Chinas Zivilgesellschaft


Chinas Zivilgesellschaft

Engagement zwischen Entwicklung, Frieden und Konflikt

von Joanna Klabisch und Christian Straube

Die gegenseitige Durchdringung von Partei, Staat und Gesellschaft hat in der Volksrepublik China zu einem Doppelcharakter zivilgesellschaftlichen Engagements geführt. Diese Entwicklung innerhalb Chinas hat Konsequenzen für das Auftreten und die Rolle chinesischer Organisationen in der ganzen Welt, allen voran im Kontext chinesischer Kampagnen wie der »Belt and Road Initiative«. Welche Rolle spielt die Zivilgesellschaft Chinas zwischen Entwicklung, Frieden und Konflikt im Inneren sowie auf internationaler Ebene?

Zivilgesellschaft eröffnet Dialog. Sie vermag Konfliktparteien an einen Tisch zu bringen und bietet Lösungen aus der Gesellschaft heraus an. Dadurch kann sie zu Frieden beitragen. Internationale zivilgesellschaftliche Kooperationen machen es möglich sich z.B. für Menschenrechte, Frauenrechte, Umwelt- und Sozialgerechtigkeit global, solidarisch und im Dialog einzusetzen. Diese Möglichkeit wirkt sich auf das politische Umfeld einzelner zivilgesellschaftlicher Akteur*innen aus und kann lokale Konflikte durch globale Herangehensweisen in eine positive Richtung lenken. Gilt dieser »people-to-people« Ansatz mit Blick auf die globalen Herausforderungen unserer Zeit auch für die Zivilgesellschaft in der Volksrepublik China?

In China hat sich die Zivilgesellschaft in ihrer Interaktion mit der Kommunistischen Partei und dem Staat anders als z.B. in den Ländern Westeuropas entwickelt.1 Zivilgesellschaftliche Organisationen arbeiten oft neben oder im Auftrag des Staates. Unter Generalsekretär Xi Jinping sollen sie zudem die Verwurzelung der Partei in der Bevölkerung sicherstellen. Kommt es etwa zu Konflikten mit chinesischen staatlichen Akteur*innen in anderen Ländern, schränkt diese Ausgangslage das konfliktlösende Potential der chinesischen Zivilgesellschaft auf der einen Seite ein. Auf der anderen Seite kann die Nähe zu staatlichen Akteur*innen die Position der chinesischen Zivilgesellschaft in internationalen Kontexten, wie z.B. gegenwärtig in der »Belt and Road Initiative« (BRI), auch stärken.

Von Graswurzelbewegungen, sozialen Unternehmen, GONGOs und PONGOs

Ob in China unabhängige Nichtregierungsorganisationen (NGOs) existieren, wird von der internationalen Öffentlichkeit und Forschung immer wieder in Frage gestellt. So entfernt sich das sozio-politische Verständnis des zivilgesellschaftlichen Sektors z.B. in Deutschland immer weiter von der unter Xi Jinping forcierten parteigebundenen Wirklichkeit der chinesischen Zivilgesellschaft. Lawrence Deane von der Universität Manitoba hält jedoch fest, dass „chinesische Bürger*innen weiterhin daran arbeiten, auf öffentliche Angelegenheiten Einfluss zu nehmen,2 wie auch Beispiele im nächsten Abschnitt zeigen.

Die meisten der über 900.000 regis­trierten zivilgesellschaftlichen Organisationen in China sind vergleichsweise jung. Sie sind etwa in Reaktion auf Umweltzerstörung und sozialen Wandel, aber auch im Zuge von Chinas Öffnung für internationale Dialogforen entstanden. Bei einigen hat der Staat eine aktivierende Rolle eingenommen. So wurden z.B. GONGOs, engl. »government organised non-governmental organisations«, aus Ministerialabteilungen initiiert oder werden von Ministerialbeamt*innen geleitet. Mit PONGOs, engl. »party organised non-governmental organisations«, hat zudem direkt die Partei diese aktivierende Rolle eingenommen. Darüber hinaus müssen laut neuen, derzeit im Entwurf vorliegenden Regularien für »soziale Organisationen«, chin. »shèhuì zuzhì« 社会组织, Organisationen aktiv Parteiarbeit leisten und Parteigruppen aufstellen.

Zivilgesellschaftliches Engagement in China hat sich trotz der starken staatlichen Einbettung nicht isoliert von der globalen Zivilgesellschaft entwickelt. Internationale Organisationen wie die Ford Foundation, Mercy Corps und der World Wildlife Fund wirkten bei der Entstehung chinesischer zivilgesellschaftlicher Strukturen mit. Sie waren in allen Themenbereichen vertreten und wurden bis 2017, als das »Gesetz zum Management ausländischer Nichtregierungsorganisationen« in China in Kraft trat und sie unter die Aufsicht des Ministeriums für öffentliche Sicherheit stellte, nur lose vom chinesischen Staat kontrolliert.3

Alle Formen zivilgesellschaftlicher Organisation in China eint, dass eine antagonistische Haltung zu staatlichen Akteur*innen und Plänen, wie auch der Partei, generell nicht geduldet wird. Es ist die Partei, die gesellschaftliche und politische Normen festschreibt. Dazu gehört auch, mit wem wie kooperiert werden darf. Die Interaktion und gegenseitige Durchdringung von Partei, Staat und Gesellschaft in China führt daher zu einem komplexen Doppelcharakter der Zivilgesellschaft, der zivilgesellschaftliches »bottom-up«-Engagement und »top-down«-Regulierung durch Partei und Staat ineinanderfließen lässt.

Zivilgesellschaftliches Engagement als Balanceakt

Die Arbeitsschwerpunkte und Methoden der Zivilgesellschaft in China stehen in einer direkten Beziehung zur sozioökonomischen Entwicklung der Gesellschaft und zu Dynamiken im politischen System der Volksrepublik. Die Umwelt- und Sozialfolgen des rasanten Wirtschaftswachstums brachten besonders seit den 1980er Jahren eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen hervor, die z.B. zur Umweltverschmutzung im Land, Arbeiter*innenrechten und Frauenrechtsthemen arbeiteten. Dieses zivilgesellschaftliche Engagement lief teils entlang, teils auch entgegen staatlicher Prioritäten.

Umweltorganisationen haben sich dem Umwelt- und Ressourcenschutz sowohl in städtischen als auch in ländlichen Lebensräumen verschrieben. Bildung, Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit über die sozialen Medien spielen eine zentrale Rolle in ihrer Arbeit. Als professionelle Ansprechpartner*innen in Umweltfragen für staatliche Behörden versuchen Organisationen vertrauensvolle Beziehungen zu Entscheidungsträger*innen aufzubauen und auf die Formulierung von Regularien Einfluss zu nehmen, betont etwa Zhao Zhong, Begründer von Green Camel Bell in Gansu.4

Zivilgesellschaftliche Akteur*innen verfolgen in ausgewählten Situationen auch einen aktivistischen »Advocacy«-Ansatz, wenn sie z.B. Umweltklagen im öffentlichen Interesse, chin. »huánjìng gongyì sùsòng« 环境公益诉讼, vor Gericht bringen. So berichtete der Korrespondent Georg Fahrion für den SPIEGEL im September 2021 über eine erfolgreiche Klage von Friends of Nature aus Beijing gegen ein Staudammprojekt in Yunnan.5 Die Auflagen und Risiken solcher Prozesse sind jedoch enorm. Zudem bedarf es vieler Ressourcen, z.B. Budgets für Anwält*innen, um einen Prozess erfolgreich durchzustehen. Nur wenige zivilgesellschaftliche Organisationen in China sind dazu in der Lage.

Frauenrechtsthemen wurden insbesondere seit der UN-Weltfrauenkonferenz 1995 in Beijing von der Zivilgesellschaft aufgegriffen. 2015 allerdings gerieten diese auf die Liste staatlich zensierter Themen in den Medien. Die ihnen von der Partei zugeschriebene politische Sensibilität nahm mit der globalen »#metoo«-Bewegung noch zu. »The Feminist Five«, fünf feministische Aktivist*innen, demonstrierten auf den Straßen Beijings in rotbefleckten Hochzeitskleidern gegen häusliche Gewalt und den mangelnden Schutz der Opfer. Die Inhaftierung der Aktivistinnen zog internationale Aufmerksamkeit auf den Umgang der chinesischen Regierung mit der zivilgesellschaftlichen Sphäre. Es wurde sichtbar, wie viele NGOs sich dieser Thematik der Frauenrechte widmen, aber auch wie viele mit administrativen Repressalien und der Aussetzung ihrer Registrierung zu kämpfen haben.

China ist entgegen dem sozialistischen Selbstverständnis eine patriarchalisch und patrilinear geprägte Gesellschaft. Frauen machen weniger als 30 Prozent der Parteimitglieder aus.6 Die Ein-Kind-Politik führte in der Bevölkerung häufig zu der Entscheidung, sich weiblicher Nachkommenschaft zu entledigen und männliche Erben zu bevorzugen. Demographisch ist die Ungleichverteilung der Geschlechter ein Problem und führt verstärkt zu Druck auf Frauen, traditionelle Geschlechterrollen einzunehmen. Die Partei hat unter Xi Jinping nicht nur rechtebasiert arbeitende NGOs und Jurist*innen als Gefahr identifiziert, sie verfolgt auch eine konservative Entwicklung des Verständnisses von Geschlechterrollen in der chinesischen Gesellschaft.

Wollen zivilgesellschaftliche Akteur*innen in China erreichen, dass sich progressive Ansätze später in Regularien oder Gesetzen wiederfinden, so „tendieren sie dazu, ihre Ideen mit den offiziellen Sprachregelungen in Beziehung zu setzen,“ hält Paul Kohlenberg von der Heinrich Böll Stiftung fest.7 Dadurch erlangt ihr Anliegen innenpolitische Legitimität und sie können bestehende Konzepte und damit den Diskurs in ihrem Sinne beeinflussen. Während die Partei versucht, zivilgesellschaftlichen Organisationen die Rolle der öffentlichen Dienstleister*in zuzuschreiben, bemühen sich diese, den offiziell beanspruchten Diskursraum zur eigenen Absicherung, Partizipation und Verfolgung ihrer Ziele zu nutzen bzw. zu weiten. Laut den Forscher*innen Judith ­Shapiro und Yifei Li stellt sich daher weniger die Frage inwieweit zivilgesellschaftliche Akteur*innen in China unabhängig von Staat und Partei arbeiten. Vielmehr sollte es darum gehen, ob Organisationen, wie beispielsweise das Institute of Public and Environmental Affairs, sich innerhalb des Systems für z.B. Informationstransparenz, oder auch die Stärkung von bürgerlicher Partizipation und Institutionen mit dem Ziel des Umweltschutzes einzusetzen vermögen.8

Zivilgesellschaftliches »Hinausgehen« zwischen Frieden und Konflikt entlang der BRI

2013 kündigte Xi Jinping die weltweit kontrovers diskutierte BRI in Kasachstan an. Die Initiative sollte nicht nur chinesischen Unternehmen einen weiteren Schub in ihrer internationalen Aufstellung verleihen, sondern auch zivilgesellschaftliche Akteur*innen zum »Hinausgehen«, chin. »zou chuqù« 走出去, animieren. Bereits während des ersten Seidenstraßenforums 2017 wurde NGOs ein konkreter Platz in der BRI zugedacht: ergänzend zu den wirtschaftlichen und politischen Beziehungen sollen sie die »people-to-people« Beziehungen zwischen China und den Partnerländern verbessern.

Zivilgesellschaftliche Organisationen in anderen Staaten haben jedoch ihr ganz anderes Selbstverständnis und traten in der Folge mancherorts, wie z.B. in Myanmar, chinesischen Unternehmen bis zum Projektstopp entgegen.9 Die chinesische Regierung wiederum bevorzugt eine selektive und auf wirtschaftlicher Entwicklung basierende Einbindung chinesischer und lokaler Akteur*innen, um vor allem Reputationsrisiken für die beteiligten Unternehmen aufzufangen. In diesem Sinne sind auch die »Arbeitsrichtlinien zur grünen Entwicklung von Auslandsinvestitionen und -kooperationen« der chinesischen Ministerien für Außenhandel und wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ökologie und Umweltschutz von 2021 zu verstehen.

In ihrer aktuellen Daseinsform scheint die BRI das ihr von der chinesischen Regierung zugesprochene friedensfördernde Potential nicht erfüllen zu können. Das chinesische Verständnis von Konflikt und Sicherheit ist eng mit dem Konzept von wirtschaftlicher Entwicklung verbunden. So wird von staatlicher chinesischer Seite ein auf wirtschaftlichem Wachstum basierendes Friedensmodell vorangetrieben. Persönliche und politische Freiheiten werden nicht priorisiert. Das Entwicklungsmoment liegt führend bei der Regierung und weniger bei der Zivilgesellschaft, fasst Yin He den sogenannten »developmental peace«-Ansatz hinter der BRI und Chinas globalem Engagement zusammen.10

In der Studie »Conflict Dynamics and the Belt and Road Initiative«, verfasst für Brot für die Welt, kommt Jason Tower vom United States Institute of Peace zu dem Schluss, „dass die BRI konfliktblind ist.11 Demnach fehlt es BRI-Akteur*innen an Richtlinien und Handlungsorientierung in Konfliktgebieten, wie z.B. in den nördlichen Grenzregionen Myanmars. Es sind jedoch gerade auch diese konfliktreichen Umgebungen, in denen etwa Infrastrukturprojekte von chinesischen Unternehmen umgesetzt werden.12 Intersektorale Dialogforen zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen aus China und den Partnerländern könnten somit für mehr Konfliktbewusstsein auf der Seite chinesischer BRI-Akteur*innen sorgen und so eine pluralistischere chinesische Einbindung in transnationale Prozesse fördern.

Lina Benabdallah weist in »China’s Peace and Security Strategies in Africa« auf die Beschränktheit des »developmental peace«-Ansatzes hin. Die Überzeugung, dass „Unterentwicklung an der Wurzel von Konflikten liegt, kann jedoch zu unbeabsichtigten Konsequenzen führen, die sich negativ auf lokale Bevölkerungen, die Umwelt und soziale Gerechtigkeit auswirken.“ 13

Frieden kann nur im Dialog mit der Zivilgesellschaft hergestellt werden. Dies gilt sowohl für die Volksrepublik China im Inneren als auch für chinesische Investitionen in Konfliktregionen. Ob zivilgesellschaftliche Organisationen es schaffen, sich mehr Raum zu erkämpfen, um ihren konfliktmindernden Einfluss auszuüben, ist ungewiss, denn mittlerweile ist das Bild der Zivilgesellschaft als Gefahr für die eigene »harmonische Gesellschaft« und den »friedvollen Aufstieg« Chinas in der Partei sehr gefestigt.14

Anmerkungen

1) Klabisch, J.; Straube, C. (2021): Zivilgesellschaft und China: weniger Raum, mehr Dia­logbedarf. Stiftung Asienhaus.

2) Deane, L. (2021): Will There Be a Civil Society in the Xi Jinping Era? Advocacy and Non-Profit Organising in the New Regime. Made in China Journal, 15.07.2021.

3) Lang, B. (2019): Anpassung, Einhegung, Aneignung: Chinesische Strategien im Umgang mit internationalen Normen und Akteuren der Zivilgesellschaft, ASIEN 152/15.

4) Interview der Autor*innen, 8. September 2021.

5) Fahrion, G. (2021): Wie ein Biologiestudent gegen chinesische Behörden triumphierte. DER SPIEGEL 36/2021, 05.09.2021.

6) Lu, S. (2020): Pretty Lady Cadres: New Data Shows the Limits of Women’s Advancement in China’s Leadership. ChinaFile, 21.12.2020.

7) Fuhr, L. (2021): „Ecological Civilization“ und Schutz biologischer Vielfalt – ein Blick nach China anlässlich der 15. Vertragsstaatenkonferenz der CBD. Heinrich-Böll-Stiftung, 27.08.2021.

8) Li, Y.; Shapiro, J. (2021): China Goes Green: Coercive Environmentalism for a Troubled Planet. Cambridge: Polity Press, S. 29f.

9) Ramachandran, S. (2019): The Standoff Over the Myitsone Dam Project in Myanmar: Advantage China. The Jamestown Foundation, 24.04.2019.

10) He, Y. (2021): A tale of two “peaces”: Liberal peace, developmental peace, and peacebuilding. In: Fung, C. J.; Gehrmann, B.; ­Madenyika, R. F.; Tower, J. G. (Hrsg.): New Paths and Policies towards Conflict Prevention. Chinese and Swiss Perspectives. London: Routledge, S. 42-53.

11) Tower, J.G. (2020): Conflict Dynamics and the Belt and Road Initiative: Ignoring Conflict on the “Road to Peace”, Brot für die Welt.

12) Abb, P.; Swaine, R.; Jones, I. (2021): Road to Peace or Bone of Contention? The Impact of the Belt and Road Initiative on Conflict States. Peace Research Institute Frankfurt (PRIF), S. 14.

13) Benabdallah, L. (2016): China’s Peace and Security Strategies in Africa: Building Capacity is Building Peace?, African Studies Quarterly 16:3-4, S. 26.

14) ChinaFile (2013): Document 9: A ChinaFile Translation.

Joanna Klabisch und Christian Straube leiten das China-Programm der Stiftung Asienhaus. Sie haben Ostasienwissenschaften mit dem Schwerpunkt China bzw. Moderne Sinologie an der Universität Heidelberg und an Universitäten in China studiert. Joanna Klabisch arbeitet seit ihrem Studium und ihren darauffolgenden Aufenthalten in China zur chinesischen Zivilgesellschaft, Umweltschutz und sozialer Gerechtigkeit. Christian Straube hat im Rahmen seiner Promotionsforschung chinesische Investitionen in Ost- und Zentralafrika und den China-Afrika-Diskurs untersucht.

Mut zur Komplexität


Mut zur Komplexität

BSV-Studientag »Konflikte und Nachhaltige Entwicklung«, online, 30. Oktober 2020

von Krischan Oberle

„Der Zusammenhang zwischen Hunger und bewaffneten Konflikten ist ein Teufelskreis : Krieg und Konflikte können zu Ernährungsunsicherheit und Hunger führen ; Hunger und Ernährungsunsicherheit können latente Konflikte aufflammen lassen und Gewaltanwendung auslösen.“1

Mit diesem Zitat aus der Begründung zur Verleihung des diesjährigen Friedensnobelpreises an das Welternährungsprogramm eröffnete Jakim Essen (Schulministerium NRW) den Studientag und gab damit einen Ausblick auf die zentralen Fragen der Veranstaltung : Wie müssen nachhaltige Entwicklung, Klima und Frieden zusammengedacht werden ? Was hat der Klima­notstand mit weltweiten und regionalen Kon?ikten zu tun ?

Die verschiedenen Inputs und Workshops des Studientages machten dabei immer wieder deutlich, welche komplexen Zusammenhänge zwischen gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitischen Feldern bestehen.

Im Zentrum des Auftaktbeitrages von Prof. Jürgen Scheffran (Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit, Hamburg) stand die These, dass es keinen Frieden ohne eine intakte Natur, aber ebenso keine intakte Natur ohne Frieden geben könne. Prof. Scheffran betonte, dass die heutige Zeit durch eine Anhäufung von Krisen gekennzeichnet sei : Ressourcenmangel, ökonomische Stagnation, atomare Risiken, Pandemien, der Kollaps von Ökosystemen. Die massiv gestiegene Anzahl bewaffneter Konflikte und globale Rüstungsausgaben von fast zwei Billionen US$ seien Indikatoren für diese Krisenhaftigkeit des „von Menschen geprägten Erdzeitalters“.

Der Klimawandel führe zu Risiken für menschliche Sicherheit, sozialer Instabilität und Konflikten. Letztlich komme es laut Prof. Scheffran darauf an, Entscheidungspunkte zu nutzen, um Zukunftspfade hin zu mehr Sicherheit und nachhaltiger Entwicklung zu beschreiten. Strategien gegen den Klimawandel, für die Erhaltung von Ökosystemen sowie für die Prävention von gewaltförmigen Konflikten seien auf allen Ebenen der Wirkungskette möglich. Dabei betonte Prof. Scheffran die folgenden elementaren Bausteine für einen nachhaltigen Frieden :

  • Erhaltung von Natur(ressourcen) und menschlicher Existenz
  • Entfaltung von Fähigkeiten und Entwicklungschancen insbesondere für benachteiligte Personen und Weltregionen
  • Gestaltung einer lebensfähigen und lebenswerten Welt

Prof. Scheffran schloss mit der Beobachtung, dass sich die Welt an einem Scheideweg befinde und eine doppelte Transformation dringend notwendig sei : einerseits im Bereich »Frieden und Sicherheit« und andererseits bei der »nachhaltigen Entwicklung«.

Der Beitrag von Dr. Martina Fischer (Brot für die Welt) fokussierte den Zusammenhang zwischen dem menschengemachten Klimawandel und der Eskalation von Konflikten. Sie erläuterte diesen Zusammenhang am Beispiel von Syrien. Es sei unumstritten, dass Faktoren wie Dürren, Bevölkerungs- und Migrationsdruck einen Einfluss auf die Konfliktdynamik hätten, eine direkte kausalen Verknüpfung könne aber wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden. Es sei jedoch zu befürchten, dass die Zuspitzung »Klimawandel führt zu Krieg«, die „politische[…] Lobbyarbeit für eine bessere Klimapolitik eher beeinträchtigt“, wenn Belege nicht eindeutig angeführt werden könnten, so Dr. Fischer.

Aus ihrer Sicht seien nachhaltige Entwicklung, Klimaschutz und Friedenspolitik zusammenzudenken, da Naturkatastrophen und Extremwetterlagen Lebensgrundlagen zerstörten und Konfliktdynamiken negativ beeinflussen könnten. Daher sei ein Umsteuern in allen Bereichen notwendig. Insbesondere seien zivile Formen der Konfliktbearbeitung zu fördern, um Alternativen zu militärischer Terrorbekämpfung und Migrationsabwehr aufzuzeigen.

Der Zivilgesellschaft komme bei diesen Aufgaben eine besondere Rolle zu : Politikgestaltung müsse kritisch begleitet, Partnerinnen im Globalen Süden bei Anpassungen unterstützt werden.

Der letzte Beitrag des Tages unter dem Titel »Who cares ? Wer kümmert sich um die Welt ?« von Nadine Kaufmann (Konzeptwerk neue Ökonomie, Leipzig) stellte Konflikte um Sorgearbeit in den größeren Kontext von nachhaltiger Entwicklung. Ihr Beitrag betonte den Umstand, dass die gegenwärtige Wirtschaftsweise die Transformation zu einer Post-Wachstumsgesellschaft behindere. Care- oder Sorgearbeit wird hier als eine Form der Arbeit verstanden, mit der sich Menschen a) um sich selbst, b) um andere und c) um die Natur kümmern.

Wie bei einem Eisberg sei in der kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft allerdings nur ein kleiner Teil der Ökonomie sichtbar, in Form von Kapital und Lohnarbeit. Ein großer Teil von Sorgearbeit, Subsistenz, informeller Arbeit, aber besonders auch die Beiträge der Natur sowie in neokolonialen Räumen geleistete Arbeit werde nicht wertgeschätzt, weder ideell noch monetär. Sie werde nur in Bruchteilen und schlecht bezahlt und zu einem sehr großen Teil von Frauen* übernommen. Während ansässigen Frauen durch die Verlagerung von Sorgearbeiten an migrantische Frauen, insbesondere in der Pflege, emanzipatorische Räume ermöglicht würden, entstünden so zeitgleich Versorgungslücken in ökonomisch benachteiligten Weltregionen, die dort wiederum Entwicklungsprozesse erschwerten.

Interaktiv ermöglichte der Beitrag im Anschluss die gemeinsame Identifikation von Chancen für nachhaltige Entwicklung mit den Teilnehmenden. Chancen bestünden demnach in der Überwindung des Wachstumszwangs, einer Umgestaltung der Wirtschaft, wie bspw. die Konversion der Rüstungsindustrie, in Investitionen in entwicklungsrelevante Bereiche und die Abschaffung von Abhängigkeitsstrukturen wie bspw. Fürsorgeketten in der Pflege. Es gehe also um nichts weniger, als eine systemweite Veränderung.

Die Teilnehmenden diskutierten zum Abschluss des Studientages die Bedeutung der in den Beiträgen wiederkehrenden »Komplexität« für Friedensbildung. Es wurde deutlich, dass Friedensbildung weit über die Thematisierung von Krieg und Gewalt hinaus gedacht werden müsse, indem sie zudem Themen wie Klimapolitik, Umweltschutz oder Geschlechterverhältnisse aus einer konfliktsensiblen Per­spektive vermittele. Frieden und Konflikt seien Querschnittsthemen für die Bildung zu nachhaltiger Entwicklung. Allerdings müssten dabei gute Abwägungen zwischen gebotener Komplexität und hilfreicher Vereinfachung getroffen werden, um die Bildungsarbeiter*innen und Teilnehmenden eines Workshops zu »nachhaltiger Entwicklung« nicht konstant zu überfordern.

Der hier entwickelte »Mut zur Komplexität« wird in der Friedensbildung notwendig sein, denn „wir bilden die zukünftige Generation aus, die darüber entscheidet, wie unsere Welt mit den folgenreichen Zusammenhängen von Klimawandel, Armut, nachhaltiger Entwicklung umgeht“, wie es Herr Essen zu Beginn des Studientages formulierte.

Der Studientag wurde vom Netzwerk Friedensbildung NRW ausgerichtet und finanziell von der Stiftung Umwelt und Entwicklung im Rahmen des Projekts »Share Peace« beim Bund für Soziale Verteidigung e.V. (BSV) unterstützt. Eine umfassende Dokumentation des Studientags ist beim BSV erschienen.

Anmerkung

1) Norwegisches Nobelpreiskommittee (2020): Ankündigung des Friedensnobelpreises für 2020. www.nobelprize.org/prizes

Krischan Oberle

Deutsche Afrikapolitik

Deutsche Afrikapolitik

Von Frieden keine Spur

von Katrin Dörrie

Die deutsche Afrikapolitik ist bestimmt von der eigenen Sicherheitslogik, fehlender Vision und mangelndem Verständnis für den Kontinent. Der beste Beleg dafür sind die im Mai 2014 verabschiedeten »Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung«.

In den letzten Jahren sah sich die deutsche Politik immer häufiger veranlasst, sich mit dem afrikanischen Kontinent auseinanderzusetzen. Deutsche Soldaten werden zunehmend dorthin entsandt, um sich an internationalen Einsätzen zu beteiligen – sei es in der Demokratischen Republik Kongo, in Mali oder in der Zentralafrikanischen Republik. Auch in anderen Politikfeldern kommt man an Afrika immer weniger vorbei, etwa im wirtschaftlichen Bereich bei der Rohstoffsicherung (z.B. besitzt das westafrikanische Guinea mehr als 20% der weltweiten Reserven von Bauxit, das für die Aluminiumherstellung benötigt wird) oder innenpolitisch beim Thema Migration. Um die Politik der einzelnen Ressorts abzustimmen, verordnete sich die Bundesregierung eine Afrika-Strategie, deren erste Fassung aus dem Jahr 2011 im vergangenen Jahr durch die Afrikapolitischen Leitlinien 2014 abgelöst wurde.

Schlaglichtartig wird im Folgenden die tatsächliche deutsche Afrikapolitik den neuen Afrikapolitischen Leitlinien gegenübergestellt. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf friedenspolitischen Aspekten und Fragen.

Die Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung

Die neuen Afrikapolitischen Leitlinien wurden Anfang 2014 erarbeitet, wohl in aller Eile und ohne Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen aus Deutschland oder der betroffenen Region, und im Mai des Jahres von der Bundesregierung verabschiedet. Das Dokument, das unter Federführung des Auswärtigen Amtes erstellt wurde, unterscheidet sich inhaltlich nur unwesentlich vom Afrika-Konzept aus dem Jahr 2011. So sind die Schwerpunkte in etwa die selben geblieben; die Version 2014 betont lediglich wirtschaftliche Aspekte noch stärker. Das Konzept 2011 kontextualisierte die einzelnen Schwerpunkte und gab konkrete Handlungsfelder vor, was in den Leitlinien 2014 gänzlich fehlt.

In den neuen Leitlinen beschreibt die Bundesregierung Afrika als Kontinent der Chancen, auf dem jedoch wirtschaftliche und politische Fragilität und Risiken fortbestünden, die Europa immer unmittelbarer beträfen. Der eigene Anspruch, früh, schnell, entschieden und substanziell zu handeln, wird unterstrichen. Ebenso wird das Ziel betont, die Afrikapolitik umfassend, ganzheitlich und vernetzt gestalten zu wollen. Dennoch wirken die Leitlinien, auch im Vergleich zum Vorgängerkonzept, eher unbegründet und inkohärent. Das mag an der schon von anderen Regierungsdokumenten bekannten Berücksichtigung von Statements aus verschiedenen Ressorts und Arbeitsbereichen liegen: Zuständigkeiten, nicht Analyse und Kernthemen, bestimmen dieses Politikpapier. Inkohärenz und Widersprüchlichkeiten sind offensichtlich, und es gelingt nicht, die verschiedenen Politikbereiche kohärent miteinander zu verknüpfen.

Unser Engagement in Afrika

Die Afrikanische Union (AU) und die afrikanischen Regionalorganisationen sowie die meisten afrikanischen Länder haben große Fortschritte bei der Bewältigung von Herausforderungen gemacht. Dies gilt insbesondere für die Ausgestaltung einer Friedens – und Sicherheitsarchitektur für den gesamten Kontinent. Der Fortschritt ist Ergebnis von Eigenverantwortung und der Entschlossenheit, sich der Probleme anzunehmen; mitentscheidend dafür war und ist aber auch internationale Unterstützung, vor allem durch die EU und ihre Mitgliedsstaaten wie Deutschland sowie durch andere Mitglieder der Internationalen Gemeinschaft.

Gleichzeitig müssen wir besser auf Instabilität und Fragilität in Afrika vorbereitet sein. Angesichts der fortbestehenden Risiken und Herausforderungen und der trotz Fortschritten noch unzureichenden eigenen afrikanischen Kapazitäten und Ressourcen bleibt eine weitere Unterstützung durch die Internationale Gemeinschaft auch in absehbarer Zeit erforderlich. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen. Dabei muss das politische, sicherheitspolitische und entwicklungspolitische Engagement Deutschlands in Afrika gezielt verstärkt, an die sich ändernden Rahmenbedingungen angepasst und auf die einzelnen Regionen und Länder besser zugeschnitten werden. Hierdurch soll eine Stärkung der afrikanischen Staaten erreicht werden, was auch unseren Vorstellungen und Interessen entspricht.

Auszug aus den »Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung«, 2014, S.5

Die Bundesregierung sieht den afrikanischen Kontintent zwar von Fortschritt gezeichnet, zugleich aber von Instabilität und Fragilität bedroht (siehe Textauszug im Kasten) und identifiziert auf dieser Basis 18 Handlungsschwerpunkte. Folgende Prioritäten stechen hervor:

  • wirtschaftliches Wachstum fördern und afrikanische Märkte für deutsche Unternehmen erschließbar machen,
  • die regionale Friedens- und Sicherheitsarchitektur fördern, Fragilität abbauen und Konflikte vermindern,
  • präventive Migrationspolitik, Fluchtursachen reduzieren und
  • verstärkte Kooperation in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Forschung.

Deutlich stehen die wirtschaftspolitischen Interessen im Vordergrund. Andere Bereiche sind eher nebensächlich oder dienen nur als Unterbau für wirtschaftliches Engagement.

Leitlinien folgen Sicherheitslogik

Die Afrikapolitischen Leitlinien folgen einem sicherheitslogischen Ansatz. „Wir können in einer vernetzten und globalisierten Welt, in einem Europa ohne Grenzen, Sicherheit in Deutschland nur dann gewährleisten, wenn wir auch in anderen Regionen dazu beitragen, rechtsstaatliche Strukturen und funktionierende Sicherheitsbehörden aufzubauen“, heißt es in dem Papier. Die „Versicherheitlichung“, die in den vergangenen Jahren „zur allgemeinen Handlungsmaxime“ der Politik geworden ist (Frey und Lammers 2014), macht auch vor der Afrikapolitik der Bundesregierung keinen Halt. Friedenslogisch erarbeitete Analysen und genaue Vorstellungen darüber, wie die Friedensfähigkeit staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure in Afrika gestärkt werden könnte, sucht man in den Leitlinien vergeblich.

Stattdessen greift die Bundesregierung in den Leitlinien auf möglichst bequeme Erklärungen für die Krisen und Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent zurück. Ethnische Loyalitäten, das hohe Bevölkerungswachstum sowie schwache Staatlichkeit und mangelhafte Regierungsführung werden als Hauptursachen genannt. Eine kritische Analyse der historischen oder der lokalen, nationalen und internationalen politischen Dynamiken, die für die Krisen und Konflikte verantwortlich sind bzw. diese anheizen, und die Rolle Deutschlands dabei findet nicht statt. Lediglich die in den Leitlinien 2014 gegenüber der Strategie 2011 neu hinzugekommene Absicht, die Fähigkeit der Bundesregierung zur Früherkennung von Krisen zu stärken, kann als kleiner Hinweis auf eine mögliche Berücksichtigung friedenslogischer Aspekte gewertet werden. Die Verantwortung hierfür ausgerechnet an den politisch bisher nicht wirksamen Ressortkreis Zivile Krisenprävention zu übertragen, macht diesen positiven Aspekt allerdings gleich wieder zunichte.

Für Robert Kappel, Afrika-Experte beim German Institute on Global and Area Studies (GIGA), entsteht außerdem der Eindruck, dass „die Bundesregierung […] in Afrika die deutschen wirtschaftlichen Interessen zur Geltung bringen [will], wofür Gefährungspotenziale minimiert werden müssen“ (Kappel 2014, S.3). Die Sicherheit der afrikanischen Bevölkerung scheint zweitrangig. Deutsche Waffenlieferungen an afrikanische Staaten machen diese fehlende Kohärenz der deutschen Politik besonders deutlich.

In einem der umstrittensten Fälle genehmigte die Bundesregierung beispielsweise sowohl die Ausfuhr von zur Aufstandsbekämpfung geeigneten Fuchs-Panzern als auch den Bau einer Produktionsstätte für Panzer desselben Typs in Algerien (BICC 2014). Dabei handelt es sich in Algerien um ein von Korruption geprägtes Militärregime, das in den letzten Jahren mehrfach gewaltsam gegen Demonstranten und Reformbewegungen vorgegangen ist. Auch die angespannten Beziehungen Algeriens zum Nachbarland Marokko scheinen für die Bundesregierung kein Grund zur Sorge zu sein. Im Gegenteil: Gleichzeitig wird auch Marokko mit deutschen Rüstungsgütern versorgt (GKKE 2014, S.34). Die Regierung folgt dabei klar der Logik der Afrikapolitischen Leitlinien, welche die wirtschaftliche Zusammenarbeit zur allerersten Priorität machen und alle anderen Erwägungen als zweitrangig behandeln. Aus friedenspolitischer Sicht untergraben solche Rüstungsexporte aber das Ziel, Afrika zu einem friedlicheren Kontinent zu machen.

Die Bundesregierung betont in ihren Leitlinien die Einbettung der deutschen Afrikapolitik in einen EU-Rahmen sowie die Kohärenz mit dem Handeln der Vereinten Nationen. Dieses Streben nach geschlossenem Handeln mit anderen Akteuren verstärkt den Eindruck, die deutsche Regierung habe eigentlich keine eigene Vorstellung davon, wie ihre Politik in Afrika aussehen soll, weshalb sie sich lieber hinter größeren Institutionen versteckt.

In der Praxis führt dies dazu, dass Deutschland sich zu einem großen Teil den Interessen etablierterer Regionalmächte, wie etwa Frankreich im frankophonen Westafrika, unterordnet. Da Deutschland kaum relevante historisch begründete Eigeninteressen in der Region hat und auch keine klaren politischen Ziele entwickelt, werden im Krisenfall Initiativen Dritter, wie etwa Frankreichs, unreflektiert unterstützt. Beispiel Mali: Während in Deutschland noch über eine mögliche Beteiligung an einem internationalen Einsatz in Mali diskutiert wurde, intervenierte Frankreich schon militärisch und schuf damit Tatsachen. Die Bundeswehr unterstützte Frankreich anschließend u.a. logistisch und bei der Ausbildung malischer Truppen (Junk 2013). Eine eigene Position und eine Debatte über Sinn oder Unsinn einer solchen Militärmission fehlten gänzlich. Von der »Gestaltungsmacht« Deutschland, von der in Sonntagsreden über die deutsche Außenpolitik immer wieder die Rede ist, war hier nichts zu erkennen.

Anspruch und Wirklichkeit

Die Wirklichkeit der deutschen Afrikapolitik bleibt oft weit hinter den Ansprüchen zurück. Dies zeigt das deutsche Engagement in der Zentralafrikanischen Republik: Obwohl Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen vollmundig erklärt hatte, Deutschland könne nicht zulassen, dass der Konflikt in diesem Land die ganze Region in Flammen setze, war das darauf folgende deutsche Engagement eher mager. Gerade einmal vier Stabsoffiziere sowie ein Lazarettflugzeug, welches freilich nur für die Versorgung ausländischer Truppen eingesetzt wird, steuerte die Bundesregierung für die europäische Mission bei (Wiegold 2014). Auch der Ebola-Ausbruch in Westafrika kann als Beispiel angeführt werden. Anstatt früh, schnell, entschieden und substanziell zu reagieren, wurde nach dem Ausbruch der hochansteckenden Krankheit monatelang erst einmal gar nicht gehandelt. Die Hilfe im Kampf gegen Ebola ist inzwischen tatsächlich angelaufen, der deutsche Beitrag fiel aber erneut erheblich kleiner aus, als es die Ankündigungen der Regierung vermuten ließen (Munzinger 2014).

Zur Bewältigung der von der Bundesregierung identifizierten friedens- und sicherheitspolitischen Probleme legen die Leitlinien besonderen Wert auf die Befähigung afrikanischer Regionalorganisationen, Konflikte eigenständig zu regeln. »Ertüchtigung« ist seit 2011 die erklärte außenpolitische Strategie der Kanzlerin (siehe dazu »Politik der Ertüchtigung« von Thomas Mickan in dieser Ausgabe von W&F). Nicht thematisiert wird, dass, wenn man diesem Gedanken folgt, die Regionalorganisationen noch Jahre brauchen werden, um Konflikte eigenständig zu lösen, und dass dies der Sicherheitslogik folgend dann vorwiegend militärisch passiert. Wie Deutschland sich bis dahin in Krisen und Konflikten auf dem afrikanischen Kontinent positionieren will, bleibt ungeklärt. Des Weiteren erstaunt, dass zwar der Zuschnitt der Afrikastrategie auf die doch sehr unterschiedlichen Regionen und Länder gefordert, eine konsequente Differenzierung z.B. zwischen den afrikanischen Regionalorganisationen aber nicht umgesetzt wird. So müsste die Zusammenarbeit mit der Südafrikanischen Entwicklungsgemeinschaft, die von einem sicherheitspolitisch ambitionierten und wirtschaftlich starken Südafrika dominiert wird, vollkommen anders aussehen als etwa mit der Ostafrikanischen Gemeinschaft (Elischer und Erdmann 2012).

Ebenso stellt sich die Frage, warum auf fragile Staatlichkeit pauschal mit den Allheilrezepten Sicherheitssektorreform, Aufbau von Rechtstaatlichkeit und Schaffung von Zukunftsperspektiven für die junge Bevölkerung reagiert werden soll. Die Leitlinien erwähnen, dass Deutschland die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft Afrikas ebenso als Partner im Blick haben sollte wie die Regierungen und die regionalen Organisationen, es wird sogar betont, dass die unzureichende Partizipation zivilgesellschaftlicher Organisationen (z.B. besonders benachteiligter Bevölkerungsgruppen) ein wesentlicher Konfliktfaktor sei. Hieraus folgt aber nicht, dass dieser Anspruch auch bei der Entwicklung und Umsetzung eigener politischer Leitlinien Geltung hat. Stattdessen verweist das Papier recht vage auf die Notwendigkeit eines abgestimmten Handelns mit deutschen (nicht etwa afrikanischen!) zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Fehlendes Verständnis

Ein Grund für die vielen Unzulänglichkeiten der deutschen Afrikapolitik und somit auch der Afrikapolitischen Leitlinien scheint eine mangelnde institutionelle Afrikakompetenz zu sein. Es bleibt offen, ob die Bundesregierung mit folgendem Satz in den Afrikapolitischen Leitlinien eine Ist- oder eine Soll-Feststellung meint: „Die Erfolgsaussichten unseres Handelns erhöhen sich, wenn wir aufgrund langjährigen und breiten Engagements über gute Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse, langfristig aufgebautes Vertrauen und eine gute Vernetzung im staatlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich verfügen.“ (S.16) Das bleibt, sofern es ernst gemeint ist, vorläufig Zukunftsmusik. So konnte z.B. der Afrikabeauftragte der Bundesregierung, Günther Nooke, bei seinem Amtsantritt keinerlei Regionalkenntnisse vorweisen, auch fehlt den Leitlinien eine Operationalisierung oder Hinweise auf Möglichkeiten zur Umsetzung dieses Ziels. Selbst in den großen deutschen außenpolitischen Think-Tanks mangelt es an fachlicher Kompetenz. So beschäftigt die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) keinen einzigen Experten, der zu Afrika südlich der Sahara arbeitet. Die Stiftung Wissenschaft und Politik – neben der DGAP der wichtigste außenpolitische Beratungspartner der Bundesregierung – listet zumindest einige ExpertInnen auf, fasst in ihrer Arbeit allerdings Afrika mit dem Nahen und Mittleren Osten in einer Abteilung zusammen. In der deutsche Wissenschaftslandschaft hingegen gibt es, obwohl in den letzten Jahren die regionalwissenschaftlichen Lehr- und Forschungskapazitäten stark abgebaut wurden, eine ausgewiesene Afrikaexpertise, beispielsweise bei GIGA in Hamburg. Auch haben die großen Entwicklungsorganisationen, wie Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst und Misereor, oder auch kleinere Friedensorganisationen, wie der Weltfriedensdienst, ausgewiesene Fachleute. Dies bedeutet leider nicht, dass ihre Kompetenz für die politische Beratung nachgefragt wird, und erst recht nicht, dass über ihre Partnerorganisationen die Betroffenen selbst, die VertreterInnen der afrikanischen Zivilgesellschaft, ein Wort bei der Gestaltung ihrer Zukunft mitzureden haben.

Fazit

Die deutsche Afrikapolitik ist wenig kohärent und wegweisend und hält selten das, was sie verspricht. Insbesondere in friedenspolitischer Hinsicht enttäuscht sie durch eine Versicherheitlichung der Debatte, wenig tatsächliches Engagement und eine Unterordnung der sicherheits- und friedenspolitischen Überlegungen unter kurzfristige wirtschaftliche Interessen. Dies spiegelt sich in den aktuellen Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung wider. Sie lassen viele grundsätzliche Fragen offen und eignen sich kaum für die Handlungsorientierung im täglichen Politikbetrieb. Mögliche »Standort«-Vorteile Deutschlands, wie die nur kurze Kolonialgeschichte oder der jahrzehntelange Status als »soft power«, werden nicht genutzt, um eigene friedenspolitische Akzente zu setzen. Es besteht also viel Raum für eine tatsächliche Ergebnisorientierung der deutschen Afrikapolitik.

Literatur

BICC (2014): Informationsdienst Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte. Länderportrait Algerien.

Deutsche Bundesregierung (2011): Deutschland und Afrika – Konzept der Bundesregierung.

Deutsche Bundesregierung (2014): Afrikapolitische Leitlinien der Bundesregierung.

Sebastian Elischer und Gero Erdmann: Regionalorganisationen in Afrika – eine Bilanz. GIGA Fokus Afrika 3/2012.

Ulrich Frey und Christiane Lammers (2014): Einführung. In: dies. et al.: Friedenslogik statt Sicherheitslogik. Theoretische Grundlagen und friedenspolitische Realisierung. Wissenschaft und Frieden, Dossier 75, Mai 2014.

Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) (2014): Rüstungsexportbericht 2014 der GKKE

Julian Junk: Eine »Gestaltungsmacht« stolpert hinterher – Die deutsche Bundesregierung und die Krise in Mali. sicherheitspolitik-blog.de, 7. März 2013..

Robert Kappel: Die neue Afrikastrategie: ein notwendiger Diskurs. GIGA Fokus Afrika 6/2014.

Paul Munzinger: Bundeswehr – Ebola-Hilfe der Regierung ist ein leeres Versprechen. ZEIT ONLINE, 3. Oktober 2014.

Thomas Wiegold: Abgerechnet wird später. Krautreporter, 15. Bezember 2014.

Katrin Dörrie hat Geographische Entwicklungsforschung Afrikas sowie African Peace and Conflict Studies in Bayreuth und Bradford (UK) studiert, ist als freie Autorin und Analystin für Afrikapolitik tätig und betreibt den Blog afrikapolitik.de.

Eine radikale Antwort

Eine radikale Antwort

Süd-Süd-Kooperation durch ALBA

von Harri Grünberg

Im Rahmen der Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América y el Caribe (Bolivarianische1 Allianz für die Völker unseres Amerika und der Karibik), kurz ALBA, entwickelt sich eine besondere Form der Süd-Süd-Kooperation, die nicht primär ökonomisch ausgelegt ist. Der Autor beschreibt, welche Rolle er sich von ALBA bei der Bekämpfung von Armut und der politischen Kooperation erhofft, um in Lateinamerika die neokoloniale Abhängigkeit und die dadurch bedingte Unterentwicklung zu überwinden.

Ausgelöst durch die rasch vorangetriebene Globalisierung der Weltwirtschaft, haben sich mit Beginn der 1990er Jahre regionale Kooperations- und Integrationsprozesse beschleunigt. In Europa formt sich mit der Europäischen Union ein neuer imperialer Block, der die USA als kapitalistische Führungsmacht ersetzen will. Die USA wiederum sind bestrebt, eine große »amerikanische« Freihandelszone zu schaffen, in die sich alle lateinamerikanischen Länder unter US-Dominanz in eine strikt neoliberale Politik eingliedern sollen.

Auch in Lateinamerika selbst wird die Debatte über die Schaffung regionaler Integrationsmechanismen intensiver. In den vergangenen zwanzig Jahren machten sowohl die Länder des südamerikanischen Kontinents als auch die Länder Mittelamerikas verschiedene Erfahrungen mit diversen Integrationsmodellen, darunter dem Mittelamerikanischen Integrationssystem, SICA (Sistema de la Integración Centroamericana), und dem südamerikanischen Gemeinsamen Markt des Südens, MERCOSUR (Mercado Comun del Sur).

In den 1990er Jahren war eine neoliberale Welle über ganz Lateinamerika geschwappt. Die wichtigsten lateinamerikanischen Länder wurden in dieser Zeit von orthodox-liberalen Kräften regiert, sodass der Integrationsdiskurs im Zeichen des Neoliberalismus stand. Das änderte sich mit der Abwahl dieser Regierungen infolge der gesellschaftlichen Erschütterungen, die der Neoliberalismus auf dem Kontinent auslöste. Die Ablehnung der US-dominierten Integration des gesamten Doppelkontinents in eine große Freihandelszone erfasste auch jene Sektoren der nationalen Bourgeoisie, die befürchteten, durch die Öffnung der Märkte im Wettbewerb mit den USA und Kanada zu unterliegen.

Zum Negativbeispiel wurde der Beitritt Mexikos zum Freihandelsabkommen USA-Kanada (NAFTA). Mexikos Industrie, insbesondere die mittelständische, sowie die kleinen Produzenten und die kleinbäuerliche Landwirtschaft wurden durch dieses Abkommen ruiniert. Die kleinen Bauern Mexikos, die zum Teil noch Subsistenzwirtschaft betreiben, machen die Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung aus. Ihnen wurde die Existenzgrundlage entzogen. Es wurde unübersehbar: Bei Freihandelsverträgen mit den Ländern des Globalen Südens und mit Schwellenländern stehen immer die wirtschaftlichen Interessen der Großunternehmen des industriellen Nordens im Vordergrund.

Neuer Integrationskurs der Länder Lateinamerikas

Che Guevara beschrieb, dass die lateinamerikanischen Gesellschaften und ihre Ökonomien einer ungleichen und verzerrten Entwicklung unterworfen waren. Diese Gesellschaften zeichneten sich durch die Unfähigkeit aus, strukturelle Schranken im ökonomischen, sozialen, politischen, juristischen und kulturell-ideologischen Bereich zu überwinden, die ihre Entwicklung hemmten. Kennzeichen der frühen Industrialisierung in Lateinamerika, die nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte, war die Entwicklung partieller Bereiche bei Aufrechterhaltung einer grundsätzlichen Unterentwicklung.

Die lateinamerikanische Wirtschaft ist, mit Ausnahme Brasiliens, auf dem Weltmarkt nach wie vor nur Rohstofflieferant. Selbst bei industriellen Produkten weisen ihre Industrieexporte ein geringes Wertschöpfungsniveau auf; das trifft selbst auf das weiter entwickelte Brasilien zu. Das gilt keineswegs nur für Lateinamerika, sondern für fast alle Regionen der so genannten unterentwickelten Welt, inklusive der Schwellenländer. Sie stellen 85% der Weltbevölkerung, produzieren aber nur 25% des globalen Bruttosozialproduktes. Strukturmerkmal der Unterentwicklung aller lateinamerikanischen Länder ist die Dominanz des Agrarsektors. Nach wie vor ist die Mehrzahl der lateinamerikanischen Bevölkerung dort beschäftigt. Die hauptsächlich landwirtschaftlichen Produkte weisen einen geringen Verarbeitungsgrad auf und generieren geringe Deviseneinnahmen.

Schon zu einem frühen Zeitpunkt konzentrierte sich das Denken führender lateinamerikanischer Soziologen und Entwicklungstheoretiker darauf, wie diese strukturellen ökonomischen und sozialen Schranken zu überwinden seien. Im Zentrum ihrer Überlegungen stand der Gedanke der Einheit Lateinamerikas und die Notwendigkeit, den antikolonialen Kampf zu Ende zu führen, der mit den Befreiungskriegen gegen die spanische Herrschaft begonnen hatte.

Seitdem linke, fortschrittliche Kräfte, die eine anti-neoliberale, endogene Entwicklungsorientierung aufweisen, zunehmend Wahlen gewinnen, nahm ein neuer Integrationsdiskurs Fahrt auf. Er grenzt sich deutlich ab von den Beschlüssen des III. Panamerikanischen Gipfels, der in Miami/USA im Dezember 1994 stattgefunden hatte und den Weg für die US-Pläne zur Errichtung der großen amerikanischen Freihandelszone Free Trade Area of the Americas (FTAA) bereiten sollte.

Kuba und Venezuela, namentlich Hugo Chávez und Fidel Castro, brachten im Jahre 2004 die Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika und der Karibik, ALBA, auf den Weg. Die Allianz bildet einen Block von Nationalstaaten, die den Kampf gegen Unterentwicklung – einem historischen Erbe von Kolonialismus und imperialistischer Herrschaft –, aufgenommen haben. Die Integration gründet auf der gegenseitigen Kooperation, um Vorteile für alle beteiligten Nationen zu schaffen, die es ihnen ermöglichen, die ausgeprägten Entwicklungsunterschiede zwischen den Ländern Lateinamerikas zu überwinden und auf einen gemeinsamen Entwicklungsstand zu gelangen. Daher ordnet ALBA die Integration dem Ziel einer eigenständigen nationalen Entwicklung unter, um soziale Ungleichheit und Ausgrenzung, Armut und die schlechte Lebensqualität der Mehrzahl der Lateinamerikaner und Lateinamerikanerinnen zu überwinden. Chávez und Castro legten überdies Wert darauf, dass ALBA neben der sozialen und ökonomischen auch die wissenschaftliche und kulturelle Entwicklung fördern solle.

Gesundheit, Ausbildung, Energie und Finanzen

Somit stellt ALBA ein anderes Entwicklungs- und Integrationsmodell dar, als der gemeinsame Markt des Südens und der zentralamerikanische Markt, denn sowohl MERCOSUR als auch SICA streben lediglich eine engere ökonomische und politische Integration an. ALBA und die anderen lateinamerikanischen Integrationsprozesse verhalten sich zueinander aber nicht alternativ, sondern komplementär. Vorausetzung für die sozialen Ziele – Inklusion und Überwindung von Armut – ist die Verbesserung der ökonomischen Bedingungen. Das ist nur möglich durch eine stärkere Industrialisierung als Grundlage für eine höhere Produktivität und gesteigerte Wertschöpfung bei industriellen Erzeugnissen. ALBA befähigt die Länder, wie im Falle Kubas oder Nicaraguas, durch die Entwicklung strategischer ökonomischer Projekte zur Teilnahme an der ökonomischen Integration.

Die Gebiete, auf denen ALBA bislang erhebliche Erfolge zu verzeichnen hat, sind Gesundheit und Bildung. Ärzte und Lehrer aus Kuba spielten und spielen nach wie vor eine wesentliche Rolle beim Aufbau eines Gesundheitswesens für die arme Bevölkerung Lateinamerikas, die früher nie Zugang zu Ärzten hatte. Dafür sprechen u.a. die Erfahrungen in Venezuela, Nicaragua und Bolivien. Heute gibt es in fast jedem Armenviertel Venezuelas eine Klinik, in der kubanische Ärzte die Gesundheitsversorgung sicherstellen. Die Ärzte aus dem Mittelstand Venezuelas waren fast nie bereit, in die Armenviertel zu gehen. In der ELAM (Escuela de Medicina Latinoamericana) in der Nähe von Havanna werden Tausende Studenten aus Lateinamerika kostenlos zu Ärzten ausgebildet. Ihre einzige Verpflichtung besteht darin, anschließend in den Armenvierteln ihrer jeweiligen Länder medizinische Hilfe zu leisten. Mit Hilfe von ALBA ist die Errichtung einer ELAM-Dependance in Caracas/Venezuela geplant. Auf vergleichbare Weise halfen kubanische Lehrer und Lehrerinnen in vielen Ländern Lateinamerikas, zunächst in Venezuela, den Analphabetismus zu beseitigen.

Das bolivarianische Venezuela schuf 2005 mit dem Abkommen Petrocaribe ein grundlegendes Instrument, das zur energetischen Absicherung der sozio-ökonomischen Entwicklung und zur Integration der Karibik-Anrainerstaaten beitragen soll. Im Rahmen des Abkommens stellt Venezuela den anderen Mitgliedstaaten Energieressourcen, über die es reichlich verfügt, für die vereinbarten Entwicklungsprojekte zu verlässlichen Konditionen bereit. Petrocaribe ist auf ALBA abgestimmt und den Entwicklungsplänen von ALBA untergeordnet.

Die ökonomischen und sozialen Entwicklungsprojekte werden mit Hilfe des neu gegründeten Finanzfonds ALBA-Caribe finanziert. Er soll mit Krediten durch die Nutzung und den Ausbau der jeweils in den Mitgliedsländern vorhandenen Potentiale eine nachhaltige Entwicklung fördern. Dabei steht im Zentrum der Projektförderung, die dringendsten sozialen Probleme in den jeweiligen Ländern zuerst anzupacken.

Von ALBA geförderte Projekte

ALBA fördert u.a. die folgenden Projekte:

Errichtung einer gemeinsamen ALBA-Bank;

Alphabetisierung und Postalphabetisierungskampagnen, um allen Alphabetisierten zusätzliche Schulabschlüsse zu ermöglichen;

Entwicklung strategischer Infrastrukturprojekte, insbesondere den Bau von Häfen, Eisenbahnen und Flughäfen;

Errichtung von Wissenschafts- und Technologiezentren;

Ausbau der Lebensmittelproduktion, basierend auf der Verarbeitung der eigenen Agrarerzeugnisse; dabei steht im Zentrum die Förderung der Agrarwirtschaft und die Steigerung ihrer Effizienz;

Ausbau der Strom- und Gasproduktion sowie der Erdölförderung;

Aufforstung, Entwicklung der Forstwirtschaft sowie der Holzverarbeitung;

Förderung einer eigenen Pharmaindustrie sowie die Kommerzialisierung der dort hergestellten pharmazeutischen Produkte;

Förderung des Wohnungsbaus für einkommensschwache Familien sowie Ausbau der Bauindustrie und der Produktion von Zement und Baustahl;

Förderung gerechter Handelsstrukturen durch den Aufbau ALBA-eigener Handelsketten, die preiswerte Produkte für den Lebensbedarf der ärmeren Schichten bereitstellen;

Förderung des Tourismus, insbesondere eines sozialverträglichen Tourismus;

Errichtung strategisch wichtiger Industriebetriebe;

Förderung der lateinamerikanischen Kultur, der Medien und des Fernsehens (der TV-Kanal Telesur ist eine Alternative zum spanischsprachigen CNN-Programm);

Errichtung eigenständiger Telekommunikationsbetriebe.

Strategische Ziele von ALBA

Die Integrationspolitik von ALBA verfolgt somit eine strategische Zielsetzung. Die Handelsabkommen zwischen den ALBA-Mitgliedstaaten umfassen im Wesentlichen den Austausch von Gütern und Dienstleistungen. Diese Form von »Zahlungsvereinbarungen« belastet nicht die in den meisten ALBA Staaten spärlich vorhandenen Devisenreserven. Die Austauschbeziehungen beruhen auf dem Prinzip der Solidarität, der Gegenseitigkeit, des Technologietransfers und der Nutzung der Stärken, über die die jeweiligen Staaten verfügen.

ALBA verfolgt aber auch eine langfristige geopolitische Strategie. Ausgehend von der gemeinsamen Geschichte der lateinamerikanischen Staaten, zielt die bolivarianische Perspektive auf die Schaffung einer Union der lateinamerikanischen Staaten, die in einer großen lateinamerikanischen Nation münden soll.

Gemeinsam ist allen ALBA-Staaten die Kritik an der neoliberalen Globalisierung und die Notwendigkeit einer nachhaltigen, sozial gerechten ökonomischen Entwicklung sowie die Verteidigung der nationalen Souveränität und des Rechts auf Selbstbestimmung. Mit der Bildung eines regionalen Blockes wird eine eigenständige und souveräne Entwicklungspolitik angestrebt, die zu einer stärkeren ökonomischen Arbeitsteilung unter den ALBA-Staaten führen soll.

Gegenmodell zu TTIP

„Aus den aktuellen Verhandlungen zwischen der EU und den USA über die Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP)“, so kürzlich die Arbeitsgemeinschaft Cuba Si der Partei »Die Linke«, „droht der globale Süden als Verlierer hervorzugehen. Dies würde speziell im Falle Kubas deutlich: TTIP würde (ebenso wie das geplante europäisch-kanadische Comprehensive Economic and Trade Agreement, CETA) nach mehr als 50 Jahren Blockade durch die USA die globale Dominanz des neoliberalen Kapitalismus weiter zementieren. Damit würden die Möglichkeiten für einen eigenständigen alternativen Entwicklungsweg der Länder des Südens weiter minimiert.“

Obwohl ALBA unmittelbar als Antwort auf die US-Forderung nach Errichtung einer neoliberalen panamerikanischen Freihandelszone entstand, ist die Allianz also Bestandteil einer größeren historischen Konfrontation zwischen den lateinamerikanischen Völkern und dem Imperialismus. ALBA schreibt sich in die Tradition des lateinamerikanischen Unabhängigkeitskampfes ein. Diese Traditionslinie macht ALBA zu einer radikalen Alternative. Sie stützt sich auf die Bevölkerungen der Mitgliedsländer, bezieht diese ein und strebt soziale Gerechtigkeit an. Damit unterscheidet sie sich von den neoliberalen und imperialistischen Integrationsprojekten wie der EU, dem US-dominierten FTAA und der geplanten TTIP.

Weitere Integrationserfolge

Der lateinamerikanische Kontinent hat aber auch auf anderen Ebenen Integrationserfolge zu vermelden.

Die Staats- und Regierungschefs der ALBA-Mitgliedstaaten ratifizierten 2009 in Cochabamba/Bolivien auf dem 7. ALBA-Gipfeltreffen den Vertrag zur Gründung der virtuellen Währung Sucre (Sistema Único de Compensación Regional de Pagos). Die neue regionale Verrechnungswährung soll für Kuba, Dominica, Antigua y Barbuda, San Vicente y las Granadinas, Honduras, Nicaragua, Venezuela, Ecuador und Bolivien im gegenseitigen Handel mehr Unabhängigkeit vom Dollar ermöglichen. Langfristiges Ziel ist die Schaffung einer Einheitswährung.

Auch auf politischer Ebene wurde mit der Gründung von UNASUR (Union der Südamerikanischen Staaten) und mit der CELAC (Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten) ein weiterer Schritt in Richtung einer Union der lateinamerikanischen Staaten gemacht. Beide tragen wesentlich zum gemeinsamen politischen Handeln der Staaten Lateinamerikas bei, stärken ihre Position gegenüber den USA und der EU und hatten entscheidenden Anteil, die Isolierung Kubas aufzubrechen.

Der Exekutivsekretär des lateinamerikanischen Staatenbündnisses ALBA, Bernardo Álvarez Herrera, kündigte bei seinem Besuch in Berlin im März 2014 im Gespräch mit dem Lateinamerikaportal amerika21.de eine Stärkung des ALBA-Bündnisses an. Derzeit würde eine Fusion von ALBA mit dem wirtschaftspolitischen Bündnis Petrocaribe vorbereitet, sagte der venezolanische Diplomat bei einem Treffen in Berlin.

„Die neuen internationalen Gegebenheiten verlangen auch von uns eine Weiterentwicklung“, so Álvarez Herrera: „Deswegen wird derzeit sehr ernsthaft die Ausarbeitung eines Gründungsvertrages der ALBA geprüft.“ Dies würde dem linksgerichteten Bündnis in anderen internationalen Foren ein stärkeres Gewicht geben.

Anmerkung

1) Der Begriff »bolivarianisch« verweist auf Simón Bolívar (1783-1830). Er war Anführer der südamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung gegen die spanischen Kolonialherren in den heutigen lateinamerikanischen Staaten Venezuela, Kolumbien, Panamá, Ecuador, Peru und Bolivien. [die Red.]

Harri Grünberg ist Vorsitzender des Netzwerk Cuba.

Die Kontinuität der Treuhandschaft

Die Kontinuität der Treuhandschaft

Über den Habitus von Entwicklung und Intervention

von Conrad Schetter

Wie die jüngste Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 31. Januar 2014 deutlich machte, werden militärische Interventionen auch in Zukunft ein wichtiges Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik darstellen. In der Regel erscheint Entwicklungszusammenarbeit als die »weiche« Seite groß angelegter Interventionen. Auf diese Weise paart sich Entwicklung mit handfesten Sicherheitsinteressen, was einen »neuen Interventionismus« entstehen lässt. So verschwimmen immer stärker die Grenzen zwischen Entwicklungszusammenarbeit und Militär, die in der Vergangenheit durch eine große Distanz geprägt waren. Im folgenden Beitrag wird nachgezeichnet, wie Veränderungen des Entwicklungsverständnisses selbst hierzu beigetragen haben.

Der Begriff »Entwicklung« ist höchst umstritten und war zudem Kristallisationspunkt gesellschaftspolitisch häufig diametral entgegenstehender Visionen (Kößler 1998).Dennoch lässt sich konstatieren, dass seit Ende des Kalten Krieges Auseinandersetzungen über ideologisch begründete Visionen idealer Gesellschaftsordnungen nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. So setzten sich im Verständnis der Entwicklungsinstitutionen Demokratie und Marktwirtschaft als die unumstößlichen Ziele gesellschaftlicher Entwicklung durch. Sind diese Ziele in befriedigendem Maße umgesetzt, ist – entsprechend Fukuyamas Vision – auch das Ende von Entwicklung erreicht. Damit steht mehr und mehr die praktische Umsetzung zur Erreichung vorgegebener Entwicklungsziele (z.B. Millenium Development Goals) im Vordergrund (vgl. Harriss 2001).

Entwicklung als Praktik

Die Durchsetzung dieses Primats ging mit einer sprunghaften Zunahme an Entwicklungsorganisationen seit Beginn der 1990er Jahre einher, was zur Entstehung einer regelrechten Entwicklungsindustrie führte. So sind Millionen von – gerade gut ausgebildeten – Experten, Buchhaltern und Ingenieuren in der Entwicklungsindustrie beschäftigt; die Industriestaaten der Welt verpflichteten sich darauf, 0,7% ihres Bruttoinlandproduktes für Entwicklung zur Verfügung zu stellen; und es entstand neben der eher klassischen staatlichen und super-staatlichen Entwicklungszusammenarbeit(Weltbank, IMF, UNDP etc.) ein regelrechter Entwicklungsmarkt, auf dem Nichtregierungsorganisationen (NROs) mit privaten Unternehmen, Stiftungen und Verbänden um Projektmittel konkurrieren. Entwicklung avancierte zum Selbstzweck, also zu Entwicklung als Praktik (Thomas 2000). Zudem überlagerten in der Durchführung technische und administrative Aspekte die inhaltlichen Ziele von Entwicklungsprojekten, weshalb eine Entpolitisierung von Entwicklungsprojekten bemängelt wird (Ferguson 1994).

Daher sind es weit weniger Visionen, die die gegenwärtige Dominanz von Entwicklung als Praktik bestimmen, als ein gewisser Habitus, der als Konstante auszumachen ist: nämlich die Treuhandschaft (Cowen und Shenton 1996). Mit diesem Verständnis wird Entwicklung als ein praxisorientierter Begriff aufgefasst, in dem (a) ein gesellschaftliches System von Außen als verbesserungswürdig eingestuft wird, in dem (b) die Lösung von Problemen machbar ist und in dem (c) Kompetenz hierfür von Außen benötigt wird (Ziai 2006). In dieser Vorstellung manifestieren sich paternalistische Machtstrukturen, die die Betroffenen von Entwicklungsprozessen – trotz partizipativer Ansätze –immer wieder als Objekte erscheinen lassen.

Eine zusätzliche Dimension des Entwicklungsdiskurses ist, dass ein Verständnis von Entwicklung als Gebot der Mitmenschlichkeit und der moralischen Verpflichtung seit den1990er Jahren in den Hintergrund tritt (Hirsch & Seitz 2005). Dagegen nahm die Tendenz zu, Entwicklung über Eigeninteressen der Geberländer zu definieren und zu legitimieren – etwa über Sicherheits- oder über Wohlstandsdiskurse (Messner & Scholz 2005). Dieser Wandel war in erster Linie über die Depolitisierung und Technisierung von Entwicklung infolge deren Reduktion zur Praktik möglich. Damit ergibt sich die Frage, welchem Zweck Entwicklung als Praktik dienen soll.

An dieser Stelle verschwimmen in der gegenwärtigen Diskussion recht häufig die Grenzen. So wird in der aktuellen Diskussion vermehrt Entwicklung als ein Modell verstanden, das die Entwickelten und die zu Entwickelnden gleichsam integriert. Frei nach dem Motto »Alles Gute kommt zusammen« wird argumentiert, dass es »uns« – also der westlichen Welt – besser geht, wenn es »den Anderen« auch besser geht (vgl. Müller 2005). Dies bedeutet letztlich eine gravierende Verschiebung der Perspektive, da das Wohlbefinden »der Anderen« nur solange für die Geber von Belang ist, wie es der Durchsetzung der eigenen Interessen dient; Entwicklung steht damit zunehmend in einer einseitigen Dependenz zur Definition der Eigeninteressen.

Somit befindet sich Entwicklung als Praktik in einem Spannungsfeld zwischen der Verfolgung normativer Ziele einerseits, die die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen entsprechend liberaler Vorstellungen anstreben, und der Verfolgung klarer Eigeninteressen andererseits. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb seit den 1990er Jahren Sicherheitsdiskurse um gewaltsame Konflikte, mangelnde Staatlichkeit oder Terrorismus, die zunehmend globale Sicherheit und Handelsströme zu gefährden scheinen, mit aller Vehemenz Einzug in die Entwicklungsthematik halten (Schetter 2010).

Intervention als Treuhandschaft

Die Verschiebungen im Entwicklungsverständnis sind vor allem im Zusammenhang mit der Zunahme und Intensivierung militärischer Interventionen zu sehen. So war Anfang der 1990er Jahre die Entwicklungspolitik noch davon geprägt, sich vor allem auf die hoffnungsvollen Länder zu konzentrieren und die Länder der »Bottom Billion« (Collier 2007) aus der Entwicklungszusammenarbeit auszuschließen. Letztere galten als hoffnungslose Fälle, in denen der institutionelle Rahmen für erfolgreiche Projektdurchführung fehlte, sodass Entwicklungsmittel versickerten, ohne positive Veränderungen zu bewirken.

Erst nach dem 11. September 2001 fand aufgrund der nun von Sicherheitsfragen dominierten Entwicklungsdiskurse ein Umdenken statt: So lautet die Formel, dass Terrorismus, Fanatismus und Staatsversagen am besten mit Entwicklungsmaßnahmen begegnet werden kann. Dieser Kurswechsel in der Entwicklungspolitik führte zu einem Paradigmenwechsel, der nun »Problemländer« in den Fokus der Diskussion rückte. So engagierte sich die Entwicklungsindustrie zunehmend in Krisenregionen und wurde Teil groß angelegter internationaler Interventionen, in denen gleichzeitig militärische und zivile Mittel zum Einsatz kamen. Damit geriet die Entwicklungszusammenarbeit in das Fahrwasser einer neuen Ausrichtung der Weltpolitik, die davon geprägt ist, über breit angelegte Interventionen Bedrohungen zu beheben, die als global definiert werden (Menzel 2005, S.54).

Die außenpolitischen Konzeptionen der USA, vieler europäischer Staaten wie auch inter- und supernationaler Organisationen erblickten bereits Anfang der 1990er Jahre – also weit bevor sich dieser Paradigmenwechsel in der Entwicklungspolitik vollzog – in militärischen Interventionen ein probates Mittel, um gewaltsamen Konflikten Einhalt zu gebieten. Die Wahrung eigener Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen waren primärer Auslöser für militärische Interventionen. So sah die westliche Welt durch die Gewalteskalation und hierdurch ausgelöste Flüchtlingsströme in Jugoslawien, Ruanda, Sierra Leone oder Haiti die Sicherheit und den Wohlstand an den eigenen territorialen Grenzen gefährdet. Interventionen erfuhren zudem über die Berufung auf humanitäre Notstände eine Legitimation, wenngleich in humanitären Krisen in der Regel deutlich wurde, dass weniger das Militär als Hilfs- und Entwicklungsorganisationen in der Lage sind, humanitäre Missstände zu verbessern.

Mit der Dauer von Interventionen änderte sich zudem deren Ausrichtung. So sind Friedensmissionen zunehmend durch ein breit ausgelegtes militärisches Mandat sowie durch die Integration gesellschaftlicher und staatlicher Aufgaben gekennzeichnet, um „Staaten zu bauen“ (Fukuyama 2006). Auf diese Weise gewannen Entwicklungsmaßnahmen in Interventionen kontinuierlich an Bedeutung.

Entwicklung und Sicherheit

Das neue Mantra der Interventionskultur lautet„keine Entwicklung ohne Sicherheit, keine Sicherheit ohne Entwicklung“. Fraglich hierbei bleibt jedoch, um wessen Sicherheit und Entwicklung es denn überhaupt geht und wer definiert, was Sicherheit und Entwicklung bedeuten. Im Zweifelsfall behalten sich die Intervenisten die Deutungshoheit hierüber vor.

Das Zusammenspiel von Entwicklung und Sicherheit unterstreichen auch die richtungweisenden Veröffentlichungen von Europäischer Union, NATO und Vereinten Nationen. So wird unisono die Zusammenführung von Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik in integrierte Ansätze gefordert, wobei Letztere militärischen Zielsetzungen in der Regel unter- bzw. nachgeordnet wird (Schetter und Glassner 2007). Im Zentrum dieser integrierten Missionen steht, dass in Interventionen zivile und militärische Akteure zusammenarbeiten sollen, um ein kohärentes Vorgehen aus einer Hand zu gewährleisten.

Integrierte Missionen basieren auf der Annahme, dass Entwicklung und Menschenrechte untrennbar mit dem Ziel, Frieden und Sicherheit herzustellen, verbunden sind. Sie stehen ganz im Zeichen eines »neuen Humanitarismus«, der dem klassischen Denken der humanitären Hilfe eine Absage erteilt und jedes Handeln innerhalb komplexer Krisen als politisch und damit in gewisser Weise auch parteiisch begreift. Ein praxisbezogenes Beispiel für diese integrierten Missionen, das das Zusammengehen ziviler und militärischer Ansätze erprobt, stellen die Provincial Reconstruction Teams in Afghanistan dar, wenngleich die Struktur und die Eigenständigkeit der zivilen Akteure ja nach nationalem Konzept unterschiedlich ausgerichtet sind. Die Grundannahme zivil-militärischer Zusammenarbeit lautet, dass Entwicklungsorganisationen und Militär sich gegenseitig durch ihre Arbeit abstützen und über die Gewinnung der »hearts and minds« der Bevölkerung zu einem Erfolg der Interventionsmission beitragen sollen. Daraus ergeben sich vielfältige Probleme.

Erstens werden Entwicklungsorganisationen nun Teil der Intervention. Die grundlegenden Prinzipien von Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit, denen sich etwa viele NROs verpflichtet fühlen, können nicht mehr aufrechterhalten werden, wenn sie im Tross der Interventionstruppen unterwegs sind. So stehen viele NROs in vorderster Front von Interventionen, die den Aufbau von Staatlichkeit oder Wertetransfers zum Ziel haben. Dieser Einbindung in Interventionen können sich NROs kaum noch erwehren, da ihre Finanzierung weitgehend von den Projektmitteln der großen Geber (Europäische Union, Weltbank, Asiatische Entwicklungsbank etc.) abhängig ist. Definierten sich NROs einst in erster Linie über ihren Status außerhalb des Staats, so sind sie nun zunehmend verlängerte Werkbank staatlicher Auftraggeber, womit sie sich in ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis begeben (Duffield 2001).

Zweitens gerät bei der zivil-militärischen Zusammenarbeit ein sozialethisches Verständnis von Entwicklung als Akt der Selbstlosigkeit ins Hintertreffen. So geht es nicht mehr darum, dass die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerungsteile, die am stärksten Not leiden, im Vordergrund steht, sondern derjenigen, die zur Sicherheit der zivilen und militärischen Interventionskräfte von größtem Belang sind. Damit ist die »force protection« Ausgangspunkt von Projektarbeit und nicht die humanitäre oder entwicklungsbezogene Notwendigkeit. Hier blitzt der Gedanke auf, dass sowohl die Bereitsteller wie die Empfänger von Entwicklungsprojekten profitieren sollen. Entwicklungsprojekte laufen mit dieser Betonung des Eigennutzes Gefahr, zum Vehikel einer militärischen Agenda zu werden. Im Gegenzug sieht das Militär, das sich im Eigenverständnis häufig nicht als politische Partei, sondern als neutraler Akteur versteht, seine Aufgabe darin, ein sicheres Umfeld für Entwicklungsorganisationen zu schaffen.

Drittens verwischen sich die institutionellen Grenzen zwischen Entwicklungsorganisationen und Militär. Bestes Beispiel sind die ZIMIK-Einheiten, die über zivile Kleinprojekte direkt den Schutz des Militärs erreichen sollen. Aufgrund ihrer Projekte ähnelt die zivil-militärische Zusammenarbeit (ZIMIK) auf den ersten Blick einer zivilen Organisation; in ihrer Intention verfolgt ZIMIK jedoch keine Entwicklungsziele, sondern die Beeinflussung der Bevölkerung und die Informationsgewinnung und könnte demnach auch den »psychological operations« zugeordnet werden.

Schluss

Stellte in den 1980er Jahren Entwicklung noch in vielen regionalen Kontexten geradezu das Gegenteil zu militärischen Handlungen dar und wurde mit Frieden assoziiert, verschwammen in den letzten Jahren nicht nur die Konturen zwischen militärisch zu leistender Sicherheit und zivil zu leistender Entwicklung, sondern es wird geradezu ein kausaler Zusammenhang hergestellt. Gerade die Genese von Interventionen von rein militärischen Interventionen hin zu Friedens- und Staatsbildungsprojekten trug zu diesem Wandel bei. In diesem Zusammenhang wird Entwicklung bewusst eingesetzt, um gewisse politische Ziele zu erreichen, die von den Interessen der Gebergemeinschaft definiert werden. Damit verliert Entwicklung ihre primäre sozialethische Ausrichtung und wird zu einem interessegeleiteten Instrument der Politik. So schreibt Duffield pointiert, „[…] Entwicklung ist eine Technologie für die Sicherheit, die für die liberalen Macht- und Regierungsformen zentral ist“ (Duffield 2007, S.viii). Dass sich Entwicklung in diese Richtung überhaupt wandeln konnte, war nur dadurch möglich, dass dieser Begriff immer weniger zur Auseinandersetzung über unterschiedliche Gesellschaftsvisionen und über den entsprechenden Weg dorthin diente, da das liberale Gesellschaftsmodell nicht mehr in Frage gestellt wurde. Damit erfuhr Entwicklung eine Reduktion auf seinen Projektcharakter – eben auf Entwicklung als Praktik. Dies setzt ein treuhänderisches Verständnis von Entwicklung voraus, wie es in Interventionen explizit gemacht wird. Damit ist der treuhänderische Charakter von Interventionskulturen dem vorherrschenden Verständnis von Entwicklung als Praktik nicht unähnlich.

Literatur

Paul Collier (2007): The Bottom Billion. Why the Poorest Countries are Failing and What Can Be Done about It. Oxford: Oxford University Press.

Michael Cowen and Robert W. Shenton (1996): Doctrines of Development. London: Routledge.

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Marc Duffield (2007): Development, Security and Unending War. Governing the World of People. Cambridge: Polity Press

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Francis Fukuyama (2006): Staaten bauen. Die neue Herausforderung internationaler Politik. Hamburg: Propyläen.

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Klaus Hirsch und Klaus Seitz (Hrsg.) (2005): Zwischen Sicherheitskalkül, Interesse und Moral. Beiträge zur Ethik der Entwicklungspolitik. Frankfurt: IKO Verlag.

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Ulrich Menzel (2005): Die neue Politisierung der Entwicklungspolitik. In: Klaus Hirsch und Klaus Seitz (Hrsg.): op.cit, S.43-60.

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Conrad Schetter (2010): Von der Entwicklungszusammenarbeit zur humanitären Intervention. Die Kontinuität einer Kultur der Treuhandschaft. In: ThorstenBonacker et al. (Hrsg.): Interventionskultur. Zur Soziologie von Interventionsgesellschaften. Wiesbaden: VS Verlag, S.31-47.

Conrad Schetter und Rainer Glassner (2007): Zivil-militärische Grauzone. Integrierte Friedensmissionen und Neuer Humanitarismus schlagen neue Allianzen. Eins – Entwicklungspolitik Information Nord-Süd 15-16/2007, S.24-28.

Alan Thomas (2000): Development as Practice in a Liberal Capitalist World. Journal of International Development 12-2000, S.773-787.

Aram Ziai (2006): Zwischen Global Governance and Post-Development. Entwicklungspolitik aus diskursanalytischer Perspektive. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Prof. Dr. Conrad Schetter ist wissenschaftlicher Direktor des Bonn International Center for Conversion (BICC).

Neoliberalismus mit südlichem Antlitz

Neoliberalismus mit südlichem Antlitz

Der Aufstieg des BRICS-Blocks

von Vijay Prashad

Im September 2006 kamen die Außenminister von Brasilien, Russland, Indien und China in New York zusammen, um über eine verstärkte Zusammenarbeit zu beraten. Am 16. Mai 2008 gründeten die vier Staaten im russischen Jekaterinenburg offiziell den BRIC-Block. Im Dezember 2010 wurde Südafrika in die Gruppe aufgenommen, die damit zum BRICS-Block wurde. Die jährlichen Gipfeltreffen befassten sich u.a. mit der Reform des internationalen Finanzsystems, dem Klimawandel, der technologischen Zusammenarbeit und der Betonung des Dialogs anstelle der Anwendung von Gewalt. Die fünf BRICS-Staaten erfreuen sich hoher Wachstumsraten, verfügen über extensive Naturressourcen und haben große, junge und gebildete Bevölkerungen. Vijay Prashad geht der Frage nach, ob die »Lokomotiven des Südens« damit zu einem Gegenpol gegen den alles dominierenden nordatlantischen Neoliberalismus werden oder ob sie lediglich am bestehenden System der globalen Ordnung teilhaben wollen.

Im Bericht des IWF [Internationalen Währungsfonds] von 2011 wird angedeutet, dass die Vereinigten Staaten 2016 nicht länger die größte Wirtschaftsmacht der Welt sein werden. […] Signale des Niedergangs sind in den fragilen wirtschaftlichen Grundlagen der atlantischen Staaten erkennbar, wo die rote Warnlampe angesichts der Vorherrschaft des Finanzsektors in der Wirtschaft und des Anstiegs der Militärausgaben hell leuchtet. Seit 2001 haben allein die Vereinigten Staaten 7,6 Billionen US$ für ihre Kriege und ihren nationalen Sicherheitsapparat ausgegeben. Hinzu kommen massive Kürzungen der Sozialausgaben und Steuervergünstigungen für Reiche. […] Prognosen des IWF zufolge wird China im Jahr 2016 die größte Volkswirtschaft sein, doch scheint das Land es nicht darauf anzulegen, sich allein an die Spitze zu stellen. China scheint damit zufrieden zu sein, sich die Bühne mit den anderen BRICS-Staaten zu teilen und auf Multipolarität und ökonomische Vielfalt zu drängen. Tatsächlich betont China bei jeder Gelegenheit, dass es weder an einer Ära der Pekinger Vorherrschaft interessiert sei noch die verschiedenen multilateralen Plattformen nutzen wolle, um einen BRICS- oder einen Pekinger Konsens durchzusetzen. Es weist darauf hin, dass es ein Ungleichgewicht der Macht zum Vorteil des Nordens gebe und dieses Ungleichgewicht korrigiert werden müsse – mehr nicht.

Die umfassendste Erklärung der BRICS-Prinzipien war die »Deklaration von Neu-Delhi« (2012). Viele der bereits 2009 bestehenden Elemente haben dort ihren vollständigsten Ausdruck gefunden.

Finanzreform

Die Finanzkrise seit 2007 wirft weiterhin ihre Schatten auf die BRICS-Staaten. Ihr Wachstumsmodell, das auf Exporte in den Norden sowie Handel untereinander basierte, hat unter dem Rückgang der Nachfrage aus dem Norden gelitten. Deshalb obliegt es den BRICS-Staaten, entweder ein Programm zu erarbeiten, um sich aus der Abhängigkeit von der Nachfrage des Nordens zu befreien, oder dazu beizutragen, einen Weg zu finden, die Nachfrage im Norden wieder zu beleben. Bis jetzt haben die BRICS beides getan, vorwiegend mit einem kurzzeitigen Fokus auf die Neubelebung der Nachfrage des Nordens.

Insgesamt hat sich die Unterstützung für den vom IWF vorangetriebenen Neoliberalismus langsam abgenutzt. In der »Deklaration von Neu-Delhi« drängen die BRICS-Staaten den Norden, eine „verantwortliche makroökonomische und finanzielle Politik“ zu verfolgen und entschlossenere Reformen ihres Finanzsystems vorzunehmen. Die Ansicht, dass der Norden nicht länger das Monopol auf gute Ideen zur Finanzpolitik innehat, führte zum Ruf nach einer institutionellen Verschiebung von der Kontrolle des Nordens hin zu einer Nord-Süd-Partnerschaft. Die G20 sollte das vorrangige Forum zum Schmieden eines globalen Aktionsplans werden, die Führung in IWF und Weltbank (inklusive der höchsten Führungsebene) auf eine breitere Basis gestellt und die UNCTAD [United Nations Conference on Trade and Development]– ein globales Organ, dessen politische Perspektive dem neoliberalen Konsens häufig kritisch gegenüberstand – gestärkt werden.

Im UNCTAD-Bericht von 2011 findet sich eine sorgsam erarbeitete Analyse über Macht und Einfluss des Finanzkapitals. Im Kapitel über Rohstoffmärkte wird argumentiert, dass der Rohstoffboom nicht mit einer wachsenden Nachfrage der BRICS-Staaten erklärt werden kann. Schuld daran seien hingegen Index-Investoren, Spekulanten, deren Rohstoffgeschäfte motiviert sind durch „Faktoren, die überhaupt keinen Bezug zu den Grundlagen der Rohstoffpreise haben“. Im Bericht erklärt sich der Anstieg der Rohstoffpreise, einschließlich derer für Nahrungsmittel und Öl, mit der größeren Präsenz von Finanzinvestoren, welche Warentermingeschäfte als eine Alternative zu Finanzanlagen in den Management-Entscheidungen ihres Portfolios ansehen. Da diese Marktteilnehmer jedoch kein Interesse am physischen Rohstoff haben und nicht auf der grundlegenden Basis von Angebot und Nachfrage handeln, können sie – einzeln oder als Gruppe – sehr große Anteile an den Rohstoffmärkten halten und dadurch einen beachtlichen Einfluss auf die Funktionsweise dieser Märkte ausüben. Es kann keine Entwicklungsagenda geben ohne ernsthafte Überlegungen zu einer Finanzreform.

Entwicklungsagenda

Seit der faktischen Paralyse der Entwicklungsagenda [der World Trade Organization, WTO] von Cancún (2003) – oder vielleicht bereits seit Seattle (2000) – hat es wenig Bewegung bezüglich der Kernfragen sozialer Entwicklung gegeben. Das Gerede über die Millennium-Entwicklungsziele ([Millenium Development Goals,] MDGs) hat sich als Vernebelungstaktik für unzureichende Maßnahmen auf globaler Ebene herausgestellt.

Bei den MDGs handelt es sich um Ziele, deren Erreichung von den einzelnen Staaten verlangt wird. Es handelt sich nicht um einen möglichen Ersatz für eine umfassende Vereinbarung zu Rohstoffpreisen, Subventionen, Entwicklungsfinanzierung und Technologietransfers. Seit den 1970er Jahren, als die UNCTAD der zentrale Ort für derartige Debatten war, hat es keine substanzielle Diskussion dieser Angelegenheiten mehr gegeben. Seit die Rolle der UNCTAD marginalisiert wurde, hat der Süden seinen Platz am Verhandlungstisch verloren. Folglich hat es weniger einen Entwicklungsdialog, sondern vielmehr einen Entwicklungsmonolog mit dem IWF und der Strukturanpassungsagenda der Weltbank gegeben, die in der Maskerade einer Entwicklungsagenda daherkamen.

Die BRICS-Staaten rufen nun zu einer Neubelebung der Debatten über Entwicklung auf, inklusive der Schaffung einer neuen Entwicklungsbank (einer BRICS-Bank), der Wiederbelebung der Doha-Runde in multilateralem Gewand, dem Einimpfen eines Geistes des Technologietransfers jenseits des rigorosen Regimes intellektueller Eigentumsrechte des TRIPS-Abkommens und inklusive der Kooperation bei wichtigen Angelegenheiten, wie etwa Gesundheitsfürsorge, landwirtschaftlicher Produktion und Produktivität.

Weil er sich außerstande sieht, eigene Vorstellungen innerhalb der Weltbank durchzusetzen, wird der BRICS-Block nun eine BRICS-Entwicklungsbank mit einem Startkapital von ungefähr 50 Mrd. US-Dollar einrichten. Die Bank soll von China als Recycling-Mechanismus genutzt werden, um chinesische Überschüsse in Infrastruktur nicht nur in den anderen BRICS-Staaten (wo Indien und Südafrika die wichtigsten Beispiele sind), sondern auch im Rest des Südens zu investieren. Es wird geschätzt, dass die Kosten für die Infrastrukturentwicklung innerhalb der BRICS-Staaten sich auf rund 15 Billionen US-Dollar belaufen. Die Weltbank ist nicht nur wenig begeistert von einem derartigen Kostenaufwand, sondern zudem auch nicht einverstanden mit der Art der von den BRICS-Staaten für ihre Binnenmärkte und für die internationale Ebene erarbeiteten Entwicklungsvision.

Multipolarer Regionalismus

Letztlich haben die BRICS-Staaten begonnen darauf hinzuweisen, dass sie dem Norden, mit den Vereinigten Staaten an der Spitze, nicht länger erlauben wollen, die internationalen Angelegenheiten zu dominieren. Seit den späten 1980er Jahren hat der Norden die Kontrolle bei der Entscheidungsfindung in den Vereinten Nationen (mittels des Sicherheitsrates) übernommen und versucht, den meisten multinationalen Organen seine eigene Agenda überzustülpen. Das »Nabe-und-Speichen«-Modell für die Handhabung internationaler Beziehungen kam Ende der 1990er Jahre auf. US-Militärbasen und extraterritoriale Rechtsprechung, begründet mit einem Menschenrechtsinterventionismus, bildeten die neue Architektur der globalen Weltordnung (der »Neuen Weltordnung« des George H. W. Bush). Mit der US-Macht am Rande ihrer Möglichkeiten und regionalen Instanzen, die nun begannen, in die Bearbeitung regionaler Konflikte einzugreifen, beginnt sich das System aufzulösen. Die BRICS-Staaten unterstützen jetzt die Idee einer UN-Reform, die auch eine Begrenzung der Befugnisse der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates vorsieht. Sie unterstützen zudem das Konzept einer »multilateralen Diplomatie« anstatt der US-Vorherrschaft. Darin besteht eine signifikante Abkehr von der allgemeinen Zurückhaltung der BRICS-Staaten – vor allem Chinas –, die sich mit dem Eingreifen in Konflikte außerhalb ihrer Grenzen sehr schwer tun.

Diese drei Punkte – Finanzreform, eine Entwicklungsagenda und multipolarer Regionalismus – bilden die Kernelemente der BRICS-Agenda.

Gipfel-Politik

Der 5. BRICS-Gipfel 2013 endete im südafrikanischen Durban mit minimalen Ergebnissen. […] Sogar die lang erwartete BRICS-Entwicklungsbank (Punkt 9 der »eThekwini-Deklaration« von Durban) wurde in einer kühlen Art und Weise angekündigt: „Wir sind übereingekommen, die neue Entwicklungsbank zu gründen.“ Dies scheint der Stil des BRICS-Blocks zu sein: eine Art scheues Betreten der Weltbühne ohne das Ausbreiten bedeutender politischer Alternativen und ohne größere PR-Kampagne. Einer der Gründe für diese Schüchternheit besteht darin, dass die BRICS-Staaten keinen substanziell neuen Ansatz für die Themen der Welt haben. Das liegt einerseits daran, dass sie durch die umfassende Übernahme neoliberaler Politik in ihren eigenen Ländern eingeschränkt sind, und andererseits, dass sie in einem Teufelskreis der Billigproduktion für die kreditgestützten Enklaven des Globalen Nordens gefangen sind.

Die schwülstigen Worte von „nachhaltiger Entwicklung“ und „Armutsreduzierung“ tauchen gemeinsam mit den altbekannten Plattitüden von der Notwendigkeit der Erhöhung ausländischer Direktinvestitionen und „der Unterstützung von Wachstum und dem Fördern finanzieller Stabilität“ auf. Angesichts eines zunehmenden Konsenses darüber, dass die in diesen Staaten verfolgten Wachstumsstrategien eher die Ungleichheit vergrößern als Armut zu verringern, werden die guten Vorsätze, die Armut auszumerzen, vom Mantra des Wachstums unterminiert.

Der BRICS-Block möchte seine neuen wirtschaftlichen Stärken in politische Macht ummünzen, besonders indem er sich selbst als führende Kraft für einen neuen Entwicklungsdialog positioniert. Indikatoren für einen alternativen Ansatz zum Fundamentalismus des freien Marktes des Nordens sind auf den BRICS-Foren und in der »eThekwini-Deklaration« deutlich geworden. So stellt der BRICS-Block etwa nicht zwangsweise den privaten Sektor über den öffentlichen, verbunden mit der Anerkennung „der bedeutenden Rolle, die öffentliche Unternehmen in der Wirtschaft spielen“.

Es ist natürlich bereits länger nicht mehr der Fall, dass der öffentliche Sektor allein zum Wohl der Menschen arbeitet – mit staatlichen Unternehmen, die oft als Steckenpferde der reichen Eliten fungieren. Dennoch ist der öffentliche Sektor ein entscheidender Wegbereiter für soziale Entwicklung in Bereichen wie Bildung, Gesundheitswesen und bei der Schaffung von Arbeitsplätzen. Ebenso ist der Staat notwendig als Bollwerk gegen Spekulanten in Rohstoff- und Finanzmärkten, wo die natürlichen Schwankungen häufig zugunsten kurzzeitiger finanzieller Gewinne manipuliert werden, statt für die Sicherheit der Produzenten zu sorgen. Der BRICS-Block hat mit dem Contingency Reserve Arrangement (CRA) einen Fonds im Wert von 100 Mrd. US-Dollar geschaffen, der die Staaten des Südens vor kurzzeitigen Liquiditätsproblemen schützen soll – eine Bedingung, die oft vom IWF dazu genutzt wurde, Ländern mit knappen Finanzen die Übernahme neoliberaler Politik (Konditionalitäten) zu diktieren. Dies ist auch der Grund, weshalb der BRICS-Block seine eigene Entwicklungsbank eingerichtet hat, obwohl diese erst einmal ruht, da Indien und Russland zunächst die möglichen Wirkungen der Bank untersuchen wollen. Teil der Debatten um die Bank und die Sicherheitsreserve war auch die Möglichkeit, eine Ratingagentur des Südens zu gründen, um sie den Ratingagenturen des Nordens, wie etwa Moody’s und Standard & Poor’s, an die Seite zu stellen.

Die Schaffung ihrer eigenen Institutionen – des Contingency Reserve Arrangements und der BRICS-Bank – ersetzen nicht die Ambitionen der einzelnen BRICS-Staaten, in den älteren Institutionen das Heft in die Hand zu nehmen.

Unter Reformen des IWF oder der WTO wird jetzt ein größeres Stimmgewicht der Staaten des Südens verstanden. Im Falle der WTO hat der BRICS-Block zudem zu verstehen gegeben, dass er eine Koalition des Südens anführen möchte, um einen Vertreter des Südens zum nächsten Generalsekretär zu machen. Im letzten Jahr versuchte der Norden in Doha, angeführt von der Schweiz, das Mandat der UNCTAD zu torpedieren, indem er darauf drängte, die eigenen Sichtweisen auf die Reform des Finanzsektors zurückzustellen. Die BRICS unterstützten in der »Deklaration von Neu-Delhi« und der »eThekwini-Deklaration« erneut die Arbeit der UNCTAD zu „miteinander zusammenhängenden Fragen des Handels, der Investitionen, Finanzen und Technologie aus einer Entwicklungsperspektive“. Entscheidend sind hier die Worte „miteinander zusammenhängend“ und „Finanzen“ als Hinweise auf das Urteil des UNCTAD-Berichts zu Handel und Entwicklung aus dem Jahr 2011. Dort wird betont, dass die spekulative Macht des globalen Finanzsystems nicht nur wirtschaftliche Einöden in den Ländern des Nordens schuf, sondern auch jegliche Entwicklungsprojekte im Süden behinderte.

Grenzen der BRICS-Plattform

Die BRICS-Plattform hat verschiedenartige Begrenzungen. Zuerst einmal folgt die Innenpolitik der BRICS-Staaten dem allgemeinen Tenor dessen, was man als »Neoliberalismus mit südlichem Antlitz« bezeichnen kann – mit dem Verkauf von Rohstoffen und niedrigen Arbeitslöhnen neben dem recycelten Überschuss, der als Kredit an den Norden geht, während die Lebensqualität des Großteils der eigenen Bevölkerung niedrig bleibt. Die indische Bevölkerung ist beispielsweise mit hohen Armutsraten und Hunger konfrontiert, obwohl die Wachstumsraten stetig weiter steigen. Statt den sozialen Reichtum in Transferzahlungen und in die Schaffung stabilerer sozialer Löhne umzuwandeln, scheint das Land dem Rat des Weltbankpräsidenten Robert Zoellick zu folgen und seinen Überschuss dafür zu verwenden, „der Weltwirtschaft zu helfen, sich von der Krise zu erholen“. Es hat etwas Obszönes, die »Lokomotiven des Südens« vor die Wagen des Nordens spannen zu wollen (vor allem angesichts des Unwillens des Nordens, die eigenen Überschüsse in den 1980er Jahren dafür zu nutzen, die damalige Schuldenkrise zu bekämpfen).

Zweitens war das BRICS-Bündnis bisher nicht in der Lage, eine neue institutionelle Grundlage zu schaffen, die seiner wachsenden Macht gerecht würde. Es plädiert weiterhin für demokratischere Vereinte Nationen und mehr Demokratie in IWF und Weltbank. Diese Appelle haben wenig bewirkt. Als die Finanzkrise ihren Höhepunkt hatte, versprach die G8, sich aufzulösen und die G20 für ihre Zwecke zu nutzen – dies ist nun vergessen. Eine blutleere Zunahme von Stimmübertragungen im IWF hat den Süden nicht in die Lage versetzt, im Sommer 2011 einen gemeinsamen Kandidaten als Direktor zu ernennen.

Drittens hat die BRICS-Formation keine ideologische Alternative zum Neoliberalismus vorgebracht. Es gibt viele Vorschläge zur Schaffung einer nachhaltigeren Wirtschaftsordnung, doch diese wurden an den Rand gedrängt. Die Rio-Formel eines „separaten und differenzierten Umgangs“ erlaubt es dem Süden, Zugeständnisse zu fordern, die der Norden verweigert (nicht zuletzt beim Klimawandel). Dies ist eine defensive Haltung. Bislang wurde keinerlei positive Alternative vorangetrieben. Möglicherweise wird sie den Erschütterungen von unten entspringen, wo man keine Lust verspürt, an einem System herumzudoktern, dass viele, wenn nicht die meisten Menschen, als grundsätzlich gescheitert ansehen.

Und schließlich fehlt dem BRICS-Projekt die Fähigkeit, die militärische Vorherrschaft der Vereinigten Staaten und der NATO zu brechen. Wenn die Vereinten Nationen dafür stimmen, „den Mitgliedstaaten alle notwendigen Maßnahmen“ zu erlauben, wie es bei der Resolution 1973 zu Libyen der Fall war, ist dies im Grunde ein Blankoscheck für die NATO, militärische Mittel einzusetzen. Regionale Alternativen, die funktionieren würden, gibt es nicht. Die Fähigkeit der Vereinigten Staaten zur Machtprojektion bleibt weltweit bestehen – mit Militärbasen auf allen Kontinenten und der Fähigkeit, fast überall zuzuschlagen. Diese globale Präsenz von NATO und USA schwächt die Kapazität regionaler Mechanismen für Friedensmaßnahmen und Konfliktlösungen.

Überbordende Militärmacht übersetzt sich in politische Macht. Regionalismus und Multipolarität stehen im Mittelpunkt der jüngsten Debatten. Nebenabsprachen verbesserten die regionale wirtschaftliche Entwicklung und schufen die Basis für Regionalpolitik ohne US-Vorherrschaft. So leiteten Afghanistan, Indien und Iran am Rande des 16. Gipfels der NAM [Non-Aligned Movement] im Jahr 2012 einen Prozess ein, um ihre gegenseitigen Verbindungen mittels des im Südosten Irans gelegenen Hafens von Tschabahar zu intensivieren. Das von den USA besetzte Afghanistan importiert, ungeachtet der US-amerikanischen und europäischen Sanktionen, 50 Prozent seines Erdöls aus Iran. Die US-Bestrebungen, Teheran zu isolieren, sind in einer multipolaren Welt schlichtweg nicht durchsetzbar.

Die aufstrebende und von den BRICS-Staaten unterstützte Politik der NAM zielt nicht länger auf Blockfreiheit, sondern auf Regionalismus und Multipolarität ab. Schuldenkrisen und Sparmaßnahmen im Norden werden gleichermaßen Druck auf dessen Fähigkeit ausüben, die eigene militärische Macht auf dem ganzen Planeten auszuüben. China, das die weltgrößte Wirtschaft haben wird, hat sich der Multipolarität verschrieben. Deshalb ist auch eine neue geistige Orientierung (Regionalismus und Multipolarität) des BRICS-Blocks viel realistischer als die erneute Durchsetzung der Vorherrschaft des Nordens. Es wird kein weiteres amerikanisches Jahrhundert geben. Wir stehen am Beginn eines neuen multipolaren Experiments.

Das BRICS-Projekt bedeutet keine Freiheit für den Süden. Dennoch: Das politische System erhält frischen Sauerstoff. Das IBSA-Dialogforum [Indien, Brasilien und Südafrika] und die BRICS-Plattform verleihen älteren Ideen der Süd-Süd-Kooperation neues Gewicht – Konzepte, die sich in den 1990er und 2000er Jahren in Gefahr befanden, zu Anachronismen zu werden. […]

Perspektiven des BRICS-Blocks

Die gegenwärtigen Führungen der einzelnen BRICS-Staaten lassen nicht erkennen, dass die BRICS-Agenda einen stärker progressiven Kurs einschlagen würde. Seit den 1990er Jahren lag ein Ungleichgewicht vor, weil der Norden den Kurs von Politik und Macht strikt gemäß den eigenen Interessen und denen seiner Unternehmen ausrichtete. Die BRICS-Staaten versuchen nun schlicht, die Kompassnadel nach ihren eigenen Interessen auszurichten, damit ihre eigenen Entwicklungsprogramme aus dem Schatten der Schuldenkrise und des Regimes der geistigen Eigentumsrechte ausbrechen können. Ihre eigenen Unternehmen sollen dadurch mit im Norden angesiedelten transnationalen Firmen in den Wettbewerb treten, und das Konzept der Süd-Süd-Kooperation soll als Argument für eine bevorzugte Behandlung angewandt werden können. Brasiliens Versuch, die progressive Agenda der Lateinamerikanischen Entwicklungsbank, der Bank des Südens (Banco del Sur), zu bremsen, ist ein Indikator für die engen Grenzen der Politik der BRICS-Staaten. Wenn die gegenwärtigen Regierungen in den BRICS-Staaten an der Macht bleiben, ist nicht zu erwarten, dass die Dynamik des BRICS-Blocks sich von dem unterscheiden wird, was wir bisher gesehen haben.

Sollten jedoch progressive Regierungen in den BRICS-Ländern an die Macht gelangen, so wie es in Lateinamerika in den letzten 15 Jahren der Fall war, ist eine andere Politik des BRICS-Blocks denkbar. Ein aggressives Umschwenken, bei dem Überschüsse des Südens in die eigenen Bevölkerungen transferiert werden, begleitet von Änderungen am Wachstumsmodell der einzelnen Staaten, hätte eine unmittelbare Auswirkung auf die Verwendung von Institutionen wie der BRICS-Bank. Eine neue Stiftung für Wirtschaftsabkommen im Binnenhandel, bei denen Mechanismen der Preisgestaltung sowohl Produzenten als auch Konsumenten begünstigen, ohne dass das private Kapital die Gelegenheit erhält, den Löwenanteil des Handels abzuschöpfen, könnte ebenso auf Grundlage des eigenen Süd-Süd-Handels eingerichtet werden. Eine derart progressive Agenda könnte die Länder des Südens, und vor allem die BRICS-Staaten, befähigen, wirtschaftlich nicht länger vom Norden abhängig zu sein (beispielsweise in Sachen Märkte und Technologien) und auf diese Weise auch die politische Abhängigkeit von Washington zu brechen.

Dies wäre eine mögliche Aussicht für den Süden. Sie ist jedoch, angesichts der gegenwärtigen Klassenzusammensetzung in der Führung der BRICS-Staaten, nicht die wahrscheinlichste Variante für den BRICS-Block. Gegenwärtig geht es nur um eine Neujustierung der Machtbeziehungen, nicht um deren Transformation. Dies ist bis auf Weiteres das Programm des BRICS-Blocks und im Kern auch sein Versprechen.

Anmerkung

Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus der gleichnamigen Studie von Vijay Prashad, die auf der Website des New Yorker Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht wurde. Dort steht auch eine umfassende Literaturliste zum Thema.

Vijay Prashad ist Professor für Südasiatische Geschichte am Trinity College in Connecticut, USA.

Gewaltig oder gewalttätig?

Gewaltig oder gewalttätig?

Entwicklung mit kolonialem Antlitz

von María Cárdenas

Noch immer herrschen koloniale Machtverhältnisse vor allem in den politischen und Wirtschaftsbeziehungen vor. Grund dafür ist nicht zuletzt die fehlende Dekolonisierung im Denken. Als Folge werden ungleiche Machtverhältnisse perpetuiert oder durch vorgeblich faire Regeln erst neu geschaffen. Damit fördern sie Armut, Ungleichheit und Konfliktdynamiken mit fatalen Folgen für die Zivilbevölkerung.

Guido Speckmann weist am Beispiel der Beziehungen mit den AKP-Staaten darauf hin, dass die EU dieses Ungleichgewicht keineswegs aufheben will. Unter dem Mantel der »liberalen Marktwirtschaft« werden Länder mit hoher Exportabhängigkeit neokolonialisiert. Michael Basedau beschreibt, wie ressourcenreiche Länder vom Export und damit von den instabilen internationalen Rohstoffmärkten abhängig werden. Der Ressourcenabbau kann innerstaatliche Konflikte verschärfen oder verlängern bzw. selbst zum Konfliktgegenstand werden. Hierbei spielt das Interesse externer Staaten und ausländischer Kapitalgeber, die den Ressourcenabbau oft erst möglich machen, eine zentrale Rolle. Ähnlich beschreibt es auch Lukas Renz am Beispiel der deutschen Entwicklungspolitik, die stark an der Rohstoffsicherung orientiert ist. Die deutsche Entwicklungspolitik ist somit, ungeachtet ihrer Verlautbarung, viel mehr nach innen als nach außen gerichtet und schafft in den Ländern, die sie bei ihrer Entwicklung »unterstützen« will, damit neue Abhängigkeiten. In der Summe führt dies allzu häufig dazu, dass die Rechte der Bevölkerung und Umweltbelange ignoriert oder mit Gewalt unterdrückt werden..

Post- und neokoloniale Dynamiken lassen sich auch auf der internationalen Tribüne erkennen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass eine Abkopplung von herrschaftsförmigen Momenten des internationalen Systems lange Zeit nicht stattgefunden hat, wie Peter Wahl am Beispiel der Bretton-Woods-Institutionen aufzeigt. Diese Institutionen, die finanzschwachen Ländern polit-ökonomische und soziale Reformen über die Kreditvergabe aufzwingen, verlieren zwar in jüngster Zeit an Bedeutung. Maßnahmen wie die Gründung alternativer Institutionen, beispielsweise der Entwicklungsbank der BRICS-Staaten, dienen allerdings eher der Neujustierung der Machtverhältnisse als deren Transformation oder einer inhaltlichen Neugestaltung der internationalen Beziehungen, wie Vijay Prashad erläutert. Damit wirken sie sich nicht positiv auf die Lebensqualität der eigenen Bevölkerung aus. Ein Prozess der Dekolonialisierung zeichnet sich jedoch mit dem integrativen und komplementär zu anderen Mechanismen ausgelegten ALBA-Abkommen am lateinamerikanischen Horizont ab, wie Harri Grünberg veranschaulicht. ALBA fördert nicht nur ökonomische und finanzielle, sondern u.a. auch wissenschaftliche und strukturelle Kooperation und versteht den Begriff Entwicklung allumfassend und mit dem Ziel zunehmender Unabhängigkeit.

Statt einer Dekolonisierung im Denken, so auch Conrad Schetter, wurden Begriffe wie »Entwicklung«, »Treuhand« und jüngst auch »Sicherheit« ihrer eigentlichen Bedeutung enthoben und von der Gebergemeinschaft gewinnorientiert umgedeutet, sodass sie zur Rechtfertigung militärischer und wirtschaftlicher Interventionen taugen. »Bilateral Immunity Agreements« schützen diese Staaten, allen voran die USA, so Norman Paech, wiederum vor der juristischen Sanktionierung von Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag: Dies führt dazu, dass zwar bereits 122 Staaten das Römische Statut unterzeichnet haben, bislang jedoch nur Staatsbürger afrikanischer Staaten angeklagt und verurteilt wurden. Kein einziger »westlicher« Staat steht auch nur unter Beobachtung des IStGH.

Eine ähnliche Problematik zeigt sich bei den Rüstungsexporten aus dem »Norden« in den »Süden«, die mit Verweis auf Arbeitsplätze im Norden gerechtfertigt werden, den Verlauf inner- und zwischenstaatlicher Konflikten im Süden aber auf erschütternde Weise mitprägen. Hier ist das zentrale Problem der Lobbyismus in den Hersteller- wie den Importländern und ein hohes Maß an Korruption auf Seiten der Rüstungsfirmen wie der Rüstungskäufer, so Michael Brzoska.

Die Beiträge in diesem Heft zeigen, wie wichtig der Druck zivilgesellschaftlicher Bewegungen für einheitliche, internationale (moralische) Standards und für einen gleichberechtigten Handel ist, um einen Wandel im internationalen Machtgefüge herbeizuführen und neokoloniale Tendenzen (auch der »Lokomotiven des Südens«) zu beenden. Das bedeutet aber auch, dass wir Gesellschaften aus dem Norden uns kritisch mit unseren Privilegien und ihren Konsequenzen auseinandersetzen müssen. Erst dann wird eine friedliche innerstaatliche und internationale Entwicklung möglich werden.

Ihre María Cárdenas

Orwell im Tschad

Orwell im Tschad

Wie Österreich und die EU Militäreinsätze über die Entwicklungshilfe querfinanzieren

von Jürgen Wagner

Am 15. Oktober 2007 hatte die Europäische Union beschlossen, eine Militärmission in den Tschad und die Zentralafrikanische Republik zu entsenden. Nachdem Österreich von den bis Mitte Juni 3.048 stationierten Soldaten des EUFOR Chad/RCA-Einsatzes 181 stellt, sorgte Mitte April die Meldung für große Empörung, dass die Kosten hierfür in Höhe von zunächst 25 Mio. Euro dem Entwicklungshilfeetat entnommen werden.

So skandalös es ist, dass Gelder, die zur Armutsbekämpfung gedacht sind, regelrecht zweckentfremdet werden, ist dies jedoch keineswegs – wie die gegenwärtigen Medienberichte vermuten lassen – ein grundlegend neues Phänomen. Vielmehr ist die Querfinanzierung von Militäreinsätzen mit Hilfe von Entwicklungshilfegeldern innerhalb der Europäischen Union schon länger gängige Praxis.1

Der entwicklungspolitische Paradigmenwechsel: Ohne Krieg keine Entwicklung!

Nachdem sich der Druck auf die Industriestaaten im Laufe der 1960er Jahre vergrößerte, verpflichteten sich diese schließlich mit der UN-Resolution 2626 vom 24. Oktober 1970 explizit darauf, mindestens 0,7% ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Entwicklungshilfe aufzuwenden. Zwar wird diese Marke bis heute von den meisten Ländern bei weitem nicht erreicht, gerade deshalb ist es aber eine entscheidende Frage, welche Ausgaben als Öffentliche Entwicklungshilfe (ODA) verrechnet werden können. Die Relevanz der ODA-Zahlen ist beträchtlich, geben sie doch Aufschluss darüber, inwieweit die Geberländer ihrer – ohnehin schon sehr bescheidenen – Zusage aus besagter Resolution nachkommen.

Um die Höhe der Öffentlichen Entwicklungshilfe zu bestimmen, richtete die OECD bereits im Jahr 1969 ein einheitliches Erfassungssystem ein. Seither legt der OECD-Entwicklungshilfeausschuss (OECD-DAC), dem die 22 wichtigsten Geberländer plus die Europäische Kommission angehören, nach dem Einstimmigkeitsprinzip verbindliche Kriterien fest, was als ODA bezeichnet und abgerechnet werden kann: „Als ODA werden Leistungen der öffentlichen Hand angerechnet, die erstens an Länder vergeben werden, die von der OECD als Entwicklungsländer eingestuft werden, zweitens das Ziel der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung verfolgen und drittens ein Zuschusselement von mindestens 25% beinhalten.“ 2 Nachdem militärische Aspekte jahrzehntelang kategorisch ausgeschlossen wurden und Entwicklungshilfe sich – zumindest formell – auf Armutsbekämpfung im engeren Sinne konzentrieren musste, liegt es auf der Hand, dass jede Öffnung der ODA-Kriterien zugunsten sicherheitspolitischer Ausgaben die Rüstungsetats entlasten hilft, eine Erhöhung der Entwicklungshilfe lediglich vorgaukelt und so gleichzeitig die miserable Bilanz der Geberländer schönen hilft.

Die Attraktivität einer solchen Querfinanzierung sicherheitspolitischer Aufgaben ist offensichtlich; sie erfordert aber ein Konstrukt, mit dem Militäreinsätze zu einem entwicklungspolitischen Projekt umdefiniert werden können. Obwohl in der Kriegsursachenforschung mittlerweile nahezu unstrittig Armut als wichtigster Faktor für eine gewaltsame Eskalation von Konflikten in der sog. Dritten Welt identifiziert wurde3, hat sich mittlerweile die Sichtweise durchgesetzt, Bürgerkriege in »gescheiterten Staaten« seien ausschließlich auf Binnenfaktoren zurückzuführen (habgierige Warlords, ethnische Konflikte, etc.). Da hierdurch westliche Investitionen und damit eine nachhaltige Entwicklung verhindert würden, bedürften solche Staaten der externen Stabilisierung durch das Militär. Die dahinter stehende »Logik« wurde bspw. vom Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Jürgen Thumann, treffend auf den Punkt gebracht: „Investitionen in Entwicklungsländern schaffen Jobs und Einkommen. […] Dort wo unsere Unternehmen aktiv sind, stärken sie die Wirtschafts- und Finanzstrukturen. Aber die Wirtschaft braucht sichere Rahmenbedingungen. Mangelnde Rechtssicherheit und Rechtstaatlichkeit machen Investitionen schwer verantwortbar.“ Entscheidend ist, dass Thumann auf dieser Grundlage die entwicklungspolitische Prioritätensetzung auf den Kopf stellt: „Die Grundhypothese ‚ohne Entwicklung keine Sicherheit' stellt sich häufig genau anders herum dar. ‚Ohne Sicherheit keine Entwicklung'.“ 4 Aus dem Bestreben, militärisch die Realisierung von Profitinteressen zu garantieren und die bestehenden Hierarchie- und Ausbeutungsverhältnisse der Weltwirtschaftsordnung militärisch abzusichern, wird somit schamlos ein entwicklungspolitisches Projekt gemacht.

Dennoch ist diese Sichtweise mittlerweile in nahezu jedem sicherheitspolitischen und seit einiger Zeit auch entwicklungspolitischen Grundsatzdokument anzutreffen. So äußern sich nicht nur zahlreiche Politiker in diese Richtung, sondern auch die im Dezember 2003 verabschiedete Europäische Sicherheitsstrategie enthält entsprechende Aussagen: „Eine Reihe von Ländern und Regionen bewegen sich in einem Teufelskreis von Konflikten, Unsicherheit und Armut.“ Während es sich hierbei noch um eine weit gehend unstrittige Tatsache handelt, ist die entscheidende Frage jedoch, wie aus diesem Teufelskreis ausgebrochen werden kann und welche Prioritäten damit gesetzt werden: „Sicherheit ist eine Vorbedingung für Entwicklung.“ 5 Analog hierzu sieht sowohl der im Jahr 2006 verabschiedete »Europäische Konsens über die Entwicklungspolitik« als auch der OECD-Entwicklungshilfeausschuss mittlerweile in der Unterstützung des »Stabilitätsexports« eine der vorrangigsten Aufgaben der Entwicklungspolitik.6 Offensichtlich hat ein fundamentaler entwicklungspolitischer Prioritätenwechsel stattgefunden, der von zwei Autoren des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) folgendermaßen treffend zusammengefasst wurde: „,Keine Entwicklung ohne Sicherheit' wird immer mehr zu einem entwicklungspolitischen Paradigma, das neue Handlungsweisen in der Entwicklungspolitik erforderlich macht.“ 7 Hierdurch ist der Argumentationsteppich ausgebreitet, mit dem die Unterstützung militärischer »Stabilisierungsmaßnahmen« als Armutsbekämpfung umdeklariert und so auch eine Querfinanzierung derartiger Maßnahmen legitimiert werden kann.

Die sicherheitspolitische Öffnung der ODA-Kriterien

Der große Dammbruch erfolgte in den Jahren 2004 und 2005 auf den alljährlichen Treffen des zuständigen OECD-Entwicklungshilfeausschusses (DAC High Level Meeting). Dort beschlossen die jeweiligen Fachminister, die ODA-Kriterien in zwei Schritten um verschiedene sicherheitsrelevante Aspekte zu erweitern. Seither sind folgende Maßnahmen ODA-anrechenbar:

Verwaltung der Sicherheitsausgaben

Stärkung der Rolle der Zivilgesellschaft im Sicherheitssystem

Kindersoldaten (Prävention und Demobilisierung)

Reform des Sicherheitssektors

Zivile Friedensentwicklung, Krisenprävention und Konfliktlösung

Handfeuerwaffen und leichte Waffen (SALW).8

Zwar sind – zumindest bislang noch – die Kosten für militärische Aspekte friedenserhaltender oder friedenserzwingender Einsätze ebenso wenig ODA-anrechenbar wie die Lieferung von Militärgütern, dennoch eröffnete bereits diese Veränderung der ODA-Kriterien die Möglichkeit, allerlei sicherheitsrelevante Ausgaben per Entwicklungshilfe quer zu finanzieren. Insbesondere der Bereich der Sicherheitssektorreform erweist sich hier als problematisch. So wurden bspw. Ausgaben im Rahmen »sicherheitspolitischer Beratung« in Armenien und Aserbaidschan, d.h. die Erstellung neuer nationaler Sicherheitskonzepte, mit jeweils 1 Mio. Euro aus dem deutschen BMZ-Haushalt unterstützt und als ODA abgerechnet. Da die Weißbücher unter anderem die Annäherung an die NATO befördern sollten, ist es kein Wunder, dass sich die durchführende Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) dabei eng mit dem NATO-Vertreter vor Ort abstimmte.9 Auch für die Ausbildung der afghanischen Polizei wurden bis Ende 2006 insgesamt 60 Mio. Euro aus dem deutschen Entwicklungshaushalt (Einzelplan 23) aufgewendet.10

Im EU-Rahmen wurden mittlerweile ebenfalls zahlreiche Maßnahmen zur Sicherheitssektorreform gestartet. Dabei wird u.a. im Rahmen der EU-Mission EUPOL Kinshasa (jetzt: EUPOL RD Congo) der Aufbau paramilitärischer »Integrierter Polizeieinheiten« überwacht und angeleitet, die wiederholt durch überaus brutales Vorgehen gegen die Zivilgesellschaft auffielen und damit die Regierung Joseph Kabilas absichern, der sich gegenüber europäischen Wirtschaftsinteressen stets sehr aufgeschlossen gezeigt hat und deshalb von Brüssel unterstützt wird.11 Hieran zeigt sich bereits, dass sich schon heute zahlreiche sicherheitsrelevante Maßnahmen per Entwicklungshilfe quer finanzieren lassen. Mag man noch über Sinn oder Unsinn von Maßnahmen zur Sicherheitssektorreform, dem Aufbau von Polizeitruppen etc., streiten – dass solche Maßnahmen inzwischen als Offizielle Entwicklungshilfe abgerechnet werden können und damit nicht mehr der Armutsbekämpfung zur Verfügung stehen, ist zweifellos negativ.

Doch die bislang eingeleiteten Maßnahmen gehen vielen Geberländern noch nicht weit genug.12 So werden zwar derzeit bereits die Mittel zur Unterstützung von Militärmissionen der Afrikanischen Union (AU, gegr. 1993) über die Afrikanische Friedensfazilität (African Peace Facility) finanziert und damit dem Topf des Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) entnommen, ODA-anrechenbar sind diese Gelder bislang jedoch noch nicht.13 In diesem Zusammenhang wurde allein die AU-Mission im Sudan (AMIS) mit mehr als 300 Mio. Euro unterstützt, ein Einsatz, der direkt erhebliche wirtschaftliche und strategische EU-Interessen berührt.14 Obwohl betont wurde, bei dieser Querfinanzierung handele es sich um „eine aus der Not geborene Ausnahmelösung“ 15, wurden für die Jahre 2008 bis 2010 erneut 300 Mio. Euro eingestellt.16 Auch im Tschad und in der Zentralafrikanischen Republik sollen in den nächsten fünf Jahren im Rahmen von Maßnahmen zur Sicherheitssektorreform Ausgaben in Höhe von 436 Mio. Euro dem Topf des Europäischen Entwicklungsfonds entnommen werden17, womit die Gelder der Peace Facility bereits jetzt verplant sind und somit eine weitere Erhöhung absehbar ist. Mit der Peace Facility wurde ein Präzedenzfall geschaffen, an dem die Forderung nach einer Erweiterung der ODA-Kriterien auf Militäreinsätze aufgehängt werden kann. Die EU-Kommission jedenfalls fordert genau dies: „Damit zur Unterstützung friedenssichernder Maßnahmen in Afrika mehr Mittel zur Verfügung stehen, wäre es angebracht, innerhalb des Entwicklungsausschusses der OECD (DAC) einen Konsens zu suchen, um das im Rahmen der öffentlichen Entwicklungshilfe als unterstützungswürdig geltende Hilfespektrum auszuweiten auf die Unterstützung der afrikanischen Kapazitäten zur Durchführung friedenssichernder und damit zusammenhängender Maßnahmen.“ 18 Noch weiter gehen die Forderungen, sog. Peace Support Operations (PSOs), friedenserhaltende und selbst friedenserzwingende UN-Einsätze mit einem Mandat zur offensiven Gewaltanwendung ODA-anrechenbar zu machen, was bislang nur zu einem extrem geringen Anteil möglich ist.19

Schon im Vorfeld des DAC High Level Meetings im Jahr 2004 wurde Druck ausgeübt, auch die direkte Finanzierung derartiger UN-Einsätze in die ODA-Kriterien aufzunehmen. So forderte eine G8-Erklärung im Jahr 2003, „einen Konsens im OECD-Entwicklungshilfeausschuss herzustellen, Entwicklungshilfe für PSO-bezogene Aktivitäten freizusetzen.“ 20 Da hierüber kein Konsens erzielt werden konnte, wurde das Thema zunächst bis zum High Level Meeting Anfang 2007 vertagt. Zwar stand dort die ODA-Anrechenbarkeit von PSOs auf der Tagesordnung, die Gegner einer Ausweitung konnten sich gegen die Befürworter, Kanada, Schweden und die Vereinigten Staaten – Finnland und Deutschland standen einer Ausweitung ebenfalls wohlwollend gegenüber -, durchsetzen.21 Dennoch wurde eine weitere Evaluierung der Thematik beschlossen und die Option offen gehalten, diesen Aspekt im Jahr 2008 erneut auf die Agenda zu setzen.22 Darüber hinaus ist aber die bereits erfolgte Ausweitung der ODA-Kriterien unumstritten, eine Rücknahme dieses Dammbruches ist derzeit nicht abzusehen und stand zu keinem Zeitpunkt zur Debatte.23

Sollte es tatsächlich gelingen, Militäreinsätze im Rahmen der Vereinten Nationen als ODA abrechnen zu können, würde hiermit Schätzungen zufolge eine Erhöhung der Öffentlichen Entwicklungshilfe um 8-12% erfolgen, ohne dass die Geberländer einen Cent mehr in die Armutsbekämpfung investieren müssten. Gegenwärtig am teuersten sind jedoch Einsätze, die nicht von den Vereinten Nationen geführt werden (Afghanistan, Kosovo, Tschad, etc.). Sollte sich die Forderung durchsetzen, selbst solche Einsätze als ODA zu deklarieren, würden die ODA-Zahlen rapide ansteigen. Allein für Deutschland würde dies eine »Erhöhung« um 25% bedeuten. Im Falle der USA wäre in diesem Fall sogar noch vor dem extrem kostenintensiven Angriffskrieg gegen den Irak ein ODA-Anstieg um 44% zu verzeichnen gewesen.24 Es liegt auf der Hand, dass eine derartig vorgegaukelte massive Erhöhung der Entwicklungshilfe unter allen Umständen verhindert werden muss. Gerade deshalb ist die jüngste Zusicherung der OECD, die österreichischen Ausgaben für den Militäreinsatz im Tschad vollständig als ODA abzurechnen, überaus problematisch. Umso mehr, da hiermit ein Präzedenzfall gesetzt werden könnte, der auf dem OECD High Level Meeting im Jahr 2009 endgültig den Weg zur Querfinanzierung von Militäreinsätzen mit Entwicklungshilfegeldern freimachen könnte.

Österreichische Kriegsentwicklungshilfe im Tschad

Auch in Österreich werden Militäreinsätze wie im Tschad mit dem oben beschriebenen neuen entwicklungspolitischen Paradigma begründet. So äußerte sich Hans Winkler, Staatssekretär im Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten, folgendermaßen: „Nachhaltige Entwicklung kann ohne Sicherheit und Stabilität nicht erfolgen.“ 25 Ungeachtet der österreichischen Neutralität beteiligt sich das Land deshalb mit dieser Begründung mit derzeit 151 Soldaten am EU-Einsatz im Tschad. Was jedoch für die Maßnahmen zur Sicherheitssektorreform gilt, nämlich, dass deren »stabilisierender« Charakter durchaus fragwürdig ist und vieles eher dafür spricht, dass hiermit vielmehr »europäische Interessen« durchgesetzt werden sollen, trifft umso mehr für direkte EU-Militäreinsätze zu. Auch die Mission im Tschad macht hier keine Ausnahme.26

In jedem Fall – egal, ob man der EU nun altruistische oder egoistische Motive unterstellt – sollten die Kosten für solche Einsätze nicht über Töpfe gedeckt werden, die eigentlich für Maßnahmen zur direkten Armutsreduzierung gedacht sind. So kritisiert Christoph Petrik-Schweifer, Chef der Auslandshilfe von Caritas Österreich: „Wenn ein Militäreinsatz in die Entwicklungshilfe eingerechnet wird, wird das Geld an anderer Stelle, etwa bei der Nahrungsmittelhilfe, fehlen.“ 27 Dennoch berichtete die österreichische Tageszeitung »Der Standard« Mitte April 2008, einen Monat vor dem wichtigen Treffen der Geberländer, Österreich sei von der OECD die ODA-Anrechenbarkeit des Einsatzes zugesichert worden.28 Als Begründung gibt Staatssekretär Hans Winkler folgendes an: „Bei diesem Fall steht der humanitäre Einsatz im Vordergrund und daher ist dieser Einsatz zu einem großen Prozentsatz anrechenbar.“ 29

Offiziell verfolgt der Einsatz das Ziel, Flüchtlingslager militärisch zu schützen, eine Maßnahme, die den ODA-Kriterien zufolge eigentlich nicht anrechenbar sein dürfte. Da darüber hinaus heutzutage nahezu jeder Kriegseinsatz humanitär begründet wird – man erinnere sich nur an die Bombardierung Jugoslawiens im Jahr 1999 -, könnte die österreichische Argumentation der groß angelegten Zweckentfremdung von Entwicklungshilfe Tür und Tor öffnen. Denn dieses Beispiel droht Schule zu machen, wie wiederum »Der Standard« mit Verweis auf österreichische Regierungsquellen berichtet: „Auch andere Staaten werden sich den Einsatz anrechnen lassen, heißt es.“ 30 Wohin diese Entwicklung führen könnte, deuten Aussagen des deutschen CDU-Haushaltspolitikers Ole Schröder an: „Missionen wie zum Beispiel in Nordafghanistan und im Kongo sind eindeutig Entwicklungshilfe.“ Entlarvend ist jedoch Schröders Zusatz, durch eine Finanzierung solcher »humanitärer Missionen« aus dem Entwicklungshilfe-Etat könne der Wehretat „in Millionenhöhe entlastet“ werden.31

Zynisch gesagt: Sollte sich diese Sichtweise durchsetzen, hätten die Industriestaaten keinerlei Schwierigkeiten, ihre jahrzehntealten Zusagen, die Entwicklungshilfe substanziell zu erhöhen, einzuhalten, wenn dies über eine einfache Umschichtung von Rüstungsausgaben bewerkstelligt werden kann. Schon heute geben die OECD-Länder 30% ihrer Gelder für Maßnahmen aus, die nicht unmittelbar der Armutsbekämpfung dienen und deren langfristige Wirkungen bestenfalls hochgradig fragwürdig sind (bspw. Ausgaben für ausländische Studenten und die Kosten für die Unterbringung von Asylbewerbern und Flüchtlingen, einschließlich der Abschiebungskosten!). In Deutschland beläuft sich diese »Phantomhilfe« nach Berechnungen der Hilfsorganisation CONCORD auf 43% der gesamten ODA-Ausgaben, in Österreich sogar auf 62%.32 Sollte nun am Beispiel des Tschad tatsächlich eine generelle Anrechenbarkeit von Militäreinsätzen ermöglicht werden, verkommen alle vollmundigen Zusagen der Gebergemeinschaft, die Entwicklungshilfe substanziell zu erhöhen, zu einem schlechten Witz.

Fazit: Ohne Gerechtigkeit keine Sicherheit

Angesichts zahlreicher gewaltsamer Konflikte mag es verständlich erscheinen, wenn von vielen Seiten in einen militärischen Aktionismus verfallen wird, die richtige Reaktion ist dies deshalb noch lange nicht. Ohne die Anerkennung der Tatsache, dass die westliche Interessenspolitik und die westlich-dominierte neoliberale Weltwirtschaftsordnung, die eine drastische Verarmung weiter Teile der Weltbevölkerung verursacht hat, die wichtigste Ursache für das gewaltsame Ausbrechen von Konflikten darstellt, verbleiben alle Lösungsvorschläge dabei, Symptome wortwörtlich zu bekämpfen, statt die zugrunde liegenden Ursachen zu beseitigen.

Dies würde aber nicht nur eine Fokussierung der Entwicklungshilfe auf Maßnahmen zur strikten Armutsbekämpfung erfordern, sondern auch ein Nachdenken darüber, ob sich die Entwicklungsarbeit nicht grundsätzlich einen neuen Schwerpunkt suchen sollte. So betont eine Studie von »Coopération Internationale pour le Développement et la Solidarité« (CIDSE) richtigerweise, dass gegenwärtige Ansätze „der Illusion anhängen, dass Probleme gelöst werden könnten, ohne die fundamentale globale Ungerechtigkeit, Machtungleichgewichte und Praktiken wie den Waffenhandel zu verändern, die Konflikte anheizen und zu Unsicherheit beitragen. CIDSE sieht in der Veränderung der strukturellen Ursachen von Armut und globaler Ungerechtigkeit zentrale Elemente seiner Entwicklungsarbeit. Daraus folgt, dass wir nicht glauben, dass globale Sicherheit ohne Veränderungen im Norden erreichbar sein wird.“ 33 Dies erfordert aber eine systemkritische Fokussierung der Entwicklungspolitik, die es sich zur Hauptaufgabe macht, den im Norden liegenden Armutsursachen durch eine Veränderung der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung entgegenzuarbeiten. Eine solche Kehrtwende wäre die einzig richtige Schlussfolgerung aus den gravierenden Problemen, vor denen die Welt heute steht. Da aber generell keinerlei Bereitschaft existiert, die Spielregeln der Weltwirtschaft zu verändern, setzen die westlichen Industrienationen immer stärker auf militärische Mittel, um die systemisch produzierten Armutskonflikte notdürftig unter Kontrolle zu halten und perpetuieren damit den Teufelskreis aus Armut und Gewalt. Umso schlimmer ist es, dass die Entwicklungspolitik immer mehr zum Komplizen dieser Politik zu werden droht und sich hierdurch zunehmend diskreditiert.

Anmerkungen

1) Vgl. zu diesem Thema ausführlich Wagner, Jürgen (2007): Mit Sicherheit keine Entwicklung! Die Militarisierung der Entwicklungszusammenarbeit, Studie im Auftrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE, http://dokumente.linksfraktion.net/pdfmdb/7796242967.pdf (20.04.2008).

2) Hamann, Birte (2005): Sicherheit und Entwicklung. Veränderungen in der Entwicklungspolitik der USA und Deutschlands angesichts neuer Sicherheitsbedrohungen, Kölner Arbeitspapiere zur internationalen Politik, Nr. 30, S.3.

3) Vgl. Collier, Paul (2003): Breaking the conflict trap, World Bank Policy Research Report, S.53; vgl. auch UN Millennium Project (2005): Investing in Development: A Practical Plan to Achieve the Millennium Development Goals. New York, http://www.who.int/hdp/publications/4b.pdf, S.8 (10.04.2008); Congressional Budget Office (1994): Enhancing US Security Through Foreign Aid, Washington, DC; Brzoska, Michael (2006): Wie werden wir die nächsten hundert Jahre überleben?, Zeit Online 17. August 2006; eine Literaturübersicht findet sich bei Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung (2008): Globale Umweltveränderungen: Welt im Wandel: Sicherheitsrisiko Klimawandel. Heidelberg, S.36ff.

4) Thumann, Jürgen R. (2005): Interrelation of Economic Development and Security, Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz, 12.2.2005.

5) Europäische Sicherheitsstrategie: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt, Brüssel 2003, S.2.

6) Vgl. Der Europäische Konsens über die Entwicklungspolitik, Gemeinsame Erklärung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Kommission (2006/C 46/01); OECD: Principles for Good International Engagement in Fragile States, April 2007.

7) Klingbiel, Stephan & Roehder, Katja: Das entwicklungspolitisch-militärische Verhältnis: Der Beginn einer neuen Allianz?, DIE Analysen und Stellungnahmen 1/2004, S.1.

8) Vgl. OECD erweitert Entwicklungshilfe-Kriterien, in: Entwicklung & Zusammenarbeit 6/2004; Sicherheit: ODA-Kriterien erweitert, in: Entwicklung & Zusammenarbeit 5/2005.

9) Roehder, Katja (2005): Die NATO als Kooperationspartner für die Entwicklungspolitik. Neue Konzeptionen zivil-militärischer Zusammenarbeit, 1. Dezember 2005, La Redoute, Bonn, S.17.

10) Vgl. zu den Kosten die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Heike Hänsel, Monika Knoche, Paul Schäfer (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Bundestags-Drucksache 16/3385).

11) Vgl. hierzu ausführlich Wagner, Fußnote 1, S.50ff.

12) So forderte der heutige NATO-Generalssekretär Jaap de Hoop Scheffer in seiner damaligen Funktion als niederländischer Außenminister bereits im Jahr 2003, im Rahmen der Sicherheitssektorreform u.a. die Lieferung von Militärkomponenten als ODA anzuerkennen. Vgl. de Hoop Scheffer/Kamp/van Ardenne-van der Hoeven: The Netherlands and crisis management; three issues of current interest, Den Haag 29.10.2003, http://tinyurl.com/6erghx (17.04.2007).

13) Vgl. ODA Eligibility of Conflict, Peace and Security Expenditures, High Level Meeting, 3-4 April 2007, DCD/DAC(2007)23/REV1, S.5.

14) European Union, Council Secretariat: EU support to the African Union Mission in Darfur – AMIS, Fact Sheet, January 2008, http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/080109-Factsheet8-AMISII.pdf (21.04.2008).

15) Wadle, Sebastian & Schukraft, Corina (2005): Die Peace Facility for Africa – Europas Antwort auf die Krisen in Afrika?, in: Internationale Politik und Gesellschaft 4/2005, S.99-119, hier S.105.

16) Kinzel, Wolf (2007): Afrikanische Sicherheitsarchitektur – ein aktueller Überblick, GIGA Fokus Nr. 1/2007.

17) Vgl. European Union, Council Secretariat (2008): EU Military Operation in Eastern Chad and North Eastern Central African Republic (EUFOR Tchad/RCA), Background, January 2008, http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/en/misc/98416.pdf (18.04.2008).

18) Mitteilung der Kommission an den Rat: Der EU-Afrika-Dialog, Brüssel, den 23.6.2003 KOM(2003) 316 endgültig, S.10.

19) Bis zum Jahr 2005 waren die diesbezüglichen DAC-Richtlinien ungenau formuliert. Seither gilt ein Beschluss der DAC-Arbeitsgruppe Statistik, wonach die multilateralen Beiträge zum UNO-Kernbudget für Friedensmissionen ab dem Berichtsjahr 2005 zu 6% als ODA anrechenbar sind.

20) Mollet, Howard (2004): Should Aid Finance Southern Peacekeeping?, the networker Dezember 2004.

21) Zu den Kritikern gehörten damals noch Österreich, Dänemark, Irland, Italien, Japan, Luxemburg, Niederlande, Schweiz, Großbritannien und die Europäische Kommission (Vgl. ODA Eligibility of Conflict, Peace and Security Expenditures, High Level Meeting, 3-4 April 2007, DCD/DAC(2007)23/REV1, 22-Mar-2007, S.5).

22) Draft Summary Record of the 11th Meeting of the CPDC Network, DCD/DAC/CPDC//M(2007)1/PROV, 25 Mai 2007.

23) Vgl. ODA Eligibility of Conflict, Peace and Security Expenditures, High Level Meeting, 3-4 April 2007, DCD/DAC(2007)23/REV1, S.5.

24) Brzoska, Michael (2006): Analyse und Empfehlungen zur internationalen Erfassung von sicherheitsrelevanten Ausgaben innerhalb und außerhalb der öffentlichen Entwicklungshilfe (ODA), BICC paper Nr. 53, S.24f.

25) Staatssekretär Hans Winkler bei der EU-Afrikanischen Ministerkonferenz zu Migration und Entwicklung, 22.11.2006, URL: http://tinyurl.com/6yt3to (21.04.2008).

26) Vgl. Pflüger, Tobias: Die angebliche Neutralität der EU-Mission im Tschad ist unglaubwürdig, IMI-Standpunkt 2008/006.

27) Wirbel um Finanzierung der Tschad- Mission, Der Standard, 15.04.2008.

28) Tschad-Einsatz als Entwicklungshilfe: »Mogelpackung«, Der Standard, 15.04.2008.

29) Politstreit: Gilt der Einsatz im Tschad als Entwicklungshilfe?, Die Presse, 15.04.2008.

30) Wirbel um Finanzierung der Tschad- Mission, Der Standard, 15.04.2008.

31) CDU will Bundeswehr aus Entwicklungshilfe-Etat bezahlen, Spiegel Online, 08.09.2006, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,435912,00.html (12.06.2007).

32) EU aid: genuine leadership or misleading figures? An independent analysis of European Governments' aid levels. Joint European NGO Report, CONCORD (April 2006), S.11. Eine Auflistung von sicherheitsrelevanten Ausgaben Österreichs, die bereits heute als ODA abgerechnet werden, findet sich bei OECD: ODA Casebook on Conflict, Peace and Security Activities, DCD/DAC(2007)20/REV1, 13.09.2007, http://www.oecd.org/dataoecd/27/21/39967978.pdf (20.04.2008).

33) CIDSE Study on Security and Development, Reflection Paper, January 2006, S.4.

Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung e.V. (IMI) und Redakteur von Wissenschaft & Frieden

Recht auf Entwicklung

Recht auf Entwicklung

Seine Bedeutung für die Zukunft

von Brigitte Hamm

Die westlichen Industriestaaten unterstützten 1993 im Abschlußdokument der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz erstmals geschlossen das Recht auf Entwicklung als individuelles und unveräußerliches Menschenrecht. Ihre Zustimmung galt vielen als Kuhhandel, da einige Staaten des Südens sie zur Voraussetzung gemacht hatten, sich in Wien zur Universalität der Menschenrechte zu bekennen. Wie schon auf der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung (UNCED) 1992 in Rio de Janeiro wurde das Recht auf Entwicklung mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit verknüpft: „Das Recht auf Entwicklung sollte so verwirklicht werden, daß den Bedürfnissen gegenwärtiger und künftiger Generationen in den Bereichen Entwicklung und Umwelt gleichermaßen Rechnung getragen wird.“ (Absatz 11 des Wiener Schlußdokuments)

Das Recht auf Entwicklung ist das bedeutendste, aber auch umstrittenste Recht der sogenannten dritten Generation der Menschenrechte. Zur ersten Generation der Menschenrechte zählen die politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten. Als Menschenrechte der zweiten Generation gelten die kulturellen, ökonomischen und sozialen Rechte. Völkerrechtlich verankert sind die Menschenrechte der ersten und zweiten Generation im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (»Zivilpakt«) und im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (»Sozialpakt«), die beide 1966 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurden und 1976 in Kraft traten.

Als die Entwicklungsländer in den siebziger Jahren das Konzept eines Rechts auf Entwicklung in die Debatte um die Menschenrechte einführten, ging es ihnen vor allem um eine wirtschaftliche Entwicklung, die sich an den westlichen Industrieländern orientierte.

Die Forderung nach einem Recht auf Entwicklung ist nur vor dem Hintergrund des Ringens der Entwicklungsländer nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung in den siebziger Jahren zu verstehen. Angesichts einer sich dramatisch verschlechternden wirtschaftlichen und sozialen Lage in den meisten Entwicklungsländern und bis dahin zwei erfolglosen Entwicklungsdekaden der Vereinten Nationen sollten vor allem gerechtere Handelsbeziehungen und Ressourcentransfer in die Länder des Südens zu auf- und nachholender Entwicklung führen.

Nach einer sich über mehrere Jahre hinziehenden Beratung verabschiedete die UN-Generalversammlung schließlich 1986 eine »Deklaration zum Recht auf Entwicklung« mit 146 Ja- und einer Nein-Stimme (USA) bei acht Enthaltungen (darunter die Bundesrepublik Deutschland). Völkerrechtlich ist diese Deklaration nicht verbindlich, sondern wird als normative Absichtserklärung dem weichen Völkerrecht (soft law) zugeordnet. Als Kern dieses Menschenrechts wurde das Solidaritätsprinzip in den Vordergrund gerückt, was damals vor allem auf die Verpflichtung der Industriestaaten zur Solidarität gegenüber den Entwicklungsländern zielte. Inhaltlich geht es beim Recht auf Entwicklung weniger um die Ausformulierung eines neuen Menschenrechts, hier wird es als Synthese von kulturellen, ökonomischen, politischen und sozialen Menschenrechten, als »Recht auf Rechte« verstanden.

Artikel 1 dieser Deklaration kennzeichnet das Recht auf Entwicklung als unveräußerliches Menschenrecht, „kraft dessen alle Menschen und Völker Anspruch darauf haben an einer wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung, in der alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll verwirklicht werden können, teilzuhaben.“ Entwicklung wird als umfassender Prozeß beschrieben, „der die ständige Steigerung des Wohls der gesamten Bevölkerung und aller Einzelpersonen auf der Grundlage ihrer aktiven, freien und sinnvollen Teilhabe am Entwicklungsprozeß und an der gerechten Verteilung der daraus erwachsenden Vorteile zum Ziele hat.“ (Präambel) Dieser Entwicklungsbegriff bleibt eher diffus und am ökonomischen Wachstum orientiert. Die Idee der Nachhaltigkeit findet inhaltlich noch keinen Eingang in diese Erklärung.

Obwohl eine eigene Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen die Implementation des Rechts auf Entwicklung betreiben sollte, blieb die Deklaration über viele Jahre weitgehend wirkungslos. Deshalb lud der UN-Generalsekretär auf Initiative der Menschenrechtskommission vom 8. bis 12. Januar 1990 in Genf zu einem Expertentreffen unter dem Namen »Global Consultation on the Right to Development as a Human Rigth« ein. Neben verschiedenen UN-Organisationen, die in den Bereichen Menschenrechte und Entwicklung arbeiten, nahmen Vertreter von Staaten, internationalen Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftler teil.

Die Expertenrunde vertritt die Auffassung, daß Entwicklungsstrategien, die sich am ökonomischen Wachstum orientieren, gescheitert sind. Sie betrachtet Entwicklung als wesentlich subjektiv, was unterschiedliche Entwicklungswege impliziert. Danach sollte Entwicklung von den Menschen selbst bestimmt und an ihre spezifischen Wünsche und Bedürfnisse angepaßt sein. Im Zentrum von Entwicklung steht deshalb die Partizipation von Menschen, Gruppen, und Völkern (s. Kasten 1). In der Menschenrechtsdebatte blieben die Ergebnisse dieser Expertenrunde bisher weitgehend ohne Berücksichtigung. Sie können jedoch die Diskussion um das Recht auf Entwicklung und über den Zusammenhang von Menschenrechten und Entwicklung bereichern.

Die 52. Sitzung der Menschenrechtskommission 1996 in Genf behandelte das Recht auf Entwicklung erneut und verabschiedete Vorschläge zu seiner Konkretisierung. Auf Initiative der Staatengruppe der Blockfreien und mit Unterstützung einiger Industrieländer, darunter die Bundesrepublik, konnte eine Resolution zum »Recht auf Entwicklung« im Konsens verabschiedet werden. Die Resolution orientert sich am Abschlußdokument der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz, enthält aber wichtige Präzisierungen und Überlegungen zur Durchsetzung dieses Rechts (s. Kasten 2). Gemeinsame Anstrengungen von Industrie- und Entwicklungsländern, die den Menschen in den Mittelpunkt der Entwicklung rücken, können dazu beitragen, daß nicht Wirtschaftwachstum im Vordergrund steht, sondern eine menschliche Entwicklung, die das Prinzip der Nachhaltigkeit berücksichtigt. Allerdings dürfte dies nur durch Druck von »unten« durchsetzbar sein.

Trotz der Bekenntnisse von Rio und Wien ist der Begriff der Nachhaltigkeit in der staatlichen und internationalen Entwicklungspolitik eher eine Worthülse geblieben und wird angesichts einer in vielen Industrieländern schwierigen Wirtschaftslage zugunsten von wirtschaftlichem Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in den Hintergrund gedrängt. Auch das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) scheint diesen Kurs zu fahren. Noch 1994 schlug UNDP in seinem »Bericht über menschliche Entwicklung« eine Weltsozialcharta vor, mit dem Ziel „eine Gesellschaft aufzubauen, in der das Recht auf Ernährung ebenso geheiligt ist wie das Wahlrecht, in der das Recht auf elementare Bildung ebenso stark verankert ist wie das Recht auf freie Presse und wo das Recht auf Entwicklung zu den grundlegenden Menschenrechten gehört.“ Im »Human Development Report 1996« jedoch wird die Notwendigkeit von Wachstum für menschliche Entwicklung betont. Die Hauptthese des Berichts ist, „that more economic growth, not less, will generally be needed as the world enters the 21st century.“ (HDR 1996: 1) Nachhaltigkeit wird zwar erwähnt, aber überwiegend mit Umweltschutz in Verbindung gebracht. China gilt als Beweis dafür, daß ökonomisches Wachstum und menschliche Entwicklung erfolgreich zusammengehen können (z.B. HDR 1996: 6). Keine Erwähnung findet dabei, daß der brutale Manchesterkapitalismus des chinesischen Regimes nicht nur einhergeht mit schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen, mit Arbeitslagern und Landflucht, sondern auch mit Umweltzerstörungen und der Verarmung großer Teile der Bevölkerung bei gleichzeitiger Bereicherung weniger. China ist derzeit sicherlich keine Gesellschaft, die den Grundsätzen der von UNDP 1994 vorgeschlagenen Weltsozialcharta nahekommen würde.

Die Diskussion um nachhaltige Entwicklung scheint sich derzeit darauf zu beschränken, Umweltschutz in die Wirtschaftspolitik einzubeziehen. Nachhaltigkeit als umfassendes Konzept müßte jedoch auch eine Umorientierung beim Wirtschaftswachstum, eine Demokratisierung der internationalen Beziehungen, die verstärkte Partizipation der Menschen und ein verändertes Konsumverhalten der Menschen im Norden umfassen. Offen bleibt dabei, inwiefern Maßnahmen zur Verwirklichung des Rechts auf Entwicklung, das Bemühen um eine solche nachhaltige Entwicklung unterstützen können. Wenn allerdings die Partizipation von Menschen und Gruppen tatsächlich ins Zentrum der Verwirklichung des Rechts auf Entwicklung rückt, wie dies von der Expertenrunde der »Global Consultation« und in der Resolution der 52. Menschenrechtskommission vorgeschlagen wurde, dann könnte dies ein wichtiger Aspekt von nachhaltigher Entwicklng sein.

Auszüge aus dem Bericht der Global Consultation on the Right to Development »The Realization of the Right to Development« (HR/PUB/91/2)

145. The human person
is the central subject rather than a mere object of the right to development.

149. The concept of participation in the realization of the right
to development. Measures formulated to promote the right to development must focus on the
democratic transformation of existing political, economic and social structures which are
conducive to the full and effective participation of all persons, groups and peoples in
decision-making processes. Special measures are required to ensure the full participation
of particularly vulnerable sectors of society, such as children, rural people, and the
extremely poor, as well as those which have traditionally experienced exclusion or
discrimination, such as women, minorities and indigenous peoples.

155. What constitutes »development« is largely subjective, and
in this respect development strategies must be determined by the people themselves and
adapted to their particular conditions and needs. No one model of development is
universally applicable to all cultures and people. All development models, however, must
conform to international human rights standards.

Kernaussagen der Resolution der Blockfreien zum Recht auf
Entwicklung auf der 52. Sitzung der Menschenrechtskommission:

  • Der Mensch ist zentrales Subjekt von Entwicklung.
  • Die Partizipation der Menschen ist bei Entwicklungsvorhaben auf
    allen Ebenen wesentlich.
  • Regionalkommissionen und Sonderorganisation sollen prüfen, wie
    sie das Recht auf Entwicklung in ihre Arbeit einbeziehen können.
  • Der Hochkommissar für Menschenrechte wird als Koordinator für
    Menschenrechtsaktivitäten der Vereinten Nationen bestätigt.
  • Eine Expertengruppe erarbeitet eine Strategie für die
    Durchsetzung dieses Rechts.

Literatur

Barsh, Russel L. (1991) The Right to Development as a Human Right: Results of the Global Consultation, in: Human Rights Quarterly 13, 322-338.

Hamm, Brigitte (1994) Das Menschenrecht auf Entwicklung: Leere Versprechung oder Pflicht? in: Birckenbach, Hanne/Jäger/Uli/Wellmann, Christian (Hrsg.), Jahrbuch Frieden 1995: 98-108, München.

Riedel, Eibe (1989) Menschenrechte der dritten Dimension, in EuGRZ, 9-21.

United Nations Development Programme (UNDP) (1994) Bericht über die menschliche Entwicklung 1994, Bonn.

United Nations Development Programme (UNDP) (1996) Human Development Report 1996, New York/Oxford.

Brigitte Hamm arbeitet an der Gerhard-Mercator-Universität GH Duisburg

Nachhaltigkeit durch Kosteninternalisierung

Nachhaltigkeit durch Kosteninternalisierung

Zur Analyse und Reform globaler Strukturen

von Mohssen Massarrat

Der Kapitalismus hat in den letzten 250 Jahren Reichtümer und Wohlstand großen Ausmaßes hervorgebracht. Bewirkt wurde dies durch die Wechselwirkung zwischen einer dynamischen Ressourcen-Mobilisierung und einer effizienten Allokation von Produktionsfaktoren, produzierten Gütern und Dienstleistungen durch Marktsteuerung, technischen Fortschritt, Ausbau des Handels und Nutzung von komparativen Kostenvorteilen. In diesem Sinne hat die klassische und neoklassische Ökonomie seit Adam Smith recht behalten. Nicht recht behalten hat diese Schule allerdings mit ihrem Postulat, daß die unsichtbare Hand des Marktes auch für den Ausgleich der Wohlstandsentwicklung zwischen reichen und armen Regionen und Nationen sorgt. Ganz im Gegenteil: Der Graben zwischen arm und reich ist tiefer geworden.

Der Widerspruch zwischen Theorie und Realität ist nicht zufällig: Die klassische und neoklassische Ökonomie unterstellt die Chancengleichheit zwischen allen (Welt-)Markt-Akteuren und schließt außerökonomische Faktoren, z.B. Machtungleichheit als Hebel von Wohlstandsvermehrung, aus. Sie vernachlässigt ferner den zur Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts führenden Umstand der Kapitalakkumulation und der Konsumsteigerung durch den kostenlosen Naturverbrauch.

Dieses methodische Ausschlußverfahren hat nicht nur für die Theorie, sondern vor allem für die Politik fatale Konsequenzen. Tatsächlich hat die Neoklassik für die größten Herausforderungen der Gegenwart, nämlich die soziale Ungleichheit im globalen Maßstab und für die ökologische Krise keine Lösungen. Die von ihr verordneten Einzelmaßnahmen, z.B. die Strukturanpassung des IWF, wirken oft eher so, daß sie die Probleme verstärken. Die Beschäftigung mit diesen fundamentalen Defiziten der dominanten ökonomischen Lehre ist daher eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von Strategien einer globalen Reformperspektive.

In den folgenden Ausführungen wird (a) dargestellt, daß Wohlstand, Kostenexternalisierung, soziale und ökologische Krisen, Machtungleichheit und nichtnachhaltige Gesellschaftsstrukturen in enger Verbindung stehen, (b) versucht, Überlegungen zur Überwindung von nichtnachhaltigen Strukturen in der Weltgesellschaft zu formulieren.

Die zentralen Kategorien zur näheren Begründung dieser Thesen sind Kostenexternalisierung, strukturelles Dumping und (welt-)gesellschaftliches Dual-System.

Externalisierung sozialer und ökologischer Kosten

Neoklassische Ökonomen wie Alfred Marshall und Arthur C. Pigou befassen sich zwar mit einigen Aspekten der Kostenexternalisierung, eine detaillierte Analyse liefert jedoch erst William Kapp, der Gründer der institutionellen Ökonomie. Kapp definiert die externalisierten Kosten in seinem 1950 publizierten Werk »The Social Costs of Private Enterprise« als „alle direkten und indirekten Verluste, die Drittpersonen oder die Allgemeinheit als Folge einer uneingeschränkten wirtschaftlichen Tätigkeit zu tragen haben. Die Sozialkosten können in Schädigungen der menschlichen Gesundheit, in der Vernichtung oder Verminderung von Eigentumswerten und der vorzeitigen Erschöpfung von Naturschätzen zum Ausdruck kommen“ (Kapp, 1979: 10). Berücksichtigen wir daneben noch diverse Kosten der Umweltschäden wie die Vergiftung von Böden und Gewässern sowie Klimaveränderungen, und unterscheiden wir ferner zwischen sozialen und ökologischen Kosten, so könnten die externalisierbaren Kosten als soziale und ökologische Kosten aufgefaßt werden, die von Individuen, sozialen Gruppen und Nationen verlagert werden auf die Allgemeinheit, andere soziale Gruppen, Nationen und künftige Generationen, um eigenen Wohlstand und ökonomisches Wachstum über das Ergebnis von eigenen Leistungen und eigener Produktivität hinaus zu steigern.

Formen der Kostenexternalisierung

Es sind drei Hauptformen der Kostenexternalisierung zu unterscheiden: (a) Externalisierung durch kostenlose Belastung der Umwelt, (b) Externalisierung durch kostenlose Nutzung nicht erneuerbarer Rohstoffe und (c) Externalisierung von sozialen Kosten. Über die Externalisierung der Umweltkosten und deren monetäre Bewertung liegen inzwischen wichtige Arbeiten vor (dazu Leipert, 1989; van Dieren, 1995).

In der folgenden Analyse geht es um Formen sozialer und ökologischer Kostenexternalisierung, die bisher kaum beachtet, in der wissenschaftlichen wie der politischen Diskussion vielmehr systematisch verdrängt worden sind.

Externalisierung von sozialen Kosten im Frühkapitalismus

Die Vermehrung des Reichtums der Fabrikbesitzer im Zeitalter der industriellen Revolution, mithin die dynamische Expansion des Kapitalismus in Europa, beruhte zum einen auf technologisch bedingter Produktivitätssteigerung und Leistung, zum anderen aber auf flächendeckender Externalisierung sozialer Kosten durch sinkende Löhne, steigende Arbeitszeit und durch den Einsatz von Frauen und Kindern. Das Überangebot an Arbeitskräften, das aus dem massenhaften Zustrom aus dem vorindustriell agrarischen Hinterland in die Städte resultierte, rief eine gnadenlose Konkurrenz um die billigeren Arbeitskräfte ohne Rücksicht auf humane Arbeits- und Lebensbedingungen und auf die drastische Senkung des Lebensalters hervor und ermöglichte die Externalisierung sozialer Kosten vom Betrieb in die Familien und von der Stadt in das agrarische Hinterland. Hier liegt der Keim eines machtpolitisch-rechtlichen Dual-Systems von historischer Bedeutung. Erst nach jahrzehntelangen Kämpfen der Arbeiterbewegung konnte die Machtungleichheit größtenteils überwunden und der Externalisierung von sozialen Kosten in Europa ein Riegel vorgeschoben werden. Doch dadurch verschwanden weder das gesellschaftliche Dual-System noch das Externalisierungsproblem. Das Dual-System verlagert sich von Europa auf die Weltebene, die Wohlstandssteigerung erfolgt nunmehr im (welt-)gesellschaftlichen Dual-System.

Externalisierung sozialer Kosten durch kolonialistische Sklavenarbeit

An der Schwelle der industriellen Revolution entstanden in den Überseekolonien Plantagenbetriebe mit Sklavenarbeit, die Europa mit Nahrungs- und Genußmitteln zu Dumpingpreisen versortgen. Hinter den Dumpingpreisen verbergen sich soziale Kosten, die die Plantagenbesitzer den Sklaven vorenthalten und ihnen zumuten, die ganze Last durch drastische Reduzierung des Lebensalters auf sich zu nehmen. Während die einen, zur Rechtlosigkeit Verdammten, in dem nun etablierten globalen Dual-System ihr Dasein fristeten, erfreuten sich die anderen, die Sklavenhalter in den Kolonien und die Konsumenten in Europa, der Steigerung ihrer Genüsse und Vermehrung ihrer Reichtümer. Die Recht- und Machtlosigkeit der Sklaven in der Kolonie war die potenzierte Form der Rechtlosigkeit der arbeitenden Massen im Mutterland. Die extreme Form der Rechtsungleichheit, die notwendig war, um die extremste Form der Kostenexternalisierung durch Sklavenarbeit aufrechtzuerhalten, bedurfte einer ebenso extremen Form der Legitimation, nämlich der des Rassismus. Die internationale Arbeitsteilung und die daraus resultierenden Handelsströme lassen sich, würde man die Rechts- und Machtungleichheit der Teilsysteme gänzlich außer acht lassen, zwar mit dem klassischen und neoklassischen Theorie- und Denkgebäude als Ergebnis der komparativen Kostenvorteile bzw. der unterschiedlichen Faktorausstattung interpretieren. In Wahrheit verbirgt sich hinter dieser Form von Arbeitsteilung und Handel im globalen Dual-System vor allen Dingen das Prinzip, soziale Kosten mittels Gewalt und rassistischer Ideologie zum Wohl der privilegierten Minderheit im System zu externalisieren. Apartheid und Wanderarbeit, das dualistische Beieinander von Homelands, Wolkenkratzern und reichen Villenvierteln, von Rechtsprivilegien für die einen und Rechtlosigkeit für die anderen ist zwar die abgeschwächte Form der Sklaverei, jedoch ein bis in die Gegenwart praktiziertes Modell der Wohlstandsvermehrung durch Externalisierung sozialer Kosten.

Externalisierung sozialer Kosten durch Kinderarbeit

Der Einsatz von Kinderarbeit bedarf besonderer Hervorhebung, da diese Methode der Kostenminimierung in den letzten zwei Jahrzehnten mit beängstigenden Wachstumsraten gestiegen ist. Trotz der ILO-Konvention, die Kinderarbeit vor Erreichen des 15. Lebensjahres untersagt, arbeiteten 1986 weltweit schätzungsweise 200 Millionen Kinder, also viermal soviel wie sieben Jahre zuvor (Pollmann, 1988; Große-Oetringhaus/Strack (Hrsg.), 1995). Am Ende des 20. Jahrhunderts erleben wir offensichtlich eine Renaissance von totgesagten manchesterkapitalistischen Methoden, die sich nunmehr in zahlreichen Ländern des Südens durchsetzen. Kinderarbeit ist im Süden auch in vielen Wirtschaftssektoren, die für den Export in die Industrieländer produzieren, auf dem Vormarsch, so im Bergbau, in der Landwirtschaft und in der Textilindustrie. Eine neuere ILO-Studie belegt, daß in der Dritten Welt inzwischen jedes vierte Kind arbeitet (FR. v. 4./5. April 1996). Die Zunahme der Kinderarbeit in der indischen Teppichindustrie rief beispielsweise drastische Preissenkungen und einen ruinösen Wettbewerb unter den Anbietern auf dem Weltmarkt hervor. So sind handgeknüpfte Teppiche in den Industrieländern längst keine Luxusartikel mehr, sie sind mittlerweile zu einer Massenware geworden. Auch hier erkaufen wir mit geringem Aufwand ein Stück Wohlstand, weil wir die gnadenlose Konkurrenz zwischen Ländern des Südens zu nutzen in der Lage sind und weil wir die sozialen Kosten der Teppichproduktion nicht mitbezahlen und diese den indischen Kindern und Familien aufbürden, indem wir daran teilnehmen, daß unzählige Kinder durch Anämie, Müdigkeit und Schlafmangel der Gefahr von Erkrankung durch Infektionen und Tuberkulose ausgesetzt und durch Haltungs- und Bandscheibenschäden, Knochenschädigungen und Verschlechterung der Sehkraft verkrüppelt werden.

Externalisierung ökologischer Kosten durch den Raubbau der Ressourcen mit höherer Naturproduktivität

Die Naturproduktivität (Ergiebigkeit) von Ressourcen ist höchst unterschiedlich. Sie ist abhängig vom Konzentrationsgrad, von der chemischen Zusammensetzung, den physikalischen Bedingungen und der geographischen Lage. Die unterschiedliche Naturproduktivität ist bei erschöpfbaren Ressourcen, die sozusagen in Wert gesetzt werden, auch die Grundlage der Entstehung von Differentialrente. Die Jagd nach der Abschöpfung dieses auf höherer Naturproduktivität beruhenden Profits war auch die treibende Kraft bei der Kolonialisierung der Rohstoffländer und der Globalisierung der Rohstoffproduktion seit Anfang dieses Jahrhunderts und handfester Grund für die europäischen Großmächte und später auch für die USA, sich zu allen ergiebigen, profitträchtigen Naturreichtümern des Globusses einen freien Zugang zu verschaffen.

Das Wesen dieses teils durch Gewalt und teils durch ökonomischen und politischen Druck durchgesetzten Zugriffs auf ergiebige Ölquellen und mineralische Rohstoffe im Mittleren Osten, in Afrika und Südamerika bestand in der faktischen Ausschaltung der Rohstoffeigentümerstaaten, ihrer Marktsouveränität und Marktsteuerungsfunktion durch die global agierenden euro-amerikanischen Rohstoffkonzerne, also in der Herstellung struktureller Dominanz der Nachfrageseite. Fortan reguliert die Nachfrageseite nicht nur die Nachfrage, sondern auch unmittelbar die Angebotsmenge – ein Vorgang, der zwangsläufig zum Raubbau an knappen natürlichen Ressourcen, zur strukturellen Überproduktion, zu unelastischen Preisen auf niedrigem Niveau und zum Verlust von Knappheitssignalen bei erschöpfbaren Ressourcen hinleitet. So sinken die realen Rohstoffpreise über Jahrzehnte, statt, wie es bei erschöpfbaren Ressourcen und funktionierenden Marktsteuerungsmechanismen der Fall wäre, zu steigen (Näheres dazu Massarrat, 1993: 51f; derselbe 1994a). Hier fand historisch die erste Stufe der Globalisierung der Produktion statt, die auf Externalisierung der Kosten des Naturverbrauchs der Industrieländer in die Länder des Südens beruhte. Was für die Industrieländer als sinkende Kosten und höhere Wachstumsraten positiv zu Buche schlägt, erscheint bei den Rohstoffeigentümern des Südens als sinkende Einnahmen und Abnahme ihrer Rohstoffkapazitäten.

Externalisierungs- und Ausbeutungstheorie

Die Theorie der Kostenexternalisierung ist keine Umschreibung der Marxschen Ausbeutungstheorie. Beide Theorien beschreiben durchaus verschiedene Ebenen der national- und weltökonomischen Vorgänge, die sich allerdings ergänzen.

Im Mittelpunkt der Marxschen Ausbeutungs- bzw. Mehrwerttheorie steht das Produktionsverhältnis von sozialen Schichten innerhalb des Betriebes und innerhalb einer Volkswirtschaft. Dabei geht es in der Hauptsache um die Quelle der Wertschöpfung und die Verteilungsmechanismen unter normalen, d.h. gleichgewichtigen und symmetrischen Marktbedingungen. Gegenstand der Externalisierungstheorie ist dagegen die Verteilung von realen ökologischen und sozialen Kosten zwischen den Betrieben und sozialen Schichten einer Volkswirtschaft, zwischen Regionen und Nationen innerhalb der Weltwirtschaft unter ungleichgewichtigen und asymmetrischen Marktbedingungen sowie zwischen Generationen im universalhistorischen Kontext

Wachstum, Externalisierung, Globalisierung

Wachstumsmodelle, die ganz oder teilweise auf der Externalisierung sozialer bzw. ökologischer Kosten beruhen, sind nicht selbsttragend, daher auch nicht nachhaltig. Es handelt sich um Modelle des Verelendungs- oder Umweltzerstörungswachstums oder um eine Kombination von beiden.1 Die historischen Formen der Globalisierung (Rohstoffproduktion und agrarische Exportplantagen mit Sklavenarbeit) haben jeweils zur Etablierung dieser Wachstumsmodelle beigetragen. Die gegenwärtige Globalisierung hat dem Anschein nach unterschiedliche Wirkungen. Einerseits setzt sie einen Prozeß der Umverteilung der globalen Arbeitsplätze von Nord nach Süd in Bewegung, wobei Zweifel angebracht sind, ob durch die Arbeitsplatzverlagerung in den Süden hier tatsächlich selbsttragende Wachstumsprozesse in Gang kommen (dazu Neyer 1995). Andererseits verstärkt sie deutlich die Tendenz, die Sozialsysteme global gegeneinander auszuspielen, den relativ hohen Sozialstandard im Norden abzubauen, ohne den Sozialstandard im Süden gleichzeitig und automatisch zu heben.

Strukturelles Dumping

Setzen sich die ökologisch und sozial richtigen Marktpreise auf den Weltmärkten bei einer makroökonomischen Betrachtung unter der Annahme, daß Kostenexternalisierung nicht stattfindet, wie folgt zusammen:

Pc=MC + Er + Pnr (1),

wobei Pc die ökologisch und sozial richtigen (vollkommenen) Marktpreise, MC die betriebswirtschaftlichen Grenzkosten, Er die ökologischen Kosten von reproduzierbaren Umweltressourcen (zur Vermeidung bzw. Beseitigung von Umweltschäden) und Pnr den Knappheitspreis von nichtreproduzierbaren Ressourcen darstellen, so darf nach der Externalisierungstheorie konstatiert werden, daß es sich bei den aktuellen Marktpreisen auf den Weltmärkten nicht um die ökologisch und sozial richtigen Preise, sondern um makroökonomische Dumpingpreise handelt, die sich wie folgt zusammensetzen:

Pd=(MC – Ecl) + (E – ECrr) + (Pnr – Ecnr) (2),

wobei ECl die externalisierten Arbeitskosten bzw. den Sozialdumpingfaktor, ECrr die externalisierten Kosten von reproduzierbaren Umweltressourcen, ECnr die externalisierten Kosten von nichtreproduzierbaren Ressourcen (und ECrr + ECnr den Ökodumpingfaktor) darstellt (Näheres Massarrat, 1994a). Bei vollständiger Externalisierung der ökologischen Kosten (E=ECrr und Pnr=ECnr), wie dies in der Praxis weitgehend der Fall ist, und durch Externalisierung von sozialen Kosten bewegen sich die makroökonomischen Marktpreise nach der Externalisierungstheorie, wie die Gleichung 3 zeigt, unter dem Niveau der reinen betriebswirtschaftlichen Grenzkosten:

Pd=MC – ECl (3).

Da diese Dumpingpreise im (welt-)gesellschaftlichen Dual-System keine vorübergehende, sondern eine dauerhafte Erscheinung darstellen, muß somit bei allen produzierten und monetär bewerteten Endprodukten ein strukturelles Dumping in der Weltökonomie konstatiert werden. Einerseits verstärkt dieses durch Überausbeutung der menschlichen Arbeitskraft Armut, Krankheiten und Seuchengefahr und verhindert sozial nachhaltige Strukturen. Andererseits ist es durch den Raubbau des „Naturkapitals“ die zügellose Umweltbelastung und den verschwenderischen Konsum für die Entstehung von sozioökonomisch nichtnachhaltigen Strukturen verantwortlich.

Auf der Basis der Externalisierungstheorie könnte die Struktur des Pro-Kopf-Einkommens der Industrieländer in den letzten 250 Jahren schematisch in folgender Grafik demonstriert werden (siehe S. 31).

Die Darstellung beruht auf der begründeten Annahme, daß bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts der Sozialdumpingfaktor, das heißt also die Externalisierung von sozialen Kosten, die dominante Form der Externalisierung war, während nach dem Übergang des Manchester-Kapitalismus zur sozialen Marktwirtschaft (Ende des Zweiten Weltkrieges) hohe ökonomische Wachstumsraten und exponentiell ansteigender Wohlstand zum Teil durch Externalisierung von ökologischen Kosten erreicht worden sind.

(Welt-)gesellschaftliches Dual-System

Die klassischen Imperialismustheorien und die Dependencia-Theorien haben das Phänomen der durch strukturelles Dumping verursachten asymmetrischen Wohlstandsverteilung sowie die innergesellschaftlichen und intergenerativen Verteilungshebel vernachlässigt. Ihre analytische Reichweite beschränkt sich im wesentlichen auf das Verhalten zwischen Staaten und Regionen (Zentrum-Peripherie-Ansatz). Die Theorien des ungleichen Tauschs von Emmanuel (1969), Amin (1975) und anderen führten angesichts ihrer methodisch fragwürdigen Annahmen nicht zu eindeutigen Erkenntnissen über die ökonomischen Verteilungs- und Umverteilungsmechanismen (Näheres dazu Massarrat, 1978).

Die Dual-System-Theorie ist ein Versuch, die asymmetrische Wohlstandsverteilung auf Grund von Kostenexternalisierung und strukturellem Dumping systematisch zu analysieren, wobei die Machtungleichheit den Schlüsselbegriff dieser Theorie darstellt. In Anlehnung an frühere Überlegungen (Massarrat, 1993) werden im folgenden zunächst der Theoriekern und dann die vielfältigen Wirkungen des Dual-Systems in der realen Weltgesellschaft beschrieben.

Das (welt-)gesellschaftliche Dual-System besteht aus zwei organisch verflochtenen, jedoch qualitativ unterscheidbaren Sozialsystemen: Zum einen das Sozialsystem einer mit allen Macht- und Rechtsprivilegien ausgestatteten Minderheit mit einem auf individuelle Nutzenmaximierung orientierten Verhaltensmuster und Wertesystem; zum anderen das Sozialsystem einer mit deutlich schwächeren Machtpotentialen ausgestatteten Mehrheit, die in der Regel noch weitgehend tradierten Wertesystemen verhaftet ist und im Wettkampf mit dem erstgenannten dominanten Sozialsystem zu Strategien der Überlebenssicherung gedrängt wird. Eine eigene Nutzenmaximierung in diesem zweiten Sozialsystem ist weitgehend eingeschränkt oder ganz ausgeschlossen. Die Grundlage für Interaktion und Kommunikation zwischen beiden Teilsystemen ist der (Welt-)Markt. In diesem Dual-System verlieren Marktteilnehmer des untergeordneten Sozialsystems ihre Marktsouveränität, werden als gleichberechtigt handelnde Akteure ausgeschaltet und sowohl als Anbieter wie als Nachfrager zu passivem Verhalten gedrängt, werden strukturell ungleichgewichtige Marktbeziehungen, asymmetrische Arbeitsteilung und Wohlstandsverteilung reproduziert, wird der Graben zwischen Armen und Reichen, die Spaltung zwischen sozialen Gruppen und Nationen in der Weltgesellschaft vertieft, werden regulative Marktsteuerungsmechanismen in Instrumente der Wohlstands- und Machtvermehrung des dominanten Systems umfunktioniert und in der Regel den Marktgesetzen zuwiderlaufende Effekte erzielt (Dual-System-Effekt). Die Kategorie Machtungleichheit bei diesem Theorieansatz umfaßt außer unterschiedlichen politisch-militärischen Interventionsmöglichkeiten auch ungleiche Möglichkeiten, ökonomische und kulturelle Instrumente, Institutionen und Regime zu nutzen, so daß das dominante Teilsystem dadurch zusätzlich Wohlstands- und Wachstumseffekte ohne eigene Leistung und Produktivität erzielen kann. Das dominante Teilsystem verbreitet und prägt Lebensstile und Konsumgewohnheiten und übt in umfassendem Sinne kulturelle Hegemonie aus.

Dual-System-Effekt

Das Charakteristische des (welt-)gesellschaftlichen Dual-Systems besteht darin, daß wirtschafts- und entwicklungspolitische Instrumentarien sowie Marktsteuerungsmechanismen in den Teilsystemen zu unterschiedlichen, teilweise sogar gegensätzlichen Resultaten führen, die ich als Dual-System-Effekte bezeichne:

  • Die Machtungleichheit im historischen (Manchester-)Kapitalismus bewirkt, daß Industrialisierung, Produktivitätssteigerung und Wirtschaftswachstum im dominanten Teil des Systems zu Wohlstandsvermehrung und Luxus, im schwachen Teil des Systems jedoch zu steigender Arbeitszeit, sinkenden Reallöhnen und zum Elend führen (Verelendungswachstum).
  • Aus der Ungleichheit der Marktsouveränität auf den globalisierten Ressourcenmärkten in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ergibt sich, daß die Nachfrageseite (dominantes Teilsystem) gleichzeitig auch die Angebotsmenge reguliert, die Ressourceneigentümer im schwachen Teilsystem (marktparadox) nicht über eine regulative Marktsteuerungsmacht verfügen. Knappheitssignale bei erschöpfbaren Ressourcen verlieren (ebenfalls marktparadox) ihre nachfrageregulierende Funktion, strukturelle Überproduktion und unelastische Weltmarktpreise werden zum Wesensmerkmal von globalisierten Ressourcenmärkten.2 Während im dominanten Teil des Dual-Systems dank Ressourcenüberfluß zu Dumpingpreisen hohe Wachstumsraten erzielt werden, letztlich auch das fordistische Konsummodell einen kräftigen Schub erhält, verliert der schwache Teil des Systems seine Ressourcenbasis und wird zum monostrukturellen Anhängsel des dominanten Teilsystems.
  • Die ökonomische Ungleichheit verursacht im Dual-System wirtschaftspolitisch gegensätzliche Wirkungen. Dies gilt insbesondere in der internationalen Geld- und Zinspolitik und im GATT-System. Die Leit- und Schlüsselwährungen (US-Dollar, DM, Yen, SFR) befinden sich im dominanten Teil des Dual-Systems. Volkswirtschaften dieses Teils weisen überwiegend Zahlungsbilanzüberschüsse auf und sind Gläubiger, während im schwachen Teilsystem überwiegend Schuldnervolkswirtschaften zu finden sind. Eine Hochzinspolitik im dominanten Teil führt in der Regel zu Kapitalimport und zu mehr Beschäftigung z.B. im öffentlichen Sektor. Für das schwache Teilsystem hat ein international hohes Zinsniveau jedoch fatale Folgen: a) Steigende Ausbeutung bei stagnierenden Rohstoffpreisen und -einnahmen (Zinsraten-Rohstoffpreis-Mechanismus, Massarrat, 1993: 76). b) Kapitalflucht, steigender Schuldendienst bei Schuldnervolkswirtschaften, hierdurch bedingt zusätzlich negative Wirkung auf Ressourcenausbeutung und Rohstoffpreise bei verschuldeten Rohstoffexporteuren. Eine Hochzinspolitik im schwachen Teilsystem könnte zwar bei einem deutlichen Zinsdifferential ebenfalls zum Kapitalimport, allerdings gleichzeitig zu beträchtlichen Investitionsbarrieren bei der inländischen Wirtschaft führen (dazu Waltraud Schelkle 1995). Die Strategie der Geldwertstabilität, die bei vielen Volkswirtschaften im dominanten Teilsystem durch Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse erzielt wird, setzt strukturelle Schuldnernationen mit Handelsbilanzdefiziten voraus, zementiert daher das geld- und finanzpolitische Dual-System.

Das GATT-System verschärft die asymmetrischen Wirkungen des Dual-Systems für die Entwicklungsländer. Während letzteren bei Verhandlungen oft Liberalisierungszwänge auferlegt werden, bleiben viele Einschränkungen zum Schutz der japanischen und der EU-Agrarprodukte sowie der US-Industrieprodukte gegen euro-japanische Konkurrenz unangetastet.

  • Neoliberale Entwicklungsstrategien wie die Exportförderungspolitik der Weltbank und die Strukturanpassungspolitik des IWF führen bei monostrukturellen Volkswirtschaften im schwachen Teil des Dual-Systems (über 70 Entwicklungsländer sind stark monostrukturelle Ökonomien) in der Regel zur Verfestigung von bestehenden Außenhandels-Asymmetrien (Rohstoffexporte gegen Fertigproduktimporte). Angestrebte Ziele wie Exportdiversifizierung, selbsttragendes Wachstum und positive Umweltwirkungen wurden bisher, wie neuere Studien belegen (Reed 1996), selten erreicht. Der Grund dafür ist die Überlebensstrategie der kleineren Anbieterstaaten (bei mineralischen Ressourcen) und der Kleinbauern (bei agrarischen Rohstoffen), die auf sinkende Preise durch erhöhte Arbeitsintensität bzw. den Raubbau von Ressourcen antworten, um so ihre Angebotsmenge zu steigern und ihre Einnahmen zu stabilisieren. Während ein Verdrängungswettbewerb im dominanten Teil des Dual-Systems in der Regel ein Marktgleichgewicht herbeiführt und der Preissenkung Grenzen setzt, führt im schwachen Teil des Dual-Systems derselbe Mechanismus marktparadox zu strukturellem Ungleichgewicht und Überproduktion. So wird die Marktsouveränität selbst eines scheinbar so mächtigen Ressourcenanbieters wie der OPEC unterhöhlt und diese nach einer kurzfristig erfolgreichen Souveränitätsperiode in ihre ursprüngliche Anhängsel-Rolle zurückgeworfen. Die Hochpreispolitik der OPEC ist längst der Überproduktions- und Dumpingpreispolitik gewichen.

Eine neuere Weltbankstudie (World Bank 1995) belegt, daß die Wachstumserfolge zahlreicher Entwicklungsländer (Ausnahme: Südasien) mit einem Raubbau an natürlichen Ressourcen einhergehen (Umweltzerstörungswachstum) (dazu auch Thomas Fues 1996).3

Das Gegenmodell bieten die ostasiatischen Schwellenländer Hongkong, Taiwan, Singapur und Südkorea, die ihren Wachstumserfolg nicht einer Importliberalisierung nach neoliberalem Muster verdanken, sondern einer Kombination von selektiver Importliberalisierung, selektivem Protektionismus und struktur- und geldpolitischer Regulierung zur Stärkung systemischer Wettbewerbsfähigkeit (dazu Eßer u.a., 1995), d.h. der Herstellung der eigenen Marktsouveränität und dem Abbau von Machtungleichheit.

Nach der Dual-System-Theorie kann in der Weltgesellschaft eine Art Stufenleiter von Dual-Systemen identifiziert werden: innerhalb einzelner Gesellschaften in vertikaler Richtung (Vermögensbesitzer, abhängig Beschäftigte, Subsistenzproduzenten, ethnische Minderheiten), zwischen den Regionen in horizontaler Richtung (Industrieländer, südliche und osteuropäische Schwellenländer, Entwicklungsländer). Universalhistorisch stehen künftige Generationen am Ende dieser Stufenleiter, da sie gegenüber den heutigen Generationen vollständig machtlos sind. Alle Stufen der Hierarchie durchdringt das geschlechtsspezifische Dual-System, das Patriarchat, das dem männlichen Geschlecht historisch gewachsene Sonderprivilegien in Familie und Gesellschaft gewährt, für das weibliche Geschlecht jedoch Doppelbelastungen, rechtliche Ungleichheiten und faktische Diskriminierungen bedeutet. Diese gewachsenen Strukturen sind grundsätzlich nicht nachhaltig. Alle Reformstrategien, die an diesen Strukturen vorbei konzipiert werden, müssen daher letztlich scheitern.

Globale Reformen für eine nachhaltige Weltgesellschaft durch Chancengleichheit

Der Darstellung von Lösungsmöglichkeiten, die sich aus der bisherigen Analyse herleiten lassen, werden drei Feststellungen vorausgeschickt: (a) Die Externalisierungs- und Dual-System-Theorie ist keine Theorie des globalen Nullsummenspiels. Sie soll der populären Auffassung, daß der Wohlstand der Industrieländer ausschließlich auf der Armut im Süden beruht, nicht Vorschub leisten. Dieser Wohlstand ist zu einem Teil das Ergebnis von eigener Leistung und Produktivitätssteigerung, aber eben nur zu einem Teil. (b) Die herrschende internationale Arbeitsteilung und alle damit zusammenhängenden Handels-, Geld- und Kapitalströme resultieren nicht nur aus dem Umstand unterschiedlicher Faktorausstattung und komparativer Kostenvorteile, sondern zu einem guten Teil auch aus der Strategie, soziale und ökologische Kosten zu externalisieren. (c) Internationale Arbeitsteilung und Freihandel sind per se nicht die Hauptursachen von strukturellen Defekten in der Weltwirtschaft, wie die Kritiker meinen. Andererseits ist der Freihandel auch keine heilige Kuh, die der Menschheit überall Wohlstand und Glück bringt.4 Der Freihandel ist ein wirksames Instrument marktwirtschaftlicher Allokation. In Verbindung mit der schrankenlosen Freiheit einer privilegierten Minderheit, Kosten zu externalisieren, verwandelt er sich entwicklungs- und umweltpolitisch allerdings zu einem effizienten Instrument zur Etablierung von nichtnachhaltigen Strukturen.5

Der UN-Bericht über menschliche Entwicklung (von 1992) lieferte erstmalig eine systematische Auflistung von unfreiwilligen Transferleistungen des Südens an den Norden. Im Bericht (von 1996) wird herausgearbeitet, daß das Wohlstandsgefälle zwischen den 15 extrem reichen und 70 extrem armen Nationen der Weltgemeinschaft dramatisch zugenommen hat. Das hier vorgestellte Konzept liefert die theoretische Grundlage für diese empirisch belegten Vorgänge. Während die Theorie der Kostenexternalisierung u.a. die unfreiwilligen Süd-Nord-Transferleistungen theoretisch untermauert, begründet die Dual-System-Theorie die zunehmende globale Spaltung zwischen Armen und Reichen.

Für den Aufbau nachhaltiger Strukturen ist daher die Überwindung des Dual-Systems die fundamentale Voraussetzung. Die dafür erforderlichen Reformen sind im wesentlichen politisch. Eine bloße Umkehrung der Ungleichheit in ein Gleichheitsprinzip führt angesichts der Vielfältigkeit von menschlichen und natürlichen Fähigkeiten und Potentialen in so unterschiedlichen Weltregionen praktisch auch in die Sackgasse. Der Schlüsselbegriff für zukunftsfähige globale Reformen ist nach meiner Überzeugung das Prinzip Chancengleichheit, das innerhalb von einzelnen Gesellschaften, zwischen Nord und Süd und zwischen den heutigen und künftigen Generationen herzustellen ist.

Herstellung vertikaler Chancengleichheit für die Gesellschaften im dominanten Teilsystem bedeutet die Vertiefung der Demokratisierung durch Teilnahme von sozialen Bewegungen an Entscheidungen und durch Mitwirkung von betroffenen Menschen an der Planung und Durchführung kommunaler Projekte.6 Für die Gesellschaften des schwachen Teilsystems bedeutet Herstellung von Chancengleichheit die umfassende Demokratisierung und zugleich Vertiefung demokratischer Strukturen analog zum dominanten Teilsystem, allerdings unter Berücksichtigung kultureller Besonderheiten. Chancengleichheit zwischen den Teilsystemen setzt als ersten Schritt die Einführung sozialer und ökologischer Mindeststandards voraus, einschließlich der universell zu vereinbarenden Sanktionsmechanismen zu ihrer Durchsetzung. Durch globale Mindeststandards für Arbeitszeit, Urlaub, soziale Absicherung, das Verbot von Kinderarbeit und die Aufhebung geschlechtsspezifischer Diskriminierungen sowie durch globale Mindeststandards im Umweltbereich soll verhindert werden, daß soziale und ökologische Kosten innerhalb der Hierarchie von Dual-Systemen von oben nach unten externalisiert und die Sozialsysteme der Kommunen, der Regionen gegeneinander ausgespielt werden können. Für die Sicherstellung der Marktsouveränität der Teilsysteme auf den globalen Märkten werden Mindeststandards vermutlich nicht ausreichen. Notwendig ist auf jeden Fall eine umfassende Entschuldung und die Gewährung von Krediten in Form von nur zinslosen und in der jeweiligen Landeswährung rückzahlbaren Krediten. Anderenfalls ist zu befürchten, daß die schwachen Teile des Dual-Systems der Schuldenfalle und der finanziellen Schlinge um den Hals niemals werden entrinnen können.

Chancengleichheit zwischen den Generationen bedeutet die Selbstverpflichtung der gegenwärtigen Generation, die Nutzung von Umwelträumen universell zu limitieren und Überschreitungen mit Sanktionen zu ahnden. Durch Anerkennung von substantiellen Rechtspositionen künftiger Generationen würden diese an allen existentiellen Entscheidungen der Gegenwart mit beteiligt, würde also eine Quasi-Marktsouveränität auch für sie hergestellt. Chancengleichheit im Verhältnis zur Umwelt erfordert, daß eine Neubewertung der Eigentumsrechte an existentiellen natürlichen Ressourcen (Gewässer, Wälder, Energie- und Rohstoffquellen) auf die Agenda der Weltgemeinschaft gesetzt würde.

Chancengleichheit tangiert die Interessen der Privilegierten im Norden sowie im Süden. Sie umfassend herzustellen bleibt so die zentrale Aufgabe einer globalen Reformbewegung. NGOs, engagierte Menschen in Kirchen, weitsichtige Gewerkschaftler und Unternehmer und Experten in den Institutionen, besorgte und verantwortungsbewußte Politiker und Politikerinnen unterschiedlicher Coleur und Menschen aus Wissenschaft und Kunst sind bedeutende Akteure dieser Bewegung.

Die universell umfassende Durchsetzung von Chancengleichheit würde erst die Rahmenbedingungen für neue globale Beziehungen herstellen, die durchaus Unterschiede der Lohnniveaus, der Lebensstile und Lebenswege einschließen könnten. Die produktive Nutzung von partizipatorischen Rahmenbedingungen für die Umgestaltung von nichtnachhaltigen zu nachhaltigen Strukturen systemischer Wettbewerbsfähigkeit (dazu Elmar Altvater) in den Einzelstaaten und Regionen wird so zur eigentlichen Herausforderung für souveräne Akteure. Offen bleibt über alle diese Reformüberlegungen hinaus dennoch die zentrale Frage, ob dadurch die inneren Triebe des kapitalistischen Wachstumszwangs tatsächlich zu bändigen wären.

Literatur:

Amin, Samir, 1975: Die ungleiche Entwicklung. Essays über die Gesellschaftsformationen des peripheren Kapitalismus, Hamburg.

Bhagwati, Jagdish, 1994: Ein Plädoyer für freien Handel, in: Spektrum der Wissenschaft. Digest: Umwelt – Wirtschaft, S. 48-53.

Daly, Hermann E., 1994: Die Gefahren des freien Handels, in: Spektrum der Wissenschaft. Digest: Umwelt – Wirtschaft, S. 54-60.

Dieren, Wouter van (Hrsg.), 1995: Mit der Natur rechnen. Der neue Club-of-Rome-Bericht, Basel/Boston/Berlin.

Emmanuel, Arghiri, 1969: L'echange Inégal, Paris.

Eßer, Klaus/Hildebrand, Wolfgang/Messner, Dirk/Meyer-Stamer, Dirk, 1995: Systemische Wettbewerbsfähigkeit und Entwicklung, in: Entwicklung und Zusammenarbeit, 1995/Nr. 10, S. 256-260.

Fues, Thomas, 1996: Wenn das Saatgut aufgegessen wird. Das neue Weltbank-Konzept vom Wohlstand der Nationen, in: Entwicklung und Zusammenarbeit, 1996/Nr. 2, S. 50-53.

Große-Oetringhaus, Hans-Martin/Strack, Peter (Hrsg.), 1995: Verkaufte Krindheit. Kinderarbeit für den Weltmarkt, Münster.

Human Development Report (UNDP), 1992, New York/Oxford.

Human Development Report (UNDP), 1996, New York/Oxford.

Kapp, K. William, 1979: Soziale Kosten der Marktwirtschaft, Frankfurt/M. (überarbeitete Originalfassung, 1963: Social Costs of Business Enterprise, Bombay/London).

Leipert, Christian, 1989: Die heimlichen Kosten des Fortschritts. Wie Umweltzerstörung das Wirtschaftswachstum fördert, Frankfurt/M.

Marshall, Alfred, 1890: Principles of Economics, London/Basingstoke.

Massarrat, Mohssen, 1978: Die Theorie des ungleichen Tausches in der Sackgasse. Versuch einer Erklärung der Terms of Trade, in: Die Dritte Welt, Nr. 1, S. 40-73.

Massarrat, Mohssen, 1993: Endlichkeit der Natur und Überfluß in der Marktökonomie, Marburg.

Massarrat, Mohssen, 1994a: Warum Rohstoffpreise sinken. Das Dumpingpreistheorem – Fallstudie Öl, in: Peripherie, Nr. 54 (1994), S. 79-100.

Massarrat, Mohssen, 1994b: Energiesteuer – Ökologie auf Kosten der Natur. Überlegungen zu Alternativen, in: Kommune, Nr. 7/1994, S. 42-50.

Pigou, Arthur, C., 1920: The Economics of Welfare, London.

Politische Ökologie, 1996, Nr. 46

Pollmann, Guido, 1988: Zum Beispiel Kinderarbeit, Bornheim-Merten.

Reed, David (ed.), 1996: Structural Adjustment, The Environment, and Sustainable Development, London.

Schelkle, Waltraud, 1995: Die Theorie der geldwirtschaftlichen Entwicklung, in: Entwicklung und Zusammenarbeit, 1995/Nr. 10, S. 267-270.

Schily, Otto, 1994: Flora, Fauna und Finanzen, Hamburg.

Werkstatt Ökonomie Heidelberg, 1994: Mindestens 400.000 „Teppichkinder“, in: Südasien, Nr. 6.

World Bank, 1995: Monitoring environmental progress – A report on Work in progress, Washington.

Anmerkungen

1) Der jüngste UNDP-Human Development Report unterscheidet zwischen fünf nichtnachhaltigen Typen ökonomischen Wachstums: Wachstum ohne neue Arbeitsplätze, Wachstum ohne Skrupel (die Reichen werden reicher, die Armen ärmer), Wachstum ohne Mitspracherecht, Wachstum ohne Wurzeln und Wachstum ohne Zukunft (da übermäßiger Verbrauch von Umweltressourcen) (Human Development Report 1996). Zurück

2) Wenn neoklassische Ökonomen über den langanhaltenden Trend der sinkenden Terms of Trade bei Rohstoffen seit beinahe vierzig Jahren spekulieren, ohne eine überzeugende Erklärung dafür zu liefern, so liegt dies daran, daß sie die Wirkung des Dual-Systems auf Marktbeziehungen aus ihrer Betrachtung ausblenden. Zurück

3) Das in Europa diskutierte Konzept ökologischer Steuerreform mit dem Ziel, den Verbrauch an Energie und mineralischen Rohstoffen zu reduzieren, setzt bei den Ressourcenanbietern des Südens denselben Dual-System-Mechanismus des Verdrängungswettbewerbs, der Produktionssteigerung und der Preissenkung in Gang, der aller Wahrscheinlichkeit nach auch noch zur Steigerung des globalen Verbrauchs führt und so den beabsichtigten Klimaschutzeffekt ins Gegenteil verkehrt (Massarrat, 1994b). Zurück

4) >Vgl. dazu die Kontroverse zwischen Jagdish Bhagwati und Hermann E. Daly in Spektrum der Wissenschaft, Digest: Umwelt und Wirtschaft, 1994. Zurück

5) Erst wenn der Freihandel seine Allokationsfunktion auf der Basis von ökologisch und sozial komparativen Vorteilen ohne Konstenexternalisierung und strukturelles Dumping erfüllen könnte, dürfte es auch möglich sein, die von Hermann E. Daly geforderte Umkehrung des Prinzips „Integration von Volkswirtschaften durch Freihandel unter allen Bedingungen“ in das Prinzip „Integration und Freihandel soviel wie unbedingt nötig“ (Daly, 1994: 60) weltweit durchzusetzen. Zurück

6) Ausführlicher dazu siehe Politische Ökologie, 1996, Nr. 46; darin insbesondere die Beiträge von Wolf Dieter Narr, Martin Jänicke und Mohssen Massarrat. Zurück

Prof. Dr. Mohssen Massarrat lehrt Politikwissenschaft / Internationale Wirtschaftsbeziehungen am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück.