Deutsche Außenpolitik und die NATO-Osterweiterung

Deutsche Außenpolitik und die NATO-Osterweiterung

von Berthold Meyer

Die Debatte um die Osterweiterung der NATO hat das Bündnis in eine Sackgasse geführt, aus der es nur schwerlich herausgelangen kann. Losgetreten wurde diese Debatte Anfang 1993 vom deutschen Verteidigungsminister Volker Rühe, der allerdings mit seinen Plädoyers für die Aufnahme Polens und anderer mittel- und osteuropäischer Staaten unter seinen Amtskollegen zunächst einmal allein dastand. Vor allem die USA zeigten sich unter dem damaligen Pentagonchef Les Aspin nicht daran interessiert, dem Drängen der Mittel- und Osteuropäer nach Westen weiter nachzugeben, als ihnen zusätzlich zu ihrer Mitgliedschaft im Ende 1991 gegründeten NATO-Kooperationsrat eine „Partnerschaft für den Frieden“ anzubieten.

Erst nachdem der vorher als US-Botschafter in Bonn tätige Richard C. Holbrooke im Sommer 1994 zum Unterstaatssekretär für Europaangelegenheiten im State Department aufgestiegen war, kam es zu einer Kehrtwende in der amerikanischen Haltung, der sich die Gremien des Bündnisses auf ihren Herbsttagungen 1994 anschlossen und die Offenheit der NATO für neue Partner verkündeten. Zugleich machten sie dort allerdings deutlich, daß sie mit Rußland zwar besondere Beziehungen pflegen, es jedoch nicht in die NATO aufnehmen wollen. War die Stimmung zwischen dem westlichen Bündnis und der russischen Regierung schon das ganze Jahr 1994 hindurch nicht mehr so entspannt wie in der ersten Phase nach der Auflösung der Sowjetunion, so wurde sie um diese Zeit geradezu frostig.1

Seither sind zwar die Sicherheitspolitiker der Allianz lebhaft darum bemüht, aus ihren Dreiecksbeziehungen zu den mittel- und osteuropäischen Staaten, die darauf warten, in die NATO aufgenommen zu werden, einerseits und der Rußländischen Föderation, die sich durch einen solchen Schritt brüskiert und bedroht sieht, andererseits kein »Bermuda-Dreieck« werden zu lassen, in dem die europäische Sicherheit verloren gehen könnte. Doch will dies so recht nicht gelingen, zumal auf manchen Emissär des Westens das bekannte Bismarck-Wort zutrifft: „Sie sind wohl ein Gesandter, aber kein geschickter“.

Auch wenn momentan noch nicht entschieden ist, mit welchen Ländern wann über einen Beitritt verhandelt werden soll, heißt es in Bonn und anderen westlichen Hauptstädten trotz der fortdauernden russischen Kritik, es gebe kein Zurück. Worin liegen die Hauptgründe für die Verhärtungen und ist es noch möglich, den durch die Aufnahme einiger Staaten zu erwartenden Schaden zu begrenzen und welche Rolle könnte die Bundesrepublik hierbei spielen? Bevor versucht wird, hierauf eine Antwort zu geben, soll die Entwicklung der Bonner Positionen zur Osterweiterung skizziert werden.

Wer bestimmt eigentlich die deutsche Außenpolitik?

Als am Ende des Ost-West-Konfliktes der Eiserne Vorhang zwischen den bis dahin gegnerischen Blöcken fiel, wurde der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher nicht müde zu erklären, Europa ende nicht an der polnischen Ostgrenze. Für ihn bestand kein Zweifel daran, daß auch die Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten in den europäischen Kontext eingebunden werden mußten. Dabei dachte er aber in erster Linie an einen weiteren Ausbau der KSZE sowie an vertragliche Bindungen an die Europäische Gemeinschaft. Und er glaubte wie sein amerikanischer Kollege James Baker, der Sorge vor einem durch die Auflösung des Warschauer Paktes entstehenden Machtvakuum durch die Schaffung des Nordatlantischen Kooperationsrates entgegenwirken zu können. Genscher und andere kooperationsfreudige Politiker sahen nicht, daß sie damit bei den mittel- und osteuropäischen Staaten, die sich magnetisch vom reichen und stabilen Westen angezogen fühlten, eine Erwartungshaltung erzeugten, die sie auch mittelfristig nicht einlösen konnten, ohne das zu gefährden, was die Attraktivität von Europäischer Union und NATO ausmacht. Dennoch gelang es bis zum Ende der Ära Genscher (Mai 1992) durch ein variantenreiches Spiel zwischen Hinhalten und Entgegenkommen allen Beteiligten wie auch der Öffentlichkeit zu vermitteln, daß Europa wirtschaftlich und (sicherheits-)politisch zusammenwachse.

Sechs Wochen bevor Genscher sein Amt an Klaus Kinkel übergab, hatte im Verteidigungsministerium ebenfalls ein Stabwechsel stattgefunden. Dem unambitionierten Gerhard Stoltenberg war der bisherige CDU-Generalsekretär Volker Rühe gefolgt, von dem bekannt war, daß er lieber das von der FDP uneinnehmbar besetzte Außenministerium geleitet hätte. Rühe begriff jedoch schnell, daß sich ihm nach Genschers Abtritt auch außenpolitische Profilierungsmöglichkeiten boten, zumal ihm Kinkel hierfür Raum ließ und Bundeskanzler Kohl von seiner Richtlinienkompetenz zumindest keinen öffentlichen Gebrauch machte. So kam es, daß in der wichtigen Frage der Osterweiterung der NATO, in der eigentlich eine enge Abstimmung zwischen dem Verteidigungs- und dem Außenministerium zu erwarten gewesen wäre, die beiden Ressortchefs grundverschiedene Prioritäten setzen konnten.

Auf der einen Seite vermochte der Verteidigungsminister schon früh „keinen stichhaltigen Grund dafür sehen, künftigen Mitgliedern der Europäischen Union die NATO-Mitgliedschaft vorzuenthalten. Ich frage mich auch, ob die Mitgliedschaft in der Europäischen Union unbedingt dem Beitritt zur NATO vorausgehen muß.“ In derselben Rede schloß Rühe aber wegen der „riesigen Potentiale und (der) geostrategische(n) Lage Rußlands“, die europäische Dimensionen sprengen, dessen „Mitgliedschaft in der Europäischen Union und in unseren Bündnissen aus.2 Vor allem warb Rühe immer wieder für eine schnelle Öffnung. In seinen Reden schob er dabei gelegentlich ein Argument nach, das zeigt, daß er weniger die Wünsche der Beitrittskandidaten im Auge hat als das „vitale Interesse Deutschlands", so jüngst bei einem Vortrag am 1. Mai 1996 in Washington: „Auf Dauer ist es nicht haltbar, wenn Deutschlands Ostgrenze die Grenze zwischen Stabilität und Instabilität in Europa ist. Deutschlands Ostgrenze kann nicht die Ostgrenze von Europäischer Union und Nato bleiben. Entweder wir exportieren Stabilität oder die Instabilität kommt zu uns.3

Grenzen des Bündnisses dürfen nicht einfach von der Elbe an den Bug verschoben werden

Auf der anderen Seite vertrat Außenminister Kinkel von Anfang an eine Position, die dem Weg über die EU den Vorrang einräumte. Mit der Assoziierung sei den Visegrad-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn / Red.) „die klare Perspektive einer künftigen Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union, und damit auch in der WEU, angeboten“ worden. „Europa öffnet sich so auch im Bereich der sicherheitspolitischen Institutionen.“ Ob jedoch auch eine Mitgliedschaft in der NATO in Frage komme, müsse in engster Abstimmung mit den Partnern, vor allem den USA, die zu dieser Zeit eindeutig nicht dafür waren, geprüft werden. Jedenfalls dürften die Grenzen des Bündnisses „nicht einfach von der Elbe an den Bug verschoben werden.“ 4 Damit nahm er auf russische Empfindlichkeiten Rücksicht, wobei er bis zum August 1994 sicher auch im Auge hatte, daß es galt, den Abzug russischer Truppen aus Deutschland nicht zu gefährden. Doch auch über diesen Zeitpunkt hinweg steht bei Kinkel immer wieder die aus der Ära Genscher übernommene Forderung nach einer Integration Rußlands in die europäische Sicherheitsarchitektur im Vordergrund.

Der Bundeskanzler schien die Osterweiterung lange Zeit nicht zur Chefsache machen zu wollen. Einerseits ließ er Rühe gewähren, sicher auch, weil dessen Öffnungsrhetorik in Polen freundlich aufgenommen wurde. Zum anderen zeigte er aber bei verschiedenen Gelegenheiten ebenso wie Kinkel Verständnis für russische Bedenken. Besonders deutlich sagte er dies auf der Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik am 3./4. Februar 1996: „An die Öffnung der NATO müssen wir mit Sorgfalt und politischer Umsicht herangehen, da es dabei um Schritte von grundlegender Tragweite für das Bündnis selbst und für die Sicherheit in einem kommenden Europa geht. Wir Deutsche und Europäer haben ein elementares Interesse daran, daß die NATO auch in Zukunft stabil und handlungsfähig bleibt. Wir haben aber auch größtes Interesse daran, ein partnerschaftliches, freundschaftliches Verhältnis zu Rußland und der Ukraine zu entwickeln. Wir müssen die wohlverstandenen Sicherheitsinteressen Rußlands und der Ukraine berücksichtigen. Es versteht sich dabei von selbst, daß es für eine Frage dieser Bedeutung nur schädlich sein kann, wenn sie zum Thema in dem russischen, aber auch in dem amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf würde.“ 5

Der letzte Satz wurde als Plädoyer verstanden, die Debatte zumindest bis nach der amerikanischen Präsidentenwahl ruhen zu lassen. Als Kohl dann aber im russischen Wahlkampf seinem Freund Jelzin zu Hilfe kommen wollte, und dabei gleichermaßen Verständnis für die russischen Sicherheitsbelange äußerte wie auch für das Recht anderer Staaten plädierte, sich für ein Bündnis zu entscheiden, erntete er nur einen »Wutausbruch« Jelzins.6

Weiter im Spagat?

Während sich das Bundesverteidigungsministerium im Herbst 1995 bemühte, Moskau dadurch Wind aus den Segeln zu nehmen, daß es die Sprachregelung herausgab, künftig statt des expansiv klingenden Begriffs der »Erweiterung« den der »Öffnung« des Bündnisses zu verwenden, veröffentlichte die NATO zur gleichen Zeit selbst ihre »Studie über die Erweiterung der NATO« (Study on NATO-Enlargement). Dieses vom Ministerrat in Auftrag gegebene Dokument soll Grundlage für die Verhandlungen mit beitrittswilligen Staaten sein. Es beschreibt aber auch das künftige Verhältnis zu Rußland. Wer diese Studie genauer gelesen hat,7 wundert sich danach nicht mehr darüber, daß die Allianz, die hier einen extremen Spagat versucht, zumindest im russischen Fettnapf gelandet ist. Verwundern muß allerdings, daß die Bundesregierung diesem Dokument zugestimmt hat, das trotz einer Vorbereitungszeit von neun Monaten nicht als ausgereift bezeichnet werden kann.

Es enthält auf der einen Seite einen ganzen Katalog von bereits getroffenen Vereinbarungen wie auch von beabsichtigten Übereinkünften, die auf eine Verbesserung der Beziehungen zwischen der NATO und Rußland zielen und dazu beitragen sollen, das „aus der Zeit des Kalten Krieges übriggebliebene Mißtrauen“ zu überwinden und mitzuhelfen, „dafür zu sorgen, daß Europa nie wieder in feindliche Lager gespalten wird“. 8 Dabei übersehen die Autoren der Studie keineswegs, daß Rußland wegen der Erweiterung »Besorgnis geäußert« hat. Doch meinen sie allem Anschein nach, daß es neben den vielfältigen Kooperationsabsichten ausreiche, dem Kreml ein um das andere Mal zu sagen, „daß diese Erweiterung, einschließlich der damit verbundenen Militärabkommen, niemanden bedroht und zur Entwicklung eines breiten europäischen Sicherheitssystems auf der Grundlage echter Zusammenarbeit in ganz Europa beiträgt und die Sicherheit und Stabilität für alle erhöht.“ 9

Da die NATO bis dahin mit dem bloßen Gut-Zureden keinen Erfolg hatte, muß also gefragt werden, wie die Autoren der Studie dies Rußland klarmachen wollen. Aus der Zeit des Kalten Krieges sollte noch bekannt sein, daß die Beteuerung des eigenen Friedenswillens für die Bedrohungswahrnehmung der anderen Seite weit weniger wichtig ist als die Einschätzung des Bedrohungspotentials, vor allem der räumlichen Nähe und Konzentration der Streitkräfte und der Reichweite der Waffensysteme. Hier ist der Hauptgrund dafür zu suchen, warum von den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, allen voran von Rußland, die Ausdehnung des NATO-Gebietes in das durch den Rückzug der Sowjet-Streitkräfte entstandene Machtvakuum bis an die unmittelbaren Grenzen des einstigen Imperiums als eine ernste potentielle Bedrohung ihrer Sicherheit gesehen wird. Es hätte also darum gehen müssen, diese Sorgen nicht nur mit freundlichen Worten, sondern durch unmißverständliche vertrauensbildende Maßnahmen zu entkräften.

Genau das Gegenteil geschieht jedoch in dem Kapitel der NATO-Studie, das die militärischen Aspekte des Beitritts und die dazugehörige Hardware diskutiert. Zwar müßten die neuen Mitglieder nicht schon vor ihrem Beitritt die volle Interoperabilität erreicht haben, aber sie würden „doch gewisse Mindestnormen erfüllen müssen, die für ein funktionsfähiges und glaubwürdiges Bündnis unerläßlich sind.“ 10 Dazu gehöre auch, „alle gemäß dem Washingtoner Vertrag anfallenden Pflichten (zu) übernehmen“ und vor allem bereit zu sein, „nach Artikel 5 zur kollektiven Verteidigung beizutragen“.11

Konkretisiert wird dies an den Forderungen, daß die Streitkräfte des Bündnisses „zur Verstärkung, für Übungen, für das Krisenmanagement und gegebenenfalls zur Stationierung Zugang zum Hoheitsgebiet“12 dieser Staaten haben müßten, wenn dies zweckmäßig erscheine. Außerdem wird von den neuen Mitgliedern Unterstützung für das Konzept der nuklearen Abschreckung erwartet. Zwar gebe es „keine A-Priori-Forderung für die Stationierung von Nuklearwaffen auf dem Hoheitsgebiet neuer Mitgliedstaaten“. Doch weil Köpfe, die einmal das Worst-Case-Denken trainiert haben, dieses offenbar nicht mehr aufgeben können, folgt dann eine Passage, die deutlich macht, daß man aber auch nicht a priori generell oder dauerhaft auf eine Stationierung verzichten möchte: „Es besteht … zur Zeit keine Notwendigkeit, irgendwelche Änderungen oder Modifizierungen am Nuklearpotential oder an der Nuklearpolitik der NATO vorzunehmen; die langfristigen Auswirkungen einer Bündniserweiterung in diesen beiden Bereichen werden jedoch Gegenstand weiterer Beurteilung bleiben. Die NATO sollte ihr vorhandenes Nuklearpotential zusammen mit ihrem Recht zur Modifizierung ihrer nuklearen Kräftegliederung bewahren, sofern die Umstände dies rechtfertigen. Neue Mitglieder müssen wie die derzeitigen Bündnisstaaten die Entwicklung und Durchführung der Stategie der NATO einschließlich ihrer nuklearen Komponenten fördern.“13

Die Perspektive auch nur einer möglichen Stationierung konventioneller NATO-Streitkräfte, mehr aber noch die der Dislozierung von Nuklearstreitkräften auf dem Staatsgebiet neuer Mitglieder mußte in Rußland alarmierend wirken. Insofern durfe gerade Bundeskanzler Kohl von Präsident Jelzins Wutausbruch nicht überrascht sein, brauchte er sich doch nur an die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über die deutsche Einheit zu erinnern, in denen die sowjetische Seite darauf bestanden hatte, daß es keine Stationierung alliierter Truppen in den neuen Bundesländern und auch keine Atomwaffen auf diesem Territorium geben darf. Dabei gab es damals noch ihr Glacis in Form der Warschauer Vertragsstaaten. Warum sollte Rußland heute Verständnis dafür haben, daß ebendort mit Argumenten wie dem Rüheschen, man müsse Stabilität exportieren, damit die – nicht offen ausgesprochene, aber gemeinte russische – Instabilität nicht importiert werde, NATO-Streitkräfte oder gar Atomwaffen disloziert werden? Es spricht zumindest gegen das diplomatische Fingerspitzengefühl der für die Veröffentlichung der Studie Verantwortlichen, Rußland gleichzeitig zu umwerben und zu brüskieren.

Ist Schadensbegrenzung noch möglich?

Wenn von der Regierung Deutschlands und anderer NATO-Staaten gegenwärtig betont wird, in der Frage der Osterweiterung gebe es kein Zurück, dann bedeutet dies nicht zugleich, es werde auch vorwärts gehen. Erst bei den Herbsttagungen des Bündnisses im Dezember 1996 soll darüber gesprochen werden, welche Länder wann für eine Aufnahme infrage kommen. Damit beginnt eine in mehrfacher Hinsicht schwierige Phase:

  • Werden nämlich zunächst nur wenige der an einem Beitritt interessierten Staaten (Polen, Tschechien und vielleicht Ungarn) zu Verhandlungen eingeladen, so werden sich andere zurückgesetzt fühlen. Zu derartigen Kränkungen kam es schon bei dem Besuch von Verteidigungsminister Rühe im August 1995 in den baltischen Staaten, als er ihnen unverblümt erklärte, sie würden zumindest nicht unter den ersten sein, die aufgenommen würden.
  • Sollte die Allianz aber mit allen Kandidaten gleichzeitig die Verhandlungen aufnehmen, so müßte sie mit einer weiteren Abkühlung ihres Verhältnisses zu Rußland rechnen.
  • In beiden Fällen stellt sich aber das Problem, daß einige NATO-Mitglieder nur sehr geringes Interesse an der Erweiterung des Bündnisses haben, so daß sie eventuell darauf bestehen werden, Kandidaten erst dann aufzunehmen, wenn sie die in der Studie beschriebenen Bedingungen der Interoperabilität ihrer Rüstungen erfüllt haben. Da dies sehr kostspielig ist, wird es auch zeitaufwendig werden und ebenfalls zur Folge haben, daß einige Länder dieses Ziel früher als andere erreichen.
  • Doch auch dann ist noch längst nicht garantiert, daß alle sechzehn Mitglieder die Aufnahmeverträge ratifizieren. Ebensowenig ist sicher, daß nach der Erweiterung um eine erste Gruppe diese neuen Mitglieder der Aufnahme weiterer Länder zustimmen, obwohl dies in der Studie verlangt wird.

Es ist also eine Vielzahl von spannungsgeladenen Konstellationen zu erwarten, die entweder einem künftigen Zusammenhalt des Bündnisses oder dessen Beziehungen zu den nicht oder noch nicht aufgenommenen Ländern Mittel- und Osteuropas einschließlich Rußland schaden können. Damit stellt sich die Frage, wie in der schon jetzt ziemlich verfahrenen Situation weiterer Schaden vermieden oder begrenzt werden kann.

Mit Blick auf Moskau wäre vermutlich schon viel erreicht, wenn die NATO verbindlich erklärte, daß sie »rebus sic stantibus« keinen Anlaß sehe, bei neuen Mitgliedern Bündnistruppen und Nuklearwaffen zu stationieren. Gerade die Bundesregierung müßte ein besonderes Interesse daran haben, daß es relativ nahe an seinen östlichen Grenzen nicht zu einer permanenten Krisenlage kommt. Deshalb sollte sie ihre alten wie auch ihre künftigen Bündnispartner auf diesen Kurs einschwören.

Darüber hinaus sollte die viel beschworene besondere Partnerschaft mit Rußland endlich konkrete Formen annehmen, damit die Argumente derer, die eine Isolation Rußlands befürchten, gegenstandslos werden. Dabei bedeutet es keine Billigung des Tschetschenienkrieges, wenn die NATO Rußland an operativen Gremien wie der Nuklearen Planungsgruppe durch regelmäßige 16+1-Tagungen und an den beiden hochrangigen Gruppen beteiligen würde, die über Nichtverbreitung arbeiten.

Eine funktionale Aufwertung der OSZE durch die NATO-Staaten wäre ebenfalls ein Schritt in die richtige Richtung, der auch der deutschen außenpolitischen Tradition entspräche, wie sie zuletzt 1994 in der Kinkel-Kooijmans-Initiative unter dem Motto »KSZE zuerst!« ihren Ausdruck fand. Dies wäre auch eine Chance, den Sicherheitsbedürfnissen der Staaten stärker Rechnung zu tragen, die auf absehbare Zeit nicht oder nie in die NATO aufgenommen werden.

Da die Gruppe der Beitrittswilligen ausnahmslos auch aus Kandidaten für die Europäische Union besteht, sollte sich die Bundesregierung dafür einsetzen, daß es mit diesen Staaten über den im Dezember 1994 vom Europäischen Rat in Essen beschlossenen Strukturierten Dialog hinaus schon bald zu einer Einbindung in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU kommt. Diese könnte ein Schritt auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft sein, der gegangen werden kann, bevor diese Länder wirtschaftspolitisch integriert werden können. Entschlösse sich die EU dazu, wäre sie in der Lage, auf Europa bezogene Frustrationen derer aufzufangen, die bei der NATO (vorläufig?) vergeblich angeklopft haben.

Anmerkungen

1) Vgl. zur Entwicklung bis zum Frühjahr 1995 Berthold Meyer, Die Ost-Erweiterung der NATO – Weg zur Einheit oder zur neuen Spaltung Europas? HSFK-Report 5/1995, Frankfurt/M. 1995. Zurück

2) Gestaltung euro-atlantischer Politik – eine „Grand Strategy“ für eine neue Zeit. Rede des Bundesverteidigungsministers in London, in: Bulletin Nr. 27/1993 vom 1.4.1993. Zurück

3) So zitiert in „Rühe: Amerika ist Teil der Sicherheitskultur in Europa“, FAZ v. 2.5.1996, S. 2. Zurück

4) Die transatlantische Partnerschaft als Fundament der Außenpolitik. Rede des Bundesaußenministers bei der deutsch-amerikanischen Freundschaftswoche in Stuttgart am 2. Mai 1993, in: Bulletin Nr. 36/1993 v. 8.5.1993. Zurück

5) Rede Bundeskanzler Kohls anläßlich der 33. Konferenz für Sicherheitspolitik am 3. Februar 1996 in München (Bulletin vom 14.2.1996). Zurück

6) Vgl. „Kohl in Moskau – Wutausbruch Jelzins gegen die Ost-Erweiterung der Nato“ in FAZ v. 20.2.1996, S. 1. Zurück

7) Eine ausführliche Analyse enthält Berthold Meyer / Harald Mül#ler / Hans-Joachim Schmidt, NATO 96: Bündnis im Widerspruch, HSFK-Report 3/1996, Frankfurt/M. 1996, S. 4-19. Zurück

8) Studie über die Erweiterung der NATO (in der Übersetzung des Bundessprachenamtes), Ziffer 26. Zurück

9) Ebenda, Ziffer 28. Zurück

10) Ebenda, Ziffer 40. Zurück

11) Ebenda, Ziffer 43. Zurück

12) Ebenda, Ziffer 44 Zurück

13) Ebenda, Ziffer 58. Zurück

Dr. Berthold Meyer ist Projektleiter bei der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung.

Editorial

Editorial

von Achim Schmillen

was für eine Hektik in den besinnlichen Adventswochen. Die NATO fragt nach bundesdeutschen Tornado-ECR-Bombern für einen möglichen Einsatz in Bosnien und wird mit großer Wahrscheinlichkeit eine Abfuhr aus Bonn erhalten; die NATO will die Ostausdehnung auf die Reformstaaten in Mittelosteuropa und bekommt eine saftige Ohrfeige vom russischen Außenminister; die KSZE will zu einer Organisation werden, die das Sicherheitsdilemma endgültig löst, aber auch hier prallen der Westen und Rußland aufeinander. Und kommende Woche steht uns nochmal dasselbe Stück bevor, diesmal auf dem EU-Gipfel in Essen mit wahrscheinlich einem ähnlichen Ausgang. Verdammt viel los auf der europäischen Diplomatenbühne.

Europa ist auf der Suche nach einer stabilen Sicherheitsarchitektur und kommt nicht so recht voran. Kein Wunder, die, die dieses Meisterstück versuchen, sind in ihrem Denken und Handeln doch nur die Lehrlinge von gestern, die im Kalten Krieg einen Ordnungsfetischismus und den Konfrontationskurs verinnerlicht haben.

In Budapest werden also 53 Staats- und Regierungschefs versuchen, die europäische Sicherheitsarchitektur neu zu strukturieren. Dieses Gipfeltreffen wird hoffentlich dazu führen, daß die KSZE als ein Instrument der Konfliktlösung und Friedenssicherung organisatorisch gestärkt wird. Einen neuen Namen wird sie höchstwahrscheinlich erhalten. Das »K« für Konferenz wird durch ein »O« für Organisation ersetzt. Das ist der richtige Weg, denn es wird höchste Zeit, die KSZE gegenüber der NATO und der WEU aufzuwerten und zu einer Organisation mit eigenen Regeln und Befugnissen umzuwandeln. Die große Leistung der KSZE ist darin zu sehen, daß sie sich stets den europäischen Problemen anpassen konnte, statt es umgekehrt zu versuchen. Die entscheidende Frage für die Zukunft lautet, wie die KSZE in die Lage versetzt werden kann, vorhandene Kriege zu beenden und wie neue vermieden werden können.

Für alle Gipfeltänze gilt: Wenn es keine einigermaßen akzeptable Perspektive für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur unter Einschluß aller Organisationen und Staaten in Europa (einschließlich Rußland) gibt, dann besteht die große Gefahr einer Renationalisierung in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Nicht zuletzt das Drama in Bosnien zeigt, daß der Westen kurz vor der Aufkündigung seines Konsenses steht.

Die Anforderung von bundesdeutschen Tornado-Jagdbombern ist ein deutliches Zeichen, daß ein tiefer Riß durch die Nordatlantische Allianz geht. Denn aus dem Diplomatennebel befreit, bedeutet dieser NATO-Wunsch, daß die USA ihre Kampfflugzeuge für derartige Einsätze nicht mehr zur Verfügung stellen. Und wenn man die besten Flugzeuge nicht mehr bekommen kann, dann will man halt die zweitbesten. Und schlägt damit – interessanterweise – die zwei berühmten Fliegen mit einer Klappe. Deutschland soll in der Frage des Bosnienkonfliktes und insbesondere in der Diskussion um die Aufhebung des Waffenembargos aus einer sich abzeichnenden Koalition mit den USA herausgelöst werden.

Der amerikanische Führungsanspruch, der europäische Konflikte oft austarieren konnte, welkt dahin. Die Lösung des »Sicherheitsdilemmas« fällt somit immer mehr in europäische Hände. Damit droht aber die Gefahr, daß die europäischen Staaten in alte Verhaltensmuster zurückfallen drohen, die auf diesem Kontinent in der Vergangenheit zu unheilvollen Konfliktkonstellationen geführt haben.

Auf allen drei Gipfeltreffen werden wir immer wieder dieselbe Frage zu hören bekommen: Wer darf in welchem Zeitraum in welchen Integrationszusammenhang? Und was sagen Boris Jelzin und vor allem seine Generalität dazu? Das ist schwierig, denn schon die alten Griechen, immerhin die Erfinder der Idee Europa, wußten nicht zu bestimmen, wo denn nun die Grenzen Europas im Osten zu sehen sind.

Vielerorts wird Europa dabei als eine Festung gedacht, manche wünschen sich sogar ausdrücklich ein solches Europa. Aber selbst wenn es einen modernen Limes geben sollte, so dürfte doch gerade in Deutschland klar geworden sein, daß keine Mauer in der Lage ist, die Geschichte aufzuhalten. Politische und kulturelle Gemeinschaften können sich nicht auf Dauer hinter Mauern verschließen.

Damit sind wir auch schon beim Schwerpunktthema des Heftes. Denn wer sich Gedanken über die Grenzen von Europa macht, der kommt früher oder später auch auf die Frage, was hinter diesen Grenzen liegt. Denn letztlich ist Europa nicht mehr als die westliche Ausbuchtung einer gigantischen Landmasse, die Geographen auch Eurasien nennen.

Wenn von Asien die Rede ist, bekommen unsere Wirtschaftskapitäne glänzende Augen beim Träumen von gigantischen Absatzmärkten, gepaart mit einer Wut der Enttäuschung, daß man hier kaum Fuß fassen wird. Lange Zeit galt das asiatische Universum verdammt zur japanischen Vorherrschaft. Solange China dem Markt ferngebliben war, hatte Japan leichtes Spiel. Mit den gigantischen Umwälzungen in China zeichnet sich ein gigantischer Wettbewerb am Horizont ab. Denn nun hat es Japan nicht nur mit China zu tun, sondern mit einem kaum entwirrbaren Knäuel, einem vielfältigen Wesen, mit einem undurchschaubaren Komplex vieler Chinas. Alain Minc hat mit Blick auf die Entwicklung China erst kürzlich gefragt:

„Wie ließe sich der Begriff (klassischer Freihandel, A.S.) noch rechtfertigen angesichts von Konkurrenten, die mehr Leistungen bringen als wir, die selbstverständlich mehr arbeiten, die ein Dreißigstel von unserem Lohn verdienen, die sich für die am weitesten entwickelten Industrien und Dienstleistungen eignen, die über Führungskräfte mit internationalem Niveau verfügen, über dieselbe Ausrüstung wie westliche Unternehmen und die sich auf beträchtliche finanzielle Mittel stützen können?“.

Ihr Achim Schmillen

Perspektiven der Erweiterung der NATO und die Interessen Rußlands

Perspektiven der Erweiterung der NATO und die Interessen Rußlands

Auslandsaufklärung der Russischen Föderation*

von Forschungsinstitut für Friedenspolitik

Dies ist ein offenes Dokument der Auslandsaufklärung der Russischen Föderation, es ist ihre Einschätzung und Analyse einer der aktuellsten Fragen der Gegenwart – die Probleme der Erweiterung der NATO um den nicht mehr existierenden Warschauer Vertrag. Früher »war alles einfach«: es fand ein Kampf zweier Blöcke statt. Heute gibt es diesen Kampf zum Glück nicht mehr. Aber wie wird die Sicherheit der verschiedenen Staaten in der Periode der Postkonfrontation gewährleistet – davon hängt das Schicksal Europas und der Welt im ganzen ab. Die unterbreitete Variante, die in diesem Dokument einer Betrachtung unterzogen wird – das ist die Vergrößerung des Geltungsbereiches jenes Blockes, der den Westen in der Periode des Kampfes verkörperte. Inwieweit ist das gerechtfertigt, ist solch eine Entscheidung optimal? Die Auslandsaufklärung legt ihren Standpunkt zu diesem Problem unter Berücksichtigung ihrer ganzen Vielschichtigkeit und Kompliziertheit dar.

Ich denke, daß die im Dokument zum Ausdruck gebrachten Einschätzungen nicht nur Anhänger finden werden, sondern auch solche, die sie – wenn auch nur teilweise – nicht teilen. Wir sind darauf vorbereitet.

Wahrscheinlich entsteht die Frage nach den Quellen der in dieser Analyse enthaltenen Angaben. Ich sag es direkt: das sind sowohl offene Informationen als auch jene, die man durch spezifische Mittel der Aufklärung erhalten hat. Das Wichtigste liegt, wie man sich vorstellen kann, in den Schlußfolgerungen der Analytiker der Auslandsaufklärung, die sie auf der Grundlage der eingegangenen Angaben gezogen haben, und diese Schlußfolgerungen sind einheitlich. Rußland ist nicht gleichgültig bezüglich der Entwicklung der Ereignisse, die seine Interessen berühren. Rußland hat allen Grund, den Verlauf dieser Ereignisse mit möglichen Veränderungen in der geopolitischen und militärischen Lage zu messen. Das erneuerte Rußland hat ein Recht darauf, daß seine Meinung Berücksichtigung findet.

Der Direktor der Auslandsaufklärung der Russischen Föderation

Akademiemitglied E. Primakow

Die Frage der möglichen Erweiterung des Geltungsbereiches der NATO nach Mittel- und Osteuropa ist eine der Schlüsselfragen bei der Bestimmung des zukünftigen Antlitzes der europäischen Sicherheit, der Kräfteverteilung auf dem Kontinent in der Periode der Postkonfrontation. Die Bewegung der Staaten Mittel- und Osteuropas (MOE-Staaten) in Richtung NATO berührt die Interessen Rußlands und erfordert eine sorgfältige Analyse.

1. Probleme der Erweiterung

1.1 Allgemeines Herangehen der NATO an die Mitgliedschaftsbedingungen der MOE-Länder in der Allianz

Es gibt allen Grund anzunehmen, daß die Aufnahme der MOE-Länder in die NATO in den USA und den Staaten Westeuropas als eines der wichtigen Probleme angesehen wird, vom Charakter deren Lösung in vielerlei Hinsicht die reale Entwicklung der internationalen Beziehungen in der Periode der Postkonfrontation abhängt. Zugunsten der Aufnahme dieser Länder in die NATO werden folgende Argumente vorgebracht:

nach der Beendigung des »kalten Krieges« ist es für die Stabilisierung der Lage in Europa auf einem qualitativ neuen Niveau notwendig, im Westen und Osten des Kontinentes die Unterschiede in den Systemen zur Gewährleistung der Sicherheit zu beseitigen;

das beständige Bestreben der MOE-Länder zum Eintritt in die NATO kann nicht ignoriert werden, ohne daß jenen politischen Kräften Schaden zugefügt wird, die sich in der Führung der genannten Länder nach Westen orientieren;

die sehr wahrscheinliche Einbeziehung der NATO in die Regelung von Konflikten in Mittel- und Osteuropa diktiert die Notwendigkeit der Vervollkommnung der Kontrollmechanismen zur Lage in der Region, einschließlich des z.Z. ruhenden Systems der politischen Konsultationen, die Vorbereitung einer einheitlichen Infrastruktur, die Erarbeitung einer Ordnung des Zusammenwirkens auf dem Gebiet der Verteidigung und des Aufbaus von Streitkräften;

die Mitgliedschaft der MOE-Länder in der NATO wird als Alternative zur Formierung eigener subregionaler Sicherheitsstrukturen angesehen, die bei bestimmten Lageveränderungen in entsprechende Strukturen der GUS hineingezogen werden könnten.

Bei der Diskussion der Frage über die Erhöhung der Mitgliedszahl der Nordatlantischen Allianz wird die Aufmerksamkeit auf den rein militärischen Aspekt des Problems gerichtet. Hierbei wird unter Berücksichtigung der gegenwärtigen geopolitischen Situation der Schwerpunkt auf die Verlagerung der NATO-Grenzen gelegt. Vor dem Hintergrund der in den GUS-Ländern bestehenden innenpolitischen Instabilität wird diese Situation nach Einschätzungen der NATO-Führung durch die Möglichkeit der Existenz mehrerer Nuklear-Staaten auf dem Territorium der früheren UdSSR charakterisiert.

Die Verschiebung der NATO-Grenzen unter solchen Bedingungen wird als Ausfüllung eines »Sicherheitsvakuums« in Mittel- und Osteuropa betrachtet. NATO-Generalsekretär Wörner ist der Meinung, daß es ein »tragischer Fehler« wäre, die Bitten der MOE-Länder um die Gewährung von Garantien für ihre Stabilität und Sicherheit zurückzuweisen, die nur die NATO zu geben in der Lage ist.

Nach Meinung von Experten der Auslandsaufklärung ist eine detaillierte Analyse der dargelegten Motive zur Erweiterung der NATO notwendig, um die realen Auswirkungen der angelaufenen Prozesse auf die Interessen Rußlands aufzudecken.

Im Zusammenhang damit kann man die Schlußfolgerung ziehen, daß die unverzügliche Aufnahme der MOE-Staaten als vollberechtigte Mitglieder in die NATO von ihrer Führung nicht als zweckmäßig angesehen wird. Hierbei berücksichtigen die NATO-Leute folgende Umstände:

übereilte und nichtvorbereitete Schritte in diese Richtung können zu einem Rückfall in die Politik der Konfrontation auf dem Kontinent führen;

die Aufnahmekandidaten in die Allianz werden mit einer Reihe von zwischenstaatlichen, darunter territorialen, Widersprüchen belastet, was die inneren Schwierigkeiten in der NATO erhöht, die schon in der gegenwärtigen Form bestimmten Schaden von den angespannten, wenn nicht feindlichen Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei nimmt;

die Erweiterung der zahlenmäßigen Zusammensetzung der NATO um jene Länder, die das westliche Niveau des Verständnisses der Aufgaben der internationalen Sicherheit nicht erreicht haben und die keine Erfahrungen in der Harmonisierung ihrer nationalen Interessen mit denen einer Koalition haben, kann zu einer Senkung der Effektivität der Führungsmechanismen der NATO führen und die Durchführung einer abgestimmten Politik beim von den Alliierten praktizierten Prinzip der Einstimmigkeit erschweren;

Rußland kann Korrektive in seinen nach Europa gerichteten Kurs einbringen, indem es die Erweiterung der NATO um die MOE-Länder als die Schaffung eines »Cordon Sanitaire« interpretiert, der seine Integration in ein einheitliches Europa behindert;

der Eintritt der Länder Mittel- und Osteuropas in die Nordatlantische Allianz bewegt auch andere Staaten, analoge Wünsche zum Ausdruck zu bringen. Dabei wird es schwierig, sie abzulehnen, ohne daß den Beziehungen mit ihnen Schaden zugefügt wird. Aber im Falle der Aufnahme z.B. der Ukraine in die NATO ohne Rußland entsteht eine neue geopolitische Lage, die fähig ist, den Widerstand Moskaus hervorzurufen;

die Reorganisation, die Umschulung und die Umrüstung der Armeen der MOE-Länder erfordert bedeutende Ressourcen und einen langen Zeitraum;

die MOE-Länder sind nicht vorbereitet, die ihnen durch eine NATO-Mitgliedschaft auferlegten zusätzlichen finanziellen und materiellen Ausgaben zu tragen;

die Erweiterung der NATO ruft die Notwendigkeit einer Umarbeitung der ausbalancierten Entwicklungsprogramme der Allianz auf einigen Gebieten (Ausstattung der Kriegsschauplätze, wissenschaftliche Forschungsarbeit, gemeinsame Militärproduktion, militärische und operative Einsatzbereitschaft) hervor, schafft im Verlauf der Ausarbeitung einer neuen Militärstrategie der Allianz zusätzliche schmerzhafte Probleme, besonders zu solch »sensiblem« Punkt wie die Rolle der Nuklearkomponenten, vor allem der taktischen.

Schließlich werden die rein juristischen Hindernisse für die schnellste Aufnahme neuer Mitglieder in die Allianz untersucht. Sie sind vor allem mit den Besonderheiten des Funktionierens des Mechanismus der Zusammenarbeit in einer Koalition und ihren völkerrechtlichen Grundlagen verbunden. So gibt es in der NATO praktisch einen Konsens in der Frage gegen eine sofortige Ausweitung der Gültigkeit von Artikel 5 des Nordatlantischen Vertrages auf die MOE-Länder, der seinem Wesen nach einen automatischen Ablauf des Zusammenwirkens der Allianz mit dem Ziel der Abwehr einer Aggression vorsieht.

Die Gegenüberstellung der beiden aufgeführten Gruppen von Argumenten läßt den Schluß zu, daß der Eintritt neuer Mitglieder in die NATO einen Prozeß darstellt, der aus einigen Etappen besteht. Für die Zeit der »Vorbereitungsperiode« können sie einen Zwischenstatus erhalten, der sich von einer vollberechtigten Mitgliedschaft durch ein niedrigeres Niveau der Integration ihrer nationalen Streitkräfte in die Militärstrukturen der Koalition, durch einen eingeschränkten Zugang zur Beratung und zur Annahme gemeinsamer Entscheidungen, durch einen flexiblen Grad der Teilnahme an der Finanzierung und Realisierung gemeinsamer Programme und – als wichtigstes – durch den Umfang der Garantien der Allianz auf dem Gebiet der Verteidigung unterscheidet.

Als die wahrscheinlichste Variante der Erweiterung der Nordatlantischen Allianz kann man die anfängliche Einbeziehung der »Visegrad-Gruppe« in diesen Prozeß ansehen. Berücksichtigt wird, daß Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei bedeutende Erfahrungen beim Zusammenwirken auf dem Gebiet der Sicherheit sowohl untereinander als auch mit den westlichen Nachbarn gesammelt haben. Sie haben einen ausreichend gefestigten Mechanismus bi-und multilateraler Konsultationen zu einem breiten Kreis politischer und militärischer Fragen geschaffen. Die Staaten der »Visegrad-Gruppe« haben sich nach Einschätzung des Westens mehr als andere auf dem Weg der Festigung demokratischer Institutionen und der Annahme westlicher Werte bewegt. Doch sogar in Bezug auf diese Länder gibt es praktisch keine Möglichkeit ihrer sofortigen Aufnahme mit den Rechten eines vollberechtigten Mitglieds in die Allianz.

In der NATO hat sich kein Konsens zu dem von ihrer Führung unterbreiteten »evolutionären Schema der Bewegung der Allianz nach Osten« herausgebildet. Dieses Schema sah vor: 1. die Gewährung des Status als assoziiertes Mitglied für Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn; 2. Entwicklung einer militärischen Zusammenarbeit mit Bulgarien und Rumänien; 3. Festigung der strategischen Verbindungen mit Rußland und der Ukraine. Bei allgemeiner Zustimmung in der Frage, in einer langfristigen Perspektive die MOE-Länder in dieser oder jener Form in die Allianz aufzunehmen, herrscht das Streben vor, diesen Prozeß nicht zu forcieren.

Groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine prinzipielle Entscheidung, die die Perspektive der NATO-Erweiterung bedeutet, schon auf dem im Januar 1994 bevorstehenden Treffen der Staats-und Regierungschefs der Mitglieder der Allianz angenommen wird. Ein wichtiges Element der unterbreiteten Deklaration kann die Auflistung der Kriterien werden, deren Einhaltung für alle zukünftigen Mitglieder obligatorisch ist: Verzicht auf territoriale Ansprüche; Achtung der Rechte nationaler Minderheiten; Treue zur friedlichen Regelung von Streitfragen und zu den demokratischen Prinzipien des Staatsaufbaus und zu Marktreformen; Errichtung der Bürgerkontrolle über die Streitkräfte usw.

Zusammen damit muß berücksichtigt werden, daß eine stufenweise Mitgliedschaft in der NATO durch den Nordatlantischen Vertrag nicht vorgesehen ist, zu dessen allgemeiner Revision die Alliierten nicht geneigt sind.

1.2. Nuancen im Herangehen einzelner Mitgliedsländer der NATO

Die Gemeinsamkeit des prinzipiellen Herangehens an das Problem der Erweiterung der NATO schließt spezifische Besonderheiten in den Positionen einzelner Mitgliedsländer der Allianz nicht aus. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen folgende Fragen, zu denen es Meinungsverschiedenheiten gibt:

die Fristen der Annahme eines prinzipiellen Beschlusses über die Erweiterung der NATO;

die Zusammensetzung der Antragsteller und die Formen ihrer Eingliederung oder Assoziierung mit der Allianz;

die völkerrechtlichen und zeitlichen Rahmen dieses Prozesses;

der Inhalt der »Übergangs-Periode« für die Eingliederung neuer Staaten in die NATO;

der Mechanismus der Integration der Antragsteller, die Notwendigkeit und Reihenfolge der Ausnutzung der Zwischenstrukturen, insbesondere der Institutionen der europäischen Sicherheit (EG, WEU, NATO-Kooperationsrat, KSZE);

der Charakter und der Grad der Berücksichtigung des russischen Faktors im Verlauf der europäischen Umgestaltung in der Periode der Postkonfrontation.

Man muß bemerken, daß die Ansichten der westlichen Partner zu dem genannten Problem ständig korrigiert werden, gemeinsam »geölt« und an neuen Momenten in der internationalen Lage gemessen werden, darunter an »Signalen« aus Moskau. (…)

1.4 Über die Position der MOE-Länder zu den Fragen der NATO-Mitgliedschaft

Die Haupttriebkraft des Prozesses der Erweiterung der NATO sind die Kandidaten für den Beitritt in die Allianz selbst – die MOE-Länder. Im Streben, sich mit der Nordatlantischen Allianz zu vereinen, nutzen sie folgende Argumentation:

die jugoslawische Krise hat gezeigt, daß Europa unter den neuen Bedingungen eine Zone internationaler Konflikte geworden ist; »tektonische Verwerfungen«, genährt durch ethnische, religiöse und ökonomische Widersprüche, können sich auf das Territorium anderer MOE-Staaten ausbreiten;

die Entwicklung der Lage auf dem Territorium der früheren UdSSR zeigte einerseits eine unzureichende Effektivität der auf den Mechanismen der kollektiven Sicherheit der GUS beruhenden Anstrengungen zur Verhütung und Regelung von Krisen und militärischen Konflikten und andererseits eine reale Bedrohung für Mittel- und Osteuropa aus der »nicht voraussehbaren Lage« in der Russischen Föderation, in der Ukraine, in Moldova und den baltischen Ländern;

die bestehenden Strukturen internationaler Sicherheit, darunter die UNO und die KSZE, sind als Instrument zur Gewährleistung von Frieden und Stabilität in Europa ungenügend wirksam, und die Vorstellungen über die Möglichkeit der raschen Schaffung eines auf ihrer Grundlage beruhenden Systems kollektiver Sicherheit im europäisch-asiatischen Raum erwiesen sich als illusorisch;

die Osteuropäer selbst sind nicht in der Lage, effektive Strukturen zu schaffen, die sie vor einer miltärischen Bedrohung und möglichen Erschütterungen von außen bewahren sollen: sogar die Mitglieder der »Visegrad-Gruppe«, die in militärischer Beziehung weiter entwickelt sind, stießen bei ihrem Versuch, zumindest eine Art eigener Verteidigungsallianz zu schaffen, auf unüberwindliche politische, wirtschaftliche, organisatorische und technische Schwierigkeiten;

der Beitritt der MOE-LÄnder in die NATO kann die Garantie der Unumkehrbarkeit des von ihnen eingeschlagenenen Kurses auf Annäherung an den Westen werden, der auf der Gemeinsamkeit der politischen Ziele und der sozial-ökonomischen Werte beruht;

der Status als Mitglied der Nordatlantischen Allianz gibt den MOE-Ländern die Möglichkeit, ein Maximum ökonomischer Vorteile zu erhalten und voll die Vorteile der »Diversifikation« ihrer Politik zu nutzen.

Die Unterschiede in den Positionen der Osteuropäer werden durch den Grad ihrer Bereitschaft zur Erfüllung der Forderungen der Allianz sowie durch das mit ihnen erreichte Niveau der Zusammenarbeit bestimmt. Nach Meinung von Experten der Auslandsaufklärung sind die innenpolitischen Umstände weniger bedeutsam.

2. Die Interessen Rußlands

Vom Standpunkt der Interesses Rußlands hat das Problem der NATO-Erweiterung mehrere Aspekte, die man im Prozeß der Entwicklung der Beziehungen mit der Nordatlantischen Allianz, mit Mittel- und Osteuropa und den Ländern des nahen Auslands berücksichtigen muß.

2.1. Die Perspektiven der Nordatlantischen Allianz

Nach Meinung von Experten der Auslandsaufklärung erfordert die Analyse des Einflusses des Prozesses der NATO-Erweiterung auf die Interessen Rußlands vor allem prognostische Einschätzungen, die mit der Möglichkeit der Evolution dieser Allianz nach Beendigung des »kalten Krieges« verbunden sind.

Die offiziell unterbreiteten Ziele und logischen Impulse, bedingt durch die reale Lage, diktieren die Transformation der Allianz aus einer militärpolitischen Gruppierung, die auf die Abwehr einer Bedrohung von außen gerichtet war, in ein auf den Prinzipien der kollektiven Sicherheit beruhendes Instrument der Sicherung des Friedens und der Stabilität. Im vorliegenden Kontext wird auch die Aufgabe der Erweiterung des Geltungsbereiches der NATO in östliche Richtung untersucht. Wobei nach Meinung von Experten der Auslandsaufklärung Moskau viele Befürchtungen, die mit dem Eintritt der MOE-Länder in die NATO verbunden sind, genommen oder abgeschwächt würden, wenn es Garantien einer vorhergehenden Entwicklung des Prozesses der Veränderung der Funktionen der Allianz oder der parallelen Erweiterung der politischen Funktionen der NATO und ihres geographischen Umfanges gäbe. Doch diese Garantien fehlen.

Vor allem gibt es keine ausreichende Klarheit in der Frage zu den Perspektiven der Transformation der NATO. In der Allianz hat sich bisher noch kein genaues Verständnis zu ihrer Rolle und ihrem Platz im System der internationalen Beziehungen in der Periode der Postkonfrontation herausgebildet. Die Diskussionen zu den Fragen der politischen Strategie der NATO haben eher einschätzenden, vorläufigen Charakter. Gleichzeitig sind unter den atlantischen Partnern wesentliche Abweichungen darin sichtbar, was das Verhältnis von Aufgaben und Vollmachten auf dem Gebiet der Sicherheit der NATO und anderer internationaler Institutionen betrifft.

Eine Realität ist auch das Fortbestehen von Stereotypen des Blockdenkens, die besonders einer Reihe von Vertretern der militärischen Führung der westlichen Länder und der Allianz im ganzen eigen sind. Eine dieser Stereotypen ist damit verbunden, daß die UdSSR, deren Kern Rußland darstellte, lange Jahre als die Hauptursache der militärischen Bedrohung für die Existenz der westlichen Zivilisation betrachtet wurde.

Ausgehend von ihrem ursprünglichen Charakter ist die NATO auf die strategische Planung des »worst case« gerichtet, was sich auf den Charakter und die Details der operativen Dokumente, des militärischen Aufbaus und der Einsatzbereitschaft der nationalen Streitkräfte sowie der der Koalition auswirken muß. Für die Überwindung dieser »Resterscheinungen« ist offensichtlich eine längere Zeitspanne nötig. Unterdessen vollzieht sich der psychologische Bruch nicht schmerzlos und trifft auf den Widerstand einflußreicher Vertreter von führenden Kreisen des militärischen Establishments, der akademischen Welt und des Militärisch-Industriellen Komplexes der NATO-Staaten.

Man darf auch die Trägheit des Wettrüstens nicht außer acht lassen, der die ständige Aufrechterhaltung eines »Feindbildes« – und sei es auch nur das eines potentiellen – im Bewußtsein der Öffentlichkeit verlangt. Das wird untersetzt durch die reale Besorgnis der Führer der wichtigsten NATO-Länder, daß es zu einer möglichen Einschränkung der Beschäftigungsrate auf den militärischen Gebieten der Wirtschaft, der Wissenschaft und der zukünftigen wissenschaftlichen Forschungsarbeit kommt. Nicht selten werden im Westen Befürchtungen zum Ausdruck gebracht, daß es unter den Bedingungen der »Euphorie der Postkonfrontation« zu einem Auseinanderbrechen des Militärindustriellen Komplexes und zum Verlust des erreichten technischen Niveaus und der Profitquellen kommt.

Das Streben der MOE-Länder, durch den Eintritt in die NATO den Westen zur aktiven Unterstützung bei der Lösung ihrer innen- und außenpolitischen Probleme heranzuziehen, kann einen unerwarteten Effekt geben. Die Nordatlantische Allianz, die sich in komplizierte, durch scharfe Kämpfe bestimmte Prozesse in den osteuropäischen Staaten hineinziehen läßt, kann vor der objektiven Notwendigkeit stehen, seine Politik zu verhärten. Die Transformation der NATO in eine universelle friedenschaffende und stabilisierende Kraft kann sich hinziehen. Auf jeden Fall existiert die Gefahr, daß dieser Prozeß und die Erweiterung der Allianz nicht synchron verlaufen. Darin liegt die Gefahr für die Interessen Rußlands, da solche Asynchronität die Chancen für eine endgültige Überwindung der Spaltung des Kontinents verringern und zu einem Rückfall in die Politik der Blöcke führen kann – und das unter den Bedingungen der Annäherung des Geltungsbereiches der NATO an die unmittelbaren Grenzen der Russischen Föderation.

2.2. Geopolitische Aspekte

In dem Verständnis, daß die Verlagerung des Geltungsbereiches der NATO an die Grenzen Rußlands eine bestimmte Besorgnis der Russischen Föderation hervorruft und im Streben, solch einer Reaktion die Schärfe zu nehmen, benutzen die Anhänger des Anschlusses der MOE-Länder an die NATO folgende Argumentation:

die durch die NATO abgesicherte Zone der internationalen Stabilität wird auf die Staaten ausgeweitet, die unmittelbar an das Territorium der früheren UdSSR grenzen. Damit nimmt die Nordatlantische Allianz die Verantwortung für die Aufrechterhaltung des Friedens und die Verhinderung von Konflikten in dieser Region auf sich;

die Befürwortung des Kurses auf die Erweiterung ihres quantitativen Bestandes durch die Nordatlantische Allianz selbst zwingt sie, eine deutlichere Position zu den Grundfragen der europäischen Umgestaltung in der Periode nach dem »kalten Krieg« einzunehmen, eindeutig die Ziele und den Charakter der zukünftigen Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation und den anderen GUS-Mitgliedern zu erläutern, den Prozeß des Neudurchdenkens der politischen Rolle der NATO zu beschleunigen und wirksame Maßnahmen zur Transformation des Blockes in ein Instrument zur Gewährleistung allgemeiner Sicherheit zu ergreifen;

die Erweiterung der NATO um die MOE-Länder eröffnet auch Rußland den Weg in die Allianz.

Letzteres Argument wird besonders am Vorabend des im Januar stattfindenden NATO-Gipfeltreffens hervorgehoben. Unterdessen kamen Experten zu dem Ergebnis, daß in den Vorschlägen an die Adresse Rußlands in Bezug auf eine Partnerschaft mit der NATO bisher keine Linie zur Schaffung eines Mechanismus zur Aufrechterhaltung der internationalen Sicherheit sichtbar wird, der nach seinem Bestand und seinen Funktionen den Bedingungen der Periode der Postkonfrontation entspricht. Die Idee eines solchen Mechanismus wird im Westen diskutiert. Von Spezialisten in den Vereinigten Staaten wird beispielsweise die Möglichkeit untersucht, in der gegenwärtigen Etappe eine Organisation der kollektiven Sicherheit zu schaffen, die etwas zwischen der NATO einerseits und KSZE und UNO andererseits darstellt.

In der Tat hat für Rußland jener Fakt prinzipielle Bedeutung, in welche Allianz und mit welchen Funktionen es eintreten und welche partnerschaftlichen Beziehungen es mit ihr herstellen kann.

NATO-Generalsekretär Wörner unterstrich bei seinem Auftritt am 29. Oktober d.J. auf der Konferenz »Aufrechterhaltung des Friedens in Europa« in Madrid, an der Experten von NATO, WEU, EG und KSZE teilnahmen, eine Reihe von Momenten, die, wenn nicht Besorgnis, so doch zusätzliche Fragen provozieren. Er erklärte, daß zusammen mit der Gewährleistung der gemeinsamen Verteidigung der Mitglieder der Allianz ihr Hauptziel in der gegenwärtigen Situation in der Aufrechterhaltung des strategischen Gleichgewichts in Europa besteht. Die zweite Aussage kann man als Fortsetzung zur Erfüllung einer der globalen Funktionen der NATO aus der Periode der Konfrontaion des »kalten Krieges« unter neuen Bedingungen interpretieren. Falls das zutrifft, erfordert die Verlagerung der Grenzen der Nordatlantischen Allianz an die Grenzen Rußlands entweder seine militärische Stärkung, was nicht den zu lösenden Aufgaben der wirtschaftlichen Entwicklung entspricht oder das Einverständnis zur Asymmetrie auf dem Gebiet der Sicherheit, was ebenfalls den Interessen der Russischen Föderation widerspricht.

Nach einer anderen Aussage Wörners wird es eine der wichtigsten Funktionen der NATO werden, Stabilität in die MOE-Länder und nach Mittelasien zu »projizieren«. Wenn die »Partnerschaft« oder eine andere Form der NATO-Erweiterung die Einbeziehung der Staaten Mittelasiens in ihren Geltungsbereich beinhaltet, so kann das nicht ohne Grund in Rußland als Alternative zum entstehenden System der kollektiven Sicherheit im Rahmen der GUS interpretiert werden. Die Ausweitung des Geltungsbereiches der NATO auf zwei Regionen, die von Westen und vom Süden unmittelbar an die Russische Föderation grenzen, ist in der Lage, begründeten Verdacht dahingehend hervorzurufen, daß sich eine für Rußland höchst nachteilige geopolitische Lage herausbildet.

2.3. Militärische Aspekte

Natürlich darf es für solche plumpen Behauptungen, wie sie während der Periode des »kalten Krieges« gängig waren (zum Beispiel über die scharfe Konfrontation zwischen Ost und West, NATO und Warschauer Vertrag) keinen Platz mehr geben. Schwierig ist es, anzunehmen, und falsch wäre es, davon auszugehen, daß die geographische Erweiterung der NATO der Bildung eines Brückenkopfes dient, der darauf abzielt, Rußland oder seinen Verbündeten einen Schlag zu versetzen. Dieser Schluß ist jedoch nicht mit jenem identisch, daß das Vorrücken der NATO nach Osten nicht die Interessen der militärischen Sicherheit Rußlands berührt.

In letzter Zeit kamen im Westen verschiedene Auslegungen der Position der russischen Armee zu dieser Frage in Umlauf. Insbesondere tauchten Vermutungen über das Streben der Generalität auf, ihren »wachsenden Einfluß« auf die Regierung Rußlands auszunutzen und ihr einen harten Kurs auf dem Gebiet der Gewährleistung der nationalen Sicherheit »aufzuzwingen«. Gleichzeitig muß man berücksichtigen, daß die eigene Bestimmung und die fachlichen Aufgaben der Streitkräfte die Spezifik ihres Standpunktes zum Problem der Ausweitung des Geltungsbereiches der NATO nach Osten prädestiniert. Es ist offensichtlich, daß die militärische Führung Rußlands Aufmerksamkeit auf folgendes richten muß:

1. Die Tatsache, daß im Ergebnis der NATO-Erweiterung die größte Militärgruppierung der Welt, die über ein umfangreiches Angriffspotential verfügt, sich in unmittelbarer Nähe der russischen Grenzen befindet, erfordert ein grundlegendes Neudurchdenken aller Verteidigungskonzeptionen, der Neuformierung der Streitkräfte, eine Überprüfung der operativen Pläne für die Kriegsschauplätze, die Entfaltung einer zusätzlichen Infrastruktur, die Neudislozierung der großen Militärkontingente und die Veränderung der Einsatzpläne und des Charakters der militärischen Ausbildung. Diese Maßnahmen sind vom russischen Standpunkt eine objektive Notwendigkeit und müssen unabhängig davon realisiert werden, daß die NATO politisch nicht mehr als Gegner betrachtet wird. Ohne jeden Zweifel würde in einer ähnlichen Situation auch von der gegenüberliegenden Seite ein analoges Herangehen festgelegt werden.

2. Die Realisierung der aufgeführten Maßnahmen, zumal in gedrängten Fristen, zieht zweifellos eine Überbeanspruchung des Staatshaushaltes und eine Schwächung der Verteidigungsfähigkeit Rußlands in der Periode der strukturellen Umgestaltung und der Verlegung der führenden Gruppierungen der Streitkräfte nach sich.

3. Man kann nicht übersehen, daß unter solchen Bedingungen folgende Bedrohung entsteht: Gefahr des Verzögerns der Fristen und des Bruchs der vorhandenen Programme zur Senkung, Reorganisation und Professionalisierung der Streitkräfte, ihrer Ausstattung mit modernen intelligenzintensiven, teuren Waffensystemen. Ein Zurückbleiben auf diesem Gebiet würde eine wesentliche Einschränkung des Kampfpotentiales der Streitkräfte Rußlands im Vergleich mit dem Niveau der führenden Militärmächte bedeuten.

4. Im Falle der Unfähigkeit der Regierung Rußlands, eine normale Finanzierung, Vervollständigung, die materiell-technische Absicherung und den sozialen Schutz der Streitkräfte zu sichern, kann eine Unzufriedenheit von Armeekreisen entstehen, was weder im Interesse der politischen noch der militärischen Führung Rußlands, noch des Landes insgesamt liegt.

Man darf auch jenen Fakt nicht ignorieren, daß die Erweiterung der NATO dazu führt, daß ihr Geltungsbereich auch jenen Teil des europäischen Kontinents umfaßt, in dem die zwischenstaatlichen Grenzen im Ergebnis des zweiten Weltkrieges verändert wurden. Dabei vollzieht sich solch ein Prozeß unter Bedingungen, daß im Ergebnis der Herausbildung neuer Staaten in Europa die Vereinbarungen von Helsinki, die den Status quo fixieren, nicht mehr gültig sind bzw. wesentlich geschwächt werden. Folglich kann man meinen, daß unter den neuen Bedingungen die NATO der alternative Garant der Nachkriegsgrenzen sein wird. Zusammen mit den positiven Momenten hat das auch eine negative Seite. Viele Experten verbinden die »Evolution der Erweiterung« der Nordatlantischen Allianz mit der wachsenden Bedeutung der BRD in der NATO. Die »Vorbereitungsperiode« des Eintritts der MOE-Länder als vollberechtigte Mitglieder in die NATO ist auch eng mit der Aktivierung ihrer auf bilateraler Grundlage basierenden militärischen Zusammenarbeit verbunden. Eine Reihe ausländischer Politologen kommt zu dem Schluß, daß die Erhöhung der Mitgliedszahl der Allianz dazu führt, daß sich die BRD auf dem europäischen Kontinent aus einem »Importeur« von Sicherheit in ihren »Exporteur« verwandelt. Im Zusammenhang damit gibt es Grund zu der Annahme, daß bei der Bearbeitung der Frage über die Erweiterung der NATO bestimmte Kreise in Deutschland diesen Prozeß vom Standpunkt der weiteren Entwicklung der Lage zu den Nachkriegsgrenzen betrachten.

Eine ganze Reihe von Fragen auf diesem Gebiet ist nicht nur mit Deutschland, sondern auch mit anderen Staaten verknüpft. Versuchen zum Beispiel nicht diese oder jene Kräfte in Rumänien, die Idee der Vereinigung mit Moldova groß aufzuziehen, diesen Prozeß zu forcieren und sich dabei auf seine Mitgliedschaft in der NATO zu stützen und dabei die Interessen der Dnjestr-Region zu ignorieren? So oder so ist der Schluß berechtigt, daß unter den Bedingungen der NATO-Mitgliedschaft der MOE-Länder das Niveau der Internationalisierung von Streitfragen und Konflikten, darunter territorialen, wächst.

Die Erweiterung der NATO um die »Visegrad-Gruppe« stimuliert die baltischen Staaten zum Eintritt in die Nordatlantische Allianz. Daraus kann eine Situation entstehen, daß der Schwerpunkt ihrer Zusammenarbeit mit dem Westen sich in den militärischen Bereich verlagert. Das könnte als eine Herausforderung Rußlands betrachtet werden, dessen geopolitische Interessen einer Militärpräsenz von Drittstaaten in dieser Region widerspricht.

Die Führung der Nordatlantischen Allianz unterstreicht, daß die Schaffung eines »Cordon Sanitaire« in den MOE-Ländern, der Rußland von Westeuropa trennen würde, nicht zu ihren Absichten gehört. Dennoch kann sich das unabhängig von den subjektiven Absichten der NATO-Führer vollziehen. Auf jeden Fall entsteht mit dem Beitritt der MOE-Länder in diese Organisation objektiv eine Barriere zwischen Rußland und dem übrigen Teil des Kontinents.

Man muß auch berücksichtigen, daß die Veränderung des Mitgliedsbestandes der NATO unvermeidlich zur Untergrabung einer Reihe von Verpflichtungen der Allianz führt, die sich aus multilateralen Verträgen und Abkommen, darunter aus dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa ergeben, dessen Einhaltung zur Stabilität und Sicherheit auf dem Kontinent beiträgt.

Bekanntlich wurde der Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa auf der Konzeption der gleichen Sicherheit aufgebaut und verfolgte das Ziel, bis Ende 1995 ein Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte zwischen beiden Staatengruppierungen (NATO und früherer Warschauer Vertrag) durch die Errichtung von gleichen Obergrenzen nach Anzahl der Kampftechnik der Bodentruppen und der Luftstreitkräfte zu erreichen. Im Falle der Erweiterung der NATO um Länder des früheren Warschauer Vertrages wird das Prinzip des Kräftegleichgewichtes verletzt. So würden die Quoten der konventionellen Streitkräfte nicht nur der potentiellen neuen NATO-Mitglieder, sondern auch von GUS-Ländern, vor allem aber Rußlands in Frage gestellt – darunter auch an den Flanken.

Außerdem entstünde das Problem der wesentlichen Korrektur von Gruppenverpflichtungen in Bezug auf die Weitergabe von Bewaffnungen und der Überprüfung ihrer Obergrenzen zwischen den Staaten der »Visegrad-Gruppe« (Artikel VII), zu Fragen der Kontrolle und Durchführung von Inspektionen (Artikel XIV) und andere.

Man muß bemerken, daß beliebige Korrekturen des Vertrages, die Rußland in den letzten 1 1/2 – 2 Jahren in bi- und multilateralen Verhandlungen angestrebt hat, auf den harten Widerstand und die negative Reaktion der NATO trafen. So wurde die Botschaft von Rußlands Präsident Jelzin (September 1993) an die Führer der NATO-Staaten, die den Vorschlag zur Überprüfung der Einschränkungen für die Streitkräfte Rußlands an den Flanken beinhaltet (Artikel V), von der Führung der Allianz praktisch zurückgewiesen. Es gibt zahlreiche Beweise dafür, daß diese Position des Blockes bis Ende 1995, dem Zeitpunkt des Auslaufens der Reduzierung der konventionellen Streitkräfte, die auf dem Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa basiert, beibehalten wird.

2.4. Innenpolitische Aspekte

Man kann die Möglichkeit einer ungünstigen Auswirkung der Erweiterung der NATO auf die innenpolitische Lage in Rußland sowie auf die Psyche der Russen nicht ignorieren. Die gesellschaftliche Meinung in der Russischen Föderation formierte sich lange Zeit in einem Anti-NATO-Geist. Sie kann nicht mit einem Mal geändert werden. Im Zusammenhang damit wird die Ausweitung des Geltungsbereiches der Nordatlantischen Allianz auf die früheren verbündeten Staaten der UdSSR in der gegenwärtigen Etappe von einem bedeutenden Teil der Gesellschaft als »Annäherung der Gefahr an die Grenzen der Heimat« betrachtet. Das kann den antiwestlichen Kräften in der Russischen Föderation einen Impuls geben, sie mit Argumenten für zielgerichtete Versuche zur Diskreditierung des Regierungskurses zu versorgen. Unter solchen Bedingungen kann es im Land zur Wiedergeburt der Idee der »belagerten Festung« und von isolationistischen Tendenzen mit sich daraus ergebenden negativen Folgen für die Durchführung des Reformkurses kommen.

In Rußland muß also die gesellschaftliche Meinung zur Akzeptanz der NATO als Struktur der europäischen Sicherheit und Stabilität und nicht als eine feindliche Kraft wachsen, die zur politischen und militärischen Festigung ihrer Überlegenheit über den Hauptgegner im »kalten Krieg« drängt.

Auf der Grundlage der erfolgten Analyse, die in Abhängigkeit vom Eingehen neuer Angaben selbstverständlich korrigiert wird, sind die Experten der Auslandsaufklärung zu folgenden Schlußfolgerungen gelangt:

unter den Bedingungen der Periode der Postkonfrontation und des Fehlens einer sogenannten Blockdisziplin, die bis zur Auflösung des Warschauer Vertrages bestand, ist Rußland im Recht, den souveränen Staaten Mittel- und Osteuropas vorzuschreiben, ob sie in die NATO oder eine beliebige andere internationale Vereinigung eintreten dürfen;

den Interessen Rußlands würde eine Synchronisierung des Prozesses der Erweiterung des Geltungsbereiches der NATO mit der Veränderung des Charakters dieser Allianz und mit der Anpassung ihrer Funktionen an die Besonderheiten der gegenwärtigen Etappe der historischen Entwicklung entsprechen;

der Prozeß des Eintritts der MOE-Staaten in die NATO, sein Charakter, die Fristen, die Rechte und Pflichten der neuen Mitglieder, müssen unter Berücksichtigung der Meinung aller interessierten Seiten, darunter Rußlands, gestaltet werden. Dazu gehören auch die Perspektiven der Festigung der Grundlagen der kollektiven Sicherheit auf dem Kontinent, die Entwicklung einer gesamteuropäischen Zusammenarbeit, aber auch die Notwendigkeit der Gewährleistung von Garantien einer bedingungslosen Einhaltung der abgeschlossenen internationalen Abkommen durch alle Länder, die die Mitgliedschaft in der NATO anstreben.

nur die Berücksichtigung der aufgeführten Faktoren würde die Schaffung von Voraussetzungen und günstigen Bedingungen für ein Zusammenwirken der Russischen Föderation mit der NATO, und der Überführung ihrer Beziehungen auf das Niveau einer echten Partnerschaft ermöglichen;

in der gegenwärtigen Etappe müßte eine vielfältige Politik einer allseitigen Entwicklung der Zusammenarbeit mit allen internationalen Institutionen durchgeführt werden, die fähig sind, der Schaffung eines einheitlichen Systems kollektiver Sicherheit in Europa zu dienen.

Anmerkung

*) Es handelt sich hier um eine auszugsweise Dokumentation einer Stellungnahme der Auslandsaufklärung der Russischen Förderation, Moskau 1993. Übersetzung aus dem Russischen im Auftrag des Forschungsinstituts für Friedenspolitik e.V. von Werner Heiden, Berlin. Die vollständige Fassung ist erhältlich bei: Forschungsinstitut für Friedenspolitik e.V., Lohgasse 3, Postfach 1251 D-82352 Weilheim Tel.: (0881) 4586, Fax: (0881) 2080, Einzelpreis DM 8,– FF-Mitglieder DM 5,–; FF-Dokumentation 4-94

Bundesdeutsche Parteien & Europäische Sicherheit

Bundesdeutsche Parteien & Europäische Sicherheit

von Berthold Meyer

Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Alfred Dregger hat am 11.11.1988 in drei Sprachen (deutsch, englisch, französisch) ein Manuskript zum Thema „Sicherheit für Europa und das Atlantische Bündnis“ verteilen lassen, in dem er für die „Politische Union Europas“ auf der Grundlage des EG-Vertragswerks und für die „Europäische Sicherheitsunion“ als „notwendigen Bestandteil der politischen Union“ auf der Grundlage des WEU-Vertrages plädierte, und in dem es auf S. 10 heißt: „Wenn ich bisher von Europa gesprochen habe, habe ich Westeuropa gemeint.“

Dregger gebraucht danach in bezug auf die Überwindung der Teilung Europas Sätze wie: „Ein vereinigtes Europa, das alle Völker umfaßt, die nach ihrem kulturellen und historischen Selbstverständnis zum Abendland gehören, könnte so zur friedenserhaltenden Mitte zwischen den Weltmächten werden.“ „Je geringer Umfang und Stärke der (Gesamt-)Europäischen Union wären, umso mehr wäre diese als Zusammenschluß europäischer Demokratien auf die militärische Präsenz der USA in Europa angewiesen…“ Die Sowjetunion sollte sich überlegen, was für sie von größerem Nutzen sei, „die Kooperation mit freien und leistungsfähigen europäischen Staaten, die ihren Rückhalt in einer eigenständigen (Gesamt-)Europäischen Union finden oder die Aufrechterhaltung einer unerträglichen Konfliktsituation im Herzen Europas und eines von ihr erzwungenen Bündnisses mit den Staaten Ost-Mittel-Europas…“ „…je früher und besser sich das freie Westeuropa zu einem faszinierenden Modell für die Völker in Mittel-, Ost- und Südeuropa entwickelt; zu einem Modell für ein Gesamteuropa…“

Spätestens hier wird deutlich, daß für Dregger das Gravitationszentrum Europas im westeuropäischen Einigungsprozeß liegt. Klar wurde aber auch schon, daß für ihn Europa, das Abendland, nur bis zum Bug und nicht zum Ural reicht. Ohne in diesem Moment auf die inhaltliche Problematik dieses Beitrages einzugehen, läßt sich eines sehr gut an ihm aufzeigen: Sprachschludrigkeit ist es nicht allein, was den Westeuropazentrismus ausmacht, vielmehr ist der verwirrende Sprachgebrauch, für den ja nicht nur Dregger steht, typisch für eine politische Rhetorik, die nicht alles sagen will, was sie denkt und nicht alles bedenkt, was sie dennoch sagt.

Im folgenden sollen die Positionen der Parteien des Deutschen Bundestages zu fünfzehn verschiedenen Aspekten der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit in Westeuropa, zum geamteuropäischen Verständigungsprozeß und – weil diese Problematik stets damit verwoben ist – zur Deutschlandpolitik miteinander verglichen werden. Der Rahmen des Referates erlaubt es dabei leider nicht, auf die innerparteilichen Diskussionen, die es zu einzelnen Fragestellungen gibt, näher einzugehen oder die Entwicklung bestimmer Positionen nachzuzeichnen. Vielmehr beschränkt sich die Synopse weitgehend auf die offiziellen Parteilinien und auf ihren Stand in der 11. Legislaturperiode des Bundestages.

Faßt man diese Linien zusammen, so läßt sich feststellen, daß es im Bundestag keine Gruppierung gibt, die sich dafür stark machen würde, auf dem Weg nach Europa in eine nationalstaatliche Richtung umzukehren. Im Gegenteil: alle Parteien geben sich pro-europäisch, jedoch wollen sie nicht alle dasselbe Europa, schon gar nicht in der Sicherheitspolitik.

Jede Partei hat einen spezifischen Zugang zum Fragenkomplex der europäischen Sicherheit entwickelt, verfolgt im Detail unterschiedliche Zielvorstellungen und bevorzugt dementsprechend auch von den anderen abweichende Methoden der Sicherheitspolitik. Der vielbeschworene sicherheitspolitische Konsens in der Bundesrepublik ist nicht in ein schwarz-blau/gelbes Lager einerseits und ein rot-grünes andererseits zerfallen. Vielmehr verlaufen bei einigen Sachgebieten Trennungslinien quer durch die politischen Parteien, bei anderen gibt es unterschiedlich breite „Koalitionsmöglichkeiten“.

Die Einstellung zum NATO-Bündnis

Eine zentrale Frage für das Ob und Wie einer stärkeren sicherheitspolitischen Zusammenarbeit in Westeuropa ist die nach der Einstellung zum NATO-Bündnis und zur deutschen Mitgliedschaft darin. Diese wird in den traditionellen Parteien weitgehend übereinstimmend positiv beantwortet. Allerdings gibt es bei der SPD und FDP schon seit langem Hinweise darauf, daß dieses Bündnis weder Selbstzweck noch für die Ewigkeit gedacht ist, sondern durch eine gesamteuropäische Friedensordnung abgelöst werden soll. Die von Oskar Lafontaine Mitte der 80er Jahre vertretene Auffassung, die Bundesrepublik sollte die NATO-Integration verlassen, wurde von ihm nach der Bundestagswahl 1987 zurückgenommen. Einzig die Grünen meinen, Frieden in Europa könne eher durch einen einseitigen Austritt der Bundesrepublik aus der NATO oder auf dem Wege der Blockauflösung erreicht werden. Hier hat Joschka Fischer 1987 jedoch eine neuerliche Standortdiskussion ausgelöst.

Westeuropäische Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik

Die traditionellen Parteien befürworten allesamt eine Verstärkung der westeuropäischen sicherheitspolitischen Zusammenarbeit innerhalb der NATO. Die Unionsparteien halten dies für notwendig, um den zweiten Pfeiler im NATO-Bündnis auszubauen und um gleichzeitig zu verhindern, daß sich die USA von Europa zurückziehen, denn sie wollen das Bündnis insgesamt gegenüber der nach wie vor als bedrohlich erlebten Sowjetunion und dem Warschauer Pakt stärken. Fraktionschef Dregger strebt darüber hinaus an, die WEU zur Europäischen Sicherheitsunion auszubauen, wobei er sogar daran denkt, daß diese eines Tages als dritte Macht gemeinsam mit den beiden Weltmächten an Rüstungskontrollverhandlungen beteiligt sein könnte. SPD und FDP geht es bei der Verstärkung der westeuropäischen Sicherheitskooperation primär um die Rahmenstruktur, d.h. darum, die Mitsprachemöglichkeiten der Westeuropäer im Bündnis zu verbessern und ihr Gewicht zu vergrößern. Die Sozialdemokraten wollen zum Teil auch durch eine Politik der Selbstbehauptung Europas die Abhängigkeit von den USA verringern, um in Zeiten einer konfrontativen US-Politik in Europa eigenständig auf einem Entspannungskurs bleiben zu können. Während die Unionsparteien und die Liberalen auch aus Gründen der Koproduktion und Standardisierung im Rüstungsbereich die Wiederbelebung der WEU betrieben haben, wogegen die SPD 1984 sanft opponierte, ist es gerade dieser Aspekt, der die Grünen zu jeder Art des sicherheitspolitischen Ausbaus Westeuropas Nein sagen läßt.

Kompetenzerweiterung der EG

Alle drei traditionellen Parteien sind dafür, die EG zu einer Europäischen Union fortzuentwickeln, der dann auch sicherheitspolitische Kompetenz (im Rahmen der EPZ und auf den Ebenen der Kommission und des Europäischen Parlamentes) zuwächst. Über das Maß des Zusammenschlusses wie auch der sicherheitspolitischen Kompetenz gibt es allerdings Unterschiede zwischen den Regierungsparteien und der SPD. Die Grünen wollen demgegenüber den Zivilcharakter der EG auf alle Fälle gewahrt wissen und lehnen deshalb eine sicherheitspolitische Kompetenzerweiterung wie auch jede institutionalisierte Zusammenarbeit der EG mit der WEU und der NATO ab.

Achse Bonn – Paris?

Die sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Frankreich und der Bundesrepublik wird in den Parteiprogrammen höchstens beiläufig erwähnt. Sie unter der Zielsetzung zu vertiefen, Frankreich zu einem für die Bundesrepublik berechenbaren Partner zu machen, forderten Mitte der 80er Jahre jedoch Politiker verschiedener Couleur. Unterschiede ergeben sich dabei vor allem vor dem Hintergrund der jeweiligen Einstellung zur Nuklearrüstung (vgl. 7). Wie weit das Ziel der Einbindung Frankreichs durch den neu geschaffenen Sicherheits- und Verteidigungsrat erreicht worden ist, muß abgewartet werden. Dem Zusatzprotokoll zum Elysée-Vertrag stimmten 1988 sowohl die Koalitionsparteien als auch die SPD zu, während die Grünen erklärten, die „historisch beispiellose Verständigung im Zeichen von Aussöhnung und Frieden“ werde „militärisch vergiftet“ (Mechtersheimer). Helmut Schmidts 1984 erhobene Forderung nach einem „französisch-deutschen Tandem“ in der Sicherheitspolitik, das dann auch die politische Führung in der EG übernehmen sollte, läßt sich parteipolitisch nicht mehr zuordnen, den sie stieß weder in seiner eigenen noch in den anderen Parteien auf ein eindeutiges Echo, fand aber noch am ehesten in Dreggers Überlegungen zu einer europäischen Sicherheitsunion unter deutsch-französischer Führung einen Widerhall.

US-Präsenz

Ein sicherheitspolitisches Eckdatum der Unionsparteien ist die Vorstellung, die Sowjetunion könnte zu einer militärischen Expansion neigen, wenn der Westen nicht stark genug gerüstet sei. Deshalb plädieren sie dafür, auch im Falle der Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO die Truppenpräsenz der USA vollständig beizubehalten. Die Selbstbehauptungsperspektive der SPD kommt logischerweise zu dem Ergebnis, daß, wenn die Stärkung Westeuropas erfolgt ist, ein teilweiser Rückzug der Amerikaner – aber auch der Sowjets auf der anderen Seite – möglich wäre. Die FDP ist in diesem Punkt programmatisch über allgemeine Aussagen zugunsten einer »ausgewogenen Rüstungsverminderung« hinaus nicht festgelegt, während für die Grünen der Abzug aller ausländischen Truppen essentiell ist.

Atomare Abschreckung und Modernisierung

Sicherheit kann aus der Sicht der CDU/CSU – zumindest bis zur Installierung eines funktionierenden und auf die europaspezifische Bedrohung zugeschnittenen Abwehrsystems – nur durch atomare Abschreckung gewährleistet werden. Diese Aufgabe kommt bis auf weiteres noch den USA zu, könnte aber nach Auffassung einiger Unionspolitiker auch von einer europäischen Atomstreitmacht wahrgenommen werden. Auch SPD und FDP halten die nukleare Abschreckung bis auf weiteres noch für notwendig, möchten sie aber durch Rüstungskontrollmaßnahmen und durch die Politik der „gemeinsamen Sicherheit“ (SPD) längerfristig überwinden. Welche und wieviele Atomwaffen für die Abschreckung weiterhin notwendig sind, ist ein Streitpunkt, der quer durch die traditionellen Parteien geht. Aus der „Nachrüstungs“debatte wie auch aus der Auseinandersetzung zwischen den Koalitionsparteien um die doppelte Null-Lösung haben CDU/CSU und FDP den Schluß gezogen, daß gegenwärtig nicht über eine Modernisierung im nuklearen Kurzstreckenbereich gesprochen werden sollte. Dabei spielen sowohl wahltaktische Gesichtspunkte eine Rolle als auch die Überlegung, daß keine Waffen allein in der Bundesrepublik aufgestellt werden sollen (Singularisierung). Die FDP hat darüber hinaus wie die SPD auch entspannungspolitische Bedenken gegen eine Modernisierung. Die Grünen lehnen mit der Atomrüstung auch die Abschreckungsstrategie ab und sind infolgedessen auch grundsätzlich gegen jede Modernisierung.

Deutsche Mitsprache über Kernwaffen

Das Problem der Bundesrepublik, möglicherweise sehr früh zum Schauplatz einer nuklearen Auseinandersetzung zu werden und darauf keinen Einfluß zu haben, wird von Politikern aller Parteien gesehen. Die Lösungsansätze fallen jedoch höchst unterschiedlich aus. In den Unionsparteien wird eine positive Mitentscheidung der Bundesrepublik über den Einsatz der Kernwaffen der Verbündeten befürwortet. Einzelne Unionspolitiker halten dabei eine eigenständige westeuropäische Atomstreitmacht unter französischer Beteiligung für erstrebenswert. Alle anderen Parteien haben sich eindeutig gegen eine solche Atomstreitmacht wie auch dagegen, daß die Bundesrepublik selbst über Kernwaffen verfügt, ausgesprochen. Bei der SPD und FDP konzentriert sich die Frage der Mitsprache auf das Problem, eine Vetomöglichkeit gegen den Einsatz von Kernwaffen der NATO oder Frankreichs auf deutschen Boden oder von deutschem Boden aus zu erhalten. Die Grünen wollen die gesamte Bundesrepublik in eine ABC-waffenfreie Zone einbezogen wissen, in die dann auch nicht mit derartigen Waffen hineingeschossen werden darf.

Atom- und Chemiewaffenfreie Zonen

Zu solchen regionalen Konzepten der Rüstungsverminderung verhalten sich die traditionellen Partein sehr unterschiedlich. Die SPD hatte 1982 das Palmesche Korridor-Konzept befürwortet. Sie legte 1986 einen entsprechenden Vorschlag gemeinsam mit der SED vor, nachdem sie mit ihr 1985 auch schon ein Konzept für eine C-waffenfreie Zone ausgearbeitet hatte. Der Willensbildungsprozeß in der FDP ist in der Frage der atomwaffenfreien Zonen nicht eindeutig. Sie hat sich verschiedentlich für ein atomwaffenfreies Europa unter der Bedingung des konventionellen Gleichgewichts ausgesprochen, hat diesen Punkt jedoch nicht in ihr Schwerpunktprogramm von 1986 aufgenommen, obwohl einige Landesverbände diese Position bzw. Korridorkonzepte weiterhin vertreten. C-waffenfreie Zonen lehnt sie ab und setzt mit ihrem Außenminister seit Jahren auf den baldigen Abschluß einer globalen Übereinkunft in dieser Frage im Rahmen der Genfer Verhandlungen. Die Unionsparteien halten hingegen (mit Ausnahme der „Christlichen Demokraten für Schritte zur Abrüstung“) alle regionalen Abrüstungskonzepte und damit auch alle derartigen Entnuklearisierungsvorschläge für unakzeptabel. Ein Teil der Koalition (von Rühe bis Feldmann) ist jedoch bereit, die nukleare Artillerie um 80% einseitig abzurüsten.

Westeuropäische Rüstungskooperation

Eine westeuropäische Rüstungskooperation wird von den Unionsparteien uneingeschränkt begrüßt. Sie hatte im bayrischen CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß auch einen der wichtigsten Promotoren auf diesem Gebiet. Die SPD hat als Regierungspartei Kooperationsprojekte gefördert und kann deshalb als Oppositionspartei nur graduell von dieser Position abrücken. Die FDP heißt eine Rüstungskooperation innerhalb Westeuropas vor allem unter dem Gesichtspunkt der Rüstungsstandardisierung gut. Die Grünen lehnen aufgrund ihrer generell rüstungskritischen Position Kooperationsprojekte grundsätzlich ab.

Beteiligung an SDI

Eine deutsche bzw. europäische Beteiligung an der US-amerikanischen strategischen Verteidigunginitiative (SDI) wurde von den Unionsparteien befürwortet. Dabei ging sie davon aus, daß dieses Programm auch den westeuropäischen Sicherheitsinteressen Rechnung trage (Wörner), was von den anderen Parteien bestritten wurde. Zugleich versprachen sich führende Unionspolitiker durch die Beteiligung deutscher Unternehmen eine Teilhabe am technologischen Fortschritt. Eine ursprünglich als Ergänzung zu SDI gedachte Europäische Verteidigungsinitiative (EVI) wurde daraufhin in der Union nicht mehr weiterverfolgt. Die FDP nahm zwar nie grundsätzlich Stellung gegen SDI, warnte jedoch aus bündnis- und entspannungspolitischen Gründen vor einer staatlichen Beteiligung der Bundesrepublik an diesem Programm, und setzte deshalb einen Vertrag durch, mit dem die wirtschaftlich-technologischen Interessen der westdeutschen Industrieunternehmen gesichert werden sollten, die sich an SDI beteiligen wollten. Die SPD äußerte stets grundsätzliche Bedenken gegen SDI und trat auch im Bundestagswahlkampf 1987 mit der Forderung auf, den Kooperationsvertrag zu lösen. Die Grünen waren sowohl gegen SDI als auch gegen EVI und von daher selbstverständlich auch gegen eine deutsche Beteiligung – und sei es nur von Industrieunternehmen – an derartigen Programmen. Die Praxis der drei seit dem Abschluß des Kooperationsvertrages vergangenen Jahre zeigt überdies, daß das Interesse der USA an einer deutschen Beteiligung recht gering war, so daß das ganze Unternehmen mehr oder weniger zum Flop wurde.

EUREKA

Die FDP sah im europäischen Technologieprogramm EUREKA eine Möglichkeit, die europäische Kooperation über die EG-Grenzen hinaus zu fördern. EUREKA wurde auch von der CDU/CSU eindeutig befürwortet, während in der SPD nur insofern Bedenken geäußert wurden, daß es zu sehr auf die Großtechnologie und zu wenig auf Forschungsanstrengungen zum Umweltschutz und zur Humanisierung der Arbeitswelt angelegt ist. Die Grünen halten die bei EUREKA angelaufenen Forschungsprogramme für militärisch nutzbar und sprechen sich deshalb auch gegen dieses Programm aus.

Defensivorientierung der Militärstrategie

Parallel zur Frage der Entnuklearisierung wird in der gegenwärtigen sicherheitspolitischen Debatte die Möglichkeit einer eindeutiger defensiv orientierten konventionellen Militärstrategie diskutiert. Sowohl die Unionsparteien als auch die FDP gehen davon aus, daß die NATO rein defensiv orientiert sei. Während die CDU/CSU deshalb schon die Frage für überflüssig hält, spricht die FDP die Gefahren, die von der Wechselseitigkeit der Bedrohungswahrnehmung ausgehen, in ihrem jüngsten Programm zumindest an. Die SPD ist insgesamt zwar auch noch nicht so weit, sagen zu können, wie ein wirksames und unmißverständliches Defensivkonzept auszusehen hat, aber sie hat immerhin schon den Wegweiser aufgerichtet, der zu einer „Strukturellen Nichtangriffsfähigkeit“ weist. Bei den Grünen herrscht in der Frage der Defensivverteidigung insofern noch kein Konsens, als es eine alte Vorliebe für die soziale Verteidigung als eindeutig defensivem Gegenstück zu allen Formen der militärischen Verteidigung gibt, jedoch auch eine Strömung, die eine sozialdemokratische Militärreform akzeptieren könnte, wenn dabei sichergestellt wäre, daß die Atomwaffen beseitigt würden.

Gesamteuropäische Perspektiven

Alle Parteien neigen zu einem verschwommenen Europabegriff, so daß nicht immer gleich klar ist, wann von West- oder von Gesamteuropa die Rede ist. Alle sehen aber auch das Problem, daß der westeuropäische Integrationsprozeß allein den Frieden in Gesamteuropa nicht bringen oder sichern wird. Die Brüche zwischen der west- und gesamteuropäischen Perspektive werden jedoch unterschiedlich deutlich wahrgenommen und sehr verschiedenartig „gekittet“, wobei obendrein das Problem der deutschen Teilung und des Umgangs mit der deutschen Frage noch mit hineinspielt. Die Unionsparteien halten die Ausstrahlung des westeuropäischen Zusammenschlusses – und nicht nur des kommenden Binnenmarktes – für so groß, daß eines fernen Tages ganz Europa davon angezogen und die europäische Teilung dadurch überwunden werden wird, daß sich die noch nicht zur EG gehörenden ost-, mittel- und südeuropäischen Länder der Gemeinschaft anschließen werden, die dann zu einer gesamteuropäischen Union wird, die es den USA und der UdSSR ersparen könnte, sich „in Europa hautnah und hochgerüstet gegenüberzustehen“ (Dregger). Die FDP glaubt demgegenüber, durch „Stabilisierung und Vertrauen, Kooperation und gegenseitige Interessenverflechtung“ zu einer europäischen Friedensordnung gelangen zu können. Nicht sehr weit davon entfernt ist auch das Modell der „Gemeinsamen Sicherheit“ angesiedelt, das die SPD mit Blick auf Gesamteuropa und die beiden Supermächte vertritt. Die Grünen schließlich wollen die Ost-West-Spannungen durch die Auflösung der Blöcke überwinden.

»Deutschlandpolitik«

Für alle Parteien haben die auf Gesamteuropa bezogenen Überlegungen auch deutschlandpolitische Implikationen. Während sich die drei traditionellen Parteien noch so weit einig sind, daß es ohne eine Überwindung der Teilung Europas und die Herstellung einer gesamteuropäischen Friedensordnung keine Fortschritte in der „Deutschen Frage“ geben könne, verlangen die Grünen von der Bundesrepublik die Selbstanerkennung als Staat bei gleichzeitiger Anerkennung der DDR, d.h. die Schließung der „Deutschen Frage“. Für die Unionsparteien gibt es eine verschwommene Vision, in der gleichzeitig die Teilung Europas überwunden und die staatliche Einheit Deutschlands wiederhergestellt wird, was in etwa einem Gesamteuropa der Vaterländer gleichkäme, obwohl man vorher in Westeuropa auf eine eher bundesstaatliche Ordnung hinsteuert. Die Sozialdemokraten haben demgegenüber die Vision eines Gesamteuropas, in dem die Grenzen, also auch die zwischen den beiden deutschen Staaten, bedeutungslos werden. Die FDP nimmt insofern eine Mittelstellung ein, als sie einerseits im Rahmen der KSZE das Ziel erreichen will, die Grenzen zwischen den beiden deutschen Staaten „überflüssig zu machen und damit die Trennung für die Menschen zu überwinden“, und weil sie in demselben Programm „für ein geeintes Deutschland in einer europäischen Friedensordnung“ eintritt.

Status von West-Berlin

Eng verbunden mit der Deutschlandpolitik ist auch die Frage nach dem zukünftigen Status von West-Berlin. Aus der Einheitsvision der Unionsparteien ergibt sich logisch, daß sie die Option, Berlin wieder zur Hauptstadt zu machen, hierin einbettet. Bis dahin soll die Viermächteverantwortung und die Präsenz der westalliierten Streitkräfte erhalten bleiben. Die SPD sucht nach Bedingungen, durch die West-Berlin trotz seiner exponierten Lage den Status eines elften Bundeslandes erlangen könnte. Egon Bahr sieht als Voraussetzung hierfür, daß die ehemaligen Kriegsgegner mit der Bundesrepublik und der DDR Friedensverträge schließen. Die FDP möchte der Stadt eine neue Rolle zuteilen: sie soll eine „Brückenfunktion“ zwischen EG und RGW wahrnehmen. In dieser Brückenfunktion ist sich die West-Berliner Alternative Liste mit der FDP einig, ansonsten will sie im Gegensatz zur CDU die Hauptstadtoption fallen lassen, will West-Berlin auch nicht zum elften Bundesland, in dem die Bundeswehr die Aufgaben der Alliierten Streitkräfte übernähme, werden lassen, sondern will diese Streitkräfte ersatzlos auf einen symbolischen Rest reduziert haben.

Konsens und Dissens

Lassen Sie mich nun ein Fazit aus dieser Synopse ziehen und überlegen, welche Folgerungen wir aus der Bestandsaufnahme für die Realisierbarkeit einer zukunftsweisenden Sicherheitspolitik in der Bundesrepublik und durch sie in Europa ableiten können: In einer Zeit, in der in der breiten Öffentlichkeit das Unbehagen über die Verteidigungspolitik der Bundesrepublik zunimmt, zeigen die Bundestagsparteien ein breites Spektrum von Vorstellungen, wie die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen der Bundesrepublik verbessert werden könnten. Zugleich wird deutlich, daß in einer Reihe von Fragen Mehrheit und Minderheit bzw. Minderheiten nicht dem Schema hie Regierungskoalition, dort Oppositionsparteien entsprechen. In einigen Punkten reicht der Konsens – stärker als zur Zeit der „Nachrüstungs“-Debatte – über die Koalition hinaus und umfaßt weite Teile der SPD, wenn nicht gar diese Partei ganz. In anderen Punkten stehen nicht die Grünen, sondern der rechte Flügel der Unionsparteien sozusagen im „Abseits“. In wieder anderen – und das sind nicht wenige – liegen SPD und FDP auch sechs Jahre nach dem Ende der sozialliberalen Koalition noch näher beieinander als die Liberalen und ihre vorwiegend aus wirtschaftspolitischen Gründen gewählten Koalitionspartner. Wechselnde Mehrheiten hat es dennoch bisher nicht im Bundestag gegeben. Allerdings scheint dies nach der Debatte um die Tornado-Exporte am 27. Januar 1989 nicht mehr völlig ausgeschlossen. Vor allem könnte die FDP nach ihrer West-Berliner Wahlniederlage dazu veranlaßt sein, sich außen- und sicherheitspolitisch wieder stärker zu profilieren.

Konturen einer »mehrheitsfähigen« Sicherheitspolitik

Welches könnten nun aufgrund der Bestandaufnahme die Inhalte sein, die sowohl dem Kriterium zukunftsträchtig als auch dem Kriterium prinzipiell mehrheitsfähig zu sein entsprächen? Dabei heißt „prinzipiell mehrheitsfähig“, wenn das in Art. 38,1 GG niedergeschriebene freie Mandat der Abgeordneten von diesen auch wahrgenommen würde.

  1. Die Bundesrepublik bleibt in der NATO, setzt dort ihr Gewicht aber für eine Linie ein, die das abrüstungspolitische Entgegenkommen der Sowjetunion und ihrer Verbündeten positiv beantwortet und z.B. solange keine Modernisierungsvorbereitungen oder Kompensationsmaßnahmen akzeptiert, wie mit den WVO-Staaten erfolgversprechend über die konventionelle Rüstungskontrolle und Abrüstung verhandelt wird.
  2. Die WEU wird als ein primär politischer westeuropäischer Pfeiler der NATO ausgebaut. Hierzu werden auch die bisher noch nicht daran beteiligten europäischen NATO-Partner zur Mitarbeit eingeladen. Es wird davon abgesehen, Eingreifstreitkräfte der WEU für Einsätze außerhalb des NATO-Bereichs zu schaffen. Es sollte allerdings überlegt werden, inwieweit gemeinsame WEU-Streitkräfte der UNO unterstellt werden könnten, an denen dann auch die Bundesrepublik beteiligt wäre.
  3. Demgegenüber wird die politische Integration der EG/EPZ nicht auf den Verteidigungsbereich ausgedehnt. Diese Beschränkung erfolgt vor allem, um später den neutralen Rest-EFTA-Ländern oder auch RGW-Staaten die Mitgliedschaft bzw. die Assoziierung zu ermöglichen.
  4. Bei den Beziehungen zu Frankreich sollte darauf geachtet werden, daß keine Exklusivität entsteht, sondern daß die verschiedenen Gremien etc. stets für weitere westeuropäische Länder offen bleiben.
  5. Sofern die sowjetischen Ankündigungen zur Reduzierung ihrer Truppenkontingente in Ost-Mitteleuropa realisiert werden, braucht sich die Bundesrepublik amerikanischen Überlegungen zur Verringerung ihrer Truppenpräsenz in Westeuropa nicht zu verschließen. Ob sich eine Mehrheit fände, die eine solche Verringerung als westliche Gegen-Vorleistung empfehlen würde, erscheint jedoch zweifelhaft.
  6. Was die nukleare Abrüstung betrifft, so spricht vieles dafür, daß wenigstens im Bereich der nuklearen Artillerie eine Null-Lösung mehrheitsfähig wäre und eine 80-prozentige Reduzierung in diesem Bereich sogar als einseitige Maßnahme des Westens vorgeschlagen werden könnte.
  7. Der oben genannten WEU-Perspektive entspricht es, wenn diese keine atomaren Ambitionen verfolgt. Die Bundesrepublik verzichtet auch über das Jahr 1955 hinaus auf Atomwaffen und engagiert sich in diesem Sinne auch für eine Verlängerung des NV-Vertrages.
  8. Hinsichtlich der Schaffung von atom- oder chemiewaffenfreien Zonen in Zentraleuropa ist keine Mehrheit absehbar. Möglicherweise werden diese Konzepte jedoch auf andere Weise obsolet.
  9. Der Trend zu einer westeuropäischen Rüstungskooperation scheint nicht umkehrbar zu sein. Die Debatte um die Tornado-Exporte und deren bayrische Finanzierung zeigt jedoch, daß es eine Mehrheit gäbe, um Richtlinien zu verabschieden, die die deutschen Exportrestriktionen wieder verschärfen und darauf abzielten, ihre Umgehung durch Kooperation zu verhindern.
  10. Die Frage einer deutschen Beteiligung an SDI hat sich wohl von selbst erledigt, möglicherweise aber nicht die einer erweiterten europäischen Luftabwehr. Hier dürfte es allerdings eine Mehrheit geben, die sich gegen Vorbereitungen auf diesem Feld wendet, solange die KRK-Verhandlungen Anlaß zur Hoffnung geben, daß dort auch die Luftangriffskapazitäten reduziert werden.
  11. Es liegt sicher im Sinne einer breiten parlamentarischen Mehrheit, daß EUREKA ein ziviles Programm bleibt. Fraglich ist allerdings, ob die Kontrollmöglichkeiten des Parlaments ausreichen, um dies sicherzustellen.
  12. Allgemeine Erklärungen, daß die Militärstrategie beider Seiten ausschließlich defensiv orientiert sein sollen, gehören zur gängigen Münze auf allen Seiten des Parlaments. Konkrete Veränderungen dürften allein schon deshalb auf absehbare Zeit ausbleiben, weil noch viel zu viele Konzepte dafür im Gespräch sind, so daß sich gar nicht abschätzen läßt, welches davon mehrheitsfähig sein könnte.
  13. Die gesamteuropäischen Perspektiven dürften sich auf den weiteren Ausbau des KSZE-Prozesses konzentrieren. Es ist jedoch absehbar, daß daneben im wirtschaftspolitischen Bereich die EG mit dem in vier Jahren kommenden Binnenmarkt schon jetzt eine Magnetwirkung ausübt, die auch die RGW-Staaten erfaßt hat. Wenn auf diesem Wege die Teilung Europas überwunden und nicht vertieft werden soll, muß zweierlei geschehen, das auch im Bundestag mehrheitsfähig sein könnte: zum einen darf, wie schon unter 3. ausgeführt, die EG und die EPZ nicht mit der Verteidigungspolitik überfrachtet werden; zum anderen sollte die Bundesrepublik darauf hinwirken, daß im Rahmen der KSZE ein von der EG ausgehendes strukturelles Modernisierungsprogramm für die RGW-Länder geschaffen wird.
  14. Es ist davon auszugehen, daß das Ziel der nationalen Einheit Bestandteil der Präambel des Grundgesetzes und damit die „Deutsche Frage“ zumindest verbal offen bleibt. Ein Konsens in Richtung Anerkennung der Zweistaatlichkeit dürfte umso schwerer fallen, je mehr sich die Unionsparteien veranlaßt sehen, nationalkonservative Wählerschichten nicht nach rechtsaußen abdriften zu lassen. Unbeschadet dessen können die gutnachbarlichen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten weiter ausgebaut werden. Allerdings wird die für alle Nachbarstaaten positive Signalwirkung, die von einer endgültigen Anerkennung der Zweistaatlichkeit ausginge, weiterhin auf sich warten lassen.
  15. Was West-Berlin betrifft, so ließe sich ein innenpolitischer Konsens wohl am ehesten dahingehend erreichen, der Stadt im KSZE-Rahmen eine Brückenfunktion zukommen zu lassen. Die Organisation des oben genannten strukturellen Modernisierungsprogramms für die RGW-Länder könnte sogar am sinnvollsten von West-Berlin aus geleistet werden.

Ein Wunschprogramm zukunftsweisender Sicherheitspolitik würde zweifellos mehr und zum Teil auch andere Punkte enthalten. Doch diese fünfzehn scheinen mir auf die Westeuropa-, Gesamteuropa- und Deutschlandpolitik bezogen diejenigen zu sein, für die sich innerhalb des Bundestages Mehrheiten finden ließen, wenn – wie gesagt – die Abgeordneten bereit wären, ihre Einsichten höher zu bewerten als die Fraktions- und Koalitionszwänge.

Bei vorstehendem Beitrag handelt es sich um einen Vortrag, den B. Meyer bei der Tagung der VDW-Studiengruppe »Europäische Sicherheit« am 13. Februar 1989 in Hamburg gehalten hat. Einiges mag durch die jüngste Entwicklung überholt sein; es bleibt eine nützliche Übersicht.

Dr. Berthold Meyer arbeitet bei der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt

„Die Liberalen sind Pragmatiker“

„Die Liberalen sind Pragmatiker“

Ein Gespräch mit Olaf Feldmann, FDP-MdB

von Olaf Feldmann, Ingo Arend und Paul Schäfer

Olaf Feldmann`s Arbeitsplatz ist nicht gerade sehr geräumig. Dafür ist er dem Trubel im Abgeordnetenhochhaus entronnen, bewohnt mit seinen Parteifreunden Baum und Hamm-Brücher ein kleineres Anwesen und kann ins Grüne blicken. Darauf legt er Wert. Als abrüstungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion hat er sich seit Jahren einen Namen gemacht als einer, der koalitionspolitischen Windungen und Wendungen zum Trotz, sich für Entspannung und Abrüstung stark macht. Ingo Arend und Paul Schäfer sprachen mit ihm über Abschreckung, Raketenmodernisierung, Koalitionswechsel und andere Dinge.

Frage:

Halten Sie die Abschreckungspolitik noch für eine tragfähige sicherheitspolitische Konzeption?

Antwort:

Gerade noch. Ich glaube, daß wir im Augenblick auf die atomare Abschreckung noch nicht verzichten können. Gerade die Politik der FDP ist darauf angelegt, langfristig die atomare Abschreckung zu überwinden durch eine Politik, die Vertrauen auf- und Mißtrauen abbaut. Wir sind als Deutsche hier besonders gefordert; nicht nur, weil wir auf deutschem Boden die größte Waffenkonzentration haben. Dies bedeutet allerdings, daß nach einer kriegerischen Auseinandersetzung in Europa – die ich für äußerst unwahrscheinlich halte – hier nichts mehr zu verteidigen sein wird. Wir müssen uns daher im eigenen Interesse für Waffenreduzierung und Abrüstung besonders engagieren. Wir wollen mehr Sicherheit durch Abrüstung.

Frage:

Sie sagen, daß es langfristig um die Abschaffung der Abschreckung geht. Wenn nicht alles täuscht, wird ja dieses geheimnisvolle Gesamtkonzept, das die NATO Ende Mai verabschieden will, an der Abschreckungsdoktrin festhalten und eine „ausgewogene Mischung aus konventionellen und atomaren Waffen“ vorsehen.

Antwort:

Ich habe im Augenblick auch den Eindruck, daß die NATO sich etwas schwertut, auf Gorbatschow angemessen zu reagieren und die richtige Einstellung zu Gorbatschows Vorschlägen zu finden. Obwohl die meisten Vorschläge von Gorbatschow ja doch alte westliche Vorschläge sind. Vielleicht braucht der gesamte Prozeß der Vertrauensbildung auch noch eine gewisse Zeit. Wir kommen ja aus einer Zeit, in der die Sowjets auf westliche Vorschläge immer »njet« gesagt haben. Jetzt, in den letzten Jahren hat sich ja die Politik radikal geändert. Das ist keine Reform mehr, das ist ja eine Revolution, die sich da im Denken und Handeln abspielt. Noch nicht alle Dinge sind so weit verändert worden, wie wir es gerne hätten. Die Überlegenheit im Bereich der Waffen besteht noch; im Denken, in der Motivation und im Feindbilddenken hat sich wahrscheinlich schon einiges abgebaut. Aber das dauert seine Zeit. Auch bei uns muß sich das Vertrauen festigen, daß das, was sich in der Sowjetunion tut, tragfähig und von Dauer ist. Die Militärs sind da nicht an der Front. Es ist Aufgabe der Politiker, da mit neuen Ideen einzusteigen.

Außerdem kommt es ja auch nicht nur auf das an, was Deutsche denken. Wir sind im NATO-Verbund und müssen deswegen auch immer unsere anderen NATO-Partner mitziehen. Und hier wird z.T. noch sehr unterschiedlich gedacht. Wir können keine deutsche Ostpolitik betreiben, wir brauchen eine gemeinsame Ostpolitik der westlichen Bündnispartner. Nur dann ist das langfristig erfolgreich.

Frage:

Die Friedensbewegung fordert die Denuklearisierung Europas. Unterstützen Sie diese Forderung?

Antwort:

So nicht. Ich meine, daß wir langfristig zu anderen Formen zur Aufrechterhaltung unserer eigenen Sicherheit kommen müssen. Wir werden uns von der nuklearen Abschreckung entfernen. Aber zunächst verschrecken wir mit dem Wort »Denuklearisierung« einige unserer Bündnispartner. Das erschwert die Arbeit.

Zudem ist das Schlagwort »Denuklearisierung«, wie es bisweilen in der Öffentlichkeit benutzt wird, eine Irreführung. Es bezieht sich auf die landgestützten Raketen. Wir sind nach wie vor abgedeckt mit atomaren Raketen, mit doppelt verwendungsfähigen Flugzeugen, mit atomar bestückten U-Booten.

Frage:

Im Moment scheint es eher um neue nukleare Aufrüstung zu gehen. Die NATO debabttiert vor ihrem Gipfel Ende Mai über die »Modernisierung« ihrer atomaren Kurzstreckenraketen und anderer Waffen. Ist die FDP für diese sog. Modernisierung?

Antwort:

Die FDP will keine atomare Aufrüstung. Wir wollen unsere Sicherheit verbessern durch Rüstungsreduzierung. Das gilt für den atomaren, das gilt für den konventionellen Bereich. Das, was sich im Augenblick zwischen Bonn und Brüssel tut, ist an sich eine drittrangige Frage, aber es ist eine symbolträchtige Frage. Sie haben zu Recht gesagt „sogenannte Modernisierung“. Wenn es um eine Modernisierung ginge, d.h. Strippen neu einziehen oder Knöpfchen erneuern, dann kann man das – soweit erforderlich – machen. Das wird sowieso ständig gemacht. Aber hier geht es um Nachfolgesysteme mit qualitativ neuen Eigenschaften und anderen Reichweiten. Das Wort Modernisierung ist irreführend. Es geht um Nachfolgesysteme für die LANCE. Es wäre absolut falsch, jetzt, wo wir gerade mit den Wiener Rüstungskontroll- und Rüstungsreduzierungsverhandlungen anfangen, ein solches falsches Signal zu setzen. Ich halte es für viel wichtiger, und das ist voll auf der Linie von Bundesaußenminister Genscher, daß wir das Übergewicht der Sowjetunion, das wir ja alle beklagen, durch Verhandlungen reduzieren. Die Sowjets haben ja auch bereits Verhandlungen angeboten. Vor einer weiteren Null-Lösung habe ich keine Angst.

Frage:

Was wäre das Ziel der Verhandlungen? Gemeinsame Obergrenzen oder die dritte Null-Lösung?

Antwort:

Das Ziel ist zunächst eine gemeinsame Obergrenze auf niedrigem Niveau. Das wäre eine Zahl unter 88 Systemen. (gegenwärtiger NATO-Bestand; die Red.) Eine Null-Lösung ist theoretisch nicht auszuschließen, ist aber nicht das primäre Ziel der Operation. Wenn eine Null-Lösung dabei rauskommt und die Sicherheit durch andere Maßnahmen gewährleistet wird, dann wäre ich nicht dagegen.

Waffen haben ja keinen Selbstzweck, sie sind ja nur eine Reaktion auf eine Bedrohung. Wenn die Bedrohung sich in einigen Jahren wirklich reduzieren sollte, dann muß man auch über unsere Waffen reden können. Das würde auch Druck auf die Wiener Verhandlungen machen, damit es dort ergebnisorientiert und schnell vorangeht.

Frage:

Bei dem NATO-Gipfel könnte folgendes passieren: Modernisierung, im Prinzip ja, aber Beschluß über die Stationierung erst nach den Bundestagswahlen, gleichzeitig jedoch Entwicklung und Bau der neuen Waffen unter amerikanischer Regie; das alles ohne konkretes Verhandlungsangebot an die sowjetische Seite. Läuft das nicht auf eine Täuschung der Öffentlichkeit hinaus? Die Waffen werden praktisch schon entwickelt, aber der formale Beschluß über die Stationierung wird 91/92 gefaßt.

Antwort:

Warum soll man jetzt schon entscheiden, wenn die Abschreckungswaffen doch bis Mitte der 90er-Jahre funktionieren? Jetzt ist keine Beschlussfassung nötig. Die Entscheidung über die Entwicklung neuer Waffen-Nachfolgesysteme ist eine rein amerikanische Angelegenheit. Wir können den Amerikanern nicht reinreden, wir haben ihnen bei den binären Waffen nicht reinreden können, wir haben bei anderen Waffen nicht reinreden können – Sie werden die Entwicklung vorantreiben; mittlerweile sind zum zweiten Male im US-Haushalt Mittel für die LANCE-Nachfolgerakete eingesetzt. Aber die Amerikaner werden natürlich dann auf uns zukommen, wenn die Waffen in Produktion gehen sollen. Dann werden die Amerikaner uns fragen und dann werden wir uns schon deutlich zu Wort melden. Aber jetzt werden wir Nachfolgesystemen nicht zustimmen.

Frage:

In der »Tageszeitung« stand zu lesen, Genscher habe hinter den Kulissen bereits Zustimmung signalisiert?

Antwort:

Das glaube ich nicht. Abwarten. Stellen Sie sich mal vor, bei den ersten beiden Null-Lösungen wäre der Genscher nicht gewesen. Bedenken Sie, was da die kleine FDP alles geleistet hat. Auch jetzt steht die Fraktion und die Partei voll hinter Genscher.

Frage:

In der westlichen Allianz soll die Abneigung gegen den »Genscherismus« wachsen. In der FAZ wird die Gefahr einer gravierenden Änderung des Charakters der NATO heraufbeschworen. Wenn Bonn sich weiter weigere, würden die Amerikaner ihre Truppen in der Bundesrepublik mit neuen Atomraketen ausstatten, ob Bonn dem zustimme oder nicht.

Antwort:

Auf dem Boden der Bundesrepublik werden ohne Zustimmung der Bundesregierung keine atomaren Waffen stationiert, auch keine neuen chemischen Waffen. Nur die normalen konventionellen Waffen im Rahmen des Austausches.

Ich bin optimistisch, daß wir im Bündnis eine vernünftige Linie finden werden, die uns nicht auf die sog. Modernisierung festlegt. Ob wir in der NATO die Verhandlungsoption durchsetzen können, weiß ich noch nicht. Ich hoffe es natürlich. Wir wollen auf alle Fälle ein Gesamtkonzept für Abrüstung und Rüstungskontrolle.

Frage:

Es geht aber z.B. auch um neue nukleare Abstandswaffen und die spielen in der Öffentlichkeit bisher keine Rolle.

Antwort:

Das muß man alles in das Gesamtkonzept hineinnehmen; darüber muß man sich Gedanken machen. Über die zukünftige Rolle von Nuklearwaffen in Europa muß nachgedacht werden. Ob sie verzichtbar werden, hängt auch von den Ergebnissen in Wien ab.

Frage:

Und Sie glauben, darüber könnten Sie in der Koalition einig werden?

Antwort:

Ich glaube, daß wir eine Plattform finden können, wo wir uns alle wiedererkennen und darum wird Millimeter für Millimeter gekämpft. Jedenfalls will die FDP nicht mehr, sondern weniger Waffen.

Frage:

Sie setzen dabei auf den Wandel in der Union. Wäre es nicht sinnvoller, die Koalition gleich zu wechseln, um eine größere Dynamik im Abrüstungsprozeß zu bekommen?

Antwort:

Nein, dies wäre kein Grund. Die Union hat den KSZE-Prozess als einzige Partei Europas – mit Ausnahme der albanischen Kommunisten – zunächst nicht mitgemacht. Das müssen Sie erst mal sehen. Dann können Sie erst die Leistungen des Außenministers und der FDP ermessen, daß sie dieses Schlachtschiff auf die realistische Entspannungspolitik-Linie gebracht hat. Die Union ist doch im wesentlichen auf dieser Linie. Ich bin hoffnungsvoll, daß die Meinung in der Union sich durchsetzt, die der heutigen Zeit angemessen ist. Das ist ein mühsamer Prozess. Sehen Sie das Beispiel der Verlängerung der Wehrpflicht. Wir waren schon 1988 der Meinung – ich persönlich schon 1985 – , daß man aufgrund der Zahlen die Verlängerung verschieben kann. Jetzt ist auch die Union dafür – nicht aufgrund der neuen Zahlen der Hardthöhe, sondern wegen der neuen EMNID-Zahlen. Das Ergebnis jedenfalls geht in Ordnung.

Frage:

In diesem Jahr wird des 5o. Jahrestages des Ausbruches des II. Weltkrieges gedacht. Kann die Bundesregierung nicht einseitige, demonstrative Schritte einleiten, die verdeutlichen, daß von deutschem Boden nie mehr Krieg ausgehen wird. Z. B. die Verringerung der Soll-Stärke der Bundeswehr, oder Einschränkungen im Rüstungsetat?

Antwort:

Die Bundeswehrstärke ist für die FDP kein Tabu, aber ich glaube, es ist noch nicht an der Zeit, Reduzierungen vorzunehmen. Obwohl ich mir vom neuen Verteidigungsminister wünschen würde, daß er sich bald mit der Struktur der Bundeswehr befasst und damit auch die Frage der Zahl der notwendigen Bundeswehrsoldaten zur Diskussion stellt. Ich halte eine Möglichkeit für die Bundeswehr durchaus gegeben, sich von der Präsenzarmee zur Ausbildungsarmee zu entwickeln. Denn die hohe Präsenz ist auf Grund der sich erhöhenden und verbessernden Transparenz wahrscheinlich auf Dauer nicht mehr in dem Maße erforderlich, wie wir sie im Augenblick halten. Aber das ist nicht allein eine deutsche, nationale Entscheidung, das ist eine Entscheidung, die wir im Zusammenwirken mit den Verbündeten finden müssen. Da werden Impulse sicher auch von uns ausgehen können, wie man mit weniger Geld mehr Verteidigung erreichen kann. Das schließt den Verzicht auf manche Großprojekte ein. Ich war nie ein Freund des Jäger `90. Ich halte den Jäger `90 für weniger militärisch bedingt, als vielmehr industriepolitisch. Solche Projekte werden auch nicht dadurch besser, daß sie multinational sind. Im Gegenteil, diese multinationalen Projekte reißen uns in immer größere Dimensionen hinein. Das ist ein Dilemma unserer Rüstungskooperation.

Frage:

Zu den Verhandlungen über die Konventionellen Streitkräfte in Europa. Können Sie sich militärisch ausgedünnte Zonen in Mitteleuropa vorstellen?

Antwort:

Zonenkonzepte halte ich für problematisch. Für wichtig halte ich, daß wir gemeinsam zu Überlegungen und Ergebnissen kommen, die die konventionellen Armeen, die Militärmacht so reduzieren, daß sie zu Angriffen und zu raumgreifenden Operationen nicht mehr fähig sind. Also defensive Strukturen und vielleicht ein stärkeres Auseinanderrücken der Großgeräte im mitteleuropäischen Bereich.

Frage:

NATO-Generalsekretär Wörner sagt, die NATO sei bereits defensiv. Umorientierungen müssten nicht vorgenommen werden.

Antwort:

Das behauptet der Warschauer Pakt auch von sich. Die NATO ist auch defensiv. Das ist auch bei demokratischen Staaten gar nicht anders möglich. Es geht darum, daß Panzer nicht in der vordersten Reihe stehen oder nur in ganz minimaler Zahl; da hat die NATO meines Erachtens sehr weitreichende und gute Vorschläge gemacht. Es geht um die Festlegung auf gemeinsame Obergrenzen. Und dann geht es darum, daß die Transparenz erhöht wird – ich glaube, wir sind schon Riesenschritte im Bereich der Vertrauensbildung vorangekommen. Ich bin optimistisch, daß wir in den Wiener Verhandlungen, nach den langen Vorbereitungen der MBFR-Verhandlungen über 15 Jahre, daß wir jetzt Anfang der 90er Jahre zu konkreten Reduzierungsergebnissen kommen. Und ich hoffe, daß die Sowjets die angekündigten einseitigen Schritte schnellstens durchgeführt. Das wäre auch ein sehr positives Signal für die Wiener VKSE-Verhandlungen.

Frage:

Was halten Sie denn von dem Vorschlag des ehemaligen NATO-Oberkommandierenden in Europa Goodpaster, die Gesamtbestände um 50 Prozent auf beiden Seiten zu reduzieren?

Antwort:

Ja, aber mit gleichen Obergrenzen. Daß die NATO sagt, wir brauchen nur 5 Prozent Reduzierung, das halte ich für nicht tragbar. Wir müssen auch kräftig reduzieren.

Frage:

Wie sehen Sie die künftige Rolle Europas? Besteht nicht die Gefahr, daß es vor allem um ein westeuropäisches Militärbündnis geht?

Antwort:

Nein. Wenn Sie die WEU-Plattform ansehen, sind dort auch die Gedanken des Harmel-Berichts aufgenommen: die Verteidigungsfähigkeit aufrechterhalten, aber eine Politik des Ausgleichs und der Entspannung, vor allem auch gegenüber den osteuropäischen Nachbarn betreiben.

Westeuropa allein als Verteidigungsbollwerk, diese Gefahr sehe ich nicht. Wir wachsen wirtschaftlich zusammen, wir lernen uns kulturell und touristisch näher kennen, wir versuchen unsere Bildungsabschlüsse zu respektieren und unsere Arbeitsmöglichkeiten auszudehnen innerhalb Westeuropas – da hinkt der sicherheitspolitische Bereich ja eher nach.

Frage:

Daß sich der Osten durch den Ausbau der WEU auf neue Weise bedroht fühlen könnte, sehen Sie nicht?

Antwort:

Nein. Ich würde den europäischen Pfeiler der NATO bejahen. Ich halte das für richtig, daß die Europäer ihre eigene Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Rahmen der NATO betreiben. Aber wir wollen letztendlich eine kooperative Sicherheitspolitik. Diese Sicherheitspolitik muß die Bedrohungsängste der anderen Seite mit aufnehmen in ihre eigenen Verteidigungsüberlegungen. Wir erwarten aber auch, daß die andere Seite unsere Bedrohungsängste und Bedrohungsgefühle respektiert. Deswegen halte ich für sehr gut, daß z.B. jetzt zum ersten Mal NVA-Offiziere mit Bundeswehroffizieren zusammengekommen sind und daß der scheidende Verteidigungsminister sich in der sowjetischen Militärakademie umgeschaut hat.

Frage:

Ist die FDP für die verstärkte Förderung der Friedensforschung?

Antwort:

Die Friedensforschung gibt auch der Politik immer wieder sehr gute Denkanstöße. Aber es ist manchmal schwierig, das in der harten Realität durchzusetzen. Die schönen Vorstellungen müssen gegenüber der eigenen Industrie, gegenüber den eigenen Bündnispartnern durchgesetzt werden. Das ist gar nicht so einfach.

Ich habe immer für eine bessere Ausstattung und für eine höhere Bewertung der Friedensforschung gekämpft, schon in der sozialliberalen Koalition.

Frage:

Die FDP will oder wird sich stärker engagieren?

Antwort:

Es können sich meines Erachtens nicht genügend Leute um die Friedensforschung kümmern.

Frage:

Uns ist nicht klar, auf welcher konzeptionellen Grundlage die FDP ihre Sicherheitspolitik entwickelt.

Antwort:

Wir wollen die Verteidigungsfähigkeit aufrechterhalten; setzen aber stark auf Ausgleich und Entspannung. Das konzeptionelle Profil ist – wenn Sie so wollen – die strukturelle militärische Angriffsunfähigkeit. Diese Gedanken sind uns ebenso geläufig wie der SPD. Diese Politik lässt sich aber nur Schritt für Schritt verwirklichen. Die schönsten Konzepte, im stillen Kämmerlein ausgetüftelt, helfen nicht viel.

Die Liberalen sind Pragmatiker, da müssen Sie sich dran gewöhnen. Das kommt davon, weil wir in fast allen Regierungen waren. Da werden Sie realistisch und sehen, was sie machen können und was nicht. Aber wir wissen auch, wie man sich durchsetzt. Das machen wir dann auch. Man muß immer wieder dran erinnern, daß in der CDU nur Weizäcker, Barzel und einige wenige für den KSZE-Prozess waren, die anderen haben dem nichts abgewinnen können. Das haben die Leute schon verdrängt. Dies ist eine Riesenleistung der FDP, die Union auf diese Linie gebracht zu haben.

Sicher haben wir im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik mit der SPD weniger Probleme.

Frage:

Die Friedensbewegung hat auch ihren Teil zu dieser Veränderung beigetragen …

Antwort:

Wir stehen nicht außerhalb der Friedensbewegung. Ich habe auch früher, als Abgeordneter auf Veranstaltungen der Friedensbewegung gesprochen. Wir betrachten uns als Teil der Friedensbewegung im Parlament.

Von der »flexible response« zur gegenseitigen defensiven Dominanz

Politiker, Militärs und Friedensforscher aus den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik: Das alternative Gesamtkonzept für die Nato

Von der »flexible response« zur gegenseitigen defensiven Dominanz

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Am 28.4.89 wurde in Pressekonferenzen in Washington, London und Bonn ein Gesamtkonzept für die Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik der NATO vorgestellt. Die Urheber: der British American Security Information Council in Verbindung mit der Alternative Security Working Group (Großbritannien) und dem Comittee on National Security (USA). Zu den Verfassern bzw. Unterstützern des Papieres zählen solch prominente Leute wie die ehemaligen SIPRI-Direktoren Frank Barnaby und Frank Blackaby, der ehemalige CIA-Direktor William E. Colby, die Direktorin der Oxford Research Group Scilla Elworthy, Raymond Garthoff (Brookings Institution), der Präsident von Pugwash Prof. Joseph Rotblat, Flottillenadmiral Elmar Schmähling und der frühere Direktor der US-Abrüstungsbehörde Paul Warnke. Bemerkenswert ist v.a. die Tatsache, daß US-amerikanische, britische und deutsche Sicherheitsexperten in engerer Zusammenarbeit begonnen haben, über alternative Konzepte zur bestehenden NATO-Strategie nachzudenken. Es nimmt nicht wunder, daß bei der unterschiedlichen Ausgangslage die Annäherung an eine gemeinsame, neue Sicherheitspolitik ein mühsamer Prozeß ist. Viele Vorschläge sind daher eher zurückhaltend formuliert. Immerhin. Eine Grundrichtung ist hier skizziert, die weitergehenden Überlegungen Türen öffnet.Wir veröffentlichen im folgenden Auszüge aus dem „Comprehensive Concept“.

Die Ziele und die neuen Wege des Denkens

Die Vorstellungen eines sicheren Europas sind natürlich nicht vereinbar mit dem Ausmaß der gegenwärtigen militärischen Konfrontation. Die beiden Bündnisse gegeben gegenwärtig 500 bis 600 Milliarden Dollar jährlich für militärische Vorbereitungen innerhalb und um Europa herum aus – eine Summe, die in etwa dem gesamten Nationalprodukt Großbritanniens entspricht. Im Zentrum der Konfrontation, in den beiden deutschen Staaten zusammen, kommt ein Soldat – oder Angehöriger der Streitkräfte – auf 54 Einwohner.

Angesichts der im wesentlichen stabilen Natur der politischen Situation in Europa ist dieses Ausmaß der Militarisierung absurd. Es ist die Konsequenz der Bemühungen beider Bündnisse, Sicherheit durch einseitige Entscheidungen über Rüstung und Militärausgaben zu erreichen – eine Konsequenz, die mit der irrigen Ansicht verbunden ist, daß höhere Militärausgaben größere Sicherheit bewirken. Dieser Wettbewerb führt zu größerer Unsicherheit, einem höheren Ausgabenniveau und treibt ein endloses technologisches Wettrüsten an.

Gemeinsame Sicherheit

Es gibt inzwischen eine Reihe von Vorschlägen über Sicherheit, die den Weg weisen für ein sicheres Europa. Möglicherweise erweist sich als gewichtigste Vorstellung die der »Gemeinsamen Sicherheit«: Sicherheit kann nur noch gemeinsam mit dem potentiellen Gegner erreicht werden.

Sicherheit muß auf Vereinbarungen abzielen – im einzelnen oder insgesamt – mit Staaten, die zu Recht oder fälschlicherweise als potentiell feindselig angesehen werden. Dies hat eine Reihe von Schlußfolgerungen. Es schließt die einseitige Einführung von Waffensystemen aus. Es erfordert Transparenz und ein Ende der Geheimniskrämerei bezüglich militärischer Entwicklungen – es gibt gemeinsame Sicherheit, wenn jede Seite über die militärischen Entwicklungen der anderen Seite informiert ist. Wenn sie nicht gut informiert ist, dann wird sie den schlechtesten Fall annehmen und entsprechend reagieren.

Hinreichende Verteidigungsfähigkeit

Eine zweite neue Vorstellung ist die der »hinreichenden Verteidigungsfähigkeit«. Staaten brauchen eine Stabilität bezüglich ihrer Militärstrukturen; sie benötigen lediglich eine militärische Struktur, die ausreicht, um einen Angriff abzuschrecken. Dies betrifft in besonderer Weise die atomaren Waffensysteme. Für Abschreckungszwecke benötigt man nur eine kleine Zahl unverwundbarer Atomsprengköpfe – und es gibt keinen Bedarf, über diese Zahl hinauszugehen, was immer die andere Seite unternehmen mag. Parität bei den Nuklearsprengköpfen ist aus Sicherheitsgründen nicht erforderlich.

Gegenseitige Defensive Dominanz

Die dritte Vorstellung ist die einer »gegenseitigen defensiven Dominanz«. Parität produziert nicht notwendigerweise Stabilität. Wenn Staaten oder Bündnisse über gleiche Streitkräfte verfügen, die starke offensive, aber schwache defensive Fähigkeiten besitzen, liegt eine unstabile Situation vor, auf der jede Seite versucht sein könnte, als erste loszuschlagen. Ein Wandel hin zu defensiveren Strukturen erfordert Veränderungen nicht nur bei Waffensystemen sondern auch hinsichtlich der Doktrinen, der Taktik, der Übungen usw. Wären in ganz Europa defensive Fähigkeiten stark und offensive Fähigkeiten schwach, dann könnte kein Staat einen erfolgreichen Angriff starten. Deshalb wird bei den Verhandlungen über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa so viel Wert gelegt auf die Verringerung vor allem der offensiven Fähigkeiten und auf Schritte hin zu einer denfensiven Ausrichtung.

Demilitarisierung der internationalen Beziehungen

Schließlich zeigen die Erfahrungen der europäischen Länder der Nachkriegszeit, daß Sicherheit nicht nur eine militärische Angelegenheit ist – in der langfristigen Sicht nicht vorrangig eine militärische Angelegenheit. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft fühlen sich in ihren wechselseitigen Beziehungen untereinander sicher vor dem Einsatz militärischer Streitkräfte. Das hat nicht zu tun mit irgendeiner Parität bei ihren militärischen Fähigkeiten. Die gesamte Vorstellung des Einsatzes militärischer Streitkräfte zur Regelung irgendwelcher Streitigkeiten ist einfach ausgeschlossen. Die politischen Beziehungen untereinander sind demilitarisiert. Ihre Sicherheit hängt von einer Vielzahl von Verbindungen untereinander ab – nicht nur wirtschaftliche Verbindungen sondern auch soziale, kulturelle und persönliche Verbindungen gleichermaßen. Es gibt keinen Grund dafür, warum dieses Muster internationaler Beziehungen – d.h. die Demilitarisierung dieser Beziehungen – langfristig nicht auch über den Rest von Europa ausgebreitet werden kann.

Drei Etappen für ein sicheres Europa

Drei Etappen können wir uns vorstellen, um Fortschritte auf dem Weg zu einem tatsächlich sicheren Europa zu machen.

Die erste Etappe erfordert die Übernahme der Vorstellung der »Gemeinsamen Sicherheit« – zwischen den potentiellen Gegnern müssen militärische Entwicklungen und Strukturen und die Formen der Verringerung vereinbart werden.

Die zweite Etappe ist die gegenseitige defensive Dominanz, in der die Fähigkeit für offensive militärische Aktionen eliminiert wird.

In der dritten Etappe muß eine Beziehung erreicht werden, in der militärische Dispositionen nicht länger für relevant gehalten werden, um auf irgendeine Weise Streitigkeiten zwischen den Staaten zu regeln. Diese dritte Etappe erfordert eine intensive Entwicklung aller Verbindungen, die Nationen so zusammenzuführen, daß der Krieg zwischen ihnen ausgeschlossen werden kann.

Vierzig Jahre lang wurden die Diskussionen über die Sicherheit in Europa immer identifiziert mit der Diskussion über das militärische Gleichgewicht zwischen der NATO und dem Warschauer Vertrag. Es überrascht deswegen nicht, daß einige Leute diesen militärischen Antagonismus als unveränderbare Größe ansehen: die Sowjetunion ist der Feind und wird es immer sein und deshalb wird es immer substantielle militärische Streitkräfte auf beiden Seiten der Trennungslinie in Zentraleuropa geben.

Es ist eine der Lektionen in diesem Jahrhundert, daß »Feindstrukturen« dieser Art alles andere sind als unverrückbar… Politiker im Westen sollten sich auf den Gedanken einstellen, daß die Sowjetunion ebenfalls möglicherweise aufhört, der Feind zu sein.

Wenn wir langfristig ein Europa erreichen, in der die Vorstellung über den Gebrauch oder die Androhung von Gewalt ausgeschlossen wird, dann können die beiden Allianzen sich auflösen. Die NATO wurde als Organisation ins Leben gerufen, um auf eine spezifische Bedrohung zu antworten – jener aus der Sowjetunion. Falls diese Bedrohung nicht länger existiert, dann gibt es keine Notwendigkeit für diese Organisation, sich damit zu befassen. Die NATO ist nicht der richtige Ort für Aktionen, die bei Konflikten oder Spannungen irgendwo in der Welt in Gang gesetzt werden müssen. Die Vereinten Nationen sind der richtige Ort, um sich mit solchen Problemen zu befassen; sie beweisen heute wesentlich mehr Effektivität als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war. Maßnahmen, die Spannungen außerhalb Europas betreffen, sollen mit dem politischen Ziel verbunden sein, die Fähigkeiten der UN auszubauen.

Die Verhandlungen

Die Geschichte der Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen ist insgesamt nicht ermutigend. Insbesondere die vorangegangenen Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Europa dauerten 14 Jahre und erreichten keine Übereinkunft.

Es gab eine Tendenz bei den Rüstungskontrollverhandlungen in der Vergangenheit, sie in feindseliger Weise als Null-Summen-Spiel zu führen. Das Ziel glich manchmal dem eines militärischen Wettstreits – nämlich einen militärischen Vorteil über den Gegner zu erzielen. Die Ausgangsvorschläge schienen meist so angelegt, daß sie auf die Verringerung jener Systeme zielten, bei der der Gegner einen militärischen Vorteil hatte, und jene Systeme zu erhalten, bei der die eigene Seite im Vorteil war. Wenig Begeisterung gab es dafür, Sicherheit und eine Entlastung der Ressourcen für friedlichere Zwecke durch gemeinsames erfolgreiches Arbeiten zu erzielen.

Es wäre ein großer Vorteil, wenn die neuen Verhandlungen eine weniger feindselige Form bekämen. Sie sollten Teil eines Versöhnungs- und Rückversicherungsprozesses sein; sie sollten begleitet werden durch eine Entlastung bei den Verteidigungsausgaben und durch Verbesserungen der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen. Ideal wäre es für die Teilnehmer, wenn sie die Verhandlungen im Geiste gemeinsamer Sicherheit führten, als gemeinsame, kooperative Suche nach einer weniger gefährlichen und weniger verschwenderischen Struktur der militärischen Präsenz in Europa. Die Teilnehmer sollten auf die Einführung neuer Waffensysteme verzichten – und tatsächlich im Idealfall auch ihre Forschungsanstrengungen auf diesem Gebiet der Entwicklung verringern – während die Verhandlungen laufen.

Eines der wesentlichen Zeile der Verhandlungen sollte die Einführung erheblich größerer Transparenz bei militärischen Fragen sein. Im neuen System der Überprüfbarkeit, das beim Abschluß eines Vertrages notwendig wäre, hat militärische Geheimniskrämerei keinen Platz. Tatsächlich richtet sie sich gegen das Grundprinzip der gemeinsamen Sicherheit: man kann sich nur dann mit dem potentiellen Gegner über militärische Strukturen verständigen, wenn jede Seite weiß, welche militärischen Strukturen bestehen. Wesentlich größere Transparenz hätte den vorteilhaften Nebeneffekt, größere Teile der Geheimdiensteinrichtungen abbauen zu können.

Verifikations-Forschung

Die neuen Verhandlungen sollen durch größere substantielle Forschungsmittel gestützt werden, vor allem im Bereich der Überprüftechnik. Es gibt ein großes Ungleichgewicht zwischen den Forschungs- und Entwicklungsmitteln, die für neue Waffen vergeben werden (die in fast allen Fällen destabilisieren und die Sicherheit verringern) und Forschung und Entwicklung, die zur Unterstützung der Abrüstung und Rüstungskontrolle aufgebracht werden.

Die neuen Verhandlungen könnten sinnvollerweise durch regelmäßige internationale Dialoge zwischen Militärs begleitet sein, die sich mit der Bedrohungswahrnehmung und den Doktrinen befassen. Da eins der Hauptziele darin besteht, militärische Strukturen hin zu Verteidigungsoptionen zu ändern, sollten beide Seiten versuchen, eine gemeinsame Beurteilung der Arten eines solchen Wandels zu erreichen; dies wäre eine nützliche Ergänzung zum Verhandlungsprozeß selbst.

Unglücklicherweise gibt es kein Zeitlimit für die neuen Verhandlungen – vor allem nachdem die vorangegangenen Verhandlungen solange andauerten und nichts erreichten. Die Verhandlungsführer sollten bestärkt werden, substantielle Übereinkünfte vor der 4. KSZE-Folgekonferenz im März 1992 in Helsinki zu erreichen. Eine gemeinsame Vorgabe durch die Regierungschefs mit diesem Ziel wäre hilfreich.

Öffentlicher Druck

Ein Grund für das Scheitern der bisherigen Verhandlungen war fehlendes öffentliches Interesse daran. Nur wenige Leute wußten, daß diese Verhandlungen stattfanden und noch weniger kannten die Gegenstände, um die beide Seiten stritten. Regierungen sollten öffentliche Debatten zu diesen Fragen der Sicherheit in Europa entfachen und sie nicht als zu komplexe Fragen behandeln, die einfache Leute ohnehin nicht verstehen. Es bedarf eines gewissen, allgemeinen öffentlichen Drucks auf Regierungen, diese Verhandlungen auf jede mögliche Weise zu beschleunigen. Dies würde verstärkt, wenn eine starke europäische Abrüstungsbewegung existierte, die auch staats-unabhängige Organisationen in den Ländern des Warschauer Vertrages umfaßte. Die entspannteren Verhältnisse in diesen Ländern machen dies jetzt möglich. Es sollte auf diese Weise möglich sein, das alte Bild zu vermeiden, die öffentliche Meinung bedränge nur eine Seite.

Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte

Die neuen Verhandlungen sind potentiell ein großer Fortschritt gegenüber den vorangegangenen, indem sie erheblich mehr und vorrangig Sensibilität zeigen, die Möglichkeiten für einen Überraschungsangriff oder großangelegte offensive Operationen zu beseitigen. Die Ausgangslinie der NATO-Vorschläge für die Bezifferung bestimmter offensiver Waffensysteme, die beide Seiten behalten, bezeichnet rund 95% der gegenwärtigen NATO-Kräfte. Das Argument der NATO scheint darin zu liegen, daß die Vorneverteidigung an den westdeutschen Grenzen ein bestimmtes Mindestmaß militärischer Verbände beider Seiten 100 Kilometer diesseits und jenseits der Grenze erfordert und daß die NATO-Verbände nicht wesentlich über diesem Mindestmaß liegen. Die NATO scheint tatsächlich zu behaupten, daß ihre vorhandenen Streitkräfte erforderlich sind, mehr oder weniger unabhängig von der Größe der offensiven Streitkräfte der anderen Seite. Dies ist unglaubwürdig, vor allem, wenn die Verringerungen sich auf offensive Waffensysteme konzentrieren sollen.

Eine anspruchsvollere Ausgangslinie

Wir brauchen eine anspruchsvollere Ausgangslinie: d.h. eine Reduzierung um mindestens 10% unterhalb des gegenwärtigen Streitkräfteniveaus der NATO. Auf jeden Fall muß die NATO in der nächsten Etappe bereit sein, über die Verringerung um 5% bei ihren Streitkräften hinauszugehen; deshalb sollte die NATO jetzt mit intensiven Untersuchungen darüber beginnen, wie diese Strukturveränderungen aussehen, die weitere Verringerungen mit sich brächten.

Die NATO schlägt jetzt eine Obergrenze für den Gesamtbestand von Kampfpanzern mit 40.000 in Europa vor – was nur sehr geringe Reduzierungen aus der NATO-Seite zur Folge hat. Da Kampfpanzer offensive Waffen par Excellence sind, gibt es gute Gründe dafür, eine radikalere Reduzierung vorzuschlagen.

Die NATO scheint auch den Vorschlag einer defensiven Zone auf beiden Seiten des Mittelabschnitts der Grenze, aus der alle Atomwaffen und alle offensiven Waffen zurückgezogen werden, aber in der defensive Waffen zugelassen sind, nicht zu mögen. Vermutlich hat die NATO etwas gegen diesen Vorschlag, weil er sich auf die vorne stationierten Streitkräfte bezieht. Dieser Vorschlag wäre allerdings viel leichter zu verifizieren als eine umfassende Begrenzung der Panzer in Europa und es wäre eine sehr wirksame Maßnahme, um dem Ziel näher zu kommen, groß angelegte offensive Operationen unmöglich zu machen.

Die NATO ist gegenwärtig ebenso wenig bereit, Begrenzungen bei Kampfflugzeugen vorzuschlagen, da sie in kurzer Zeit wieder nach Europa verbracht werden könnten. (Natürlich können sich die Verhandlungspositionen verändern). Es wäre möglich, sich mit dieser Frage zu befassen, indem eine globale Obergrenze bestimmter Flugzeuge vereinbart wird, zum Beispiel bei den US-F und FB 111 sowie den sowjetischen Backfire-Bombern. Die INF-Verhandlungen stellen dafür einen Präzedenzfall dar. Diese Verhandlungen waren ursprünglich nur auf Europa begrenzt. Sie endeten in einem Abkommen über ein vollständiges, weltweites Verbot einer bestimmten Waffenkategorie.

Wir brauchen als Ergänzung zu diesen Verhandlungen einige Maßnahmen einseitiger Zurückhaltung. Die Sowjetunion hat natürlich hierbei schon ein Beispiel gegeben. Die NATO hat einige Jahre lang ein Spektrum von Waffensystemen entwickelt, die unter die Rubrik »Follow-On-Forces-Attack« (FOFA) fallen. Sie sollen präzise Schläge auf die zweite Welle der (östlichen) Verbände ausführen und auf Einrichtungen hinter der gegnerischen Linie. Diese Fähigkeiten, obwohl sie zweifellos für Verteidigungszwecke konzipiert sind, könnten auch bei einem Angriff sehr wirkungsvoll sein, Krisen destabilisieren und für die andere Seite provozierend wirken. Auf diesem Gebiet bedarf es also einseitiger Selbstbeschränkung.

Atomare Verbände

Lange bevor eine signifikante Verringerung der konventionellen Streitkräfte in Europa zur Debatte stand, geriet die NATO-Doktrin der Flexible Response unter ernsthaften und wirksamen Beschuß. Diese Doktrin erfordert einen möglichen Ersteinsatz von Atomwaffen gegen einen konventionellen Angriff.

Die NATO beschreibt diese Doktrin auch als »kontrollierte Eskalation«. Das Wort »kontrolliert« ist eindeutig falsch. Wenn einmal die atomare Schwelle überschritten wird, dann kann niemand vernünftig annehmen, daß die Eskalation kontrolliert werden könnte, bevor Europa verwüstet ist. Mit den Worten von Bundy, Kennan, McNamara und Gerard Smith in einem Artikel aus dem Jahr 1982: „Es ist Zeit zu erkennen, daß niemand bisher erfolgreich und überzeugend darlegen konnte, daß von jeglichem Einsatz von Atomwaffen, selbst auf der untersten Skala, ernsthaft erwartet werden könnte, daß er begrenzt bliebe. Jede seriöse Analyse und jede militärische Übung seit 25 Jahren hat gezeigt, daß selbst der begrenzteste Gefechtsfeldeinsatz enorm zerstörerisch für ziviles Leben und Gut sein wird. Niemand kann darauf vertrauen, daß ein derartiger atomarer Schlagabtausch nicht zu weiteren Verwüstungen führt. Jeder Einsatz von Atomwaffen in Europa … birgt ein hohes Risiko der Eskalation.“

Falls Fortschritte erzielt werden, um die Bedrohung durch groß angelegte konventionelle offensive Operationen zu beseitigen, wird diese Kritik umso stärker werden. Falls ein Abkommen ausgehandelt wird, um die konventionellen Streitkräfte zu verringern, dann macht es Sinn, auch einen Vertrag zur Begrenzung der Rolle der Atomwaffen auf die einfache Funktion der Abschreckung gegen ihren Einsatz durch jeden anderen Staat anzustreben und folgerichtig über taktische Atomwaffen zu verhandeln. Diese Waffen sind nicht für die Abschreckung im eigentlichen Wortsinn geeignet – es sind präemptive Kriegsführungswaffen. Für Abschreckungszwecke sollten Atomwaffen nicht vorne stationiert sein, wo sie verwundbar sind und wo sie überrannt werden können, was zu dem bekannten Dilemma »use-them-or-lose-them« (setze sie ein bevor du sie verlierst) führt.

Atomwaffenverbände kurzer Reichweite

Verhandlungen über taktische Atomwaffen in Europa sollten deshalb zugleich zu den Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte laufen. Die NATO hat allen Grund, auf diesem Gebiet einseitig Bewegung zu zeigen und mit dem Abzug der atomaren Artilleriewaffen zu beginnen, verbunden mit der Aufforderung an die Sowjetunion das gleiche zu tun. Die Verhandlungen sollten sich anschließend mit bodengestützen Atomraketen mit Reichweiten unter 500 km befassen. Im Idealfall sollten sie vollständig beseitigt werden – ein Vorschlag, der als »dritte Null-Lösung« bekannt ist. Falls dies nicht gelingt, sollten nur sehr geringe Systeme auf beiden Seiten verbleiben. Die Sowjetunion verfügt über wesentlich mehr Raketen dieser Kategorie als die NATO, so daß ein substantieller numerischer Vorteil bei der NATO läge.

Einige westliche Politiker scheinen ängstlich bemüht zu sein, Kurzstreckenraketen auf europäischen Boden zu halten, offensichtlich deshalb, weil die Vereinigten Staaten eher bereit wären, einen atomaren Schlagabtausch zu beginnen, wenn diese Raketen vorhanden sind. Das könnte tatsächlich sein; doch genau dies eröffnet ein mögliches Szenario, in dem beide Großmächte entscheiden, einen Atomkrieg in Europa auszufechten und ihren Schlagabtausch so zu begrenzen, daß ihre eigenen Territorien verschont bleiben. Dies ist kaum im europäischen Interesse.

Diese Vorschläge zur Beseitigung taktischer Atomwaffen und zur Veränderung der NATO-Strategie hin zur »No-First-Use«-Doktrin sind nicht weit entfernt von den Hoffnungen vieler Menschen, die eine atomwaffenfreie Welt erstreben und die sehen, daß die Doktrin einer minimalen Abschreckung berechtigterweise von einer Vielzahl anderer Nationen übernommen werden könnte. Der Abzug taktischer Atomwaffen würde allerdings zumindest anerkennen, daß sie für Kriegsführungszwecke nicht gebraucht werden können. Dies wäre ein logischer Weg, um das in die Tat umzusetzen, was in gemeinsamen Erklärungen bei den Gipfeln von Präsident Reagan und Gorbatschow stand, daß nämlich „ein Atomkrieg niemals gewonnen werden kann und deshalb nie ausgetragen werden darf.“

Seestreitkräfte

Seestreitkräfte sind vom Mandat für die Konferenz über die Reduzierung konventioneller Streitkräfte in Europa ausgenommen. Ohne Zweifel hält die NATO dies für einen Verhandlungsvorteil, zumal die Seestreitkräfte der NATO denen des Warschauer Vertrages überlegen sind. Allerdings werden Verhandlungen an einigen Punkten und in einigen Foren über Rüstungskontrolle und Abrüstung auf See beginnen müssen. Soweit ersichtlich sind nur Unterseeboote, die ballistische Raketen mit Atomsprengköpfen tragen, einbezogen worden.

Höchst wünschenswert wäre es, wenn ein Abkommen ausgehandelt würde, vergleichbar jenem, das für Europa beabsichtigt ist, um alle taktischen Atomwaffen von Kriegsschiffen abzuziehen. Sie haben keine klare militärische Funktion und sie sind besonders gefährlich, da sie keinen »besonderen Einsatzgenehmigungen« unterworfen sind – an Bord der Schiffe könnte entschieden werden, ob sie abgefeuert werden und die Kommandozentralen könnten nichts unternehmen, um dies zu stoppen.

In den neuen Verhandlungen über vertrauensbildende Maßnahmen, die zwischen den 35 Mitgliedstaaten des KSZE-Prozesses – der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa – begonnen haben, hat die Sowjetunion vorgeschlagen, daß die Manöver zur See in die Tagesordnung mit aufgenommen werden. Die NATO scheint diesem Vorschlag nicht zuzustimmen; das ist eine unvernünftige Haltung. Es gibt guten Grund für bestimmte Begrenzungen – um Provokationen zu vermeiden, zum Beispiel bei Seemanövern in der Nähe der Küsten eines Landes ohne die Zustimmung der betreffenden Regierung.

Chemische Waffen

Chemische Waffen sind ebenso von der Tagesordnung der Konferenz über die Reduzierung konventioneller Waffen in Europa ausgeklammert, weil sie Gegenstand globaler Verhandlungen sind. Diese Verhandlungen sind allerdings über viele Jahre sehr langsam vorangekommen. Falls es innerhalb von zwei Jahren keinen weltweiten Vertrag gibt, dann wäre ein regionales Abkommen zwischen NATO und Warschauer Vertrag zu rechtfertigen.

Ziel eines solchen Abkommens wäre der Abzug aller chemischen Waffen aus dem Gebiet, das durch das Mandat der KSZE-Gespräche abgedeckt wird – oder, als zweitbeste Lösung, aus dem zentralen Raum Mitteleuropas. Dies sollte verbunden sein mit umfassenden Vorkehrungen für Inspektionen, die im Rahmen der globalen Verhandlungen erörtert werden. Auf diese Weise würde ein regionales Abkommen sich als nützliche vertrauensbildende Maßnahme erweisen und wertvolle Erfahrungen bereitstellen, die von den globalen Verhandlungen anschließend übernommen werden können. Darüberhinaus sollte es ein Verbot über jegliche militärische Übungen geben, die den Einsatz solcher Waffen simulieren…

Quelle: Frieden und Abrüstung. Hrsg: ifias, 53 Bonn

Neue Wege für die NATO

Neue Wege für die NATO

– die Atlantische Allianz an die Notwendigkeiten der 90er Jahre anpassen!

von Redaktion

Unter diesem Titel haben das Institute for Resource and Security Studies und das Institute for Peace and International Security (Cambridge/Mass.) eine 62-seitige Studie vorgelegt, die zahlreiche praktische Vorschläge für eine Neuorientierung des westlichen Bündnisses enthält. Es werden vorgeschlagen:

  • Vertrauensbildenden Truppenabbau bei den sowjetischen und amerikanischen Streitkräften in Europa beginnend mit einer 5%igen Reduzierung einsatzbereiter Bodentruppen auf beiden Seiten;
  • Ein Anhalten der Modernisierung atomarer Streitkräfte während der laufenden Verhandlungen sowohl für die NATO als auch für den Warschauer Vertrag; das Verbot der Erprobung und Stationierung zusätzlicher taktischer Atomwaffen in Europa während der Abrüstungsverhandlungen;
  • Ein jährlicher NATO-weiter Bericht über die erreichte Stabilität, der Auskunft gibt über Fortschritte bei der Verwirklichung von Streitkräftezielen im Zusammenhang mit Zielen, die für Rüstungskontrolle und Abrüstung angestrebt sind einschließlich eines jährlichen Kräftevergleichs von NATO und Warschauer Vertrag.
  • Eine allmähliche Verlagerung der Streitkräfte-Strukturen in der NATO und im Warschauer Vertrag.

Der Bericht fordert ebenso verbesserte Standardisierung, Daten-Austausch, erweiterte vertrauensbildende Maßnahmen und die Anerkennung neuer Sicherheitsbedrohungen durch ökologische und ökonomische Gefahren bei den NATO-Streitkräften und zwischen NATO-Partnern.

Die Studie wurde am 13. Dezember in Washington präsentiert, kurz nach dem 1. Jahrestag der Unterzeichnung des INF-Abkommens und zu Beginn der neuen Gespräche über konventionelle Stabilität in Wien, die sich mit Truppenreduzierungen beider Paktsysteme befassen.

Die Autoren Dr. Gordon Thompson, Pam Solo und Dr.Paul F. Walker beziehen sich in ihrer Studie u.a. auf über 65 Interviews mit Stipendiaten, Diplomaten, Delegierten bei Rüstungskontrollverhandlungen und außenpolitischen Experten. Sie stellen fest, daß es ein hohes Maß an Übereinstimmung darüber gibt, daß die NATO auf zwei Wegen weitergehen sollte: selektive Streitkräfteverbesserungen und aktive Rüstungskontrolle und Abrüstung. Nach Thompson erkennen die meisten Analytiker an, daß der Kalte Krieg zwischen Ost und West ausklingt und daß damit für die NATO die wichtige Chance besteht, ihr 40 Jahre dauerndes Militärpotential in Europa zu verringern.

Pam Solo, die an den vor kurzem erfolgten Hearings über »Burden Sharing« im Streitkräfteausschuß des US-Repräsentantenhauses mitgewirkt hat, kommt zum Ergebnis: „Die massive Verschuldung des US-Bundeshaushaltes, die sich gegenwärtig auf 3 Billionen Dollar zubewegt, wird zur Alarmglocke für die NATO-Politik; die Amerikaner können nicht länger jährlich 150 Milliarden Dollar in Europa ausgeben. Das heißt nicht, daß unsere europäischen Partner ihre Ausgaben steigern sollen, was ebenso unrealistisch ist, sondern daß alle NATO-Verbündeten ihre Militärausgaben senken in Übereinstimmung mit ausgehandelten Truppenreduzierungen und -anpassungen.

Der Bericht schlägt eine Vielzahl von »Rüstungskontrollmöglichkeiten« vor einschließlich »asymmetrischer Reduzierungen«, »gradualistischen Truppenrückzug«, »geographische Begrenzungen«, »Beschränkungen bei der Mobilität und Operationsfähigkeit« » ausgedehnte Transparenz« und »Vergleichbarkeit von Kriterien« ,vor. Paul Walker warnt davor, „bevorstehende Verhandlungen über Truppenreduzierungen leichtfertig für Debatten über Mikro-Daten zu mißbrauchen, wie dies bei den ergebnislosen MBFR-Verhandlungen in Wien geschah; dies muß nicht geschehen, wenn genügend politischer wille auf beiden Seiten aufgebracht wird, sich für ernsthafte Abrüstungsschritte zu engagieren.“

Die Autoren befürworten einen umfassenden Ansatz zur Erlangung internationaler Sicherheit. Die Lösung der Probleme der Unterentwicklung und der Umwelt werden als zunehmend wichtiger angesehen. Die Studie bezieht sich daher positiv auf die Arbeiten des Worldwatch Institute (Washington, DC). Dieses Institut hat ein 10-Jahresprogramm für eine überlebenssichernde Entwicklung der Menschheit vorgelegt. In den Jahren 1990-2000 sollten weltweit sechs miteinander verbundene Programme aufgelegt werden, die Ausgaben von jährlich 140 Mrd. $ erforderlich machen würden:

  • Baumanpflanzungen und andere Maßnahmen zum Schutz des Bodens und der Wasserversorgung
  • ein Programm zur Verhinderung der großen Rodungen und der Wiederaufforstung, um dem Treibhauseffekt entgegenzuwirken
  • ein Programm zur Verlangsamung des Bevölkerungswachstums in der Dritten Welt
  • ein Programm zur Erhöhung der Energieeffizienz, um die Dioxidemissionen zu verringern und um die Abhängigkeiten vom Öl abzubauen
  • ein Programm zur Entwicklung der erneuerbaren Energiequellen
  • ein Programm zur Reduzierung der Schuldenlast der Dritten Welt, um neue Ressourcen für die wirtschaftliche Entwicklung der armen Länder freizumachen

Die erforderlichen 140 Milliarden Dollar würden etwa 1/5 der gegenwärtigen Militärausgaben von NATO und Warschauer Pakt ausmachen. Diese Einsparung von Rüstungsausgaben und ihre Verwendung für die Linderung der globalen Probleme würde ein entscheidender Beitrag für die internationale Sicherheit sein.

Mit Zuckerbrot und Peitsche

Mit Zuckerbrot und Peitsche

Die NATO in den 90er Jahren

von Gregor Witt

Im November dieses Jahres werden in Hamburg ParlamentarierInnen aus den 16 NATO-Staaten im Rahmen der Nordatlantischen Versammlung (NAV) über die Zukunft der Militärallianz diskutieren. Ein eigens zum Thema »Die NATO in den 90er Jahren« eingerichteter Ausschuß unter Leitung des US-Senators William Roth hat mit einem Sonderbericht mit gleichem Titel bereits wichtige Eckpfosten für die Strategiedebatte in der NAV eingeschlagen.

Der im Mai 1988 veröffentlichte Bericht geht vor allem der Frage nach, wie angesichts des »grundlegenden Wandels« in den Beziehungen zwischen USA und Westeuropa die Zukunft der NATO aussehen soll. Ausgangspunkt sind die veränderten bündnisinternen Kräfteverhältnisse, die sich in der „Erhöhung der relativen Wirtschaftskraft und der politischen Möglichkeiten der westeuropäischen Bündnismitglieder widerspiegeln“. Auf diesem Hintergrund meinen Roth und Bundesgenossen, Westeuropa solle zukünftig mehr Verantwortung übernehmen und zugleich wirksamer an der Führung der NATO beteiligt werden. Sie schlagen vor, zu Beginn der Amtszeit des neuen US-Präsidenten eine Zusammenkunft hochstehender Vertreter der NATO-Staaten einzuberufen, die das politische Mandat der Militärallianz dahingehend neu beschließen sollen.

Zweiter NATO-Pfeiler

Genau zu der Frage, wie die NATO mit den veränderten bündnisinternen Kräfteverhältnissen umgehen kann, wollen Roth u.a. eine Antwort geben. Sie lautet: neben die beiden bisherigen Grundziele des Harmel-Berichtes („starke Verteidigung“ und „Dialog und Zusammenarbeit mit dem Osten“) soll ein drittes treten, nämlich die „Entwicklung hin zu einem echten westeuropäischen Pfeiler des Bündnisses“. Damit soll eine neue Qualität der transatlantischen Arbeitsteilung erreicht werden. Dafür, daß die Westeuropäer koordiniert ihre Rüstungsanstrengungen erhöhen, sollen die USA im Sinne der sogenannten erweiterten Abschreckung ihre Nuklearstreitkräfte in Europa beibehalten. Im Ergebnis soll es möglich sein, zu einer Harmonisierung der Verteidigungsplanung und Rüstungskontrolle in der NATO zu gelangen.

Damit ein echter zweiter NATO-Pfeiler aufgebaut wird, fordern Roth u.a. die Nutzung von bereits vorhandenen »Bausteinen«, die jedoch weiterentwickelt werden sollen, und einige neue:

  • eine jährliche gemeinsame Sicherheitsanalyse
  • eine Untersuchung der institutionellen Voraussetzungen für den Pfeiler sowie der Rolle, die die Westeuropäische Union (WEU) und die Europäische Gemeinschaft (EG) spielen können
  • die Bildung einer westeuropäischen Division als »schnelle Eingreiftruppe«
  • eine intensive Zusammenarbeit der militärischen Einrichtungen z.B. durch regelmäßige Kontakte zwischen den Militärstäben
  • die Schaffung eines westeuropäischen Rüstungsmarktes
  • eine arbeitsteilige Spezialisierung bei der Aufrüstung.

Am meisten Sorgen bereitet dem Ausschuß die Zeit des Übergangs zum zweiten NATO-Pfeiler. Denn neben einer denkbaren Eigendynamik der westeuropäischen Rüstungskooperation, die zu Konflikten mit den USA führen könnte, befürchtet er, daß in den USA isolationalistische Kräfte die Zeit für ein Disengagement in Europa für gegeben halten sowie »bestimmte Kreise in Europa« ihre Angriffe auf die USA und deren Politik verstärken könnten.

Hinzu kommt, daß in der öffentlichen Meinung des Westens die Bedrohung nicht als so akut angesehen wird, wie zur Rechtfertigung anhaltend starker Rüstungsanstrengungen erforderlich wäre. Eine Funktion der oben genannten Sicherheitsanalyse soll deshalb sein, die NATO-Rüstung zu legitimieren, weshalb sie den WählerInnen in »glaubwürdiger Form« dargeboten werden soll.

An atomarer Abschreckung festhalten

Die politischen Eckpunkte des Harmel-Berichtes sollen zwar erweitert werden, die strategischen Grundsätze aber im wesentlichen unverändert bleiben. Das bedeutet: die atomare Abschreckung wird für die absehbare Zukunft für unverzichtbar angesehen, an ihr soll festgehalten werden. Und dies unabhängig von allen Fortschritten bei der atomaren oder konventionellen Abrüstung. Bemerkenswert ist, daß der Bericht als »große Tugend« der flexiblen Antwort deren Kompromißcharakter hervorhebt. Er mache es möglich, „die verschiedensten, voneinander abweichenden Auffassungen bezüglich der Ansprüche an Abschreckung und Verteidigung unter einen Hut zu bringen“.

Mit dieser eleganten Formulierung gehen die Autoren der laufenden Debatte über das Strategiepapier „Discriminate Deterrence“, das von namhaften US-Autoren wie Kissinger, Brzezinski, Wohlstetter und Iklé erstellt wurde, aus dem Wege. Dabei hat das Dokument gerade unter Unionspolitikern in der Bundesrepublik grundsätzliche Zweifel in die US-amerikanischen Sicherheitsgarantien verursacht. So schreibt Volker Rühe in dem von ihm herausgegebenen Band „Herausforderung Außenpolitik“ (Herford 1988, Seite 16): „Die Empfehlung dieser Studie, das NATO-Atomwaffenpotential in Europa militärisch wieder brauchbarer zu machen, bedeutet im Kern den Ausstieg aus der das Bündnis einenden Philosophie des Risikoverbundes NATO, daß es im Bündnis keine Zonen minderer Sicherheit geben darf.“ Damit verbindet sich für Rühe die Befürchtung, Kissinger u.a. würden jene Kräfte in Westeuropa stärken, die wegen der vermeintlichen Führbarkeit eines auf Europa begrenzten Atomkrieges einer Denuklearisierung das Wort redeten.

Tatsächlich ist die NATO-Atomstrategie so schwammig formuliert, daß sich die westeuropäischen Militärexperten die Illusion bewahren können, die USA würden in einem Krieg in Europa zu einem frühzeitigen atomaren Schlagabtausch mit der Sowjetunion bereit sein. Und sie läßt zugleich den USA die Möglichkeit offen, mit Konzepten wie AirLand Battle einen auf Europa begrenzten Atomkrieg zu planen und vorzubereiten. Diesen Konflikt suchen Roth u.a. rein pragmatisch zu lösen, indem sie einerseits nachdrücklich auf eine Atomwaffenmodernisierung drängen, andererseits aber vorschlagen, sich nicht auf diesem Feld aufzureiben, sondern die von ihnen vermutete größere Übereinstimmung in Fragen konventioneller Rüstung zur Grundlage für gemeinsame Aufrüstungsmaßnahmen zu machen.

In ihrer Fixiertheit auf die Beibehaltung der Abschreckungsstrategie der NATO und der Vermeidung einer Denuklearisierung Westeuropas stellen sich Roth u.a. gar nicht erst die Frage, ob und wie angesichts der bekannten Fakten über Atomkriegsfolgen eine politische Strategie aussehen kann und muß, die zur Überwindung der atomaren Abschreckung führt. Das zeigen die von ihnen aufgestellten Richtlinien für Entscheidungen über Modernisierungen und Stationierungen:

  1. Umstrukturierung der Atombewaffnung zugunsten von Systemen längerer Reichweite und weg von Gefechtsfeldsystemen kürzerer Reichweite
  2. Verringerung der Gesamtzahl an Atomwaffen in Europa durch Rüstungskontrolle und konventionelle Rüstung, aber nur, soweit es mit der heutigen NATO-Strategie vereinbar ist
  3. die atomare Schwelle soll angehoben, nicht gesenkt werden
  4. Atomwaffen sollen Verbesserungen der konventionellen Rüstung ergänzen
  5. „… die militärische Logik von Stationierungen sollte eindeutig schwerer wiegen als die potentiellen politischen Kosten, wenn Stationierungen erfolgen sollen.

Für den Verzicht auf die Modernisierung der Atomraketen kurzer Reichweite nennen Roth u.a. zwei Bedingungen: entweder eine Rüstungskontrollvereinbarung, mit der die »Vorteile« der WVO bei Panzern verringert werden, oder ein technologischer Durchbruch bei der nicht-nuklearen Panzerabwehr. Bis es dazu kommt, soll die NATO mögliche Optionen zur Modernisierung des Lance-Raketensystems prüfen.

Höhere Priorität hat im Bericht der Vorschlag, die „Stationierung einer begrenzten Zahl luftgestützter Marschflugkörper an Bord von Kampfbombern in Europa“ zu prüfen. Das betrifft genau jene atomaren Systeme, die nach einem Abzug der Pershing II und Cruise Missiles diesen Systemen vergleichbare militärische Aufgaben erfüllen könnten, womit der Ausschuß für eine den INF-Vertrag unterlaufende Ersatzaufrüstung plädiert. Dem entspricht, daß als wichtigster Leitsatz der NATO für Rüstungskontrolle gelten soll, daß sie die Stationierungs- und Modernisierungsziele im Sinne einer »Komplementarität« ergänzt.

Qualitativen Rüstungsvorsprung halten

Mit einem pragmatischen Vorgehen bezüglich der konventionellen Aufrüstung will der Ausschuß erreichen, daß durch Einführung neuer Rüstungstechnologien der qualitative Vorsprung der NATO gegenüber der WVO gehalten(!) wird. Auch hier wird die Rüstungskontrolle der Aufrüstungspolitik untergeordnet: sie soll erreichen, daß die WVO-Streitkräfte durch radikale asymmetrische Verringerungen auf eine „ungefähre Parität“ mit der NATO abgebaut werden. Da Roth u.a. wissen, daß ihre Forderung nach einseitiger Abrüstung keine großen Realisierungschancen hat, schlagen sie kleinere Schritte wie die Diskussion über die jeweiligen Doktrinen und die Einrichtung eines Zentrums zur Vermeidung von Krisen vor. In diesem Zusammenhang ist das Minderheitenvotum von Budtz besonders bemerkenswert, der die behaupteten Überlegenheiten des Warschauer Vertrages grundsätzlich anzweifelt.

Gerade mit Blick auf die konventionelle Rüstung sieht der Bericht die NATO jedoch vor gravierende Probleme gestellt, weil zur heutigen Realität „… ein abgeschwächtes Bewußtsein um die Bedrohung, ein geringeres Rekrutenpotential in zahlreichen NATO-Staaten sowie Kürzungen bei den Rüstungsausgaben …“ gehören. Daraus ziehen Roth u.a. aber nicht den Schluß, umso aktiver auf Abrüstung zu drängen, sondern sie begründen damit die Forderung nach „effizientester Nutzung der verfügbaren Ressourcen“.

Zwei besondere Herausforderungen

Dem Bericht zufolge sind zwei der großen Herausforderungen für die NATO die öffentliche Meinung und – eng damit verbunden – die sowjetische Abrüstungsdiplomatie. Sorgen bereitet dem Ausschuß die öffentliche Meinung, weil sich das Bewußtsein zu Fragen der Sicherheitspolitik geschärft habe und diese aktiver erörtert würden. Hier stellt sich die Frage, welchem Demokratieverständnis diese sogenannten Volksvertreter folgen, wenn sie das gewachsene öffentliche Bewußtsein als Gefahr für ihre Politik statt als Anlaß zum Überdenken sehen und zugleich jede Alternative von vornherein für undenkbar erklärt wird.

Im Verhältnis zu den sozialistischen Ländern sieht der Ausschuß den Westen in dem Dilemma, einerseits der diplomatischen Herausforderung der Sowjetunion gerecht zu werden, andererseits die eigene »Verteidigungsposition« aufrecht erhalten zu wollen. Aus seiner Sicht kommt erschwerend hinzu, daß die sowjetische Zielsetzung der Denuklearisierung Europas an die im Westen bestehende „öffentliche Unruhe aufgrund der Atomwaffen“ anknüpfen kann. Zwar will auch der Ausschuß die Beziehungen mit dem Osten verbessern, er warnt aber zugleich davor, „so intensiv nach verbesserten Ost-West-Beziehungen zu suchen, daß dabei die fundamentalen Sicherheitsbedürfnisse außer Acht gelassen werden“.

Als fundamentales Bündnisinteresse gilt dem Ausschuß das Ziel der „Überwindung der Teilung Europas und Deutschlands“. Das soll die NATO weiterhin mit „oberster Priorität“ anstreben. Mittel dafür soll eine „Politik auf der Grundlage von »ausdrücklichem« Zuckerbrot und »impliziter« Peitsche“ sein. Das Zuckerbrot soll in wirtschaftlichen Vorteilen bestehen, die die sozialistischen Länder je nach Bereitschaft zur „Öffnung ihrer Systeme“ mehr oder weniger oder gar nicht erhalten sollen. Also wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht zum gegenseitigen Vorteil und zur Lösung gemeinsamer Aufgaben, sondern als Instrument zur „friedlichen“ Beseitigung des Sozialismus. Dabei läßt der Bericht (bewußt?) offen, welche Rolle die angestrebte militärische Stärke spielen soll, wenn der „friedliche Wandel“ nicht durchsetzbar ist.

Zwar erkennen die Ausschußmitglieder, daß im Wettbewerb zwischen Ost und West „der Erfolg oder Mißerfolg in Friedenszeiten weitestgehend an der Lebensqualität gemessen wird“. Dennoch scheuen sie sich, daraus die Konsequenz zu ziehen, und eine eigene Abrüstungspolitik zu entwickeln, die Spielräume für die Erfüllung drängender ziviler Aufgaben wie Überwindung der Arbeitslosigkeit, Umweltschutz, soziale Beherrschung der wissenschaftlich-technischen Entwicklungen und Hilfe für die »3. Welt« schaffen könnte.

Während viele Menschen angesichts der globalen Probleme nach neuen, friedlichen Formen weltweiter Zusammenarbeit suchen, schlägt der Ausschuß die Bildung einer „Westlichen Arbeitsgruppe über globale Sicherheitsfragen“ vor, die die internationalen Beziehungen weiter zu militarisieren droht. Die Gruppe soll unter Einbeziehung von Japan und anderen westlichen Staaten, die nicht der NATO angehören, vor allem das Vorgehen gegenüber Ländern der »3. Welt« koordinieren. Roth u.a. denken dabei an sich ergänzende nationale und bilaterale Eingreifformen einschließlich militärischer Interventionen einzelner westlicher Staaten.

Der NAV-Bericht setzt allen Erkenntnissen über die Notwendigkeit politischer Friedenssicherung und gleichberechtigter Zusammenarbeit zum Trotz das alte militärisch fixierte Schmalspurdenken fort. Alternative Konzepte wie die sozialdemokratischen Vorschläge für „gemeinsame Sicherheit“ und „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ werden keiner ernsthaften Auseinandersetzung für würdig befunden. Die offensive sowjetische Abrüstungsdiplomatie wird nicht als Möglichkeit für veränderte, entmilitarisierte Ost-West-Beziehungen begriffen, sondern als Gefahr, der mit einer Betonung westlicher Werte und der NATO als „Wertegemeinschaft“ begegnet werden soll.

Der Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Demokratie, Freiheit des Einzelnen und Herrschaft des Rechts und der Realität der NATO-Staaten wird jedoch von vielen BürgerInnen wahrgenommen. Das gilt insbesondere für die im Roth-Bericht bekundete Unfähigkeit bestimmter NATO-Kreise, die für ein Europa als Friedens- und Sicherheitsgemeinschaft notwendige Politik zu entwickeln. Bisher fehlen aber auch aus der Friedensbewegung noch konkrete Vorstellungen für einen Umbau Europas. Umso wichtiger ist, daß im Rahmen ihrer Aktionen aus Anlaß der NATO-ParlamentarierInnen-Versammlung in Hamburg mit einem Kongreß die Diskussion über »Alternativen zur NATO-Politik« vertieft werden soll.

Gregor Witt ist Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK)

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Dokumentation

1. Was ist die Nordatlantische Versammlung (NAV)?

Die NAV wurde 1955 gegründet und setzt sich aus ParlamentarierInnen der NATO-Staaten zusammen. Sie treffen sich ein- oder zweimal im Jahr in Plenartagungen (die nächste ist vom 14. – 19. November 1988 in Hamburg), um über die Allianzpolitik zu debattieren. Die NATO-Informationsabteilung nennt im NATO-Handbuch als Hauptaufgaben der 184 Mitglieder und ihrer StellvertreterInnen, „den Regierungen bei der Einbringung von Gesetzesentwürfen den Standpunkt des Bündnisses nahezubringen und in den nationalen Parlamenten das gemeinsame Gefühl der atlantischen Solidarität zu stärken“. Die NAV hat fünf ständige Ausschüsse, für bestimmte Fragen werden Unterausschüsse oder Arbeitsgruppen gebildet.

Ein solcher Unterausschuß unter Leitung des US-Amerikaners William Roth hat den Bericht über die NATO der 90'er Jahre vorgelegt. Aus der Bundesrepublik waren im Ausschuß Manfred Abelein (CDU), Peter Corterier (SPD) in seiner Funktion als Generalsekretär der NAV sowie als Experten Karl Kaiser (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik) und Michael Stürmer (Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen). Außerdem z.B. der einflußreiche US-Senator Sam Nunn und der dänische Sozialdemokrat Lasse Budtz.

2. Aus dem Minderheitenvotum von Lasse Budtz, Sozialdemokratisches Mitglied des Folketing, Dänemark:

“(…) Zum Beispiel konzentriert sich der Bericht nicht genug auf die Möglichkeiten für Abrüstung und gibt Abrüstung und Entspannung nicht die höchste Priorität. Mehr oder weniger wird vorausgesetzt, daß der Westen unter allen Umständen Nuklearwaffen für viele weitere Jahre brauchen wird. Aber Nuklearwaffen garantieren nicht notwendig die Sicherheit. Sie können auch eine Bedrohung der Sicherheit sein. (…)

Der Bericht akzeptiert mehr oder weniger automatisch auch die Theorie, daß wir erst auf allen Gebieten und vor allem auf dem Gebiet der konventionellen Waffen aufrüsten müssen, um Abrüstung zu erreichen. Aber wenn es möglich ist, eine Vereinbarung über asymmetrische Verringerungen unter strikter Kontrolle zu erreichen, ist das weit eher vorzuziehen, als eine Vereinbarung über neue Strategien, die auf nichtbedrohlichen defensiven Systemen beruhen. (…)

Jede Modernisierung von Nuklearsystemen auf der Linie des sogenannten Montebello-Beschlusses kann den Aussichten für weitere Abrüstung in Europa schaden. Und die Notwendigkeit solcher Modernisierungen ist schwer zu verstehen, wenn es zweifelhaft ist, daß der Osten Überlegenheit bei allen Kategorien konventioneller Waffen hat, und solange wir nicht wirklich die Möglichkeiten für asymmetrische Reduzierungen der konventionellen Kräfte ausgeforscht haben.“

(Übersetzung von G.W.)

Österreich – Außenseiter oder EU- und NATO-kompatibel?

Österreich – Außenseiter oder EU- und NATO-kompatibel?

von Peter Strutynski

Die Mehrheit der europäischen Regierungen gibt sich empört über die neue österreichische Regierung. Ein ÖVP-Regierungschef, abhängig von einer FPÖ, deren »starker Mann« schon mal die Verbrechen des Faschismus verharmlost, ausländer- und intellektuellenfeindliche Sprüche klopft und der mit der Charakterisierung als »Rechtspopulist« sicher noch gut bedient ist; ein konservativer Ministerpräsident, der mit der FPÖ-Regierungsbeteiligung möglicherweise zum Steigbügelhalter für einen Kanzlerkandidaten Haider wird; das hat zu heftigen Gegenreaktionen in der EU geführt. Hinter den Schlagzeilen über die diplomatische Isolierung droht allerdings die Auseinandersetzung über die Politik der schwarz-braunen Regierung Österreichs zu kurz zu geraten.
Peter Strutynski über die Außen- und Sicherheitspolitik der österreichischen Konservativen und das FPÖ-ÖVP-Regierungsprogramm.

Ist die Außen- und Sicherheitspolitik der österreichischen Konservativen in sich schlüssig oder richtet sie sich noch viel stärker als bei anderen Parteien nach der »Machbarkeit«, sprich nach dem Koalitionspartner? Welchen Bestand haben überhaupt Erklärungen der ÖVP? Fragen, die sich nicht nur stellen nach dem Regierungsbündnis mit der FPÖ – eine Variante, die vor der Wahl auf das Energischste bestritten wurde. Auch die Außen- und Sicherheitspolitik der Konservativen wirft diese Fragen auf. Noch vor nicht einmal einem Jahr – im Bündnis mit der SPÖ – stimmten die »Schwarzen« einer Verfassungsänderung zu, die Österreich zur atomfreien Zone erklärte, jetzt im Bündnis mit den »Blauen« (die doch ehrlicher »Braune« genannt werden sollten) schicken sie sich an, Österreichs Neutralität endgültig über Bord zu werfen.

Für ein »atomfreies« Österreich

Am 1. Juli wurde es verabschiedet, am 13. August ist es in Kraft getreten: das »Bundesverfassungsgesetz für ein atomfreies Österreich«. Danach dürfen in Österreich Atomwaffen weder „hergestellt, gelagert, transportiert, getestet oder verwendet“ werden, noch dürfen „Einrichtungen für die Stationierung von Atomwaffen“ geschaffen werden. Gleiches gilt für „Anlagen, die dem Zweck der Energiegewinnung durch Kernspaltung dienen“. Auch sie dürfen in Österreich nicht errichtet werden. Bereits bestehende Anlagen dürfen nicht in Betrieb genommen werden. Das Beförderungsverbot bezieht sich auf jedes spaltbare Material, es sei denn es dient ausschließlich der friedlichen Nutzung. Hierunter zählt das Verfassungsgesetz ausdrücklich nicht spaltbares Material „für Zwecke der Energiegewinnung“. Die Vorgeschichte zu diesem Gesetz ist mehr als 20 Jahre alt und kann hier nur angedeutet werden; 1978 fand in Österreich eine Volksabstimmung über das Atomkraftwerk in Zwentendorf statt, ein Siedewasserreaktor, der Anfang der 70er-Jahre von der deutschen KWU gebaut worden war. Eine knappe Mehrheit (51 %) sprach sich damals gegen eine Inbetriebnahme aus, was für die Regierung bindend war. Alle seitherigen Versuche von Energielobby und Industrie, Zwentendorf doch noch ans Netz zu holen, erledigten sich spätestens nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1986: Ein Atomkraftwerk war in der österreichischen Bevölkerung nicht mehr durchsetzbar.

Gewissermaßen als »Ausgleich« für dieses Zugeständnis an die öffentliche Meinung wollten die Konservativen in den 90er Jahren auf einem anderen Feld Boden gewinnen: Die alte und neue (Mit-) Regierungspartei ÖVP begann sich für einen Eintritt in die NATO stark zu machen und damit einen wesentlichen Verfassungsgrundsatz Österreichs, den der »immerwährenden Neutralität«, in Frage zu stellen. Eine Mitgliedschaft in der NATO hieße gleichzeitig das Land für deren nukleare Optionen zu öffnen. Vor diesem Hintergrund kam noch vor dem eigentlichen Wahlkampf 1999 auf Initiative der SPÖ und unterstützt von den entschieden neutralistischen Grünen der Bundesverfassungsgesetzentwurf für ein atomfreies Österreich in das Parlament. Objektiv ist mit dessen Verabschiedung auch der Umwelt- und Friedensbewegung der Alpenrepublik ein historischer Sieg gelungen. Kritische Stimmen argwöhnen indessen, dass die Atomfreiheit von den Konservativen künftig als Beruhigungspille benutzt werden wird um der Bevölkerung einen NATO-Beitritt doch noch schmackhaft zu machen.

Hierzu passt, dass der Nationalrat eine weitere Verfassungsänderung beschlossen hat, mit der Österreich die Teilnahme an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union gemäß dem Amsterdamer Vertrag ermöglicht werden soll. Nach dem neuen Verfassungsartikel 23f, der seit dem 1. Mai 1999 in Kraft ist, kann der österreichische Bundeskanzler im »Einvernehmen« mit seinem Außenminister bei Beschlüssen der EU »betreffend friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen« das Stimmrecht ausüben. Die österreichische Friedensbewegung spricht von einem »Kriegsermächtigungsartikel«.

Die Koalitionsvereinbarung vom Februar 2000

Dieser Kampf wird in dem nun rauher werdenden innenpolitischen Klima härter werden. Die Koalitionsvereinbarung zwischen ÖVP und FPÖ benennt die Bruchlinien, aber auch die Kontinuitäten zur bisherigen Außen- und Sicherheitspolitik. Während in der Öffentlichkeit des Auslands vorwiegend Befürchtungen hinsichtlich der österreichischen Innenpolitik geäußert werden (insbesondere die Kultur- und Fremdenfeindlichkeit), legt die Wiener Regierung Wert auf ein europafreundliches außenpolitisches Profil. So befasst sich das erste Kapitel im Koalitionsvertrag mit der Außen- und Europapolitik, erst sehr weit hinten folgen die Kapitel »Sicherheitspolitik« und »Bundesheer«.

Die Regierung tritt für ein „gemeinsames Europa“ ein und bekennt sich „ausdrücklich zu den allen Mitgliedsstaaten der EU gemeinsamen Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit.“ (S. 2) „Die Bundesregierung bekennt sich zum zügigen Aufbau einer europäischen Friedens-, Sicherheits- und Verteidigungsgemeinschaft.“

Weiter plädiert die neue Regierung für die Erweiterung der EU. Dadurch werde sich der „Friedens- und Stabilitätsraum auf dem europäischen Kontinent ausweiten.“ Die Erweiterung der EU werde sich „durch eine engere, wirksamere Zusammenarbeit in der GASP auch international für Friedens- und Konfliktlösung fühlbar auswirken. Sie liegt daher vor allem wegen dieses Friedens- und Stabilitätszuwachses im Interesse Österreichs, das schon bisher wirtschaftliche Vorteile aus der Entstehung und Öffnung neuer Marktwirtschaften in seiner Nachbarschaft gezogen hat.“

Nach diesem grundsätzlichen Bekenntnis werden anschließend aber Vorbehalte formuliert, etwa wegen der „beträchtlichen Einkommensunterschiede zwischen Österreich und den Beitrittskandidaten.“ Es werden „Übergangsregelungen bei den Kapiteln »Personenfreizügigkeit« und »Dienstleistungsverkehr« zur Sicherung des österreichischen Arbeitsmarktes“ für „notwendig“ erachtet. (S. 3) Mit anderen Worten: die ökonomischen Vorteile aus der Erweiterung des Gemeinsamen Marktes sollen genossen, gleichzeitig aber der Arbeitsmarkt abgeschottet werden.

Die Beschränkung der »Personenfreizügigkeit« bezieht sich natürlich auch auf die Abwehr unliebsamer Asylsuchender von außerhalb der EU. So heißt es auf Seite 3: „Im Interesse der inneren Sicherheit Österreichs bilden eine effiziente (Außen)Grenzsicherung und die Fähigkeit zur Übernahme der mit dem Schengen-System verbundenen Standards und Regelungen die Voraussetzungen für einen Beitritt.“

Die Regierung plädiert für die Ausdehnung von Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit auf „geeignete Bereiche.“ Ausgenommen von Mehrheitsentscheidungen sollen z.B. bleiben „Rechtsakte mit konstitutionellem Charakter, Rechtsakte, die der nationalen Ratifizierung bedürfen, Ausnahmen zum Binnenmarkt und der Eigenmittelbeschluss sowie besonders sensible Fragen, wie z.B. Wasserressourcen, Raumordnung, Bodennutzung und Wahl des Energieträgers“ (S. 4). In Sachen Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gelten solche Vorbehalte also nicht. Dies entspricht durchaus der Haltung der deutschen Bundesregierung, die in der GASP zu Mehrheitsbeschlüssen kommen möchte.

Dass die neue österreichische Regierung von der EU eine „erhöhte Wirksamkeit außenpolitischer Aktivitäten im weltweiten Rahmen“ erwartet, und zwar ausgerechnet in Sachen „Menschen- und Minderheitenrechte“ (S. 4), klingt angesichts der fremdenfeindlichen Äußerungen Haiders wenig glaubwürdig und wird vollends fragwürdig, wenn im gleichen Atemzug davon gesprochen wird, „die Anliegen und Interessen der altösterreichischen Minderheiten im Ausland zu fördern“ (S. 4). »Altösterreichische« Minderheiten lassen sich bei Bedarf in zahlreichen mittel-osteuropäischen Ländern, auf dem Balkan und in Italien (neben Südtirol auch Friaul) ausfindig machen und gegebenenfalls auch mobilisieren.

Im Abschnitt »Sicherheit« (S. 99ff) tritt die Regierung für eine „effektive EU-geführte Krisenbewältigung“ ein, „die es der Union im Einklang mit den Grundsätzen der Satzung der Vereinten Nationen ermöglicht, ihren Beitrag zum Frieden und zur internationalen Sicherheit zu leisten. Ziel ist eine europäische Friedens-, Sicherheits- und Verteidigungsgemeinschaft, an der Österreich und die anderen EU-Mitgliedsstaaten mit gleichen Rechten und Pflichten teilhaben“ (S. 99).

Die weiteren Punkte lesen sich fast wie die rot-grüne Koalitionsvereinbarung vom Oktober 1998: „Österreich wird sich dafür einsetzen, dass diese europäische Friedens-, Sicherheits- und Verteidigungsgemeinschaft

  • über effiziente gemeinsame Entscheidungsstrukturen verfügt, an denen alle EU-Mitgliedsstaaten voll und gleichberechtigt mitwirken können,
  • auf glaubwürdige (nationale und multinationale) europäische, zivile und militärische Kapazitäten zurückgreifen kann,
  • durch eine intensive europäische Kooperation im Bereich der Rüstungsindustrie gekennzeichnet ist und
  • der zivilen Kofliktverhütung und den nicht-militärischen Aspekten der Krisenbewältigung ebenso Bedeutung beimisst wie der militärischen Krisenbewältigung“
    (S. 99)

Außerdem wird für eine „Beistandsgarantie zwischen den EU-Staaten“ plädiert, „d.h. dass im Falle eines bewaffneten Angriffes auf ein Mitglied die anderen EU-Staaten im Einklang mit den Bestimmungen des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende militärische und sonstige Hilfe und Unterstützung leisten.“

Dies wäre in der Tat gleichbedeutend mit der Umwandlung der EU in einen Militärpakt – genau das, was andere EU-Staaten, die Bundesrepublik eingeschlossen, durchaus auch anstreben. Für Österreich ist das aber nicht ganz so einfach, weil hier immer noch die Verfassung gilt, wonach das Land zur »immerwährenden Neutralität« verpflichtet ist. Diese Verpflichtung aus dem Bundesverfassungsgesetz von 1955 soll nach dem Willen der Wiener Koalitionäre auf eine sanfte Art aufgehoben werden. Diese sieht wie folgt aus:

„Im Falle einer Weiterentwicklung der österreichischen Außen- und Sicherheitspolitik im Sinne der vorstehend genannten Überlegungen soll durch eine Novellierung des Bundesverfassungsgesetzes über die Neutralität klargestellt werden, dass dieses auf die aktive und solidarische Mitwirkung Österreichs an der Weiterentwicklung der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Union und auf die Beteiligung an einer europäischen Friedens-, Sicherheits- und Verteidigungsgemeinschaft mit gleichen Rechten und Pflichten, einschließlich einer Beistandsgarantie, keine Anwendung findet.“ (S. 99)

So möchte man das dem österreichischen Publikum verkaufen: Die Neutralität wird nicht abgeschafft, sie findet nur „keine Anwendung“!

Mit zwei weiteren »Klarstellungen« will die schwarz-braune Regierung für innenpolitische Ruhe sorgen:

  • „Die Bundesregierung wird sich in den internationalen Beziehungen an den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens ausrichten und sicherstellen, dass österreichische Soldaten für Aufgaben der Landesverteidigung sowie für Operationen zur Erhaltung und Durchsetzung des Friedens im Rahmen des europäischen Sicherheitssystems, aber nicht für Angriffskriege, eingesetzt werden können und dass auf österreichischem Territorium auch künftig keine Atomwaffen stationiert werden.“ (S. 99f)
  • „Es besteht Übereinstimmung, dass eine solche Änderung der österreichischen Sicherheitspolitik nicht ohne Zustimmung der österreichischen Bevölkerung (Volksabstimmung) stattfinden wird.“(S. 100)

Annäherung an die NATO

Ein weiterer Passus verdient Aufmerksamkeit, weil in ihm zwar nicht eine Mitgliedschaft in der NATO angestrebt wird (dies dürfte zur Zeit noch nicht mehrheitsfähig in Österreich sein), aber doch erste Weichen für ein neues Verhältnis zur NATO gestellt werden sollen:

  • „Angesichts des Umstandes, dass die europäische und die transatlantische Sicherheit auf das Engste miteinander verknüpft sind, wird sich Österreich für umfassende institutionelle Beziehungen und eine effektive Kooperation zwischen der Europäischen Union und der NATO einsetzen. Österreich wird seine engen Beziehungen zur NATO weiterentwickeln, wie es den Erfordernissen seiner Sicherheit und seiner vollen und gleichberechtigten Teilnahme an der europäischen Sicherheitsarchitektur entspricht. Die Option einer späteren Mitgliedschaft wird eröffnet.
  • In diesem Zusammenhang wird Österreich mit der NATO auch in den »intensivierten Dialog« eintreten, ohne hierdurch die endgültige Entscheidung über sein künftiges Verhältnis zur NATO vorwegzunehmen.
  • Auf der Grundlage dieses Dialogs wird die Bundesregierung insbesondere auch prüfen, ob Österreich von den Möglichkeiten des (von der NATO für interessierte PfP-Länder angebotenen) »Membership Action Plan« Gebrauch machen soll.“ (S. 100)

Im Anschluss an diese doch recht eindeutige NATO-Beitrittsoption (ein lang gehegter Wunsch der ÖVP) formuliert die Koalitionsvereinbarung noch eine Reihe institutioneller Vorkehrungen, die getroffen werden müssen um Österreich am Prozess der GASP gleichberechtigt teilnehmen zu lassen. Österreich will sich u.a. beteiligen

  • an einem „künftigen EU-Militärstab“,
  • an den »Institutionen der industriellen europäischen Rüstungszusammenarbeit«
    (S. 100),
  • „an künftigen multinationalen Verbänden des europäischen Krisenmanagement, etwa an einem für diese Zwecke neu geschaffenen oder umgestalteten Euro-Korps“ (S. 101).
  • „Österreich wird sich auch an der entstehenden europäischen Rüstungskooperation und den gemeinsamen Bemühungen zur Stärkung der industriellen Basis der europäischen Verteidigung in vollem Umfang beteiligen. Auch unter diesem Gesichtspunkt wird das Kriegsmaterialgesetz entsprechend anzupassen sein. Österreich wird die Einladung annehmen, der Westeuropäischen Rüstungsgruppe (WEAG) als Vollmitglied beizutreten.“ (S. 101)

Entsprechend der oben erläuterten außen- und sicherheitspolitischen Vorgaben werden fünf militärische Ziele für das österreichische Bundesheer formuliert: (S. 103)

  1. „Die militärische Landesverteidigung ist ein wesentliches und unverzichtbares Element um Österreich und seinen Bürgern Frieden, Freiheit, Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten.
  2. Die Bundesregierung wird daher alles daran setzen um die Leistungsfähigkeit des Bundesheeres weiter anzuheben und den Stellenwert in der Gesellschaft zu stärken.
  3. In Zukunft werden neben den territorialen Verteidigungsaufgaben internationale Solidaritätsleistungen, Katastrophenhilfe sowie Assistenzleistungen des Bundesheeres (z.B. zur Grenzsicherung) im Vordergrund stehen.
  4. Das Bundesheer muss für alle diese Aufgaben, einschließlich der Teilnahme am gesamten Spektrum des europäischen Krisenmanagements (Petersberg-Aufgaben), der Stabilitäts- und europäischen Beistandsaufgaben, vorbereitet werden.
  5. Dies schließt die Teilnahme an multinationalen Verbänden für Aktionen des internationalen Krisenmanagements »Eurokorps« ebenso ein wie eine Beteiligung an den entstehenden militärischen Strukturen der EU.“

Mit den konkreten Umgestaltungsmaßnahmen des Heeres wird unverzüglich begonnen. So sollen die »vorbereitenden Einheiten« (VORAN) zur Wahrnehmung des vollen Spektrums der Petersberg-Aufgaben und der Teilnahme an multinationalen Verbänden »umgestaltet« werden.

Vorbereitet wird die „Umgestaltung des Bundesheeres zu einem Freiwilligenheer mit einer starken Milizkomponente“ (S. 103). Auch Frauen soll der Zugang zum Bundesheer eröffnet werden, aber nur »zur Milizlaufbahn«.

Die neue österreichische Regierung spricht sich für die „schrittweise Anhebung des Verteidigungsbudgets“ aus sowie für die Überprüfung der »Verteidigungsdoktrin«, was nur folgerichtig ist, denn wenn die o.g. neuen Aufgaben und Bündnisverpflichtungen übernommen werden sollen, ergibt sich schon von selbst eine neue Militärdoktrin.

Fazit

Österreich ist drauf und dran, seine Rolle als militärisch zurückhaltender Kleinstaat mit großer diplomatischer Bedeutung in der Welt sowie als neutraler Mittler zwischen West und Ost zu verspielen. Doch ein solcher außen- und sicherheitspolitischer Schwenk der österreichischen Regierung ist für das übrige EU-Europa – und auch für die deutsche Bundesregierung – nichts Alarmierendes. Die Militarisierung der EU ist Programm der europäischen NATO-Mitglieder. In diesem Punkte ziehen also die schwarz-braune Regierung Österreichs und die großen EU-Staaten an einem Strang.

Die gereizten Reaktionen in EU-Europa auf die Regierungsbeteiligung der Haider-Partei sind also weniger außen- und sicherheitspolitisch begründet als vielmehr mit der Angst der etablierten Parteien vor rechtspopulistischen Strömungen. Möglicherweise geht es aber auch noch um etwas anderes: Frankreich und die Bundesrepublik wollen in der EU auch in Bezug auf die Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik das Mehrheitsprinzip einführen. Was eignet sich da besser als die drohende Vorstellung, ein Veto des Schmuddelkindes Österreich könne Entscheidungsprozesse verhindern.

Die Kritik an Haiders großmäuligem Nationalismus und Fremdenhass ist berechtigt und notwendig, doch die »Friedensbewegten« dürfen sich dadurch nicht die Sicht verstellen lassen auf die Großmachtpolitik der anderen EU-Staaten. Sonst könnten sie in nicht allzu ferner Zukunft erleben wie die herrschende EU-Außen- und Sicherheitspolitik ihre Arrangements mit Wien trifft und die Friedens- und NeutralitätsfreundInnen in Österreich eine wichtige »Schlacht« verlieren und die Militarisierung Europas weiter voran schreitet.

Dr. Peter Strutynski arbeitet an der
GH Kassel und ist Sprecher des »Bundesausschusses Friedensratschlag«.

Die nukleare Teilhabe der NATO und Incirlik

Die nukleare Teilhabe der NATO und Incirlik

von Aslihan Tümer

Im Rahmen der so genannten »nuklearen Teilhabe« der North Atlantic Treaty Organisation (NATO) stationieren die USA als einziger Staat Atomwaffen auch außerhalb ihres eigenen Staatsgebiets. Die 480 taktischen Atomwaffen würden von Flugzeugen ins Ziel gebracht. Damit sind sie nicht nur besonders flexibel einsetzbar und in die konventionellen Streitkräfte integriert, sondern sie gehören auch zu der Waffenkategorie, für die noch keine einzige Rüstungskontroll- oder Abrüstungsvereinbarung ausgehandelt wurde. Zur furchtbaren Realität gehört auch die Definition dieser Atomwaffen als »einsetzbar“.

Als »nukleare Teilhabe« wird die Stationierung von US-Atomwaffen in etlichen NATO-Ländern bezeichnet.1 Außer Großbritannien, das selbst Atomwaffenstaat ist, sind folgende Länder in die nuklearen Kooperationsprogramme der NATO eingebunden: Belgien, Deutschland, Italien, Niederlande und Türkei. Sie haben mit den USA jeweils bilaterale (und geheim gehaltene) Stationierungsabkommen abgeschlossen. Die nukleare Teilhabe umfasst unter anderem die Bereitstellung von Flugzeugen, die für einen Atomwaffeneinsatz zertifiziert sind, sowie das Training von Piloten des Gastgeberlandes für den Ernstfall.

Die Zahl 480 ist das Ergebnis einer ausführlichen Studie, die im Frühjahr 2005 von der US-amerikanischen Organisation Natural Resource Defense Council veröffentlicht wurde.2 Der Studie zu Folge sind 90 dieser Waffen in der Türkei stationiert, allerdings können sie nur auf Befehl der US-Führung einsatzbereit gemacht werden. Im Kriegsfall aber könnten, so eine Aussage des damaligen Oberbefehlshabers des US-Militärs von 1969, diese Waffen zum Einsatz durch die kooperierenden Staaten freigegeben werden. In ihrem Strategischen Konzept von 1999 hat die NATO die nukleare Teilhabe ausdrücklich bestätigt.

Ein Grundprinzip der NATO ist die »kollektive Verteidigung«. Das bedeutet, dass ein Angriff auf einen Mitgliedsstaat automatisch als Angriff auf alle NATO-Länder gilt. In Artikel 5 des Nordatlantikvertrags wurde vereinbart, „dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs“ jede Vertragspartei „die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“

Zur neuen Politik der USA gehört die ausdrückliche Bereitschaft, Atomwaffen als erste einzusetzen, auch als Antwort auf einen konventionellen Angriff.3 Folglich könnten die NATO-Mitgliedstaaten bei jeder militärischen Auseinandersetzung der USA in einen nuklearen Konflikt hineingezogen werden.

Aufgrund des Demokratiedefizits innerhalb der NATO können die BürgerInnen der Länder, die in die nukleare Teilhabe eingebunden sind, die Nuklearpolitik des Bündnisses offiziell weder hinterfragen noch ablehnen. Das hindert allerdings viele Menschen nicht daran, kreative Wege der Informationsbeschaffung zu finden und gegen diese Nuklearpolitik zu protestieren. Auch BürgerInnen und Nichtregierungsorganisationen der Türkei nutzen informelle Wege der Aufklärung und des Protests, und Umfrageergebnisse zeigen, dass dieser eigenständige Umgang mit demokratischen Rechten mehrheitlich auf die Zustimmung der türkischen Bevölkerung trifft.

Im Juni 2004 führte die türkische Meinungsforschungsagentur Infakto Research Workshop im Auftrag von Greenpeace Türkei eine Umfrage durch, um herauszufinden, wie die türkische Öffentlichkeit über Atomwaffen denkt. Dazu wurde ein repräsentativer Querschnitt der türkischen Bevölkerung in 629 Telefoninterviews befragt.

45% der Befragten gaben an, dass in der Türkei Atomwaffen stationiert sind. Etwa 30% verneinten diese Aussage, und 26% konnten oder wollten die Frage nicht beantworten. Es zeigte sich, dass der Bildungsstand bei der Beantwortung dieser Frage keine Rolle spielte.

Als diejenigen, die von einer Stationierung in der Türkei ausgingen, danach gefragt wurden, wem diese Atomwaffen gehören, sagte die Hälfte, die Atomwaffen seien unter türkischer Kontrolle. Etwa ein Drittel beantwortete die Frage nicht, und nur 10,5% der Befragten ordneten diese Waffen den USA oder der NATO zu.

Etwa die Hälfte der Befragten äußerte, dass sie der Stationierung von Atomwaffen in der Türkei mit dem Argument, die Sicherheit der Türkei und anderer NATO-Mitglieder zu gewährleisten, „überhaupt nicht“ zustimmen. Die Umfrage ergab auch, dass die Ablehnung der Atomwaffen mit steigendem Bildungsgrad zunimmt.

Bezeichnenderweise äußerten 57% der Befragten ihre Unterstützung, wenn die türkische Regierung den Abzug der Atomwaffen fordern würde. Nur 34% sprachen sich gegen eine solche Maßnahme aus, wobei die Ablehnung bei den Männern größer ist als bei den Frauen (40% bei den Männern, 28% bei den Frauen).

Die Umfrage ergab außerdem, dass eine Entscheidung, die Türkei zur atomwaffenfreien Zone zu erklären, mit hoher Unterstützung rechnen könnte. Insgesamt sprachen sich 72% für einen solchen Vorschlag aus, nur 22% lehnten ihn ab.

Und schließlich äußerten mehr als 80% der Befragten Zustimmung, sofern die türkische Regierung eine internationale Kampagne zur vollständigen und weltweiten Abrüstung sämtlicher Massenvernichtungswaffen initiieren würde. Auch hier stiegen die Zustimmungsraten mit wachsendem Bildungsniveau.

Diese Umfrageergebnisse zeigen, dass die türkische Politik einer aktiven nuklearen Teilhabe von einer Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird, obgleich viele Menschen über die nuklearen Rolle der Türkei in der NATO im Dunkeln gehalten werden. Bemühungen der türkischen Regierung, bei der Abrüstung von nuklearen und anderen Massenvernichtungswaffen eine Vorreiterrolle zu spielen, finden hingegen deutliche Zustimmung.

Der Atomwaffenstandort Incirlik

Incirlik – die wörtliche Übersetzung des Wortes ist »Feigengarten« – war ursprünglich ein kleines Dorf außerhalb der Zwei-Millionen-Stadt Adana im Süden der Türkei. Bekannt wurde Incirlik durch den Luftwaffenstützpunkt in unmittelbarer Nachbarschaft, der teilweise mehr Bewohner hatte als das Dorf selbst. Nach Eröffnung des Standorts im November 1954 vergrößerte sich das Dorf unaufhörlich, insbesondere im Kontext des ersten Golfkrieges, als die Basis für das US-Militär zum wichtigen Drehkreuz wurde. Incirlik entwickelte sich zu einer kleinen Stadt mit 20.000 Einwohnern; zahlreiche Geschäfte tragen englische Namen, und fast jeder Einwohner kann Englisch sprechen.

Incirlik machte auf Grund der Anwesenheit des US-Militärs immer wieder Schlagzeilen und wurde auch in der Öffentlichkeit heftig diskutiert, besonders wenn es um die Nutzungsgenehmigung oder ein Nutzungsverbot für bestimmte Militäroperationen ging. So gab es gegen die Nutzung von Incirlik im Irakkrieg 2003 heftige Proteste, und die Bewegung gegen den Krieg wurde zur größten Massenbewegung in der Türkei seit mehreren Jahrzehnten.

Heute hat Incirlik keine Feigenbäume mehr, birgt aber ein wenig bekanntes Geheimnis, nämlich die Tatsache, dass dort 90 Atomwaffen gelagert sind, deren Sprengkraft der von 1.000 Hiroshima-Bomben entspricht. Greenpeace eröffnete in Incirlik eine »Friedensbotschaft«, um Zeugnisse der Atomwaffenstationierung nach Adana zu tragen und das Bewusstsein bei der dortigen Bevölkerung zu schärfen. Die Wahrnehmung der Atomwaffen ist in Adana – wie in der ganzen Türkei – sehr gespalten. Zwar gibt es keine offizielle Bestätigung für die Stationierung, und viele wissen auch nichts davon, sie haben aber „schon immer den Verdacht“ gehabt, dass dort etwas vor sich geht.

Andererseits will die Bevölkerung von Adana am liebsten nichts davon hören. Die Stadt hängt wirtschaftlich von der Luftwaffenbasis ab, daher werden Negativinformationen über den Standort als direkte Bedrohung des wirtschaftlichen Wohlergehens von Incirlik eingestuft. Mit der Aussage konfrontiert, dass auf dem Stützpunkt Atomwaffen stationiert sind, wird diese Möglichkeit einfach ausgeschlossen. Und wenn es so ist, dann haben die USA diese Waffen nur zum Schutz der Menschen dort stationiert. Viele Menschen in Incirlik haben früher auf der Basis gearbeitet und sie halten Atomwaffen auf der Basis für undenkbar, schließlich haben sie nie etwas davon gehört, und hinter ihrem Rücken könne so etwas ja wohl kaum passieren. Egal, wie die einzelnen Menschen reagieren, eines ist unverkennbar: Keiner will zugeben, dass es die Waffen dort gibt.

Exkurs in die Geschichte: Die Kubakrise

Den Wenigsten ist bewusst, dass die Kubakrise auch ein Meilenstein in den Beziehungen zwischen der Türkei und den USA war.

Ende 1960 stationierten die USA Mittelstreckenraketen des Typs Jupiter in der Türkei, also unweit der sowjetischen Grenzen. Die Raketen wurden mit nuklearen Sprengköpfen ausgestattet. Dies löste eine internationale Krise aus – die sich zur Kubakrise auswachsen sollte – und verdeutlichte die Gefahr, dass Atomwaffen tatsächlich eingesetzt werden könnten.

Nachdem die Jupiter im April 1962 einsatzbereit wurden, reagierte die Sowjetunion zunehmend schärfer. Im Mai 1962 verurteilte Chruschtschow die Stationierung der Raketen, und im Herbst 1962 stationierten sowjetische Truppen als Gegenreaktion nuklear bestückbare SS-4-Mittelstreckenraketen auf Kuba.

Die Sowjetunion verlangte den Abzug der Jupiter-Raketen aus der Türkei. Nach Einschätzung des damaligen US-Botschafters in Ankara, Raymond Hare, wollte die Türkei aber keinen Rückzug der Atomwaffen, sondern hielt diese für einen Schutz vor der sowjetischen Bedrohung.

Die türkische Öffentlichkeit war damals gespalten, sowohl die Opposition als auch die Medien verfolgten die Diskussionen sehr genau. Manche Artikel wussten zu berichten, dass die USA zu Verhandlungen bereit seien (was gegen Ende der Krise auch der Fall war, die Türkei wurde davon aber nicht informiert). Viele kritisierten die türkischen Politiker aber auch für ihre zu große Amerika-Nähe.

Am 24. Oktober 1962 gab der türkische Präsident Cemal Gursel bekannt, dass die Türkei in der Kubakrise an der Seite ihres amerikanischen Verbündeten stehe, und Premierminister Inönü bestätigte die enge Zusammenarbeit mit den USA. Die türkische Bevölkerung hingegen beobachtete die Entwicklung mit großer Sorge.

Am 27. Oktober schließlich einigten sich die USA und die Sowjetunion auf den gegenseitigen Rückzug ihrer Raketen aus der Türkei und von Kuba. Das Abkommen wurde allerdings geheim gehalten, und die Türkei lobte die USA für ihre Standfestigkeit und dafür, dass sie die Sicherheit der Türkei nicht zur Disposition gestellt habe – was sich nachträglich als falsch herausstellte.

Als die USA 1963 dann den Abzug der Jupiter-Raketen ankündigte, verknüpfte sie dies mit der Ankündigung, die Mittelstreckenraketen würden durch modernste Atom-U-Boote ersetzt. Die türkische Regierung hielt still, in der Öffentlichkeit begann aber allmählich die Debatte darüber, dass die Türkei während der Kubakrise Verhandlungsmasse war.

Die Oppositionsparteien stellten im Parlament entsprechende Fragen, und Außenminister Erkin erklärte, dass die Türkei durch die modernen U-Boote an Wichtigkeit gewänne und die Türkei und die USA durch die Krise enger aneinander gerückt seien. Er betonte, die Türkei würde gestärkt, weil ihr strategischer Wert in einem konventionellen Krieg steige. Die Jupiter wurden im April 1963 aus der Türkei abgezogen.

Während der Kubakrise war Ismet Inönü Premierminister der Türkei, und er unterstütze die USA. Acht Jahre später sagte er in einer Rede im Parlament: „Die Amerikaner erklärten uns, die Jupiter würden abgezogen, weil sie veraltet seien. An ihrer Stelle würden Polaris-U-Boote stationiert. Erst später erfuhren wir, dass der Abzug Teil der Verhandlungen mit den Sowjets war. Dieser Vorfall zeigt, dass die türkische Staatsführung nicht zulassen sollte, dass die Amerikaner die Türkei unversehens in eine Krise mit hineinziehen, und wir sollten vorsichtig sein…“

Die damalige Krise hatte für die Türkei mehrere Konsequenzen, die wichtigste davon war eine erhebliche Beschädigung der Beziehungen mit den USA. Die anti-amerikanischen Gefühle wuchsen, und in der Türkei wurde erkannt, welche Nachteile aus einer einseitigen Politik erwachsen können.

Die Gefahr heute

In letzter Zeit liest man häufiger Meldungen, dass die iranische Sahab-3-Rakete sich zum Angriff auf den Luftwaffenstützpunkt Incirlik eigne, und Zeitungen berichten immer wieder über Pläne von El Kaida, die Basis anzugreifen. Solche Meldungen gehören in den weiteren Kontext der Diskussion, ob die Atomwaffen von Incirlik für die Türkei eine Gefahr darstellen.

Die Stationierung von NATO-Atomwaffen in sechs europäischen Ländern ist ein Zeichen, dass weiterhin in Kategorien des Kalten Krieges gedacht wird. Die Sowjetunion ist zusammengebrochen, und Russland ist heute keine Gefahr mehr (sofern dies jemals der Fall war). Durch die Zusammenarbeit im NATO-Russland-Rat erkennt die NATO Russland als gleichwertigen Partner an, und beide Parteien arbeiten inzwischen eng zusammen. Als Gefahr wird heute nicht mehr Russland, sondern der Nahe Osten wahrgenommen. Allerdings ist die Stationierung von Atomwaffen direkt an der Außengrenze der NATO eine Provokation, und sie erhöht die Gefahren für die regionale und globale Sicherheit.

Auf jeden Fall wird die Region um Incirlik und damit auch die lokale Bevölkerung durch die Stationierung von US-Atomwaffen zum potentiellen Zielpunkt. Die Atomwaffen von Incirlik sollten dringend in die USA zurück gezogen und unschädlich gemacht werden. Ein solcher Schritt würde nicht nur zur Sicherheit der Türkei und des Nahen Ostens beitragen, sondern auch ein positives Signal aussenden, da er die Bereitschaft der Türkei bestätigen würde, eine atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten durch Worte und Taten zu fördern. Damit hätte die Türkei die einzigartige Chance, einen positiven Einfluss auf die Region und somit die globale Sicherheit auszuüben. Der Abzug der US-Atomwaffen und eine Umorientierung der NATO auf die Friedenswahrung würden den Pfad zu Frieden und wahrer Sicherheit eröffnen.

Anmerkungen

1) Otfried Nassauer: Nuclear Weapons in Europe – A Question of Political Will, Berlin Information Center for Transatlantic Security (BITS), Policy Note 05.4, Juni 2005, erstellt im Auftrag von Greenpeace Deutschland.

2) Die komplette Studie wurde durchgeführt von Hans M. Kristensen: US Nuclear Weapons in Europe. A Review of Post-Cold War Policy, Force Levels, and War Planning, Februar 2005, Natural Resource Defense Council; Washington D.C.; http://www.nrdc.org/nuclear/euro/contents.asp. Eine Zusammenfassung findet sich in Robert S. Norris und Hans Kristensen: NRDC Nuclear Notebook. U.S. nuclear weapons in Europe, 1954-2004, Bulletin of the Atomic Scientists, November/Dezember 2004, S. 76-77 (vol. 60, no. 6); http://www.thebulletin.org/article_nn.php?art_ofn=nd04norris.

3) „Die Nutzung einer nuklearen Option, auch nur einer Teiloption, wäre ein deutliches Signal der Entschlossenheit der Vereinigten Staaten. Daher müssen die Optionen sehr sorgfältig und gezielt ausgewählt werden, so dass der Angriff hilft sicherzustellen, dass der Gegner das ‘Signal’ richtig interpretiert und nicht davon ausgeht, dass die Vereinigten Staaten eine Eskalation hin zum allgemeinen Atomkrieg betreiben. Allerdings ist diese Wahrnehmung nicht garantiert.“ US-Generalstab, Entwurf für eine »Doctrine For Joint Nuclear Operations«, 15. März 2005; das Dokument wurde angeblich im Oktober 2005 zurückgezogen, nachdem es in der Öffentlichkeit bekannt geworden war; http://www.bits.de/NRANEU/docs/3_12fc2.pdf.

Aslihan Tümer ist Campaigner für Nuklearfragen bei Greenpeace Türkei. Übersetzt von Regina Hagen