Die Eskalationsspirale durchbrechen

Die Eskalationsspirale durchbrechen

Impulse für eine neue Friedensordnung

von Martina Fischer

Mit der Forderung nach Intensivierung der Diplomatie durchzudringen ist angesichts der dramatischen Bilder und des Kriegsverlaufs in der Ukraine nicht leicht – dennoch bleibt letztlich keine andere Wahl. Es geht darum, Menschenleben zu retten, die Ukraine als souveränen Staat zu erhalten und eine Ausweitung des Kriegs zu verhindern. Doch wie können die mit dem Krieg verbundenen Konflikte transformiert werden, und welche historischen Entwicklungen gilt es dabei zu berücksichtigen? Kann angesichts erneuter Blockkonfrontation in Europa überhaupt noch eine neue Sicherheits- und Friedensordnung entstehen? Welche Rolle können die EU und ihre Mitgliedstaaten dabei spielen?

Der Angriffskrieg der russischen Regierung auf die Ukraine stellt einen massiven Völkerrechtsbruch und Zerstörungsakt gegen die multilaterale Ordnung dar, und er verhöhnt das humanitäre Völkerrecht, das zum größtmöglichen Schutz der Zivilbevölkerung verpflichtet. Die Gräueltaten, die diese Kämpfe begleiten, sollten von unabhängigen Gerichten untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Entscheidungen von internationalen Organisationen und Einzelstaaten für Sanktionen in den Bereichen Finanzen, Technologietransfer und – soweit möglich – auch im Bereich der Energie sind als weltweites Signal und aus Gründen der Solidarität mit der Ukraine unbedingt erforderlich. Allerdings werden sie vermutlich erst längerfristig Wirkung entfalten.

Auch wenn die Bilder von Tod, Leid und Zerstörung in der Ukraine es sehr schwer machen, so müssen alle diplomatischen Kanäle genutzt werden. Es geht darum Menschenleben zu retten, die Ukraine als souveränen Staat zu erhalten und eine Ausweitung des Kriegs zu verhindern. Dafür muss auch der alles überwölbende Konflikt zwischen der NATO und Russland deeskaliert werden, denn letztlich will der Kreml mit diesem Krieg gegenüber der NATO seine Macht demonstrieren und die »westliche Vorherrschaft« brechen. Die Hoffnung auf eine neue Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa sollte man nicht aufgeben, auch wenn sie sich wohl allenfalls langfristig realisieren lassen wird. Eine Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, die Vergangenheit kritisch zu reflektieren und nach neuen Wegen für Rüstungskontrolle zu suchen.

Gefährliche Dynamik einhegen

Eine Politik der Stärke, wie sie durch internationale Institutionen, die EU-Mitgliedsländer und weitere Staaten mithilfe von Sanktionen beschlossen wurde, ist wichtig, um auf die russische Regierung Druck auszuüben. Die EU hat sich in unerwartet rascher Einmütigkeit zu mehreren Sanktionspaketen entschlossen. Allerdings weisen erfahrene Friedensforscher wie Tobias Debiel und Herbert Wulf (2022) auf die Ambivalenz und auch auf das eskalierende Potenzial von Sanktionen hin: Sie müssten Russland hart treffen, aber nicht vernichten. Tatsächlich muss man bei der Festlegung von Sanktionen die Wirkung für alle Seiten sorgfältig kalkulieren. Diese Herausforderung und die Betrachtung friedenspolitischer Minimalvoraussetzungen für Sanktionen (vgl. Werthes und Hussak 2022) sind wesentlich für den Erfolg von Sanktionsregimen. Die Einmütigkeit der Staaten der EU aus den ersten Kriegstagen ist allerdings mittlerweile einem eher gemischten Bild gewichen.

Weniger schwer taten sich die Mitgliedstaaten dagegen beim Thema Waffenlieferungen: Über die 2021 geschaffene und von vielen NGOs nicht nur wegen des irreführenden Namens kritisierte sogenannte »Europäische Friedensfazilität« (vgl. Fischer 2021), mit der neuerdings auch Waffen und Munition aus europäischer Produktion im Rahmen von Militärhilfe an Drittstaaten übergeben werden dürfen, wurden in den vergangenen Monaten große Mengen von Kriegsmaterial in die Ukraine geliefert.

Das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine steht angesichts eines Angriffskriegs außer Frage. Aber auch bei der militärischen Unterstützung sei Vorsicht geboten, so argumentieren die Friedensforscher Debiel und Wulf: Wenn sie über die Lieferung von Defensivwaffen hinausgehe, sei das „ein Spiel mit dem Feuer“ und ein Schritt auf die nächste Stufe der Eskalationsleiter. „Dies gilt insbesondere für die zeitweise diskutierte Entsendung polnischer MIG 29-Kampfflugzeuge. Allein deren logistische Verbringung in die Ukraine würde gefährlich die Schwelle zu einer unmittelbaren NATO-Kriegsbeteiligung streifen“ (Ebd. 2022). Die Eskalation in einen dritten Weltkrieg aber gilt es unbedingt zu verhindern.

Um sie zu verhindern, braucht es intensive diplomatische Bemühungen auf unterschiedlichen Ebenen. Aktuell müssten alle beteiligten Parteien mehr miteinander reden denn je, denn Fehlleistungen, die schon in Friedenszeiten zum militärischen Alltag gehören (z.B. Luftraumverletzungen), können in einer hocheskalierten Situation zum Desaster führen. Der Konfliktforscher Friedrich Glasl (2022a) hat überzeugend illustriert, wohin es führt, wenn nicht mehr gesprochen wird und sich die Energie nur mehr auf die Vernichtung des gegnerischen Systems richtet: gemeinsam in den Abgrund. Um im Gespräch zu bleiben, so Glasl, sind Dämonisierung und Polemik der falsche Weg.

Hin zum Waffenstillstand?

Die amerikanischen Politikwissenschaftler Thomas Graham (Council on Foreign Relations, New York) und Rajan Menon (City University of New York) haben in einem Aufsatz in »Foreign Affairs« (2022) bedenkenswerte Vorschläge unterbreitet. Sie gehen davon aus, dass sich der Krieg Jahre oder Jahrzehnte hinziehen und enorme Opfer und ökonomische Schäden mit sich bringen wird, womit sich die Gefahr erhöht, dass er sich ausweitet und dass die NATO-Staaten hineingezogen werden. Mit den Bildern weiterer Gräueltaten verstärke sich das Risiko, dass mit Maßnahmen reagiert werde, die weitere Eskalationsgefahren mit sich bringen – mittlerweile haben die bekannten Massaker in der Ukraine genau dies geschaffen: sich schließende Fenster für Gesprächsbereitschaft und weitere Eskalation.

Graham und Menon fordern, das Leiden durch diplomatisches Engagement und eine politische Übereinkunft zu beenden. Ein Waffenstillstand würde eine humanitäre Versorgung von Verwundeten und Geflüchteten innerhalb und jenseits der Ukraine ermöglichen und die Voraussetzungen für die Anbahnung von Verhandlungen verbessern. Die Ukraine und ihre Unterstützer*innen müssten überlegen, welche Kompromisse sie mittragen könnten. Aus ukrainischer Sicht wären Sicherheitsgarantien westlicher Länder für eine Neutralitätslösung zwingend, und diese müssten von Russland akzeptiert werden, das sich auch an den Kosten für den Wiederaufbau beteiligen müsste. Die westlichen Staaten wiederum müssten klären, unter welchen Bedingungen sie die Sanktionen gegenüber Russland wieder lockern könnten, um einen Anreiz für Kooperation zu schaffen.

Es sei das Recht der Ukraine, die Bedingungen für einen Waffenstillstand zu definieren, so Graham und Menon. Aber Verhandlungen könnten sich nicht auf die Ukraine und Russland beschränken, denn neben der geopolitischen Orientierung der Ukraine müsse man auch Moskaus Bedenken bezüglich der europäischen Sicherheitsarchitektur adressieren. Dazu werde der Kreml mit den Vereinigten Staaten verhandeln wollen, die als einziges Land – neben Russland – über das militärische Potenzial verfügen, die Machtbalance auf dem Kontinent zu beeinflussen. Die USA müssten folglich als Garant für ein Friedensabkommen fungieren. Die NATO-Osterweiterung stehe im Zentrum einer solchen Debatte. Bislang, so Graham und Menon, hätten die USA und ihre Alliierten jegliche Diskussion dazu kategorisch abgelehnt. Da der Kreml seinen Widerstand gegen den Beitritt der Ukraine nicht fallen lassen werde, müsse man ausloten, ob er die militärische Kooperation einer neutralen Ukraine mit westlichen Ländern akzeptieren würde, die eine Selbstverteidigung ermögliche, wenn ausgeschlossen wird, dass NATO-Kampftruppen, -Waffen oder -Stützpunkte in die Ukraine verlagert werden. Im Gegenzug müsste Russland auf die Stationierung militärischer Arsenale im Grenzgebiet verzichten.

Alle diplomatischen Foren und Kanäle nutzen

Die ukrainische Regierung hat im März die Möglichkeit einer Neutralität mit Sicherheitsgarantien und einen Sonderstatus der Gebiete in der Ostukraine als mögliches Verhandlungsthema in den Raum gestellt. Der russische Präsident deutete an, der Krieg könne enden, wenn die Ukraine auf den Donbass, die Krim und einen NATO-Beitritt verzichte. Allerdings wurden diese Optionen offenbar bislang nicht ernsthaft verhandelt. Ob der Kreml derzeit überhaupt an Verhandlungen interessiert ist, ist schwer zu beurteilen. Aktuell scheint er Feuerpausen eher für die Umgruppierung von Truppen zu nutzen. Das könnte sich aber ändern, wenn irgendwann die Kosten und Verluste auf der eigenen Seite und der Preis weiterer Kriegsführung (z.B. die Folgen von Sanktionen) als zu hoch eingeschätzt werden.

Für diesen Moment sollten alle direkt und indirekt beteiligten Konfliktparteien vorbereitet und daher für diplomatische Optionen offenbleiben. Dann könnte eine Vermittlung durch dritte Parteien ins Spiel kommen, die mit den Beteiligten nach einem gesichtswahrenden Ausstieg suchen. So könnte etwa ein Team von mediationserfahrenen Diplomat*innen unter Leitung einer*s UN-Sonderbeauftragten mit Russland, der Ukraine und der NATO nach Kompromissen suchen. Vermittler*innen sollten aus Staaten kommen, die nicht direkt in den Konflikt eingebunden und für alle Seiten akzeptabel sind. Irland, in Gestalt seiner ehemaligen Präsidentin und UN-Menschenrechtsbeauftragten Mary Robinson könnte dafür beispielsweise in Frage kommen, zusammen mit der OSZE-Generalsekretärin Helga Schmid, einer erfahrenen Diplomatin, die das Atomabkommen mit dem Iran maßgeblich mitverhandelt hat. Die Potenziale der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sollten dafür unbedingt genutzt werden. Ihre diplomatischen und sicherheitspolitischen Instrumente, wie Dialog- und Mediationsformate sowie Beobachtungsmaßnahmen, kamen im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine bereits zum Einsatz, wurden jedoch nie ausreichend unterstützt. Um das zu verstehen, ist ein historischer Rückblick nützlich.

Verpasste Chancen 1990-2022

Für den Historiker Bernd Greiner (2022) wurden nach der Auflösung der Sowjetunion viele Chancen verpasst, Frieden und Sicherheit in Europa zu stärken. Die 1990er-Jahre bezeichnet er gar als ein „sicherheitspolitisch vergeudetes Jahrzehnt“ (Ebd.). Statt auf die OSZE zu setzen und eine Sicherheitsarchitektur gemeinsam mit Russland zu entwerfen, setzten einflussreiche Berater*innen und Regierungen insbesondere in den USA auf die Erweiterung des westlichen Militärbündnisses – ohne Not und in einer Zeit, in der Russland keinerlei Bedrohung für die NATO darstellte. Der UN-Experte Andreas Zumach (2022) sprach in diesem Zusammenhang von der „Hybris“ der westlichen Mächte. Eine Reihe von erfahrenen Diplomat*innen und Politiker*innen hatten vor solchen Schritten gewarnt. Sie befürchteten, dass diese Expansionspolitik all jenen Auftrieb geben könnte, die die Auflösung des sowjetischen Großreichs schwer verwinden konnten und sich weiterhin an imperialen, großrussischen Ideen orientierten, so Zumach. Mit der Besorgnis lagen sie offenbar nicht ganz falsch. Nicht nur im Kreml, sondern auch in nicht unerheblichen Teilen der russischen Gesellschaft stieß die NATO-Osterweiterung auf Ablehnung.

Fehler Nr. 1: Militärische Bündnispolitik statt »kooperativer Sicherheit«

Zwar wurde in der NATO-Russland-Grundakte die Integration der osteuropäischen Staaten in den 1990er Jahren noch gemeinsam verhandelt. Gleichwohl berief sich die russische Regierung in den vergangenen Jahren zunehmend auf eine Ankündigung der Regierung Kohl/Genscher und von US-Außenminister James Baker von 1990, auf eine NATO-Osterweiterung zu verzichten. Als die Ukraine und Georgien neben der EU-Mitgliedschaft auch die Aufnahme in die NATO begehrten, reagierten die deutsche und die französische Regierung daher entsprechend zurückhaltend. Jedoch signalisierte die NATO auf dem Gipfel in Bukarest 2008 auf Drängen der USA, dass die Tür für eine Mitgliedschaft beiden Ländern offenstehe, wobei der Zeitrahmen offengelassen wurde. Eine »Warnrede«, die Putin 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz zu diesem Thema gehalten hatte, wurde ignoriert. Die in Bukarest gefundene Formel wertete der Kreml als „NATO-Mitgliedschaftsperspektive und eine nicht hinnehmbare Bedrohung der von Russland traditionell geforderten Einflusssphäre“, so berichtete der vormalige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger (2021). Bei einer Pressekonferenz am 14.2.2022 bezeichnete er diesen Schritt als gravierende Fehlentscheidung des Bündnisses (Ischinger 2022).

2014 bekräftigte der NATO-Generalsekretär erneut die Offenheit für den ukrainischen Beitritt. Putin reagierte mit einer Destabilisierung der beitrittswilligen Länder, indem er die Konflikte in Georgien eskalierte, pro-russische Separatisten im Donbass unterstützte und schließlich die Krim annektierte. Im selben Jahr verlieh die US-amerikanische Regierung der Ukraine den Status eines »major-non-­NATO-ally«, was umfangreiche militärische und wirtschaftliche Unterstützung ermöglichte, und stattete sie fortan umfassend mit Waffen aus. Am 1.9. und 20.11.2021 vereinbarten die US-amerikanische und die ukrainische Regierung schließlich eine »strategische Partnerschaft« beider Länder, mit der die USA zusicherten, die vollständige Integration der Ukraine in die europäischen und euro-atlantischen Institutionen zu unterstützen, sowie die Souveränität und territoriale Integrität des Landes zu sichern (US Department of State 2021).

Auch auf wirtschaftlicher Ebene gab es massive Zerwürfnisse: Während Russland in den 2010er-Jahren in Europa eine Eurasische Wirtschaftsunion unter Einschluss der Ukraine anstrebte, betonten westliche Regierungen die Selbstbestimmung des Landes und seine Einbindung in den Westen. Das Assoziierungsabkommen, das die EU 2014 mit der Ukraine, Moldau und Georgien unterzeichnete, war Teil des Wettlaufs konkurrierender und einander ausschließender Integrationskonzepte. Insofern ist die EU aus der Sicht des Kreml Teil des Problems und nicht der Lösung – sie konnte daher auch nicht wirklich eine Mediationsfunktion in der aktuellen Situation übernehmen. In der gegenwärtigen Situation scheint das auch nicht gewünscht zu sein.

Zur Verschlechterung der Beziehungen trugen weitere Faktoren bei, etwa Völkerrechtsverletzungen der NATO-Mitgliedstaaten im Krieg um Kosovo, im Irak-Krieg und durch Überschreitung des UN-Mandats in Libyen (siehe Zumach in W&F 2/2022).

Fehler Nr. 2: Erosion der Rüstungskontrolle

Dazu kamen die Auflösung aller vertrauensbildenden Foren und der Abbruch von Rüstungskontrollvereinbarungen, die in der Endphase des Kalten Kriegs errungen worden waren, auf Initiative von US-Regierungen. Wolfgang Richter (2016) verweist in einem Hintergrundaufsatz auf den hoffnungsvollen Start, der 1990 mit der Charta von Paris und 1992 mit der Unterzeichnung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) mit acht Nachfolgestaaten der Sowjetunion einschließlich Russlands gegeben war. Dieser sah ein militärisches Blockgleichgewicht auf niedrigem Niveau und geographische Stationierungsbegrenzungen vor.

Mit der Entscheidung über den Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns zur NATO im Jahr 1997, mit dem der Kreml die Pariser Vereinbarung gefährdet sah, verband man immerhin noch das Versprechen, keine substanziellen Kampfgruppen dauerhaft in den Beitrittsländern zu stationieren, die OSZE zu stärken und die Sicherheitskooperation mit Russland auf der Grundlage der NATO-Russland-Grundakte zu intensivieren. Weiterhin galt das in der Europäischen Sicherheitscharta verankerte Prinzip der freien Bündniswahl, jedoch verknüpft mit der Klausel, dass kein Staat oder Bündnis die eigene Sicherheit zu Lasten von Partnern stärken oder privilegierte Einflusssphären schaffen dürfe. So sollte – auf der Basis der KSE-Grundakte – ein „zentraleuropäischer Stabilitätsraum von Deutschland bis zur Ukraine mit besonderen Rüstungskontrollverpflichtungen geschaffen und der Abzug russischer Stationierungstruppen aus Georgien und Moldau mithilfe der OSZE und durch bilaterale Vereinbarungen geregelt werden. Dass diese politische Meisterleistung in den Folgejahren nicht umgesetzt wurde, ist die tiefere Ursache der gegenwärtigen europäischen Sicherheitskrise“, so Wolfgang Richter schon vor einigen Jahren.

Der Grund dafür lag im Kurswechsel, den die USA unter der Bush-Administration vollzogen. Vorschläge aus dem Kreml, die OSZE durch eine verbindliche Charta zu stärken oder einen neuen Sicherheitsvertrag zu schließen, wiesen die USA mit Unterstützung von Verbündeten zurück. Man forcierte stattdessen die Erweiterung der NATO um das Baltikum, Rumänien und Bulgarien bis ans Schwarze Meer. Die USA stationierten Kampfgruppen im südöstlichen Flankengebiet und strategische Raketenstellungen in Polen und Tschechien. 2001 kündigte Präsident George W. Bush den ABM-Vertrag zum Verbot antiballistischer Raketenabwehr. Danach kündigte die US-Regierung den Aufbau einer strategischen Raketenabwehr in Europa an, und schließlich suspendierte sie auch noch die Ratifizierung der Anpassungsvereinbarung des KSE-Vertrags. Vor diesem Hintergrund bildeten die Pläne zu weiterer Bündnisausdehnung aus Sicht des Kreml eine Provokation, meint Wolfgang Richter in seinem Aufsatz. Auch unter Präsident Obama habe die Rüstungskontrolle keinen Neuanfang erlebt. Die NATO-Strategie von Lissabon habe 2010 unverändert die Bündniserweiterung als bestes Mittel für die Stabilität Europas beschrieben, ohne die OSZE auch nur zu erwähnen. Auch der NATO-Russland-Rat habe versagt, denn „anders als vereinbart, trat die Allianz in wichtigen europäischen Sicherheitsfragen wie der Rüstungskontrolle und der Raketenabwehr mit geschlossenen Blockpositionen gegen Russland auf. In der Krise suspendierte die NATO den Dialog, statt ihn zu suchen“ (Ebd.).

»Kooperative Sicherheit« wird weiterhin benötigt

Die genannten Versäumnisse und Fehlentscheidungen rechtfertigen keinesfalls die Reaktionen der russischen Regierung, weder die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, noch die Förderung des Kriegs in der Ostukraine, der schon von 2014 bis Ende 2021 mehr als 14.000 Todesopfer forderte (Swissinfo 2022). Sie rechtfertigen schon gar nicht einen Angriffskrieg, wie ihn die Ukraine nun erleiden muss. Für diese militärische Eskalation, für die toten und versehrten Menschen und Seelen trägt ausschließlich der Kreml Verantwortung. Aber die Erosion der Rüstungskontrolle und dass Russland wiederholt von westlicher Seite in wichtigen Entscheidungen und Verhandlungsforen an den Rand gedrängt wurde, sind wichtige Wegmarken in der Geschichte eines Konflikts, der sich seit vielen Jahren entwickelt und immer weiter zugespitzt hat (vgl. Fischer 2022). Das Verhalten der NATO-Mitgliedstaaten hat zur Verschlechterung der Beziehungen beigetragen und den großrussischen Kräften, die jetzt den Kurs bestimmen, entscheidende Argumente für die Legitimation der Aggression geliefert.

Wer den Krieg und Putins Rhetorik nun für umfassende Schuldzuweisungen an die Architekt*innen der Entspannungspolitik des 20. Jahrhunderts nutzt, macht es sich zu einfach. Das Konzept der »kooperativen Sicherheit«, die Verständigung zwischen den Staaten der NATO und des Warschauer Vertrags und die schon erwähnten Rüstungskontrollvereinbarungen haben entscheidend zur Auflösung der Blockkonfrontation beigetragen und ermöglicht, dass in Europa mehr Menschen als je zuvor in relativer Sicherheit und demokratischen Verhältnissen leben konnten. Man hätte diese Ansätze nicht leichtfertig über Bord werfen und auf die Dominanz der militärischen Logik setzen dürfen (vgl. auch Greiner 2022).

Man sollte die Hoffnung auf eine langfristige europäische Sicherheits- und Friedensarchitektur nicht einfach aufgeben. Wenngleich eine mehrjährige Konferenz, die sich um die Schaffung einer neuen Sicherheitsordnung in Europa bemüht, wie sie noch 2021 von ehemaligen Bundeswehroffizieren, Diplomaten und Friedensforscher*innen gefordert wurde (Varwick et al 2021), kurzfristig nicht umsetzbar erscheint, ist sie nicht völlig obsolet. Eine Neuauflage des »Helsinki-Prozesses« wäre wichtig, meint auch Herbert Wulf (2022): ein politisches Projekt, in dem atomare Abschreckung eingehegt wird, mit dem Ziel, wieder zu einer vorhersagbaren Politik zurückzukehren und den Weg für Rüstungskontrollverhandlungen über grenznahe Waffensysteme zu ebnen. Voraussetzung dafür sei die Respektierung völkerrechtlicher Prinzipien, die in den vergangenen Jahren nicht nur von Russland, sondern auch von westlichen Akteuren verletzt wurden.

Was es braucht

Wir brauchen eine europäische Sicherheitsarchitektur, die von allen Seiten mitgetragen wird, die garantiert, dass Grenzen geachtet werden und dass sich Sicherheit nicht nur an militärischer Logik, sondern an den Bedürfnissen der Menschen – also am UN-Konzept der »menschlichen Sicherheit« orientiert. Auch die EU kann dazu beitragen, indem sie die UNO und OSZE als Systeme kollektiver und kooperativer Sicherheit in Zukunft noch viel umfassender als bisher unterstützt, anstatt sich auf den Ausbau eigener Militärpotenziale und die Stärkung der NATO zu konzentrieren. Eine solche Struktur sollte weder von Russland diktiert, noch von den Vereinigten Staaten dominiert werden, sondern eine neue, europäische Ausrichtung haben. Die Grundlage dafür bietet die OSZE, nicht der Ausbau von Militärbündnissen, die sich waffenstarrend gegenüberstehen. Dialogforen, die Vertrauensbildung und Rüstungsbegrenzung ermöglichen, müssen wiederbelebt und reformiert werden. Gleichzeitig ist zu hoffen, dass sich im Kreml irgendwann wieder Berater*innen Gehör verschaffen, die die Vorteile kooperativer Sicherheitsstrukturen zu schätzen wissen.

Man sollte alles daransetzen, die in der OSZE existierenden Instrumente für Rüstungskontrolle weiterzuentwickeln. Ziel ist eine überprüfbare Konvention über das Verbot unkonventioneller und irregulärer Kriege (Verzicht auf die Unterstützung von bewaffneten Akteuren in Drittstaaten durch Waffen, mediale Einflussnahme und Cyberattacken – bislang ist all das sowohl in der russischen als auch in der US-amerikanischen Militärdoktrin verankert). Zudem sollte man die USA und Russland dafür gewinnen, dem kürzlich (von der Trump-Regierung) gekündigten Open-Skies-Abkommen, das vertrauensbildende Maßnahmen im Luftraum vorsieht, wieder beizutreten. Das Überleben der Menschheit wird maßgeblich davon abhängen wird, ob es gelingt, mit den damaligen Partnern der KSE-, SALT-, START-Abkommen, aber auch mit China, Indien, Iran und Israel eine globale Sicherheits- und Friedensarchitektur auszuhandeln (vgl. Glasl 2022b).

Auch auf globaler Ebene müssen Kommunikationskanäle und Abkommen etabliert werden, die einen »Weltkrieg aus Versehen« und ein völlig entgrenztes Wettrüsten verhindern, das in einer multipolaren Welt noch viel gefährlichere Formen annimmt, als im Kalten Krieg. Schon jetzt übertreffen die Arsenale der NATO-Mitgliedstaaten die Potenziale Russlands übrigens um das Vier- bis Fünffache. Das sollte für effektive Landes-und Bündnisverteidigung reichen. Weitere Hochrüstung würde nicht mehr Sicherheit schaffen, sondern die Mittel vernichten, die für die Bewältigung der großen Krisen, die die Menschheit herausfordern – Pandemien, die Klimakrise und das Artensterben – dringend benötigt werden.

Der Text von Martina Fischer wurde in veränderter Form am 26.4.2022 von der Bundeszentrale für politische Bildung online veröffentlicht: „Die Hoffnung auf eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur nicht aufgeben“, in: Deutschland Archiv (bpb.de/507623).

Literatur

Debiel, T.; Wulf, H. (2022): Eskalation und Deeskalation im Ukraine-Krieg. INEF Development and Peace Blog, 14.3.2022.

Fischer, M. (2021): Zivile Potentiale der EU ausbauen. Krisenprävention und Friedensförderung stärken. In: W&F 1/2021, S. 10-13.

Fischer, M. (2022): Warum es in der Ukraine-Krise Kooperation braucht. Blogbeitrag, Brot für die Welt, 07.02.2022.

Glasl, F. (2022a): Konfliktdynamik und Friedenschancen in der Ukraine. Online-Vortrag, 24.03.2022. Aufzeichnung des Vortrags steht online zur Verfügung.

Glasl, F. (2022b): Aufruf an verantwortungsbewusste Menschen in Politik und Zivilgesellschaft zum Beenden des Ukraine-Kriegs. Trigon Entwicklungsberatung, 28.03.2022.

Graham, Th.; Menon, R. (2022): How to make peace with Putin. The west must move quickly to end the war in Ukraine. Foreign Affairs, 21.03.2022.

Greiner, B. (2022): Was lief schief seit dem Ende des Kalten Krieges? Deutschland Archiv Blog, bpb, 01.04.2022.

Ischinger, W. (2021): Was jetzt zu tun ist. Süddeutsche Zeitung, 30.12.2021.

Ischinger, W. (2022): Präsentation des Munich Security Report 2021 auf der Bundespressekonferenz, 14.02.2022.

Richter, W. (2016): Meinung: Der Westen trägt eine Mitverantwortung für die Ukraine-Krise. Thema Kriege und Konflikte, bpb Homepage, 05.09.2016.

Swissinfo (2022): Dauerkonflikt in der Ostukraine: UN erhöht Opferzahl deutlich, 12.01.2022.

US Department of State (2021): U.S.-Ukraine charter on strategic partnership. Presseerklärung, 10.11.2021.

Varwick, J.; u.v.a. (2021): Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland. Stellungnahme, 05.12.2021.

Werthes, S.; Hussak, M. (2022): Das Sanktionsregime gegen Russland. Friedenspolitische Reflexionen angesichts des Krieges gegen die Ukraine. In W&F 2/2022, S. 18-21.

Wulf, H. (2022): Escalation, de-escalation and perhaps – eventually – an end to the war? Toda Policy Brief 128, Toda Peace Institute, April 2022.

Zumach, A. (2022): Putins Krieg, Russlands Krise. Le Monde Diplomatique – Deutsche Edition, 10.03.2022.

Zumach, A. (2022): Selektivität und doppelte Standards. Die UNO vor dem Rückfall in die Blockaden des Kalten Krieges. In: W&F 2/2022, S. 21-23.

Martina Fischer ist Politikwissenschaftlerin und war knapp 20 Jahre bei der Berg­hof Foundation in Berlin tätig. Seit 2016 arbeitet sie bei »Brot für die Welt« als Referentin für Frieden und Konfliktbearbeitung.

China und der Westen: Neuer Kalter Krieg?


China und der Westen:
Neuer Kalter Krieg?

von Marius Pletsch und Jürgen Scheffran

Vor genau 20 Jahren hatte sich Wissenschaft und Frieden zuletzt schwerpunktmäßig mit der Volksrepublik China beschäftigt. Der Titel des Beitrages von Jörn Brömmelhörster passt auch heute noch: „Partnerschaft oder Konfrontation“ (vgl. 4/2001). Es lohnt, sich die damalige Situation vor Augen zu führen, in der kritische Ereignisse ohne größere Eskalation bewältigt werden konnten. Hierzu gehört die US-Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad 1999 während des Kosovo-Krieges oder die Kollision eines amerikanischen Spionageflugzeugs mit einem chinesischen Abfangjäger 2001, wobei die US-Maschine in China notlanden musste und der chinesische Pilot nie gefunden wurde. Würden solche Situationen auch heute noch ohne militärische Eskalation enden?

Im Rahmen ihres Modernisierungsprojekts ist die Volksrepublik enorm gewachsen (siehe den Beitrag von Chunchun Hu), wie man an den Zahlen der Weltbank sieht: Das Bruttoinlandsprodukt wuchs im Zeitraum von 2001 bis 2021 von 1,34 Bio. US $ auf geschätzte 16,64 Bio. US $, in den letzten zehn Jahren hat es sich verdreifacht. Unter der fraglichen nationalen Armutsgrenze lebten 2019 weniger als 0,6 % der Bevölkerung statt 49,8 % wie noch im Jahr 2000; die Lebenserwartung stieg in diesem Zeitraum erheblich und die Bevölkerung wuchs vor allem in urbanen Räumen (vgl. Florian Thünken). Obwohl China mittlerweile die Klimaneutralität bis 2060 anstrebt, haben die CO2-Emissionen zugenommen, von 2,8 Tonnen pro Kopf im Jahr 2001 auf 7,4 (2018) (vgl. Anja Senz). Dieses Wachstum birgt in vielen Bereichen aber auch ein enormes Konfliktpotenzial, sowohl im Inneren wie im Äußeren.

Außenpolitisch ist die Situation stark von einem Antagonismus geprägt: Während die USA derzeit erneut um ihre globalpolitische Führungsrolle kämpfen, versucht China, seinen Einfluss stetig auszuweiten. Mit den »Neuen Seidenstraßen« entsteht ein Netz von Infrastrukturprojekten von Ostasien bis Europa und Afrika. Bei Schlüsseltechnologien fordert China Europa, Japan und die USA heraus (vgl. Claudia Wessling). Auch verfügt China mittlerweile über die Mittel, militärisch mitzuhalten. Laut SIPRI wuchsen die Militärausgaben zwischen 2001 und 2020 von 48,8 auf 252,3 Mrd. US $ an, etwa ein Drittel der USA, und auch eine Modernisierung der Atomwaffen ist im Gange (vgl. Lutz Unterseher).

Es zeichnen sich Konflikte und ein neues Wettrüsten zwischen China und den westlich orientierten Staaten ab. Die jüngste Ausgabe der Zeitschrift Foreign Affairs (6/2021) spricht von einem neuen Kalten Krieg, nun vor allem mit China, das im Westen als doppelte Bedrohung angesehen wird: politisch-ideologisch als kommunistischer Systemrivale und wirtschaftlich-technologisch als kapitalistischer Konkurrent (vgl. Wolfgang Müller). Fokus der Konflikte ist derzeit besonders das Südchinesische Meer. Wachsende Spannungen zwischen China und Taiwan zeigen sich an der Zahl der beobachteten chinesischen Militärflüge in die Luftverteidigungsidentifikationszone Taiwans, das wie Hongkong als chinesisches Territorium angesehen wird. Dies heizt die mediale Berichterstattung im Westen über das Feindbild China an (siehe den Beitrag von Mechthild Leutner), während China der Welt seine koloniale Unterdrückung in Erinnerung ruft. Anders als Staaten wie die USA, hat China keine vergleichbare Geschichte weltweiter militärischer Interventionen. Dass die USA ihre Bereitschaft erklären, Taiwan zu verteidigen, dürfte chinesische Bedrohungswahrnehmungen noch steigern. Sieht so das Skript zum Dritten Weltkrieg aus?

Der Konflikt zwischen der aufstrebenden Macht China und der vermeintlich absteigenden Macht USA beeinflusst zunehmend die Weltpolitik, vor allem im Indo-Pazifik-Raum. Nach dem Handelskrieg Donald Trumps schmieden die USA nun unter Präsident Joe Biden Bündnisse gegen China, wie die QUAD-Allianz mit Indien, Australien und Japan oder das Militärbündnis von Australien, Großbritannien und USA (AUKUS). Die Lieferung nukleargetriebener U-Boote löste Verstimmungen mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron aus und stieß auch bei den europäischen Verbündeten auf Unbehagen. Australien provoziert damit Konflikte und könnte selbst Ziel eines Nuklearkrieges werden. Am Ende könnte die gesamte Region hochgerüstet sein. Durch die Verschiebung von US-Interessen wird der Ruf nach europäischer Autonomie lauter, zugleich entwickelt die NATO Ambitionen weit außerhalb des Bündnisgebiets. Einen Überblick über die verschiedenen Akteure und Konflikte im Indo-Pazifik gibt der Beitrag von Uwe Hoering, und Andreas Seifert skizziert die unklar ambivalente Einstellung europäischer Institutionen und Staaten zu China.

Vieles in China deutet auf eine Konfrontation im Verhältnis USA-China hin, obwohl doch die Zusammenarbeit für die Bewältigung gemeinsamer globaler Herausforderungen wie Pandemie, Flucht und Klimawandel in der multipolaren Welt dringlicher denn je ist. Welche Rolle die Zivilgesellschaft dabei spielen kann, ist eine offene Frage (vgl. Joanna Klabisch und Christian Straube), ebenso wie stabil China gegenüber den rasanten Entwicklungen ist.

Marius Pletsch und Jürgen Scheffran

NATO-Austritt der Türkei?

NATO-Austritt der Türkei?

von Axel Gehring

Spätestens seit dem Putschversuch im Juli 2016 und den russisch-iranisch-türkischen Astana-Verhandlungen zur Beilegung des Syrienkriegs scheint ein grundlegender Wechsel in der bündnispolitischen Orientierung der Türkei begonnen zu haben. Think Tanks, wie die Stiftung Wissenschaft und Politik, spekulieren bereits über einen türkischen NATO-Austritt (Hähnlein et. al. 2018). Doch wie realistisch ist das, und welche politischen Implikationen haben derartige Spekulationen? Für eine Antwort ist es notwendig, den Analyserahmen über unmittelbar außen- und militärpolitische Interessen und diskursive Stimmungen hinaus zu erweitern. Hierfür ist es erforderlich, soziale Kräfteverhältnisse in den Blick zu nehmen, die türkische NATO-Mitgliedschaft stärker historisch zu betrachten und die hochgradig institutionalisierten ökonomischen Strukturverhältnisse einzubeziehen.

Die Einbindung der Türkei in die transatlantische Ordnung begann unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Damals machte die türkische Regierung gegenüber den USA die strategisch wichtige Lage des Landes im Kontext der beginnenden Blockkonfrontation geltend und verwies dabei auf das sowjetische Vorhaben, Truppen nahe des Bosporus zu stationieren.

Dieses türkische Ersuchen um Einbindung in die entstehende transatlantische Ordnung entsprang vor allem einer grundlegenden Verschiebung der sozialen Kräfteverhältnisse im eigenen Land (Gehring 2019): Im Laufe des Zweiten Weltkrieges war das etatistisch-kemalistische Entwicklungsmodell unter Druck geraten, und eine Handelsbourgeoisie hatte an Stärke gewonnen. Sie drängte nicht nur auf die Etablierung eines Mehrparteiensystems, sondern war die wesentliche Trägerin einer Westintegration, welche die neuen Kräfteverhältnisse im Land und die marktwirtschaftliche Reorientierung durch einen externen Anker gegen potentielle innere Widerstände absichern sollte. 1945 trat die Türkei dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und 1946 dem General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) bei. Ab 1947 nahm sie auch am European Recovery Program (Marshallplan) teil. Bereits früh war sie tief in die institutionellen Strukturen der US-Hegemonie der Nachkriegszeit integriert und wurde 1952 in die NATO aufgenommen. Die militärische Integration komplementierte damit die ökonomische Einbindung in die transatlantische Ordnung. 1959 folgte das Ersuchen um Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die sich komplementär zur US-Hegemonie entwickelt hatte.

Umkämpfte Popularität des Westens und der NATO

Die gegenwärtige Krise der Türkei-NATO-Beziehungen ist keineswegs singulär, die NATO-Mitgliedschaft und die Präsenz westlicher Truppen waren in der Türkei nie unumstritten. In den 1960er Jahren wurden die Besuche US-amerikanischer Flottenverbände zu wichtigen Ereignissen der Mobilisierung der politischen Linken. Der Gründungsmythos des türkischen Staates war ein antiimperialistischer – die Republik war anfangs mit sowjetischer Unterstützung aufgebaut worden –, daher wirkten NATO-kritische Positionen lange Zeit bis weit in das sozialdemokratisch-kemalistische Lager und auch in Teilen des türkischen Militärs. Das islamistische Spektrum lehnte die Mitgliedschaft ab. Beide Lager verfolgten ökonomische Konzeptionen, die auf eine stärkere Unabhängigkeit von westlichem Kapital setzten, als es die konservativ-liberalen Kräfte taten. Letztere waren eng mit den Interessen der großen Holdinggesellschaften verbunden und traten am aktivsten für die Westintegration der Türkei ein (Yalman 2009).

Während des Kalten Krieges wurden daher seitens des Westens umfangreiche hegemoniale Konzessionen an die Türkei gemacht: Sie durfte weit von liberalkapitalistischen Entwicklungsparadigmen abweichen, nachdem diese das Land Ende der 1950er Jahre in eine tiefe soziale und ökonomische Krise geführt hatten. Das neue Projekt einer importsubstituierenden Industrialisierung erschwerte den Zugang zum türkischen Markt und sorgte für regelmäßige Konflikte mit der Europäischen (Wirtschafts-) Gemeinschaft, mit der die Türkei seit 1964 assoziiert war. Zugleich aber blieb sie auf westliche Finanzhilfen und Kredite angewiesen. Ihre inneren Widersprüche sowie der Siegeszug des Neoliberalismus in den kapitalistischen Zentren führten Ende der 1970er Jahre zum Scheitern der importsubstituierenden Industrialisierung und 1980 zum Militärputsch, der (gegen den Willen der Bevölkerung) den Weg für die radikale neoliberale Transformation öffnete.

Neoliberale Integration in den Westen und autoritärer Populismus

Die Transformation kulminierte in den 1990er Jahren in der Revitalisierung des (nunmehr) EU-Beitrittsprojektes. Die Türkei leitete seit dem Abschluss der Zollunion mit der EU (1996) weite Teile ihrer ökonomischen Handlungskompetenzen aus den Verträgen mit der EU ab. So wurde die breite Masse der Bevölkerung von jeglicher Einflussnahme auf grundlegende wirtschaftspolitische Entscheidungen ausgeschlossen – EU- und IWF-Politiken waren gewollt komplementär zueinander.

In den 2000er Jahren konnte die Türkei im Kontext der neoliberalen Reformen zunächst hohe und stabile Wachstumsraten erzielen. Seit dem Ausbruch der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/8 flossen internationale Investitionen jedoch längst nicht mehr so leicht in die Türkei. Die AKP-Regierung suchte nach Möglichkeiten, das Wachstum aufrechtzuerhalten. 2008 verzichtete die türkische Regierung auf ein weiteres Beistandsabkommen mit dem IWF. Dies gab ihr einen größeren Spielraum, neben deflationär wirkenden orthodox-neoliberalen Politiken zugleich populistisch-klientelistische Sozialpolitiken zu verfolgen, die nicht auf sozialen Rechten, sondern auf Loyalitätsbeziehungen basieren. Die industriellen Beziehungen blieben derweil von einem restriktiven Gewerkschaftsregime geprägt.

Um das Wachstum der stark neoliberalisierten Ökonomie aufrechtzuerhalten, lancierte der türkische Staat zudem mehr und mehr öffentlich-private Großprojekte. Lokale Widerstände gegen solche Projekte wurden – wie seit Jahrzehnten üblich – in der Regel mit staatlicher Härte gebrochen. Die Kompetenzen zur Durchführung der expansiv-neoliberalen Politik wurden in wachsendem Maße in Sonderbürokratien angesiedelt, die unmittelbar Tayyip Erdogan rechenschaftspflichtig waren. Die Unabhängigkeit bestehender neoliberaler Regulierungsagenturen, wie der Zentralbank, wurde sukzessive ausgehöhlt. Das Aufkommen des populistisch-expansiv-neoliberalen Paradigmas und der autoritäre Populismus in der Türkei bedingten sich also gegenseitig (Gehring 2019).

Bündnispolitische Wende im Kontext des Syrienkrieges?

Türkische Unternehmen investierten seit Mitte der 2000er Jahre verstärkt in den arabischen Nachbarstaaten der Türkei, aber auch im post-sowjetischen Raum. Insbesondere in den arabischen Staaten wurde diese Expansion durch eine häufig als »neo-osmanisch« bezeichnete Außenpolitik abgesichert. Diese türkische Außenpolitik wurde im Westen lange als komplementär zu den eigenen Interessen wahrgenommen; die autoritäre Transformation wurde übersehen und die Türkei stattdessen für ihr fortgesetztes Wachstum bewundert. Kurz: Sie galt seit den 2000er Jahren als ein »Role Model« eines Landes, das Islam, Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung in Einklang brachte. Entsprechend wurde die aktive Rolle der Türkei in ihren Nachbarstaaten begrüßt und damals nicht etwa als Abwendung vom Westen debattiert – denn das als NATO-Staat in den Westen integrierte Role Model schien die Wirkmacht des Westens in der Region zu vergrößern (Tugal 2017).

Dies galt auch zu Beginn der Umstürze in zahlreichen arabischen Staaten ab Anfang 2011. Dennoch markierten gerade diese Entwicklungen jenen Punkt, der wenig später als Beginn einer Abkehr vom Westen diskutiert werden sollte. Doch zunächst schienen türkische und westliche Interessen weitestgehend komplementär zu sein: Die Türkei betrieb nicht mehr nur Außenpolitik von Regierung zu Regierung, sondern unterstützte gemäß ihrer Konzeption der »Strategischen Tiefe« (Davutoglu 2001) vor allem islamistische Kräfte in den postrevolutionären Prozessen – in der Folge fehlten ihrer Außenpolitik Ansprechpartner*innen jenseits dieses Spektrums (Tugal 2017). Der Sturz der Muslimbruderschaft zeigte schnell die Grenzen dieses Ansatzes auf: Die Türkei war nicht nur jeder weiteren Einflussmöglichkeit auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in Ägypten beraubt, sondern es setzte eine fortdauernde diplomatische Eiszeit zum neuen Regime ein. Auch die Beziehungen zum Gegenspieler der Muslimbruderschaft – Saudi Arabien – verschlechterten sich.

In Syrien schienen die Dinge für die Türkei zunächst besser zu laufen: Sie setzte nach der Eskalation der Revolte gegen das Baath-Regime auf eine disparate Koalition islamistischer Kräfte, die sich unter dem Banner der Freien Syrischen Armee zusammenfand. Ähnlich wie zahlreiche westliche Staaten formulierte die Türkei das Ziel eines Sturzes der syrischen Regierung – die logistische Unterstützung aus der Türkei war dafür sogar eine unabdingbare Voraussetzung. In dem nicht zuletzt infolge der türkischen Politik konfessionalisierten Bürgerkrieg blieben jedoch erhebliche Teile der Bevölkerung loyal zum Regime, das seine Truppen zunehmend im Westen des Landes konzentrierte. Im kurdischen Raum des Landes konnten sich in der Folge Autonomiestrukturen unter der Führung der Partei der Demokratischen Union (PYD) bilden. Einer schweren Attacke seitens des Islamischen Staates ausgesetzt, avancierte die PYD ab 2014 zu einer Schlüsselpartnerin der US-amerikanischen Außenpolitik. In den folgenden Jahren führte sie das Bündnis der Syrischen Demokratischen Kräfte an, die weite Teile Nord- und Ostsyriens vom Islamischen Staat befreiten.

Während dies eine erhebliche Niederlage für die türkische Außenpolitik darstellte, begann Russland ab Herbst 2015, das syrische Regime unmittelbar militärisch zu unterstützen. Die scharfe türkisch-russische Konfrontation führte zu russischen Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei, und währenddessen schwand jede Perspektive auf einen Sturz des Baath-Regimes.

Mit einer US-gestützten kurdischen Selbstverwaltung im Norden und dem sich abzeichnenden Sieg der syrischen Regierung im Rest des Landes stand die Türkei vor einem außenpolitischen Desaster. Nun wurde die Außenpolitik einer grundlegenden Revision unterzogen. Der Architekt der neo-osmanischen Außenpolitik, Ahmet Davutoglu, musste im Mai 2016 sein Amt als Ministerpräsident aufgeben, die Außenpolitik gegenüber Russland wurde neu ausgerichtet, und Russland hob sein Embargo auf. Auch der Putschversuch im Sommer 2016, den die AKP der in den USA ansässigen Gülenbewegung anrechnete, sorgte für eine Annäherung zwischen der Türkei und Russland.

Doch vor allem der Ende 2016 gestartete russisch-türkisch-iranische Astana-Prozess zur diplomatischen Beilegung des Syrienkrieges wird häufig als Indiz für einen möglichen Bündniswechsel der Türkei gewertet. Dabei werden Interessensdivergenzen übersehen: Die gemeinsam vereinbarte Schaffung von so genannten Deeskalationszonen in umkämpften Rebellengebieten hatte der syrischen Regierung 2017 die Rückeroberung großer Teile des Landes bis zum Euphrat ermöglicht. Nach Abschluss dieser Offensiven wurden weitere Deeskalationszonen mit militärischer Gewalt und gegen den Willen Ankaras aufgelöst. Um Ankara in diesen Prozess einzubinden, hatte die russische Regierung den türkischen Angriff auf Afrin zugelassen.

Russland wertete über den Astana-Prozess die Türkei nicht etwa zu einer gleichberechtigten Verhandlungspartnerin auf, sondern dieser Prozess sollte ihren schrittweisen militärisch-diplomatischen Rückzug aus dem Konflikt gesichtswahrend regeln. Es gilt im Grunde der fragile Deal: Ankara gibt die Unterstützung für den Sturz der syrischen Regierung auf und darf im Gegenzug die kurdische Autonomieverwaltung im Norden unter Druck setzen, um zumindest Minimalziele zu erreichen. Wie der andauernde Disput um den zukünftigen Status von Idlib (einem der letzten Rebellengebiete) zeigt, fällt es der Türkei schwer, sich diese Niederlage einzugestehen.

Von einer grundsätzlichen gemeinsamen sicherheitspolitischen Interessenlage zwischen der Türkei und Russland in Syrien kann also keine Rede sein. Vielmehr haben zwei konkurrierende Mächte eine Möglichkeit gefunden, ihren lokalen Disput zu regulieren und den kleinsten Nenner ihrer Interessen zu bestimmen: die territoriale Integrität Syriens. Für Moskau bedeutet dies die maximale Stärkung der Zentralregierung in Damaskus und für Ankara die maximale Schwächung der kurdischen Autonomiestrukturen.

Obwohl die Verhinderung einer kurdischen Autonomie zur türkischen Staatsräson gehört, greift es zu kurz, die gesamte türkische Außenpolitik auf diese Frage zu reduzieren oder gar zu postulieren, die Türkei würde aufgrund dieser Frage die NATO verlassen. Zudem erscheinen die Differenzen im Lichte der jüngsten US-Entscheidung, die eigenen Truppen wieder aus Syrien abzuziehen, als eine temporäre Unstimmigkeit, die dem besonderen Kontext des Krieges gegen den Islamischen Staat entsprang.

Vor allem aber greift es zu kurz, die Frage der türkischen NATO- und Westintegration primär anhand von Außen- und Miltärpolitik zu debattieren. Außenpolitik entfaltet sich als Politik eingebettet in soziale Kräfteverhältnisse (Cox 1987) – die transatlantisch-europäische Ordnung ist ein solches soziales Kräfteverhältnis: Die türkische Regierung ist keine Handlangerin US-amerikanischer oder deutscher Interessen, sie konzipiert ihre Außenpolitik vielmehr innerhalb der transatlantisch-europäischen Ordnung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg als eine sich rasch transnationalisierende sozioökonomische Ordnung konstituiert hatte. Wie jede Regierung trägt die Türkei Konflikte mit anderen Regierungen aus, die innerhalb dieser Ordnung agieren. Dies kann sie nicht zuletzt, weil sie sich sozioökonomisch auf den Schultern dieser Ordnung reproduziert. Wie bereits erwähnt, fand die Integration der Türkei in die NATO komplementär zu ihrer sozioökonomischen Integration in die transatlantische Ordnung statt, die später um die europäische Komponente ergänzt wurde. Es stellt sich also die Frage, wie es um die Integration der Türkei in die europäisch-transatlantische Ordnung bestellt ist.

Wachsende Verflechtung mit dem Westen

Um die tatsächliche Tiefe der gegenwärtigen Krise zwischen dem Westen und der Türkei bestimmen zu können, ist es wichtig, auch soziale Kräfteverhältnisse als außenpolitisch relevant zu betrachten: Die Regulierung der türkischen Wirtschaft nach dem Post-Washington-Konsens, der für einen besonders rigiden Neoliberalismus steht, wurde zwar im Zuge der autoritär-populistischen Politik seit 2007/8 gelockert, doch die wichtigsten ökonomischen Akteur*innen in der Türkei sind die Richtung Westen integrierten Holdinggesellschaften. Konkret leiden sie unter einem stark gesunkenen Wechselkurs zu den Währungen US-Dollar und Euro, in denen sie sich auf den internationalen Finanzmärkten verschuldet haben (Gehring 2018). In ihrem Versuch, die Krisendynamik zu begrenzen, hat sich die türkische Regierung lange darum bemüht, nicht auf die Unterstützung westlicher Staaten und Institutionen zurückzugreifen. Doch genau diese Strategie ist weitgehend gescheitert und mit ihr auch das populistisch-expansive neoliberale Projekt. Abgesehen von Katar sind keine Staaten bereit, signifikant in die Türkei zu investieren und so den Wechselkurs der Lira zu stabilisieren. Insbesondere das Engagement der beiden umworbenen Staaten China und Russland blieb weit hinter den türkischen Erwartungen zurück, bedeutsame Investitionen wären aber eine notwendige Voraussetzung für einen Wechsel des Bündnisses. Vor allem aber stellt sich die Frage: Besitzt Russland überhaupt die ökonomischen Kapazitäten, der Türkei eine realistische Alternative zum Westen zu bieten? Russland verfügt mit 1,5 Billionen US$ über ein Bruttoinlandsprodukt, welches etwas kleiner ist als das Italiens. Bei einer qualitativen Betrachtung der ökonomischen Beziehungen fällt zudem auf, dass Russland bei Importen zwar mit knapp 20 Milliarden US$ der drittgrößte Handelspartner der Türkei ist, jedoch das Gros des Handels auf Energieimporte entfällt. Außerdem wächst die Handelsverflechtung der Türkei mit dem weit größeren Haupthandelspartner EU quantitativ schon seit Jahren wieder.

Die sozioökonomische Verflechtung ist allerdings keine rein quantitative ökonomische Größe, sie vollzieht sich vielmehr in Gestalt einer umfassenderen Integration in die transatlantisch-europäische Ordnung. Die Paradigmen und Praxen, die den ökonomischen Austausch regulieren, sind Teil dieser Ordnung. Die neoliberalen Paradigmen und Praxen des Post-Washington-Konsenses wurden in der Türkei wesentlich über das EU-Projekt verankert und werden von breiten Teilen der führenden Holdinggesellschaften getragen. In den letzten Krisenjahren ist nicht nur der Versuch gescheitert, eine populistische Alternative zu ihnen zu entwickeln, sondern auch der Versuch, die Wirtschaftskrise mit Hilfe nicht-westlicher Staaten zu bearbeiten. Im Laufe des Herbstes 2018 hat sich die türkische Regierung längst wieder westlichen Staaten zugewandt – nicht nur, weil es aus Russland und China keine signifikanten Finanzzusagen gab, sondern auch, weil die zwei Länder keine alternativen regulativen Paradigmen und Institutionen bereitstellen, die für die türkische Privatwirtschaft unabdingbar sind. Ein NATO-Austritt stünde in einem diametralen Widerspruch zur wachsenden Bedeutung der Westintegration für die Türkei.

Politische Folgen der Spekulationen über einen türkischen NATO-Austritt

Der Übermacht der ökonomischen Verflechtungen Richtung Westen, die sich tief in die produktiven, ökonomischen, sozialen und politischen Machtstrukturen der Türkei eingeschrieben haben, steht also eine begrenzte, höchst widersprüchliche und spannungsreiche Zusammenarbeit mit Russland auf einzelnen sicherheitspolitischen Feldern gegenüber. Letztere entspringt primär dem Bestreben einer Schadensbegrenzung, denn die Türkei hatte sich mit ihrer »neo-osmanischen« Außenpolitik schlicht verhoben und wurde in Syrien auf das Verfolgen von Minimalzielen zurückgeworfen, die ein Arrangement mit Russland zur Voraussetzung haben.

Spekulationen über einen möglichen NATO-Austritt der Türkei basieren wesentlich auf dem Außer-Acht-lassen sozialer Kräfteverhältnisse. Die Handlungskapazitäten des türkischen Staates werden überschätzt, spekulative Thesen werden formuliert. Mutmaßungen über einen NATO-Austritt tragen jedoch dazu bei, die Verhandlungsposition der Türkei gegenüber den anderen Staaten im Bündnis zu stärken. Gern lässt die türkische Außenpolitik ambivalente Sichtweisen über den Bestand der türkischen Westintegration aufkommen, ohne diesen aber selbst substanziell in Frage zu stellen. Solche Ambivalenzen sind auf gewisse Art zweckdienlich: Fast jedes »realpolitische« Zugeständnis kann mit dem Verweis gerechtfertigt werden, dass im Falle eines NATO-Austritts die Möglichkeiten westlicher Machtprojektion in der Region geschwächt würden und die Region durch eine weniger klare bündnispolitische Verortung der Türkei weiter destabilisiert würde.

Angesichts des geringen Realitätsgehaltes solcher Spekulationen gilt es vielmehr zu entgegnen, dass die türkische Außenpolitik auf den Schultern der transatlantischen Ordnung agierend ein erhebliches Problem für die Sicherheit und den Frieden in der Region darstellt. An die westliche Zurückhaltung während der Afrin-Offensive Anfang 2018 und drohende weitere türkische Invasionsvorhaben sei an dieser Stelle exemplarisch erinnert.

Literatur

Cox, R. (1987): Production, Power, and World Order – Social Forces in the Making of History. New York, Chichester: Columbia University Press.

Davutoglu, A. (2001): Stratejik Derinlik – Türkiye’nin Uluslararasi Konumu. Istanbul: Küre Yayinlari.

Gehring, A. (2018): Brüchige Stabilität – Die Türkei nach den Wahlen. Online-Artikel für die Zeitschrift Luxemburg, Juli 2018.

Gehring, A. (2019): Vom Mythos des starken Staates und der europäischen Integration der Türkei – Über eine Ökonomie an der Peripherie des euro-transatlantischen Raumes. Wiesbaden: Springer VS (im Erscheinen).

Hähnlein, R.; Kaim, M.; Seufert, G. (2018): Die Türkei verlässt die NATO. In: Brozus, L. (Hrsg): Während wir planten – Unerwartete Entwicklungen in der internationalen Politik. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Foresight-Beiträge 2018.

Yalman, G. (2009): Transition to Neoliberalism – The Case of Turkey in the 1980s. ?stanbul: Biligi University Press.

Tugal, Cihan (2017): Das Scheitern des türkischen Modells – Wie der Arabische Frühling den islamischen Liberalismus zu Fall brachte. München: Antje Kunstmann.

Axel Gehring ist Politikwissenschaftler in Marburg. Seine Dissertation »Vom Mythos des starken Staates und der europäischen Integration der Türkei – Über eine Ökonomie an der Peripherie des euro-transatlantischen Raumes« zur EU- und Westintegration der Türkei aus Sicht führender türkischer Akteur*innen erscheint im März 2019 bei Springer VS.

Ist die NATO alternativlos?

Ist die NATO alternativlos?

von Alexander Neu und Katja Keul

Die North Atlantic Treaty Organization besteht seit 70 Jahren. Dem eigenen Anspruch zufolge schafft bzw. fördert die NATO Sicherheit und Stabilität, und zwar weltweit. Die praktischen Auswirkungen ihrer Aktivitäten, ihre zahlreichen politischen und militärischen Verwicklungen außerhalb des stetig ausgeweiteten Bündnisgebietes und der Anspruch einer deutlichen Aufrüstung der Mitglieds­taaten bezeugen allerdings eine Realität, die von den postulierten Ansprüchen weit abweicht. Ist die Forderung nach Auflösung der NATO die richtige Konsequenz? Sind Alternativen zum transatlantischen Bündnis denkbar?
W&F bat mit Alexander Neu (DIE LINKE) und Katja Keul (Bündnis 90/Die Grünen) zwei Bundestags­mitglieder aus Oppositionsparteien um ihre Einschätzungen zu diesen Fragen.

Über Alternativen nachdenken

von Alexander Neu

Nahezu dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges herrscht in Europa erneut ein Kalter Krieg – so oder so ähnlich lauten die Äußerungen aus Politik, Medien und Wissenschaft. Dabei reicht das Einschätzungsspektrum von „(noch) kein Kalter Krieg“1 bis hin zu „Kaltem Krieg“.2

Ich habe den Eindruck, der Kalte Krieg hat nie wirklich aufgehört, sondern in den 1990er Jahren nur an Wahrnehmbarkeit verloren. Unverändert existierte aber der Grundwiderspruch zwischen den Großmächten fort: Es ging um die Machtfrage, um Einflussräume jenseits der ideologischen Systemfrage und um ökonomische Interessen. Schon der Kalte Krieg war also nie nur ein Systemkonflikt gewesen.

Mit der »Niederlage« der Sowjetunion und ihrem anschließenden staatlichen Zerfall war die Machtfrage zunächst zugunsten der USA und derer Verbündeten geklärt. Russland als Rechtsnachfolgestaat der Sowjetunion spielte in der Weltpolitik der 1990er Jahre keine Rolle mehr. Ehemalige Verbündete wechselten in das westliche Lager. Die von US-Präsident Bush sen. ausgerufene „Neue Weltordnung“3 war nichts anderes als eine US-Weltordnung. Und zwar eine Weltordnung mit einem einzigen Machtpol: dem so genannten Westen, bestehend aus den USA und ihren Verbündeten oder auch „Vasallen“, wie Zbigniew Brzezinski sie in seinem bekannten Werk »Die einzige Weltmacht«4 bezeichnete. Ob der Westen tatsächlich der sowjetischen Führung seinerzeit versprochen hatte, die NATO nicht über die Grenzen des wiedervereinigten Deutschlands hinaus zu erweitern,5 oder ob dies dem Wunschdenken Moskaus entspringt,6 ist nach wie vor umstritten. Tatsache ist, dass der Westen die Gunst der Stunde zur Expansion seiner Einflussräume nutzte, statt auf Ausgleich und gemeinsame Sicherheit im KSZE/OSZE-Raum zu setzen. Inzwischen befinden sich selbst frühere sowjetische Unionsrepubliken im Einflussbereich der USA bzw. der NATO und der EU oder streben dorthin.

Erst mit dem Wiedererstarken Russlands und dem Machtzuwachs Chinas kommt der Grundwiderspruch um Einflussräume wieder zum Vorschein. In gewissem Maße sind in der nun neuen, zwar noch nicht final ausgeformten, aber in Ansätzen erkennbaren multipolaren Weltordnung Ähnlichkeiten zum Vorabend des Ersten Weltkrieges zu entdecken. Seinerzeit war die Welt zwischen den Kolonialmächten aufgeteilt. Deutschland als Nachzügler wollte seinen Anteil, der aber zu Lasten der übrigen Kolonialmächte gegangen wäre. Dieser geo-politische und geo-ökonomische Konflikt war der Grund für den Ersten Weltkrieg, nicht die Schüsse von Sarajewo.

Multipolare Weltordnung

Das Wesen einer multipolaren Weltordnung besteht darin, die nahezu uneingeschränkte Handlungs- bzw. Gestaltungsfreiheit eines Akteurs oder einer Akteursgruppe durch andere, wachsende Kraftzentren zunehmend zu begrenzen, zurückzudrängen und Einfluss- und Gestaltungsräume neu aufzuteilen. In einem derartigen Epochenbruch befindet sich die Weltpolitik momentan. Dafür stehen Aussagen wie jene, die Welt sei »aus den Fugen«. Das Alte ist vergangen, das Neue aber noch nicht etabliert, allenfalls in Konturen sichtbar.

Solche Übergangsphasen sind besonders konfliktgeladen, da der herausgeforderte Akteur seinen Machteinfluss nicht räumen will und der oder die herausfordernden Akteure den Status quo nicht weiter akzeptieren wollen. Waren die Zerschlagung Jugoslawiens und die Westintegration einiger post-jugoslawischer Republiken für den Westen nach dem Ende der Blockkonfrontation in den 1990er Jahren noch ein risikoarmes geo-politisches Unterfangen, so stoßen weitergehende raumgreifende Ambitionen des Westens zunehmend auf (auch) militärischen Widerstand Russlands.

Der Krieg zwischen Georgien und Russland im Jahre 2008 war der erste Abwehrkrieg gegen die Ausdehnung der westlichen Einflusssphären im post-sowjetischen Raum. Der Putsch in der Ukraine 2014 (vom Westen befördert, um das Land in den euro-atlantischen Einflussraum zu integrieren), die darauf folgende Sezession der Krim und ihre völkerrechtswidrige Integration in die Russische Föderation, der Krieg in der Ostukraine sowie der Syrienkrieg sind reale Ausdrucksformen dieses geo-politischen und geo-ökonomischen Machtkampfes.

Hier befindet sich Russland noch in der Defensivposition, d.h. es verteidigt seine noch verbliebenen Einflussregionen auch mit militärischen Mitteln, wo es möglich ist. Im post-jugoslawischen Raum hingegen ist die Machtfrage weitgehend geklärt: Die politischen Verhältnisse wurden bereits in den 1990er Jahren so verändert, dass der Beitritt fast aller post-jugoslawischer Republiken in die »euro-atlantischen Strukturen« nur noch eine formale Frage ist. Montenegro wurde 2017 NATO-Mitglied, und der Beitritt Nord-Makedoniens wird nun vollzogen werden, da der Namensstreit um »Makedonien« zwischen diesem Staat und Griechenland – nicht ohne massive Einflussnahme aus Washington und Brüssel – gelöst zu sein scheint. Selbst auf Serbien, einen traditionellen Verbündeten Russlands, übt der Westen erheblichen Druck aus, der NATO beizutreten.

Diese expansive Raumpolitik des Westens ist mit der politikwissenschaftlichen Theorie des »Neorealismus« nicht zu erklären: Erstens gibt es mit den Vereinten Nationen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zwischenstaatliche Organisationen, deren Aufgabe es ist bzw. sein sollte, Staaten Sicherheit zu gewährleisten (wobei der Westen genau diese Institutionen durch seine rechtswidrigen Interventionskriege und andere rechtsnihilistische Maßnahmen torpediert). Zweitens ist die Sicherheit des Westens mitnichten bedroht – auch nicht durch Russland. Russland verfügt weder quantitativ noch qualitativ über konventionell-militärische Fähigkeiten oder finanzielle und ökonomische Ressourcen, die mit denen des Westens auch nur annähernd vergleichbar sind.7 Überdies, und das räumte die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion ein, liegen „ keine Erkenntnisse vor“, dass Russland die Absicht hätte, die NATO bzw. die östlichen NATO-Staaten anzugreifen.8 Das westliche Expansionsstreben ist also entweder mit der Denkschule des »Realismus« zu erklären – als Machtakkumulation, die sich durch geo-politisches Raumgreifen artikuliert – oder mit der umfassenderen Imperialismustheorie Lenins, die die innenpolitischen Aspekte, vor allem aber die ökonomischen Interessen als Triebkraft außen- und sicherheitspolitischer Entscheidungen betrachtet.9 Auf dieser Grundlage kann auch das geo-ökonomische Expansionsinteresse von NATO und EU erklärt werden.

Sicherheitspolitische Alternativen denkbar und realistisch?

Das »Gemeinsame Haus Europa« war nicht unrealistisch und ist es auch heute nicht, wenngleich die Bedingungen dafür derzeit sehr viel schwieriger sind. Die mit dem Ende des Kalten Krieges einhergehende Aufbruchsstimmung für eine neue friedliche und gerechte Weltordnung fiel in der westlichen Politik nicht auf fruchtbaren Boden. In der jetzigen Phase des Epochenwandels sind einerseits die Fronten derart verhärtet, dass ein Paradigmenwechsel der außen- und sicherheitspolitischernVorstellungen wenig realistisch ist. Andererseits scheint der Westen als ein mehr oder minder homogener Block auseinanderzubrechen. Es ist derzeit nicht klar, ob es in der multipolaren Welt weiterhin den einen westlichen Pol geben wird – oder mindestens zwei Pole im Westen: die USA und die EU. Letzteres könnte neue Chancen für ein Umdenkens eröffnen, allerdings nur, wenn die führenden EU-Staaten bereit wären, ein neues Konzept von »Europa« zu entwickeln – unter Einbindung Russlands. In diesem Falle böte die OSZE den sinnvollen Rahmen.

Die OSZE ist die einzige Organisation, die gemäß ihrer Gründungsidee gemeinsame Sicherheit für alle Mitglieder anstrebt und nicht Sicherheit auf Kosten anderer erlangen will. Sie stellt eine friedenspolitische Alternative zur NATO dar, die zur Rechtfertigung ihrer eigenen Existenz auf das Vorhandensein äußerer Gegner angewiesen ist.

In der OSZE existieren politische Verhaltensprinzipien für die Gewährleistung von Frieden und Sicherheit. Es gilt das Prinzip der Gleichberechtigung und des Konsenses unter den Mitgliedern.10 Gegenseitige und kollektive Sicherheit, Abrüstung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit sind friedensdienliche Maßnahmen, Konfrontationsdenken, Hochrüstung sowie Großmanöver hingegen erzeugen Unsicherheit und zerstören Vertrauen. Es ist höchste Zeit, über reale Alternativen zur NATO nachzudenken.

Austritt aus der NATO?

Ein Austritt aus den militärischen – d.h. nicht zugleich aus den politischen – Strukturen der NATO ist für die perspektivische Auflösung der NATO der aussichtsreichere Weg als ein Komplettaustritt. Der Austritt Deutschlands als ein maßgeblicher europäischer und NATO-Akteur hätte deutliche Auswirkungen auf den Zusammenhalt und den Fortbestand des Militärbündnisses. Auch andere Staaten, wie Frankreich und Spanien, gehörten in der Vergangenheit zeitweilig nicht den militärischen Bündnisstrukturen an, ohne dass sich die NATO als Ganzes aufgelöst hätte. Damals herrschte indes der Kalte Krieg, der auf die übrigen NATO-Mitglieder »disziplinierend« wirkte. In der aktuellen Übergangsphase von einer uni- zu einer multipolaren Weltordnung ist die »Selbstdisziplin« dagegen schwächer ausgeprägt. Die NATO-Mitgliedsstaaten formulieren ihre nationalen Interessen selbstbewusster. 2003 verweigerten sich Deutschland und Frankreich nicht nur einer aktiven Teilnahme am Krieg der USA gegen den Irak, sondern Frankreich hatte auch ein Veto in der NATO angedroht. Dies sollte der Ansatz für einen neuen Modus sein: Austritt aus den militärischen, aber Verbleib in den politischen Strukturen der NATO.

Der Verbleib in den politischen Strukturen der NATO kann dann dafür genutzt werden, die Militärallianz bis zu ihrer endgültigen Auflösung durch den Einsatz von Vetos handlungsunfähig zu machen. Die zentrale politische Entscheidungsinstanz ist der NATO-Rat. Seine Entscheidungen müssen im Konsens getroffen werden. Wenn ein Mitglied dort sein Veto einlegt, kommt keine Entscheidung zustande.

So ließen sich zum Beispiel verhindern:

  • die Verabschiedung neuer Strategischer Konzepte (Ausdehnung des Aufgabenspektrums),
  • Beschlüsse für Militärinterventionen und Kriege sowie
  • Beschlüsse für die Aufnahme von neuen Mitgliedern.

Aus den militärischen Strukturen der NATO auszutreten und gleichzeitig ihre politischen Strukturen zu nutzen, um militärische Aufrüstung und Militärinterventionen zu verhindern, würde den Frieden in der Welt stärken und die Durchsetzung einer zivilen Sicherheitsstrategie erleichtern. Es gäbe bessere Chancen, die vorhandenen zivilen Sicherheitsstrukturen der OSZE auszubauen und zu einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit weiter zu entwickeln. Die NATO könnte auf diese Weise von innen erodieren. Dieser Prozess sollte komplementär verlaufen, d.h. parallel zum faktischen Abbau der NATO muss der Auf- und Ausbau der OSZE erfolgen, um den Eintritt eines Sicherheitsvakuums in Europa zu verhindern.11

Anmerkungen

1) „Das ist kein neuer Kalter Krieg“ – Fünf Fragen an den französischen Außenminister a.D. Hubert Védrine. Internationale Politik und Gesellschaft, 21.3.2014; jpg-journal.de.

2) Medwedew kritisiert NATO und EU – „Wir sind in einem neuen Kalten Krieg“. tagesschau.de, 13.2.2016.

3) Czempiel, E.-O. (2002): Die amerikanische Weltordnung. Aus Politik und Zeitgeschichte/APUZ, Nr. B 48/2002.

4) Brzezinski, Z. (2001, 4. Aufl): Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Frankfurt a.M.: S. Fischer, beispielsweise S. 41.

5) Video »Abmachung 1990: „Keine Osterweiterung der NATO“ – ­Außenminister Genscher & Baker«; youtube.com/watch?v=JXcWVTpQF3k.

6) Video »Genscher widerspricht Behauptung vom Versprechen an Russland, die NATO nicht nach Osten zu erweitern«; youtube.com/watch?v=aG_EU5XWJn4.

7) Siehe dazu Lühr Henken, Das Zwei-Prozent-Ziel der NATO, auf S. 27 dieser W&F-Aus­gabe.

8) International Institute for Strategic Studies (2018): The Military Balance 2018; iiss.org.
Deutscher Bundestag (2018): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Dr. André Hahn, Dr. Alexander S. Neu, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Perspektiven eines künftigen gesamteuropäischen Raums von Lissabon bis Wladiwostok. BT-Drucksache 19/4758 vom 5.10.2018.

9) Lenin, W.I. (1917/2016): Der Imperialismus als höchstes Stadium der Kapitalismus – Gemeinverständlicher Abriss. Kritische Neuausgabe, Berlin: Verlag 8. Mai.

10) Deutscher Bundestag (1996): Antrag der Abgeordneten Andrea Gysi […] und der Gruppe der PDS – Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und Europäische Friedensordnung. BT-Drucksache 13/5800 vom 15.10.1996.

11) Bundestagsfraktion DIE LINKE (2015): Sicherheit statt Konfrontation – OSZE stärken, NATO auflösen. Berlin.

Dr. Alexander S. Neu, Mitglied des Bundestages, ist Obmann im Verteidigungsausschuss der Fraktion DIE LINKE und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der NATO.

Über eine andere NATO nachdenken

von Katja Keul

Die Frage nach Alternativen zur NATO drängt sich immer wieder auf, so zuletzt, als Präsident Trump sie als „obsolet“ bezeichnet hatte. Man muss aber nicht Trump sein, um sich zu fragen, ob diese Institution nach 70 Jahren noch den aktuellen Bedürfnissen entspricht, denn die Weltlage hat sich seither in vielerlei Hinsicht verändert.

Bevor man aber die NATO in Frage stellt oder nach Alternativen sucht, gilt es sich zunächst einmal klar zu machen, was die NATO eigentlich ist und was sie nicht ist. Dabei wird man ihr nicht gerecht, wenn man sie überhöht – weder im Guten noch zum Schlechten.

Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis

Am 4. April 1949 vereinbarten zwölf Staaten, dass ein militärischer Angriff auf einen von ihnen als Angriff gegen alle zu werten sei, und verpflichteten sich dazu, sich in diesem Fall gegenseitig zu verteidigen.

Die NATO ist damit ein Verteidigungsbündnis: nicht mehr, aber auch nicht weniger. Als solches hat sie eine Funktion, die sie in ihrer 70-jährigen Geschichte auch erfolgreich erfüllte. Immer wenn sie versucht hat, andere Aufgaben zu übernehmen, beispielsweise Demokratieförderung oder ähnliches, ist sie kläglich gescheitert.

Ein Verteidigungsbündnis ist keine Wertegemeinschaft

Heute hat die NATO zwar 28 Mitglieder, aber an ihrer Natur als Verteidigungsbündnis hat sich nichts geändert. Auch Versuche, ihr eine neue Deutung als »Wertegemeinschaft« zu geben, sind wenig überzeugend. Ein militärisches Verteidigungsbündnis ist weder dazu gedacht noch dazu geeignet, Werte zu vertreten oder Demokratie zu fördern. Freundinnen und Freunde der NATO, die ihr eine solche neue Aufgabe zusprechen wollen, tun ihr am Ende auch keinen Gefallen. Der Mythos der Wertegemeinschaft untergräbt allenfalls die Glaubwürdigkeit dieses Bündnisses. Um dies zu illustrieren, reicht es, den Zustand der Demokratie des NATO-Mitglieds Türkei aktuell zu betrachten.

Der Mythos der Wertgemeinschaft ist meines Erachtens darauf zurückzuführen, dass man in den 1990er Jahren durch den vermeintlichen Verlust des gemeinsamen Gegners verunsichert war und glaubte, eine neue Aufgabe finden zu müssen. Ein militärisches Bündnis lässt sich aber nicht einfach umdefinieren. Es ist und bleibt ein militärisches Bündnis und hat als solches – aber eben auch nur als solches – weiterhin eine Existenzberechtigung.

Ein Verteidigungsbündnis ist auch kein System kollektiver Sicherheit

Nun wird die NATO an vielen Stellen, auch in dem AWACS-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1994, als System kollektiver Sicherheit bezeichnet, was zu einer andauernden Verwirrung der Begrifflichkeiten führte.

Zweifelsohne ist die NATO ein System kollektiver Verteidigung. Damit ist sie dem Sinn und Zweck, aber auch ihrer Struktur nach, gegen einen Angriff von außen – also von einem Dritten – gerichtet. Ein System kollektiver Sicherheit hingegen richtet sich vorrangig gegen rechtswidrige Gewalt­anwendung innerhalb des Systems. So sind die Vereinten Nationen und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) klassische Systeme kollektiver Sicherheit, indem sie primär die Gewaltanwendung untereinander verbieten und auf die Durchsetzung dieses Gewaltverbots gerichtet sind. Dies sah das Verfassungsgericht auch nicht wesentlich anders. Es stellte darauf ab, dass die Verflechtung der Streitkräfte und der Kommandostrukturen innerhalb der NATO auch dazu führt, dass die Sicherheit unter den Mitgliedern selbst erhöht wird. So betrachtet kann ein System kollektiver Verteidigung, wie die NATO, auch ein System kollektiver Sicherheit in Bezug auf die eigenen Mitglieder sein. Von daher will ich dem Verfassungsgericht auch nicht widersprechen.

Die NATO ist deswegen aber noch lange kein System kollektiver Sicherheit im Sinne des Artikel 24 GG, wenn es darum geht, militärische Gewaltanwendung außerhalb des Territoriums ihrer Mitglieder verfassungsrechtlich zu legitimieren. Eine solche Gewaltanwendung können jenseits der Bündnisverteidigung allein die Vereinten Nationen legitimieren, deren Mitglieder sich der Satzung und damit auch dem Gewaltmonopol des UN-Sicherheitsrates unterworfen haben.

Die Aufgabe eines Verteidigungsbündnisses ist Bündnisverteidigung

Bündnisverteidigung und Selbstverteidigung sind auch klare Begriffe, die nicht einfach willkürlich umdefiniert werden können. Verteidigung ist die Abwehr eines gegenwärtigen Angriffs auf das eigene Territorium. Die inzwischen gerne vertretene Auffassung, man befinde sich nach einem Terroranschlag geographisch und zeitlich unbegrenzt überall und immer in Selbstverteidigung, ist nicht etwa eine zulässige Auslegung, sondern schlicht der Bruch von Völkerrecht.

Es ist also müßig zu debattieren, ob hinsichtlich einer Beteiligung am Luftkrieg über Syrien die Europäische Union oder die NATO irgendwelche Beschlüsse gefasst oder nicht gefasst haben. So grausam die Terroranschläge 2015 in Paris waren: Sie führten nicht dazu, dass sich Deutschland und Frankreich in Syrien in Selbstverteidigung befinden. Solange zu diesem Thema keine politische Einigkeit im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hergestellt werden kann, findet der Bundeswehreinsatz dort außerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit statt.

Das gilt im Übrigen auch für den neuen Bundeswehreinsatz im Irak, für den zwar eine völkerrechtliche Grundlage durch die Einladung der irakischen Regierung vorliegen mag – eine verfassungsrechtliche Grundlage nach Artikel 24 GG ist dafür dennoch nicht gegeben, weil die Bundewehr ohne UN-Mandat und damit außerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit agiert. Dabei kommt es dann auch nicht darauf an, ob dieser Einsatz im Rahmen der NATO stattfindet oder nicht. Die NATO kann das fehlende System kollektiver Sicherheit in diesem Fall nicht ersetzen, weil der Irak eben kein Mitglied dieses Bündnisses ist.

EU und OSZE sind keine Alternative zur NATO

Auch die EU ist keine Alternative zur NATO, weil sie zwar im Hinblick auf die EU-Staaten untereinander auch als System kollektiver Sicherheit betrachtet werden kann, aber weder vom Gründungsakt noch von ihrer Struktur ein militärisches Verteidigungsbündnis darstellt. Auch eine verstärkte Zusammenarbeit der Streitkräfte oder eine Konsolidierung des europäischen Rüstungsmarktes ändern daran prinzipiell nichts. Anders wäre es erst, wenn auch die Kommandostrukturen auf europäischer Ebene diejenigen der NATO ersetzen würden. Dafür müssten aber zunächst die Verträge selbst geändert werden, weil das die EU in ihrem Wesen grundlegend verändern würde. Unabhängig davon, dass dies politisch derzeit jede Vorstellungskraft übersteigt, wäre das sicherlich keine wünschenswerte Alternative zur NATO. Es wäre letztlich ein um die USA verkleinertes Verteidigungsbündnis und könnte als solches keinesfalls besser Frieden und Sicherheit gewähren.

Auch die OSZE kann die NATO nicht ersetzen, da sie zwar den Vorteil eines klassischen Systems kollektiver Sicherheit hat und daher bei der Konfliktlösung mit Russland eine entscheidende Rolle spielen muss, aber dafür eben nicht die Verflechtung der Streitkräfte aufbieten kann wie ein Verteidigungsbündnis.

Eine alternative NATO unter Einschluss Russlands

Die einzige Alternative zur bisherigen NATO, die ich langfristig sehe, wäre ihre Weiterentwicklung zu einem echten System kollektiver Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok. Die aktuelle Lage bietet dahingehend leider keinen Anlass für Optimismus. Aber Zeiten können sich auch wieder ändern, wie die letzten 70 Jahre gezeigt haben. Und schon einmal gab es ein Zeitfenster mit Chancen, die leider nicht genutzt worden sind.

Unter Einschluss Russlands bräuchte die NATO sich keine Sorgen mehr um ihre Existenzberechtigung als Verteidigungsbündnis durch Verlust des potentiellen Gegners machen. Ihr neuer Aufgabenschwerpunkt wäre es dann, Frieden und Sicherheit zwischen ihren Mitgliedern zu gewährleisten.

Sie wäre nicht mehr die alte NATO, die sie bei ihrer Gründung war, aber sie wäre dann weit mehr in der Lage das zu tun, was ihr seit den 1990er Jahren so oft misslungen ist: für Frieden und Stabilität zu sorgen.

Eine andere Alternative ist derzeit nicht greifbar, und wir müssen froh sein, wenn die NATO hält und nicht auseinanderbricht. Denn es gilt nach wie vor: Staaten, deren Streitkräfte miteinander verflochten sind, können schlecht Krieg gegeneinander führen.

Keine NATO ist deswegen auch keine Alternative.

Die NATO muss sich aber wieder auf das besinnen, was sie ist: ein militärisches Verteidigungsbündnis. Sie muss aufhören mit der Anmaßung, für Demokratie, Recht und Freiheit weltweit zuständig zu sein.

Wenn sie dann noch Abschied nimmt von der verfehlten nuklearen Abschreckungsstrategie und sich für internationale Rüstungskontrolle statt für die Aufkündigung derselben einsetzt, könnte sie immer noch eine stabilisierende Funktion haben.

Und wer weiß – irgendwann kommt vielleicht noch einmal die Chance, sich zu einem echten System kollektiver Sicherheit zu entwickeln. Dann wird es darauf ankommen, diese Chance nicht noch einmal zu verpassen.

Katja Keul, Mitglied des Bundestages, ist Obfrau im Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Mitglied der Parlamentarischen Versammmlung der OSZE.

NATO-Exzellenzzentren

NATO-Exzellenzzentren

Motor der militärischen Transformation

von Christopher Schwitanski

In der kritischen Auseinandersetzung mit der NATO stehen, als deutlichster Ausdruck militärischer Interventionspolitik, vornehmlich Militäreinsätze im Vordergrund. Der vorliegende Beitrag wird dagegen einen Blick auf ein Netzwerk militärischer Denkfabriken werfen, das einen wichtigen Teil der NATO-Infrastruktur ausmacht. Die so genannten Exzellenzzentren (Centres of Excellence) haben in den vergangenen Jahren innerhalb des Militärbündnisses zunehmend an Bedeutung gewonnen und in verschiedenen militärischen Einsatzfeldern maßgeblich an der Planung und Etablierung selbiger mitgewirkt.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion lag der Fokus der NATO nicht länger primär auf der bis dato proklamierten Verteidigung des Bündnisgebiets, sondern auf dem Umbau der NATO hin zu einem international agierenden militärischen Interventionsbündnis. Dieser bereits Anfang der 1990er Jahre einsetzende Umbau spiegelte sich u.a. in einer Verschlankung der NATO-Kommandostruktur wider, infolge derer auf dem NATO-Gipfel in Prag 2002 die Einrichtung zweier neuer NATO-Oberkommandos beschlossen wurde:

  • Die ehemaligen Oberkommandos für Europa und die USA wurden im in Belgien ansässigen Allied Command Operations zusammengelegt, welchem das Kommando über sämtliche NATO-Einsätze obliegt.
  • Des Weiteren wurde das in den USA beheimatete Allied Command Transformation gegründet, welches für die fortlaufende Weiterentwicklung der Allianz zuständig ist. Gemeinsam bilden beide die NATO-Kommandostruktur, welche den obersten zivilen und militärischen Gremien der NATO, dem Nordatlantikrat und dem Militärrat, unterstellt ist.

Im Jahr 2003 wurde darüber hinaus beschlossen, dem Allied Command Transformation eine Struktur militärischer Denkfabriken zur Seite zu stellen, welche die Weiterentwicklung und Transformation der Allianz in ausgewählten Bereichen der Kriegsführung vorantreiben sollen. Zu den Aufgabenfeldern dieser Einrichtungen zählt die Entwicklung neuer strategischer Konzepte und Doktrinen, die Verbesserung der Interoperabilität zwischen verschiedenen Teilstreitkräften, die Weiterentwicklung von Lehre und Ausbildung innerhalb der NATO-Struktur und die Auswertung bisheriger Erfahrungen für zukünftige Einsätze (NATO 2017, S. 4).

Weiterhin ist vorgesehen, dass jedes Zentrum einen eigenen inhaltlichen Arbeitsschwerpunkt verfolgt, um auf diesem Weg Kompetenzen zu bündeln und Überschneidungen innerhalb des Bündnisses zu vermeiden. Die Exzellenzzentren werden von der NATO offiziell als internationale militärische Organisationen akkreditiert, stehen außerhalb der NATO-Kommandostruktur und sind bezogen auf die NATO nur begrenzt weisungsgebunden. Somit bedarf ihre Tätigkeit keines bündnisweiten Konsenses (Rühle 2015, S. 190), was sowohl die inhaltliche Arbeit als auch die Kooperation mit NATO-externen Akteuren erleichtert.

Für die Einrichtung eines NATO-Exzellenzzentrums braucht es zunächst eine so genannte Rahmennation, welche die benötigten Räumlichkeiten und Ressourcen zur Verfügung stellt. Hinzu kommen Nationen, die das Zentrum finanziell und personell unterstützen und zugleich Einfluss auf die dortige Arbeit ausüben, da mit der finanziellen Beteiligung ein Sitz im Führungskomitee einhergeht, welches das jährliche Arbeitsprogramm des jeweiligen Exzellenzzentrums beschließt. Die Finanzierung und die inhaltliche Ausrichtung erfolgen somit nicht direkt über die NATO, sondern ausschließlich über die beteiligten Nationen.

Einzelne Exzellenzzentren bieten auch ausgewählten Nicht-NATO Staaten die Möglichkeit der Beteiligung, welche aber häufig nicht mit einem direkten Mitspracherecht bei der inhaltlichen Schwerpunktsetzung einhergeht (NATO 2017, S. 5). Damit dienen diese Exzellenzzentren einerseits dem militärischen Austausch innerhalb der NATO, ermöglichen darüber hinaus aber auch die Einbindung von Nicht-NATO Staaten und internationalen Organisationen sowie europäischen Institutionen, beispielsweise der Verteidigungsagentur der Europäischen Union.1 Daneben werden mittels verschiedener Workshops und Konferenzen auch gezielt Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik angesprochen und in die Tätigkeit einzelner Zentren eingebunden.

Bedeutung einzelner Exzellenzzentren und Beteiligung Deutschlands

Die Gründe der einzelnen Staaten für eine Beteiligung an einem Exzellenzzen­trum können unterschiedlich sein. Neben dem Zugriff auf multinationale Expertise in ausgewählten militärischen Einsatzfeldern kann über die Beteiligung ein größerer Einfluss innerhalb des Militärbündnisses angestrebt werden und durch die Initiierung eines Exzellenzzentrums im eigenen Land ein institutioneller Rahmen für die nationalen militärischen Interessen geschaffen werden (Rühle 2015, S. 196). Darüber hinaus ist auch die Wirkung einer solchen Einrichtung auf dem eigenen Hoheitsgebiet als militärisches Prestigeobjekt nicht zu unterschätzen.

Zwei Jahre nach dem Beschluss, die Exzellenzzentren als Struktur der NATO-Transformation zu etablieren, nahm 2005 im niederrheinischen Kalkar das Luftwaffen-Exzellenzzentrum (Joint Air Power/JAP) der NATO als erstes seine Arbeit auf. Seitdem ist die Anzahl dieser Einrichtungen auf aktuell 25 gestiegen; weitere sind in Planung (NATO 2017, S. 33). Aussagekräftiger als die bloße Anzahl der bestehenden NATO-Einrichtungen dürfte ein Blick auf das Gewicht einzelner Zentren innerhalb der NATO sein, welches sich am ehesten an der Anzahl der an ihnen beteiligten Nationen messen lässt. So ist beispielsweise gegenwärtig das Gemeinsame Cyberabwehr Exzellenzzentrum (Cooperative Cyber Defence, CCD) in Tallinn die Einrichtung mit den meisten beteiligten Nationen. Neben 19 NATO-Mitgliedstaaten sind Österreich, Finnland und Schweden an der Einrichtung beteiligt (ebd., S. 33), worin die zunehmende Bedeutung von Cyber-Kriegsführung innerhalb der Allianz deutlich wird, welche den Cyberraum mittlerweile zu einem, den klassischen Einsatzfeldern Land, Luft und Wasser ebenbürtigen, militärischen Operationsraum erklärt hat.

In Deutschland befinden sich neben dem bereits erwähnten Luftwaffen-Exzellenzzentrum das Exzellenzzentrum für Einsätze in Küstengewässern (Operations in Confined and Shallow Waters, CSW) in Kiel und das für Pionierwesen (Military Engineering, MILENG) in Ingolstadt. Für die drei genannten Beispiele gilt, dass sie in bereits bestehende Infrastrukturen der jeweiligen Bundeswehr-Teilstreitkräfte eingebunden sind – der Pioniere, der Luftwaffe und der Marine –, wobei sich insbesondere die letzteren beiden großer internationaler Beteiligung erfreuen. Neben den drei in Deutschland ansässigen Exzellenzzentren unterstützt die Bundesrepublik 18 weitere Zentren finanziell und/oder personell, sodass sie insgesamt an 21 der 25 Exzellenzzentren beteiligt ist (ebd., S. 33).2 Dies dürfte nicht zuletzt dem in den letzten Jahren zunehmend offensiv artikulierten militärischen Führungsanspruch Deutschlands innerhalb von NATO und EU sowie der hiermit einhergehenden massiven militärischen Aufrüstung geschuldet sein.

Exemplarische Tätigkeitsfelder

Das Exzellenzzentrum für Einsätze in Küstengewässern (CSW) unterstreicht in einer Publikation die Bedeutung der eigenen Arbeit – neben der Aufrechterhaltung des Handels zur See – damit, dass infolge von Globalisierung und Klimawandel die gesellschaftliche Ungleichheit in den wachsenden Küstenstädten der Welt zunehmen werde und somit auch die Wahrscheinlichkeit (militärisch zu bekämpfender) sozialer Unruhen (NATO COE CSW 2015). Die Exzellenzzentren in Kiel und Kalkar drängen unter Verweis auf die Relevanz der von ihnen bearbeiteten militärischen Einsatzfelder beide auf eine Aufrüstung in ihren Bereichen. Diese Forderungen werden über regelmäßig stattfindende Konferenzen nicht zuletzt an die Politik herangetragen.

Während die drei deutschen Exzellenzzentren in »klassischen« militärischen Einsatzfeldern tätig sind, gibt es in Europa eine Reihe von Einrichtungen, deren Arbeitsschwerpunkte neuere Entwicklungen innerhalb der NATO aufgreifen, u.a. die Exzellenzzentren für Kriegsführung im Cyberspace, Energiesicherheit, Strategische Kommunikation und zivil-militärische Zusammenarbeit (Deutscher Bundestag 2015, S. 2).

Das Exzellenzzentrum für Cyberabwehr (CCD) betont zwar bereits in seinem Titel den Aspekt der Verteidigung, eine Beschränkung auf bloße Verteidigung ist im Cyberraum aber schon rein technisch fast unmöglich. Einer der Arbeitsschwerpunkte der Einrichtung bestand in den letzten Jahren in der Diskussion von Anwendungsmöglichkeiten des Völkerrechts auf Angriffe im Cyberraum. Darüber hinaus wird jährlich eine internationale Konferenz für den Austausch mit Akteuren aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik organisiert, und es besteht eine Zusammenarbeit mit der Europäischen Verteidigungsagentur. Unter Beteiligung von EU- und NATO-Staaten organisiert das CCD inzwischen regelmäßig die nach eigenen Angaben weltweit größte militärische Cyberübung der Welt, »Locked Shields«, an der 2018 rund tausend Experten aus 30 Nationen beteiligt waren (Morel 2017). Erwähnenswert sind in diesem Kontext auch die aufeinander abgestimmten Krisenreaktionsübungen CMX 17 der NATO, an welcher u.a. das CCD und das Exzellenzzentrum für Krisenreaktion in Bulgarien beteiligt waren, und PACE 17 der EU.

An den Szenarien solcher Übungen lassen sich beispielhaft einige der Problematiken der neuen militärischen Einsatzfelder – an deren Erschließung einzelne Exzellenzzentren maßgeblich beteiligt sind – aufzeigen. So spielen online verbreitete Falschnachrichten eine Rolle bei den CCD-Übungen, ebenso NATO-kritische zivilgesellschaftliche Aktivist*innengruppen (Kleiß 2018). Zum einen lässt sich hinterfragen, ob das Militär der richtige Akteur für den Umgang mit Fake News ist, zum anderen wird in der Inszenierung zivilgesellschaftlicher Gruppen als Bedrohung ein zunehmender Fokus auf der kommunikativen Intervention deutlich, mit deren Hilfe die Zivilgesellschaft von den NATO-Narrativen überzeugt werden soll.

In diesem Bereich liegt auch der Arbeitsschwerpunkt des Exzellenzzentrums für Strategische Kommunikation (Strategic Communications, STRATCOM) in Riga. »Strategische Kommunikation« ist ein Begriff, den sowohl NATO als auch EU seit einigen Jahren zur Kennzeichnung ihrer Kommunikationsaktivitäten nutzen, welche erklärtermaßen nicht zuletzt zum Ziel haben, die eigene Bevölkerung von der Legitimität und Notwendigkeit militärischer Interventionen zu überzeugen (Boudreau 2016, S. 9). Die darauf gerichteten Bestrebungen umfassen neben der Delegitimierung NATO-kritischer Stimmen auch die Verharmlosung des Einsatzes konventioneller Kriegswaffen.

Während sich die Kommunikationsaktivitäten der NATO auch an die eigene Bevölkerung richten, zielt die zivil-militärische Zusammenarbeit, welche den Arbeitsschwerpunkt des gleichnamigen Exzellenzzentrums (Civil Military Cooperation, CIMIC) in Den Haag bildet, neben der Kooperation mit zivilen Organisationen vorwiegend auf die Zivilbevölkerung im Kriegsgebiet, um mithilfe direkter Kontakte zur Bevölkerung Lagebilder zu erstellen, die letztlich auch der Aufstandsbekämpfung und der Zielauswahl dienen.

NATO Centres of Excellence

  • Analysis and Simulation for Air Operations; Lyon, Frankreich
  • Civil-Military Cooperation; Den Haag, Niederlande
  • Cold Weather Operations; Bodø, Norwegen
  • Combined Joint Operations from the Sea; Norfolk, Virginia, USA
  • Command and Control; Utrecht, Niederlande
  • Cooperative Cyber Defence; Tallinn, Estland
  • Counter-Improvised Explosive Devices; Madrid, Spanien
  • Counter Intelligence; Krakau, Polen
  • Crisis Management and Disaster Response; Sofia, Bulgarien
  • Defence Against Terrorism; Ankara, Türkei
  • Energy Security; Vilnius, Litauen
  • Explosive Ordnance Disposal; Trencín, Slowakei
  • Human Intelligence; Oradea, Rumänien
  • Joint Air Power; Kalkar, Deutschland
  • Joint Chemical, Biological, Radiological and Nuclear Defence; Vyškov, Tschechien
  • Military Engineering; Ingolstadt, Deutschland
  • Military Medicine; Budapest, Ungarn
  • Military Police; Bydgoszcz, Polen
  • Modelling and Simulation; Rom, Italien
  • Mountain Warfare; Poljce, Slowenien
  • Naval Mine Warfare; Ostende, Belgien
  • Operations in Confined and Shallow Waters; Kiel, Deutschland
  • Security Force Assistance; Rom, Italien
  • Stability Policing Vicenza, Italien
  • Strategic Communications; Riga, Lettland

Quelle; Centres of Exzellence, nato.int, Stand 24.1.2019

Fazit

Die Ausweitung militärischer Einsatzfelder, die sich in den Arbeitsschwerpunkten der verschiedenen Exzellenzzentren widerspiegelt, wird als Reaktion auf neue Bedrohungen gerechtfertigt. So wurde in den letzten Jahren beispielsweise vermehrt das diffuse Konzept der »hybriden Bedrohung« herangezogen, um NATO-Aktivitäten im Cyber- und Informationsraum zu rechtfertigen. Dabei wird ausgeblendet, dass die neu definierten Bedrohungslagen häufig eine Konsequenz vorangegangener NATO-Interventionen sind (Schwitanski 2017). Zusätzlich ermöglicht die Ausweisung verschiedenster gesellschaftlicher Problemlagen als Bedrohungen, wie sie sich in Analysen zu den Folgen der Globalisierung des Exzellenzzentrums für Einsätze in Küstengewässern finden, die Konstruktion eben dieser Problemlagen als militärisch relevant.

Die hieraus folgende Ausweitung militärischer Handlungslogik auf zivile Bereiche sowie die damit einhergehenden Vorstellungen von Staatsgewalt und militärischem Handlungsspektrum werden nicht bloß militärintern verhandelt, sondern über verschiedene Veranstaltungsformate an politische und militärische Eliten herangetragen und befördern auf diesem Weg eine zunehmende Militarisierung der Gesellschaft. Als Teil dieses Prozesses wirken die NATO-Exzellenzzentren an der Neuausrichtung des Bündnisses unter dem Stichwort »360°-NATO«3 mit, welche gegenwärtig zur Aufrüstung und zur Eskalation in sämtlichen militärischen Einsatzfeldern beiträgt.

Anmerkungen

1) Gegenwärtig stellt die EU zwar den geringsten Teil der Aufträge und Anfragen an Exzellenzzentren, jedoch bleibt abzuwarten, ob dieser Trend anhält. Auch wenn hier die europäischen Institutionen weniger in Erscheinung treten, so tun es umso mehr ihre Mitgliedstaaten, was angesichts der zunehmenden Militarisierung der EU (Aktivierung der ständigen strukturierten Zusammenarbeit/PESCO, Einrichtung des EU-Verteidigungshaushalts) wenig überrascht.

2) Einen Überblick über sämtliche Exzellenzzentren (Stand 2017) bieten der COE Catalogue der NATO (NATO 2017) sowie die NATO-Webseite nato.int/cps/en/natohq/topics_68372.htm.

3) Der Ausdruck »360 degree approach« wurde zum ersten Mal beim Treffen der NATO-Verteidigungsminister im Juni 2015 verwendet. Siehe NATO 2015.

Literatur

Boudreau, B. (2016): „We have met the enemy and he is us“ – An analysis of NATO strategic communications: The international security assistance force (ISAF) in Afghanistan, 2003-2014. Riga: NATO StratCom COE.

Deutscher Bundestag (2015): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sevim Dagdelen, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Politische und demokratische Kontrolle der NATO-Kompetenzzentren. BT-Drucksache 18/4567 vom 9.4.2015.

Kleiß, A. (2018): Krisenmanagementübung »Hybrid Exercise Multilayer 18« der EU. IMI-Standpunkt 2018/037.

Morel, J.F. (2017): Interview of Merle Maigre, Director of NATO Cooperative Cyber Defence Centre of Excellence – “Cyber defence is clearly a top priority for NATO”. geostrategia.fr, 5.2.2018.

NATO (2015): Statement by NATO Defence Ministers. 25.6.2015; nato.int.

NATO (2017): 2018 COE Catalogue. Version 2018 V1, printed Dec. 2017; nicht mehr online abrufbar.

NATO (2018b): NATO Military Chiefs meet to discuss future military strategy. Pressemeldung 29.9.2018; nato.int.

NATO Center of Excellence for Operations in Confined and Shallow Waters (NATO COE CSW) (2015): Prospective Operations in Confined and Shallow Waters. Study Paper, First Edition.

Rühle, M. (2015): Energiesicherheit als strategische Herausforderung des Nordatlantischen Bündnisses. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Vol. 8, Nr. 2, S. 185-196.

Schwitanski, C. (2017): Hybride Bedrohungen – Analysekategorie oder Steigbügelhalter der Militarisierung? IMI-Studie 2017/13.

Christopher Schwitanski studiert in Augsburg Sozialwissenschaften und ist Beirat der Informationsstelle Militarisierung IMI e.V.

Das Zwei-Prozent- Ziel der NATO


Das Zwei-Prozent- Ziel der NATO

Deutsche Aufrüstung und kein Ende?

von Lühr Henken

Drei markante Entscheidungen – Trendwenden für ihre Befürworter, Kriegsvorbereitungen für ihre Kritiker – sprechen dafür, dass kein Ende der deutschen Aufrüstung zu erkennen ist: die dreifache Anzahl von Bundeswehrsoldaten in Kriegsmanövern, nämlich 12.000, im letzten Jahr; die Ankündigung Ursula von der Leyens, die Truppe bis zum Jahr 2025 um 25.000 auf 203.000 Soldat*innen zu vergrößern; und die höchste Steigerung des Bundeswehrhaushalt 2019 seit 1955: um 4,7 Mrd. auf 42,3 Mrd. Euro. Diese Entscheidungen sind Vorboten für das, was sich im Beschluss des NATO-Gipfels von Wales 2014 verbirgt, die Militärhaushalte aller NATO-Staaten (außerhalb der USA) möglichst auf zwei Prozent ihres Bruttoinlandproduktes (BIP) hochzufahren.

Bis zur Krise um die Ukraine 2014 hatten sich die Bundesregierungen bezüglich einer Erhöhung des Rüstungshaushalts zurückgehalten.1 Jedoch, so war es dem SPIEGEL zu entnehmen, „war [es] die Bundesregierung, die im Nato-Rat mehrere Vorschläge machte, um die Mitglieder zu höheren Militärausgaben zu animieren“.2 Also nicht US-Präsident Obama und schon gar nicht sein Nachfolger Trump hatten, wie immer behauptet wird, auf das Zwei-Prozent-Ziel gedrängt – treibender Faktor sind und waren nationale deutsche Ambitionen.

In der Gipfelvereinbarung von Wales wurde kein absoluter Wert vorgegeben: „Die Bündnispartner, deren Anteil vom BIP für Verteidigungsausgaben gegenwärtig unter diesem Richtwert liegt, werden darauf abzielen, sich innerhalb von zehn Jahren auf den Richtwert von zwei Prozent zuzubewegen.3 Das heißt: Man kann auch darunter bleiben, das Bemühen um die Erreichung des Zieles muss aber erkennbar sein.

Bei strikter Anwendung der Zwei-Prozent-Vorgabe der NATO, so errechneten Forscher der zwei regierungsnahen Institute Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik und Stiftung Wissenschaft und Politik, wird der deutsche Militärhaushalt im Jahr 2024 nach »NATO-Kriterien« bei 85 Milliarden Euro liegen.4 Das wäre eine Verdopplung der Ausgaben gegenüber heute. Nun legte sich Verteidigungsministerin von der Leyen (CDU) mit Zustimmung des Regierungspartners SPD Mitte Mai 2018 darauf fest, 2024 1,5 Prozent des BIP für die Bundeswehr ausgeben zu wollen, und meldete dies der NATO als Ziel.5 Damit wäre der Beschluss von Wales formal erfüllt. Laut SPIEGEL, dem ein internes Papier des Verteidigungsministeriums vorliegt, wären das 62,5 Milliarden Euro nach »NATO-Kriterien«.6 Gegenüber 2014 wäre das ein sehr saftiger Anstieg um 80 Prozent in zehn Jahren (von 34,75 auf 62,5 Mrd. Euro).

Aber von der Leyen reicht das nicht. Schon im Juni 2018 verkündete sie, sie wolle für 2021 und 2022 zusammen 25 Milliarden Euro mehr.7 Würde sich von der Leyen damit durchsetzen, wäre der Anteil von 1,5 Prozent am BIP bereits am Ende dieser Legislaturperiode, also 2021, erreicht. Hierfür gibt es von der SPD aber bisher noch keine Unterstützung.

Es stellt sich die Frage, wofür die Regierung – hier vor allem die CDU/CSU – eigentlich das viele Geld will? Als Gründe werden angegeben: Schutz vor Russland und die schlechte Ausrüstung der Bundeswehr.

Bedrohliches Russland vs. NATO-Übermacht

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg malt ein bedrohliches Bild von Russland. Er sagte im Juni 2016, „Russland versuche mit militärischen Mitteln einen Einflussbereich aufzubauen. Das [NATO-] Bündnis beobachte eine massive russische Aufrüstung an der eigenen Grenze – in der Arktis, im Baltikum, im Schwarzen Meer bis zum Mittelmeer.8 Unterschlagen wird hier das krasse Ungleichgewicht der Kräfteverhältnisse zugunsten der NATO.

Die Deutsche Welle veröffentlichte im Februar 2018 einen Kräftevergleich.9 Demnach verfügt die NATO mit knapp 3,5 Mio. Soldaten über die 4,4-fache Anzahl Russlands, die NATO hat 25 Prozent mehr Kampfpanzer, sie hat das 2,8-fache an Kampfhubschraubern, das Vierfache an Kampfflugzeugen, das 2,7-fache an Zerstörern, Fregatten und Korvetten und das 2,6-fache an U-Booten. Während die NATO-Staaten 27 Flugzeugträger nutzen, hat Russland nur einen. Nur in einem einzigen Rüstungsbereich hat Russland mehr als die NATO: Es hat acht Prozent mehr Artilleriesysteme.

Bei den Militärausgaben ist die NATO-Übermacht noch deutlicher: 2018 schätzte die NATO ihre Ausgaben auf 1.013 Mrd. US$.10 Das ist etwa das 15-fache Russlands. Russland senkt seine Militärausgaben seit 2016, in 2017 sogar um 20 Prozent auf 66 Mrd. US. 11

Es zeigt sich: Der von NATO-Seite vorgegebene Grund für das Zwei-Prozent-Ziel, eine russische Bedrohung mit entsprechender Aufrüstung, ist gegenstandslos. Von Russland ist kein Angriff zu erwarten.

Arme Bundeswehr vs. Aufrüsten für weltweite Schlagkraft

Der zweite Grund: die angeblich schlechte Ausrüstung der Bundeswehr. So schlecht kann es um sie nicht bestellt sein, denn die Bundeswehr setzte sich eine Norm für die tägliche durchschnittliche Einsatzbereitschaft ihrer Hauptwaffensysteme. Das sind 70 Prozent. Die erreichte sie nach eigenen Angaben 2017.12 Und das war 2014, dem ersten Jahr in dieser Statistik, nicht anders. Die folgende Aussage des Heeresinspekteurs Jörg Vollmer vom Februar 2016 unterstreicht das. Er sagte, das Heer verfüge „über modernes Gerät, welches uns angesichts sehr unterschiedlicher Bedrohungslagen in den verschiedenen Einsatzgebieten flexibel, reaktionsfähig, vor allem aber durchsetzungsfähig macht. Wir verfügen gerade hier über eine weitgehend bedarfsgerechte Ausstattung“.13

Trotzdem gab von der Leyen 2015 bekannt, dass bis 2030 insgesamt 130 Milliarden Euro für neue Ausrüstungen und Waffen benötigt würden.14 Wofür?

2013, also noch vor der Ukraine-Krise, schlug Deutschland der NATO das »Rahmennationen-Konzept« vor, das 2014 beim NATO-Gipfel in Wales verabschiedet wurde. Demnach gibt es unter den europäischen NATO-Staaten drei »Rahmennationen«: Deutschland, Großbritannien und Italien. Um sie herum gruppieren sich jeweils kleinere Armeen mit speziellen Funktionen. In jeder Gruppe übernimmt die »Rahmennation« die Führung und Koordination. Zudem stellt sie Logistik und Kampfverbände zur Verfügung.

Erste handfeste Auswirkung der »Rahmennation« ist die deutsche Rolle in der Schnellen Eingreiftruppe der NATO, der NATO Response Force (NRF), die in den letzten drei Jahren auf 40.000 Soldat*innen verdreifacht wurde. In dieser beteiligte sich die Bundeswehr 2015 maßgeblich am Aufbau der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), auf Deutsch bündig »Speerspitze« genannt. Die hat eine Truppenstärke von 5.000 bis 8.000 Soldat*innen, die binnen zwei bis sieben Tagen weltweit komplett verlegbar sein sollen.15 Die Führung dieser »Speerspitze« übernimmt Deutschland 2019 und 2023 jeweils für ein Jahr. Auch das sind von der Bundesregierung selbst übernommene Aufgaben.

Das »Bühler-Papier«

Der Chef des Planungsstabes der Bundeswehr, Generalleutnant Erhard Bühler, hingegen gab im April 2017 einen anderen Kurs vor: Man habe den Fokus bisher zu sehr auf Auslandseinsätze gelegt. Angesichts der Gefahr durch Russland müsse künftig die »Landes- und Bündnisverteidigung« gleichwertig im Fähigkeitsprofil berücksichtigt werden, hieß es. Bühler spricht von einer fundamentalen Änderung des Maßstabes. Das »Bühler-Papier« bildet die konzeptionelle Grundlage für das geheime »Fähigkeitsprofil der Bundeswehr«, das Generalinspekteur Eberhard Zorn im September 2018 unterzeichnete. Teile seines Inhalts wurden durch exklusive Berichte über das »Bühler-Papier« in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung öffentlich.16

Ab 2031 soll demnach das deutsche Heer über zehn voll ausgerüstete Brigaden verfügen und Deutschland als »Rahmennation« insgesamt 15 Brigaden führen können. Heute verfügt es über sieben nicht voll ausgerüstete Brigaden, darunter eine Lehrbrigade, sowie über Anteile an der Deutsch-französischen Brigade. Die erste komplette Brigade soll 2023 die »Speerspitze« der NRF stellen.

Was beinhaltet die volle Ausrüstung von zehn Brigaden? Dafür gibt das »Bühler-Papier« folgendes preis: ein Plus von 27 Bataillonen. Ein Bataillon umfasst 600 bis 800 Soldaten. Das bedeutet den Ausbau der Artillerie auf fast das Fünffache – nämlich von drei auf 14 Bataillone.17 Dafür werden neue Artilleriesysteme angeschafft. Hinzu kommt der Ausbau der Infanterie. Die braucht fünfmal so viele Radpanzer wie heute. Zudem würden mehr Kampf- und mehr Schützenpanzer ebenso benötigt wie mehr Militärtransportflugzeuge A400M und Drohnen. Dazu kommen sollen bis zu 60 schwere Transporthelikopter.18 Zudem soll Seekrieg aus der Luft wieder möglich gemacht werden.

Deutlich wird: Es handelt sich hier nicht um neue Ausrüstung, wie es die Kanzlerin behauptet,19 sondern es ist eine massive Aufrüstung.

Das Verteidigungsministerium machte gegenüber der NATO dann Nägel mit Köpfen. Anfang 2018 wurde bekannt, dass die Bundeswehr ab 2027 eine voll einsatzbereite schwere Division für die »Landes- und Bündnisverteidigung« vorhalten will, die aus drei Brigaden mit je 4.000 bis 5.000 Soldaten besteht. „Ab 2032 hat Deutschland der NATO dann sogar drei voll einsatzbereite Divisionen zugesagt.20 Das sind die zehn Brigaden aus dem »Bühler-Papier« und entsprechen ca. 60.000 Heeressoldaten, die sehr kurzfristig einsatzbereit sein sollen. Hier wurden ehrgeizige nationale Zusagen gemacht, ohne dass die Finanzierung in Höhe von Zig-Milliardenbeträgen gewährleistet ist.

EU-Militarisierung mit Deutschland an der Spitze

Die Steigerung der deutschen Militärausgaben auf zwei Prozent des BIP wirken sich auch massiv auf die Stellung Deutschlands in der militärischen Zusammenarbeit der EU aus.

Die deutsche Wirtschaft ist mehr als 40 Prozent stärker als die der zweitgrößten Wirtschaftsmacht in der EU, Frankreich.21 Geben beide Staaten zwei Prozent des BIP für ihr Militär aus, entspricht dies in Deutschland über 40 Prozent mehr. Deutschland wird so zur stärksten Militärmacht in der EU und zugleich unter den europäischen NATO-Staaten, denn die britische Wirtschaft ist ähnlich stark wie die französische.

Und so haben die lächerlichen 0,8 Prozentpunkte Mehrausgaben des Militärhaushalts von 2014 bis 2024 eine durchschlagende Wirkung. Das wollen die Friedensbewegten unseres Landes nicht. Deshalb ist es weiterhin wichtig, Unterschriften unter den Appell »Abrüsten statt Aufrüsten« zu sammeln.22

Anmerkungen

1) Aus Zahlen von SIPRI (auf der Basis des Dollarkurses von 2016) ergibt sich zwischen 1998 und 2017 eine minimale Schwankung der Bundeswehrausgaben von höchstens zwölf Prozent zwischen etwa 38,5 Mrd. US$ (in den Jahren 2006, 2007, 2013 , 2014) und 43 Mrd. US$ (in den Jahren 1999 und 2017). Zahlen aus SIPRI Military Expenditure Database, hier »Data for all countries 1949 -2017« in kon­stan­ten (2016) US$.

2) Von Hammerstein et al. (2018): Ein bisschen Frieden. DER SPIEGEL, Nr. 13/2017 vom 25.3.2017, S. 30.

3) NATO (2014): Wales Summit Declaration, Issued by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Wales. 5.9.14, Absatz 14.

4) Gebauer, M. et al. (2018): Eklat mit Ansage. DER SPIEGEL, Nr. 28/2018 vom 7.7.2018, S. 36.

5) süddeutsche.de, 11.6.2018.

6) spiegel.de, 14.5.18. Nach »NATO-Kriterien« zählen die Ausgaben für die Bundespolizei als Militärausgaben (ca. 4,5 Mrd. Euro 2024). Die Bundeswehr würde demnach 58 Mrd. Euro erhalten.

7) zeit.de, 16.6.2018.

8) spiegel.de, 16.6.2016.

9) Deutsche Welle, 8.2.2018.

10) NATO (2018): Defence Expenditure of NATO Countries 2011-2018. Press Release PR/CP(2018)091 vom 10.7.2018, S. 7.

11) SIPRI (2018): Global military spending remains high at $1.7 trillion. Press release vom 2.5.2018.

12) Bundesministerium der Verteidigung (2018): Bericht zur materiellen Einsatzbereitschaft der Hauptwaffensysteme der Bundeswehr. Anlage zu Parl Sts bei der Bundesministerin der Verteidigung Grübel – 1980003-V07 vom 26.2.2018.

13) Vollmer, J. (2016): Schnell, Durchsetzungsfähig, Kampfstark – Elemente der Ausrichtung des Deutschen Heeres. Infobrief Heer, Nr. 1/2016, S. 2.

14) heb/dpa/AFP (2018): Von der Leyen will 130 Milliarden Euro investieren. spiegel.de, 26.1.2016.

15) Stabenow, M. (2018): Geld ist doch nicht alles Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.7.2018.

16) Seliger, M. (2017): Der Kalte Krieg läst grüßen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.4.2017.
Leithäuser, J.; Seliger, M. (2017): Bis zu den Sternen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.4.2017.

17) Seliger, FAZ 7.4.2017, op.cit.

18) Bieterwettbewerb reloaded – Bundeswehr bekommt bis zu 60 schwere Transporthubschrauber. faz.net, 15.12.2017.

19) Merkel zur Bundeswehr: „Ausrüstung, nicht Aufrüstung“. Deutsche Welle, 7.7.2018.

20) Neuer Bundeswehr-Panzer zu alt – »Puma«-Aufrüstung kostet 500 Millionen. n-tv.de, 25.1.2018.

21) BIP Deutschlands (2017) 3.263 Mrd. Euro, BIP Frankreichs (2017) 2.288 Mrd. Euro. Das deutsche BIP liegt um 42,85 % über dem französischen. Fischer Weltalmanach 2019, S. 105 bzw. S. 165. Berechnungen des Autors.

22) https://abruesten.jetzt.

Lühr Henken, Berlin, ist einer der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.

Die neue Normalität?

Die neue Normalität?

NATO und Bundeswehr im (Informations-) Krieg mit Russland

von Jürgen Wagner

Seit der Eskalation der westlich-russischen Beziehungen ab 2014 hat sich die NATO wieder auf ihren alten Hauptfeind zurückbesonnen. Auch die Bundeswehr wird konsequent auf eine mögliche Auseinandersetzung mit Russland ausgerichtet, wie spätestens die beiden Kerndokumente des Jahres 2018, die »Konzeption der Bundeswehr« (20. Juli) und das »Fähigkeitsprofil« (3. September) verdeutlichten. Mehr noch: In Papieren des Heereskommandos wurden ein Krieg mit Russland und die daraus abgeleiteten Rüstungserfordernisse bereits detailliert ausgeplant. Besonders auffällig ist dabei, dass neben der Anschaffung und Finanzierung von zusätzlichem »schwerem Gerät« inzwischen vor allem dem Kampf um den so genannten Informationsraum eine immer größere Bedeutung eingeräumt wird.

Die Planungen von NATO und Bundeswehr für den Informationsraum betreffen nicht allein Aspekte wie das Lahmlegen gegnerischer IT-Systeme auf dem Gefechtsfeld, und auch mit massiver Propaganda im Feindesland ist es dabei nicht getan. Aus ihrer Warte befindet sich der Westen in einem dauerhaften (Informations-) Krieg mit Russland, in dem Maßnahmen bereits lange vor Ausbruch des »klassischen« Krieges einsetzen. Deshalb wird es als erforderlich erachtet, so etwa ein Papier der »Bundesakademie für Sicherheitspolitik« (BAKS), auch an der Heimatfront die Informationshoheit zu erringen: „Klassischerweise wird zwischen Friedens- und Kriegszeiten unterschieden – eine Grenze, die im Zeitalter des Informationskriegs zu verschwimmen droht. Doch bereits vor dem Ausbruch eines hochintensiven Konflikts stellt sich die Frage, wie dieser von einem gegnerischen Akteur im Cyber- und Informationsraum vorbereitet wird und welche Vorkehrungen dafür getroffen werden. […] Betrachtet man Kriege durch diese theoretische Brille, so beobachten wir, dass die Bevölkerung, oftmals auch nur Minderheiten oder einzelne Bevölkerungsteile, in die Informationskriege einbezogen und zum Ziel gemacht werden, indem sie einer kontinuierlichen Propaganda ausgesetzt ist. Dies geschieht lange bevor ein bewaffneter Konflikt ausbricht und Streitkräfte überhaupt involviert sind. […] Informationen selbst sind zum Angriffsziel und Mittel geworden; der Informationswettbewerb und der Kampf um die Deutungshoheit sind ein entscheidender Faktor in der modernen Kriegsführung geworden.1

Dachdokument der Rüstung: »Konzeption der Bundeswehr«

Den ersten wichtigen Meilenstein für eine grundlegende Neuausrichtung der Bundeswehr in Richtung Russland markierten im April 2017 die »Vorläufigen konzeptionellen Vorgaben für das künftige Fähigkeitsprofil der Bundeswehr«. Verfasst unter der Ägide von Generalleutnant Erhard Bühler, wurden schon damals keine Zweifel daran gelassen, dass der »Bündnisverteidigung« und damit faktisch der Rüstung gegen Russland künftig wieder mehr Bedeutung zukommen soll. Deutschland müsse bis 2031 drei schwere Divisionen mit je etwa 20.000 Soldat*innen in die NATO einbringen können, die erste bereits 2026, so die wichtigste Aussage des »Bühler-Papiers«. Den nicht sonderlich zarten Hauch von Kaltem Krieg, den das Ganze vermittelte, fasste damals die FAZ mit den Worten zusammen: „Damit würden die Divisionen wieder die klassische Struktur aus der Zeit vor 1990 einnehmen.2

In einem nächsten Schritt unterzeichnete Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen am 20. Juli 2018 die »Konzeption der Bundeswehr«, das »Dachdokument« der Truppe, die nun auch offiziell die (Re-) Fokussierung auf Auseinandersetzungen mit Russland zum Inhalt hatte (ohne dabei, wohlgemerkt, den Anspruch auf globale Militärinterventionen aufzugeben). Russland wird in der »Konzeption der Bundeswehr« zwar nicht ausdrücklich erwähnt, immer wieder ist aber die Rede davon, dass aufgrund „der sicherheitspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre […] die kollektive Bündnisverteidigung wieder in den Fokus der strategischen Überlegungen der NATO gerückt“ sei. Und weiter: „Die Bundeswehr muss […] in der Lage sein, zur kollektiven Bündnisverteidigung in allen Dimensionen mit kurzem Vorlauf, mit umfassenden Fähigkeiten bis hin zu kampfkräftigen Großverbänden innerhalb und auch am Rande des Bündnisgebietes eingesetzt zu werden.“ (S. 23)

Diese Formulierungen sind entlarvend, lassen sie doch genug Spielraum, um die Bundeswehr auch für Auseinandersetzungen in einem der aktuell noch »blockfreien« Länder zwischen der NATO und Russland einzusetzen, in denen die Spannungen seit Jahren zunehmen. Was dieser Anspruch für die Struktur und Bewaffnung der Bundeswehr bedeutet, wurde anschließend im »Fähigkeitsprofil der Bundeswehr« ausgebreitet.

Fähigkeitsprofil: Rüstungsstufenplan

Das »Fähigkeitsprofil der Bundeswehr«, ein internes Planungspapier der Bundeswehr vom 3. September 2018, übernimmt im Wesentlichen die bereits im »Bühler-Papier« erläuterten Vorschläge, präzisiert sie aber noch einmal deutlich. So visiert das Fähigkeitsprofil einen dreistufigen Umbau der Bundeswehr an – Schritt eins soll 2023 erfolgen. Zu diesem Zeitpunkt wird beabsichtigt, ein Brigadeäquivalent – also etwa 5.000 Soldat*innen (unter Berücksichtigung von Rotations- und Ruhezeiten noch einmal deutlich mehr) – mit voller Bewaffnung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung aller anderen »Verpflichtungen« (z.B. für die EU-Kampftruppen) in die NATO einbringen zu können. Der zweite Schritt soll 2027 folgen (ein Jahr später als im »Bühler-Papier« vorgesehen), da will die Bundeswehr eine Division mit etwa 20.000 Soldat*innen beisteuern. Das Ende des im Fähigkeitsprofil beschriebenen Planungshorizontes ist schließlich 2031 erreicht; von da ab sollen alle Teilstreitkräfte für einen Krieg mit Russland gerüstet sein: Drei Divisionen (Heer), vier gemischte Einsatzverbände (Luftwaffe), 25 Kampfschiffe (davon elf Fregatten) und acht U-Boote (Marine) sowie Kapazitäten zur Erlangung der Hoheit im Informationsraum (Cyber) will die Bundeswehr bis dahin mobilisieren können. Auch die Truppe soll größer werden: Die Bundeswehr soll von derzeit knapp 180.000 Soldat*innen allein bis 2025 auf 203.000 Soldat*innen anwachsen.3

Angesichts der Tatsache, dass Politik und Bundeswehr seit Jahren das fehlende Interesse an einer sicherheitspolitischen Debatte beklagen, ist es zynisch, das Fähigkeitsprofil als »VS [Verschluss-Sache] – nur für den Dienstgebrauch« einzustufen – es darf also nicht daraus zitiert werden (obwohl Teile des Inhaltes gleich an befreundete Zeitungen weitergereicht wurden). Die drei Anlagen zum Fähigkeitsprofil, in denen – mutmaßlich – eine detaillierte Aufstellung der Rüstungsprojekte mitsamt ihrer Kosten bis zur ersten »Ausbaustufe« 2023 sowie die zwischen 2024 und 2031 anvisierten Vorhaben enthalten sein sollen, wurden sogar als »geheim« eingestuft. Das bedeutet, Abgeordnete dürfen sie nur in der Geheimschutzstelle des Bundestages einsehen, sich keine Notizen darüber machen und auch nicht darüber reden.

Beim »erforderlichen« Finanzbedarf orientiert sich das Fähigkeitsprofil an den 1,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, die bereits im Mai 2018 in einem Papier der Bundeswehr-Universität auftauchten. Diese Zielgröße wurde anschließend mit Unterstützung der Kanzlerin von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen offiziell bei der NATO für das Jahr 2025 verbindlich zugesagt. In Zahlen bedeutet dies, dass nach dem Anstieg des Militärhaushaltes von 23,8 Mrd. Euro (2000) auf 43,2 Mrd. Euro (2019) noch einmal mächtig zugelegt werden soll: Als konkrete Zahl werden im Fähigkeitsprofil bis 2025 satte 59,78 Mrd. Euro (nach NATO-Kriterien 63,9 Mrd. Euro) genannt.4

Kriegsplanungen des Heereskommandos

Wie eingangs erwähnt, visierte das »Bühler-Papier«, die wichtigste Vorarbeit zum Fähigkeitsprofil, 2026 als Datum für die Einspeisung der ersten schweren Division in die NATO-Planungen an. Und genau dieses Datum diente augenscheinlich dem Heereskommando in dem Mitte 2017 von ihm herausgegebenen »Thesenpapier I – Wie kämpfen die Landstreitkräfte künftig?« als Orientierungspunkt. Darin wird ein detailliertes Szenario entworfen, wie die Bundeswehr im NATO-Verbund im Jahr 2026 einen Landkrieg gegen Russland gewinnen kann und welche Fähigkeiten hierfür beschafft werden sollen.5 In dem »Thesenpapier« geht es darum, ein „Zielbild Landstreitkräfte 2026“ auszuarbeiten, das sich prägend auf die künftige Struktur und Bewaffnung des Heeres auswirken soll: „Die in diesem Papier dargelegten Ideen und Anforderungen werden in einem Operationskonzept vertieft und dann konsequenterweise in neuen Strukturen münden. […] Das zukünftige Operationskonzept soll dabei die quantitativen und qualitativen Forderungen des Fähigkeitsprofils der Bundeswehr – abgeleitet aus den akzeptierten NATO Planungszielen und den nationalen Aufgaben – mit den hier dargestellten Ideen verknüpfen. Es wird so zum gedanklichen Kernelement der zukünftigen Entwicklung der Landstreitstreitkräfte.“ (S. 25)

Der zunehmenden Bedeutung des Informationsraums – sowohl für die Auseinandersetzung auf dem Gefechtsfeld selbst wie auch an der Heimatfront – wird unter anderem folgendermaßen Rechnung getragen: „Jede Präsenz und Aktion von [Landstreitkräften] auf einem zukünftig »gläsernen« Gefechtsfeld oder Einsatzraum erzeugt reaktiv einen Effekt im Informationsraum, der »Kampf« um/mit Informationen muss zwingend – und schnell im Sinne einer »Golden Hour« – geführt werden. (S. 8/9) Und weiter: „Das Gefechtsfeld wird transparenter und komplexer, sowohl im Sinne von verbesserten Aufklärungsfähigkeiten aller Seiten als auch hinsichtlich der Verbreitung von Meldungen/Nachrichten/Gerüchten quasi weltweit, in alle gesellschaftlichen Bereiche und in die eigene Truppe hinein. Das Gefechtsfeld wird durch die [sic!] Zusammentreffen von verbesserter Aufklärung, schnelleren Entscheidungs- und Bekämpfungszyklen aufgrund taktischer NetOpFü und zielgenauerer und verbesserter Wirkmittel letaler, selbst für gut geschützte Kräfte. […] Taktische Cyber-Kräfte unterstützen offensiv und defensiv den Einsatz von Landstreitkräften und […] ermöglichen auch […] den Angriff auf gegnerische Systeme und die offensive Beeinflussung von Entwicklungen im Informationsraum.“ (S. 15/16)

Daraufhin wird ein Szenario beschrieben, wie aus Sicht des Heeres ein künftiger (Informations-) Krieg gegen Russland ablaufen könnte. Es beginnt mit dem Auflaufen der maßgeblich von Deutschland aufgebauten Ultraschnellen NATO-Eingreiftruppe (VJTF), was aber nicht die erhoffte abschreckende Wirkung erzeugt: „Der Beschluss zur Aktivierung und Verlegung der VJTF (stand by), bestehend im Kern aus dem DEU Einsatzdispositiv (EDP), wurde aufgrund einer überraschenden Lageentwicklung notwendig. […] Dennoch kommt es nach einer Phase von Desinformation, separatistischen Aktivitäten, lokalen Angriffen von Separatisten und verdeckt operierenden Special Operation Forces zum Angriff der gegnerischen Hauptkräfte.“ (S. 17)

Als Reaktion auf diesen (russischen) Angriff startet die NATO daraufhin ihrerseits eine Offensive. Auf dem Gefechtsfeld stellt sich das dann wie folgt dar: „Zur Vorbereitung des Gegenangriffs befiehlt der BrigKdr das Auslösen des langfristig vorbereiteten Lähmens des gegnerischen FüInfoSys, um den gegnerischen Entscheidungsprozess zu verlangsamen. Parallel werden in offenen Quellen (soziale Netzwerke, Messenger Services, Nachrichtenkommentare etc.), eine Vielzahl von Meldungen platziert, die auf ein Ausweichen der NATO-Kräfte hindeuten und so die eigene Absicht verschleiern helfen.“ (S. 22)

Doch der (Informations-) Krieg soll nicht allein auf dem Gefechtsfeld, sondern auch an der Heimatfront ausgefochten werden: „Nachdem sich der Erfolg des Gegenangriffs abzeichnet, befiehlt der BrigKdr eine offensive und mehrsprachige Informationskampagne, die durch Bilder, Text, Videos etc. die Erfolge der NATO-Truppen herausstreicht und zeigt, dass Kollateralschäden vermieden werden, aber auch eigene Verluste nicht verschweigt. Zeitgleich werden ausgesuchte Angehörige des Gegners und deren Angehörige adressiert. Durch diese zeitnahe ehrliche und offene Berichterstattung wird gegnerischer Propaganda entgegengewirkt, die öffentliche Meinung sowohl in den NATO-Staaten als auch beim Gegner beeinflusst und die Informationshoheit umstritten oder gewonnen.“ (S. 22/23)

Deutlicher ist wohl nach dem Ende der Blockkonfrontation noch nie ein Krieg mit Russland öffentlich einsehbar durchgespielt worden.

Spiel mit dem Feuer

Die NATO (und damit auch die Bundeswehr) basiert – und rechtfertigt – ihr Agieren aktuell vor allem mit den Erkenntnissen aus einem Planspiel der RAND Corporation aus dem Jahr 2016.6 Die Denkfabrik gelangte zu dem Ergebnis, Russland sei in der Lage, innerhalb kürzester Zeit die drei baltischen Staaten zu besetzen und die »Suwalki-Lücke«, den Versorgungskorridor zu Polen, zu schließen. Daraus wurde die Forderung abgeleitet, eine solche Entwicklung müsse (und könne) durch eine beherzte NATO-Vorwärtspräsenz verhindert werden. Genau dies lieferte die Rechtfertigung für die unter Bruch der NATO-Russland-Akte inzwischen erfolgte Stationierung von 4.000 NATO-Soldat*innen in Osteuropa.

Möglich ist natürliches vieles, was dabei aber kaum eine Rolle zu spielen scheint, ist die Wahrscheinlichkeit, mit der ein solches Szenario eintreten könnte. Welches wie auch immer geartetes, nachvollziehbares Interesse Russland an einem solchen Schritt haben könnte, bleibt schleierhaft. Das andauernde Säbelrasseln und die gegen Russland gerichtete Aufrüstung (nicht nur) der NATO-Ostflanke bergen nicht nur großes Eskalationspotenzial, sie riskieren auch, den »Neuen Kalten Krieg« zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu machen. Allerdings hat es ohnehin den Anschein, als hätten sich die »strategischen Zirkel« schon auf einen Dauerkonflikt mit Russland eingerichtet, der wiederum als Rechtfertigung für die intensivierte Aufrüstung der Bundeswehr dient. So heißt es etwa in einem weiteren Papier der Bundesakademie für Sicherheitspolitik: „Es ist wichtig, den systemischen, ausdauernden und umfassenden Charakter der momentanen Herausforderung durch Russland zu begreifen. […] Die Antwort der atlantischen Gemeinschaft in Richtung Russland sollte der Herausforderung angemessen und daher ebenfalls systemisch, ausdauernd und umfassend sein. […] Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben bzw. den Eindruck aufkommen lassen, dass der derzeitige Konflikt mit Russland von vorübergehender Dauer sei und wir in absehbarer Zeit wieder zur Normalität zurückkehren könnten.7

Anmerkungen

1) Busch, C.; Düe, N. (2017): Informationskriege – Eine Herausforderung für die Bundeswehr. Bundesakademie für Sicherheitspolitik, BAKS-Arbeitspapier Nr. 24/2017.

2) Seliger, M. (2017): Bis zu den Sternen. Frank­furter Allgemeine Zeitung, 19.4.2017.

3) Offiziell zugänglichen Informationen zum Fähigkeitsprofil stellt das Verteidigungsministerium auf seiner Website bereit: Neues Fähigkeitsprofil komplettiert Konzept zur Modernisierung der Bundeswehr. 4.9.2018, bmvg.de.

4) Siehe u.a. Schnell, J. (2018): Diskussionsbeitrag zum Verteidigungshaushalt im Finanzplan der Bundesregierung für die Jahre 2019 bis 2022. München, Universität der Bundeswehr, 5.5.2018.

5) Kommando Heer (o.J.): Thesenpapier I – Wie kämpfen Landstreitkräfte künftig?
Das Papier wurde wohl im Sommer 2017 fertiggestellt, erschien aber erst später, zunächst auf dem Blog pivotarea.eu, 22.9.2017. Erst danach wurde es auch auf der offiziellen Webseite »Thesenpapiere zur Zukunft deutscher Landstreitkräfte« des Heeres (deutschesheer.de) veröffentlicht. Bislang folgten »Thesenpapier II – Digitalisierung von Landoperationen« sowie »Thesenpapier III – Rüstung digitalisierter Landstreitkräfte«.

6) Shlapak, D.A.; Johnson, M. (2016): Reinforcing Deterrence on NATO’s Eastern Flank. Rand Arroyo Center.

7) Menkiszak, M. (2017): Herausforderung Russland. Bundesakademie für Sicherheitspolitik, BAKS-Arbeitspapier Nr. 27/2017.

Jürgen Wagner ist geschäftsführendes Vorstands­mitglied der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (imi-online.de).

NATO-Russland-Beziehungen


NATO-Russland-Beziehungen

Wege aus der Konfrontation?

von Nadja Douglas

Vieles deutet daraufhin, dass die baltische Region einschließlich des angrenzenden Ostseeraumes in den kommenden Jahren entscheidend sein wird für die Beziehungen zwischen Ost und West. Wie in einem Brennglas zeigt sich, dass sowohl die NATO als auch Russland im Begriff sind, hier enormes Vertrauen zu verspielen, das an anderer Stelle gerade wieder aufgebaut werden soll. In den NATO-Russland-Beziehungen geht es heute mehr denn je um die gegenseitige Wahrnehmung und die Interpretation von Handlungsabsichten. Das Potenzial für Fehleinschätzungen ist immens.

Realistische Erklärungsansätze in den internationalen Beziehungen haben vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Zustands der Konfrontation wieder Konjunktur. Dies manifestiert sich besonders in der baltischen Region, wo sich zwei hochgerüstete Militärbündnisse gegenüberstehen: die transatlantische Militärallianz NATO auf der einen sowie Russland und seine Verbündeten der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit1 auf der anderen Seite. Für die beteiligten Staaten gibt es aus spieltheoretischer Sicht nur zwei Optionen: Aufrüsten oder Abrüsten. Momentan stehen die Zeichen auf Aufrüsten. Die als defensiv charakterisierten Aktionen der einen Seite werden von der anderen Seite als offensiv interpretiert und ebenso beantwortet.

Zu keiner Zeit in der Geschichte der Ost-West-Beziehungen wurde so wenig miteinander geredet wie heute. Freilich stehen sich heute keine Panzerarmeen mehr gegenüber, und militärische Übungen, obwohl auf beiden Seiten in der letzten Zeit ausgeweitet, erreichen nicht die damaligen Dimensionen. Da Russland sich heute nicht mehr als Teil einer von der NATO dominierten europäischen Sicherheitsordnung fühlt, sieht es sich auch nicht mehr an aus russischer Sicht überkommene Abkommen gebunden. Moskau plant vorrangig, die 2008 begonnene Modernisierung der Streitkräfte bis 2020 abzuschließen, bevor es aus einer Position der Stärke heraus bereit ist für neue Gespräche. Die Trump-Administration zeigt ebenfalls wenig Interesse: Anstatt neue Akzente zu setzen, fordert sie von Russland weiterhin vor allem die Einhaltung bestehender Rüstungskontrollverpflichtungen. Die Europäische Union wiederum ist gespalten. Während die einen an bestehenden Abkommen und Prinzipien festhalten (Stichworte Charta von Paris, Budapester Memorandum, NATO-Russland-Grundakte etc.), sind andere der Auffassung, dass diese Abkommen aufgrund der veränderten Sicherheitslage und Russlands Bilanz an Verfehlungen in den letzten Jahren hinfällig seien.2

Im Hinblick auf atomare Fähigkeiten kündigten jüngst zunächst die USA und dann Russland an, die Beteiligung am INF-Vertrag über das Verbot atomarer Mittelstreckenraketen auszusetzen. Die NATO-Mitgliedsstaaten hatten Russland erstmals geschlossen vorgeworfen, mit seinen neuen Marschflugkörpern3 gegen die Vorgaben des Vertrags zu verstoßen, was Russland zurückweist.4 Es gilt eine sechsmonatige Kündigungsfrist, und insbesondere deutsche Politiker setzen nun alles daran, das Abkommen noch zu retten.5 Es ist unstrittig, dass schon seit vielen Jahren gegenseitige Kontrollen fehlen und somit in der Vergangenheit die Vertragstreue keiner Seite vollständig verifiziert werden konnte. Ob dies nun gelingt, erscheint mehr als fraglich.

Bestandsaufnahme bestehender Verhandlungsformate

Sämtliche Verhandlungen, die Rüstungskontrolle bzw. militärische Transparenz (von Abrüstung spricht man schon lange nicht mehr) in Europa betreffen, verzeichnen seit längerer Zeit keinen Fortschritt bzw. wurden gänzlich aufgegeben. Während an der einen Stelle durch Militärstrategen sowie öffentliches verbales Aufrüsten Vertrauen zerstört wird, soll es an anderer Stelle in den noch bestehenden Verhandlungsformaten zwischen NATO und Russland bzw. unter der Ägide der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wieder aufgebaut werden.

Obwohl der NATO-Russland-Rat nach wie vor existiert, ist die Bilanz dieses seit 2002 existierenden Konsultationsgremiums, das im Sinne der NATO-Russland-Grundakte von 1997 eine zentrale Rolle in den NATO-Russland-Beziehungen spielen soll, eher bescheiden. Ursprünglich sollte der Rat zweimal jährlich auf der Ebene der Außen- und Verteidigungsminister*innen sowie monatlich auf der Ebene der Botschafter*innen bzw. Ständigen Vertreter*innen beim NATO-Rat tagen. Auch militärische Vertreter*innen sollten monatlich zusammenkommen. Die Realität zeigt hingegen, dass über die Jahre kein regelmäßiger Sitzungszyklus zustande kam. Auch hat sich der NATO-Russland-Rat nie von einem reinen Konsultationsgremium zu einem beschlussfähigen Organ entwickelt. Die Arbeit im Rat wurde darüber hinaus mehrfach über längere Zeit ausgesetzt. Zuletzt herrschte zwei Jahre lang Schweigen infolge der Ukraine-Krise und der Annexion der Krim (Douglas 2017).

Diese Praxis widerspricht dem beabsichtigten Zweck des Gremiums, denn der NATO-Russland-Rat sollte „das wichtigste Forum für Konsultationen zwischen der NATO und Russland in Krisenzeiten oder in Bezug auf jede andere Situation bilden, die den Frieden und die Stabilität berührt“ (NATO 1997, Kapitel II). Das Gegenteil ist heute der Fall: Befinden sich die NATO-Russland-Beziehungen in einer Krise, wird auch die Arbeit im Rat beeinträchtigt bzw. unterbrochen. Seit 2016 kam der Rat sporadisch acht Mal zusammen. Obgleich es auf beiden Seiten vereinzelt Bemühungen um einen konstruktiven Informationsaustausch gab, waren die letzten Sitzungen vor allem durch heftige Schlagabtausche und gegenseitige Vorwürfe geprägt.

Neben dem NATO-Russland-Rat gibt es derzeit nur noch ein weiteres Verhandlungsformat, in dessen Rahmen nach wie vor Wege aus der Krise der konventionellen Rüstungskontrolle gesucht sowie andere für die europäische Sicherheit relevante Fragestellungen thematisiert werden. Der von der Bundesrepublik während des OSZE-Vorsitzes 2016 initiierte »Strukturierte Dialog« ist ein informelles Dialogformat, das alle OSZE-Staaten einschließt und hochrangige Vertreter*innen aus den nationalen Außen- und Verteidigungsministerien der teilnehmenden Staaten zusammenbringt. Der Dialog versteht sich als Plattform für die Sondierung von Vorfragen im Hinblick auf mögliche neue Rüstungskontrollverhandlungen. 2018 wurden vom belgischen Dialog-Vorsitz insbesondere die Themen Bedrohungswahrnehmung und Risikominimierung auf die Agenda gesetzt. 2017 wurden Experten-Workshops zu Militärdoktrinen und militärischen Streitkräfte-Dispositiven sowie zu Übungen durchgeführt (OSCE 2018).

Das Forum dient vornehmlich der Bildung von Vertrauen, das an anderer Stelle (Rüstungsspirale in der baltischen Region) derzeit verspielt wird. Beispielhaft sollen neue Obergrenzen für Waffensysteme, Quoten für eine effektivere Beobachtung und Verifikation von militärischen Aktivitäten sowie Transparenzmaßnahmen, insbesondere in Bezug auf neue militärische Fähigkeiten und Waffengattungen, mehr Sicherheit und Stabilität schaffen. Auch Gebiete mit strittigem territorialem Status sollen nicht länger von der Rüstungskon­trolle ausgeklammert bleiben (Schmidt 2017). Bislang wurden sieben informelle Arbeitsgruppentreffen sowie drei Experten-Workshops abgehalten. Auch 2019 unter slowakischem OSZE-Vorsitz soll der Dialog fortgeführt werden. Unter anderem wird es um die Analyse von Handlungsabsichten sowie von »best practices« bei der Beantwortung von Fragebögen im Zusammenhang mit dem jährlichen militärischen Informationsaustausch gehen.

Gegenseitige Wahrnehmung und Provokation

Während für die Europäische Union und die USA die Krimannexion und die russische Intervention in der Ostukraine zu Recht eine Zäsur in den Beziehungen zu Russland darstellten, fand diese Zäsur in Russland selbst bereits Jahre zuvor statt. Nachdem »der Westen« seine damaligen Zugeständnisse nicht eingehalten hatte, eine Sicherheitsgemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok zu schaffen, die auf gleicher und unteilbarer Sicherheit basiert, stellte für Russland die NATO-Osterweiterung sowie die von den USA forcierte Stationierung einer Raketenabwehr in sensiblen Regionen, einen weiteren Einschnitt dar.

Auf beiden Seiten ist militärische Abschreckung wieder das Gebot der Stunde. Die transatlantische Allianz arbeitet an der Funktionalität der NATO-»Speerspitze« (Very High Readiness Joint Task Force). Man spricht davon, dass die Hauptfunktion der »Speerspitze«, neben der Rückversicherung der östlichen Bündnispartner, die einer »mobilen Stolperfalle« sei, die ein Durchmarschieren im Falle eines russischen Angriffes auf einen der östlichen Mitgliedsstaaten verhindern solle (Zapfe 2016, S. 2). Seit 2014 baut Russland ebenfalls gezielt seine militärischen Fähigkeiten im Westlichen Militärbezirk aus.6 Zudem hat Russland in Kaliningrad Radaranlagen sowie das S-400-Raketenabwehrsystem stationiert und seit spätestens 2016 Iskander-M-Kurzstreckenraketen, die auch nukleare Sprengköpfe tragen können. Immer offensichtlicher ist jedoch, dass es schwierig wird, den in der NATO-Russland-Grundakte postulierten Grundsatz der wechselseitigen Zurückhaltung einzuhalten. Aus russischer Sicht ist der NATO-Truppenaufbau an der Grenze zu Russland keine Rückversicherungsmaßnahme für die baltischen Staaten, sondern Teil einer größeren Strategie der Konfrontation. Der russische Präsident erklärte in der Vergangenheit wiederholt, dass Russland die Stationierung neuer NATO-Militärbasen und -Infrastruktur an der Grenze Russlands als direkte Bedrohung wahrnimmt und in angemessener Weise auf solche aggressiven Schritte reagieren werde (Kremlin 2018).

Auch wenn die baltische Region langfristig das größte Risiko für weitere Konfrontation birgt, gibt es weitere kritische Orte, an denen militärische Zwischenfälle provoziert werden. Der jüngste Zwischenfall in der Straße von Kertsch zeigt zum einen, dass die Ukraine im Eskalationsfall in ihren militärischen Beziehungen zu Russland ohne externe Unterstützung vollkommen unterlegen wäre. Russland auf der anderen Seite reagiert zunehmend nervös und räumt sich einseitig einen breiten Spielraum bei der Interpretation des geltenden Seerechts und der bilateralen Verträge mit der Ukraine ein. Die Ukraine wird seit 2014 als eine Art trojanisches Pferd »des Westens« gesehen. Die Tatsache, dass der ukrainische Präsident Poroschenko angekündigt hatte, einen Marinestützpunkt in Berdyansk im Asowschen Meer einzurichten, beunruhigt Moskau bereits seit geraumer Zeit. Die russische Regierung befürchtet, dass an dieser Stelle in nicht allzu weiter Zukunft NATO-Schiffe patrouillieren werden (Felgenhauer 2018). Tatsächlich rief Poroschenko als Reaktion auf den Zwischenfall nicht nur das Kriegsrecht aus, sondern appellierte an sämtliche NATO-Staaten, Schiffe zur Unterstützung der Ukraine in das Asowsche Meer zu schicken. Wie Russland auf einen solch hypothetischen Fall reagieren würde, lässt sich nur erahnen.7

Neujustierung der NATO-Russland-Beziehungen

Die Anzahl der vorhandenen Stellschrauben zur Neujustierung der NATO-Russland-Beziehungen hat in den letzten vier Jahren eher ab- als zugenommen. Zu Zeiten der Blockkonfrontation dienten Rüstungskontrollverhandlungen als kleinster gemeinsamer Nenner der Vertrauensbildung. Es muss also auch heute an jenen Stellschrauben gedreht werden, die zentral sind für die sicherheitspolitische Agenda beider Seiten. Um Wege aus der Konfrontation zu finden und das Minimalziel der »friedlichen Koexistenz« aufrecht zu erhalten, bedarf es künftig vor allem mehr Empathie für die Sicherheits- und Bedrohungswahrnehmung der jeweils anderen Seite.

Im Folgenden werden exemplarisch drei Bereiche skizziert, die dringend einer konsensuellen Regelung bedürfen. Darunter fallen die Vermeidung bzw. zunächst einmal die Definition von militärischen Zwischenfällen, die Erhöhung von militärischer Transparenz und Vertrauensbildung in kritischen Regionen sowie ein Modus Vivendi und gemeinsame Regeln im Umgang mit Staaten, die derzeit zwischen den euro-atlantischen und eurasischen Sicherheits- und Wertegemeinschaften stehen.

Vermeidung von militärischen Zwischenfällen

Im gesamten euro-atlantischen Raum, aber insbesondere in und über der Ostsee, kommt es verstärkt zu gefährlichen Zwischenfällen, bei denen zivile und militärische Schiffe und Flugzeuge Russlands, von NATO-Mitgliedsstaaten und von Dritten beteiligt sind. Allein zwischen 2014 und 2015 zählte das European Leadership Network (ELN) über 60 solcher Ereignisse (Kulesa et al. 2016, S. 7). Dabei handelte es sich vornehmlich um Luftraumverletzungen sowie Nahbegegnungen zwischen amerikanischen Kriegsschiffen und russischen Kampfflugzeugen. Trotz zahlreicher bilateraler, noch zu Sowjetzeiten abgeschlossener, Abkommen zwischen Russland und einzelnen Staaten besteht ein zentrales Problem fort: das Fehlen eines allgemeingültigen Abkommens, das die Wahrscheinlichkeit solcher Zwischenfälle minimiert bzw. regelt, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, falls sie dennoch stattfinden (siehe auch Kulesa et al. 2016). Da solch ein Abkommen derzeit und in naher Zukunft nicht greifbar ist, sollten Risiken für militärische Zwischen- bzw. Unfälle, wenn schon nicht minimiert, dann zumindest definiert werden.8

Neue regional ausgerichtete vertrauens- und sicherheitsbildende Initiativen

Das Risiko von nicht intendierten Zwischenfällen bzw. Provokationen in der baltischen Region wird verschärft durch den Mangel an überprüfbarer Zurückhaltung, eingeschränkter militärischer Transparenz und die Abwesenheit von direkter militärischer Zusammenarbeit und Kontakten in der Region. All das trägt unmittelbar zu einer erhöhten Bedrohungswahrnehmung und folglich zu einem erhöhten Risiko von Fehleinschätzungen bei.

Konkrete Empfehlungen zur Deeskalation reichen von Vorschlägen über ein baltisches Sicherheitssymposium (Kulesa 2018) bis hin zu Rüstungskontrollvereinbarungen auf der sub-regionalen Ebene (Richter 2016). Tatsächlich gibt es in der baltischen Region keine rechtlich bindende Vereinbarung über eine Begrenzung der dort stationierten Streitkräfte, weder aufseiten der baltischen Staaten noch aufseiten der Russischen Föderation. Das Informations- und Verifikationsregime des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) findet hier keine Anwendung, da Russland seine Teilnahme 2015 faktisch aufgekündigt hat und die baltischen Staaten das adaptierte Regime nie ratifiziert haben. Allerdings bietet das Wiener Dokument der OSZE, das einzig verbliebene Instrument für vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, unter Kapitel X, »Regionale Maßnahmen«, die Möglichkeit von gegenseitigen Verpflichtungen der militärischen Zurückhaltung (ähnlich wie jene in der NATO-Russland Grundakte). Es ermutigt teilnehmende Staaten, sich auf zusätzliche bilaterale und regionale vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zu einigen, um Spannungen zu deeskalieren. Der Fokus liegt dabei gerade auf Grenzregionen (Richter 2016, S. 9-11).

Gespaltene Gesellschaften als Sicherheitsrisiko

Häufig marginalisiert in der Konfrontation zwischen NATO und Russland, aber dennoch relevant, sind diejenigen Staaten, die zwischen einer transatlantischen Orientierung und der von Russland dominierten östlichen Interessensphäre schwanken. Die so genannten »Staaten dazwischen« wurden dadurch in der Vergangenheit wiederholt zum Spielball geopolitischer Auseinandersetzungen.9 Dieses Tauziehen wirkt sich negativ auf den inneren Zusammenhalt dieser Staaten und Gesellschaften aus und macht sie anfällig für innere Unruhen und Spaltungsprozesse (Babayan 2016).

Während die Aussicht auf einen Beitritt in die NATO und/oder die Europäische Union einst Garant für Sicherheit und Wohlstand der mittel- und osteuropäischen Staaten war, ist es inzwischen eine Quelle der Instabilität für die Länder weiter im Osten (wie gerade die Beispiele Georgien 2008 und Ukraine 2014 zeigen) (Charap et al. 2018, S. 6). Das trifft im Grunde auch auf die anderen Konflikte in der Region zu: Solange es keine Einigung über die regionale Ordnung gibt, werden weder Russland noch »der Westen« in der Lage sein, diese Konflikte vernünftig zu lösen, geschweige denn werden die lokalen Akteure dies erreichen. Auch offizielle oder informelle Verhandlungen über die europäische Sicherheitsarchitektur enden meist unweigerlich in einer Sackgasse, wenn es um die Frage der regionalen Ordnung ging (die innerhalb der OSZE initiierten Korfu- und Helsinki+40-Prozesse sind dafür gute Beispiele).

Lösungsvorschläge, die derzeit diskutiert werden (siehe z.B. Charap et al. 2018), zielen nicht darauf ab, die »Staaten dazwischen« wie gehabt nach dem Vorbild der Staaten Mittel- und Osteuropas zu transformieren. Aber auch Russland soll keine uneingeschränkte Einflusssphäre gewährt werden. Weder die NATO noch Russland sollten ihre Ambitionen uneingeschränkt weiterverfolgen können, um ihre jeweiligen Bündnisse zu erweitern. Stattdessen könnte ein weiteres regionales Integrationsformat zielführend sein, das offen und anwendbar wäre für die »Staaten dazwischen«, die weder einem westlichen noch einem östlichen Bündnis angehören möchten.10 Diese Option könnte einen Rahmen bieten für eine souveräne außen- und sicherheitspolitische Orientierung dieser Staaten sowie Verhaltensregeln aufstellen, wie die NATO und Russland mit ihnen umzugehen haben.

Anmerkungen

1) Die OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) ist das von Russland geführte Militärbündnis, dem einschließlich Russland sechs postsowjetische Staaten ange­hören.

2) Zu der ersten Gruppe gehören Staaten, die sich vor allem der OSZE nach wie vor verbunden fühlen, wie die Bundesrepublik Deutschland, Österreich, die Schweiz und Finnland; zu der zweiten Gruppe östliche EU-Staaten, wie Polen und die baltischen Staaten.

3) Hier geht es vor allem um den landgestützten Marschflugkörper 9M729, siehe dazu Goncharenko 2018.

4) Das russische Verteidigungsministerium und Generalstabschef Walerij Gerasimow werfen umgekehrt den Amerikanern vor, durch das in Osteuropa (Rumänien und zukünftig Polen) stationierte Aegis-Raketenabwehrsystem gegen den INF-Vertrag zu verstoßen: Dessen Abschussrampen könnten auch offensiv genutzt werden und atomar bestückte Marsch­flugkörper mittlerer Reichweite abfeuern (siehe ?????? ??????? ?? ????????? ??? ???????? ?????; interfax-russia.ru, 5.12.2018).
Siehe dazu auch Katarzyna Kubiak, NATO-Raketenabwehr – Stand und Herausforderungen, auf S. 21 dieser W&F-Ausgabe.

5) Außenpolitiker von CDU/CSU und SPD schlugen vor, Russland solle die umstrittenen Marschflugkörper so weit nach Osten verlegen, dass sie Europa nicht mehr erreichen könnten. Im Gegenzug sollen die USA ihre Raketenabwehrsysteme in Rumänien und die geplanten in Polen für russische Kontrollen öffnen (Mit diesem Vorschlag wollen deutsche Politiker den INF-Vertrag retten; welt.de, 3.2.2018).

6) Zudem führt Russland periodisch sogenannte Übungen zur Einsatzbereitschaft (snap exercises) im Westlichen Militärbezirk durch, um kurzfristig die Kampfbereitschaft zu testen (ohne 42 Tage Ankündigungsvorlauf, wie vom Wiener Dokument der OSZE über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen von 2011 vorgesehen). Allein 2017 wurden mehr als hundert solcher Übungen registriert.

7) Siehe Antwort des Pressesprechers von Präsident Wladimir Putin, Dmitrij Peskow, während einer Pressekonferenz am 29. November 2018: ?????? ???????????????? ?????? ????????? ????????? ??????? ???? ? ????; interfax-russia.ru.

8) So wird nirgendwo aufgeschlüsselt bzw. definiert, was für Ereignisse genau unter gefährliche Zwischenfälle militärischer Art“ fallen, wie sie zum Beispiel in Paragraph 17 des Wiener Dokuments Erwähnung finden. Kulesa et al. 2018 (S. 3) führen Zwischenfälle auf, wie z. B. gefährliche Verletzungen fremden Luftraums, Beinahekollisionen zwischen zivilen und militärischen Flugzeugen, Sucheinsätze von U-Booten in fremden Hoheitsgewässern, Abfangeinsätze im internationalen Luftraum u.a.

9) Die drei kaukasischen Staaten (Armenien, Aserbaidschan und Georgien) sowie die Ukraine, die Republik Moldau und Belarus sind mittlerweile Teil der Östlichen Partnerschaft der Europäischen Union.

10) Umfragen zufolge trifft das auf die Mehrheit der Gesellschaften in Georgien, Armenien und der Republik Moldau zu. Lediglich Ukrainer und Weißrussen sprechen sich mehrheitlich für einen Anschluss an NATO respektive OVKS aus (siehe Umfragedaten von 2017 in Charap et al. 2018, S. 26).

Literatur

Babayan, N. (2016): The In-Betweeners – The ­Eastern Partnership Countries and the Russia-West Conflict. Transatlantic Academy Paper Series 4/2016.

Charap, S.; Shapiro, J.; Demus, A. (2018): Rethinking the Regional Order for Post-Soviet Europe and Eurasia. Santa Monica, CA: RAND Corporation.

Douglas, N. (2017): Ist die NATO-Russland-Grundakte noch relevant? ZOiS Spotlight 11/2017, 24.5.2017, zois-berlin.de.

Felgenhauer, P. (2018): Russia’s Attack of Ukrainian Naval Ships in Black Sea- First Shots of Possible Winter War? Eurasia Daily Monitor, Vol. 15, Nr. 168.

Goncharenko, R. (2018): Ein nicht so geheimes Geheimnis – die russische Raketen 9M729. Deutsche Welle, 5.12.2018; dw.com.

Kremlin/ Presidential Executive Office (2018): Meeting of ambassadors and permanent representatives of Russia; en.kremlin.ru, 19.7.2018.

Kulesa, L.; Frear, T.; Raynova, D. (2016): Managing Hazardous Incidents in the Euro-Atlantic Area: A New Plan of Action, European Leader­ship Network, Policy Brief, November 2016.

Kulesa, L.; Raynova, D. (2018): Russia-West Incidents in the Air and at Sea 2016-2017 – Out of the Danger Zone? European Leadership Network, Euro-Atlantic Security Report, October 2018.

Kulesa, L. (2018): Challenges and opportunities for deterrence and arms control in the Baltic Sea area. European Leadership Network, Commentary, 1 October 2018.

OSCE (2018): The OSCE Structured Dialogue. 9.10.2018; osce.org.

NATO (1997): Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation vom 27. Mai 1997.

Richter, W. (2016): Sub-regional arms control for the Baltics – What is desirable? What is feasible? Deep Cuts Working Paper, No. 8, July 2016; deepcuts.org.

Schmidt, H.-J. (2017): Hoffnungsvoller Neustart der konventionellen Rüstungskontrolle? Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, PRIF Blog, 10. Juli 2017; blog.prif.org.

Zapfe, M. (2016): »Hybrid« threats and NATO’s Forward Presence – The Alliance’s Enhanced Forward Presence in the Baltics and Poland could face serious challenges in »sub-conven­tional« scenarios. Center for Security Studies at ETH Zurich, Policy Perspectives, Vol. 4, Nr. 7, September 2016.

Dr. phil. Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOIS) in Berlin. Sie befasst sich mit sicherheitspolitischen Fragestellungen im postsowjetischen Raum sowie in ihrem derzeitigen Forschungsprojekt mit der Beziehung zwischen gesellschaftlichen Initiativen und staatlichen Machtstrukturen.

Die NATO im Norden

Die NATO im Norden

Militarisierung des Nordens und des Ostseeraums

von Agneta Norberg

Selbst in den Ländern des (Hohen) Nordens und des Ostseeraums weiß die Öffentlichkeit nicht viel über die anhaltende Militarisierung ihrer Region. Dabei ist die NATO dort immer stärker präsent, selbst in Ländern, die dem Bündnis gar nicht angehören. Die Nähe der nordischen und baltischen Staaten zu Russland und die fortgesetzten Aktivitäten, um Russland als Feindbild aufzubauen, verschaffen dem Thema eine hohe Brisanz. Die Friedensbewegung sollte sich dringend mit den Fakten beschäftigen.

Thorvald Stoltenberg – Vater des aktuellen NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg – war in den späten1980er und frühen 1990er Jahren zwei Mal norwegischer Außenminister. Vor zehn Jahren verfasste er einen Vorschlag für eine »Nordische Kooperation in der Außen- und Sicherheitspolitik« (Stoltenberg 2009), den er den nordischen Außenministern im Februar 2009 in Oslo vorstellte. Aus seinen vielfältigen Vorabgesprächen für den Bericht ergab sich für ihn ein wichtiger Kernpunkt: „Es besteht weitgehend Übereinstimmung, dass die nordischen Länder aufgrund ihrer geographischen Nähe viele außen- und sicherheitspolitischen Interessen teilen, obgleich sie sich in ihrer Zugehörigkeit zur Europäischen Union und zur NATO unterscheiden.“ (ibid., S. 5)

Knapp zwei Jahre später lud der britische Premierminister David Cameron zum ersten »Nordic Baltic Summit« nach London, um ein »Bündnis der gemeinsamen Interessen« zu schmieden. Zu dem Gipfeltreffen reisten die Regierungschefs sämtlicher nordischen und baltischen Länder an: Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden sowie Estland, Lettland und Litauen. Besprochen wurden vor allem die Empfehlungen in Stoltenbergs Bericht.

Seit der Annahme des Berichts haben sich die skandinavischen und baltischen Länder sowie der Ostseeraum zum Truppenübungsplatz und zum Testgelände für neue Waffenentwicklungen der NATO entwickelt. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie die Länder des Hohen Nordens damit zur »Startrampe« eines Krieges der USA und der NATO gegen Russland werden könnten.

Schweden

Schweden trat der Europäischen Union erst 1995, also nach dem Kalten Krieg, bei, gehört jedoch weiterhin nicht der NATO an und ist formell neutral. Die Realität allerdings ist deprimierend und alarmierend. Ursprünglich stark im Sinne einer Friedenspolitik engagiert, werden seit etwa zehn Jahren sowohl Süd- als auch Nordschweden als ausgedehnte Kampfübungsplätze genutzt.

Ein Beispiel ist das »North European Aerospace Test Range« (NEAT). Das Test- und Übungsgelände umfasst zwei Kerngebiete in der nordschwedischen Provinz Norbotten: Das eine, Vidsel Test Range, wird vom schwedischen Amt für Rüstung und Wehrtechnik betrieben und ermöglicht u.a. Tests von ballistischen Raketen. Das andere, Esrange Space Center, wird für zivile und militärische Höhenforschungs- und Raketentests genutzt, beherbergt aber auch etliche Satelliten-Bodenstationen. Zu Test- und Trainingszwecken können die beiden 7.200 km2 und 6.600 km2 großen Gebiete durch einen östlichen und einen westlichen »Brückenkorridor« miteinander verbunden werden. Insgesamt steht dann für Militärübungen und zur Erprobung von Waffen ein Areal von der Größe Belgiens zur Verfügung.

Im Jahr 2004 stimmte das schwedische Parlament zu, NEAT gegen Entgelt zur Nutzung durch ausländische Truppen und Rüstungsunternehmen freizugeben. Dem Gesetz lag das von dem sozialdemokratischen Berater Karl Leifland verfasste Dokument »Snö, mörker och kyla – Utländska militörövningar i Sverige« (Schnee, Dunkelheit und Kälte – Ausländische Militärmanöver in Schweden) zugrunde (Leifland 2004).

Seither haben auf dem Testgelände NEAT zahlreiche Trainings und Waffentests stattgefunden. Hier wurde z.B. die Tarnkappen-Kampfdrohne NEURON getestet, die der Erprobung unterschiedlichster Technologien dient. NEURON ist ein Gemeinschaftsprojekt der Unternehmen Alenia (Italien), Dassault Aviation (Frankreich), EADS CASA (Spanien), HAI (Griechenland), SaabAero (Schweden) und RUAG Aviation (Schweiz). Ebenfalls auf NEAT getestet wurden verschiedene Varianten der Luftabwehrrakete AMRAAM. AMRAAM steht für »Advanced Medium-Range Air-to-Air Missile« (Luft-Luft-Lenkflugkörper mittlerer Reichweite) und ist für den Abschuss von Flugzeugen, Drohnen, Marschflugkörpern und ballistischen Raketen ausgelegt. Die radargelenkte Waffe findet ihr Ziel auch ohne Sichtkontakt, also unabhängig von den Wetter- und Lichtverhältnissen. Sie wurde bisher an 37 Ländern verkauft, darunter Kuwait, Israel, Südkorea, aber auch Schweden (für den SAAB-39 Gripen) und Deutschland (für die F-4 Phantom II).

NEAT wird von der NATO häufig für seine »Kriegsspiele« genutzt. Belgien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Lettland, Litauen, Norwegen, die USA, das Vereinigte Königreich und andere testen hier ihre Waffen und führen große NATO-Manöver durch. Die schwedische Regierung behauptet, NEAT sei unbewohnt und eigne sich daher ideal für solche Zwecke, und ignoriert die Proteste z.B. der Samen, deren Rentiere diese Gebiete durchwandern.

Im Hohen Norden findet alle zwei Jahre das Großmanöver »Cold Response« (Kalte Antwort) statt, in das die Nicht-NATO-Mitglieder Finnland und Schweden eingebunden sind. Bis zu 16.000 Soldat*innen sind jeweils beteiligt. Der Bevölkerung in anderen Landesteilen bleibt normalerweise verborgen, dass solche Manöver stattfinden. Im Jahr 2012 allerdings kam es zu einem Unfall, als ein Transportflugzeug der norwegischen Luftwaffe auf dem Weg nach Kiruna in den Berg Kebnekaise krachte und die fünf Insassen ums Leben kamen; darüber wurde in den Medien breit berichtet.

Ein anderes regelmäßig stattfindendes Großmanöver ist »Arctic Challenge« (Arktische Herausforderung), das in den Jahren zwischen »Cold Response« durchgeführt wird. Im Juni 2015 fand das NATO-Manöver in den schwedischen Provinzen Västerbotten und Norbotten statt. Mittelpunkt des Geschehens war Kallax, der Flughafen von Luleå am nördlichen Rand des Bottnischen Meerbusens. An der Übung waren 115 Militärflugzeuge aus 13 Ländern beteiligt. Zeitweise waren bis zu 95 Maschinen gleichzeitig in der Luft, und die Übungszone erstreckte sich über eine Fläche von der Größe Deutschlands. An dem Manöver nahmen auch zwei AWACS-Flugzeuge teil. Die Abkürzung steht für Airborne Early Warning and Control System (Luftgestütztes Frühwarn- und Einsatzleitsystem). Die AWACS bieten dem Bündnis eine unmittelbar verfügbare luftgestützte Fähigkeit für Kommando- und Kontrolle, Luft- und Seeüberwachung und Schlachtfeldmanagement“ (NATO 2018) und werden oft bündig als »fliegende Gefechtsstände« bezeichnet. Hauptstützpunkt der AWACS ist die NATO-Luftwaffenbasis in Geilenkirchen (Nordrhein-Westfalen); dort sind 17 Maschinen stationiert.

Allerdings gibt es gegen diese Manöver vor Ort auch Protest. Als das letzte »Arctic Challenge«-Manöver begann, schnitt eine Gruppe schwedischer Frauen den Zaun zum Fliegerhorst durch und rannte auf das Flugfeld; dabei trugen die Frauen ein Transparent, auf dem stand „Genug ist genug!“. Sie wurden von der Militärpolizei festgenommen und vom Gericht in Luleå zu einer Geldstrafe verurteilt.

Norwegen und Dänemark

Norwegen ist Gründungsmitglied der NATO, trat diesem Bündnis also nur vier Jahre nach der Befreiung des Landes von den Nazi-Truppen durch die Sowjetunion bei. Damals verloren Tausende sowjetischer Soldaten ihr Leben, und die Sowjetunion war bei der Bevölkerung in den nördlichen Landesteilen sehr beliebt. Im Süden war das anders, vor allem bei den Politikern in Oslo. Zahlreiche norwegische Politiker waren während der Besetzung im Exil in London und schmiedeten dort Pläne für die Zukunft ihres Landes. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Norwegen von der Arbeiderpartiet (Arbeiterpartei) geführt, die auch die absolute Mehrheit im Parlament stellte. Tryggve Lie, der in der Londoner Exilregierung als Außenminister fungierte und von 1946 bis 1952 der erste Generalsekretär der Vereinten Nationen war, spielte hinter den Kulissen eine Schlüsselrolle bei den Plänen, Norwegen in die NATO zu führen.

Die USA machten schon damals Pläne, die Sowjetunion einzukreisen, einzudämmen und zu verteufeln. Aufgrund seiner gemeinsamen Grenze mit Russland spielte Norwegen eine Schlüsselrolle in den Plänen der USA. Hochrangige US-Militärs reisten schon bald durch das Land und drängten ihre norwegischen Konterparts, die Militärpolitik und -organisation im Sinne der USA auszurichten. Der NATO-Beitritt war die logische Konsequenz.

Am nordöstlichsten Zipfel Norwegens, nur 50 Kilometer vom russischen Festland entfernt, liegt die kleine Insel Vardøya (deutsch: Vardö). Schon während des Kalten Kriegs waren hier mächtige »radomes« aufgebaut, hinter derer Kuppeln sich Radarsysteme der NATO verbergen. Die Insel ist ideal gelegen, um weite Teile des Nordpolarmeers zu überwachen, und beherbergt seit 1998 ein leistungsfähiges X-Band-Radar als Teil des US-Raketenabwehrsystems.

Von besonderem strategischen Interesse ist auch die zu Norwegen gehörende Inselgruppe Svalbard (Spitzbergen) zwischen der Barentssee und dem Nordpolarmeer. Durch seine Nähe zum Nordpol eignet sich der Archipel besonders als Bodenstation für Satelliten mit einer polaren Umlaufbahn, und die Militärs nutzen diesen Vorteil gerne, obwohl der Spitzbergenvertrag von 1920 die Inseln als entmilitarisierte Zone ausweist (Wormdal 2013).

Dänemark ist für die USA und die NATO aus einem ganz ähnlichen Grund interessant. Grönland liegt im Nordpolarmeer zwar dicht an Kanada, gehört politisch aber als autonomes Gebiet zu Dänemark. Schon 1951 begannen die USA auf Grönland mit dem Bau des Luftwaffenstützpunktes Thule Air Base. Thule diente der US Air Force im Kalten Krieg zunächst als Stützpunkt für das US Strategic Command und seine strategischen Atombomber, von der B-29 über die B-36 und B-47 bis hin zur B-52. Die Atombomber sind zwar verschwunden, dafür beherbergt die Insel heute wichtige Satellitenstationen und Radarsysteme für die US-Raketenabwehr und die Weltraumkriegsführung.

Zudem haben Dänemark und Schweden vereinbart, in einem Kriegsfall den Øresund, die Meerenge zwischen den beiden Ländern, zu schließen und russischen Schiffen die Durchfahrt zu verweigern.

Finnland

Finnland und Russland teilen sich eine 1.300 Kilometer lange Grenze. Im Dezember 2017 feierte Finnland 100 Jahre Unabhängigkeit von Russland. Jahrhundertelang war Finnalnd von Schweden regiert worden und fiel nach dem Russisch-Schwedischen Krieg von 1808-1809 als Großfürstentum an das russische Zarenreich. Nach der Oktoberrevolution von 1917 erklärte das finnische Parlament seine Unabhängigkeit, die noch im Dezember von Sowjetrussland anerkannt und von Wladimir Iljich Lenin unterzeichnet wurde.

1948 schlossen Finnland und die Sowjetunion den »Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand«, der über Jahrzehnte die finnische Außenpolitik mitprägte und Finnlands besonderes Geschick im diplomatischen Umgang mit seinem großen Nachbarn erklärt. Folglich hielt Finnland zur NATO und zu westlichen Streitkräften während des gesamten Kalten Krieges Distanz. „In Fragen von Krieg und Frieden sind wir immer für den Frieden. In internationalen Konflikten streben wir eher die Rolle des Arztes als die des Richters an“, sagte Urho Kekkonen einmal, von 1956 bis 1982 Präsident der Republik.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verließen die finnischen Politiker*innen zunehmend den friedens­politischen Weg. 1992 kaufte das finnische Militär Mehrzweck-Kampfflugzeuge des Typs F/A-18 Hornet der US-Firma Boeing und arbeitete enger mit den USA zusammen. Finnland wurde 1994 Mitglied des neu aufgesetzten NATO-Programms »Partnerschaft für den Frieden«, einer Art Vorzimmer der NATO. 1995 trat das Land der Europäischen Union bei, und seit 2011 ist es an den eingangs erwähnten »Nordic Baltic Summits« beteiligt, einer Art nordischer Mini-­NATO.

Seit der Annäherung an die NATO nimmt Finnland an allen militärischen Aktivitäten und Manövern teil, die das Bündnis im Hohen Norden durchführt. Einige Beispiele:

  • Jährlich finden die »Nordic Air Meet« (Nordischer Flugtreff) genannten multinationalen Trainings statt, bei denen sich NATO- und Nicht-NATO-Staaten über neue Kampftaktiken austauschen und diese einüben.
  • 2009 wurde die Kombatübung »Loyal Arrow« (Loyaler Pfeil) aufgesetzt, das bis dato größte Manöver im Norden. Die mehr als 50 Jets, Hubschrauber, Tankflugzeuge und AWACS nutzten die Flughäfen Bodø (Norwegen), Luleå und Vidsel (Schweden) sowie Oulu (Finnland); die Einsatzzentrale war in Ramstein (Deutschland).
  • Das Wintermanöver »Cold Response« (Kalte Antwort) findet jeweils im Winter in Norwegen statt, 2012 mit mehr als 16.000 Teilnehmer*innen.
  • In den Jahren 2013, 2015 und 2017 beteiligten sich finnische Truppen an »Artic Challenge«-Manövern (Arktische Herausforderung).
  • Im Juni 2016 führte die NATO mehrere Großmanöver im Ostseeraum durch. 40.000 Soldat*innen waren an parallelen Übungen zur See und in der Luft beteiligt, so an der jährlich stattfindenden Seeübung »Baltops« (Baltic Operations/Unternehmen Ostsee, 6.000 Teilnehmer*innen) und an dem zweijährlich organisierten polnischen Manöver »Anakonda« (Würgeschlange, mehr als 31.000 Teilnehmer*innen aus 24 NATO- und Partnerländern, Szenario: ein Angriff Russlands auf Polen).

Interoperabilität, d.h. die militärische Zusammenarbeit ohne Reibungsverluste, hat sich in jüngerer Zeit zu einem wichtigen Schlagwort entwickelt. Im September 2014 unterzeichnete der Kommandeur der finnischen Streitkräfte dafür ein »Host Nation Support«-Abkommen1 mit der NATO.

Die finnische Bevölkerung lehnt einen NATO-Beitritt mit hoher Mehrheit ab. Die Mitwirkung an Manövern, die Teilnahme an der »Partnerschaft für den Frieden« und ähnliche Angebote der NATO sind eine Möglichkeit, sich dem Bündnis dennoch anzunähern, und zwar unter Umgehung des finnischen Parlaments, wo das Thema nur selten öffentlich diskutiert wird.

Die baltischen Staaten

Die ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen sind kleine Anrainerstaaten der Ostsee bzw. des Finnischen Meerbusens mit Grenzen zu Russland bzw. Weißrussland. Sie traten am 1. Mai 2004 gemeinsam sowohl der NATO als auch der EU bei.

Auch die baltischen Staaten sind regelmäßig Schauplatz großer Militärmanöver unter Beteiligung der USA und der NATO. Seit 2014 beherbergt der estnische Luftwaffenstützpunkt Ämari die NATO Baltic Enhanced Air Policing Mission (NATO-Mission zur Überwachung und zum Schutz des baltischen Luftraumes), die den kompletten baltischen Luftraum überwacht. Ämari wird von Luftwaffen der USA und anderer Länder genutzt. Auch die Luftwaffenstützpunkte Lielvarde unweit der lettischen Hauptstadt Riga und Šiauliai in Litauen dienen im Rahmen von »Baltic Air Policing« als Stützpunkte unterschiedlicher Jagdgeschwader der NATO-Partner.

Und selbstverständlich beteiligen sich die drei baltischen Staaten an den bereits erwähnten »Baltops«-Seemanövern der NATO, die in den Gewässern der Ostsee und des Finnischen Meerbusens stattfinden.

Drei der NATO-Exzellenzzentren (siehe dazu den Artikel von Christopher Schwitanski auf S. 24) sind in baltischen Staaten angesiedelt: für »Cooperative Cyber Defence« (Gemeinsame Cyberverteidigung; Tallinn, Estland), »Energy Security« (Energiesicherheit; Vilnius, Litauen) und »Strategic Communications« (Strategische Kommunikation; Riga, Lettland). Das NATO STRATCOM COE – so das offizielle Kürzel – wurde 2014 durch ein »Memorandum of Understanding« zwischen Deutschland, Estland, Italien, Lettland, Litauen, Polen, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten gegründet und nahm die Arbeit noch im selben Jahr auf. Es beschäftigt sich mit „der koordinierten und angemessenen Nutzung von Kommunikationsaktivitäten und -fähigkeiten der NATO zur Unterstützung der Strategien, Einsätze und Aktivitäten des Bündnisses, um die Ziele der NATO zu fördern“ (stratcomcoe.org) – mit anderen Worten: mit der Informationskriegsführung und der Propaganda gegen Russland in sozialen Medien.

Und nun?

Die Friedensbewegung muss sich mehr dafür interessieren, welche Rolle der (Hohe) Norden und der Ostseeraum in der heutigen Kriegsplanung der NATO spielen. Dafür sind außer den dort stationierten Truppen und den zahlreichen Manövern die Satellitenstationen und Raketenabwehrsysteme von Thule, Svalbard, Esrange und Vardøya von größter Bedeutung. Wir müssen lernen, diese Zusammenhänge besser zu verstehen, denn nur dann können wir etwas dagegen unternehmen.

Anmerkung

1) Das Kommando Streitkräftebasis der Bundeswehr definiert Host Nation Support auf Deutschland bezogen wie folgt: „Militärische und zivile Unterstützungsleistungen, die Deutschland als Aufnahmestaat (Host Nation) in Frieden, Krise oder Krieg für verbündete Streitkräfte erbringt, die sich auf deutschem Hoheitsgebiet oder im Transit durch Deutschland befinden. Quelle: streitkraeftebasis.de. [die Übersetzerin]

Literatur

Leifland, K. (2004): Snö, mörker och kyla – Utländska militörövningar I Sverige. 30.6.2004; regeringen.se.

NATO Allied Air Command – Ramstein ­Germany (2018): NATO Airborne Early Warning; ac.nato.int.

Stoltenberg, T. (2009): Nordic Cooperation on Foreign and Security Policy – Proposals presented to the extraordinary meeting of Nordic foreign ministers in Oslo on 9 February 2009; regjeringen.no.

Wormdal, B. (2013): The Satellite War. San Bernadino, CA: Eigenverlag.

Agneta Norberg ist Vorsitzende des ­Schwedischen Friedensrates.

Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Militärische Mobilität in der EU


Militärische Mobilität in der EU

NATO, EU und »Military Schengen«

von Christoph Jehle

Die Verkehrsinfrastruktur in Mitteleuropa ist bislang nicht auf die Nutzung durch das US-amerikanische Militär ausgelegt. Weder die Belastbarkeit von Brücken noch die Lichtraumprofile von Tunneln entsprechen den Vorstellungen des US-Militärs, das sich darum bemüht, seine Ausrüstung möglichst schnell und ohne bürokratische Hindernisse an die Ostgrenze der NATO verlagern zu können, um jederzeit auf eine gefühlte russische Bedrohung reagieren zu können. Zu Zeiten des Kalten Kriegs lag die vorgesehene Verteidigungslinie noch am Rhein. Mit der Osterweiterung von NATO und EU wurde sie weit nach Osten verschoben. Jetzt sollen daher auch die Nachschublinien entsprechend ausgebaut werden.

Die New York Times meldete am 6. August 2017, dass kurz zuvor ein Militärkonvoi eines US-amerikanischen Logistikverbandes an der Landesgrenze des Nicht-­NATO-Mitgliedslandes Österreich mitten in einer Übung gestoppt wurde, als er von Deutschland auf dem Weg nach Rumänien war. Der Munitionstransport war an einem Freitag an der österreichischen Grenze angekommen und dort aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens während der Ferienzeit erst am Montag zur Weiterfahrt zugelassen worden (Schmitt 2018). Im Selbstverständnis des US-Militärs ist eine solche Behinderung seiner Arbeit keinesfalls akzeptabel.

In der Planung des Manövers war eine Behinderung der Bewegungsfreiheit der US-Truppen durch den Zoll eines EU-Mitgliedslandes nicht berücksichtigt worden – in vielen Ländern, in welchen US-Truppen stationiert sind, können sie sich weitgehend frei bewegen. Als einzige Einschränkung für den Transit durch Österreich war im Vorfeld bekannt geworden, dass die Truppen ihre Zwischenstopps nur in Liegenschaften des Bundesheers vornehmen dürften.

Weil sich die US-Truppen aufgrund der bestehenden Zollformalitäten und Vorkommnissen wie dem geschilderten in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt fühlen, drängt man vonseiten der USA darauf, die EU solle dafür sorgen, dass Soldaten auch mit schwerem Gerät schnell innerhalb Europas verlegt werden können.

Freie Fahrt für US- und NATO Truppen in der EU

Dieses Konzept wurde unter dem Schlagwort »Military Schengen« diskutiert. Der Begriff kam im Herbst 2017 auf, als man das vom Schengener Durchführungsabkommen geprägte Bild des unkontrollierten Passierens der Grenzen zwischen den sogenannten Schengen-Staaten auf die Bewegungsfreiheit der US-Truppen in Europa übertragen wollte. Inzwischen ist in Europa jedoch der politische Druck gewachsen, Schengen eher zurückzufahren und für möglichst lange Zeit wieder robuste Grenzkontrollen zwischen den Schengen-Staaten durchzuführen. Mit Schengen wird nun oftmals eine Bedrohung der Landesgrenzen verbunden, und so wird der Begriff »Military Schengen« inzwischen eher seltener genutzt.

Die Idee wurde jedoch keinesfalls aufgegeben, denn für die Verlegung von Truppen der NATO und von US-Truppen, die nicht der NATO unterstehen, sollen künftig die Grenzen zwischen den NATO-Mitgliedsstaaten, aber auch den bislang neutralen EU-Mitgliedern wie Österreich oder Finnland, keine Truppenbewegungen mehr behindern. Zudem bahnte die Diskussion um Military Schengen den Weg für Pläne für eine von der NATO unabhängige Militärzusammenarbeit in der EU.

Ein viel gravierenderes Problem als die Zollformalitäten stellte bei dem Militärmanöver allerdings die deutsche Verkehrsinfrastruktur dar, die zumeist nicht für die Ansprüche des Militärs ausgelegt ist. So sind Tunnel oftmals nicht für die Durchfahrt von Panzern ausgelegt, und Brücken verfügen nicht über die benötigte Tragkraft, sodass die US-Militärkonvois bei dem eingangs erwähnten Manöver Umwege fahren mussten, die man bei der Planung nicht berücksichtigt hatte.

Die Verkehrsinfrastruktur in Westdeutschland wurde in den vergangenen sieben Jahrzehnten nur auf eine zivile Nutzung ausgelegt. Daher steht man nun vor dem Problem, dass die Truppen nicht so schnell vorankommen, wie vom Navigationssystem angezeigt.

Verlagerung der Kosten

In NATO-Kreisen wird die militärische Ertüchtigung der Verkehrsnetze immer häufiger mit der wiederentdeckten »russischen Bedrohung« und der Abschreckung Russlands begründet. Die EU-Kommission verabschiedete im März 2018 einen Aktionsplan zur Ertüchtigung des europäischen Verkehrsnetzes für militärische Land-, Luft- und Seetransporte innerhalb und jenseits der EU (EC 2018). Statt »Military Schengen« lautet das Schlagwort jetzt »militärische Mobilität«.

Die Kosten für den militärgerechten Ausbau von Autobahnen und Bahntrassen werden dabei nicht dem Rüstungshaushalt, sondern dem Verkehrsetat zugeordnet. Dieser reicht jedoch in Deutschland nicht einmal aus, um die zivile Mobilität sicherzustellen, was sich in der Sperrung maroder Autobahnbrücken, zahlreichen Schlaglöchern und anhaltenden Problemen beim Bahnverkehr zeigt. Bis 2019 will die EU-Kommission ermitteln, welche Voraussetzungen für Militärtransporte erforderlich sind und welche Teile des transeuropäischen Verkehrsnetzes sich dafür eignen. Dabei soll nicht nur die im Besitz der öffentlichen Hand liegende Infrastruktur berücksichtigt werden, sondern auch die Autobahnstrecken, die von Privatfirmen bewirtschaftet werden. In welchem Umfang solche Strecken betroffen sind und wie die jeweiligen Verträge angepasst werden sollen, ist derzeit noch nicht bekannt.

Des Weiteren soll im Rahmen des europäischen Aktionsplans zur »militärischen Mobilität« ermittelt werden, welche rechtlichen und regulatorischen Barrieren neben den physischen Hindernissen bislang den freien Transport von militärischen Gütern und Mannschaften durch die EU behindern. So gibt es z.B. EU-weite Vorschriften für den Transport gefährlicher Güter, die allerdings nur für zivile Transporte gelten; beim militärischen Transport von Gefahrgütern gelten meist nationale Regeln. Das Regelwerk soll nun überprüft und vereinheitlicht werden.

Die Verquickung von NATO und EU

Die seit mehreren Jahren vorangetriebene Vermischung der Ambitionen der NATO und der aus der Europäischen Montanunion über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hervorgegangenen Europäischen Union ist bereits weit fortgeschritten. Wer in den letzten Monaten in Brüssel war, dem wird aufgefallen sein, in welchem Umfang die Stadt inzwischen von militärischen Streifen geprägt ist. Da Brüssel gleichzeitig EU-Verwaltungszentrum wie auch Sitz des NATO-Hauptquartiers ist, kann eine Abstimmung auf kurzem Wege erfolgen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigt sich erfreut: „Militärische Mobilität kann ein Flaggschiff der NATO-EU-Zusammenarbeit sein.“ (NATO 2017)

Unter dem Kürzel »PESCO« (Permanent Structured Cooperation; Ständige stukturierte Zusammenarbeit) will die Europäische Union die Mitgliedsländer zu einer kontinuierlichen militärischen Zusammenarbeit verpflichten. Im Kern geht es darum, die EU-Mitgliedsstaaten schneller und leichter für militärische EU-Missionen aktivieren zu können, ohne dass ein einzelnes EU-Mitglied derartige Aktivitäten verzögern oder gar blockieren könnte. Mit dabei sind inzwischen 25 EU-Mitglieder; nicht beteiligt sind Großbritannien, das die EU verlässt, Dänemark, das traditionell bei der europäischen Militärpolitik nicht mitmacht, und Malta, das die in PESCO vorgesehene regelmäßige Erhöhung der Militärausgaben ablehnt. (Mehr zu PESCO siehe Wagner 2018)

Zwei Klassen von Mitgliedern

PESCO wurde von Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien initiiert, die sowohl NATO- als auch EU-Mitgliedsstaaten sind. Sie hoffen, dass ihre Rüstungsindustrie von PESCO profitiert. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang, dass PESCO mit dem in der EU-Militärpolitik bislang geltenden Konsensprinzip bricht. Jetzt dominieren die großen EU-Mitglieder über die kleinen, denn eine Entscheidung gilt dann als getroffen, wenn sie 65 % der Bevölkerung und mindestens 55 % der Staaten hinter sich hat. Andersherum betrachtet haben Deutschland und Frankreich inzwischen eine Sperrminorität und können jede Entscheidung blockieren, die ihnen nicht behagt. Stimmberechtigt sind bei PESCO ohnehin nur die EU-Mitglieder, die sich an der »strukturierten Zusammenarbeit« beteiligen. Somit entwickeln sich hinsichtlich der EU-Militärpolitik inzwischen zwei Klassen von Mitgliedern: solche, die mitentscheiden dürfen, und solche, die mit deren Entscheidungen leben müssen.

Deutschland und Frankreich sicherten sich durch die EU-Militärkooperation einen erheblichen Einfluss. Die anderen Mitglieder mussten sich auf die Einhaltung von Rüstungskriterien verpflichten, welche die beiden Großen im Vorfeld festgezurrt hatten. Jedes teilnehmende Land muss zudem als strategisch bedeutsam erkannte Fähigkeiten entwickeln und bereitstellen sowie einen wesentlichen Beitrag zu EU-Gefechtsverbänden leisten. Außerdem müssen sich die PESCO-Staaten zu einer jährlichen realen, also inflationsbereinigten, Aufstockung ihrer Rüstungshaushalte bereit erklären (siehe dazu z.B. EU Defence 2018). Die PESCO-Mitglieder haben sogar eingewilligt, sich jährlich von der EU-Verteidigungsagentur evaluieren zu lassen, ob sie den zugesagten Aufrüstungsverpflichtungen nachgekommen sind. Dadurch besteht die Möglichkeit, rüstungsunwillige Staaten mit Sanktionen zu belegen, sie sogar per Mehrheitsentscheid aus der PESCO-Zusammenarbeit auszuschließen und damit zum EU-Mitglied zweiter Klasse zu erklären. Das erinnert stark an die Diskussion um die Umsetzung des Zwei-Prozent-Ziels der NATO (Henken 2018).

Was im Umfeld von PESCO passiert

Es wird häufig argumentiert, PESCO ermögliche Einsparungen, weil innerhalb der EU Doppelstrukturen verzichtbar würden. In Wirklichkeit führen die zahlreichen Projekte jedoch zu Mehrausgaben, die – wie am Beispiel der »militärischen Mobilität« gezeigt – nicht durchgängig im Verteidigungshaushalt auftauchen. Deutschland hat bei sechs PESCO-Projekten die Koordination übernommen (BMVg 2018), u.a. bei folgenden:

  • Mit dem Aufbau eines »Europäischen Logistiknetzwerks« wird die Idee von »Military Schengen« umgesetzt. Perfekt ergänzt werden diese Pläne durch die Einrichtung des neuen NATO-»Kommandozentrums für den rückwärtigen Raum« (Joint Support Enabling Command DEU) in der süddeutschen Stadt Ulm. Das Kommando wurde von der NATO im Juni 2018 beschlossen, soll 2021 voll einsatzbereit sein und ist zuständig für die Militärlogistik, die die schnelle Truppenverlegung innerhalb Europas ermöglicht (Kommando Streitkräftebasis 2018).
  • Das »Europäische Sanitätskommando«, das die medizinische Versorgung für das Militär europaweit effizienter gestalten soll, greift auf die deutsche Erfahrung mit Feldlazaretten zurück. Die Bundeswehrpraxis mit ihrer ortsnahen Versorgung in den Einsatzgebieten hat sich als effizienter erwiesen als das US-Modell, bei dem Verletzte in ein bestens ausgestattetes Militärkrankenhaus in der Etappe ausflogen werden, welches die Opfer oftmals jedoch nicht lebend erreichen.
  • Das »EU-Kompetenzzentrum Trainingsmissionen« soll die Kräfte für Operationen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU ausbilden und im Rahmen der Krisenreaktionskräfte (EUFOR CROC) künftig auch ohne Großbritannien 60.000 Soldaten ins Feld führen können.

Inzwischen wurden 34 PESCO-Projekte beschlossen, die von der Elektronischen Kampfführung (EloKa) in einem elektromagnetischen Umfeld über den Kampfhubschrauber »Tiger Mark 3« bis zur bewaffneten Eurodrohne (MALE RPAS) und dem deutsch-französischen Kampfpanzer (MGCS) reichen.

Finanziert werden diese Projekte zumindest teilweise über den Europäischen Verteidigungsfonds, ein 13 Milliarden schweres Programm, das der parlamentarischen Kontrolle weitgehend entzogen ist. Dieser Fonds wird aus dem allgemeinen EU-Haushalt finanziert, der eigentlich gar keine Ausgaben mit militärischen Bezügen zulässt (siehe dazu z.B. Töpfer 2018).

Dass man die europäische Zusammenarbeit zunehmend auf den militärischen Bereich fokussiert, zeigt sich auch an der von Frankreich angestoßenen »Europäischen Interventionsinitiative« (EI2), die gemeinsame Militärinterventionen erleichtern soll. Da diese Initiative formal außerhalb der EU-Strukturen läuft, wird sie weder vom Brexit tangiert noch behindert sie eine Mitarbeit Dänemarks, das sich von PESCO fernhält. Deutschland zeigte sich ursprünglich gegenüber dieser Idee des französischen Präsidenten Macron skeptisch, schloss sich inzwischen jedoch der neben der NATO und PESCO dritten militärischen Zusammenarbeit in Europa an.

EI2 wird im Gegensatz zu PESCO als nicht-bindend bezeichnet. Mitglieder der EI2 sind Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Portugal und Spanien. Auffallend an dieser Ländergruppe ist die Tatsache, dass nur ein osteuropäischer Staat, mit Finnland aber auch ein Nicht-NATO-Staat dazugehört. Die »Koalition der Willigen« verschafft sich mit EI2 die Option, ohne Mitwirkung der NATO, der USA oder relevanter osteuropäischer Staaten tätig zu sein – stellt sich dabei aber nicht gegen die USA. Die von Macron im Zusammenhang mit der europäischen Militärzusammenarbeit an anderer Stelle geäußerte Ausrichtung auch gegen die USA hatte ihm nicht viel Zuspruch gebracht.

Literatur

Bundesministerium der Verteidigung/BMVg (2018): PESCO – Mehr Zusammenarbeit bei der Verteidigung. 11.12.2018, bmvg.de, Aktuelles.

European Commission/EC (2018): Joint Communication to the European Parliament and the Council on the Action Plan on Military Mobility. Dokument JOIN(2018) 5 final vom 28.3.2018.

EU Defence (2018): Ständige Strukturierte Zusammenarbeit /SSZ) – Vertiefung der Verteidigungszusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaaten. Fact Sheet, November 2018; verfügbar auf eeas.europa.eu.

Henken, L. (2018): Das Zwei-Prozent-Ziel – Deutsche Aufrüstung und kein Ende? S. 27 in dieser Ausgabe von W&F.

Kommando Streitkräftebasis (2018): Joint ­Support Enabling Command DEU. 24.10.2018, ­kommando.streitkraeftebasis.de.

NATO (2017): Doorstep by NATO Secretary General Jens Stoltenberg at the start of the European Union Foreign Affairs Council in Defence format. Transkript von Äußerungen gegenüber Journalisten am 13.11.2017; nato.int.

Schmitt, E. (2018): U.S. Troops Train in Eastern Europe in Echoes of the Cold War. New York Times, 6.8.2017.

Töpfer, E. (2018): Pradigmenwechsel? Rüstungsforschung in der EU. W&F 2-2018, S. 27-30.

Wagner, J. (2018): Trump oder Brexit? Ursachen und Ausprägungen des EU-Rüstungsschubs. W&F 1-2018, S. 28-31.

Christoph Jehle wurde Anfang der 1990er Jahre in Freiburg zum Dr. rer. nat. promoviert und arbeitet seither als Berater für Unternehmen und die öffentliche Hand in Europa und Fernost. Er lebt heute im Markgräflerland südlich von Freiburg sowie in Fernost und schreibt als freier Autor für verschiedene Medien.