Die nukleare Teilhabe der NATO und Incirlik

Die nukleare Teilhabe der NATO und Incirlik

von Aslihan Tümer

Im Rahmen der so genannten »nuklearen Teilhabe« der North Atlantic Treaty Organisation (NATO) stationieren die USA als einziger Staat Atomwaffen auch außerhalb ihres eigenen Staatsgebiets. Die 480 taktischen Atomwaffen würden von Flugzeugen ins Ziel gebracht. Damit sind sie nicht nur besonders flexibel einsetzbar und in die konventionellen Streitkräfte integriert, sondern sie gehören auch zu der Waffenkategorie, für die noch keine einzige Rüstungskontroll- oder Abrüstungsvereinbarung ausgehandelt wurde. Zur furchtbaren Realität gehört auch die Definition dieser Atomwaffen als »einsetzbar“.

Als »nukleare Teilhabe« wird die Stationierung von US-Atomwaffen in etlichen NATO-Ländern bezeichnet.1 Außer Großbritannien, das selbst Atomwaffenstaat ist, sind folgende Länder in die nuklearen Kooperationsprogramme der NATO eingebunden: Belgien, Deutschland, Italien, Niederlande und Türkei. Sie haben mit den USA jeweils bilaterale (und geheim gehaltene) Stationierungsabkommen abgeschlossen. Die nukleare Teilhabe umfasst unter anderem die Bereitstellung von Flugzeugen, die für einen Atomwaffeneinsatz zertifiziert sind, sowie das Training von Piloten des Gastgeberlandes für den Ernstfall.

Die Zahl 480 ist das Ergebnis einer ausführlichen Studie, die im Frühjahr 2005 von der US-amerikanischen Organisation Natural Resource Defense Council veröffentlicht wurde.2 Der Studie zu Folge sind 90 dieser Waffen in der Türkei stationiert, allerdings können sie nur auf Befehl der US-Führung einsatzbereit gemacht werden. Im Kriegsfall aber könnten, so eine Aussage des damaligen Oberbefehlshabers des US-Militärs von 1969, diese Waffen zum Einsatz durch die kooperierenden Staaten freigegeben werden. In ihrem Strategischen Konzept von 1999 hat die NATO die nukleare Teilhabe ausdrücklich bestätigt.

Ein Grundprinzip der NATO ist die »kollektive Verteidigung«. Das bedeutet, dass ein Angriff auf einen Mitgliedsstaat automatisch als Angriff auf alle NATO-Länder gilt. In Artikel 5 des Nordatlantikvertrags wurde vereinbart, „dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs“ jede Vertragspartei „die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“

Zur neuen Politik der USA gehört die ausdrückliche Bereitschaft, Atomwaffen als erste einzusetzen, auch als Antwort auf einen konventionellen Angriff.3 Folglich könnten die NATO-Mitgliedstaaten bei jeder militärischen Auseinandersetzung der USA in einen nuklearen Konflikt hineingezogen werden.

Aufgrund des Demokratiedefizits innerhalb der NATO können die BürgerInnen der Länder, die in die nukleare Teilhabe eingebunden sind, die Nuklearpolitik des Bündnisses offiziell weder hinterfragen noch ablehnen. Das hindert allerdings viele Menschen nicht daran, kreative Wege der Informationsbeschaffung zu finden und gegen diese Nuklearpolitik zu protestieren. Auch BürgerInnen und Nichtregierungsorganisationen der Türkei nutzen informelle Wege der Aufklärung und des Protests, und Umfrageergebnisse zeigen, dass dieser eigenständige Umgang mit demokratischen Rechten mehrheitlich auf die Zustimmung der türkischen Bevölkerung trifft.

Im Juni 2004 führte die türkische Meinungsforschungsagentur Infakto Research Workshop im Auftrag von Greenpeace Türkei eine Umfrage durch, um herauszufinden, wie die türkische Öffentlichkeit über Atomwaffen denkt. Dazu wurde ein repräsentativer Querschnitt der türkischen Bevölkerung in 629 Telefoninterviews befragt.

45% der Befragten gaben an, dass in der Türkei Atomwaffen stationiert sind. Etwa 30% verneinten diese Aussage, und 26% konnten oder wollten die Frage nicht beantworten. Es zeigte sich, dass der Bildungsstand bei der Beantwortung dieser Frage keine Rolle spielte.

Als diejenigen, die von einer Stationierung in der Türkei ausgingen, danach gefragt wurden, wem diese Atomwaffen gehören, sagte die Hälfte, die Atomwaffen seien unter türkischer Kontrolle. Etwa ein Drittel beantwortete die Frage nicht, und nur 10,5% der Befragten ordneten diese Waffen den USA oder der NATO zu.

Etwa die Hälfte der Befragten äußerte, dass sie der Stationierung von Atomwaffen in der Türkei mit dem Argument, die Sicherheit der Türkei und anderer NATO-Mitglieder zu gewährleisten, „überhaupt nicht“ zustimmen. Die Umfrage ergab auch, dass die Ablehnung der Atomwaffen mit steigendem Bildungsgrad zunimmt.

Bezeichnenderweise äußerten 57% der Befragten ihre Unterstützung, wenn die türkische Regierung den Abzug der Atomwaffen fordern würde. Nur 34% sprachen sich gegen eine solche Maßnahme aus, wobei die Ablehnung bei den Männern größer ist als bei den Frauen (40% bei den Männern, 28% bei den Frauen).

Die Umfrage ergab außerdem, dass eine Entscheidung, die Türkei zur atomwaffenfreien Zone zu erklären, mit hoher Unterstützung rechnen könnte. Insgesamt sprachen sich 72% für einen solchen Vorschlag aus, nur 22% lehnten ihn ab.

Und schließlich äußerten mehr als 80% der Befragten Zustimmung, sofern die türkische Regierung eine internationale Kampagne zur vollständigen und weltweiten Abrüstung sämtlicher Massenvernichtungswaffen initiieren würde. Auch hier stiegen die Zustimmungsraten mit wachsendem Bildungsniveau.

Diese Umfrageergebnisse zeigen, dass die türkische Politik einer aktiven nuklearen Teilhabe von einer Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird, obgleich viele Menschen über die nuklearen Rolle der Türkei in der NATO im Dunkeln gehalten werden. Bemühungen der türkischen Regierung, bei der Abrüstung von nuklearen und anderen Massenvernichtungswaffen eine Vorreiterrolle zu spielen, finden hingegen deutliche Zustimmung.

Der Atomwaffenstandort Incirlik

Incirlik – die wörtliche Übersetzung des Wortes ist »Feigengarten« – war ursprünglich ein kleines Dorf außerhalb der Zwei-Millionen-Stadt Adana im Süden der Türkei. Bekannt wurde Incirlik durch den Luftwaffenstützpunkt in unmittelbarer Nachbarschaft, der teilweise mehr Bewohner hatte als das Dorf selbst. Nach Eröffnung des Standorts im November 1954 vergrößerte sich das Dorf unaufhörlich, insbesondere im Kontext des ersten Golfkrieges, als die Basis für das US-Militär zum wichtigen Drehkreuz wurde. Incirlik entwickelte sich zu einer kleinen Stadt mit 20.000 Einwohnern; zahlreiche Geschäfte tragen englische Namen, und fast jeder Einwohner kann Englisch sprechen.

Incirlik machte auf Grund der Anwesenheit des US-Militärs immer wieder Schlagzeilen und wurde auch in der Öffentlichkeit heftig diskutiert, besonders wenn es um die Nutzungsgenehmigung oder ein Nutzungsverbot für bestimmte Militäroperationen ging. So gab es gegen die Nutzung von Incirlik im Irakkrieg 2003 heftige Proteste, und die Bewegung gegen den Krieg wurde zur größten Massenbewegung in der Türkei seit mehreren Jahrzehnten.

Heute hat Incirlik keine Feigenbäume mehr, birgt aber ein wenig bekanntes Geheimnis, nämlich die Tatsache, dass dort 90 Atomwaffen gelagert sind, deren Sprengkraft der von 1.000 Hiroshima-Bomben entspricht. Greenpeace eröffnete in Incirlik eine »Friedensbotschaft«, um Zeugnisse der Atomwaffenstationierung nach Adana zu tragen und das Bewusstsein bei der dortigen Bevölkerung zu schärfen. Die Wahrnehmung der Atomwaffen ist in Adana – wie in der ganzen Türkei – sehr gespalten. Zwar gibt es keine offizielle Bestätigung für die Stationierung, und viele wissen auch nichts davon, sie haben aber „schon immer den Verdacht“ gehabt, dass dort etwas vor sich geht.

Andererseits will die Bevölkerung von Adana am liebsten nichts davon hören. Die Stadt hängt wirtschaftlich von der Luftwaffenbasis ab, daher werden Negativinformationen über den Standort als direkte Bedrohung des wirtschaftlichen Wohlergehens von Incirlik eingestuft. Mit der Aussage konfrontiert, dass auf dem Stützpunkt Atomwaffen stationiert sind, wird diese Möglichkeit einfach ausgeschlossen. Und wenn es so ist, dann haben die USA diese Waffen nur zum Schutz der Menschen dort stationiert. Viele Menschen in Incirlik haben früher auf der Basis gearbeitet und sie halten Atomwaffen auf der Basis für undenkbar, schließlich haben sie nie etwas davon gehört, und hinter ihrem Rücken könne so etwas ja wohl kaum passieren. Egal, wie die einzelnen Menschen reagieren, eines ist unverkennbar: Keiner will zugeben, dass es die Waffen dort gibt.

Exkurs in die Geschichte: Die Kubakrise

Den Wenigsten ist bewusst, dass die Kubakrise auch ein Meilenstein in den Beziehungen zwischen der Türkei und den USA war.

Ende 1960 stationierten die USA Mittelstreckenraketen des Typs Jupiter in der Türkei, also unweit der sowjetischen Grenzen. Die Raketen wurden mit nuklearen Sprengköpfen ausgestattet. Dies löste eine internationale Krise aus – die sich zur Kubakrise auswachsen sollte – und verdeutlichte die Gefahr, dass Atomwaffen tatsächlich eingesetzt werden könnten.

Nachdem die Jupiter im April 1962 einsatzbereit wurden, reagierte die Sowjetunion zunehmend schärfer. Im Mai 1962 verurteilte Chruschtschow die Stationierung der Raketen, und im Herbst 1962 stationierten sowjetische Truppen als Gegenreaktion nuklear bestückbare SS-4-Mittelstreckenraketen auf Kuba.

Die Sowjetunion verlangte den Abzug der Jupiter-Raketen aus der Türkei. Nach Einschätzung des damaligen US-Botschafters in Ankara, Raymond Hare, wollte die Türkei aber keinen Rückzug der Atomwaffen, sondern hielt diese für einen Schutz vor der sowjetischen Bedrohung.

Die türkische Öffentlichkeit war damals gespalten, sowohl die Opposition als auch die Medien verfolgten die Diskussionen sehr genau. Manche Artikel wussten zu berichten, dass die USA zu Verhandlungen bereit seien (was gegen Ende der Krise auch der Fall war, die Türkei wurde davon aber nicht informiert). Viele kritisierten die türkischen Politiker aber auch für ihre zu große Amerika-Nähe.

Am 24. Oktober 1962 gab der türkische Präsident Cemal Gursel bekannt, dass die Türkei in der Kubakrise an der Seite ihres amerikanischen Verbündeten stehe, und Premierminister Inönü bestätigte die enge Zusammenarbeit mit den USA. Die türkische Bevölkerung hingegen beobachtete die Entwicklung mit großer Sorge.

Am 27. Oktober schließlich einigten sich die USA und die Sowjetunion auf den gegenseitigen Rückzug ihrer Raketen aus der Türkei und von Kuba. Das Abkommen wurde allerdings geheim gehalten, und die Türkei lobte die USA für ihre Standfestigkeit und dafür, dass sie die Sicherheit der Türkei nicht zur Disposition gestellt habe – was sich nachträglich als falsch herausstellte.

Als die USA 1963 dann den Abzug der Jupiter-Raketen ankündigte, verknüpfte sie dies mit der Ankündigung, die Mittelstreckenraketen würden durch modernste Atom-U-Boote ersetzt. Die türkische Regierung hielt still, in der Öffentlichkeit begann aber allmählich die Debatte darüber, dass die Türkei während der Kubakrise Verhandlungsmasse war.

Die Oppositionsparteien stellten im Parlament entsprechende Fragen, und Außenminister Erkin erklärte, dass die Türkei durch die modernen U-Boote an Wichtigkeit gewänne und die Türkei und die USA durch die Krise enger aneinander gerückt seien. Er betonte, die Türkei würde gestärkt, weil ihr strategischer Wert in einem konventionellen Krieg steige. Die Jupiter wurden im April 1963 aus der Türkei abgezogen.

Während der Kubakrise war Ismet Inönü Premierminister der Türkei, und er unterstütze die USA. Acht Jahre später sagte er in einer Rede im Parlament: „Die Amerikaner erklärten uns, die Jupiter würden abgezogen, weil sie veraltet seien. An ihrer Stelle würden Polaris-U-Boote stationiert. Erst später erfuhren wir, dass der Abzug Teil der Verhandlungen mit den Sowjets war. Dieser Vorfall zeigt, dass die türkische Staatsführung nicht zulassen sollte, dass die Amerikaner die Türkei unversehens in eine Krise mit hineinziehen, und wir sollten vorsichtig sein…“

Die damalige Krise hatte für die Türkei mehrere Konsequenzen, die wichtigste davon war eine erhebliche Beschädigung der Beziehungen mit den USA. Die anti-amerikanischen Gefühle wuchsen, und in der Türkei wurde erkannt, welche Nachteile aus einer einseitigen Politik erwachsen können.

Die Gefahr heute

In letzter Zeit liest man häufiger Meldungen, dass die iranische Sahab-3-Rakete sich zum Angriff auf den Luftwaffenstützpunkt Incirlik eigne, und Zeitungen berichten immer wieder über Pläne von El Kaida, die Basis anzugreifen. Solche Meldungen gehören in den weiteren Kontext der Diskussion, ob die Atomwaffen von Incirlik für die Türkei eine Gefahr darstellen.

Die Stationierung von NATO-Atomwaffen in sechs europäischen Ländern ist ein Zeichen, dass weiterhin in Kategorien des Kalten Krieges gedacht wird. Die Sowjetunion ist zusammengebrochen, und Russland ist heute keine Gefahr mehr (sofern dies jemals der Fall war). Durch die Zusammenarbeit im NATO-Russland-Rat erkennt die NATO Russland als gleichwertigen Partner an, und beide Parteien arbeiten inzwischen eng zusammen. Als Gefahr wird heute nicht mehr Russland, sondern der Nahe Osten wahrgenommen. Allerdings ist die Stationierung von Atomwaffen direkt an der Außengrenze der NATO eine Provokation, und sie erhöht die Gefahren für die regionale und globale Sicherheit.

Auf jeden Fall wird die Region um Incirlik und damit auch die lokale Bevölkerung durch die Stationierung von US-Atomwaffen zum potentiellen Zielpunkt. Die Atomwaffen von Incirlik sollten dringend in die USA zurück gezogen und unschädlich gemacht werden. Ein solcher Schritt würde nicht nur zur Sicherheit der Türkei und des Nahen Ostens beitragen, sondern auch ein positives Signal aussenden, da er die Bereitschaft der Türkei bestätigen würde, eine atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten durch Worte und Taten zu fördern. Damit hätte die Türkei die einzigartige Chance, einen positiven Einfluss auf die Region und somit die globale Sicherheit auszuüben. Der Abzug der US-Atomwaffen und eine Umorientierung der NATO auf die Friedenswahrung würden den Pfad zu Frieden und wahrer Sicherheit eröffnen.

Anmerkungen

1) Otfried Nassauer: Nuclear Weapons in Europe – A Question of Political Will, Berlin Information Center for Transatlantic Security (BITS), Policy Note 05.4, Juni 2005, erstellt im Auftrag von Greenpeace Deutschland.

2) Die komplette Studie wurde durchgeführt von Hans M. Kristensen: US Nuclear Weapons in Europe. A Review of Post-Cold War Policy, Force Levels, and War Planning, Februar 2005, Natural Resource Defense Council; Washington D.C.; http://www.nrdc.org/nuclear/euro/contents.asp. Eine Zusammenfassung findet sich in Robert S. Norris und Hans Kristensen: NRDC Nuclear Notebook. U.S. nuclear weapons in Europe, 1954-2004, Bulletin of the Atomic Scientists, November/Dezember 2004, S. 76-77 (vol. 60, no. 6); http://www.thebulletin.org/article_nn.php?art_ofn=nd04norris.

3) „Die Nutzung einer nuklearen Option, auch nur einer Teiloption, wäre ein deutliches Signal der Entschlossenheit der Vereinigten Staaten. Daher müssen die Optionen sehr sorgfältig und gezielt ausgewählt werden, so dass der Angriff hilft sicherzustellen, dass der Gegner das ‘Signal’ richtig interpretiert und nicht davon ausgeht, dass die Vereinigten Staaten eine Eskalation hin zum allgemeinen Atomkrieg betreiben. Allerdings ist diese Wahrnehmung nicht garantiert.“ US-Generalstab, Entwurf für eine »Doctrine For Joint Nuclear Operations«, 15. März 2005; das Dokument wurde angeblich im Oktober 2005 zurückgezogen, nachdem es in der Öffentlichkeit bekannt geworden war; http://www.bits.de/NRANEU/docs/3_12fc2.pdf.

Aslihan Tümer ist Campaigner für Nuklearfragen bei Greenpeace Türkei. Übersetzt von Regina Hagen

Die Nuklear-Strategie der NATO

Die Nuklear-Strategie der NATO

Das Völkerrecht und strafrechtliche Konsequenzen

von Bernd Hahnfeld

Die Militärstrategie der NATO setzt unverändert auf den potenziellen Einsatz von Atomwaffen. Das auf der Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs der NATO in Washington am 23. und 24.4.1999 verabschiedete Strategische Konzept des Bündnisses betont die wesentliche Rolle der nuklearen Streitkräfte der Bündnispartner. Hervorgehoben wird, dass dies zur Gewährleistung einer glaubwürdigen Abschreckung erforderlich sei. Die deutsche Bundesregierung hatte 1993 die substrategischen Nuklearsysteme der Allianz ausdrücklich als notwendig bezeichnet und erklärt, man werde nicht für den Abzug dieser Waffen aus Deutschland oder Europa eintreten. Der eventuelle Ersteinsatz der Nuklearwaffen sei unverzichtbar. Sind diese Positionen mit dem Völkerrecht und dem nationalen Recht vereinbar?

Dokumente zur aktuellen Ersteinsatzdoktrin der NATO sind nicht veröffentlicht worden. Geheime Quellen berichten von dem am 16.5.2000 vom Nordatlantikrat einstimmig verabschiedeten NATO-Dokument MC 400/2, demnach der Nordatlantikrat befugt sei, seinen Mitgliedsstaaten den Einsatz von Atomwaffen auch gegen solche Staaten zu empfehlen, die nicht-nukleare Massenvernichtungswaffen einsetzen, mit dem Einsatz drohen oder solche Waffen besitzen. Verschiedene Versuche, eine Überprüfung der Nuklearstrategie der NATO zu erreichen, sind erfolglos geblieben.1

Das Schlusskommuniqué des Ministertreffens der Verteidigungsplanungsgruppe und der Nuklearen Planungsgruppe in Brüssel hat am 12.6.2003 den Status der nuklearen Kräfte der NATO und das Strategie-Konzept der Allianz bekräftigt. Hervorgehoben worden ist die große Bedeutung der in Europa stationierten nuklearen Kräfte.2 Der Nordatlantikrat hat im Dezember 2003 „die in Europa stationierten und der NATO zur Verfügung stehenden Nuklearstreitkräfte“ als essentiell bezeichnet.

NATO-Atomwaffen in Europa

Die NATO verfügt in Europa über Atomwaffen zur Durchsetzung dieser Strategie: Ca. 180 US-Atombomben sind auf Flughäfen in Belgien, Deutschland, Griechenland, Großbritannien, Italien, den Niederlanden und der Türkei stationiert. Die USA und diese NATO-Staaten halten Flugzeuge bereit, die für den Einsatz freifallender Atombomben ausgerüstet sind. Soldaten der betreffenden Staaten würden im Einsatzfall die Bomben abwerfen. So ist z.B. den von der Bundesregierung gebilligten »Konzeptionellen Leitlinien zur Weiterentwicklung der Bundeswehr« vom 12.7.1994 zu entnehmen, dass die Bundeswehr Flugzeugstaffeln für die „nukleare Teilhabe“ vorhält. Dabei handelt es sich derzeit um eine Staffel Tornado-Kampfjets in Büchel.3

Neben diesen Fliegerbomben gehören zum Atomwaffenarsenal der NATO in Europa auch die Atom-U-Boote Großbritanniens und vier US-amerikanische Trident-U-Boote.

NATO-Nuklearstrategie völkerrechtswidrig

Die geltende NATO-Nuklearstrategie, auf unabsehbare Zeit Atomwaffen eine wesentliche Rolle in der Gesamtstrategie zuzuweisen, den möglichen Atomwaffeneinsatz nicht auf extreme Notwehrsituationen zu beschränken, in denen das reine Überleben eines Staates auf dem Spiel steht, und sich den Ersteinsatz von Atomwaffen vorzubehalten, ist völkerrechtswidrig.

Der Einsatz von Atomwaffen und die Drohung mit diesem Einsatz verletzen zwingende Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts. Bei jedem Einsatz der vorhandenen NATO-Atomwaffen können folgende gewohnheitsrechtliche Regeln nicht eingehalten werden:

  • Zwischen kämpfender Truppe (Kombattanten) und der Zivilbevölkerung muss unterschieden werden.
  • Unnötige Grausamkeiten und Leiden müssen vermieden werden.
  • Unbeteiligte und neutrale Staaten dürfen bei einem Waffeneinsatz nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.4

Die Wirkung eingesetzter Atomwaffen lässt sich nicht beschränken auf Kombattanten und auf beteiligte Staaten. Weder in Europa noch in möglichen anderen Einsatzgebieten sind Situationen vorstellbar, in denen nicht auch die Zivilbevölkerung und unbeteiligte und/oder neutrale Staaten in Mitleidenschaft gezogen und Strahlungsschäden erleiden würden. Grausamkeiten an und Leiden der Sterbenden und Überlebenden wären bei einem Einsatz der existierenden Atombomben nicht zu vermeiden.

Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag hat in seinem Gutachten vom 8.7.1996 dementsprechend den Schluss gezogen: „…dass die Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen grundsätzlich/generell („generelly“) im Widerspruch zu den in einem bewaffneten Konflikt verbindlichen Regeln des internationalen Rechts und insbesondere den Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts stehen würde.“5

Offengelassen hat der IGH lediglich die Frage der Völkerrechtswidrigkeit im Falle einer existenzgefährdenden extremen Notwehrsituation. Wörtlich: „Der Gerichtshof kann jedoch in Anbetracht des gegenwärtigen Völkerrechtsstatus und der ihm zur Verfügung stehenden grundlegenden Fakten nicht definitiv entscheiden, ob die Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen in einer extremen Notwehrsituation, in der das reine Überleben eines Staates auf dem Spiel stehen würde, rechtmäßig oder unrechtmäßig sein würde.“6

Aus dem IGH-Gutachten ergibt sich, dass selbst im Falle einer extremen Notwehrsituation, in der das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht, ein etwaiger Atomwaffeneinsatz allenfalls dann völkerrechtsgemäß sein könnte, wenn die weiteren zwingenden Voraussetzungen erfüllt sind, d.h.

  • zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung unterschieden wird,
  • keine unnötigen Leiden verursacht werden und
  • das Gebiet unbeteiligter und neutraler Staaten nicht in Mitleidenschaft gezogen wird.

Weil das mit den in Europa stationierten Bomben nicht möglich ist, wäre jeder Einsatz der existierenden Atomwaffen völkerrechtswidrig. Dementsprechend hat der IGH in der Begründung seines Gutachtens ausgeführt, dass kein Staat, der für die Rechtmäßigkeit des Atomwaffeneinsatzes eintritt, dargelegt hat, unter welchen Bedingungen ein so begrenzter Einsatz möglich wäre, der eine Anwendung rechtfertigen könnte.

Die NATO beschränkt ihre Nuklearstrategie nicht auf Fälle extremer Notwehrsituationen. Zudem gewährleistet die NATO nicht die Einhaltung der vom IGH bestätigten völkerrechtlichen Einschränkungen eines etwaigen Atomwaffeneinsatzes. Aus beiden Gründen verstößt die Nuklearstrategie der NATO gegen zwingendes Völkerrecht.

Völkerrechtswidrig ist die geltende Nuklearstrategie der NATO auch deshalb, weil sie gegen die Verpflichtung aller NATO-Staaten verstößt, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen und zum Abschluss zu bringen, die zu nuklearer Abrüstung (Entwaffnung) in allen ihren Aspekten unter strikter und wirksamer internationaler Kontrolle“ führen. Diese aus Art VI des NV-Vertrages folgende völkerrechtliche Verpflichtung hat der IGH in seinem Richterspruch vom 8.7.1996 einstimmig festgestellt.7

Sobald im Einsatzfall die US-amerikanischen Soldaten die von ihnen verwahrten Atombomben den Soldaten der Nicht-Atomwaffenstaaten übergeben, damit diese mit Flugzeugen ihrer Armeen den Einsatz mit diesen Waffen fliegen, üben die Soldaten der Nicht-Atomwaffenstaaten die faktische Verfügungsgewalt über die Atomwaffen aus. Damit verstießen diese Nicht-Atomwaffenstaaten gegen Art. II des NV-Vertrages, demnach sie verpflichtet sind, „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemanden unmittelbar oder mittelbar anzunehmen.“ Die USA verstieße durch die Überlassung gegen Art. I des NV-Vertrages, der die Atomwaffenstaaten verpflichtet, „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden mittelbar oder unmittelbar weiterzugeben.“

Nicht gefolgt werden kann der Rechtsmeinung, dass der NV-Vertrag im Kriegsfall völkerrechtlich unwirksam wird. Ein sog. Kriegsvorbehalt könnte sich aus »Interpretationserklärungen« ergeben, die der damalige US-Außenminister Dean Rusk am 20.4.1967 gegenüber dem NATO-Rat abgegeben hat. Eine Denkschrift der Bundesregierung zum NV-Vertrag zitiert dazu Äußerungen des US-Außenministers vor dem US-Senat vom 10.7.1968 wie folgt: Der NV-Vertrag „behandelt nicht Regelungen über die Dislozierung von Kernwaffen auf alliiertem Hoheitsgebiet, da diese keine Weitergabe von Kernwaffen oder Verfügungsgewalt darüber einschließen, sofern und solange nicht eine Entscheidung, Krieg zu führen getroffen wird, in welchem Zeitpunkt der Vertrag nicht mehr maßgebend wäre.“ 8 Ob dieser Vorbehalt die förmlichen Voraussetzungen von Art. 19 Abs. 1 Wiener Vertragsrechtsabkommen erfüllt, kann hier nicht geklärt werden.9 Naheliegend ist, dass der Vorbehalt schon deswegen völkerrechtlich unwirksam ist, weil er mit dem Ziel und Zweck des NV-Vertrages unvereinbar wäre. Der NV-Vertrag wäre nahezu bedeutungslos, wenn er in den Konfliktsituationen nicht gelten würde, für die er ursprünglich geschaffen worden ist.

Deutschland verstößt durch die sogenannte nukleare Teilhabe gegen Art. 3 Abs.1 des 2+4-Vertrag vom 12.9.1990, durch den Deutschland „auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen“ verzichtet hat. Denn indem deutsche Soldaten den Einsatz von Atomwaffen üben, die sie mit deutschen Flugzeugen zu den Einsatzorten transportieren und abwerfen sollen, bereiten sie die tatsächliche Verfügungsgewalt über Atomwaffen vor.

Beteiligte zur Verantwortung ziehen

Die NATO-Staaten können zur Verantwortung gezogen und verpflichtet werden, die Rechtsverstöße unverzüglich zu beenden. Durch die NATO-Nuklearstrategie bedrohte oder gefährdete Staaten können vor dem IGH Klage gegen die NATO-Mitgliedstaaten erheben, soweit diese die Zuständigkeit des IGH anerkannt haben. Zudem wäre der UN-Sicherheitsrat berechtigt, nach Art. 39 UN-Charta eine Bedrohung des Friedens festzustellen und Maßnahmen einzuleiten.

Über die geltende NATO-Nuklearstrategie ist bislang von UN-Gremien nicht entschieden worden. Es hat lediglich zahlreiche – nicht rechtsverbindliche – Resolutionen der UN-Generalversammlung zu Fragen der atomaren Rüstung gegeben. Das IGH-Gutachten vom 8.7.96 hat sich nur allgemein mit der Frage der Völkerrechtmäßigkeit des Einsatzes von und der Androhung mit Atomwaffen befasst. Die NATO-Strategie stand insoweit noch nicht auf dem Prüfstand.

Die Bürger in den NATO-Mitgliedstaaten haben die Möglichkeit, im Rahmen ihrer nationalen Rechtssysteme gegen ihre Regierungen gerichtlich vorzugehen, d.h., ihre Regierungen zu völkerrechtsgemäßem Verhalten zu verpflichten, wo dies gesetzlich vorgesehen ist. In Deutschland könnten Bundestagsfraktionen Organklageverfahren einleiten. Ordentliche Gerichte könnten die Frage in Verfahren, in denen sie entscheidungserheblich ist, dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. Selbst wenn die nationalen Rechtsordnungen keine Vollstreckungsmöglichkeiten vorsehen sollten, wäre ein Richterspruch politisch wirksam.

Strafrechtliche Verantwortlichkeit

Strafrechtlich verantwortlich wären die Regierungsmitglieder der NATO-Mitgliedsstaaten und ihre Hilfspersonen für die in der NATO-Nuklearstrategie liegenden Völkerrechtsverstöße, wenn sie damit internationale oder innerstaatliche Strafgesetze verletzen würden. Sie wären vor dem IStGH anzuklagen, wenn ihre Staaten das Römische Statut ratifiziert haben. Soweit sie gegen Strafbestimmungen ihrer Heimat-Staaten verstießen, müssten sie sich vor der Justiz ihrer Länder verantworten. Vorliegend werden nur die internationalen und die deutschen Strafbestimmungen geprüft.

Strafbarkeit nach dem Internationalen Strafrecht

Der völkerrechtswidrige Nuklearwaffeneinsatz der NATO wäre ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Art. 7 und ein Kriegsverbrechen nach Art. 8 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs.10

Denn er wäre nach Art. 7 Abs. 1a als Verbrechen gegen die Menschlichkeit die vorsätzliche Tötung zahlreicher Menschen „als Teil eines großangelegten und systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung in Kenntnis des Angriffs.“

Ein großangelegter Angriff kann eine einzige Handlung sein, wenn dieser eine Vielzahl von Zivilpersonen zu Opfer fallen. Systematisch ist der Angriff, wenn er einem vorgegebenen Plan oder einer Politik folgt.11

Nach Art.7 Abs.2a bedeutet Angriff gegen die Zivilbevölkerung eine Verhaltensweise „in Ausführung oder zur Unterstützung der Politik eines Staates oder einer Organisation, die einen solchen Angriff zum Ziel hat.“ Dabei ist das Merkmal Politik im Sinne einer geplanten, geleiteten oder organisierten Tatbegehung zu verstehen.12 Alle Merkmale wären bei einem Atomwaffeneinsatz gegeben.

Täter sind nicht nur Angehörige des staatlichen oder organisatorischen Machtapparates sondern alle Personen, die in Ausführung oder zur Unterstützung der Politik des Staates oder der Organisation handeln.13

Der Einwand, dass das Ergebnis der Tötung von Zivilpersonen nicht beabsichtigt sei, ist unerheblich. Beim Vorsatz entscheidend ist, dass der Einsatz der Atomwaffe auch als Angriff auf die Zivilbevölkerung gewollt ist. Dabei umfasst die innere Tatseite nicht nur den Vorsatz sondern auch das Unrechtsbewusstsein, das im internationalen Strafrecht nicht gesondert zu prüfen ist.14 Für die Strafbarkeit reicht es nach Art. 30 Abs.2 b aus, dass der oder die Täter bei der Begehung der Tat davon ausgehen, dass die Folge bei gewöhnlichen Verlauf der Dinge eintreten wird („is aware that it will occur in the ordiniary course of events“).15 Dem Angreifenden eines Atomwaffeneinsatzes ist bewusst, dass der atomare Angriff auf etwaige Kombattanten nicht zu trennen ist von der Schädigung der in demselben Gebiet befindlichen Zivilpersonen und dass diese unter keinen vorstellbaren Umständen zu vermeiden ist.

Ein Atomwaffeneinsatz wäre zudem nach Art. 7 Abs. 2k als Teil eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung eine „unmenschliche Handlung ähnlicher Art, mit der vorsätzlich große Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit und der …Gesundheit verursacht“ wird. Unter diesen Auffangtatbestand werden insbesondere schwere Körperverletzungen eingeordnet. Zum Vorsatz gelten die o.a. Argumente.

Ein Atomwaffeneinsatz wäre ein schwerer Verstoß „gegen die innerhalb des feststehenden Rahmens des Völkerrechts im internationalen bewaffneten Konflikt anwendbaren Gesetze und Gebräuche“ und zwar

  • nach Art. 8 Abs. 2b i ein „vorsätzlicher Angriff auf die Zivilbevölkerung als solche und auf einzelne Zivilpersonen, die an den Feindseligkeiten nicht unmittelbar teilnehmen“,
  • nach Art. 8 Abs.2b ii ein „vorsätzlicher Angriff auf zivile Objekte“
  • nach Art. 8 Abs.2b iv das „vorsätzliche Einleiten eines Angriffs in Kenntnis, dass dieser auch Verluste an Menschenleben, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder weitreichende, langfristige und schwere Schäden an der natürlichen Umwelt verursachen werde, die eindeutig in keinem Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren Vorteil stehen“,
  • nach Art. 8 Abs.2b v ein „Angriff auf unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten und Gebäude, die keine militärischen Ziele sind“ und
  • nach Art. 8 Abs. 2b ix ein „vorsätzlicher Angriff auf Gebäude, die dem Gottesdienst, der Erziehung der Kunst, der Wissenschaft oder der Wohltätigkeit gewidmet sind, auf geschichtliche Denkmäler und Krankenhäuser“, die keine militärischen Ziele sind.

Ein Atomwaffeneinsatz wäre ein Angriff gegen Zivilisten. Zivilisten sind diejenigen Personen, die nicht Kombattanten sind. Der schwere Verstoß gegen die geltenden Gesetze und Gebräuche liegt in der oben genannten und vom IGH festgestellten Verletzung der gewohnheitsrechtlichen Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts.

In subjektiver Hinsicht ist abweichend von Art. 30 zielgerichtetes Handeln („intentionally“ und „intended“) erforderlich.16 Das bedeutet, dass der Täter sein tatbestandmäßiges Verhalten setzen will und auch die Folgen herbeiführen will. Da die Handlungsfolgen zwangsläufig mit dem Einsatz der Atomwaffe verbunden sind, wird dem Täter jedoch auch insoweit der Einwand verwehrt werden, er habe die katastrophalen Folgen gar nicht gewollt.

Ein Kriegsverbrechen nach Art. 8 Abs.2a (vorsätzliche Tötung, Zufügen schwerer Leiden und Gesundheitsschäden sowie Zerstörungen) läge nur vor, wenn die Getöteten, Verletzten oder Geschädigten zu den durch die vier Genfer Abkommen vom 12.8.49 geschützten Personen gehören.17

Durch die Genfer Abkommen geschützt sind Personen, die nicht an den Kampfhandlungen teilnehmen. Die Abkommen I bis III dienen dem Schutz von kranken, verwundeten… Soldaten und Kriegsgefangenen. Das Genfer Abkommen IV schützt Personen, die sich in der Gewalt einer gegnerischen Konfliktpartei befinden.18 Sonstige Zivilpersonen sind nicht geschützt.

Nach Art. 25 Abs.3 ist strafbar,

  • „wer das Verbrechen selbst, gemeinschaftlich oder durch einen anderen begeht, gleichviel ob der andere strafrechtlich verantwortlich ist“ (Ziff. a),
  • „wer das Verbrechen“, auch wenn es nur versucht wird, „anordnet, dazu auffordert oder dazu anstiftet“ (b)
  • „wer Hilfe bei seiner …versuchten Begehung leistet, einschließlich der Bereitstellung der Mittel für die Begehung“ (c)
  • „wer versucht, ein solches Verbrechen zu begehen, indem er mit einem wesentlichen Schritt zu seiner Ausführung ansetzt, es jedoch aufgrund von Umständen, die unabhängig von seiner Tatabsicht sind, nicht vollendet“ (d f).

Hinsichtlich des Vorsatzes der Täter oder Gehilfen bestehen keine Zweifel, weil diese nach Art. 30 mit Wollen und Wissen handeln. Sofern nicht abweichend geregelt, reicht für den Vorsatz hinsichtlich des Unrechtserfolgs nach Art. 30 Abs. 2a, dass den Tätern dessen Eintritt im Rahmen eines gewöhnlichen Kausalverlaufs bewusst ist.19 Strafausschließungsgründe20 nach Art. 31 liegen nicht vor. Ein Verbotsirrtum wäre vor allem angesichts des IGH-Gutachtens unbeachtlich.

Strafbarkeit nach deutschem Strafrecht

Der Einsatz der stationierten NATO-Atomwaffen wäre auch ein Verstoß gegen das deutsche Strafrecht.

Er wäre ein Kriegsverbrechen gemäß § 11 des Gesetzes zur Ausführung des Völkerstrafgesetzbuchs vom 26.6.200221. Denn er wäre im Konfliktfall ein militärischer Angriff

  • gegen die Zivilbevölkerung“ und einzelne nicht an den Feindseligkeiten unmittelbar teilnehmenden Zivilpersonen (Abs. 1, Ziff. 1),
  • „gegen zivile Objekte“, die durch das humanitäre Völkerrecht geschützt sind, wie z.B. Kirchen, Krankenhäuser, unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten, Gebäude und möglicherweise Anlagen und Einrichtungen, die gefährliche Kräfte (z.B. Atomkraftwerke) enthalten (Abs. 1, Ziff. 2),
  • in sicherer Erwartung der „Tötung oder Verletzung von Zivilpersonen oder der Beschädigung ziviler Objekte“, die außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen (Abs. 1, Ziff. 3) und
  • in der sicheren Erwartung, „dass der Angriff weit reichende, langfristige und schwere Schäden an der natürlichen Umwelt verursachen wird, die außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren Vorteil stehen“ (Abs. 3).

Der völkerrechtswidrige und deshalb nicht zu rechtfertigende Einsatz der NATO-Atomwaffen würde auch gegen einige Vorschriften des deutschen Strafgesetzbuchs verstoßen. Bestraft wird,

  • „wer heimtückisch, grausam und mit gemeingefährlichen Mitteln einen Menschen tötet“ (§211),
  • „wer mit gesundheitsschädlichen Stoffen, mittels einer Waffe, mittels eines hinterlistigen Überfalls, mit anderen Beteiligten gemeinschaftlich, mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt“ (§224), wobei die Tat zum Verbrechen wird, wenn der Tod oder schwere Verletzungsfolgen eintreten (§§226,227),
  • „wer eine nukleare Explosion verursacht oder einen anderen“…dazu „verleitet oder eine solche Handlung fördert.“ (§328 Abs.2),
  • „wer ohne die erforderliche Genehmigung grob pflichtwidrig …radioaktive Stoffe, die…geeignet sind, durch ionisierende Strahlen den Tod oder eine schwere Gesundheitsschädigung eines anderen herbeizuführen, aufbewahrt, befördert…oder sonst verwendet.“ (§ 328 Abs.1),
  • „wer es unternimmt, durch Freisetzen von Kernenergie eine Explosion herbeizuführen und dadurch Leib oder Leben …zu gefährden“ (§307 Abs. 1), wobei Unternehmen einer Tat deren Versuch oder Vollendung ist (§ 11 Abs.1, Ziff. 6),
  • „ wer durch Freisetzen von Kernenergie eine Explosion herbeiführt und dadurch Leib oder Leben …fahrlässig gefährdet (§ 307 Abs. 2),
  • „wer in der Absicht, die Gesundheit eines anderen Menschen zu schädigen, es unternimmt, ihn einer ionisierenden Strahlung auszusetzen, die dessen Gesundheit zu schädigen geeignet ist (§309 Abs. 1). Zum Verbrechen wird diese Straftat, wenn es der Täter unternimmt, „eine unübersehbare Zahl von Menschen einer solchen Strahlung aufzusetzen. (§ 309 Abs.2),
  • „wer zur Vorbereitung eines bestimmten Unternehmens des § 307 Abs. 1 oder des § 309 Abs. 2 …Kernbrennstoffe …oder die zur Ausführung der Tat erforderlichen Verrichtungen …sich verschafft“ (§ 310 Abs. 1).

Die schuldhafte Tatbegehung steht auch im deutschen Strafrecht nicht in Frage, weil mit Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung sowie mit Unrechtsbewusstsein gehandelt worden wäre. Ein etwaiger Verbotsirrtum wäre angesichts des IGH-Gutachtens vermeidbar gewesen.

Bereits Nuklearstrategie strafbar?

Es stellt sich die Frage, ob die von den Regierungen aller NATO-Mitgliedstaaten wiederholt bekräftigte (einsatzbereite) Stationierung der Atomwaffen der NATO bereits als Versuch dieser internationalen oder nationalen Verbrechen zu bewerten ist. Der Versuch der genannten Delikte ist (in beiden Rechtssystemen) strafbar nach Art. 25 Abs.3 df des Römischen Statuts und im deutschen Strafrecht nach § 23 StGB, der jeden Versuch eines Verbrechens bestraft. Strafbar ist auch die Teilnahme am bzw. Beihilfe zum Versuch.

Straflos wäre die Stationierung von Atomwaffen, wenn es sich nur um eine Vorbereitungshandlung der genannten Verbrechen handelt.

Art. 25 Abs. 3f des Römischen Statuts verbindet bei der Formulierung der Versuchsschwelle die französische Formel vom »Beginn der Tatausführung« mit dem amerikanischen Kriterium des »wesentlichen Schritts hin zur Tatausführung«.22 Strafbar ist eine Handlung, die einen wesentlichen Schritt der Ausführung des Verbrechens darstellt („commences its execution by means of a substantial step“). Ein wesentlicher Schritt liegt vor, wenn der vom Täter verfolgte Zweck verfestigt oder bestätigt wird. Die Grenze zwischen der straflosen Vorbereitungshandlung und dem Versuch wird jedenfalls dann überschritten, wenn der Täter mit der Tatausführung bereits begonnen hat und ein objektives Merkmal der Verbrechensdefinition schon verwirklicht ist.23

Nach § 22 des deutschen StGB versucht eine Straftat, „wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt.“ Ein Versuch ist gegeben, wenn Gefährdungshandlungen vorliegen, die nach der Vorstellung des oder der Täter in ungestörten Fortgang unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung führen. Es sind Handlungen, mit denen der oder die Täter subjektiv die Schwelle zum »jetzt geht es los« überschreiten und objektiv oder subjektiv das geschützte Rechtsgut in eine konkrete und nahe Gefahr bringen.24

Unzweifelhaft wäre in beiden Rechtssystemen die geäußerte Entscheidung zum Einsatzbefehl des oder der Verantwortlichen eine Versuchshandlung, auch wenn er noch gar nicht weitergegeben worden ist. Zu beantworten ist die Frage, ob die Stationierung einer Atomwaffe oder die Zustimmung dazu bereits Versuchshandlungen sind. Die Stationierung einer nicht-nuklearen Bombe oder Rakete würde vermutlich noch nicht als Versuch einer Tötung gewertet werden.

Angesichts des besonderen Bedrohungspotenzials von Atomwaffen stellt sich jedoch die Frage, ob nicht das Stationieren (sowie das Herstellen und Transportieren) dieser Waffen bereits eine versuchte Tötung, Körperverletzung oder Zerstörung von Wohnungen, Infrastruktur und Lebensgrundlagen der möglicherweise betroffenen Menschen darstellt. Denn bei einsatzbereiten, in die Zielplanung aufgenommenen Atomwaffen bedarf es zum völkerrechtswidrigen Einsatz (und damit zur vollständigen Erfüllung des Straftatbestandes) lediglich des Einsatzbefehls. Er würde militärisch befehlsgemäß ausgeführt, so dass der Schaden unmittelbar eintreten würde. Die von der Stationierung ausgehende Gefahren für eine Vielzahl von Menschen und Umwelt sprechen dafür, sie völkerrechtlich als wesentlichen Schritt hin zur Tatausführung und im deutschen Strafrecht als unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung anzusehen.25 Insbesondere die nicht auszuschließenden Möglichkeiten eines versehentlichen oder »unberechtigten« Einsatzbefehls sowie des technisches Versagen der Sicherungssysteme legen es nahe, den Beginn des Versuchs vorzuverlegen.26

Bei der Bewertung dürfen andererseits die umfangreichen Sicherungsmaßnahmen nicht vernachlässigt werden, die dem unmittelbaren Abschuss oder Abwurf vorgeschaltet sind, und bei denen der Befehl wiederholt auf seine Richtigkeit und Rechtmäßigkeit zu prüfen ist. Kein Soldat darf den Abschuss- oder Abwurfbefehl ausführen, wenn damit eine Straftat begangen würde. Bei der Gesetzesauslegung zu berücksichtigen ist auch, dass die Regierungen der Allianz wiederholt betonen, dass es sich bei den Atomwaffen um »politische Waffen« handelt27, was zu Zweifeln am Willen sie einzusetzen führen könnte.

Die gestellte Frage kann hier materiell-rechtlich nicht beantwortet werden. Die Strafverfolgungsorgane des IStGH und der nationalen Justiz sind jedoch gehalten sie sorgfältig zu prüfen und zu beantworten. Es ist nicht erkennbar, dass das bereits geschehen ist.

Zusammenfassend ist zur individuellen Verantwortlichkeit der Regierenden und ihrer Hilfspersonen festzuhalten, dass zwar der Einsatz der von der NATO in Europa stationierten Atomwaffen ein vom IStGH und von den nationalen Strafverfolgungsbehörden zu verfolgendes Verbrechen wäre, für das alle Verantwortlichen und alle am Einsatz Beteiligten zur Rechenschaft zu ziehen wären. Ob die Stationierung der NATO-Atombomben und -raketen im Zusammenhang mit der von der NATO bekundeten Nuklearwaffenstrategie ein versuchtes Verbrechen ist, lässt sich nicht abschließend beantworten. Einiges spricht dafür.

Jeder Vertragsstaat (Art.14) und der UN-Sicherheitsrat (Art. 13b) haben das Recht, dem Ankläger des IStGH eine Situation anzuzeigen, wenn sie annehmen, dass in dieser Situation Verbrechen nach dem Statut begangen worden sind. Außerdem kann der Ankläger des IStGH aus eigener Initiative Ermittlungen einleiten (Art. 15).28

In Deutschland sind Staatsanwälte verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen (§ 152 Abs.2 StPO). Ein Anfangsverdacht dürfte aufgrund der konkreten Tatsachen der Zustimmung zur NATO-Nuklearstrategie, der Zustimmung zur Stationierung von Atomwaffen und der sog. nuklearen Teilhabe nicht zweifelhaft sein.

Die politische Umsetzung des IGH-Gutachtens vom 8.7.1996 ist bislang von den Regierungen der NATO-Staaten rechtsmissachtend unterlassen worden. Die Bundesregierung ist verfassungsrechtlich zu völkerrechtsgemäßen Verhalten verpflichtet. Von ihr muss erwartet werden, dass sie nicht weiterhin die Augen verschließt vor dem in der Zustimmung zur NATO-Nuklearstrategie liegenden Völkerrechtsbruch. Sie ist verpflichtet, die Zustimmung zur NATO-Nuklearstrategie zurückzunehmen, die »nukleare Teilhabe« einzustellen und die USA aufzufordern, die restlichen in Deutschland stationierten Atomwaffen abzutransportieren.

Anmerkungen

1) Karel Koster: Ein gefährlicher Widerspruch, in W&F 2-2002, S. 47.

2) www.nato.int/docu/pr/2003/p03-064e.htm

3) www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,290458,00.html

4) Rechtsgrundlage ist Völkergewohnheitsrecht, so dass die Frage unerheblich ist, ob die Vorbehalte einiger NATO-Mitgliedsstaaten zum 1. Zusatzprotokoll rechtswirksam sind.

5) IALANA: Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof, Münster 1997, S. 67.

6) wie 5)

7) IALANA a.a.O. S. 68.

8) Bundestagsdrucksache 7/994, S.17.

9) dazu ausführlich Dieter Deiseroth: Nukleare Teilhabe Deutschlands?, veröffentlicht von IALANA

10) Gerhard Werle, Völkerstrafrecht, 2003, Randnummer (RdNr.) 1099.

11) Werle a.a.O. RdNr. 637, 638.

12) Werle, a.a.O. RdNr. 642.

13) Werle, a.a.O. RdNr. 650.

14) Werle, a.a.O. RdNr. 249.

15) Werle, a.a.O. RdNr.275, a. A. Ambosi in: Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrecht, 2002, 770, der verlangt, dass der Täter auch hinsichtlich der Folge absichtlich und wissentlich handeln muss.

16) Werle a.a.O. RdNr. 1003,1006,1014.

17) Werle, a.a.O. RdNr. 858.

18) Werle a.a.O. RdNr. 851 und 856.

19) Kreß a.a.O. RdNr. 52.

20) Der Begriff umfasst Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- und Strafausschließungsgründe – vgl Kreß, a.a.O. RdNr. 53.

21) BGBl. I, S. 2254 ff.

22) Klaus Kreß in Grützner/Pötz: Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2003, RdNr. 65.

23) Werle a.a.O. RdNr. 431.

24) BGBSt 28, 162/164; Tröndle/Fischer StGB 49. A. § 22 RdNr. 9.

25) Kreß a.a.O. RdNr. 65, folgert aus Art. 25 Abs. 3f des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, dass der tatbestandsnahe Versuchsbereich unter Gefährdungsgesichtspunkten zu bestimmen ist.

26) Deutsche Gerichte haben bereits das Anlegen eines Gewehres (mit ungespannten Hahn) und das Herausziehen eines Revolvers als Versuch gewertet – Tröndle/Fischer a.a.O. RdNr. 13 m.w.N.

27) z.B. die deutsche Bundesregierung 1993 – Bundestagsdrucksache 12/4766

28) Zu den Voraussetzungen Kreß a.a.O. RdNr. 20

Bernd Hahnfeld, Richter i.R., vertritt die Deutsche Sektion der Juristinnen und Juristen gegen atomare, biologische und chemische Waffen (IALANA) im Vorstand von W&F

Ein gefährlicher Widerspruch

Ein gefährlicher Widerspruch

Die Nukleardoktrin der NATO und der Nichtverbreitungsvertrag

von Karel Koster

In der Verteidigungsdoktrin der NATO gibt es eine merkwürdige Doppelbödigkeit. 16 der 19 NATO-Mitglieder sind nach der Definition des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) »Nicht-Atomwaffenstaaten«. Gleichzeitig gehören sie aber einem Bündnis an, für das nukleare Abschreckung ein elementarer Bestandteil seiner Militärdoktrin ist. Die Kritik an den Atomwaffentests von Indien und Pakistan; die aktive Unterstützung des mit Massenvernichtungswaffen begründeten Irakkriegs durch europäische NATO-Staaten; die diplomatische Offensive gegen Libyen, Iran und Nordkorea – all diese politischen Manöver lassen den Widerspruch deutlich werden, dass sich die NATO einerseits auf nukleare Abschreckung verlässt und andererseits nukleare Abschreckung durch andere Staaten verurteilt. Dieser Widerspruch behindert schon seit langem die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft um nennenswerte Fortschritte bei der Abrüstung von Atomwaffen.

Beim NATO-Gipfel in Washington D.C. 1999 wurde das neue Strategische Konzept verabschiedet, das in Artikel 62 und 63 die „wesentliche Rolle“ der „nuklearen Streitkräfte der Bündnispartner“ betont.1 Gleichzeitig wurde bei diesem Gipfeltreffen ein Kommuniqué verabschiedet, das den Weg zur Überprüfung der Nuklearpolitik der NATO öffnete. Absatz 32 hält fest: „Alle Bündnispartner sind Vertragsstaaten der zentralen Verträge für Abrüstung und die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen, des Übereinkommens über das Verbot biologischer und Toxinwaffen sowie des Übereinkommens über das Verbot chemischer Waffen und treten für die vollständige Umsetzung dieser Verträge ein.“2 Auch ein Jahr später wurde im so genanntenen »Absatz 32-Bericht« der Widerspruch nicht aufgelöst. Abschnitt 4.2.1, Absatz 72 lautet: „Um den Frieden zu schützen und Krieg oder sonstige Zwangausübung zu verhindern, hält das Bündnis auf absehbare Zeit eine angemessene Mischung von nuklearen und konventionellen Streitkräften in Europa vor und wird diese nötigenfalls modernisieren, allerdings auf möglichst niedrigem Niveau.“

Und Absatz 103: „Als Mitgliedsländer des Nichtverbreitungsvertrags sind alle Bündnispartner auf den Nichtverbreitungsvertrag verpflichtet und werden die Prinzipien und Ziele des NVV als Eckstein des nuklearen Nichtverbreitungsregims und als Grundpfeiler für nukleare Abrüstung auch weiterhin strikt einhalten.“3

Die Widersprüche in der Nuklearstrategie der Allianz sind also unübersehbar. Ende 1998 sprachen sich der deutsche und der kanadische Außenminister zum ersten Mal offiziell gegen die gültigen politischen Leitlinien aus. Fischer forderte, in das neue Strategische Konzept der NATO solle ein Verzicht auf den Ersteinsatz aufgenommen werden, während Axworthy zu „neuen Initiativen“ und „neuem Denken“ aufrief, um die „offensichtliche Spannung zwischen dem, was die NATO-Bündnispartner über Proliferation sagen, und dem, was wir für Abrüstung tun“ aufzuheben.4 Obwohl sich keiner der beiden Minister durchsetzen konnte, wird in dem obigen Zitat aus dem Abschlusskommuniqué doch zumindest etwas Zweifel und Nachdenklichkeit über die Nukleardoktrin der NATO erkennbar.

Nukleare Infrastruktur der NATO und nukleare Teilhabe

Die NATO postuliert nicht nur eine Nuklearstrategie, sondern sie verfügt auch über sämtliche Mittel zu deren Umsetzung. Dazu gehören die mit ballistischen Raketen ausgerüsteten Atom-U-Boote von Großbritannien und Frankreich genauso, wie die vier Trident-U-Boote der US Navy, die unter dem Befehl des NATO Supreme Allied Commander Europe (SACEUR, Oberbefehlshaber der NATO in Europa) stehen. Noch wesentlicher ist, dass sechs Bündnisstaaten Flugzeuge bereit halten, die für den Einsatz von freifallenden Atombomben ausgerüstet sind. Dabei ist der Status dieser Bomben und Trägersysteme von besonderer politischer Bedeutung. Während die U-Boot-gestützten ballistischen Raketen (SLBM) unter der nationalen Kontrolle des jeweiligen Atomwaffenstaates stehen, haben die freifallenden Bomben in der Verfügungsgewalt der NATO-Planer ihren eigenen Status. 180 US-Atombomben werden auf bis zu 15 Luftwaffenstützpunkten in Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden, der Türkei, Griechenland und Großbritannien vorgehalten.5 Zu ihrem Einsatz sind aber nicht nur Flugzeuge des US-Militärs vorgesehen sondern auch solche der Luftwaffen der sechs betroffenen Nicht-Atomwaffenstaaten. Wenn die NATO den Bündnisfall ausruft und in einen Krieg eintritt, würden diese Atombomben von NATO-Piloten ins Ziel geflogen und zwar gemäß den Plänen und Einsatztaktiken, die vom NATO-Stab ausgearbeitet wurden.

Angesichts dieser direkten Einbindung von Bündnispartnern, die selbst nicht Atomwaffenstaaten sind, stellen sich zwei Schlüsselfragen:

  • Unter welchen Bedingungen würde die NATO Atomwaffen einsetzen?
  • Lässt sich ein solcher Einsatz mit den Verpflichtungen aus dem NVV und anderen Völkerrechtsverträgen vereinbaren, die von den Mitgliedstaaten der NATO unterzeichnet wurden?

Ersteinsatzdoktrin der NATO

Gut informierten Quellen zufolge ist die Option, Atomwaffen auch gegen Staaten mit biologischem oder chemischem Waffenarsenal einzusetzen, selbst wenn diese dem NVV beigetreten sind, auch in einer überarbeiteten Fassung eines geheimen NATO-Dokuments enthalten (MC 400/2), das die Militärdoktrin des Bündnisses beschreibt und somit das Strategische Konzept in operative Begriffe übersetzt. Dieses Dokument wurde vom Nordatlantikrat am 16. Mai 2000 einstimmig verabschiedet, nachdem das Militärkomitee dem Papier am 7. Februar des Jahres zugestimmt hatte.6 Konkret heißt das, dass der Nordatlantikrat in voller Übereinstimmung mit der NATO-Doktrin befugt ist, seinen Mitgliedstaaten den Einsatz von Atomwaffen gegen solche Staaten zu empfehlen, die nicht-nukleare Massenvernichtungswaffen einsetzen, mit dem Einsatz drohen oder solche Waffen besitzen. Diese Politik stimmt überein mit der, die 1996 vom US-Generalstab verabschiedet wurde und Atomschläge auch gegen Staaten oder sogar nur »Akteure« zulässt, die Massenvernichtungswaffen gegen US-Ziele einsetzen oder den Einsatz vorbereiten.7

Verpflichtungen aus dem NVV

Nach Artikel I und II des Nichtverbreitungsvertrags dürfen Atomwaffen von den Unterzeichnerstaaten nicht an andere weitergegeben oder angenommen werden.8 Würden also im Rahmen der nuklearen Teilhabe im Kriegsfall tatsächlich Atomwaffen an einen »teilhabenden« Staat weitergegeben, dann wäre dies illegal. Vertreter der entsprechenden Staaten widersprechen dieser Interpretation.

Zum einen, so wird angeführt, wurde bei den Vertragsverhandlungen 1968 eine Ausnahme für Artikel I und II definiert, die auf der Annahme basierte, dass die Verbotsregelungen des Vertrags nur für normale Friedenszeiten konzipiert wurden und nicht für die Bedingungen eines allgemeinen Krieges gelten. Diese Linie verfolgte z.B. der belgische Außenminister Louis Michel. Auf eine parlamentarische Anfrage zur Legalität eines NATO-Angriffs auf Staaten, die über Massenvernichtungswaffen verfügen, antwortete er, dass der NVV „in Kriegszeiten nicht gilt. Gemäß der Wiener Konvention [über das Recht der völkerrechtlichen Verträge von 1969] sind rüstungsbezogene Verträge oder Verträge mit entsprechenden Auswirkungen während eines Krieges ausgesetzt.“9

Sein niederländischer Kollege Jozias van Aartsen, gab dafür keine Rückendeckung. Er antwortete auf die selbe Frage: „Ich stimme dieser Aussage nicht zu. Über diese Frage gab es auf Beamtenebene einen Meinungsaustausch mit Belgien. Die (niederländische) Regierung vertritt die Haltung, dass sich nicht einmal zu Kriegszeiten die Frage einer Verletzung des Nichtverbreitungsvertrags stellt.“10 Niederländische Diplomaten bestanden auch bei der NVV-Überprüfungskonferenz im Jahr 2000 darauf, dass einerseits der NVV in Kriegszeiten seine Gültigkeit behalte und andererseits Artikel I und II von der NATO auch während eines Konflikts nicht verletzt würden, da die Übergabe der Kontrolle von Atomwaffen an einen »teilhabenden« Staat gar nicht das Thema sei. Der Pilot, das Flugzeug und die Kernsprengvorrichtung wäre jederzeit unter dem Befehl von SACEUR, und die Position sei schließlich immer mit einem Amerikaner besetzt. Damit sei sichergestellt, dass es nicht zu einer Weitergabe an einen anderen Staat komme: Weder die NATO noch der Pilot des NATO-Bündnispartners hätten die Befehlsgewalt über die Bombe.

Negative Sicherheitsgarantien

Diese etwas verquere Logik wird auch auf die »negativen Sicherheitsgarantien« gegenüber den NVV-Mitgliedstaaten übertragen. Als der Nichtverbreitungsvertrag bei der Überprüfungskonferenz 1995 unbegrenzt verlängert wurde, verlangten die Mitgliedstaaten für ihren dauerhaften Verzicht auf Atomwaffen von den Atomwaffenstaaten Garantien, dass sie nie mit Atomwaffen angegriffen würden. In Resolution 984 (1995) des UN-Sicherheitsrates wurden solche Garantien abgegeben. Offizielle Dokumente der russischen und US-amerikanischen Regierungen stellen diese Selbstverpflichtung aber in Frage. Am 10. Januar 2000 bestätigte die Russische Föderation offiziell die »Ersteinsatz«-Option, die das Land 1993 zum ersten Mal in die Doktrin eingeführt hatte.11 In den USA stellte der US-Generalstab 1996 fest, dass „offensive Operationen gegen feindliche Massenvernichtungswaffen und Trägersysteme durchgeführt werden sollten, sobald Feindseligkeiten unvermeidbar werden oder beginnen.“12

Die Überprüfung der US-Nukleardoktrin (Nuclear Posture Review), die Ende 2001 dem Kongress vorgelegt wurde, bestätigt genau so wie die Nationale Strategie zur Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen vom Dezember 2002 diese offensive Doktrin der USA.13

Natürlich sind die Nukleardoktrinen der NATO und der USA nicht identisch. Historisch gesehen wurde die Nukleardoktrin der USA in der Regel später von der NATO übernommen. Schließlich handelt es sich bei der »nuklearen Teilhabe« um amerikanische Atomwaffen. Der Nuclear Posture Review verweist in einem Absatz sogar ausdrücklich auf die Nukleardoktrin der NATO.14 Und im Juni 2002 einigten sich die NATO-Verteidigungsminister bei einem Treffen der Nuklearen Planungsgruppe auf eine „Weisung zur weiteren Anpassung des NATO-Dispositivs an Flugzeugen mit dualer Einsatzfähigkeit.“15

Außerdem hat sich die NATO selbst nicht offiziell auf die negativen Sicherheitsgarantien gemäß UN-Resolution 984 verpflichtet. Dazu der er niederländische Außenminister Jozias van Aartsen: „Zwischen der relevanten NATO-Politik und den negativen Sicherheitsgarantieren der Atomwaffenstaaten gibt es fraglos einen Widerspruch. Das liegt daran, dass die Entscheidung über einen Einsatz von Atomwaffen in der Verantwortung der Atomwaffenstaaten liegt und nicht bei der NATO. Die Atomwaffenstaaten sind auf die negativen Sicherheitsgarantieren verpflichtet, die sie selbst abgegeben haben.“16

Kritik an der Nuklearpolitik

Diese ausweichende und besserwisserische Argumentation blieb bei den Mitgliedstaaten des NVV nicht unbemerkt. Die 113 blockfreien, im Non-Aligned Movement (NAM) zusammengeschlossenen Staaten riefen bei der NVV-Vorbereitungskonferenz 1998 die Atomwaffenstaaten dazu auf, „von der nuklearen Teilhabe durch Atomwaffenstaaten, Nicht-Atomwaffenstaaten und Nicht-NVV-Mitgliedstaaten zu militärischen Zwecken abzusehen, und zwar unabhängig von der Art der Sicherheitsvereinbarungen.“17 Bei der NVV-Vorbereitungskonferenz 1999 griff Ägypten ausdrücklich die nukleare »Teilhabe« der NATO an: „Weder Artikel I noch Artikel II lassen irgendwelche Ausnahmen zu. Ungeachtet der klaren und eindeutigen Formulierung der Artikel I und II des NVV werfen die Vereinbarungen über die sogenannte »nukleare Teilhabe« der NATO und die entsprechenden Konzepte zur nuklearen Abschreckung … erhebliche Zweifel an der Vertragstreue einiger NATO-Mitglieder bezüglich dieser beiden Artikel auf.“18

Weit verbreitet ist die Sorge, dass auf Grund der NATO-Erweiterung auch die Zahl der Staaten steigt, die in die Nuklearstruktur des Bündnisses eingebunden sind. Südafrika beispielsweise vertrat bei der NVV-Vorbereitungskonferenz 1997 den folgenden Standpunkt: „Die geplante Erweiterung der NATO würde mit sich bringen, dass mehr Nicht-Atomwaffenstaaten am Training für einen Atomwaffeneinsatz teilnehmen … (und) dass ihre Verteidigungspolitik ein Element von nuklearer Abschreckung aufweist.“19 Auch wenn auf dem Territorium von Polen, Ungarn oder der Tschechischen Republik keine Atomwaffen stationiert sind, sind diese wie alle NATO-Staaten mit Ausnahme Frankreichs in die Planung für einen Atomwaffeneinsatz im Kriegsfall eingebunden. Die NATO hat auch nie unverbrüchliche Garantien abgegeben, dass auf den Territorien der neuen Mitgliedstaaten keine Atomwaffen stationiert würden sondern lediglich erklärt, dass eine solche Stationierung nicht geplant sei.

Diese Tendenz wird durch die jährlich neu in die UN-Generalversammlung eingebrachte Resolution »Schritte zur atomwaffenfreien Welt: eine neue Agenda« der New Agenda Coalition (NAC) bestätigt. Die NAC-Resolution mahnt jeweils eindeutige Schritte zur nuklearen Abrüstung an und betont, dass „jeder Artikel des NVV jederzeit und unter allen Umständen für die entsprechenden Vertragsparteien bindend ist.“ Bei der Generalversammlung 1999 beispielsweise stimmten die US, Großbritannien, Frankreich, Polen und Ungarn gegen die Resolution, während sich die übrigen NATO-Länder enthielten.20

Im Herbst 2000 enthielt die NAC-Resolution etwas schwächere Formulierungen aus dem Abschlussdokument der NVV-Überprüfungskonferenz vom Frühjahr des Jahres und fand die Zustimmung aller NATO-Länder außer Frankreich, das sich der Stimme enthielt. Seither konnten sich bis auf Kanada die meisten NATO-Mitglieder wieder nur zur Enthaltung durchringen, und die USA, Frankreich und Großbritannien stimmten mit nein. Das nukleare Abschreckungspotential dieser Länder sowie die Nukleardoktrin der NATO verhindern eine Unterstützung der NAC.

Gibt es eine Option auf Änderungen der NATO-Politik?

Somit stellt sich die Frage, ob die vorsichtige Kritik, die einzelne NATO-Staaten in der Vergangenheit bei mehreren Gelegenheit äußerten, in einen substanzielleren Prozess umgesetzt werden kann. Leider deuten inoffizielle Äußerungen niederländischer Diplomaten und Politiker in den letzten Jahren darauf hin, dass sich der Prozess vermutlich auf Transparenz und vertrauensbildende Maßnahmen beschränken wird. Das wäre an sich schon eine positive Entwicklung, angesichts des grundlegenden Widerspruchs zwischen der Nuklearpolitik der NATO und den Verpflichtungen aus dem NVV greift eine solch eng gefasste Reformagenda aber eindeutig zu kurz. In jüngster Zeit hat sich von den NATO-Staaten lediglich noch Kanada mit kritischen Kommentaren vorgewagt. Deutschland stellte bei der NVV-Vorbereitungskonferenz 2002 in New York ein eigenes Positionspapier vor. Ein Positionspaper von Belgien, Norwegen und den Niederlanden folgte bei der Vorbereitungskonferenz 2003 in Genf.21

Wenn man diese Papiere für bare Münze nimmt, dann gibt es im Bündnis eine gewisse Bereitschaft, ernsthafte Schritte in die Richtung zu gehen, die im Abschlussdokument der NVV-Überprüfungskonferenz 2000 vorgegeben sind. Dieses Dokument beinhaltet das „rückhaltlose Versprechen der Atomwaffenstaaten zur vollständigen Abrüstung ihrer Atomwaffenarsenale im Rahmen der nuklearen Abrüstung, zu der sich alle Vertragsstaaten gemäß Artikel VI verpflichtet haben“. So eindeutig war das zuvor noch niemals ausgedrückt worden. Überdies wurde das Versprechen durch klar definierte politische Zwischenschritte konkretisiert, so z.B. der Verpflichtung, „bezüglich der nuklearen Abrüstung sowie der nuklearen und anderen damit zusammenhängenden Rüstungskontroll- und Abrüstungsmaßnahmen“ das „Prinzip der Irreversibilität“ anzuwenden. Außerdem definiert das Abschlussdokument „Schritte aller Kernwaffenstaaten zur nuklearen Abrüstung, und zwar so, dass die internationale Stabilität gefördert wird und dass sie auf dem Prinzip der ungeschmälerten Sicherheit für alle basiert:

Weitere Bemühungen der Kernwaffenstaaten, ihre Kernwaffenarsenale einseitig zu verringern.

  • Gesteigerte Transparenz seitens der Kernwaffenstaaten hinsichtlich der Kernwaffenfähigkeiten und der Umsetzung von Vereinbarungen gemäß Artikel VI sowie als freiwillige vertrauensbildende Maßnahme zur Unterstützung weiterer Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung.
  • Die auf einseitige Initiativen gegründete weitere Reduzierung nicht-strategischer Kernwaffen als wesentlicher Bestandteil der nuklearen Abrüstung und des [allgemeinen] Abrüstungsprozesses.
  • Konkret vereinbarte Maßnahmen, um die Einsatzbereitschaft der Kernwaffensysteme weiter zu verringern.
  • Eine verminderte Rolle von Kernwaffen in der Sicherheitspolitik, um die Gefahr zu verringern, dass diese Waffen jemals eingesetzt werden, und um den Prozess ihrer völligen Abschaffung zu erleichtern.
  • Die möglichst rasche Beteiligung aller Kernwaffenstaaten an dem Prozess, der zur völligen Abschaffung ihrer Kernwaffen führt.“22

Bezogen auf die begrenzte Überprüfung, die in der NATO offensichtlich momentan durchgeführt wird, würde das Prinzip der Irreversibilität verhindern, dass Hunderte taktischer Atomwaffen der USA, die in den vergangenen zehn Jahren aus Europa abgezogen wurden, für die NATO wieder in Dienst gestellt würden.

Dennoch gibt es berechtigte Zweifel am Willen der NATO-Regierungen, die freifallenden US-Atombomben aus Europa abzuziehen. Die Ambiguität der NATO-Doktrin hat sich bis hin zur Tagung des Nordatlantikrates im Dezember 2003 fortgesetzt. Das entsprechende Kommuniqué konstatiert:

„9. Die in Europa stationierten und der NATO zur Verfügung stehenden Nuklearkräfte bilden weiterhin ein essentielles politisches und militärisches Bindeglied zwischen den europäischen und nordamerikanischen Mitgliedern der Allianz. …

10. … Wir bekräftigten unser uneingeschränktes Eintreten für den NVV und die Zielsetzung seiner weltweiten Achtung. Wir anerkannten den NVV als den Eckpfeiler des globalen nuklearen Nichtverbreitungsregimes und bekräftigten, dass alle Verpflichtungen aus diesem Vertragswerk für uns weiterhin Geltung haben. …“23

Mehr noch: Die Unterstützung für die im Jahr 2000 bei der Überprüfungskonferenz vereinbarten und oben auszugsweise zitierten »Schritte für systematische und progressive Bemühungen« zur Abrüstung schwindet innerhalb der NATO stetig, mehr oder weniger im Gleichschritt mit dem Gewicht, das die republikanische US-Regierung auf das Verbot der Verbreitung von Atomwaffen in weitere Länder legt.

Trotzdem ist es möglich, dass Verschiebungen in der Politik der NATO-Mitgliedstaaten dazu führen, dass es mittelfristig zu einem Abzug der substrategischen Atomwaffen der USA von den Territorien der europäischen NATO-Staaten kommt.

Dann steht die »Atomwaffen abschaffen«-Bewegung aber vor einer neuen Herausforderung: den Nuklearstreitkräften Großbritanniens und Frankreichs. Französische Minister haben bereits offen angedeutet, dass das Nukleardispositiv der beiden Länder in ein europäisches nukleares Abschreckungspotential eingebracht werden könnte.24 Die Übergabe der Verfügungsgewalt über das bislang unter nationalem Befehl stehende Nukleardispositiv an eine neue Einheit, nämlich an ein supranationales europäisches Entscheidungsgremium, wäre dann eine neue Verletzung des Nichtverbreitungsvertrags. In diesem Fall würde der Abzug der für die NATO vorgesehenen substrategischen Atomwaffen der USA leider nicht das Ende des atombewaffneten Europa markieren, sondern nur einen neuen Anfang.

Schlussbemerkung

Da es gegen Atomwaffen keine Massenproteste gibt, kann offensichtlich nur Druck innerhalb der NATO die drei Atomwaffenstaaten des Bündnisses davon überzeugen, dass internationale Rüstungskontrolle nicht nur eine brauchbare Option ist, sondern letztlich sicherer und rationaler als etwaige Versuche, dem Rest der Welt unilaterale Grundsätze gegen die Verbreitung von Atomwaffen aufzuzwingen. In diesem Sinne wäre es hilfreich, wenn die NATO-Staaten, die bereits in anderem Kontext mehr Flexibilität bewiesen haben – Belgien, Deutschland, die Niederlande und Norwegen – dem Beispiel Kanadas folgen und sich laut und deutlich für eine Reform der Atomwaffenpolitik aussprechen würden. Eine starke Stimme für Reformen bietet die Chance, dass tatsächlich ernsthafte Schritte gegen ein neues nukleares Wettrüsten unternommen werden.

Anmerkungen

1) NATO Press Release NAC-S(99)65: Das Strategische Konzept des Bündnisses. 24.04.99. www.nato.int/docu/pr/1999/p99-065d.htm.

2) NATO Press Release NAC-S(99)64: Eine Allianz für das 21. Jahrhundert. Kommuniqué der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer der Nordatlantischen Allianz auf ihrem Gipfeltreffen am 24.04.99. www.nato.int/docu/pr/1999/p99-064d.htm.

3) NATO Press Release M-NAC-2(2000)121: Report on Options for Confidence and Security Building Measures (CSBMs), Verification, Non-Proliferation, Arms Control and Disarmament. Dez. 2000; www.nato.int/docu/pr/2000/p00-121e/home.htm.

4) Der Spiegel, 21.11.98, Interview mit J. Fischer. Das Zitat von Lloyd Axworthy stammt aus seiner Rede beim NATO-Rat am 8.12.98; www.nato.int/docu/speech/1998/s981208i.htm.

5) M. Butcher, O. Nassauer, T. Padberg und D. Plesch: Questions of Command and Control – NATO, Nuclear Sharing and the NPT. PENN (Project on European Nuclear Non-Proliferation), Research Report 2000-1; www.bits.de/public/researchreport/rr00-1-1.htm.

6) Antwort von Außenminister Jozias van Aartsen auf eine Anfrage im niederländischen Parlament am 17.07.00.

7) US Joint Chiefs of Staff: Doctrine for Joint Theater Nuclear Operations. Joint Pub 3-12.1, Washington, 09.02.96; www.dtic.mil/doctrine/jel/new_pubs/jp3_12_1.pdf.

8) Artikel I des Nichtverbreitungsvertrags lautet: „Jeder Kernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben und einen Nichtkernwaffenstaat weder zu unterstützen noch zu ermutigen noch zu veranlassen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper herzustellen oder sonstwie zu erwerben oder die Verfügungsgewalt darüber zu erlangen.“

9) Antwort von Louis Michel auf eine mündliche Anfrage im belg. Parlament am 11.05.2000.

10) Jozias van Aartsen, schriftl. Antwort auf eine Anfrage vom 14.06.2000. Die Verwirrung über die Verpflichtungen aus dem NVV in Friedens- und in Kriegszeiten hat ihren Ursprung vielleicht in der Frage, wie »Krieg« definiert ist. PENN Research Report 2000-1, op.cit., S. 25.

11) (Russian) National Security Concept, approved by Presidential Decree 1300 of December 17, 1999; issued in Presidential Decree 24 of January 10, 2000. Abgedruckt in: Disarmament Diplomacy, No. 43, Jan.-Feb. 2000; www.acronym.org.uk/dd/dd43/43nsc.htm.

12) US Joint Chiefs of Staff, op.cit.

13) US-Verteidigungsministerium: Nuclear Posture Review Report, dem US-Kongress übermittelt am 31.12.01; www.globalsecurity.org/wmd/library/policy/dod/npr.htm. White House: National Strategy to Combat Weapons of Mass Destruction. Dez. 2002; www.whitehouse.gov/news/releases/2002/12/WMDStrategy.pdf.

14) Nuclear Posture Review, op.cit, S. 44: „Flugzeuge mit dualer Einsatzfähigkeit und Atomwaffen zur Unterstützung der NATO. Das [US]-Verteidigungsministerium strebt im Finanzjahr 2002 keine Änderung des aktuellen Dispositivs an, wird aber beide Themenbereiche einer Überprüfung unterziehen um festzustellen, ob zur Anpassung an die sich verändernde Gefahrenlage eine Änderung des aktuellen Dispositivs erforderlich ist. Eine NATO-Überprüfung der in Europa verfügbaren dual einsetzbaren Flugzeuge der USA und des Bündnisses ist bereits geplant, und die Empfehlungen sollen den Ministern im Sommer 2002 vorgelegt werden. Dual einsetzbare Flugzeuge und dislozierte Waffen sind wichtig, um die nukleare Abschreckungsstrategie der NATO auch weiterhin zu gewährleisten, und etwaige Änderungen sind im Bündnis zu diskutieren.“

15) NATO Press Release (2002)071: Gem. Kommuniqué des Verteidigungsplanungsausschusses (DPC) und der Nuklearen Planungsgruppe (NPG). Treffen des Nordatlantikrats auf Ebene der Verteidigungsminister, Brüssel, 06.06.02; www.nato.int/docu/pr/2002/p02-071d.htm.

16) Antwort von Jozias van Aartsen auf eine schriftliche Parlamentanfrage vom 14.06.2000.

17) Working Paper des Non-Aligned Movement zur NVV-Vorbereitungskonferenz, Genf, 28.04.98.

18) Stellungn. von Botschafter Mounir Zahran, NVV-Vorbereitungskonferenz, NY, 12.05.99.

19) Stellungnahme von Botschafter K. J. Jele, NVV-Vorbereitungskonferenz, NY, 08.04.97.

20) Die Resolution wurde im Ersten Kommitee mit 90 Ja, 13 Nein, 37 Enthaltungen angenommen (L.18), und in der UN-Generalversammlung mit 111 Ja, 13 Nein und 39 Enthaltungen (54/55G). Siehe Disarmament Diplomacy No. 41, November 1999.

21) Die Dokumente der NVV-Konferenzen der letzten Jahren sind über: www.basicint.org bzw. www.reachingcriticalwill.org zugänglich.

22) Final Document, 2000 Review Conference of the Parties to the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, NPT/CONF.2000/28 (Vol. I, Part I and II), 22.05.2000.

23) NATO Press Release (2003) 147: Kommuniqué des Verteidigungsplanungsausschusses und der Nuklearen Planungsgruppe – Treffen des Nordatlantikrats auf Ebene der Verteidigungsminister, 01.12.03; www.nato.int/docu/pr/2003/p03-147d.htm.

24) France Floats Idea of Single European Nuclear Force, Reuters, 12.07.2000.

Karel Koster ist im Rahmen des Project »European Nuclear Non-Proliferation« (PENN) Projektleiter der Working Group Eurobomb, Nederlande.
Übersetzung, einschließlich der Zitate aus nicht-deutschsprachigen Quellen, von Regina Hagen

JP-8 – Der Treibstoff, der krank macht

JP-8 – Der Treibstoff, der krank macht

von Marion Hahn

In ihrem Buch „Umweltkrank durch NATO-Treibstoff?“ hat die Autorin auf die Verbindungslinien zwischen der weitverbreiteten Krankheit Multiple Chemikalien-Sensitivität (MCS) und dem Golfkriegs-Syndrom (GKS) hingewiesen. Für sie handelt es sich um ein und dieselbe Krankheit, die ursächlich zusammenhängt mit einer Vergiftung durch den NATO-Treibstoff JP-8, der über Atmung, die Haut und/oder durch Nahrung aufgenommen wurde. In einem Artikel für Wissenschaft und Frieden (1-2002, S. 65ff) berichtete sie über ihre umfassenden Recherchen, die zu diesem Ergebnis führten. Seitdem hat sie zahlreiche Reaktionen erhalten, die zum Teil ihre These stärken, zum Teil aber auch anzweifeln. Auffallend gering ist demgegenüber das Echo aus der Politik. Bei JP-8 handelt es sich um den NATO-Treibstoff, und wenn an der These von Frau Hahn nun etwas dran ist und von diesem Treibstoff Gefahren für Soldaten und Zivilisten ausgehen, ist die faktische Nichtbehandlung dieses Themas durch die offiziellen Stellen ein Skandal.

Nach einer Besprechung meines Buches „Umweltkrank durch NATO-Treibstoff?“1 im Rundfunk meldete sich im September 2001 telefonisch ein Arzt aus dem US-Militärhospital Landstuhl bei der zuständigen Redakteurin. Er erkundigte sich eingehend nach dem Wissensstand zu JP-8 und bedauerte, dass er nicht selber aktiv werden kann, da er der militärischen Schweigepflicht unterliegt. Er beendete das Gespräch mit den Worten: „Nicht nur ich, sondern etliche meiner Medizinerkollegen warten seit nunmehr über 10 Jahren sehnlichst darauf, dass diese Bombe endlich hochgeht.“ Dass Landstuhler Militärärzte im Jahr 2001 von „10 Jahren“ sprechen, dürfte kein Zufall sein, denn das war ungefähr die Zeit, als JP-8 mit dem 1. Golfkrieg beim US-Militär umfassend eingeführt wurde.

Vereinzelt war JP-8 schon in den 80er Jahren im Einsatz: Es wurde an einigen Orten erprobt und war zum Beispiel der Treibstoff, mit dem die »A 10 Thunderbolt« der US-Airforce betankt war, die am 8.12.1988 in die Innenstadt von Remscheid stürzte.2 In der Nähe der Absturzstelle gibt es seitdem einige schwer MCS-Kranke, zu denen ich regelmäßigen Kontakt habe. Über sie erfuhr ich auch, dass Augenzeugen der Katastrophe aufgefallen war, dass das Flugzeug nicht direkt nach dem Aufprall explodierte. Das ist vor dem Hintergrund der nachfolgenden Informationen nachvollziehbar.

JP-8 weist einige Besonderheiten auf, die ihn von anderen Treibstoffen deutlich unterscheiden:

  • JP-8 ist für alle militärischen Motoren geeignet, d.h. vom Feldkocher über Panzer bis hin zum Kampf- und Transportflugzeug. Sinn der Sache ist, dass das Militär, wenn es fernab jeglicher westlicher Infrastruktur als Eingreiftruppe landet, all seine Gerätschaften problemlos aus einem einzigen Tank versorgen kann.
  • JP-8 ist jederzeit unter allen klimatischen Bedingungen einsatzbereit. Theoretisch kann das Militär seinen Einsatz in einem tropischen Land unterbrechen, um umgehend in der Arktis einzugreifen. Mit JP-8 gibt es weder Probleme im extremen oberen noch im extremen unteren Temperaturbereich.
  • JP-8 wurde auch aus Sicherheitsgründen entwickelt und ist explosionsgehemmt: Es hat einen höheren Flammpunkt, ist weniger leicht brennbar und erhöht somit die Sicherheit für Piloten und Soldaten.3

In meinem Buch stellte ich die Theorie auf, dass es sich bei den typischen MCS- und GKS-Symptomen immer vor allem um eine klassische 1,2-Dibromethan-Vergiftungssymptomatik handelt. Bürgerinitiativen an Militärstandorten griffen diese Fragestellungen auf, und brachten Anfragen an Bundestag und Landtage auf den Weg.4 Die Antworten waren ernüchternd: JP-8 sei bis auf 0,02% Vol. identisch mit dem Treibstoff Jet A 1, wie ihn z.B. die Lufthansa benutzt, hieß es zum Beispiel. Da stellt sich allerdings die Frage, warum zivile Luftfahrtgesellschaften, wie Lufthansa und KLM, aufgrund der bestehenden Unterschiede kein Interesse an JP-8 haben.

Auch wird immer wieder betont, dass es barer Unsinn sei, in einem Treibstoff, mit dem auch Flugzeuge mit Düsenantrieb geflogen werden, Blei zu vermuten und den Einsatz von halogenierten Kohlenwasserstoffen wie 1,2-Dibromethan (EDB) zu unterstellen. Einige Fachleute behaupteten, dass der Militärtreibstoff auf gar keinen Fall verbleit sei und die Additivierung mit halogenierten Kohlenwasserstoffen allein deshalb auch keinen Sinn mache.

Inzwischen gibt es aber eine Reihe weiterer Fakten, die belegen, dass sowohl Blei als auch halogenierte Flammschutzmittel – wie 1,2-Dibromethan – im Spiel sind und das sogar in hohem Maße.

Im medizinischen Gutachten, das der Genehmigung des Ausbaus der US-Airbase Spangdahlem zugrunde liegt, findet sich die bemerkenswerte Information, dass es bei der Verlegung von 11 Großraumflugzeugen von der US-Airbase Frankfurt zur US-Airbase Spangdahlem zu einer Zunahme der Bleiemissionen um 72,8 % käme.5 Als die lokale Presse nachhakte, wurde seitens des US-Militärs behauptet, ein falscher Treibstoff läge den Berechnungen der Gutachter zugrunde. Wie das, wenn es doch nur einen einzigen Treibstoff – nämlich JP-8 – gibt? Angeblich wurde die Studie bleifrei neu gerechnet, doch ist die korrigierte Version des Gutachtens bisher – selbst nach mehrmaliger Anforderung durch die Einwender gegen die Flugplatzerweiterung – von keinem gesehen worden und nach letzten Informationen existiert sie auch gar nicht.

Den Verdacht, JP-8 könne verbleit sein, erhärten auch die Bleiwerte, die vor einigen Jahren im Umfeld der Einflugschneise des NATO-Flugplatzes Geilenkirchen (bekannt als AWACS-Standort) gemessen wurden.6 Der Mittelwert von Blei (Schwebstaub in der Luft) ist 32,54 ng/m. Der zweite für Blei angegebene Mittelwert lautet 765,9 mg/kg. Auf meine wiederholte Frage, wie dieser Wert zustande kam und welche Art von Materialien untersucht wurden, teilte mir der Leiter der Studie am Telefon mit, dass der ng/m Wert in mg/kg umgerechnet worden sei. Es sei aber auch möglich, dass Analysen von Bodenmaterial, Wasser und Schlamm vorgenommen wurden. Es läge so lange (ca. 3-4 Jahre) zurück, er könne sich nicht erinnern, sein Kollege werde zurückrufen. Auf diesen Anruf warte ich trotz zweifacher Zusage immer noch. Anlass für die Studie war übrigens die Häufung von Leukämiefällen bei Kindern und JP-8 gilt als Leukämie-Verursacher. Am Messpunkt Schneise (laut Bürgerinitiative Einflugschneise) wurde ein maximaler Wert von 1767 mg/kg gemessen. Das ist ein Vielfaches der durchschnittlichen Bleibelastung in Böden. In Schleswig-Holstein liegt z. B. Bleibelastung bei 30-40 mg/kg. Für einen Fachmann, den ich gelegentlich zu Rat ziehe, sind die Bleiwerte von Geilenkirchen ein »alter Hut«. Nach seinen Aussagen kommen sie einwandfrei vom militärischen Treibstoff, denn alle Schwerstlastmotoren, inkl. Transport- und Tankflugzeuge mit Turboprop-Antrieb, benutzten verbleiten Treibstoff.

Das deckt sich mit den Informationen von Militärpiloten auf der »Internationalen Luftfahrtausstellung« ILA 2002 in Berlin. Hier meine laienhafte Wiedergabe: Um die Leistung der Flugzeuge zu verbessern, würde das Gemisch aus Treibstoff und Luft verdichtet, so dass ein höherer Druck entstünde. Der habe vor ca. 10-12 Jahren ca. 11bar betragen, heute läge er bei 25bar. Da es bei 20bar im Motor zu brennen anfange, müsse man verbleien. Alle Flugzeuge, die Schwerstlasten transportieren und alle Tankflugzeuge seien verbleit.

Allein im Zusammenhang mit der Verbleiung von einem Treibstoff ist eine Additivierung von 1,2-Dibrom- und/oder 1,2-Dichlorethan zwingend notwendig. Beide Stoffe sind aber sowohl in Deutschland als auch in den USA verboten.

Aber mit der Additivierung von halogenierten Kohlenwasserstoffen hat man noch ein militärisches Problem gelöst. Nach einem Bericht der Frankfurter Rundschau hat ein schwedisches Forschungsinstitut herausgefunden, dass es während des Golfkrieges 1991 gängige Praxis war, pro Tankfüllung 25 kg Halone zuzusetzen, um die Explosionsgefahr herabzusetzen für den Fall, dass das Flugzeug von feindlichem Feuer getroffen würde. Insgesamt rechnet man damit, dass während dieses Krieges mindestens 3.000 Tonnen Halone eingesetzt wurden. Soweit den schwedischen Forschern bekannt ist, ist diese Anwendung von Halogen auch heute Standard.7

Im Römpp, dem über alle Zweifel erhabenen Chemie-Fachlexikon, steht, dass der Begriff Halon sich zusammensetzt aus dem englischen Begriff »halogenated hydrocarbon« und die Kurzform ist für Halogenkohlen(wasser)stoffe, die als Feuerlöschmittel Verwendung finden.8 Sicherheitshalber und um als chemischer Laie nicht sofort von der Fachwelt verrissen zu werden, fragte ich beim Umweltbundesamt, im Fachbereich Toxikologie einer deutschen Universität und in einem renommierten chemischen Analyseinstitut nach: 1,2-Dibromethan ist auf jeden Fall und ohne Zweifel ein Halon.

1,2- Dibromethan war unserem zivilen verbleiten Treibstoff mit 0,01 % beigemischt und galt in dieser geringen Konzentration schon als höchst problematisch. Darum wurde es verboten. Rechnet man die Menge von 25 kg Halon auf die Tankfüllung von Kampfflugzeugen um, die eine Tankkapazität von ca. 400 bis 1200 kg haben, so kommt man auf eine Additivierung in Höhe von ca. 2-5 Prozent. Als ich vor einigen Jahren beiläufig erfuhr, dass dem Treibstoff JP-8 halogenierte Kohlenwasserstoffe in Höhe von 5 % zugesetzt wären, kommentierte das ein bekannter Toxikologe mit den Worten: „Dann gnade uns Gott, dann haben wir aber ein Riesenproblem!“ Es ist schon unglaublich: Wir Zivilisten kaufen uns FCKW-freie Kühlschränke, haben unsere Halon haltigen Feuerlöscher fachgerecht entsorgen lassen und das Militär kippt diese Stoffe eimerweise in die Atmosphäre!

Die Beurteilung, JP-8 sei nahezu identisch mit Jet A 1, kann man einigen unter den Fachleuten vielleicht nicht einmal zum Vorwurf machen. Bisher wurden die JP-8-Proben, die analysiert wurden, immer aus dem Tanklager oder aus der frisch betankten Maschine gezogen. Mir liegen aber Informationen vor, nachdenen in US-Flugzeugen – je nach Bedarf – die Additivierung erst nach dem Tankvorgang stattfindet. Die Frage muss also neu gestellt werden: Nicht „was ist im JP-8 drin“, sondern „was wird wo, wann und wie additiviert“ !

Auch wenn die Kriegsgebiete weit von den MCS-Kranken in Deutschland entfernt liegen, zahlreiche Kampfflugzeuge sind hier gestartet und gelandet, z.B. in Spangdahlem. Also müssen dort auch Aditive gelagert und an Bord gekommen sein. Ein weiterer uns Zivilisten betreffender Aspekt ist die Betankung von Militärflugzeugen in der Luft, die über unseren Köpfen regelmäßig trainiert wird. Schließlich hat die US-Airforce in der Anfangsphase der Luftbetankung viele Flugzeuge und Soldaten durch Explosionen während des Tankvorgangs verloren.

Auch Praktiken auf Panzerübungsplätzen betreffen uns Zivilisten, zumindest wenn man am Rande einer solchen Einrichtung lebt. Von einem US-Veteranen weiß ich, dass er nach einer der schwersten Panzerschlachten des 1. Golfkrieges an GKS erkrankte.9 In seinem Buch führt er aus, dass der Geruch der Schlacht nicht – wie von ihm erwartet – Pulver war, sondern Diesel (also JP-8, der alleinige Treibstoff). Die US-Army hat ihre Panzer im Kampf vernebelt, damit sollte der Panzer für den Feind schwerer erkennbar werden. Diese Art der Vernebelung wird auch auf den Panzerübungsplätzen bei uns trainiert. Dass Panzer im Kampf und während der Übungen durch einen explosionsgehemmten Treibstoff besser geschützt sind, liegt auf der Hand.

Und nach noch etwas muss im JP-8 gesucht werden: Nach dem Medium, das dafür sorgt, dass nach dem Betankungsvorgang die Additive sofort und vollständig im JP-8 verteilt werden. Vieles spricht dafür, dass es sich dabei um ein Fluortensid namens PFOS (Perfluoroktansulfonsäure) handelt. Ein Chemiker machte mich darauf aufmerksam, dass 1,2-Dibromethan allein nicht ausreiche, um MCS zu verursachen, dazu bräuchte es noch eine stabile Traägersubstanz, wie z.B. hochproblematische, biologisch nicht abbaubare Fluortenside.10 In der Zeitschrift für Umweltmedizin entdeckte ich dann eine kleine Meldung über PFOS, das aus scheinbar unerfindlichen Gründen überall gefunden wird und von den USA inzwischen im Zivilbereich still und leise aus dem Verkehr gezogen wurde.11 Da sich PFOS hauptsächlich in Blut und Leber anreichert, ließ ich mein Blut auf PFOS untersuchen. Gleichzeitig wurde auch nach einem zweiten Fluortensid namens PFOA (Perfluoroktansäure) gesehen. Ich hatte beides im Blut und wandte mich zwecks weiterer Informationen an Fachleute in der deutschen Fluorchemie. Mein Gesprächspartner fragte entsetzt, wo ich denn um Gottes Willen gearbeitet hätte und wie PFOS in mein Blut gelangen konnte.

PFOS ist äußerst reaktiv und wird ideal über das Wasser verteilt. So könnte erklärt werden, warum auch in Gebieten, die nicht unmittelbar neben Militäreinrichtungen oder an NATO-Pipelines liegen, MCS auftritt.

Aus meinem MCS-Bekanntenkreis haben sich 15 Betroffene auf PFOA und PFOS untersuchen lassen. Alle MCS-Kranken waren positiv. Allerdings hatten wir auch eine Ausnahme: Ein Gesunder hatte ebenfalls PFOA und PFOS im Blut. Der Umweltmediziner Rainer Pliess aus dem unterfränkischen Sulzheim hat ca. 40 seiner Patienten auf PFOA und PFOS untersuchen lassen. Bei etwa der Häfte der Patienten wurde nichts im Blut gefunden, es waren alles Patienten, die aufgrund relativ einfacher Allergien in seine Praxis gekommen waren, die z.B. auf Erdbeeren oder Tomaten reagierten. Die andere Hälfte der Patienten, in deren Blut PFOA und PFOS gefunden wurde, waren alles schwerkranke MCS-Fälle mit der bekannten dubiosen Mehrfachsymptomatik. Derselbe Arzt hat im Laufe der letzten Jahre knapp 3.000 seiner umweltkranken Patienten auf Blei untersuchen lassen. Alle waren hoch belastet.

Wie früher mit JP-8 und 1,2-Dibromethan schritt ich auch bei PFOA und PFOS zum Selbstversuch. Ich organisierte mir eine kleine Menge der Substanzen, um mir daraus homöopathische Medikamente herstellen zu lassen. Beide Substanzen waren getrennt in Glasröhrchen und noch einmal in Plastikröhrchen verpackt. Ich wollte sehen, wie die Substanzen aussahen und öffnete nur die Plastikröhrchen. Mit dem PFOA hatt ich keine Probleme. Das PFOS indes haute mich buchstäblich um: Bei 36 °C im vergangenen August bekam ich sofort Schüttelfrost, der ca. 5 Stunden intensiv anhielt, ich wurde kreidebleich und meine Pupillen weiteten sich so, dass keine Iris mehr zu sehen war. Diese Symptome waren mir vertraut, ich fühlte mich, als hätte man mich zurück in das fränkische Dorf katapultiert, indem ich MCS-krank geworden bin.

Wer mit MCS/GKS zu tun hat, sollte meines Erachtens auf Belastungen durch Blei (Bleitetraethyl, das giftig ist wie ein Nervenkampfstoff) und Brom (1,2-Dibromethan) sowie PFOA und vor allem PFOS untersucht werden. Offenbar sind es die Tenside, die Haut und Schleimhaut durchdringen und verletzten und die als Verstärker und Transporteure für Fremdchemikalien im Blut ihre fatale Rolle spielen.

Wenn man MCS/GKS so behandeln will, dass – wie in meinem Fall – ein fast ganz normales Alltagsleben wieder möglich ist, muss man die Krankheit verstanden haben. Dazu sind m.E. die obigen Informationen unerlässlich.

Und wenn man verhindern will, dass sich MCS noch weiter ausbreitet, muss man sich mit meinen Fragestellungen auseinandersetzen, schließlich ist es erklärtes Ziel des US-Militärs, den Treibstoff JP-8 bis zum Jahre 2010 weltweit kommerziell verfügbar zu machen: „Most of all, the single fuel must be commercially available world wide. This is of vital importance to a force projection army.“12

Fazit: Die dargestellten neuen Informationen bestätigen meine Hypothese, dass Stoffe wie Blei und 1,2-Dibromethan für die Krankheiten MCS und GKS verantwortlich sind und dass ihnen gefährliche Fluortenside wie PFOS als Hilfsmittel dienen. Zu den in meinem Buch bereits dargestellten Zusammenhängen sind in einem solchen Maße neue Informationen hinzugekommen, dass die Lücke des Zweifels, dass Blei und Stoffe wie 1,2-Dibromethan im NATO-Treibstoff JP-8 enthalten sind, geschlossen werden kann.

Anmerkungen

1) Hahn, Marion: Umweltkrank durch NATO-Treibstoff? Multiple Chemikalien-Sensitivität (MCS) und Militär-Emissionen, Heidelberg, PVH 2001.

2) Bundesminister der Verteidigung, Staatssekretär: An Ministerium für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen, Staatssekretärin Christiane Friedrich sowie an den Oberbürgermeister der Stadt Remscheid und die Fraktionen von B9O/Die Grünen, CDU, FDP und SPD in den Gremien der Stadt Remscheid, 1402872-V07 vom 20.2.02, S. 3.

3) Air Force Times 18.1.1999.

4) Ulrike Höfken (MdB, B 90/Die Grünen): Pressemitteilung vom 18.11.2002, Überprüfung der gesundheitlichen Risiken durch Flugzeug Treibstoff JP-8 dringend erforderlich. Die Antworten auf die von Frau Höfken gestellten Fragen wurden von der WV IV vertraulich gegeben; Klaus Rüter (Chef der Staatskanzlei, Landesregierung Rheinland-Pfalz): Seine Antworten zu Fragen von Monika Fink (MdL) im Gemeindeblatt der Gemeinde Speicher/Herforst, Ausgabe 3/2003, S. 5; Kreisverwaltung Landkreis Ostprignitz-Ruppin, Umweltamt – Untere Wasserbehörde: Flugbenzin JP-8, AZ eng-06015, Schreiben 6720/eng-3325 vom 8.11.02 an Normen Kruschat (Bürgerinitiative FREIe HEIDe gegen die Einrichtung von Europas größtem Bombenabwurf-Übungsgelände bei Wittstock).

5) Scheuch, K. und G. Jansen: Medizinisches Gutachten über die Auswirkungen des Flug- und Bodenlärms sowie der Schadstoffimmissionen im Rahmen des Genehmigungsverfahrens für den militärischen Flugplatz Spangdahlem im Zusammenhang mit der Verlegung von Streitkräften an diesen Flugplatz. Auftraggeber: Landesbetrieb Liegenschafts- und Baubetreuung, Staatsbauamt/LBB-Niederlassung Trier, 6.9.2001, Zusammenfassung S. 7.

6) Goldschmidt E. et al: Untersuchungsprogramm Interreg I, Messung luftgetragener Schadstoffe im Bereich Schinveld, Teveren, Geilenkirchen. Chemisches und Lebensmitteluntersuchungsamt der Stadt Aachen, ohne Datum, S. 84 ff, Anhang S. A 9 ff.

7) Raffalski, Uwe: Cold Lab AB, Kiruna (Schweden): Dunkelheit in der Mitte des Tages. Brennende Ölquellen, verschmutztes Trinkwasser und giftiger Militärschrott. Uwe Raffalski über die zu erwartenden Umweltschäden im Irak-Krieg. Frankfurter Rundschau Nr. 72, 26.3.03, S. 7.

8) Halone in CD Römpp Chemie-Lexikon, Version 1.0, Stuttgart/New York: Thieme Verlag 1995.

9) Kuhn, Steven E. und Frank Nordhausen: Soldat im Golfkrieg. Vom Kämpfer zum Zweifler. Berlin: Ch. Links Verlag 2003, S. 75.

10) Stürmer, Hans-Dieter: Ölbekämpfung mit Tensiden in Gewässern. 2003, www.LTWS.de (UBA)

11) Zeitschrift für Umweltmedizin: Warnung vor neuer Stoffgruppe, Hamburg, 10. Jg., Heft 2/2002, S. 62.

12) Brown, Scott A. et al: A Single Fuel for the Battlefield, http://www.auartermaster.army.mil/oqmg…1_1977/Autumn/singlefuel.html

Marion Hahn hat Ethnologie, Psychologie und Philosophie studiert. Sie ist 1989/90 im fränkischen Westheim an MCS (Multiple Chemikalien-Sensitivität) erkrankt und forscht seitdem nach den Ursachen dieser Krankheit.

NATO-Dämmerung

NATO-Dämmerung

Das transatlantische Bündnis vor dem Aus?

von Jürgen Rose

Jüngst lamentierte Josef Joffe, Mitherausgeber der renommierten Wochenzeitung DIE ZEIT, angesichts des Zustandes fortschreitender Zerrüttung, den eines der dauerhaftesten und erfolgreichsten Militärbündnisse der Geschichte augenblicklich aufweist, über das sich abzeichnende „Ende einer wunderbaren Freundschaft.“ Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie , dass dem in den USA gedrillten Anhänger der sogenannten »Realistischen Schule« der Internationalen Politik, der sich gewöhnlich als eloquenter Fürsprecher US-amerikanischer Hegemonialinteressen – gewissermaßen als Quisling im journalistischem Gewande – geriert, das berühmte Diktum seines Ziehvaters Henry Kissinger entfallen scheint, der in der ihm eigentümlichen Prägnanz einst formuliert hatte, Staaten hätten keine Freunde, sondern Interessen. Wie immer man auch über den Zeitgenossen Kissinger urteilen mag, sein Axiom jedenfalls markiert den Dreh- und Angelpunkt jener Krise, in der die NATO sich derzeit befindet. Denn seit die sedative Wirkung des Ost-West-Konfliktes weggefallen ist, prallen die divergierenden Interessen der Amerikaner und Europäer immer härter und immer unverhohlener aufeinander.

Worin aber bestehen die Interessengegensätze, wie sie beispielsweise im Verlaufe der »Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik« Anfang Februar dieses Jahres zutage traten? Im Kern geht es um nichts geringeres als die Frage, ob das »Alte Europa«, wie US-Kriegsminister Donald Rumsfeld höhnt, angesichts der hegemonialen Attitüden, ja der imperialen Arroganz der militärischen »Hypermacht« USA unter einer globalen »Pax Americana« zu leben gewillt ist – ähnlich wie es die alten Griechen im Imperium Romanum ertragen mussten.

Für Frankreich mit seiner Tradition der »Grande Nation« war das seit jeher ein unerträglicher Gedanke, der mit dafür ausschlaggebend war, dass Staatspräsident General de Gaulle im Jahre 1966 den kühnen Entschluss fasste, sein Land aus der militärischen Integration des Bündnisses herauszulösen, um solchermaßen wenigstens ein Mindestmaß an Souveränität gegenüber dem amerikanischen Hegemon zu wahren, während sich der Rest (West-)Europas in mehr oder weniger ausgeprägter Gefolgschaft für weitere Jahrzehnte dem amerikanischen Vormachtsanspruch ergab. Mit beißendem Spott titulierte Zbigniew Brzezinski, ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter, deshalb die NATO-Verbündeten als „Vasallen und Tributpflichtige im amerikanischen Protektorat West- und Mitteleuropa.“

Ungeachtet solcher Impertinenz übte das Atlantische Bündnis nach dem Kolossalverbrechen des 11.9. uneingeschränkte Solidarität mit der angegriffenen NATO-Führungsmacht, indem es am 4. Oktober 2001 zum ersten Mal in seiner Geschichte den Bündnisfall nach Artikel V des NATO-Vertrages verkündete. Zugleich schien es hiermit zunächst seine Unentbehrlichkeit eindrucksvoll demonstriert zu haben. Doch weit gefehlt: Nachdem im Bündnis die politische Legitimationsgrundlage für den Anti-Terror-Krieg der USA formuliert worden war, erschöpfte sich dessen praktische Unterstützung für die amerikanischen Kriegführung gegen Afghanistan in der Entsendung einer Handvoll AWACS-Flugzeuge zur Luftraumüberwachung in die USA. Diese sogenannte »Operation Eagle Assist« diente der vorübergehenden Entlastung von US-Kräften und endete bereits nach wenigen Monaten am 16. Mai 2002.

Nicht die NATO also führte den Krieg gegen den Terror, sondern die USA bestimmten autonom Kriegsziele und Kriegführung. Allenfalls ließen sie sich durch den ein oder anderen NATO-Verbündeten unterstützen, der sich in einer Koalition unter strikt amerikanischer Führung einfand, die, wie der amerikanische Kriegsminister Donald Rumsfeld unmissverständlich formulierte, durch die Mission bestimmt wurde und nicht umgekehrt. Wobei die Definition dessen, was die Mission ausmachte, selbstredend der autonomen Entscheidung der amerikanischen Hegemonialmacht oblag. Statt Einfluss und Mitsprache hatten die europäischen Ver bündeten für ihre Bekundung »uneingeschränkter Solidarität« gerade mal ein höfliches Dankeschön erhalten. Schon im Verlauf der letztjährigen »Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik« wurde dann offenbar, dass die NATO aus amerikanischer Sicht ihre Schuldigkeit während des Kalten Krieges und der anschließenden turbulenten Post Cold War Period getan hatte und sich in ihrer traditionellen Funktion als kollektives Verteidigungsbündnis mehr und mehr als überflüssig erwies. Demzufolge sieht sich die NATO, stets als unverzichtbares Fundament der transatlantischen Beziehungen begriffen, mittlerweile einem geradezu dramatischen Wandel und zugleich Bedeutungsverlust ausgesetzt.

Denn die USA stehen im Begriff, ihre globale Dominanz auf Dauer festzuschreiben. Dazu gehört die Option, überall und jederzeit intervenieren zu können und dies allein, unbehindert von kleinmütigen Alliierten, langatmigen Konsultationen und komplizierten Konsensprozeduren. Aus Sicht der USA schwächt das Atlantische Bündnis nämlich eher die eigene Handlungsfreiheit – A und O der geostrategischen Konzeption des gegenwärtigen außenpolitischen Establishments der Vereinigten Staaten. Als präferabel erscheint danach allenfalls eine NATO, die sich auf eine strategische Arbeitsteilung verpflichten ließe, gemäß der die USA Ort und Zeitpunkt einer Militäraktion bestimmen, eine »Coalition of the Willings« zusammen schirren und den Krieg führen, wobei die Bündnispartner nur jene Beiträge leisten, die sich die USA von Fall zu Fall erbitten. Im übrigen soll Europa hinterher die Aufräum- und Wiederaufbauarbeit leisten – und letzteres zusammen mit den Kriegskosten gefälligst auch noch finanzieren. Immer mehr verfestigt sich dadurch eine transatlantische Arbeitsteilung im Bündnis, bei der Amerika in aller Welt gegen seine Feinde loszieht und die Europäer zum Aufräumen, Patrouillieren und Wacheschieben nachholt.

Mit einem derartigen Kalkül korrespondiert die veränderte Haltung, welche die USA zu der während des Prager Gipfeltreffens im November letzten Jahres beschlossenen zweiten Erweiterungsrunde der NATO einnahmen. Während nämlich noch im Verlauf der ersten Osterweiterung unter US-Präsident Clintons Ägide die Zahl der Neumitglieder gering gehalten worden war, da die USA sich um die militärische Effektivität des Bündnisses gesorgt hatten, verfolgte die gegenwärtige amerikanische Administration diesbezüglich eine konträre Politik. Ihrer Auffassung nach kommt nämlich der militärischen Effektivität eines traditionellen kollektiven Verteidigungsbündnisses in Anbetracht der neuartigen Risikoszenarien eher nachrangige Bedeutung zu. Viel interessanter ist daher inzwischen für die USA die Nutzung der NATO als politischer Institution, in die in jeweils aktuell zu formierenden Ad-hoc-Koalitionen unter amerikanischer Führung möglichst viele potentielle Gehilfen – bis hin zum Antagonisten während des Kalten Krieges, Russland – im Kampf gegen den Terror oder gegen die jeweils aktuellen »Schurkenstaaten« eingebunden werden können. Darüber hinaus bietet eine derartige Organisation vielfältige, flexibel gestaltbare Kooperationsmöglichkeiten, die vom geheimdienstlichen Informationsaustausch über die Unterbindung illegaler Finanztransaktionen bis hin zur logistischen Unterstützung und ähnlichem mehr reichen. Von nicht zu unterschätzender Attraktivität ist für die atlantische Führungsmacht zudem die Option, die von Fall zu Fall recht disparaten Interessenlagen der europäischen Verbündeten nach dem Motto »divide et impera« rücksichtslos zur Durchsetzung eigener Interessen gegeneinander auszuspielen.

Die jüngste Bündniskrise, als die Bush-Administration ihre NATO-Alliierten über den Hebel angeblicher Bündnisverpflichtungen gegenüber der Türkei dazu nötigte, sich an der Vorbereitung eines offenkundig völkerrechtswidrigen Präventivkriegs gegen den Irak zum Zwecke eines gewaltsamen Regimewechsels zu beteiligen, demonstrierte diese Handlungsstrategie der USA recht eindrücklich. Im Kontext der von US-Präsident Bush verkündeten Nationalen Sicherheitsstrategie präemptiver Kriegführung, die wenig bis keine Akzeptanz in der übrigen Staatengemeinschaft findet, und in Anbetracht des hartnäckigen Widerstandes sowohl der Mehrheit der Mitglieder im UN-Sicherheitsrat als auch der allermeisten Regierungen weltweit und darüber hinaus auch der großen Mehrheit der Weltbevölkerung gegen diesen Krieg der USA veranlasste die amerikanische Dreistigkeit, den Bündnisfall für den Fall eines von ihnen selbst provozierten Gegenangriffs zu reklamieren – was einen unübersehbaren Missbrauch der raison d`être der NATO als eines kollektiven Verteidigungsbündnisses für die strategische Abschirmung eines Angriffskrieges impliziert – Frankreich, Deutschland und Belgien, offen die Machtfrage im Bündnis aufzuwerfen. Nicht zuletzt ging es bei dieser Auseinandersetzung aber auch um Fragen von prinzipieller Bedeutung, nämlich: ob zum einen innerhalb des Bündnisses selbst zukünftig das Recht des Stärkeren oder die Stärke des Rechts gelten solle. Und darüber hinaus zum anderen: in den Dienst welches der beiden vorgenannten Prinzipien sich die NATO fortan stellen solle. Das vorliegende Ergebnis der Konfrontation bietet zum Optimismus keinen Anlass: Mit mehrheitlicher Zustimmung ist es der amerikanischen Hegemonialmacht gelungen, die NATO zu ihrer operativen Handlungsreserve und deren Mitglieder zu kontributionspflichtigen Vasallen zu degradieren.

Unausweichlich resultiert aus dieser Hybris imperialer Machtentfaltung der USA für Europa die Erkenntnis, dass es nur dann eine Zukunft hat, wenn es sich auf sich selbst besinnt. Ein symbolkräftiger erster Schritt in diese Zukunft könnte darin bestehen, dass Deutschland im Zeichen der neuen deutsch-französisch-russischen Entente dem Vorbild Frankreichs aus dem Jahre 1966 folgt und sich aus der militärischen Integration der NATO zurückzieht. Nach jahrzehntelanger uneingeschränkter »Luftherrschaft« der »Atlantiker« auf dem Feld der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ist die Zeit reif für eine »gaullistische« Wende der Berliner Republik!

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönliche Auffassung

Aufbruch in die NATOisierung Europas

Aufbruch in die NATOisierung Europas

von Otfried Nassauer

Orte können Symbole sein. Ein NATO-Gipfel in Prag, in einem neuen NATO-Staat, sollte die erneute Erweiterung der Allianz einleiten. Doch ein Jahr nach den Terroranschlägen in den USA stand nicht die Ausdehnung der NATO, sondern deren Umgestaltung und Neuausrichtung im Zentrum der Ereignisse. Der Gipfel könnte das transatlantische Bündnis so tiefgreifend verändern haben wie kaum ein anderer zuvor. Eine Analyse der Risiken und Nebenwirkungen.
Die NATO steckt in einer substantiellen Krise. Pierre Lelouche, ein profilierter französischer Sicherheitspolitiker, spricht von einer der tiefgreifendsten seit ihrer Gründung. Lord Robertson, der Generalsekretär der NATO, wähnte das Bündnis schon vor Monaten vor der Wahl zwischen »Modernisierung« und »Marginalisierung«.

Die NATO in der Krise

Robertson sieht die Ursache der Krise vor allem in der wachsenden Ausrüstungs-, Bewaffnungs- und Technologielücke zwischen den USA und den europäischen NATO-Staaten. Er fürchtet, dass die Streitkräfte der Bündnispartner bald kaum noch gemeinsam operieren können. Dadurch verlöre das Bündnis aus amerikanischer Sicht an Bedeutung. Das sehen diesseits wie jenseits des Atlantiks manche anders. Für sie hat die Krise grundsätzlichen Charakter. Je nach Standpunkt und Herkunft hat die Krise ihren Ursprung entweder im mangelnden europäischen Willen zu harter militärischer Machtpolitik oder in der amerikanischen Neigung zu einem machtpolitischen Handeln, dass sich primär militärischer Mittel bedient.

Die meisten Europäer in der NATO fürchten, dass eine weltweit nach US-Vorbild und Führung agierende NATO sie vor zahlreiche neue Probleme stellen wird: Streitkräfteeinsätze ohne Mandat der Vereinten Nationen, präventive und präemptive militärische Schläge, die von Angriffskriegen nicht oder kaum zu unterscheiden sind, oder gar die Mitverantwortung für den Einsatz von Nuklearwaffen. Mithin vor Situationen, in denen die NATO ihren eigenen Wertekodex verletzt – zu diesem gehört schließlich die Anerkennung der Gültigkeit des internationalen Rechts.

Zusammengefasst sind die Gipfel-Beschlüsse von Prag ein Erfolg für George W. Bush, der wie so oft nach der Maxime auftrat: »Wenn Du das Maximale herausholen willst, dann musst Du mehr fordern«. Die Initiativen zu den wesentlichen Beschlüssen kamen aus den USA; die europäischen NATO-Staaten boten kaum ernsthafte Alternativen an. Sie versuchten lediglich, das aus ihrer Sicht Schlimmste zu verhindern. Die NATO wird damit wieder ein ganzes Stück amerikanischer, und ganz nebenbei musste die gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik einige schwere Torpedotreffer hinnehmen.

Neue globale Aufgaben

Nur einen Tag nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 rief die NATO den Bündnisfall aus. Doch anschließend forderte Washington nur marginale militärische Beiträge von Brüssel und vermied es, die Allianz in strategische Entscheidungen über militärische Reaktionen einzubeziehen. Lord Robertson sieht darin einen Relevanzverlust. Um dem entgegenzusteuern müsse die NATO die Bekämpfung des Terrorismus mit in das Zentrum ihrer Aktivitäten stellen. Gleichzeitig komme der Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen wachsende Bedeutung zu. Persönlich interpretierte Robertson die Aussage der Außenministertagung vom Mai 2002, das Bündnis benötige Streitkräfte, die schnell dahin verlegt werden können, „wo auch immer sie benötigt werden“, dahingehend, dass die NATO global agieren könne, „nach Erfordernis und wo nötig“. Noch im September hielt das deutsche Außenamt eine solche Interpretation für unzulässig. Doch inzwischen hat sie sich durchgesetzt.

Das Prager Kommuniqué betont: Die NATO müsse ihre Fähigkeit, „den Herausforderungen gegen die Sicherheit unserer Streitkräfte, Bevölkerungen und unseres Territoriums“ gewachsen sein, „wo immer diese auch herkommen mögen“. Sie müsse auf Beschluss des NATO-Rates „Streitkräfte einsetzen können, die schnell überall dahin verlegt werden können, wo sie benötigt werden“. Das „volle Spektrum der Aufgaben“ der Allianz umfasst nun „die Bedrohung, die der Terrorismus und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen sowie deren Trägersystemen“ darstellen. Ein vom Militärausschuss erarbeitetes »Militärisches Konzept zur Verteidigung gegen den Terrorismus« wurde beim Prager Gipfel gebilligt. Das Bündnis übernimmt auch gleich erstmals eine globale Aufgabe: Wenn das Deutsch-Niederländische Korps in Kürze die Führung der ISAF-Mission in Afghanistan übernimmt, dann wirkt die NATO mit. Der globale Präzedenzfall für die Allianz.

Neue Aufgaben werfen neue Probleme auf. Die USA haben ihre nationale Strategie deutlich verändert – zuletzt durch eine neue »Nationale Sicherheitsstrategie«. Diese schließt es bei der Bekämpfung des Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen nicht aus, selbst anzugreifen, bevor die USA angegriffen werden könnten. Dafür stehen die Begriffe »präemptive Schläge« und »defensive Intervention«. Der amerikanische Begriff »pre-emptive strikes« umfasst zweierlei. Zum einen meint er ein präventives Vorgehen, zum Beispiel die Zerstörung gegnerischer Raketenabschussrampen, unmittelbar bevor von diesen ein Angriff durchgeführt werden soll. Zweitens sind vorbeugende, präemptive Angriffe gemeint, Schläge, mit denen das Entstehen längerfristiger Bedrohungen verhindert werden soll, also z.B. der Bau von Massenvernichtungswaffen. Israels weltweit kritisierte Bombardierung des irakischen Atomreaktors Osirak ist ein Beispiel. Doch Washington geht noch weiter: Selbst der Einsatz nuklearer Waffen wird durch die Bush-Administration nicht ausgeschlossen. Das wurde Anfang des Jahres deutlich, als der geheime »Nuclear Posture Review« an die Öffentlichkeit gelangte. Schon seit einigen Jahren beschränken die USA ihre nationale nukleare Einsatzplanung nicht mehr auf Staaten. Auch »Nicht-staatliche Akteure«, z.B. Terroristen oder transnationale Konzerne, die versuchen, sich Massenvernichtungswaffen zuzulegen, könnten Ziel eines Nuklearangriffs sein.

Damit gerät die NATO in ein Dilemma. Sie hat – wie so oft in der Vergangenheit – mit zeitlicher Verzögerung ihre Strategie den Entwicklungen der US-Strategie im Grundsatz angepasst. Wie weit diese Anpassung im Einzelnen geht, ist noch unklar, zumindest in der Öffentlichkeit. Nur soviel ist klar: Schwerwiegende Probleme mit der völkerrechtlichen Legitimität künftiger NATO-Planungen drohen. Weder präemptive Angriffe noch gar der Einsatz nuklearer Waffen wären völkerrechtlich gedeckt.

Man stelle sich vor: Washington will präemptiv das existierende oder entstehende Massenvernichtungswaffenpotenzial eines Staates oder eines nichtstaatlichen Akteurs zerstören. Die Planer im Pentagon glauben, dass dies gesichert nur mit einer Nuklearwaffe gelingen kann. Da dies aber völkerrechtlich und im Lichte der internationalen öffentlichen Meinung sehr umstritten wäre, entschließen sich die USA, die NATO um Solidarität und Mitwirkung zu bitten. Als Gemeinschaft von 19, künftig 26 demokratischen Staaten lasse sich der Angriff besser verteidigen. Die Flugzeuge, die den Angriff durchführen, sollen in einem NATO-Land starten, ein zweites soll Luftbetankungsmittel stellen, ein drittes beim Begleitschutz durch Jagdflugzeuge helfen und ein viertes, nicht-nukleares Land gar durch die Bereitstellung eines Trägerflugzeugs für Nuklearwaffen. Unschwer ist zu erkennen, wie gravierend die Probleme für die europäischen NATO-Partner wären.

Trägt die NATO eine solche Strategie mit, so trägt sie dazu bei das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu untergraben. Die von der Regierung Bush initiierte Deregulierung der internationalen Beziehungen, die von vielen der europäischen NATO-Staaten schon jetzt beklagt wird, würde beschleunigt. Die Auswirkungen auf das nukleare Nichtverbreitungsregime wären verheerend.

Verteidigungsminister Peter Struck glaubt zwar, dass die NATO ein präventives oder präemptives Vorgehen auch in Zukunft ablehnen werde, da das Bündnis im Konsens entscheide. Doch das Konsensprinzip wird mit Blick auf die wachsende Mitgliederzahl bereits in Frage gestellt. Das Hauptargument: Das Bündnis müsse jene, die bereit sind zu handeln, handeln lassen, wenn es seine Bedeutung erhalten wolle. Zudem gibt es auch in Europa Stimmen, die präemptive Angriffe nicht ablehnen. In Deutschland gehört Wolfgang Schäuble dazu und auch Klaus Naumann, ehemals Vorsitzender des Militärausschusses der NATO. Wenige Tage vor dem Gipfel ging Letzterer davon aus, dass „die NATO in Prag die ersten Schritte in Richtung auf ein neues strategisches Konzept unternehmen wird, das Prävention und Präemption als Optionen, nicht aber als leitendes Prinzip“ enthalten sollte. Das Gipfel-Kommunique versucht zu beruhigen: Nein, die neuen Aufgaben der NATO sollten „von keinem Staat und keiner Organisation als Bedrohung wahrgenommen werden, sondern vielmehr als Ausdruck der Entschlossenheit unsere Bevölkerung, unser Territorium und unsere Streitkräfte vor jedem bewaffneten Angriff zu schützen, einschließlich terroristischer Angriffe, die von außen gelenkt werden“. Man werde „in Übereinstimmung mit dem Washingtoner Vertrag (d.h. dem NATO-Vertrag) und der Charta der Vereinten Nationen“ vorgehen. Wie, das sagt das Kommunique allerdings nicht.

Neue militärische Mittel

Mit den militärischen Mitteln des Kalten Krieges lassen sich solche Aufgaben kaum bewältigen. Mit diversen Beschlüssen versucht der Prager NATO-Gipfel deshalb schnelle Abhilfe zu schaffen.

Erst im September hatte Donald Rumsfeld, der US-Verteidigungsminister, seinen NATO-Kollegen die Idee präsentiert, die NATO solle eine schnelle Eingreiftruppe für weltweite Interventionen aufbauen, die »NATO Response Force« (NRF). Der Truppe, 21.000 Mann stark, sollten die besten und modernsten Kräfte aller NATO-Staaten zugeordnet werden: Heeresverbände in Brigadegröße, Kampfflugzeuge für bis zu 200 Einsätze am Tag und Marinekräfte im Umfang einer der ständigen Einsatzflotten der NATO. Binnen 5-30 Tagen solle sie weltweit einsetzbar sein, spezialisiert auf intensive Kampfhandlungen – Kampfhandlungen, die nötig sind um Interventionen wie in Afghanistan durchzuführen. Bis zu 30 Tage soll die Truppe autonom kämpfen und bis Oktober 2006 einsetzbar sein. Mit ihr könne die NATO sich an US-geführten Operationen beteiligen. Der Prager Gipfel fasste den Beschluss, die Truppe aufzubauen. Im Frühsommer soll ein erster Bericht vorgelegt werden, wie sie aussehen soll.

Die zweite verabschiedete Initiative sind die »Prager Fähigkeitsverpflichtungen« (Prague Capabilities Commitment, PCC). Mit diesen verpflichten sich vor allem die europäischen NATO-Staaten politisch verbindlich, zu festen Terminen bestimmte militärische Fähigkeiten in Kernbereichen wie dem Luft- und Seetransport, der Luftbetankung, der Abwehr chemischer, biologischer, radiologischer und nuklearer Gefahren oder im Bereich Führungssysteme bereitzustellen. Im Gegensatz zu der breiter angelegten Vorgängerinitiative DCI (Defense Capabilities Initiative) sind die PCC vor allem auf den Bedarf der »NATO Response Force« (NRF) ausgerichtet, d.h. auf weltweite Einsätze hoher militärischer Intensität. In Arbeitsgruppen wird an den einzelnen Fähigkeiten gearbeitet. Nicht jeder NATO-Staat muss zu allen beitragen. Arbeits- und Rollenteilung sollen raschen Fortschritt ermöglichen. Spanien kümmert sich um die Luftbetankung, Holland um Abstandswaffen. Deutschland leitet die Arbeitsgruppe strategischer Lufttransport.

Ziel einer dritten Gipfel-Initiative ist, die Fähigkeit der NATO zu stärken, zur Abwehr von Angriffen mit biologischen, chemischen, radiologischen und nuklearen Waffen. Das Vorhaben, das auf den ersten Blick aussieht wie eine Antwort auf das Risiko terroristischer Angriffe, wurde jedoch breiter angelegt. Hier verbergen sich auch Pläne zur Raketenabwehr. Erstmals will die NATO Abwehrmöglichkeiten gegen Flugkörper mit mehr als 3.000 km Reichweite untersuchen. Unklar ist, ob sich hinter dieser Initiative auch eine weitere Facette der Diskussion über präemptive Optionen verbirgt: Planungen der NATO, um Massenvernichtungswaffen, deren Trägersysteme sowie Produktionsanlagen in anderen Ländern »vorbeugend« auszuschalten.

Viertens machte der Gipfel Vorgaben für eine neue, flexiblere und einsatzorientierte Kommandostruktur. Eine heikle Aufgabe, geht es doch für jeden NATO-Staat um Einfluss, den Anteil an gut dotierten Posten und um die Hauptquartiere auf seinem Boden. Bis Sommer 2003 soll der Militärausschuss einen Vorschlag unterbreiten, wie die NATO mit deutlich weniger Kommandobehörden militärisch flexibler agieren kann.

Europäische Bedenken

Obwohl die meisten amerikanischen Initiativen in Prag im Grundsatz begrüßt wurden, gab es substanzielle Bedenken. Außenminister Joschka Fischer ließ sie in einer Regierungserklärung kurz vor dem NATO-Gipfel erkennen. Zur NRF, dem Kernstück der Initiativen, formulierte er drei Voraussetzungen: Erstens müsse die Entscheidung über den Einsatz der Truppe beim NATO-Rat liegen, also einstimmig fallen. Zweitens sei eine deutsche Einsatz-Beteiligung nur nach einem Beschluss des Bundestages möglich. Die nationale Rechtslage in den NATO-Staaten müsse beachtet werden. Drittens müsse das Vorhaben mit dem Aufbau europäischer Krisenreaktionskräfte vereinbar sein. Unter diesen Voraussetzungen werde man der Ausarbeitung eines Konzeptes für die NRF zustimmen.

Damit sollte verhindert werden, dass die NATO-Truppe auf Anforderung durch die USA oder andere NATO-Länder schnell und ohne zeitraubende Konsensbildung eingesetzt werden kann. Fischer wollte weiter den deutschen Parlamentsvorbehalt wahren, nahm damit aber zugleich billigend in Kauf, dass nun der Druck wächst, mittels eines deutschen Entsendegesetzes die Entscheidungsfindung in Deutschland zu beschleunigen. Beiden Bedenken trägt das GipfelKommuniqué Rechnung. Auch bei der dritten Voraussetzung, der Vereinbarkeit mit den europäischen Krisenkräften, signalisiert das Kommuniqué Zustimmung. Die Realität dürfte anders aussehen.

Für die NRF werden – wegen der Rotation – mindestens 60.000 der bestausgebildeten Soldaten benötigt, Soldaten, die im Kern auch für die Krisenkräfte der EU vorgesehen sind. Die Bundesrepublik plant beispielsweise, ihren Beitrag aus dem selben Pool von 18.000 Soldaten zu stellen, der auch für die EU vorgesehen ist. Würde die NRF häufig angefordert oder wären ihre Kräfte auch nur oft in Bereitschaft, so stünden sie für EU-Einsätze nicht zur Verfügung. Genau dies dürfte eintreten. Der »Krieg gegen den Terrorismus« und die globale Unterstützung Washingtons können leicht zur Dauerbeschäftigung für die NRF werden.

Um die Zusammenarbeit mit den US-Truppen zu gewährleisten, müssen die NRF-Verbände nach US-Vorbild modernisiert werden. Mit anderen Worten: Damit sie auch weiterhin im EU-Rahmen eingesetzt werden können, müssen dann auch die restlichen EU-Krisenkräfte nach US-Vorbild modernisiert werden. Spötter bezeichnen deshalb die Prague Capability Commitments bereits als BAC, als »Buy American Commitments«, und sehen in dem neuen NATO-Oberkommando für Transformation eine Werbeagentur für eine europäische Modernisierung »the American way«.

Der Aufbau autonomer EU-Fähigkeiten dürfte sich also zumindest verteuern, wenn er nicht gar weitgehend durch die NATO absorbiert wird. Zudem droht eine für die Europäer unliebsame Arbeitsteilung: Während die NATO sich auf globale Kampfeinsätze unter Führung der USA spezialisiert, müssten die EU-Krisenkräfte jene Aufgaben übernehmen, die die USA nicht interessieren: Friedensmissionen und das ungeliebte, langwierige »Nation-Building« nach Interventionen. Trotz aller Zugeständnisse bekommt Europa aber keine Gewähr dafür, dass die USA ihren europäischen NATO-Partnern strategische Mitsprache in der Frage gewähren wird, wie mit Krisen umgegangen werden soll.

Die Osterweiterung

Zehn Kandidaten standen vor der Tür, sieben bekamen die Einladung zum Beitritt: Die drei baltischen Republiken, die Balkan-Staaten Slowenien, Bulgarien und Rumänien sowie die Slowakei. Außen vor bleiben vorläufig Kroatien, Albanien und Mazedonien. Der »Big Bang«, die große Erweiterung wird realisiert. Im Frühjahr 2004 sollen die Beitritte – etwa zeitgleich zur Erweiterung der EU – bei einem erneuten Gipfel in Washington vollzogen werden.

Erstaunlich ist, wie geräuschlos die zweite Erweiterung der Allianz vonstatten ging. Kein ausgedehnter Streit mit Russland, keine öffentliche Diskussion über die Frage, ob die Baltischen Staaten im Ernstfall überhaupt verteidigt werden könnten, keine strategische Debatte, ob nicht zu vielen oder zu schwachen Kandidaten eine Beistandsgarantie gegeben werde.

Wesentliche Ursachen dafür liegen in Washington. Die Regierung Bush weist der NATO eine veränderte Rolle zu. In Europa liegt die Bedeutung der NATO zunehmend im Politischen und weniger im Militärischen. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass das Bündnisgebiet in einem klassischen Krieg verteidigt werden muss. Global kann die Allianz Washington begrenzt militärische Schützenhilfe leisten, ist aber kaum der unverzichtbare Partner, dem die USA ein Mitspracherecht einräumen müssen, wie mit einer Krise umgegangen werden soll. Die Kooperation wichtiger NATO-Staaten kann notfalls auch bilateral sichergestellt werden.

In Europa soll die NATO deshalb zum Einen die Integration der neuen Mitglieder in die westlichen Institutionen absichern und ein Wiederaufflammen der Kämpfe auf dem Balkan verhindern. Sie soll zweitens den Einfluss der USA auf die europäische Sicherheitspolitik sichern und dies in einem deutlich erweiterten geographischen Raum. Vor allem Rumänien und Bulgarien haben dabei strategische Bedeutung. Ihr Beitritt verbessert die Möglichkeit, westliche Interessen im Schwarzmeerraum zu vertreten. Für den Balkan lautet das Signal: Die Stabilisierung Südosteuropas ist dauerhaft Gemeinschaftsaufgabe. Die Aufnahme von sieben Staaten auf einen Streich sichert Washingtons Einfluss nicht zuletzt auch deshalb, weil deren neue Eliten oft in den USA ausgebildet wurden.

Schließlich ist nach dieser großen Erweiterung klar, dass auf absehbare Zeit keine das Verhältnis zu Russland politisch stark belastende Ausdehnung der NATO mehr ansteht. Das enthebt sie der Notwendigkeit, erneut über eine kompensatorische Vertiefung der Zusammenarbeit mit Russland nachzudenken. Der 1997 eingerichtete, der Konsultation dienende Ständige Gemeinsame Rat wurde 2002 in einen NATO-Russland-Rat umgewandelt, in dem im Konsens aller 20 Staaten auch gemeinsam Beschlüsse – z.B. zur Terrorismusbekämpfung – gefasst werden können. Diese Art der Zusammenarbeit soll zunächst praktiziert werden. Als nächster Schritt – so die teils ernst gemeinte, teils spaßige Begründung – bleibe ja eh nur, Russland die Vollmitgliedschaft zu offerieren. Doch damit lasse man sich besser viel Zeit.

Die NATO soll zwar für neue Mitglieder offen bleiben. Konkrete Maßnahmen aber, die weitere Staaten an den Beitritt zur NATO heranführen sollen, verlieren an Dringlichkeit. Ausgebaut werden soll dagegen die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus im Rahmen des Euro-Atlantischen Kooperationsrates. Viele Staaten, die für einen NATO-Beitritt auf absehbare Zeit nicht in Frage kommen, spielen – wie die zentralasiatischen Republiken – als Stationierungsländer bei Interventionen eine wichtige Rolle.

Tagesordnungspunkt oder nicht? – Der Irak

Lange wurde gerätselt »Steht der Irak nun auf der Tagesordnung des Prager Gipfels oder nicht?« Washington hat ihn zum Thema gemacht. Präsident Bush wollte die politische Unterstützung der NATO für das weitere Vorgehen gegen den Irak und er bekam sie. Nach langem Ringen war klar: Die NATO unterstützt die jüngste UN-Resolution zum Irak, droht Saddam Hussein mit ernsthaftesten Konsequenzen, verzichtet auf eine explizite militärische Drohung, erwähnt aber auch nicht, dass im Falle irakischer Verstöße gegen die UN-Resolution der UNO-Sicherheitsrat das entscheidende Wort haben sollte. Quasi zeitgleich präsentierte die US-Regierung ihren Partnern bilateral die Frage, was sie zu einem neuen Krieg am Golf beitragen wollen. Offensichtlich bekamen sie auch von den Deutschen schon recht viel von dem, was sie wollten: z.B. ein verstärktes deutsches militärisches Engagement in anderen Krisengebieten, Überflugrechte und Bewegungsfreiheit für ihre Truppen auf deutschem Boden. Die teuerste Unterstützungsanfrage hat Berlin vorerst vertagt: Wie sähe der deutsche Beitrag zu einem Wiederaufbau des Irak aus?

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).

Umweltkrank durch NATO-Treibstoff?

Umweltkrank durch NATO-Treibstoff?

Multiple Chemikalien-Sensitivität durch JP8

von Marion Hahn

MCS, die Multiple Chemikalien-Sensitivität, kann für die Betroffenen die Hölle bedeuten. Bis zu 15 Prozent der Bevölkerung in den Industriestaaten leiden an dieser Krankheit. Das besagen jüngste Schätzungen aus den USA. Und ihre Zahl steigt ständig. Wo die Ursachen dieser Krankheit liegen, ist immer noch nicht zweifelsfrei geklärt, und MCS gilt als nicht heilbar. Marion Hahn, selbst seit 1990 schwer an MCS erkrankt, hat über 10 Jahre die Ursachen ihrer Erkrankung erforscht und die Ergebnisse jetzt in einem Buch zusammengefasst.1 Während im Allgemeinen immer wieder Holzschutzmittel, Amalgam und Insektizide als mögliche Ursachen für MCS genannt werden, kommt sie zu dem Ergebnis, dass dieses nur die Auslöser sind. Als eigentliche Ursache verortet sie den NATO-Treibstoff JP8.
Stellen Sie sich vor, die Abwehrfunktionen Ihres Körpers brechen zusammen und Ihr Alltag wird in unserer chemisierten Umwelt für Sie zu einem einzigen Überlebenskampf. In Ihrer täglichen Not geht es um so selbstverständliche Dinge wie die Luft, die Sie atmen. Stellen Sie sich vor, dass Sie Ihre Möbel, Ihre Kleidung und Ihre gewohnte Nahrung mit einem Mal nicht mehr vertragen, dass Sie auf alles mit einer Unzahl von teils lebensbedrohlichen Symptomen reagieren. Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit Ihren vielen schweren Symptomen vertrauensvoll von Arzt zu Arzt und bekommen immer wieder zu hören: Sie haben nichts, Sie sind kerngesund, Sie bilden sich das Ganze nur ein.

Bis zum Ausbruch der Krankheit haben Sie sich für einen ganz normalen, vernunftbegabten Menschen gehalten, und nun beginnen Sie, in zweierlei Hinsicht den Boden unter Ihren Füßen zu verlieren. Auf der einen Seite lernen Sie die friedliche Situation Ihres Landes, in dem Sie sich angeblich so gut wie alle Wünsche erfüllen können, als äußerst bedrohlich für Ihr Leben kennen. Auf der anderen Seite laufen Sie mit Ihren gesundheitlichen Klagen immer wieder an eine merkwürdige Wand aus Ablehnung und Leugnung Ihrer Not. So bleiben Sie mit der schwersten Krankheit Ihres Lebens medizinisch unversorgt und sich selbst überlassen. Fassungslos können Sie schauen, wie Sie zurecht kommen.

Die Rede ist von MCS (Multiple Chemikalien-Sensitivität). Eine seltene Krankheit? Ich halte diese Krankheit für eine der weitverbreitesten und schwersten in unserer Zeit – in unterschiedlichem Schweregrad sind nach Schätzungen aus den USA bis 15 Prozent der Bevölkerung westlicher Industrienationen betroffen.2

Von Seiten der MCS-Selbsthilfeorganisationen ist zu hören, dass sich die Krankheit immer mehr ausweitet und immer schwerwiegender wird.

Wenn Sie an schwerer MCS leiden, sind Ihre Lunge, Haut und Schleimhäute durchlässig für alle äußeren Einflüsse wie z.B. Autoabgase, Tabakrauch, Agrarspritzmittel, Waschmittel und Parfüms. Was Sie früher vielleicht sogar als Wohlgeruch empfunden haben, löst mit einem Mal bei ihnen schwere Herz-Kreislauf-Zusammenbrüche aus. Es kommt z.B. zu einer unsäglichen Schwäche, zu Schwindel, Benommenheit, Schlaflosigkeit, Schweißausbrüchen, Bewusstseinsveränderungen der verschiedensten Art, Nierenproblemen, Haarausfall, schwerster Atemnot, Dauerdurchfällen und Bewusstlosigkeiten. Bei MCS-Kranken wird der Geruchssinn als Warninstrument dermaßen empfindlich, dass alles, was den Körper belasten könnte, noch in kleinsten Konzentrationen wahrgenommen wird. Mit der Zeit vertragen Sie kaum noch Pkw‘s, können keine öffentlichen Verkehrsmittel, geschweige denn ein Flugzeug benutzen. Kaum ein MCS-Kranker findet ein Hotel, in dem er übernachten könnte. Hinzu kommen häufig finanzielle Probleme: Man kann nicht mehr arbeiten, ist aber gleichzeitig auf privatärztliche Behandlungsversuche angewiesen. Das alles führt dazu, dass MCS-Kranke nach einiger Zeit gesellschaftlich total isoliert sind und ein Schattendasein führen. Da gibt es z.B. eine Mutter, die mit ihrem Kleinkind im Auto lebt, da beide in der Wohnung das Bewusstsein verlieren; da gab es eine junge Frau, die in einem selbstgebastelten Verhau aus ihr verträglichen Steinen und Plastikplanen ausharrte und inzwischen gestorben ist. Ein Dreißigjähriger sprang wegen seiner schweren MCS aus dem 6. Stock, überlebte wie durch ein Wunder und wurde in die Psychiatrie eingewiesen. Jetzt hat er sich vor eine S-Bahn geworfen und ist tot. Da gibt es die unzähligen Familientragödien, in denen sich nach der ärztlichen Diagnose »Sie haben nichts! Sie bilden sich alles nur ein!« der gesunde Partner aus dem Staube macht. Meist sind es die Frauen und Kinder, die schwerstkrank zurückbleiben. Greifen die Ämter ein, wird den MCS-kranken Müttern nicht selten auch noch das Sorgerecht entzogen, das Kind in einem Heim oder einer Pflegefamilie untergebracht. Man geht irrigerweise davon aus, dass MCS-kranke Mütter ihre MCS-Symptome auf ihre Kinder übertragen! Eine Giftbelastung wird für ein Hirngespinst gehalten.

Ich selbst war so schwer an MCS erkrankt, dass ich nur knapp überlebt habe. Dass ich heute wieder ein fast ganz normales, gesundes Leben führe, obwohl MCS als unheilbar gilt, ist für viele unvorstellbar. Ich führe es darauf zurück, dass ich heute vor allem den chemischen Belastungen aus dem Militärbereich ausweiche. Die von mir durchgeführte Selbstbehandlung u.a. mit homöopathisch aufbereitetem JP8 und EDB finden Sie ausführlich beschrieben in meinem Buch.

Die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen

Auch schwerstkrank war ich noch davon überzeugt, dass es hinter jedem zunächst noch so abstrus erscheinenden Phänomen – so auch hinter meiner Krankheit – eine plausible Erklärung gibt. Deshalb begann ich schon bald nach Ausbruch meiner Krankheit nach deren Ursachen zu forschen.

Zunächst notierte ich penibel meine eigene, mir völlig fremde und ausgesprochen ungewöhnlich erscheinende Symptomatik. Dann konzipierte ich Fragebögen und begann nach Mitbetroffenen zu suchen. Manchmal war mir fast unheimlich zumute, wenn ich dabei erfuhr, dass z.B. eine Frau aus Karlsruhe, in der Nachbarschaft einer militärischen Einrichtung lebend, die gleichen seltsamen Symptome hatte wie ich und diese obendrein mit ihrer besten Freundin teilte, die vor einigen Jahren nach Nürnberg in die Nähe einer militärischen Einrichtung gezogen war. Oder wenn ich feststellte, dass meine 53 Symptome bis ins Detail mit denen eines bestimmten Golfkriegsveteranen-Bataillons übereinstimmten und dass diese wiederum auch identisch waren mit der Symptomatik der Überlebenden der Absturzkatastrophe von Amsterdam-Bijlmermeer, bei der dubiose militärische Güter als Fracht im Spiele waren. Trotzdem: Meine Frage nach einem gemeinsamen Faktor, der bei allen MCS-Krankheitsfällen im Hintergrund beteiligt ist, glich der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen und dementsprechend gab mir jahrelang kaum einer eine Chance.

Das Verwirrende und letztlich Fatale an der MCS-Situation ist, dass die Vielzahl der Symptome je nach persönlicher Beschaffenheit individuell verschiedene Schwerpunkte aufweist. Zwar haben die MCS-Kranken im Wesentlichen die gleiche Symptomatik, doch kann es sein, dass der eine als größtes Problem seine Herz- oder Darmprobleme, der andere seine parkinsonartigen Zitteranfälle nennt. Obendrein wird die Vielzahl der Symptome durch eine Vielzahl von Chemikalien ausgelöst, was zu der in der Umweltmedizin weit verbreiteten Auffassung »Alles macht alles« führte. Genauso wie die Auffassung, MCS sei Ausdruck psychischer Probleme, blockiert auch das »Alles macht alles«-Denken den Erkenntnisweg, dass sich höchstwahrscheinlich hinter all den vielen auslösenden Chemikalien ein spezielles Chemikaliengemisch verbirgt, das als die eigentliche Ursache der Krankheit MCS angesehen werden muss. Die MCS-Kranken haben in der Vergangenheit (soweit ihnen möglich) keine Kosten und Mühen gescheut, auf der Auslöserebene (Amalgam, Holzschutzmittel u.a.) Analysen durchführen zu lassen, die beweisen sollten, dass dort die Krankheit entstanden ist. Die Ursachenebene wurde meines Erachtens nicht berührt, Widersprüche blieben stehen. Denn warum gibt es Gesunde, die den ganzen Mund voller Amalgam haben, während es Schwerst-MCS-Kranke gibt, die nicht eine einzige Füllung in ihren tadellosen Zähnen haben; warum wurden Leute, die ihren Wohnort gewechselt haben, trotz Amalgam im Mund wieder arbeitsfähig und warum blieben MCS-Kranke, deren Zähne saniert wurden, auch weiterhin krank? Dass Amalgam nur der Auslöser, nicht aber die Ursache von MCS sein könnte, wird bislang kaum einmal angedacht.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Ein MCS-Kranker mit seinen zerstörten Schleimhäuten und seinem speziellen toxischen Milieu im Mund kann Amalgam (wie zahlreiche andere Zahnfüllungsmaterialien) auf keinen Fall vertragen und muss diese unbedingt entfernen lassen. Aber meiner Meinung nach verträgt er Amalgam nicht, weil er MCS hat, hat aber nicht durch das Amalgam seine MCS bekommen.

Ich selbst – bis 40 kerngesund – wurde ausgerechnet in einem baubiologisch restaurierten Haus krank. Kaum hatte ich Haus und Region wieder verlassen, ging es mit meiner Gesundheit wieder bergauf – und das, obwohl ich mitten in einem Weinbaugebiet mit all seinen Spritzmitteln gelandet war.

Die Spur führt zum Militär

Dass ich mich schon sehr bald hauptsächlich mit Belastungen aus dem Militärbereich befasste, hatte u.a. mit meinen Ausflugserfahrungen zu tun. Jahrelang habe ich in Karten alle Orte festgehalten, an denen ich mich besonders gut oder besonders schlecht gefühlt habe. Oft reagierte ich an ökologisch scheinbar absolut unbedenklichen Orten dermaßen heftig mit meiner überwunden geglaubten Symptomatik, dass ich mich im Nachhinein nach möglichen Belastungsquellen erkundigte. Ausnahmslos hatte ich mich dann in großer Nähe zu militärischen Einrichtungen befunden.

Im Laufe der Jahre habe ich zu weit über 400 MCS-Kranken Kontakt gehabt. Auch hier die Erkenntnis: Die MCS-Kranken leben in der Nähe militärischer Einrichtungen.

Eine Zeitlang habe ich nach Recherchen in toxikologischer Literatur Nervenkampfstoffe als Krankheitsursache vermutet und mich in diesem Zusammenhang mit Rüstungsaltlasten aus dem Zweiten Weltkrieg befasst. Doch ab einem bestimmten Punkt gingen die Krankheitsbilder MCS und Nervenkampfvergiftung auseinander.

Dann bekam ich fast gleichzeitig Hinweise, nach denen der von der US-Armee eingesetzte Treibstoff JP8 schwere gesundheitliche Probleme verursache3 und dass diesem Treibstoff das hochgiftige Additiv EDB beigemischt werde.4 Was mich verblüffte und in meiner Recherche bestärkte, war die Tatsache, dass sich die EDB-Vergiftungssymptome bis in auffällige Details decken mit den Symptomen MCS-Kranker. Hinzu kamen Informationen über das NATO-Pipeline-System CEPS, das Hafenanlagen und Raffinerien mit Tanklagern und Flugplätzen verbindet, das 1990 eine Länge von 6.000 km hatte und sowohl militärisch als auch zivil genutzt werden kann.5/6 Hinzu kommen noch acht weitere NATO-Pipeline-Systeme, die – da offensichtlich zivil nicht nutzbar – auch nicht bekannt gegeben werden, sowie sieben zivile Treibstoff-Pipelines.

Hatte ich hier die Nadel im Heuhaufen gefunden? Was hat es auf sich mit diesem Treibstoff, den das US-Militär und die NATO – also auch die Bundeswehr – benutzen?

1988 hat das US-Militär mit allen seinen militärischen Verbündeten – so auch der NATO – vereinbart, dass für jegliche militärischen Gerätschaften – vom Kampfjet bis zum Panzer, vom Lkw bis zum Feldkocher – einheitlich ein einziger Treibstoff zu verwenden ist und dass der damit verbundene Konversionsprozess weltweit bis 2010 beendet sein soll, so dass alle mit den Amerikanern verbündeten Militärs überall bei möglichen Einsätzen über JP8 verfügen können.7

Mit dem Thema nicht Vertraute schütteln ungläubig den Kopf bei der Vorstellung, dass man mit demselben Treibstoff, mit dem ein Panzer bewegt wird, auch einen Kampfjet fliegen können soll.

Und dennoch ist es so: Die entsprechende Additivierung macht’s möglich! Auch müssen die Additive gewährleisten, dass sämtliche Gerätschaften unter allen klimatischen Bedingungen – also sowohl bei klirrender Kälte als auch bei glühender Hitze – auf den Punkt anspringen und funktionieren. Außerdem muss der Treibstoff JP8 zwangsläufig – das Militär kann ja nicht überall gleichzeitig agieren – lagerfähig sein. Auch hierfür braucht man entsprechende (teils biozide) Additive.

Wie aber kommen die MCS-Kranken mit JP8 in Berührung? Auf der einen Seite haben wir es in Deutschland mit einer sehr hohen Dichte militärischer Einrichtungen zu tun, die vom Truppenübungsgelände mit Panzern und sonstigen Gerätschaften über den Militärflugplatz bis zur Kaserne und das mit einem JP8 betriebenen Generator versehene Sendeturmareal im einsamen Wald reichen. Mir ist keine militärische Einrichtung bekannt, die ohne Treibstoff – also JP8 – denkbar wäre. Andererseits kommt als wichtiger Faktor und Verteilsystem die unterirdisch verlegte NATO-Pipeline CEPS mit ihren angeschlossenen Tanklagern hinzu.

Selbst wer sich sicher ist, nicht in unmittelbarer Nähe einer Militäreinrichtung zu leben, atmet dennoch möglicherweise JP8 aus den Belüftungsvorkehrungen der NATO-Pipeline und den Tanklagern ein. Noch dazu wird – weitestgehend unbeachtet – über unseren Köpfen seit einiger Zeit die Betankung von Kampfflugzeugen in der Luft praktiziert, wobei es möglicherweise ebenfalls zu JP8-Freisetzungen kommt. So sollen zur Zeit – laut Auskunft eines Insiders – Bomber der US Airforce auf dem Weg nach Afghanistan über der US Airbase des Frankfurter Flughafens betankt werden.

Besonders zwei Stoffen im JP8 gilt mein besonderes Interesse. Das Vorhandensein des einen – das hochgiftige, im Zivilbereich verbotene 1,2-Dibromethan – wird von der Bundeswehr und vom Verteidigungsministerium bestritten. Ein amerikanischer Text hingegen weist diesen Treibstoffzusatz aus als eines der am häufigsten im Umfeld amerikanischer Militäreinrichtungen in den USA gefundenen Gifte, das u.a. großflächig das Grundwasser verseucht.

Die Verhältnisse in Übersee – also auch bei uns – sollen nicht anders sein.8Bei dem zweiten Stoff handelt es sich um ein Detergens, dessen Zusammensetzung aus patentrechtlichen Gründen nicht einmal dem deutschen Verteidigungsministerium bekannt ist.9

Dieser Stoff könnte vielleicht erklären, warum MCS-Kranke so extrem auf andere Detergentien enthaltende Substanzen (z.B. Waschmittel und Totalherbizide wie Roundup Ultra) reagieren.

Groß ist die Zahl der Texte zu JP8 und seinen Risiken.Und nicht ein einziger Text ist zu finden, der die Unbedenklichkeit des hochbrisanten Gemisches zum Thema hätte.10 Die jüngste Literatur über JP8 bestätigt die Ergebnisse meiner Recherche. JP8 steht im Verdacht, bei 14 Kindern im Umfeld einer Airbase in den USA Leukämie verursacht zu haben.11 Auch ich bin immer wieder im Zusammenhang mit meiner MCS-Recherche auf Leukämie-Cluster am Rande militärischer Einrichtungen gestoßen.

Inzwischen geht man davon aus, dass JP8, wenn eingeatmet, das Lungenepithel zerstört. Ebenfalls zerstört es im Tierversuch den molekularen Aufbau der obersten Hautschicht, so dass Löcher entstehen, durch die körperfremde Chemikalien eindringen können. JP8 wird toxikologisch bewertet als ein Stoff, der das Immunsystem dermaßen zerstört und sämtliche Abwehrfunktionen eines Versuchstieres so schnell und gründlich zum Erliegen bringt, wie man es bisher von keiner Chemikalie gekannt hat.12

Eine Bestätigung für meine Theorie sehe ich auch darin, dass das Pentagon eine Studie in Auftrag gegeben hat, in der die Rolle des JP8 bei der Entstehung des Golfkriegs-Syndroms untersucht werden soll.

Zwei Dinge möchte ich am Schluss noch zu bedenken geben: Da ist einmal der immens hohe – und von der Öffentlichkeit kaum beachtete – Treibstoffverbrauch beim Militär, z.B. verbraucht ein M1-Abrams Panzer des US-Militärs 600 Liter pro 100 km, ein F15-Düsenjager bei höchster Schubkraft 908 Liter pro Minute. Da ist zum anderen die gegenwärtige Überlegung, das zivile Jet Fuel A1 durch das militärische JP8+10013 zu ersetzen. Ausgangspunkt für diese Planung ist die Angst, dass zivile Flugzeuge auf AKWs zum Absturz gebracht, zu verheerenden Kerosinbränden führen würden. JP8 hat einen höheren Flammpunkt.14 Das dürfte verheerende gesundheitliche Folgen haben.

Fazit

Nach zehnjähriger MCS-Recherche bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass JP8 der Verursacher von MCS ist und dass nur wer JP8-Freisetzungen meidet, eine Chance hat MCS zu überwinden. Da aber nicht jeder in der Lage ist, JP8 aus dem Wege zu gehen, muss JP8 in der derzeitigen Form sofort aus dem Verkehr gezogen, müssen kontaminierte Gebiete umgehend saniert werden.

Anmerkungen

1) Marion Hahn: Umweltkrank durch NATO-Treibstoff? Multiple Chemikalien-Sensivität (MCS) und Militär Emissionen. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. O. Wassermann und einem Nachwort von Prof. Dr. Knut Krusewitz. Heidelberg 2001, PVH, 124 S., ISBN 3-9805389-3-1, DM 32,85.

2) Cernaj, Ingeborg: Umweltgifte – Krank ohne Grund? MCS – die Multiple Chemische Sensibilität – eine neue Krankheit und ihre Ursachen. Südwest-Verlag, München 1995, S. 21. Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag: TAB-Arbeitsbericht Nr. 47, TA-Projekt »Umwelt und Gesundheit«, Vorstudie, Karlsruhe, März 1997, S. 151.

3) Thomas, William: Hospitals jammed as banned Pesticide is sprayed from the Skies. Und drs., Contrails: Poison from the Sky. Beides in www.islandnet. Com/wilco/invest-sky.htm, Seattle, Februar 1999

4) „Die sonst wenig informativen »Datenblätter« geben im Falle von 1,2 Dibromethan (EDB) offen zu, dass es sich um eine äußerst aggressive, reaktionsfähige und hochgradig gesundheitsschädliche Substanz handelt. EDB gilt als »pervasive«. D.h. fast alles durchdringend, Kunststoffe (und Dichtungen) auflösend. ist ein allgemeines »Zellgift«, für das es keine sichere, »akzeptable Schwellenkonzentration« gibt, auf das die Menschen (…) sehr unterschiedlich, d.h. auch extrem empfindlich, reagieren.“ (Prof. Dr. Otmar Wassermann in Hahn, S. 9)

5) NATO-Leitungen für zivile Versorgung, FAZ, 10.10.1990, S.17.

6) CEPMA (Central Europe Pipeline Management Agency) : CEPS Central Europe Pipeline System – Mitteleuropäisches Pipelinesystem. BP 552-78005, Versailles Cedex France, CEPS Katalog.

7) http://www.quartermaster.army.mil/oqmg… 1_Bulletin/1997/autumn/singlefuel.html

8) Schettler, Ted H.: Auswirkungen des Militarismus auf Umwelt und Gesundheit. In: Medizin und globales Überleben, 1995, 2. Jg., Nr. 5, S. 20-31.

9) Antwort des Verteidigungsministers vom 20.6.01 auf eine Kleine Anfrage der PDS-Fraktion zu Inhalten militärisch genutzter Treibstoffe (Drucksache 14/6206).

10) Hahn, Marion, siehe Anm.1, S. 64f.

11) http://www.newscientist.com/dailynews/news.jsp?id=ns9999876

12) s.o.

13) Bei JP8+100 handelt es sich um eine Weiterentwicklung von JP8, die möglicherweise noch gesundheitsgefährlicher ist als JP8. Siehe Hahn, 2001, S. 68.

14) Flottau, Jürgen: Am Flammpunkt. In: Süddeutsche Zeitung, 16.10.01.

Marion Hahn hat Ethnologie, Psychologie und Philosophie studiert.

Machtpolitik pur

Machtpolitik pur

von Tobias Pflüger

Lieber Leserin, lieber Leser,
„Recht – Macht – Gewalt“, so der Schwerpunkt dieses Heftes.

Vor zwei Jahren, am 24.03.1999, begann die NATO ihren Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Lassen Sie uns kurz gemeinsam zurückdenken, wie wir, jede/r von uns den Beginn der NATO-Bombardierungen Jugoslawiens – erstmals mit voller Beteiligung der Bundeswehr – erlebt haben. Dieser Krieg war und ist ein einschneidendes Ereignis gewesen, er hat die Republik verändert. Bis heute ist er allerdings nicht richtig aufgearbeitet. Erst jetzt – nach der öffentlichen Wahrnehmung möglicher Folgen des Einsatzes von »Uran-Munition« und dem WDR-Film »Es begann mit einer Lüge« – läuft die Debatte auch in den Massenmedien vorsichtig an. Die Lügen und Tatsachenverdrehungen der NATO und des damaligen Kriegs- und heutigen Verteidigungsminister Rudolf Scharping sind endlich in den Schlagzeilen.

Ein zweiter Minister hat wesentlich zur Akzeptanz des NATO-Krieges beigetragen: Joschka Fischer. Er ist in der Kritik wegen seiner militanten Vergangenheit. Der Steine werfende Fischer wird benutzt, um die gesamte 68er-Bewegung zu diskreditieren. Aus dem konservativen Lager kommen Rücktrittsforderungen, doch die dominanten Medien der Republik nehmen Fischer auffallend in Schutz. In der FAZ findet sich eine Erklärung hierfür: „Den Fotos des Prüglers muss man die Fotos des Außenministers gegenüberstellen. Nicht daß Fischer Gründe gehabt haben mag – und welche mögen das gewesen sein? , birgt, um ein Modewort der Achtundsechziger zu zitieren, einen »Choc« der Erkenntnis, sondern die Tatsache, daß dieser Motorrad-Prügler fünfundzwanzig Jahre später als deutscher Außenminister einen Krieg mitbefehligen wird – eine äußere militärische Intervention, die ohne ihn und seine Geschichte vermutlich zu einem bürgerkriegsähnlichen Notstand im Innern geführt hätte.“

Dies muss korrigierend ergänzt werden: Fischer hat sich hier einer Geschichte bemächtigt (oder sie wurde ihm zugeschlagen), die nie seine war. Fischer war nie Pazifist, nie Militärkritiker, stand nie für die Friedensbewegung. Er hat jedoch diese Geschichte zur Kriegsbegründung instrumentalisiert und damit einen großen Teil derjenigen mundtot oder sprachlos gemacht, deren Geschichte die Friedensbewegung wirklich war. Joschka Fischer war schon immer ein Militanter, damals als »Straßenkämpfer« und 1999 als kriegrechtfertigender und zustimmender Außenminister. Nur heute sind die Auswirkungen um ein vielfaches verschärfter. Fischers angebliche Geschichte wurde benötigt um die »Heimatfront« zu verunsichern und still zu halten. „Es war doch gerade das Spezifische dieser Biographie, die dazu verhalf, den inneren Frieden zu bewahren, als im Kosovo militärisch eingegriffen wurde.“ (FAZ) Im Klartext: Fischer (und Co.) waren die deutsche Notwendigkeit, um kriegsfähig zu werden und nun zu sein.

Apropos »kriegsfähig«: Eine »Konsequenz« der europäischen Regierungen aus der deutlichen militärischen Dominanz der USA beim NATO-Krieg sind nun eine Militarisierung der Europäischen Union und ein europäisches Aufrüstungsprogramm für den Weltraum.

Strukturelle Gewalt ist m.E. das richtige Stichwort für die derzeit eskalierende Situation in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten. Alles sieht danach aus, daß der »low intensity conflict« zum Krieg wird. Eine Kritik aus der hiesigen Friedensbewegung und kritischen Friedensforschung an der »Belagerung« (so der neue US-Aussenminister Colin Powell) besetzter palästinensischer Gebiete und ihrer BewohnerInnen durch israelisches Militär und den regelmäßigen Völkerrechtsbrüchen der israelischen Regierungspolitik ist überfällig.

Klare Worte dazu – wie z.B. die Forderung nach vollständigem israelischen Rückzug aus den besetzten Gebieten – findet in diesem Heft Uri Avnery, der bekannte israelische Publizist und Mitglied der Friedensgruppe Gush-Shalom.

Während ich diese Zeilen schreibe, hat der neue US-Präsident George W. Bush einen »Bombeneinstand«. Ziele in der Nähe von Bagdad wurden von den USA und Großbritannien angegriffen, mit der scheinheiligen Begründung der Verletzung der (völkerrechtswidrigen) Flugverbotszone. Dass Russland, China, die arabischen Staaten und viele andere, darunter Frankreich, den Luftangriff scharf kritisieren, ist völlig berechtigt. Das Verhalten der deutschen Regierung dazu – namentlich von Fischer und Schröder – ist nur noch jämmerlich zu nennen. „Wir haben die USA nicht zu kritisieren“, ein neues Unwort des Jahres?

»Die Welt« schreibt zu den Bombenangriffen auf den Irak: „Der Angriff als erste sichtbare Regierungshandlung setzt ein Signal, das alle verstehen sollen“. Weiter heißt es: „Man muss auf allerhand gefaßt sein, denn es geht nicht nur um den Irak: Die Weltpolitik nimmt eine neue Wendung.“

Wie man sieht, eine gefährliche Wende hin zu einer »Machtpolitik pur«. Hier ist Protest und Widerstand notwendig. War sonst der NATO-Krieg gegen Jugoslawien nur der Vorbote zukünftiger Kriege?

Tobias Pflüger

Die Fiktion vom militärischen Humanismus

Die Fiktion vom militärischen Humanismus

Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien zwischen Interessen und Moral

von Jürgen Rose

„Es entsteht eine neuartige, postnationale Politik des militärischen Humanismus – des Einsatzes transnationaler Militärmacht mit dem Ziel, der Beachtung der Menschenrechte über nationale Grenzen hinweg Geltung zu verschaffen. … Und Krieg wird zur Fortsetzung der Moral mit anderen Mitteln.“1 Die These des bekannten Soziologen Ulrich Beck illustriert exemplarisch das grundlegende Legitimationsmuster, mit dem der 79-tägige Luftkrieg der NATO gegen Jugoslawien begründet worden war: Als ein Krieg – manche sprechen gar von einem Kreuzzug2 – im Namen der Menschenrechte gegen eine Macht des Bösen, einen »Schurkenstaat« laut der von der atlantischen Hegemonialmacht präferierten Terminologie. Aber hat hier tatsächlich nichts weiter stattgefunden als ein ausschließlich aus moralischen Erwägungen gespeister Interventionskrieg zur Verhinderung einer sogenannten »humanitären Katastrophe«3, bei dem (nationale) Interessen angeblich keine Rolle gespielt haben sollen.4
Nachfolgend soll der Versuch unternommen werden, die dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien zu Grunde liegenden Interessenlagen zu identifizieren. Als notwendig hierzu erweist sich ein Perspektivenwechsel, der bedingt, dass nicht mehr »der Westen« auf der einen Seite als Akteur betrachtet wird und »die SerbInnen« auf der anderen, sondern dass der Focus auf die Konstellation der westlichen Akteure untereinander, insbesondere aber das Verhältnis zwischen den USA und der Europäischen Union, gerichtet wird.
Der Einfluss der USA war entscheidend dafür, dass die NATO im März 1999 angesichts der massiven serbischen Repressions- und Vertreibungspolitik gegenüber der albanischen Bevölkerungsmehrheit im Kosovo einen völkerrechtlich sehr zweifelhaften Angriffskrieg aus »humanitären Gründen« gegen die Bundesrepublik Jugoslawien – ein souveränes Mitglied der Vereinten Nationen – eröffnete,5 nachdem die Vereinigten Staaten die Glaubwürdigkeit desjenigen Instruments in Gefahr gesehen hatten, das sie im Hinblick auf Europa traditionell als das wichtigste und entscheidende ihrer Diplomatie, ihrer Führung und ihres Einflusses sowie der Verteidigung gegen ideologische und militärische Bedrohungen betrachten.6 Zugleich gelang es den USA, im »Neuen Strategischen Konzept« der NATO vom Frühjahr 1999 die unter den europäischen Partnern mitnichten unumstrittene Kriseninterventionsrolle der Allianz auf Dauer festzuschreiben.7

Analysiert man den mehrmonatigen Interventionskrieg, den die Nordatlantische Allianz unter Regie der USA8 im Kosovo geführt hat, so lässt sich unterhalb der weichen Schale humanitärer und moralischer Legitimationsmuster, mit denen eine zumeist nur oberflächlich informierte Öffentlichkeit abgespeist wurde, ein harter Kern realpolitischer Kalküle identifizieren, die das Handeln der US-amerikanischen Administration determinierten. Erstmalig ist es auf Druck der USA gelungen, eine kriegerische Intervention durch die Nordatlantische Allianz ohne ein Mandat der UNO oder der OSZE ins Werk zu setzen. Damit war die auf Multilateralismus angelegte UNO, insbesondere der laut Charta der Vereinten Nationen für die internationale Friedenssicherung allein zuständige Sicherheitsrat, in dem „nach der Verschiebung der Machtbalance nach dem Kalten Krieg Russland und China ein der neuen Kräftekonstellation unziemliches Veto-Recht … behielten“,9 entmachtet. Die »Verachtung der Führungsmacht gegenüber dem Regelwerk internationaler Ordnung«10 hat mittlerweile dramatische Ausmaße angenommen: „Der Internationale Gerichtshof, die UNO und andere Institutionen seien unerheblich geworden, erklärten die obersten US-Behörden unumwunden, weil sie nicht langer den US-Vorgaben folgen wurden, wie dies noch in den ersten Nachkriegsjahren der Fall war.“11 Die Vereinigten Staaten implementieren somit rigoros ihre Politik des Unilateralismus, die auf eine Befreiung von den Fesseln der Einbindung in die Regelwerke internationaler Organisationen Hand in Hand mit der Maximierung des autonomen Entscheidungsspielraums für die US-Außenpolitik abzielt. Zugleich wurde durch den Beschluss der NATO zum Angriff auf die Bundesrepublik Jugoslawien ein Präzedenzfall für die Selbstmandatierung des zentralen Instruments amerikanischer Machtprojektion für internationale Krisen- und Kriegsinterventionseinsätze in zukünftigen Konflikten geschaffen.

Im Verlaufe des Luftkrieges über Jugoslawien wurden sowohl die Kohäsion und Solidarität der Atlantischen Allianz, inklusive ihrer gerade erst beigetretenen Neumitglieder, als auch die militärische Effektivität und technologische Suprematie des mächtigsten Militärbündnisses der Welt eindrucksvoll demonstriert. Die von der NATO mittlerweile der Öffentlichkeit präsentierte Auswertung der Luftkriegsoperationen, in der Effizienz und Effektivität derselben wesentlich kritischer bewertet werden, steht nicht im Widerspruch zu vorstehender Einschätzung, denn würden die NATO und insbesondere die US-Militärs eine perfektionistische Darstellung des Kosovo-Krieges abliefern, entfielen wesentliche Legitimationsgründe für die exorbitanten Budgetförderungen zur Weiterentwicklung der ohnehin schon weit überlegenen Rüstungstechnologien und zum Ausbau der gigantischen Waffenarsenale.

Zugleich untermauert die siegreiche Beendigung des Krieges zu den von der NATO diktierten Konditionen die Führungsrolle und den absoluten Dominanzanspruch der USA im Bündnis selbst,12 da diese nahezu alle Schlüsselressourcen, angefangen von Mitteln strategischer Aufklärung über Luftbetankung, elektronische Kriegführung bis hin zu präzisionsgelenkter Munition, bereitgestellt hatten. Darüber hinaus wurde der Prozess der Zielaufklärung, Zielauswahl und Zielplanung für den Luftkrieg völlig von US-Akteuren kontrolliert.13

Den USA ist es mit Hilfe ihrer beispiellos überlegenen Rüstungstechnologie gelungen ein neues Paradigma der Kriegführung in der NATO zu etablieren: Mit Hilfe dieser in ihrer strategischen Relevanz kaum zu überschätzenden Hightech-Waffensysteme, auf welche die USA und ihre Rüstungsindustrie eine Quasi-Monopol besitzen, werden die Kriege der Zukunft aus der Distanz, mit überlegenen, weltraum- und luftgestützten Aufklärungsmitteln, modernster Informations- und Führungstechnologie sowie konkurrenzlos überlegenen Luftkriegsmitteln und unter Vermeidung eigener sowie Minimierung gegnerischer Verluste geführt werden.

Da die Verfügungsgewalt über derartige Waffensysteme nahezu ausschließlich bei den US-Streitkräften liegt, wird die Federführung hinsichtlich der Fortentwicklung der Strategie und operativen Konzeptionen der NATO auf absehbare Zeit bei den USA verbleiben.14 Bodengebundene Streitkräfte, in der Masse zukünftig gestellt von den europäischen Alliierten, werden unter Kommando des stets von einem US-General gestellten SACEUR erst nach der Kapitulation des Gegners zum Zwecke der Stabilisierung und Absicherung einer Waffenstillstandsvereinbarung oder Friedensregelung zum Einsatz kommen. Unter Berücksichtigung dieses Kontextes stellt die vorzeitige Ablösung des Heeresgenerals Wesley Clark vom Dienstposten des SACEUR und dessen Ersatz durch den Luftwaffengeneral Joseph W. Ralston keineswegs eine zufällige Entscheidung dar.

Aus Sicht der USA besteht ein nicht zu unterschätzender Effekt dieses Krieges selbstredend darin, dass von ihm vor allem die US-Rüstungsindustrie in ganz erheblichen Umfange profitiert. Während des Luftkriegs kamen überwiegend enorm teure Präzisionswaffen zum Einsatz, die nahezu ausschließlich aus US-amerikanischer Produktion stammten. So verschoss beispielsweise allein die deutsche Luftwaffe mit ihren ECR-Tornados 236 »AGM-88 HARM« Anti-Radar-Lenkflugkörper zum Stückpreis von circa 200.000 Dollar;15 die Wiederauffüllung des Arsenals wird der Firma Texas Instruments, dem Produzenten dieser Waffe in den USA, demnach von deutscher Seite knapp 95 Mio. DM einbringen.

Einen entscheidenden Faktor schließlich bzgl. der strategischen Konzeption ihrer Südosteuropa-Politik stellte für die US-Administration das Verhältnis der Vereinigten Staaten von Amerika zur aufstrebenden Europäischen Union dar. In den Jahren seit dem Ende des Kalten Krieges hat der europäische Integrationsprozess mit der Vollendung des europäischen Binnenmarktes sowie der Wirtschafts- und Währungsunion ungeheuer an Dynamik gewonnen. Der Prozess der Osterweiterung der EU ist in vollem Gange, nach dem Jahr 2000 werden Schritt für Schritt etwa ein Dutzend neuer Staaten beitreten, die Märkte primär für Europa und nicht für die USA darstellen werden. Während die Europäische Union schon jetzt den größten Binnenmarkt der Welt darstellt, besitzt der Euro das Potenzial, dem Dollar als Weltleitwährung Konkurrenz zu machen. Unter geoökonomischen Aspekten ist den USA in der Europäischen Union mittlerweile ein ernsthafter und, wie die Vergangenheit gezeigt hat, auch äußerst widerspenstiger Konkurrent erwachsen: „Undoubtedly the single most important move toward an antihegemonic coalition, however, antedates the end of the Cold War: the formation of the European Union and the creation of a common European currency. … Clearly the euro could pose an important challenge to the hegemony of the dollar in global finance.“16 Indessen denken die USAnicht im Traum daran, ihre Souveränität in der Währungspolitik irgendwelchen Einschränkungen zu unterwerfen. „Nach dem Ende des Kalten Krieges ist der Dollar ihre vielleicht wirkungsvollste Waffe. Ohne größere Not geben sie ein solches Schwert nicht aus der Hand.“17 Dabei befinden sich die USA allerdings in einem strukturellen Nachteil gegenüber der Europäischen Union: Wollen sie nämlich einen starken Außenwert des Dollars auf den Weltmärkten sicherstellen um dessen Vorherrschaft zu bewahren, müssen sie den Zinssatz höher halten als Europa, was indessen negative Effekte für die inneramerikanische Konjunktur sowie die Wettbewerbsfähigkeit der US-Wirtschaft auf den Weltmärkten zeitigt. Andererseits können die Europäischen Staaten einem schwachen Außenwert des Euro mit relativer Gelassenheit begegnen, da sie einerseits den Großteil ihres Handels auf dem gegenüber den USA erheblich größeren europäischen Binnenmarkt abwickeln und anderseits ein niedriger Eurokurs europäische Waren gegenüber Produkten aus dem Dollarraum attraktiver macht. Unter einer längerfristigen Perspektive dürfte demnach die Wirtschaftsmacht Europa zu einer ernsthaften Herausforderung für die Hegemonialansprüche der Supermacht USA werden.

Zudem treibt die Europäische Union seit geraumer Zeit unter dem Rubrum der »Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität« den Aufbau eigenständiger militärischer Kapazitäten und Optionen immer stärker voran.

Zuletzt haben die europäischen Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Gipfel in Köln Javier Solana zum Generalsekretär für ihre »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« bestimmt und beschlossen auf dem eingeschlagenen Weg zur Militärmacht Europa schneller voran zu schreiten, wobei die Forderung nach der Gründung einer europäischen Rüstungsagentur immer nachdrücklicher erhoben wird und gelegentlich auch schon Rufe nach einer gemeinsamen europäischen Armee verlauten.18

In einer solchen Situation geoökonomischer Konkurrenz, gepaart mit der potenziellen Ablösung des Exklusivitätsstatus' der NATO, bot und bietet sich für die US-Administration zwingend die Instrumentalisierung der diversen Konfliktlagen im südosteuropäischen Raum als hochgradig effektive Option an um den unliebsamen Konkurrenten, der unweigerlich ein vitales Interesse an der Sicherung der Stabilität und Prosperität seines »Hinterhofes« haben muss, langfristig in dieser Region zu binden und dergestalt sicherzustellen, dass nicht unerhebliche diplomatische, finanzielle, militärische etc. Ressourcen der Europäischen Union dort absorbiert werden, wo dies für die USA erstens kontrollierbar geschieht und zweitens ihren Interessen nicht direkt zuwiderläuft. Die europäische Interessenlage im Hinblick auf Südosteuropa ist unter anderem dadurch bestimmt, dass kurzfristig der Gefahr massiver Flüchtlingsströme vorgebeugt werden soll, wobei der strategische Vorteil, den sich die USA zunutze machen können, darin besteht, dass die Überquerung der Straße von Otranto für ein Flüchtlingsboot sehr viel einfacher ist als die des Atlantischen Ozeans. Auf längere Sicht gilt es, der europäischen Wirtschaft neue Märkte zu erschließen, die Region für die Integration in die Europäische Union vorzubereiten und nicht zuletzt den Migrationsdruck in die hochentwickelten Regionen Europas abzumildern.

Mit dem Interventionskrieg im Kosovo gelang es den USA in hervorragender Weise, die Europäische Union intensiv und auf lange Sicht in die Konfliktlagen auf dem Balkan zu verstricken, denn indem die USA die Kompetenz für die operationelle Durchführung dieses Krieges reklamierten, schoben sie zugleich Europa die Verantwortung für den Wiederaufbau und die zukünftige Entwicklung der Region zu: »The US has carried out most of the destruction, the EU will be footing the bill for reconstruction – a tremendous burden on the EU.«19 Im Vergleich zu den damit verbunden Kosten – EU-Kommissar Yves Thibault de Silguy bezifferte diese auf etwa 35 Mrd. DM, der UN-Beauftragte für den Kosovo, Bernard Kouchner, geht von mindestens 60 Mrd. Dollar aus, während sowohl die jugoslawische Regierung als auch eine Studie der Universität der Bundeswehr München von 100 Mrd. Dollar sprechen, die zur Beseitigung der Kriegsschäden notwendig sind,20 – stellen die seitens der USA in diesen Krieg investierten Aufwendungen – Schätzungen lauten auf 4 Mrd. Dollar21 – in der Tat »Peanuts« dar. Besonders deutlich wird der komparative Vorteil für die USA, vergleicht man die Kosten (in Dollar), die auf US-amerikanischer Seite für die Zerstörung von Zielen, beispielsweise der Donaubrücken von Novi Sad oder der Autofabrik von Kragujevac, mit lasergesteuerten Bomben oder Cruise Missiles aufgebracht wurden, mit denjenigen, die danach (in Euro) auf Seiten der Europäischen Union für den Wiederaufbau dieser in Schutt und Asche gelegten Einrichtungen anfallen. Bezeichnenderweise ist daher die kurzzeitig unter den NATO-Partnern aufgeflackerte Diskussion um die Kostenaufteilung für den Kriegseinsatz sehr schnell wieder verstummt. Für die Europäische Union resultiert aus dieser asymmetrischen Interessenkonstellation das Dilemma, dass ihr all jene Ressourcen, die sie zur Befriedung und Entwicklung der südosteuropäischen Konfliktregion investieren muss, natürlich auf anderen Gebieten insbesondere für die anstehende Osterweiterung und den Aufbau eigener militärischer Optionen fehlen. Damit ist aus Sicht der USA sichergestellt, dass Europa auf absehbare Zeit, was die Entwicklung der »Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität« betrifft, in der Abhängigkeit der USA gehalten und darüber hinaus die Entfaltung der Europäischen Union zur potenziellen Supermacht zumindest verzögert, wenn nicht sogar verhindert wird.

Eine aufschlussreiche Perspektive für diese Betrachtung liefert darüber hinaus die Einbeziehung der Russischen Föderation als einer weiteren Akteurin: Erstens nämlich verhindert die Bindung europäischer politischer und ökonomischer Ressourcen in Südosteuropa, dass diese anderenfalls eventuell Russland hätten zu Gute kommen können. Zweitens besitzt auch Russland traditionell nicht unerhebliche Interessen auf dem Balkan wie gerade im Verlaufe des Krieges gegen Jugoslawien deutlich wurde. Die Europäische Union und Russland werden demzufolge in einer aus US-amerikanischer Sicht durchaus vorteilhaften Konkurrenzsituation gehalten, wodurch die Option Russland zum strategischen Partner für Europa zu entwickeln mit hoher Wahrscheinlichkeit durchkreuzt wird. Zugleich bleibt damit eine potenzielle Ausbalancierung der Supermacht USA durch eine sich eventuell konstituierende europäisch-russische Partnerschaft, die den US-amerikanischen Hegemonialanspruch konterkarieren könnte, ausgeschlossen. Als Fazit vorstehender Analyse resultiert, dass der Interventionskrieg der NATO gegen Jugoslawien mitnichten jener aus rein humänitären Motiven geführte »Kreuzzug für die Menschenrechte« war, als der er der Weltöffentlichkeit verkauft wurde, sondern durchaus von harten realpolitischen Interessenkalkülen determiniert war. Letztere wurden allerdings von den beteiligten Akteuren systematisch hinter den Argumentationswolken universeller Moral verschleiert. Zum anderen zeigte sich zum wiederholten Male, dass es unter den Bedingungen medialer Omnipräsenz stets die »Schlacht der Lügen«22 ist, die einen Krieg entscheidend prägt.

Anmerkungen

1) Beck, Ulrich: Über den postnationalen Krieg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 8/1999, S. 987.

2) Schirrmacher, Frank (Hrsg.): Der westliche Kreuzzug. 41 Positionen zum Kosovo-Krieg, Stuttgart 1999. Ulrich Beck spricht in diesem Kontext von »demokratischen Kreuzzügen«; vgl. ders.: Über den postnationalen Krieg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 8/1999, S. 987.

3) Der Begriff stellt eine Contradictio in adiecto – man könnte auch sagen: groben Unfug – dar und illustriert vor allem eines: Die intellektuelle Impotenz desjenigen, der ihn benutzt. Eine Katastrophe mag schrecklich, riesig, grauenhaft oder was auch immer sein, eines ist sie auf gar keinen Fall: humanitär.

4) Vgl. hierfür pars pro toto Enzensberger, Hans Magnus: Ein seltsamer Krieg. Zehn Auffälligkeiten, in: Schirrmacher, Frank (Hrsg.): Der westliche Kreuzzug. 41 Positionen zum Kosovo-Krieg, Stuttgart 1999, S. 28.

5) Vgl. Schmidt-Eenbom, Erich: Kosovo-Krieg und Interesse. Einseitige Anmerkungen zur Geopolitik, in: Bittermann, Klaus/Deichmann, Thomas (Hrsg.): Wie Dr. Joseph Fischer lernte, die Bombe zu lieben, Berlin 1999, S. 98f.

6) Vgl. Meier-Walser, Reinhard C./Lange, Klaus: Die Osterweiterung der NATO. Die Positionen der USA und Russlands, Aktuelle Analysen 3, München 1996, S. 12; Livingston, Robert Gerald: Die Ostküste bestimmt die Außenpolitik, in: Die Zeit, Nr. 6/1996, S. 10 sowie die Ausführungen Egon Bahrs in einem ZEIT-Interview unter dem Titel »Es wäre ein riesiger Fehler«, in: Die Zeit, Nr. 19/1997, S. 4.

7) Vgl. hierzu NATO Office of Information and Press (ed.): Das strategische Konzept des Bündnisses, in: NATO Brief, Nr. 2, Sommer 1999, S. D 7-D 13 sowie ders.: Initiative zur Verteidigungsfähigkeit, in: NATO Brief, Nr. 2, Sommer 1999, S. D 16.

8) Vgl. hierzu unter anderem die äußerst detaillierte Beschreibung des Prozesses der Zielauswahl und Einsatzplanung im Verlaufe des Luftkrieges im Beitrag von Ignatieff, Michael: Der gefesselte Kriegsherr, in: Die Zeit, Nr. 33, 12. August 1999, S. 11-13.Sehr aufschlussreich im Hinblick auf die Perzeption und Interpretation des Interventionskrieges der NATO außerhalb der westlichen Hemisphäre ist der Beitrag des Japaners Tan Minoguchi: Die Handschrift des großen Bruders. Warum Asien den Kosovo-Krieg ganz anders interpretiert, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 112, 18. Mai 1999, S. 17. Minoguchi merkt an dieser Stelle an, dass in Asien der Krieg als ein amerikanischer wahrgenommen wird nicht weil die US-Soldaten die erste Geige spielen, sondern wegen des moralisierenden Weltbildes, das ihm zugrunde liegt.

9) Vgl. Schmidt-Eenbom, Erich: Kosovo-Krieg und Interesse. Einseitige Anmerkungen zur Geopolitik, in: Bittermann / Deichmann (1999: 99).

10) Chomsky, Noam: Krieg auf dem Balkan. Die USA und das Völkerrecht, in: Bittermann / Deichmann (1999: 119)

11) a.o.O.

12) Relativiert wird dieser Anspruch der USA bis zu einem gewissen Grade dadurch, dass für das letztendliche Einlenken des jugoslawischen Präsidenten vor allem die Erkenntnis ausschlaggebend war, dass Russland nicht bereit war, sich zugunsten der serbischen Position in eine offene Konfrontation mit dem Westen zu begeben.

13) Vgl. hierzu Ignatieff, Michael: Der gefesselte Kriegsherr, in: Die Zeit, Nr. 33, 12. August 1999, S. 11-13.

14) Exemplarisch lässt sich dies am Einsatz der Stealth-Bomber B-2 Spirit verdeutlichen, die direkt von ihrer Einsatzbasis Whiteman AFB in Missouri, USA aus ihre Ziele in Jugoslawien angriffen, ohne dass die NATO auch nur im geringsten Einfluss auf diese Einsätze besaß. Die Einsätze der Bomber wurden ausschließlich von US-Stäben geplant und geleitet. Für die Operationen der Bomber wurden bestimmte Bereiche des Luftraums komplett gesperrt, kein nicht-amerikanisches Flugzeug durfte sich ihnen nähern; vgl. hierzu Marquard, Rudolf: Geheimnisse um den US-Bomber B-2, in: Loyal, Nr. 6/1999, S. 10. Zu den Charakteristika des Bombers selbst vgl. das einschlägige US Air Force Fact Sheet (im Internet unter http://www.af.mil/news/factsheets/B_2_Spirit.html).

15) Vgl. Panavia Aircraft GmbH (ed..): Tornado Report, no. 16, October 1999, p. 5.

16) Huntington, Samuel P.: The Lonely Superpower, in: Foreign Affairs, vol. 78, no. 2, 1999, p. 45.

17) Schumacher, Oliver: Währungen als Waffe, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 221, 24. September 1999, S. 4.

18) Vgl. beispielsweise Weimer, Wolfram.: Schafft die Bundeswehr ab!, in: Die Welt, 21. Juli 1999, S. 3.

19) Oberg, Jan: The Horrendous Price of G8 Peace, PressInfo 69, 9 June 1999 (im Internet unter http://www.oneworld. org/news/reports99/pressinfo69.htm).

20) Vgl. Denkler, Thorsten: Der Wiederaufbau ist teurer als der Krieg (im Internet unter http://www.dfg-vk.de/ international/kosov192.htm) sowie Kosova-Info-Line vom 03. Juni 1999, 23:05 Uhr (im Internet unter http://www. kosova-info-line.de/kil/neueste_nachrichten-4772.html).

21) Vgl. eine Meldung der Kosova-Info-Line vom 27. Juni 1999, 22:24 Uhr (im Internet unter http://www.kosova-info-line.de/kil/neueste_nachrichten-5447.html).

22) Vgl. den gleichlautenden Titel des Buches von MacArthur, John R.: Die Schlacht der Lügen, München 1993 (Titel der englischen Originalausgabe: Second Front. Censorship and Propaganda in the Gulf War, New York 1992).

Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er war vorher langjährig als Wissenschaftlicher Mitarbeiter mehrerer Institute in Forschung und Lehre tätig und wurde nach mehreren kritischen Veröffentlichungen mittlerweile einer neuen Verwendung am Luftwaffenamt zugeführt. Er vertritt selbstverständlich in diesem Beitrag seine persönlichen Auffassungen.