Einfach nur: Zensur

Einfach nur: Zensur

Grenzen der Wissenschaftsfreiheit in Zeiten des Krieges

von Claudia Brunner1

Nicht nur rund um den Konflikt in Israel/Palästina herrschen öffentliche Sprechverbote und Denkgebote. Doch spätestens seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat das Diskreditieren, Intervenieren und Zensurieren unliebsamer Positionen eine neue Qualität und Quantität erreicht. In der im gleichen Atemzug beschworenen offenen Gesellschaft der liberalen Demokratie werden Intellektuelle und Akademiker*innen schnell zu deren Feind*innen erklärt, wenn sich ihre Worte nicht zur „Wissenschaft als Herrschaftsdienst“ (Pappé 2011) eignen.

Im August 2023 erreichte mich eine Anfrage von Deutschlandfunk Nova: Nach einer Hörer*innenbefragung des Wissenschaftspodcasts »Hörsaal« wünsche man sich einen Vortrag zum Thema »Epistemizid«, der organisierten und massenhaften Vernichtung von Wissen, die mit Genoziden und anderen gewaltförmigen Prozessen einhergeht. Selbst ein Fan von Podcasts, sagte ich gern zu und sprach, nach Vereinbarung eines Aufnahmetermins im Landesstudio Kärnten des ORF, Ende September über mein Forschungsthema »epistemische Gewalt«: zu einem nur imaginierten Publikum sowie einem realen Tontechniker, der sich angesichts des unverhofften Crashkurses in post- und dekolonialer feministischer Wissenschaftstheorie durchaus begeistert zeigte. Auf Wunsch einer Hörerin hatte ich die Problematik am Beispiel der sogenannten Hexenverbrennung illustriert, aber auch Bezüge zu anderen Genoziden und Epistemiziden im Verlauf des sogenannten »langen 16. Jahrhunderts« hergestellt und das Konzept der epistemischen Gewalt erklärt. Nach Ende des fast einstündigen Vortrags zeigte sich die akustisch anwesende Redakteurin sehr zufrieden. Ich selbst freute mich über ein – wie mir schien – gelungenes Experiment der Wissenschaftskommunikation und war neugierig auf das fertige Produkt sowie die Resonanz im virtuellen Hörsaal.

(Nicht) hören wollen und sollen

Mitte Oktober 2023 kontaktierte mich die Redakteurin in für mich überraschend reserviertem Ton betreffend die Veröffentlichung des Beitrags. Diese könne nämlich nur erfolgen, wenn ich der Streichung eines Satzes zustimmen würde.

Bei Vorträgen zu verwandten Themen entstehen stets interessante Diskussionen, und natürlich werden kritische Fragen zu Begriffen und Konzepten oder zur Forschungsperspektive und deren politischen Implikationen an mich gerichtet. Als Diskursforscherin ist mir auch durchaus bewusst, was Michel Foucaults »Räume des Sagbaren« bedeuteten, und als Feministin ist mir klar, welche Macht in Begriffen und Konzepten steckt. Bei der redaktionellen Bearbeitung von Publikationen wird bisweilen auch aus politischen Gründen um Formulierungen gerungen. Und selbst Erfahrungen mit Störaktionen bei Konferenzen und diffamierenden Rezensionen sind mir nicht fremd. Doch meine Worte faktisch zensuriert hatte in über 15 Jahren im universitär-akademischen Feld bislang noch niemand.

Da ich im Aufnahmestudio ohne schriftliches Manuskript frei gesprochen hatte, konnte ich mir keinen Reim darauf machen, welche konkrete Formulierung als der Öffentlichkeit dermaßen unzumutbar erachtet wurde, dass ich mich Wochen später von ihr nicht nur distanzieren, sondern ihrer Löschung zustimmen sollte. Also bat ich um die Zusendung der Transkription der als problematisch erachteten Passage.

Sprechverbote, Denkgebote

Es handelte sich um einen Satz, den ich so oder ähnlich schon unzählige Male verwendet und in dem meinen Vorträgen zugrunde liegenden Buch über epistemische Gewalt ausformuliert hatte (Brunner 2020, S. 39): Um den in der akademischen Fachdebatte gängigen Begriff der anhaltenden »Kolonialität« von jenem des historischen »Kolonialismus« abzugrenzen, verwies ich auch im Podcast auf den Historiker Robert Young. Er argumentiert, dass das politische System des Kolonialismus im Allgemeinen zwar als überwunden gelte, diese Lesart jedoch beispielsweise für Angehörige der First Nations in Nordamerika, für Sahrawis in der Westsahara oder für Palästinenser*innen in den von Israel besetzten Gebieten alles andere als plausibel sei (Young 2006, S. 3). Im Konjunktiv und als eines unter mehreren Beispielen hatte ich das vor allem im deutschsprachigen Raum scheinbar Unsagbare ausgesprochen: Israel und Kolonialismus.

Bereits vor dem 7. Oktober 2023 war es wenig opportun, faktisch Offensichtliches und analytisch Plausibles an- und auszusprechen, nämlich die völkerrechtswidrige Besatzung palästinensischer Gebiete. Bis dahin hätte ich mich als Autorin selbst für diese Feststellung rechtfertigen müssen – und können. Nunmehr meinte ausgerechnet die Redaktion eines multidisziplinären Wissenschaftspodcasts, die von ihnen selbst eingeladene – und gar nicht über Israel/Palästina sprechende – Vortragende aktiv zensurieren zu müssen, um nicht selbst die gefürchtetste aller Diskreditierungen auf sich zu ziehen: Antisemitismus.

Ich habe der Zensur nicht zugestimmt und mit offiziellen Dokumenten des Auswärtigen Amts und der Vereinten Nationen sowie mit einigen Verweisen auf die internationale akademische Fachdebatte geantwortet. Darin ist das vermeintliche Unwort »(Siedler-)Kolonialismus« ein analytischer Begriff, um den anhaltenden asymmetrischen Konflikt in Israel/Palästina angemessen zu verstehen.

Zwei Monate später wurde die Sendung schließlich doch noch – wie ich annehme, zähneknirschend – mit Verlinkung zu einem weiteren und diesbezüglich ambivalenzfreien Podcast veröffentlicht.

Unerwünschte Expertise

Massivere Auswirkungen hatte die zugespitzte »Begriffsverbotspolitik« in der Schweiz. Laurent Goetschel, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel und Direktor der Forschungseinrichtung »swisspeace«, hatte im vergangenen Herbst in einer Diskussionssendung des Schweizer Fernsehsenders SRF angemerkt, dass die seit Jahrzehnten im Raum stehende Zwei-Staaten-Lösung inzwischen wohl weder für Israel noch für die Palästinenser*innen eine realistische oder wünschenswerte Option sei. Daher wäre es doch angebracht, auch wieder über Modelle einer »Ein-Staaten-Lösung« nachzudenken, die in Forschung und Politik im Übrigen seit langem diskutiert wird. Alternativen zum Status quo zu debattieren halte ich für ein gutes Recht und auch eine sinnvolle Aufgabe der Wissenschaften, um systematisch Wege der Analyse und Transformation von territorialen Konflikten ausloten zu können.

Zu einem dieser Wege der Konfliktbearbeitung zählt die Beteiligung akademischer wie politischer Akteur*innen an Friedensprozessen vor allem auf nicht-öffentlichen diplomatischen Terrains. Um dies aus der Perspektive der neutralen Schweiz weiterhin gewährleisten zu können, ergänzte Goetschel, halte er auch nichts von der geforderten Einstufung der Hamas als terroristischer Organisation, mit deren Vertreter*innen dann nicht einmal gesprochen werden dürfe, und von deren Verbot in der Schweiz. Damit hatte der renommierte Friedensforscher offensichtlich gleich zwei rote Linien des nicht nur in Deutschland zur »Staatsräson« gewordenen, reflexartig pro-zionistischen öffentlichen Diskurses überschritten.

Es folgte eine mediale Schlammschlacht, und im Handumdrehen strich der Landrat des Kantons Basel-Landschaft die bereits vereinbarten Förderbeiträge an die von Goetschel geleitete schweizerische Friedensstiftung (Neue Zürcher Zeitung 2024).

(Un-)Freiheit der Lehre

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt übt sich derweilen die Leitung der Universität Wien in der Einschränkung der Freiheit von Wissenschaft und Lehre in Bezug auf eine multiperspektivische Betrachtung Palästinas und seiner Geschichte, Kultur und Gegenwart. So wurde der Professorin Birgit Englert, die mit ihrer Habilitation über eine an der Universität Wien erlangte Lehrbefugnis – und damit über das dort auch inhaltlich frei auszuübende Recht auf Lehre – verfügt, zu Beginn des Sommersemesters 2024 untersagt, eine Ringvorlesung zum Thema „Palästina in globalen Zusammenhängen. Über Mobilitäten, Solidaritäten und Erinnerungskulturen“ in der von ihr, gemeinsam mit ihrer Kollegin Maya Rinderer, geplanten Form abzuhalten (Statement 2024a). Bereits eine Woche nach Ankündigung im Lehrveranstaltungsverzeichnis hatten sich über 50 Studierende für die Ringvorlesung angemeldet, bei der elf weitere Kolleg*innen zum Thema sprechen sollten.

Über Nacht verschwand das schon online einsehbare Vortragsprogramm von der Website der Universität Wien. Ohne öffentliche Rechtfertigung wurde von der langjährigen Mitarbeiterin der Universität Wien verlangt, zwei palästinensische Vortragende sowie ihre jüdische Co-Organisatorin aufgrund ihrer Beziehung zum antizionistischen jüdischen Kollektiv »Judeobolschewiener*innen« auszuladen. Weiters wurde gefordert, die Zahl der Teilnehmenden im Sinne eines geschlossenen Formats zu reduzieren sowie die sorgfältig geplante Ringvorlesung in kürzester Zeit auf ein Lektüre-Format umzubauen – und somit eine (universitäts-)öffentliche Debatte zu verhindern.

Da sich die Organisatorinnen ebenso wie beteiligte Vortragende gegen diesen unerhörten Eingriff in die Freiheit der Lehre und die Ausladung ihrer Kolleg*innen aussprachen, wurde die Lehrveranstaltung tatsächlich abgesagt. Ebenso beunruhigend wie das autoritäre Vorgehen des Rektorats, exekutiert durch die Vizerektorin für Lehre, scheint mir das weitgehende öffentliche Stillschweigen im Umfeld der beteiligten Institute an der Philosophisch-Kulturwissenschaftlichen sowie der Fakultät für Sozialwissenschaften. Vielen schien es, so mein Eindruck, nur um den »Sonderfall Israel/Palästina« zu gehen, zu dem man sich derzeit nicht unbedingt äußern möchte, und nicht um den deutlich sichtbar werdenden grundlegenden Eingriff in die Freiheit von Wissenschaft und Lehre.

Kurze Zeit später ergriffen auch Student*innen der Universität Wien das Wort und formulierten ein Protestschreiben (Statement 2024b), in dem nicht nur das jüngste Geschehen am Institut für Afrikawissenschaften öffentlich kritisiert wurde. Auch die durch das Rektorat verhinderte öffentliche Vortragsreihe „Against the Present: Past and Future Perspectives on Palestine (Statement 2023), die Kolleg*innen vom Institut für Kultur- und Sozialanthropologie gemeinsam mit der Central European University (CEU) im vergangenen Wintersemester veranstalten wollten, wurde von den Student*innen aufgegriffen. Dem Institut war die Co-Organisation der mit etablierten internationalen Akademiker*innen besetzten Vortragsreihe und die Nutzung von Räumen der Universität Wien untersagt worden, und die Ankündigung – zeitgleich mit einem allgemeinen Statement zur Lage in Israel/Palästina – ebenfalls über Nacht von der Website genommen.

Die an der Organisation beteiligten Kolleg*innen und nunmehr alleinigen Gastgeber*innen an der CEU staunten nicht schlecht, war ihrer politisch unliebsamen Universität doch erst vor wenigen Jahren von Viktor Orbáns Regierung die Verlängerung der Akkreditierung in Ungarn verweigert worden, weshalb sie heute am Standort Wien tätig sind. Vorgestern Gender Studies und Asylpolitik, gestern Ukraine, heute Palästina. An welchem Thema wird sich die inzwischen eingeübte Kultur des Diskreditierens, Intervenierens und Zensurierens als nächstes manifestieren?

Opportunismus und Repression

Wer sich mit Israel/Palästina beschäftigt, weiß schon lange Bescheid über die Grenzen der Wissenschaftsfreiheit in Zeiten des Krieges. Wenn selbst liberale und linke Stimmen sich als Sprachrohr des ultra-rechten israelischen Kriegskabinetts verstehen und Antisemitismusvorwürfe zur Waffe gegen dissidente Positionen gemacht werden – selbst gegen regierungskritische Israelis und anti-zionistische Juden und Jüdinnen in aller Welt –, wird (nicht nur) Friedensforschung und Friedenspolitik, die diesen Namen verdient, bewusst verunmöglicht. Aber auch wer in den letzten beiden Jahren beobachtet hat, wie selbst auf vermeintlich ergebnisoffenem und differenzierungskompetentem wissenschaftlichem Terrain über den Krieg in der Ukraine gesprochen werden kann, darf und soll, musste ähnliche Phänomene zur Kenntnis nehmen. Die Verengung der Diskursräume sowie die sich selbst an einzelnen Begriffen verdichtenden Sprechverbote und Denkgebote, die sich in immer drastischeren Formen auch im akademischen und universitären Feld in den liberalen Demokratien Deutschland, Österreich und der Schweiz breit machen, sind mehr als nur anlassbezogen beunruhigend.

Je weniger Widerspruch gegen autoritärer werdende (Diskurs-)Politiken wir artikulieren, und je vereinzelter wir uns dabei wähnen, umso wirksamer internalisieren wir die sich verschiebenden Grenzen des (Un-)Sagbaren in unseren Köpfen. Damit werden wir zu Gehilf*innen der vermeintlich alternativlosen Kriegslogik, der spätestens seit der Ausrufung der »Zeitenwende« selbst an Universitäten, Hochschulen und Akademien nicht nur unser Handeln, sondern auch unser Denken und Empfinden untergeordnet werden soll.

Das ebenso freche wie kluge Känguru von Marc-Uwe Kling würde angesichts dieser Entwicklungen wohl von „Opportunismus und Repression“ sprechen (Kling 2009, o. S.) – und sich mit seinen roten Boxhandschuhen an den Kopf greifen.

Anmerkung

1) Danke an Helmut Krieger und die genannten Kolleg*innen für den Austausch zu dieser Thematik.

Literatur

Brunner, C. (2023): Epistemische Gewalt. Die Vernichtung von Wissen. In: Hörsaal – der Wissenschaftspodcast, Deutschlandfunk Nova, 15.12.2023.

Brunner, C. (2020): Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne. Bielefeld: transcript.

Goetschel, L. (im Interview mit Häsler, G.) (2024): Das kommt einem politischen Maulkorb für die Wissenschaft gleich. Neue Zürcher Zeitung, 4.1.2024.

Kling, M.-U. (2009): Die Känguru-Chroniken. Berlin: Ullstein.

Pappé, I. (2011): Wissenschaft als Herrschaftsdienst. Der Kampf und die akademische Freiheit in ­Israel. Hamburg: Laika.

Statement (2023): Letter in Protest of University of Vienna‘s Cancellation of Events on Palestine and Further Censorship. Online abrufbar unter: is.gd/letter_in_protest_vienna_2023.

Statement (2024a): Statement in Protest of the Removal of the »Palestine in Global Contexts« Lecture Course at the University of Vienna. Online abrufbar unter: afrika.univie.ac.at/ueber-uns/rassismuskritische-ag/proteste.

Statement (2024b): Petition zur Beendigung von Zensuren an der Universität und Wiedereinstellung von Kursen über Palästina in unseren Lehrgängen. Online abrufbar unter: is.gd/­petition_lectures_palestine.

Young, R. (2006): Postcolonialism. An Historical Introduction. Malden/Oxford/Carlton: Blackwell.

Claudia Brunner ist Professorin am Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung, Institut für Erziehungswissenschaften und Bildungsforschung, Universität Klagenfurt. Zu Person und Arbeitsschwerpunkten siehe www.epistemicviolence.info.

Seenotrettung im zentralen Mittelmeer

Seenotrettung im zentralen Mittelmeer

Solidarität gegen den Strom – Bericht einer dokumentarischen Reise

von Sarah Hüther

Auf einer Recherchereise für einen Dokumentarfilm zum Thema »Seenot­rettung im Mittelmeer« sprach ich mit unterschiedlichen Akteur*innen, die sich mit »Flucht« beschäftigen und aus ihrer jeweiligen Perspektive eigene Ansätze finden, um Solidarität zu leben. Meine Recherchereise führte mich an unterschiedliche Orte und zu Menschen, die sich mit Seenotrettung beschäftigen, mit den Auswirkungen von Flucht oder die selbst durch den Verlust von Angehörigen betroffen sind. Die Unterstützung von Seenotrettung und die zivilgesellschaftliche Vernetzung sind dabei wesentliche Handlungsoptionen, um der Abschottung an der Grenze durch die Europäische Außenpolitik etwas entgegen zu setzen.

Pia Klemp ist Aktivistin und Kapitänin. Schon öfter ist sie als ehrenamtliche Kapitänin mit Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer unterwegs gewesen. Gemeinsam mit einer kleinen Crew arbeitete sie 2020, als ich für diesen Film recherchierte, an einem »neuen« Projekt: dem Seenotrettungsschiff »Louise Michel«. Seit August 2020 fährt dieses Rettungsschiff nun mit einer wechselnden Crew regelmäßig im Mittelmeer und rettet Menschen aus Seenot. Für die Crew bedeuten die Missionen auf dem zentralen Mittelmeer, sich aktiv für Menschen auf der Flucht einzusetzen. Für die Besatzung ist es ein aktiver solidarischer Akt.

Doch es ist nicht Pia Klemps erstes Schiff: Sie war Jahre zuvor auf dem Rettungsschiff »iuventa«. Italien hatte das Schiff im Sommer 2017 beschlagnahmt und Anklage gegen Mitglieder der iuventa-Crew erhoben – weil sie Menschen aus Seenot gerettet hatten. Nach sieben Jahren fordert mittlerweile selbst die Staatsanwaltschaft, die Anklage fallen zu lassen. Auch wenn sie jüngst eingestellt wurde, zeigt sich an der Anklage gegen die iuventa-Crew das Ausmaß des politischen Versagens der Europäischen Union im Mittelmeer. Denn anstatt eine historisch selbst herbeigeführte Krise anzunehmen, die sich an vielen unterschiedlichen Stellen im Mittelmeer durch Fluchtbewegungen kristallisiert, und dafür Lösungen zu finden, lagert die EU die Rettung nicht nur in die Hände marginalisierter, selbstorganisierter zivilgesellschaftlicher Organisationen aus, sondern versucht schon seit Jahren die Arbeit der Seenotretter*innen mit juristischen Mitteln zu behindern. Das wird immer wieder durch angedrohte Gerichtsverfahren deutlich, wie eben jüngst dem Verfahren gegen die iuventa-Crew (Dernbach 2019; Kramer und Siefert 2024).

Zustand des Versagens

Blickt man auf die Gemengelage der Probleme im größeren Kontext, zeigt sich schnell, dass Migration nicht isoliert betrachtet werden kann. Die Klimakrise, die Folgen des Kolonialismus, postkoloniale und kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse und nicht zuletzt das Patriarchat, all diese Gewaltverhältnisse hängen zusammen (Etzkorn et al. 2022). Sie sind historische Ursachen der Krisen, an denen Westeuropa maßgeblich mitbeteiligt war und ist. Nicht zuletzt deshalb müssten die europäischen Länder auch an deren Lösung beteiligt sein, wenn Verantwortung ernst gemeint ist und übernommen werden würde.

Statt einen menschenrechtsgeleiteten Umgang mit Migration zu finden, setzte die EU in den vergangenen Jahren vor allem auf Abschottung. In der Folge wurde der Sehnsuchtsort Mittelmeer – Urlaubs­paradies für viele Westeuropäer*innen – für andere zum Massengrab (vgl. Statista 2024). Denn um Europa zu erreichen, können viele eben nicht in eine halbvolle unbequeme Easyjet Maschine steigen, sondern betreten ein seeuntaugliches Boot und setzen ihr Leben damit aufs Spiel (vgl. UNHCR Deutschland o.J., UNO-Flüchtlingshilfe 2024). Doch trotz der medialen Sichtbarkeit, die die Bilder sinkender Boote oder endloser Reihen von Särgen etwa in der deutschen Öffentlichkeit durchaus bekommen, wird die politische Strategie der EU-Grenzpolitik seit nunmehr bald 30 Jahren immer restriktiver. Sichtbar wird das auch am Mandat und der Ausstattung der europäischen Grenz»schutz«agentur Frontex, die bereits 2004 vorrangig zur Grenzsicherung gegründet wurde. Zuerst nur als Agentur für Koordinierung der Grenzkontrollen zuständig, wurde das Mandat in Reaktion auf die Migrationsströme 2015/2016 ausgeweitet. Somit wurde im Oktober 2016 die Europäische Grenz- und Küstenwache gegründet mit der Hauptaufgabe, die Migrationsströme »zu steuern«.

Zwischen Oktober 2013 und Oktober 2014 gab es nach zwei Schiffsbrüchen mit mehr als 600 Ertrunkenen vor der italienischen Insel Lampedusa einmalig und in Besonderheit vom italienischen Staat finanzierte Rettungsschiffe, die Marineoperation »Mare Nostrum«. Sie patrouillierte, um zu retten. Doch die Mandate liefen aus. Dies hatte einen Mangel an Seenot­rettungsmaßnahmen zur Folge. In Reaktion auf diese Leerstelle wurde die Zivilgesellschaft aktiv, um den Mangel durch zivile Seenotrettungsschiffe auszugleichen. Seit 2015 gibt es vermehrt zivile Schiffe, die gezielt Seenotrettungen durchführen. Nichtregierungsorganisationen (NGO) wie »Jugend Rettet« und »Sea Watch« gehörten zu den ersten, die mit ihren Schiffen aufs Meer fuhren. Doch auch die zivilen Seenotrettungsorganisationen sind davon betroffen, dass die europäische Außenpolitik immer repressiver wird – wie die Beispiele der Beschlagnahmung und strafrechtlichen Verfolgung deutlich machen.

Zuspitzung und Verschärfung

Es scheint mittlerweile eine Zuspitzung der Abschottung zu geben. Ausführlich ist dokumentiert, dass es durch Frontex wiederholt zu Menschenrechtsverletzungen gegenüber Geflüchteten kam. Dabei stehen vor allem sogenannte Push- und Pull-Backs im Zentrum der Aufmerksamkeit. Solche Praktiken der aktiven Rückschiebung von Geflüchteten sind immer illegal, denn Non-Refoulement ist universell (vgl. Jakob 2022; IOM 2022).

Insgesamt ist der europäische ­Diskurs zur Migration ein entmenschlichter geworden. Er befasst sich meist mit Regeln zur Begrenzung der Einreise bzw. der Abschiebung. Europa fühlt sich unter Druck und lässt das Schreckensbild ganzer »Völkerwanderungen« gern durch großflächige Pfeildiagramme illustrieren, mit Despoten werden großzügige ­Deals geschlossen, wenn sie versprechen, Migrant*innen zurückzuhalten (Libyen, Türkei, Tunesien, u.a.) – die EU wird dabei immer restriktiver (vgl. Tagesschau 2023; Deutschlandfunk 2021). Rettung kommt in diesem Diskurs kaum mehr vor.

Das hat mittlerweile auch drastische Konsequenzen für die politische Rhetorik und das institutionelle Gebaren der südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers. So sorgte beispielsweise der tunesische Präsident Kais Saied mit einer Rede am 21. Februar 2023 für eskalierende Gewalt gegen Migrant*innen aus Subsahara-Afrika (DW 2023). Es hat den Anschein, als würde er der EU demonstrieren wollen, er sei würdig, das Geld für den Deal zur Migrationsabwehr zu empfangen. Mit der faschistischen und rassistischen Rede bediente Kais Saied einen politischen Diskurs in Tunesien, der von innertunesischen Problemen ablenkt und gleichzeitig zu einer Externalisierung der europäischen Grenzen beiträgt – durch die Verbreitung von Angst und Schrecken zur Abwehr von Migration.

Die transnationale Koordination von Abschottungspolitik soll Lösungen proklamieren, die vordergründig die Bekämpfung der Krise suggerieren. In dieser diskursiv heraufbeschworenen Kriegs-Logik gegen »illegale Migration« werden ertrunkene Menschen zu unvermeidbaren Kollateralschäden. Wo bleibt hier das Europa, das sich jahrzehntelang international als Vorreiterin des Menschenrechtsparadigmas inszenierte? Am Ende dieser Entwicklung steht die Seenotrettung im Mittelmeer als das zentrale politische Gegenkonzept zur entmenschlichten Abschottungspolitik. Diese Aufgabe liegt nunmehr aber in den Händen einer Zivilgesellschaft, die über nationale Grenzen hinweg vernetzt ist und sich im Mittelmeerraum zu organisieren versucht.

Annäherungen an ein widerständiges Feld

Für eine erste Recherche machte ich mich 2020 mit meiner Filmkamera auf den Weg, um zu ergründen, was feministischer Aktivismus dem europäischen Grenzregime entgegenzusetzen hat – an den europäischen Außengrenzen über das Mittelmeer hinaus. Dabei versuchte ich die Sichtbarkeit von Frauen hervorzuheben, da diese nach wie vor in der Film- und Medienlandschaft unterrepräsentiert sind (vgl. Deutscher Kulturrat o.J.). Mit diesem Fokus richtete ich mein Augenmerk auf die vielen engagierten Frauen, die in der Seenotrettung, in der Arbeit zu Flucht, mit Geflüchteten und zum Umgang mit Trauer sowie in der juristischen Beratung eine Kernrolle einnehmen. Es ist nicht verwunderlich, dass sich gerade feministische Aktivist*innen auch für das Recht auf Bewegungsfreiheit für alle einsetzen. Doch wie sieht diese Arbeit konkret aus und wie tritt sie Tendenzen der Vereinzelung entgegen?

Die Frauen meiner filmischen Recherche sind Menschenrechtsverteidigerinnen. Durch die Arbeit und den Aktivismus sind sie über nationale Grenzen des Mittelmeerraumes hinweg organisiert. Sie arbeiten in Europa zu Land oder im Luftraum, in der Seenotrettung mit Schiffen und Flugzeugen, in Kanzleien, in Solidaritätszentren für Geflüchtete genauso wie in Nordafrika mit Familien von Vermissten oder auf Friedhöfen, die für die namenlosen Toten angelegt wurden. Dadurch, dass sie alle auf ganz unterschiedliche Art und Weise zum Thema Flucht aktiv sind, sind sie über ihre Arbeit miteinander verbunden. Und obwohl das politische System seine Ausrichtung auf Trennung und auf Grenzen setzt, funktioniert ihr Widerstand über Solidarität zueinander – über das Mittelmeer hinweg.

Im Folgenden gehe ich drei Geschichten von Aktiven mit verschiedenen Schwerpunkten nach, die sich um das Mittelmeer organisieren.

Drei Episoden, drei Wege

Pia und Lea – SAR

Das Filmprojekt startete in Frankreich, in einer kleinen Werft im Hafen von St. Malo, wo die bereits erwähnte Pia Klemp und Lea Reisner mit weiteren Aktivist*innen das Search and Rescue (SAR) Schiff »Louise Michel« für den Einsatz im Mittelmeer vorbereiteten.

Pia Klemp hat eigentlich Biologie studiert, zur Seefahrt ist sie über die Umweltorganisation »Sea Shepherd« gekommen. Doch für Pia ist klar, dass es nicht nur um Umweltfragen geht, wenn sich auf dieser Welt ernsthaft etwas zum Besseren wenden soll. Sie sieht die verschiedenen Kämpfe gegen Unterdrückung – seien es Kämpfe für Tierrechte, gegen das Patriarchat oder eben für Menschenrechte – als einen gemeinsamen Kampf an. Pia fuhr deshalb als Kapitänin der iuventa und der Sea Watch 3 Seenotrettungseinsätze, weil nach ihrer Ansicht die Menschenrechte für alle gelten müssen, nicht nur für die Menschen mit westlichem Pass. Pia erzählt mir im Interview:

„Es ist wichtig, dass die Zivilbevölkerung an dem Prozess teilnimmt. Es geht nicht nur darum Leben zu retten, es ist ein sehr politischer Kampf. Auch wenn die Handlung die gleiche bleibt, es ist nicht nur ein humanitäter Akt [die Seenotrettung], es ist eine politische Haltung. Es ist offensichtlich, dass die verschiedenen Kämpfe, die wir führen müssen, gegen Rassismus, Speziezismus, Sexismus, auf die gleichen Probleme führen. Die Ursachen sind der Imperialismus, das kapitalistische System, das Patriarchat, Dominanz, jemandem mehr Wert zuzusprechen als jemand anderem, egal, ob es hier um Geschlecht, Race, Spezies geht.“

Für Pia liegt hinter diesen Strukturen der gleiche Mechanismus und so sieht sie es als ihre Aufgabe, diese Herausforderungen zusammenzubringen. Indem sie sich für die zivil organisierte Rettung engagierte, kann sie gemeinsam mit vielen anderen, die auch irgendwo anfangen wollen für Veränderung zu streiten, einen Ansatz bieten, um Lösungen auszuloten.

Wie Pia ist auch Lea Reisner Veganerin und Feministin. Lea ist ausgebildete Intensivpflegerin. Weil sie dem Sterben auf dem Mittelmeer nicht aus der Ferne zuschauen wollte, entschloss sie sich 2016 zu einem Einsatz als Teil der medizinischen Crew auf der iuventa. Dort arbeitete sie sich immer mehr in die Rettungsoperation ein, die Situationen wurden brisanter, mit den Aufgaben wuchs die Verantwortung. Bei dem »neuen« Projekt Louise Michel leitet sie nun den Einsatz der ersten Mission an der tödlichen europäischen Seegrenze.

Das Projekt Louise Michel wurde vom Streetart-Künstler Banksy finanziert. Mit der Spende konnte die Crew ein Projekt ins Leben rufen, bei dem sie nach eigenen Angaben keine Kompromisse machen müssen. Auch in der Auswahl des Schiffsnamens werden sie sich einig: Louise Michel (1830-1905). Sie war nicht nur Anarchistin und Mitglied der Pariser Kommune, sondern auch eine der ersten Vertreterinnen, die unterschiedliche Kämpfe zusammendachte. Soziale Forderungen, Tierrechte und Feminismus waren ihre Themen. Durch ihren übergreifenden Ansatz kämpfte sie gleichzeitig gegen verschiedene Unterdrückungsformen, die Idee der Intersektionalität ist so aktuell wie nie.

Es ist interessant, wie die Aktivist*innen damit umgehen, dass sie die Verhältnisse nicht von heute auf morgen verändern können. Sie agieren in der Absicht, dass diesen ungerechten Verhältnissen zumindest überhaupt etwas entgegengesetzt werden muss. Im Kampf gegen Imperialismus, Rassismus und partikulare Menschenrechte – idealtypisch verkörpert durch die europäische Außenpolitik – ist für sie die Seenotrettung der gelebte solidarische Akt als Gegenkonzept zur Abschottung, den sie überhaupt leisten können.

Hela – Alarmphone

In Tunesien traf ich im Sommer 2023 Hela Kanakane. Sie ist Mitte zwanzig. „Damit die Toten auf dem Mittelmeer nicht nur eine Zahl bleiben“, setzt sich Hela bei »CommemorAction« (Gedenkaktion) ein. In den europäischen Medien hört die Berichterstattung über Bootsunglücke meistens schon mit der Erwähnung der Zahl der Ertrunkenen auf. Doch jede Person auf jedem Boot hat eine eigene Geschichte. Die Gruppe CommemorAction versucht diese zu erzählen. Sie helfen Familien, sich zu vernetzen, Vermisste zu suchen oder zumindest nach Gewissheit zu forschen. Sie suchen nach jenen, die ertrunken sind, vermisst werden oder auf der tödlichen Route durch die Sahara verstorben sind. Familien aus Libyen, Tunesien, Marokko, Kamerun und dem Senegal treffen sich. Hela organisiert die Treffen mit und ist die Vermittlungsperson zwischen den Familien und den zivilen Seenotrettungsorganisationen. Mehrere Tage wird es Workshops und Aktionen geben. Sie wollen nicht nur erinnern, sie wollen auch anklagen, sich organisieren gegen die Zustände, die dazu führen, dass die Flucht nach Europa immer gefährlicher wird.

Gleichzeitig versucht Hela durch ihre Mithilfe bei der ehrenamtlich organisierten Notruforganisation »Alarmphone« zu verhindern, dass Menschen an den Grenzen Europas überhaupt ums Leben kommen. Das Alarmphone ist im Wesentlichen eine Nummer, die Aktiven übernehmen ihre Schichten aus ganz unterschiedlichen Städten wie z. B. Tunis, Palermo, Melilla, Tanger, Cadiz, Marseille, Strasbourg, London, Wien, Bern oder auch Berlin. Unterschiedliche Projekte tragen das Alarmphone mittlerweile in gemeinsamer Verantwortung. Das sind unter anderem »Welcome2Europa«, »Afrique Europe Interact«, »Borderline Europe«, »Noborder Morocco« und »Watch the Med«.

Das Team von Alarmphone nimmt dabei Notrufe von Schiffen in Seenot an und übt dann Druck auf die Behörden aus, Rettungseinsätze einzuleiten. Die Rettungsleitstelle in Rom, das MRCC, koordiniert die Einsätze und kontaktiert jene Schiffe, die dem Notruf am nächsten sind. Das können militärische Schiffe, Frachter oder auch zivile Rettungsschiffe sein.

Solange Menschen gezwungen sind, den Weg über das Meer zu nehmen, weil sie kein Visum bekommen, ist Alarmphone für Hela eben das, was sie konkret tun kann, um Hilfe zu leisten. Für Hela ist die Arbeit mit den Familien die Motivation, weiter bei Alarmphone mitzumachen. Alarmphone sei wichtig, sollte aber nicht mit einer Lösung des Problems verwechselt werden. „Dafür bräuchte es Visafreizügigkeit“, sagt sie. „Wenn der politische Wille da wäre, könnte das umgesetzt werden. Aber solange die europäischen Werte sich selbstgerecht nur um sich selbst drehen, erscheint die Lösung in weiter Ferne.“

Hela fragt sich: „Warum schaffen wir es nicht, eine alternative Politik mit einem menschlichen Miteinander zu etablieren, statt Angst und Tod für Viele?“ Im Interview erzählt Hela, dass es in der Vergangenheit selbstverständlich war, dass Menschen vom afrikanischen Kontinent für eine Saison nach (Süd-)Europa zum Arbeiten kamen und dann wieder zurück zu ihren Familien gingen. Aber weil es eben keine alternative Politik Europas gibt, bleibt für viele Menschen der Weg über das Mittelmeer der letzte Ausweg.

Lucia – Centro Sociale/Rechtsberatung

Im Sommer 2023 traf ich die Juristin Lucia Gennari in Rom, Italien. Als Juristin setzt sich Lucia Gennari gegen die Kriminalisierung von Flüchtenden wie Helfenden durch Regierung und Justiz ein. Seit der Wahl des rechten Blocks unter Giorgia Meloni im September 2022 wurde diese Art der Anti-Migrationspolitik stetig weiter vorangetrieben. Lucia kämpft für die tatsächliche Gleichberechtigung vor dem Gesetz. Allzu oft werden unterschiedliche Standards gesetzt. Zum Beispiel wird die Bewegungsfreiheit von Menschen, die vor dem Gesetz illegal nach Italien migrieren, oft viel schneller eingeschränkt als bei Festnahmen von Europäer*innen.

Im »Centro Sociale«, eine politisch-linke Bewegung in ganz Italien, die durch die Bereitstellung von Orten soziale Räume für politische Arbeit schafft, übernimmt Lucia juristische Angelegenheiten der Geflüchteten. In Rom kümmert sie sich um aufenthaltsrechtliche Fragen von Migrant*innen. Aber auch die Kriminalisierung von Flüchtenden und Seenotretter*innen spielt für Lucia eine zentrale Rolle. Lucia Gennari arbeitet in einer Anwaltskanzlei in Rom, die u.a. verfolgt, was an den Grenzen Italiens passiert und zur Externalisierungspolitik Italiens arbeitet. Die italienischen Jurist*innen arbeiten verstärkt zur Migration über See. Seit vier oder fünf Jahren unterstützen sie NGOs aus der Seenotrettung.

Im Interview erzählt Lucia, dass sie sich neuerdings auch um den Kampf gegen das zeitweise Festsetzen der SAR-Schiffe von NGOs kümmert. Die italienische Regierung setzte im Januar 2023 ein Gesetz in Kraft, das die Weiterfahrt der Rettungsschiffe einschränkt. „Dieses Gesetz regelt eine Reihe von Bedingungen, die sie (die NGO Schiffe) einhalten müssen,“ erklärt Lucia. „… (es wird) nur auf NGOs angewendet, die Migrant*innen retten. Und es ist ziemlich klar, dass es für diesen speziellen Fall gedacht ist und verschiedene Arten von Sanktionen gegen Rettungsaktivitäten ermöglicht. Und das ist bereits passiert. Es gibt also verschiedene NGO-Schiffe, die bereits (…) vorübergehend gestoppt wurden. So haben die meisten NGOs diese (Prozedur) durchlaufen, von MSF über Sea Watch bis hin zu Open Arms, Sea Eye und so weiter. Und auch Louise Michel. Im April 2023 war es das zweite Schiff, das nach der Geo Barents von Ärzte ohne Grenzen festgehalten wurde.“

Beitrag der Zivilbevölkerung als Zeichen der Solidarität

Durch die Geschichten der Aktivist*innen wird auch deutlich, dass die Zivilbevölkerung einen erheblichen Beitrag leisten kann, dem bestehenden politischen System etwas entgegenzusetzen. Im Falle der Aktivist*innen in meinem Film hat die Zivilgesellschaft den Bedarf erkannt und gehandelt: Sie tun dies, indem sie eigene Schiffe im Mittelmeer einsetzen, die Rettungen durchführen, Rettungshotlines koordinieren und transnationale Vernetzungsarbeit leisten.

Jede der Protagonistinnen meiner Recherche setzt sich wirkmächtig aus ihrem persönlichen Umfeld und aus ihrer Profession heraus für ein kollektives Miteinander ein. Über ihr Engagement haben sie sich im Laufe der Jahre kennengelernt und referieren solidarisch aufeinander. Erst die unterschiedlichen Ansätze im Widerstand, die an ganz verschiedenen Stellen und Ländern den restriktiven politischen Systemen begegnen, machen es möglich, über das Meer hinweg menschenrechtlich und humanitär wirkmächtig zu sein. Denn da das politische System, wie oben beschrieben, sich über Grenzen hinweg koordiniert, muss es der Widerstand auch tun.

Wenn Lücken entstehen, weil politische Entscheidungen repressiv getroffen werden, eröffnet das den Raum für solidarisches Handeln. Hierfür kann eine aktivistische Zivilgesellschaft ihre Privilegien zur Verfügung stellen. Lea Reisner bringt es auf den Punkt: „Jede*r sollte seine Privilegien nutzen, um andere Menschen zu unterstützen, wo es gebraucht wird. Nicht in einer bevormundenden Art, sondern auf eine Art und Weise, die geleitet ist von Solidarität. Ich glaube daran, dass auch Individuen Dinge ändern können.“ In den Schicksalen derer, die hier über das Meer fliehen, komme das Versagen der Weltgemeinschaft zusammen und wer hier Veränderung erreichen will, müsse die Ursachen bekämpfen, da ist sich Lea nicht nur mit ihren Crewmitgliedern einig.

Literatur

Dernbach, A. (2019): Seenotrettung im Mittelmeer: Die Kriminalisierung der Helfer geht immer weiter. Tagesspiegel.de, 2.7.2019.

Deutscher Kulturrat (o.J.): Frauen in Kultur und Medien. Homepage zu Studien und Vernetzung über Frauen in der Kulturindustrie (frauen-in-kultur-und-medien.de).

Deutschlandfunk (2021): EU-Türkei-Abkommen. Milliarden statt Migranten. Deutschlandfunk.de, 6.4.2021.

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Sarah Hüther hat einige Jahre zu Syrien für die NGO »Adopt a Revolution« gearbeitet. Ihr Debühfilm »At the margin« wurde 2020 für den Hessischen Film- und Kinopreis nominiert. Seit 2022 arbeitet sie für ein Mitglied des Bundestages.

Energiewende und Frieden?

Energiewende und Frieden?

Gemeinsame Sicherheit durch den Energiesektor in Zypern und der Nachbarschaft

von Emine Eminel Sülün

Der Nexus von nachhaltiger Energie und Frieden in Zypern bedarf einer strategischen Ausrichtung der Entwicklung erneuerbarer Energieerzeugung in Verbindung mit kollektiven Maßnahmen auf der gesamten Insel. Zypern, gelegen in einer von der globalen Klimakrise stark gefährdeten Region, muss auf nachhaltige Energie umsteigen, um Umweltgefahren zu mindern und die regionale Stabilität zu fördern. Die Nutzung erneuerbarer Energiequellen hat Potenzial, als Eckpfeiler für eine stärkere Zusammenarbeit auf dem geteilten Zypern und im breiteren Kontext des Mittelmeerraums zu dienen. Dies unterstreicht die Bedeutung aufeinander abgestimmter regionaler und lokaler Initiativen beim Übergang zu »sauberer« Energie und bei der Förderung des Friedens.

Die Hinweise verdichten sich, dass menschliche Aktivitäten seit dem Beginn der industriellen Revolution die globale Umwelt verändert haben. Diese Störungen wirken sich auf das Wohlergehen aller Bevölkerungen aus, auch auf die im Mittelmeerraum. Hier Strategien für eine nachhaltige Bewältigung dieser Störungen zu finden gestaltet sich auf Zypern besonders schwierig. Die Insel wurde durch den gewaltsamen Konflikt in zwei Teile gespalten: die international anerkannte Republik Zypern (RoC) im Süden, die von den griechischen Zypriot*innen regiert wird, und die Türkische Republik Nordzypern (TRNC) im Norden, die 1983 ausgerufen und nur von der Türkei anerkannt wurde. Die TRNC hält trotz ihrer begrenzten Anerkennung ihre Regierung aufrecht, beansprucht Souveränität und tritt in den internationale Beziehungen in Erscheinung (Bouris und Kyris 2017). Als de-facto-Staat verfügt sie über interne Regierungskapazitäten und regelt externe Angelegenheiten im Rahmen ihres einzigartigen, umstrittenen Status, einschließlich der Interaktion mit Organisationen wie der EU (De Waal 2018). Die Republik Zypern ist zwar international anerkannt, hat aber keine Gerichtsbarkeit über den Nordteil der Insel.

Während Zypern damit beschäftigt ist, eine dauerhafte und friedliche politische Lösung für seinen langjährigen Konflikt zu finden, wurde es gleichzeitig mit der aufkommenden Herausforderung des Klimawandels konfrontiert. Der Klimawandel vollzieht sich in allen Teilregionen des Mittelmeerraums sowohl an Land als auch auf See schneller als im globalen Durchschnitt (Vizoso 2021), doch das Tempo der regionalen politischen Zusammenarbeit bei der Umweltpolitik hinkt erheblich hinterher. Die de-facto-Teilung Zyperns in zwei Entitäten bringt zusätzliche Komplexität mit sich im Angesicht des signifikanten Drucks für eine Energiewende, die durch eine stärkere Abhängigkeit von erneuerbaren Energiequellen gekennzeichnet sein wird. Zypern befindet sich damit im Zentrum eines entscheidenden Wandels hin zu einem kohlenstoffneutralen Energie-Framework, ein Wandel, der einen kollektiven Ansatz zur Bekämpfung des Klimawandels erfordert. Doch wie kann Zypern trotz seiner ethnischen Spaltung und der faktischen territorialen Trennung den für diesen Wandel in der Energiepolitik erforderlichen Geist der Zusammenarbeit fördern und aufrechterhalten? Wie lässt sich der Übergang zu sauberer Energie mit den Bemühungen um eine friedliche Koexistenz vereinbaren? Und was bedeutet dieser Nexus von sauberer Energie und Frieden für die gesamte Mittelmeerregion?

Zyperns derzeitige Energiesituation

Gegenwärtig sind sowohl der nördliche als auch der südliche Teil Zyperns bei der Deckung ihres Energiebedarfs in hohem Maße auf Erdölimporte angewiesen. Die RoC strebt daher eine Diversifizierung der verwendeten Energieträger an. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Einführung erneuerbarer Energien in verschiedenen Sektoren wie Strom, Verkehr und Heizung/Kühlung sowie auf der Verbesserung der Energieeffizienz (EU 2023). Das Fehlen ausreichender Stromspeicherkapazitäten stellt ein erhebliches Hindernis für die vollständige Nutzung des Potenzials der Insel für Solarenergie dar. Die RoC gehört zu den EU-Ländern, die am stärksten von der Energieabhängigkeit betroffen sind, und steht vor großen Herausforderungen bei der Gewährleistung einer sicheren Energieversorgung. Im Jahr 2021 dominierte Öl die Energiesituation der RoC mit einem Anteil von 85 % an der Gesamtenergieversorgung, während nur 6,3 % im selben Jahr aus erneuerbaren Quellen wie Wind- und Solarenergie gewonnen wurden (siehe IEA o. J.).

Im Norden der Insel hat die Energieinfrastruktur eine noch geringere Kapazität, hauptsächlich von Dieselgeneratoren, und ist ebenfalls weitgehend von importiertem Öl abhängig. Im Norden gibt es auch eine PV-Solaranlage mit einer vergleichsweise minimalen Kapazität. Die gesamte Solarkapazität, einschließlich privater Photovoltaikanlagen, macht nur 6 % des gesamten Stromverbrauchs im Norden aus, ein Wert, der auch deutlich hinter den EU-Benchmarks zurückbleibt. Darüber hinaus verursacht die Integration erneuerbarer Energien in das nördliche Stromnetz derzeit Probleme mit der Netzstabilität, die denen im Süden ähneln. Folglich scheint es keinen gangbaren Weg zu geben, den Beitrag der Solarenergie zu erhöhen, ohne das Problem der Netzkapazität auf der gesamten Insel zu lösen.

Allgemein wird die Ansicht vertreten, dass gemeinsame Anstrengungen das Erreichen der Ziele in den Bereichen Klima und saubere Energie erheblich beschleunigen können. In Zypern sind die Interaktion und die Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten in Bezug auf die Anpassung an den Klimawandel jedoch nur minimal: Es fehlt an einer gemeinsamen Industriestrategie, diplomatischem Engagement, grenzüberschreitender Infrastruktur und public-private-Partnerschaften für Forschung und Entwicklung sowie an einheitlichen Politikabsichten (Sülün 2022, S. 21). Die Umsetzung einer umfassenden politischen Koordination über die Sektoren und die Grenze hinweg, die gemeinsame Entwicklung der Infrastruktur und die Reform der sektoralen Vorschriften wären dann auch wesentliche Bestandteile eines möglichen »grünen Dialogs« über die Trennlinie hinweg.

Im Hinblick auf die gemeinsame Energieinfrastruktur muss hervorgehoben werden, dass die beiden Seiten in Krisensituationen, wie z. B. bei größeren Stromausfällen, über die 2019 eingerichtete synchronisierte Verbindungsleitung (»Interkonnektor«) Strom austauschen können. Diese Netzverbindung gilt als Garant für die dauerhafte Sicherheit der Stromversorgung für beide Parteien. Es besteht jedoch die dringende Notwendigkeit, die reichhaltigen erneuerbaren Energieressourcen der Insel zu nutzen, um die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen (insbesondere bei der Stromerzeugung) zu verringern, die Ziele der EU im Bereich der erneuerbaren Energien zu erreichen und die eigenen Ziele Zyperns zur Verringerung der Kohlenstoffemissionen zu verwirklichen.

Sind gemeinsame Energie­projekte die friedliche Zukunft?

In der RoC sind die hohen Kosten für die Stromversorgung ein spürbares Problem, denn im Vergleich zu anderen Ländern der Europäischen Union (EU) sind die Strompreise deutlich höher (siehe Eurostat o.J.). Die Energiepreise werden von verschiedenen Faktoren beeinflusst, die sich auf Angebot und Nachfrage auswirken, wie z.B. die geopolitischen Aussichten, die Zusammensetzung der Energiequellen eines Landes und die Diversifikation der Energieimporte. Zwar rechnet die Region mit der Erschließung kürzlich entdeckter Erdgasvorkommen, und sowohl die Republik Zypern als auch die Türkei haben sich aktiv an der Erkundung dieser Kohlenwasserstofflager beteiligt (Gürel et al. 2014), doch scheint die praktische Nutzung dieser Ressourcen nicht unmittelbar bevorzustehen (Sülün 2022, S. 10f.). Daher sind erneuerbare Energien eine Lösung für Zypern, um sowohl die finanzielle als auch die ökologische Last der Stromerzeugung zu verringern. Die Solarenergie und die Windenergie sind Schlüsseltechnologien in dieser bedeutenden Energiewende. Für die optimale Integration erneuerbarer Energiequellen in die Stromversorgung und die Bewertung der technischen und finanziellen Machbarkeit müssen Strategien entwickelt werden, die die gesamte Insel als ein System betrachten. Dies ist der kritische Punkt an dem die Projekte der nachhaltigen Energietransformation und der Friedenskonsolidierung in Zypern miteinander verbunden sind.

Es muss harmonisierte Strategien und Ziele geben, insbesondere in den Bereichen der Energiespeicherung, des Lastmanagement, der Reaktion auf Nachfrage und der Entwicklung eines intelligenten Netzes. Die größte Herausforderung bei der Verfolgung von Kooperationsbemühungen liegt daher in der Notwendigkeit, Ressourcen, Fachwissen und Technologie gemeinsam zu nutzen, da eine effektive Zusammenarbeit dies erfordert.

Es gibt verschiedene potenzielle Politikoptionen, wie z.B. die Einführung des Handels mit grüner Energie über das bestehende Netz zwischen dem Norden und dem Süden und der Aufbau bi-kommunaler Energiespeicherlösungen in der Pufferzone (Sülün 2022, S. 22-25). Ebenso wichtig scheint ein Dialog über die Kombination verschiedener Formen erneuerbarer Energien mit der thermischen Energiespeicherung als dem zentralen Hub. Auch wenn es essentiell ist, Forschungspartnerschaften und Wissensaustausch zu fördern, könnten an der Basis unternommene erste Schritte für die gemeinsame Erarbeitung von Projekten einer nachhaltigen Energiewende auch langfristig zu einer effektiveren und kooperativen Problemlösung führen. Solche Bemühungen könnten auch eine wichtige Rolle beim Aufbau und Erhalt friedlicher Beziehungen sowie der Vertrauensbildung zwischen den beiden ethnischen Gemeinschaften in Zypern spielen. Darüber hinaus fördert die grenzüberschreitende Integration in technischen Fragen die Interdependenz und veranlasst die Staaten somit, bei gegenseitiger Abhängigkeit die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit zu priorisieren, was zu einer Verringerung von Konflikten führen kann. Diese in der Forschung der Internationalen Beziehungen verankerte Perspektive charakterisiert Interdependenz als Beziehungen zwischen Akteuren, die schwer oder nur unter hohen Kosten zu trennen sind.

Die besondere Rolle von Interkonnektoren

Vor diesem Hintergrund wird eine kritische Untersuchung der Funktion sogenannter »Interkonnektoren« immer wichtiger. Projekte wie der »EuroAsia Interconnector«, der »EuroAfrica Interconnector« und der »Türkiye-Northern Cyprus Interconnector« sind bedeutende infrastrukturelle Vorhaben im östlichen Mittelmeerraum, mit denen verschiedene energiepolitische Ziele erreicht werden sollen. Ihr grundlegendes Ziel ist es, eine stabile und dauerhafte Stromversorgung für die beteiligten Länder zu gewährleisten und gleichzeitig die energiepolitische Isolation Zyperns und Israels zu beenden. Es wird davon ausgegangen, dass Zypern die Hälfte des exportierten Stroms aus seinen erneuerbaren Energiequellen erzeugen könnte (AP News 2023).

Daher ist es spannend, dass im östlichen Mittelmeerraum eine zunehmende »Netzdiplomatie« zu beobachten ist, da diese unterstreicht, dass die entscheidende Bedeutung miteinander verbundener Energiesysteme zunehmend erkannt wird. Solche Kooperationsbemühungen im Bereich der elektrischen Energieversorgung sind wichtig, um den Mittelmeerraum in ein dynamisches Netzwerk für Handel und Wachstum zu transformieren. Das Zusammenspiel zwischen der strategischen Entwicklung der Infrastruktur von »Interkonnektoren« und der regionalen Diplomatie kündigt eine transformative Ära an, in der die Nachhaltigkeit der Energieversorgung mit geopolitischer Zusammenarbeit Hand in Hand geht.

Mediterraner Kontext: Netzan­bindung und regionaler Frieden?

Die Netze miteinander zu verbinden bedeutet, bilaterale Gespräche zu führen, Vereinbarungen auszuarbeiten und politische Maßnahmen zu synchronisieren, um die erfolgreiche Umsetzung und Wartung von solchen »Interkonnektoren« zu ermöglichen. In diesem Prozess ist die Zusammenarbeit zwischen Energieminister*innen, Regulierungsbehörden und anderen wichtigen Akteuren von grundlegender Bedeutung (Sülün 2023, S. 8). Auf regionaler Ebene erfordert die Zusammenarbeit im Energiesektor eine schrittweise Angleichung der Energiepolitiken und -vorschriften mit dem letztendlichen Ziel, einen einheitlichen Energiemarkt in der Region zu schaffen. Von grundlegender Bedeutung dabei sind auch: Energieeinsparung und -effizienz sowohl bei der Produktion als auch beim Verbrauch anzupreisen, den Einsatz erneuerbarer und anderer emissionsarmer Energiequellen deutlich zu steigern sowie eine stärkere Konzentration auf den Umweltschutz. Außerdem müssen geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die Investitionsaussichten verbessern, insbesondere solche, die einen Mix von Energieressourcen gewährleisten, die Gas- und Stromverbindungen stärken und die die Einführung sowie die Erprobung von »best practices« energieeffizienter Technologien erleichtern (Bahgat 2011, S. 200).

All diese Anreize müssen auf geteilten Werten von Einigkeit und der gegenseitigen Unterstützung aufbauen. Die übergreifenden Herausforderungen des Klimawandels und die Umstellung auf erneuerbare Energien können als einende Kraft wirken, um eine gemeinsame Perspektive im Mittelmeerraum zu schaffen. Dennoch bleibt ein drängendes Problem bestehen: Wie können angesichts der vorherrschenden geopolitischen Dynamiken die derzeitige Infrastruktur und die geplanten Initiativen genutzt werden, um ein vollständig integriertes regionales Energiesystem zu schaffen?

Der Mittelmeerraum mit seiner Vielzahl politischer, wirtschaftlicher und kultureller Unterschiede weist auch beträchtliche Unterschiede im Grad der elektrischen Interkonnektivität zwischen den Staaten auf. Während die Verwirklichung eines regionalen Marktes noch im Gange ist, gibt es verschiedene Initiativen, die darauf abzielen, den grenzüberschreitenden Stromhandel zu verbessern und die Entwicklung der Verbindungsinfrastruktur innerhalb der Region zu fördern. Neben den Projekten »EuroAsia«-, »EuroAfrica«- und »Türkiye-NorthCyprus«-Interconnector gibt es weitere beachtenswerte Initiativen, die derzeit durchgeführt werden: Das »GREGY«-Kabel (Griechenland-Ägypten) befindet sich derzeit in der Planungsphase; eine zweite 400-Kilovolt-Verbindungsleitung zwischen Griechenland und der Türkei soll bis 2029 fertiggestellt werden. Auch in Nordafrika sind zudem verschiedene bedeutende Projekte für erneuerbare Energien und Verbindungsleitungen im Gange. So treibt Tunesien die Verbindungsleitung zu Italien (TUNITA) voran, und Algerien entwickelt das »Algeria-Italy Submarine Cable Project«, um seine Solarinfrastruktur mit Europa zu verbinden. Darüber hinaus gibt es eine Initiative zur Errichtung eines Stromverbunds zwischen Marokko und Portugal, der eine Kapazität von 1.000 Megawatt haben wird.

Die Schaffung eines zusammenhängenden Marktes im Mittelmeerraum ist besonders wichtig, um mehr erneuerbare Ressourcen in das Netz zu integrieren. Um jedoch nachhaltige Ergebnisse bei solchen Energieinfrastrukturprojekten zu erzielen, ist politische Harmonie zwischen wichtigen regionalen Akteuren wie Ägypten, Israel und der Türkei erforderlich. Spannungen und Konflikte, wie die zwischen Israel und Palästina, Israel und dem Libanon sowie Zypern, der Türkei und Griechenland, stellen erhebliche Hürden dar. Frühere »gaszentrierte« Diplomatieversuche konnten die Ursachen dieser Konflikte nicht lösen, und es besteht die berechtigte Sorge, dass die von neuen Stromnetzprojekten angetriebene Diplomatie auf ähnliche Probleme stoßen könnte (Sülün 2023, S. 8).

Fazit

Eine wirksame Nachhaltigkeitspolitik im Energiesektor in Zypern muss kollektive Handlungsansätze fördern, um effizientere Antworten auf die gemeinsamen Energieprobleme zu finden und kooperative Initiativen auf der gesamten Insel voranzubringen. Eine solche Politik sollte auf dem Prinzip »ein Ökosystem, gemeinsame Herausforderungen, gemeinsames Schicksal« beruhen, einer Philosophie, die über traditionelle energiepolitische Ansätze hinausgehen könnte, indem sie die Erhaltung der Umwelt mit dem Streben nach Frieden verbindet.

Es besteht ein offensichtlicher Bedarf, die Zusammenarbeit im gesamten Mittelmeerraum zu beschleunigen, wobei der Schwerpunkt auf der Verbesserung des Handels, der Förderung bilateraler Investitionen und der Erleichterung des grenzüberschreitenden Verkehrs zwischen den Ländern im nördlichen, südlichen und östlichen Teil des Mittelmeeres liegen müsste. Diese Maßnahmen gelten als entscheidend, um die Umstellung auf eine nachhaltige Energienutzung voranzutreiben und den wirtschaftlichen Fortschritt in der Region zu fördern. In diesem Zusammenhang ist es von entscheidender Bedeutung, umfassende und integrierte Strategien zu entwickeln, die die Interdependenz zwischen Klimasicherheit, Frieden und wirtschaftlichem Wohlstand anerkennen. Es ist jedoch wichtig, die geopolitischen Hindernisse im Auge zu behalten. Anstelle von übertriebenem Optimismus bedarf es robuster regionaler Krisenmanagementstrategien, insbesondere im Energiesektor, um potenzielle geopolitische Herausforderungen wirksam anzugehen.

Literatur

AP News (2023): Minister: Cyprus exceeds renewable energy source targets. Apnews.com, 17.01.2023.

Bahgat, G. (2011): Energy cooperation in the Mediterranean Sea. The Euro-Mediterranean Partnership/Union for the Mediterranean and its Economic and Financial Dimension, Girona, European Institute of the Mediterranean, 200-208.

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De Waal, T. (2018): Uncertain ground: Engaging with Europe’s de facto states and breakaway territories. Carnegie Endowment for International Peace

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Gürel, A.; Tzimitras, H.; Faustmann, H. (Eds.) (2014): East Mediterranean Hydrocarbons: Geopolitical Perspectives, Markets, and Regional Cooperation. PRIO Cyprus Centre Report 3. Cyprus: PRIO Cyprus Centre.

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Sülün, E. (2022): Energy Transition Geopolitics in the Eastern Mediterranean and Prospects for a Green Energy Dialogue in Divided Cyprus. Re-Imagining the Eastern Mediterranean Series: PCC Report 6/2022. PRIO.

Sülün, E. (2023): Repowering the Mediterranean: Reflections on Grid Infrastructure Diplomacy. OCCASIONAL PAPER SERIES 6. Friedrich-Ebert-Stiftung.

Vizoso, J. C. (2021): Introduction. In J. C. Vizoso et al. (Ed.), a Euro-mediterranean green deal? Towards a Green Economy in The Southern Mediterranean (pp.12-16). EuroMesco.No.18.

Dr. Emine Eminel Sülün ist Assistenzprofessorin und Leiterin der Abteilung »Internationale Beziehungen« an der World Peace University in Nikosia. Ihre Forschung fokussiert sich auf die Energie- und Geopolitik im Mittelmeerraum.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

Klimawandel als Herausforderung

Klimawandel als Herausforderung

Sicherheitsrisiken und Chancen der Kooperation bei Umwelt­veränderungen im Mittelmeerraum

von Manfred A. Lange

Die schon heute zu beobachtenden Klimaveränderungen im Mittelmeerraum werden sich in den kommenden Jahrzehnten weiter verstärken. Die Region steht zunehmend vor der Herausforderung, die vielfach miteinander verbundene Wasser-, Energie- und Nahrungssicherheit der Bevölkerungen zu gewährleisten. Vermeidungs- und Anpassungsmaßnahmen werden bisher aber nur unzureichend eingesetzt. Die Einführung und Realisierung innovativer Technologien eröffnet daher erhebliche Chancen für eine verbesserte Lebensqualität der Menschen in den Mittelmeerländern. Verstärkte bi- und multilaterale Kooperation bei technischen und gesellschaftlichen Lösungen könnte ein wichtiger Beitrag zu Sicherheit und Frieden in der Region sein.

Der Mittelmeerraum ist Heimat für etwa 480 Millionen Menschen, Tendenz wachsend (Lange 2019). Mit einer städtischen Bevölkerung von derzeit 350 Millionen (entsprechend etwa 70 % der Gesamtbevölkerung) ist die Region stark urban geprägt (Abbildung 1). Die zunehmende Urbanisierung in Kombination mit einer fortschreitenden Klimaerwärmung stellen ein erhöhtes Risiko für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Stadtbevölkerung dar.

Abbildung 1: Verteilung der Bevölkerung im Mittelmeerraum; Quelle: UNEP – Mediterranean Action Plan and Plan Bleu.

Deutliche räumliche, ökologische und sozioökonomische Differenzen kennzeichnen den Mittelmeerraum, dessen terrestrische und marine Ökosysteme zunehmend durch Klima- und Umweltveränderungen belastet sind (siehe z.B. MedECC 2020). Vielfältige Belastungen hinsichtlich Wasserverfügbarkeit, Energieversorgung, Nahrungssicherheit und Umweltintegrität führen zur Überschreitung der gesellschaftlichen und ökologischen Tragfähigkeit in der Region. Aufgrund der derzeitigen Klimabedingungen sowie der zu erwartenden Veränderungen der klimatischen Bedingungen gilt die Mittelmeerregion als einer der globalen Klima-Brennpunkte der Erde (Cramer et al. 2018).

Politische und gesellschaftliche Veränderungen, Krisen und (bewaffnete) Konflikte der jüngeren Vergangenheit stellen eine ernsthafte Herausforderung für die davon betroffenen Bevölkerungen dar und gefährden die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität sowie die nachhaltige Entwicklung der Region. Kriegerische Auseinandersetzungen – insbesondere in nahöstlichen und nordafrikanischen Staaten – fordern nicht nur erhebliche menschliche Opfer, sondern zerstören die Grundlagen und Infrastrukturen wirtschaftlichen Handelns in diesen Ländern.

Die derzeit zu beobachtende Migration von Menschen aus den südlichen und östlichen Anrainerstaaten sowie aus afrikanischen und asiatischen Ländern in den Mittelmeerraum hat Ausmaße angenommen, die frühere Bevölkerungsbewegungen in der Region bei weitem übersteigen. Das vielfach zu beobachtende menschliche Leid der Migrant*innen und die Spannungen und Herausforderungen in den Kommunen der Zielländer der nördlichen und westlichen Mittelmeerperipherie sind eine erhebliche politische und gesellschaftliche Herausforderung in diesen Staaten (siehe etwa: Lange et al., 2022). Obgleich ein strikt quantifizierbarer Zusammenhang zwischen Umweltveränderungen und Migrationsbewegungen nicht ableitbar ist, bilden erstere wichtige Gründe für das Verlassen der Heimat.

Klimaveränderungen und deren Folgen

Lässt sich aus den Klimaaufzeichnungen der jüngeren Vergangenheit schon jetzt zeigen, dass die Jahresmitteltemperaturen im Mittelmeerraum deutlich über den globalen Mittelwerten liegen, so geben numerische Klimamodelle Aufschluss über die mögliche zukünftige Klimaentwicklung auf globaler und regionaler Skala. Entscheidende Randbedingungen für solche Modelle sind sogenannte Emissions­szenarien, in denen plausible Projektionen der zukünftigen Entwicklung der globalen Emissionen von strahlungsaktiven Treibhausgasen1 dargestellt werden (siehe z.B. van Vuuren et al. 2011).

Abbildung 2 (siehe auch: Lange 2019) zeigt die repräsentativen Konzentrationspfade (RCP) der CO2-Äquivalente für vier Emissionsszenarien (in a eingefügt), die Entwicklung der mittleren Jahrestemperaturen (a) für ein gemäßigtes (RCP2.6) sowie ein maximales (RCP8.5) Emissionsszenario mit der Angabe von Unsicherheiten (farbige Flächen um die Temperaturlinie) von 1950 bis 2100, relativ zu mittleren Temperaturen einer Referenzperiode von 1980 bis 1999; ebenfalls dargestellt ist die geographische Verteilung der Erwärmung (b und c) im Mittelmeerraum gegen Ende des 21. Jahrhunderts (2080 bis 2099). Der angezeigte, auf Messungen beruhende atmosphärische CO2e Konzentrationswert für 2021 zeigt deutlich, dass die tatsächlichen Konzentrationswerte deutlich über den projizierten Werten des maximalen Emissionsszenarios liegen. Damit sind die in der Abbildung ebenfalls gezeigten Richtwerte der maximalen Erwärmung (+2° für RCP2.6 sowie +5,5° für RCP8.5) als eher konservative Abschätzungen anzusehen.

Abbildung 2: a: Projizierte Änderungen der jährlichen Durchschnittstemperaturen im Vergleich zum Referenzzeitraum (1980 bis 1999) im Mittelmeerbecken über Land, basierend auf moderaten (RCP2.6) und hohen Treibhausgaskonzentrationen (RCP8.5); eingefügt: Repräsentative Konzentrationspfade und daraus resultierende atmosphärische CO2e-Konzentrationen für das 21. Jahrhundert; außerdem wird eine gemessene mittlere atmosphärische CO2e-Konzentration für das Jahr 2021 gezeigt [UBA 2021]; b: geographische Verteilung der Erwärmung im Mittelmeerraum gegen Ende des 21. Jahrhunderts (2080 bis 2099) für RCP2.6; c: dasselbe für RCP8.5 (MedECC 2020; Umweltbundesamt 2023; van Vuuren et al. 2011).

Die Veränderungen in den Niederschlagswerten als Teil der Klimaveränderung im Mittelmeerraum sind nur scheinbar weniger drastisch (siehe Lange 2019; MedECC 2020). Die abgeschätzten Maximalreduzierungen der Niederschläge belaufen sich gegen Ende des 21. Jahrhunderts relativ zu den Referenzwerten von 1980 bis 1999 auf ca. -20 % für RCP2.6 und ca. -50 % für RCP8.5. Ähnlich wie bei den Temperaturveränderungen sind die verringerten Niederschläge jedoch geographisch deutlich inhomogen verteilt. Damit werden einige Regionen, insbesondere die südlichen und östlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers, besonders signifikante Dürreperioden erleiden, vor allem in den Sommermonaten.

Diese Dürreperioden repräsentieren nur ein Beispiel für die zu erwartende deutliche Zunahme an Extremereignissen im Mittelmeerraum. Weitere Beispiele sind extreme Hitzewellen und deutlich wärmere Sommer- sowie mildere Wintermonate (Zittis et al. 2021). Aufgrund des sogenannten städtischen Wärmeinsel­effekts (»urban heat island effect«; siehe: Santamouris 2007) ist zu erwarten, dass die urbanen Temperaturerhöhungen noch extremer ausfallen werden als im ländlichen Umland von Städten (Lange 2019).

Rückwirkungen und Verknüpfungen

Die genannten Konsequenzen des Klimawandels sind nicht isoliert zu betrachten, sondern auf vielfältige Weise miteinander verknüpft und durch komplexe Wechselwirkungen gekennzeichnet. Die zu erwartende, sich weiter verschärfende Wasserknappheit ist dabei ein entscheidender Faktor. Größter Wassernutzer im Mittelmeerraum ist die Landwirtschaft, die im Schnitt bis zu 80 % des national verfügbaren Wassers für die Bewässerung von Nutzpflanzen benötigt. Ein Rückgang der Niederschläge und damit verbunden die reduzierte Bewässerung von Nutzpflanzen hat unmittelbar Einfluss auf die Erzeugung agrarischer Produkte und damit auf die lokale bis nationale Nahrungssicherheit von Mittelmeerländern.

Verminderte Regenfälle führen zum Rückgang des Wassers in Grundwasser­aquiferen oder in Flüssen, Seen und Staudämmen, das für die Trinkwasserversorgung der Bevölkerung von entscheidender Bedeutung ist. Um diesem Mangel zu begegnen, werden in einer Reihe von Mittelmeerländern Anlagen zur Meerwasserentsalzung gebaut und betrieben. Die sogenannte Umkehrosmose ist die häufigste für die Meerwasserentsalzung eingesetzte Technologie, die allerdings sehr energieintensiv ist. Für die Erzeugung von Frischwasser aus salzhaltigem (Meer-)Wasser für eine Stadt von etwa 100.000 Einwohner*innen würde durchschnittlich ein erforderlicher Energieaufwand von 15 Gigawattstunden pro Jahr anfallen. Dies entspricht etwa 0,4 % der Leistung eines typischen Gaskraftwerks mit einer Kapazität von 750 MW und einem Kapazitätsfaktor von 70 % und erscheint damit durchaus tragbar. Legt man jedoch die zu erwartende Verknappung des Trinkwasserangebots und die Versorgung eines großen Teils der Bevölkerung eines Landes mit aus Meerwasserentsalzung gewonnenen Wassers zugrunde (dies ist etwa für Zypern der Fall), so ist zu erwarten, dass die derzeitigen Kraftwerksreserven dem erhöhten Energiebedarf nicht werden nachkommen können.

Dies auch deshalb, weil eine weitere Belastung der Kraftwerkskapazitäten hinzukommt. Schon heute ist zu beobachten, dass der Strombedarf im Jahresverlauf zunehmend in den Sommermonaten maximale Werte erreicht (siehe: Lange 2023a) vor allem aufgrund der vermehrten Nutzung von Raumkühlungsanlagen (Klimaanlagen) in geschlossenen Räumen. Insbesondere im Hinblick auf die zu erwartenden Hitzewellen in Städten und größeren Ortschaften des Mittelmeerraums ist gerade beim Urbanisierungsgrad der Mittelmeerregion mit einer weiteren Steigerung des sommerlichen Strombedarfs zu rechnen. Es ist also damit zu rechnen, dass der Bau neuer Kraftwerke unabdingbar wird.

Die wenigen hier genannten Beispiele zeigen, dass zwischen der Aufrechterhaltung von Wasser-, Energie- und Nahrungssicherheit enge Verbindungen und gegenseitige Abhängigkeiten bestehen. Diese werden durch das Konzept des sogenannten »Wasser-Energie-Nahrungs-Nexus« beschrieben (Hoff 2011; Lange 2019, 2022).

Vermeidungs- und Anpassungsstrategien

Um den Folgen des Klimawandels wirkungsvoll zu begegnen, ist die Erstellung von Vermeidungs- und Anpassungsstrategien auf nationaler bis regionaler Skala unabdingbar. Dabei geht es zum einen um eine Reduzierung bzw. weitgehende Vermeidung (»Mitigation«) von Treibhausgasemissionen und damit einen Rückgang der globalen Erwärmung, zum anderen um die Anpassung (»Adaptation«), mit der sich Menschen möglichst wirkungsvoll auf die unvermeidbaren Konsequenzen von Klima- und Umweltveränderungen einrichten können. Hier sollen nur einige wenige bereits ergriffenen Maßnahmen und erprobte Lösungen vorgestellt werden. (vgl. Lange i.E.)

Die meisten Mittelmeerländer sind Vertragsparteien der Rahmenvereinbarung der Vereinten Nationen zu Klimaänderungen (UNFCCC) und wichtiger Klimaschutzstrategien, die auf einer Reihe von Konferenzen der Vertragsparteien (COP) eingeführt und von diesen akzeptiert wurden, z.B. im Pariser Abkommen von 2015. Konkrete Minderungsmaßnahmen einzelner Länder bleiben jedoch häufig hinter den angenommenen COP-Verpflichtungen zurück.

  • In Bezug auf Anpassungsmaßnahmen stehen landwirtschaftliche Praktiken im Vordergrund. So sollten also etwa vor allem trockenresistente Nutzpflanzen angebaut und Regenwasser sowie innovative Bewässerungstechnologien (»smart agriculture«) eingesetzt werden.
  • Im Bereich der Wasserversorgung sollte die Planung für Extreme (Überschwemmungen) durch präzisere Modellierung und Kartierung von Überschwemmungsausdehnungen und -gefahren sowie eine verbesserte Leckerkennung in städtischen Wasserverteilungssystemen vorangetrieben werden.
  • Die Verwendung von tertiär aufbereitetem Abwasser in privaten Haushalten, öffentlichen Anlagen und in der Landwirtschaft sowie Maßnahmen zur Reduzierung des Wasserbedarfs durch Anreizsysteme sollten eingeführt werden.
  • Bei der Sicherstellung der Energieversorgung sollte die Nutzung erneuerbarer Energien im Vordergrund stehen. Die Potentiale für die Gewinnung von Solar- und Windenergien in Kombination mit einer verbesserten Energieeffizienz bieten gerade in Ländern des Mittelmeerraums erhebliche Chancen (IRENA 2019; Nematollahi et al. 2016; vgl. Sülün in dieser Ausgabe, S. 17).
  • Zum anderen bieten sich innovative Lösungen an, die auf der kombinierten Nutzung unterschiedlicher erneuerbarer Energien in einem hybriden Energiesystem beruhen (Abbildung 3; Lange 2023a).

Abbildung 3: Schematische Darstellung eines hypothetischen hybriden Systems erneuerbarer Energien in Kombination mit verschiedenen Speichertechnologien (modifiziert nach: Lange 2023)

Friedenssicherung durch Klimaadaption?

Diese Herausforderungen erfordern umfassendes, konsequentes und zeitnahes Handeln (nicht nur) in den Ländern des Mittelmeerraums. Der Umgang und die Bewältigung dieser Herausforderungen wird in jedem dieser ökonomisch und politisch unterschiedlich aufgestellten Ländern ganz eigene Lösungen erfordern. Dabei ist insbesondere die konfliktsensible und folgenbewusste Implementierung von Anpassungsmaßnahmen unabdingbar, denn die Gefährdung der Wasser-, Energie- und Nahrungssicherheit birgt deutliche politische Sprengkraft in vielen Ländern des Mittelmeerraums und kann zu erheblichen innen- und außenpolitischen Krisen und Konflikten führen.

Damit verbundene Risiken können auch Auslöser für interne und grenzüberschreitende Migrationsbewegungen sein. Im Rahmen der »Mediterranean Expert Group on Environmental and Climate Change« (MedECC) wird daher dem komplexen Thema der Zusammenhänge zwischen und möglichen Milderung der Auswirkungen von Klimawandel, Migration und Konflikten nachgegangen (Lange et al. 2022).

Die Bewältigung der genannten Herausforderungen dient also der Konfliktvermeidung und bietet zugleich erhebliche Chancen der Zusammenarbeit für den Mittelmeerraum, obgleich sie für einige Länder mit erheblich mehr Aufwand als für andere zu realisieren sind. Viele der genannten Mitigations- und Adaptationsmaßnahmen bieten im ganzheitlichen Kontext des Wasser-, Energie- und Nahrungs-Nexus die Möglichkeit einer umfassenden Neuorientierung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen. Es ist zu erwarten, dass sich diese in gesteigerten wirtschaftlichen Wachstumszahlen und der insgesamt verbesserten Lebensqualität der Bürger*innen niederschlagen würden.

Da alle Länder des Mittelmeerraums vor ähnlichen Herausforderungen durch den Klimawandel stehen, ist auch die Entwicklung und Realisierung bi- und multilateraler Kooperationen geboten, die im Rahmen einer Klimadiplomatie zugleich einen Beitrag für Frieden und Nachhaltigkeit leisten, wie es im Konzept des »environmental peacebuilding« zum Ausdruck kommt (Scheffran 2021). Erste Ansätze hierzu finden sich etwa im »Blue-Green-Deal«, einem gemeinsamen Programm zwischen Israel, Jordanien und den Palästinensischen Autonomiegebieten (Bromberg et al. 2020) und der von der Republik Zypern vorgeschlagene »Eastern Mediterranean and Middle East Climate Change Initiative« (EMME-CCI).

Anmerkung

1) Treibhausgase sind Substanzen, die für die Erwärmung der Atmosphäre aufgrund des sog. Treibhauseffekts verantwortlich sind. Hierzu zählen: Kohlendioxid (CO2) Methan (CH4), Stickoxide (NOx), Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe (FCKWs) und andere Spurengase.

Literatur

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Manfred A. Lange ist Emeritus Professor am »Energy, Environment and Water Research Center« des Cyprus Institute in Nicosia, Zypern. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Klimafolgenforschung für den Mittelmeerraum. Er ist Mitglied im Wissenschaftlichen Lenkungskomitee der Gruppe der »Mediterranean Experts on Climate and Environmental Change« (MedECC).

Die Türkei im östlichen Mittelmeer

Die Türkei im östlichen Mittelmeer

Machtkampf um Ressourcen und Einfluss

von Gülistan Gürbey

Die Entdeckung von Erdgasfeldern im östlichen Mittelmeer hat die geopolitische Dynamik in der Region erheblich beeinflusst. Die Anrainerstaaten, insbesondere die Türkei, Griechenland, Zypern, Israel und Ägypten, befinden sich im Wettstreit um die Kontrolle und Ausbeutung dieser Ressourcen. Die Türkei hat mit ihrem konfrontativen Vorgehen, darunter militärische Drohgebärden und Erdgasexplorationen unter türkischer Kriegsmarinebegleitung, die Spannungen verschärft. Dieser Beitrag analysiert die Position der Türkei in diesem Konflikt, unter Berücksichtigung ihrer Interessen, Ziele und weiterer Einflussfaktoren.

Unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hat sich die Außenpolitik der Türkei seit 2002 rasant verändert. Dies zeigt sich in einem neuen ideologischen und strategischen Selbstverständnis sowie dem Streben nach regionaler und globaler Dominanz. Der regionale Machtradius der Türkei hat sich erheblich erweitert und der Einfluss der Türkei hat regional und international sichtbar zugenommen. In ihrer Außen- und Sicherheitspolitik setzt die Türkei unter Erdoğan auf strategische Autonomie, einen Mix aus politischen und militärischen Mitteln, einschließlich einer erhöhten Bereitschaft zum Einsatz militärischer Gewalt, und eine fluide Bündnispolitik. Die Beziehungen zu westlichen Verbündeten (NATO, USA, EU) sind darin zweitrangig (Gürbey 2023). Ein Konfliktfeld, auf dem sich dieser neue Machtanspruch zeigt, sind die Konflikte um fossile Ressourcen unter dem östlichen Mittelmeer.

Konkurrenz um Energierohstoffe im östlichen Mittelmeer

Seit 2009 hat die Entdeckung großer Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer einen intensiven Wettbewerb um deren Nutzung ausgelöst. Funde wie »Tamar« (2009), »Leviathan« (2010), »Aphrodite« (2011), »Zohr« (2015) und »Calypso« (2018) machen die Region zu einem potenziellen Energielieferanten für Anrainerstaaten und Europa. Jedoch verschärft sich der Streit um maritime Grenzen und Interessen im östlichen Mittelmeer, insbesondere zwischen der Türkei, Griechenland und Zypern. Das zentrale Problem liegt im Streit über die Abgrenzung der Interessensphären im Meeresgebiet, insbesondere in Bezug auf maritime Interessen, Luft- und Seegrenzen sowie den Status griechischer Inseln in der Ägäis und im Mittelmeer. Dieser langjährige Konflikt wurde durch die jüngsten Erdgasfunde erneut entfacht (Meinardus 2022).

Die völkerrechtliche Basis für die Festlegung von Wirtschaftszonen bis zu 200 Seemeilen vor der Küste beruht auf dem UN-Seerechtsübereinkommen von 1982, das 1994 in Kraft trat. Jedoch ist die Abgrenzung im östlichen Mittelmeer komplex, da benachbarte Staaten, gegenüberliegende Nationen und ein Inselstaat in einem geographisch engen Raum involviert sind. Die Türkei ist dem UN-Übereinkommen nicht beigetreten und legt ihren Ansprüchen auf den Zugriff eigene Interpretationen der Abgrenzung von Wirtschaftszonen zugrunde, insbesondere bezüglich der Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) von Inseln.

Im Konflikt um die Abgrenzung der Wirtschaftszonen in der Ägäis und im Mittelmeer zwischen der Türkei und Griechenland wurden seit 2002 informelle Sondierungsgespräche zwischen den beiden Staaten geführt, um eine Basis für Verhandlungen zu schaffen. Diese Sondierungsgespräche über die Grenzen in der Ägäis mit über 2.400 Inseln und wichtigen Hochseeschifffahrtsrouten brachten bis März 2016 keine Einigung, als die Türkei die Verhandlungen abbrach.

Im Streit um die AWZ fordert die Türkei, nur die Küstenlinien des Festlandes zur Abgrenzung zu berücksichtigen, nicht die von Inseln. Die türkische Position behauptet, Inseln hätten keinen Festlandsockel, daher habe Zypern als Inselstaat keine Rechte auf eine eigene AWZ. Griechenland beansprucht gemäß der UN-Seerechtskonvention für jede Insel eine eigene AWZ und kritisiert türkische Erkundungen vor griechischen Inseln demnach als illegale Unternehmungen.

Die Türkei erkennt die Republik Zypern nicht an, behandelt jedoch die – nur von ihr selbst anerkannte – Türkische Republik von Nordzypern (TRNZ) als souveränen Staat. Ankara lehnt es strategisch ab, die Erdgassuche zu beenden, bevor die Zypernfrage gelöst und die TRNZ einbezogen ist. Obwohl die Türkei behauptet, Inseln könnten keine Ausschließlichen Wirtschaftszonen beanspruchen, schloss sie im September 2011 ein Abkommen mit der TRNZ über die Anerkennung von AWZ und beauftragte ihr staatseigenes Energieunternehmen TPAO mit Probebohrungen zwischen Nordzypern und der türkischen Südküste.

Die Türkei hat Schwierigkeiten mit den vielen griechischen Inseln in der Ägäis, die sie als Fortsetzung des anatolischen Festlandes betrachtet. Beispielsweise beansprucht die Insel Kastelorizo, die über 500 Kilometer von Athen entfernt vor der türkischen Küste liegt, ein Seegebiet von 200 Seemeilen. Ankara erkennt weder den griechischen Anspruch auf einen Festlandssockel südlich von Kreta und um die Dodekanes-Inselgruppe mit Rhodos an, noch bilaterale Verträge anderer Anrainerstaaten (wie beispielsweise zwischen Zypern und Ägypten, Libanon und Israel) auf Grundlage der UN-Seerechtskonvention.

Eskalationsdynamik ab 2019

Ankara sieht den Status quo in der Ägäis bedroht, wenn Athen das Recht zur Ausdehnung seiner Küstenzonen von 6 auf 12 Seemeilen anwenden würde. Die Türkei erklärte dies bereits 1995 als »casus belli«, da eine Ausdehnung der griechischen Hoheitsgewässer zu einem Verlust des freien Zugangs zum offenen Meer und zu strategisch wichtigen Seewegen führen würde. Dies wäre besonders kritisch, wenn griechische Ansprüche im Seegebiet zwischen Rhodos und Zypern erweitert würden. Dann würde sich die griechische Zone so weit nach Osten strecken, dass sie mit der von Zypern beanspruchten AWZ zusammenstieße und damit eine von Athen und Nikosia gewünschte gemeinsame AWZ entstehen würde. Um dies zu verhindern, reagiert die Türkei mit Eskalation, indem sie Bohrungen in den umstrittenen Zonen durchführt, in denen die AWZ von Griechenland, Zypern und Ägypten verlaufen.

Das 2019 von Anrainerstaaten, darunter Griechenland, Zypern, Israel und Ägypten, gegründete »Eastern Mediterranean Gas Forum« (EMGF), das darauf abzielen sollte, die Energie- und Sicherheitssituation in der Region zu verbessern, sieht die Türkei als Bedrohung und setzte militärische Maßnahmen ein, um die von Zypern beauftragten Erkundungen zu stoppen. Sie schickte eigene Forschungs- und Bohrschiffe in die umstrittenen Meeresgebiete und die Ausschließlichen Wirtschaftszonen von Zypern und Griechenland, um den Druck zu erhöhen. Die Regierung verknüpfte geschickt die geopolitische Rivalität im östlichen Mittelmeer mit ihrer Libyen-Politik. Als Reaktion auf das Gasforum EMGF schloss die Türkei im November 2019 ein umstrittenes bilaterales See- und Militärabkommen mit der international anerkannten islamistisch ausgerichteten Regierung in Libyen ab, die im Libyen-Konflikt von der Türkei durch Waffenlieferungen und Söldnertruppen aus Syrien unterstützt wird (Deutscher Bundestag 2020). Die Vereinbarung mit Libyen sicherte diesem militärische Unterstützung durch die Türkei zu und definierte im Gegenzug eine gemeinsame exklusive Wirtschaftszone beider Staaten, die sich von der Türkei bis Nordafrika erstreckt. So konnte die Türkei einen großen Teil des östlichen Mittelmeeres für sich beanspruchen. Innerhalb dieses festgelegten Seekorridors befinden sich griechische Inseln wie Kreta, Kassos, Karpathos und Rhodos. Griechenland, Zypern und Ägypten lehnen das türkisch-libysche Abkommen aus naheliegenden Gründen jedoch ab.

Im Mai 2020 kündigte die Türkei an, vor den griechischen Inseln Kreta, Karpathos und Rhodos nach Öl zu bohren. Begleitet von Kriegsschiffen durchquerten ihre Bohrschiffe die von beiden Seiten beanspruchte Region. Die Spannungen eskalierten im Sommer 2020, woraufhin Deutschland, die EU und die NATO Deeskalationsbemühungen unternahmen (NATO 2020). Die Türkei unterbrach vorübergehend ihre Gasbohrungen in den umstrittenen Meeresgebieten, um einer militärischen Konfrontation mit Griechenland vorzubeugen. Die EU reagierte mit Teilsanktionen, darunter teilweise Kürzungen von EU-Finanzmitteln und Sanktionen gegen Beteiligte an den türkischen Bohrungen (Europäischer Rat 2020). Die türkische Regierung drohte, die seit März 2016 bestehende Flüchtlingsvereinbarung mit der EU zu kündigen, und erhöhte den Druck, indem sie im März 2020 vorübergehend ihre Grenze zu Griechenland für Flüchtlinge öffnete.

Hegemoniale Bestrebungen und strategische Interessen

Die Türkei verfolgt im östlichen Mittelmeer mehrere strategische Ziele. Erstens strebt sie Energieautonomie an, um ihre Abhängigkeit von externen Quellen zu verringern. Zweitens sieht sie die Erdgasvorkommen als wirtschaftliche Chance, um die nationale Wirtschaft zu stärken. Drittens verfolgt sie eine geopolitische Agenda zur Festigung ihrer regionalen Einflussnahme. Die türkische Regierung setzt verschiedene Mittel ein, darunter militärische Konfrontationen, die durch Drohkulissen und Erdgasexplorationen unter Begleitung von Kriegsmarine geprägt sind. Dieser militärische Ansatz dient der Abschreckung und Sicherung von Verhandlungsmacht und ist Teil einer umfassenden hegemonialen Strategie, die regionale Dominanz und Vorherrschaft unter Einsatz von militärischen Mitteln anstrebt.

Aus türkischer Sicht ist die Konkurrenz um die Ausbeutung der Energieressourcen eng mit den neo-osmanischen Ambitionen und Interessen der türkischen Regionalpolitik verbunden. Das ideologische Fundament dieser Politik kombiniert extremen türkischen Nationalismus, Islamismus und Neo-Osmanismus, und ist gekennzeichnet durch eine Rückbesinnung auf die Geschichte und die imperiale Größe des Osmanischen Reiches. Das Ziel ist die Ausweitung des Machtradius auf die ehemals osmanisch beherrschten Gebiete, wobei die Türkei als hegemoniale Führungsmacht positioniert wird. Die Türkei setzt militärische Mittel ein, um ihre Interessen im Irak, Syrien, Libyen, Bergkarabach und im östlichen Mittelmeer durchzusetzen (van Heukelingen und Deen 2022, Deutscher Bundestag 2019, Gürbey 2018). Die aktive Einmischung unter Anwendung militärischer Gewalt ist Teil des neuen türkischen Konzepts der Vorneverteidigung, das für die eigene Sicherheit und Durchsetzung der Interessen als essenziell betrachtet wird. Diese Strategie wird auch im östlichen Mittelmeer angewendet, wobei Ankara darauf besteht, dass nur ein schlagkräftiges Militär die nationalen Interessen sichern kann. Die Politiken im östlichen Mittelmeer, in Libyen und in Syrien sind daher eng miteinander verflochten und bilden gemeinsam elementare Bausteine des größeren neoosmanisch-hegemonialen Konzepts.

Die maritime Dimension dieser Strategie ist die Militärdoktrin »Mavi Vatan« von 2006, die Ankaras politisch-militärische Agenda für das kommende Jahrzehnt manifestiert. Sie positioniert die Türkei als aufstrebende Seemacht mit Präsenz in den drei Meeren (Schwarzes Meer, Ägäis, Mittelmeer), in denen nationale Interessen durchgesetzt werden sollen. Das Verteidigungskonzept basiert auf einer starken Machtprojektion, die vorsieht, dass die Türkei am Horn von Afrika und am Persischen Golf ihre nationalen Interessen in einer erweiterten Einflusszone verfolgt. Diese Machtprojektion wird durch den permanenten und rasanten Ausbau der Militärtechnologie und Rüstungsindustrie unterstützt, um die Luft-, Land- und Seestreitkräfte gezielt zu stärken. Die Türkei treibt die Entwicklung eigener Waffensysteme, Raketen, Panzer und sogar ein eigenes Raumfahrtprogramm voran, um die Abhängigkeit vom Westen zu reduzieren (Bastian 2024, Yanarocak 2020).

Anzeichen einer Entspannung?

Aufgrund der zunehmenden Isolation und der Wirtschafts- und Währungskrise bemüht sich die türkische Regierung seit 2021, die beschädigten Beziehungen zu Nachbarländern wie Ägypten, Israel, Vereinigte Arabische Emirate und Saudi-Arabien wiederherzustellen. Dies soll eine weitergehende Isolation durch regionale Veränderungen, insbesondere durch die seit 2020 sich anbahnenden neuen Allianzen zwischen Israel und den Golfstaaten, vermeiden und Investitionen aus Saudi-Arabien oder den Emiraten sichern, die für die Bewältigung der gegenwärtigen Krisen wichtig sind.

Auch mit Griechenland ist eine Entspannung im Gange. Seit Ende Februar 2022 gab es mehrere Treffen auf höchster Ebene, um bilateral und international zusammenzuarbeiten und gemeinsame Projekte in Bereichen wie Energie und Tourismus zu vereinbaren. Die Militärs beider Staaten wollen die Manöver in der Ägäis auf das absolute Minimum beschränken. Eine Entspannung zwischen der Türkei und Griechenland ist für die NATO von geostrategischer Bedeutung, ebenso wie für die USA und die EU. Die USA haben ihre militärische Zusammenarbeit mit Griechenland in den letzten Jahren intensiviert und US-Stützpunkte in Mittel- und Nordgriechenland sowie auf Kreta errichtet und erweitert. Aus Sicht des NATO-Bündnisses ist es wichtig, eine Schwächung der Südostflanke durch die Streitigkeiten zwischen den beiden Nachbarstaaten zu vermeiden, insbesondere angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine.

Fazit

Die Situation im östlichen Mittelmeer ist geprägt von einem komplexen Ringen um Ressourcen und Einfluss. Die Türkei verfolgt dabei eine hegemoniale Strategie, um nicht nur im östlichen Mittelmeer, sondern auch in anderen regionalen Konflikten eine führende Rolle spielen zu können. Die geopolitische Situation im östlichen Mittelmeer erfordert eine umfassende regionale Stabilitätspolitik mit Beteiligung vieler Länder, da bilaterale Verhandlungen allein nicht ausreichen. Die Türkei hat eine wichtige Rolle in der von den USA geführten Strategie, die darauf abzielt, Russland und China einzudämmen sowie ein Bündnis zwischen Russland, China und dem Iran zu verhindern. Diese Rolle gibt der Türkei Spielraum und stärkt die Position der Regierung. Trotz Kursänderungen werden Präsident Erdoğan und seine Regierung weiterhin bestrebt sein, diesen Spielraum maximal und eigenständig zu nutzen, um ihre geopolitischen Interessen durchzusetzen, dabei aber Zielkonflikte mit dem Westen kontrolliert zu halten. Bei einem Regierungswechsel in der Türkei wäre eine verbesserte Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit in den Beziehungen zu westlichen Partnern zu erwarten. Dies könnte sich positiv auf die Zusammenarbeit mit der Türkei auswirken und ihre Bereitschaft erhöhen, gemeinsame Lösungen zu finden.

Literatur

Bastian, J. (2024): Turkey: An emerging global power. SWP Comment. Berlin, Februar 2024.

Deutscher Bundestag (2019): Völkerrechtliche Aspekte der türkischen Militäroperation „Friedensquelle“ in Nordsyrien. Wissenschaftliche Dienste, WD 2-3000-116/19, 17. Oktober 2019.

Deutscher Bundestag (2020): Seevölkerrechtliche Bewertung der türkisch-libyschen Vereinbarung über die Abgrenzung ihrer maritimen Interessenssphären im östlichen Mittelmeer. Wissenschaftliche Dienste, WD 2-3000-143/19, 17. Januar 2020.

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Meinardus, R. (2022): Neue Spannungen in der Ägäis. Kein Platz für Griechenland in Erdogans „Charme-Offensive“. Qantara.de, 2.3.2022.

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Yanarocak, H. E. C.(2020): Turkey’s giant leap: Unmanned aerial vehicles. Turkeyscope 4(6), Juli-August 2020.

PD Dr. Gülistan Gürbey ist habilitierte Politikwissenschaftlerin und Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Sie promovierte beim Zeithistoriker Prof. Dr. Dr. Karl-Dietrich Bracher und habilitierte beim Friedensforscher Prof. Dr. Ernst-Otto Czempiel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Frieden und Konflikte in Nahost, Türkei, Zypern, Kurden, Irakisch-Kurdistan, Irak, Syrien.

Geopolitik in der Mittelmeerregion

Geopolitik in der Mittelmeerregion

Großmachtrivalitäten, zerfallene Staaten und europäische Abgrenzung

von Pablo Flock

Das Mittelmeer und die Anrainerstaaten sind Knotenpunkte der Interessen und Rivalitäten von Groß- und Regionalmächten, ein Aufmarschgebiet von Armeen, die Leinwand von Ressourcenkämpfen und das Grab vieler marginalisierter Menschen, die diesen Interessen zum Opfer gefallen sind. Doch worin bestehen die Interessen und wo wird militärische Kontrolle ausgeübt? Wessen strategische Positionierungen gelten welchen Gegnern? Wessen Interessen stehen dabei immer zurück? Ein Überblick.

Das zwischen dem afrikanischen, asiatischen und europäischen Kontinent gelegene, verhältnismäßig kleine Mittelmeer begünstigte durch seine recht einfache Schiffbarkeit historisch die Ausbreitung der ersten Imperien und Seemächte, von den Phöniziern über die Griechen bis zu den Römern. Bis heute ist der mediterrane Raum von großer Bedeutung für die modernen Großmächte. Während die Schiffbarkeit es den historischen Imperien erlaubte, sich über das Mittelmeer entlang der Küsten auf allen drei Kontinenten bis hin zu anderen »natürlichen« Grenzen wie den Alpen oder der Sahara auszubreiten, wirkt es heute eher in sich selbst als Grenze, über die der Fluss von Waren und Investitionen, wie auch von militärischer Macht und Ausrüstung sichergestellt wird. Demgegenüber werden die Bewegungen der Menschen über das Meer wegen ihrer unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten, oder nach mancher Ansicht auch Religion oder Hautfarbe, engmaschig kontrolliert und dokumentiert und in vielen Fällen eingeschränkt oder verhindert.

Zunehmend geht es um die Etablierung militärischer Präsenz in Form von Schiffsflotten, Häfen und Flughäfen, Truppen und Stützpunkten durch die jeweiligen Mächte, um die eigenen Interessen zu sichern und geopolitischen Rivalen oder Nachbarn zuvorzukommen. Ein Fokus liegt im östlichen Mittelmeer, wo anhaltende Konflikte, fossile Energiereserven und geschwächte Staaten für Nachbarn, Regional- und Großmächte einiges zu gewinnen und zu verlieren bereithalten. Hier erlauben essentielle Transportrouten und Zwischenstoppmöglichkeiten für Handel und Militär die Machtprojektion in rückgelagerte Konfliktregionen in Nordafrika und in Westasien, im Roten und im Schwarzen Meer.

Großmächte »sichern« Schifffahrtsrouten

Besonders für die überregionalen Großmächte sind die Meerengen und Verbindungen zu anderen Meeren strategisch wichtig. Deshalb verwundert es kaum, dass sich um die Straße von Gibraltar verschiedene ihrer Militärhäfen finden. Die Stadt Gibraltar, auf einer Halbinsel an der südlichen Küste Spaniens gelegen, ist seit dem Ende des spanischen Erbfolgekrieges 1713 ein Überseegebiet Großbritanniens und beherbergt einen Marine- und einen Luftwaffenstützpunkt, sowie Abhörstationen der einstigen Weltmacht. Das Vereinigte Königreich kann dort nicht nur eigene Marineschiffe tanken und reparieren, sondern auch eine gewisse Kontrolle über den Verkehr zwischen Atlantik und Mittelmeer ausüben. Auf der anderen, atlantischen Seite der Meerenge nutzt die Marine der aktuellen Großmacht USA einen Großteil des spanischen Stützpunkts Rota. Sie dient besonders als Ankerpunkt der 6. Flotte der US-Navy in ihrer Region »Europe, Africa, Central«, die sich bis über Djibouti hinaus nach Bahrain erstreckt und ihre Hauptbasis in Neapel, Italien, unterhält. Zudem befinden sich auch kleinere Kontingente der US-Airforce und Marines (die keine Marineeinheit sondern eine Spezialkräfteeinheit sind) auf dem Stützpunkt in Rota. Schiffe anderer NATO-Mitgliedsstaaten, deren »Allied Joint Force Command (JFC Naples)« wiederum ebenso in Neapel liegt, nutzen den Hafen ebenfalls.

Ein noch kleineres und dadurch kritischeres Nadelöhr ist der Suezkanal, der zwischen der Sinai-Halbinsel und dem afrikanischen Teil Ägyptens verlaufend das Mittelmeer mit dem Roten Meer verbindet. Als das Containerschiff »Ever Given« Ende März 2021 havarierte, bildete sich innerhalb von wenigen Tagen ein über 100km langer Rückstau an Schiffen. Die gestiegenen Transportkosten schlugen sich international in Preissteigerungen nieder. Während der Kanal selbst unter ägyptischer Ägide steht, befinden sich im Roten Meer zahlreiche Basen verschiedener Großmächte. Auf ägyptischem Boden sind dies nur Basen der USA. In Djibouti, gegenüber der nun von den Houthi im Jemen teilweise blockierten Meerenge Bab el-Mandeb zum indischen Ozean, haben neben den USA auch Großbritannien, Russland und Frankreich je eine von vielen, Saudi Arabien eine von drei, China eine von zwei und Japan und Italien ihre einzigen militärischen Auslandsbasen. Während die Großmächte am politisch instabilen »Horn von Afrika« auf militärische Präsenz setzen, könnte zumindest die westliche Unterstützung für den autokratischen ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi mit der Sorge zusammenhängen, bezüglich der Schifferei auf dem Suez-Kanal von einer nicht pro-westlichen Regierung abhängig zu sein.1

Auch die dritte Meerenge, die das Mittelmeer mit dem Schwarzen Meer verbindet, steht unter der Kontrolle einer sich über zwei Kontinente erstreckenden, aufstrebenden Regionalmacht, der Türkei. Der Bosporus ist die engste natürliche Meerenge, die für internationale Schifffahrt verwendet wird, die Dardanellen sozusagen seine zum Mittelmeer hin gelagerten Vorläufer. Vor dem Hintergrund, dass die Kontrolle dieser Meerenge auch die Kontrolle über einen großen Teil der russischen Marine bedeutet, die neben ihrem von NATO-Staaten eingekreisten Heimathafen in Sankt Petersburg besonders von ihrem Hafen auf der Krim im Schwarzen Meer abhängig ist, verwundert es nicht, dass die Türkei als einziges (vorwiegend) nicht-europäisches Land nach den Gründungsmitgliedern USA und Kanada in die NATO aufgenommen wurde. Schon kurz vor der Aufnahme Anfang 1952 eröffneten die USA ihre erste und bis heute größte Auslandsbasis in der Türkei, die sogenannte »Incirlik Airbase«. Auf dieser sind auch die Atombomben gelagert, die damals die Stationierung sowjetischer Atomwaffen auf Kuba und damit die sogenannte Kubakrise provozierten. Zudem haben die USA bei Izmir, also an der Westküste etwas südlich der Dardanellen, einen Luftwaffen-Stützpunkt.

Der starken Kontrolle, die die NATO-Staaten über die Meerengen Gibraltar, zum Atlantik, und Bosporus, zum Schwarzen Meer, sowie über die Unterstützung des verbündeten, autokratischen al-Sisi auch über den Suez-Kanal ausüben, steht die relative Schwäche des erklärten Rivalen Russlands gegenüber, der im Mittelmeer nur über den Marinehafen in Syrien bei Tartus verfügt. Zwar konnte Russland mit seinen unterstützenden Bombardierungen den Zerfall des syrischen Assad-Regimes in der letzten Dekade verhindern, jedoch kann es wegen seiner Abhängigkeit von Ankara in Sachen Bosporus beispielsweise nicht gegen die Einverleibung syrischer Gebiete im Rahmen des türkischen Angriffskriegs gegen das Land vorgehen. Die enge Auslegung der Montreux-Konvention durch die Türkei ist Russland wichtig, da diese während eines Kriegs zwischen Anrainerstaaten, wie aktuell mit der Ukraine, auch NATO-Kampfflotten den Zugang zum Schwarzen Meer verschließt, wenn es auch selbst seine Schwarzmeerflotte dadurch nicht verstärken kann (siehe Dalay und Sabanadze 2024).

Regionale Mächte und alte Dispute

Der Mittelmeeranrainer Türkei schafft es nach den Großmächten USA, Großbritannien, Frankreich und Russland am besten, so zumindest das Fazit des International Center for Strategic Studies (IISS 2023), seine Macht in die verschiedenen Arenen in der Region zu projizieren, also Handlungsfähigkeit zu beweisen. Eine Herausforderung für sie ist jedoch die Beziehung zum NATO-Partner Griechenland, mit dem die maritimen Grenzen noch nicht geregelt sind (vgl. in größerer Tiefe Gürbey in diesem Heft, S. 10). Diese strittigen Gebiete schließen Inseln nahe des türkischen Festlands, z.B. Lesbos und Samos, die seit Langem unter griechischer Kontrolle stehen, und Gasfelder mit ein. Ursprünglich von den USA im Kampf gegen den Kommunismus noch in den 1940er Jahren durch Gelder an den Westen gebunden, ängstigt nun der sich selbstsicher äußernde Nationalismus der Türkei gepaart mit erstarkender militärischer Macht den Nachbarstaat Griechenland. Dort ist die Erinnerung an die osmanische Besatzung in den älteren Generationen noch lebendig. Während die USA heute versuchen, durch militärische Hilfe für Griechenland türkische Rüstungsdeals auszubalancieren, und beispielsweise durch das Zurückhalten von F-35 Bombern an die Türkei als Strafe für die Beschaffung des russischen S-400 Flugabwehrsystems Druck auf die Türkei auszuüben, unterstützte besonders das EU-Schwesterland Frankreich offen Griechenland, nicht nur eigennützig durch den Verkauf von Rafale Kampfjets und öffentlichen Solidaritätsadressen, sondern beispielsweise auch durch die Entsendung eines Flugzeugträgers nach Zypern im Jahr 2020. Der im östlichen Mittelmeer liegende Inselstaat ist seit 1974 ein Fokuspunkt der beiderseitigen Rivalität. Damals putschte eine Gruppe Offiziere der griechischsprachigen Mehrheitsbevölkerung und wollte die Insel mit dem damals ebenfalls von einer Militärjunta regierten Griechenland vereinen, woraufhin die Türkei, wohl um die türkischsprachige Minderheit zu schützen, den Norden der Insel besetzte. Von der UN geführte Pläne zur Wiedervereinigung scheiterten seitdem am Widerstand der zypriotischen Bevölkerung oder der Türkei.

Schätze im Boden, Krieg darüber

Besonders seit in zyprischen, wie auch israelischen und ägyptischen Gewässern Gasfelder gefunden wurden, dürfte der türkische Wille zur zyprischen Einheit gemäßigt sein. Die Pläne der EU, Zyperns, Israels und Ägyptens, die von Zypern verlaufende »Eastern Mediterranean Pipeline« (EastMed) zu bauen, stört die türkischen Absichten, ein Energieknotenpunkt für Gas aus der Region in die EU zu werden. Pläne der Türkei und Kräften in den USA, die auf eine Einbindung pochen, die Pipeline über türkisches Land zu bauen, werden wohl an Erdoğans lautstarker Unterstützung der palästinensischen Unabhängigkeit und an israelischem Misstrauen scheitern.2 2019 provozierte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, als er mit der international anerkannten, sogenannten libyschen Einheitsregierung den Vertrag über eine Ausschließliche Wirtschaftszone vereinbarte, die sich über die gesamte Meeresfläche zwischen den beiden Ländern erstreckt. Bevor ein libysches Gericht diesen Vertrag 2021 für nichtig erklärte, hatten Griechenland und Ägypten mit einer überschneidenden exklusiven Zone geantwortet und türkische Probebohrungen nahe griechischer Inseln schon zu einer Konfrontation und gefährlichen Manövern zwischen griechischer und türkischer Marine geführt (vgl. Aydıntaşbaş et al. 2020; Flock 2021).

Zerfallene Staaten im östlichen Mittelmeer

Heißer noch, und weit bekannter, sind sicherlich die kriegerischen Auseinandersetzungen einer anderen Regionalmacht, die mehr als das Doppelte der Türkei für das Militär ausgibt, bzw. vom Ausland indirekt finanziert bekommt. Israel hat im Vergleich mit Ägypten, Griechenland und der Türkei zwar weniger gepanzerte Fahrzeuge und (U-)Boote (vgl. IISS 2023), die eine Machtprojektion in ferne Gebiete erlauben würden, kann jedoch mit der größten Kampfjet-Flotte der Region nicht nur eine komplette Region wie den Gaza-Streifen in Schutt und Asche legen, sondern auch Ziele tief im Inland anderer souveräner Staaten angreifen, wie im Libanon und in Syrien. Hier steht es einer anderen Macht von außerhalb der Mittelmeerregion gegenüber, Iran, die die Hisbollah im Libanon und das Regime in Damaskus wie auch weitere bewaffnete Gruppen dort unterstützt. Die Instabilität beider Staaten nützt Israel in dem Sinne, dass sich diese weder gegen Israels völkerrechtswidrige Angriffe wehren, noch auf die Rückeroberung besetzter Gebiete, wie die ölreichen, syrischen Golanhöhen, konzentrieren können. Wie die geleakten, sogenannten »Clinton-Mails« belegen, war dies auch Motivation für das US-amerikanische Engagement in Syrien ab 2012.3 Seit dem Terrorangriff der Hamas zunehmend aktuell ist die Frage, ob die Hisbollah zur Unterstützung der ebenfalls durch den Iran unterstützten Hamas zur Hilfe eilt und ihre sporadischen Angriffe zum Krieg ausweitet – oder ob Israel einen solchen vom Zaun zu brechen sucht, um ihre, wegen der israelischen Kriegsverbrechen schwindende, internationale Unterstützung durch eine Ausweitung gegen die „gemeinsamen Gegner“ Iran und Hisbollah wieder zurückzuerlangen.

Der bis vor 15 Jahren reichste Staat Afrikas mit dem bis dato höchsten Human Development Index des Kontinents, Libyen, ist seit der Bombardierung durch Frankreich, die USA und Großbritannien ebenfalls ein zerfallener Staat, in dem verschiedene Regierungen und Milizen sich gegenseitig bekämpfen und äußere Kräfte diese für ihre Interessen gegeneinander ausspielen. Der libysche Bürgerkrieg zwischen der sogenannten international anerkannten Einheitsregierung (GNA) und dem vom bekannten Warlord Khalifa Haftar und seiner »Libyan National Army« (LNA) unterstützten Abgeordnetenhaus in Tobruk hatte eigentlich im Oktober 2020 geendet, doch die Kräfte begannen erneut, sich innerhalb der neuen Einheitsregierung zu bekämpfen, scheiterten am Versuch, gemeinsam Wahlen zu organisieren, und auch die ausländischen Kämpfer blieben im Land. Im Fall der besonders von der Türkei, aber auch durch Italien und Katar unterstützen GNA sind gegebenenfalls noch syrische Kämpfer aus pro-türkischen Milizen vor Ort. Für die LNA unter Haftar, die Ägypten nahesteht und teilweise sogar Luftunterstützung durch die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) erhielt, könnten noch einst angereiste Söldner der russischen Gruppe Wagner oder der sudanesischen »Rapid Support Forces« in Libyen eingesetzt sein. Während sich die EU-Staaten bis auf Italien und Frankreich, das teilweise mit Haftar Geschäfte gemacht haben soll, kaum in den Konflikt hineinziehen ließen, haben auch sie bedeutende militärische Ressourcen in das Land geschickt, deren einzige Mission es war, die Migrant*innen nicht über das Mittelmeer gelangen zu lassen.

EU-Maxime: Migrationsbekämpfung

Die sogenannte libysche Küstenwache ist wohl eines der aufwändigsten europäischen Projekte zur Migrationsbekämpfung – nach den Milliarden, die Erdoğan für seinen Migrationspakt ergattern konnte. Kurz nach der Bombardierung und dem Ende des Gaddafi-Regimes richtete die EU schon 2013 die »European Union Border Assistance Mission in Libya« (EUBAM Libya) ein. 2016 begann dann die europäische Marinemission EU NAVFOR Med mit der Ausbildung der »Küstenwache«. Bis 2023 erhielt diese rund 455 Mio. €. Obwohl die inhumanen Zustände in den völlig überfüllten Lagern, in die die vorgebliche Küstenwache die Migrant*innen zurückführte, sowie Zwangsarbeit und Menschenhandel, systematischer sexueller Missbrauch und Erpressung durch die führenden »Behörden« seit Jahren bekannt waren, stellte die deutsche Regierung erst 2022 ihre Beteiligung an der Ausbildung der Gruppe ein (Jordans 2022). Trotzdem schienen die EU-Staaten die Operation zumindest teilweise als Erfolg einzustufen, da sie dasselbe Konzept von Ausbildung und Ausrüstung in der Folge in verschiedenen Staaten anwendeten, wie Tunesien, Ägypten, Niger und Sudan. In Nordafrika ist nur Algerien nicht Teil einer solchen (Anti-)Migrationspartnerschaft, schirmt sich jedoch auch aus eigener Motivation und mit eigenen Mitteln gegen Migration aus dem Süden ab.

Der Konflikt zwischen Algerien, dem hochgerüsteten Staat mit großen Erdgasvorkommen, und Marokko, der vom Westen aufgerüsteten »Touristenattraktion«, prägt das westliche Mittelmeer derart, dass es selbst europäische Staaten tangiert. Algerien unterstützt traditionell die Befreiungsfront der südlich von Marokko gelegenen Westsahara (»Frente Polisario«), die Marokko seit der Entkolonialisierung durch Spanien zu zwei Dritteln besetzt hält. In Spanien ist der Konflikt deswegen relativ präsent. Durch das Unterlassen der Migrationskontrolle zu den beiden vom Königreich umgebenen spanischen Exklaven Ceuta und Melilla konnte Marokko zuletzt 2021 und 2022 ein starkes Druckmittel beweisen, das den spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez, aber auch die deutsche Außenministerin, zum Einlenken und zur de facto Unterstützung des marokkanischen »Autonomie-« bzw. Annexionsplans für die Westsahara bewegen konnte. Danach »bedankten« sich die königlich marokkanischen Kräfte im Juni 2022 durch die Wiedereinführung brutaler Grenzsicherung – ein Umstand, der unter anderem rund drei Dutzend Migrant*innen das Leben kostete, die am 24. Juni versuchten, nach Melilla zu gelangen. Algerien jedoch stellte in Antwort auf die politische Entscheidung den Gastransport durch eine über Marokko nach Spanien führende Pipeline ein, und versetzte der Energiesicherheit beider Länder damit herbe Schläge. Die Weiterführung dieses Kurses durch den sozialdemokratischen Sánchez – entgegen dem Protest seines Koalitionspartners Podemos und der öffentlichen Meinung – zeigt, wo die Prioritäten zwischen billigem Pipeline-Gas und Migrationsabwehr liegen – und das, obwohl selbst Politiker*innen der konservativen spanischen Volkspartei bemängelten, dass die Gasknappheit beispielsweise die wichtige Keramikindustrie stark schwächte. Demgegenüber konnte ausgerechnet Italien, das nach Spanien drittgrößter Exporteur von Keramikwaren ist und das die frei werdende Menge von Algerien abnahm, seine Produktion steigern.

Fazit

Die meist von außerhalb der Region kommenden militärischen Supermächte, USA, Russland, Großbritannien und Frankreich, unterhalten Basen an verschiedenen strategischen Punkten im Mittelmeer, die hier durchaus nicht vollständig aufgezählt wurden, und sichern mit diesen, sowie durch Bündnisse mit den Wächtern der Meerengen, Türkei und Ägypten, sowohl ihre militärischen Wege als auch ihre Handelsrouten über dieses kleine Meer, das nur 1 % der weltweiten Meeresfläche, aber 20 % der internationalen Schifffahrt umfasst.

Die regionalen Mächte, besonders die Türkei, aber auch Israel und Ägypten, nutzen die Möglichkeiten, die ihnen schwache oder gescheiterte Staaten in ihrer Nachbarschaft geben, um weitere strategische Gebiete zu besetzen oder präferierte Gruppen an die Macht bringen zu können. Dabei müssen sie nicht nur ihre internationalen Partner, die USA und den Westen sowie Russland, balancieren können, wie die Türkei und Ägypten es tun, sondern auch Unterstützung für, oder zumindest Akzeptanz oder Ignoranz gegenüber ihren eigenen völkerrechtswidrigen Aktionen aufrechterhalten können. Zudem werfen andere überregionale Kräfte wie der Iran oder die VAE ihr geopolitisches sowie militärisches Gewicht gegen ihre Gegner Israel bzw. Türkei in den Ring. Die Europäer treten kaum als ordnende Mächte in diesen Konflikten im östlichen Mittelmeer auf, exportieren jedoch Waffen an die beteiligten Akteure. Deutschland und Italien gehören dabei zu den größten Rüstungsexporteuren sowohl nach Ägypten als auch nach Israel und in die Türkei.

Die europäischen Mittelmeer-Anrainerstaaten kooperieren mit ihren südlichen Nachbarn zwar auch, beispielsweise auf energiepolitischer Ebene (vgl. Sülün in dieser Ausgabe, S. 17), richten ihre Kooperation in diesem Bereich jedoch hauptsächlich nach den jeweiligen Prioritäten bei der Migrationsabwehr aus. Die kürzlich verabschiedete Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) wird mit seiner Institutionalisierung der Abschiebung in »sichere« Drittstaaten (statt Herkunftsländer) diese Art der Diplomatie noch stärken.

Anmerkungen

1) Al-Sisi wurde noch unter dem langjährigen Diktator Hosni Mubarak Direktor des Militärgeheimdienstes und wurde dann nach den ersten freien Wahlen nach der Revolution des arabischen Frühlings von der neuen Regierung der Muslimbruderschaft unter Mohamed Mursi, die dem Westen suspekt war, zum Verteidigungsminister ernannt. Er beteiligte sich dann am Putsch gegen Mursi und führt das Land seitdem mit harter Hand. Dies zeigt sich auch daran, dass Ägypten eine der global höchsten Zahlen an politischen Gefangenen aufweist (Jannack und Roll 2021).

2) Die jüngsten sprachlichen Eskalationen werden es nicht besser gemacht haben, vgl. IntelliNews 2024.

3) Unter den freigegebenen Mails von Hillary Clinton findet sich in einer falsch datierten Email ohne Absender mit dem Titel »NEW IRAN AND SYRIA 2.DOC« das hier zitierte Ziel: „Der beste Weg, Israel einen Umgang mit den wachsenden nuklearen Fähigkeiten Irans zu ermöglichen, ist es, den Menschen in Syrien dabei zu helfen, das Regime von Bashar Assad zu stürzen.“ (siehe wikileaks.org/clinton-emails/emailid/18328)

Literatur

Aydıntaşbaş, A.; et al. (2020): Deep sea rivals: Europe, Turkey, and new eastern Mediterranean conflict lines. European Council on Foreign Relations, Mai 2020.

Dalay, G.; Sabanadze, N. (2024): How geopolitical competition in the Black Sea is redefining regional order. Chatham House, Kommentar, 7.3.2024

Flock, P. (2021): Geopolitik vor Klimawandel. IMI-Analyse 2021/31, Juni 2021.

IntelliNews (2024): Israel incensed as Erdogan vows to ‘send Netanyahu to Allah’. IntelliNews, 22.3.2024

International Institute for Strategic Studies (IISS) (2023): Turbulence in the Eastern Mediterranean. Geopolitical, Security and Energy Dynamics. London, November 2023.

Jannack, P.; Roll, S. (2021): Politische Gefangene in Sisis Ägypten. Willkürliche Inhaftierungen als Hindernis für deutsche Stabilisierungsbemühungen. SWP-Aktuell 2021/A 55, 30.08.2021.

Jordans, F. (2022): Germany won’t train Libyan coast guard due to alleged abuse. APNews, 30.3.2022.

Pablo Flock ist Beirat der Informationsstelle Militarisierung e.V. und Teil der Redaktion ihres vierteljährlich erscheinenden Magazins »Ausdruck«.

Defensive Verteidigung

Defensive Verteidigung

Orientierungshilfen aus den 1980ern

von Lukas Mengelkamp

Ideen und Konzepte über defensive Verteidigung aus den 1980er Jahren könnten heute Orientierung bieten, wie insbesondere die territoriale Integrität der ostmitteleuropäischen und baltischen Staaten zu garantieren ist, ohne dabei das bestehende Sicherheitsdilemma mit Russland noch weiter zu verschärfen, die Rolle von Nuklearwaffen aufzuwerten und das Wettrüsten auf Dauer zu stellen. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über den Entstehungskontext, die Genese und Aktualität dieser militärischen Konzepte.

Als in den 1980ern der Streit um die »Nachrüstung« tobte, wurde den Gegner*innen der Stationierung von US-amerikanischen Pershing-II Mittelstreckenraketen und landgestützten Marschflugkörpern häufig vorgehalten, ihre Alternativvorschläge seien illusionär, naiv und utopisch. Unilaterale Abrüstung oder »soziale Verteidigung«, das heißt gewaltfreier Widerstand, würden die Abschreckung untergraben und Westeuropa der Sowjetunion ausliefern. Dem wurde aus den Friedensbewegungen entgegengehalten, dass die Rüstung der NATO ebenso wenig in der Lage sei, den Konflikt mit der Sowjetunion langfristig einzuhegen oder gar zu lösen. Die heutige Debatte scheint entlang ähnlicher Gegensätze zu verlaufen: Aufrüstung gegen Abrüstung. Betrachtet man die Debatten der 1980er Jahre über Alternativen zur NATO-Strategie jedoch genauer, fällt auf, dass diese weitaus differenzierter waren als in Rückblicken häufig dargestellt. So standen sich nicht schlicht »Aufrüster*innen« und »Abrüster*innen« gegenüber. Das Feld der Unterstützer*innen des NATO-Doppelbeschlusses war vielmehr aufgeteilt in jene, die darin tatsächlich eine Erweiterung der Fähigkeiten zur nuklearen Kriegsführung sahen, und jene, deren Anliegen die Sicherung der Abschreckung in Europa war. Auf Seiten der Kritiker*innen des Doppelbeschlusses befanden sich neben Befürworter*innen von allgemeiner Abrüstung auch prinzipielle Unterstützer*innen der Abschreckung, die jedoch die Nachrüstung für unnötig oder gar gefährlich hielten. Hinzu kamen Friedensforscher*innen und Militäranalyst*innen, die sich für militärisch defensive konventionelle Alternativen stark machten.1

Die NATO-Strategie der »Flexible Response«

Im Jahr 1967 löste innerhalb der NATO die Strategie der »Flexible Response« (Flexible Antwort) die noch aus den 1950er Jahren stammende »Massive Retaliation«-Doktrin (Massive Vergeltung) ab, die auch auf rein konventionelle Angriffe des Warschauer Paktes mit einem massiven nuklearen Angriff auf die Sowjetunion geantwortet hätte. Da der Warschauer Pakt in Europa zumindest zahlenmäßig auf der konventionellen Ebene überlegen war und die Sowjetunion im Laufe der 1960er Jahre die Fähigkeit erworben hatte, auch das US-amerikanische Festland mit Interkontinentalraketen anzugreifen, schien die Androhung eines allgemeinen Nuklearschlages im Falle eines Krieges in Europa nicht mehr glaubwürdig. Für die NATO ergab sich daraus ein Dilemma: Während die europäischen NATO-Mitglieder sicherstellen wollten, dass jeder Krieg auf die strategische nukleare Ebene eskalieren würde, so dass keine Partei jemals ein Interesse daran entwickeln könnte, schien es aus US-amerikanischer Sicht geboten, einen Krieg nach Möglichkeit auf Europa zu begrenzen. Dies erforderte zum einen die Stärkung des konventionellen Elements der NATO-Verteidigung und zum anderen flexiblere und auf Europa »begrenzte« nukleare Optionen, wobei hier die Bandbreite von reiner Demonstration des Willens zum Einsatz von Nuklearwaffen bis hin zur vollständigen Integration »taktischer« Nuklearwaffen in die reguläre Kriegsführung reichte. Aus europäischer Sicht war die Unterscheidung zwischen dem globalen und »begrenzten« Nuklearkrieg jedoch Makulatur, würden beide doch zur vollständigen Zerstörung Europas führen.

Die Strategie der Flexible Response war ein politisch-militärischer Kompromiss, welcher diesen amerikanisch-europäischen Gegensatz überbrücken sollte. Die Strategie war offen genug formuliert, so dass beide Seiten ihre jeweiligen Präferenzen in sie hineininterpretieren konnten. Während dieser Kompromiss auf der politischen Ebene bis in die 1980er Jahre relativ gut funktionierte, ergaben sich auf der militärischen Ebene große Probleme bei der Umsetzung, die letztlich auch wieder auf die politische Ebene durchschlagen sollten. Die konkrete Umsetzung der Flexible Response musste allein aufgrund ihres Kompromisscharakters schwerfallen, denn was auf politischer Ebene Spielraum für die unterschiedlichen Interessen beiderseits des Atlantiks erkaufte, erschwerte Planungs- und Anschaffungsprozesse auf militärischer Ebene. So konnte sich die Nukleare Planungsgruppe (NPG) der NATO erst im Oktober 1986 – nach fast 20 Jahren Beratungen – auf Richtlinien für die Planung des Nuklearwaffeneinsatzes im Rahmen der Flexible Response einigen. Bereits Anfang der 1970er Jahre hatte innerhalb der NATO eine Diskussion da­rüber begonnen, ob die Flexible Response eine Modernisierung der so genannten »Theater Nuclear Forces« (TNF), der nuklearen Gefechtsfeldwaffen, erforderlich machen würde. Ein Großteil der ca. 7.000 in Westeuropa stationierten taktischen Nuklearwaffen stammte noch aus den 1950er Jahren und damit aus der Ära der Massiven Vergeltung. Darunter fand sich eine Vielzahl an nuklearer Munition für Artillerie und Kurzstreckenraketen. In der Debatte über die Modernisierung der TNF bildete sich eine widersprüchliche transatlantische Koalition aus Experten*innen heraus, die für die Einführung moderner Mittelstreckenwaffen warben, insbesondere die damals noch in Entwicklung befindlichen Marschflugkörper. Während in der Argumentation von US-Experten wie Albert Wohlstetter Überlegungen über die Begrenzbarkeit und Führbarkeit eines Nuklearkrieges Pate standen, ging es aus westeuropäischer und deutscher Sicht insbesondere darum, jene Waffen zu ersetzen, die aufgrund ihrer kurzen Reichweite nur Ziele auf dem Territorium der Bundesrepublik, der DDR oder der Tschechoslowakei angreifen konnten. Zudem war damit auch die Hoffnung verbunden, dass Mittelstreckenwaffen Europa an das strategische Arsenal der USA »koppeln« würden. Mit ihrer Hilfe konnte man von Europa aus die Sowjetunion bedrohen. Damit war auch automatisch die interkontinentale Dimension der Abschreckung berührt. Mit der Aufstellung der SS-20 Mittelstreckenraketen in der Sowjetunion ab Ende der 1970er Jahre intensivierte sich die Debatte über die TNF-Modernisierung schließlich massiv und kam mit dem NATO-Doppelbeschluss 1979 auch in der breiteren Öffentlichkeit an. Die Widersprüchlichkeit der nuklearen Abschreckung im Allgemeinen und der Flexible Response im Besonderen rückte so ins Scheinwerferlicht. Die Vielzahl an unterschiedlichen politischen Deutungsangeboten zur Flexible Response geriet jetzt von einem politischen Vor- zu einem Nachteil. Zum ersten Mal verlangten Bürger*innen millionenfach Auskunft darüber, wann und wie die NATO denn gedenke, die Nuklearwaffen einzusetzen – also genau den Punkt, über den man sich bis dahin selbst innerhalb der NATO gerade nicht einig war. Angesichts der massiven Kritik an der nuklearen Komponente der geltenden Strategie wuchs allenthalben das Interesse an konventionellen Alternativen.

Die Suche nach konventionellen Alternativen

In historischen Rückblicken auf die 1980er Jahre wird das Thema konventioneller Alternativen häufig auf die »AirLand Battle«-Doktrin der US Army und das NATO-Konzept des »Deep Strike« (Tiefer Schlag) reduziert. Die AirLand Battle-Doktrin war Ausdruck der »Wiederentdeckung« der operativen Ebene in der US Army im Laufe der 1970er Jahre. Erstmals fanden hier NATO-Streitkräftestruktur und -Doktrin zueinander: Die großen und schweren Panzerverbände sollten nicht nur wie bisher im Rahmen der Vorneverteidigung eine grenznahe Linie so lang wie möglich gegen die Streitkräfte des Warschauer Paktes halten, sondern Bewegungskrieg führen. Vorgesehen waren Gegenstöße bis auf das Territorium der DDR und der Tschechoslowakei, um die zahlenmäßig überlegenen gegnerischen Streitkräfte an ihren verletzlichen Flanken und im rückwärtigen Raum bedrohen zu können. Während die erste Welle des Warschauer Paktes so besiegt werden sollte, würden tiefe präzise Schläge mit konventioneller Langstreckenmunition auf die Verkehrsadern in Ostmitteleuropa es der zweiten Welle unmöglich machen, rechtzeitig das Schlachtfeld zu erreichen. Doch die angedachte Konventionalisierung der Verteidigung, die die in der Bevölkerung unbeliebte nukleare Komponente zurückdrängen sollte, stieß auf bereits bekannte Probleme und Widerstände. Gleich stand wieder die Kritik im Raum, die Strategie würde einen Krieg in Europa nicht abschrecken, sondern vielmehr wahrscheinlicher machen, da er wieder als führbar gelten könne. Der angedachte Bewegungskrieg würde die NATO-Mitglieder dazu nötigen, ihre konventionellen Streitkräfte massiv auszubauen. Vielen Beobachter*innen erschien dies aus politischen, wirtschaftlichen und auch demographischen Gründen kaum durchführbar. Nicht zuletzt wurde dem Konzept vorgehalten, dass auch begrenzte Vorstöße auf das Territorium des Warschauer Paktes in Moskau als Beginn einer großangelegten strategischen Gegenoffensive wahrgenommen werden und damit der Einsatz von Nuklearwaffen ausgelöst werden könnte. Darüber hinaus schien es fraglich, ob konventionelle Waffen tatsächlich in der Lage sein würden, die Verkehrsadern in ganz Ostmitteleuropa lahm zu legen. So lange nicht massive Vorräte an präzisen Bomben, Raketen und Marsch­flugkörpern angelegt würden – mit entsprechenden Kosten – würde man zur Blockierung der zweiten Welle im Zweifel doch wieder auf nukleare Mittelstreckensysteme angewiesen sein (Unterseher 1987).

Den Konzepten von AirLand Battle und Deep Strike, die man auch als offensive Varianten der Konventionalisierung bezeichnen könnte, setzten einige Kritiker*innen defensive Alternativen entgegen. Bereits 1970 hatte Carl Friedrich von Weizsäcker die Studie »Kriegsfolgen und Kriegsverhütung« veröffentlicht, die erstmals die katastrophalen Folgen auch eines »begrenzten« Einsatzes von Nuklearwaffen in Europa wissenschaftlich aufarbeitete (Weizsäcker 1971). In Reaktion darauf begann Horst Afheldt, ein Mitarbeiter Weizsäckers am »Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt«, rein konventionelle und defensive Verteidigungsmodelle zu entwickeln (Afheldt 1976).

Diese zielten darauf ab einerseits die sowjetischen Panzerverbände aufzuhalten und gleichzeitig keine lukrativen Ziele für taktische Nuklearwaffen zu bieten. Konkret schlug Afheldt dazu den Aufbau eines Netzwerks aus »Technokommandos« vor, kleinen Infanterieeinheiten, die mit modernen Panzerabwehrwaffen ausgestattet, aus vorbereiteten versteckten Stellungen sowjetische Verbände angreifen sollten. Außerdem sollten diese Infanterieeinheiten zusätzlich durch Artillerie unterstützt werden. In den 1980er Jahren nahm die »Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik« (SAS), die maßgeblich vom Soziologen Lutz Unterseher geleitet und inhaltlich geprägt wurde, die Netzwerkidee auf. Sie reagierte aber auch auf die bestehende Kritik an Afheldts Konzept, dem man vorhielt, »monokulturell« und durch den kombinierten Einsatz von Infanterie, Panzern und Luftstreitkräften überwindbar zu sein. In Untersehers Vorstellung sollte das »Netz« aus Infanterie und Artillerie durch vergleichsweise kleine mobile gepanzerte Kräfte ergänzt werden. Sie sollten an den Orten unterstützend eingreifen, wo das Netz allein einen Angreifer nicht hätte aufhalten können. Entscheidend war jedoch, dass die mobilen Kräfte über keinen großen eigenen logistischen Apparat verfügen würden und stattdessen zur Versorgung auf das Netz angewiesen blieben. Die mobilen Kräfte sollten wie eine „Spinne in ihrem Netz“ agieren können, außerhalb davon aber nicht in der Lage sein zu manövrieren (Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik 1989, S. 153ff.). Insgesamt würde das Konzept, so die Hoffnung, ein unilaterales »Ausklinken« aus dem Wettrüsten ermöglichen, ohne dabei Abstriche an der eigenen Sicherheit machen zu müssen. Unterseher führte dazu den Begriff »Vertrauensbildende Verteidigung« ein: Einerseits Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zur Verteidigung ohne Nuklearwaffen, da diese zerstören würden, was man hoffte zu verteidigen. Andererseits die Herstellung von Zuversicht auf der Gegenseite, dass keine Absicht bestand, selbst offensive Operationen durchzuführen, da man dazu auch kaum in der Lage war (Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik 1989).

»Differenzierende Abschreckung« oder defensive Verteidigung?

Das Dilemma der Flexible Response, ein politischer Kompromiss zu sein, der sich militärisch nicht umsetzen ließ, führte bereits unter Zeitgenossen dazu, sie als Mythos zu bezeichnen. Da dies im allgemeinen politischen Bewusstsein in Westeuropa und insbesondere in der Bundesrepublik immer offensichtlicher wurde, begann sich Interesse an defensiven Alternativen bis in die Bundesregierung und Bundeswehr zu bilden.

Die Unterzeichnung des INF-Vertrages 1987 ließ die westeuropäischen Regierungen zum Teil ratlos und verärgert zurück: Die »Nachrüstung«, für die sie jahrelang gegen massiven Widerstand in den eigenen Bevölkerungen gekämpft hatten, wurde rückgängig gemacht, ohne dass das konventionelle Ungleichgewicht in Europa adressiert worden wäre. Gleichzeitig ließ die Debatte in den USA über die Militärstrategie der Zukunft auch in etablierten sicherheitspolitischen Kreisen immer stärkere Zweifel an der Flexible Response aufkommen. Im Januar 1988 wurde ein von der US-Regierung in Auftrag gegebener Expert*innenbericht veröffentlicht, der unter dem Titel »Discriminate Deterrence« (Differenzierende Abschreckung) für eine Konventionalisierung der NATO-Strategie eintrat (Iklé und Wohlstetter 1988). Die Nuklearwaffen in Westeuropa sollten weitestgehend abgezogen werden, die verbleibenden modernisiert und wie »normale« Waffen in die Verteidigungsplanung integriert werden. Der Bericht rief in ganz Westeuropa und über das gesamte politische Spektrum hinweg Ablehnung und sogar Empörung hervor. Argumente, die vor kurzem eher aus den Friedensbewegungen zu hören gewesen waren, wurden nun auch von Befürworter*innen der »Nachrüstung« aufgegriffen. Der Verteidigungsexperte der FAZ, Karl Feldmeyer, interpretierte den Bericht als eine Absage an die Flexible Response. An die Stelle der Abschreckungs- würde eine Kriegsführungsstrategie treten. Der erzkonservative Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Alfred Dregger, geißelte den Bericht bei einem Besuch in Washington als Versuch, einen Krieg auf Europa zu begrenzen und die USA von Westeuropa sicherheitspolitisch abzukoppeln. Gleicher Ansicht waren auch Verteidigungsminister Manfred Wörner und sein Staatssekretär Lothar Rühl, die beide öffentlich Stellung gegen den Bericht bezogen (vgl. zu den Stellungnahmen: Armes 1988, S. 252ff.). Auch wenn sich die neue US-Regierung unter George H. W. Bush angesichts der massiven Kritik aus Westeuropa von dem Bericht distanzierte, legte die Kontroverse doch offen, wie wenig die Strategie der Flexible Response noch in der Lage war, die unterschiedlichen Interessen, Verteidigungskonzeptionen und Wahrnehmungen der internationalen Lage im Bündnis zu integrieren.

Der Rezeptionsprozess der defensiven Alternativen begann sich nun auch in der Sache auf beiden Seiten des Atlantiks zu intensivieren. Die Weißbücher des Verteidigungsministeriums von 1983 und 1985 wie auch der Verteidigungsausschuss des Bundestags hatten diese lediglich zur Kenntnis genommen und auch dies war wohl eher dem öffentlichen Druck als genuinem Interesse geschuldet. Am Ende des Jahrzehnts setzte sich in der Bundesrepublik mit General a.D. Gerd Schmückle aber ein Schwergewicht des sicherheitspolitischen Establishments öffentlich für defensive Alternativen ein. Zusammen mit Albrecht von Müller, einem Mitarbeiter Horst Afheldts, legte Schmückle im Mai 1988 der Bundesregierung ein Abrüstungsprogramm vor, das die defensive Restrukturierung der Streitkräfte in Ost und West forderte. Im Januar 1989 veranstaltete das der US-amerikanischen Friedensbewegung nahestehende »Institute for Defense and Disarmament Studies« (IDDS) zusammen mit der Pentagon-nahen RAND Corporation einen Workshop zur defensiven Neustrukturierung der NATO-Verteidigung in Europa, auf dem Lutz Unterseher die Ideen der »Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik« vorstellte. Mit RAND war die Debatte über defensive Alternativen nun selbst im intellektuellen Geburtsort der Nuklearstrategie angekommen. Durch den Mauerfall 1989 und den anschließenden Zerfall der Sowjetunion entfiel jedoch das nukleare Dilemma der NATO. Dadurch endete auch die breite Debatte über verteidigungspolitische Alternativen, die in den frühen 1980er Jahren maßgeblich unter dem Druck der Friedensbewegungen begonnen hatte.

Defensive Verteidigung – ein Modell mit Zukunft?

Die heutige Debatte über die zukünftige Verteidigungspolitik in der Bundesrepublik erscheint oft als prinzipieller Gegensatz zwischen jenen, die für das Sondervermögen und eine dauerhafte Erhöhung des Wehretats eintreten, und jenen, die darin lediglich eine Verschwendung von Kapital sehen, welches besser für die Bekämpfung des Klimawandels und den Erhalt des Sozialstaats eingesetzt werden sollte (siehe bspw. »Der Appell« von 2022). Relativ selten wird allerdings die Frage nach dem »wie« der Verteidigung gestellt und wenn, bleibt es häufig bei einer im Allgemeinen verharrenden Gegenüberstellung von Abschreckung und Diplomatie. So heißt es bspw. in dem Aufruf »Der Appell« vom März 2022: „Die Anschaffung von konventionellen Waffen wie Kampfflugzeugen und bewaffnungsfähigen Drohnen als Abschreckung unter atomaren Militärblöcken ist sinnlos.“ (Dieren u.a. 2022) Vor dem Hintergrund der dargestellten Debatten über die Nuklearstrategie der NATO im Ost-West-Konflikt könnte man diesen Satz durchaus als ein Eintreten für eine Strategie der Massiven Vergeltung lesen. Mindestens aber scheint hier ein dichotomes Denken auf, das nur die Alternativen von nuklearer Abschreckung, mit ihren bekannten Paradoxien und Gefahren, und allgemeiner Abrüstung kennt. Umgekehrt haben Befürworter*innen des Sondervermögens und eines langfristig gesteigerten Verteidigungshaushalts bisher selbst keine konkreten Konzepte vorgelegt, wie sie sich die zukünftige Verteidigung etwa des Baltikums vorstellen.

Die zukünftige Verteidigung muss zwei Anforderungen gerecht werden: Sie muss Krisenstabilität gewährleisten, also nicht zur (unbeabsichtigten) Eskalation beitragen und gleichzeitig glaubwürdig in der Lage sein, einen gezielten Angriff, vergleichbar dem auf die Ukraine, abwehren zu können. Für die erste Anforderung stellt sich jedoch unter anderem im Baltikum ein Dilemma: Der begrenzte Raum, die geografische Lage und die Siedlungsdichte schließen eine Rückkehr zu überkommenen, panzerlastigen Konzepten konventioneller Verteidigung aus. Diese würden zu hohen Truppenkonzentrationen auf engem Raum führen, die sich als Ziele für taktische Nuklearwaffen geradezu anbieten. Schweren Verbänden bliebe, um den Raum zu gewinnen, der nötig ist, um ihre militärischen Stärken auszuspielen, nur der Ausbruch in Richtung Belarus und Russland selbst. Auch muss dahingestellt bleiben, ob »tiefe Schläge« im Sinne von »Deep Strike«-Konzepten, selbst wenn sie nur konventionell durchgeführt würden, nicht auch Kommando- und Kontroll-Einrichtungen der russländischen Nuklearstreitkräfte beeinträchtigen würden. Eine Eskalation auf die nukleare Ebene wäre nicht auszuschließen. Im Falle einer direkten Konfrontation zwischen NATO und Russland würde damit auf beiden Seiten massiver Druck herrschen, als erster anzugreifen (Präemption), um einem tatsächlichen oder nur vermuteten Angriff des Gegners zuvorzukommen.

Defensive Verteidigungskonzepte nach dem Prinzip der »Spinne im Netz« könnten hier einen Ausweg weisen. Durch die Netzstruktur würden lohnende Ziele für Nuklearwaffen vermieden werden. Mobile gepanzerte Elemente könnten auf Größen begrenzt bleiben, die den geographischen Bedingungen im Baltikum Rechnung tragen. Ebenso würde die Notwendigkeit für präemptive tiefe Schläge ins Hinterland entfallen. Die Anforderung der Krisenstabilität würde also erfüllt werden. Gleichzeitig aber bliebe die zweite zentrale Anforderung durch eine Spezialisierung auf defensive Kräfte erfüllt: Die erfolgreiche Abwehr eines gezielten Angriffs. Unter diesen Bedingungen könnte ein solches Konzept dann langfristig auch Rüstungskontrolle ermöglichen.

Anmerkung

1) Ebenso existente nicht-militärische Verteidigungskonzepte sollen mit diesem Beitrag nicht absichtlich übersehen werden. Der Schwerpunkt liegt mithin aufgrund der gebotenen Kürze des Beitrags auf der Erörterung militärischer Konzepte. Eine Darstellung der »Sozialen Verteidigung« u.a. Konzepte muss an anderer Stelle erfolgen.

Literatur

Afheldt, H. (1976): Verteidigung und Frieden – Politik mit militärischen Mitteln. München: Hanser.

Armes, K. (1988): Discriminate deterrence: Western European comment. The Atlantic Community Quarterly, 26(3), S. 247-269.

Dieren, J. u.a. (2022): Der Appell – HET BONHE – Nein zum Krieg! – Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz! Veröffentlicht als Homepage, März 2022.

Iklé, F.; Wohlstetter, A. (1988): Discriminate deterrence. Report of the commission on integrated long-term strategy. Washington, DC.: Department of Defense.

Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik (Hrsg.) (1989): Vertrauensbildende Verteidigung – Reform deutscher Sicherheitspolitik. Gerlingen: Bleicher Verlag.

Unterseher, L. (1987): Bewegung, Bewegung! Zur Kritik eingefahrener Vorstellungen vom Krieg. Sicherheit und Frieden 5(2), S. 90-97.

Weizsäcker, C. F. v. (Hrsg.) (1971): Kriegsfolgen und Kriegsverhütung. München: Hanser.

Lukas Mengelkamp, M.A., wohnhaft in Darmstadt, ist Historiker und promoviert an der Universität Marburg über die Geschichte der Kritik nuklearer Abschreckung in den 1970er und 1980er Jahren.

Die Eskalationsspirale durchbrechen

Die Eskalationsspirale durchbrechen

Impulse für eine neue Friedensordnung

von Martina Fischer

Mit der Forderung nach Intensivierung der Diplomatie durchzudringen ist angesichts der dramatischen Bilder und des Kriegsverlaufs in der Ukraine nicht leicht – dennoch bleibt letztlich keine andere Wahl. Es geht darum, Menschenleben zu retten, die Ukraine als souveränen Staat zu erhalten und eine Ausweitung des Kriegs zu verhindern. Doch wie können die mit dem Krieg verbundenen Konflikte transformiert werden, und welche historischen Entwicklungen gilt es dabei zu berücksichtigen? Kann angesichts erneuter Blockkonfrontation in Europa überhaupt noch eine neue Sicherheits- und Friedensordnung entstehen? Welche Rolle können die EU und ihre Mitgliedstaaten dabei spielen?

Der Angriffskrieg der russischen Regierung auf die Ukraine stellt einen massiven Völkerrechtsbruch und Zerstörungsakt gegen die multilaterale Ordnung dar, und er verhöhnt das humanitäre Völkerrecht, das zum größtmöglichen Schutz der Zivilbevölkerung verpflichtet. Die Gräueltaten, die diese Kämpfe begleiten, sollten von unabhängigen Gerichten untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Entscheidungen von internationalen Organisationen und Einzelstaaten für Sanktionen in den Bereichen Finanzen, Technologietransfer und – soweit möglich – auch im Bereich der Energie sind als weltweites Signal und aus Gründen der Solidarität mit der Ukraine unbedingt erforderlich. Allerdings werden sie vermutlich erst längerfristig Wirkung entfalten.

Auch wenn die Bilder von Tod, Leid und Zerstörung in der Ukraine es sehr schwer machen, so müssen alle diplomatischen Kanäle genutzt werden. Es geht darum Menschenleben zu retten, die Ukraine als souveränen Staat zu erhalten und eine Ausweitung des Kriegs zu verhindern. Dafür muss auch der alles überwölbende Konflikt zwischen der NATO und Russland deeskaliert werden, denn letztlich will der Kreml mit diesem Krieg gegenüber der NATO seine Macht demonstrieren und die »westliche Vorherrschaft« brechen. Die Hoffnung auf eine neue Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa sollte man nicht aufgeben, auch wenn sie sich wohl allenfalls langfristig realisieren lassen wird. Eine Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, die Vergangenheit kritisch zu reflektieren und nach neuen Wegen für Rüstungskontrolle zu suchen.

Gefährliche Dynamik einhegen

Eine Politik der Stärke, wie sie durch internationale Institutionen, die EU-Mitgliedsländer und weitere Staaten mithilfe von Sanktionen beschlossen wurde, ist wichtig, um auf die russische Regierung Druck auszuüben. Die EU hat sich in unerwartet rascher Einmütigkeit zu mehreren Sanktionspaketen entschlossen. Allerdings weisen erfahrene Friedensforscher wie Tobias Debiel und Herbert Wulf (2022) auf die Ambivalenz und auch auf das eskalierende Potenzial von Sanktionen hin: Sie müssten Russland hart treffen, aber nicht vernichten. Tatsächlich muss man bei der Festlegung von Sanktionen die Wirkung für alle Seiten sorgfältig kalkulieren. Diese Herausforderung und die Betrachtung friedenspolitischer Minimalvoraussetzungen für Sanktionen (vgl. Werthes und Hussak 2022) sind wesentlich für den Erfolg von Sanktionsregimen. Die Einmütigkeit der Staaten der EU aus den ersten Kriegstagen ist allerdings mittlerweile einem eher gemischten Bild gewichen.

Weniger schwer taten sich die Mitgliedstaaten dagegen beim Thema Waffenlieferungen: Über die 2021 geschaffene und von vielen NGOs nicht nur wegen des irreführenden Namens kritisierte sogenannte »Europäische Friedensfazilität« (vgl. Fischer 2021), mit der neuerdings auch Waffen und Munition aus europäischer Produktion im Rahmen von Militärhilfe an Drittstaaten übergeben werden dürfen, wurden in den vergangenen Monaten große Mengen von Kriegsmaterial in die Ukraine geliefert.

Das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine steht angesichts eines Angriffskriegs außer Frage. Aber auch bei der militärischen Unterstützung sei Vorsicht geboten, so argumentieren die Friedensforscher Debiel und Wulf: Wenn sie über die Lieferung von Defensivwaffen hinausgehe, sei das „ein Spiel mit dem Feuer“ und ein Schritt auf die nächste Stufe der Eskalationsleiter. „Dies gilt insbesondere für die zeitweise diskutierte Entsendung polnischer MIG 29-Kampfflugzeuge. Allein deren logistische Verbringung in die Ukraine würde gefährlich die Schwelle zu einer unmittelbaren NATO-Kriegsbeteiligung streifen“ (Ebd. 2022). Die Eskalation in einen dritten Weltkrieg aber gilt es unbedingt zu verhindern.

Um sie zu verhindern, braucht es intensive diplomatische Bemühungen auf unterschiedlichen Ebenen. Aktuell müssten alle beteiligten Parteien mehr miteinander reden denn je, denn Fehlleistungen, die schon in Friedenszeiten zum militärischen Alltag gehören (z.B. Luftraumverletzungen), können in einer hocheskalierten Situation zum Desaster führen. Der Konfliktforscher Friedrich Glasl (2022a) hat überzeugend illustriert, wohin es führt, wenn nicht mehr gesprochen wird und sich die Energie nur mehr auf die Vernichtung des gegnerischen Systems richtet: gemeinsam in den Abgrund. Um im Gespräch zu bleiben, so Glasl, sind Dämonisierung und Polemik der falsche Weg.

Hin zum Waffenstillstand?

Die amerikanischen Politikwissenschaftler Thomas Graham (Council on Foreign Relations, New York) und Rajan Menon (City University of New York) haben in einem Aufsatz in »Foreign Affairs« (2022) bedenkenswerte Vorschläge unterbreitet. Sie gehen davon aus, dass sich der Krieg Jahre oder Jahrzehnte hinziehen und enorme Opfer und ökonomische Schäden mit sich bringen wird, womit sich die Gefahr erhöht, dass er sich ausweitet und dass die NATO-Staaten hineingezogen werden. Mit den Bildern weiterer Gräueltaten verstärke sich das Risiko, dass mit Maßnahmen reagiert werde, die weitere Eskalationsgefahren mit sich bringen – mittlerweile haben die bekannten Massaker in der Ukraine genau dies geschaffen: sich schließende Fenster für Gesprächsbereitschaft und weitere Eskalation.

Graham und Menon fordern, das Leiden durch diplomatisches Engagement und eine politische Übereinkunft zu beenden. Ein Waffenstillstand würde eine humanitäre Versorgung von Verwundeten und Geflüchteten innerhalb und jenseits der Ukraine ermöglichen und die Voraussetzungen für die Anbahnung von Verhandlungen verbessern. Die Ukraine und ihre Unterstützer*innen müssten überlegen, welche Kompromisse sie mittragen könnten. Aus ukrainischer Sicht wären Sicherheitsgarantien westlicher Länder für eine Neutralitätslösung zwingend, und diese müssten von Russland akzeptiert werden, das sich auch an den Kosten für den Wiederaufbau beteiligen müsste. Die westlichen Staaten wiederum müssten klären, unter welchen Bedingungen sie die Sanktionen gegenüber Russland wieder lockern könnten, um einen Anreiz für Kooperation zu schaffen.

Es sei das Recht der Ukraine, die Bedingungen für einen Waffenstillstand zu definieren, so Graham und Menon. Aber Verhandlungen könnten sich nicht auf die Ukraine und Russland beschränken, denn neben der geopolitischen Orientierung der Ukraine müsse man auch Moskaus Bedenken bezüglich der europäischen Sicherheitsarchitektur adressieren. Dazu werde der Kreml mit den Vereinigten Staaten verhandeln wollen, die als einziges Land – neben Russland – über das militärische Potenzial verfügen, die Machtbalance auf dem Kontinent zu beeinflussen. Die USA müssten folglich als Garant für ein Friedensabkommen fungieren. Die NATO-Osterweiterung stehe im Zentrum einer solchen Debatte. Bislang, so Graham und Menon, hätten die USA und ihre Alliierten jegliche Diskussion dazu kategorisch abgelehnt. Da der Kreml seinen Widerstand gegen den Beitritt der Ukraine nicht fallen lassen werde, müsse man ausloten, ob er die militärische Kooperation einer neutralen Ukraine mit westlichen Ländern akzeptieren würde, die eine Selbstverteidigung ermögliche, wenn ausgeschlossen wird, dass NATO-Kampftruppen, -Waffen oder -Stützpunkte in die Ukraine verlagert werden. Im Gegenzug müsste Russland auf die Stationierung militärischer Arsenale im Grenzgebiet verzichten.

Alle diplomatischen Foren und Kanäle nutzen

Die ukrainische Regierung hat im März die Möglichkeit einer Neutralität mit Sicherheitsgarantien und einen Sonderstatus der Gebiete in der Ostukraine als mögliches Verhandlungsthema in den Raum gestellt. Der russische Präsident deutete an, der Krieg könne enden, wenn die Ukraine auf den Donbass, die Krim und einen NATO-Beitritt verzichte. Allerdings wurden diese Optionen offenbar bislang nicht ernsthaft verhandelt. Ob der Kreml derzeit überhaupt an Verhandlungen interessiert ist, ist schwer zu beurteilen. Aktuell scheint er Feuerpausen eher für die Umgruppierung von Truppen zu nutzen. Das könnte sich aber ändern, wenn irgendwann die Kosten und Verluste auf der eigenen Seite und der Preis weiterer Kriegsführung (z.B. die Folgen von Sanktionen) als zu hoch eingeschätzt werden.

Für diesen Moment sollten alle direkt und indirekt beteiligten Konfliktparteien vorbereitet und daher für diplomatische Optionen offenbleiben. Dann könnte eine Vermittlung durch dritte Parteien ins Spiel kommen, die mit den Beteiligten nach einem gesichtswahrenden Ausstieg suchen. So könnte etwa ein Team von mediationserfahrenen Diplomat*innen unter Leitung einer*s UN-Sonderbeauftragten mit Russland, der Ukraine und der NATO nach Kompromissen suchen. Vermittler*innen sollten aus Staaten kommen, die nicht direkt in den Konflikt eingebunden und für alle Seiten akzeptabel sind. Irland, in Gestalt seiner ehemaligen Präsidentin und UN-Menschenrechtsbeauftragten Mary Robinson könnte dafür beispielsweise in Frage kommen, zusammen mit der OSZE-Generalsekretärin Helga Schmid, einer erfahrenen Diplomatin, die das Atomabkommen mit dem Iran maßgeblich mitverhandelt hat. Die Potenziale der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sollten dafür unbedingt genutzt werden. Ihre diplomatischen und sicherheitspolitischen Instrumente, wie Dialog- und Mediationsformate sowie Beobachtungsmaßnahmen, kamen im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine bereits zum Einsatz, wurden jedoch nie ausreichend unterstützt. Um das zu verstehen, ist ein historischer Rückblick nützlich.

Verpasste Chancen 1990-2022

Für den Historiker Bernd Greiner (2022) wurden nach der Auflösung der Sowjetunion viele Chancen verpasst, Frieden und Sicherheit in Europa zu stärken. Die 1990er-Jahre bezeichnet er gar als ein „sicherheitspolitisch vergeudetes Jahrzehnt“ (Ebd.). Statt auf die OSZE zu setzen und eine Sicherheitsarchitektur gemeinsam mit Russland zu entwerfen, setzten einflussreiche Berater*innen und Regierungen insbesondere in den USA auf die Erweiterung des westlichen Militärbündnisses – ohne Not und in einer Zeit, in der Russland keinerlei Bedrohung für die NATO darstellte. Der UN-Experte Andreas Zumach (2022) sprach in diesem Zusammenhang von der „Hybris“ der westlichen Mächte. Eine Reihe von erfahrenen Diplomat*innen und Politiker*innen hatten vor solchen Schritten gewarnt. Sie befürchteten, dass diese Expansionspolitik all jenen Auftrieb geben könnte, die die Auflösung des sowjetischen Großreichs schwer verwinden konnten und sich weiterhin an imperialen, großrussischen Ideen orientierten, so Zumach. Mit der Besorgnis lagen sie offenbar nicht ganz falsch. Nicht nur im Kreml, sondern auch in nicht unerheblichen Teilen der russischen Gesellschaft stieß die NATO-Osterweiterung auf Ablehnung.

Fehler Nr. 1: Militärische Bündnispolitik statt »kooperativer Sicherheit«

Zwar wurde in der NATO-Russland-Grundakte die Integration der osteuropäischen Staaten in den 1990er Jahren noch gemeinsam verhandelt. Gleichwohl berief sich die russische Regierung in den vergangenen Jahren zunehmend auf eine Ankündigung der Regierung Kohl/Genscher und von US-Außenminister James Baker von 1990, auf eine NATO-Osterweiterung zu verzichten. Als die Ukraine und Georgien neben der EU-Mitgliedschaft auch die Aufnahme in die NATO begehrten, reagierten die deutsche und die französische Regierung daher entsprechend zurückhaltend. Jedoch signalisierte die NATO auf dem Gipfel in Bukarest 2008 auf Drängen der USA, dass die Tür für eine Mitgliedschaft beiden Ländern offenstehe, wobei der Zeitrahmen offengelassen wurde. Eine »Warnrede«, die Putin 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz zu diesem Thema gehalten hatte, wurde ignoriert. Die in Bukarest gefundene Formel wertete der Kreml als „NATO-Mitgliedschaftsperspektive und eine nicht hinnehmbare Bedrohung der von Russland traditionell geforderten Einflusssphäre“, so berichtete der vormalige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger (2021). Bei einer Pressekonferenz am 14.2.2022 bezeichnete er diesen Schritt als gravierende Fehlentscheidung des Bündnisses (Ischinger 2022).

2014 bekräftigte der NATO-Generalsekretär erneut die Offenheit für den ukrainischen Beitritt. Putin reagierte mit einer Destabilisierung der beitrittswilligen Länder, indem er die Konflikte in Georgien eskalierte, pro-russische Separatisten im Donbass unterstützte und schließlich die Krim annektierte. Im selben Jahr verlieh die US-amerikanische Regierung der Ukraine den Status eines »major-non-­NATO-ally«, was umfangreiche militärische und wirtschaftliche Unterstützung ermöglichte, und stattete sie fortan umfassend mit Waffen aus. Am 1.9. und 20.11.2021 vereinbarten die US-amerikanische und die ukrainische Regierung schließlich eine »strategische Partnerschaft« beider Länder, mit der die USA zusicherten, die vollständige Integration der Ukraine in die europäischen und euro-atlantischen Institutionen zu unterstützen, sowie die Souveränität und territoriale Integrität des Landes zu sichern (US Department of State 2021).

Auch auf wirtschaftlicher Ebene gab es massive Zerwürfnisse: Während Russland in den 2010er-Jahren in Europa eine Eurasische Wirtschaftsunion unter Einschluss der Ukraine anstrebte, betonten westliche Regierungen die Selbstbestimmung des Landes und seine Einbindung in den Westen. Das Assoziierungsabkommen, das die EU 2014 mit der Ukraine, Moldau und Georgien unterzeichnete, war Teil des Wettlaufs konkurrierender und einander ausschließender Integrationskonzepte. Insofern ist die EU aus der Sicht des Kreml Teil des Problems und nicht der Lösung – sie konnte daher auch nicht wirklich eine Mediationsfunktion in der aktuellen Situation übernehmen. In der gegenwärtigen Situation scheint das auch nicht gewünscht zu sein.

Zur Verschlechterung der Beziehungen trugen weitere Faktoren bei, etwa Völkerrechtsverletzungen der NATO-Mitgliedstaaten im Krieg um Kosovo, im Irak-Krieg und durch Überschreitung des UN-Mandats in Libyen (siehe Zumach in W&F 2/2022).

Fehler Nr. 2: Erosion der Rüstungskontrolle

Dazu kamen die Auflösung aller vertrauensbildenden Foren und der Abbruch von Rüstungskontrollvereinbarungen, die in der Endphase des Kalten Kriegs errungen worden waren, auf Initiative von US-Regierungen. Wolfgang Richter (2016) verweist in einem Hintergrundaufsatz auf den hoffnungsvollen Start, der 1990 mit der Charta von Paris und 1992 mit der Unterzeichnung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) mit acht Nachfolgestaaten der Sowjetunion einschließlich Russlands gegeben war. Dieser sah ein militärisches Blockgleichgewicht auf niedrigem Niveau und geographische Stationierungsbegrenzungen vor.

Mit der Entscheidung über den Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns zur NATO im Jahr 1997, mit dem der Kreml die Pariser Vereinbarung gefährdet sah, verband man immerhin noch das Versprechen, keine substanziellen Kampfgruppen dauerhaft in den Beitrittsländern zu stationieren, die OSZE zu stärken und die Sicherheitskooperation mit Russland auf der Grundlage der NATO-Russland-Grundakte zu intensivieren. Weiterhin galt das in der Europäischen Sicherheitscharta verankerte Prinzip der freien Bündniswahl, jedoch verknüpft mit der Klausel, dass kein Staat oder Bündnis die eigene Sicherheit zu Lasten von Partnern stärken oder privilegierte Einflusssphären schaffen dürfe. So sollte – auf der Basis der KSE-Grundakte – ein „zentraleuropäischer Stabilitätsraum von Deutschland bis zur Ukraine mit besonderen Rüstungskontrollverpflichtungen geschaffen und der Abzug russischer Stationierungstruppen aus Georgien und Moldau mithilfe der OSZE und durch bilaterale Vereinbarungen geregelt werden. Dass diese politische Meisterleistung in den Folgejahren nicht umgesetzt wurde, ist die tiefere Ursache der gegenwärtigen europäischen Sicherheitskrise“, so Wolfgang Richter schon vor einigen Jahren.

Der Grund dafür lag im Kurswechsel, den die USA unter der Bush-Administration vollzogen. Vorschläge aus dem Kreml, die OSZE durch eine verbindliche Charta zu stärken oder einen neuen Sicherheitsvertrag zu schließen, wiesen die USA mit Unterstützung von Verbündeten zurück. Man forcierte stattdessen die Erweiterung der NATO um das Baltikum, Rumänien und Bulgarien bis ans Schwarze Meer. Die USA stationierten Kampfgruppen im südöstlichen Flankengebiet und strategische Raketenstellungen in Polen und Tschechien. 2001 kündigte Präsident George W. Bush den ABM-Vertrag zum Verbot antiballistischer Raketenabwehr. Danach kündigte die US-Regierung den Aufbau einer strategischen Raketenabwehr in Europa an, und schließlich suspendierte sie auch noch die Ratifizierung der Anpassungsvereinbarung des KSE-Vertrags. Vor diesem Hintergrund bildeten die Pläne zu weiterer Bündnisausdehnung aus Sicht des Kreml eine Provokation, meint Wolfgang Richter in seinem Aufsatz. Auch unter Präsident Obama habe die Rüstungskontrolle keinen Neuanfang erlebt. Die NATO-Strategie von Lissabon habe 2010 unverändert die Bündniserweiterung als bestes Mittel für die Stabilität Europas beschrieben, ohne die OSZE auch nur zu erwähnen. Auch der NATO-Russland-Rat habe versagt, denn „anders als vereinbart, trat die Allianz in wichtigen europäischen Sicherheitsfragen wie der Rüstungskontrolle und der Raketenabwehr mit geschlossenen Blockpositionen gegen Russland auf. In der Krise suspendierte die NATO den Dialog, statt ihn zu suchen“ (Ebd.).

»Kooperative Sicherheit« wird weiterhin benötigt

Die genannten Versäumnisse und Fehlentscheidungen rechtfertigen keinesfalls die Reaktionen der russischen Regierung, weder die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, noch die Förderung des Kriegs in der Ostukraine, der schon von 2014 bis Ende 2021 mehr als 14.000 Todesopfer forderte (Swissinfo 2022). Sie rechtfertigen schon gar nicht einen Angriffskrieg, wie ihn die Ukraine nun erleiden muss. Für diese militärische Eskalation, für die toten und versehrten Menschen und Seelen trägt ausschließlich der Kreml Verantwortung. Aber die Erosion der Rüstungskontrolle und dass Russland wiederholt von westlicher Seite in wichtigen Entscheidungen und Verhandlungsforen an den Rand gedrängt wurde, sind wichtige Wegmarken in der Geschichte eines Konflikts, der sich seit vielen Jahren entwickelt und immer weiter zugespitzt hat (vgl. Fischer 2022). Das Verhalten der NATO-Mitgliedstaaten hat zur Verschlechterung der Beziehungen beigetragen und den großrussischen Kräften, die jetzt den Kurs bestimmen, entscheidende Argumente für die Legitimation der Aggression geliefert.

Wer den Krieg und Putins Rhetorik nun für umfassende Schuldzuweisungen an die Architekt*innen der Entspannungspolitik des 20. Jahrhunderts nutzt, macht es sich zu einfach. Das Konzept der »kooperativen Sicherheit«, die Verständigung zwischen den Staaten der NATO und des Warschauer Vertrags und die schon erwähnten Rüstungskontrollvereinbarungen haben entscheidend zur Auflösung der Blockkonfrontation beigetragen und ermöglicht, dass in Europa mehr Menschen als je zuvor in relativer Sicherheit und demokratischen Verhältnissen leben konnten. Man hätte diese Ansätze nicht leichtfertig über Bord werfen und auf die Dominanz der militärischen Logik setzen dürfen (vgl. auch Greiner 2022).

Man sollte die Hoffnung auf eine langfristige europäische Sicherheits- und Friedensarchitektur nicht einfach aufgeben. Wenngleich eine mehrjährige Konferenz, die sich um die Schaffung einer neuen Sicherheitsordnung in Europa bemüht, wie sie noch 2021 von ehemaligen Bundeswehroffizieren, Diplomaten und Friedensforscher*innen gefordert wurde (Varwick et al 2021), kurzfristig nicht umsetzbar erscheint, ist sie nicht völlig obsolet. Eine Neuauflage des »Helsinki-Prozesses« wäre wichtig, meint auch Herbert Wulf (2022): ein politisches Projekt, in dem atomare Abschreckung eingehegt wird, mit dem Ziel, wieder zu einer vorhersagbaren Politik zurückzukehren und den Weg für Rüstungskontrollverhandlungen über grenznahe Waffensysteme zu ebnen. Voraussetzung dafür sei die Respektierung völkerrechtlicher Prinzipien, die in den vergangenen Jahren nicht nur von Russland, sondern auch von westlichen Akteuren verletzt wurden.

Was es braucht

Wir brauchen eine europäische Sicherheitsarchitektur, die von allen Seiten mitgetragen wird, die garantiert, dass Grenzen geachtet werden und dass sich Sicherheit nicht nur an militärischer Logik, sondern an den Bedürfnissen der Menschen – also am UN-Konzept der »menschlichen Sicherheit« orientiert. Auch die EU kann dazu beitragen, indem sie die UNO und OSZE als Systeme kollektiver und kooperativer Sicherheit in Zukunft noch viel umfassender als bisher unterstützt, anstatt sich auf den Ausbau eigener Militärpotenziale und die Stärkung der NATO zu konzentrieren. Eine solche Struktur sollte weder von Russland diktiert, noch von den Vereinigten Staaten dominiert werden, sondern eine neue, europäische Ausrichtung haben. Die Grundlage dafür bietet die OSZE, nicht der Ausbau von Militärbündnissen, die sich waffenstarrend gegenüberstehen. Dialogforen, die Vertrauensbildung und Rüstungsbegrenzung ermöglichen, müssen wiederbelebt und reformiert werden. Gleichzeitig ist zu hoffen, dass sich im Kreml irgendwann wieder Berater*innen Gehör verschaffen, die die Vorteile kooperativer Sicherheitsstrukturen zu schätzen wissen.

Man sollte alles daransetzen, die in der OSZE existierenden Instrumente für Rüstungskontrolle weiterzuentwickeln. Ziel ist eine überprüfbare Konvention über das Verbot unkonventioneller und irregulärer Kriege (Verzicht auf die Unterstützung von bewaffneten Akteuren in Drittstaaten durch Waffen, mediale Einflussnahme und Cyberattacken – bislang ist all das sowohl in der russischen als auch in der US-amerikanischen Militärdoktrin verankert). Zudem sollte man die USA und Russland dafür gewinnen, dem kürzlich (von der Trump-Regierung) gekündigten Open-Skies-Abkommen, das vertrauensbildende Maßnahmen im Luftraum vorsieht, wieder beizutreten. Das Überleben der Menschheit wird maßgeblich davon abhängen wird, ob es gelingt, mit den damaligen Partnern der KSE-, SALT-, START-Abkommen, aber auch mit China, Indien, Iran und Israel eine globale Sicherheits- und Friedensarchitektur auszuhandeln (vgl. Glasl 2022b).

Auch auf globaler Ebene müssen Kommunikationskanäle und Abkommen etabliert werden, die einen »Weltkrieg aus Versehen« und ein völlig entgrenztes Wettrüsten verhindern, das in einer multipolaren Welt noch viel gefährlichere Formen annimmt, als im Kalten Krieg. Schon jetzt übertreffen die Arsenale der NATO-Mitgliedstaaten die Potenziale Russlands übrigens um das Vier- bis Fünffache. Das sollte für effektive Landes-und Bündnisverteidigung reichen. Weitere Hochrüstung würde nicht mehr Sicherheit schaffen, sondern die Mittel vernichten, die für die Bewältigung der großen Krisen, die die Menschheit herausfordern – Pandemien, die Klimakrise und das Artensterben – dringend benötigt werden.

Der Text von Martina Fischer wurde in veränderter Form am 26.4.2022 von der Bundeszentrale für politische Bildung online veröffentlicht: „Die Hoffnung auf eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur nicht aufgeben“, in: Deutschland Archiv (bpb.de/507623).

Literatur

Debiel, T.; Wulf, H. (2022): Eskalation und Deeskalation im Ukraine-Krieg. INEF Development and Peace Blog, 14.3.2022.

Fischer, M. (2021): Zivile Potentiale der EU ausbauen. Krisenprävention und Friedensförderung stärken. In: W&F 1/2021, S. 10-13.

Fischer, M. (2022): Warum es in der Ukraine-Krise Kooperation braucht. Blogbeitrag, Brot für die Welt, 07.02.2022.

Glasl, F. (2022a): Konfliktdynamik und Friedenschancen in der Ukraine. Online-Vortrag, 24.03.2022. Aufzeichnung des Vortrags steht online zur Verfügung.

Glasl, F. (2022b): Aufruf an verantwortungsbewusste Menschen in Politik und Zivilgesellschaft zum Beenden des Ukraine-Kriegs. Trigon Entwicklungsberatung, 28.03.2022.

Graham, Th.; Menon, R. (2022): How to make peace with Putin. The west must move quickly to end the war in Ukraine. Foreign Affairs, 21.03.2022.

Greiner, B. (2022): Was lief schief seit dem Ende des Kalten Krieges? Deutschland Archiv Blog, bpb, 01.04.2022.

Ischinger, W. (2021): Was jetzt zu tun ist. Süddeutsche Zeitung, 30.12.2021.

Ischinger, W. (2022): Präsentation des Munich Security Report 2021 auf der Bundespressekonferenz, 14.02.2022.

Richter, W. (2016): Meinung: Der Westen trägt eine Mitverantwortung für die Ukraine-Krise. Thema Kriege und Konflikte, bpb Homepage, 05.09.2016.

Swissinfo (2022): Dauerkonflikt in der Ostukraine: UN erhöht Opferzahl deutlich, 12.01.2022.

US Department of State (2021): U.S.-Ukraine charter on strategic partnership. Presseerklärung, 10.11.2021.

Varwick, J.; u.v.a. (2021): Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland. Stellungnahme, 05.12.2021.

Werthes, S.; Hussak, M. (2022): Das Sanktionsregime gegen Russland. Friedenspolitische Reflexionen angesichts des Krieges gegen die Ukraine. In W&F 2/2022, S. 18-21.

Wulf, H. (2022): Escalation, de-escalation and perhaps – eventually – an end to the war? Toda Policy Brief 128, Toda Peace Institute, April 2022.

Zumach, A. (2022): Putins Krieg, Russlands Krise. Le Monde Diplomatique – Deutsche Edition, 10.03.2022.

Zumach, A. (2022): Selektivität und doppelte Standards. Die UNO vor dem Rückfall in die Blockaden des Kalten Krieges. In: W&F 2/2022, S. 21-23.

Martina Fischer ist Politikwissenschaftlerin und war knapp 20 Jahre bei der Berg­hof Foundation in Berlin tätig. Seit 2016 arbeitet sie bei »Brot für die Welt« als Referentin für Frieden und Konfliktbearbeitung.

Leben mit der Pandemie:

Leben mit der Pandemie:

Klappt nur in privilegierten Zonen

von Katja Maurer

Gerade haben mich Freunde aus Chile besucht. Sie berichteten aus ihrem Dorf, ca. 150 Kilometer von der Hauptstadt Santiago entfernt. In der ersten Welle von Covid-19 bewachten die Anwohner*innen alle Eingänge zum Dorf, um niemand Auswärtigen hineinzulassen. „Wir können hier nicht schwer krank werden. Das ist ein Todesurteil“, sagten sie mir. Das nächste Krankenhaus mit Sauerstoff und Lungenmaschine befindet sich nämlich erst in Santiago.

In Chile wurde ein großer Teil der Bevölkerung mit dem chinesischen Impfstoff »Sinovac« geimpft. Der schützt aber nur vor einem schweren Verlauf, also stiegen im chilenischen Winter die Ansteckungsraten wieder in schwindel­erregende Höhen. Nun könnten noch andere Kriterien als die Inzidenzraten herangezogen und mehr getestet werden, um so hohe Inzidenzen verkraften zu können. In Chile geht das leider nicht. Denn es gibt keine frei verfügbaren Tests. Es lässt sich nur testen, wer sich krank fühlt – und das möglichst heimlich.

Die Regierung reagierte mit autoritären Maßnahmen. Seit fast anderthalb Jahren herrschen mit Unterbrechungen eine abendliche Ausgangssperre und Notzustand, kontrolliert von schwer bewaffneter Polizei und Sondereinheiten des Militärs. Dies ruft keine guten Erinnerungen bei vielen Chilen*innen wach. Alle Maßnahmen sind notgedrungen löchrig, weil die Leute arbeiten müssen, um zu überleben. Busse und Bahnen sind weiter gestopft voll. Eine vollständige Ausgangssperre gilt oft nur am Wochenende, was keinen gesundheitspolitischen Sinn ergibt. Die Schulen und Universitäten sind seit anderthalb Jahren geschlossen. Doch selbst bei vorsichtigen Versuchen sie zu öffnen, weigern sich die Eltern, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Die meisten können sich nicht gegen Covid-19 schützen. Krank zu werden birgt ein großes, wenn nicht tödliches Risiko.

Chile ist vergleichsweise wohlhabend. Was dieses Beispiel über andere ärmere Länder erzählt, in denen es nicht einmal Impfstoff gibt, lässt sich ausmalen. Die Welt wird künftig in voneinander unabhängige räumliche Blasen mit unterschiedlichen Gesundheitsmöglichkeiten aufgeteilt sein. Alle Hoffnungen, dass wir aus der Pandemie auch für zukünftige Krisen lernen könnten, haben sich zerschlagen.

Für diese gesundheitspolitische Spaltung der Welt gibt es verschiedene Gründe. Die Gesundheitssysteme wurden in den vergangenen Jahren in vielen Staaten dem Gesundheitsmarkt zugeführt. Die „öffentliche Gesundheitsinfrastruktur“, so der Gesundheitswissenschaftler Remco van der Pas, sei im Süden in den vergangenen Jahrzehnten
„fast völlig verschwunden“. So leidet die Gesundheitsprävention, die nur funktionieren kann, wenn Aufklärung, Heilungsmöglichkeiten und demokratische Beteiligung an den Formen der Prävention Hand in Hand gehen. Die AIDS-Pandemie ist der historische Beweis dafür. Davon sind wir heute meilenweit entfernt. Die aktuelle Pandemiebewältigung ist eine Mischung aus medizinischen und autoritären Maßnahmen – zu wenig, wenn man mit dem Virus leben muss.

Die zweite Katastrophe in der globalen Krisenbewältigung ist die Weigerung, die Patente auf den Impfstoff wenigstens zeitweise freizugeben. Allen voran Deutschland und die EU setzen ihre Wirtschaftsinteressen vor die globalen Interessen der Gesundheit. Doch nur mit lokalen Produktionen des Impfstoffes wäre es möglich, diese Pandemie weltweit einzudämmen. Deutschland lädt sich mit seiner Weigerung eine hohe moralische Schuld auf. Eine Initiative deutscher Bürger*innen verlangt nun, wenigstens mit dem einstigen Kolonialstaat Namibia Impfstoff zu teilen. Hier habe man schließlich eine historische Verantwortung aus dem Kolonialismus. Ob das Bewegung in die festgefahrene Haltung bringt? Es wäre eine Überraschung.

Denn in der globalen Gesundheitspolitik hat längst eine weitgehende Versicherheitlichung eingesetzt. Statt über Formen der Demokratisierung von Weltgesundheit nachzudenken, in der ein öffentliches Gut eine wesentliche Rolle spielen würde, ist der Diskurs über »Gesundheitssicherheit« immer stärker geworden. Dabei geht es hauptsächlich um die Sicherheit der Privilegierten in den Ländern mit höherem Einkommen. Gesundheitssicherheit ist das Gegenmodell zur »Gesundheit für alle«, dem einstigen Leitmotto der WHO. Gesundheitssicherheit dämmt ein und schottet ab. Darin bildet sich eine künftige Weltpolitik ab, die kein Problem mehr lösen kann. Schlechte Aussichten also für eine solidarische Gesundheitspolitik.

Katja Maurer ist Chefredakteurin der Zeitschrift „rundschreiben“, die von der sozialmedinischen Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international herausgegeben wird.

Schrödingers Sicherheitsautonomie


Schrödingers Sicherheitsautonomie

Die EU zwischen Zivilmacht und Militärmacht

von Thomas Roithner

Die Autonomie in der EU-Sicherheitspolitik wird nach dem ­Brexit zu Schrödingers Katze: sie ist gleichzeitig lebendig und tot. Sie ist lebendig, vor allem weil Emmanuel Macron und die Rüstungsunternehmen darauf drängen. Sie ist tot, weil das Schwergewicht Großbritannien ausgeschieden ist und es am Grundlegenden – einer gemeinsamen Stimme in der Außenpolitik – oft mangelt. Eine Bestandsaufnahme der bisher erfolgten Schritte der Militarisierung der EU bietet die Chance, aktuelle Militarisierungstendenzen besser einzuschätzen.

Die USA formulieren seit vielen Jahrzehnten mit unterschiedlicher Vehemenz, dass die EG bzw. die EU sicherheitspolitisch nicht selbständig, abgekoppelt, gegengewichtig oder duplizierend wirken darf. Dieses weitgehend akzeptierte Verhältnis hat sich jedoch seit 2016 grundlegend gewandelt:

Zum einen durch die unmittelbar zeitlich beieinanderliegenden Ereignisse des Brexit und des Beschlusses der »EU-Globalstrategie« (EEAS 2016). Dieser zeitliche Zusammenhang war zwar zufällig, die Folgen hängen jedoch zusammen. Die Globalstrategie fordert mitunter »Hard Power« ein – eine Politik, die Großbritannien immer ausschließlich im transatlantischen Bündnis und nicht in der EU verortet hat (trotz der eigenen Rüstungskapazitäten).

Zum anderen hat Donald Trumps »America First«-Politik und seine Kritik an den NATO- und EU-Strukturen den Bemühungen um eine autonome EU-Militär- und Rüstungspolitik seit Jahresbeginn 2017 zusätzlichen Antrieb verliehen. Dass die USA sprichwörtlich »kocht und die EU den Abwasch besorgt«, soll nun besonders aus französischer Sicht der Vergangenheit angehören. Emmanuel Macron erklärte die US-dominierte NATO für „hirntot“ und verfolgt seither die Stärkung einer »EU-First«-Policy. Joe Biden ändert zwar das Lagebild, aber ein NATO-freundlicher Präsident Biden sei trotzdem keine Hilfe, die EU-Interessen in einer konfrontativeren Weltordnung durchzusetzen, so Paris sinngemäß. Beim Erlernen der »Sprache der Macht« wird inklusiv wirkenden Organisationen wie der UNO und der OSZE im Vergleich zur Herausbildung eigener Instrumente der Interessendurchsetzung zunehmend weniger Bedeutung eingeräumt. Institutioneller Pluralismus gerät so zur Nebensache statt Handlungsmaxime zu bleiben. Strategische Autonomie zu erreichen hat mittlerweile beinahe sprichwörtlichen Status in der EU.

Zum Dritten kommt nun zum Tragen, dass die EU-Staaten unterschiedliche außenpolitische Traditionen haben, die ihr jeweiliges Verhältnis zu einer gemeinsamen europäischen »strategischen Autonomie« bestimmen. Neben 21 NATO-Mitgliedern gehören der EU-27 auch sechs neutrale bzw. paktfreie Staaten an. Mit den EU-Erweiterungen kamen Mitglieder hinzu, die eigentlich schneller in die NATO als in die EU wollten. Das zeigt sich an der Inkohärenz der bisherigen GSVP/ESVP-Ansätze: Uneinigkeit bei Streitfragen wie der Flüchtlingspolitik, der Konfliktlösung in Syrien, Libyen oder der Ukraine oder der Anerkennung von Palästina und Kosovo als eigenständigen Staaten; Unklarheit in der Einschätzung der neuen Seidenstraßen; Debatten um (vollständig) autonome Waffensysteme oder die Haltung zum Atomwaffenverbotsvertrag zeigen, wie unzureichend das »Gemeinsame« in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik funktioniert.1

So verharrt die EU-Sicherheitsautonomie in einem Schwebezustand ähnlich Schrödingers Katze: einerseits wird sie von starken Befürworter*innen weiter am Leben gehalten und ausgebaut, während sie zeitgleich aufgrund einer großen Uneinigkeit und Streitigkeiten innerhalb der Union nicht vorankommt.

Auslandseinsätze

Trotz all der Differenzen verweist die EU auf 18 aktuell laufende und knapp zwei Dutzend abgeschlossene Auslandseinsätze (EEAS 2021). Räumlich gesehen liegen die Schwerpunkte dabei in Afrika und auf dem Balkan. Zwei Drittel der EU-Einsätze seit 2003 weisen einen zivilen Charakter auf, jedoch nur 20 % des operativen Personals waren und sind zivil und die Anzahl der eingesetzten zivilen Kräfte war in der letzten Dekade kontinuierlich rückläufig. Obwohl die EU stets betont, sowohl über zivile als auch militärische Einsatzmöglichkeiten zu verfügen, zeigt die Praxis eine klare Asymmetrie zugunsten der militärischen Kapazitäten. Der »Civilian Compact« der EU aus dem Jahr 2018 bleibt also weit hinter seinen Möglichkeiten zurück (vgl. Artikel von Fischer in dieser Ausgabe von W&F).

Doch trotz der Asymmetrie zugunsten militärischer Optionen wurden bspw. die »EU Battle Groups« seit ihrer Einführung 2005 aufgrund politischer und finanzieller Uneinigkeiten bisher noch nie eingesetzt. Da jeder EU-Staat gegen den Einsatz der Truppen sein Veto erheben kann und allen Truppenstellern für Battle Groups drohte, die finanzielle Hauptlast dafür tragen zu müssen, entschloss sich der Europäische Rat 2017, die Entsendung der Battle Groups als gemeinsame Kosten zu betrachten. So sollte die Hemmschwelle für deren Einsatz gesenkt werden.

Mit Blick auf die Militarisierungs­schübe der EU ist es frappierend, zu sehen, dass es weniger als sechs Monate benötigte, um nach dem Brexit-Referen­dum die Grundlagen für ein EU-Hauptquartier zu schaffen. Im Juni 2017 wurde der militärische Planungs- und Koordinierungsstab für EU-Auslandseinsätze (MPCC) beschlossen.

Die neue »Europäische Friedensfazilität« (EFF) soll den Pool an Instrumenten der EU für Auslandseinsätze erweitern. Die EFF ist nicht im Finanzrahmen gelistet, da sie außerhalb des Haushaltes finanziert wird. Finanziert werden mit diesem Instrument u.a. militärische Einsätze – trotz des Namens. Dazu zählen weltweite Militäreinsätze von Dritten, die im Interesse der EU sind, wobei sowohl Truppen als auch deren Infrastruktur bezahlt werden können (Europäische Kommission 2018). Offenkundig hatte der jahrelange Druck wesentlicher Teile der politischen und militärischen Eliten in der EU gewirkt.

Rüstungsinitiativen

Die abgelaufene Dekade war von Appellen zur gemeinsamen Aufrüstung geprägt. Schon dem EU-Vertrag von Lissabon (2007) ist zu entnehmen, dass sich die Mitgliedstaaten „verpflichten […], ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ (Artikel 28a(3)). Die damalige Hohe Vertreterin für die Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, hat dazu erläutert: „Wer Frieden will, muss sich rüsten“ (Ashton 2013). Die EU-Globalstrategie (EEAS 2016, S. 45) wiederum schreibt fest, dass „die Mitgliedstaaten bei den militärischen Spitzenfähigkeiten alle wichtigen Ausrüstungen [benötigen][…]. Dies bedeutet, dass das gesamte Spektrum an land-, luft-, weltraum- und seeseitigen Fähigkeiten […] zur Verfügung stehen muss“.

Besonders in der EU-Rüstungspolitik fungierte das britische Brexit-Referendum als Katalysator. Schon im November 2016 schlug die EU-Kommission den »Verteidigungs-Aktionsplan« vor, der den EU-Rüstungsmarkt stärken sollte. Als Ursache der mangelnden Kooperation unter den EU-Staaten wurde nationaler Protektionismus ausgemacht, den Binnenmarktregeln eigentlich unterbinden sollten und dem nun mit dem Aktionsplan entgegengetreten werden sollte. Im Juni 2017 wurde der Aktionsplan dann zum »Europäischen Verteidigungsfond« (EVF) weiterentwickelt. Das Ziel dieses Fonds ist es, „den Mitgliedstaaten zu helfen, das Geld der Steuerzahler effizienter auszugeben“, wobei unbemannte Systeme, Satelliten, die Marine und Drohnen jeweils Schwerpunkte bilden (Europäische Kommission 2017). Neben dem EVF sind noch weitere Rüstungsbudgets versteckt Teil des Haushaltes: Die »militärische Mobilität« und die »EU-Weltraumprogramme« (vgl. Demirel und Wagner in dieser Ausgabe von W&F). Der Rüstungsbranche ist also das »impfen« des Budgets in den strategisch zentralen Bereichen durchaus sichtbar gelungen.

Heute stellt die EU einen rüstungspolitisch relevanten Faktor dar, ersetzt jedoch kein nationales Militärbudget. Sie koordiniert, verstärkt, sammelt Steuergeld für EU-Rüstungsprojekte ein und wirkt an der Steigerung der Rüstungsexporte mit. Bei wichtigen rüstungspolitischen Entscheidungsprozessen sitzen Rüstungskonzerne mit am Tisch. Zwischen EU-Institutionen, nationalen Regierungen und der Rüstungsindustrie hat sich eine ständig in Bewegung befindliche Drehtür etabliert (vgl. ALTER-EU 2018; Nielsen 2020).

PESCO

Politische Uneinigkeit und die Notwendigkeit einstimmiger Beschlüsse stehen einem gemeinsamen Handeln der EU immer wieder im Weg. Ablehnende Volksentscheide zu EU-Verträgen verdichteten die Alternative zur Vielstimmigkeit in der Sicherheitspolitik: Die militärisch Potenten und politisch Willigen geben den Ton an, die anderen bleiben draußen. Der Vertrag von Lissabon 2007 sah die ständige strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) vor; im Dezember 2017 wurde diese dann Realität, denn das Austrittsreferendum in Großbritannien hatte den vehementesten Kritiker autonomer EU-Sicherheitsstrukturen aus dem Diskussionsprozess genommen.

In diesem Rahmen wurden bislang 47 Projekte ins Leben gerufen, darunter Diskussionswürdiges wie die Eurodrohne, Euro-Artillerie oder ein neuer EU-Kampfhubschrauber. PESCO sieht eine „regelmäßige reale Aufstockung der Verteidigungshaushalte“ vor, muss also als klares Zeichen einer Militarisierung der EU verstanden werden. Nicht alle EU-Staaten nehmen an allen Projekten teil und ein Veto zu kontroversen Vorhaben erscheint unnötig.

Allerdings ist auch PESCO nicht nur erfolgreich. Die jährliche Überprüfung im »koordinierten Jahresbericht zur Verteidigung« (CARD) hat eine Fragmentierung und Inkohärenz bei Ausgaben für Rüstung und Truppen festgestellt. Es sei ein Dickicht an Projekten entstanden, der nationale Interessenbasar eben nicht überwunden und nur zwölf der 47 Projekte lieferten konkrete Ergebnisse. Die Industrie hat zwar Gewinne verbucht, sich aber gemessen an den Plänen von 2016 wenig bewegt. Aus militärischer Logik ist PESCO ein enger Sicherheitsgewinn, aber in einer breiteren Sicht kein Friedensprojekt.

Ein neues Kerneuropa?…

Neben dem institutionalisierten Kerneuropa hat Frankreich mit der Europäischen Interventionsinitiative (EI2) eine von EU und NATO unabhängige Spielart eines militärisch aktiven Kerneuropa geschaffen. Diese Initiative setzt nicht auf eine breite Beteiligung, sondern auf punktuelle Entschlossenheit einzelner Staaten. Frankreich und Deutschland sind in beiden Varianten – PESCO und EI2 – militärischer Schrittmacher für andere EU-Staaten.

Frankreich und Deutschland stehen bei einigen bi- und trilateralen Formen der Rüstungskooperationen im Zentrum. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen arbeitet Hand in Hand mit dem französischen EU-Kommissar für Rüstung und Raumfahrt, Thierry Breton. Beim kommenden Kampfflugzeugsystem (»Future Combat Air System«, FCAS) wird französisch und beim künftigen Kampfpanzersystem (»Main Ground Combat System«, MGCS) wird deutsch gesprochen. Allerdings ziehen Frankreich und Deutschland dabei keineswegs nur an einem Strang: die Widersprüche zwischen Paris und Berlin sowie Zeitverzögerungen in der Umsetzung sind vielgestaltig. Neben dreistelligen Milliardenbeträgen geht es dabei auch um die Souveränität nationaler Rüstungsexportpolitiken, um die Frage, wessen und ob neue Kampfflugzeuge Atomwaffen tragen sollen und wo die Grenzen der Kooperation mit den USA liegen. Der deutsch-französische Freundschaftsvertrag von Aachen aus dem Jahr 2019 ist ein Lösungsversuch, zwar mit vielen offenen Fragen, aber einer ganz klaren Stoßrichtung: einer verstärkten und integrierten Militarisierung der EU.

…und der Rest

Die außenpolitische Uneinigkeit der EU-27 allerdings durch Militärambitionen eines deutsch-französischen Kerneuropas zu kompensieren ist – langfristig gesehen – im günstigsten Fall wirkungslos, im schlimmsten Fall gefährlich. Schon jetzt sind Tendenzen erkennbar: Staaten am kerneuropäischen Abstellgleis verlieren in Teilen ihre Mitsprachemöglichkeiten, u.a. bei PESCO. Das »Kerneuropa der Sicherheit« stellt sich als autoritäre Vertiefung der EU dar, wenngleich es für Militäreinsätze bislang immer noch die Zustimmung aller EU-Staaten braucht. Es scheint erkennbar zu sein, dass das Ziel der engeren Zusammenarbeit im EU-Sicherheitsbereich nicht die Überwindung der Nationalstaaten, sondern deren Hierarchisierung ist.2

Die Vernetzung von Strukturen, Mechanismen und Budgettöpfen stellt seit 2016 eine neue Qualität der sicherheitspolitischen Integration dar. Zwar besteht in der EU zwischen Vereinbarungen auf dem Papier und der Realität, nicht nur bei Truppen und Rüstung, immer noch ein Unterschied, denn Mitgliedstaaten haben ihre Zusagen für Eingreiftruppen, Rüstungsforschung oder Waffenentwicklungen jahrelang nicht beachtet, abgeschwächt oder stark verzögert. Allerdings darf das Niveau der Anreizsysteme von »EU-Globalstrategie«, der neuen Haushaltstöpfe, der Europäischen Friedensfazilität und nicht zuletzt PESCO nicht unterschätzt werden. Dass der größte Truppensteller auch die meisten finanziellen Lasten trägt, wurde jetzt zum Teil durch Gemeinschaftskosten abgefedert. Dass Mitgliedstaaten die teure Entwicklung neuer Waffen allein schultern, wird durch gemeinsame Töpfe und Kooperationen tranchiert. Zentral ist jedoch – mit Blick auf den globalen Wettbewerb – , dass der sprichwörtliche Kuchen vergrößert wird, an dem alle in unterschiedlichem Maße teilhaben wollen und können. Nicht zuletzt gewährleisten die EU-Entscheidungsmechanismen, dass der harte Kern von Kerneuropa auch ein Kuchenstück mit Kirsche bekommt.

EU-Rüstungsfonds, Kerneuropa, Rüstungsagentur, der militärische Überprüfungsmechanismus oder die Auslandseinsatzpolitik samt militärischem Hauptquartier sind kommunizierende Gefäße. Flankiert wird diese Entwicklung vom Auswärtigen Dienst und vom EU-Militärstab. Niemand soll bei der Rüstung unbemerkt den Retourgang einlegen können oder auch nur bummeln.

Brillant ist, dass Deutsche und Franzosen nicht mehr aufeinander schießen, sondern kooperieren. Nicht-Krieg unter den EU-Mitgliedern ist das Eine, schweigende Waffen auch nach außen ist das Andere. Ziel wäre nicht nur, dass Deutsche und Franzosen nicht mehr aufeinander schießen, sondern dass sie nicht gemeinsam auf andere schießen. Es gälte jetzt, hier entscheidende Schritte zu unternehmen. Denn das Friedensprojekt Europa ist derzeit lebendig wie tot zugleich.

Anmerkungen

1) Die EU hatte sich im Brexit-Verhandlungsprozess eine Regelung zur künftigen Kooperation in der Außen- und Sicherheitspolitik gewünscht. Großbritannien hat dies mit Verweis auf die eigene Souveränität abgelehnt. Die EU wird wegen des britischen Know-how und dem Markt für Rüstungsgüter in der Zukunft wohl verstärkte Verständigungsprozesse im Sicherheitssektor anstoßen. Allerdings könnte eine zu exponierte britische Rolle Einigungsprozesse der verbleibenden EU-27 erschweren.

2) Der Vorschlag für ein Ziviles Kerneuropa (Roithner 2015) hat immerhin Eingang in das aktuelle österreichische Regierungsprogramm gefunden.

Literatur

Alliance for Lobbying Transparency and Ethics Regulation in the EU (ALTER-EU) (2018): Corporate Capture in Europe. When Big Business Dominates Policy- Making and Threatens our Rights. Brüssel.

Ashton, C. (2013): Wer Frieden will, muss sich rüsten. Der Standard, 20.12.2013.

Europäische Kommission (2017): A European Defence Fund: € 5.5 billion per year to boost Europe’s defence capabilities. 07.06.2017, Brüssel.

Europäische Kommission (2018): EU Budget for the Future. The European Defence Fund. 13.06.2018, Brüssel.

Europäischer Rat (2017): Schlussfolgerungen zu Sicherheit und Verteidigung, 22.06.2017, Brüssel.

European External Action Service (EEAS) (2016): A Global Strategy for the European Union’s Foreign and Security Policy. Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe. Juni 2016.

European External Action Service (EEAS) (2021): Military and Civilian Mission and Operation, https://eeas.europa.eu, Brussels.

European Union (2016): Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe, Brussels.

Nielsen, N. (2020): EU Defence Agency chief turned lobbyist broke conduct rules, euobserver.com, 11.12.2020.

Roithner, T. (2015): Marsch ins militärische Kerneuropa. Der Standard, 31.07.2015.

Roithner, T. (2020): Verglühtes Europa? Alternativen zur Militär- und Rüstungsunion. Vorschläge aktiver Friedenspolitik, 2. Auflage, Wien: Morawa.

Thomas Roithner ist Friedensforscher, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Wien und Mitarbeiter im Internationalen Versöhnungsbund. Er ist Co-Kampagnenleiter zur Einführung des Zivilen Friedensdienstes in Österreich, www.thomasroithner.at