Defensive Verteidigung

Defensive Verteidigung

Orientierungshilfen aus den 1980ern

von Lukas Mengelkamp

Ideen und Konzepte über defensive Verteidigung aus den 1980er Jahren könnten heute Orientierung bieten, wie insbesondere die territoriale Integrität der ostmitteleuropäischen und baltischen Staaten zu garantieren ist, ohne dabei das bestehende Sicherheitsdilemma mit Russland noch weiter zu verschärfen, die Rolle von Nuklearwaffen aufzuwerten und das Wettrüsten auf Dauer zu stellen. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über den Entstehungskontext, die Genese und Aktualität dieser militärischen Konzepte.

Als in den 1980ern der Streit um die »Nachrüstung« tobte, wurde den Gegner*innen der Stationierung von US-amerikanischen Pershing-II Mittelstreckenraketen und landgestützten Marschflugkörpern häufig vorgehalten, ihre Alternativvorschläge seien illusionär, naiv und utopisch. Unilaterale Abrüstung oder »soziale Verteidigung«, das heißt gewaltfreier Widerstand, würden die Abschreckung untergraben und Westeuropa der Sowjetunion ausliefern. Dem wurde aus den Friedensbewegungen entgegengehalten, dass die Rüstung der NATO ebenso wenig in der Lage sei, den Konflikt mit der Sowjetunion langfristig einzuhegen oder gar zu lösen. Die heutige Debatte scheint entlang ähnlicher Gegensätze zu verlaufen: Aufrüstung gegen Abrüstung. Betrachtet man die Debatten der 1980er Jahre über Alternativen zur NATO-Strategie jedoch genauer, fällt auf, dass diese weitaus differenzierter waren als in Rückblicken häufig dargestellt. So standen sich nicht schlicht »Aufrüster*innen« und »Abrüster*innen« gegenüber. Das Feld der Unterstützer*innen des NATO-Doppelbeschlusses war vielmehr aufgeteilt in jene, die darin tatsächlich eine Erweiterung der Fähigkeiten zur nuklearen Kriegsführung sahen, und jene, deren Anliegen die Sicherung der Abschreckung in Europa war. Auf Seiten der Kritiker*innen des Doppelbeschlusses befanden sich neben Befürworter*innen von allgemeiner Abrüstung auch prinzipielle Unterstützer*innen der Abschreckung, die jedoch die Nachrüstung für unnötig oder gar gefährlich hielten. Hinzu kamen Friedensforscher*innen und Militäranalyst*innen, die sich für militärisch defensive konventionelle Alternativen stark machten.1

Die NATO-Strategie der »Flexible Response«

Im Jahr 1967 löste innerhalb der NATO die Strategie der »Flexible Response« (Flexible Antwort) die noch aus den 1950er Jahren stammende »Massive Retaliation«-Doktrin (Massive Vergeltung) ab, die auch auf rein konventionelle Angriffe des Warschauer Paktes mit einem massiven nuklearen Angriff auf die Sowjetunion geantwortet hätte. Da der Warschauer Pakt in Europa zumindest zahlenmäßig auf der konventionellen Ebene überlegen war und die Sowjetunion im Laufe der 1960er Jahre die Fähigkeit erworben hatte, auch das US-amerikanische Festland mit Interkontinentalraketen anzugreifen, schien die Androhung eines allgemeinen Nuklearschlages im Falle eines Krieges in Europa nicht mehr glaubwürdig. Für die NATO ergab sich daraus ein Dilemma: Während die europäischen NATO-Mitglieder sicherstellen wollten, dass jeder Krieg auf die strategische nukleare Ebene eskalieren würde, so dass keine Partei jemals ein Interesse daran entwickeln könnte, schien es aus US-amerikanischer Sicht geboten, einen Krieg nach Möglichkeit auf Europa zu begrenzen. Dies erforderte zum einen die Stärkung des konventionellen Elements der NATO-Verteidigung und zum anderen flexiblere und auf Europa »begrenzte« nukleare Optionen, wobei hier die Bandbreite von reiner Demonstration des Willens zum Einsatz von Nuklearwaffen bis hin zur vollständigen Integration »taktischer« Nuklearwaffen in die reguläre Kriegsführung reichte. Aus europäischer Sicht war die Unterscheidung zwischen dem globalen und »begrenzten« Nuklearkrieg jedoch Makulatur, würden beide doch zur vollständigen Zerstörung Europas führen.

Die Strategie der Flexible Response war ein politisch-militärischer Kompromiss, welcher diesen amerikanisch-europäischen Gegensatz überbrücken sollte. Die Strategie war offen genug formuliert, so dass beide Seiten ihre jeweiligen Präferenzen in sie hineininterpretieren konnten. Während dieser Kompromiss auf der politischen Ebene bis in die 1980er Jahre relativ gut funktionierte, ergaben sich auf der militärischen Ebene große Probleme bei der Umsetzung, die letztlich auch wieder auf die politische Ebene durchschlagen sollten. Die konkrete Umsetzung der Flexible Response musste allein aufgrund ihres Kompromisscharakters schwerfallen, denn was auf politischer Ebene Spielraum für die unterschiedlichen Interessen beiderseits des Atlantiks erkaufte, erschwerte Planungs- und Anschaffungsprozesse auf militärischer Ebene. So konnte sich die Nukleare Planungsgruppe (NPG) der NATO erst im Oktober 1986 – nach fast 20 Jahren Beratungen – auf Richtlinien für die Planung des Nuklearwaffeneinsatzes im Rahmen der Flexible Response einigen. Bereits Anfang der 1970er Jahre hatte innerhalb der NATO eine Diskussion da­rüber begonnen, ob die Flexible Response eine Modernisierung der so genannten »Theater Nuclear Forces« (TNF), der nuklearen Gefechtsfeldwaffen, erforderlich machen würde. Ein Großteil der ca. 7.000 in Westeuropa stationierten taktischen Nuklearwaffen stammte noch aus den 1950er Jahren und damit aus der Ära der Massiven Vergeltung. Darunter fand sich eine Vielzahl an nuklearer Munition für Artillerie und Kurzstreckenraketen. In der Debatte über die Modernisierung der TNF bildete sich eine widersprüchliche transatlantische Koalition aus Experten*innen heraus, die für die Einführung moderner Mittelstreckenwaffen warben, insbesondere die damals noch in Entwicklung befindlichen Marschflugkörper. Während in der Argumentation von US-Experten wie Albert Wohlstetter Überlegungen über die Begrenzbarkeit und Führbarkeit eines Nuklearkrieges Pate standen, ging es aus westeuropäischer und deutscher Sicht insbesondere darum, jene Waffen zu ersetzen, die aufgrund ihrer kurzen Reichweite nur Ziele auf dem Territorium der Bundesrepublik, der DDR oder der Tschechoslowakei angreifen konnten. Zudem war damit auch die Hoffnung verbunden, dass Mittelstreckenwaffen Europa an das strategische Arsenal der USA »koppeln« würden. Mit ihrer Hilfe konnte man von Europa aus die Sowjetunion bedrohen. Damit war auch automatisch die interkontinentale Dimension der Abschreckung berührt. Mit der Aufstellung der SS-20 Mittelstreckenraketen in der Sowjetunion ab Ende der 1970er Jahre intensivierte sich die Debatte über die TNF-Modernisierung schließlich massiv und kam mit dem NATO-Doppelbeschluss 1979 auch in der breiteren Öffentlichkeit an. Die Widersprüchlichkeit der nuklearen Abschreckung im Allgemeinen und der Flexible Response im Besonderen rückte so ins Scheinwerferlicht. Die Vielzahl an unterschiedlichen politischen Deutungsangeboten zur Flexible Response geriet jetzt von einem politischen Vor- zu einem Nachteil. Zum ersten Mal verlangten Bürger*innen millionenfach Auskunft darüber, wann und wie die NATO denn gedenke, die Nuklearwaffen einzusetzen – also genau den Punkt, über den man sich bis dahin selbst innerhalb der NATO gerade nicht einig war. Angesichts der massiven Kritik an der nuklearen Komponente der geltenden Strategie wuchs allenthalben das Interesse an konventionellen Alternativen.

Die Suche nach konventionellen Alternativen

In historischen Rückblicken auf die 1980er Jahre wird das Thema konventioneller Alternativen häufig auf die »AirLand Battle«-Doktrin der US Army und das NATO-Konzept des »Deep Strike« (Tiefer Schlag) reduziert. Die AirLand Battle-Doktrin war Ausdruck der »Wiederentdeckung« der operativen Ebene in der US Army im Laufe der 1970er Jahre. Erstmals fanden hier NATO-Streitkräftestruktur und -Doktrin zueinander: Die großen und schweren Panzerverbände sollten nicht nur wie bisher im Rahmen der Vorneverteidigung eine grenznahe Linie so lang wie möglich gegen die Streitkräfte des Warschauer Paktes halten, sondern Bewegungskrieg führen. Vorgesehen waren Gegenstöße bis auf das Territorium der DDR und der Tschechoslowakei, um die zahlenmäßig überlegenen gegnerischen Streitkräfte an ihren verletzlichen Flanken und im rückwärtigen Raum bedrohen zu können. Während die erste Welle des Warschauer Paktes so besiegt werden sollte, würden tiefe präzise Schläge mit konventioneller Langstreckenmunition auf die Verkehrsadern in Ostmitteleuropa es der zweiten Welle unmöglich machen, rechtzeitig das Schlachtfeld zu erreichen. Doch die angedachte Konventionalisierung der Verteidigung, die die in der Bevölkerung unbeliebte nukleare Komponente zurückdrängen sollte, stieß auf bereits bekannte Probleme und Widerstände. Gleich stand wieder die Kritik im Raum, die Strategie würde einen Krieg in Europa nicht abschrecken, sondern vielmehr wahrscheinlicher machen, da er wieder als führbar gelten könne. Der angedachte Bewegungskrieg würde die NATO-Mitglieder dazu nötigen, ihre konventionellen Streitkräfte massiv auszubauen. Vielen Beobachter*innen erschien dies aus politischen, wirtschaftlichen und auch demographischen Gründen kaum durchführbar. Nicht zuletzt wurde dem Konzept vorgehalten, dass auch begrenzte Vorstöße auf das Territorium des Warschauer Paktes in Moskau als Beginn einer großangelegten strategischen Gegenoffensive wahrgenommen werden und damit der Einsatz von Nuklearwaffen ausgelöst werden könnte. Darüber hinaus schien es fraglich, ob konventionelle Waffen tatsächlich in der Lage sein würden, die Verkehrsadern in ganz Ostmitteleuropa lahm zu legen. So lange nicht massive Vorräte an präzisen Bomben, Raketen und Marsch­flugkörpern angelegt würden – mit entsprechenden Kosten – würde man zur Blockierung der zweiten Welle im Zweifel doch wieder auf nukleare Mittelstreckensysteme angewiesen sein (Unterseher 1987).

Den Konzepten von AirLand Battle und Deep Strike, die man auch als offensive Varianten der Konventionalisierung bezeichnen könnte, setzten einige Kritiker*innen defensive Alternativen entgegen. Bereits 1970 hatte Carl Friedrich von Weizsäcker die Studie »Kriegsfolgen und Kriegsverhütung« veröffentlicht, die erstmals die katastrophalen Folgen auch eines »begrenzten« Einsatzes von Nuklearwaffen in Europa wissenschaftlich aufarbeitete (Weizsäcker 1971). In Reaktion darauf begann Horst Afheldt, ein Mitarbeiter Weizsäckers am »Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt«, rein konventionelle und defensive Verteidigungsmodelle zu entwickeln (Afheldt 1976).

Diese zielten darauf ab einerseits die sowjetischen Panzerverbände aufzuhalten und gleichzeitig keine lukrativen Ziele für taktische Nuklearwaffen zu bieten. Konkret schlug Afheldt dazu den Aufbau eines Netzwerks aus »Technokommandos« vor, kleinen Infanterieeinheiten, die mit modernen Panzerabwehrwaffen ausgestattet, aus vorbereiteten versteckten Stellungen sowjetische Verbände angreifen sollten. Außerdem sollten diese Infanterieeinheiten zusätzlich durch Artillerie unterstützt werden. In den 1980er Jahren nahm die »Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik« (SAS), die maßgeblich vom Soziologen Lutz Unterseher geleitet und inhaltlich geprägt wurde, die Netzwerkidee auf. Sie reagierte aber auch auf die bestehende Kritik an Afheldts Konzept, dem man vorhielt, »monokulturell« und durch den kombinierten Einsatz von Infanterie, Panzern und Luftstreitkräften überwindbar zu sein. In Untersehers Vorstellung sollte das »Netz« aus Infanterie und Artillerie durch vergleichsweise kleine mobile gepanzerte Kräfte ergänzt werden. Sie sollten an den Orten unterstützend eingreifen, wo das Netz allein einen Angreifer nicht hätte aufhalten können. Entscheidend war jedoch, dass die mobilen Kräfte über keinen großen eigenen logistischen Apparat verfügen würden und stattdessen zur Versorgung auf das Netz angewiesen blieben. Die mobilen Kräfte sollten wie eine „Spinne in ihrem Netz“ agieren können, außerhalb davon aber nicht in der Lage sein zu manövrieren (Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik 1989, S. 153ff.). Insgesamt würde das Konzept, so die Hoffnung, ein unilaterales »Ausklinken« aus dem Wettrüsten ermöglichen, ohne dabei Abstriche an der eigenen Sicherheit machen zu müssen. Unterseher führte dazu den Begriff »Vertrauensbildende Verteidigung« ein: Einerseits Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zur Verteidigung ohne Nuklearwaffen, da diese zerstören würden, was man hoffte zu verteidigen. Andererseits die Herstellung von Zuversicht auf der Gegenseite, dass keine Absicht bestand, selbst offensive Operationen durchzuführen, da man dazu auch kaum in der Lage war (Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik 1989).

»Differenzierende Abschreckung« oder defensive Verteidigung?

Das Dilemma der Flexible Response, ein politischer Kompromiss zu sein, der sich militärisch nicht umsetzen ließ, führte bereits unter Zeitgenossen dazu, sie als Mythos zu bezeichnen. Da dies im allgemeinen politischen Bewusstsein in Westeuropa und insbesondere in der Bundesrepublik immer offensichtlicher wurde, begann sich Interesse an defensiven Alternativen bis in die Bundesregierung und Bundeswehr zu bilden.

Die Unterzeichnung des INF-Vertrages 1987 ließ die westeuropäischen Regierungen zum Teil ratlos und verärgert zurück: Die »Nachrüstung«, für die sie jahrelang gegen massiven Widerstand in den eigenen Bevölkerungen gekämpft hatten, wurde rückgängig gemacht, ohne dass das konventionelle Ungleichgewicht in Europa adressiert worden wäre. Gleichzeitig ließ die Debatte in den USA über die Militärstrategie der Zukunft auch in etablierten sicherheitspolitischen Kreisen immer stärkere Zweifel an der Flexible Response aufkommen. Im Januar 1988 wurde ein von der US-Regierung in Auftrag gegebener Expert*innenbericht veröffentlicht, der unter dem Titel »Discriminate Deterrence« (Differenzierende Abschreckung) für eine Konventionalisierung der NATO-Strategie eintrat (Iklé und Wohlstetter 1988). Die Nuklearwaffen in Westeuropa sollten weitestgehend abgezogen werden, die verbleibenden modernisiert und wie »normale« Waffen in die Verteidigungsplanung integriert werden. Der Bericht rief in ganz Westeuropa und über das gesamte politische Spektrum hinweg Ablehnung und sogar Empörung hervor. Argumente, die vor kurzem eher aus den Friedensbewegungen zu hören gewesen waren, wurden nun auch von Befürworter*innen der »Nachrüstung« aufgegriffen. Der Verteidigungsexperte der FAZ, Karl Feldmeyer, interpretierte den Bericht als eine Absage an die Flexible Response. An die Stelle der Abschreckungs- würde eine Kriegsführungsstrategie treten. Der erzkonservative Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Alfred Dregger, geißelte den Bericht bei einem Besuch in Washington als Versuch, einen Krieg auf Europa zu begrenzen und die USA von Westeuropa sicherheitspolitisch abzukoppeln. Gleicher Ansicht waren auch Verteidigungsminister Manfred Wörner und sein Staatssekretär Lothar Rühl, die beide öffentlich Stellung gegen den Bericht bezogen (vgl. zu den Stellungnahmen: Armes 1988, S. 252ff.). Auch wenn sich die neue US-Regierung unter George H. W. Bush angesichts der massiven Kritik aus Westeuropa von dem Bericht distanzierte, legte die Kontroverse doch offen, wie wenig die Strategie der Flexible Response noch in der Lage war, die unterschiedlichen Interessen, Verteidigungskonzeptionen und Wahrnehmungen der internationalen Lage im Bündnis zu integrieren.

Der Rezeptionsprozess der defensiven Alternativen begann sich nun auch in der Sache auf beiden Seiten des Atlantiks zu intensivieren. Die Weißbücher des Verteidigungsministeriums von 1983 und 1985 wie auch der Verteidigungsausschuss des Bundestags hatten diese lediglich zur Kenntnis genommen und auch dies war wohl eher dem öffentlichen Druck als genuinem Interesse geschuldet. Am Ende des Jahrzehnts setzte sich in der Bundesrepublik mit General a.D. Gerd Schmückle aber ein Schwergewicht des sicherheitspolitischen Establishments öffentlich für defensive Alternativen ein. Zusammen mit Albrecht von Müller, einem Mitarbeiter Horst Afheldts, legte Schmückle im Mai 1988 der Bundesregierung ein Abrüstungsprogramm vor, das die defensive Restrukturierung der Streitkräfte in Ost und West forderte. Im Januar 1989 veranstaltete das der US-amerikanischen Friedensbewegung nahestehende »Institute for Defense and Disarmament Studies« (IDDS) zusammen mit der Pentagon-nahen RAND Corporation einen Workshop zur defensiven Neustrukturierung der NATO-Verteidigung in Europa, auf dem Lutz Unterseher die Ideen der »Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik« vorstellte. Mit RAND war die Debatte über defensive Alternativen nun selbst im intellektuellen Geburtsort der Nuklearstrategie angekommen. Durch den Mauerfall 1989 und den anschließenden Zerfall der Sowjetunion entfiel jedoch das nukleare Dilemma der NATO. Dadurch endete auch die breite Debatte über verteidigungspolitische Alternativen, die in den frühen 1980er Jahren maßgeblich unter dem Druck der Friedensbewegungen begonnen hatte.

Defensive Verteidigung – ein Modell mit Zukunft?

Die heutige Debatte über die zukünftige Verteidigungspolitik in der Bundesrepublik erscheint oft als prinzipieller Gegensatz zwischen jenen, die für das Sondervermögen und eine dauerhafte Erhöhung des Wehretats eintreten, und jenen, die darin lediglich eine Verschwendung von Kapital sehen, welches besser für die Bekämpfung des Klimawandels und den Erhalt des Sozialstaats eingesetzt werden sollte (siehe bspw. »Der Appell« von 2022). Relativ selten wird allerdings die Frage nach dem »wie« der Verteidigung gestellt und wenn, bleibt es häufig bei einer im Allgemeinen verharrenden Gegenüberstellung von Abschreckung und Diplomatie. So heißt es bspw. in dem Aufruf »Der Appell« vom März 2022: „Die Anschaffung von konventionellen Waffen wie Kampfflugzeugen und bewaffnungsfähigen Drohnen als Abschreckung unter atomaren Militärblöcken ist sinnlos.“ (Dieren u.a. 2022) Vor dem Hintergrund der dargestellten Debatten über die Nuklearstrategie der NATO im Ost-West-Konflikt könnte man diesen Satz durchaus als ein Eintreten für eine Strategie der Massiven Vergeltung lesen. Mindestens aber scheint hier ein dichotomes Denken auf, das nur die Alternativen von nuklearer Abschreckung, mit ihren bekannten Paradoxien und Gefahren, und allgemeiner Abrüstung kennt. Umgekehrt haben Befürworter*innen des Sondervermögens und eines langfristig gesteigerten Verteidigungshaushalts bisher selbst keine konkreten Konzepte vorgelegt, wie sie sich die zukünftige Verteidigung etwa des Baltikums vorstellen.

Die zukünftige Verteidigung muss zwei Anforderungen gerecht werden: Sie muss Krisenstabilität gewährleisten, also nicht zur (unbeabsichtigten) Eskalation beitragen und gleichzeitig glaubwürdig in der Lage sein, einen gezielten Angriff, vergleichbar dem auf die Ukraine, abwehren zu können. Für die erste Anforderung stellt sich jedoch unter anderem im Baltikum ein Dilemma: Der begrenzte Raum, die geografische Lage und die Siedlungsdichte schließen eine Rückkehr zu überkommenen, panzerlastigen Konzepten konventioneller Verteidigung aus. Diese würden zu hohen Truppenkonzentrationen auf engem Raum führen, die sich als Ziele für taktische Nuklearwaffen geradezu anbieten. Schweren Verbänden bliebe, um den Raum zu gewinnen, der nötig ist, um ihre militärischen Stärken auszuspielen, nur der Ausbruch in Richtung Belarus und Russland selbst. Auch muss dahingestellt bleiben, ob »tiefe Schläge« im Sinne von »Deep Strike«-Konzepten, selbst wenn sie nur konventionell durchgeführt würden, nicht auch Kommando- und Kontroll-Einrichtungen der russländischen Nuklearstreitkräfte beeinträchtigen würden. Eine Eskalation auf die nukleare Ebene wäre nicht auszuschließen. Im Falle einer direkten Konfrontation zwischen NATO und Russland würde damit auf beiden Seiten massiver Druck herrschen, als erster anzugreifen (Präemption), um einem tatsächlichen oder nur vermuteten Angriff des Gegners zuvorzukommen.

Defensive Verteidigungskonzepte nach dem Prinzip der »Spinne im Netz« könnten hier einen Ausweg weisen. Durch die Netzstruktur würden lohnende Ziele für Nuklearwaffen vermieden werden. Mobile gepanzerte Elemente könnten auf Größen begrenzt bleiben, die den geographischen Bedingungen im Baltikum Rechnung tragen. Ebenso würde die Notwendigkeit für präemptive tiefe Schläge ins Hinterland entfallen. Die Anforderung der Krisenstabilität würde also erfüllt werden. Gleichzeitig aber bliebe die zweite zentrale Anforderung durch eine Spezialisierung auf defensive Kräfte erfüllt: Die erfolgreiche Abwehr eines gezielten Angriffs. Unter diesen Bedingungen könnte ein solches Konzept dann langfristig auch Rüstungskontrolle ermöglichen.

Anmerkung

1) Ebenso existente nicht-militärische Verteidigungskonzepte sollen mit diesem Beitrag nicht absichtlich übersehen werden. Der Schwerpunkt liegt mithin aufgrund der gebotenen Kürze des Beitrags auf der Erörterung militärischer Konzepte. Eine Darstellung der »Sozialen Verteidigung« u.a. Konzepte muss an anderer Stelle erfolgen.

Literatur

Afheldt, H. (1976): Verteidigung und Frieden – Politik mit militärischen Mitteln. München: Hanser.

Armes, K. (1988): Discriminate deterrence: Western European comment. The Atlantic Community Quarterly, 26(3), S. 247-269.

Dieren, J. u.a. (2022): Der Appell – HET BONHE – Nein zum Krieg! – Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz! Veröffentlicht als Homepage, März 2022.

Iklé, F.; Wohlstetter, A. (1988): Discriminate deterrence. Report of the commission on integrated long-term strategy. Washington, DC.: Department of Defense.

Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik (Hrsg.) (1989): Vertrauensbildende Verteidigung – Reform deutscher Sicherheitspolitik. Gerlingen: Bleicher Verlag.

Unterseher, L. (1987): Bewegung, Bewegung! Zur Kritik eingefahrener Vorstellungen vom Krieg. Sicherheit und Frieden 5(2), S. 90-97.

Weizsäcker, C. F. v. (Hrsg.) (1971): Kriegsfolgen und Kriegsverhütung. München: Hanser.

Lukas Mengelkamp, M.A., wohnhaft in Darmstadt, ist Historiker und promoviert an der Universität Marburg über die Geschichte der Kritik nuklearer Abschreckung in den 1970er und 1980er Jahren.

Die Eskalationsspirale durchbrechen

Die Eskalationsspirale durchbrechen

Impulse für eine neue Friedensordnung

von Martina Fischer

Mit der Forderung nach Intensivierung der Diplomatie durchzudringen ist angesichts der dramatischen Bilder und des Kriegsverlaufs in der Ukraine nicht leicht – dennoch bleibt letztlich keine andere Wahl. Es geht darum, Menschenleben zu retten, die Ukraine als souveränen Staat zu erhalten und eine Ausweitung des Kriegs zu verhindern. Doch wie können die mit dem Krieg verbundenen Konflikte transformiert werden, und welche historischen Entwicklungen gilt es dabei zu berücksichtigen? Kann angesichts erneuter Blockkonfrontation in Europa überhaupt noch eine neue Sicherheits- und Friedensordnung entstehen? Welche Rolle können die EU und ihre Mitgliedstaaten dabei spielen?

Der Angriffskrieg der russischen Regierung auf die Ukraine stellt einen massiven Völkerrechtsbruch und Zerstörungsakt gegen die multilaterale Ordnung dar, und er verhöhnt das humanitäre Völkerrecht, das zum größtmöglichen Schutz der Zivilbevölkerung verpflichtet. Die Gräueltaten, die diese Kämpfe begleiten, sollten von unabhängigen Gerichten untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Entscheidungen von internationalen Organisationen und Einzelstaaten für Sanktionen in den Bereichen Finanzen, Technologietransfer und – soweit möglich – auch im Bereich der Energie sind als weltweites Signal und aus Gründen der Solidarität mit der Ukraine unbedingt erforderlich. Allerdings werden sie vermutlich erst längerfristig Wirkung entfalten.

Auch wenn die Bilder von Tod, Leid und Zerstörung in der Ukraine es sehr schwer machen, so müssen alle diplomatischen Kanäle genutzt werden. Es geht darum Menschenleben zu retten, die Ukraine als souveränen Staat zu erhalten und eine Ausweitung des Kriegs zu verhindern. Dafür muss auch der alles überwölbende Konflikt zwischen der NATO und Russland deeskaliert werden, denn letztlich will der Kreml mit diesem Krieg gegenüber der NATO seine Macht demonstrieren und die »westliche Vorherrschaft« brechen. Die Hoffnung auf eine neue Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa sollte man nicht aufgeben, auch wenn sie sich wohl allenfalls langfristig realisieren lassen wird. Eine Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, die Vergangenheit kritisch zu reflektieren und nach neuen Wegen für Rüstungskontrolle zu suchen.

Gefährliche Dynamik einhegen

Eine Politik der Stärke, wie sie durch internationale Institutionen, die EU-Mitgliedsländer und weitere Staaten mithilfe von Sanktionen beschlossen wurde, ist wichtig, um auf die russische Regierung Druck auszuüben. Die EU hat sich in unerwartet rascher Einmütigkeit zu mehreren Sanktionspaketen entschlossen. Allerdings weisen erfahrene Friedensforscher wie Tobias Debiel und Herbert Wulf (2022) auf die Ambivalenz und auch auf das eskalierende Potenzial von Sanktionen hin: Sie müssten Russland hart treffen, aber nicht vernichten. Tatsächlich muss man bei der Festlegung von Sanktionen die Wirkung für alle Seiten sorgfältig kalkulieren. Diese Herausforderung und die Betrachtung friedenspolitischer Minimalvoraussetzungen für Sanktionen (vgl. Werthes und Hussak 2022) sind wesentlich für den Erfolg von Sanktionsregimen. Die Einmütigkeit der Staaten der EU aus den ersten Kriegstagen ist allerdings mittlerweile einem eher gemischten Bild gewichen.

Weniger schwer taten sich die Mitgliedstaaten dagegen beim Thema Waffenlieferungen: Über die 2021 geschaffene und von vielen NGOs nicht nur wegen des irreführenden Namens kritisierte sogenannte »Europäische Friedensfazilität« (vgl. Fischer 2021), mit der neuerdings auch Waffen und Munition aus europäischer Produktion im Rahmen von Militärhilfe an Drittstaaten übergeben werden dürfen, wurden in den vergangenen Monaten große Mengen von Kriegsmaterial in die Ukraine geliefert.

Das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine steht angesichts eines Angriffskriegs außer Frage. Aber auch bei der militärischen Unterstützung sei Vorsicht geboten, so argumentieren die Friedensforscher Debiel und Wulf: Wenn sie über die Lieferung von Defensivwaffen hinausgehe, sei das „ein Spiel mit dem Feuer“ und ein Schritt auf die nächste Stufe der Eskalationsleiter. „Dies gilt insbesondere für die zeitweise diskutierte Entsendung polnischer MIG 29-Kampfflugzeuge. Allein deren logistische Verbringung in die Ukraine würde gefährlich die Schwelle zu einer unmittelbaren NATO-Kriegsbeteiligung streifen“ (Ebd. 2022). Die Eskalation in einen dritten Weltkrieg aber gilt es unbedingt zu verhindern.

Um sie zu verhindern, braucht es intensive diplomatische Bemühungen auf unterschiedlichen Ebenen. Aktuell müssten alle beteiligten Parteien mehr miteinander reden denn je, denn Fehlleistungen, die schon in Friedenszeiten zum militärischen Alltag gehören (z.B. Luftraumverletzungen), können in einer hocheskalierten Situation zum Desaster führen. Der Konfliktforscher Friedrich Glasl (2022a) hat überzeugend illustriert, wohin es führt, wenn nicht mehr gesprochen wird und sich die Energie nur mehr auf die Vernichtung des gegnerischen Systems richtet: gemeinsam in den Abgrund. Um im Gespräch zu bleiben, so Glasl, sind Dämonisierung und Polemik der falsche Weg.

Hin zum Waffenstillstand?

Die amerikanischen Politikwissenschaftler Thomas Graham (Council on Foreign Relations, New York) und Rajan Menon (City University of New York) haben in einem Aufsatz in »Foreign Affairs« (2022) bedenkenswerte Vorschläge unterbreitet. Sie gehen davon aus, dass sich der Krieg Jahre oder Jahrzehnte hinziehen und enorme Opfer und ökonomische Schäden mit sich bringen wird, womit sich die Gefahr erhöht, dass er sich ausweitet und dass die NATO-Staaten hineingezogen werden. Mit den Bildern weiterer Gräueltaten verstärke sich das Risiko, dass mit Maßnahmen reagiert werde, die weitere Eskalationsgefahren mit sich bringen – mittlerweile haben die bekannten Massaker in der Ukraine genau dies geschaffen: sich schließende Fenster für Gesprächsbereitschaft und weitere Eskalation.

Graham und Menon fordern, das Leiden durch diplomatisches Engagement und eine politische Übereinkunft zu beenden. Ein Waffenstillstand würde eine humanitäre Versorgung von Verwundeten und Geflüchteten innerhalb und jenseits der Ukraine ermöglichen und die Voraussetzungen für die Anbahnung von Verhandlungen verbessern. Die Ukraine und ihre Unterstützer*innen müssten überlegen, welche Kompromisse sie mittragen könnten. Aus ukrainischer Sicht wären Sicherheitsgarantien westlicher Länder für eine Neutralitätslösung zwingend, und diese müssten von Russland akzeptiert werden, das sich auch an den Kosten für den Wiederaufbau beteiligen müsste. Die westlichen Staaten wiederum müssten klären, unter welchen Bedingungen sie die Sanktionen gegenüber Russland wieder lockern könnten, um einen Anreiz für Kooperation zu schaffen.

Es sei das Recht der Ukraine, die Bedingungen für einen Waffenstillstand zu definieren, so Graham und Menon. Aber Verhandlungen könnten sich nicht auf die Ukraine und Russland beschränken, denn neben der geopolitischen Orientierung der Ukraine müsse man auch Moskaus Bedenken bezüglich der europäischen Sicherheitsarchitektur adressieren. Dazu werde der Kreml mit den Vereinigten Staaten verhandeln wollen, die als einziges Land – neben Russland – über das militärische Potenzial verfügen, die Machtbalance auf dem Kontinent zu beeinflussen. Die USA müssten folglich als Garant für ein Friedensabkommen fungieren. Die NATO-Osterweiterung stehe im Zentrum einer solchen Debatte. Bislang, so Graham und Menon, hätten die USA und ihre Alliierten jegliche Diskussion dazu kategorisch abgelehnt. Da der Kreml seinen Widerstand gegen den Beitritt der Ukraine nicht fallen lassen werde, müsse man ausloten, ob er die militärische Kooperation einer neutralen Ukraine mit westlichen Ländern akzeptieren würde, die eine Selbstverteidigung ermögliche, wenn ausgeschlossen wird, dass NATO-Kampftruppen, -Waffen oder -Stützpunkte in die Ukraine verlagert werden. Im Gegenzug müsste Russland auf die Stationierung militärischer Arsenale im Grenzgebiet verzichten.

Alle diplomatischen Foren und Kanäle nutzen

Die ukrainische Regierung hat im März die Möglichkeit einer Neutralität mit Sicherheitsgarantien und einen Sonderstatus der Gebiete in der Ostukraine als mögliches Verhandlungsthema in den Raum gestellt. Der russische Präsident deutete an, der Krieg könne enden, wenn die Ukraine auf den Donbass, die Krim und einen NATO-Beitritt verzichte. Allerdings wurden diese Optionen offenbar bislang nicht ernsthaft verhandelt. Ob der Kreml derzeit überhaupt an Verhandlungen interessiert ist, ist schwer zu beurteilen. Aktuell scheint er Feuerpausen eher für die Umgruppierung von Truppen zu nutzen. Das könnte sich aber ändern, wenn irgendwann die Kosten und Verluste auf der eigenen Seite und der Preis weiterer Kriegsführung (z.B. die Folgen von Sanktionen) als zu hoch eingeschätzt werden.

Für diesen Moment sollten alle direkt und indirekt beteiligten Konfliktparteien vorbereitet und daher für diplomatische Optionen offenbleiben. Dann könnte eine Vermittlung durch dritte Parteien ins Spiel kommen, die mit den Beteiligten nach einem gesichtswahrenden Ausstieg suchen. So könnte etwa ein Team von mediationserfahrenen Diplomat*innen unter Leitung einer*s UN-Sonderbeauftragten mit Russland, der Ukraine und der NATO nach Kompromissen suchen. Vermittler*innen sollten aus Staaten kommen, die nicht direkt in den Konflikt eingebunden und für alle Seiten akzeptabel sind. Irland, in Gestalt seiner ehemaligen Präsidentin und UN-Menschenrechtsbeauftragten Mary Robinson könnte dafür beispielsweise in Frage kommen, zusammen mit der OSZE-Generalsekretärin Helga Schmid, einer erfahrenen Diplomatin, die das Atomabkommen mit dem Iran maßgeblich mitverhandelt hat. Die Potenziale der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sollten dafür unbedingt genutzt werden. Ihre diplomatischen und sicherheitspolitischen Instrumente, wie Dialog- und Mediationsformate sowie Beobachtungsmaßnahmen, kamen im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine bereits zum Einsatz, wurden jedoch nie ausreichend unterstützt. Um das zu verstehen, ist ein historischer Rückblick nützlich.

Verpasste Chancen 1990-2022

Für den Historiker Bernd Greiner (2022) wurden nach der Auflösung der Sowjetunion viele Chancen verpasst, Frieden und Sicherheit in Europa zu stärken. Die 1990er-Jahre bezeichnet er gar als ein „sicherheitspolitisch vergeudetes Jahrzehnt“ (Ebd.). Statt auf die OSZE zu setzen und eine Sicherheitsarchitektur gemeinsam mit Russland zu entwerfen, setzten einflussreiche Berater*innen und Regierungen insbesondere in den USA auf die Erweiterung des westlichen Militärbündnisses – ohne Not und in einer Zeit, in der Russland keinerlei Bedrohung für die NATO darstellte. Der UN-Experte Andreas Zumach (2022) sprach in diesem Zusammenhang von der „Hybris“ der westlichen Mächte. Eine Reihe von erfahrenen Diplomat*innen und Politiker*innen hatten vor solchen Schritten gewarnt. Sie befürchteten, dass diese Expansionspolitik all jenen Auftrieb geben könnte, die die Auflösung des sowjetischen Großreichs schwer verwinden konnten und sich weiterhin an imperialen, großrussischen Ideen orientierten, so Zumach. Mit der Besorgnis lagen sie offenbar nicht ganz falsch. Nicht nur im Kreml, sondern auch in nicht unerheblichen Teilen der russischen Gesellschaft stieß die NATO-Osterweiterung auf Ablehnung.

Fehler Nr. 1: Militärische Bündnispolitik statt »kooperativer Sicherheit«

Zwar wurde in der NATO-Russland-Grundakte die Integration der osteuropäischen Staaten in den 1990er Jahren noch gemeinsam verhandelt. Gleichwohl berief sich die russische Regierung in den vergangenen Jahren zunehmend auf eine Ankündigung der Regierung Kohl/Genscher und von US-Außenminister James Baker von 1990, auf eine NATO-Osterweiterung zu verzichten. Als die Ukraine und Georgien neben der EU-Mitgliedschaft auch die Aufnahme in die NATO begehrten, reagierten die deutsche und die französische Regierung daher entsprechend zurückhaltend. Jedoch signalisierte die NATO auf dem Gipfel in Bukarest 2008 auf Drängen der USA, dass die Tür für eine Mitgliedschaft beiden Ländern offenstehe, wobei der Zeitrahmen offengelassen wurde. Eine »Warnrede«, die Putin 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz zu diesem Thema gehalten hatte, wurde ignoriert. Die in Bukarest gefundene Formel wertete der Kreml als „NATO-Mitgliedschaftsperspektive und eine nicht hinnehmbare Bedrohung der von Russland traditionell geforderten Einflusssphäre“, so berichtete der vormalige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger (2021). Bei einer Pressekonferenz am 14.2.2022 bezeichnete er diesen Schritt als gravierende Fehlentscheidung des Bündnisses (Ischinger 2022).

2014 bekräftigte der NATO-Generalsekretär erneut die Offenheit für den ukrainischen Beitritt. Putin reagierte mit einer Destabilisierung der beitrittswilligen Länder, indem er die Konflikte in Georgien eskalierte, pro-russische Separatisten im Donbass unterstützte und schließlich die Krim annektierte. Im selben Jahr verlieh die US-amerikanische Regierung der Ukraine den Status eines »major-non-­NATO-ally«, was umfangreiche militärische und wirtschaftliche Unterstützung ermöglichte, und stattete sie fortan umfassend mit Waffen aus. Am 1.9. und 20.11.2021 vereinbarten die US-amerikanische und die ukrainische Regierung schließlich eine »strategische Partnerschaft« beider Länder, mit der die USA zusicherten, die vollständige Integration der Ukraine in die europäischen und euro-atlantischen Institutionen zu unterstützen, sowie die Souveränität und territoriale Integrität des Landes zu sichern (US Department of State 2021).

Auch auf wirtschaftlicher Ebene gab es massive Zerwürfnisse: Während Russland in den 2010er-Jahren in Europa eine Eurasische Wirtschaftsunion unter Einschluss der Ukraine anstrebte, betonten westliche Regierungen die Selbstbestimmung des Landes und seine Einbindung in den Westen. Das Assoziierungsabkommen, das die EU 2014 mit der Ukraine, Moldau und Georgien unterzeichnete, war Teil des Wettlaufs konkurrierender und einander ausschließender Integrationskonzepte. Insofern ist die EU aus der Sicht des Kreml Teil des Problems und nicht der Lösung – sie konnte daher auch nicht wirklich eine Mediationsfunktion in der aktuellen Situation übernehmen. In der gegenwärtigen Situation scheint das auch nicht gewünscht zu sein.

Zur Verschlechterung der Beziehungen trugen weitere Faktoren bei, etwa Völkerrechtsverletzungen der NATO-Mitgliedstaaten im Krieg um Kosovo, im Irak-Krieg und durch Überschreitung des UN-Mandats in Libyen (siehe Zumach in W&F 2/2022).

Fehler Nr. 2: Erosion der Rüstungskontrolle

Dazu kamen die Auflösung aller vertrauensbildenden Foren und der Abbruch von Rüstungskontrollvereinbarungen, die in der Endphase des Kalten Kriegs errungen worden waren, auf Initiative von US-Regierungen. Wolfgang Richter (2016) verweist in einem Hintergrundaufsatz auf den hoffnungsvollen Start, der 1990 mit der Charta von Paris und 1992 mit der Unterzeichnung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) mit acht Nachfolgestaaten der Sowjetunion einschließlich Russlands gegeben war. Dieser sah ein militärisches Blockgleichgewicht auf niedrigem Niveau und geographische Stationierungsbegrenzungen vor.

Mit der Entscheidung über den Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns zur NATO im Jahr 1997, mit dem der Kreml die Pariser Vereinbarung gefährdet sah, verband man immerhin noch das Versprechen, keine substanziellen Kampfgruppen dauerhaft in den Beitrittsländern zu stationieren, die OSZE zu stärken und die Sicherheitskooperation mit Russland auf der Grundlage der NATO-Russland-Grundakte zu intensivieren. Weiterhin galt das in der Europäischen Sicherheitscharta verankerte Prinzip der freien Bündniswahl, jedoch verknüpft mit der Klausel, dass kein Staat oder Bündnis die eigene Sicherheit zu Lasten von Partnern stärken oder privilegierte Einflusssphären schaffen dürfe. So sollte – auf der Basis der KSE-Grundakte – ein „zentraleuropäischer Stabilitätsraum von Deutschland bis zur Ukraine mit besonderen Rüstungskontrollverpflichtungen geschaffen und der Abzug russischer Stationierungstruppen aus Georgien und Moldau mithilfe der OSZE und durch bilaterale Vereinbarungen geregelt werden. Dass diese politische Meisterleistung in den Folgejahren nicht umgesetzt wurde, ist die tiefere Ursache der gegenwärtigen europäischen Sicherheitskrise“, so Wolfgang Richter schon vor einigen Jahren.

Der Grund dafür lag im Kurswechsel, den die USA unter der Bush-Administration vollzogen. Vorschläge aus dem Kreml, die OSZE durch eine verbindliche Charta zu stärken oder einen neuen Sicherheitsvertrag zu schließen, wiesen die USA mit Unterstützung von Verbündeten zurück. Man forcierte stattdessen die Erweiterung der NATO um das Baltikum, Rumänien und Bulgarien bis ans Schwarze Meer. Die USA stationierten Kampfgruppen im südöstlichen Flankengebiet und strategische Raketenstellungen in Polen und Tschechien. 2001 kündigte Präsident George W. Bush den ABM-Vertrag zum Verbot antiballistischer Raketenabwehr. Danach kündigte die US-Regierung den Aufbau einer strategischen Raketenabwehr in Europa an, und schließlich suspendierte sie auch noch die Ratifizierung der Anpassungsvereinbarung des KSE-Vertrags. Vor diesem Hintergrund bildeten die Pläne zu weiterer Bündnisausdehnung aus Sicht des Kreml eine Provokation, meint Wolfgang Richter in seinem Aufsatz. Auch unter Präsident Obama habe die Rüstungskontrolle keinen Neuanfang erlebt. Die NATO-Strategie von Lissabon habe 2010 unverändert die Bündniserweiterung als bestes Mittel für die Stabilität Europas beschrieben, ohne die OSZE auch nur zu erwähnen. Auch der NATO-Russland-Rat habe versagt, denn „anders als vereinbart, trat die Allianz in wichtigen europäischen Sicherheitsfragen wie der Rüstungskontrolle und der Raketenabwehr mit geschlossenen Blockpositionen gegen Russland auf. In der Krise suspendierte die NATO den Dialog, statt ihn zu suchen“ (Ebd.).

»Kooperative Sicherheit« wird weiterhin benötigt

Die genannten Versäumnisse und Fehlentscheidungen rechtfertigen keinesfalls die Reaktionen der russischen Regierung, weder die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, noch die Förderung des Kriegs in der Ostukraine, der schon von 2014 bis Ende 2021 mehr als 14.000 Todesopfer forderte (Swissinfo 2022). Sie rechtfertigen schon gar nicht einen Angriffskrieg, wie ihn die Ukraine nun erleiden muss. Für diese militärische Eskalation, für die toten und versehrten Menschen und Seelen trägt ausschließlich der Kreml Verantwortung. Aber die Erosion der Rüstungskontrolle und dass Russland wiederholt von westlicher Seite in wichtigen Entscheidungen und Verhandlungsforen an den Rand gedrängt wurde, sind wichtige Wegmarken in der Geschichte eines Konflikts, der sich seit vielen Jahren entwickelt und immer weiter zugespitzt hat (vgl. Fischer 2022). Das Verhalten der NATO-Mitgliedstaaten hat zur Verschlechterung der Beziehungen beigetragen und den großrussischen Kräften, die jetzt den Kurs bestimmen, entscheidende Argumente für die Legitimation der Aggression geliefert.

Wer den Krieg und Putins Rhetorik nun für umfassende Schuldzuweisungen an die Architekt*innen der Entspannungspolitik des 20. Jahrhunderts nutzt, macht es sich zu einfach. Das Konzept der »kooperativen Sicherheit«, die Verständigung zwischen den Staaten der NATO und des Warschauer Vertrags und die schon erwähnten Rüstungskontrollvereinbarungen haben entscheidend zur Auflösung der Blockkonfrontation beigetragen und ermöglicht, dass in Europa mehr Menschen als je zuvor in relativer Sicherheit und demokratischen Verhältnissen leben konnten. Man hätte diese Ansätze nicht leichtfertig über Bord werfen und auf die Dominanz der militärischen Logik setzen dürfen (vgl. auch Greiner 2022).

Man sollte die Hoffnung auf eine langfristige europäische Sicherheits- und Friedensarchitektur nicht einfach aufgeben. Wenngleich eine mehrjährige Konferenz, die sich um die Schaffung einer neuen Sicherheitsordnung in Europa bemüht, wie sie noch 2021 von ehemaligen Bundeswehroffizieren, Diplomaten und Friedensforscher*innen gefordert wurde (Varwick et al 2021), kurzfristig nicht umsetzbar erscheint, ist sie nicht völlig obsolet. Eine Neuauflage des »Helsinki-Prozesses« wäre wichtig, meint auch Herbert Wulf (2022): ein politisches Projekt, in dem atomare Abschreckung eingehegt wird, mit dem Ziel, wieder zu einer vorhersagbaren Politik zurückzukehren und den Weg für Rüstungskontrollverhandlungen über grenznahe Waffensysteme zu ebnen. Voraussetzung dafür sei die Respektierung völkerrechtlicher Prinzipien, die in den vergangenen Jahren nicht nur von Russland, sondern auch von westlichen Akteuren verletzt wurden.

Was es braucht

Wir brauchen eine europäische Sicherheitsarchitektur, die von allen Seiten mitgetragen wird, die garantiert, dass Grenzen geachtet werden und dass sich Sicherheit nicht nur an militärischer Logik, sondern an den Bedürfnissen der Menschen – also am UN-Konzept der »menschlichen Sicherheit« orientiert. Auch die EU kann dazu beitragen, indem sie die UNO und OSZE als Systeme kollektiver und kooperativer Sicherheit in Zukunft noch viel umfassender als bisher unterstützt, anstatt sich auf den Ausbau eigener Militärpotenziale und die Stärkung der NATO zu konzentrieren. Eine solche Struktur sollte weder von Russland diktiert, noch von den Vereinigten Staaten dominiert werden, sondern eine neue, europäische Ausrichtung haben. Die Grundlage dafür bietet die OSZE, nicht der Ausbau von Militärbündnissen, die sich waffenstarrend gegenüberstehen. Dialogforen, die Vertrauensbildung und Rüstungsbegrenzung ermöglichen, müssen wiederbelebt und reformiert werden. Gleichzeitig ist zu hoffen, dass sich im Kreml irgendwann wieder Berater*innen Gehör verschaffen, die die Vorteile kooperativer Sicherheitsstrukturen zu schätzen wissen.

Man sollte alles daransetzen, die in der OSZE existierenden Instrumente für Rüstungskontrolle weiterzuentwickeln. Ziel ist eine überprüfbare Konvention über das Verbot unkonventioneller und irregulärer Kriege (Verzicht auf die Unterstützung von bewaffneten Akteuren in Drittstaaten durch Waffen, mediale Einflussnahme und Cyberattacken – bislang ist all das sowohl in der russischen als auch in der US-amerikanischen Militärdoktrin verankert). Zudem sollte man die USA und Russland dafür gewinnen, dem kürzlich (von der Trump-Regierung) gekündigten Open-Skies-Abkommen, das vertrauensbildende Maßnahmen im Luftraum vorsieht, wieder beizutreten. Das Überleben der Menschheit wird maßgeblich davon abhängen wird, ob es gelingt, mit den damaligen Partnern der KSE-, SALT-, START-Abkommen, aber auch mit China, Indien, Iran und Israel eine globale Sicherheits- und Friedensarchitektur auszuhandeln (vgl. Glasl 2022b).

Auch auf globaler Ebene müssen Kommunikationskanäle und Abkommen etabliert werden, die einen »Weltkrieg aus Versehen« und ein völlig entgrenztes Wettrüsten verhindern, das in einer multipolaren Welt noch viel gefährlichere Formen annimmt, als im Kalten Krieg. Schon jetzt übertreffen die Arsenale der NATO-Mitgliedstaaten die Potenziale Russlands übrigens um das Vier- bis Fünffache. Das sollte für effektive Landes-und Bündnisverteidigung reichen. Weitere Hochrüstung würde nicht mehr Sicherheit schaffen, sondern die Mittel vernichten, die für die Bewältigung der großen Krisen, die die Menschheit herausfordern – Pandemien, die Klimakrise und das Artensterben – dringend benötigt werden.

Der Text von Martina Fischer wurde in veränderter Form am 26.4.2022 von der Bundeszentrale für politische Bildung online veröffentlicht: „Die Hoffnung auf eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur nicht aufgeben“, in: Deutschland Archiv (bpb.de/507623).

Literatur

Debiel, T.; Wulf, H. (2022): Eskalation und Deeskalation im Ukraine-Krieg. INEF Development and Peace Blog, 14.3.2022.

Fischer, M. (2021): Zivile Potentiale der EU ausbauen. Krisenprävention und Friedensförderung stärken. In: W&F 1/2021, S. 10-13.

Fischer, M. (2022): Warum es in der Ukraine-Krise Kooperation braucht. Blogbeitrag, Brot für die Welt, 07.02.2022.

Glasl, F. (2022a): Konfliktdynamik und Friedenschancen in der Ukraine. Online-Vortrag, 24.03.2022. Aufzeichnung des Vortrags steht online zur Verfügung.

Glasl, F. (2022b): Aufruf an verantwortungsbewusste Menschen in Politik und Zivilgesellschaft zum Beenden des Ukraine-Kriegs. Trigon Entwicklungsberatung, 28.03.2022.

Graham, Th.; Menon, R. (2022): How to make peace with Putin. The west must move quickly to end the war in Ukraine. Foreign Affairs, 21.03.2022.

Greiner, B. (2022): Was lief schief seit dem Ende des Kalten Krieges? Deutschland Archiv Blog, bpb, 01.04.2022.

Ischinger, W. (2021): Was jetzt zu tun ist. Süddeutsche Zeitung, 30.12.2021.

Ischinger, W. (2022): Präsentation des Munich Security Report 2021 auf der Bundespressekonferenz, 14.02.2022.

Richter, W. (2016): Meinung: Der Westen trägt eine Mitverantwortung für die Ukraine-Krise. Thema Kriege und Konflikte, bpb Homepage, 05.09.2016.

Swissinfo (2022): Dauerkonflikt in der Ostukraine: UN erhöht Opferzahl deutlich, 12.01.2022.

US Department of State (2021): U.S.-Ukraine charter on strategic partnership. Presseerklärung, 10.11.2021.

Varwick, J.; u.v.a. (2021): Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland. Stellungnahme, 05.12.2021.

Werthes, S.; Hussak, M. (2022): Das Sanktionsregime gegen Russland. Friedenspolitische Reflexionen angesichts des Krieges gegen die Ukraine. In W&F 2/2022, S. 18-21.

Wulf, H. (2022): Escalation, de-escalation and perhaps – eventually – an end to the war? Toda Policy Brief 128, Toda Peace Institute, April 2022.

Zumach, A. (2022): Putins Krieg, Russlands Krise. Le Monde Diplomatique – Deutsche Edition, 10.03.2022.

Zumach, A. (2022): Selektivität und doppelte Standards. Die UNO vor dem Rückfall in die Blockaden des Kalten Krieges. In: W&F 2/2022, S. 21-23.

Martina Fischer ist Politikwissenschaftlerin und war knapp 20 Jahre bei der Berg­hof Foundation in Berlin tätig. Seit 2016 arbeitet sie bei »Brot für die Welt« als Referentin für Frieden und Konfliktbearbeitung.

Leben mit der Pandemie:

Leben mit der Pandemie:

Klappt nur in privilegierten Zonen

von Katja Maurer

Gerade haben mich Freunde aus Chile besucht. Sie berichteten aus ihrem Dorf, ca. 150 Kilometer von der Hauptstadt Santiago entfernt. In der ersten Welle von Covid-19 bewachten die Anwohner*innen alle Eingänge zum Dorf, um niemand Auswärtigen hineinzulassen. „Wir können hier nicht schwer krank werden. Das ist ein Todesurteil“, sagten sie mir. Das nächste Krankenhaus mit Sauerstoff und Lungenmaschine befindet sich nämlich erst in Santiago.

In Chile wurde ein großer Teil der Bevölkerung mit dem chinesischen Impfstoff »Sinovac« geimpft. Der schützt aber nur vor einem schweren Verlauf, also stiegen im chilenischen Winter die Ansteckungsraten wieder in schwindel­erregende Höhen. Nun könnten noch andere Kriterien als die Inzidenzraten herangezogen und mehr getestet werden, um so hohe Inzidenzen verkraften zu können. In Chile geht das leider nicht. Denn es gibt keine frei verfügbaren Tests. Es lässt sich nur testen, wer sich krank fühlt – und das möglichst heimlich.

Die Regierung reagierte mit autoritären Maßnahmen. Seit fast anderthalb Jahren herrschen mit Unterbrechungen eine abendliche Ausgangssperre und Notzustand, kontrolliert von schwer bewaffneter Polizei und Sondereinheiten des Militärs. Dies ruft keine guten Erinnerungen bei vielen Chilen*innen wach. Alle Maßnahmen sind notgedrungen löchrig, weil die Leute arbeiten müssen, um zu überleben. Busse und Bahnen sind weiter gestopft voll. Eine vollständige Ausgangssperre gilt oft nur am Wochenende, was keinen gesundheitspolitischen Sinn ergibt. Die Schulen und Universitäten sind seit anderthalb Jahren geschlossen. Doch selbst bei vorsichtigen Versuchen sie zu öffnen, weigern sich die Eltern, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Die meisten können sich nicht gegen Covid-19 schützen. Krank zu werden birgt ein großes, wenn nicht tödliches Risiko.

Chile ist vergleichsweise wohlhabend. Was dieses Beispiel über andere ärmere Länder erzählt, in denen es nicht einmal Impfstoff gibt, lässt sich ausmalen. Die Welt wird künftig in voneinander unabhängige räumliche Blasen mit unterschiedlichen Gesundheitsmöglichkeiten aufgeteilt sein. Alle Hoffnungen, dass wir aus der Pandemie auch für zukünftige Krisen lernen könnten, haben sich zerschlagen.

Für diese gesundheitspolitische Spaltung der Welt gibt es verschiedene Gründe. Die Gesundheitssysteme wurden in den vergangenen Jahren in vielen Staaten dem Gesundheitsmarkt zugeführt. Die „öffentliche Gesundheitsinfrastruktur“, so der Gesundheitswissenschaftler Remco van der Pas, sei im Süden in den vergangenen Jahrzehnten
„fast völlig verschwunden“. So leidet die Gesundheitsprävention, die nur funktionieren kann, wenn Aufklärung, Heilungsmöglichkeiten und demokratische Beteiligung an den Formen der Prävention Hand in Hand gehen. Die AIDS-Pandemie ist der historische Beweis dafür. Davon sind wir heute meilenweit entfernt. Die aktuelle Pandemiebewältigung ist eine Mischung aus medizinischen und autoritären Maßnahmen – zu wenig, wenn man mit dem Virus leben muss.

Die zweite Katastrophe in der globalen Krisenbewältigung ist die Weigerung, die Patente auf den Impfstoff wenigstens zeitweise freizugeben. Allen voran Deutschland und die EU setzen ihre Wirtschaftsinteressen vor die globalen Interessen der Gesundheit. Doch nur mit lokalen Produktionen des Impfstoffes wäre es möglich, diese Pandemie weltweit einzudämmen. Deutschland lädt sich mit seiner Weigerung eine hohe moralische Schuld auf. Eine Initiative deutscher Bürger*innen verlangt nun, wenigstens mit dem einstigen Kolonialstaat Namibia Impfstoff zu teilen. Hier habe man schließlich eine historische Verantwortung aus dem Kolonialismus. Ob das Bewegung in die festgefahrene Haltung bringt? Es wäre eine Überraschung.

Denn in der globalen Gesundheitspolitik hat längst eine weitgehende Versicherheitlichung eingesetzt. Statt über Formen der Demokratisierung von Weltgesundheit nachzudenken, in der ein öffentliches Gut eine wesentliche Rolle spielen würde, ist der Diskurs über »Gesundheitssicherheit« immer stärker geworden. Dabei geht es hauptsächlich um die Sicherheit der Privilegierten in den Ländern mit höherem Einkommen. Gesundheitssicherheit ist das Gegenmodell zur »Gesundheit für alle«, dem einstigen Leitmotto der WHO. Gesundheitssicherheit dämmt ein und schottet ab. Darin bildet sich eine künftige Weltpolitik ab, die kein Problem mehr lösen kann. Schlechte Aussichten also für eine solidarische Gesundheitspolitik.

Katja Maurer ist Chefredakteurin der Zeitschrift „rundschreiben“, die von der sozialmedinischen Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international herausgegeben wird.

Schrödingers Sicherheitsautonomie


Schrödingers Sicherheitsautonomie

Die EU zwischen Zivilmacht und Militärmacht

von Thomas Roithner

Die Autonomie in der EU-Sicherheitspolitik wird nach dem ­Brexit zu Schrödingers Katze: sie ist gleichzeitig lebendig und tot. Sie ist lebendig, vor allem weil Emmanuel Macron und die Rüstungsunternehmen darauf drängen. Sie ist tot, weil das Schwergewicht Großbritannien ausgeschieden ist und es am Grundlegenden – einer gemeinsamen Stimme in der Außenpolitik – oft mangelt. Eine Bestandsaufnahme der bisher erfolgten Schritte der Militarisierung der EU bietet die Chance, aktuelle Militarisierungstendenzen besser einzuschätzen.

Die USA formulieren seit vielen Jahrzehnten mit unterschiedlicher Vehemenz, dass die EG bzw. die EU sicherheitspolitisch nicht selbständig, abgekoppelt, gegengewichtig oder duplizierend wirken darf. Dieses weitgehend akzeptierte Verhältnis hat sich jedoch seit 2016 grundlegend gewandelt:

Zum einen durch die unmittelbar zeitlich beieinanderliegenden Ereignisse des Brexit und des Beschlusses der »EU-Globalstrategie« (EEAS 2016). Dieser zeitliche Zusammenhang war zwar zufällig, die Folgen hängen jedoch zusammen. Die Globalstrategie fordert mitunter »Hard Power« ein – eine Politik, die Großbritannien immer ausschließlich im transatlantischen Bündnis und nicht in der EU verortet hat (trotz der eigenen Rüstungskapazitäten).

Zum anderen hat Donald Trumps »America First«-Politik und seine Kritik an den NATO- und EU-Strukturen den Bemühungen um eine autonome EU-Militär- und Rüstungspolitik seit Jahresbeginn 2017 zusätzlichen Antrieb verliehen. Dass die USA sprichwörtlich »kocht und die EU den Abwasch besorgt«, soll nun besonders aus französischer Sicht der Vergangenheit angehören. Emmanuel Macron erklärte die US-dominierte NATO für „hirntot“ und verfolgt seither die Stärkung einer »EU-First«-Policy. Joe Biden ändert zwar das Lagebild, aber ein NATO-freundlicher Präsident Biden sei trotzdem keine Hilfe, die EU-Interessen in einer konfrontativeren Weltordnung durchzusetzen, so Paris sinngemäß. Beim Erlernen der »Sprache der Macht« wird inklusiv wirkenden Organisationen wie der UNO und der OSZE im Vergleich zur Herausbildung eigener Instrumente der Interessendurchsetzung zunehmend weniger Bedeutung eingeräumt. Institutioneller Pluralismus gerät so zur Nebensache statt Handlungsmaxime zu bleiben. Strategische Autonomie zu erreichen hat mittlerweile beinahe sprichwörtlichen Status in der EU.

Zum Dritten kommt nun zum Tragen, dass die EU-Staaten unterschiedliche außenpolitische Traditionen haben, die ihr jeweiliges Verhältnis zu einer gemeinsamen europäischen »strategischen Autonomie« bestimmen. Neben 21 NATO-Mitgliedern gehören der EU-27 auch sechs neutrale bzw. paktfreie Staaten an. Mit den EU-Erweiterungen kamen Mitglieder hinzu, die eigentlich schneller in die NATO als in die EU wollten. Das zeigt sich an der Inkohärenz der bisherigen GSVP/ESVP-Ansätze: Uneinigkeit bei Streitfragen wie der Flüchtlingspolitik, der Konfliktlösung in Syrien, Libyen oder der Ukraine oder der Anerkennung von Palästina und Kosovo als eigenständigen Staaten; Unklarheit in der Einschätzung der neuen Seidenstraßen; Debatten um (vollständig) autonome Waffensysteme oder die Haltung zum Atomwaffenverbotsvertrag zeigen, wie unzureichend das »Gemeinsame« in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik funktioniert.1

So verharrt die EU-Sicherheitsautonomie in einem Schwebezustand ähnlich Schrödingers Katze: einerseits wird sie von starken Befürworter*innen weiter am Leben gehalten und ausgebaut, während sie zeitgleich aufgrund einer großen Uneinigkeit und Streitigkeiten innerhalb der Union nicht vorankommt.

Auslandseinsätze

Trotz all der Differenzen verweist die EU auf 18 aktuell laufende und knapp zwei Dutzend abgeschlossene Auslandseinsätze (EEAS 2021). Räumlich gesehen liegen die Schwerpunkte dabei in Afrika und auf dem Balkan. Zwei Drittel der EU-Einsätze seit 2003 weisen einen zivilen Charakter auf, jedoch nur 20 % des operativen Personals waren und sind zivil und die Anzahl der eingesetzten zivilen Kräfte war in der letzten Dekade kontinuierlich rückläufig. Obwohl die EU stets betont, sowohl über zivile als auch militärische Einsatzmöglichkeiten zu verfügen, zeigt die Praxis eine klare Asymmetrie zugunsten der militärischen Kapazitäten. Der »Civilian Compact« der EU aus dem Jahr 2018 bleibt also weit hinter seinen Möglichkeiten zurück (vgl. Artikel von Fischer in dieser Ausgabe von W&F).

Doch trotz der Asymmetrie zugunsten militärischer Optionen wurden bspw. die »EU Battle Groups« seit ihrer Einführung 2005 aufgrund politischer und finanzieller Uneinigkeiten bisher noch nie eingesetzt. Da jeder EU-Staat gegen den Einsatz der Truppen sein Veto erheben kann und allen Truppenstellern für Battle Groups drohte, die finanzielle Hauptlast dafür tragen zu müssen, entschloss sich der Europäische Rat 2017, die Entsendung der Battle Groups als gemeinsame Kosten zu betrachten. So sollte die Hemmschwelle für deren Einsatz gesenkt werden.

Mit Blick auf die Militarisierungs­schübe der EU ist es frappierend, zu sehen, dass es weniger als sechs Monate benötigte, um nach dem Brexit-Referen­dum die Grundlagen für ein EU-Hauptquartier zu schaffen. Im Juni 2017 wurde der militärische Planungs- und Koordinierungsstab für EU-Auslandseinsätze (MPCC) beschlossen.

Die neue »Europäische Friedensfazilität« (EFF) soll den Pool an Instrumenten der EU für Auslandseinsätze erweitern. Die EFF ist nicht im Finanzrahmen gelistet, da sie außerhalb des Haushaltes finanziert wird. Finanziert werden mit diesem Instrument u.a. militärische Einsätze – trotz des Namens. Dazu zählen weltweite Militäreinsätze von Dritten, die im Interesse der EU sind, wobei sowohl Truppen als auch deren Infrastruktur bezahlt werden können (Europäische Kommission 2018). Offenkundig hatte der jahrelange Druck wesentlicher Teile der politischen und militärischen Eliten in der EU gewirkt.

Rüstungsinitiativen

Die abgelaufene Dekade war von Appellen zur gemeinsamen Aufrüstung geprägt. Schon dem EU-Vertrag von Lissabon (2007) ist zu entnehmen, dass sich die Mitgliedstaaten „verpflichten […], ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ (Artikel 28a(3)). Die damalige Hohe Vertreterin für die Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, hat dazu erläutert: „Wer Frieden will, muss sich rüsten“ (Ashton 2013). Die EU-Globalstrategie (EEAS 2016, S. 45) wiederum schreibt fest, dass „die Mitgliedstaaten bei den militärischen Spitzenfähigkeiten alle wichtigen Ausrüstungen [benötigen][…]. Dies bedeutet, dass das gesamte Spektrum an land-, luft-, weltraum- und seeseitigen Fähigkeiten […] zur Verfügung stehen muss“.

Besonders in der EU-Rüstungspolitik fungierte das britische Brexit-Referendum als Katalysator. Schon im November 2016 schlug die EU-Kommission den »Verteidigungs-Aktionsplan« vor, der den EU-Rüstungsmarkt stärken sollte. Als Ursache der mangelnden Kooperation unter den EU-Staaten wurde nationaler Protektionismus ausgemacht, den Binnenmarktregeln eigentlich unterbinden sollten und dem nun mit dem Aktionsplan entgegengetreten werden sollte. Im Juni 2017 wurde der Aktionsplan dann zum »Europäischen Verteidigungsfond« (EVF) weiterentwickelt. Das Ziel dieses Fonds ist es, „den Mitgliedstaaten zu helfen, das Geld der Steuerzahler effizienter auszugeben“, wobei unbemannte Systeme, Satelliten, die Marine und Drohnen jeweils Schwerpunkte bilden (Europäische Kommission 2017). Neben dem EVF sind noch weitere Rüstungsbudgets versteckt Teil des Haushaltes: Die »militärische Mobilität« und die »EU-Weltraumprogramme« (vgl. Demirel und Wagner in dieser Ausgabe von W&F). Der Rüstungsbranche ist also das »impfen« des Budgets in den strategisch zentralen Bereichen durchaus sichtbar gelungen.

Heute stellt die EU einen rüstungspolitisch relevanten Faktor dar, ersetzt jedoch kein nationales Militärbudget. Sie koordiniert, verstärkt, sammelt Steuergeld für EU-Rüstungsprojekte ein und wirkt an der Steigerung der Rüstungsexporte mit. Bei wichtigen rüstungspolitischen Entscheidungsprozessen sitzen Rüstungskonzerne mit am Tisch. Zwischen EU-Institutionen, nationalen Regierungen und der Rüstungsindustrie hat sich eine ständig in Bewegung befindliche Drehtür etabliert (vgl. ALTER-EU 2018; Nielsen 2020).

PESCO

Politische Uneinigkeit und die Notwendigkeit einstimmiger Beschlüsse stehen einem gemeinsamen Handeln der EU immer wieder im Weg. Ablehnende Volksentscheide zu EU-Verträgen verdichteten die Alternative zur Vielstimmigkeit in der Sicherheitspolitik: Die militärisch Potenten und politisch Willigen geben den Ton an, die anderen bleiben draußen. Der Vertrag von Lissabon 2007 sah die ständige strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) vor; im Dezember 2017 wurde diese dann Realität, denn das Austrittsreferendum in Großbritannien hatte den vehementesten Kritiker autonomer EU-Sicherheitsstrukturen aus dem Diskussionsprozess genommen.

In diesem Rahmen wurden bislang 47 Projekte ins Leben gerufen, darunter Diskussionswürdiges wie die Eurodrohne, Euro-Artillerie oder ein neuer EU-Kampfhubschrauber. PESCO sieht eine „regelmäßige reale Aufstockung der Verteidigungshaushalte“ vor, muss also als klares Zeichen einer Militarisierung der EU verstanden werden. Nicht alle EU-Staaten nehmen an allen Projekten teil und ein Veto zu kontroversen Vorhaben erscheint unnötig.

Allerdings ist auch PESCO nicht nur erfolgreich. Die jährliche Überprüfung im »koordinierten Jahresbericht zur Verteidigung« (CARD) hat eine Fragmentierung und Inkohärenz bei Ausgaben für Rüstung und Truppen festgestellt. Es sei ein Dickicht an Projekten entstanden, der nationale Interessenbasar eben nicht überwunden und nur zwölf der 47 Projekte lieferten konkrete Ergebnisse. Die Industrie hat zwar Gewinne verbucht, sich aber gemessen an den Plänen von 2016 wenig bewegt. Aus militärischer Logik ist PESCO ein enger Sicherheitsgewinn, aber in einer breiteren Sicht kein Friedensprojekt.

Ein neues Kerneuropa?…

Neben dem institutionalisierten Kerneuropa hat Frankreich mit der Europäischen Interventionsinitiative (EI2) eine von EU und NATO unabhängige Spielart eines militärisch aktiven Kerneuropa geschaffen. Diese Initiative setzt nicht auf eine breite Beteiligung, sondern auf punktuelle Entschlossenheit einzelner Staaten. Frankreich und Deutschland sind in beiden Varianten – PESCO und EI2 – militärischer Schrittmacher für andere EU-Staaten.

Frankreich und Deutschland stehen bei einigen bi- und trilateralen Formen der Rüstungskooperationen im Zentrum. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen arbeitet Hand in Hand mit dem französischen EU-Kommissar für Rüstung und Raumfahrt, Thierry Breton. Beim kommenden Kampfflugzeugsystem (»Future Combat Air System«, FCAS) wird französisch und beim künftigen Kampfpanzersystem (»Main Ground Combat System«, MGCS) wird deutsch gesprochen. Allerdings ziehen Frankreich und Deutschland dabei keineswegs nur an einem Strang: die Widersprüche zwischen Paris und Berlin sowie Zeitverzögerungen in der Umsetzung sind vielgestaltig. Neben dreistelligen Milliardenbeträgen geht es dabei auch um die Souveränität nationaler Rüstungsexportpolitiken, um die Frage, wessen und ob neue Kampfflugzeuge Atomwaffen tragen sollen und wo die Grenzen der Kooperation mit den USA liegen. Der deutsch-französische Freundschaftsvertrag von Aachen aus dem Jahr 2019 ist ein Lösungsversuch, zwar mit vielen offenen Fragen, aber einer ganz klaren Stoßrichtung: einer verstärkten und integrierten Militarisierung der EU.

…und der Rest

Die außenpolitische Uneinigkeit der EU-27 allerdings durch Militärambitionen eines deutsch-französischen Kerneuropas zu kompensieren ist – langfristig gesehen – im günstigsten Fall wirkungslos, im schlimmsten Fall gefährlich. Schon jetzt sind Tendenzen erkennbar: Staaten am kerneuropäischen Abstellgleis verlieren in Teilen ihre Mitsprachemöglichkeiten, u.a. bei PESCO. Das »Kerneuropa der Sicherheit« stellt sich als autoritäre Vertiefung der EU dar, wenngleich es für Militäreinsätze bislang immer noch die Zustimmung aller EU-Staaten braucht. Es scheint erkennbar zu sein, dass das Ziel der engeren Zusammenarbeit im EU-Sicherheitsbereich nicht die Überwindung der Nationalstaaten, sondern deren Hierarchisierung ist.2

Die Vernetzung von Strukturen, Mechanismen und Budgettöpfen stellt seit 2016 eine neue Qualität der sicherheitspolitischen Integration dar. Zwar besteht in der EU zwischen Vereinbarungen auf dem Papier und der Realität, nicht nur bei Truppen und Rüstung, immer noch ein Unterschied, denn Mitgliedstaaten haben ihre Zusagen für Eingreiftruppen, Rüstungsforschung oder Waffenentwicklungen jahrelang nicht beachtet, abgeschwächt oder stark verzögert. Allerdings darf das Niveau der Anreizsysteme von »EU-Globalstrategie«, der neuen Haushaltstöpfe, der Europäischen Friedensfazilität und nicht zuletzt PESCO nicht unterschätzt werden. Dass der größte Truppensteller auch die meisten finanziellen Lasten trägt, wurde jetzt zum Teil durch Gemeinschaftskosten abgefedert. Dass Mitgliedstaaten die teure Entwicklung neuer Waffen allein schultern, wird durch gemeinsame Töpfe und Kooperationen tranchiert. Zentral ist jedoch – mit Blick auf den globalen Wettbewerb – , dass der sprichwörtliche Kuchen vergrößert wird, an dem alle in unterschiedlichem Maße teilhaben wollen und können. Nicht zuletzt gewährleisten die EU-Entscheidungsmechanismen, dass der harte Kern von Kerneuropa auch ein Kuchenstück mit Kirsche bekommt.

EU-Rüstungsfonds, Kerneuropa, Rüstungsagentur, der militärische Überprüfungsmechanismus oder die Auslandseinsatzpolitik samt militärischem Hauptquartier sind kommunizierende Gefäße. Flankiert wird diese Entwicklung vom Auswärtigen Dienst und vom EU-Militärstab. Niemand soll bei der Rüstung unbemerkt den Retourgang einlegen können oder auch nur bummeln.

Brillant ist, dass Deutsche und Franzosen nicht mehr aufeinander schießen, sondern kooperieren. Nicht-Krieg unter den EU-Mitgliedern ist das Eine, schweigende Waffen auch nach außen ist das Andere. Ziel wäre nicht nur, dass Deutsche und Franzosen nicht mehr aufeinander schießen, sondern dass sie nicht gemeinsam auf andere schießen. Es gälte jetzt, hier entscheidende Schritte zu unternehmen. Denn das Friedensprojekt Europa ist derzeit lebendig wie tot zugleich.

Anmerkungen

1) Die EU hatte sich im Brexit-Verhandlungsprozess eine Regelung zur künftigen Kooperation in der Außen- und Sicherheitspolitik gewünscht. Großbritannien hat dies mit Verweis auf die eigene Souveränität abgelehnt. Die EU wird wegen des britischen Know-how und dem Markt für Rüstungsgüter in der Zukunft wohl verstärkte Verständigungsprozesse im Sicherheitssektor anstoßen. Allerdings könnte eine zu exponierte britische Rolle Einigungsprozesse der verbleibenden EU-27 erschweren.

2) Der Vorschlag für ein Ziviles Kerneuropa (Roithner 2015) hat immerhin Eingang in das aktuelle österreichische Regierungsprogramm gefunden.

Literatur

Alliance for Lobbying Transparency and Ethics Regulation in the EU (ALTER-EU) (2018): Corporate Capture in Europe. When Big Business Dominates Policy- Making and Threatens our Rights. Brüssel.

Ashton, C. (2013): Wer Frieden will, muss sich rüsten. Der Standard, 20.12.2013.

Europäische Kommission (2017): A European Defence Fund: € 5.5 billion per year to boost Europe’s defence capabilities. 07.06.2017, Brüssel.

Europäische Kommission (2018): EU Budget for the Future. The European Defence Fund. 13.06.2018, Brüssel.

Europäischer Rat (2017): Schlussfolgerungen zu Sicherheit und Verteidigung, 22.06.2017, Brüssel.

European External Action Service (EEAS) (2016): A Global Strategy for the European Union’s Foreign and Security Policy. Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe. Juni 2016.

European External Action Service (EEAS) (2021): Military and Civilian Mission and Operation, https://eeas.europa.eu, Brussels.

European Union (2016): Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe, Brussels.

Nielsen, N. (2020): EU Defence Agency chief turned lobbyist broke conduct rules, euobserver.com, 11.12.2020.

Roithner, T. (2015): Marsch ins militärische Kerneuropa. Der Standard, 31.07.2015.

Roithner, T. (2020): Verglühtes Europa? Alternativen zur Militär- und Rüstungsunion. Vorschläge aktiver Friedenspolitik, 2. Auflage, Wien: Morawa.

Thomas Roithner ist Friedensforscher, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Wien und Mitarbeiter im Internationalen Versöhnungsbund. Er ist Co-Kampagnenleiter zur Einführung des Zivilen Friedensdienstes in Österreich, www.thomasroithner.at

Zwischen Intervention und Verteidigung


Zwischen Intervention und Verteidigung

Zeit für eine neue Balance?

von Marius Müller-Hennig

Die Diskussion um Europäische Außen- und Sicherheitspolitik erscheint oft reflexhaft: Einerseits ertönt häufig die Klage über mangelnde politische und militärische Handlungsfähigkeit der EU in beliebigen internationalen Krisen. Andererseits werden weitergehende Souveränitätstransfers nach Brüssel und vertiefte militärische Integration von verschiedenen Seiten skeptisch gesehen bzw. abgelehnt. Bei diesen Diskussionen kommt die Berücksichtigung der historischen Entwicklung und der Pfadabhängigkeiten oft zu kurz. Die Maßstäbe, die in der politischen Bewertung von Erfolg und Misserfolg angelegt werden, erscheinen zudem oft ahistorisch und daher in weiten Teilen unrealistisch.

Im Folgenden werden für den Zweck einer realistischeren Debatte über die Außen- und Sicherheitspolitik der EU auf Basis eines knappen historischen Rückblicks zwei Thesen formuliert. Diese werden dann zu einer alternativen Vision für die Zukunft der militärischen Inte­gration der EU verdichtet: Einer defensiveren und realistischeren Verteidigungsintegration der EU. Einer Integration, die das »interventions-optimistische« Weltbild der 1990er Jahre hinter sich lässt, die Frage nach einer gemeinsamen Verteidigung für die EU in den Vordergrund stellt und die globale Friedenspolitik primär als politisch-diplomatisches und nicht militärisches Projekt begreift.

Historischer Rückblick: Von der Verteidigung zur Intervention

Die Geschichte der europäischen Inte­gra­tion ist hinreichend bekannt: von der EGKS, über EURATOM und EWG zur EG und weiter zur EU. Oftmals übersehen wird, dass bereits zu Beginn dieses Prozesses auch eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) auf der Agenda stand. Sie hatte sogar schon die meisten politischen Hürden genommen, bevor sie 1954 in der französischen Nationalversammlung scheiterte. Ziel des Projektes war es, neue deutsche Truppenkontingente in eine gemeinsame europäische Verteidigung Westeuropas zu integrieren. Die EVG wäre wiederum strategisch der NATO unterstellt gewesen (vgl. Schwabe 2016, S. 231); wenn man so möchte, eine Art europäischer Pfeiler in der NATO. Die Initiative für die EVG kam aus Frankreich und wurde von den USA nachdrücklich unterstützt. Als sie scheiterte, erfolgte die Wiederbewaffnung Deutschlands stattdessen direkt fest integriert in die NATO. Letztere sollte Westeuropa vor einer vermeintlichen sowjetischen Expansion beschützen und gleichzeitig dafür sorgen, dass sich das deutsche Militär nicht wieder zu einer Bedrohung seiner westeuropäischen Nachbarn entwickelte. So leistete die NATO einen indirekten, aber wichtigen Beitrag zur europäischen Einigung: Verteidigung nach außen und Vertrauensbildung nach innen.

Paradigmenwechsel in den 1990er Jahren: Von der Verteidigung zum Krisenmanagement

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts änderte sich im sogenannten »unipolaren Moment« der USA auch die strategische Polarität für den europäischen Westen. Bis in die 1980er Jahre sah sich Westeuropa als potentieller Schauplatz eines dritten Weltkriegs. Die europäischen NATO-Mitglieder sollten einen Angriff der Sowjetunion und ihrer Alliierten abschrecken und notfalls abwehren können. Priorität war die Verteidigung von Westeuropa. Spätestens mit den Eskala­tionen auf dem Balkan rückten dann Krisenmanagement-Einsätze außerhalb des NATO-Gebiets in den sicherheitspolitischen Fokus des Westens. Auch in der EU stand nun militärische Zusammenarbeit beim Krisenmanagement prominent auf der Agenda. Tatsächlich wurden dann auch in der EU neue Strukturen und Fähigkeiten für diesen Bereich geschaffen1 (ebenso wie im Bereich des zivilen Krisenmanagements). Allerdings zeigt bereits „ein kursorischer Blick auf die europäischen militärischen Kriseninterventionen […], dass die EU ihrer selbst definierten Verantwortung in diesem Bereich seit der ersten Operation Artemis im Osten Kongos 2003 eher langsamer und zurückhaltender nachkommt (Dembinski und Peters 2018, S. 5).

Interventions-Ernüchterung und die Suche nach Exit-Strategien

Insgesamt ist die Bilanz westlicher militärischer Interventionen durchwachsen. Von Afghanistan (2001) über den Irak (2003) und Libyen (2011) bis nach Mali (2013) folgte auf militärische Erfolge des Westens langanhaltende Instabilität. Zu oft endete militärisches Engagement in der Suche nach gesichtswahrenden Exit-Strategien. Es gab zwar auch militärische Einsätze mit positiverer Bilanz, so beispielsweise die NATO-Einsätze IFOR und SFOR in Bosnien und Herzegowina. Auch die EU konnte in mehreren Fällen effektive operative Beiträge im internationalen Krisenmanagement leisten; militärisch beispielsweise in Form der Anti-­Piraterie-Operation »Atalanta«. Insgesamt aber blieb in vielen Konflikten der Eindruck zurück, dass der Westen bzw. die EU nicht in der Lage waren, Frieden und Demokratie dauerhaft zu sichern oder zumindest Stabilität zu schaffen. Hierbei darf man zwar nicht vergessen, dass dieser Politikbereich für die EU völlig neu war und angesichts des rasanten politischen Wandels (deutsche Wiedervereinigung, Transformation der Staaten Mittelosteuropas und die Erweiterungsrunden der EU) mit anderen politischen Prioritäten konkurrierte. Aber selbst wenn die EU in diesem Feld heute schneller zu mehr Entscheidungen käme und über mehr militärische Fähigkeiten verfügte, ist es fraglich, ob sie tatsächlich mehr erreichen könnte. Die Erfahrungen der USA, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs bieten wenig Grund für Optimismus. Sicher ist hingegen, dass die EU an solch einem Punkt bisher nicht angekommen ist. Vor diesem Hintergrund muss man sich fragen, ob die EU und ihre Mitgliedstaaten das »interventions-optimistische« Weltbild der 1990er Jahre nicht ablegen und die eigene Rolle bescheidener (und damit realistischer) konzipieren sollten.

Die Rückkehr der Bündnisverteidigung

Mit der russischen Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine kam die Frage nach der kollektiven Verteidigung des Bündnisgebiets wieder mit Nachdruck zurück auf die sicherheitspolitische Agenda – insbesondere in der NATO. Die EU hingegen blieb bei einem Modell der Verteidigungsintegration in Form der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), das zum Weltbild der 1990er Jahre passt. Dabei hat sie auf dem Papier durchaus der neuen Entwicklung Rechnung getragen: So wurde in der EU-Globalstrategie von 2016 der Sicherheit der EU (im Sinne von Verteidigung) explizit hohe Bedeutung beigemessen. Seit dem Vertrag von Lissabon verfügt die Union zudem mit Artikel 42(7) EUV zwar über eine explizite Beistandsklausel, praktisch aber zielen die Anstrengungen der EU weiterhin primär auf militärische Zusammenarbeit und Integration im Bereich Intervention bzw. Krisenmanagement.

Vision einer defensiv gedachten Verteidigungsintegration der EU

Ausgehend vom historischen Rückblick werden im Folgenden zwei Thesen zur verteidigungspolitischen Integration im Rahmen der EU und ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) formuliert und zu einer Vision für ihre Weiterentwicklung verdichtet.

Weniger Fixierung auf Krisenmanagement-Einsätze

  • These 1: Europäische Verteidigungsintegration sollte sich von der Fixierung auf Krisenmanagement-Einsätze lösen.

Der Westen insgesamt und die EU im Besonderen sollten den Rufen nach mehr militärischen Interventionen mit pragmatischer – aber nicht dogmatischer – Zurückhaltung begegnen. Die vergangenen dreißig Jahre haben gezeigt, dass westliche Interventionen schon unter wesentlich besseren globalen Rahmenbedingungen als heute vielleicht zunächst militärisch erfolgreich, politisch aber oft nicht nachhaltig waren (s.o.). Der ehemalige Botschafter Singapurs bei den Vereinten Nationen, Kishore Mahbubani, fürchtet, dass die Welt vor einer „besorgniserregenden Zukunft steht, wenn der Westen seine interventionistischen Impulse nicht abschütteln kann“ (Mahbubani 2018, S. 92).

Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind zudem meist nicht hauptverantwortlich für die akuten Kriege und gewalttätigen Konflikte in ihrer Nachbarschaft (auch wenn mit Blick auf die strukturellen Konfliktursachen und historischen Entwicklungen der Einfluss Europas nicht ausgeblendet werden darf). Sie lassen auch kein »Vakuum« entstehen2, wenn sie nicht militärisch intervenieren. Gleichwohl darf das prekäre Instrument der militärischen Intervention auch nicht für jeden Fall kategorisch ausgeschlossen werden: Das Versagen der Europäer in Srebrenica gebietet es, diese Diskussionen in jedem Einzelfall wieder neu, ernsthaft und ehrlich zu führen. In den Fällen aber, in denen sich Europa zur Intervention entschieden hat, wird es die damit zusammenhängende Verantwortung nicht so schnell wieder los. Sowohl diese Verantwortung als auch die Glaubwürdigkeit der EU stehen auf dem Spiel, wenn ihr als intervenierender Dritter frühzeitig der Atem ausgeht – etwas das der EU gerade auf dem Balkan nicht passieren darf. Auch dieser Aspekt der Durchhaltefähigkeit des Engagements ist ein klares Argument für weniger anstatt mehr militärische Interventionen.

Andererseits kann die EU die sicherheitspolitischen Probleme in der Nachbarschaft auch nicht ignorieren. Sie ist durchaus von diesen selbst betroffen. Daher ist es wichtig, die zivilen und militärischen Fähigkeiten der EU zu stärken, mit denen sie im Rahmen von UN und OSZE operative Beiträge zu Krisenmanagement und Konfliktbewältigung leisten kann. Vor allem aber das politische und diplomatische Gewicht gilt es, noch stärker als bisher, gemeinsam in die Waagschale zu werfen, gerade auch im Rahmen von UN und OSZE. So könnten sich die EU-Mitgliedstaaten beispielsweise darauf einigen, ihre jeweiligen nicht-ständigen Sitze im UN-Sicherheitsrat in eine Art »virtuellen ständigen Sitz für die EU« zu überführen. Der europäische auswärtige Dienst (EEAS) könnte dann ein gemeinsames ständiges Sicherheitsratssekretariat für die Mitgliedstaaten und die Union betreiben.

Unabhängig von der Art des Engagements sollten die eigenen Erwartungen den Rahmenbedingungen angepasst werden. Die aktuelle Praxis, den Handlungsdruck einerseits regelmäßig in schrillen Tönen zu beschwören, nur um dann die vermeintlich fehlende Handlungsfähigkeit händeringend zu beklagen, ist kontraproduktiv und demoralisierend. Die EU ist nun einmal kein machtvoller souveräner Staat, sondern erhält Souveränität lediglich im begrenzten Umfang von ihren Mitgliedern. Dies wird auf absehbare Zeit so bleiben. Selbst wenn die Voraussetzungen für Mehrheitsentscheidungen in diesem sensiblen Politikfeld geschaffen wären, sollte man die damit verbundenen Effekte nicht überschätzen, denn „[q]ualifizierte bzw. Mehrheitsentscheidungen zur Beschlussfassung von zivilen Missionen aber auch von militärischen Operationen würden weder das Problem der Personalrekrutierung noch die demokratiepolitischen Vorbehalte in der EU beheben.“ (Bendieck 2020, S. 9) Tatsächlich ist der Rahmen für die GSVP zwar kontinuierlich ausgeweitet worden, die demokratische Kontrolle durch das europäische Parlament blieb hingegen unterentwickelt.3

All dies bedeutet nicht, dass die militärische Integration von Krisenmanagementfähigkeiten zurückgedreht werden sollte. Wie wir in den vergangenen 30 Jahren gesehen haben, führt diese Inte­gration nicht automatisch zu einer Militarisierung des auswärtigen Handelns der EU. Die unterschiedlichen nationalen Interessen führen auf absehbare Zeit eher zu einer Zurückhaltung der EU bei robusten militärischen Einsätzen. Hinzu kommt die innenpolitische Kombination aus pazifistischen politischen Strömungen einerseits und der Scheu anderer politischer Kräfte vor den hohen Kosten und Risiken solcher Einsätze andererseits. Sie bildet in vielen Mitgliedstaaten eine demokratische Sicherung vor allzu leichtfertigen militärischen Interventionen. Die eigentliche Herausforderung scheint eher darin zu bestehen, die Urteilskraft zu entwickeln und den politischen Willen zu generieren, um in den wenigen Fällen, in denen der robuste Einsatz von Militär tatsächlich geboten sein könnte, schnelles Handeln zu ermöglichen.

Defensive EU-Verteidigung

  • These 2: Eine stärkere militärische Integration im EU-Rahmen sollte zukünftig vor allem auf die defensiven Funktionen der Landes- und Bündnisverteidigung fokussiert werden.

Die bisherige Zurückhaltung der EU hinsichtlich einer stärkeren militärischen Integration im Bereich der Landes- und Bündnisverteidigung erscheint unbegründet. Diese muss keineswegs automatisch in Konkurrenz zur NATO stehen; selbst dann nicht, wenn das Ziel eine europäische Armee sein sollte. Genau dies war in den 1950er Jahren in Form der EVG der Plan A für Europa, unterstützt durch die USA. Die EVG versprach einerseits Fähigkeiten zur Verteidigung Europas zu bündeln und andererseits zur Einigung des Kontinents und der dauerhaften Beilegung alter Feindschaften beizutragen. Ein derart integriertes europäisches Militär war als essentieller Bestandteil der NATO-Verteidigung gedacht.

Warum etwas wie die EVG – gegebenenfalls mit Sonderklauseln für die neutralen Staaten ebenso wie für Dänemark – heute nicht einmal mehr denkbar sein sollte, ist nicht einleuchtend. Ein Fokus auf eine militärisch integrierte EU-Territorial- und Bündnisverteidigung könnte sogar deutlich mehr Sinn ergeben als eine Vergemeinschaftung der Interventions­kapazitäten, die bisher im Zentrum neuer Initiativen steht. Bei Entscheidungen über »Out-of-Area«-Einsätze können nationale Einschätzungen und Interessen durchaus stark variieren. Im Falle einer direkten territorialen Bedrohung hingegen – und erst recht im sehr unwahrscheinlichen Fall eines militärischen Angriffs auf einen Mitgliedsstaat – ist es relativ klar, dass es einer kollektiven Antwort der EU bedarf.

Zudem liegen gerade bei den klassischen Fähigkeiten für die Landes- und Bündnisverteidigung die verteidigungsökonomischen Vorteile weiterer Integration auf der Hand. Teure und hochkomplexe Waffensysteme in einer relevanten Stückzahl einsatzbereit zu halten, stellt viele – wenn nicht alle – EU-Mitgliedstaaten vor enorme Probleme. Daher gibt es bereits eine Reihe von bilateralen Integrationsvorhaben zwischen NATO- und EU-Mitgliedern, wie z.B. zwischen Deutschland und den Niederlanden. Würden die EU-Staaten nach einem solchen Muster nicht punktuell bilateral, sondern strukturell EU-weit ansetzen, könnten sie enorme Ressourceneinsparungen erreichen.

Aber auch sicherheitspolitisch könnten mit einer defensiven militärischen Integration im EU-Rahmen wichtige Ziele verfolgt werden: Integrierte Streitkräfte zur Verteidigung könnten gerade für die Staaten, die an der Solidarität ihrer europäischen Nachbarn für den Fall einer unmittelbaren Bedrohung oder eines Angriffs zweifeln, ein starkes Signal der Rückversicherung sein. Darüber hinaus könnte eine leistungsfähigere und gleichzeitig schlankere europäische Säule der NATO ein positives Signal in Richtung Washington und Moskau senden:

  • Nach Washington, dass die Europäer ihre Verteidigung stärker selbst in die Hand nehmen und perspektivisch weniger konventionelle amerikanische Kräfte in Europa stationiert sein müssten.
  • Nach Moskau, dass sowohl der nominelle Umfang der EU-Streitkräfte als auch der konventionelle Fußabdruck der USA in Europa mittelfristig deutlich reduziert werden könnten.

Mit einer solchen Perspektive könnte auch ein Neuanlauf der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa ­angestoßen werden. Dieser wiederum wäre eine wichtige Voraussetzung dafür, endlich auch den Abzug aller taktischen Nuklearwaffen aus Europa vorzubereiten.

Eine konkrete/alternative Vision

Einerseits bedarf es für eine solche Vision der defensiveren Verteidigungsintegration vermutlich der Bereitschaft zu grundsätzlichen Änderungen an den EU-Verträgen. Dies war lange ein großes Tabu, gerade für Frankreich. Präsident Macron hat aber bereits deutlich gemacht, dass er generell bereit wäre, dieses Tabu hinter sich zu lassen (vgl. Macron 2019), um grundsätzlichen Reformbedarf der EU anzugehen; trotz der Erfahrung, dass wichtige europäische Verträge bereits zweimal am »Nein« Frankreichs scheiterten (beim EVG Vertrag 1954 und beim Verfassungsvertrag 2005). Die zweite notwendige Voraussetzung wäre ein deutliches Signal aus den USA, dass eine defensive Verteidigungsintegration innerhalb der EU die NATO nicht schwächt, sondern im Gegenteil von den USA unterstützt wird. Hieran fehlte es in der Vergangenheit. Wenn nun US-Präsident Biden tatsächlich, wie Max Bergmann unlängst im Magazin »Foreign Affairs« gefordert hat, an Stelle des nationalen 2 %-Ziels für Verteidigungsausgaben eine stärkere europäische Verteidigungsintegration unterstützen würde (Bergmann 2021), könnte dies den nötigen Paradigmenwandel in der EU anstoßen.

Militärische Interventionen hingegen gehören stärker als bisher auf den Prüfstand. Eingebettet in entsprechende völkerrechtliche Prozesse und Institutionen, allen voran in der UN und der OSZE, macht es auch zukünftig Sinn, europäisches Militär für Krisenmanagement vorzuhalten und einzusetzen. Als EU-Instrument zur Machtprojektion und zur militärischen Durchsetzung von Interessen außerhalb der genannten völkerrechtlichen Rahmen bleiben militärische Einsätze hingegen höchst fragwürdig. Die Hemmschwelle hierfür ist zu Recht extrem hoch; nicht zuletzt aufgrund der ambivalenten Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte.

Die hier skizzierte Vision für eine militärisch defensivere Vision der Verteidigungsintegration der EU könnte zum Kern eines sicherheitspolitischen »New Deals« in der transatlantischen Verteidigungspolitik werden. Einem »New Deal« der – entgegen der wenig progressiven Skizze von Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer4 – auch friedenspolitisch überzeugt.

Anmerkungen

1) Nach der Etablierung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit dem Vertrag von Maastricht (1993), u.a. in Form des »European Headline Goals« (1999), der Einrichtung des Politischen- und Sicherheitskommittees, des EU Militärausschußes und des EU Militärstabs (2000), den »EU Battle Groups« (2005) sowie dem militärischen Planungs- und Durchführungsstab (MPCC) 2017. Einen hervorragenden Überblick dazu bietet ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages (2018, S. 9f.).

2) So schrieb bspw. Judy Dempsey mit Blick auf die Frage nach einer Intervention in Syrien: „Das Vakuum, das die USA und Europa hinterlassen haben, indem sie sich nicht am Krieg beteiligt haben, zumindest formell, ist grundsätzlich von Iran und Russland gefüllt worden.“ (Dempsey 2018)

3) Siehe bspw. Fisahn und Ocak (2010, S. 17). Tatsächlich gibt es bspw. schon länger die Idee der Einrichtung eines eigenständigen Verteidigungsausschusses im europäischen Parlament, die z.B. von Kiesewetter und Nietan (2015) aufgegriffen wurde.

4) In einer Rede an der Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg am 17. November 2020 beschrieb die Verteidigungsministerin drei Eckpunkte für einen solchen »New Deal« aus Ihrer Perspektive: 1.) Ausbau der Verteidigungshaushalte auch in Corona-Zeiten, 2.) ein deutsches Bekenntnis zur nuklearen Teilhabe, 3.) Zusammenarbeit beim Thema China, wo es mit deutschen Interessen zusammenpasst (vgl. Kramp-Karrenbauer 2020, S. 10).

Literatur

Bendieck, A. (2020): Stellungnahme. Anhörung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Deutschen Bundestages zur Mitteilung der Kommission »Mehr Gewicht auf der internationalen Bühne: eine effizientere Beschlussfassung für die GASP«, Ausschussdrucksache 19(21)122, 23.11.2020.

Bergmann, M. (2021): The EU is the military ally the US needs. Foreigen Affairs, 06.01.2021.

Dembinski, M.; Peters, D. (2018): Eine Armee für die Europäische Union? Europapolitische Konzeptionen und verteidigungspolitischen Strukturen. PRIF Report 1/2018, Frankfurt am Main.

Dempsey, J. (2018): Germany’s No-Go Foreign Policy. Carnegie Europe, 17.04.2018.

Fisahn, A.; Ocak, O. (2010): Mit dem Lissaboner Vertrag wurde die EU zur militärischen Macht. In: Becker, P; Braun, R.; Deiseroth, D. (Hrsg): Frieden durch Recht?, Berlin: BWV, S. 122-135. Seitenzahlen im Text gemäß Online-PDF Dokument.

Kiesewetter, R.; Nietan, D. (2015): Verteidigung europäisch gestalten. Deutschland ist der Schlüssel bei der Stärkung kollektiver Sicherheit in Europa. Positionspapier, Europa-Union, 09.03.2015.

Kramp-Karrenbauer, A.(2020): Zweite Grundsatzrede der Verteidigungsministerin. Rede an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr, Hamburg, 17. November 2020. Zitiert gemäß dem veröffentlichten Rede-Manuskript, BMVg.

Macron, E. (2019): Für einen Neubeginn in Europa, Gastbeitrag vom 4. März 2019. Erschienen in 28 europäischen Tageszeitungen.

Mahbubani, K. (2018): Has the West lost it? A provocation. London: Penguin Books.

Schwabe, K. (2016): Jean Monnet. Frankreich, die Deutschen und die Einigung Europas. Baden-Baden: Nomos.

Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages (2018): Sachstand. Die europäische Armee 1948–2018. Konzepte und Ideen zur Vertiefung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und zur Erhöhung des Grades der Streitkräfteintegration. WD 2-3000-126/18, 18.10.2018.

Marius Müller-Hennig ist Referent für Europäische Außen- und Sicherheitspolitik bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Zuvor war er als Projektleiter der FES in Bosnien- und Herzegowina tätig.

Zivile Potentiale der EU ausbauen

Zivile Potentiale der EU ausbauen

Krisenprävention und Friedensförderung stärken

von Martina Fischer

Der Bedeutungszuwachs der militärischen Dimension in der industrie- und außenpolitischen Orientierung der EU wurde von friedens- und entwicklungspolitisch engagierten NGOs mit Recht kritisiert. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, dass die EU insgesamt deutlich mehr Geld für Entwicklungszusammenarbeit und zivile Ansätze der Außenpolitik als für Militärkooperation ausgibt. Einigen friedensfördernden Instrumenten der EU wurde in den vergangenen Jahren durch Evaluierungen erfolgreiche Arbeit bescheinigt. Diese stehen im Fokus des Beitrags.

Mit der »Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich« (PESCO), dem EU-Verteidigungsfonds und der sogenannten »Friedensfazilität«, die neben afrikanischen Friedensmissionen auch Militärhilfe für Armeen in Drittstaaten finanzieren soll, hat die militärische Dimension in der EU eine neue Dynamik bekommen. Diese verlangt ein sorgfältiges Monitoring. Gleichzeitig sollte die gesamte Ausgabenpolitik intensiv beobachtet werden, um sicherzustellen, dass die in der Krisenprävention, Friedensförderung und Menschenrechtspolitik bewährten Instrumente erhalten bleiben und weiter entwickelt werden können.

Für die kommenden sieben Jahre sind 98 Mrd. € für Nachbarschafts- und Entwicklungspolitik, humanitäre Hilfe, Menschenrechte, internationale Kooperation sowie Stabilität im EU-Finanzrahmen vorgesehen.

Bisherige EU-Förderung für Frieden, Stabilität, Demokratie und Menschenrechte

Eine Reihe von Instrumenten der EU kommen in der Früherkennung und Vorbeugung von Gewaltkonflikten zum Einsatz, darunter die »Abteilung für Konfliktprävention, Friedensförderung und Mediation« (PRISM) im Europäischen Auswärtigen Dienst (EEAS) und die »Fragility and Crisis Management Unit« in der Generaldirektion für Entwicklungspolitik (DG DEVCO). Darüber hinaus gibt es finanzielle Fördertöpfe, die sich auf Stabilisierung in der Nachbarschaft der EU und auf Entwicklung im globalen Süden richten. Besondere friedenspolitische Verdienste kommen dem »Instrument für Stabilität und Frieden« (IcSP) und dem »Instrument für Demokratie und Menschenrechte« (EIDHR) zu, die beide im Finanzplan 2021-2027 in einem neuen »Instrument für Nachbarschaft, Entwicklung und Internationale Kooperation« (NDICI) mit den Budgetlinien für Entwicklung und Nachbarschaft verschmolzen werden.

Das »Instrument für Stabilität und Frieden« wurde durch die Verordnung 230/2014 des Europäischen Parlaments (EP) und des Rats der EU für die Unterstützung von Maßnahmen der Krisenprävention, zivilen Konfliktbearbeitung und Friedensförderung geschaffen (vgl. Aufgaben in Tab.1).

Das IcSP war im Finanzrahmen 2014-2020 mit 2,3 Mrd. € ausgestattet. So konnten in diesem Zeitraum 276 Projekte in mehr als 70 Ländern gefördert werden (vgl. European Commission 2019). Viele davon kamen zivilgesellschaftlichen Gruppen und Organisationen zugute. Darunter waren auch längerfristige Dialog- und Mediationsaktivitäten (z.B. in Georgien, Jemen und Mali). Doch 2017 wurde das IcSP auf Betreiben der EU-Kommission und einiger Mitgliedstaaten (u.a. Deutschland) für militärische Aufgaben – die Ausbildung und Ausstattung von Armeen in Drittstaaten – geöffnet, was von entwicklungspolitischen NGOs und kirchlichen Hilfswerken nachdrücklich kritisiert wurde (vgl. Fischer 2019).

Das »Instrument für Demokratie und Menschenrechte« (EIDHR) wurde explizit zur Demokratieförderung und zum Schutz von Menschenrechten jenseits der EU-Grenzen etabliert, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Förderung der Zivilgesellschaft (vgl. Aufgaben in Tab.1). Im Zeitraum 2014-2020 war es mit 1,3 Mrd. € ausgestattet. Die EU-Institutionen kooperierten direkt mit NGOs und Menschenrechtsaktivist*innen im globalen Süden, ohne Einbeziehung staatlicher Stellen. So war es möglich, auch sensible Themen (z.B. Todesstrafe, Folter, Einschränkung von Freiheitsrechten und Diskriminierung verletzlicher Gruppen) zu adressieren. Das Instrument kam in Entwicklungs-, Schwellen- und Industrie­ländern gleichermaßen zum Einsatz und finanzierte Aktivitäten in einzelnen Ländern, auf regionaler und internationaler Ebene. Das Spektrum der geförderten Projekte reichte von der Unterstützung gefährdeter Menschenrechtsaktivist*innen, über Wahlbeobachtungsmissionen bis hin zum Ausbau von regionalen Instrumenten des Menschenrechtsschutzes.

Das »Instrument für Sicherheit und Frieden« (Aufgaben) Das »Instrument für Demokratie und Menschenrechte« (Aufgaben)
Maßnahmen für Krisenprävention, Frühwarnung, Friedensförderung, Mediation, Krisenmanagement, Wiederaufbau, Dialog- und Versöhnungsaktivitäten, Justiz und Rechtsstaatlichkeit, den Aufbau von Interim-Verwaltungen und demokratischen Institutionen; Fördermittel für lokale zivilgesellschaftliche Akteure und Menschenrechtsverteidiger*innen, die von den EU-Delegationen in den jeweiligen Ländern vergeben wurden;
Unterstützung von Frauen und Kindern in Konflikten, Maßnahmen gegen gender-basierte Gewalt, Rehabilitierung der Opfer, Unterstützung von Zivilgesellschaft und deren Partizipation im politischen Prozess; Unterstützung von Menschenrechtsaktivist*innen über jährliche, weltweite »calls for proposals«, finanziert von der DG DEVCO in Brüssel;
Förderung von »good governance« und Akzeptanz des Völkerrechts, Beratung bei Gesetzgebung und Justizmaßnahmen gegen Terrorismus, Unterstützung für internationale Tribunale, Wahrheits- und Versöhnungskommissionen; Ein Notfallfonds für unter Druck geratene Menschenrechtsaktivist*­innen, um über kleine Fördersummen rasch und unbürokratisch zu helfen;
Initiativen gegen Raubbau an natürlichen Ressourcen und deren Nutzung für die Finanzierung von Gewaltkonflikten, Förderung von Rüstungskonversion und ziviler Forschung, effektive Kontrolle der Ausfuhr von Waffen und »dual-use« Gütern in Drittstaaten, und Maßnahmen gegen unerlaubten Waffenbesitz; Vertrauliche Zahlungen im Rahmen der »Human Rights Crisis ­Facility« an NGOs und Aktivist*innen in Krisensituationen;
Demobilisierung und gesellschaftliche Wiedereingliederung ehemaliger Kämpfer*innen, Maßnahmen gegen gewaltbereiten Extremismus, orga­nisiertes Verbrechen und Korruption, und Stärkung von zivilen Elementen in Stabilisierungsmissionen; Gezielte Förderung von Projekten über sogenannte »Annual Action Programmes«.
Stärkung ziviler Kontrolle und Reform von Sicherheitsapparaten, Maßnahmen zur Bewältigung der Folgen von Landminen und für zivilen Katastrophenschutz

Tabelle 1: Aufgabenbereiche des IcSP und EIDHR

Insbesondere der »Notfallfonds für Menschenrechtsverteidiger*innen« im Rahmen des EIDHR erwies sich für viele Aktivist*innen als hilfreich. Allein im Zeitraum 2010-2017 reagierte die EU auf rund 330 Anfragen und zahlte 3 Mio. € an 500 Personen und Organisationen in mehr als 50 Ländern aus. Die Mittel wurden u.a. für Prozesse und Rechtsbeistand verwandt sowie für medizinische Versorgung und die Rehabilitierung von Menschen, die Folter oder menschenverachtende Behandlung erfahren hatten. Auch Sicherheitsmaßnahmen für lokale NGOs sowie die Unterbringung von Aktivist*innen an sicheren Orten und die Versorgung der Familien von Gefangenen wurden daraus finanziert.

Daneben wurden auch mittel- und langfristige Unterstützungsmaßnahmen für Einzelpersonen und Organisationen gefördert. So wurden beispielsweise Menschenrechtsaktivist*innen in Guatemala bei der Wahlbeobachtung, marginalisierte Gruppen in Myanmar, Umweltaktivist*innen in diversen asiatischen Ländern sowie Menschenrechtsanwält*innen in Ostafrika unterstützt. Zusätzlich wurde aus Mitteln des EIDHR zum einen ein »Human Rights Defenders Mechanism« (protectdefenders.eu) eingerichtet, der von einem internationalen NGO-Konsortium getragen wird, und zum anderen die »Human Rights Crises Facility«, die besonders gefährdeten Akteuren, die nicht auf offiziellem Wege Mittel beantragen können, absolute Vertraulichkeit zusicherte. Insgesamt hat sich das EU-Instrument für Demokratie und Menschenrechte für viele NGOs im globalen Süden als wichtiges Instrument erwiesen, weil es ihren Handlungsspielraum in Zeiten zunehmender Bedrohung und »shrinking spaces« erweitert. Jedoch wurde die mangelnde Kohärenz der EU-Politik moniert, da aus anderen Finanztöpfen zugleich Programme für die militärische »Ertüchtigung« von Armeen (Ausbildungs- und Ausrüstungshilfe) in Partnerländern unterstützt werden, ohne dass nach deren Menschenrechtspraxis und Friedensverträglichkeit oder der demokratischen Kontrolle der Streitkräfte gefragt wird.

Ein problematischer Umbau steht an

Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten haben in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur regelmäßig entwicklungspolitische Mittel bereitgestellt, sondern durch die oben beschriebenen Instrumente und Maßnahmen auch Krisenprävention und Konfliktbearbeitung, Demokratieförderung sowie den Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen ermöglicht. So wurde die EU für viele Menschen, die sich im globalen Süden für Frieden, Menschenrechte und Entwicklung engagieren, zu einem wichtigen Referenzrahmen. Sehr bedauerlich ist, dass die EU-Kommission diese bewährten Instrumente nun als eigenständige Förderbereiche auflösen und deren Aufgaben in ein neues Außeninstrument, das »Neighbourhood, Development and International Cooperation Instrument« (NDICI) überführen will. Mit der Annahme des neuen Finanzrahmens im Dezember 2020 durch die Mitgliedstaaten und das EP wurde die neue Finanzarchitektur in ihren Eckdaten auch bestätigt. Das NDICI wird demnach in den kommenden sieben Jahren mit 70,8 Mrd. € ausgestattet. Es soll einen starken Fokus auf Migration(sabwehr) erhalten und auch Ausrüstung und Ausbildung von Partnerarmeen finanzieren. Die Mittel und der Aufgabenkatalog des IcSP hingegen sollen nach dem Wunsch der Kommission um mehr als die Hälfte gekürzt und das NDICI und die Ausgaben insgesamt flexibilisiert werden. So wird der »Versicherheitlichung« von Entwicklungsfinanzierung Tür und Tor geöffnet (vgl. Fischer 2019). Die genaue Ausgestaltung des neuen NDICI befindet sich allerdings noch in der Abstimmung zwischen den EU-Institutionen; in dem vom EP gebilligten Verordnungsentwurf wurde der Aufgabenkatalog des NDICI zuletzt vollständig übernommen.

Ausbau der Kapazitäten für Mediation und präventive Diplomatie

Über diese Instrumente hinaus entwickelte die EU in den vergangenen Jahren eine Reihe von Aktivitäten im Bereich der präventiven Diplomatie. In Folge des »Concept on Strengthening EU-Mediation and Dialogue Capabilities«, 2009 verabschiedet von den Mitgliedstaaten, wurde vom EEAS zum einen ein »Mediation Support Team« aufgebaut. Dieses bietet Trainings für Diplomat*innen, EU-Sonderbeauftragte, Delegationsleiter*innen und Missionspersonal an, stellt Faktenwissen für EU-Einsätze zur Verfügung und führt auch eigene Mediationsaktivitäten durch – in enger Abstimmung mit den Mitgliedstaaten, den Vereinten Nationen und ihren Regionalorganisationen (vor allem mit der »Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa«, OSZE), und mit NGOs. Zudem widmet sich auch das »European Institute for Peace«, das von einigen EU-Mitgliedstaaten 2015 jenseits der EU-Institutionen in Brüssel etabliert wurde, der Weiterentwicklung von Mediationskapazitäten.

Die Mediationsaktivitäten der EU erstrecken sich auf eine große Bandbreite von Konfliktregionen (u.a. den Nahen und Mittleren Osten, Nordafrika, Südkaukasus, Zentralasien, Westbalkan, südliches Afrika, Zentralamerika) und Themen (Dialogarbeit, Versöhnung, Verfassungsverhandlungen, u.a.).1 In Mali wurde z.B. der Dialog und Versöhnungsprozess mit Workshops unterstützt. Im Libanon wurde das Carter Center bei der Ausarbeitung von verfassungsrechtlichen Fragen mit Blick auf Syrien beraten; im Südsudan wurden Dialoge mit Frauenorganisationen gefördert; in der Zentralafrikanischen Republik ein Waffenstillstandsabkommen vorbereitet; in der Ukraine Initiativen für einen nationalen Dialog begleitet.

Das EU-Parlament sieht in diesem Feld offenbar wichtige Potenziale. Im März 2019 verabschiedete es mit der Resolution 2018/2159 Anregungen für den
„Ausbau der Kapazitäten der EU im Bereich der Prävention und Mediation“. Die Resolution fordert, dass die EU Prävention und Mediation in den Mittelpunkt ihrer diplomatischen Aktivität rücken und »menschliche Sicherheit«, Konfliktsensibilität und »gender-sensi­tive« Ansätze zum handlungsleitenden Paradigma machen solle. Zudem schlagen die Abgeordneten vor, das Amt einer*eines Sonderbeauftragten für Friedenspolitik, der*die für Kohärenz und bessere Abstimmung zwischen den EU-Institutionen und der Zivilgesellschaft sorgen könne, und einen verlässlichen Mediator*innen-Pool für den Einsatz in Krisensituationen zu schaffen. Auch der EEAS hat kürzlich mit dem »Concept on EU Peace Mediation« (2020) ein neues Konzept vorgelegt und mehr Geld für den Ausbau der Mediationskapazitäten und institutionelle Veränderungen gefordert. All diese Vorschläge sind friedenspolitisch wegweisend, haben aber bislang keinen bindenden Charakter. Anlass zur Hoffnung bietet vielleicht eine Ratsentschließung vom Dezember 2020 über Schlussfolgerungen zur EU-Friedensmediation. Welche wertvollen Beiträge die EU für die globale Friedenspolitik leisten könnte, wenn sie noch systematischer in dieses Feld investieren würde, sollte eigentlich schon seit Jahren u.a. durch mindestens zwei Studien bekannt sein (vgl. Göldner-Ebenthal und Dudouet 2017; Tamminen 2012).

Evaluierung des Beitrags der EU zu Krisenprävention und Friedensförderung

Allerdings braucht eine überzeugende EU-Friedenspolitik neben dem politischen Willen zum Ausbau krisenpräventiver Instrumente und Finanzierungsansätze noch etwas Anderes: Kohärenz. Eine Evaluation, die im Auftrag der EU-Kommission vom »European Center for Development Policy Management« (ECDPM) und weiteren Thinktanks durchgeführt wurde, bescheinigt der EU begrenzte Fortschritte, zeigt aber auch Defizite und Schwächen auf, die das Zusammenspiel der Instrumente und die Kohärenz der Politikansätze insgesamt betreffen (vgl. European Commission et al. 2020).2 Im »mainstreaming« von Krisenprävention und Friedensförderung seien auf der übergeordneten Ebene Fortschritte erkennbar, aber noch nicht auf der regionalen und länderbezogenen Ebene. Im praktischen Engagement würden die strategischen Festlegungen selten explizit aufgegriffen, es mangele an Übersetzungsarbeit seitens des mittleren Managements. Die Abstimmung von EU-Institutionen habe sich zwar verbessert, aber viele Entscheidungen würden noch immer »ad-hoc« und nicht strategisch begründet getroffen. Auch bei den Themen »Menschenrechte« und »Gender-Sensibilität« gebe es »Raum für Optimierung«. Als größtes Manko beschreibt die Studie die »begrenzte Verfügbarkeit« an Personal, das für Prävention und Friedenspolitik qualifiziert ist. Erhebliche Defizite werden auch im Bereich der Evaluierung und des institutionellen Lernens ausgemacht. Ein Mangel an Kohärenz wird der EU-Politik auch durch eine umfangreiche Studie der Bertels­mann-Stiftung (2020) bescheinigt, die nicht nur die EU-Außen- und Sicherheitspolitik in den Blick nimmt, sondern diese auch mit der Politik der einzelnen Mitgliedstaaten abgleicht.

Fazit und Ausblick

In diesem Beitrag wurde das enorme Potenzial der EU im Bereich der Krisenprävention und Friedensförderung verdeutlicht. Würde dieses substanziell gestärkt, könnte die EU eine wichtige Rolle als Vermittlerin und Unterstützerin von Friedensallianzen auf globaler Ebene einnehmen und die Vereinten Nationen wirkungsvoll ergänzen. Anstatt ihren Fokus zunehmend auf die Unterstützung von Militärbündnissen (z.B. Übernahme von Infrastrukturkosten für die NATO) und die Doppelung von Verteidigungsstrukturen zu richten (PESCO), sollte sich die EU auf ihre Stärken als Brückenbildnerin besinnen und diese in den Dienst von Systemen kollektiver Sicherheit (der Vereinten Nationen und ihrer Regionalorganisationen, z.B. der OSZE) stellen.

Für NGOs und EU-Parlamentarier*innen wird eine wichtige Aufgabe fortan darin bestehen, darauf zu drängen, (a) dass das 0,7 % Ziel in der Entwicklungsfinanzierung konsequent erfüllt wird, (b) dass Mittel der Entwicklungszusammenarbeit wirklich für die Bekämpfung von Hunger und Armut verwandt werden und zivile Mittelansätze (des NDICI) nicht für sicherheits- und migrationspolitische Zwecke umgewidmet werden, und (c) dass die breit gefächerten Aufgabenkataloge des bisherigen »Instruments für Stabilität und Frieden« und des »Instruments für Demokratie und Menschenrechte« im neuen EU-Finanzrahmen in vollem Umfang erhalten bleiben. Zivilgesellschaftliche Netzwerke und friedensaktive EU-Parlamentarier*innen müssen deren Ausgabepraxis sorgfältig beobachten und durch Lobbyarbeit darauf hinwirken, dass die krisenpräventiven und friedens­politischen Ansätze in der komplexen und »flexiblen« neuen Finanzarchitektur erhalten und weiterentwickelt werden (vgl. Fischer 2020).

Eine weitere Herausforderung liegt darin, die zivilen Friedensmissionen der EU mit mehr Geld und mit geschultem Personal auszustatten. 2018 haben sich die Mitgliedstaaten der EU in einer Ratsentschließung zur Stärkung der zivilen Dimension der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik verpflichtet (»Civilian CSDP Compact«, vgl. Rat der EU 2018). Die Umsetzung erfolgt bisher jedoch sehr schleppend. Weiterhin fehlt es an einem verlässlichen Expert*innenpool für zivile Missionen. Gut ausgebildete Menschen, die sich in der Wahlbeobachtung, Überwachung von Friedensvereinbarungen und im Aufbau von Polizei, Justiz und demokratischen Institutionen in Nachkriegsregionen engagieren, werden dringend benötigt. Die deutsche Bundesregierung hatte angekündigt, den Ausbau der zivilen Säule der GSVP zu einem Schwerpunkt ihrer EU-Ratspräsidentschaft 2020 zu machen. Dafür hat sie im September 2020 ein »Europäisches Kompetenzzentrum für ziviles Krisenmanagement« eröffnet, das die EU bei der Bearbeitung von Konflikten in angrenzenden Regionen unterstützen soll. Weitere Impulse blieben jedoch aus, zumal die Präsidentschaft weitgehend von der Bewältigung der Corona-Folgen, dem Brexit und der Verabschiedung des Mehrjährigen Finanzrahmens 2021-2027 vereinnahmt wurde. Immerhin haben die EU-Mitgliedstaaten die Absicht, die zivile GSVP zu stärken, im Dezember 2020 nochmals in einer Ratsentschließung (Rat der EU 2020b) bekräftigt. Daran sollte man sie fortlaufend erinnern.

Mit den vorhandenen Instrumenten verfügt die Union über ein ausbaufähiges Potenzial, um auf internationaler Ebene als Vermittlerin und Friedensfördererin tätig zu werden. Um einen wirksamen Beitrag für Krisenprävention und Friedensförderung zu leisten, müssten die EU und ihre Mitgliedstaaten jedoch ihre Außenpolitik konsequent auf die Bewältigung der Ursachen von Gewaltkonflikten statt auf die Bekämpfung von Symptomen ausrichten und auch eigene Anteile am Unfrieden reflektieren. Das erfordert neben konfliktsensibler Entwicklungszusammenarbeit auch eine faire Agrar-, Handels-, Umwelt- und Klimapolitik gegenüber angrenzenden Regionen, insbesondere den afrikanischen Ländern. Mit der Fixierung auf militärische Missionen und Rüstungstransfer wird man Staatszerfall und zunehmenden Gewaltpotenzialen z.B. in der Sahelregion kaum entgegenwirken können. Erst wenn die EU und ihre Mitgliedstaaten die Außenwirtschaftspolitik an den restriktiven Bestimmungen zu Rüstungsexporten (Gemeinsamer Standpunkt von 2008, vgl. Rat der EU 2008) orientieren, können sie auch Glaubwürdigkeit beanspruchen.

Anmerkungen

1) Diverse Evaluierungen dazu finden sich unter http://eeas.europa.eu/cfsp/conflict_prevention/index_en.htm

2) Die Studie untersuchte Aktivitäten und Kooperationen im Zeitraum 2011-2018, die sich explizit auf Prävention und Friedensförderung richteten. Knapp die Hälfte wurden aus dem »European Development Fund« (EDF) finanziert, ein Fünftel von DCI, 18 % aus dem IcSP, 13 % aus dem »Neighbourhood Instrument« und ein kleinerer Teil (0,1 %) aus dem EIDHR.

Literatur

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2020): Europe’s Coherence Gap in External Crisis and Conflict Management. Political Rhetoric and Institutional Practices in the EU and its Member States. Gütersloh: Bertelsmann.

European Commission et al. (2020): External Evaluation of EU’s Support to Conflict Prevention and Peacebuilding (CPPB) 2013-2018, Vol 1. Brüssel: Verlag Bertelsmann Stiftung.

European Commission (2019):Programmes‘ performance overview. Extract from Programme Statements of operational expenditure. COM(2019) 400. Brüssel, Juni 2019.

European External Action Service (EEAS) (2020): Concept on EU Mediation. 1336/20, Brüssel, 2.12.2020.

Fischer, M. (2020): EU-Parlament billigt neuen Finanzrahmen, Blogbeitrag, Brot für die Welt, 17.12.2020.

Fischer, M. (2019): EU-Politik: Nachbarschaft, Entwicklung und Globales, Blogbeitrag, Brot für die Welt, 28.3.2019.

Rat der EU (2020): Schlussfolgerungen des Rates zur Friedensvermittlung durch die EU, 13440/20. Brüssel, 7.12.2020.

Rat der EU (2020b): Schlussfolgerungen des Rates zum Pakt für die zivile GSVP, 13571/20. Brüssel, 07.12.2020.

Rat der EU (2018): Schlussfolgerungen des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zur Schaffung eines Pakts für die zivile GSVP , 14305/18. Brüssel, 19.11.2018.

Rat der EU (2008): Council common position, 2008/944/CFSP of 8 December 2008 defining common rules governing control of exports of military technology and equipment. Official Journal of the European Union, L335/99, 13.12.2008.

Dr. Martina Fischer ist Politikwissenschaftlerin und war knapp 20 Jahre bei der Berghof Foundation in Berlin tätig. Seit 2016 arbeitet sie bei »Brot für die Welt« als Referentin für Frieden und Konfliktbearbeitung.

EU-Militärhaushalte


EU-Militärhaushalte

Schritte über den Rubikon

von Özlem Alev Demirel und Jürgen Wagner

Aufgrund anhaltender Konflikte verzögerte sich die Verabschiedung des EU-Haushalts für 2021-2027 bis Mitte Dezember 2020. Nahezu unumstritten war allerdings die mit ihm einhergehende Einrichtung diverser Militärhaushalte, die für einen weiteren grundlegenden Schritt der Militarisierung der Europäischen Union stehen. Erhebliche rechtliche Bedenken wurden dabei ebenso ignoriert wie grundsätzliche Bedenken, dass es sich hierbei um den endgültigen Abschied von der einstmals viel gepriesenen »Zivilmacht Europa« handelt.

Lange Zeit war es vollkommen undenkbar, dass die Europäische Union über einen, geschweige denn gleich mehrere Militärhaushalte verfügen könnte. Allein schon aufgrund der lange vorherrschenden Auslegung der EU-Verträge wurde dies schlichtweg für illegal gehalten. In den letzten Jahren hat aber eine neue Interpretation an Boden gewonnen, die sich schließlich auch im ersten Haushaltsvorschlag der Kommission für das EU-Budget 2021-2027 niederschlug. Ausgelobt wurden darin eigene Budgetlinien für »Militärische Mobilität«, für einen »Europäischen Verteidigungsfonds« (EVF) sowie für militärisch relevante Weltraumprogramme. Hinzukommen wird wohl auch noch eine »Europäische Friedensfazilität«, die zwar – aus rechtlichen Erwägungen – kein offizieller Teil des Haushalts, aber ein integraler Bestandteil der EU-Mili­tärpolitik sein soll. Trotz anhaltend schwerer rechtlicher Bedenken war seit diesem Vorschlag nur noch die genaue Höhe der einzelnen Posten umstritten, nicht mehr aber die Grundsatzentscheidung selbst, mit der sich die EU ein weiteres wesentliches Merkmal einer Militärmacht zulegt.

Eigentlich illegal!

Rechtlich fragwürdig ist die Einrichtung von EU-Militärbudgets vor allem aufgrund von Artikel 41 Absatz 2 des EU-Vertrags von Lissabon (EUV), in dem es heißt: „Die operativen Ausgaben im Zusammenhang mit der Durchführung dieses Kapitels [Allgemeine Bestimmungen über das Auswärtige Handeln der Union] gehen ebenfalls zulasten des Haushalts der Union, mit Ausnahme der Ausgaben aufgrund von Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen und von Fällen, in denen der Rat einstimmig etwas anderes beschließt.“

Lange wurde dieser Passus, nicht zuletzt auf Drängen Großbritanniens, derart interpretiert, dass keinerlei militärrelevante Ausgaben aus dem EU-Haushalt bestritten werden dürften – eine Auffassung, der sich 2015 auch noch die EU-Kommission anschloss (EU Kommission 2015, S. 7). Als sich die gesamte EU-Machtarchitektur im Anschluss an das britische Austrittsreferendum im Juni 2016 allerdings grundlegend veränderte, begann sich auch rasch eine neue Auslegung durchzusetzen.

Seither wird von Befürworter*innen dieser Haushaltstöpfe zweigleisig argumentiert: So wird einmal postuliert, der Begriff »operative Ausgaben« bezöge sich auf »Operationen«, weshalb das Finanzie­rungsverbot ausschließlich militärische Einsätze betreffe. In Ergänzung zu diesem doch extrem bemühten Rechtfertigungsversuch hat sich die Kommission dann aber noch ein weiteres Konstrukt einfallen lassen. Die einzelnen Töpfe wurden nämlich offiziell nicht auf die Kompetenzgrundlage der »Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik« gestellt, auf die allein sich das Verbot aus Artikel 41(2) EUV bezieht. Stattdessen wird beispielsweise als Kompetenzgrundlage des Europäischen Verteidigungsfonds Artikel 173 (Wettbewerbspolitik) des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) respektive Artikel 179 AEUV (Forschungspolitik) angegeben. Dadurch würden weder die Gelder für die Erforschung noch die für die Entwicklung von Rüstungsgütern unter das Verbot aus Artikel 41(2) EUV fallen, so die Argumentation (Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages 2018).

Dem widerspricht, dass es der Kommission nach geltender Rechtsauffassung nicht erlaubt ist, die Kompetenzgrundlage bestimmter Maßnahmen frei nach Gusto zu wählen. Ein entsprechendes Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) aus dem Jahr 2016 besagt: „Ergibt die Prüfung eines Unionsrechtsakts, dass er zwei Zielsetzungen hat oder zwei Komponenten umfasst, und lässt sich eine von ihnen als die hauptsächliche oder überwiegende ausmachen, während die andere nur nebensächliche Bedeutung hat, so ist der Rechtsakt nur auf eine Rechtsgrundlage zu stützen, und zwar auf die, die die hauptsächliche oder überwiegende Zielsetzung oder Komponente erfordert“ (EuGH 2016).

Aufgrund der dubiosen Rechtsauslegung der Kommission beauftragte die Linksfraktion GUE/NGL im EU-Parlament den Bremer Juraprofessor Andreas Fischer-Lescano mit einem Rechtsgutachten zum Europäischen Verteidigungsfonds, das am 30. November 2018 veröffentlicht wurde. Nach einer ausführlichen Prüfung gelangte Fischer-Lescano darin zu dem Ergebnis, der EVF-Verordnungsvorschlag (EVF-VO) der Kommission enthalte „keine hinreichende Rechtsgrundlage für die Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds“ (Fischer-Lescano 2018, S. 1). Es sei eindeutig, dass hier militärische Belange im Vordergrund stünden, die wiederum dem Finanzierungsverbot aus Artikel 41(2) EUV unterlägen: „Kurzum: Es gibt im Inhalt und der Begründung der EVF-VO deutliche Indizien, dass die in der VO geregelte Industrie- und Forschungsförderung nur ein Mittel zum eigentlichen Zweck der Verteidigungsförderung darstellt und dass der Hauptzweck der EVF-VO darin liegt, die strategische Autonomie der EU im Bereich der Verteidigung zu gewährleisten“ (Ebd., S. 10).1 Zwar kann gegen die EU-Militärhaushalte erst nach deren endgültiger Verabschiedung juristisch vorgegangen werden, die rechtlichen Bedenken sind aber in jedem Fall gravierend.

Mobilität – Rüstung – Weltraum

Dennoch schlug die EU-Kommission im Mai 2018 für den nächsten EU-Haushalt 2021-2027 vor, 11,5 Mrd. € für den EVF einzustellen (EU Kommission 2018).2 Sinn und Zweck des EVF besteht demnach darin, die Erforschung und Entwicklung europaweiter Rüstungsprojekte zu finanzieren. Hierüber sollen Konzentrationsprozesse forciert und die Herausbildung eines europäischen Rüstungskomplexes vorangetrieben werden. Ferner waren 5,8 Mrd. € für die »Militärische Mobilität« enthalten, mit der die Infrastruktur für schnelle Truppen- und Gütertransporte Richtung Russland »ertüchtigt« werden soll – vor allem in Osteuropa. Drittens wurden 14,2 Mrd. € für Europäische Raumfahrtprogramme eingestellt, primär für »Copernicus« und »Galileo«, die von großer militärischer Bedeutung sind.

Verwaltet werden sollen diese Fonds nach Verabschiedung von der »General­direktion Verteidigungsindustrie und Weltraum« (DG Defence), die im Dezember 2019 neu gegründet wurde, um die militärisch relevanten Bereiche zu bündeln. Dass hier auch die extrem kostspieligen Weltraumprogramme mit verortet wurden, macht aus Sicht der Kommission Sinn. Industriekommissar Thierry Breton, Chef der DG Defence, wurde dazu im Februar 2020 mit den Worten zitiert: „Ich halte es für unerlässlich, dass sich der Raumfahrtsektor der EU an die neuen geopolitischen, strategischen, industriellen und technologischen Gegebenheiten anpasst. […] Auf europäischer Ebene war es lange Zeit ein Tabu, aber ich glaube, es ist an der Zeit, es zu brechen. […] Ja, Galileo hat eine Verteidigungsdimension. Ja, Copernicus kann Sicherheitsaufgaben dienen. Und ja, dieser Trend muss in Zukunft noch verstärkt werden“ (Pugnet 2020).

Friedensfazilität für EU-Kriege

Weiterhin unumstritten scheint zu sein, dass eine Finanzierung von EU-Militär­einsätzen nicht aus dem EU-Haushalt bestritten werden darf. Selbiges gilt für die Querfinanzierung von Interventionen Dritter, insbesondere der Afrikanischen Union, und auch der Ausbildung und Aufrüstung »befreundeter« Akteur*innen sind weiterhin Grenzen gesetzt. Doch auch hier wurde mit der »Europäischen Friedensfazilität« (EFF) eine kreative »Lösung« gefunden. Sie wurde im Juni 2018 nahezu parallel zum ersten Haushaltsentwurf der EU-Kommission mit einem Umfang von 9,2 Mrd. € vorgeschlagen. Die EFF ist explizit außerhalb des EU-Haushalts angesiedelt, um nicht in Konflikt mit Artikel 41(2) EUV zu geraten, und wird stattdessen nach einem festen Schlüssel mit Geldern der Einzelstaaten befüllt (Deutschland trägt ca. 25 % des EFF-Haushaltes bei).

Für EU-Militäreinsätze gab es bislang bereits ein ähnliches Finanzierungsmodell namens »ATHENA-Mechanismus«, über das es aber nur möglich war, zwischen 5 % und 15 % der Kosten von EU-Militäroperationen zu finanzieren. Den Rest mussten die beteiligten Staaten für ihren Anteil am Einsatz aus eigener Tasche bezahlen, was – nachvollziehbarerweise – für die Motivation diverser Länder, sich militärisch zu engagieren, nicht eben förderlich war. Aus dem EFF-Entwurf von EU-Außenbeauftragter und EU-Kommission wird nun ersichtlich, dass deshalb ein »Anreizsystem« zur Beteiligung an Militäreinsätzen geschaffen werden soll, indem der Anteil der gemeinsam zu finanzierenden Einsatzkosten auf 35 % bis 40 % angehoben werden soll (EEAS 2018, S. 2).

Über die Rolle des EFF bei der Finanzierung Dritter schreiben Kommission und Außenbeauftragte: „Überdies wird die Fazilität den militärischen Operationen der EU ermöglichen, im Rahmen ihres Mandats integrierte Paketlösungen, die Sicherheit, Ausbildung, Bereitstellung von Ausrüstung und direkte militärische Unterstützung bündeln, anzubieten und so im Einsatzgebiet voll und umfassend tätig zu werden. […] Mit der neuen Europäischen Friedensfazilität wird die Union in der Lage sein, weltweit direkt zur Finanzierung von Friedenseinsätzen, die von Drittstaaten geleitet werden, sowie zu internationalen Organisationen beizutragen, ohne dass dies auf Afrika oder die Afrikanische Union beschränkt wäre“ (Ebd.).

Vor allem gegen die Lieferung von Militärgerät – insbesondere letalem – regt sich aber Widerstand. Am 18. November 2020 warnten 40 zivilgesellschaftliche Gruppen in einer Stellungnahme: „Sollte sie in ihrer gegenwärtigen Form beschlossen werden, […] würde die EFF unter EU-Label Initiativen zum Training und zur Ausrüstung ausländischer Militär- und Sicherheitskräfte finanzieren, einschließlich der Möglichkeit, ihnen tödliche Waffen zu liefern. […] Hinweise aus jüngster Vergangenheit deuten darauf hin, dass die Maßnahmen zur Militär- und Sicherheitsunterstützung, die durch die EFF finanziert werden sollen, aller Wahrscheinlichkeit nach zur Eskalation von Konflikten, insbesondere in anfälligen konfliktbetroffenen Umgebungen, beitragen würden. […] Dies würde genau die Dynamiken befeuern, die der EFF eigentlich zu durchbrechen versucht.“ (Joint Civil Society Statement 2020).

Nach dem ersten Aufschlag der EU-Kommission setzten zähe Verhandlungen sowohl um die einzelnen Rüstungstöpfe als auch den gesamten EU-Haushalt ein. In der Folge mussten einzelne Posten teils deutliche Kürzungen hinnehmen. Zuletzt erzielten die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen am 21. Juli 2020 eine Einigung. Dabei wurden 7,014 Mrd. € für den Europäischen Verteidigungsfonds und 1,5 Mrd. € für die Militärische Mobilität vorgeschlagen. Die EU-Weltraumprogramme sollen nach dem Willen der Staats- und Regierungschefs 13,202 Mrd. € erhalten und für die Europäische Friedensfazilität sind 5 Mrd. € vorgesehen (EC 2020).

Grundsatzentscheidung

Diese Zahlen wurden schließlich auch in den Kompromiss für den EU-Haushalt 2021-2027 vom 10. November 2020 und in die abschließenden Entscheidungen Mitte Dezember 2020 übernommen. Die im Verhandlungsprozess vorgenommenen Kürzungen der einzelnen militärischen Posten hatten aber nichts mit einer Ablehnung der Entwicklung hin zu einer »Militärmacht Europa« zu tun, sondern waren anderen Dynamiken geschuldet. Denn getragen wird diese Entwicklung von der Überzeugung, in einer Ära der zunehmenden „Konkurrenz großer Mächte3 würden die entsprechenden Mittel benötigt, damit sich die Europäische Union (militärisch) behaupten könne.

Thierry Breton als Chef der neu geschaffenen DG Defence formulierte dies folgendermaßen: „Der allmähliche Aufbau einer europäischen Verteidigung ist Teil der jetzt notwendigen »hard power«-Dimension. Dies bedeutet nicht den Verzicht auf unsere historischen Bündnisse. Es geht einfach darum, Europa auf dem geostrategischen Schachbrett der Welt zu behaupten. […] In dieser Hinsicht ist der Europäische Verteidigungsfonds das Instrument, das Europa in die Lage versetzt, über die Technologien zu verfügen, die zur Unterstützung seiner strategischen Autonomie und zur Verringerung seiner Abhängigkeiten erforderlich sind, und in Partnerschaft mit den Mitgliedstaaten eine wettbewerbsfähige industrielle und technologische Verteidigungsbasis zu erhalten, die in der Lage ist, die von den Mitgliedstaaten benötigten Fähigkeiten bereitzustellen“ (Breton 2020).

So besehen wird mit der Geburt des Europäischen Verteidigungsfonds die Zivilmacht Europa wohl endgültig zu Grabe getragen.

Anmerkungen

1) Siehe auch Aust 2019.

2) Bei allen Angaben in diesem Artikel handelt es sich um Preise von 2018, die deutlich unter den bislang noch nicht vollständig veröffentlichten laufenden Preisen liegen. Beim Verteidigungsfonds summiert sich dies zum Beispiel auf 13 Mrd. € in laufenden statt der 11,5 Mrd. € in Preisen von 2018.

3) Diese Formulierung wählte die damalige Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen bei ihrer Eröffnungsrede zur Münchner Sicherheitskonferenz 2019.

Literatur

Aust, B. (2019): Der Europäische Verteidigungsfonds. Ein Rüstungsbudget für die »Militärunion«. Wissenschaft und Frieden 1/2019, S. 43-45.

Breton, T. (2020): Les entretiens de la defense europeenne, Conférence sur l‘avenir de l‘Europe: quelle ambition pour la défense européenne? Brüssel, 04.11.2020.

European Council (EC) (2020): Special meeting of the European Council (17, 18, 19, 20 and 21 July2020) – Conclusions, EUCO 10/20, Brüssel, 21.07.2020.

EEAS (2018): Vorschlag der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik mit Unterstützung der Kommission an den Rat für einen Beschluss des Rates zur Einrichtung einer Europäischen Friedensfazilität, HR(2018) 94, Brüssel, 13.06.2018.

EuGH (2016): Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) in der Rechtssache C 263/14, 14.06.2016.

EU Kommission (2015): Kapazitätsaufbau zur Förderung von Sicherheit und Entwicklung – Befähigung unserer Partner zur Krisenprävention und -bewältigung. JOIN (2015) 17, Brüssel, 28.04.2015.

EU Kommission (2018): Mitteilung der Kommission: Ein moderner Haushalt für eine Union, die schützt, stärkt und verteidigt. Mehrjähriger Finanzrahmen 2021-2027, COM(2018) 321 final, Brüssel, 02.05.2018.

Fischer-Lescano, A. (2018): Rechtsgutachten zur Illegalität des Europäischen Verteidigungsfonds, GUE/NGL, November 2018.

Joint Civil Society Statement (2020): European ‘Peace’ Facility: Causing harm or bringing peace? November 2020.

Pugnet, A. (2020): Oui, la politique spatiale européenne, et Galileo, ont un volet ‘défense’, Bruxelles2, 02.02.2020.

Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages (2018): Zur Zulässigkeit der Haushaltsfinanzierung von Forschung im GSVP-Kontext vor dem Hintergrund des Verbots des Art. 41 Abs. 2 EUV, Sachstand, 16.06.2018.

Özlem Alev Demirel ist Mitglied des Europäischen Parlaments (DIE LINKE) und dort stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Sicherheit und Verteidigung.
Jürgen Wagner ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen.

COVID-19 weltweit

COVID-19 weltweit

Drei Länder. Drei Geschichten.

zusammengetragen von Tim Bausch und Stella Kneifel

Es gibt kaum ein Land, das nicht von der COVID-19-Pandemie betroffen ist. Doch das Maß der Betroffenheit ist abhängig von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Faktoren. Gerade zu Beginn dieser Pandemie konnte man den Eindruck erlangen, dass sich der Blick vieler Menschen von Tag zu Tag engte und schließlich in einer Selbstzentrierung mündete. Zwar blickten die meisten besorgt nach Italien und Spanien, aber eher selten darüber hinaus.

Der vorliegende Beitrag möchte Fenster zur Welt öffnen. Im Fokus stehen Länder und politische Räume, die auch ohne Pandemie in hohem Maße von sozialer, politischer und ökonomischer Unsicherheit betroffen sind. Die Absicht dieses Artikels ist illustrativ, nicht generalisierend. So soll aufgezeigt werden, wie COVID-19 nahezu katalysatorisch auf die drei beschriebenen Regionen wirkt. Der Beitrag vereint ganz unterschiedliche Perspektiven und Formen. Valeria Hänsel, Wissenschaftler*in und Aktivist*in, erläutert, welche Herausforderungen COVID-19 für Geflüchtete in griechischen Lagern mit sich
bringt. Valeria hat selbst viel Zeit vor Ort verbracht. Tatiana Naboulsi, eine palästinensische Aktivistin aus dem Libanon, zeigt, wie sich die Pandemie auf die palästinensischen Flüchtlingsorte im Libanon auswirkt. Chittranjan Dubey, Umweltschützer aus New Delhi, verdeutlicht den Konnex aus Klimakrise, staatlichen Restriktionen und einem erschwerten Aktivismus. Die letzten beiden Texte wurden von Tim Bausch und Stella Kneifel übersetzt.

Griechische Inseln

von Valeria Hänsel

Die Situation in den Hotspot-Geflüchtetenlagern auf den griechischen Inseln hat sich massiv zugespitzt. Auch wenn die Unterbringung für Asylsuchende schon seit Abschluss der EU-Türkei-Erklärung vom 18. März 2016 katastrophal ist und Rechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, tritt die rassistische Diskriminierung in Anbetracht der COVID-19-Pandemie noch deutlicher zu Tage.

Mit der EU-Türkei-Erklärung wurden zunächst ein neues Asylrecht und eine Begrenzung der Bewegungsfreiheit auf den griechischen Inseln eingeführt. Somit wurden die Hotspot-Lager von Aufnahmezentren in Langzeitlager verwandelt, in denen Betroffene zum Teil für Jahre ausharren müssen. Im größten Hotspot-Lager Moria auf Lesbos befinden sich aktuell 20.951 Menschen bei einer offiziellen Kapazität für 3.991 Personen. Auf den anderen Inseln befinden sich insgesamt weniger Schutzsuchende, aber die Lager sind ebenfalls seit Jahren drastisch überbelegt. Wie in zahlreichen Berichten dokumentiert, ist
die basale Versorgungssituation in den Hotspots seit ihrer Umwandlung in Langzeitlager völlig unzureichend.

Bereits vor Ausbruch der Pandemie kam es zu einer radikalen Zuspitzung an der EU-Außengrenze in der Ägäis. Es wurden zahlreiche Verschärfungen im Migrations- und Asylrecht eingeführt, und es wurde geplant, geschlossene Lager zu errichten. Proteste aus allen politischen Flügeln brachen aus. Als der türkische Präsident Erdogan am 27. Februar 2020 ankündigte, die Grenzen zu öffnen, kam es auf den griechischen Inseln zu rassistischen Hetzjagden gegen Geflüchtete und Mitarbeiter*innen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Menschen, die versuchten, in Booten von der Türkei nach Griechenland
überzusetzen, wurden gewaltsam von der griechischen Küstenwache attackiert und zurückgepusht oder an Stränden festgesetzt, während an der Evros-Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland sogar scharf geschossen wurde. Inzwischen werden solche Aktionen mit COVID-19-Maßnahmen begründet.

Mit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie verfestigte sich die Situation der Rechtslosigkeit. Während griechische Staatsbürger*innen zur eigenen Sicherheit Abstandsregeln einhalten müssen, wird der Großteil der Geflüchteten ohne Schutz in der Elendssituation zurückgelassen. Anstatt zu evakuieren, wurden Ausgangssperren für die Lager verhängt. Der Lockdown der Lager wurde immer weiter verlängert, auch als die Bestimmungen für die lokale Bevölkerung wieder gelockert wurden. Wer dennoch versucht, das Camp zu verlassen, wird von der Polizei gestoppt, und es werden Geldstrafen verhängt, die bei
Nicht-Bezahlung in Gefängnisstrafen überführt werden.

Der Lockdown wird durchgesetzt, obwohl in den Lagern keinerlei gesundheitlicher Schutz für die Bewohner*innen gewährleistet wird: Eng gedrängt müssen Tausende Menschen stundenlang für Essen anstehen; Duschen und Toiletten sind nur in sehr geringer Anzahl vorhanden und verdreckt; Abwasser- und Müllentsorgung funktioniert kaum, von ausreichend Seife, Desinfektionsmittel oder Mundschutz ganz zu schweigen. Viele Organisationen zogen sich zurück, die medizinische Versorgung wurde verringert, sodass zwischenzeitlich nur noch zehn Ärzt*innen und acht Krankenpfleger*innen für mehr als 20.000 zum
Teil schwer erkrankte Personen vor Ort waren. Das Asylbüro wurde vorübergehend geschlossen und die Bearbeitung von Anträgen eingestellt. Um zu verhindern, dass Personen das Lager verlassen, wurde die monatliche finanzielle Unterstützung für Asylsuchende von 90 Euro vorübergehend eingefroren, obwohl diese für viele die Lebensgrundlage darstellt.

In einigen Fällen kam es zu massiver Gewalt der örtlichen Bevölkerung gegen NGO-Mitarbeiter*innen, vor allem aber gegen Migrant*innen. Dabei überlagern sich rassistische Ressentiments und Gewaltformen mit rassifizierten Ängsten vor einer Infektion mit SARS-Cov-2. All dies geht mit einer stetigen Verschärfung des Asylrechts einher.

Die Regierung begegnet der Situation in Zeiten der Pandemie vor allem mit Repressionen. Die Entwicklungen werden genutzt, um Gesetzesverschärfungen durchzusetzen, NGOs mit Registrierungszwang zurückzudrängen und Migrant*innen gewaltsam die Einreise zu verweigern. Geflüchtete reagieren darauf vor allem mit Protesten, um auf die Situation in den Lagern aufmerksam zu machen. Im Abschiebegefängnis von Moria traten inhaftierte Migrant*innen in einen Hungerstreik, der gewaltsam von der Polizei beendet wurde.

Verschiedene Netzwerke setzen sich für die Geflüchteten ein und versuchen, ihren Forderungen Gehör zu verschaffen, auf internationaler Regierungsebene bewegt sich jedoch wenig. Dabei sind die Zustände in den Lagern primär Resultat der Transformation des »Hotspot«-Ansatzes, der in der »Europäischen Agenda für Migration« von 2015 festgeschrieben wurde, durch die EU-Türkei-Erklärung. Zudem scheint sich die Europäische Kommission trotz der jüngsten Eskalation hinter die gewaltsame griechische Politik zu stellen. Das Konzept der geschlossenen Lager ist nicht nur Bestandteil des griechischen
Asylgesetzes, sondern geht mit den Konzepten der Europäischen Kommission für »controlled centres« vom Juli 2018 einher. Bestrebungen zur Aufnahme von Migrant*innen aus den griechischen »Hotspots« in anderen europäischen Staaten beschränken sich bisher auf marginale Zahlen besonders schutzbedürftiger Personen. Die humanitären Interventionen stellen somit das strukturelle Grundproblem der Externalisierung von Migrationskontrolle und Aushöhlung von Rechten an der EU-Außengrenze nicht in Frage.

Palästinensische Flüchtlingslager im Libanon

von Tatiana Naboulsi

Zuallererst: Alhamdulillah, gelobt sei Gott, gibt es bislang in keinem der palästinensischen Lager im Libanon Fälle des COVID-19-Virus.1 Aber im selben Moment, als sich die Nachrichten über das Corona-Virus verbreiteten, gab es von unterschiedlichsten Seiten, auch von Politiker*innen, Anschuldigungen, die Palästinenser*innen seien Ursprung des neuartigen Virus und die palästinensischen Lager müssten abgeriegelt werden. Das war fürchterlich.

Neben diesen Anschuldigungen wirkt sich die COVID-19-Pandemie vor allem wirtschaftlich und finanziell auf unseren Alltag aus. Aufgrund der staatlichen Restriktionen für Palästinenser*innen hatten wir bereits vor der Krise eine hohe Arbeitslosigkeit. Die Mini-Jobs, in denen Palästinenser*innen oft arbeiten, begründen kein festes Arbeitsverhältnis, und die Menschen werden nur dann bezahlt, wenn sie arbeiten. Für viele ist das Geld überlebensnotwenig. An Tagen ohne Einkommen müssen die Familien hungern. Jene Menschen sind am stärksten von der Pandemie betroffen.

Manche Organisationen sammeln Geld für Essen. Traditionell versuchen arabisch-palästinensische Kulturvereine im Fastenmonat Ramadan ärmere Menschen mit Lebensmittelspenden zu unterstützen. Durch das Corona-Virus ist der Bedarf extrem gestiegen.

Zudem kann das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA)2 seinen Aufgaben gerade nicht ausreichend nachkommen. Sogar das libanesische Gesundheitsministerium kritisierte, dass sich UNRWA nicht ausreichend um die Palästinenser*innen im Libanon kümmert. Das Ministerium betonte auch, dass es nicht für palästinensische Patient*innen aufkommen könne und die UNRWA verantwortlich sei. Das schafft Unsicherheiten, da die Zuständigkeiten diffus sind und wir uns nicht darauf verlassen können, nötige Hilfen zu bekommen.

Der Verfall der libanesischen Währung ist ein weiteres Problem. Das libanesische Pfund verlor einen Großteil seines Wertes gegenüber dem US-Dollar. Zudem sind Artikel des täglichen Bedarfs sehr teuer geworden, und der Schwarzmarkt für den Wechsel zwischen libanesischen Pfund und US-Dollar boomt. Während die Bank 1.500 Lira für einen US-Dollar herausgibt, können auf dem Schwarzmarkt bis zu 4.200 Lira erzielt werden.3 Viele Palästinenser*innen, die im Ausland leben, haben Geld in die Lager geschickt. Außerdem spenden die Menschen in den Lagern untereinander so viel
Geld, wie sie können. Wir haben nur einander, wir wissen, dass wir allein sind.

Der libanesische Staat kann uns nicht helfen. Er ist kaum in der Lage, sich selbst und seine eigenen Bürger*innen zu schützen. Die Libanes*innen sind von ihrer Regierung abhängig und sind es gewohnt, ein freizügiges Leben zu führen. Auch sie versuchen natürlich, sich gegenseitig zu helfen. Aber oft fehlen ihnen dafür die Strukturen. Auch haben einige Libanes*innen das Virus nicht ernst genommen, was die Verbreitung begünstigte.

Wir haben Angst, dass es zu einem Ausbruch in den palästinensischen Lagern kommt. Falls COVID-19 die Lager erreicht, könnte es zu einer Katastrophe kommen. Wir machen uns große Sorgen, da wir keine eigenen Krankenhäuser haben und unsere eigenen politischen Strukturen schnell an ihre Grenzen stoßen könnten. Deswegen versuchen wir, so viele Menschen wie möglich aufzuklären. Vielen ist die Gefahr bewusst, aber sie öffnen ihre Geschäfte trotzdem, um sich und ihre Familien ernähren zu können. Durch den Krieg in Syrien hat sich die Zahl der Menschen in den palästinensischen Lagern oftmals
verdoppelt. Die Lager sind daher überfüllt; das kommt erschwerend hinzu.

Auch in der Vergangenheit haben wir keine Hilfe von außen bekommen. Aber wir wissen, was es heißt, solidarisch zu handeln. Nun profitieren wir von diesen nachhaltigen Hilfsstrukturen. Diese können wir nun nutzen und sind damit anderen etwas voraus.

Anmerkungen

1) Die Texte in diesem Artikel wurden im Juni 2020 verfasst. Ende Juli ergänzte Tatiana Naboulsi: Zwei Menschen eines Camps hatten sich inzwischen mit Corona infiziert und Familienmitglieder angesteckt, was zu insgesamt sechs COVID-19-Fällen führte. Die betroffenen Menschen wurden jedoch isoliert und konnten genesen. Das Gesundheitsministerium veranlasste eine Nachverfolgung der Kontaktpersonen und führte Tests durch. Alle waren negativ. Seitdem tauchte kein neuer Fall auf.

2) Die Abkürzung steht für United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East.

3) Die Autorin ergänzte Ende Juli: Der US-Dollar wird inzwischen mit 7.000 Lira gehandelt und mancherorts sogar noch höher. Die Inflation ist inzwischen ebenfalls viel höher als im Juni.

Indien: Migrant*innenkrise, Klima, Ökologie und COVID-19

von Chittranjan Dubey

Die COVID-19-Pandemie brachte für Indien beispiellose Herausforderungen mit sich. In solchen Situationen erwarten wir, dass von der Politik Maßnahmen unternommen werden, die zu unmittelbaren und nachhaltigen Lösungen führen. Premierminister Modi kündigte ein Hilfspaket in Höhe von 240 Milliarden Euro an, was angeblich zehn Prozent des indischen BIP entspricht.

Als Umweltschützer und Klimaaktivist verfolgte ich täglich die Briefings der indischen Finanzministerin Nirmala Sitharaman, die Einzelheiten des Hilfs­pakets erläuterte. Ich erwartete, dass auch Geld für die Klima- und Umweltkrise bereitgestellt wird. Ich war verblüfft, dass kein einziges Mal das Wort »Klima« fiel. Die COVID-19-Maßnahmen haben Umweltinitiativen vielmehr geschwächt. Die Regierung kümmert sich wenig um Umwelt- und Klimapolitik. Entweder wird die Bedeutung von nachhaltiger Umweltpolitik unterschätzt, oder es werden schlicht falsche Prioritäten gesetzt. So oder so ist
diese Kurzsichtigkeit für zukünftige Generationen gefährlich.

Die indische Regierung erkennt nicht, dass jedes Jahr Millionen Inder*innen zu Klimaflüchtlingen werden. Aufgrund des Lockdown und der Infektionsgefahr können indische Klimaaktivist*innen nun nicht mehr für das Klima auf der Straße protestieren.

Im April und Mai mussten Millionen Migrant*innen wegen des landesweiten Shutdown bei 40 Grad Hitze aus den Städten in ihre Dörfer zurückkehren. Wir sollten uns eine grundlegende Frage stellen: Wieso gibt es diese Arbeitsmigration überhaupt? Leider fehlt diese Diskussion in der indischen Politik und Wirtschaft gänzlich. Arbeitsmigration gibt es, weil Menschen nicht mehr von der Landwirtschaft überleben können.

Mehr als eine Million Menschen wurden bereits 2018 bei den Überschwemmungen in Kerala zu Klimaflüchtlingen. Der Superzyklon Amphan hat in Westbengalen und Orissa eine halbe Million Menschen vertrieben und unwiderrufliche Schäden angerichtet. Darüber hinaus ist Indien, wie die Unternehmensberatung McKinsey in einem Bericht über die Klima- und Umweltkrise dieses Jahr betonte, stark von Hitzewellen betroffen, die auch für gesunde Menschen gefährlich sind. Der Thinktank NITI Aayog errechnete 2018, dass 21 indischen Großstädten bis 2020 das Grundwasser ausgehen wird, wovon 100 Millionen Menschen
betroffen sein werden.

Dies alles sind Folgen des sich verändernden Klimas. Naturkatastrophen sind einer der Hauptgründe von Migration. Viele indische Bundesstaaten sind regelmäßig mit Naturkatastrophen konfrontiert. Das sind die Staaten, aus denen die meisten Menschen auf der Suche nach einer Existenzgrundlage in Großstädte abwandern. Der Zustrom von Menschen in größere Städte verschärft bereits bestehende Probleme. Und dieser Teufelskreis hört nie auf. Die Mehrheit von ihnen lebt am Ende in Slums und an Straßenrändern. Sie leben ohne sanitäre Einrichtungen und fließendes Wasser. Von der COVID-19-Pandemie sind
diese Menschen am stärksten betroffen. Da sie auf sehr engem Raum leben, können sie keinen Abstand im Sinne des Infektionsschutzes halten. Die aktuelle Pandemie hat die Notlage der Tagelöhner*innen und des ländlichen Indiens nun offengelegt und verschärft.

Der Klimawandel und die daraus resultierende ökologische Krise sind so schwerwiegend, dass sie nicht mehr ignoriert werden können. Die COVID-19-Pandemie ist auch das Ergebnis der Ausbeutung von Natur und Tierwelt. Steigende Temperaturen, Hitzewellen, Dürreperioden und Überschwemmungen werden zunehmen, was in dicht besiedelten Regionen, wie dem indischen Subkontinent, viele Viruserkrankungen hervorrufen wird. Und trotzdem hat dieses Thema in der Mainstream-Politik keinen Platz, weil unsere Führung ignorant ist. Neben dem COVID-19-Virus sind wir mit Dengue, Chikungunya, Zika, Nipah und
anderen Viruskrankheiten konfrontiert. Sie alle sind das Ergebnis veränderter Klimabedingungen, die Moskitos und Viren begünstigen.

Ein Bericht der Arbeitsgruppe für Migration, der 2017 vom Ministerium für Wohnungswesen und Bekämpfung der städtischen Armut herausgegeben wurde, enthält nachdrückliche Empfehlungen zur Verbesserung der Situation für Migrant*innen. Es ist jedoch Sache der Regierung, die Migration als eine Herausforderung anzuerkennen und geeignete Strategien und Programme zur Beseitigung der Fluchtursachen umzusetzen.

Indien ist das Land von Mahatma Gandhi, der auf die ländlichen Regionen, auf die Landwirtschaft und entsprechende Reformen achtete. Wenn sich unsere Regierung für die Lösung der sozioökonomischen Probleme einsetzt, dann sollte sie das Klimaproblem im Speziellen und die Umwelt im Allgemeinen beachten. Die Regierung muss die Klimamigration als eine durch den Klimawandel verursachte extreme Herausforderung anerkennen. Nur dann lassen sich Migration, Armut und auch die rasche Verbreitung von Viren verhindern.

Tim Bausch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen an der Universität Jena.
Stella Kneifel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Orient-Institut Beirut und arbeitet im Projekt »Relations in the Ideoscape: Middle Eastern Students in the Eastern Bloc (1950s-1991)«.

Wie hybrid ist Europa?

Wie hybrid ist Europa?

von Jürgen Scheffran

Die knappe Wahl der früheren deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zur Präsidentin der Europäischen Kommission war ein Signal für die militärische Ausrichtung Europas. Vergessen sind die Skandale wegen überteuerter Beraterverträge oder dysfunktionaler Rüstungsprojekte. Für die europäischen Staatschefs war dies kein Hindernis, und Europas Rüstungslobby sah die Chance, die militärische Zusammenarbeit in der Europäischen Verteidigungsunion voranzutreiben. Die neue deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer versucht, den militärischen Fußabdruck ihrer
Vorgängerin noch auszuweiten, indem sie eine erhebliche Steigerung des Rüstungsetats forciert. Nachdem bereits ein Anstieg von 32,4 Mrd. € 2014 auf knapp 43 Mrd. € 2019 erfolgte, fordert sie nicht nur den Zuwachs auf 1,5 % des Bruttosozialprodukts (ca. 60 Mrd. € bis 2024), sondern eine weitere Zunahme auf das 2 %-Ziel der NATO, was mehr als 80 Mrd. € jährlich entspricht, mehr als Russland für Militär ausgibt.

Ein starker Mittelzuwachs führt nicht zu mehr Effizienz und Funktionsfähigkeit, eher zu Verschwendung, Schlampigkeit und Bestechung. Sicher mangelt es nicht an Ideen für milliardenschwere Rüstungsprojekte, wie das Mehrzweckkampfschiff MKS180 oder das Taktische Luftverteidigungssystem. Weiter gibt es Vorschläge für ein deutsch-französisches Kampfflugzeug (Future Combat Air System) nebst einem Flugzeugträger. Dass die Kosten hier leicht hundert Mrd. € überschreiten können ist absehbar, ebenso weitere Rüstungsexporte in die Krisenherde der Welt. Die USA sind trotz enormer Rüstungsausgaben
nicht in der Lage, diese Krisenherde zu befrieden. Die Militärinterventionen vom Irak über Kosovo bis nach Afghanistan haben gezeigt, dass Hightech-Kriege die Probleme nicht lösen, im Gegenteil. In den Konflikten in Syrien, Jemen, Nordkorea, der Ukraine, mit dem Iran oder in Afrika hat den USA ihre militärische Dominanz nicht viel genutzt. Es wird nicht besser, wenn die EU dies dupliziert.

Da kommen die »hybriden Kriege« gerade recht – so bezeichnen Militärs die Verschmelzung ziviler und militärischer Kampfformen in der Grauzone zwischen Krieg und Frieden. Der Ukraine-Konflikt wurde zum Brandbeschleuniger für die hybride Kriegführung, wobei Russland vor allem Mittel einsetzte, die die USA schon lange verwenden. Dies reicht von der Beeinflussung der Bevölkerung durch Radio Free Europe im Kalten Krieg über die Unterstützung von Contragruppen in Lateinamerika bis zum Einsatz irregulärer Spezialkräfte und Informationskriege in jüngeren Krisen (auch in der Ukraine). Neben
USA und Russland haben auch China und andere Mächte ihr hybrides Repertoire erweitert, das Drohnenangriffe, Cyberkriege, Attacken auf zivile Infrastrukturen ebenso umfasst wie Meinungsmache durch Fake News und Hate Speech in sozialen Medien, oder die Unterstützung von Oppositionsgruppen.

Der Westen erlebt, dass die mit der Globalisierung verbreiteten Mittel und Technologien auf ihn zurückfallen und dabei die Verwundbarkeit der Industrie- und Kommunikationsgesellschaft offenkundig wird. Fast scheint es, als rüste der Westen sich für eine durch Chinas Seidenstraßen und Landinvestitionen zunehmend vernetzte Welt, in der er nur noch knapp ein Zehntel der Weltbevölkerung ausmacht. EU und NATO bauen ihre Zusammenarbeit gegen hybride Bedrohungen aus. In Finnland gibt es ein EU-NATO-Exzellenz-Zentrum zur Abwehr hybrider Bedrohungen. Auch die Hybridisierung der Bundeswehr schreitet
voran, z.B. durch die Zusammenarbeit mit Privatfirmen, Übungen zum Schutz kritischer Infrastrukturen oder beim Umgang mit Migration. Angesichts der Vielfalt und Beliebigkeit hybrider Kriege scheinen Strategieplaner ein Thema gefunden zu habe, das dem zivil-militärischen gesellschaftlich-industriellen Komplex eine dauerhafte Förderung garantiert. Eine so legitimierte Bundeswehr kann auch im zivilen Raum präsentiert werden, in öffentlichen Gelöbnissen, zur Terrorabwehr, zur Verteidigung digitaler Mobilfunknetze oder zum Schutz europäischer Handelswege im Persischen Golf.

So wird es möglich, hybride Kriege ohne räumliche und zeitliche Begrenzung, mit allen Mitteln und gegen jede(n) zu führen. Alle könnten potentielle »Täter« und »Opfer« werden und die ganze Gesellschaft zum Schlachtfeld vernetzter Kriege. Statt reguläre Kriege zurückzudrängen, könnten hybride Kriege zum Türöffner werden für eine neue Gewaltspirale. Hier zeigt sich der Januskopf eines permanenten und totalen »Krieges aller gegen alle« (frei nach Hobbes), der selbst Clausewitz überrascht hätte.

Dabei sind Auswege eines vernetzten Friedens erkennbar, bedürfen aber der Mobilisierung. Während die Regierung danach strebt, das 1,5- bzw. 2 %-Ziel zu erreichen, droht sie die Klimaziele von 1,5 bis 2 Grad zu verpassen, wie »­Fridays for Future« deutlich macht. Mit den enormen Rüstungsausgauben fehlen Mittel für die Klimawende. So werden in doppelter Weise Krisen angeheizt: Klimawandel und andere globale Probleme erzeugen weltweit neue Konfliktherde, während mit der Aufrüstung noch Öl ins Feuer gegossen wird. Ein Europa des Friedens könnte dem entgegenwirken.

Ihr Jürgen Scheffran

Europäische Friedensvisionen retten


Europäische Friedensvisionen retten

Jahrestagung der Plattform ZKB, 29.-31. März 2029, Bad Boll

von Melanie Bleil

Nur wenige Monate vor der Wahl zum Europäischen Parlament am 26. Mai 2019 beschäftigte sich am letzten Märzwochenende die Jahrestagung der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung mit den Friedensvisionen der europäischen Zivilgesellschaften. Zusammen mit Gästen aus Österreich, Kroatien, Großbritannien und Deutschland diskutierten die Teilnehmenden unter dem Titel »Wie sind die Europäischen Friedensvisionen noch zu retten? Herausforderungen für die europäische Zivilgesellschaft« über die Herausforderungen, vor denen die einzelnen Zivilgesellschaften in ihren Ländern stehen und wie dabei Friedensvisionen im Kleinen und Großen verwirklicht werden können.

Bereits zu Beginn der Tagung warnte der österreichische Politikwissenschaftler Dr. Thomas Roithner vor einer Verengung des Diskurses auf die geographischen Grenzen der Europäischen Union. Europa habe mehrere Institutionen, die eine friedliche Konfliktlösung unterstützen könnten, seien es die OSZE, der Europarat oder die Vereinten Nationen. Ein besonders wertvoller Erfahrungsschatz sind ebenso die zivilgesellschaftlichen und institutionellen Ansätze, die während des Kalten Kriegs erfolgreich waren, wie etwa der »Harmelprozess« der NATO oder die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die mit ihren Dialogformen und vertrauensbildenden Maßnahmen zu einer Entschärfung der Konflikte beitrugen. Diese Erfolge nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, ist eine generationsübergreifende Aufgabe. Die Diskussion griff auch Maßnahmen für die Zukunft auf. So wurden neben unterschiedlichen Systemen der Entscheidungsfindung die Vision eines europäischen Grundeinkommens diskutiert, um friedliche und demokratische Gesellschaften in Europa zu fördern.

Die Europäische Union stand im Fokus der Auseinandersetzung um die europäische Friedensvision. Analysiert wurden Initiativen wie der Europäischen Verteidigungsfonds oder die Veränderungen in der Gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik, die sich unter anderem in dem überwiegend militärischen Charakter der EU-Auslandseinsätze und einer Aufrüstung der EU widerspiegeln. Dabei waren sich die Teilnehmenden einig, dass diesen Entwicklungen eine konsequente Friedenslogik entgegenzusetzen ist. Als besonders eklatant wurde die Diskrepanz zwischen den Werten der EU und den wirtschaftlichen und geopolitischen Machtinteressen wahrgenommen. Auch dies führe dazu, dass es derzeit innerhalb der EU eine Rückbesinnung auf nationale Diskurse und Identitäten gebe, die sich in der Ablehnung von Migration und in rechtspopulistischen Meinungen gegen das »Friedensprojekt Europa« ausdrücke, so die Teilnehmenden. Barbara Lochbihler, außen- und menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament, kommentierte in ihrem Vortrag diese Differenz zwischen Werten und aktuellen Entwicklungen folgendermaßen: „Bei der Gründung der EU hat niemand vorausgesehen, dass sich die Mitgliedsstaaten hinter das Regelwerk zurückentwickeln.“

Aus den Berichten der europäischen Tagungsgäste ging hervor, dass es trotz unterschiedlicher Situationen in den Ländern auch gemeinsame Trends gibt: Die Verschärfung der sozialen Ungleichheit nimmt zu, Sicherheitsnarrative verändern sich, und das Misstrauen gegenüber Institutionen wächst. Auf diese Herausforderungen gilt es auch in Zukunft europäische Lösungen zu finden. Die Idee eines »Europas von unten«, das sich auf starke europäische Zivilgesellschaften stützt, betonte Dion van den Berg, Senior Politikberater bei der niederländischen Nichtregierungsorganisation PAX. Hier kommt auch der zivilen Konfliktbearbeitung eine Schlüsselrolle zu. Durch den Aufbau von Netzwerken, vertrauensvollen Beziehungen und ziviler Krisenprävention können zivilgesellschaftliche Akteure den Wandel hin zu einem friedlichen Europa anstoßen. Die gegenseitige Unterstützung von europäischen Partnern ist dabei ein wichtiges Element. Nicht nur verschafft es Organisationen Anerkennung und Bedeutung in ihren lokalen bzw. nationalen Kontexten, auch der Blick von außen trägt zu einer selbstkritischen Reflektion der eigenen Verortung von Positionen und Erwartungen bei.

Das Thema Frieden in Europa wird viele Mitglieder der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und auch die Plattform selbst weiterhin begleiten. Mit der Idee, Europa aktiv mitzugestalten – sei es, indem man Menschen mobilisiert, wählen zu gehen, oder sich über die eigenen Grenzen hinweg vernetzt, stützt und austauscht –, endete die Tagung.

Melanie Bleil