nordirland ging es schon immer um nationale Identitäten und nationales Selbstverständnis. Die Konfession ist „nur ein Merkmal, an dem sich die Mitglieder der zwei Lager erkennen: Katholiken verstehen sich als Iren, und die meisten von ihnen wählen Parteien, die dem linken Spektrum zugerechnet werden. Die mehrheitlich schottisch-stämmigen Protestanten verstehen sich als Briten und wählen zumeist konservativ bis stramm rechts […]“.6 Dem seit 2012 in Belfast laufenden »Peace Monitoring«- Projekt zufolge, das den demografischen und sozialen Wandel sowie Einstellungsveränderungen seit dem Belfaster Abkommen untersucht, sind die Selbstzuordnungen zwischen religiöser Zugehörigkeit und nationaler Identität, die der Zensus 2011 erstmals explizit erlaubte, bei Weitem nicht mehr so eindeutig, wie dies aus Untersuchungen über Haltungen und Einstellungen aus den Jahrzehnten zwischen 1970 und 2000 abzulesen war. Trotz eines Gesamtanteils von 48 % Protestant*innen bezeichneten sich 2013 weniger als 40 % als britisch; bei einem Anteil von 45 % Katholik*innen beanspruchten sogar nur 25 % eine irische Identität; und weniger als 20 % favorisierten ein vereinigtes Irland. Erstmals tauchte eine neue Kategorie auf: 21 % der Bevölkerung bezeichneten sich als »nordirisch« und befürworteten eine umfassendere nordirische Selbstverwaltung bzw. Autonomie.7 Diese allmähliche Erosion der Identitätszuschreibungen könnte für einen flexibleren Umgang mit den möglichen Folgen des Brexit noch Relevanz bekommen.

Abkommen für einen »Kalten Frieden«?

Es gehörte zu den Paradoxien des seinerzeit international gefeierten Belfaster Friedensabkommens, dass eine Übereinkunft zur konstitutionellen Kernfrage des Konflikts, ob der Norden der irischen Insel künftig zu Irland oder zu Großbritannien gehören sollte, relativ leicht erzielt werden konnte. Man einigte sich auf ein konsensuales Verfahren (principle of consent), das festlegte, diese Frage dem künftigen Meinungsbildungsprozess in der nordirischen Bevölkerung zu überlassen und in einem Referendum abzufragen.

Zunächst aber wurde allen nordirischen Bürger*innen die Möglichkeit gegeben, zwischen der irischen, der britischen oder der doppelten Staatsangehörigkeit zu wählen. Möglich wurde dieser politische Kompromiss, nachdem die Regierung in Dublin den Alleinvertretungsanspruch für den Norden aus der Verfassung der Republik Irland gestrichen hatte. Den irisch orientierten Republikaner*innen (vertreten durch die gemäßigte Social Democratic and Labour Party/SDLP und die radikalere, mit der IRA verbundene Sinn Fein) verlangte diese Regelung einiges ab, hätte sie sich doch als eine Rückversicherung für die Unionist*innen (die gemäßigtere Ulster Unionist Party/UUP und die radikalere DUP) interpretieren lassen und somit auch das radikale loyalistische Lager zufrieden stellen können. Die DUP, geführt von dem presbyterianischen Reverend Ian Paisley, lehnte das Abkommen jedoch als einzige Partei ab.

Dies leitete die erste krisenhafte Dekade des »Kalten Friedens« in Nordirland ein, in der sich die Ratio des Abkommens nur mühsam Bahn brechen konnte und (vorwiegend aus dem loyalistischen Spektrum) immer wieder Anschläge verübt wurden. Erst im Mai 2007, zwei Jahre nach der offiziell verifizierten Abrüstung der IRA, konnte der zweite Kerngedanke des Friedensabkommens Platz greifen: Die Macht wurde geteilt, die beiden radikalen Konfliktparteien bildeten eine gemeinsame Regionalregierung (angeführt zunächst von Ian Paisley/DUP und Martin McGuinness/Sinn Féin) und lösten so die »direct rule« aus London ab.

Innere Fragilität

Diese bemerkenswerte Konstruktion ist bis heute fragil geblieben. Neben einer Polizeireform, mittels derer die paritätische Rekrutierung von katholischen und protestantischen Offizieren und ein Ombudssystem der Überwachung polizeilicher Arbeit durch die Zivilgesellschaft eingeführt wurde, wurden zahlreiche weitere Vorkehrungen getroffen, um die konfliktträchtige Erinnerungskultur zu zähmen. Beispielsweise hat die Einführung einer »Parade Commission« zu einer gewissen Beruhigung der jährlichen »Marschsaison« beigetragen; seit 2016 werden sukzessive einige der »Peace Walls«, die die katholischen und protestantischen Belfaster Straßenzüge bis dato voneinander trennten, entfernt.8

Der Zugewinn an Sicherheit geht bisher jedoch nicht mit einem Zugewinn an Handlungsfähigkeit der gewählten Repräsentanten bei den anderen grundlegenden Themen kooperativen Zusammenlebens einher. Was in der ersten Phase nach der Umsetzung des Belfaster Abkommens als konstruktive Mehrdeutigkeit durchgehen mochte, erweist sich nun zusehends als Hindernis. Das Demokratiedefizit der Konkordanz, die keinen Raum für echte Opposition lässt, begünstigt das mentale Verharren in alten Gräben, wodurch der Konfliktinhalt fortlebt.9 Es scheint, als sei der moralische Impuls des Neuanfangs, den das Belfaster Abkommen darstellte, verbraucht.

So kehrte (der im März 2017 verstorbene) Martin McGuinness, Co-Chef der nordirischen Regionalregierung, im Januar 2017, mitten in den Brexit-Wirren, dem Belfaster Parlamentsgebäude den Rücken und erklärte die Koalition der Sinn Fein mit der DUP für gescheitert. Offenbar gab es zu viele Fälle der Patronage und Demütigungen, z.B. energiepolitische Investitionen, die vorwiegend in die Taschen unionistischer Hausbesitzer flossen, oder die Weigerungen, die im Abkommen vorgesehene Förderung der irischen Sprache materiell abzusichern und voranzutreiben. Bei den anschließenden Neuwahlen am 2. März 2017 konnte die Sinn Fein mit ihrer neuen Vorsitzenden Michelle O‘Neill große Stimmengewinne verbuchen, während die pro-britischen Parteien in Belfast erstmals seit 1998 ihre Mehrheit verloren, wenngleich die DUP unter Arlene Foster knapp stärkste Partei blieb.10 Die anschließenden Versuche einer Regierungsneubildung haben bis heute kein Ergebnis erbracht und werden durch die Tatsache erschwert, dass die DUP mit ihren zehn Sitzen im britischen Parlament seit Juni 2017 die Steigbügelhalterin für Theresa Mays gewagten Ritt durch den Brexit ist. Dass die britische Regierungsfähigkeit nun ausgerechnet von den auch in anderen Fragen radikal-konservativen DUP-Abgeordneten abhängt, schwächt in erheblichem Ausmaß die im Belfaster Abkommen geforderte Neutralität Großbritanniens. Das würde auch ohne den Brexit schwer genug wiegen und wurde von der Sinn Fein bereits kritisch adressiert.11

Durch den Brexit zum Bruch?

Verlässt Großbritannien wie geplant den europäischen Binnenmarkt und auch die Zollunion, entsteht zwischen Nordirland und der Republik Irland die einzige Landgrenze der EU zu Großbritannien. Dann müssten hier z.B. die Ein- und Ausfuhren kontrolliert werden. Es war aber gerade die bisher offene Grenze, die nach dem jahrzehntelangen Konflikt wesentlich zu einer Normalisierung des Lebens in Nordirland beitrug und die Wirtschaft stärkte: „[E]in rigider Brexit mit Infragestellung des Gemeinsamen Marktes auf der Insel würde vor allem das Leben vieler Nordiren durcheinanderbringen“, so Peter Mandelson, ehemaliger Nordirlandminister in der Regierung Tony Blair und etliche Jahre EU-Handelskommissar.12

Mit diesen ökonomischen Befürchtungen sind auch demokratiepolitische Dimensionen verbunden. Mehr als die Hälfte der Nordir*innen stimmte gegen den Brexit; bei einem inzwischen fast 50/50-Verhältnis katholischer und protestantischer Bevölkerungsteile muss also auch ein deutlicher Anteil der Protestant*innen den Brexit abgelehnt haben. Die Wiedererrichtung einer Grenze mit militärisch-polizeilicher Absicherung des Grenzverkehrs widerspricht in jeder Hinsicht dem Belfaster Abkommen – diese mehr als 300 Meilen waren schon während der »Troubles« nicht zu sichern.

Manche Nordir*innen entscheiden sich für individuelle Auswege: Die Zahl der Anträge für irische Pässe schnellte deutlich nach oben.13 Seitens der Sinn Fein nehmen die Warnungen vor den möglichen Brexit-Folgen zu, und die langjährige Dubliner Regierungspartei Fianna Fail, die bei den vorletzten Wahlen wegen ihres Austeritätskurses auf die Oppositionsbank geschickt worden war, legte im Frühjahr 2017 einen 12-Punkte-Plan für eine Wiedervereinigung vor.14

In öffentlichen Erklärungen bemühen sich die irische wie die britische Regierung aus unterschiedlichen Perspektiven um Schadensbegrenzung. Bei den bisherigen Treffen in Brüssel versprach die EU-Kommission, den »Sonderstatus« Nordirlands irgendwie zu berücksichtigen. Da aber gegenwärtig niemand weiß, wie die Bedingungen und das Procedere des Brexit wirklich aussehen werden und in welchem Zeitrahmen er umgesetzt wird, wächst vor allem die allgemeine Verunsicherung. Diese Irritation von außen könnte der »eingefrorenen« Situation, die im Inneren nach wie vor sehr fragil ist, schweren Schaden zufügen. Keine guten Aussichten in Zeiten, in denen vielerorts in Europa die Ängste „überforderter Identitäten“15 spürbar werden.

Anmerkungen

1) Der Wortlaut des Abkommens steht unter ­peaceaker.un.org/uk-ireland-good-friday98.

2) Eine ausführliche Bestandsaufnahme der ersten Jahre liefert W&F-Dossier 45: Hauswedell, C. (2004): Der nordirische Friedensprozess – ein Modell?

3) Vgl. z.B. Cox, M.; Guelke, A.; Stephen, F. (eds) (2006): A Farewell to Arms? Beyond the Good Friday Agreement. Manchester/New York: Manchester University Press, 2nd edi­tion.

4) Bei den »Flaggenprotesten« wehrten sich loyalistische Organisationen dagegen, dass der »Union Jack« – die britische Flagge – nur noch an bestimmten Tagen auf dem Belfaster Rathaus geflaggt werden sollte. Siehe dazu mehr bei Hauswedell, C. (2014): Nordirland – Sieht so Frieden aus? W&F 2-2014.

5) Richard Haass warns NI violence could re-emerge without progress. BBC.com, 12.3.2014.

6) Patalong, F. (2016): Brexit bringt Frieden in Nordirland in Gefahr. spiegel.de 26.6.2016.

7) Nolan, P. (2013): Northern Ireland Peace Monitoring Report Number Two. Belfast: Community Relations Council, S. 5 und 34/35.

8) O’Sullivan, F. (2016): The Complex Process of Demolishing Belfast’s »Peace Walls«. citylab.com, 16.8.2016.

9) Zu den Problemen der nordirischen Konkordanzdemokratie, die häufig eher die Partikularinteressen der Konfliktparteien als inte­grative plurale Lösungen befördert, vgl. auch Moltmann, B. (2013): Ein verquerer Frieden – Nordirland fünfzehn Jahre nach dem Belfast-Abkommen von 1998. Frankfurt: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, HSFK Report 5/2013.

10) Patalong, F. (2017): Protestanten verlieren Mehrheit im Parlament. spiegel.de, 4.3.2017.

11) Zaschke, C (2017): Wie Mays Machtpoker den Nordirlandkonflikt verschärft. sueddeutsche.de, 16.6.2017.

12) UK pursuing »reckless interpretation« of Brexit referendum result – Mandelson. ret.ie (Website von Raidió Teilifís Éireann), 18.9.2017.
Eindrückliche Fallbeispiele möglicher Folgen für die Menschen bei Wiedereinrichtung der Grenze finden sich bei Smith, S; Jaber, Z. (2017): Old Border, New Worries. nbcnews.com, 17.10.2017.

13) Demand for Irish passports reaches record high in 2016. Irish Times, 28.12.2016, S. 6.

14) O’Brien, C. (2017): Fianna Fáil announce they are drawing up a 12 point proposal for an United Ireland. theliberal.ie, 13.3.2017.

15) Zielcke, A. (2016): Die verunsicherte Gesellschaft. Süddeutsche Zeitung, 12.10.2016.

Corinna Hauswedell war bis 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) und Mitherausgeberin der jährlichen Friedensgutachten (LIT-Verlag).

Rethinking Europe in an unequal world

Rethinking Europe in an unequal world

Gemeinsame Konferenz von EuPRA und AFK, 16.-18. März 2017, Schwerte

von Thomas Mickan

Das Jahreskolloquium 2017 der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) wurde in Kooperation mit der Ev. Akademie Villigst sowie erstmals in Kooperation mit der European Peace Research Association (EuPRA) als Joint Conference organisiert. Das Kolloquium »Peace and Conflict Studies from the margins to the center. Rethinking Europe in an unequal world« fand an der Akademie statt und wurde durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF) gefördert.

Aktuelle politische Entwicklungen – angefangen von Fluchtbewegungen, anhaltender sozialglobaler Ungleichheit bis hin zu Nationalismus und Militarisierung – verdeutlichen die Dringlichkeit dieser gemeinsamen Tagung. Im Zentrum standen daher verschiedene reflexive, kritische, empirische und normative Perspektiven auf jene realpolitischen Phänomene. Dabei sollten eurozentristische, postkoloniale und andere hegemoniale Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata herausgefordert und Alternativen zum so genannten »westlichen Denken« aufgezeigt werden. Über 20 Panels, die Keynote und verschiedene Panelformate boten hierzu Gelegenheit.

Eröffnung

In ihrer Keynote ging Meera Sabaratnam (London) auf die Notwendigkeit der Dekolonisierung der Friedens- und Konfliktforschung (FuK) ein und präsentierte so einen richtungsweisenden Leitgedanken für den weiteren Tagungsverlauf. Insbesondere forderte sie, westliches Denken und Wissen zu dekolonisieren, da die FuK nach wie vor kolonialen Strukturen unterliege. Als Beispiel hierfür nannte sie sprachliche und konzeptionelle Codes, wie etwa der staatszentrierte Terminus »warlord«, welcher dem Akteur seinen politische Legitimität abspreche und von tiefem Orientalismus geprägt sei.

Eine Alternative könne sein, marginalisierten Menschen eine weitreichendere Partizipation zu bieten, aber nicht in instrumenteller, sondern in dialogischer Absicht. Sie wies gleichzeitig auf die Herausforderungen dieser Absicht hin und schloss mit Frantz Fanon, dass Europa seine politische Verantwortung endlich wahrnehmen solle und den Dialog mit den (vermeintlich) »Anderen« beginnen müsse. Im Einklang mit diesem Aufschlag war die Frage nach alternativen Handlungskonzepten zu europäischen/»westlichen« Hegemonialkonzepten auch Gegenstand vieler Panels und Diskussionen.

Panels

Bei den Panels wurden vielseitige methodische Ansätze und theoretische Perspektiven gewagt. Im Vordergrund stand unter anderem die kritische Auseinandersetzung mit den konzeptionellen Grundlagen (Prämissen und Begriffen) der FuK, mit dekolonialen Ansätze sowie mit Feminismen. Dabei wurden thematische Verknüpfungen zu Flucht und Migration oder auch zu Medien und öffentlicher Wahrnehmung hergestellt. Weitere Panels beschäftigten sich mit Themen wie innerstaatliche Konflikte und Transitional Justice. Neue Perspektiven auf (vermeintlich) ethnisch motivierte Konflikte, aber auch empirische Ansätze mit quantitativer Methodik, die bei dekolonialen Stoßrichtungen seltener zu erwarten sind, wurden diskutiert. Hinsichtlich erkenntnistheoretischer Ansätze wurden mentale Bilder auf die und in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit und natio­nalen Katastrophenhilfe kritisch dekon­struiert. Aktuellere politische Phänomene wurden immer wieder Gegenstand der Betrachtung, etwa bei einer sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem geflügelten Satz „Wir schaffen das!“, geprägt von Bundeskanzlerin Merkel.

Die Frage nach Alternativen zu hegemonialen Denk- und Handlungspraktiken stellte einen panelübergreifenden roten Faden dar. In einem Panel wurde diesbezüglich festgestellt, der wissenschaftliche Apparat habe es versäumt, an herrschaftsfreieren Zugängen, Methodiken und Handlungsoptionen zu arbeiten. So wurde in dieser ernüchternden und offenen Bestandsaufnahme zugleich Verantwortung seitens der Wissenschaft für die vorhandenen Leerstellen übernommen. In einem weiteren Panel wurden epistemische Gewalt, der Eurozentrismus in der Kritik am liberalen Frieden sowie der Eurozentrismus von Friedensbegriffen selbst, der auch in anderen Panels Gegenstand war, näher untersucht.

Der Versuch, Forschung zu dekolonisieren, zeigte sich äußerst praxisbezogen in einem Panel zur Dekolonisierung von wissenschaftlichen Methodologien. Ausgetragen wurde jenes Panel in einem Stuhlkreis, wodurch bereits im didaktischen Format selbst die übliche Konferenzhierarchie aufgebrochen wurde. Ein weiteres Vortragsformat war dialogisch angelegt; die beiden Vortragenden fragten sich gegenseitig, wie sie die Dekolonisierung praktisch gestalten könnten, etwa, indem der Forschung das vermeintliche »Zentrum« entzogen werde. Exemplarisch wurde dies illustriert anhand der Arbeit von Studierenden, in der diese den kolonialistischen Film »Pocahontas« mit der »Rede über den Kolonialismus« von Aimé Césaire künstlerisch kontrastierten.

Die thematische Stoßrichtung zeigte sich darüber hinaus im Panel zu feministischen Interventionen und nicht-westlichen feministischen Ansätzen. In diesem wurde das Konzept von Transitional Justice aus der Perspektive von feministischen people of color kritisiert. Ein Beitrag thematisierte die orientalistische Darstellung muslimischer Frauen in Modemagazinen. Abschließend wurde in selbigem Panel via Skype von zwei brasilianischen Forscherinnen, die nicht persönlich an der Tagung teilnehmen konnten, die feministische Erkenntnistheorie von Carolina Maria de Jesus vorgestellt.

In der Besetzung der verschiedenen Panels spiegelte sich ein Anliegen der Konferenz wider: Vielfalt zu berücksichtigen und marginalisierten Personen einen gemeinsamen Raum zu bieten. So war der Anteil an Frauen, jungen Wissenschaftler*innen, Wissenschaftler*innen des Globalen Südens und people of color deutlich höher als bei vielen Konferenzen und Tagungen in Deutschland gewohnt.

Christiane-Rajewsky-Preis

Ein Höhepunkt der Tagung war die alljährliche Verleihung des Nachwuchspreises der AFK, der die herausragende Dissertation »Ordering by default. The power and politics of post-coup interventions in Africa« von Antonia Witt (aktuell: Frankfurt) ehrte.

Abschlusspodium

Perspektiven der Friedensnobelpreisträgerin Tawakkol Karman (Jemen), von Akbota Zholdasbekova (Kasachstan) sowie Martina Fischer (Deutschland) auf aktuelle Friedensherausforderungen in einer postkolonialen Ära der globalen Transition waren Gegenstand der zweiten Plenarsitzung. Die drei Panelistinnen beleuchteten in ihren eindrücklichen Beiträgen den Kampf emanzipatorischer Bewegungen im Jemen, Politikberatung in Kasachstan sowie die praktische Arbeit als friedensforschend Aktive. So trafen sich feministischer, pazifistischer Aktivismus, Politikberatung und Wissenschaft auf diesem Podium.

Allerdings wurde der inhaltliche und feministische Anspruch der Panelistinnen nicht von allen Anwesenden verstanden, was zu erheblichem Unmut führte. Das Netzwerk Friedensforscherinnen der AFK äußerte sich im Anschluss in einer Stellungnahme, die auf afk-web.de online steht und darauf verweist, dass auch innerhalb der FuK-Community erheblicher Lernbedarf und Anlass zur kritischen Reflexion über das eigene Denken und Handeln besteht.

Internationalisierung

Die Tagung wurde erstmals in Kooperation mit der EuPRA abgehalten, die auch ihre Mitgliederversammlung während der Tagung abhielt.

Mit der Joint Conference wurde ein wichtiger Schritt Richtung Internationalisierung der AFK getan. Wurde noch in der Mitgliederversammlung des letzten AFK-Kolloquiums über diese fehlende Komponente diskutiert, gestaltete sich diesmal nicht nur das Publikum merklich vielfältiger, sondern dies traf auch auf die Panelist*innen und ihre Beiträge zu.

Resümee

Die Joint Conference »Peace and Conflict Studies from the margins to the center. Rethinking Europe in an unequal world« hat einen wichtigen Beitrag zur Internationalisierung der deutschsprachigen Friedens- und Konfliktforschung geleistet. Vor dem Hintergrund globalpolitischer Phänomene wies die Veranstaltung ein hohes Maß an Selbstkritik auf. Mit ihrer Offenheit gegenüber dekolonialen Ansätzen nahm die Konferenz auch den Bedarf vieler jüngerer Wissenschaftler*innen ernst und bot ihnen eine institutionelle Plattform.

Ein ausführlicher Tagungsbericht mit Beschreibungen aller Panels wird auf der AFK-Website afk-web.de und auf dem eigens von der Jungen AFK eingerichteten und betreuten bretterblog.wordpress.com verfügbar gemacht.

Sofia Ganter und Tim Bausch

Flüchtlings­verantwortung


Flüchtlings­verantwortung

Europäische Asylpolitik in der Krise

von Anna Lübbe

Die so genannte europäische Flüchtlingskrise ist vor allem eine Krise der Zuordnung (Allokation) von Flüchtlingsverantwortung: Welcher Staat übernimmt das Asylverfahren und gewährt gegebenenfalls den Schutz und die weiteren in der Genfer Konvention vorgesehenen Rechte? Dürfen Flüchtlinge sich ihren Asylstaat aussuchen? In diesem Beitrag wird zunächst dargestellt, was die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) zur Zuordnungsfrage sagt. Dann werden die Allokationsmechanismen des geltenden »Dublin-Systems« und die aktuellen Reformvorschläge der Europäischen Kommission diskutiert und bewertet.

Die 1951 verabschiedete GFK enthält kaum Bestimmungen darüber, welcher Vertragsstaat für welche Flüchtlinge die Verantwortung tragen soll.1 Der Notwendigkeit der Verantwortungsteilung war man sich aber bewusst, die Präambel mahnt zwecks Vermeidung unzumutbarer Belastungen für einzelne Staaten eine internationale Zusammenarbeit an.

Aus dem Flüchtlingsbegriff der GFK lässt sich immerhin ableiten, dass die Konvention nicht als völkerrechtliches Instrument konzipiert ist, das nur die Anrainerstaaten von Verfolgerstaaten (Erstaufnahmestaaten) in die Pflicht nimmt. Als Flüchtling ist nicht definiert, wer den Antragsstaat unmittelbar von einem Verfolgerstaat aus betritt, sondern wer sich irgendwo außerhalb seines Staatsangehörigkeitsstaates befindet und verfolgungshalber nicht in ihn zurückgeschickt werden kann. Die GFK geht davon aus, dass Flüchtlinge die vorgesehenen Gewährleistungen im Zweifel dort erhalten, wo sie sie nachfragen. Ein völkerrechtlicher Konsens, die GFK enthalte ein Recht der Betroffenen auf freie Wahl des Asylstaates, hat sich jedoch nicht etablieren können (Foster 2007, S. 235). Staaten können sich entscheiden, von der Zuordnung qua Antragsort durch Zuständigkeits- und Übernahmeabsprachen abzuweichen, also Allokationsregime zu errichten, die für die Betroffenen auch mit Zwangszuordnungen verbunden sein können.

Mangels Konsens über die Verantwortungsteilung haben sich in den Vertragsstaaten unterschiedliche Strategien und Missstände im Umgang mit realen oder befürchteten Überlastungen etabliert (Hathaway und Gammeltoft-Hansen 2015). Die Erstaufnahme- und Transitstaaten gewähren zwar zumeist Refoulement-Schutz,2 aber keine dauerhafte Lebensperspektive. In der Folge halten sich dort teils sehr viele Flüchtlinge auf, jedoch vielfach unter prekären Umständen. Die so genannten Fluchtzielstaaten, darunter Deutschland, tendieren dazu, die Weiterwanderung von Flüchtlingen von Erstaufnahme- und Transitstaaten aus als sekundäre Migration anzusehen und sich dagegen teils unter Einsatz enormer Ressourcen abzugrenzen. Verbreitet etablieren sich Mechanismen, irregulär ins Land gekommene Schutzsuchende rückwärts entlang der Fluchtrouten auf andere Schutzstaaten zurückzuverweisen.

In Zeiten steigenden Flüchtlingsaufkommens, wie aktuell, tendiert der Allokationskonflikt dazu, in unilateralen Abwehrmaßnahmen zu eskalieren. Es kommt vermehrt zu Menschenrechtsverletzungen im Umgang mit Schutzsuchenden, zu Refoulement-Verstößen, unverhältnismäßigen Inhaftierungen, Versorgungsmissständen und »in orbit«-Situationen.3 Zäune werden gebaut, Aufnahme- und Verfahrensstandards werden gesenkt, und Forderungen nach der Setzung nationaler Obergrenzen greifen um sich.

Das Dublin-System

Die Allokation im so genannten Dublin-System ist von ihrem Ursprung im Schengen-Recht4 her nicht solidarisch, sondern sicherheitsorientiert konzipiert. Im Zuge des Abbaus der Binnengrenzen sollte die Grenzsicherung an den Außengrenzen des Kooperationsraumes intensiviert werden. Dazu passt das im Dublin-System vorherrschende Ersteintrittsprinzip: Für den Umgang mit Drittstaatlern soll derjenige Staat verantwortlich sein, der sie in den Kooperationsraum hineingelassen hat. Als Zuordnungsprinzip für Flüchtlingsverantwortung taugt das nicht: Die Staaten dürfen Asylantragsteller*innen nicht zurückweisen, und ohne Bereitstellung regulärer Zugangsmöglichkeiten mindestens für die Schutzbedürftigen unter den Migrant*innen ist die Abwehr irregulärer Migration auch nicht uneingeschränkt legitim.

Im Zuge der Erweiterungen der Europäischen Union, der Supranationalisierung des Asylrechts auf der Grundlage des Vertrags von Amsterdam (1999) und der Reform des Dublin-Systems zur Dublin-III-Verordnung (2013) blieb es bei der Herrschaft des Ersteintrittsprinzips. Es lag im Interesse der einflussreicheren, nicht am südlichen und östlichen Rand des Kooperationsraumes gelegenen Mitgliedstaaten, die Asylverantwortung von sich fernzuhalten und die Randstaaten des Dublin-Raumes zur Abgrenzung nach außen anzuhalten. So ist der Allokationskonflikt mit seinen prekären, kompetitiven Abgrenzungsstrategien an den Außengrenzen des Kooperationsraumes umso schärfer hervorgetreten – mit tödlichen Folgen für viele Tausend Schutzsuchende.

Effizient realisieren ließ sich das Dublin-System bekanntlich nicht (Lübbe 2015). Ungeachtet aller Abgrenzungsbemühungen kommen Schutzsuchende in großer Zahl auf irregulären Wegen nach Europa. Die überproportional belasteten Ersteintrittsstaaten boykottierten das System, indem sie ankommende Schutzsuchende weiterwandern ließen, statt sie zu registrieren. Und die Schutzsuchenden folgen nicht den Zwangszuordnungen des Dublin-Systems, sondern ihren Verbindungsinteressen und Lebenschancen. Die irregulären Dublin-Realitäten führen zu aufwendigen behördlichen und gerichtlichen Mehrfachbefassungen und werfen eine Fülle schwieriger Rechtsfragen auf. Insgesamt kann man sagen, dass sich das europäische Allokationsregime, das als knappes Vorverfahren vor dem Asylverfahren im jeweils zuständigen Staat gedacht war, zum bürokratischen Wasserkopf des Asylverfahrens entwickelt hat, soweit es nicht – von Anfang an und verstärkt unter der Krise – dem Vollzugsdefizit anheimfiel.

Kritik und Reformüberlegungen insbesondere zur Lastenteilung haben die europäische Asylkoordination stets begleitet. An Vorschlägen ist neben der freien Asylwahl und Varianten einer Zuordnung nach Länderquoten die Einräumung europäischer Freizügigkeit für die Anerkannten unter den Schutzsuchenden zu nennen (Sachverständigenrat 2015, S. 61ff). Keiner dieser Vorschläge wurde aufgegriffen. Noch bei der 2014 in Kraft getretenen Reform zur Dublin-III-Verordnung gab es nur unwesentliche Veränderungen des Bisherigen. Verspätete Bemühungen der EU-Kommission, während der Krise über die Aktivierung der Massenzustromrichtlinie und über Umverteilungen doch noch mehr Lastenteilung zu realisieren, scheiterten bzw. kamen mangels Beteiligungsbereitschaft kaum voran.

Reformvorschläge der EU-Kommission

In Reaktion auf die Krise entwickelt die EU derzeit neue Strategien (Europäische Kommission 2016). Die Lastenteilung innerhalb des Dublin-Raumes soll durch einen Umverteilungsmechanismus erreicht werden, der automatisch einsetzt, wenn ein Mitgliedstaat gemessen an einem relativen Soll, das sich an Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft orientiert, über 150 % Anträge zu verzeichnen hat. Die Asylkooperation innerhalb Europas soll durch Migrationspartnerschaften mit Drittstaaten ergänzt werden, auf deren Basis möglichst alle irregulär in Europa ankommenden Schutzsuchenden an außereuropäische Transitstaaten zurückverwiesen werden sollen.

Dem Vorschlag liegt die Idee zugrunde, dass Europa Flüchtlinge künftig möglichst kontingentweise und kontrolliert aufnehmen soll. Dass Schutzsuchende irregulär nach Europa kommen, soll weiterhin und verstärkt verhindert werden. Wer dennoch durchdringt, soll im Ersteintrittsstaat aufgefangen und mit seinem inhaltlich ungeprüften Schutzgesuch von den außereuropäischen »Migrationspartnerstaaten« zurückgenommen werden. Zu den auszuhandelnden Gegenleistungen kann neben finanzieller Unterstützung des Kapazitätsaufbaus vor Ort auch die kontingentweise Aufnahme Schutzbedürftiger aus dem außereuropäischen Ausland (Resettlement)5 gehören. Einmal angenommen, diese Strategie ließe sich für alle großen Zugangsrouten realisieren, liefe das für Europa auf eine Art Obergrenze hinaus, die ich im Unterschied zu Obergrenzen im nationalen Alleingang »kooperative Obergrenze« nennen möchte. Sie funktioniert nicht mit (innereuropäischen) Grenzzäunen, Wasserwerfern und Tränengas, sondern mit »Hotspot-Lagern«, Schnellverfahren und Rückführungen.

Für die Aufnahme von Resettlement-Kontingenten aus dem außereuropäischen Ausland, speziell aus Staaten, die unstreitig weit belasteter sind als Europa und in denen sich Schutzbedürftige unter dauerhaft nicht erträglichen Umständen aufhalten, spricht viel. Fluchtmigration im Rechtssinne ließe sich dabei besser von der sonstigen Migration trennen und in geordnetere, weniger aufwendige und kalkulierbarere Bahnen lenken. Auch fielen die aufwendigen Zuordnungs- und Asylverfahren und damit integrationsschädlich lange Phasen des prekären Aufenthalts weg. Den Ausgewählten würde diese Form des Zugangs lebensgefährliche Fluchtwege und Investitionen in Fluchthelfer ersparen. Und sie eröffnete gerade auch jenen eine Chance, die besonders dringend eine brauchen, weil sie es aus eigener Kraft bis zu einem für sie erträglichen Schutzort nicht schaffen. Schließlich ließe sich so vermeiden, dass durch die Flucht Familien zerrissen werden, denn die würde man als Ganze aufnehmen. Wenn solche regulären Zugangswege in relevantem Ausmaß zur Verfügung stünden, würde gewiss auch mancher Flüchtling, der zunächst nicht ausgewählt wurde, eher noch auf seine Chance warten, als es auf irregulärem Weg zu versuchen. Dadurch ließe sich das Migrationsgeschehen in ruhigere Bahnen lenken, anstelle von Wellen, die möglicherweise nicht nur auf akut schwankenden Schutzbedarfen, sondern auch auf selbstverstärkenden Mechanismen beruhen und die grundsätzlich vorhandene Aufnahmekapazitäten überlasten und -bereitschaften kippen lassen können.

Problematisch ist allerdings die Vorstellung, die Asylverantwortung ließe sich durch die Rückverweisung irregulär ankommender Schutzsuchender an außereuropäische Transitstaaten auf humane, effiziente und solidarische Weise im Wesentlichen auf die kontrolliert aufgenommenen Personen begrenzen. Ein umfangreiches Rückverweisungsregime in Hotspots am Rande Europas wäre auf menschenrechtsgerechte Weise wohl kaum zu realisieren (Markard und Heuser 2016). Und die Einordnung insbesondere der Türkei als tauglicher Verweisungszielstaat ist bis auf Weiteres mit zwingenden, in der Asylverfahrensrichtlinie niedergelegten Voraussetzungen unvereinbar (Peers 2016; Marx 2016).

Bedenken gegen die vorgeschlagene Reform bestehen auch im Hinblick auf die Familieneinheit. Zwar ist zu begrüßen, dass im Entwurf für eine neue Dublin-Verordnung die Relevanz familiärer Beziehungen für die Zuordnung auf Geschwisterbeziehungen und auf Beziehungen erweitert werden soll, die auf der Flucht eingegangen wurden. Jedoch geht in dem Entwurf die Rückführung in Länder außerhalb Europas solchen Zuordnungen zwingend vor. Dass dabei keinerlei Rücksicht auf familiäre Verbindungen in Europa genommen werden soll, ist mit dem Menschenrecht auf Familienleben unvereinbar (Lübbe 2017a).

Positiv ist zu bewerten, dass künftig Schutzsuchenden von Anfang an ein Rechtsbeistand gestellt werden soll. Das effizienzsteigernde Potential von mehr Verfahrensgerechtigkeit anstelle der Reduktion von Verfahrensrechten wird bisher verkannt. Hinsichtlich der Verteilung setzt das neue europäische System indessen nicht auf eine möglichst kooperative und interessengerechte Zuordnung, sondern auf Repression. Die Weiterwanderung Schutzsuchender soll mit drastischen Sanktionen unterbunden werden. Es ist zweifelhaft, ob sich die Zuordnungen auf diese Weise effizient realisieren lassen werden, zumal wenn die Gerichte nach und nach die menschenrechtlichen Grenzen der Anwendung dieser Vorgaben auf die entstehenden Realitäten herausarbeiten.

Im Hinblick auf die Lastenteilung wäre der innereuropäische Umverteilungsmechanismus ein Fortschritt. Inwieweit er allerdings Anwendung findet, hängt davon ab, in welchem Umfang es angesichts der zwingend vorrangigen Rückführungen an außereuropäische Transitstaaten noch zu innereuropäisch zu verteilenden Zugängen käme. Bei einer Überlastung der Ersteintrittsstaaten dürfte es jedenfalls bleiben. Der Ersteintrittsstaat muss vor der Dublin-Zuordnung prüfen, ob das Schutzgesuch auf einen außereuropäischen Staat verwiesen werden, wegen Zugehörigkeit des Betroffenen zu einem so genannten sicheren Herkunftsstaat im Schnellverfahren abgehandelt oder aus Sicherheitsgründen abgelehnt werden kann. Nur Gesuche, bei denen all das nicht der Fall ist, kämen überhaupt noch in das innereuropäische Zuordnungsverfahren.

Global gesehen wäre die kontingentierte Aufnahme Schutzbedürftiger aus dem Ausland an und für sich ein Kristallisationskeim für mehr Verteilungsgerechtigkeit. Die Idee der »geteilten Verantwortung« würde aber zur »verschobenen Verantwortung« pervertiert, würde das Resettlement künftig davon abhängig gemacht, dass die begünstigten Staaten in großem Stil irregulär zugewanderte Schutzsuchende zurücknehmen. Es ist nicht der Sinn des Resettlement, »kooperative Obergrenzen« für hoch entwickelte Regionen durchzusetzen.

Fazit

Eine kooperative Lösung für das Allokationsproblem ist unabdingbar, wenn der Dublin-Raum nicht in einem eskalierenden Abgrenzungswettbewerb ins Inhumane zerfallen soll. Der Lösungsversuch der EU-Kommission enthält positive Ansätze zu mehr innereuropäischer Lastenteilung, stellt sich aber zugleich als Steigerung der das europäische Asylregime ohnehin prägenden Tendenzen dar, die Lasten nach Kräften zu externalisieren. Das ist keine nachhaltige Strategie und verweist auf die Notwendigkeit, die Allokation von Flüchtlingsverantwortung global zu denken (Lübbe 2017b, sub IV.5.). Ein Anreiz für eine global gerechtere Lastenteilung könnte die Überzeugung sein, dass Humanität und Solidarität Werte sind, die zu achten sich auch deshalb lohnt, weil von Fluchtursachen bzw. Überforderung in anderen Zeiten andere Menschen bzw. Staaten betroffen sein können. Der Aufbau eines humanen und effizienten, globalen Regimes zur Allokation von Flüchtlingsverantwortung wird wohl ein längerer Prozess werden. Den im Zuge dieser Umstellung zu Tage tretenden inneren und äußeren Konflikten wird man sich stellen müssen.

Anmerkungen

1) Zuordnungsregeln sind in der GFK insofern enthalten, als Schutzbedürftige, die innerhalb ihres Heimatstaates oder in einem Staat einer weiteren Staatsangehörigkeit Schutz finden können, vom Konventionsflüchtlingsschutz ausgenommen sind (Art. 1(A)2 GFK), ebenso Menschen, die sich in einem Staat mit Rechten wie Staatsangehörige aufhalten (Art. 1(E) GFK). Eine negative Zuordnungsregel ist das Refoulement-Verbot (Art. 33 GFK), das nicht nur die Verweisung der Schutzbedürftigen auf den verfolgenden Heimatstaat, sondern auch auf jeden anderen Verfolgerstaat verbietet.

2) Refoulement-Schutz ist die Nicht-Zurückweisung in Verfolgerstaaten oder Staaten, die ihrerseits in Verfolgerstaaten abzuschieben drohen.

3) Als »refugee in orbit« bezeichnet man einen Flüchtling, der nirgends Zugang zu einem Anerkennungsverfahren und zu den Statusrechten findet.

4) Zum Schengen-Raum gehören bis auf Großbritannien und Irland und die Teilanwender Bulgarien, Rumänien, Zypern und Kroatien sämtliche EU-Staaten sowie die Nicht-EU-Staaten Schweiz, Liechtenstein, Norwegen und Island.

5) Zum Ausbau des Resettlement enthalten die Reformvorschläge allerdings nichts Verbindliches, die Realisierung wird von der Bereitschaft der einzelnen Mitgliedstaaten abhängen. Immerhin besteht insofern ein Anreiz, als Resettlement-Aufnahmen auf den innereuropäischen Lastenteilungsmechanismus angerechnet werden sollen.

Literatur

Europäische Kommission (2016): Vollendung der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems – eine effiziente, faire und humane Asylpolitik. Pressemitteilung, 13. Juli 2016.

Foster, M. (2007): Protection Elsewhere – The Legal Implications of Requiring Refugees to Seek Protection in Another State. Michigan Journal of International Law, 28(2), S. 223-286.

Hathaway, J.C. and Gammeltoft-Hansen, T. (2015): Non-Refoulement in a World of Co­­operative Deterrence. Columbia Journal of Transnational Law 52(2), S. 235-84.

Lübbe, A. (2015): Zur Reform des Europäischen Asylzuständigkeitssystems. Vortrag beim Georg-August-Zinn-Forum 2015 der ASJ/SPD, 11. Juli 2015, Frankfurt am Main; fluechtlinge-mtk.de/uploads/infos/104.pdf.

Lübbe, A. (2017a): Migrationspartnerschaften – Verweisung auf Transitstaaten ohne Rücksicht auf die Familieneinheit? Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 2017/1, S. 15.

Lübbe, A. (2017b): Allokation von Flüchtlingsverantwortung. Jahrbuch für Recht und Ethik, i.E..

Markard, N. und Heuser, H. (2016): Möglichkeiten und Grenzen einer menschenrechtkonformen Ausgestaltung von sogenannten »Hotspots« an den europäischen Außengrenzen. Gutachten, Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Hamburg, Stand 4. April 2016.

Marx, R. (2016): Rechtsgutachten zur unionsrechtlichen Zulässigkeit des Plans der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, die Türkei als sicherer Drittstaat zu behandeln. im Auftrag von Pro Asyl, 14. März 2016.

Peers, S. (2016): The final EU/Turkey refugee deal – a legal assessment. eulawanalysis.blogspot.de, 18. March 2016.

Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2015): Unter Einwanderungsländern – Deutschland im internationalen Vergleich. Jahresgutachten 2015; svr-migration.de.

Anna Lübbe, Juristin und Mediatorin, ist Professorin für Öffentliches Recht und ADR an der Hochschule Fulda. Unter anderem zu den in diesem Beitrag behandelten Fragen hat sie 2016 für das Jahresgutachten 2017 des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration eine Expertise geschrieben.

Ist der liberale Frieden tot?

Ist der liberale Frieden tot?

Überlegungen zum europäischen Friedensprojekt

von Christiane Fröhlich und Regina Heller

Westlicher Interventionismus auf der Grundlage einer liberalen Friedensidee ist zu Recht in die Kritik geraten. Der Beitrag lotet mögliche Alternativen aus.

Die liberale Friedensidee, die europäische Politik auf der Basis eigener historischer Erfahrungen normativ anleitet, geht davon aus, dass kollektive Gewaltanwendung weltweit durch Demokratisierung, wirtschaftliche Verflechtung, Rechtsstaatlichkeit und Verteilungsgerechtigkeit verhindert werden kann. Sie wird in zunehmendem Maße durch andere, z.T. aufstrebende und daher hinsichtlich ihres weltpolitischen Gestaltungspotenzials wichtiger werdende Weltregionen herausgefordert. So wird auch der der liberalen Friedensidee zugrundeliegende, universalistische Gedanke infrage gestellt, dass die Rezepte, die für den Frieden in Europa gesorgt haben, auch global ihre Wirkung entfalten könnten. Kritiker des liberalen Friedens (etwa Oliver Richmond und Roger MacGinty) führen die in der post- bzw. de-kolonialen Literatur hervorgebrachte Skepsis gegenüber der im Globalen Norden dominanten liberalen Friedensidee und der epistemischen Macht westlicher Sozialwissenschaft fort. Ein zu westlicher Ansatz und die Vernachlässigung der paradoxen Effekte des Liberalismus, konkret seiner inhärenten Neigung, Frieden durch Gewalt zu konstituieren, sowie die negativen Folgen der politischen Ökonomie liberaler Friedensprozesse unter den Bedingungen einer zunehmenden globalen Verflechtung, sind hier zentrale Kritikpunkte.1

Aber auch in Europa selbst gerät die Idee liberaler Friedensstiftung massiv unter Druck, sei es durch die Zunahme an Systemkrisen, die Persistenz demokratieabträglicher Ordnungspraktiken oder durch ordnungspolitische Spannungen mit Russland. Auch vor dem Hintergrund der sehr aktuellen Frage, wie die Integration von »Anders-Sein« in westlich-liberalen Demokratien gelingen kann, ist die Debatte darüber, wie Frieden trotz bestehender Differenzen erhalten bzw. erreicht werden kann, absolut grundlegend. Wie kann also angesichts der Krise des liberalen Friedens aus Europa heraus bzw. für Europa selbst friedliche oder dem Frieden zuträgliche Ordnung hergestellt werden? Ist friedens­politisch grundlegend neues, normatives Orientierungswissen gefragt, oder gibt es, allen identifizierten Schwierigkeiten zum Trotz, etwas »Transzendentes« in der liberalen Friedensidee, das jenseits von zeit-, kultur- und ortsgebundenen Vorstellungen und Paradigmen von Ordnung existieren und auch in den schwierigen Fahrwassern der Globalisierung bestehen kann?

Zwischen radikaler Differenz und normativer Durchlässigkeit

Für die Beantwortung dieser Fragen erscheint es sinnvoll, zunächst zu den Wurzeln der aktuellen Ordnungszerfallsprozesse vorzudringen. Als ursächlich für das Auseinanderfallen bestehender Friedensordnungen bzw. für Probleme bei der Herstellung globaler friedenspolitischer Ordnungsstrukturen gilt vor allem das Aufeinanderprallen einer Vielzahl unterschiedlicher normativer Ordnungsvorstellungen weltweit. Doch eigentlich wissen wir noch nicht sehr viel über diese normativen Unterschiede, geschweige denn darüber, wie das Wirkungsverhältnis zwischen normativer Vielfalt einerseits und Frieden anderseits tatsächlich aussieht. Unklar ist vor allem, ob diese Unterschiede tatsächlich so gravierend sind, dass sie gesellschaftliche Gegensätze unüberbrückbar machen und damit auch sicherheits- und friedenspolitische Interessen unvereinbar werden.

In der aktuellen wissenschaftlichen Debatte existieren unterschiedliche Sichtweisen auf das Problem. Zum einen existieren Positionen, die von einer »radikalen Differenz« ausgehen. Sie sehen gesellschaftliche Gegensätze als unüberbrückbar und damit auch die Möglichkeit einer globalen, einheitlichen Friedensordnung, wie sie noch in den 1990er Jahren für möglich gehalten wurde, als Chimäre an. Nach dieser Lesart ist die Idee eines liberal inspirierten Friedens in einer pluralistischen Weltgesellschaft nichts weiter als ein westlich-hegemonialer Diskurs, der historische Machtstrukturen reproduziert. Ihr Argument speisen die Vertreter der »Radikalen Differenz«-These aus einer normativ zurückgenommenen, kontext-sensiblen, empirischen und vor allem kritischen De- und Rekonstruktion politischer und gesellschaftlicher, lokaler, regionaler und globaler Strukturen. Neben den bereits oben erwähnten Kritikern der liberalen Friedensidee wären auch Arbeiten zu nennen, die im Rahmen der »kritischen Normenforschung« in Deutschland entstanden sind.2

Auf der anderen Seite stehen jene Neo-Humanisten, die die Vorstellung eines Werteuniversalismus trotz gegensätzlicher Kulturen nicht vollends verwerfen wollen, und die die postmoderne Beliebigkeit der »Radikalen Differenz«-Debatte und ihre normative Zurückgenommenheit kritisieren. Björn Goldstein zum Beispiel spricht sich dafür aus, im „Multiversum“ unterschiedlicher Weltkulturen explizit nach einem gemeinsamen, kulturübergreifenden normativen Gehalt („normativen Guten“ ) zu suchen.3 Der Kulturtheoretiker Christoph Antweiler spricht von einem „inklusiven Humanismus“,4 der uns helfen könnte, die „Achtung anderer Kulturen […] durch [die] Achtung des Menschen [zu] ergänz[en]“,5 und empfiehlt, „kulturell Trennendes und Verbindendes zusammen zu denken“ 6 und auf dieser Grundlage die Möglichkeit zu schaffen, nach nicht-eurozentrischen „Kulturuniversalien“ 7 zu suchen. Allen gemeinsam ist, dass sie dezidiert für die Einnahme eines eigenen normativen Standpunktes werben, der der Untersuchung vorausgehen muss und von dem aus die Frage nach einem verbindenden ethischen Ideal – einem „transkulturellen humanum“ im Sinne Ernst Blochs8 – gestellt werden kann. Die kritische Auseinandersetzung mit hegemonialen Diskursen und ihre Dekonstruktion sowie die kritische Auseinandersetzung mit der potenziellen Inhumanität des Menschen spielen allerdings auch hier eine wichtige Rolle.

Schließlich lässt sich auf der Grundlage der Literatur über „Hybridität“ 9 und „multiple Modernen“ 10 die Annahme ableiten, dass normative Ordnungen sowohl kontingent als auch durchlässig sind. Normative Ordnungen sind stets kontingent, weil sie Ausdruck »gewordener« historischer Bedingungen sind. Dies hat schon Dieter Senghaas in seinen Arbeiten unterstrichen.11 Sie sind aber auch durchlässig, weil sie historisch stets in Auseinandersetzung mit, Abgrenzung von oder Wechselwirkung mit anderen Ordnungen und Vorstellungen entstehen. Insofern sollte eher von einer relativen Differenz bei gleichzeitigem Wettbewerb der Ideen ausgegangen werden, damit die Pluralität von Werteorientierungen ernst genommen und gedanklich die Grundlage dafür geschaffen wird, Unterschiede und Gemeinsamkeiten präziser zu beschreiben und mit ihnen umzugehen.

Wie weiter in der Friedenspolitik?

Wie lassen sich diese entgegengesetzten Sichtweisen nun in friedenspolitische Ordnungsversuche übertragen? Was heißt all das für europäische Friedenspolitik? Unbestritten scheint, dass Europa seine Friedenspolitik überdenken muss. Allein: Wie könnten die Eckpunkte einer solchen Friedenspolitik aussehen? Wie kann Europa der Normenvielfalt in friedenspolitischer Hinsicht begegnen? An dieser Frage sollte zukünftige Forschung unseres Erachtens ansetzen.

Ausgehend von der Kritik an der liberalen Friedensidee müssen empirisch diejenigen konzeptionellen Lücken identifiziert werden, die an den Bruchstellen der Globalisierung entstehen. Solche Lücken bestehen z.B. hinsichtlich der Blindheit »klassischer« Friedensstrategien für lokale Ordnungen und ihren Friedensgehalt trotz möglicherweise fehlender friedenspolitischer Rahmung auf nationaler Ebene. Daran anschließend formulieren wir Fragen wie die folgenden: Wie lässt es sich friedenstheoretisch abbilden, wenn Akteure, die auf nationaler Ebene nicht friedlich sind, lokal zu einer als friedlich wahrgenommenen Ordnung beitragen? Wie passt es in ein liberales Friedensverständnis, wenn autoritäre, nicht partizipative Herrschaft effektiv Frieden herstellen kann? Wie kann Friedenspolitik mit der Stratifikation von Friedensordnungen umgehen, also damit, dass Friedensordnungen möglicherweise immer nur in spezifischen Feldern ent- und bestehen können?

Zur Annäherung an diese und ähnliche Fragen ist eine Forschungsperspektive notwendig, die lokale, nationale, regionale und inter- bzw. transnationale Dynamiken in den Blick nimmt, die jeweils und in ihrer Verflechtung friedliches Zusammenleben begünstigen oder verhindern. Dabei müssen normative Überlegungen darüber, wie ein Staat zu sein hat – demokratisch, rechtsstaatlich, kooperativ usw. – zunächst in den Hintergrund treten, damit alle Akteure, die Friedensordnungen beeinflussen, berücksichtigt werden können. Erst in einem zweiten, komparativen Schritt kann dann die Frage beantwortet werden, ob tatsächlich eine Art »Restnormativität« existiert, die zeit-, kultur- und ortsgebundene Vorstellungen und Paradigmen von friedlicher Ordnung transzendiert. Eine solche Konzeptionalisierung horizontaler und vertikaler Wirkachsen friedlicher Ordnung, die das traditionelle liberale Friedensverständnis an realen Bedingungen misst und in einem zweiten Schritt auch an sie anpasst, könnte dann die Grundlage für zukünftige friedenspolitische Schritte und die (Neu-) Ordnung normativer Vielfalt sein.

Anmerkungen

1) Ausgehend von Klassikern der postkolonialen Theorie, wie Edward Saids »Orientalism« (London: Routledge 1978) oder Gayatri Chakravorty Spivaks »Can The Subaltern Speak?« (in: Patrick Williams P.; Chrisman, L. (eds.) (1988): Colonial Discourse and Post-Colonial Theory. Hemel Hemstead: Harvester Wheatsheaf, S. 66-111), aber auch in Auseinandersetzung mit Werken feministischer Kritik und Studien der Intersektionalität (etwa Kimberlé Crenshaw (1991): Mapping the Margins – Intersection­ality, Identity Politics, and Violence Against Women of Colour. Stanford Law Review 43(6), S. 1241-1299) entwickelte sich auch die Kritik an liberaler Friedenspolitik, siehe etwa Newman, E; Paris, R.; Richmond, O. (eds.) (2010): New Perspectives on Liberal Peacebuilding. Basingstoke: Palgrave; Richmond, O. (20015): The transformation of peace. Basingstoke: Palgrave; MacGinty, R. (2011): International Peacekeeping and Local Resistance – Hybrid Forms of Peace. Basingstoke: Palgrave.

2) Z.B. Engelkamp S.; Glaab, K.; Renner, J. (2012): In der Sprechstunde – Wie (kritische) Normenforschung ihre Stimme wiederfinden kann. Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 19. Jg. Heft 2, S. 101-128; Deitelhoff, N.; Zimmermann, L. (2013): Aus dem Herzen der Finsternis – Kritisches Lesen und wirkliches Zuhören der konstruktivistischen Normenforschung. Eine Replik auf Stephan Engelkamp, Katharina Glaab und Judith Renner. Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 20. Jg. Heft 1, S. 61-74.

3) Goldstein, B. (2015): Emanzipation und »höheres Chinesentum« – Was ist kritisch an der kritischen Normenforschung in den Internationalen Beziehungen? Zeitschrift für Politikwissenschaft 62(2), S. 140-158.

4) Antweiler, C. (2011): Mensch und Weltkultur – Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung. Bielefeld: transcript, hier S. 24.

5) Ebd. S. 8.

6) Ebd. S. 12.

7) Ebd. S. 22. Hier finden sich erneut Bezüge zur postkolonialen Theorie, insbesondere zu Homi K. Bhabhas Idee eines »dritten Raumes«; Bhabha, H. (1994): The Location of Culture. London and New York: Routledge.

8) Ernst Bloch (1970): Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 144.

9) Einen Überblick bietet Papastergiadis, N. (2000a): Tracing Hybridity in Theory. In: Werbner, P.; Tariq, M. (eds.): Debating Cultural Hybridity – Multi-Cultural Identities and the Politics of AntiRacism. London & New Jersey: Zed Books, S. 257-281. Speziell zu Hybridität in Bezug auf Frieden siehe z.B. MacGinty, R. (2010): Hybrid peace – The interaction between top-down and bottom-up peace. Security Dialogue, Vol. 41, Nr. 4, S. 391-412.

10) Eisenstadt, S.N. (2000): Multiple Modernities. Daedalus 129(1), S. 1-29.

11) Senghaas, D. (1952): Frieden als Zivilisierungsprojekt. In: Senghaas, D. (Hrsg.): Den Frieden denken – si vis pacem, para pacem. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 196-223.

Dr. Christiane Fröhlich ist Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (christianefroehlich.de).
Dr. Regina Heller ist Wissenschaftliche Referentin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Europe and the Middle East in Transition

Europe and the Middle East in Transition

Hessische Internationale Sommeruniversität (ISU), 18. Juli bis 15. August 2015, Marburg

von Lydia Koblofsky

Der Nahe und Mittlere Osten liegt in der direkten Peripherie der Europäischen Union. Über die regionale Nähe hinaus verbinden thematische Schwerpunkte eine lange gemeinsame Geschichte und eine nicht konfliktfreie Gegenwart – politische sowie ökonomische Interessen und gegenseitige Abhängigkeiten eingeschlossen. Gerade im Licht der Ereignisse der vergangenen Jahre hat das Thema höchst aktuellen Bezug.

Seit 2010 sind die Fragen nach den Beziehungen zwischen Europa und dem Nahen und Mittleren Osten sowie nach Friedensperspektiven und Konfliktbearbeitungsstrategien thematische Schwerpunkte der Internationalen Sommerschulen in Marburg. Ausgerichtet vom Centrum für Nah- und Mittelost Studien und dem Zentrum für Konfliktforschung fand im Sommer 2015 zu diesem Thema an der Philipps-Universität Marburg die 17. Hessische Internationale Sommeruniversität (ISU) statt. Während des vierwöchigen universitären Sommerstudienprogramms befassten sich die einschlägigen Seminare mit der Beziehung zwischen Europa und dem Nahen und Mittleren Osten aus politischer, ökonomischer, kultur- und regionalwissenschaftlicher Perspektive. Deutsch-Sprachkurse, Exkursionen und themenbezogene Rahmenveranstaltungen ergänzten das Programm.

Die Begegnung mit Menschen aus der ganzen Welt und der Austausch untereinander über das Schwerpunktthema stehen bei der ISU immer im Mittelpunkt. In diesem Jahr kamen 61 Studierende aus 23 Ländern nach Marburg, unter anderem aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, den USA, Kanada, Israel, Ägypten, Spanien, Polen, dem Sudan und China. Cailin Clothier aus den USA schilderte seine Eindrücke: „Das Programm hat einen großen Einfluss, glaube ich. Es gibt den Themen, die wir diskutieren, ein Gesicht. Wenn man weit weg ist von den Geschehnissen im Nahen und Mittleren Osten, ist es leicht, sich eine klare Meinung zu bilden oder sich zu distanzieren. Aber wenn man persönlich mit den Menschen aus der Region spricht, bekommt man ganz neue Perspektiven mit.“

„Ich belegte einen Kurs zu Palästina und Israel, der mir bewusst gemacht hat, was dort passiert“, sagte Fernando Lugo Castillo aus Mexiko. „Ich konnte mich gut in beide Seiten hineinversetzen, da klar wurde, wie hart es für beide Seiten war und ist. Das Programm sensibilisiert die Studierenden für das Thema. Wir haben Studierende beider Seiten in der ISU, aus Israel und Palästina. Es ist interessant, von ihren persönlichen Erfahrungen zu hören. Ich glaube, das kann wirklich Veränderungen bewirken.“

Janaya Forth aus Kanada betonte, das Programm der ISU sei auch für ihre spätere berufliche Praxis interessant: „Ich studiere Soziale Arbeit und werde in Zukunft mit Menschen auf individueller Ebene arbeiten, Konflikte bearbeiten und Mediationen durchführen. Die Kurse der ISU haben nicht nur Hintergrundwissen zu bieten, sondern auch praxisrelevante Methoden und Fragen.“

Auch die Möglichkeit, Sprachkurse im Deutschen zu belegen, war für viele Studierende wieder ein wichtiger Grund, um an der ISU teilzunehmen. Daneben bot die ISU den Studierenden ein vielfältiges und umfangreiches Rahmenprogramm. Die Wochenendexkursionen nach Frankfurt am Main, Kassel und Straßburg sowie weitere kulturelle Veranstaltungen, Vorträge, Filmvorführungen und Besuche der Marburger Synagoge und Moschee komplettierten das Programm, das den internationalen Studierenden eine Zeit intensiver sprachlicher und interkultureller Erfahrungen sicherte.

Für Sanaa Tannous aus Syrien war der Besuch des Europäischen Parlaments in Straßburg ein Highlight der ISU: „Dort kommen 28 Länder mit 24 verschiedenen Sprachen zusammen und sprechen miteinander. Warum können wir – die arabische Welt – nicht etwas Ähnliches tun? Obwohl die europäischen Länder kulturell und sprachlich sehr divers sind, haben sie eine Basis gefunden, auf der sie miteinander kooperieren.“

Die Hessischen Internationalen Sommeruniversitäten sind ein Gemeinschaftsprojekt der hessischen Universitäten und werden vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst gefördert. Weitere Informationen im Internet unter uni-marburg.de/isu?language_sync=1.

Lydia Koblofsky

Deutsch-französische Achse schwächelt

Deutsch-französische Achse schwächelt

Quo vadis Europa?

von Hans-Georg Ehrhart

Dominiert Deutschland Europa? Hat die Griechenlandkrise das Bild vom »hässlichen Deutschen« wieder reaktiviert? Was soll aus Europa werden und aus seiner Hauptstütze, der deutsch-französischen Achse? Die Erweiterung der EU auf 28 Mitgliedsländer hat die Bedeutung der deutsch-französischen Achse zweifellos relativiert. Hinzu kommt das derzeitige ökonomische Ungleichgewicht zwischen beiden Ländern. Gleichwohl ist die bilaterale Zusammenarbeit immer noch von Bedeutung, denn ohne eine Verständigung zwischen Paris und Berlin geht, so die Überzeugung unseres Autors, in der EU nichts voran, weder in der Wirtschafts- und Finanz- noch in der Sicherheitspolitik.

Laut Präsident François Hollande bilden Deutschland und Frankreich das „Herz Europas“ und tragen außerordentliche Verantwortung für dessen wirtschaftliche, finanzpolitische, soziale und politische Integration (Hollande 2012, S.3). Für Deutschland wiederum ist die „engste Partnerschaft mit Frankreich in einem geeinten Europa“ eine der Grundkoordinaten seiner Außenpolitik (Steinmeier 2015, S.8). Diese positive Grundhaltung verhindert aber nicht, dass es unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft Europas und Interessengegensätze gibt, die es mühsam zu überwinden gilt. Den diversen Problemen liegen unterschiedliche politische Denkansätze und »Kulturen« zugrunde, die es beiden Seiten schwer machen, einen Kompromiss zu finden.

Unterschiedliche wirtschaftspolitische Ansätze

In der Wirtschafts- und Finanzpolitik verfolgt Deutschland einen liberalen Ansatz, der auf einer starken Exportindustrie, offenen Märkten und einer hohen Wettbewerbsfähigkeit basiert. Das damit verbundene europapolitische Problem formuliert Außenminister Steinmeier, wenn er mahnt, „ein fatales strategisches Dilemma zu verhindern, in dem Deutschland sich vor die Wahl gestellt sähe zwischen seiner internationalen Wettbewerbsfähigkeit in der Globalisierung einerseits und der Zukunft der europäischen Integration – vor allem dem Zusammenhalt der Wirtschafts- und Währungsunion – andererseits“ (Steinmeier 2015, S.11). In Frankreich hingegen spielen der vorsorgende Staat und die Binnennachfrage traditionell eine größere Rolle. Das trug dazu bei, dass das Land seit Jahren ein sehr hohes Haushalts- und Staatsdefizit aufweist.

Deutschland hatte 1997 extra den Stabilitätspakt durchgesetzt, um die Währungsunion wetterfest gegen gegen eine schuldenbasierte Staatsfinanzierung zu machen. Dem 750 Mrd. schweren Hilfspaket für Griechenland stimmte Berlin 2010 erst zu, nachdem der damalige französische Präsident Sarkozy gedroht hatte, den Euro zu verlassen (Traynor/Tremlett 2010). 2012 wurde der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) eingeführt, er vergibt aber nur rückzahlbare Kredite und ist nicht für Finanztransfers zuständig. Während Berlin die Einführung von Eurobonds, also gemeinsamen Staatsanleihen, vehement ablehnt, sieht Paris darin die Krönung seiner Europapolitik. Schon seit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) in den 1950er Jahren versucht Frankreich, die deutsche Wirtschaftskraft zu »europäisieren« und für seine Vorstellung von Europa nutzbar zu machen.

Der deutsche Finanzminister Schäuble ist zwar durchaus für eine Fiskalunion, aber nur, sofern diese die effektive Kontrolle ihrer Mitglieder ermöglicht und Regelverstöße verlässlich sanktioniert, etwa durch einen mit entsprechenden Kompetenzen ausgestatteten Europäischen Währungsfonds (Schäuble 2010). Frankreich denkt eher an einen gemeinsamen Haushalt und eine gemeinsame Haftung, will sich auf der anderen Seite aber in seine nationale Politik nicht viel reinreden lassen. Dementsprechend schlug Präsident Hollande nach dem qualvollen Griechenlandkompromiss, der Mitte August 2015 zum dritten Rettungspaket führte, die Bildung einer europäischen Wirtschaftsregierung für die Eurozone mit eigenem Haushalt und Parlament vor. Zur Not könne eine „Avantgarde“ aus interessierten Staaten vorangehen (Gamelin 2015a, S.6).

Nach einem gemeinsamen Arbeitspapier, über das die Wochenzeitung DIE ZEIT berichtete (2.6.2015), streben Paris und Berlin nun eine engere Währungsunion mit häufigeren Gipfeltreffen, mehr Kompetenzen für die Gruppe der Finanzminister und ihres Präsidenten, der so etwas wie der von Paris vorgeschlagene europäische Finanzminister werden könnte, sowie eine Beteiligung des Europaparlaments an. Sie wollen also vor allem die zwischenstaatliche Zusammenarbeit stärken, was dem bevorzugten französischen und mittlerweile auch von Kanzlerin Merkel goutierten Ansatz entspräche. In diese Richtung geht auch die (nicht zuletzt mit Blick auf das mit Austritt aus der EU drohende Großbritannien formulierte) Idee Schäubles, die EU zurückzubauen, indem der Europäischen Kommission die Aufsicht über Haushalte, Binnenmarkt und Wettbewerbsrecht entzogen und einer unabhängigen Behörde übertragen wird (Gamelin 2015b, S.4).

Unterschiedliche sicherheitspolitische Kulturen

Die Zeiten, in denen die Kommission als künftige europäische Regierung angesehen wurde, sind ohnehin vorbei. CDU und SPD nahmen bereits vor Jahren Abschied von der – übrigens von Paris nie geteilten – Vision der Vereinigten Staaten von Europa. Das hindert beide Parteien aber nicht daran, für eine Europäische Armee zu plädieren (Ehrhart 2014, S.92). Allerdings lassen sie offen, was sie darunter verstehen. Wenn der europäische Bundesstaat kein Ziel mehr ist, wie soll eine Europäische Armee politisch geführt werden? Paris denkt gar nicht daran, seine verteidigungspolitische Souveränität aufzugeben – mehr Koordinierung und Zusammenarbeit in Teilbereichen ja, mehr aber nicht. In offiziellen Äußerungen wird zwar gerne von der Notwendigkeit einer »europäischen Verteidigung« gesprochen, jedoch nicht im Sinne einer integrierten Armee.

Das französische (und britische) Hauptinteresse an der seit 1999 im Rahmen der EU im Aufbau befindlichen »Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« (GSVP) liegt in verbesserten militärischen Kapazitäten. Hauptadressat dieses Anliegens ist Deutschland, das mehr für Rüstung und Verteidigung ausgeben und sich international militärisch mehr engagieren soll. Während Deutschland nur 1,4 Prozent seines Bruttoinlandprodukts für Verteidigung ausgibt, sind es bei Frankreich zwei Prozent (darin enthalten sind allerdings auch die Kosten für die französische Nuklearstreitmacht). Weil Deutschland nicht so richtig mitzog, schloss Frankreich mit Großbritannien 2010 weit reichende militärpolitische Verträge ab, ohne Berlin zu konsultieren oder die GSVP zu erwähnen.

Ein Grund für die manchmal unterschiedlichen Positionen liegt in den immer noch verschiedenen sicherheitspolitischen Kulturen. Bereits das von Paris initiierte Projekt der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft scheiterte 1954 schließlich am französischen Widerstand. Damit war auch die geplante Europäische Politische Gemeinschaft gescheitert. Einerseits wollte Paris damals Sicherheit und Kontrolle durch Integration der Bundesrepublik, andererseits wollte es seine außen- und sicherheitspolitische Handlungsfreiheit bewahren – Frankreich sah sich als Weltmacht, befand sich im Indochinakrieg. Die 1952 gegründete EGKS, die die Kontrolle über die damals rüstungswirtschaftlich relevante Schwerindustrie ermöglichte, und die 1954 gegründete Westeuropäische Union (WEU), die umfangreiche rüstungskontrollpolitische Beschränkungen für die Bundesrepublik vorsah, reichten dem NATO-Gründungsmitglied Frankreich als Rückversicherung aber schließlich aus.

EGKS und WEU sind mittlerweile Geschichte. Zahlreiche bilaterale Initiativen haben inzwischen die Welt erblickt: Sie reichen vom Elysée-Vertrag – bis heute die wichtigste vertragliche Grundlage für die bilateralen Beziehungen -, der deutsch-französischen Brigade und dem Eurokorps bis zum Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat. Selbst auf dem Gebiet der nuklearen Abschreckung, die Frankreich als Garant für das Überleben der Nation und als Ausdruck eines besonderen Status betrachtet, bot Frankreich 1986 und 1996 Deutschland Konsultationen an. Deutschland zeigte aber kein Interesse, weil es eher auf die »nukleare Teilhabe« an US-Atomwaffen im Rahmen der NATO setzt. Zudem gilt bei aller Kooperationsbereitschaft die Aussage von Charles de Gaulle, dass sich die Verfügung über Atomwaffen nicht teilen lasse.

Doch steht dieses Thema für Frankreich längst nicht mehr auf der Agenda. Die sicherheitspolitischen Herausforderungen haben sich geändert. Im Mittelpunkt stehen nun vor allem Terrorismus und gescheiterte Staaten. Als ehemalige Kolonialmacht und ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats ist Frankreich viel interventionsfreudiger als Deutschland und hat in den letzten Jahren in Libyen, Mali, der Zentralafrikanischen Republik und im Nahen Osten interveniert. Während Deutschland traditionell eher nach Osten blickt, liegt für Frankreich die zentrale Problemzone in Afrika. Im Ukrainekonflikt versucht Berlin, Paris über das »Normandieformat« (Deutschland, Frankreich, Russland und Ukraine) einzubinden. Zugleich folgt es dem französischen Drängen, sich auch militärisch mehr in Afrika zu engagieren, indem es Teile der deutsch-französischen Brigade in Mali einsetzt. Die Zusammenarbeit bei der weltraumgestützten Aufklärung ist ein weiterer Kooperationsbereich, wie auch das Vorhaben, eine bewaffnungsfähige Drohne zu entwickeln.

Fehlende gemeinsame Vision

Nach dem Abschluss des Vertrages von Lissabon, durch den die Europäische Union institutionell reformiert wurde, bedürfte es »nur« eines Beschlusses der EU-Staats- und Regierungschefs, um eine gemeinsame Verteidigungspolitik einzuführen, die dann zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte. Doch solange die beiden Hauptprotagonisten nicht an einem Strang ziehen, wird eine Außen- und Sicherheitspolitik Europas aus einem Guss Zukunftsmusik bleiben. Ähnlich sieht es in der Wirtschafts- und Währungspolitik aus. Es braucht eine gemeinsame Vision um voranzukommen. Diese fehlt aber offensichtlich. Was ist also zu tun?

Frankreich müsste in beiden Fällen seinen nationalen Souveränitätsanspruch reduzieren, Deutschland müsste für andere mehr ins Risiko gehen. Durch die eigene Bereitschaft, Souveränität und Risiko zu teilen, könnte die schwächelnde deutsch-französische Achse Vorbild sein und mit anderen interessierten Partnern das Friedensprojekt EU voranbringen, statt in Kleinmütigkeit zu verharren. In unserer globalisierten Welt wäre dies einem Europa mit schwachen Institutionen oder gar einer Renationalisierung Europas allemal vorzuziehen.

Literatur

DIE ZEIT: Merkel strebt radikale Euroreform an. 2. Juni 2015.

Hans-Georg Ehrhart (2014): Europäische Armee – eher Chimäre als Vision! In: Ines-Jacqeline Werkner, Janet Kursawe und Margret Johannsen (Hrsg.) (2014): Friedensgutachten 2014. Berlin: LIT, S.87-99.

Cerstin Gammelin (2015a): Friedenstaube nach Berlin. Süddeutsche Zeitung, 21.7.2015.

Cerstin Gammelin (2015b): EU, eine Nummer kleiner. Süddeutsche Zeitung, 31.7.2015.

François Hollande (2012): Rede anlässlich des 50. Jahrestages der Rede von General de Gaulle an die deutsche Jugend. In: Ministère des Affaires Ètrangères et Européennes: Bulletin d'actualités. 24.9.2015, S.1-4.

Wolfgang Schäuble im Interview mit Bild: Pleite-Ländern notfalls den Euro wegnehmen. 15.3.2015.

Frank-Walter Steinmeier (2015): »Krise, Ordnung, Europa« – Zur außenpolitischen Verortung und Verantwortung Deutschlands. In: Auswärtiges Amt Projektteam „Review 2014 – Außenpolitik Weiter Denken“: Review Krise – Ordnung – Europa.

Ian Traynor and Giles Tremlett: Nicolas Sarkozy Threatened to Pull Out of Euro Over Greece. The Guardian, 14 May 2010.

Dr. Hans-Georg Ehrhart ist Mitglied der Geschäftsleitung des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und Leiter des Zentrums für Europäische Friedens- und Sicherheitsstudien am IFSH (ZEUS).

EUropas Staatsbildungskriege

EUropas Staatsbildungskriege

13. Kongress der Informationsstelle Militarisierung, 6.-7. November 2010, Tübingen

von Jonna Schürkes

Am 6./7. November 2010 veranstaltete die Informationsstelle Militarisierung (IMI) ihren Kongress 2011, »EUropas Staatsbildungskriege: Zerschlagen – Umbauen – Dirigieren«. Thema war die Praxis der Europäischen Union, Staaten des globalen Südens auf- bzw. umzubauen und sie unter der Androhung von Zerschlagung dauerhaft zu gängeln. Ziel des Kongresses war es, die steigende Bedeutung des Staatenbauens (und -zerschlagens) und die Rolle der EU dabei herauszuarbeiten.

Anhand verschiedener Beispiele wurde gezeigt, dass die Richtschnur für den Umgang der EU mit Staaten des globalen Südens nicht das Völkerrecht, sondern die jeweilige Interessenslage ist. Die besondere »Qualität« der EU-Politik, so eines der wichtigsten Fazits des Kongresses, liegt dabei in der Kombination »sanfter« und »harter« Machtmittel und ihrer systematischen Bündelung und Verzahnung im neuen Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD).

Bundeskanzlerin Angela Merkel fasste die Bandbreite der zur Verfügung stehenden Instrumenten bereits auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2006 eindrucksvoll zusammen: „Die zentrale außenpolitische Zielsetzung lautet, Politik und Handeln anderer Nationen so zu beeinflussen, dass damit den Interessen und Werten der eigenen Nation gedient ist. Die zur Verfügung stehenden Mittel reichen von freundlichen Worten bis zu Marschflugkörpern.“ Denselben »integrierten Ansatz« propagierte jüngst auch der Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen vom 16.09.2010, „alle einschlägigen Instrumente und Politiken der EU und der Mitgliedstaaten [werden] vollständig und auf kohärente Weise im Dienste der strategischen Interessen der Europäischen Union eingesetzt“.

Von freundlichen Worten …

Als Beispiele für »sanfte« Machtmittel wurden in einem ersten Panel die Außenwirtschaftpolitik, die Beitritts- und Nachbarschaftspolitik, sowie zwei Finanzierungsinstrumente (das »Instrument für Demokratie und Menschenrechte« und das »Instrument für Stabilität«) der EU näher betrachtet.

Mit Hilfe einer neoliberalen Außenwirtschaftspolitik – vor allem in Form so genannter Freihandelsabkommen – gestaltet die EU Staaten des Südens um, mit desaströsen Folgen für die Bevölkerung der betroffenen Länder. Gleichzeitig ist eben jene neoliberale Wirtschaftspolitik Triebfeder für den Aufbau und die Zerschlagung von Staaten, schließlich ist die EU darauf angewiesen, dass Regierungen im globalen Süden gewillt oder genötigt sind, die wirtschaftspolitischen Vorgaben aus Brüssel umzusetzen. Anhand der schwierigen und noch immer nicht abgeschlossenen Verhandlungen über Freihandelsabkommen – beispielsweise mit dem Mercosur – werden aber auch die Grenzen dieser »sanften« Machtpolitik deutlich, die in naher Zukunft möglicherweise durch die beispiellose Verschmelzung von Handels-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik im Rahmen des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) überwunden werden.

Mittels der Beitritts- und Nachbarschaftspolitik wird derzeit ein »Imperium Europa«, ein hierarchisch strukturierter Großraum geschaffen. Im Kern befinden sich die EU-Großmächte, darum gruppieren sich die alten Mitgliedsländer (EU-15) und darum herum die politisch und wirtschaftlich peripher angebunden Staaten der EU-Osterweiterung. Den äußeren Ring bilden die 16 Staaten, die an der Europäischen Nachbarschaftspolitik teilnehmen und schließlich die Mitglieder der „Eurosphere“ (Mark Leonard, Direktor des European Council on Foreign Relations), jener Großraum, bestehend aus 80 Staaten in Afrika und dem Mittleren Osten, in dem sich die EU immer offensiver als imperiale Ordnungsmacht gebärdet und auch bereit ist, militärische Gewalt zur Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen und strategischen Interessen anzuwenden.

Die beiden Finanzinstrumente der EU, die zum Ende des ersten Panels näher analysiert wurden, dienen der Zerschlagung und dem Aufbau von Staaten. Welches Instrument zur Anwendung kommt, richtet sich nicht danach, ob ein Land die Menschenrechte achtet oder nicht, sondern, ob es nach der Pfeife der Europäischen Union tanzt. Mit dem »Instrument für Demokratie und Menschenrechte« werden vor allem Oppositionsbewegungen finanziert, um pro-westliche Eliten an die Macht zu bringen. Ganz entgegengesetzt hierzu funktioniert das Stabilitätsinstrument. Mit ihm werden v.a. Maßnahmen zum Aufbau von Armeen und Polizeien und generell die Stützung »befreundeter« Regime finanziert.

… und Marschflugkörpern

Den »harten« Machtmitteln widmete sich das zweite Panel des Kongresses. Diese reichen von den im Ausbau befindlichen militärischen Einheiten der EU über die Ausbildung von Repressionsorganen für befreundete Regime bis hin zur »robusten« Bevölkerungskontrolle, u.a. durch gezielte Tötungen.

Für kleinere, gezielte Operationen baut sich die EU spezialisierte Einheiten (Battlegroups) auf, die Regime – je nach gusto – vor Angriffen schützen oder auch destabilisieren können. Dabei agiert die EU häufig im Zusammenspiel mit anderen weltpolitischen Akteuren wie der NATO, den Vereinten Nationen oder auch der Afrikanischen Union, da sie meist selbst nicht in der Lage oder willens ist, ausreichend Soldaten zu entsenden. Als weiteres Mittel wurde die European Gendarmerie Force genannt, an der sich alle EU-Mitgliedsstaaten mit paramilitärischen Truppen beteiligen. Sie kann sowohl im In- als auch Ausland, unter zivilem und militärischem Kommando eingesetzt werden und spielt daher gerade für den »Aufbau« von Staaten bzw. die Verteidigung von Regimen gegen unliebsame Oppositionen eine zunehmend wichtigere Rolle.

Zusätzlich zu diesen Instrumenten, die der direkten militärischen Intervention dienen, entdeckte die EU Sicherheitssektorreformen als ein geeignetes Instrument zur Durchsetzung ihrer Interessen vor allem in Ländern des globalen Südens. Diese Reformen beschränken sich im Allgemeinen darauf, Soldaten und Polizisten auszubilden und auszurüsten sowie Militär- bzw. Polizeiberater in die jeweiligen Länder zu entsenden. Ziel dieser Missionen ist, die Kontrolle der EU über diese Sicherheitskräfte zu erhöhen und pro-westlichen Regimen Repressionsorgane aufzubauen, wobei es weitgehend gleichgültig ist, ob es sich dabei um demokratische oder autoritäre Regime handelt.

Unliebsame Einzelpersonen und Gruppen schaltet die EU unter anderem mit Hilfe von so genannten Terrorlisten und gezielten Tötungen aus. Für Personen, die auf diesen Terrorlisten stehen, bedeutet dies nicht nur, dass sie fast in allen Bereichen des zivilen Lebens handlungsunfähig werden (Konten werden eingefroren, Reisen werden unmöglich, etc.) sondern im schlimmsten Fall, dass sie auf so genannten »Todeslisten« landen und damit im wahrsten Sinne des Wortes zum Abschuss freigegeben werden. Dieser wird zunehmend von Drohnen ausgeführt, wobei es sich um außergerichtliche Tötungen auch außerhalb des Kriegsgebietes, wie beispielsweise in Pakistan, handelt. Bisher setzten vor allem die USA Drohnen für diese Art der Kriegsführung ein. Allerdings intensiviert auch die EU ihre Bemühungen in diesem Bereich. So hat die Europäische Rüstungsagentur von Anfang an die Entwicklung von unbemannten Drohnen als ihr Flaggschiff erklärt und in diesem Bereich umfangreiche Forschungs- und Sponsoringprogramme aufgelegt.

Am Ende des ersten Kongresstages ging es um den EAD, der am 1. Dezember 2010 seine Arbeit aufnahm und in dem all diese Instrumente zusammengefasst werden. Er wird von Befürwortern wie Ulrike Guérot vom European Council on Foreign Relations nicht zu Unrecht als „Kronjuwel des Vertrags von Lissabon“ bezeichnet, denn er wird die Politik der Europäischen Union grundsätzlich verändern. Mit dem EAD soll die »Schlagkraft« der Europäischen Union über die Bündelung der sanften und harten Machtmittel erhöht werden. Diese Bündelung bedeutet vor allem, dass Militärs künftig mit am Tisch sitzen werden, wenn es um Fragen ziviler Konfliktbearbeitung oder die Vergabe von Entwicklungshilfe geht. Dies wiegt umso schwerer, da die wesentlichen Posten innerhalb des EAD nahezu ausschließlich von den EU-Großmächten besetzt werden und das neue Superministerium weder vom Europäischen Parlament noch den nationalstaatlichen Parlamenten effektiv kontrolliert werden kann.

Durchsetzung EUropäischer Interessen

Der Einsatz der am ersten Tag besprochenen Instrumente und die Interessen, die die EU damit verfolgt, wurden am zweiten Tag anhand von Länderbeispielen aufgezeigt.

Die doppelten Standards der EU-Politik wurden vor allem im Umgang der EU mit den nach Unabhängigkeit strebenden Regionen auf dem Balkan und im Kaukasus deutlich. Während die gesamte Bandbreite der zur Verfügung stehenden Machtmittel im Fall des Kosovo dazu eingesetzt wurden, einen neuen Staat zu schaffen, wurde mit eben jenen Instrumenten im Kaukasus verhindert, dass sich Süd-Ossetien und Abchasien von Georgien abspalten. Hier wird deutlich, dass Sezessionen aus westlicher Sicht dann legal sind, wenn es sich um pro-westliche Regionen handelt, und illegal, wenn dies nicht der Fall ist. Das Völkerrecht wird dabei durch bloße Willkür ersetzt.

Besonders deutlich wird dies im Umgang mit dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs über die Unabhängigkeit des Kosovo, das im Juli 2010 veröffentlicht wurde. Auch wenn das Gutachten keinesfalls feststellt, dass die Unabhängigkeit des Kosovos rechtmäßig gewesen ist, wurde es durch westliche Politik und Medien als Persilschein für die Zerschlagungs- und Anerkennungspolitik des Westens auf dem Balkan gewertet. Gleichzeitig betont die Europäische Union, dass sich daraus keinesfalls das Recht ableite, in ähnlich gelagerten Fällen ebenfalls auf eine Sezession zu drängen.

Im sehr unterschiedlichen Umgang mit afrikanischen Staaten konnte eindrucksvoll gezeigt werden, wie sehr die Entscheidung, Regime zu stabilisieren oder zu destabilisieren, von den wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen der EU abhängt. So wird einerseits die Besetzung der Westsahara durch Marokko von der EU geduldet und sogar inoffiziell unterstützt, weil Marokko die Ausbeutung der dortigen Fischgründe und Phosphatvorkommen (knapp 40% der weltweiten Reserven) ermöglicht. Andererseits wird im Sudan die Abspaltung des ölreichen Südens mit dem Aufbau neuer Polizeikräfte und Infrastruktur vorbereitet und unumkehrbar gemacht. Gleichzeitig wird versucht, die Zentralregierung mit allen denkbaren Mitteln – vom Haftbefehl gegen Al-Bashir über Wahlbeobachtungsmissionen und einen Militäreinsatz im benachbarten Tschad – zu destabilisieren.

In Somalia wird wiederum die Übergangsregierung, die erst durch eine Invasion Äthiopiens mit der tatkräftigen Unterstützung des Westens an die Macht gelangen konnte, durch die EU unterstützt, auch wenn sie kaum mehr als einige Viertel in Mogadischu kontrolliert. Die Regierung ihrerseits erlaubt es der EU und anderen Staaten, in ihren Hoheitsgewässern Piraten militärisch zu bekämpfen.

Auf dem Abschlusspodium des Kongresses wurden Möglichkeiten diskutiert, sich dieser Art Politik entgegen zu setzen. Dringend notwendig ist weiterhin die Formulierung einer linken EU-Kritik, die darauf abzielen muss, der weit verbreiteten Europhilie den Boden zu entziehen.

Zusätzlich wurde am Beispiel der Oppositionsbewegung in Honduras gezeigt, wie internationale Solidaritätsarbeit heute funktionieren kann. Diese Bewegung kämpft gegen die gegenwärtige Regierung, die erst durch einen Putsch im Juni 2009 an die Macht gekommen war, und ist daher massiver Repression ausgesetzt. Die EU hatte diese Regierung trotz der vorangegangenen Verurteilung des Putsches anerkannt, um ein Freihandelsabkommen mit dem Land abschließen zu können. Die Möglichkeiten, solche Gruppen zu unterstützen, sind vielfältig: Die Anliegen der Bewegungen und die Politik der EU müssen in Europa bekannt gemacht werden, von Repression betroffene Menschen in Honduras können von Menschen aus Europa begleitet werden, um der Regierung über die Schaffung einer internationalen Öffentlichkeit den repressiven Umgang mit den Oppositionellen zu erschweren, und schließlich ist auch die finanzielle Unterstützung dieser Gruppen notwendig.

Somit wurde zum Abschluss des Kongresses gezeigt, dass wir der zuvor ausführlich analysierten Politik der EU nicht ohnmächtig gegenüber stehen.

Jonna Schürkes

Ukraine – eine Bilanz der Orangenen Revolution

Ukraine – eine Bilanz der Orangenen Revolution

von Kerstin Zimmer

Fünf Jahre nach der Orangenen Revolution fällt die Bilanz politischer und gesellschaftlicher Reformen in der Ukraine düster aus. Die anfängliche Euphorie und der Optimismus wichen Ernüchterung und Enttäuschung, da sich die hohen Erwartungen an die neuen Machthaber und ihre Reformvorhaben seitens der ukrainischen Bevölkerung und westlicher Politiker und Öffentlichkeiten nur in geringem Maße erfüllt haben. Stattdessen herrscht in der Ukraine seit geraumer Zeit eine politische Dauerkrise. Die Hauptgründe für die geringen Fortschritte bei der angekündigten Demokratisierung, Dezentralisierung und Annäherung an die Europäische Union (EU) sind primär im sowjetischen Erbe und in den post-sozialistischen Hinterlassenschaften der Kutschma-Ära zu suchen. Die Abhängigkeit von Russland in Energiefragen erschwert einen eigenständigen Entwicklungsweg.

Bis 2004 waren zwar die formalen Mindestanforderungen an eine Demokratie erfüllt, jedoch entwickelte sich unter Präsident Leonid Kutschma die Ukraine in einen neopatrimonialen Staat (Zimmer 2006). Der Präsident kontrollierte formell und informell viele Bereiche des politischen und wirtschaftlichen Lebens, indem er den formalen rechtlichen und administrativen Rahmen zum Machterhalt nutzte und auf erpresserische Methoden zurück griff (Darden 2001). Allerdings gelang der Übergang zum Autoritarismus aufgrund der Heterogenität des Landes und der politischen Elite nicht (Levitsky & Way 2002). Die Ukraine stellte vor allem wegen ihrer strategischen Lage mit Grenzen zur EU und zu Russland eine Herausforderung für die EU und die USA dar (Lane 2008). Nationale und internationale Geberorganisationen betrieben Demokratieförderung im Sinne von »soft power« (Nye 2004), um politische Präferenzen zu beeinflussen und einen Institutionenwandel herbeizuführen.

Die Präsidentschaftswahl im Herbst 2004 galt als Richtungswahl, bei der Manipulationen zu Gunsten von Wiktor Janukowytsch, dem von Kutschma designierten Nachfolger, allgemein erwartet wurden. Der erklärte Wahlsieg von Janukowytsch gegen Juschtschenko in der Stichwahl im November 2004 führte zu – in westlichen Fachkreisen und Öffentlichkeiten unerwarteten – Demonstrationen gegen den Wahlbetrug. In der Wiederholungswahl am 26. Dezember 2004 wurde Juschtschenko zum Präsidenten gewählt.

Während die westliche Öffentlichkeit und zahlreiche Autoren die Ereignisse als eine echte Volksrevolution (Karatnycky 2005; Kuzio 2005) und einen demokratischen Durchbruch (Åslund 2009) werteten, setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass hier Machtpolitik im Zentrum stand (Lane 2008). Was in den Medien als »Macht des Volkes« dargestellt wurde, war eine von Eliten gelenkte Demonstration. Die Bevölkerung war nicht zuletzt aufgrund von relativer Deprivation bereit, gegen das bestehende Regime zu protestieren. Das orangene Lager bot nicht nur eine öffentliche Kritik des Kutschma-Regimes, sondern auch eine Alternative dazu und löste das Problem des kollektiven Handelns durch die Bereitstellung von Infrastruktur und selektiven Anreizen für die Demonstranten (Tucker 2007). Die mittelfristigen Ergebnisse der »Revolution« sowie Bevölkerungsumfragen legen nahe, dass die Orangene Revolution ein »revolutionärer Staatsstreich« (Lane 2008) war, welcher sich durch eine starke Partizipation und Führungsrolle von Eliten auszeichnet sowie eine hohe Beteiligung der Bevölkerung – allerdings überwiegend als Zuschauer.

Der revolutionäre Staatsstreich war keine »nachholende Revolution«, die eine post-postkommunistische Phase (Kubicek 2009) einläutete. Entgegen aller Erneuerungsrhetorik waren die Kontinuitäten aus dem Kutschma-Regime und der Sowjetunion stark, vor allem hinsichtlich der politischen Kultur. Es kam zur teilweisen Elitenerneuerung, aber nicht zum Austausch der politischen Klasse oder gar tief greifenden sozialen und ökonomischen Reformen. Um das Kutschma-Regime gewaltlos abzulösen, war eine breite Koalition auch mit Akteuren aus dem alten Regime notwendig gewesen (Cheterian 2009). Zudem war das orangene Lager selbst eine heterogene Ansammlung nationalistischer, liberaler und linker Kräfte und umfasste auch Jugend- und Studentenorganisationen sowie Interessenvertretungen von Teilen der Oligarchen. Es handelte sich nicht um eine Fundamentalopposition, sondern um zumeist erfahrene Politiker aus der post-kommunistischen Phase. Nach dem Ende des Kutschma-Regimes fiel diese Zweckkoalition schnell auseinander und eine politische Dauerkrise, die bisweilen einem grotesken Politikspektakel gleicht, begann.

Institutionenbildung

Die Ende 2004 durch einen Aushandlungsprozess zwischen Kutschma und den orangen Kräften eilig beschlossene Verfassungsänderung trat Anfang 2006 in Kraft. Sie markiert den Übergang von einem faktisch super-präsidentiellen zu einem parlamentarisch-präsidentiellen System. Jedoch ist sie voller Widersprüche und lässt viele Bereiche ungeregelt. Notwendige Begleitgesetze und Ausführungsbestimmungen wurden nicht verabschiedet. Seit der Verfassungsänderung wählt das Parlament den Premierminister und die Mehrheit im Parlament stellt die Regierung. Außerdem wurde ein imperatives Mandat eingeführt, das Fraktionsübertritte verbietet. Jedoch bleiben dem Präsidenten verschiedene Machthebel, zum Beispiel Ernennung des Verteidigungs- und Außenministers sowie das suspensive Vetorecht gegen Parlamentsentscheidungen.

Die Verfassung legt keine wirklichen »Checks and Balances« fest (Cheterian, 2009). Vielmehr verursachen die unklaren Beziehungen zwischen der Präsidentschaft, der Regierung und dem Parlament Spannungen und tragen zur politischen Krise bei. Regierungschefin Tymoschenko und Präsident Juschtschenko nutzen die Ambiguitäten der Verfassung, um ihre Macht zu erweitern. Zudem werden Regeln und Gesetze missachtet, weil Kämpfe über die Regeln häufig Oberhand über politischen Wettbewerb innerhalb festgelegter Regeln gewinnen. Eine erneute Verfassungsreform ist unabdingbar, wobei Tymoschenko ein rein parlamentarisches System bevorzugt, während Juschtschenko die Kompetenzen des Präsidenten erweitern möchte und wiederholt versuchte, die Verfassungsrevision wieder rückgängig zu machen. Da beide danach trachten die bestehenden Rahmenbedingungen durch das Verabschieden passender Gesetze oder Erlasse zu den eigenen Gunsten zu verändern, ist die zukünftige Regierungsform noch unklar.

Korruption und Rechtsunsicherheit bleiben ein strukturelles Problem. Juschtschenko hat sein Versprechen, politische Verbrechen aufzuklären und „alle Verbrecher ins Gefängnis zu schicken“ nicht erfüllt. Stattdessen erhielten viele Akteure aus dem alten Regime Amnestie für ihren Wahlbetrug im Jahr 2004 und Immunität für Abgeordnete auf allen Ebenen, und die zweifelhaften Privatisierungen der Kutschma-Ära wurden nicht weiter untersucht. Die Oligarchisierung der Macht bleibt bestehen, viele Politiker haben ein finanzielles Interesse daran, den korrupten Status Quo aufrecht zu erhalten (Kubicek 2009) – und alle Parteien werden von mehr oder weniger reichen und einflussreichen Oligarchen unterstützt und finanziert.

Nationsbildung

Die in den westlichen Medien betonte Zweiteilung des Landes in eine ukrainisch-sprachige und nach Westen orientierte Westukraine und eine russischsprachige und nach Russland orientierte Ostukraine ist eine starke Vereinfachung und wird der Vielschichtigkeit regionaler Besonderheiten nicht gerecht. Dennoch gibt es unterschiedliche historisch geprägte Identitätskonzepte und politische Kulturen, die unter Kutschma nach dem Teile-und-Herrsche-Prinzip bewusst aufrecht erhalten wurden. Obwohl die Einigung des Landes ein Hauptziel Juschtschenkos war, gelang es ihm nicht, eine gesamtukrainische Identität zu kreieren. Vielmehr vertrat er eher zentral- und westukrainische politische Kräfte und Identitätsvorstellungen, vor allem vor den Parlamentswahlen 2006 und 2007. Dazu zählen die Förderung der ukrainischen Sprache, die Bewertung der Hungersnot der 1930er Jahre als Genozid sowie die Rehabilitierung der Ukrainischen Aufstandsarmee, die im Zweiten Weltkrieg gegen die Rote Armee kämpfte und mit Hitler-Deutschland kollaborierte (Šabiæ 2009). Daher stimmen Wähler in der Ost- und Südukraine eher für Partei der Regionen, weil diese ihre Interessen zu vertreten verspricht. Wahltaktiken und Populismus aller politischen Kräfte führen immer wieder zur Polarisierung der regionalen Bevölkerungsgruppen. Andererseits trägt die innere Gespaltenheit der Ukraine dazu bei, ein autoritäres Regime zu verhindern, da es keine Alternative zum Pluralismus gibt (Simon 2009).

Regierungsfähigkeit

Die Regierungsfähigkeit ist begrenzt, da permanente Regierungskrisen die politische Entscheidungsfähigkeit lähmen. Juschtschenko wurde im Januar 2005 Präsident und das Parlament bestätigte Tymoschenkos Kandidatur als Premierministerin im Februar 2005. Von Beginn an litt ihre Regierung an Uneinigkeit und institutionelle Konkurrenz zwischen dem Sekretariat des Präsidenten, der Regierung und dem Rat für Nationale Sicherheit und Verteidigung, die von rivalisierenden Politikern geleitet wurden, flammte auf. Im September 2005 führten gegenseitige Beschuldigungen der Bestechlichkeit zur Entlassung der Regierung Tymoschenko. Die Wahl der neuen Regierung unter Jurij Jechanurow war nur mit Unterstützung der von Janukowytsch geleiteten »Partei der Regionen« möglich, der im Gegenzug Amnestie für den Wahlbetrug 2004 und Immunität gewährt wurde. Im Januar 2006, nach dem »Gaskrieg« mit Russland, erhielt die Regierung Jechanurow ein Misstrauensvotum des Parlaments, blieb jedoch bis zur Wahl des neuen Premierministers Janukowytsch, dessen Partei als stärkste Kraft aus den Parlamentswahlen im März 2006 hervorgegangen war, im Amt. Im April 2007 löste Juschtschenko – wegen der verbotenen Fraktionsübertritte oppositioneller Abgeordneter – das Parlament auf und rief Neuwahlen aus, womit er eine Verfassungskrise auslöste, welche die Ukraine an den Rand gewaltsamer Auseinandersetzungen brachte. Nach Verhandlungen zwischen Juschtschenko und Janukowytsch wurden vorgezogene Parlamentswahlen für den 30. September 2007 festgelegt, doch wie schon 2006 trugen sie nicht zur Handlungsfähigkeit der Regierung(en) bei. Aber die Wahlen wurden als frei und fair eingeschätzt und alle relevanten politischen Kräfte akzeptierten das Ergebnis. Die »Partei der Regionen« erhielt 34,7%, der »Block Julija Tymoschenko« (BJuT) 30.71% und Juschtschenkos Wahlblock »Unsere Ukraine–Selbstverteidigung des Volkes« 14,61%. Die Bildung einer neuen Regierung gelang erst im Dezember 2007, als eine erneute orange Koalition zwischen BJuT und »Unsere Ukraine« unter der Regierungsführung von Tymoschenko zustande kam.

Doch 2008 war das Parlament zeitweise nicht arbeitsfähig, so dass wichtige Reformen und Entscheidungen blockiert wurden. Nach Monaten gegenseitiger Blockaden zerbrach die orangene Koalition im September 2008, nachdem BJuT – gemeinsam mit der oppositionellen »Partei der Regionen« – Gesetze verabschiedet hatte, die die Macht des Präsidenten begrenzen. Nach gescheiterten Versuchen der Regierungsbildung löste Juschtschenko am 8. Oktober 2008 das Parlament auf und kündigte Neuwahlen an. Aufgrund der akuten Finanz- und Wirtschaftskrise, von der die Ukraine besonders stark betroffen ist, wurden die Wahlen auf ungewisse Zeit verschoben und die Regierung Tymoschenko blieb im Amt. Verschiedene Versuche der Regierungsbildung blieben seitdem erfolglos.

Seit Anfang 2009 hat die Ukraine keinen Außenminister und keinen Verteidigungsminister, da Tymoschenko sie über das Parlament entlassen hatte, eine Ernennung jedoch zum Kompetenzbereich des Präsidenten zählt. Tymoschenko und Juschtschenko können sich nicht auf Nachfolger einigen. Auch die Minister für Transport, Inneres und Finanzen sind zurückgetreten. Das Parlament arbeitet zurzeit fast gar nicht, weil es blockiert wird.

Angesichts der Finanzkrise ist die geringe Handlungsfähigkeit der ukrainischen Regierung problematisch. In den letzten Jahren wurden viele Investitionen über kurzfristige Bankkredite finanziert. Da aufgrund der Liquiditätskrise keine neuen Kredite zur Verfügung stehen, kommt es zu Rezession, steigender Arbeitslosigkeit und verminderten Staatseinnahmen, so dass der Staatsbankrott droht. Ein Notkredit des IWF über 16,4 Milliarden Dollar war mehrfach gefährdet, weil die ukrainische Regierung entsprechende Bedingungen nicht erfüllte.

Vor den Präsidentschaftswahlen, die am 17. Januar 2010 stattfinden, sind keinerlei Reformschritte zu erwarten. Im Gegenteil ist zu befürchten, dass das Haushaltsdefizit steigt, um populistische Maßnahmen vor den Präsidentschaftswahlen zu finanzieren. Der aussichtsreichste Kandidat ist Janukowytsch, denn Tymoschenkos Ratings sinken und Juschtschenko ist chancenlos.

Der Faktor Russland

Seit der Orangenen Revolution haben sich die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland zunehmend verschlechtert. Ein Beispiel ist der Gaskonflikt, der im März 2005 begann, als Russland die Bedingungen für den Transit von Erdgas über ukrainisches Territorium nach Westeuropa sowie den Preis für ukrainische Erdgasimporte zu Gunsten marktorientierter Preispolitik neu festlegte. Seitdem wurde immer wieder neu verhandelt und die zeitweise Einstellung von Gaslieferungen in die Ukraine führte zu Lieferengpässen in verschiedenen europäischen Staaten. Der Konflikt ist nicht beigelegt, weil es auch um Interessen russischer und ukrainischer Wirtschaftsbosse geht. Juschtschenko bevorzugt die Abwicklung über Zwischenhändler, Tymoschenko direkte Verbindungen zwischen Gasprom und dem staatlichen Gasimporteur Naftohas Ukraina. Beide verhandelten getrennt mit der russischen Seite, die zunehmend die Premierministerin und den Präsidenten gegeneinander ausspielte. Schließlich setzte sich Tymoschenko durch. Eine Einmischung Russlands bei den ukrainischen Präsidentschaftswahlen deutet sich bereits an, wobei unklar bleibt, welche Ziele die russische Regierung verfolgt. Im Gegensatz zu 2004, als Moskau offen Janukowytsch unterstützte, legt man sich dieses Mal (noch) nicht auf einen Kandidaten fest, wobei Janukowytsch und Tymoschenko als Moskau-freundlich gelten.

Ein weiterer Streitpunkt ist die Halbinsel Krim, die in der Ukraine einen Autonomiestatus genießt und mehrheitlich von Russen bewohnt wird. Eine mögliche Abspaltung von der Ukraine wurde nach dem Georgien-Krieg wieder Thema, auch wenn Russland die Separatisten offiziell nicht unterstützt. In der Hafenstadt Sewastopol ist die russische Schwarzmeerflotte stationiert. Die ukrainische Führung will den bis 2017 laufenden Stationierungsvertrag nicht verlängern. Der russische Präsident Dmitrij Medwedew brachte ein Gesetz in die Staatsduma ein, das den Auslandseinsatz der russischen Armee erlaubt, unter anderem zum Schutz russischer Bürger im Ausland. In der Ukraine befürchtet man, das Gesetz könne als Vorwand für eine Intervention auf der Krim genutzt werden.

In einem offenen Brief an Juschtschenko warf Medwedew im August 2009 der Ukraine zahlreiche „Fehlleistungen“ vor und drohte mit Konsequenzen. Die Ukraine sei den im Vertrag von 1997 festgelegten Prinzipien von Freundschaft und Partnerschaft untreu geworden und habe im Georgien-Konflikt eine anti-russische Haltung bezogen. Zudem bezichtigte er die ukrainische Führung des Abbruchs ökonomischer Beziehungen und der Verletzung von Eigentumsrechten russischer Investoren. Schließlich betreibe die Ukraine eine anti-russische Geschichtspolitik und verfolge „stur“ eine NATO-Mitgliedschaft, die mit einer – nicht existenten – russischen Bedrohung begründet würde. Erst nach den Präsidentschaftswahlen werde wieder ein russischer Botschafter nach Kiew entsandt. Juschtschenko versuchte die Vorwürfe zu entkräften und ukrainische Intellektuelle richteten einen offenen Brief an die Parlamente, Regierungen und Völker der Welt, in dem sie auf die Bedrohung aufmerksam machen und Unterstützung einforderten. Bislang sind Reaktionen ausgeblieben.

Das Verhalten der russischen Regierung erklärt sich unter anderem durch die politische Verhärtung in Russland und das »post-imperiale Syndrom«. Die russische Führung kann die Unabhängigkeit des »slawischen Brudervolkes« nicht akzeptieren und nutzt ökonomische und andere Mittel, um die Ukraine wieder in den eigenen Einflussbereich zu zwingen. Nach dem Wiedererstarken Russlands kommt es zudem zur Konkurrenz der Transformationsmodelle (Härtel 2009). Russland ist erstarkt, ökonomisch weitgehend stabil und politisch zunehmend autoritär. Die Ukraine ist – wie deutlich geworden ist – instabil, dafür aber relativ pluralistisch und frei. Russland will dieses Konkurrenzmodell nicht dulden und fördert dessen Scheitern und desavouiert es im eigenen Land.

Nach der Orangenen Revolution war die Mitgliedschaft in der Europäischen Union das erklärte Ziel Juschtschenkos. Inzwischen gibt es ein Freihandelsabkommen, die Reisemöglichkeiten für Ukrainer wurden erleichtert und seit 2007 wird über ein vertieftes Abkommen verhandelt. Im September 2008 beschlossen die Ukraine und die EU ein Assoziierungsabkommen, das bis Ende 2009 unterzeichnet sein soll; und im Mai 2009 trat die Ukraine der Östlichen Partnerschaft bei. Weitere Annäherungen sind möglich, aber aufgrund der unberechenbaren ukrainischen Innenpolitik ist eine Beitrittsperspektive in weite Ferne gerückt. Die Haltung der EU gegenüber der Ukraine bleibt nebulös. Vor allem Deutschland und Frankreich wollen aus Rücksichtnahme auf Russland keine EU-Mitgliedschaft der Ukraine und bleiben auch angesichts der Krise und russischer Drohgebärden ruhig.

Schlussfolgerungen

Viele angekündigte post-orange Reformen haben nicht stattgefunden und die Kampflinien zwischen verschiedenen politischen Gruppierungen sind wieder verschwommen. Der formale Rahmen wird wiederholt instrumentalisiert und ausgehöhlt, ohne dass das System als solches in Frage gestellt wird. Zumindest hat die Orangene Revolution die Restauration autoritärer Macht verhindert, und das Chaos und die Heterogenität der Landesteile und der politischen Elite in der Ukraine verhindern dies weiterhin. Mit Russland ist keine gleichberechtigte Partnerschaft möglich. Eine EU-Integration ist aufgrund innenpolitischer Faktoren und der Haltung mehrerer EU-Staaten mittelfristig unwahrscheinlich. Daher wird die Ukraine ihrer Randlage1 vorerst nicht entkommen können.

Literatur

Åslund, Anders (2009): How Ukraine Became a Market Economy and Democracy. Washington: Peterson Institute for International Economics.

Cheterian, Vicken (2009): From Reform and Transition to »Coloured Revolutions«, in: Journal of Communist Studies and Transition Politics 25:2, S.136-160.

Darden, Keith A. (2001): Blackmail as a Tool of State Domination: Ukraine under Kuchma, in: East European Constitutional Review 10:10.

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Anmerkung

1) Ukraine heißt wörtlich übersetzt: am Rande.

Dr. Kerstin Zimmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie und am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg. Zurzeit vertritt sie eine Professur an der Universität Kassel.

Zur Zukunft des Nationalismus in Europa

Zur Zukunft des Nationalismus in Europa

Unvollendeter Nationenbau oder postnationale Gesellschaft?

von Rainer Bauböck

Wie Eric Hobsbawm in seinem jüngsten Buch über Nationen und Nationalismus feststellt, gibt es einen Konsens der neueren Literatur zu diesem Thema, daß Nationen Phänomene der Moderne, genauer gesagt der letzten zweihundert Jahre sind und nur in ihrem Bezug auf den modernen bürokratisch verwalteten Territorialstaat bestimmt werden können. „Nicht Nationen bilden Staaten und Nationalismen, sondern umgekehrt.“ (Hobsbawm 1990, S.10, ähnlich Krippendorff 1985, S.301).

Ferner besteht weitgehende Einigkeit, daß eine Definition von Nationen anhand einer Liste objektiver Merkmale wie Sprache, Territorium, gemeinsame Abstammung, Wirtschaftsgemeinschaft etc., wie sie z.B. von Stalin 1913 formuliert wurde, unmöglich ist. Subjektive Definitionen der Nation als politische Willensgemeinschaft wiederum setzen tautologisch voraus, was zu erklären ist – die Herausbildung einer nationalen Gemeinschaftsidee (Bauböck 1991).

Nationalismus ist für Ernest Gellner (1983/1990) die Forderung nach der Übereinstimmung von kulturellen und staatlichen Grenzen. Benedict Anderson untersucht die Entstehungsbedingungen von Nationen als „imaginierten Gemeinschaften“ (Anderson 1983/1988). Etienne Balibar und Immanuel Wallerstein befassen sich in ihrem Dialog mit der Frage, wie im Rahmen eines kapitalistischen Weltsystems die „Konstruktion von Völkern“ mit den Kategorien der Rasse, der Nation und der Ethnizität erfolgt. (Balibar/Wallerstein 1988/1990). Bei aller Verschiedenheit des Zugangs teilen diese Autoren eine Überzeugung. Das Rätsel der Nation entspringt aus einer falsch gestellten Frage. Es läßt sich erst lösen, wenn sie nicht lautet: Wie erzeugen die zuvor bestehenden religiösen und ethnischen Kulturgemeinschaften die moderne Nation, sondern umgekehrt: Wie erzeugt der moderne Staat jene Kulturgemeinschaft und jene historischen Traditionen, durch die er sich selbst als Nation legitimiert? Gellners Antwort darauf scheint mir die bisher überzeugendste: Die soziale Arbeitsteilung in der industrialisierten Gesellschaft bedingt eine Homogenisierung von Kultur in nationalen Standardsprachen, welche in erster Linie durch ein staatliches Bildungssystem herbeigeführt wird. Dies bedingt auch eine grundlegende Veränderung der Legitimation politischer Ordnung.

In der für den modernen Nationalstaat charakteristischen Vorstellung, daß das Volk der Souverän der politischen Ordnung sei, wird dieses Volk immer auch als Kulturgemeinschaft gedacht (in pluri-nationalen Staaten als gegenüber Außenstehenden exklusive Föderation mehrerer Kulturgemeinschaften). Souveränität im Nationalstaat ist daher auch nicht an das demokratische Legitimationsprinzip der Partizipation auf der Grundlage gleicher Rechte gebunden. Dieser Widerspruch zwischen demokratischer und nationaler Selbstbestimmung ist der rote Faden des folgenden Essays. Er soll zunächst durch das Labyrinth der neuen nationalen Ideologien und Kämpfe führen und am Ausgang in einige theoretische und politische Folgerungen eingeflochten werden.

Symptome einer postnationalen Epoche

Hobsbawm deutet den Aufschwung der Nationalismus-Forschung in den letzten 20 Jahren als Signal eines historischen Niedergangs des analysierten Phänomens. Solange er wirksam war, hielt der Mythos der Nation auch seine politischen Gegner, die Internationalisten und Kosmopoliten gefangen. Erst wenn er seine Kraft verliert, können wir ihn als Mythos begreifen und überwinden. Es gibt auch andere und weniger esoterische Symptome einer zunehmend postnationalen Entwicklung, die jedoch von Gegentendenzen begleitet werden.

Die Rolle von Nationalstaaten in der Weltökonomie hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg tiefgreifend verändert. Gab es zuvor einen breiten Konsens, daß ein Minimum an Bevölkerung, Territorium und materiellen Ressourcen unerläßlich sei für die Lebensfähigkeit eines Staates, so hat sich seither eine neue Arbeitsteilung entwickelt, in der nicht mehr Nationalökonomien die zentrale Rolle einnehmen, sondern „global cities“ (Saskia Sassen 1991), die zu Drehscheiben weltweiter Ströme von Kapital, Waren, Dienstleistungen, Informationen und auch Arbeitsmigrationen werden. Es könnte sein, daß die Epoche der internationalen Struktur des ökonomischen Weltsystems nur eine Phase zwischen den transnationalen Strukturen des 16.-18. Jahrhunderts und der Gegenwart war (Hobsbawm 1990, S.174f.).

Paradoxerweise begünstigt jedoch gerade dieser ökonomische Bedeutungsverlust des Nationalstaats die Proliferation von Nationalismen. Schon in der Phase der Dekolonisierung nach 1945 konnten beliebige, nach rein administrativen Gesichtspunkten durch die Kolonialmächte gezogene Grenzen durch Befreiungsbewegungen zu nationalen umgedeutet werden. Wenn heute in Osteuropa die Ansprüche auf kollektive Selbstbestimmung von den ökonomischen Bedingungen ihrer Einlösung entkoppelt werden, so ermöglicht dies zugleich die Vervielfältigung dieser Ansprüche. Erfolg oder Scheitern hängt dann nur mehr von politischen und militärischen Machtverhältnissen ab. Die Kettenreaktion kommt erst dann zum Stillstand, wenn die verbleibenden Minderheiten zu schwach sind, um ihrerseits souverän zu werden oder sich einem Mutterland anzuschließen.

Der Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts hatte seine Grundlage nicht nur in der ökonomischen Struktur des Weltsystems, sondern auch in der internen sozialen Transformation industrieller Gesellschaften. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts beobachten wir jedoch gerade in den Metropolen Zerfallserscheinungen nationaler Kulturgemeinschaften und ihrer institutionellen Voraussetzungen: die ideologische Kritik und partielle Rücknahme der wohlfahrtsstaatlichen Regulierung des Kapitalismus; eine Aufweichung des staatlichen Bildungsmonopols mit sozialen und kulturellen Segregationstendenzen in den Grundschulen; einen Funktionsverlust von Grundbildung und standardisierter Kommunikation für die unteren Segmente eines zersplitterten Arbeitsmarktes; die Subkulturalisierung von Mehrheitsbevölkerungen und dauerhafte kulturelle Grenzziehungen gegenüber zugewanderten Minderheiten.

Die Zersetzung der institutionellen Grundlagen des Nationalismus bewirkt jedoch noch nicht sein Verschwinden, sondern eine Verwandlung seiner Manifestationen: Er wird zunehmend negativ definiert, d.h. als Abgrenzung gegenüber Fremdgruppen, wobei die inneren von größerer Bedeutung sind als die externen. Er verbindet sich mit einem politischen Populismus, welcher gegen die technokratische Legitimation politischer Entscheidungen gerichtet ist, aber wenn er zur Macht kommt, selbst das technokratische Modernisierungsprogramm exekutiert (siehe Schedler 1991). Nationalismus wird solange nicht überwunden werden, als er nicht durch ein anderes Legitimationsprinzip politischer Ordnung ersetzt werden kann.

Europäische Ungewißheiten

Noch nie seit 1945 schien die zukünftige politische Gestalt Europas so ungewiß wie jetzt. In politischen Feuilletons ebenso wie in halbamtlichen Dokumenten finden sich drei ganz verschiedene Skizzen für den Umbau.

  • Erstens ein geeintes Europa vom Atlantik bis zum Ural, in dem staatliche Grenzen an Bedeutung verlieren und Nationalismus die harmlosere Gestalt des Regionalismus annimmt.
  • Zweitens ein solches postnationales Europa im Westen innerhalb einer um die EFTA-Staaten erweiterten EG bei gleichzeitiger Desintegration des ehemaligen Ostens in zahlreiche nationale Kleinstaaten und Verwandlung dieser größeren Hälfte in einen halbkolonialen Hinterhof des reichen Westens.
  • Drittens die Verkleinstaatlichung ganz Europas, bei der die Krise des Ostens in den Westen überschwappt und zu einem neuen Gleichgewicht auf der Basis der Selbstbestimmung aller Nationalitäten unabhängig von ihrer Größe führt.

Die Unsicherheit über die Zukunft Europas speist sich aus zwei Quellen: Erstens aus der Ungewißheit, welches dieser Szenarien das wahrscheinlichste ist; zweitens aus der Uneinigkeit, welches darunter das wünschbarste wäre. Was für die einen eine Horrorvision ist, gilt den anderen als bessere Zukunft. Der europäische Umbruch hat die These vom Ende der Geschichte gründlich widerlegt, aber zugleich jene vom Ende der abendländischen Geschichtsphilosophie ebenso gründlich bestätigt. Wir können nicht mehr an ein durch den Sinn der Geschichte verbürgtes Ziel glauben, aber zugleich scheint auch ein spätaufklärerischer Konsens abhanden gekommen zu sein, daß die Überwindung des Nationalismus ein erstrebenswertes Ziel sei. Wenn allerdings die Teleologie nicht nur aus der Geschichtsdeutung, sondern auch aus der politischen Praxis verschwindet, dann ist die Zukunft nicht nur ungewiß, sondern wird zum unbeeinflußbaren Schicksal.

Self-accelerating prophecies

Die Verwirrung im Westen wie im Osten Europas hält sich allerdings in Grenzen – jenen, die durch die Trennlinie der beiden Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme vorgegeben war. Westlich davon dominiert die Grundüberzeugung, daß die europäische Vereinigung ein unumkehrbarer Prozeß sei, östlich davon die gegenteilige, daß die Kettenreaktion der Verselbständigung von Nationalitäten zu Nationalstaaten kaum gebremst werden kann. Insofern scheint das zweite der eingangs skizzierten Szenarien einer Addition der Stimmungen in beiden Hälften Europas zu entsprechen.

Dies könnte zu einer self-fulfilling prophecy werden. Solche Vorhersagen werden von manchen auch in der Absicht gemacht, dieses Resultat herbeizuführen. Ein befriedetes, aber erschöpftes und in ökonomisch impotente Kleinstaaten zersplittertes Osteuropa, das keinerlei internationale Verhandlungsmacht einzubringen hat, würde durchaus ein geeignetes Hinterland für ein prosperierendes und geeintes Westeuropa abgeben. Aber auch jene Propheten, welche auf die sich selbst erfüllende Wirkung ihrer Voraussagen vertrauen, könnten sich als Zauberlehrlinge wiederfinden: Gerade das Eintreffen der Erwartung kann den Prozeß jeder Steuerung entziehen.

Dieses Paradox möchte ich als selfaccelerating prophecy bezeichnen. Die Vereinigung Deutschlands kann als Exempel für eine solche modernisierte Variante der self-fulfilling prophecy angeführt werden. Die nationalistische Umdeutung der Demokratiebewegung vom »Wir sind das Volk« zum »Wir sind ein Volk« erzeugte erst den Konsens, „daß zusammenwachsen muß, was zusammen gehört“. Die Folge dieser Prophezeiung war nicht nur ihre Erfüllung, sondern eine Beschleunigung ihrer Einlösung, welche eine technokratisch rationale Steuerung dieses Prozesses weitgehend außer Kraft setzte. Genau umgekehrt verläuft die Entwicklung in Mittel-Süd-Ost-Europa. Die Erwartung eines unaufhaltsamen Zerfalls des Sowjetimperiums und des titoistischen Staates weckte die nationalistischen Geister, welche diesem Zerfall einen neuen Sinn unterlegen: jenen der Selbstbestimmung der so lange unterdrückten Völker. Dies setzte jedoch eine Dynamik in Gang, die vor keinen einmal etablierten staatlichen Grenzen Halt macht, wenn ihr nicht mit den Mitteln der gewaltsamen Unterdrückung von Minderheiten Einhalt geboten wird. Die daraus entstehende Ordnung ist um nichts gerechter oder weniger konfliktträchtig als die alte, nicht einmal gemessen an jenem Selbstbestimmungsrecht, in dessen Namen sie erzwungen wird.

Die mathematische Chaos-Forschung hat illustriert, daß Rückkoppelungsprozesse, wie sie der self-accelerating prophecy zugrunde liegen, unter Umständen auch zu völlig unvorhersehbaren Resultaten führen. Eine solche fatale Schleife wird erzeugt, wenn die jeweils dominierenden Erwartungen zur Grundlage von Vorhersagen über die europäische Entwicklung gemacht werden, welche ihrerseits die politischen Handlungsorientierungen beeinflussen.

Zu den Rückkoppelungsprozessen kommen als weitere Beiträge zur Verunsicherung von Zukunft auch noch Interaktionseffekte hinzu. Das Senario der getrennten Entwicklungswege berücksichtigt nicht, daß bereits der Zusammenbruch der spätstalinistischen Ordnung auch ein Ergebnis verstärkter Wechselwirkungen zwischen West und Ost war. Vor allem die von west- wie osteuropäischen Regierungen in den 80er Jahren gemeinsam betriebene Politik der Verschuldung hatte den doppelten Effekt der Verringerung innerer ökonomischer Reserven und der Verstärkung äußerer politischer Abhängigkeit. Daß auf die jetzige Phase der rapiden Umbrüche ein neuer Isolationismus folgt, ist schwer vorstellbar. Aber ob die fast zwangsläufig zunehmende Interaktion zwischen West und Ost einen stabilisierenden oder destabilisierenden Einfluß auf die Gesamtentwicklung haben wird, ist keineswegs schon ausgemacht.

Die Feststellung, daß die Verwirrungen über die Zukunft innerhalb beider Teile Europas sich in Grenzen halten, hilft uns also nicht besonders weiter. Die Unsicherheit wird verschärft durch die weitere Feststellung, daß die Verwirrungen über die Vergangenheit und die Ursachen der jetzigen Krise grenzenlos scheinen, vor allem wenn man als »Beobachter zweiter Ordnung« den westlichen Blick nach Osten analysiert. Um einen kleinen Beitrag zur Entwirrung zu leisten, soll im folgenden versucht werden, drei Erklärungsmuster für das Aufleben des Nationalismus in Mittel-Süd-Ost-Europa zu unterscheiden, die m.E. in der Reihenfolge ihrer Präsentation an Verbreitung ab-, aber an Plausibilität zunehmen.

Kühltruhe, Dampfkessel oder Akzelerator

Die gängigste Erklärung möchte ich als Kühltruhentheorie bezeichnen. Sie geht davon aus, daß der Nationalismus eine urtümliche Kraft im gesellschaftlichen Leben sei, die zwar vorübergehend unterdrückt werden kann, aber zusammen mit einer Befreiung von Diktatur sich unweigerlich von neuem manifestieren muß. Der Stalinismus habe den Nationalismus also nur vorübergehend eingefroren und damit ein Auf- und Abarbeiten dieser Primärenergie verhindert. Was wir jetzt erleben, sei einfach das Wiederanknüpfen an einer 1917 bzw. 1945 unterbrochenen Entwicklung. Diese These stützt sich auf eine noch immer nicht ausgerottete Variante der Geschichtsphilosophie, jene, die in Deutschland von Herder begründet wurde und deren ursprünglich demokratischer Gehalt in zwei Jahrhunderten eliminiert worden ist. Es ist die Vorstellung, daß Völker das Subjekt der Geschichte seien und ihre Befreiung in Form der Eigenstaatlichkeit nicht nur das Ziel, sondern auch ein unaufhaltsamer Prozeß sei.

Außer von jenen, die einen neuen Völkerfrühling im Osten spüren, wird die Tiefkühltheorie meist mit einer spezifischen Rückständigkeit des Ostens in Zusammenhang gebracht. Demnach hätte der Westen durch die fortgeschrittene industrielle Entwicklung unter demokratischem und kapitalistischem Vorzeichen nach den heftigen Krisen der 30er und 40er Jahre endlich zu einer abgeklärten Form des Nationalismus gefunden, in welcher die Gewalt der Eruptionen gerade dadurch verringert wird, daß die Grundforderung »ein Volk – ein Staat – eine Kultur« im wesentlichen erfüllt sei. Im Osten und Südosten dagegen stünden eben noch einige Flurbereinigungen aus.

Eine optimistische Variante dieser Auffassung könnte als Latenzzeit-These bezeichnet werden. Nach Freud knüpft die Persönlichkeitsentwicklung in der Pubertät nicht einfach an den frühkindlichen Erfahrungen an; die in der Latenzphase verdrängte Sexualität bricht nun in neuen Formen hervor, um schließlich in einen Reifungsprozeß zu münden. Ebenso sei der osteuropäische Nationalismus nach der Unterbrechung durch den Stalinismus zwar kaum weniger gewalttätig, aber gleichzeitig doch reifer geworden. Als Indikator dafür dient der Umstand, daß die neuen populistischen oder auch extrem autoritären Kräfte immerhin durch demokratische Wahlen an die Macht gespült worden seien. Darin und im gesamteuropäischen Integrationsprozeß wird oft eine Art institutionelle Garantie für eine zunehmend ruhigere Entwicklung gesehen. In der Sicht der Latenzzeit-These hätte die stalinistische Diktatur nicht nur die nationalen Triebe unterdrückt, sondern mit ihren massenhaften Vertreibungen bis hin zum Genozid an manchen Nationalitäten sogar bessere Voraussetzungen für eine dauerhafte Lösung durch die Separierung der Völker in Staaten geschaffen.

Gärung im Kessel, Feuer unter dem Topf

Die Dampfkessel-Theorie teilt mit der Tiefkühlthese die Grundannahme einer nationalen Urkraft. Sie argumentiert jedoch anders hinsichtlich des Einflusses, den der Stalinismus gehabt hat, und gelangt zu wesentlich pessimistischeren Schlüssen. In dieser Perspektive bewirkte die Phase des bürokratischen Staatsmonopolismus kein Einfrieren, sondern ein Aufstauen der alten Nationalismen: Erst dadurch hätten sie die jetzt beobachtete Explosivität erhalten. Dies setzt ein differenzierteres Bild der Gesellschaft in der stalinistischen Phase voraus. Zwar hat es keine entwickelte Zivilgesellschaft gegeben, aber in der Privatsphäre der informellen Netze und Beziehungen konnten sich die ethnischen Traditionen behaupten und sogar entwickeln, um nun als Nationalismen neu in Erscheinung zu treten. Unterschwellige Gärung hat also die innere Hitze vergrößert. Zusätzlich heizte der Stalinismus auch das Feuer an, auf dem der Kessel stand. Jetzt ist der Deckel weggeflogen und der Topf quillt über.

In ihren öffentlichen Manifestationen war die Herrschaft der Kommunistischen Parteien eine Schule in brutaler Machtpolitik von oben, durch welche als Beteiligte oder als Opfer auch die jetzigen politischen Führungen der unterdrückten Nationalitäten gegangen sind. Die Masse der Bevölkerung sei gleichzeitig durch realsozialistische Sozialisation zu Passivität, Unmündigkeit und Mitläufertum erzogen worden. Die Ausbrüche der neuen Xenophobie in Ostdeutschland wurden besonders gerne mit einem eigenen stalinistischen Sozialisationstyp erklärt, bis sich Hoyerswerda im Westen wiederholte und zuvor nicht beachtete Untersuchungen zeigten, daß das rassistische Potential in den alten Bundesländern mindestens ebenso groß ist wie in den neuen.

In der Reihenfolge Kühltruhen-, Latenzzeit- und Dampfkessel-These steigt jeweils die Bedeutung der jüngeren Vergangenheit für die Erklärung der Gegenwart. Allen diesen Erklärungen ist jedoch die Annahme gemeinsam, daß der Urgrund des Nationalismus letztlich zeitlos sei oder in einer fernen stammesgeschichtlichen Vergangenheit liege. Es gibt in dieser Sicht einen uneingelösten Wechsel der Geschichte und es scheint nur eine Frage der Zeit und günstigen Gelegenheit, wann er präsentiert wird. Die Oberflächenerscheinung, daß sich die osteuropäischen Nationalismen als unbefriedigte Ansprüche von Völkern auf Selbstbestimmung äußern, wird zur einzig relevanten Ursache umgedeutet. Dabei ist doch nicht nur erklärungbedürftig, warum diese Ansprüche gerade jetzt so heftig geltend gemacht werden, sondern auch unter welchen Bedingungen sie überhaupt entstehen.

Statt nun diese Ideen ausführlicher zu kritisieren, will ich im folgenden nur zwei Aspekte skizzieren, die von ihnen ausgeblendet werden, aber m.E. entscheidend zum neuen Nationalismus beitragen.

Neue Eliten auf Staatssuche

Der erste Aspekt bezieht sich auf eine Neubewertung der stalinistischen Regime, so daß diese nicht nur als Unterdrücker, sondern zugleich als Wegbereiter der gegenwärtigen Nationalismen erkennbar werden.

Die bürokratischen Diktaturen haben von Anfang an oder relativ kurz nach der Unterdrückung aller revolutionär-demokratischen Bewegungen und Experimente zu einer Stagnation der politischen Entwicklung geführt, welche die Entfaltung einer vom Staat unabhängigen Zivilgesellschaft verhinderte. Dennoch fand in dieser Epoche die bis dahin umfassendste Transformation dieser Gesellschaften in sozioökonomischer Hinsicht statt. Die staatlich forcierte Industrialisierung, die Kollektivierung der Landwirtschaft (mit der einzigen Ausnahme Polens), die massive Verstädterung, das Aufbrechen traditioneller Familienstrukturen durch allgemeine Lohnarbeit der Frauen, die wechselseitige ökonomische Abhängigkeit früher fast autarker Regionen, all das zerstörte die Voraussetzungen für ein Überleben der alten agrarischen Volkskulturen ebenso gründlich wie es die industriellen Revolutionen im Westen getan hatten. Allerdings erwies sich nach anfänglichen, um den Preis des Massenterrors erzielten Erfolgen die zentralstaatliche bürokratische Steuerung als Hemmschuh für eine zweite, »qualititative« Industrialisierung. Das Grundproblem war nicht die Unfähigkeit, High Technologies zu entwickeln, sondern die Lähmung der Gesellschaft durch eine vertikale Kommandostruktur, welche die Umsetzung von Produktivitätssteigerungen in wachsenden Wohlstand verhinderte. Dies mündete in der Breschnew-Ära in eine ökonomische Stagnation, welche schließlich die sozialen Grundlagen der Regime unterminierte.

AII das ist wohlbekannt. Weniger beachtet wird jedoch, daß es zumindest ein Gebiet gibt, auf dem in allen diesen Staaten bis in die 80er Jahre hinein Erfolgsbilanzen vorgewiesen werden konnten – dies ist die Bildungspolitik. Über der Kritik an der ideologischen Orientierung wird meist vergessen, daß außer in Ostdeutschland, der Tschechoslowakei und Polen diese Gesellschaften vor der stalinistischen Machtübernahmen von weit verbreitetem Analphabetismus geprägt waren. In dieser Hinsicht wurde im Osten unter »realsozialistischem« Vorzeichen wiederholt, was im Westen Europas einige Dekaden zuvor unter kapitalistischem geschehen war.

Erstens schuf die Massenerziehung in standardisierten Schriftsprachen überhaupt erst eine potentielle Basis für nationale Kommunikationsgemeinschaften und politische Bindungen zwischen Bildungseliten und den breiteren Bevölkerungsschichten. Gemessen an diesem starken und vom Gesellschaftssystem ziemlich unabhängigen Struktureffekt ist die Wirkung der jeweiligen ideologischen Indoktrination offensichtlich von geringerer Bedeutung. Zweitens wurde Bildung in den Gesellschaften sowjetischen Typs, in denen die persönliche Akkumulation von Kapital unterdrückt war, noch stärker als im Westen zum wichtigsten symbolischen Kapital der Aufstiegsorientierten. Drittens wurden durch die staatlich gelenkten Bildungssysteme auch die internen kulturellen Differenzen als territoriale zwischen Nationalitäten neu definiert.

Die explosiven Folgen dieser Politik kommen nun am stärksten dort zum Ausdruck, wo der Staat selbst als Föderation von Nationalitäten definiert worden war, also in Jugoslawien, in der Sowjetunion und nach 1968 in der CSSR. Die strikte Unterordnung aller lokalen Zweige des Machtapparats unter die Zentrale ging Hand in Hand mit der Förderung und Privilegierung lokaler Eliten und einer gleichzeitig anhaltenden ethnischen Durchmischung der Peripherien. In der Sowjetunion wurde innerhalb jeder Republik der namensgebenden ethnisch-nationalen Gruppe ein Vorrang beim Zugang zu den Bildungseinrichtungen ebenso wie zu den lokalen Machtapparaten eingeräumt. Das interne Paßsystem regulierte die Mobilität zwischen Regionen und vor allem den Zuzug in die Großstädte und schrieb gleichzeitig die Nationalität jeder Person fest. Die kombinierte Wirkung beider Maßnahmen war aber nicht eine ethnische Homogenisierung, sondern vielmehr eine künstliche Schichtung der Bürger nach Nationalität innerhalb jeder politischen Region. (Zaslavsky 1991, S.12 ff.). Diese Widersprüche mußten aufbrechen, sobald die mittels der Partei ausgeübte politische Kontrolle der Zentralmacht zusammenbrach. Das »Teile und Herrsche« der Stalinschen Nationalitätenpolitik schuf die Voraussetzungen dafür, daß die Herrschaft schließlich jenen zufiel, die sich ihrer im Namen der Teile bemächtigen konnten.

In diesem politischen Kontext wurden also Bildungseliten geschaffen, die mit der Bevölkerung innerhalb ihrer Nationalkulturen kommunizieren konnten. Ein Teil davon suchte den Zugang zur politischen Macht durch Integration in die Nomenklatura, in deren Hierarchie jedoch keine nationalen Sonderinteressen toleriert wurden. Ein anderer blieb frustriert vom Zugang zur politischen Herrschaft ausgesperrt. Es ist keineswegs verwunderlich, daß im Prozeß des Umbruchs die Machtansprüche beider Schichten in der Sprache des Nationalismus formuliert wurden, denn im Rahmen eines demokratisierten, aber weiterhin zentralisierten politischen Systems wie es wohl Gorbatschows Projekt war, hätten die meisten von ihnen nur untergeordnete Plätze einnehmen können. Die Multiplikation autonomer Staatsapparate ist zwar vom Standpunkt ökonomischer Rationalität im Übergang zur Marktwirtschaft aus gesehen widersinnig, aber die Forderung nach nationaler Souveränität für die jeweils eigene Gruppe ergibt als Strategie zur Maximierung der Macht dieser neuen Gruppen durchaus Sinn.

Die gegenwärtigen Nationalismen sind also nicht einfach ein Ergebnis der Demokratisierung nach einer Phase der Unterdrückung; sie knüpfen vielmehr an Ansprüche auf nationale Autonomie an, die sich zumindest in papierener Form schon innerhalb der stalinistischen Regime Legitimität verschaffen konnten. Gemeinsamkeiten der Sozialstrukturen und der Nationalitätenpolitik im sowjetischen Machtbereich zeigen sich heute darin, daß in allen Regionen und Staaten nationalistische Potentiale aktiviert und linksliberale und demokratische Strömungen an den Rand gedrängt wurden. Die beträchtlichen Unterschiede zwischen den Manifestationen der Nationalismen haben weniger mit dem politischen Erbe als mit dem ökonomischen Entwicklungsstand zu tun.

In den am stärksten entwickelten Regionen wie Slowenien oder den baltischen Staaten ist die dominante Forderung jene nach staatlicher Autonomie. In letzteren haben trotz der vehement antirussischen Kampagnen der neuen Republikführungen sogar die russischen Minderheiten für die Lostrennung gestimmt – in der Hoffnung, daß eine privilegierte Beziehung zum Westen den Erfolg der ökonomischen Reformen garantieren könnte. In Zentralasien dagegen und in den südlichen jugoslawischen Republiken überwiegt die Tendenz, nach neuen Formen des Zusammenschlusses mit einem externen Zentrum zu suchen, weil die wirtschaftliche Autarkie ein fürchterlicher Preis für die staatliche Autonomie wäre (siehe auch Zaslavsky 1991, S. 34ff.). Der Zerfall der UdSSR und die Instabilität der GUS haben für den islamischen Süden eine zweite Option eröffnet – der Iran und die Türkei scheinen durchaus willens als neue Regionalmächte an die Stelle Moskaus zu treten. Die Albaner des Kosovo befinden sich dagegen in einer viel schwierigeren Lage. Mit extremer Repression durch die alte Hegemionalmacht Serbien konfrontiert, bleibt für sie die Orientierung auf den Zusammenschluß mit einem von politischen Krisen und ökonomischen Katastrophen gebeutelten Mutterland ein wenig attraktiver Ausweg.

In jenen Regionen, wo Nationalismus mit ökonomisch motivierten Ohnmachtsgefühlen geladen ist und sich nicht ungehemmt gegen das bisherige politische Zentrum richten kann, wird das Schüren von Haß gegen Minderheiten zum probatesten Mittel für Machthungrige, Unterstützung zu mobilisieren.

Modernisierungsschock und negative Ethnizität

Daß sie diese Unterstützung auch erhalten, ist wesentlich schwieriger zu erklären als das national verbrämte Eigeninteresse der neuen Eliten selbst. Woher kommt die Bereitschaft, den offenkundig falschen Versprechungen zu trauen, daß nationale Souveränität auch schon eine Besserung ihrer materiellen Situation brächte; woher die noch viel weitergehende, für die neuen Vaterländer zu töten oder getötet zu werden?

Vielleicht ist gegenüber diesen Fragen zunächst einmal Skepsis angebracht. Wir kennen im wesentlichen nur die Worthülsen der machthabenden oder zur Macht strebenden Nationalisten und sollten deren Echo im Fernsehinterview mit dem kroatischen, serbischen, georgischen oder litauischen Bauern oder Arbeiter nicht von vornherein als eine adäquate Wiedergabe von Interessen und Meinungen akzeptieren. (Die Bäuerinnen oder Arbeiterinnen, deren Söhne in Bürgerkriege geschickt werden, äußern sich selbst im Fernsehen oft recht dissident). Dazu kommt die Erfahrung, daß in Staaten wie Polen oder Ungarn, in denen die Glut nicht von einem internen Nationalitätenkonflikt permanent angefacht wird, recht bald Ernüchterung gegenüber populistischen Führungen eingesetzt hat, die jedoch angesichts fehlender Alternativen meist in Apathie umschlägt.

Es scheint, daß der Grundbestand des gegenwärtigen Nationalismus im Osten ebenso wie im Westen eine negativ definierte symbolische Ethnizität geworden ist. Deren Antriebskraft wie bereits erwähnt ist nicht so sehr die Neudefinition des staatlichen Rahmens nationaler Selbstbestimmung, sondern vielmehr die Abgrenzung gegen Fremdgruppen. Daher ist es auch schwer, diesen Nationalismus mit politischer Demokratisierung zu verknüpfen. Die resignierende Verbitterung wie die gewalttätigen Ausbrüche dieses negativ definierten Nationalismus können vielleicht am ehesten als Folgen eines sozialen Modernisierungsschocks begriffen werden. Die marktwirtschaftliche Transformation der ost-mittel-süd-europäischen Gesellschaften hat zusammen mit den bescheidenen materiellen Sicherheiten auch jene der bisherigen Formen der Lebensplanung eliminiert. Dabei wird sowohl die Zukunft unsicher als auch die Vergangenheit entwertet. Nicht nur Randgruppen von Dauerarbeitslosen, sondern ganze Generationen von Dreißig-, Vierzig- oder Fünfzigjährigen erleben heute das Trauma einer rapiden Dequalifikation ihres beruflichen Wissens und ihrer erlernten sozialen Fähigkeiten. Wenn diese Analyse zutrifft, so können die strategischen Projekte der nationalen Eliten zwar mit keiner dauerhaften Massenunterstützung rechnen, aber die ethnophobe – gegen Minderheiten gerichtete – Deutung sozialer Krisen kann immer wieder in der Erfahrung sozialer Minderwertigkeit von Mehrheitsbevölkerungen ihren Resonanzboden finden.

Zusammenfassend könnte diese Analyse als Akzelerator-Theorie bezeichnet werden, in welcher stalinistisches Erbe und marktwirtschaftliche Modernisierung nicht zu einem Wiederaufleben alter, sondern zu genuin neuen Nationalismen führen, die sich jedoch in traditionelle Gewänder kleiden, um ihre Machtansprüche historisch zu fundieren. Sowohl der Stalinismus der Zwangsindustrialisierung als auch die derzeitige kapitalistische Umgestaltung sind in dieser Sicht politisch induzierte Beschleunigungen sozialen Wandels. Auf eine Kurzformel gebracht war die Erzeugung einer Massenbasis für Nationalkulturen paradoxerweise ein Hauptresultat der Sowjetpolitik, die politische Formierung nationaler Machteliten ein Ergebnis ihres Zusammenbruchs und die Mobilisierbarkeit der Bevölkerung für deren Ziele Folge einer Modernisierungspolitik ohne soziale Sicherheitsgurte.

 Westeuropa – bleibt der Geist in der Flasche?

Die Bedingungen für die Herausbildung neuer Nationalismen in beiden Teilen Europas sind denkbar verschieden. Im Osten erleben wir eine Implosion astronomischer Größenordnung. Die sowjetische Supernova dehnte sich in zwei Schüben nach dem ersten und zweiten Weltkrieg auf ihre maximale Größe aus. Seit den späten 50er Jahren erlahmte die Aktivität in ihrem Kern – das Innere erkaltete und die gewaltige Hülle verkrustete. 35 Jahre lang erschütterten periodische Beben einige der Peripherien, aber das Zentrum selbst schien aufgrund seines Repressionsapparats und einer elaborierten militärischen Gleichgewichtsbeziehung mit seinem westlichen Gegenpart durch nichts aus den Angeln zu heben. Niemand hatte vorhergesehen, daß die Sowjetgesellschaften letztlich nicht an der Diktatur und dem Terror scheitern würden, sondern am mutigen Versuch, in einem extremen politischen Vakuum Reformen in Gang zu setzen. Gorbatschows Appell zur Umgestaltung richtete sich an Partei und Volk. Seine Hoffnung war, daß dieses »und« noch mit Bedeutung gefüllt werden könnte. Das war sein entscheidender Fehler, an dem er hartnäckig festhielt. Aber wer kann heute schon sagen, ob 1956 oder 1968 eine Demokratisierung á la Gorbatschow Aussichten auf Erfolg gehabt hätte? Sicherlich nicht im Sinn einer Stabilisierung der bürokratischen Herrschaft, aber doch vielleicht in Richtung eines damals überaus populären »dritten Weges«? Jetzt fliegen die Trümmer des Sowjetreichs durch den politischen Raum und erschlagen Menschen.

Im Westen Europas ist es gerade umgekehrt: Die äußere Hülle ist über Jahrzehnte soweit gefestigt worden, daß ihre schrittweise Ausdehnung risikoarm scheint. Hier gibt es im Inneren kein Vakuum, sondern eine mit Macht gesättigte Lösung. Aber auch in dieser Lösung kann Nationalismus kristallisieren. Statt eine Folge von Destabilisierung scheint der neue Nationalismus hier paradoxerweise das Resultat von anhaltender politischer Stabilität bei raschem sozialen Wandel. Gesicherte Ordnung hier wird nicht nur durch ein kräftiges Skelett von Repressionsapparaten erzeugt, sondern dieses wird von einem dichten Nervengewebe mit einer Überfülle miteinander verflochtener und sich wechselseitig stabilisierender Knoten der Macht überlagert und gesteuert. Wie bei einem gut gebauten Kartenhaus macht die vielfach abgestützte Statik des westeuropäischen Hauses es sogar theoretisch möglich, einzelne Mauern herauszunehmen und auszutauschen, ohne daß das Gebilde selbst einzustürzen droht.

Vielleicht ist das wichtigste Merkmal, das die relative Stabilität Westeuropas seit den 50er Jahren erklären kann, der allmähliche Souveränitätsverlust von Nationalstaaten. Dies ist eine ungleichmäßige Entwicklung, sie erfolgt in Schüben und betrifft nicht alle Gebiete staatlicher Politik in gleicher Weise. Das Wesentliche scheint mir jedoch zu sein, daß Souveränitätsverlust ohne Demokratiegewinn nationalistische Gegenbewegungen auslöst.

Zwischen einem auf der Ebene der ökonomischen und politischen Machtzentren integrierten Europa und solchen Gegenströmungen gibt es jedoch keine grundlegende Unvereinbarkeit. Zwar sehen sich einzelne dominierende Parteien durch nationale Populisten bedrängt, doch ihre gemeinsamen Projekte sind noch keineswegs gefährdet und würden wohl sogar den einen oder anderen Durchbruch von Rechtsextremisten überleben. Wir leben heute nicht nur in einem Europa der »zwei Geschwindigkeiten« auf dem einen Weg in die Integration, sondern auch in einem Europa der zwei Fahrtrichtungen. Drei Phänomene zeigen, daß der Konsens über die Zukunft Westeuropas weniger breit ist, als seine Vorbeter glauben machen wollen: erstens die neue Virulenz eines xenophoben westlichen Nationalismus, zweitens anhaltende und neubelebte Konflikte um Autonomie für alte nationale Minderheiten und drittens die Beschwörung der nationalen Souveränität im wachsenden Widerstand gegen die westeuropäische Integration auf der Basis des Maastrichter Vertrags.

Das Programm der Ent-Fremdung als Selbstvergewisserung

Wo in der Vergangenheit noch Verfassungspatriotismus und demokratisch fundierter Staatsnationalismus gepredigt wurde, gibt es heute eine Rückkehr zu integralen und kulturalistischen Definitionen der nationalen Identität. In einer beliebten Gattung von Witzen geht es darum, was denn nun »die Deutschen«, »die Franzosen«, »die Briten« charakterisiere, wenn sie in den Himmel oder in die Hölle kommen. Daraus wird plötzlich die mit unerträglichem Ernst gestellte Frage, was denn uns Deutsche, uns Franzosen oder uns Briten von anderen unterscheide, wenn wir in das postmoderne Europa eintreten. Dieser Diskurs wird viel weniger an Stammtischen gepflegt als von einer neuen nationalen Intelligenzia, die sich nicht mehr ausschließlich rechts verorten läßt, und er findet sein Echo in den Reden der seriösesten Politiker.

Wer dabei als »die anderen« herhalten muß, um verunsicherten Europäern ihre aufgefrischte Identität zu verschaffen, sind in erster Linie Flüchtlinge und Immigranten. Xenophobie und Rassismus, die sich gegen außereuropäische, aber auch gegen osteuropäische Einwanderer richten, grassieren in praktisch allen Staaten des industriell entwickelten Europa. Auch Immigration und die Forderung nach Gleichberechtigung für die Immigrierten wird als Verlust von Souveränität erlebt, denn diese ermächtigte seit jeher zur Kontrolle über den Zugang zum Gemeinwesen und zur Unterscheidung zwischen Bürgern und Fremden.

Das selbsterzeugte Dilemma der Immigrationspolitik ist: Wirtschaftlicher Zusammenschluß plus Deregulierung von Arbeitsmärkten wirken als Magneten für Einwanderung. Gleichzeitig hat die Steuerung der Immigration durch die Nachfrage der Unternehmen einen weiteren Abbau sozialer Sicherung zur Folge – in erster Linie für die vorletzten Einwanderer. Offene Grenzen erzeugen unter diesen Bedingungen Angst und nicht nur unter jenen, die gute Gründe haben, sich bedroht zu fühlen. Die selektive Schließung der Grenzen für bestimmte Gruppen (vor allem Flüchtlinge und Migranten aus islamischen Regionen) und deren interne Diskriminierung als Lohnarbeiter, Wohnungssuchende und Bürger zweiter Klasse beseitigt diese Angst nicht, sondern präsentiert der rassistischen Gewalt auch noch ihre Zielscheiben.

Alte Minderheiten neue Eskalationen

Der neue Nationalismus richtet sich jedoch nicht nur gegen die neuen Bewohner Westeuropas, sondern ebenso gegen seine alten Minderheiten. Nur bietet er für letztere im Unterschied zu ersteren auch eine Chance, ihre Forderungen nach Autonomie oder Souveränität stärker anzumelden. In dieser Hinsicht ist nicht so sehr mit neuen Bruchlinien als mit einer Vertiefung der bestehenden zu rechnen.

Vor allem jene Streitfragen, in denen aufgrund langwieriger Verhandlungen allen ethnischen Kollektiven ein Zipfel der Macht garantiert wurde, können leicht eskalieren. Ausgerechnet kurz vor der Erfüllung der letzten noch offenen Punkte des Südtirol-Pakets brach innerhalb der Einheitspartei der Deutschsprachigen eine Debatte um Autonomie und staatliche Zugehörigkeit auf. Und wer würde heute so unvorsichtig sein, eine Hypothek bis zum Jahr 2000 auf den Fortbestand des belgischen Staates aufzunehmen? In diesen und anderen Fällen hat eine rigide Politik des Ethno-Proporzes den Streit nur oberflächlich beigelegt. Die Festschreibung ethnischer Machtverhältnisse führt bei fortlaufenden sozialen und ökonomischen Veränderungen (etwa durch demographische und Wanderungsbewegungen) zu erhöhter sozialer Reibungsenergie. Wo diese frei wird, versuchen politische Bewegungen, sich einen Teil jener Souveränität zu holen, die von den Nationalstaaten an ein vereinigtes Westeuropa abgegeben wird. Dies gilt noch stärker in Regionen wie Schottland oder Katalonien, wo Nationalbewegungen bei der friedlichen Eroberung der kulturellen und politischen Hegemonie in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht haben. Die Entwertung staatlicher Souveränität im westlichen Integrationsprozeß könnte sie für jene durchaus erschwinglich machen, die bisher als Sprecher minderer Sprachen vom Konzert der Nationen ausgeschlossen wurden.

Gerade in jenen beiden Konflikten in Euzkadi (Bakenland) und Nordirland, die schon bisher einen hohen Blutzoll gefordert haben und das Gespenst nationalistischer Bürgerkriege in Westeuropa am Leben erhalten haben, gibt es dagegen Anlaß zur Hoffnung, daß alte Gräben nicht weiter vertieft sondern zugeschüttet werden. Hier könnten die militanten Nationalisten zunehmend ihre Unterstützung in der Bevölkerung verlieren, wenn die Föderalisierung Europas neue Chancen auf symbolische oder auch reale Abkoppelung von alten Hegemonialmächten eröffnet.

Selbstbestimmung  jenseits der Nation?

Für zeitgenössische politische Wissenschaft würde es sich lohnen, über die Frage nachzudenken: Was geht verloren, wenn nationale Souveränität schwindet und wodurch wäre der Verlust ersetzbar? Die Reflexion über die Zukunft des Nationalismus in Europa würde dann auch eine Diskussion über Alternativen eröffnen. Ich kann dazu vorläufig nur ein paar Gedankensplitter beitragen:

Demokratische oder nationale Souveränität?

Souveränität ist nicht dasselbe wie Staatlichkeit. Im internationalen politischen System, in der Außen- und Sicherheitspolitik, werden weiterhin Staaten die wesentlichen Akteure sein. Und auch in der internen Struktur politischer Gemeinwesen wird die Ebene des Staates gegenüber jener der Gemeinden, der förderalen Einheiten und der übernationalen Bündnisse wohl auf lange Sicht deutlich hervorgehoben bleiben. Was diese Ebene heute und in absehbarer Zukunft auszeichnet, ist die Konzentration, aber nicht mehr das Monopol, der Gesetzgebung. Staatlichkeit fixiert einen vorläufig unverzichtbaren Bezugsrahmen für alle Politik, aber nicht jeder Instanzenzug im politischen Spiel endet in derselben souveränen Spitze.

Jean Bodin hat 1576 die klassische Definition formuliert: „Souveränität ist die dem Staat eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt“ (Bodin 1576/1981, S.205). Gemessen an dieser Begriffsbestimmung gibt es zwei mal zwei Einschränkungen von Souveränität: die externe durch Unterwerfung, aber auch mit der freiwilligen Einfügung in einen dauerhaften Staatenbund; die interne, wenn das Allgemeinwohl partikularen Interessen geopfert wird, aber auch mit der Beschränkung staatlicher Macht durch Bürger- und Menschenrechte. Im Grunde werfen schon Montesquieu's und Locke's Theorien der Gewaltenteilung die Frage auf, ob nicht demokratische Souveränität ein in sich widersprüchliches Konzept ist.

Auch das nationale Selbstbestimmungsrecht hat zwei Bedeutungen – eine mythologische: die Emanzipation von unterdrückten Völkern als Nationen; und eine historische: die Legitimierung des Strebens nach Souveränität, nachdem dynastische und imperiale Ansprüche auf dieses höchste politische Gut normativ außer Kraft gesetzt wurden. Nur in diesem letzteren Sinn war und ist das Selbstbestimmungsrecht auch eine Emanzipationschance, weil es die Egalität der Staaten untereinander postuliert (Wallerstein in Balibar/Wallerstein 1988, S 111 f.). Es gebührt den Opfern kolonialer, rassistischer oder ethnischer Unterdrückung, weil sie nur so und zunächst nur als Kollektive jene Gleichrangigkeit erreichen können, die ihnen zuvor als Bürger verwehrt wurde.

Zugleich ist das Selbstbestimmungsrecht unabhängig von der internen Verfassung des Staates d.h. es ist nicht das Recht der politischen Selbstbestimmung, sondern das Recht jener, die erfolgreich im Namen der Nation die souveräne Gewalt ausüben. In der demokratischen Tradition ist das nationale Selbstbestimmungsrecht die Voraussetzung, aber nicht schon die Einlösung der politischen Selbstbestimmung:

Dem aufgrund seiner Rechte in der Zivilgesellschaft souveränen Bürger muß ein in seiner Sphäre souveräner Staat korrespondieren, innerhalb dessen diese Rechte garantiert werden.

Wenn die äußere Souveränität nicht unterjocht, sondern diffus wird, dann gibt es darauf zwei verschiedene politische Antworten: erstens die symbolische, aber in der Eskalation von Konflikten unter Umständen auch gewaltsame Rückforderung der Souveränität im Namen der Nation; zweitens das Auffüllen der neu entstandenen politischen Räume durch demokratische Bürgerrechte.

Multiplikation von Mitgliedschaft

Was einen politischen Raum zur Nation macht, sind nicht seine territorialen Grenzen, sondern die kollektive Selbstabgrenzung seiner Bürger gegen jene, die nicht dazugehören. Wenn in Europa ausschließlich die EG als transnationaler politischer Raum konstruiert wird, dann wird sich in der Abgrenzung von den Peripherien des Ostens und Südens und vor allem in der Abwehr der Einwanderer aus diesen Regionen eine Art westeuropäischer Hypernationalismus entwickeln.

Die Alternative dazu wäre die Anreicherung und Überwindung traditioneller Staatsbürgerschaften durch transnationale ebenso wie subnationale Bürgerschaften. Der institutionelle Raum, innerhalb dessen solche Rechte eingefordert werden können, hätte keine einheitliche Gestalt und scharfen Konturen mehr. Doppelstaatsbürgerschaften, die Angleichung sozialer und politischer Rechte niedergelassener Ausländer an jene der Inländer, die Einräumung spezifischer Einwanderungsrechte auf jenen Verbindungswegen, die in den bisherigen Migrationen ausgebaut wurden und schließlich die stärkere institutionelle Verankerung universeller Menschenrechte, dies wären einige Elemente einer transnationalen Bürgerschaft, welche über Staatenbünde hinausreicht (Bauböck 1992).

Hand in Hand damit könnte die Entwicklung von spezifischen lokalen und Stadtbürgerschaften gehen, welche im Gegensatz zum ethnisch oder pseudo-ethnisch begründeten Föderalismus die Ausdifferenzierung von Funktionen anstelle der Abgrenzung von Regionen und Kulturen als Anknüpfungspunkt politischer und sozialer Rechte nimmt. So wie egalitäre Rechte im Staat den Spielraum für gesellschaftliche Differenzierung durch Erweiterung individueller Wahlchancen eröffnen, so müßte der Anspruch auf adäquate kommunale Infrastrukturen zu einem gleichen Grundrecht für alle Bewohner werden. Um das zu realisieren bedarf es einer negativ bestimmten und einer positiven Leitidee: erstens einer Politik der Desegregation, welche der territorialen Sortierung von Bevölkerungsgruppen in Stadtviertel ebenso entgegenwirkt wie ihrer Zuordnung in vorbestimmte Plätze in institutionellen Hierarchien, und zweitens einer Förderung von Chancengleichheit in den Grundfunktionen städtischen Lebens: Wohnen, Arbeit, Konsum, Bildung, Freizeit, Verkehr.

Multiple Bürgerschaft korrespondiert dann mit multipler Souveränität, welche auf ihre einfachste Bedeutung reduziert wäre: daß jedem Recht eine jeweils höchste Instanz der Gesetzgebung zugeordnet sein muß. Es gäbe dann allerdings nicht mehr eine einzige oberste Instanz für alle Bürgerrechte, sondern eine komplexe Ordnung von vertikal wie lateral angeordneten institutionellen Endpunkten.

Gegen dieses m.E. attraktive Bild gibt es einen wahrhaft schlagenden Einwand: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (Schmitt 1990). Man könnte ergänzen: Der Krieg ist die ultima ratio der Souveränität. In der Logik des Krieges ist diffuse Souveränität tatsächlich eine Schwächung der Angriffs- wie der Verteidigungschancen. In einer Logik der Verhinderung von Kriegen könnte sie dagegen eine Variable mit positivem Vorzeichen werden. Die alte und noch immer gegenwärtige politische Ordnung der Welt ist aus Nationalstaaten als Bausteinen gefügt. In den Fugen gibt es viel Mörtel und hier und da existieren solide Mauern, mit deren Zusammenbruch niemand rechnen würde. Aber bei einem Erdbeben ist jede Mauerfuge eine potentielle Bruchlinie, entlang derer das Ganze zerfallen kann. Die Automobilkonstrukteure standen bei der Entwicklung brauchbarer Windschutzscheiben vor einem ähnlichen Problem: Beim Aufprall eines Fremdkörpers zerbricht Glas in große zusammenhängende Splitter, welche die Fahrgäste schwer verletzen können. Die von den Ingenieuren gefundene Lösung ist vorbildlich: Statt die Scheibe durch aufwendige Panzerung völlig bruchsicher zu machen, erfanden sie eine Sorte Glas mit einer durchsichtigen Netzstruktur. Beim Zusammenstoß wird dieses Netz als Mosaik von Teilchen und Linien sichtbar und je dichter es ist, umso geringer die Gefahr, daß ein Stück herausbricht.

Anmerkung

Bei dem Text handelt es sich um einen Beitrag für den Friedensbericht 1992 der schweizerischen, deutschen und österreichischen Gesellschaft für Friedensforschung.

Literatur

Benedict Anderson (1983/1988): Imagined Communities, deutsch: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Campus Verlag: Frankfurt a.M.

Etienne Balibar<|>/<|>Immanuel Wallerstein (1988/1990): Race, Classe, Nation. Les identités ambigues. Paris, deutsch: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Argument-Verlag: Berlin.

Rainer Bauböck (1991) Nationalismus versus Demokratie, Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, Heft 1, S. 73-90.

Rainer Bauböck (1992): Immigration and the Boundaries of Citizenship. Monograph in Ethnic Relations, Centre for Research in Ethnic Relations, University of Warwick.

Jean Bodin (1567/81): Sechs Bücher über den Staat, Buch I-III, Beck-Verlag: München.

Ernest Gellner (1983/90): Nations and Nationalism. Cambridge Oxford, deutsch: Nationalismus und Moderne, Rotbuch: Berlin

Eric J. Hobsbawm (1990/1991): Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality, Cambridge. deutsch: Nationen und Nationalismus seit 1789. Mythos und Realität, Campus Verlag: Frankfurt a.M.

Ekkehart Krippendorff (1985): Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft. Frankfurt/Main: suhrkamp.

Saskia Sassen (1991): The Global City. New York, London, Tokyo. Princeton.

Andreas Schedler (1991): Die Nicht-repräsentative Demokratie. Unveröffentlichtes Manuskript. Institut für Höhere Studien, Wien.

Carl Schmitt (1990): Politische Theologie; Duncker und Humblot, Berlin.

Josef Stalin (1913): Marxismus und nationale Frage, Stern-Verlag: Wien. Victor Zaslavsky (1991): Das russische Imperium unter Gorbatschow. Seine ethnische Struktur und ihre Zukunft. Wagenbach: Berlin.

Rainer Bauböck ist Mitarbeiter im Institut für höhere Studien in Wien.

Die Unabhängigkeit der Balten

Die Unabhängigkeit der Balten

Mit Nuancen zum gemeinsamen Ziel

von Manfred Klein

Vorzüglich abgestimmter Gleichklang in der politischen Öffentlichkeitsarbeit und koordiniertes Vorgehen der drei Baltischen Republiken in der Auseinandersetzung mit Moskau suggerieren dem Beobachter das Bild einer mit einheitlichen Voraussetzungen operierenden Interessengemeinschaft. Das Panorama hält nur an der Oberfläche aktuellster Interessenlage was es verspricht. Darunter offenbaren sich bei näherer Betrachtung historische und gegenwärtige Bedingungen für die politischen Perspektiven, die doch gravierende Unterschiede aufweisen.

Nationaler Mythos und Lutherbibel

Die augenfälligste Divergenz betrifft das Staatsbewußtsein bzw. dessen Grundlagen; Esten und Letten beziehen es auf die historisch kurzlebige Eigenstaatlichkeit der beiden Jahrzehnte zwischen den Weltkriegen. Vorher hatten beide Völker, kolonisiert von Deutschen, Skandinaviern und Russen, keine eigenen Staatswesen organisieren können. Ungleich tiefer in der Vergangenheit wurzelt hingegen der Nationalstaatsgedanke der Litauer, die im 14. und 15. Jahrhundert ein feudales Großreich errichtet hatten, dessen Grenzen von der Düna im Norden bis zum Schwarzen Meer im Süden reichten und das sie zuerst in eine dynastische Personal- und schließlich auch in eine politische Union mit Polen (Union von Lublin, 1569) einbrachten.

Vor allem die Schlacht bei Calgiris (Grünwald), die wir Deutschen als die von Tannenberg bezeichnen, ging als ein nationaler Mythos ersten Ranges aus dieser Vergangenheit in das Bewußtsein der Litauer ein. 1410 hatten an diesem Ort die vereinigten Heere des Großfürstentums Litauen und Polens den Deutschen Orden vernichtend geschlagen, dem damit ein weiteres Vordringen aus Ostpreußen über die Memel hinaus nach Litauen endgültig verwehrt war. Der Wille zur nationalen Selbstbehauptung verbindet sich seither bis in die Gegenwart mit diesem historischen Topos Calgiris.

Geriet Litauen im Zuge dieser Vorgänge nachhaltig unter polnisch geprägten kulturellen Einfluß samt der damit verbundenen katholischen Religion, so waren Esten und Letten im urbanen Umfeld der Hanse deutschen und skandinavischen Einflüssen ausgesetzt und wurden Protestanten, was sie größtenteils auch in den späteren Ostseeprovinzen – Estland, Kurland, Livland – des Russischen Reiches (seit 1705) blieben. Wann immer in der Gegenwart die ideologische Formel »Zurück nach Europa« bemüht und die kulturelle (und politische) Orientierung am »Westen« betont wird, vergißt man in Estland und Lettland nicht, an diese protestantische, nach Deutschland und Skandinavien tendierende, Tradition zu erinnern. Sie ist Grundlage des Bewußtseins, zu Mitteleuropa und damit zum Kulturkreis von Humanismus und Aufklärung zu gehören.

Die autochthonen Völker des Baltikums bilden auch ethnisch und sprachlich keine Einheit. Während Letten und Litauer mit ihren Sprachen den baltischen Zweig der indo-europäischen Völkerfamilie bilden, sprechen die Esten ein finnisch-ugrisches Idiom, das sie in die Lage versetzt, ihre geographisch nächsten Nachbarn, die Finnen, ohne Schwierigkeiten zu verstehen. Es war deshalb kein Wunder, daß die Esten in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg als die bestinformierten Sowjetbürger galten, waren sie doch in der Lage, die Sendungen der nahegelegenen finnischen Rundfunk- und Fernsehstationen zu verfolgen.

In Litauen wiederum konnte man die politisch wegweisenden Vorgänge des vergangenen Jahrzehnts in Polen aus erster Hand verfolgen; dank des jahrhundertelangen kulturellen Nahverhältnisses ist Polnisch immer noch eine in den Bildungsschichten geläufige Fremdsprache. Wenn auch insgesamt von einem historisch bedingten Bildungsvorsprung in den baltischen Republiken im Vergleich zu anderen Regionen der UdSSR gesprochen werden kann – in Litauens Hauptstadt Vilnius findet sich die älteste Universität der Sowjetunion (gegr. 1579) – so war doch bereits im 19. Jh. in den protestantischen Ostseeprovinzen ein ungleich höherer Alphabetisierungsgrad auch der bäuerlichen Bevölkerung erreicht als irgendwo sonst in Rußland. Auch Litauen konnte da keine Ausnahme bilden, maß doch die evangelische Lehre der Bibellektüre und dem Gebrauch des Gesangbuches entschieden mehr Bedeutung zu als die katholische.

Schließlich ist auch die erheblich frühere Bauernbefreiung in der durch die deutsch-baltische Ritterschaft geprägten Region (1804 und 1819) zu erwähnen, der die Aufhebung der Leibeigenschaft im übrigen Rußland, also auch in Litauen, erst 1861 folgte. Sie war, neben der Intensivierung der Landwirtschaft, einer relativ zeitigen und kräftigen Industrialisierung und Urbanisierung, vor allem der bedeutenden Hafenstädte Libau, Riga und Reval (Tallinn), förderlich. Zählte das Gebiet des heutigen Estland und Lettland schon vor dem Ersten Weltkrieg zu den Industriezentren des zaristischen Rußlands, so waren die litauischen Gouvernements im Vergleich dazu fast reine Agrargebiete mit wenig (an der Agrarproduktion orientierter) Kleinindustrie geblieben. In der Folge entwickelte sich vor allem in Lettland, aber auch in Estland eine zahlenmäßig stärkere, klassenbewußte Industriearbeiterschaft als in Litauen.

Die gemeinsam vorgetragenen Strategien der drei Baltischen Republiken zur Lösung aus der Sowjetunion stützen sich vorzugsweise auf die Parallelen in der jüngeren Geschichte und die durchaus ähnlichen leidvollen Erfahrungen ihrer Völker mit eben dieser Union. Entstanden im Machtvakuum nach Ende des Ersten Weltkrieges zwischen Deutschland und Rußland, aus dessen Territorium sie sich gelöst hatten, fanden sie zunächst die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit durch die bolschewistische Regierung Lenins (1920), gerieten jedoch allzu bald wieder in den Sog der sich neu entwickelnden imperialistischen Interessen der beiden Mächte. Litauen vermochte zudem von vornherein nicht, seine historisch begründeten territorialen Ansprüche zu behaupten: Das ebenfalls im Ergebnis des Ersten Weltkrieges wiedererstandene Polen besetzte den Südosten Litauens, das sog. Wilna-Gebiet mit der historischen Hauptstadt Vilnius (1920), womit der jungen Republik ein Konfliktherd ersten Ranges entstanden war. Im Westen eignete sich im Gegenzug Litauen das dem Völkerbund unterstellte Memel-Gebiet an (1923) und geriet damit in einen folgenreichen Gegensatz zum Deutschen Reich.

Gefährdete Demokratien

Der Aufbau demokratischer Staatswesen verlief in den drei Republiken in den beiden Jahrzehnten zwischen den Weltkriegen in vergleichbarer Abfolge: Parlamentarische Systeme und Verfassungen mit deutlichen Anklängen an die Strukturen der Weimarer Republik funktionierten nur relativ kurze Zeit und wichen autoritären Konstruktionen wie z.B. in Litauen, wo ein Präsident, Antanas Smetona, gestützt auf das Kriegsrecht mit diktatorischen Vollmachten von 1926 bis 1940 regierte. Lediglich in Estland gelang es, 1938 wenigstens teilweise zu einer demokratischen Verfassung zurückzukehren. Im Hinblick auf die späteren Ereignisse darf auch nicht verhehlt werden, daß in allen drei Republiken ein mehr oder weniger militanter Antikommunismus praktiziert wurde, der die Bolschewiki außer Landes oder in die Illegalität trieb.

Eines läßt sich auch aus historischem Abstand nicht behaupten: daß die Baltischen Republiken der Zwischenkriegszeit wirtschaftlich nicht überlebensfähig gewesen wären. Abgesehen von Weltwirtschaftskrise und Boykottmaßnahmen von außen (so durch Deutschland gegen Litauen im Zuge der Memel-Krise) erwiesen sich die Volkswirtschaften des Baltikums als im bescheidenen Rahmen stabil, – ein Umstand, der heute das Selbstvertrauen in eine erfolgreiche wirtschaftliche Zukunft auf eigenen Füßen erheblich stärkt. Auch ein anderes Problem der unmittelbaren Zukunft wurde in der ersten Jahrhunderthälfte schon einmal wenigstens im Ansatz vorbildlich – in den Verfassungen gelöst, wenn auch die Praxis dann mitunter zu wünschen übrig ließ: die Wahrung der Rechte nationaler Minderheiten, die es in den drei Ländern auch damals schon in bemerkenswertem Umfang gab.

Das Trauma der sowjetischen Annexion von 1940 verbindet sich für die Balten mit einer weiteren gemeinsamen Erfahrung: In der existentiellen Bedrohung ihrer Unabhängigkeit waren sie allein, Hitler und Stalin hatten ihre Interessensphären untereinander abgesteckt, Hilfe von außen war nicht zu erwarten. Dieser Situation der Isolation vorausgegangen war die Unfähigkeit der baltischen Staaten, zu einem wirklich verbindlichen Zusammenschluß in Form einer »Baltischen Entente« zu kommen. 1934 hatte es lediglich zu einem Konsultativ-Vertrag gereicht, der jedoch ausgerechnet alle militärischen Belange ausschloß. Vor dem Hintergrund dieses Versäumnisses ist der Schulterschluß der drei Republiken in der aktuellen Situation ein deutliches Signal auch für eine gemeinsame Zukunft. Bereits am 12. Mai 1990 beschlossen ihre Präsidenten bei einem Treffen in Estlands Hauptstadt Tallinn die »Wiederbelebung« jenes Baltischen Rates von 1934, die seither eine weitgehende Koordination des Vorgehens beim Kampf um die Unabhängigkeit ermöglicht.

Konfrontation und flexible Taktik

Koordination heißt, wie sich zeigt, nicht Gleichschritt, die unterschiedlichen historischen Voraussetzungen machen sich in der politischen Taktik bemerkbar. Litauens politische Opposition, im ersten Stadium der Perestrojka noch so kleinlaut, daß die Leute lieber die kühneren russischsprachigen Zeitungen lasen als die übervorsichtigen eigenen, mauserte sich seit dem Herbst 1988 zur kompromißlosesten Front gegen Gorbatschows Pläne für eine erneuerte Union.

Bewaffneter Widerstand gegen die Wiederherstellung der Sowjetmacht war nach 1944 in allen baltischen Ländern geleistet worden, – in Litauen dauerte er am längsten, bis 1952/53, forderte die meisten Opfer und die größte Brutalität bei seiner Niederschlagung, die Menge der Deportierten war beispiellos. Der seit Anfang der 70er Jahre wieder aufgenommene Widerstand formierte sich als »Helsinki-Komitee« und vor allem um die Untergrund-Zeitschrift »Chronik der Katholischen Kirche Litauens«. Nationale Bewegung und Katholizismus bilden in Litauens Geschichte seit dem 19. Jh. eine scheinbar unauflösliche Allianz, die sich auch bei der Bildung der Volksfront »Sajüdis« 1988 und den folgenden Massen-Manifestationen wieder bewährte. Demonstration, politisches Handeln, Gebet, Gesang und Gottesdienst verflechten sich in der politischen Alltagspraxis der Menschen zu emotional aufgeladenem »Wir«-Bewußtsein und erheblicher Bereitschaft zum Risiko.

Von Süd nach Nord zunehmende operative Vorsicht und Bereitschaft zu zäher Diplomatie charakterisieren in etwa die taktischen Varianten der Baltischen Völker im Kampf für das gleiche Ziel – korrespondierend dazu aber auch die Reaktionen der Moskauer Zentralregierung. Wie Litauen erklärten 1990 auch Estland und Lettland die Beitrittsakte zur UdSSR von 1940 für ungültig, ebenso beschlossen ihre Parlamente die Unabhängigkeit und benannten die »Sowjetrepubliken« zur »Republik Estland« bzw. »Unabhängigen demokratischen Republik Lettland« um. Im Gleichklang knüpften die drei Republiken damit staatsrechtlich an die de jure noch existenten Staatswesen der Zwischenkriegsjahre an, Estland setzte sogar am 8. Mai 1990 ausdrücklich die Präambel seiner historischen Verfassung wieder in Kraft. Dennoch vermieden die nördlichen Nachbarn Litauens die unmittelbare Konfrontation mit der Union durch den Verzicht auf sofortige Umsetzung ihrer Beschlüsse in die Praxis. Estland deklarierte einen »stufenweisen« Übergang zur Unabhängigkeit, während das lettische Parlament zugleich mit dem juristischen Akt Verhandlungen mit Moskau zu seiner Verwirklichung beschloß.

Ganz im Gegensatz dazu erklärte der »Oberste Rat der Republik Litauen« am 11. März 1990 nicht nur die Unabhängigkeit von der UdSSR und setzte deren Verfassung auf litauischem Territorium außer Kraft, sondern begann auch gleich mit der faktischen Umsetzung durch Ausübung von Hoheitsrechten in Legislative, Exekutive und Jurisdiktion. Die Reaktion des Volksdeputiertenkongresses bzw. des Präsidenten der UdSSR war zwar zunächst in allen drei Fällen formal gleich; die Beschlüsse der Parlamente in Vilnius, Tallinn und Riga wurden für ungültig erklärt; dennoch trafen vorläufig nur Litauen wirklich massive Maßnahmen.

Diplomatie als Ausweg

Eine ganz wesentliche Bedingung dieser abgestuften Schritte zur Lösung aus der UdSSR stellen, neben den erwähnten historischen Voraussetzungen, die unterschiedlichen ethnischen Mehrheitsverhältnisse in den Baltischen Republiken dar. Vergegenwärtigt man sich, daß die Litauer im Gebiet ihrer Republik 80% der Bevölkerung, die Esten entsprechend 65% und die Letten nur noch 54% ausmachen, dann wird deutlich, in wie unterschiedlichem Maße sich die Mehrheitsethnien jeweils zur politischen Rücksichtnahme auf die Minderheiten verpflichtet fühlen. Insbesondere der Anteil der Russen, der in Litauen zur Zeit bei etwa 9%, in Estland bei 28% und in Lettland bei 33% liegt, wird angesichts der potenten Schutzmacht sorgfältig ins politische Kalkül gezogen, zumal sie einen beträchtlichen Teil der Industriearbeiterschaft und technischen Intelligenz stellen und dementsprechend konzentriert an bestimmten Industriestandorten leben. Dort, wo sie arbeiten, meist in den Großbetrieben, die den Moskauer Ministerien unterstellt sind, findet sich auch der entschiedenste Widerstand aus der Bevölkerung gegen die Politik der völligen Unabhängigkeit. Litauen wird zudem noch mit den 7% Polen zu rechnen haben, die auf Autonomie in den von ihnen bewohnten Rayons im Südosten der Republik drängen, wobei der alte »Wilna-Konflikt« unversehens wieder aktualisiert werden könnte.

Wie immer schließlich die Konstruktionen unter Einschluß der Interessen der UdSSR und ihrer Russischen Republik (Stichwort: Kaliningrader Gebiet und der Zugang dazu) aussehen mögen, – ohne Respektierung der Souveränität der Baltischen Republiken und der Unabhängigkeitswünsche ihrer Bevölkerungsmehrheit wird eine Lösung der Spannungen in dieser Region nicht möglich sein. Wie der blutige Einsatz der Fallschirmjäger-Einheiten im Januar 1991 in Vilnius, später auch abgeschwächt in Riga, zeigte, ist die Bereitschaft zur Gewaltanwendung seitens der Zentrale nicht auszuschließen. Wenn auch jüngst wieder Verhandlungen zwischen Vilnius und Moskau begonnen wurden, – eine neuerliche gewalttätige Eskalation ist jederzeit denkbar. Über taugliche Strategien zur Vermeidung von Gewalt verfügen beide Seiten kaum, am wenigsten die Truppen des Innenministeriums oder gar Fallschirmjäger bei ihrer Konfrontation mit den Emotionen der Bevölkerung. Die litauische Führung ihrerseits hat wenig getan, eine solche Konfrontation zu verhindern, Trauer und Wut angesichts der erschossenen oder von Panzern zerfetzten Opfer unter der Bevölkerung wird auch nicht dazu beitragen. Zudem nimmt in Litauen die Neigung zur Bewaffnung nicht nur der eigenen Polizei, sondern auch von Zivilpersonen zu. Das mitunter chaotische Nebeneinander von Regierungs- und Exekutivorganen der Republik und der Unionsregierung – es gibt faktisch zwei getrennte Apparate – garantiert keinesfalls mehr Sicherheit, die Souveränität bleibt ohnehin Fiktion unter solchen Verhältnissen.

Der flexiblere Weg Estlands (und zum Teil auch Lettlands) hat bislang kaum weniger wirksame Schritte in die Unabhängigkeit gesetzt als der Parforce-Ritt Litauens. Da außenpolitische Reisen baltischer Politiker nicht wesentlich behindert wurden, sah man in beharrlicher Diplomatie und Sympathiewerbung (vor allem in den skandinavischen Ländern mit Erfolg) einen gangbaren Weg zur Verifizierung der Souveränität, der freilich Zeit kosten wird. Die wiederum ist angesichts der wirtschaftlichen Katastrophe und der Zerfallserscheinungen in der UdSSR knapp. Dennoch: der Schlüssel zur Lösung der baltischen Probleme liegt weiterhin in Moskau.

Dr. Manfred Klein, Historiker, Hochschullehrer an der Fachhochschule Bielefeld.