Chinas »Global Civilization Initiative«

Chinas »Global Civilization Initiative«

Friedenspolitische Überlegungen im Wertespektrum von Demokratie und Freiheit

von Doris Vogl

Die »Global Civilization Initiative« ist die neueste politische Kampagne der VR China mit internationaler Ausrichtung. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Initiative erscheint notwendig, erhebt sie doch den Anspruch, zu Weltfrieden und zivilisatorischem Fortschritt der Menschheit beizutragen. Kann sie dies erfüllen und welche Widersprüche bestehen? Welche unterschiedlichen internationalen Reaktionen auf die Initiative lassen sich beobachten? Wie ist der innerchinesische Diskurs dazu?

Vor einigen Monaten wurde in Beijing die sogenannte »Global Civilization Initiative« (GCI) präsentiert. Diese hat im Vergleich zu Chinas »Global Development Initiative« und »Global Security Initiative« bislang wenig internationale Beachtung erfahren. Das mag dem Umstand geschuldet sein, dass bis zum jetzigen Zeitpunkt noch kein offizielles GCI-Konzeptpapier des chinesischen Außenministeriums vorliegt. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Initiative erscheint jedoch keineswegs verfrüht.

GDI, GSI, GCI – die geopolitische Signatur Chinas

Die »Global Civilization Initiative« ist das jüngste Puzzleteil im Gesamtbild rezenter politischer Kampagnen der VR China mit internationaler Ausrichtung. Diese begannen mit der Global Development Initiative (GDI), die während der 76. UN-Generalversammlung im September 2021 lanciert wurde. Die unmittelbare Perzeption in den UN-Strukturen war überwiegend positiv, zumal die Zielsetzungen des GDI-Konzeptpapiers weitgehend punktgenau auf die Agenda der 2030 SDGs (»Sustainable Development Goals«) abgestimmt waren.1 So etwa weist das UN Department of Economic & Social Affairs die GDI als UN-Partnerschaft aus.

Ein halbes Jahr später – im April 2022 – wurden von China die Inhalte einer »Global Security Initiative« (GSI) skizziert, das entsprechende Konzeptpapier sollte jedoch erst im Februar 2023 nachfolgen.2 Beijing verzögerte die Publikation des Dokuments, um bei der Finalisierung der GSI-Prinzipien diverse internationale Reaktionen zu berücksichtigen. Als jüngste Initiative wurde von der Staatsführung der VR China nun im März 2023 die »Global Civilization Initiative« in diskursiven Umlauf gebracht (Xinhua News 2023). Das offizielle Konzeptpapier lässt noch auf sich warten.

Die Schicksalsgemeinschaft der Menschheit

Zum besseren Verständnis der Zivilisationsinitiative ist zunächst ein Blick auf ihre theoretische Einbettung hilfreich. Diese lautet: Die Global Civilization Initiative (GCI) sei – ebenso wie GDI und GSI – eingebunden in das überwölbende Konzept der »Community with a Shared Future for Mankind« (chin.: renlei mingyun gongtongti, wörtliche deutsche Übersetzung: Schicksalsgemeinschaft der Menschheit).3 In der politischen Kommunikation Beijings wird unermüdlich auf diesen theoretischen Überbau hingewiesen.

Zahlreich sind allerdings jene Stimmen, die der »Schicksalsgemeinschaft der Menschheit« lediglich den Nennwert eines inhaltsleeren Schlagwortes zuschreiben. Zwei Fakten sprechen jedoch gegen eine Bewertung der »Schicksalsgemeinschaft der Menschheit« als simples Propaganda-Schlagwort. Zum einen wurde das Konzept im März 2018 in die Präambel der Verfassung der VR China aufgenommen; im September 2023 wurde vom Staatsrat ein entsprechendes Weißbuch publiziert (Staatsrat der VR China 2023). Zum anderen ist in der Volksrepublik seit Jahren ein lebhaft geführter, interdisziplinärer Diskurs zur Thematik zu beobachten (vgl. Jiang 2021, Wang und Ling 2020, Liu und Zheng 2018, Ding und Cheng 2017). Beides weist darauf hin, dass sowohl politische als auch akademische Eliten innerhalb des chinesischen Systems dem Konzept einer »globalen Schicksalsgemeinschaft« einen durchaus gewichtigen theoretischen wie auch realpolitischen Stellenwert zuschreiben.

Hingegen treffen im internationalen Außenverhältnis die Bemühungen Beijings, den Terminus »Community with a Shared Future« in der diplomatischen Diktion zu verankern, auf erheblichen Widerstand. Als Hauptargument wird angeführt, dass die eigentliche strategische Zielsetzung Chinas – unter dem Deckmantel globaler Solidarität und Verbundenheit – der Aufbau einer Neuen Weltordnung unter hegemonialer Zwangsausübung durch die VR China sei (vgl. dazu Havrén 2023, Doshi 2021, Rolland 2020).

Die »Global Civilization Initiative«

In den Konzepten der Globalen Entwicklungsinitiative (GDI) und Globalen Sicherheitsinitiative (GSI) nimmt der kulturelle Aspekt eine nebensächliche Rolle ein. Die Globale Zivilisationsinitiative hingegen beruft sich auf das gedankliche Fundament kultureller Diversität und Gleichstellung. Anstelle von Kultur wird jedoch der Topos »Zivilisation« ins Zentrum gerückt. Die vier offiziellen Kernbotschaften der Initiative lauten:

  • China tritt für die Diversität von Zivilisationen auf gleicher Augenhöhe ein.
  • Ebenso befürwortet China die gemeinsamen Werte menschlicher Zivilisation. Diese lauten: Friede, Entwicklung, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit.
  • Das historische Erbe sowie die innovative Kraft von Zivilisationen werden von China als äußerst wichtig eingeschätzt.
  • In diesem Sinne fördert China inter-zivilisatorischen Dialog und kulturellen Austausch.

Die obigen Kernbotschaften sind an die Weltöffentlichkeit gerichtet, dennoch wird China ebenso im Innenverhältnis bezüglich der tatsächlichen Umsetzung selbiger Prinzipien gemessen. Und genau hier drängen sich unweigerlich Widersprüche zu verfassungsrechtlichen Verpflichtungen der VR China auf.4 Insbesondere die Politik kultureller Zwangsassimilierung muslimischer Bevölkerung5 der Autonomen Region Xinjiang-Uighur mittels obligatorischer Schulungsprogramme mit Zwangsinternierung steht im Mittelpunkt China-kritischer Berichterstattung.

Mit Blick auf die Minderheitenpolitik Chinas erscheint der Autorin im Kontext der Zivilisationsdebatte ein Argument von besonderer Relevanz: In der ethnologischen wie auch ethno-historischen Literatur wird den nomadisierenden Steppenkulturen der Weltgeschichte eine eigenständige »zivilisatorische« Kategorie zugesprochen. Daraus folgt, dass wenngleich eine große Mehrheit der mongolischen, uighurischen, kasachischen oder kirgisischen Minderheiten in der VR China des 21. Jahrhunderts sesshaft leben, sie doch – völlig unabhängig von der chinesischen Zivilisation – auf eine ebenso beeindruckend lange Zivilisationsgeschichte von mehr als drei Jahrtausenden zurückblicken.6

Vor dem Hintergrund chinesischer Real­politik im Innenverhältnis nun ein Blick auf die Ausrichtung der Zivilisationsinitiative im Außenverhältnis: In der zweiten Kernbotschaft sind als gemeinsame Werte menschlicher Zivilisation „Friede, Entwicklung, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit“ genannt. Es überrascht keineswegs, wenn „Entwicklung, Gleichheit und Gerechtigkeit“ in der Auflistung den beiden Werten „Demokratie und Freiheit“ voranstehen. Diese Rangordnung zeichnet sich sinngemäß bereits in der GDI und GSI ab und entspricht der von China vertretenen Position in der Menschenrechtsdebatte.

Beijing betont mit Nachdruck, die Globale Zivilisationsinitiative sei letztlich als globale Friedensinitiative zu verstehen. Deshalb sei »Friede« als gemeinsamer Wert menschlicher Zivilisation an erster Stelle angeführt. Dieser pazifistischen Ambition steht allerdings mancherorts eine kritische Bewertung der Positionierung von »Demokratie und Freiheit« als Schlusslichter zivilisatorischer Werte der Menschheit entgegen. So etwa widerspricht Taiwan dieser Schlusslicht-Positionierung auf offizieller Ebene mit einem Gegenentwurf (Sioco 2023), worin Freiheit und Demokratie an vorrangiger Stelle als Werte menschlicher Zivilisation angeführt werden.

Mit Veröffentlichung des GCI-Konzeptpapiers wird sich erwartbar die kontroverse Wertedebatte auch in Europa fortsetzen. In anderen Regionen dieser Erde mag jedoch diese »Friedensinitiative« Chinas überwiegend positiv aufgenommen werden; diese Überlegung darf nicht unerwähnt bleiben.

Einblicke in den chinesischen Diskurs

Abgesehen von starker Divergenz in der Werte-Orientierung ist noch ein weiterer Faktor für eine negative Perzeption der Zivilisationsinitiative in Europa verantwortlich. Hier ist die zunehmend laut vorgetragene Kritik Chinas an westlicher Friedenspolitik in UN-Gremien und anderen internationalen Organisationen zu nennen:

„Die liberale Friedensarbeit (peace building) geht davon aus, dass internationale Intervention ein Privileg westlicher Staaten ist und nicht-westliche Staaten als Interventionsraum fungieren. Es wird vorausgesetzt, dass westliche Expert*innen über Wissen, Technologien und Mittel zur Problemfindung verfügen. Durch Verunglimpfung der nicht-westlichen Welt als rückständiges und turbulentes »Gegenüber«, haben diese Akteure erfolgreich den »Entwicklungsdiskurs« kontrolliert, welcher sich in weiterer Folge zu einer »Diskurshegemonie« und »Diskursherrschaft« entwickelt hat.“ (Li 2022, S. 47)

Die Frage westlicher »Diskurs-Hegemonie« in den Bereichen Friedensförderung und Konfliktmanagement wird ebenso in der GCI-Forderung nach gleicher Augenhöhe im Umgang mit unterschiedlichen Zivilisationen adressiert.

Eine zusätzliche Problemstellung bei der Frage nach friedenspolitischen Konsequenzen der GCI ist die Haltung Chinas hinsichtlich »Einmischung in innere Angelegenheiten«. Hier besteht ein Widerspruch zwischen der Interpretation westlicher Friedenspolitik als »Intervention« einerseits und der äußerst großzügigen Bereitstellung chinesischer Kontingente für UN-Friedensmissionen andererseits. In diesem Sinne ist auch Chinas nachdrückliche Forderung nach »Diskursteilnahme« im Rahmen globaler Friedenspolitik zu verstehen.

Zweifelsohne steht die westliche Perzeption der Zivilisationsinitiative im Gegensatz zum chinesischen Diskurs: Im Globalen Norden wird die GCI als konfrontativ und offensiv wahrgenommen, China hingegen spricht von der Notwendigkeit einer friedenserhaltenden Reaktion auf das gegenwärtige konfrontative Weltgeschehen. Entlang dieser Argumentationslinie wird auf zunehmend rivalisierende Diskurse zum Zivilisationsgedanken in unterschiedlichen Regionen der Welt verwiesen. Als regionale Akteure werden die Türkei, Russland, Indien aber auch die Europäische Union genannt. Vor dem Hintergrund dieses Risiko-Szenarios wird Chinas Aufgabe abgeleitet, der bereits aufkeimenden Rivalität unter den neuen regionalen Zivilisationen friedensbewahrend entgegenzusteuern:

„Zum gegenwärtigen weltgeschichtlichen Zeitpunkt ist Chinas Aufstieg von universeller Bedeutung, nämlich in dem Sinne als der Aufstieg Chinas und das Wiedererwachen des Zivilisationsgedankens in anderen Regionen aufeinander abgestimmt werden muss, um eine neuerliche »clash of civilizations« Tragödie zu vermeiden, wie sie im Kampf regionaler Zivilisationen um Vorherrschaft im Zuge des Niedergangs von Weltreichen stattfindet.“ (Jiang 2023, o.S.)

Die Schlüsselbegriffe der ersten Kernbotschaft der chinesischen Zivilisations­initiative lauten »Diversität« und »gleiche Augenhöhe«. Auch hier hat Beijing das normative Gefälle zwischen Kulturen des Globalen Südens und des Westens im Blick. Der chinesische akademische Diskurs nimmt jedoch ebenso Bezug auf die zivilisatorische Entwicklung Europas:

„Die spätere Entwicklung Europas basiert ebenso auf dem Wettbewerb zwischen verschiedenen Zivilisationen. Die Verteidigung von Pluralismus bedeutet daher, dass wir die Eindämmung von Kreativität innerhalb eines Landes wie auch auf zwischenstaatlicher Ebene durch Monopole oder andere Maßnahmen, die sichtbare und unsichtbare Mauern zur Unterdrückung freier Kommunikation errichten, abwehren müssen.“ (Bai 2022, o.S.)

Interessanterweise werden hier diverse, miteinander konkurrierende, europäische Zivilisationen postuliert. Auch Chinas geopolitisches Selbstverständnis als Schutzmacht für Innovation und Fortschritt ohne Einschränkung, taucht in direkter Verbindung mit der Zivilisationsdebatte auf.

Wohin diese Debatte führen könnte

Anhand der aufgezeigten Diskursmuster ist deutlich erkennbar, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt gerade die Wertung der Aufreihung der Einzelwerte im Wertespektrum in der Zivilisationsdebatte einen globalen Konsens verhindert. Aufbauend auf die vorgelegte Initiative könnte inter-zivilisatorischer Dialog und kultureller Austausch zwar gepflegt und intensiviert werden. Doch beim Kampf um knapper werdende Ressourcen und regionale ökonomische Vormachtstellung rückt die Zivilisationsfrage in den Hintergrund. Nach Ansicht der Autorin werden in der derzeitigen politischen Landschaft jene Elemente der chinesischen Zivilisationsinitiative, die eine globale friedens­erhaltende Botschaft enthalten, nur bei Gefährdung der gesamten menschlichen Zivilisation zum Zug kommen. Erst in einem so konkreten Fall akuter Gefährdung würde das Konkurrenzverhältnis politischer Systeme und ihrer Wertmuster in den Hintergrund rücken. Auf den Punkt gebracht: Kompromissfindung angesichts eines drohenden zivilisatorischen Armageddon. Diese Schlussfolgerung ist wohlweislich ernüchternd und schließt den Kreis mit Verweis auf Chinas Konzept einer »Schicksalsgemeinschaft der Menschheit«.

Anmerkungen

1) In englischer Fassung publiziert als: Ministry of Foreign Affairs of the PR China (21.09.2021): The Global Development Initiative Concept Paper.

2) In englischer Fassung publiziert als: Ministry of Foreign Affairs of the PR China (21.02.2023): The Global Security Initiative Concept Paper.

3) Der Begriff »Schicksalsgemeinschaft« stieß in UNO-Kreisen auf Widerstand, weshalb China die offizielle englische Diktion auf »Zukunftsgemeinschaft« abänderte. Ich halte mich jedoch an die sinngemäße Übersetzung.

4) So besagt die Verfassung der VR China in Art. 119: „Die unabhängigen Organe der autonomen ethnischen Gebiete verwalten die Bildungs-, Wissenschafts-, Kultur-, Gesundheits- und Sportvorhaben in ihren Gebieten eigenverantwortlich, sie schützen das kulturelle Erbe ihrer ethnischen Gruppen und stellen es wieder her; und fördern die Entwicklung und das Gedeihen der ethnischen Kulturen”.

5) Die Autonome Region Xinjiang-Uighur umfasst ebenso autonome Bezirke für die kirgisische und kasachische Volksgruppe.

6) Zeitgleich mit der Shang-Dynastie (ca. 1600-1045 v.Chr.) wurde im Bronze-Zeitalter in der mongolischen Steppe die Domestizierung von Reittieren nachgewiesen, siehe Taylor et al. (2017); siehe auch Studien zu den historischen Reitervölkern der Xiongnu und Wusun.

Literatur

Bai, Tongdong (2022): The margins of civilization. Reflections on the historical position of Chinese civilization and the progress of human civilization. Übersetzt von David Ownby. Online Journal »Reading the China Dream«, ohne Datum.

Ding, Jun; Cheng, Hongjin 2017): China’s proposition to build a community with a shared future for mankind and the Middle East governance. Asian Journal of Middle Eastern and Islamic Studies 2017(4), S. 1-14.

Doshi, R. (2021): The Long Game. Chinas grand strategy to displace American order. Oxford: Oxford University Press.

Havrén, S. A. (2023): Chinas strategy for Europe in 2035. A look at what the future may hold. Per Concordiam – Journal of European Security and Defense Issues, 20.6.2023.

Jiang, Shigong (2023): World empire and the Return of civilization. Taking seriously the post-cold war discourse of civilizational revival. Übersetzt von David Ownby. Online Journal »Reading the China Dream«, ohne Datum.

Jiang, Shixue (2021): China´s contributions to the building of a community with a shared future for mankind. China Quarterly of International Strategic Studies 2021(4), S. 349-381.

Li, Yincai (2022): Beyond liberalism: The logic of liberal peacebuilding and its criticism. In: Guo, Yanjun; Miao, Ji (Hrsg.): Preventive diplomacy, peacebuilding and security in the Asia-Pacific. Singapur: World Scientific Publishing, S. 27-61.

Liu, Hong; Zhang, Yuxuan (2018): Building a community of shared future for mankind – an ethnological perspective. International Journal of Anthropology & Ethnology 2018(2), SpringerOpen, 06.11.2018.

Rolland, N. (2020): China’s vision for a New World Order. NBR Special Report 83, The National Bureau of Asian Research.

Sioco, M.A. (2023): Instead of unification, Taiwanese People want democracy, freedom and human rights: Foreign Ministry. Radio Taiwan International, 3.10.2023.

Staatsrat der VR China (2023): A global community of shared future: China’s proposals and actions. 26.9.2023.

Taylor, W.W. et al.(2017): A Bayesian chronology for early domestic horse use in the Eastern Steppe. Journal of Archaeological Science 81(5), S. 49-58.

Wang, Jinguo; Ling, Xiaoxiong (2020): A community with a shared future for mankind from the perspective of International Discourse Politics. Institute for Central Asian Studies, Lanzhou University, 27.3.2020.

Xinhua News (2023):Full text of Xi Jinping’s keynote address at the CPC in dialogue with world political parties high-level meeting. 16.3.2023.

Doris Vogl ist Lektorin an der Universität Wien und als externe China-Expertin für das österreichische Bundesministerium für Landesverteidigung tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind China, Human Security in Krisengebieten, EU-Sicherheitspolitik.

Afroplanetarismus als Friedensphilosophie

Afroplanetarismus als Friedensphilosophie

von Korassi Téwéché

Wie lässt sich nach den Gräueln des Kolonialismus über Frieden sprechen? Dieser Text diskutiert die Hypothese, dass die Voraussetzung für eine echte Emanzipation des postkolonialen Subjekts die Transzendenz1 des Historizismus ist. Mit dem Ansatz der organischen Philosophie und des Afroplanetarismus wird diese neue Art und Weise vorgestellt, die individuelle und kollektive Existenz des Menschen auf einer neuen Grundlage, d.h. jenseits des Einzelfaktors Geschichte zu verstehen und positiv zu gestalten.

Eine kritische Analyse der zeitgenössischen philosophischen Reflexionen über »Krieg« und »Frieden« in der Welt und insbesondere in Afrika zeigt eine ständige Bezugnahme auf die Kolonialgeschichte (vgl. Mbembe 2017; Mamdani 2020). Dies basiert auf der Annahme, dass die heutigen Konflikte im Bereich der internationalen Beziehungen ein Abbild der Kolonialkriege von gestern seien (Mamdani 1996, 2003; Henderson und Singer 2020). Im Folgenden argumentiere ich, dass dieser Bezug auf die Geschichte ein epistemisches Hindernis für ein klareres analytisches Verständnis der Gegenwart darstellt. Als Alternative zum postkolonialen Ansatz postuliere ich die Methode der organischen Philosophie, die eine Transzendenz des Historizismus voraussetzt.2 Die Analyse der Grundlagen, der Bedeutung und der Implikationen des Konzepts der »Transzendenz« ist die Basis für die Diskussion des daraus sich ergebenden Afroplanetarismus als einer Friedensphilosophie.

Der Historizismus des postkolonialen Paradigmas

Unter »Historizismus« ist eine mimetische und fetischistische Bezugnahme der postkolonialen kritischen Theorie auf die Geschichte des Kolonialismus und seine Wissensobjekte zu verstehen.3 Ziel eines solchen Ansatzes ist es, eine Erklärung für die zeitgenössischen soziopolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Dynamiken zu liefern und deren Logik aus der Reflexion über die Vergangenheit zu ermitteln.

Die Theorie wird als »mimetisch« bezeichnet, da die Beobachtung der Realität Afrikas und der heutigen Welt ausschließlich durch die koloniale Vergangenheit erfolgt. Die aktuelle Realität wird nicht unmittelbar in sich selbst erfasst. Zwischen ihr und dem Blick der beobachtenden Person befindet sich die Maske der Kolonialgeschichte, ihrer Figuren, ihrer Verbrechensszenen, ihrer makabren Ästhetik (vgl. Mbembe 2017, S. 26; 2016). Die Realität wird als ständige Wiederkehr dieser Logik begriffen, die Kritiker*innen mithilfe der Sprachanalyse und der Kritik sozialer, politischer, wirtschaftlicher, kultureller, religiöser, ästhetischer u.a. Strukturen auf ihren Sinn hin untersuchen wollen (vgl. Mbembe 2014, S. 122). Deshalb werden in der Kritik ständig Kategorien wie »Weiß«, »Schwarz«, »Europäer*innen«, »Afrikaner*innen«, »westlich« usw. verwendet, als würden diese auf greifbare Identitäten verweisen und etwa der »Kolonialherr« und der »Kolonialisierte« diesen »Essenzen« entsprechen (vgl. Mbembe 2014, S. 256). Sie existieren jenseits von kolonialem Raum und Zeit und werden in der Gegenwart verkörpert, wenn auch unter mehr oder weniger veränderten Aspekten.

Die Idee des »Fetischismus« erklärt die psychologische Basis des Historizismus. Sie bedeutet, dass die Reproduktion der vergangenen Wissensobjekte in der Theorie keinen Selbstzweck hat. Vielmehr dient sie als Grundlage für eine praktische Moral der postkolonialen Subjekte im Alltag. Der Zweck des postkolonialen Handelns besteht in der Befreiung der postkolonialen Subjekte von der Gewalt dieser andauernden Vergangenheit. In diesem Sinne ist auch das Argument des »strategischen Essentialismus« von Gayatri Spivak (1988) in ihrem Beitrag »Can the subaltern speak?« zu interpretieren. Die Verwendung essentialistischer Kategorien wird durch ihren praktischen Zweck gerechtfertigt. Sie dienen als Organisationsmittel der »Subalternen« gegen die neokolonialen Mächte (Spivak 2001). Eine ähnliche »Strategie« findet sich auch in den Arbeiten von Edward Said (1978) und Achille Mbembe (2014), insbesondere bei der gezielten Verwendung der Begriffe »Orientalismus« und »Neger«.

Zwar lässt sich einwenden, dass der Bezug auf die Geschichte eine polemische, subversive oder kritische Bedeutung hat. Doch die kritische Analyse dieses Ansatzes lässt einen Widerspruch erkennen (vgl. Theombogü 2023). Einerseits beansprucht die Theorie, das koloniale Ereignis, seine Objekte, seine Raum-Zeit-Dimension und die Strukturen seines Imaginären zu kritisieren (vgl. Mbembe et al. 2006). Andererseits essentialisiert und verstetigt sie diese Objekte, indem sie ihnen eine Vorrangstellung gegenüber allen anderen Zeit- und Räumlichkeiten einräumt. Im weiteren Verlauf dieses Beitrags erörtere ich die Frage nach den Konsequenzen eines solchen Historizismus für die effektive Befreiung und Emanzipation von Menschen aus zeitgenössischer Gewalt. Dabei wird vor allem die Frage beantwortet, was es unter einem solchen Kontext bedeutet, Frieden zu schaffen.

Eine organische Philosophie für eine Transzendenz des Historizismus

Was ich als organische Philosophie bezeichne bedeutet, den Menschen nicht als reines Produkt der Geschichte zu betrachten, sondern als Konjunktion4 von Subjektivität und Realität des Lebens.5 Dies bedeutet zum einen die Fähigkeit des Subjekts, sich selbst und der Welt unmittelbar anwesend zu sein, und zum anderen die Aktualisierung seiner Fähigkeiten durch Handeln und positive Selbsttransformation im Alltag. Das Subjekt nimmt seine Existenz als das Ereignis eines Aufenthalts auf, den es unmittelbar hinterfragt, versteht und gestaltet (vgl. Boulaga 1977). Daraus ergibt sich das Postulat dieser Philosophie, dass der Reparation notwendigerweise die Transzendenz des Historizismus vorausgeht. Die Erläuterung dieser These wird Gegenstand der folgenden Ausführungen sein. Dafür werde ich den Begriff von »Reparation« einführen, der zugleich als Transzendenz und Emanzipation des Diskurses über die Vergangenheit gelten soll.

Das Konzept der »Transzendenz« bedeutet nicht eine Verleugnung des Kolonialismus, vielmehr die Konjunktion des Subjekts und der Realität der Phänomene, die es unmittelbar in seinem Alltag erfährt. Zwar begleitet die Vergangenheit den Menschen in seinem Verhalten, seinem Denken, seinen Gefühlen und seinem Gedächtnis. Jedoch ist er nicht unbedingt durch diese Einflüsse bestimmt. Die Wirklichkeit, die er erlebt, ist der kontinuierliche Ausdruck einer Transzendenz, d.h. einer unmittelbaren Beziehung zum Dasein, und nicht die Reproduktion einer Vergangenheit, die sie absolut determiniert. Im Alltag zeigt sich diese Kraft der Transzendenz in der Betätigung des eigenen Willens, der Wünsche, der Gefühle und der Motivation. Die Kriege der Gegenwart sind deswegen keine Wiederholung der Vergangenheit. Wenn jemand nicht als Mensch respektiert wird, oder wenn seine Rechte auf Meinungsfreiheit, Mobilität, Bildung, Gemeineigentum, usw. verletzt oder vorenthalten werden, dann weiß der Mensch, dass er sich im Krieg befindet. Außerdem ist ihm Frieden unmittelbar im Alltag bekannt. Der Mensch erfährt ihn, wenn er in die Ruhe kommt, im Einklang mit sich selbst und dem Universum ist. Diese Ruhe kommt nur, wenn man sich gegenseitig zuhören kann, wenn man respektiert wird, wenn das Gemeineigentum des Lebens gerecht verteilt wird. Daher lässt sich argumentieren, dass die Transzendenz ein Symbol der Freiheit sowie der Verantwortung des Menschen im Alltag ist.

Außerdem setzt die Idee des »emanzipatorischen Diskurses«, wie ich sie hier verwende, eine unmittelbare Kenntnis der Wirklichkeit im Alltag voraus. Dieser Diskurs ist keine Rede über die Vergangenheit mehr, sondern ein Schweigen. Schweigen heißt in der Gegenwart agieren, sich von der Ignoranz freizumachen, über die Geschichte zu reden, ohne die unmittelbare Realität und die aktuelle Freiheit bzw. Verantwortung des Menschen gegenüber seinem Dasein zu berücksichtigen. Es heißt auch, das alltägliche Leben selbst zu reparieren, Frieden in der aktuellen Wirklichkeit zu schöpfen. Ein Beispiel für diese Art des Denkens ist die ursprüngliche Version des postkolonialen Diskurses. Dies war die Rede Fanons, der sein berühmtes Werk »Schwarze Haut, weiße Masken« mit einer langen Prosa an die Freiheit beendete, in der er schrieb: „Ich erkenne mich als Mensch in einer Welt, in der die Worte sich in Schweigen auflösen; in einer Welt, in der der andere sich endlos verhärtet. Nein, ich habe kein Recht, mich hierhin zu begeben und meinen Hass auf den Weißen herauszuschreien. Ich bin nicht verpflichtet, dem Weißen meine Dankbarkeit zuzuflüstern. Es gibt mein Leben, das im Lasso des Daseins gefangen ist. Es gibt meine Freiheit, die mich auf mich selbst zurückwirft. Nein, ich habe kein Recht, ein Schwarzer zu sein. Ich habe keine Pflicht, dies oder jenes zu sein.“ (Fanon 1952, S. 185)6 Ziel von Fanons Diskurs war, nicht eine bloße Kritik des sogenannten »Westens« zu formulieren, sondern im Alltag ganz konkret das Leben vor der Macht des Todes zu retten. Reden bedeutete zuerst schweigen, danach agieren, die Realität positiv gestalten; Frieden in der Wirklichkeit realisieren. Die Rede begleitet immer das Handeln und zielt darauf ab, über dieses zu reflektieren bzw. zu meditieren.

Mit meinem Postulat der organischen Philosophie möchte ich also diese Rückkehr zum Leben des Subjekts selbst, jenseits des Historizismus, hervorheben. Diese Rückkehr kann zwar mit dem Fanon’schen Konzept der Freiheit verglichen werden, wenn er schreibt: „Ich bin mein eigenes Fundament. Und indem ich die historische, instrumentelle Gegebenheit überwinde, führe ich den Zyklus meiner Freiheit ein“ (Fanon 1952, S. 187). Jenseits der Bestätigung der Freiheit möchte allerdings die Idee der Transzendenz die konkrete, alltägliche und effektive Dimension der Entdeckung des Fundaments hervorheben. Das postkoloniale Subjekt ist nur dann wirklich frei, wenn es das Leben selbst erfährt und seinen Alltag transformiert. Mit dem Begriff der Transzendenz bezeichne ich diese Konjunktion des Subjekts mit dem Leben, die seine Transformation über die bloße Grundsatzerklärung einer Freiheit hinaus bewirkt. Dies scheint mir die grundlegende Voraussetzung dafür zu sein, dass die Freiheit des postkolonialen Subjekts verwirklicht werden kann.

Dieser Diskurs unterscheidet sich grundsätzlich von dem Diskurs, den ich »Historizismus« nenne. Gegenstand von diesem ist nicht Frieden durch Handeln zu schaffen; vielmehr geht es darum, das Bild einer Epoche widerzuspiegeln. Zwar wird über Krieg, Frieden, Leben und Tod geredet. Doch die Rede wird durch den Spiegel einer Epoche reflektiert. Die Protagonist*innen dieser Epoche – »Afrika«, der »Westen«, der »Neger«, der »weiße Kolonialherr« usw. – werden dargestellt, kritisiert, dekonstruiert. Es geht wesentlich um einen Kampf der Repräsentation, bei denen die Szene die Vergangenheit ist und die Protagonist*innen immer wieder dieselben Gesten, Worte, Gedanken und Gefühle mimen. Reden heißt in diesem Fall, eine Szene vorstellen, sie vergleichen, oder gleichsetzen. Handeln wird mit Reden gleichgesetzt. Die historizistische Grundannahme ist, dass der Mensch nicht genug weiß, was Krieg ist, weder jener der Vergangenheit noch jener der Gegenwart. Darüber zu reden, heißt, so lautet die zweite Annahme des Historizismus, eine Reparation zu leisten. Doch die Frage ist, inwiefern dieser Diskurs einen echten Weg zur Wiedergutmachung bzw. zum Frieden in Afrika und in der Welt bildet? Im letzten Teil meiner Argumentation möchte ich erklären, wie das Postulat der organischen Philosophie, wie es zuvor formuliert wurde, der Ausgangspunkt für ein neues Konzept von Frieden und Reparation als Alternative zu der Perspektive des Historizismus in Afrika sein könnte.

Der Afroplanetarismus als Friedensphilosophie

Unter Afroplanetarismus verstehe ich eine neue Art und Weise, Afrika ausgehend von dem Postulat der organischen Philosophie zu denken. Sowohl dieser Kontinent als auch sein Verhältnis zur Erde werden nicht mehr notwendigerweise in Bezug auf die Kolonialgeschichte betrachtet, sondern aus der Transzendenz, durch die die Subjekte ihre Geschichte überwinden. Das postkoloniale Subjekt, das in einer unmittelbaren Alltagsbeziehung zu sich selbst existiert, erfährt so einerseits seine Freiheit und schafft andererseits die Bedingungen für seine positive Selbsttransformation. Statt als Objekt eines Determinismus der Kolonialgeschichte wird somit die Welt des Subjekts zum Horizont einer Freiheit und einer Möglichkeit, die bereits das unmittelbare Leben auf der Erde in sich birgt. Insofern überwindet der Afroplanetarismus das koloniale Konstrukt »Afrika« in einen neuen Weltbezug zur planetarischen bzw. organischen Realität des Lebens. Aus diesem Ansatz der organischen Philosophie möchte ich nun für ein differenziertes Konzept des Friedens und der Reparation in Afrika argumentieren.

Diese Philosophie will die Bedingung eines friedlichen Lebens in Afrika und der Welt schaffen, indem sie den Weg für einen alternativen Diskurs öffnet. Statt über eine wiederkehrende koloniale Vergangenheit zu reden, wird hier die Macht des Schweigens vorgeschlagen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein resigniertes Schweigen, das die Kolonialvergangenheit vergisst bzw. verdrängt, sondern um die Ruhe der Transzendenz. Das Subjekt erkennt zwar die Verbrechen der Kolonialgeschichte an, kann sich dennoch von ihnen befreien. Durch den täglichen Einsatz seines Intellekts, seines Herzens und seines Willens öffnet das Subjekt sich den aktuellen Lebensumständen, um darin neue Möglichkeiten für ein emanzipatorisches Handeln zu entdecken, das überwindet und nicht erstarrt. Es heißt jeden Tag in der Realität zu landen und sie von innen zu gestalten. Der Frieden wird nur dadurch entstehen, indem das Leben im Alltag empfangen wird. Zwei Aspekte scheinen hier wichtig: Erstens, sich als Dasein wahrzunehmen. Dasein bedeutet konkret, die Grundbedingungen des eigenen Lebens und des Zusammenlebens zu manifestieren: den Körper, den Geist, die Intelligenz, die Lebensressourcen zu gestalten. Es geht darum, die Potentiale des Subjekts zu verwirklichen. Ziel ist die positive Transformation des eigenen Lebens durch ein unmittelbares Wissen über die Wirklichkeit zu ermöglichen.

Insofern bedeutet Afroplanetarismus die Geschichte Afrikas und ihre Fetischobjekte bzw. Bilder zu transzendieren. Es heißt zur Realität des Lebens des postkolonialen Subjekts zurückzukehren, die Möglichkeiten seines eigenen Daseins zu übernehmen und die epistemologischen, politischen, und ethischen Implikationen dieses Wissens für das Zusammenleben auf diesem Kontinent und der Welt zu verstehen. Epistemologisch heißt es, dass kein Bild der Geschichte an sich die absolute Wahrheit darstellt, sondern nur einen Teil davon. Politisch bedeutet es, dass die Bilder der Gesellschaften begrenzt sind. Ethisch heißt es, dass das Handeln des Menschen so mit den Potentialitäten des Lebens in Einklang gebracht werden muss, damit der Mensch sich entfalten kann. Was der Mensch wirklich ist, realisiert er im Alltag. Zwar hat die Geschichte eine große Bedeutung für sein individuelles und kollektives Gedächtnis. Doch jenseits der Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis hat jedes Individuum bzw. jede Gesellschaft die Kraft, sich immer wieder neu zu erfinden, um über ihre Grenzen hinauszuwachsen. Diese Fähigkeit, sich selbst zu erfinden, kann nur verwirklicht werden, wenn der Mensch sich von der fetischistischen Bindung an die Objekte seiner Vergangenheit löst und sich dynamisch die Wirklichkeit aneignet, die sich unmittelbar in seiner Gegenwart ergibt.

Diese Idee nun zu einem »Afroplanetarismus als ewiger Frieden« (in Symmetrie zur berühmten Kant’schen Konstruktion) erweitert zu denken bedeutet dann, erstens die Bedingungen für ein gemeinsames Leben im Alltag zu schaffen, zweitens, die partikulären Geschichten und Bilder unserer Gesellschaften zu überwinden, und drittens die Ordnung des Universums ins Leben zu bringen. Diese drei Wahrheiten sind meiner Meinung nach die Grundbedingung des ewigen Friedens.

Fazit

Es ist ein großer Fehler mit Heraklit zu behaupten, dass der Krieg der Vater aller Dinge“ ist. Durch seine Intelligenz weiß der Mensch, dass hinter dem scheinbaren Krieg im Weltall eine immanente Harmonie liegt. Die Gegensätze bilden eine lebendige Synthese, in der jedes Element seinen Platz hat. Aber diese Harmonie ist dem Menschen nicht gegeben. Er muss sie verwirklichen, indem er seine Intelligenz, sein Herz und seinen Willen im Alltag koordiniert. Dies setzt eine kontinuierliche Transzendenz seiner gewaltvollen Vergangenheit voraus. Zwar wird ihn dies trotzdem begleiten, jedoch kann er sich davon befreien und die Gegenwart erneut anders gestalten. Erst dann wird seine Menschlichkeit jeden Tag offenbar.

Anmerkungen

1) Hier und im Folgenden wird das Wort »Transzendenz« im transitiven Sinne eines »Übersteigens«, »Überwindens« verwendet.

2) Ich bevorzuge den Begriff »Methode« statt »Tradition« oder »Schule«. Denn die organische Philosophie ist keine etablierte Philosophie, sondern ein epistemologischer Ansatz, den ich vorschlage und der sich vom Ansatz des postkolonialen Historizismus unterscheiden soll.

3) Darin grenzt sich dieser Begriff von dem der deutschen Idealisten sowie von strukturalistischen und poststrukturalistischen Theorien ab (vgl. Scholtz 1989).

4) Ich verwende das Wort »Konjunktion« nach der ursprünglichen Bedeutung des lateinischen »conjunctio«, was eben Verbindung, Vereinigung bedeutet.

5) In einem früheren Text erörterte ich im Zusammenhang mit der Debatte um die Rückgabe afrikanischer Kunstobjekte diese Idee des Primats des Lebens über seine kontingenten Äußerungen (vgl. Téwéché 2023, S. 37).

6) Ich folge hier nicht der deutschen Übersetzung von Fanons Buch, um einige Begriffe besser hervorheben zu können.

Literatur

Boulaga, F. E. (1977): La crise du Muntu: authenticité africaine et philosophie. Paris: Présence africaine.

Fanon, F. (1952): Peau noire masques blancs. Paris: Seuil.

Henderson, E. A.; Singer, J. D. (2000): Civil war in the post-colonial world, 1946-92. Journal of Peace research 37(3), S. 275-299.

Mamdani, M. (1996): Citizen and Subject: Contemporary Africa and the Legacy of Late Colonialism. Princeton: Princeton University Press.

Mamdani, M. (2003): Making sense of political violence in postcolonial Africa. In: Lundestad, G.; Njølstad, O. (Hrsg.): War and Peace in the 20th Century and Beyond. Oslo: World Scientific Publishing Company, S. 71-99.

Mamdani, M. (2020): When victims become killers: Colonialism, nativism, and the genocide in Rwanda. Princeton: Princeton University Press.

Mbembe, A. (2014): Kritik der schwarzen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Scholtz, G. (1989): Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert. Archiv für Kulturgeschichte 71(2), S. 463-486.

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Spivak, G. (2001): The Norton anthology of theory and criticism. New York: WW. Norton.

Téwéché, K. (2023): De-fetishizing restitutions! On the Ethical Stakes of Restitutions Debate. Forum Wissenschaft 2/2023. S. 35-38.

Theombogü (2023): En Afropolitanie. Po&sie 2023/1-2 (183/184), S. 199-206.

Korassi Téwéché interessiert sich u.a. für Philosophie, Kunst – Film, Fotografie – und Geschichte. Sein letzter Artikel »De-fetishizing restitutions! On the Ethical Stakes of Restitutions Debate« erschien in Forum Wissenschaft (2/2023).

„Nächstenliebe, die Mutter aller Kriege“?

„Nächstenliebe, die Mutter aller Kriege“?

Chancen und Grenzen einer Mitleidsethik als Friedensethik

von Konstantin Funk

Für den englischen Moralphilosophen Bernard Williams ist der Beginn ethischen Verstehens ganz unmittelbar an das Mitgefühl geknüpft: Wenn ich nicht mit meinem Gegenüber mitempfinde, so entdecke ich auch keine Gründe, ihm zu helfen, also etwas zu tun oder zu unterlassen. Die moderne Emotionsforschung scheint dem fünfzig Jahre alten Text von ­Williams Recht zu geben: Emotion und Empathie haben als kognitiv gehaltvolle Wahrnehmungen Erkenntniskraft! Ist das emotionale Miterleben, also Empathie, auch der Startpunkt einer gelingenden Friedensethik?

Der Versuch einer erkenntnistheoretischen Verhältnisbestimmung von Emotion, Gefühl, Affekt auf der einen und Vernunft und Verstand auf der anderen Seite ist so alt wie die Philosophie. Fast immer fiel die Entscheidung zugunsten der Vernunft aus; Gefühle schienen Störfaktoren, die vom Eigentlichen ablenken. Wollte man objektiv urteilen, die Dinge klar und deutlich sehen, so waren subjektive Gefühlswelten nicht gefragt. Immerhin, so eine klassische metaethische Argumentation des ausgehenden 19. Jahrhunderts, spielen sie in den Naturwissenschaften auch keine Rolle im Erkenntnisprozess: CO2 + H2O ergibt H2CO3, egal was ich dabei empfinde. Heute weiß man aber, dass Emotionen klug gewordene Erkenntnisinstrumente sind, weil sie die Wahrnehmungs»form« darstellen, in die unsere lebensweltliche Erfahrungshistorie gegossen wird. Heutzutage wird weniger ein Entweder-Oder diskutiert als vielmehr die jeweiligen Grenzen von Vernunft, von Emotion und Empathie. Immerhin erscheinen letztere mit Blick auf die aktuelle Publikationsfülle zum Thema „nahezu als Allheilmittel gegen Krieg, Leid und Ungerechtigkeit“, wie Fritz Breithaupt schreibt (2019, S. 11). Das aber, so Breithaupt, sei zu einfach, weil wir in aller Regel nur mit unseren Nächsten und Liebsten und weniger mit dem Fremden und Unbekannten mitfühlen und wir gerade deshalb „Schreckliches mit und aus Empathie tun“ (ebd.).

In der Tat: Dass unser Mitgefühl Grenzen hat, ist offensichtlich. Hat es das nicht, folgen auf der anderen Seite empathische Überanstrengung und Überforderung bis hin zur Selbstaufgabe. Die Begegnung zweier großer Philosophinnen Anfang des 21. Jahrhunderts zeugt davon.

„Eine große Hungersnot hatte China heimgesucht, und man hatte mir erzählt, daß sie bei Bekanntgabe dieser Nachricht in Schluchzen ausgebrochen sei: diese Tränen zwangen mir noch mehr Achtung für sie ab als ihre Begabung für Philosophie. Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen.“ (De Beauvoir 1997, S. 347, meine Hervorh.)

Simone De Beauvoir trifft Simone Weil an der Sorbonne und beschreibt hier eine Erinnerung an die für ihre Aufopferung und Hingabe bekannte Philosophin in jungen Jahren; beide bereiten sich gerade auf die gleichen Prüfungen vor. Weil scheint das beste Beispiel für eine Karriere machende Überlegung in Bernard Williams’ Erstlingswerk »Morality. An Introduction to Ethics« zu sein: Williams schlägt gleich im ersten Kapitel vor, den Startpunkt eines jeden moralischen Verstehens weniger im rationalen Argument als viel mehr im Mitgefühl zu verorten. Hier würden Handlungsgründe entdeckt und barmherzig agiert, hier bemühten wir uns um die Perspektivenübernahme des Gegenübers. Mitgefühl aber haben wir, so behauptet es Williams – ähnlich wie oben auch Breithaupt –, in erster Linie mit den Liebsten in unserem nächsten Umfeld und weniger mit Fremden und Unbekannten. Deshalb sei in Konsequenz dieser allen Menschen gemeinsame empathische Nahhorizont auszuweiten, so dass auch ursprünglich »Außenstehende« ethisch begriffen werden können:

„Wenn wir einem Menschen auch nur ein Minimum von Zuneigung und Mitgefühl mit anderen konzedieren, brauchen wir keine radikal neuen Denk- und Erlebnisweisen zu postulieren, die ihm den Zugang zur Welt der Moral eröffnen könnten; eine bloße Erweiterung von Eigenschaften, die er schon besitzt, genügt“ (Williams 1978, S. 19).

Wenn wir unser Mitgefühl von den Nächsten zum Fremden tatsächlich ausdehnen könnten, so Williams, wäre der erste Schritt ethischen Verstehens, für das Entdecken des zu Tuenden, bereits getan.

Kann das gelingen? Simone Weil verweist in ihrer sie zur Verzweiflung treibenden Begabung, mit dem „ganzen Erdkreis“ (s.o.) mitfühlen zu können, ungeachtet ihrer großen philosophischen wie menschlichen Verdienste auf den Sinn und Zweck von Empathie-Blockaden, die unsere empathische Anteilnahme selektiv filtern. Weil ist nicht nur ein Beispiel für einen herausragenden Geist, sie ist auch Beispiel für eine lebenslange emotional-empathische Überforderung. Die aufopfernde Genese ihrer philosophischen Erkenntnisse wie ihres politischen Engagements und Widerstands, für den sie noch heute zu Recht verehrt wird, lässt sie bis zur Selbstaufgabe nicht ruhen.1

„Ohne Mechanismen oder Techniken der partiellen Empathie-Blockade würden wir in einer Welt des permanenten Perspektiv-Verlusts und eines strukturellen Stockholm-Syndroms leben. Im Extremfall müssten wir ständig unfreiwillig die Perspektiven nicht nur von anderen Menschen, sondern womöglich auch von Tieren oder gar mythischen und fiktionalen Wesen einnehmen und ihr reales oder imaginiertes Erleben teilen. In diesem andauernden geteilten Erleben oder Simulieren der anderen würden wir unseren Selbstbezug verlieren, wie Nietzsche es skizziert.“ (Breithaupt 2019, S. 85)

Genau hieran scheint die junge Philosophin, die mit 34 Jahren an den Folgen von Hunger und an Tuberkulose stirbt, zu leiden. Breithaupt, der in seinem Werk »Die dunklen Seiten der Empathie« mehrere »Gefahren« der aktuellen geisteswissenschaftlichen Empathie-Euphorie herausstellt und die Empathie-Blockade als so notwendig wie parteilich beschreibt, verwendet wenig Platz darauf, genauer auf die zum empathischen Impuls komprimierte Erfahrungsfülle hinzuweisen, die der Emotion und der emotionalen Teilhabe ihren Inhalt und ihre Wirkkraft verleiht. Immerhin ist es das Erlebte, das den Horizont aufspannt, in dem ethisch gehandelt wird, weil mitempfunden werden kann.2 Die von Breithaupt beschriebenen Empathie-Blockaden sind auf der einen Seite sicher notwendig, auf der anderen Seite genauer zu untersuchen. Es gibt sie nicht nur im fühlenden Individuum, sondern auch in vergemeinschafteter Form: Beispiele dafür sind die Duldung von Sklaverei bis ins 19. Jahrhundert, die noch immer nicht erfolgte Gleichstellung der Geschlechter, Rassismus oder die Verachtung Anders­denkender und -lebender innerhalb von Gesellschaften. Das Bewusstsein eines »Wir«, das kulturell rahmt, produziert nicht nur Gemeinschaft, sondern formiert auch »die« anderen, die mit dem »Wir« nicht gemeint sind. Wir haben es also mit einem Spannungsverhältnis zu tun: Während „Moral als kulturelle Praxis […] auch Wir-Gefühle“ verlangt (Breithaupt 2019, S. 206), ist auch auf die kontingente Füllung jenes »Wir« hinzuweisen; es ist keineswegs festgeschrieben, wer damit gemeint sein darf, gemeint sein will, gemeint sein soll.

Parochialer Altruismus – endet unser Mitempfinden an der Ortsgrenze?

Insofern verweist die Schilderung von Simone Weils unbegrenzter Empathie (zumindest wie sie in Simone De Beauvoirs Memoiren dargestellt wird) auf Weil als absolute Ausnahme: In aller Regel gelingt diese Ausweitung des »Wir«, des eigenen Formationsbegriffs, auf den Unbekannten eben nicht, weil sich der Mensch – als zoon politikon – immer schon in einer bestimmten kulturellen Einbettung wiederfindet und fortan orientiert. Das zeitliche und örtliche Situiertsein ist seine zweite Natur. Die Nächsten um uns herum sind uns nun einmal näher als der unterbestimmte Fremde, entsprechend fühlen und handeln wir. Dieses Phänomen nennen der US-amerikanische Ökonom Samuel Bowles und sein Kollege Jung-Kyoo Choi parochialen Altruismus:

„Altruismus ist das Gewähren von Vorteilen für andere auf Kosten der eigenen Person; Parochialismus ist die Bevorzugung ethnischer oder anderer Insider gegenüber Außenstehenden. Beides sind allgemein beobachtete menschliche Verhaltensweisen, die in Experimenten gut dokumentiert sind“ (Bowles 2008, S. 326).

Wir müssen uns also vom fremden Begriff nicht verunsichern lassen. Bowles’ und Chois Studien verweisen auf etwas Alltägliches: Die in unserer Parochie (Pfarrei/Gemeinde) lebenden Nächsten werden im Zweifel immer bevorzugt; alle, die wir nicht zu dieser Gemeinschaft zählen, benachteiligt. Das führt – wie schon Williams richtig festgestellt hatte – zu altruistischem, mitunter empathischem Handeln innerhalb der kleinen Parochie, also innerhalb des emotional-empathisch erschlossenen Nahhorizonts unserer Familie und Freund*innen, aber auch zum Konflikt mit denen, die nicht mehr dazugehören. Das hat sich laut den Forschern evolutionär so durchgesetzt: Treten beide Verhaltensweisen, Altruismus und Parochialismus, getrennt voneinander auf, sind sie für Gruppen nachteilig, „denn sowohl Altruismus als auch Parochialismus verringern die Fitness und den materiellen Wohlstand im Vergleich zu dem, was eine Person gewinnen würde, wenn sie auf diese Verhaltensweisen verzichten würde. Altruistische Handlungen verschaffen anderen per definitionem Vorteile auf Kosten des Altruisten” (Bowles 2008, S. 326). Doch kombiniert man beide Verhaltensweisen, entstehen evolutionär erfolgreiche Synergieeffekte.

Bowles und Choi stellten in ihrer empirischen Forschung mithilfe von Computersimulationen diverse Evolutionsszenarien tausender Generationen unterschiedlich charakterisierter Gruppen nach, aus deren kriegerischen Auseinandersetzungen die parochialen Altruisten immer als Gewinner hervorgingen (vgl. Choi und Bowles 2007, S. 637f.). Das erfolgsversprechende Medium des parochialen Altruismus jedoch war grundsätzlich Krieg mit denen außerhalb jeweiliger Grenzziehungen. Aus diesem Grund überschrieb die Wochenzeitung DIE ZEIT eine gekürzte Version des Papers von Bowles mit »Nächstenliebe, die Mutter aller Kriege« (Bowles 2009). Der Nahhorizont nämlich, dessen Nächstenliebe oder – bei Williams – dessen „mitfühlende Fürsorge“ (Williams 1978, S. 20) den Startpunkt zur „Welt der Moral“ (ebd.) markiert, macht den Menschen gleichzeitig zum brutalen Krieger, weil er nicht nur Nächste zu Nächsten macht, sondern auch Andere zu Anderen und Fremde zu Fremden. Mit ihm erst gewinnen auch Distinktionsmerkmale ihre Kontur.

Samuel Bowles leitet aus den Ergebnissen seiner Arbeit erstaunlicherweise keinen Kulturpessimismus ab, im Gegenteil. Die Entstehungsgeschichte des politischen Europas, das trotz dessen kriegerischer Genese zwischen fünfhundert Stadtstaaten, Diözesen, Fürstentümern und eigenständigen Reichen nun als friedlicher Staatenverbund existiert, verweist für Bowles auf das Friedenspotential altruistischen Verhaltens innerhalb einer maximal ausgedehnten Parochie:

Der inspirierende Gemeinschaftssinn, der Mut, sich für andere einzusetzen, und die Großzügigkeit, die den Menschen auszeichnen, tragen somit die Geburtsmale einer konfliktreichen Geschichte. Aber unsere Vorfahren führten nicht nur Krieg, sondern schlossen auch Frieden. Sie profitierten von einem Austausch von Gütern, Informationen, Worten, Liedern und Ehepartnern – und nahmen damit die Netzwerke der Risikoteilung, der Freundschaft und des Austauschs vorweg, die unter modernen Sammlern florieren würden.“ (Bowles 2008, S. 327)

Der parochiale Altruismus ist für ihn nicht nur Kriegstreiber, sondern auch „der Geburtshelfer innovativer Institutionen – Einhaltung der Steuervorschriften, Achtung der Eigentumsrechte, Rechtsstaatlichkeit […]“ (Bowles 2008, S. 327). Er ist perspektivisch – wie der Empathie ermöglichende Nahhorizont bei Bernard Williams – die Grundlage für moralische Einsichten innerhalb der altruistischen Wahrnehmung des Anderen als eines Nächsten; bestenfalls irgendwann auch außerhalb der ursprünglichen Parochie und des Nahhorizonts unserer Freund*innen und Familie. Denn die dort gemachten Einsichten, so Bowles ganz ähnlich wie Williams, sind kategorische Einsichten! „Selbst wenn ich also Recht habe, dass eine sehr begrenzte (parochiale) Form des Altruismus Teil des menschlichen Erbes ist, muss [diese enge Grenze] nicht unser Schicksal sein.“ (Bowles 2008, S. 327)

Rollen und Individuum

In meinem Essay im letzten Heft (W&F 4/2022, S. 38ff.: Vom Nächsten zum Fremden) habe ich bereits davon gesprochen, dass in der Parabel des Samariters (Lk 10ff.) klassische vorurteilsbeladene Rollenklischees und damit einhergehende »Parochialismen« auf den Kopf gestellt werden. Empathiegrenzen – und damit Grenzen ethischen Verstehens – werden in der Geschichte neu gesteckt: Der samaritanische Außenseiter wird dem Notleidenden zum Nächsten, die eigentlich Nächsten, Priester und Levit, durch ihre unterlassene Hilfeleistung, durch ihr fehlendes Mitgefühl, zu Fremden. Der Neutestamentler Ruben Zimmermann macht darauf aufmerksam, dass die Räuber durch das Entkleiden ihres Opfers jenem „sinnbildlich den letzten Anhaltspunkt kultureller und sozialer Festlegung“ nehmen (Zimmermann 2007, S. 551). Der Notleidende wird von einer durch eine bestimmte Tracht offenbarten Rolle zum bloßen Menschen (anthrōpos). Das Hilfeleisten des Samariters wird durch diese kompositorische Raffinesse als erstrebenswerte anthropologische Grundeinstellung gegenüber dem Menschen an sich gezeigt. Der Samariter bleibt zwar als Samariter erkennbar – sowohl in der Geschichte selbst als auch für den jüdischen Adressat*innenkreis der Parabel –, erfüllt aber genauso wenig wie Priester und Levit die ihm entgegengebrachten Klischees. Die Erwartungshaltung der adressierten Leser*innenschaft geht ständig fehl; irgendwie steht alles Kopf. Der erzählerische Trick liegt in der ausschließlichen Verwendung von Formationsbegriffen. Die Figuren der Erzählung werden nicht weiter beschrieben, man lernt sie beim Hören und Lesen der Geschichte nicht kennen. Diese erscheinen dadurch bloß als Vertreter von etwas, nicht als jemand, es gibt keinerlei Eigennamen, sondern nur den Priester, den Leviten, den Samariter. Die narrative Form der Parabel zwingt so die Leser*innenschaft, die Leerstellen der Parabel mit ihrem eigenen Vorstellungskanon aufzufüllen. Genau dieser »Füllversuch« – das ist die Intention der Geschichte – schlägt fehl. Die Geschichte ist für unsere Fragestellung interessant, weil unsere moralische Wahrnehmung, die Bowles und Williams untersuchten, tatsächlich so funktioniert. Kennen wir das Gegenüber nicht, sind wir zurückgeworfen auf uns erscheinende Äußerlichkeiten, auf Hinweise auf Kultur, Religion, Herkunft, vielleicht einen Kreuzanhänger oder ein Fußballtrikot, Klamottenstil, Sprache, Hautfarbe und ähnliches. Freilich sind diese Hinweise auf unseren Prägungskontext wichtig; wir sind unabdingbar pars pro toto gesellschaftlich ausgehandelter Maximen, unserer »Parochie« also, gleichzeitig aber als souveräne Individuen mehr als die Summe unserer uns prägenden Teile. Wir sind selbstgesetzgebend, wie Immanuel Kant einmal schreibt, und gehen als Person weder im Kreuzanhänger noch im Fußballtrikot auf. Hier verankert Kant den Würdegedanken. Wenn wir wissen, dass das fremde Gegenüber unendlich vielschichtiger ist, als es mir in meinem beschränkten, auf Zuschreibungen angewiesenen Erfahrungskanon erscheint, ist der von Williams gesuchte Startpunkt moralischer Reflexion gefunden. Die Transformation vom Fremden zum Nächsten, also die »Eingemeindung« in unsere Parochie, in der mitempfunden werden kann, kann gelingen, wenn wir uns unserer zwangsläufig vorurteilsbehafteten Wahrnehmung bewusst sind.

Immerhin, so haben wir nun ausgeführt, definiert sich der Fremde als Fremder gerade dadurch, dass er aufgrund der Unkenntnis der hinter den Zuschreibungen stehenden tatsächlichen Person auf einen oberflächlichen Formationsbegriff reduziert werden muss. Wir sehen nur, was wir wissen – und das ist wenig. Da hilft nur Begegnung, interessiertes Kennenlernen. Aus der beschriebenen Überforderung, allen uns begegnenden Personen entsprechende Aufmerksamkeit widmen zu können, und der genannten Notwendigkeit von Empathie-Blockaden folgt deshalb bestenfalls »epistemische Demut« statt Ressentiments. Die Erkenntnis des Gegenübers als unverfügbare Person verhinderte dessen Verwechslung mit der eigenen vorurteilsbeladenen Rollenprojektion, sei sie auch noch so unabdingbar.

Ich sehe was, was du nicht siehst: Konsequenzen

Folglich liegt im Ausweiten des »Wir« und im Aufzeigen multiperspektivischer Weltzugänge, die sich meinen kategorisch und universalisierbar anfühlenden Wahrheiten entgegenstellen, sicher ein Ansatz friedenspädagogischer wie -ethischer Arbeit. Sie hätte – nun wirklich friedenspädagogisch gesprochen – ihren didaktischen Startpunkt im Einüben von Empathie, also im Aufzeigen narrativer, sprich ästhetischer Methoden der Sichtbarmachung fremder Welt- und Wirklichkeitszugänge und in echter Begegnung. Es müsste deutlich werden, dass das Gegenüber im Sinne des Theologen Johannes Fischers nicht als „individuiertes Generelles, sondern als „generalisiertes Individuum (Fischer 2012, S. 51; Hervorh. i.O.) zu verstehen ist:

„Für das desengagierte Denken ist das Einzelne ein Fall eines Allgemeinen bzw. ein Exemplar einer Klasse. Bei der narrativen Thematisierung von Situationen und Handlungen ist demgegenüber das Einzelne die Aktualisierung eines unbestimmten bzw. generalisierten Individuellen.“ (Fischer 2012, S. 51)

Das ist das Ziel der Parabel, ja einer narrativen Ethik überhaupt: Aus der narrativen Begegnung mit dem Samariter und seinem empathischen Tun am notleidenden anthrōpos sind in der Tat kategorische Grundsätze abzuleiten. Aus dem Handeln am ursprünglich Nächsten (in unserer Parochie), so will ich Bernard Williams metaethische Kritik verstehen, müssten hiernach grundsätzliche Handlungsmaximen abgeleitet werden, nicht andersherum (eine Verwechslung, der die Diszplin »Ethik« nach Williams seit Anbeginn ihres Bestehens regelmäßig aufsitzt!).

Von hieraus könnte eine Friedensethik bestimmt werden, die Fragen moralischer Phänomenologie zum Gegenstand hat, weil offensichtlich nicht bedingungslos gesehen wird, was gesehen werden muss, um in moralischer Praxis (richtig) handeln zu können.3 Die handlungsleitende Voraussetzungsfülle ethischer Wahrnehmung wäre herauszustellen, weil sie neben Zeit, Ort und Biographie auch auf die empathische Aufmerksamkeit hinweist, die eine moralische Rezeption des Gegenübers als unverfügbares Individuum ermöglicht, das weder durch von außen herangetragene Charakterisierungen noch als Teil von etwas hinreichend bestimmt werden kann.

Gleichzeitig zeigt sich Friedensethik als perspektivisch gebundene Reflexion moralischer Praxis, die nicht aus einem archimedischen Blickwinkel des Unbeteiligtseins, sondern aus moralischer Praxis heraus fragt: Was braucht es, um zu sehen, was du siehst und ich nicht sehen kann? Ohne diese dialogische Anstrengung, die versucht an einem Diskurs teilzunehmen, statt das Gesehene und Gehörte in abstrakte ethische Prinzipien einzuordnen, wäre kein mündiges Urteil zu fällen; moralische Kommunikation über (Handlungs-)Gründe unterbrochen. Die vorgeschaltete Frage eines ethischen Streits wäre also der gegenseitige Versuch einer Sichtbarmachung von Handlungsgründen: Sind wir sicher, dass wir über dasselbe streiten?

Dieser Essay ist der zweite Teil eines längeren Beitrags, der im Heft 4/2022 mit einem Text zur Empathie als Startpunkt einer Friedensethik begonnen wurde. Ausführlicher werden die hier eigenständig dargestellten Ideen in: Funk, Konstantin (2022): „Man muß mit menschlichen Gefühlen rechnen.“ Zur Bedeutung von Emotion und Empathie im friedensethischen Nachdenken. In: Harbeck-Pingel, B.; Schwendemann, W. (Hrsg.) (2022): Menschen Recht Frieden. Paderborn: V&R Unipress, S. 47-74.

Anmerkungen

1) Weils Essaysammlung »Krieg und Gewalt« ist angesichts der aktuellen Kriege und neuer und alter »Empathie-Blockaden« mit großem Gewinn neu zu lesen (vgl. Weil 2021).

2) Damit haben wir uns im Essay »Vom Fremden zum Nächsten. Empathische Wahrnehmung als Startpunkt einer Friedensethik« (Funk 2022) intensiver befasst.

3) Ganz so zugespitzt wie Simone De Beauvoir es schreibt, würde ich es allerdings nicht formulieren. Sie schreibt von der Begegnung mit der ganz und gar der moralischen Praxis verpflichteten Simone Weil als Verfechterin der ethischen Theorie: „Auch weiterhin ordnete ich soziale Fragen der Metaphysik und Moral unter: wozu sich um das Glück der Menschheit sorgen, wenn sie keine Daseinsberechtigung hat?“ (De Beauvoir 1997, S. 346). Der Konflikt der beiden wird exemplarisch in der anschließenden Schilderung De Beauvoirs deutlich: „[Weil] erklärte in schneidendem Tone, daß eine einzige Sache heute auf Erden zähle: eine Revolution, die allen Menschen zu essen geben würde. In nicht weniger preemptorischer Weise wendete ich dagegen ein, das Problem bestehe nicht darin, die Menschen glücklich zu machen, sondern für ihre Existenz einen Sinn zu finden. Sie blickte mich fest an. «Man sieht, daß Sie noch niemals Hunger gelitten haben», sagte sie. Damit waren unsere Beziehungen auch schon wieder zu Ende.“ (De Beauvoir 1997, S. 347)

Literatur

Bowles, S. (2008): Being human: Conflict: Altruism’s midwife. Nature, Bd. 456, S. 326-327.

Bowles, S. (2009): Nächstenliebe, die Mutter aller Kriege, aus dem Englischen übersetzt von Josephina Maier. DIE ZEIT (01/2009).

Breithaupt, F. (2019): Die dunklen Seiten der Empathie. 4. Auflage. Berlin: Suhrkamp.

Choi, J.-K.; Bowles, S. (2007): The coevolution of parochial altruism and war. Science, Bd. 318, S. 636-640.

De Beauvoir, S. (1997) [1958]: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause. Reinbek bei Hamburg: Rowolt.

Fischer, J. (2012): Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht. Stuttgart: Kohlhammer.

Funk, K. (2022): Vom Fremden zum Nächsten. Empathische Wahrnehmung als Startpunkt einer Friedensethik. W&F 4/2022, S. 38-40.

Weil, S. (2021): Krieg und Gewalt, Essays und Aufzeichnungen. 3. Auflage. Zürich: Diaphanes.

Williams, B. (1978 [1972]): Der Begriff der Moral. Eine Einführung in die Ethik. Aus dem Englischen übersetzt von Eberhard Bubser. Stuttgart: Reclam.

Zimmermann, R. (2007): Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter) – Lk 10, 30-35. In: (Ders.) (Hrsg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, in Zusammenarbeit mit Detlev Dormeyer, Gabi Kern, Annette Merz, Christian Münch und Enno Edzard Popkes. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 538-555.

Konstantin Funk studierte evangelische Theologie, Religionslehre, Musik und Bildungswissenschaften in Mainz und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Friedens­instituts Freiburg an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Dort lehrt er in Sozialethik, Systematischer Theologie und Politischer Philosophie in verschiedenen Studiengängen.

Vom Fremden zum Nächsten

Vom Fremden zum Nächsten

Empathische Wahrnehmung als Startpunkt einer Friedensethik

von Konstantin Funk

Auch wenn wir um die Entstehung unserer moralischen Überzeugungen in einer bestimmten Kultur und Zeit, in einem konkreten Ort wissen, so halten wir unsere dort gemachten Erkenntnisse in der Regel doch für kategorisch wahr. Diese Situiertheit unserer moralischen Rezeption stellt den prominenteren Ansatz in Frage, Ethik rein rational, also ohne (emotionale) Involviertheit und gerade zeit- und ortsunabhängig, zu begründen. Wie können wir angesichts unserer unabdingbaren soziokulturellen Eingebundenheit wahrnehmen, was wahrzunehmen ist, um (auch außerhalb unseres soziokulturellen Nahhorizonts) richtig handeln zu können? Ist es vernünftig, auf unser moralisches Bauchgefühl zu hören?

Wenn wir uns die Frage stellen, welche Bedeutung Emotion und Empathie1 im (friedens-)ethischen Nachdenken und Handeln zukommt, so lässt sich diese Frage nicht beantworten ohne Rückgriff auf den eigenen ethischen Erfahrungsschatz2: Inwiefern hängt unser moralisches Verhalten davon ab, wie wir mit dem Gegenüber mitfühlen? Begründen wir – auch vor uns selbst – logisch-rational, was wir tun und unterlassen, oder dekodiert uns handlungsleitend Empathie und Emotion eine moralisch aufgeladene Szene?

Sicher wird man sich mit Blick auf eigene Erfahrungen mit einer Entweder-Oder-Logik nicht zufrieden geben; zu verwoben und aufeinander angewiesen sind beide Komponenten ethischer Entscheidungsfindung. Mehr noch: Das intuitive Handeln, der situative Impuls stellen sich, gerade in der nachträglichen Reflexion derselben, als Destillate gemachter (und verpasster) Erfahrungen dar. Sie sind deshalb alles andere als »stumpfe« Affekte. In der moralischen Intuition bildet sich offensichtlich unsere ganze Biographie ab. Das führt in einer pluralen Welt womöglich zu Auseinandersetzungen. Denn obwohl wir um die Ursprünge unseres moralischen Empfindens wissen, haben unsere Überzeugungen doch kategorischen Anspruch: Was heute und hier falsch ist – so behauptet es unser ethisches Gefühl –, ist falsch; »Gut« und »Schlecht« sind keine Geschmackssachen!

Nun ist es ein Leichtes, sich Szenen vorzustellen, in denen dieser jeweilige Anspruch zu großem Streit, womöglich Gewalt, führt. Man stelle sich beispielsweise vor, so Christoph Ammann, der über die komplexen Voraussetzungen moralischer Wahrnehmung und die Rolle der Emotion darin nachdenkt, zwei Menschen säßen in einer Stierkampfarena und betrachteten das Spektakel (vgl. Ammann 2007, S. 113). Der eine, ein spanischer Stierkampf-Aficionado, ist begeistert: Er entdeckt in der Szenerie Mut, Erhabenheit, Stolz, fühlt sich verbunden mit der bedeutungsgeladenen Tradition und verlässt – der Stier ist endlich besiegt – beeindruckt die Arena. Sein Freund, der vielleicht zum ersten Mal zu Besuch ist, kann kaum glauben, was er sieht: Unnötiges Tierleid, Elend und sich daran berauschende Massen, die dem stundenlang gequälten Tier kein Mitleid entgegenbringen wollen. Immerhin, so könnten Stierkampffans argumentieren, hatten diese Zuchttiere im Gegensatz zu all dem armen Mastvieh ein hervorragendes Leben auf grünen Weiden, Mitleid ist gar nicht angebracht. Oder doch? Wie kommt es, dass beide doch die selben Fakten vor Augen haben – einen Stier, einen Torero, Blut, jubelnde Menschenmassen, … – und doch etwas gänzlich anderes, ja Gegensätzliches sehen? Und vor allem: Wie würde ein gewinnbringender Streit zwischen den beiden im Anschluss aussehen?

Gelungene Mitleidsethik? Der barmherzige Samariter

Man kann die Parabel um den barmherzigen Samariter im Lukasevangelium als eine Geschichte gelungener Mitleidsethik lesen. Was Nächstenliebe ist, so scheint die Geschichte sagen zu wollen, zeigt sich in einer bestimmten rezeptiven Aufmerksamkeit dem anderen, Fremden gegenüber. Auf die Frage, was denn einen Nächsten zum Nächsten mache, antwortet Jesus einem Gesetzeslehrer wie folgt:

„Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn.“ (Lk 10, 30-33 Luther 2017; Hervorh. des Autors)

„Und als er ihn sah, jammerte es ihn“. Hier, im Mitgefühl, ist der Handlungsimpuls des Samariters verbürgt. Auf die nachträgliche Frage, warum er so gehandelt hat, wie er gehandelt hat, hätte der Samariter womöglich schlicht geantwortet: „Weil der Mensch Hilfe brauchte.“ Diese knappe Antwort verwiese auf das Zutrauen in die Vernünftigkeit seiner situativen Wahrnehmung, die zwar nachträglich Handlungsgründe zu liefern und formulieren weiß, zuvorderst aber als mitfühlende Intuition moralische Wirklichkeit erschließt. Jene bedarf keiner weiteren Begründungen als der der gesehenen Hilfsbedürftigkeit. Sein Handeln ist eine Konsequenz empathischer Rezeption des unter die Räuber Gefallenen, die Gründe – ohne sie als Handlungsgrund im Moment des Handelns ausformulieren zu müssen – „zu Gründen werden [lässt]“ (Roth 2019, S. 79), weil sie als Bestreben mit- und nachzuempfinden sichtbar macht, was nicht ohne Weiteres zu sehen ist. Dies wird in der Parabel am Beispiel der angesehenen Charaktere, des Priesters und des Leviten, deutlich. Sie, obwohl sie dem geschundenen Mitmenschen eher als der Samariter – ein „verfemter Dissident“ (Harnisch 2001, S. 287, zit. nach Zimmermann 2007, S. 550) – ein Nächster sein müssten, nehmen ihn in seinem Leiden nicht wahr – oder ignorieren das Leiden gänzlich. Beide blockieren empathisch-emotional; sie lassen sich nicht anrühren (vgl. zur Empathie-Blockade: Breithaupt 2019). Das macht sie trotz soziokultureller Nähe zu Fremden, den verhassten Samariter zum Nächsten.

Was bedeutet das für die Ethik?

In der Parabel wie in der Stierkampfarena wird in Ansätzen bereits deutlich, wie vor­aussetzungsreich moralische Rezeption tatsächlich ist – Zeit, Ort, die eigene Biographie sowie empathische Aufmerksamkeit sind nur einige Faktoren, die sich zu einem Wahrnehmungsakt synthetisieren. Das stellt gleichzeitig den wirkungsgeschichtlich prominenten Ansatz in Frage, Ethik rein rational, also unter Ausschluss jeglicher emotionaler Involviertheit, zu begründen. „Jetzt lassen wir unsere Gefühle einmal beiseite“ ist eine Forderung, die nicht nur die akademische Ethik, sondern auch die vermeintlich vernünftige alltägliche Auseinandersetzung kennzeichnet. Und sie ist sicher in aller Regel sinnvoll. Doch laut Johannes Fischer „können [wir] kein einziges moralisches Urteil und keine einzige moralische Entscheidung treffen, ohne dabei emotional involviert zu sein“ (Fischer 2012, S. 15). Auch die in der Parabel des Samariters herausgestellte Nächstenliebe konstituiert sich durch empathisches Mitleiden. Moralische Gründe und Urteile werden hier vorgestellt als Gründe und Urteile, die in der emotional-empathischen Nachvollziehbarkeit, also zeigend und nachempfindend, ihren hermeneutischen Startpunkt haben.

Für die Forderung des Einbezugs von Emotionen in den (akademischen) ethischen Erkenntnisprozess gibt es freilich prominente Beispiele. James Hal Cone (1938-2018), Mitbegründer schwarzer Befreiungstheologie in den USA, beginnt sein erstes Buch »Schwarze Theologie. Eine Interpretation der Black Power Bewegung« (1971[1969]) ganz bewusst provozierend emotional:

Dieses Buch ist darum mit einer ganz bestimmten Haltung geschrieben: mit der Haltung eines zornigen schwarzen Mannes, der angewidert ist von der Unterdrückung der Schwarzen in Amerika und von der akademischen Forderung, das doch »objektiv« zu betrachten. Zu viele sind gestorben, und zu viele stehen an der Schwelle des Todes“ (Cone 1971, S. 10).

Gewisse Missstände, bestimmtes notwendiges Zu-Tuendes würde nach Cone nicht erfahrbar in einer „leidenschaftslosen, unverbindlichen Debatte“ (ebd.), oder indem man es „verstandesgemäß […] mechanisiert“ (ebd., S. 21), sondern im engagierten Beteiligtsein innerhalb moralischer Praxis. Beeindruckend früh, nämlich 1967 – also weit vor dem sogenannten emotional turn der späten 1980er und 90er Jahre –, beschwört auch der afroamerikanische Menschenrechtler Kenneth B. Clark (1914-2005) das Erkenntnispotential empathisch-emotionaler Wahrnehmung für den akademischen Diskurs. Cone zitiert Clarks Buch »Schwarzes Getto«, in dem dieser behauptet, „es könnte in Wirklichkeit so sein, daß dort, wo grundlegende psychologische und moralische Fragen zur Debatte stehen, das Unbeteiligtsein und der Ausschluß gefühlsmäßiger Reaktionen weder besonders intelligent noch objektiv, sondern naiv sind und den Geist der Wissenschaft in seinem besten Kern kränken. Wo menschliche Gefühle Teil der Beweisführung sind, dürfen sie nicht unbeachtet bleiben. […] Wenn ein Wissenschaftler, der die Konzentrationslager der Nazis studierte, sich durch das vorkommende Beweismaterial nicht in Aufregung versetzt fühlte, so würde niemand sagen, er sei objektiv, sondern man würde vielmehr um seine geistige Gesundheit und sein moralisches Empfinden besorgt sein. Gefühle können ein Urteil verzerren, aber Gefühllosigkeit kann es noch mehr entstellen.“ (Clark 1967, S. 111, zit. nach Cone 1971, S. 10f.)

Nächste und Fremde

„Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat.(Lk 10, 36-37 Luther 2017; Hervorh. des Autors)

In der oben angeführten Frage nach den Voraussetzungen für Handlungsgründe entdeckt Bernard Williams in seinem Erstlingswerk »Der Begriff der Moral« (1972) die Ansatzpunkte „von denen wir die Moral gewissermaßen »in Bewegung setzen« können“ (Williams 1978, S. 18). Denn im empathischen Handlungsimpuls mit dem Nächsten – das Beispiel von Williams ist nicht ein barmherziger Samariter, sondern ein egozentrischer, amoralischer Schurke, wie er in alten Gangsterfilmen vorkommt; einer, der sich um nichts als sich selbst und seinen engsten Familienkreis, sein altes Mütterchen oder seine Freundin schert – stecke das Potential, jenes ursprüngliche Mitgefühl als handlungsleitenden Impuls auch auf den Fremden auszuweiten. Warum? Weil der Handelnde, wir haben es oben bereits geschrieben, eben bloß denkt „‘Der braucht Hilfe’ und nicht ‘Ich mag ihn, und er braucht Hilfe’“ (Williams 1978, S. 18). Das »Mögen« also ist für das Handeln zwar Horizont und Hintergrund, nicht aber Handlungsauslöser – das ist selbst bei einem amoralischen Schurken die benötigte Hilfe allein, ein im Mitgefühl erschlossener Fakt. Wenn der amoralische Schurke also kein Psychopath ist, liebt er seine wenigen Nächsten und handelt deshalb gut an ihnen. Von jenem bei Williams als anthropologische Grundkonstante beschriebenen Nahhorizont aus, innerhalb dessen wir unsere Nächsten aufgrund von Zuneigung empathisch wahrnehmen, wäre durch eine bestimmte ethische Bildungsanstrengung jenes empathisch-emotionale Vorstellungsvermögen auch auf den Fremden zu übertragen, weil auch dem Fremden gleiche oder ähnliche Leidensfähigkeiten wie dem alten Mütterchen oder der Freundin unterstellt werden muss.

Der Beginn moralischen Verstehens obliegt damit weniger dem „zwanglose[n] Zwang des besseren Arguments“ (Habermas 1995, S. 52f.) als vielmehr wiederum dem „Und als er ihn sah, jammerte es ihn“. Erst dadurch werden potentiell zwingende moralische Argumente überhaupt sicht- und nachvollziehbar. Der Samariter wäre also im Williams’schen Verständnis schlicht weit im ethischen Bildungsprozess fortgeschritten: Trotz soziokultureller Differenzen erkennt er sich selbst »aus den Augen des Fremden« als Nächsten. Dieser Perspektivwechsel, der im Gleichnis selbst angesprochen ist, ist meines Erachtens zentral, weil er berühmte Kritikpunkte an Mitleidsethiken entkräftet (vgl. z.B. Nietzsches Verhöhnung der Schopenhauerschen Mitleidsethik als „beliebte und heiliggesprochene Theorie eines mystischen Processes […], vermöge dessen das Mitleid aus zwei Wesen eines macht (Nietzsche 1971, S. 133, Hervorh. des Autors). Die neutestamentliche Parabel verlangt sogar mehr als der Ansatz der empathischen »Horizontdehnung« bei Bernard Williams. Jesus fragt den Gesetzeslehrer nach der Parabel nicht, wer der Figuren (Priester, Levit, Samariter) den Notleidenden im Mitleid als seinen Nächsten begriffen hat, sondern wer dem Notleidenden ein Nächster durch sein im Mitgefühl begründetes Handeln zum Nächsten „geworden ist“ (vgl. Lk 10, 36-37). Hier wird aus der Perspektive des unter die Räuber Gefallenen gefragt, nicht aus der des Samariters. Jesus fordert diese Blickrichtung in der Frage ein. Dadurch entsteht im Mitleiden ein Perspektivengewinn (nicht eine Perspektivenreduktion von zwei Wesen zu einem, wie Nietzsche meint), weil der Samariter, als zentrale Figur der Erzählung, sich selbst aus den Augen des Notleidenden als Nächster zu begreifen sucht und nicht in egoistischer Vereinnahmung des eigenen Mitleids den Notleidenden schlicht als seinen Nächsten bestimmt. Daraus erwachsen praktische friedensethische Konsequenzen…

Dieser Essay ist der erste Teil eines längeren Beitrags, der im kommenden Heft mit einem Text zu praktischen friedensethischen Konsequenzen fortgesetzt wird.

Anmerkungen

1) Emotion und Empathie sind wechselseitig aufeinander angewiesen, weshalb sie für den folgenden Gedankenschritt ebenfalls zusammengedacht werden: „Die funktionale Verbindung von Empathie und Emotion ist eng. Weil wir Emotionen haben, kann unser Erleben von anderen empathisch miterlebt werden. Weil wir Empathie haben, sind andere für uns als emotionale Wesen zugänglich“ (Breithaupt 2019, S. 209).

2) Der Beitrag basiert auf meinem ausführlicheren Aufsatz »‘Man muß mit menschlichen Gefühlen rechnen.‘ Zur Bedeutung von Emotion und Empathie im friedensethischen Nachdenken« im ersten gemeinsamen Sammelband des Friedensinstituts Freiburg und des Freiburger Instituts für Menschenrechtspädagogik (Harbeck-Pingel und Schwendemann 2022).

Literatur

Ammann, Ch. (2007): Emotionen – Seismographen der Bedeutung. Ihre Relevanz für eine christliche Ethik (Forum Systematik, Bd. 26). Stuttgart: Kohlhammer.

Breithaupt, F. (2019): Die dunklen Seiten der Empathie. Berlin: Suhrkamp.

Clark, K. B. (1967): Schwarzes Getto. Düsseldorf: Econ.

Cone, J. H. (1971 [1969]): Schwarze Theologie. Eine Interpretation der Black Power Bewegung. München: Chr. Kaiser Verlag.

Fischer, J. (2012): Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht. Stuttgart: Kohlhammer.

Habermas, J. (1995): Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Harbeck-Pingel, B.; Schwendemann, W. (Hrsg.) (2022): Menschen Recht Frieden. Paderborn: V&R Unipress.

Nietzsche, F. (1971): Morgenröthe. Nachgelassene Fragmente Anfang 1880 bis Frühjahr 1881, Abt. 5, Bd. 1 d. Reihe: Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York: De Gruyter.

Roth, M. (2019): Nichts als Illusion? Zur Realität der Moral. Stuttgart: Kohlhammer.

Williams, B. (1978) [1972]: Der Begriff der Moral. Eine Einführung in die Ethik. Stuttgart: Reclam.

Zimmermann, R. (2007): Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter) – Lk 10, 30-35. In: (Ders.) (Hrsg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 538-555.

Konstantin Funk studierte evangelische Theologie, Religionslehre, Musik und Bildungswissenschaften in Mainz und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Friedens­instituts Freiburg an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Dort lehrt er in Sozialethik, Systematischer Theologie und Politischer Philosophie in verschiedenen Studiengängen.

Der europäische Krieg um die Nation

Der europäische Krieg um die Nation

Eine Überlegung zur Überwindung einer Konfliktursache

von Chunchun Hu

Nach dem Ende der Kampfhandlungen werden sich für die Ukraine und Russland Fragen der Konflikttransformation stellen. In der in einer globalen Perspektive eher als »europäischer Krieg« wahrgenommenen Auseinandersetzung wird es auch darum gehen, eine nachhaltige Lösung zu erarbeiten. Einer der zentralen Knackpunkte scheint auch der Charakter der ukrainischen und russischen Verfasstheit als Nationalstaaten zu sein. Der Beitrag versucht, an diesem Knackpunkt vorsichtige Ideen für alternative Verständnisse politischer Verfasstheit zu denken. Könnte eventuell eine postnationale Integration in ein europäisches Ganzes eine Option sein?

Seit dem 24. Februar wirkt der denkende Mensch aus der Fassung gebracht. Von diesem Seelenzustand zeugen nicht zuletzt die im deutschsprachigen Raum polemisch geführten Debatten zur Beendigung des Krieges gegen die Ukraine. Der Grund für diese Verstörtheit liegt nicht nur konkret im Entsetzen über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine – vor allem gegen die ukrainische Zivilbevölkerung –, der im offenen Kontrast zum Minimalkonsens der Unverletzlichkeit sowohl der territorialen Integrität jedes Staats als auch der Menschenrechte steht. Durch den Bruch Russlands mit dem geltenden Völkerrecht droht auch das Gerüst der Weltordnung auseinanderzufallen, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Hinblick auf den Weltfrieden mühsam aufgebaut wurde. Das verstört erkennbar. Doch nicht überall und gleichermaßen. Und es ist fraglich, welche intellektuellen Konsequenzen aus dieser Analyse erwachsen sollten.

Die Idee der Nation: Krieg der Narrative

Dass ein Krieg mehr als nur militärische Handlungen auf dem Schlachtfeld umfasst, und dass die Deutungshoheit über den Krieg auch zum Siegesfaktor gehört, prägt schon seit der Antike das Verständnis des Krieges. Auffällig ist im Ukraine-Krieg, dass ein komplexes Bild von Kriegsnarrativen zu verschiedenen Wahrnehmungen des Kriegs geführt hat – wobei die von Russland ausgehende, völkerrechtswidrige Aggression grundsätzlich unbestritten ist.

Putins Argumente für die Gewaltanwendung wirken machtpolitisch konsequent, moralisch-argumentativ aber fragwürdig bis widersprüchlich. In den vielen Aufsätzen und Reden Putins zu historischen Themen lässt sich ein eigentümliches Ukraine-Narrativ Russlands erkennen, welches als ein integraler Teil eines Großrusslands-Narrativs konstruiert ist.

Den Hauptstrang dieser Erzählung stellt eine russische Genealogie dar, die von der Kiewer Rus über das Zarenreich und die Sowjetunion bis zum heutigen Russland reicht. Mit Blick auf die Geschichte erhebt Putin Anspruch auf Revision von gefühlten Ungerechtigkeiten, die Russland nach dem Zerfall der Sowjet­union erfahren haben soll, und reklamiert ein »Zurückholen« von historisch russischen Gebieten. Bemerkenswert an dieser Genealogie ist ihre um Ungereimtheiten bereinigte, positiv konnotierte“ (Stewart 2020, S. 9) Kontinuität: So werden einige wichtige Ereignisse wie die Revolutionen von 1917 und der Untergang der Sowjetunion, die der Kontinuitätsthese eher widersprechen, nur ungern thematisiert. Im Gegensatz dazu stellt der »Große Vaterländische Krieg« das gesellschaftlich wie geschichtlich versöhnende Element dar, an das sich Russland als Sieger über Nazi-Deutschland gern erinnert.

Zu diesem Großrussland-Narrativ gehört eine Überzeugung von der Entstehung der Ukraine als einer Nation, die im 19. Jahrhundert als »Kleinrussland« im Rahmen der „großen russischen Nation“ ihre kulturelle Identität habe entwickeln können. Es sei die sowjetische „Nationalpolitik“ gewesen, die aus der großen russischen Nation endgültig drei getrennte slawische Völker gemacht habe: Russisch, Ukrainisch und Weißrussisch. „Die moderne Ukraine ist also ausschließlich ein Produkt der Sowjetzeit“, so erklärte es Putin (2021) selbst – und konsequent in dieser Logik fortdenkend, dies sei zu einem erheblichen Teil auf Kosten der historischen Gebiete Russlands geschehen.

Mit dieser historischen Argumentationslogik erklärt Putin seinen Angriffskrieg zu einem gerechtfertigten Präventionsschlag gegen einen bevorstehenden und größeren Konflikt mit der NATO. Aber in Putins Argumentation zeigt sich schon der innere Widerspruch des russischen Ukraine-Narrativs: Die Ukraine als ein historisch russisches Land und somit ein legitimes russisches Interessengebiet zu betrachten, dem die „Entmilitarisierung“ gilt, ist russisch-imperial/imperialistisch. Mit der „Entnazifizierung“ soll Russland aber auf die diskriminierende Politik der Ukraine gegen die dortige russischsprachige Bevölkerung abgezielt haben. Die selbst ernannte Schutzmacht des Russischen orientiert sich offensichtlich an einer russisch-national/nationalistischen Idee, die einer ukrainischen Nation feindlich gegenübersteht. Diese aber dürfte es nach dem russisch-imperialen/imperialistischen Narrativ von der „einen Nation“ gar nicht geben.

Die offene Widersprüchlichkeit zwischen russisch-imperialen/imperialistischen und russisch-national/nationalistischen Bezügen erinnert an den antiken Melierdialog aus Thukydides’ »Geschichte des Peloponnesischen Kriegs«, in dem es um das Verhalten der spartanischen Kolonie Melos gegenüber dem Eroberungswillen Athens geht. Die beiden athenischen Generäle Kleomedes und Teisias verzichten auf schön klingende Rechtfertigung und reden realpolitischen Klartext: Der Stärkere stelle die Bedingung, die vom Schwächeren akzeptiert werden müsste. Der Krieg gegen Melos bzw. dessen Unterwerfung sei deshalb notwendig, weil jede andere Alternative dazu als Schwäche Athens ausgelegt und bei anderen in Athens Machtbereich Widerstand hervorrufen würde (Walzer 2006, S. 5).

Die Ukraine kämpft seit der russischen Aggression demgegenüber einen gerechten Selbstverteidigungskrieg. Die öffentliche Empörung über die Tatsache, dass Krieg in Europa im 21. Jahrhundert noch möglich ist, sorgt dafür, dass die Kriegsdeutung auf einer höheren und wertegebundenen Ebene stattfindet. So wurde aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine schnell ein Krieg „gegen alles, was Demokratie ausmacht: Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Selbstbestimmung, Menschenwürde“ (Scholz 2022). Die pathetische Metapher vom „Kampf zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Diktatur“ (Melkozerova 2022) erfasste die breite Öffentlichkeit und gibt den Konsens der Kriegswahrnehmung in den westlichen Ländern und Gesellschaften wieder. Das Narrativ hat sich inzwischen vom virtuellen Raum des ideologischen Endkampfes auf das reale Feld der globalen Systemkonkurrenz ausgeweitet, in der Demokratie als politisches und gesellschaftliches Modell als existentiell bedroht angesehen wird (Gibaja und Hudson 2022, S. 10).

So moralisch unangefochten das westliche Narrativ des Ukraine-Kriegs auch scheint, so ambivalent wird es vor allem im Globalen Süden aufgenommen (Plagemann 2022). Hier unterscheiden sich die Erinnerungen an und die Erfahrungen aus der Vergangenheit einschließlich der Jahrhunderte des Kolonialismus, der beiden Weltkriege, des Kalten Krieges und anderer vom Westen geführten Kriege gegen Staaten des Globalen Südens grundlegend von denen in Europa und dem Westen. Sowohl die moralisch-ideelle Umdeutung des Ukraine-Krieges mit absoluten Werten als auch der aus diesem Krieg abgeleitete Weltkonflikt zwischen zwei sich formierenden Großmachtblöcken wird als euro- bzw. westzentrisch und bigott empfunden.1 Entsprechend fehlt es diesen Narrativen außerhalb Europas bzw. des Westens an Überzeugungskraft. Die Schwäche des westlichen Kriegsnarrativs tritt dadurch offen zutage, dass sich fast alle Staaten in Afrika, Asien, Nahost und Lateinamerika den von den westlichen Staaten erlassenen Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen haben. In der Wahrnehmung des Globalen Südens soll der Ukraine-Krieg auf die Dimension einer europäischen Angelegenheit begrenzt werden, deren Gründe im europäischen Kontext zu verstehen und deren Lösungen vor allem zwischen den europäischen Staaten zu klären sind. Das fasste die kenianische Wissenschaftlerin Martha Bakwesegha-Osula schon im März wie folgt zusammen: „Europäische Lösungen für europäische Probleme!“ (Bakwesegha-Osula 2022)

Krieg der Nationen/Nationalstaaten im Werden

Den Ukraine-Krieg als einen europäischen Krieg zu betrachten, in dem es nicht in erster Linie um Verteidigung absoluter Werte wie Demokratie und Freiheit geht, ist aus der wissenschaftlichen Perspektive kein Alibi etwa für undemokratische oder realpolitische Gesinnung. Denn es sind einige Faktoren, neben dem geographischen, die diesen Krieg ideell und geschichtlich zu einem »europäischen« Krieg machen. Zuvorderst steht hier das bei beiden Kriegsparteien des Ukraine-Kriegs treibende Motiv, was unter dem Stichwortpaar europäischer Provenienz zusammenzufassen ist: Nation und Nationalstaat. Es steht zu erwarten, dass dieser Krieg als eine Form eines (erneuten) »Gründungskrieges« sowohl für die ukrainische Nation und ihren Nationalstaat als auch für die russische Nation und den russischen Nationalstaat in die jeweiligen Nationalmythen eingehen wird.

Der Nationalstaat als die moderne Form des Staatswesens vereint zwei wichtige Aspekte der „imaginären“ Zugehörigkeit: Kultur und Lebensraum (Anderson 2006). Die Selbstidentifizierung des souveränen Bürgers mit einer übergeordneten Gemeinschaft löst das Untertan-Herrscher-Verhältnis der vormodernen Zeit ab und bildet die Projektionsfläche für das „geistige“ Bedürfnis – eines der fundamentalen menschlichen Bedürfnisse und Handlungsmotive (Lebow 2008, S. 61ff.). Die ersten modernen Nationen und Nationalstaaten sind im neuzeitlichen Europa entstanden. Die historische Ambivalenz des nationalstaatlichen Konzepts ist, dass sein enormes Mobilisierungspotential sowohl zu zivilgesellschaftlichen Errungenschaften als auch zu blutigen Kriegen geführt hat. Vor allem wird mit dem Konzept eine kulturelle und ethnische Homogenität unter den Angehörigen der Nation suggeriert, die in einem gegen andere Nationen klar abgegrenzten Staat leben sollen. Diese Vorstellung erfuhr nach dem Ersten Weltkrieg durch die idealistische und seinerzeit fortschrittlichste Idee des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ von Woodrow Wilson einen zusätzlichen Schwung in Mittel- und Osteuropa (Mamatey 1972). Die europäische Landkarte von Nationalstaaten ist auch nach den beiden verheerenden Weltkriegen, die in Europa ihren Anfang nahmen und ihren Hauptschauplatz hatten, gemäß den erklärten Absichten einer Reihe von politischen, religiösen oder ethnisch organisierten Interessengruppen längst nicht so eindeutig und endgültig geklärt, wie Völkerrechtler es lehren.

Überhaupt muss der jetzige Ukra­ine-Krieg als der neueste Krieg – und vermutlich nicht der letzte – gemäß dieser nationalstaatlichen Geschichtslogik gesehen werden. Nach dem Ersten Weltkrieg, der den Untergang großer europäischer Imperien besiegelte, kam es zur ersten großen Welle der Bildung neuer, kleinerer Nationalstaaten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg fortsetzte. Mit dem Ende des Kalten Kriegs bzw. dem Zerfall der Sowjet­union setzte die zweite Welle von Staatsgründungen in Europa ein, die nicht alle friedlich verlaufen sind. Neuverhandlungen von Grenzen und Sezessionskriege wie die jugoslawischen Nachfolgekriege sowie Russlands Kriege in Tschetschenien und Georgien gehören auch zu diesem Prozess. Durch den jetzigen Krieg will Russland seine Grenze zur Ukraine, d.h. aber auch die Grenze des russischen Nationalstaats, neu definieren.

Der Ukraine-Krieg rückt die nationalstaatliche Geschichtslogik erneut in den Mittelpunkt des Denkens zur Gestaltung Europas. Er zwingt vor allem zur Neubewertung von politischen wie gesellschaftlichen Wandlungsprozessen im postsowjetischen Raum (Smith et al. 1998). Die deutsche bzw. westeuropäische Nachkriegserfahrung mit der Demokratisierung und der europäischen Integration wird sich jetzt mit der nachholenden »Vernationalstaatlichung« in Teilen Europas auseinandersetzen müssen. Dabei hat sich als ein Blindpunkt Europas bei der Beurteilung des Ukraine-Kriegs gezeigt, dass es eine fehlende Wahrnehmung davon gibt, dass beide Kriegsparteien – Russland und die Ukraine – verhältnismäßig junge Nationalstaaten sind, deren kulturelle und politische Identitäten einschließlich der Staatsgrenzen Prozesscharakter aufweisen (Plokhy 2015). Die Nationalstaatsbildung der Ukraine war vor dem Krieg in der Wissenschaft eingehend erörtert worden. Dabei galt das Augenmerk der Forschungen vor allem den Szenarien, wie sich eine demokratische politische Gemeinschaft in den in der Unabhängigkeitserklärung vom 24. August 1991 angekündigten und völkerrechtlich anerkannten Staatsgrenzen würde entfalten können. Ein wesentliches Ergebnis: Der kulturellen, geschichtlichen wie ethnischen Heterogenität sowie dem geopolitischen Umfeld der Ukraine sollte Rechnung getragen werden, indem alternative politische Möglichkeiten wie die „Staatsnation“ („state-nation“) und der „Einheitsstaat“ („unitary state“) – im Gegensatz zum „Nationalstaat“ – diskutiert werden (Stepan 2008; Stepan et al. 2011, S. 173ff.).

Auch wenn vieles in der ukrainischen Nationalstaatsbildung durch den Krieg zerstört bzw. verändert wird (Diner 2022), verdienen die Überlegungen des amerikanischen Politikwissenschaftlers Alfred Stepan und seiner Kollegen auch heute wieder ein genaueres Hinschauen, die sich wie eine Mahnung an die zukünftige Ukraine – aber auch an alle anderen multinationalen Staatsbildungen – lesen:

„Geopolitisch gesehen sind Staaten Mitglieder einer Welt, die aus Staaten besteht. Es ist möglich, dass in einigen internationalen Kontexten – insbesondere wenn ein Land an einen militärisch mächtigeren Staat grenzt, der ihm gegenüber irredentistische Tendenzen hat – der asymmetrische Föderalismus, ja jede Art von Föderalismus, Gefahren für den Aufbau einer neuen demokratischen politischen Gemeinschaft über die klassische Politik der Staatsnation birgt. Die sicherste Lösung könnte ein Einheitsstaat sein. Innenpolitisch hingegen wäre es auch demokratisch gefährlich und politisch nicht durchführbar, eine klassische starke nationalstaatliche Politik durchzusetzen, wenn die politisch bedeutenden Eliten in Bezug auf die Kulturpolitik tief gespalten sind.“ (Stepan et al. 2011, S. 173)

Ein erweitertes Projekt Europa als Lösung?

Mit dem in Aussicht gestellten Beitritt der Ukraine in die EU wird sich die Frontlinie zwischen Russland und dem Westen nur nach Osten verschieben. Ein weiteres Paradox in diesem Prozess wird sein, dass die EU mit ihrer postnationalen Verfasstheit und postmodern orientierten Lebensform ausgerechnet die Ukraine in der Nationalisierung fördert. Eine realistische Lösung der hier geschilderten Dimension des Russland-Ukraine-Konflikts ist auch wegen großer Denkhemmung nicht in Sicht. Gefordert ist aber „gemeinsame politische Vorstellungskraft“ („collective political imaginations“, Stepan et al. 2011, S. 174).

Diese entsteht nicht im luftleeren Raum und auch nicht unter aktiven kriegerischen Voraussetzungen. Die EU kann hier als historisches Vorbild dienen. Denn die Versöhnung zwischen den einstigen Erzfeinden Frankreich und Deutschland sowie die weitgehende Integration innerhalb einer bis zwei Generationen sind eine weltgeschichtlich beispiellose Erfolgsgeschichte. Ist Europa bereit, die Kraft zur Anstrengung wie nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal zu sammeln, um Europa nach Osten zukunftssicher zu gestalten?

Der deutsche Philosoph Oskar Negt hat nach der europäischen Finanzkrise von 2008 zu neuen europäischen „kollektiven Lernprozessen“ aufgerufen, die sich an den historischen Lernprozessen orientieren (Negt 2012). Die historischen Bemühungen um Frieden nach dem Dreißigjährigen Krieg und nach dem Zweiten Weltkrieg fasst Negt jeweils mit der Aufgabe eines „friedenswirksamen Vergessens“ und „friedenswirksamen Erinnerns“ zusammen. Angesichts der durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Krise, die sich durchaus als eine Sinnkrise Europas interpretieren lässt, bietet es sich an, das Projekt Europa als eines der „größten politischen und sozialen Projekte der Moderne“ in der Erinnerung an seine historischen Erfahrungen weiter zu denken. Schließlich ist Europa fast nach allen Krisen erstarkt neu auferstanden. Dafür gilt es auch jetzt zu streiten.

Anmerkung

1) Vgl. hierzu: Hu 2022. Die Bigotterie des westlichen Narrativs bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den Verstoß gegen allgemeine Moralprinzipien im Rahmen der Moralphilosophie und ist nicht politisch-instrumental zu interpretieren. Vgl. hierzu: Bayertz 2014, S. 16.

Literatur

Anderson, B. (2006): Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism. London/N.Y.: Verso.

Bakwesegha-Osula, M. K. (2022): Why Africa is divided over the Russia-Ukraine war. International Politics and Society Journal, 16.03.2022.

Bayertz, K. (2014): Warum überhaupt moralisch sein? 2., überarbeitete Auflage. München: C.H. Beck.

Diner, D. (2022): Das Gedächtnis des Krieges. Süddeutsche Zeitung, 05.05.2022.

Gibaja, A.F.; Hudson, A. (2022): The Ukraine war and the struggle to defend democracy in Europe and beyond. The Global State of Democracy (GSoD) – In Focus, Nr. 12. International Institute for Democracy and Electoral Assistance.

Hu, C. (2022): Europas historische Verantwortung im Ukraine-Krieg. Eine chinesische Sicht. WeltTrends. Das außenpolitische Journal, Nr. 187, 30. Jg., S. 52-57.

Lebow, R. N. (2008): A cultural theory of international relations. Cambridge u.a.: Cambridge University Press.

Mamatey, V. S. (1972): The United States and East Central Europe 1914-1918. A study in Wilsonian diplomacy and propaganda. Port Washington, N.Y./London: Kennikat Press.

Melkozerova, N. (2022): I’m in Kyiv, and it is terrifying. The New York Times, 25.02.2022.

Negt, O. (2012): Gesellschaftsentwurf Europa. Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen, Göttingen: Steidl.

Plagemann, J. (2022): Die Ukraine-Krise im globalen Süden: kein „Epochenbruch“. GIGA Focus Global, Nr. 2.

Plokhy, S. (2015): The gates of Europe. A history of Ukraine. New York: Basic Books.

Putin, V. (2021): On the historical unity of Russians and Ukrainians, 12.07.2021.

Scholz, O. (2022): Warum wir krisenfester sind als die autoritären Staaten. Die Welt, 29.04.2022.

Smith, G.; et al. (1998): Nation-building in the Post-Soviet borderlands. The politics of national identities. Cambridge u.a.: Cambridge University Press.

Stepan, A. (2008): Comparative theory and political practice: Do we eed a “state-nation” model as well as a “nation-state” model? Government and Opposition 43(1), S. 1-25.

Stepan, A.; Linz, J.J; Yadav, Y. (2011): Crafting state-nations. India and other multinational democracies. Baltimore: The Johns Hopkins University Press.

Stewart, S. (2020): Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands. Wie die Gegenwart die Vergangenheit beeinflusst. SWP-Studie 22.

Walzer, M. (2006): Just and unjust wars. A moral argument with historical illustrations. New York: Basic Books.

Chunchun Hu ist Associate Professor an der Shanghai Academy of Global Governance & Area Studies, Shanghai International Studies University (SISU) und Direktor des Programms Europastudien.

Neokolonialer Frieden?!

Neokolonialer Frieden?!

Die koloniale Unterseite modern-liberaler Friedensvorstellungen

von Christina Pauls

»Frieden« ist kein neutraler Begriff. Der universalisierte Begriff des in Theorie und Praxis dominanten modern-liberalen Friedens1 sowie seine Fortführung in Form des neoliberalen Friedens sind eng mit kolonialen Praktiken verbunden. Die hier angebotene kritische Reflexion möchte dazu ermutigen, die eigene normative Ausrichtung gründlich zu hinterfragen. Dazu wird der modern-liberale Frieden mit post- und dekolonialen Theorien »gegen den Strich« gelesen, die historische Verwobenheit von (Neo-)Liberalismus mit (Neo-)Kolonialismus nachgezeichnet, und einige der neueren Ausprägungen des modern-liberalen Friedens einer kritischen Prüfung unterzogen.

Frieden steht in einem Spannungsverhältnis zwischen normativen Ansprüchen über Gewaltfreiheit und gesellschaftlichem Zusammenleben. Die angelegte Gewaltdefinition bestimmt maßgeblich Umfang und Grenzen möglicher normativer Ausrichtungen. Ein enger Gewaltbegriff wie auch Verständnisse von struktureller Gewalt sind meist eingebettet in die dominierende modern-liberale Werteordnung. Sie sind daher nicht in der Lage, die Gewaltförmigkeit dieser Werteordnung selbst zu identifizieren, oder gar anzugehen.

Modern-liberale Friedensverständnisse blenden die eigene Verstrickung in den Kolonialismus aus. Sie zeichnen ein vermeintlich universelles Bild, dessen historische Gewordenheit nicht thematisiert wird. Insbesondere der Beitrag der Kolonisierung zur Existenz gewaltvoller Strukturen in der Gegenwart, die bewaffneten Konflikten zugrunde liegen, wird in der Friedensforschung wenig beachtet. Das ist nicht nur friedenstheoretisch problematisch, sondern stabilisiert gewaltvolle und koloniale Verhältnisse, die der Frieden doch zu überwinden sucht. Neoliberale Varianten dieser Friedensverständnisse radikalisieren diese Verhältnisse in Form eines neokolonialen Friedens, wie im Folgenden ausgeführt wird. Dieser ist für Friedensforscher*innen und -Praktiker*innen umso gefährlicher, weil er schwerer zu identifizieren ist und aufgrund seiner Beschaffenheit Rechenschaftspflicht und transformative Gerechtigkeit auszuhöhlen droht. Um auf den kolonialen Schatten dieses Verständnisses aufmerksam zu machen, sollte Friedensforschung und -praxis in ihrer Selbstreflexion expliziter epistemische Gewalt in den Blick nehmen, also auch die in der Wissenspolitik und Genealogie des Friedens angelegten Formen von Gewalt aufdecken und problematisieren (vgl. Brunner 2018). Dieser Beitrag versucht, einige Anregungen zur Sichtbarmachung der kolonialen Unterseite neo-/liberaler Friedensverständnisse bereitzustellen.

Liberaler und neoliberaler Frieden

Modern-liberale Friedensvorstellungen2 gründen auf der Annahme, dass die wirtschaftliche Abhängigkeit zwischen Nationalstaaten, internationaler Handel sowie die Einbindung in die Weltwirtschaft alle Gewaltpotentiale einhegt.3 In Verschränkung mit diesen ökonomischen Bedingungen beziehen sich politisch liberale Werte auf den Schutz von Privateigentum und auf individuelle (Freiheits-)Rechte. Politische und ökonomische Aspekte des liberalen Friedens sind als komplementär zu verstehen, da sie von einer Korrelation zwischen Demokratisierung und wirtschaftlichem Wohlstand ausgehen.

Unter »Neoliberalismus« verstehe ich die Ablehnung aller regulierenden, sozialstaatlichen und überstaatlichen Eingriffe in die »Kräfte des Marktes«. In der Literatur zu »liberal peacebuilding« hat auch die Kritik am »neoliberalen Frieden« Einzug genommen – eine Variante des liberalen Friedens, die vor allem den Markt und das Wirtschaftswachstum als ausschlaggebend für die Konstitution von Frieden versteht. Der neoliberale Frieden radikalisiert und höhlt den liberalen Frieden insofern aus, als die Marktlogik und Wachstumsorientierung (ökonomische Liberalisierung) gegenüber dem Aufbau demokratischer Institutionen, der Stärkung individueller Rechte, Sicherheit und Stabilität (politische Liberalisierung) Priorität einnimmt. Dafür wird auf Privatisierung, Monetarisierung und Deregulierung sowie auf die Öffnung von Grenzen für ausländische Investitionen gesetzt, wie sich beispielhaft in Politiken der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds zeigt.

Historische Gewordenheit neo-/liberaler Friedensvorstellungen

Um auf die kolonialen Schattenseiten des liberalen wie neoliberalen Friedens hinzuweisen, ist es nötig, ihre historischen Bedingungen nachzuzeichnen, durch die sie sich mit kolonialer Gewalt verstrickt haben. Oft wird die formale Geburtsstunde liberaler Friedensverständnisse, wie auch der proto-institutionalisierten Friedens- und Konfliktforschung, in den politischen Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts lokalisiert. Primär vom Globalen Norden4 ausgehend wird seither systematisches Wissen über »Frieden«, seine philosophischen und theoretischen Grundlagen sowie politische und ökonomische Strategien zu seiner Umsetzung generiert. Die Gültigkeit dieser universalisierten Theorie des Friedens wird kontinuierlich am Globalen Süden in der Friedensarbeit im In- und Ausland, insbesondere durch »peacebuilding«, dargelegt und erprobt.

Allerdings identifizieren Theoretiker*innen aus dem Globalen Süden die Entstehungsbedingungen liberaler Friedensvorstellungen viel früher: in der Philosophie der Aufklärung und gar in der kolonialen Expansion selbst, die beide als miteinander verstrickt verstanden werden. So beschreibt Juan Daniel Cruz (2021, S. 2), wie die Idee der »Pazifizierung« (Befriedung), die in kaiserlichen Erlassen festgeschrieben wurde5, die territoriale, politische und ökonomische Kontrolle über Länder des Globalen Südens als fundamentalen Bestandteil kolonialer Expansion und Praxis legitimierte. Hier setzen auch dekoloniale Theorieansätze an, die mit dem Begriffspaar Modernität/Kolonialität auf die Untrennbarkeit der Moderne von kolonialen Zusammenhängen hingewiesen haben. Sie verstehen Kolonialität, die langanhaltenden Muster und Strukturen kolonialer Verhältnisse, als konstitutive Entstehungsbedingung von Moderne, wie wir sie heute kennen. Dies umfasst auch die (materielle) Grundlage des liberalen Werteverständnisses. Liberalismus, Kolonialismus und Moderne werden als verflochten betrachtet.

So liegt den Wurzeln europäischer und liberaler Friedensvorstellungen also der Glaube an eine weiße Überlegenheit zugrunde, der sich bis heute in der technokratischen Auffassung widerspiegelt, dass eine kleine Expert*innengruppe von Menschen »Frieden« entwerfen und implementieren könne – ein Frieden, der in Europa, insbesondere in kolonialer Begegnung mit den nicht-europäischen »Ver-Anderten«, konzipiert wurde. Der weiße, europäische, christliche, heteronormative, körperlich fähige, unverwundete Mann konstruiert sich selbst als ausgewählter Bringer des Friedens, indem er »die Anderen« zu anderen macht und in ihrem Wert herabsetzt.

Dieses Dominanzverhältnis der Über- und Unterordnung zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte kontinentale Geistesgeschichte, mal mehr, mal weniger sichtbar.6 Auch die Friedensforschung und -arbeit spiegelt sich darin wider, so einerseits durch ihren interventionistischen Charakter, der sich in der Bereitstellung externer Expert*innen zeigt, und andererseits durch ihre normative (Teil-)Ausrichtung an ökonomischer Entwicklung, die neue Abhängigkeitsverhältnisse schafft und alte zementiert.

Neo-/kolonialismus und neo-/liberaler Frieden

Der Begriff des Neokolonialismus wurde maßgeblich vom ghanaischen Präsidenten und antikolonialen Denker Kwame Nkrumah geprägt (Nkrumah 1965). Er wird seither vor allem zur polit-ökonomischen Kritik an Süd-Nord-Verhältnissen herangezogen. Im Zentrum steht die Einsicht, dass trotz formal-politischer Unabhängigkeit ehemalig kolonisierter Länder koloniale Zusammenhänge im Rahmen ökonomischer und monetärer Abhängigkeitsverhältnisse weiter bestehen. Diese werden mit dem Anspruch begründet, zur Überwindung von Dualismen wie entwickelt/unterentwickelt, arm/reich u.Ä. beizutragen. Sie verkennen jedoch, dass diese erst durch den Kolonialismus konstituiert wurden und tief in die Moderne eingeschrieben sind. Der peruanische Soziologe Anibal Quijano (2000) identifiziert beispielsweise, wie Rassismus und globale Arbeits»teilung« seit der Eroberung der Amerikas als fundamentale Achsen kolonialer Macht fungieren und so in ihrer Kombination als Entstehungsbedingung des heute globalisierten Kapitalismus dienten. Koloniale Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse nehmen also mit der anhaltenden Neoliberalisierung der Weltwirtschaft auch neue Formen (»neo«) auf, wenngleich sie auf denselben Logiken beruhen, durch die sie sich konstituiert haben.

Charakteristisch für die Neoliberalisierung von Frieden ist eine zunehmende Komplexität von Aktivitäten und Akteur*innen sowie die Externalisierung von Verantwortlichkeiten. Mit der Ero­sion von klar identifizierbaren Akteur*innen verschwimmen – um erneut Kwame Nkrumahs Beitrag zur Debatte aufzugreifen – auch im Neokolonialismus die Grenzen der Verantwortung in Kontrast zu der formalen Phase des Kolonialismus, wo Herrschaft und Verantwortung eindeutiger zuzuordnen waren. Damit verlieren auch Ansprüche auf Wiedergutmachung und Reparationen ihre potenziellen Adressat*innen. So radikalisiert der Neokolonialismus die Mechanismen der epistemischen Gewalt, die sich in der Unsichtbarmachung der eigenen Beiträge zu kolonialen Strukturen manifestieren, beispielsweise durch Verleugnungs- und Verdrängungsmechanismen.

Liberalismus und ihre neoliberalen Varianten stehen als politökonomische Ideologien also weiterhin im Dienst von Modernität/Kolonialität, denn sie dienen der „Akzelerierung der Moderne […], ohne aber wahrzunehmen, dass dies zugleich mit dem Fortbestehen und der Verstärkung von Kolonialität einher geht“ (Maldonado-Torres 2016, S. 5). Unter dem Deckmantel des Friedens werden koloniale Herrschaftsverhältnisse als nicht-intendierte Folgen eines am Frieden ausgerichteten Handelns stabilisiert. So sind der liberale wie auch der neoliberale Frieden untrennbar mit ihrer kolonialen Unter- oder Schattenseite, dem neo-/kolonialen Frieden, verbunden.

Neo-/koloniale Schattenseiten

Alle Friedensbemühungen stehen zunächst vor der Herausforderung eines fait accompli globaler Ordnung – eine kapitalistische, neoliberale Ordnung, die über Jahrhunderte gewachsen ist und in ihrer Genese wie anhaltender Beschaffenheit mit kolonialen Gewaltverhältnissen verwoben ist. Diese Ordnung erfordert von allen Subjekten eine Unterordnung in ihre Logik, um zu funktionieren. Friedensbemühungen aller Art sehen sich so teilweise dazu genötigt, sich an der globalisierten Marktlogik auszurichten und die (Post-)Konfliktgesellschaften durch entsprechende politische, pädagogische und ökonomische Maßnahmen auf eine Reintegration in den neoliberalen Weltmarkt vorzubereiten. Damit laufen sie Gefahr, zu einer Fortführung neokolonialer Ausbeutung durch Niedriglohnarbeit, moderne Sklaverei7 sowie der Vergrößerung von Ungleichheiten, beispielsweise durch illegale Finanzabflüsse vom Globalen Süden in den Globalen Norden, beizutragen und so neokolonialen Frieden zu perpetuieren.

Während sich der modern-liberale Frieden zunächst primär an den Entwicklungsdiskurs angeschlossen hat, setzt er sich in der gegenwärtigen Ausrichtung an psychologischen und psychosozialen Aspekten der Konflikttransformation fort und führt so zu einer Pathologisierung von Postkonflikt-Gesellschaften“ (Castro Varela und Dhawan 2017, S. 245). Denn die eurozentrische Psychologie tendiert dazu, Trauma zu individualisieren (beispielsweise mit der Diagnose Posttraumatischer Belastungsstörung), wodurch strukturelle und relationale Faktoren aus dem Blick geraten. Es schwingt die Konnotation mit, dass Menschen »gebrochen« und unvollständig sind, von einem als ideal konstru­ierten »gesunden« Menschen abweichen und durch bestimmte Praktiken wieder hergestellt werden können. Diese Menschen erfahren laut Tuck und Yang Anerkennung, die primär auf schmerzbasierter Forschung beruht, also der Sammlung und Nacherzählung ihrer Leidensgeschichten. Nicht nur Forschung, sondern auch Praxis läuft so Gefahr, rassistische Hierarchien in Form von politisch vertretbareren Entwicklungshierarchien fortzuführen (Tuck und Yang 2014, S. 231).

In der Ausgestaltung, Legitimation und Umsetzung von neo-/liberaler Friedens»schaffung« nimmt »eurozentrisches Wissen« auch auf die Vorstellungen von »Frieden« Einfluss und lässt keinen oder nur wenig Raum für alternative Deutungen von Frieden. Diese Universalisierung von Frieden geht einher mit der Unsichtbarmachung entsprechender alternativer Verständnisse solcher Weltbilder, die meist als »unterentwickelt« und »unmodern« abgetan werden. Denn viele solcher Weltbilder beruhen – im Gegensatz zum liberalen Verständnis – auf ausgedehnten Zeitvorstellungen, in denen nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit vor uns liegt und eine aktive Beziehung zu den Vorfahren gepflegt wird. Etymologische Explorationen von alternativen Friedensbegriffen, oder dem Frieden ähnlichen Begriffen in anderen Weltbildern, ermöglichen Zugang zur realen Vielfalt von Friedensverständnissen. Solche Einsichten sollten aber nicht davon ablenken, dass der konkrete politische Friedensdiskurs im Kontext globaler Machtasymmetrien entstanden ist und sich verstetigt hat. Daher ist es nicht ausreichend, auf die epistemische Vielfalt von Friedensvorstellungen hinzuweisen, sondern auch ihre Dominanzverhältnisse anzuerkennen und dort anzusetzen, wo diese unterbrochen oder sogar transformiert werden können.

Gibt es Handlungsoptionen?

Was hieße es dann konkret, sich dem neo-/liberalen Frieden in Bezug auf die hier aufgeführten kolonialen Schattenseiten zu widersetzen?

In Anbetracht der epistemischen Dominanz weißer (europäischer) Wissenschaftler*innen im Feld der Friedensforschung müssen andere Zugänge und Perspektiven auf Frieden gefunden werden. Dafür lohnt es sich, sich den lebendigen Wissenssystemen jener zuzuwenden, die von kolonialer Gewalt betroffen sind und aufgrund ihrer Position mehr »sehen« können als wir, die wir uns im kolonialen Zentrum dieser Wissensproduktion bewegen. Von Friedensforscher*innen und -praktiker*innen erfordert dies, sich den komplexen Verstrickungen zuzuwenden, in die der Friedensbegriff aber auch sie selbst als Menschen eingebettet sind. Es gibt keine einfachen und schnellen Lösungen für den Umgang mit kolonialen Schattenseiten modern/liberaler Frieden.

Ein Ansatz könnte darin liegen, an einigen der Grundannahmen neo-/liberaler Friedensverständnisse zu rütteln. Der radikale Individualismus, der sowohl wirtschaftliche als auch politische Grundvoraussetzung für Liberalismus ist, sollte entthront und in Balance mit kollektiven Rechten und kollektivem Wohlstand, auch in Beziehung zur Natur, gebracht werden. Dies kann jedoch kein Unterfangen sein, das selbstbezogen und selbstreflexiv im eigenen Kopf stattfindet. Im Gegenteil sind es zutiefst relationale, gemeinschaftliche Prozesse, die das Potential bergen, sich selbst als verbunden und als Teil größerer Zusammenhänge zu verstehen. Anstatt ausschließlich zukunftsgeleitetes Handeln zu propagieren, sollte auch der Bezug zur Vergangenheit (wieder-)belebt werden, ohne sie zu romantisieren oder verändern zu wollen, sondern in reale Beziehung mit ihr und ihren Beiträgen zur Schaffung der Gegenwart zu treten.

Der dominante Friedensbegriff bedarf also insofern einer »Entnaturalisierung«, aber auch einer Kontextualisierung in koloniale Verhältnisse, und sollte so auch selbst zum Objekt politischer Aushandlung avancieren, damit eine selbstbestimmte und emanzipatorische Ausrichtung der Arbeit am Konflikt sowie am Umgang mit Gewaltverhältnissen eine reale Möglichkeit wird. Die hier angebotene Kritik am universalen Friedensbegriff birgt durchaus „die Gefahr einer kulturrelativistischen Legitimierung von Menschenrechtsverletzungen und Unrechtssystemen“ (Castro Varela und Dhawan 2017, S. 245). Auf der anderen Seite könnte sie eine Befreiungsbewegung von einem kolonial aufgeladenen und ausgenutzten Konzept darstellen, das ansonsten stillschweigend und unsichtbar geworden zur Aufrechterhaltung und Verstärkung von Kolonialität beiträgt.

Es geht also darum, die Schatten kennen und verstehen zu lernen, den Blick zu schärfen für neue, nicht direkt sichtbare Formen der Verstetigung kolonialer Beziehungen – und darum, gemeinsam nach Wegen zu suchen, diese zu überwinden.

Anmerkungen

1) Dieser modern-liberale Friedensbegriff basiert auf sog. »modernen« Prinzipien wie Rationalität, Aufklärung und »Zivilisierung« und ist zudem eng mit liberalen Grundwerten verwoben, wie unter anderem individuellen Rechten, einem spezifischen Demokratieverständnis sowie dem Vertrauen in Handelsbeziehungen und unregulierte Märkte.

2) Ich spreche hier von Friedensvorstellungen im Plural, weil selbst der modern-liberale Überbegriff von Frieden zahlreiche Spielarten ermöglicht und die hier angebotene Kritik nicht alle dieser Spielarten abdecken kann.

3) Ein prominentes Beispiel, das sich in den Internationalen Beziehungen großer Anerkennung erfreut, ist der sog. (Doppel-)Befund des demokratischen Friedens.

4) »Globaler Süden« und »Globaler Norden« bezeichnen nicht nur geographische Kategorien, sondern primär unterschiedlich privilegierte und deprivilegierte Positionen im globalen System, die durch Kolonialismus konstituiert wurden. So lässt sich auch ein »Norden im Süden« und ein »Süden im Norden« identifizieren, also Menschen(-gruppen), die kontextual über- oder unterprivilegiert sind.

5) Zum Beispiel im Asiento – dem Generalvertrag vom 27. März 1528, in dem Kaiser Karl V. der Augsburger Handelsfamilie der Welser Gebiete im heutigen Venezuela und Kolumbien zur kolonialen »Befriedung« zur Verfügung stellte.

6) Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann zeichnet in »Undienlichkeit« (2020) nach, wie das Wirken und Handeln politischer Philosophen mit der Versklavung und Kolonisierung verwoben ist.

7) Laut Global Slavery Index leben 40 Mio. Menschen in »moderner Slaverei«, die sich beispielsweise in Menschenhandel und Zwangsarbeit manifestiert (globalslaveryindex.org).

Literatur

Brunner, C. (2018): Nachgefragt: Was ist epistemische Gewalt? Ein Interview. W&F 2/2018, S. 42-43.

Castro Varela, M. do Mar; Dhawan, N. (2017): Postkoloniale Studien in den Internationalen Beziehungen. Die IB dekolonisieren. In: Sauer, F.; Masala, C. (Hrsg.): Handbuch Internationale Beziehungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 233-256.

Cruz, J. D. (2021): Colonial Power and decolonial peace. Peacebuilding 9(3), S. 274-288.

Därmann, I. (2020): Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Phoilosophie. Berlin: Matthes & Seitz.

Maldonado-Torres, N. (2016): Outline of ten theses on coloniality and decoloniality. Online bei Fondation Frantz Fanon, 23.10.2016.

Nkrumah, K. (1965): Neo-colonialism, the last stage of imperialism. London: Thomas Nelson & Sons.

Quijano, A. (2000): Coloniality of power, eurocentrism, and Latin America. Nepantla. Views from South 1(3), S. 533-580.

Tuck, E.; Yang, K.W. (2014): R-Words. Refusing research. In: Paris, D.; Will, M.T. (Hrsg): Humanizing research: decolonizing qualitative inquiry with youth and communities. Thousand Oaks: Sage, S. 223-248

Christina Pauls, M.A. Peace Studies, promoviert zur Kolonialität des Friedens. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Projekt »Bayerisches Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung: Deutungskämpfe im Übergang« am Standort Augsburg und außerdem in der politischen Bildung aktiv.

Neokolonialismus genau betrachtet

Neokolonialismus genau betrachtet

Versuch einer umfassenderen Begriffsbestimmung

von Nicki K. Weber

Von Kwame Nkrumahs berühmter Analyse als letzter Stufe des Imperialismus über den Begriff des Eurozentrismus bis hin zu postkolonialer Kritik und den dekolonialen Theorien von »Kolonialität/Modernität« haben Begrifflichkeiten und »Theorien« des Neokolonialismus einige Wandlungen durchlebt. Dieser Beitrag versucht sich an einer genaueren Begriffsbestimmung und bietet Möglichkeiten des Anschlusses an heutige Gewalt- und Herrschaftskritik an, um das Feld konkurrierender Begrifflichkeiten zu sortieren.

Der Begriff des Neokolonialismus im Sinne von »neuem Kolonialismus« ist ein politischer Begriff, der sich (unter anderem) als beschreibend, wertend und konfliktiv begreifen lässt. Er beschreibt politische Praktiken (Diallo 2017, S. 194), die auf den in der Kolonialzeit gewachsenen Macht- und Herrschaftsverhältnissen basieren und diese auf der ökonomischen, soziokulturellen, militärischen und technologischen Ebene (vgl. All-African Peoples‘ Conference 2005) reproduzieren.

Als wertend kann der Begriff des Neokolonialismus aufgefasst werden, weil er als Zustandsbeschreibung auf die aus kolonialen Beziehungen gewachsene strukturelle Gewalt hinweist, der Individuen oder Gruppen (un-)mittelbar durch Fremdbestimmung ausgesetzt sind (Diallo 2017, S. 195f.). Konfliktiv hingegen ist der Begriff, weil er es ermöglicht, neokoloniale Praktiken auch im Alltag zu kritisieren, und versucht, Verantwortlichkeiten zu benennen.

Zwischen Fronten

Erste Beschreibungen neokolonialer Praktiken finden sich in der Abhandlung »Neo-Colonialism: The Last Stage of Imperialism« (vgl. Nkrumah 1966) des antikolonialen Widerstandskämpfers und späteren Präsidenten der Republik Ghana Kwame Nkrumah (1909-1972). Er stellte fest, dass die »neuen« afrikanische Staaten trotz der formalen Unabhängigkeit weiterhin in Abhängigkeitsverhältnisse verstrickt sind, die sich maßgeblich im Weltsystem widerspiegeln, das von neuen Hegemonialmächten wie den USA geprägt sei (Ashcroft, Griffiths und Tiffin, S. 178).

Mit dem Ende formaler Kolonialherrschaft Mitte des 20. Jahrhunderts stellte sich zunächst die Frage, wie sich die Beziehungen zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren nach der Unabhängigkeit gestalten lassen. Angehende Super- und ehemalige Kolonialmächte bemühten sich um globalen Einfluss.

Die Härte des westlichen Kampfs um seinen Gestaltungsanspruch in den neuen Staaten Afrikas wird besonders an der Ermordung des damaligen Premierministers der Demokratischen Republik Kongo Patrice Lumumba deutlich, die der Stabilisierung belgisch-kongolesischer Beziehungen dienen sollte, um eine Orientierung an sozialistischen politischen Systemen zu verhindern (Van Reybrouck 2013, S. 364).

Verantwortungsdiffusion

Nkrumah argumentierte in seiner Abhandlung, dass die Akteure in den neokolonialen Beziehungen diffuser geworden seien. Neokoloniale Beziehungen können demnach zwischen ehemaligen Kolonien und Kolonialmächten bestehen. Diese Verhältnisse können sich aber auch verändern: So war nach der Unabhängigkeit Vietnams vor allem die Beziehung zu den USA prägend für das Land und weniger die Beziehung zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Die Machtverhältnisse in Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank tragen zur diffusen Verantwortungssituation bei. Anders als im Kolonialismus können Kolonialisierte in neokolonialen Verhältnissen oft nicht »ihren« Kolonialisten direkt verantwortlich machen. Das mache den Neokolonialismus gefährlicher als den traditionellen Kolonialismus (Nkrumah 1966, S. x-xi). Diese unklare Herrschafts- und Gewaltausübung, der sich die afrikanischen unabhängigen Staaten ausgesetzt sahen, wurde durch die Fronten des globalen Systemkonflikts zwischen dem sogenannten »Ostblock« und dem »Westen« noch verkompliziert.

Die zentrale Frage, die sich den jetzt unabhängigen Staaten Afrikas stellte, war, wie man sich im Nebel der Verantwortung gegenüber den Ansprüchen angehender Supermächte und ehemaliger Kolonialmächte behaupten könnte. Die Frage der Verantwortung war nicht zuletzt auch deshalb schwierig zu klären, weil nicht nur exterritoriale Kräfte die informelle Herrschaft des Neokolonialismus ermöglichten, sondern auch die Eliten in den afrikanischen Ländern eine entscheidende Rolle spielten (vgl. Afoumba in dieser Ausgabe, S. 38).

Obgleich Nkrumah in seinem Definitionsversuch Neokolonialismus in erster Linie in eine kapitalismuskritische Tradition stellte, behandelt seine Analyse die neokolonialen Konflikte vor allem zwischen Staaten, weniger klassentheoretisch. Dabei verkennt er die Rolle innerstaatlicher Eliten (Ziai 2020, S. 129). Afrikanische Feminist*innen machten wiederholt darauf aufmerksam, dass der Einfluss multilateraler Organisationen auch aufgrund patriarchaler Verbindungen zwischen den (alten und neuen) Eliten ehemaliger Kolonialstaaten und -mächten ermöglicht wurde – zumeist zu Lasten von politischen, sozialen und demokratischen Rechten für Frauen (McFadden 2007, S. 42).

Optimist*innen und Pessimist*innen

Innerhalb dieser Eliten wurde (und wird bis heute) der Vorwurf des Neokolonialismus unterschiedlich bewertet. Die Positionen lassen sich in Optimist*innen, Pessimist*innen und ein Kontinuum, die Neutralist*innen, unterteilen (vgl. Mabe 2005).

Während die einen nach der formalen Unabhängigkeit dem Westen optimistisch gegenüberstanden und eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Dominanz als Notwendigkeit für die »Entwicklung« auf dem afrikanischen Kontinent anerkannten, waren andere nicht bereit, »afrikanische Werte« und wiedergewonnene Unabhängigkeiten angesichts der vor allem wirtschaftlichen Übermacht aufzugeben. Sie standen dem westlichen Einfluss pessimistisch gegenüber und sahen keine Möglichkeit, der Zäsur von Kolonialismus und transatlantischem Sklavenhandel allzu Zukunftsträchtiges abzugewinnen. Die Behauptung, (neo-)koloniale Einflüsse hätten insbesondere auf den Gebieten der Bildung und Wissenschaft »positive Modernisierungseffekte«, lehnten sie als »neokolonialistische Mystifikationen«1 ab und strebten nach Reparationen und der Anerkennung des Kolonialismus als System der Ausbeutung. Aus diesen Bestrebungen gingen die Bewegungen des Panafrikanismus und der Négritude hervor. Stand die frankophone Bewegung der Négritude (Senghor 1967) dafür ein, dass es trotz Kolonialisierung ein explizit afrikanisches Kulturschaffen gebe, das in Differenz zu Europa bewertet werden will, so versuchte der Panafrikanismus, maßgeblich angetrieben vom US-Bürgerrechtler und Soziologen W. E. B. Du Bois, die Überwindung des Rassismus als globale Herausforderung des 20. Jahrhunderts zu benennen. Rassismus und die damit verwobene koloniale Kontinuität wurden in ihren jeweiligen Ausdrucksformen einer neokolonialen Dominanzkultur unter anderem in den soziokulturellen, wirtschaftlichen und rechtlichen Strukturen kritisiert (McEachraen 2020, S. 233f.). So wurde deutlich, dass Rassismus nicht nur den Kolonialismus ideologisch legitimierte, sondern in unterschiedlichen Formen – als Abgrenzung zu »fremden Kulturen«, Nationen oder Religionen – fortwirkt. Der Begriff des Neokolonialismus diente diesen Bewegungen dazu, diese auch soziokulturell fortwirkende Dimension des Kolonialismus zu adressieren.

Neokolonialismus, Neoimperialismus, Neoliberalismus

Drei Begrifflichkeiten werden immer wieder miteinander in Verbindung gebracht: Neokolonialismus, Neoimperialismus und Neoliberalismus. In der Fachliteratur fallen die Begriffe des Neokolonialismus und Neoimperialismus des Öfteren zusammen (Ashcroft, Griffiths und Tiffin 2013, S. 179). Nicht zuletzt die Definition des neuen Kolonialismus als letzte Stufe des Imperialismus formulierte Nkrumah in Rekurs auf Lenins marxistische Interpretation des Imperialismus als kapitalistischem Phänomen (Ziai 2020, S. 129) mit dem Ziel der Etablierung einer globalen hierarchischen Wirtschaftsstruktur. Im Allgemeinen lässt sich eine vorsichtige Differenz herausarbeiten: Kolonialismus definiert sich unter anderem über die territoriale Fremdherrschaft, während Imperialismus einen Herrschaftsanspruch ohne direkte Kontrolle über ein Staatsgebiet meint (Conrad 2012, S. 3). Wie der Neokolonialismus funktioniert der Neoimperialismus über die diffuse Ausbreitung staatlichen Einflusses mittels der internationalen Währungsordnung mit der Etablierung der Bretton-Woods-Institutionen nach dem zweiten Weltkrieg. Beide Begriffe beziehen sich auf die Bedingungen einer Weltordnung, die in großen Teilen die informelle Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker in Kauf nimmt.

In diesem Zusammenhang steht nun der Neoliberalismus für deregulierte, globale Marktkonkurrenz, in der allen Dingen und Lebewesen nur über ihren Marktpreis ein Wert zugemessen wird. Imperialistische und koloniale Praktiken prägen so die Konkurrenz am Weltmarkt, der wiederum zum Nachtteil der »Entwicklungsländer« eingerichtet ist. Auch nicht-staatliche Akteure entziehen sich diesem Vorwurf nicht, da sie zumindest als der neoliberalen Ordnung kompatibel angesehen werden und den Interessen der Großmächte (wenn auch unbeabsichtigt) dienen (Hardt und Negri 2002, S. 324). Wie oben schon erwähnt wurde, sind daher für die Analyse neokolonialer Beziehungen direkte koloniale Vorbedingungen nicht notwendig bzw. erschöpft sich eine Kritik des Neokolonialismus nicht in diesen Beziehungen. Die Einbeziehung des Begriffs des Eurozentrismus als weiterer analytischer Schritt kann helfen, die diffuse Verantwortungslage besser zu beschreiben. Kolonialismus und Imperialismus sind ideologisch miteinander verbunden, weil beide davon ausgehen, dass für bestimmte Bevölkerungs- oder Kulturgruppen – wohlgemerkt zu ihrem eigenen Vorteil – Herrschaft erforderlich ist (Said 1994, S. 44).

Unter dem Einfluss des gegenwärtigen Eurozentrismus

Eurozentrismus, die (un-)bewusste Bewertung alles »Fremden« ausgehend von der eigenen, vorrangig westeuropäischen Positionierung, und Neokolonialismus gemeinsam zu betrachten ist deshalb hilfreich, weil so das der wirtschaftlichen und institutionellen Dominanz zugrunde liegende Verständnis eines überlegenen Westens und dem daraus abgeleiteten Führungsanspruch unterstrichen wird. Diese Phänomene lassen sich mit Achille Mbembe (vgl. Mbembe 2021) als »gegenwärtiger Eurozentrismus« auf den Begriff bringen. Dieser entsteht zum einen aus den kolonialen und imperialen Projekten und ihrer ideologischen Fundierung ab dem 19. Jahrhundert, sowie auf der dargestellten neokolonialen Fortführung nach dem zweiten Weltkrieg durch kapitalistische Ausbeutung und die Landnahme in »Entwicklungsländern« mit der Hilfe von ausländischen, privaten und staatlichen Investoren. Ein Beispiel ist das Interesse Frankreichs an den Uranvorkommen im Niger und die damit verbundene Ausbeutung lokaler Arbeitskräfte oder die US-amerikanischen Sicherheits- und Rohstoffinteressen im Sahel (vgl. Afoumba 2021). Neokoloniale Praktiken wie die Landnahme beschränken sich nicht nur auf Afrika, sondern werden auch aus den Reihen der Europäischen Union im asiatischen und lateinamerikanischen Ausland unterstützt (Borras et al. 2016).

Die Kritik an der Verknüpfung von Neokolonialismus und Eurozentrismus entfaltet sich entlang der Frage, ob auch ehemals vom europäischen Kolonialismus betroffene Weltregionen neokoloniale Praktiken entwickeln können. Hier wird beispielweise die Ressourcensicherung und »Entwicklungsarbeit« der Volksrepublik China in afrikanischen Staaten diskutiert. Eine solche »Übersetzung« des Prinzips neokolonialen Handelns ist aber zumindest umstritten (vgl. Schüller und Asche 2007), nicht zuletzt weil die VR China zwar nicht in eurozentristische Ordnungsvorstellungen eingebunden ist, jedoch von einem globalen Kapitalismus profitiert.

Ein »enger« und ein »weiter« Begriff

Jean-Paul Sartre teilte seine Analyse des neokolonialen Systems in Algerien in drei Bereiche auf, die die politischen Erfolge der Unabhängigkeit gefährdeten und auf denen sich neokolonialer Verhältnisse offenbaren: Ökonomie und Soziales sowie (Sozial-)Psychologisches (vgl. Sartre 1988, S. 15). Im Anschluss daran lässt sich der Neokolonialismus zusammenfassend auf einen »engen« und einen »weiten« Begriff bringen. Im engeren Sinne verweist Neokolonialismus auf Konflikte um wirtschaftliche Abhängigkeiten in einer globalisierten Welt, die die staatliche Souveränität beeinträchtigen und soziale Probleme befeuern. Im weiteren Sinne verweist Neokolonialismus auf (sozial-)psychologische Herausforderungen, die mit dem Zeitalter der Dekolonisation auftreten. Rassistische Diskriminierung, Deprivation und Exklusion von Personengruppen mit begrenzten politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Zugängen (hierfür wurde der Begriff der Subalternen geprägt), sind die Ergebnisse von Konstruktionen eines »Anderen« in neokolonialen Verhältnissen (vgl. Spivak 1985). Die wirtschaftliche Abhängigkeit ist demnach nur eine Seite des Neokolonialismus. Die andere, schwerer nachweisbare Seite stellt die kulturelle und epistemische Gewalt von Wissensverhältnissen dar, die unter anderem durch Sprache, Literatur, Wissenschaft und Medien wirkt und neokolonialen Praktiken Vorschub leistet (Ngũgĩ wa Thiong’o 1995, S. 70).

Theoretische Anschlussfähigkeit?!

Auch wenn dem Begriff des Neokolonialismus attestiert wird, ihm fehle eine kohärente Theorie (Ziai 2020, S. 129), ist er durchaus anschlussfähig, nicht zuletzt an post- und dekoloniale Theorien und Kritiken.

Das im antikolonialen Widerstand verwurzelte und maßgeblich von akademischen Migrant*innen in den USA und in Indien interdisziplinär entwickelte Feld der Postkolonialen Theorien zielt auf die Analyse und Dekonstruktion der im weiten Begriff des Neokolonialismus formulierten Phänomene ab: die kolonialen Kontinuitäten, deren asymmetrische Macht- und Wissensverhältnisse in sozialen und politischen Verhältnissen reproduziert und so stabilisiert werden. Zwar gebe es, so eine häufige Kritik, in postkolonialen Theorien ein Interesse an den Verflechtungen von Kolonialismus und Kapitalismus, doch werde die Bedeutung des Kapitalismus für den Kolonialismus in postkolonialer Theorie zu Gunsten eines kulturellen Fokus vernachlässigt (Hall 2013, S. 198f.). Der Begriff des Neokolonialismus hat das Potenzial diese Lücke zu schließen (Diallo 2017, S. 196) und materielle, geistig-kulturelle wie sprachliche Abhängigkeiten gemeinsam zu betrachten.

Ein breiteres Verständnis von Kolonialismus versuchen Texte rund um das Projekt »Modernidad/Colonialidad« zu gewinnen, das vor allem stark von Forscher*innen aus Lateinamerika vorangetrieben wurde. Dieser dekoloniale Theorieansatz versucht, die koloniale Situation asymmetrischer Machtverhältnisse als ein Grundmoment der Epoche der eurozentrische Moderne zu begreifen, die es letztlich mit nicht-europäischen, lokalen Erkenntnismethoden zu dekolonialisieren gilt. Die Kritik an der Moderne innerhalb dekolonialer Theorien wurde Ende der 1960er Jahren innerhalb der lateinamerikanischen Dependenztheorie aufgegriffen (Castro Varela do Mar/Dhawan 2020, S. 336). Deren im Vergleich zur postkolonialen Theorie allgemein als breiter verstandener Gegenstand umfasst die informelle und ökonomische Abhängigkeit der Peripheriestaaten von den »entwickelten« Industriestaaten und reflektiert stark die unter dem Begriff des Neokolonialismus formulierten Vorwürfe. Der dekoloniale Theorieansatz kann als theoretisch fundierter Nachfolger der Debatte um Neokolonialismus verstanden werden (Ziai 2020, S. 129), weil er den engen und weiten Begriff des Neokolonialismus gebündelt behandelt, ohne einen Begriff gegen den anderen zu sehr auszuspielen (vgl. am Beispiel des Friedensbegriffs den Beitrag von Pauls in dieser Ausgabe, S. 42).

Beispiele neokolonialer Strukturen und Verhaltensweisen

Unter dem Begriff des Neokolonialismus bekommen also aktuelle Strukturen und Verhalten asymmetrischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse einen Namen, die als Langzeitfolgen von Kolonialismus und Imperialismus weiter präsent sind und mittels radikaler Deregulierung der Weltmärkte im Zeitalter der Globalisierung fortgesetzt werden. Die Verwendung und Verwendbarkeit dieser Begriffsbildung kann an zwei Beispielen kurz illustriert werden. Während der globalen Covid-19-Pandemie der letzten beiden Jahre und bei der Verteilung der im Westen entwickelten Impfstoffe wurde immer wieder auf neokoloniale Strukturen aufmerksam gemacht. Im Konflikt zwischen der Konzeption geistigen Eigentums, besonders hinsichtlich der Bedeutung von Eigentum als Grundprinzip liberaler Marktwirtschaft, und dem Menschenrecht auf Gesundheit offenbart sich der Neokolonialismus in seiner ganzen Breite. Die Behauptungen, das Wissen über Impfstoffe könne aufgrund von Eigentumsrechten und der innovativen »Kraft« liberalisierter Märkte nicht global geteilt werden und Länder ohne einen gewissen Industriestandard wären nicht in der Lage, Impfstoffe eigenständig zu produzieren und zu verteilen, sprechen hier eine deutliche Sprache (vgl. ECCHR 2020). Gerade im Kontext der Medizin ist ein kritisches Verständnis für die Rolle traditionellen Wissens und dessen Weiterentwicklung in den kolonialen »Laboren der Moderne« (Stoler und Cooper 1997) hoch aktuell. Es ist schwer, dieses hybride Wissen, das Ergebnis der gewaltvollen Verflechtung von Nord und Süd, als »westliches Eigentum« zu begreifen, welches nur in einem Akt der Güte geteilt werden »darf«.

Auch die Institution des Museums wird seit längerem stärker kolonialismuskritisch beleuchtet. Die Entscheidung, die Rückgabe kolonialer Raubkunst zu verzögern, gleicht einer Verweigerung, die ein neokoloniales Verhalten offenbart, das Bénédicte Savoy als »institutionelle Abwehr« bezeichnet (Savoy 2021, S. 195-199). Nicht zuletzt hinsichtlich der postkolonialen Herausforderung der Selbstbestimmung afrikanischer Kulturen und der Bedeutung von Kunstobjekten für Selbstbestimmung, offenbaren die Rechtfertigungen einer Verweigerung der Rückgabe ein neokoloniales Verhalten. Aus kriegerischen und kolonialen Kontexten geraubte Exponate sollten in den ethnologischen Museen Europas zu Forschungszwecken einerseits und andererseits zum Erhalt für zukünftige Generation verwahrt werden, so ein bekanntes Argument. Die Debatte über Restitution ist längst auch eine Kritik an neokoloniale Beziehungen, in deren Zentrum auch Frage nach einer neuen Ethik des globalen Austauschs steht. Diese zielt auch drauf ab, neokoloniale Fremdbestimmung zu vermeiden (vgl. zu dieser Frage auch Lwanzo in dieser Ausgabe, S. 46).

Zusammenfassung

Neokoloniale Konflikte können heute nicht mehr ausschließlich auf der Ebene demokratischer Wirtschaftsreformen zu Gunsten der Peripheriestaaten bearbeitet werden. Unter dem Begriff des Neokolonialismus werden Effekte und Phänomene adressiert, die in unterschiedlicher Ausprägung von post- sowie dekolonialen Theorieschulen seit geraumer Zeit behandelt werden. Diese Erkenntnisse machen es erforderlich, das Analysefeld asymmetrischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse breiter zu interpretieren, um die gegenwärtigen Gewaltformen und ihre vielseitigen kolonialen und imperialistischen Ursprünge zu begreifen. Sie bilden die »andere Seite« einer von ökonomischen und ethischen Handlungsempfehlungen unserer von »Good Governance« geprägten, globalisierten Weltordnung. Die Gestaltung von Beziehung zwischen Gleichberechtigten steht vor immensen Herausforderungen, denen es in ihrer Komplexität zu begegnen gilt. Der Begriff des Neokolonialismus hat nicht nur das Potenzial, Schieflagen für die Bearbeitung offenzulegen, sondern kann auch die notwendige Irritation aufbringen, die zur Reflexion über herrschende Verhältnisse einlädt.

Anmerkung

1) Der Begriff der »neokolonialistischen Mystifikation« stammt von Jean-Paul Sartre, der 1956 davor warnte, sich auf den Trugschluss einzulassen, es gäbe innerhalb des kolonialen Systems Beziehungen, die nicht von Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnissen geprägt seien (Sartre 1988, S. 29). Der Modus kolonialer Unterdrückung bleibe erhalten, solange das koloniale System fortbesteht. Auch eine Verbesserung der politischen und sozialen Umstände kann für Sartre die Beziehungsgrundlage nicht maßgeblich verändern. Dieser Blick auf die Struktur des Kolonialismus macht eine Unterteilung in »gute« und »schlechte« Kolonisatoren unmöglich (Sartre 1988, S. 16).

Literatur

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Nicki K. Weber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Augsburg. Er forscht zu Postkolonialer Theorie und Schwarzer Kritik. Sein Dissertationsprojekt behandelt politisch-philosophische Konzeptionen zwischen europäischem Existenzialismus und »Black existentialism«.

»Projekt modernes China«


»Projekt modernes China«

Versuch einer Vermittlung Chinas im europäischen Kontext

von Chunchun Hu

China als »Zivilisationsstaat« ist in den kulturellen und theoretischen Prämissen des Westens oft nur schwer zu vermitteln – zu leicht wird in Erzählungen der »Bedrohung durch China« und andere Narrative eingestimmt. China jedoch durchlebt und erlebt einen Traditionsbruch fulminanten Ausmaßes, dem es durch die Neuverhandlung seiner moralisch-ethischen Grundverständnisse zu begegnen versucht. In diesem Text soll der Versuch unternommen werden, das »Projekt modernes China« aus einer kulturellen und historischen Warte zu betrachten und die Entwicklungen für eine europäische Leser*innenschaft einzuordnen.

Zugegeben: Es ist angesichts der derzeitigen Weltlage nicht unbedingt erkenntnisversprechend, sich ideell und wissenschaftlich im europäischen Kontext mit China zu beschäftigen, ohne es in einem schrillen und ideologisch gefärbten Licht geschehen zu lassen. Zu sehr überwiegt die Versuchung oder die Nervosität, in einer allgemein heraufbeschworenen „systemischen Rivalität“ (Rühlig 2021) zwischen einem sich als aufgeklärt, humanitär, wohltätig, nicht interessengeleitet verstehenden, liberal-demokratischen Westen und dem anscheinend autoritären, Regeln nicht einhaltenden, Menschenrechte verachtenden, sich im angsteinflößenden Tempo entwickelnden und nach Außen entsprechend selbstbewusster und aggressiver“ (Jerdén 2014) verhaltenden China rechtzeitig auf der sicheren und richtigen Seite des Ersteren zu stehen (Von Marschall 2021, Groitl und Viola 2021). Das Problematische an diesem Narrativ ist, dass die stichwortartig aufgelisteten Attribute, die hier China zugewiesen werden, dermaßen ambivalent und bigott sind, dass sie höchstens selbstreferentiell zur Verwendung in politischen Think-Tank- und Regierungspapieren des Westens geeignet sind, als Maßstab einer universellen Moralität – wie sie vom »Wertewesten« für sich beansprucht wird – dagegen kaum.

In diesem Sinne mag es von der Position eines Kulturwissenschaftlers betrachtet interessant sein, dass nicht wenige US-amerikanische Politikberater*innen und -wissenschaftler*innen medienwirksam an der »Theorie der chinesischen Bedrohung« (»Chinese Threat Theory«) arbeiten, gefolgt von europäischen Gleichgesinnten (vgl. auch Leutner in dieser Ausgabe). Die gesuchte und auch gefundene chinesische »Große Strategie« (»Grand Strategy«) erstens zur Verdrängung der US-amerikanischen Welthegemonie und zweitens zur Unterwerfung der gesamten Welt kann sich in China des sicheren Status der ­Science-Fiction- bzw. Polit-Thriller-Lektüre erfreuen (vgl. für solche »Theorien«: Pillsbury 2015, Scobell u.a. 2020, Doshi 2021).

China: Innenperspektive auf Kontinuität und Brüche

Aus dieser Fehldeutung ergibt sich für die seriöse wissenschaftliche Beschäftigung mit einer der ältesten Kulturen der Menschheit, die eine ununterbrochene zweitausendjährige Tradition offizieller Geschichtsschreibung aufzuweisen hat und deren kulturelles Selbstbewusstsein als selbstverständlich gilt, die Frage, die zugleich eine Herausforderung ist: Lässt sich China im europäischen bzw. west­lichen Diskurs überhaupt vermitteln?

Diese China-Frage hat ihre Wurzel im 19. Jahrhundert. Das direkte Aufeinandertreffen zwischen dem altertümlichen China und dem aufgeklärten und aufstrebenden Europa, das in den beiden Opiumkriegen seinen signifikanten Ausdruck fand (Lovell 2011), brachte das sinozentrierte Weltverständnis Chinas zum Kollaps. Unter dem Anpassungsdruck der von Europa vorgegebenen Moderne wurde und wird bis heute der Bedeutungsschwund der eigenen Kultur schmerzlich als geschichtlicher Bruch interpretiert. Eine pedantische, aber für traditionsbewusste Chines*innen zentrale Frage ist: Wie soll nach dem Untergang der mehr als zweitausend Jahre währenden dynastischen Geschichte die Genealogie Chinas, die sogenannten »Vierundzwanzig Dynastiegeschichten«, fortgeschrieben werden, und von wem? In dieser Frage bzw. der Beantwortung dieser Frage liegt der Schlüssel zur Legitimation des chinesischen Staates sowie zur kulturellen Identität Chinas, die es also zu verstehen gilt.

Denn seit dem bahnbrechenden Werk »Shiji« (»Aufzeichnungen der Chronisten«), das als die erste Geschichtsschreibung Chinas zwischen dem 2. und 1. Jahrhundert vor Christus entstanden ist, hat sich die Tradition entwickelt, dass eine neue Dynastie die Geschichte der voran- und untergegangenen Dynastie schreibt und sie sich somit in die Abfolge der legitimen Herrschaft einreiht. Anders als in Europa zeichnet sich die Kulturgeschichte am anderen Ende des eurasischen Kontinents durch ein sonderbares Bekenntnis zu und ein widerstandsfähiges Festhalten an der Idee der politischen, territorialen und kulturellen Integrität aus. Diese zwar imaginäre, aber historisch erlebte Idee von »China« hat im Laufe der Geschichte allen Perioden des Auf und Ab, der Einigung und Teilung, der Invasionen und Fremdherrschaften getrotzt und wurde wie ein Religionsersatz im ansonsten weitgehend areligiösen China gehütet. „Aus westlicher Sicht ist das heutige China so, als hätte das Europa des Römischen Reiches und Karls des Großen bis heute überdauert und würde nun versuchen, als ein einziger Nationalstaat zu funktionieren.“ (Pye 1990, S. 58) Diese scherzhaft anmutende Metapher hat in Wirklichkeit einen ernsten Kern.

Mit der langsamen Zerbröckelung und der unausweichlichen Auflösung des Kaiserreichs in den Jahren 1911/1912 verlor auch die konfuzianische Grundlehre, die mit ihrer Formel „nei sheng wai wang“ („Heiligsein im Inneren und Königlichsein im Äußeren“) zwischen individueller Bildung und sozialer Ordnung vermittelte und seit gefühlter Ewigkeit als staats- und kulturtragend galt, an Überzeugungskraft. Wehmütig müsste es einem konfuzianisch Gebildeten beim Anblick des gelebten Ideals ergangen sein: „Es gilt schon seit alter Zeit der Grundsatz, daß eine Beeinflussung der Welt durch Ausübung der wahren Tugend nur dann möglich ist, wenn zuerst die Staaten in Ordnung gehalten werden; man kann aber nur dann die Staaten in Ordnung halten, wenn in den Familien Ordnung herrscht; dies ist aber wieder bedingt durch die innere Vervollkommnung der Einzelnen.“ (Eucken und Chang 1922, S. 60, Zitat aus dem konfuzianischen Klassiker »Daxue«, der »Großen Lehre«) Drohte der Staat auseinanderzufallen – im China des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war es der Fall –, so wurden die Chines*innen zu „unbehausten Menschen“, wie Hans Egon Holthusen sprichwörtlich die conditio humana der Moderne (mit dem besonderen Blick auf die katastrophalen Folgen des Zweiten Weltkriegs) beschrieb.

An der Schwelle zur Moderne stand plötzlich jahrtausendelang Bewährtes zur Disputation: Würde China in seiner historisch gewachsenen Formation weiter bestehen können? Oder droht China das Schicksal anderer altertümlicher Großreiche, die in kleine, neu konstruierte Nationalstaaten zerfallen und selbst dadurch historisch geworden sind? Hat die chinesische Kultur überhaupt noch Wert, den ästhetischen ausgenommen?

Li Hongzhang (1823-1901), einer der wichtigsten Politiker und konservativen Reformer der Spät-Qing-Zeit, Seelenverwandter und Besucher Bismarcks, bezeichnete diese von der Bildungselite empfundene Erschütterung angesichts der umfassenden Überlegenheit der europäischen Kultur als eine „seit drei Jahrtausenden nicht gekannten Ausmaßes“ (Hu 2021, S. 48).

Dieses Krisen- bzw. Bruchbewusstsein hat verschiedene Lösungskonzepte hervorgebracht, die eines gemeinsam haben: den unbedingten Willen, der auch im Einklang mit der gefühlten Gesetzmäßigkeit der Geschichte stand, die Kontinuität der chinesischen Kultur in die Moderne zu retten. Das »Projekt modernes China« begann; dies bedeutet nichts mehr und nichts weniger als eine doppelte Mammutaufgabe: die synchrone Transformation von kulturellen und politischen Verhältnissen gleichermaßen, wobei die Unzulänglichkeit des seinerseits in der bis dato bekannten Welt geltenden universalistischen Anspruchs des Konfuzianismus überwunden und eine souveräne Antwort auf die umfassende Herausforderung durch die westliche Moderne gefunden werden sollte (Wang 2016, S. 41ff.). Nur in diesem historischen Kontext und Spannungsverhältnis zwischen Bruch und Kontinuität lässt sich das China des 20. und des 21. Jahrhunderts mit all seinen Widersprüchen adäquat verstehen und deuten.

Zum Beispiel bedeutete die politische Transformation vor allem die Suche nach einer neuen Staatsform, die an die Stelle des Kaiserreichs treten und die Integrität des Kaiserreichs dennoch bewahren sollte. Nach einer kurzen Phase der Verwirrung – fast alle Teile des Reichs hatten sich autonom bzw. unabhängig erklärt und waren in bürgerkriegsähnliche Zustände verwickelt – hat sich die konstitutionelle Republik durchgesetzt. Damit ist nur eine Teillösung erreicht. Denn die Republik hat zwar die Form des staatlichen Gebildes geliefert. Ideell und damit substanziell stand sie aber auf fragilem Fundament: Gesinnungsrichtungen und Ideologien aller Couleur, die von revolutionär-radikalen und liberalen über kulturkonservative bis hin zu utopischen reichten, waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter der chinesischen Bildungselite zu finden. Diese Gesinnungsrichtungen konkurrierten miteinander um die Gestaltung des zukünftigen China. „Alle politischen Fragen seit der späten Qing-Dynastie haben ihren Ursprung in der Transformation der Ideen in der ganzen Welt“ (Wang 2016, S. 92). Weimarer Verhältnisse lassen grüßen.

Die spätere Auseinandersetzung zwischen Nationalist*innen und Kommunist*innen, die auch mit Waffengewalt ausgetragen und zu Gunsten der Letzteren entschieden wurde – mit der Ausnahme der letzten Zuflucht der Ersteren auf Taiwan –, ist auf den Wettstreit um die Deutungshoheit über das »Projekt modernes China« zurückzuführen. Die große Transformation der Verhältnisse betraf aber auch die Menschen und deren Zugehörigkeit – also die kulturelle Transformation. China ist im Prozess der modernen Transformation zwar die politisch-territoriale Integrität gelungen. Aber konnte aus den einstigen Untertanen des Kaisers ein modernes Staatsvolk (»Nation«) mündiger Bürger und Bürgerinnen werden, das sich auch zu diesem Staat bekennt? Dass nicht nur ein gesamt­nationales Bewusstsein, sondern auch viele Formen der regionalen, ethnischen, religiösen, sozialen und anderer Identitäten parallel und nicht selten im Widerstreit zueinander entstanden oder immer noch im Entstehen sind, zeigt die Schwierigkeit eines verspäteten und nachzuholenden »Nation-building«. Die neu zu begründende Nation musste gleichzeitig auch der alten Idee von »China«, der zufolge Vielfalt in der Einheit und Anerkennung des konfuzianischen Wertesystems erlaubt war, angepasst werden.

Adaption oder Befreiung vom westlichen Diskurs?

Gewillt oder gezwungen: Das moderne China ist ohne ideelle Befruchtung durch den Westen und ständiges Sich-Messen am Westen undenkbar. Diese Westen-fixierte Sichtweise gleicht aber einem zweischneidigen Messer: Sind die chinesischen Fragen genuine Fragen von China, oder sind sie nur vom Westen ausformulierte Fragen über China, die wiederum von Chines*innen rezitiert werden?

Denn hinter dieser Frage verbirgt sich ein kollektives Unterbewusstsein im westlich dominierten China- bzw. Moderne-Diskurs. In Anlehnung an Edward Saids Konzept des »Orientalismus« wird inzwischen vom »Sinologismus« gesprochen (Gu 2013), also von „oft unbewussten erkenntnistheoretischen und methodologischen Annahmen, die die verborgene Logik der westlichen Diskurse über China bilden“ (Miller 2013, S. XVI). Damit wird aber mehr gefordert als Selbstreflexion des Westens. Denn einige diskursive Paradigmata, in denen vor allem westliche Erfahrungen mit der Geschichte und Moderne zum universellen Maßstab erhoben werden, müssen in Bezug auf China einer kritischen Überprüfung unterzogen werden.

Zum Beispiel verdient die akademische Diskussion darüber mehr Beachtung, ob das moderne China seine Staatlichkeit weiterhin auf Konzepten wie »Nationalstaat« aufbauen soll, obwohl dieses europäisch geprägte Konzept eine verhängnisvolle Rolle in der Weltgeschichte gespielt und im chinesischen Kontext immer noch viele Adaptionsprobleme aufzuweisen hat. Eine bekannte These wird inzwischen zum geflügelten Wort: „China ist eine Zivilisation, die vorgibt, ein Staat zu sein.“ (Pye 1990, S. 58) Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei chinesischen Intellektuellen (Zhang 2012, Wang 2014).

Ein »Zivilisationsstaat« – im Gegensatz zum Konzept des »Nationalstaats« – würde unter anderem bedeuten, dass die schwierige Richtungssuche im Prozess zur Erschaffung eines modernen China, die in den Bürgerkriegen und politischen Kampagnen ein hohes Opfer gefordert hat, doch konzeptionell bedingt sein könnten, und dass dem vormodernen und traditionsreichen chinesischen Selbstverständnis mehr Rechnung getragen werden sollte. Ein solches Verständnis wird in der Forschung als »Kulturalismus« beschrieben, „der auf einem gemeinsamen historischen Erbe und der Akzeptanz gemeinsamer Überzeugung­en beruht, und nicht als Nationalismus, der auf dem modernen Konzept des Nationalstaats basiert.“ (Harrison 1969, S. 2) Nach diesem Verständnis gleicht China einer selbstgenügsamen Welt, in deren Ordnungssystem »Tianxia« (»alles unter dem Himmel«, Zhao 2020) die chinesische Kultur einen unangefochtenen, universalistischen Charakter hat. Auch der Sicherung des inneren Friedens wird in einem großdimensionalen Zivilisationsstaat hohe Priorität eingeräumt im Gegensatz zum Nationalstaat, der sich dem Wesen nach durch Ausgrenzung der »Anderen« definiert.

Daraus lässt sich ein weiteres Beispiel herleiten, das die Frage nach der Bestimmung des politisch-wirtschaftlichen Systems Chinas stellt. Hierzu zeigt sich eine große Diskrepanz zwischen dem subjektiven Anspruch, der nicht frei von ideologischem Einfluss ist, und der objektiven Deskription. In der Verfassung der Volksrepublik wird China als ein „sozialistischer Staat der Diktatur des Proletariats“ definiert, in der Wissenschaft dagegen überwiegend als ein meritokratisch und autoritär organisiertes System mit einer staatskapitalistisch gelenkten Wirtschaft, das sich erstaunlich anpassungs- und lernfähig zeigt. Dies auch verstehen zu wollen, ruft nach theoretischer Horizonterweiterung jenseits der dichotomen Denkmuster »Kapitalismus vs. Sozialismus/Kommunismus« oder »Plan- vs. Marktwirtschaft«. In diesem Sinne erlebt der Konfuzianismus nach dem Abebben des kommu­nistisch-revolutionären Elans und gemäß der seit der Reform- und Öffnungspolitik gewonnenen Erfahrungen mittlerweile eine neue Bewertung. In einer neuen Variante des Konfuzianismus, die durch westlich-demokratische Elemente erweitert wird, sehen nicht wenige Intellektuelle ein nötiges Korrektiv für das westlich definierte, inzwischen aber ins Dysfunktionale gekippte Projekt der Moderne (u.a. Bai 2020). Die politische Legitimation nach dem egalitär-elitären Prinzip „of the people, for the people, but not by the people“ (Bai 2020, S. 34-52) wäre in dieser Perspektive der bessere mittlere Weg zwischen Ideal und Realität.

Die gemeinsame Herausforderung

Wohin das »Projekt modernes China« steuert, hat der amerikanische Sinologe Benjamin Schwartz schon früh erahnt. Am chinesischen Frühaufklärer Yan Fu (1854-1921), der die geistige Welt des modernen Europas nach China vermittelte, stellt Schwartz die Ankunft Chinas in der Moderne fest. Es ist ein Befund, der den Nerv der öst-westlichen Annäherung und Entfremdung trifft:

„Indem sie sich mit diesen Problemen befassen, haben Yan Fu und China bereits das unbekannte Meer der modernen Welt betreten, in dem wir alle schwimmen. Das Problem des Verhältnisses zwischen der faustischen Religion des grenzenlosen Strebens nach Reichtum und Macht und der Verwirklichung gesellschaftspolitischer Werte – und noch grundlegenderer menschlicher Werte – bleibt für uns genauso ein Problem wie für sie.“ (Schwartz 1964, S. 60)

Dabei konzentrierte sich Schwartz auf das Wesentliche und das Verbindende: die Moderne ist, ohne dass man sich ihrer Formation und ihres Ausgangs bewusst ist, die alternativlose Destination sowohl für den Westen als auch für China. Die anderen kulturell bedingten Denk- und Verhaltensmuster haben sich dem Wesentlichen unterzuordnen. Und dieses Wesentliche ist Abgrund und Höhenflug zugleich, faustisch und ideal. Indem Schwartz einerseits dieses moderne, um ein Vielfaches beschleunigte und grenzenlose Streben nach Reichtum und Macht herausarbeitet und andererseits auf den Willen des Menschen zum Guten hinweist, eine Überzeugung, die ebenfalls modern geprägt ist, sollte man sich eines gewiss sein: Das Verständnis vom »Projekt modernes China«, das in seinem Wesen zum Projekt Moderne gehört, ist nur die andere Seite des Verständnisses vom Westen.

Literatur

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Chunchun Hu ist Associate Professor an der Shanghai Academy of Global Governance & Area Studies, Shanghai International Studies University und Direktor des Programms Europastudien.

Multiple Krisen gemeinsam meistern

Multiple Krisen gemeinsam meistern

IPT Online Lecture Series, ASPR Schlaining, online, 01-29. Juni 2021

von Julia Scharinger

Die Covid-19 Pandemie sowie die anhaltenden Krisen der Umwelt und des sozioökonomischen Lebens veranlassten das »Austrian Study Centre for Peace and Conflict Resolution« (ASPR) dazu, 2021 eine internationale Kampagne zum Thema »Heimatland Erde – Terre Patrie« ins Leben zu rufen. Inspiriert ist sie vom Werk des französischen Soziologen und Philosophen Edgar Morin, der bereits in den 1990er Jahren die »Polykrise« thematisierte, deren in ihr liegende Verwobenheit vieler Themenkomplexe und die Dringlichkeit aufzeigte, nach einem planetarischen Zugehörigkeitsgefühl zu suchen. Heute scheinen diese Themen brennender denn je.

Auch die diesjährige »IPT Online Lecture Series« des ASPR reihte sich mit ein in die Fragen nach der Polykrise. Unter dem wiederkehrenden Titel »Caring Conversations for Peace and Justice« beschäftigt sich diese frei zugängliche Vortragsreihe alljährlich mit brennenden Fragen rund um Frieden, Konflikt und Gerechtigkeit. Sie hat den Anspruch zum Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis beizutragen und richtet sich besonders an ziviles Personal aus der Friedens- und Konfliktarbeit.

Im Rahmen von fünf interaktiven Vorträgen wurden die Teilnehmenden dazu eingeladen, in Aspekte von Morins Werk und der heutigen Polykrise näher einzutauchen. Im Vordergrund standen der Umgang mit Komplexität, Fragen von Handlungsfähigkeit im Angesicht der Polykrise sowie die Aufgabe, eine Re-Imagination von Identität und Zugehörigkeit weit über unsere direkten Gemeinschaften oder Nationalstaaten hinaus vorstellbar zu machen – hin zu einem planetaren Bewusstsein.

Den Auftakt zur Vortragsreihe machte Dr. Annick de Witt. Auf Basis ihrer Forschung zu Weltanschauungen begleitet sie Menschen in transformativen Prozessen hin zu einer nachhaltigeren Welt. Laut Dr. de Witt sind Weltanschauungen sogenannte »big stories«, die es ermöglichen, Erfahrungen Sinnhaftigkeit und Bedeutung zu verleihen. Erst dieser Prozess ermöglicht den menschlichen Umgang mit Komplexität und die Entwicklung von Identitäten und Zugehörigkeiten. Laut Dr. de Witt müssten Menschen nicht grundsätzlich ihre Weltanschauungen verändern, sondern diese eher kritisch reflektieren. Durch die Erfahrung, dass festgefahrene Denkmuster, Interpretationen und das,
„was wir als gegeben hinnehmen“ vielleicht gar nicht so statisch ist, wird es Menschen möglich, sich vertieft mit eigenen Wertvorstellungen, Handlungs- und Lebensweisen auseinanderzusetzen und diese zu transformieren. Dies bezieht Dr. de Witt nicht nur auf Personen, sondern auch auf die Reflexion und mögliche Transformation von Strukturen und Kulturen.

Mit kulturellen Transformationsprozessen und dem Hinterfragen des »Festgefahrenen« führte die Gender- und Peacebuilding-Spezialistin Dr. Gal Harmat die Fragen nach der Polykrise weiter. Sie lud die Teilnehmenden zu einer virtuellen Sightseeing-Tour rund um die Welt ein, um anhand der »besuchten« öffentlichen Räume, Kunstobjekte oder Denkmäler zu (hinter)fragen, welche Geschichte(n) sie beispielsweise zu Maskulinität, Femininität, Kolonialismus und »race« erzählen und welche sie nicht oder nur verzerrt erzählen. Und nicht zuletzt, wie dies entsprechend Erfahrungen von Identität und Zugehörigkeit beeinflusst. Der Impuls führte also direkt zu einem aktuell sehr prominenten Aspekt der Polykrise : innergesellschaftlicher Gewalt, die sich aus Rassismus, Sexismus und Klassismus speist. Angeregt von der Arbeit der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama diskutierten die Teilnehmenden anschließend Potentiale von fluider, vergänglicher und nachhaltiger Kunst im öffentlichen Raum. Damit würden Menschheit und Geschichte(n) nicht statisch verewigt, sondern könnten in anhaltender Bewegung und Weiterentwicklung bleiben.

Fragen von Unbeständigkeit und dem Verhältnis von Mensch und Natur behandelte auch Dr. Yulia Sugandi. Sie lud die Anwesenden dazu ein, einen weiteren Aspekt der Polykrise näher zu betrachten : jenen, der derzeit, vielleicht etwas unscharf, als »Umweltkrise« bezeichnet wird. In Ihrem Vortrag verdeutlichte Dr. Sugandi die Zusammenhänge zwischen Mensch und Natur, sowie lokaler und globaler Ebene anhand von Beispielen aus urbanen Gegenden in Indonesien, welche von Überflutungen betroffen sind. Sie argumentierte, dass diesen Zusammenhängen, deren Komplexität und den vielschichtigen Herausforderungen, welche sich daraus ergeben, mit einer Entwicklung hin zu »planetarer Gerechtigkeit« begegnet werden könne. Planetare Gerechtigkeit muss hier mindestens multidimensional gedacht werden – über Grenzen, über Generationen und über die Menschheit hinweg. Es geht um eine glokale und sozio-ökologische Herangehensweise.

Auch Dr. Siad Darwish legte den Fokus auf die sozio-ökologische Krise. Allerdings standen diesmal weniger Komplexität und planetare Gerechtigkeit im Vordergrund, als vielmehr ein Ausloten der Potentiale, ein Zugehörigkeitsgefühl über das »Mensch-Sein« hinaus zu entwickeln. Dr. Darwish nutzte das Medium des Storytellings, um anhand zweier Geschichten aufzuschlüsseln, wie aus Belastungssituationen auch neue Erfahrungen einer Verbundenheit und Beziehung zwischen Mensch und Natur erlebbar werden können. Laut Dr. Darwish gehe es in Zukunft darum, Wege zu finden, diese individuellen Erfahrungen auf kollektive Ebene bringen zu können. Damit könnten sozio-ökologische Beziehungen und Zugehörigkeit entwickelt werden, die Mensch und Natur gleichzeitig und in aufeinander bezogener Abhängigkeit voneinander insgesamt widerstandsfähiger gegenüber Natur- und menschengemachten Katastrophen werden lassen könnten. Die Frage sei jedoch, welche Ethik und welche Formen der Begegnungen das Fundament für derartige Beziehungen bilden könnten.

Den Abschluss der diesjährigen Vortragsreihe machte Professor Dr. Heikki Patomäki mit einem Rekurs auf die Meta-Ebene. Er beleuchtete das Spannungsverhältnis zwischen Diversität einerseits und planetarem Zugehörigkeitsgefühl andererseits. Auch Dr. Patomäki kam auf die »big stories« oder vielmehr die »Big History« zu sprechen. Mit Big History, so sein Argument, verfügen wir über ein Rahmenwerk, um darüber nachzudenken wer wir sind, ohne gleichzeitig kulturelle und historische Unterschiede außer Acht zu lassen. Um auch hier das Spannungsverhältnis zwischen Individualität, Diversität und Kollektivität konstruktiv nutzen und halten zu können, bedarf es laut Dr. Patomäki einer entsprechenden Reflexion von bestehenden Identitätskonzepten. Indem wir die Beziehung zum Selbst und Anderen neu definieren, so Patomäki, könnten wir zum Projekt eines gemeinschaftlichen planetaren Lernens beitragen, zu Gerechtigkeit und Solidarität.

Zum Abschluss lade ich auch Sie als Leser*innen ein, eigene Annahmen, Welt­anschauungen und Wertvorstellungen zu reflektieren, vielleicht sogar zu expandieren. Welche Geschichten über die Welt und das Sein sind Ihnen geläufig ? Wie könnten Sie sich einem planetaren Zugehörigkeitsgefühl annähern und was würde das wohl für Ihr Leben und Ihr Tun bedeuten ?

Julia Scharinger

Was und Wo ist Den Haag?


Was und Wo ist Den Haag?

Die Herstellung der »Neutralität« für Frieden und Konflikte international

von Cathie Traynor

Dieser Artikel untersucht, wie Den Haag, als Organisation und weniger als Stadt betrachtet, Auswirkungen darauf hat, wie Frieden und Gerechtigkeit (weltweit) praktiziert und wahrgenommen werden. Diese Erkenntnisse sind zentral für alle Arbeiten, die Alternativen zur internationalen (Straf-)Gerichtsbarkeit erforschen und für solche, die untersuchen, welche Auswirkungen es hat, wenn Den Haag als eine »Ausnahmeörtlichkeit« und nicht als der »natürliche« Ort solcher Gerichtsbarkeit verstanden wird.

Es ist unbestreitbar, dass Den Haag berühmt ist für seine Rolle bei Frieden und Gerechtigkeit. So lautet die Vision der Stadt selbst: „Den Haag, Internationale Stadt des Friedens und der Gerechtigkeit. Wer denkt, dass dies nur ein cleverer Stadtmarketing-Slogan sei, erfunden von smarten Werbeagenturen, ist auf dem Holzweg. Sollten Sie nach Sarajevo, Nairobi oder Kabul reisen, würden Sie feststellen, dass in diesen Städten der Name der weit entfernten Stadt Den Haag für Hoffnung steht. Hoffnung […] dass die Übeltäter […] nicht ungestraft davonkommen. Heute ist Den Haag Standort von nicht weniger als 131 internationalen Instituten und Agenturen – sowohl Nichtregierungsorganisationen als auch Regierungsinstitutionen […]. Den Haag arbeitet stark daran, weiterhin ein Leuchtfeuer der Hoffnung für Millionen von Menschen auf der ganzen Welt zu sein.“ (Die Botschaft des Königreichs der Niederlande in London 2010)

Aber der Einwand der Botschaft, dass es sich nicht „nur um einen cleveren Stadtmarketing-Slogan” handele, deutet uns darauf hin, dass was auch immer »Den Haag, Internationale Stadt des Friedens und der Gerechtigkeit« (»The Hague, International City of Peace and Justice«, HICPJ) wohl genau ausmacht, von Bedeutung sein muss. Es mangelt nicht an Expert*innen, die etwas zur politischen, wirtschaftlichen oder diplomatischen Entwicklung der Stadt sagen könnten (vgl. van der Wusten 2006), aber wir müssen tiefer blicken, was »Den Haag, Internationale Stadt des Friedens und der Gerechtigkeit« darstellt und wie es sich anfühlt, wenn wir Chancen und Hindernisse für Frieden genauer ergründen wollen. Dieser Artikel basiert auf Feldforschungsdaten aus den 2010er Jahren und zeigt, wie die Nachbarschaft, die Stadt und das Land, in denen internationaler Frieden und Gerechtigkeit ihren Sitz haben, in eine mächtige, geopolitische Performance verwoben sind (vgl. Traynor 2017).

Ich behaupte, dass der Erfolg von Den Haag darauf beruht, dass es das »irgendwo anders« darstellt und verkörpert. Schon die frühe Geschichte Den Haags ist damit verbunden, dass es nicht so mächtig war wie Amsterdam oder Dordrecht. Es war ein Ort, an dem Machtkämpfe zwischen Stadtstaaten gelöst werden konnten (vgl. van Krieken und McKay 2005). Ein Gebäude aus dem 13. Jahrhundert, der Ridderzaal, war die »ursprüngliche« Versammlungshalle, und obwohl sich ihre Bauten und Strukturen verändert und weiter ausgedehnt haben, zog die Stadt weiterhin diejenigen an, die Probleme innerhalb und außerhalb der Niederlande zu bearbeiten hatten (vgl. Eyffinger 2005). Das »irgendwo-anders« zu sein, das nicht mächtig ist, sondern nur von glücklichen Zufällen und visionären, aus einer anderen Welt stammenden Gebäuden, Menschen und Praktiken geprägt ist, spielt eine Schlüsselrolle in der Erzählung, das die HICPJ aufrechterhält. Dies erfordert eine Erkundung von Den Haag nicht als Stadt an sich, sondern als Organisation mit einer gebauten Umwelt und Bedeutungen, Gefühlen und Verhaltensweisen, die über alle Maßstabsebenen hinweg miteinander interagieren.

Warum Den Haag?

Als ich 2017 Menschen fragte, weshalb Den Haag für Frieden und Gerechtigkeit stünde, war die Antwort in der Regel „aufgrund des Friedenspalastes“. Die Geschichte dazu beginnt im Jahr 1899, als die Stadt zum Tagungsort einer Friedenskonferenz auserkoren wird, die auf Initiative von Zar Nikolaus II angeregt wurde, der in finanziellen Schwierigkeiten steckte und dringend Frieden und nicht Krieg anstreben musste. Andere europäische Standorte wurden aus Gründen von Rivalitäten oder Ambivalenz abgelehnt. Den Haag funktionierte aus zwei zentralen Gründen. Erstens: „Die Niederlande wurden als ebenso neutral wie unbedeutend angesehen“ (Eyffinger 2003, S. 16). Zweitens hatte die Stadt international einen Ruf für ihr juristisches Fachwissen erworben, sowohl im Kriegsrecht als auch im Privatrecht. Den Haag war Heimatstadt zweier bedeutender Juristen, Hugo Grotius (frühes siebzehntes Jahrhundert) und Tobias Asser (spätes neunzehntes Jahrhundert). Beide wurden damals wie heute als Außenseiter und geradezu heiligengleiche Visionäre dargestellt, eingebunden in ein internationales professionelles Netzwerk, und nicht als Niederländer, die den Interessen ihres Staates dienten (vgl. van Ittersum 2010). Um die aktuelle Rolle zu erkunden, die Den Haag für die Herstellung von Frieden und Gerechtigkeit einnimmt, ist es daher notwendig, seine »Neutralität« und seine »abgehobenen Juristen« zu hinterfragen.

Die Rolle der »Neutalität«

Agius (2006) legt nahe, dass Neutralität als Konzept zu eng definiert worden sei, entweder als eine Verirrung (ein zartsinniger und unmoralischer Überlebensmechanismus) in einer kriegerischen, realistischen Welt oder als eine nicht notwendige Position im regelorientierten, liberalen Idealismus. Sie meint stattdessen, dass es sich oft um eine strategische Position handelt, die sich zwischen beiden Polen bewegt. Ein neutrales Land kann beträchtliche Anstrengungen unternehmen, eine umfassende und zwingende Autorität gegenüber Konfliktparteien zu errichten. Daher ist der liberale Idealismus seine realistische Strategie.

Neutralität bleibt dabei aber auch bestehen, beziehungsweise verändert sich, von Land zu Land, nicht nur im Verhältnis zur sich verändernden Natur globaler Konflikte, sondern auch abhängig davon, „was die Identität und die Handlungen des Nationalstaats ausmacht“ (Agius 2006, S. 5). Diese Feststellung hat wichtige Folgen. Erstens kann Neutralität nicht je nach außenpolitischen Entwicklungen ein- und ausgeschaltet werden. Zweitens stellen verschiedene, miteinander verwobene, interne und externe Elemente Neutralität über Raum hinweg her. Diese Neutralität hat eine performative Qualität, die Menschen und Orte als »neutral« bzw. »nicht neutral« definiert. Und schließlich kann ein neutrales Gemeinwesen jede Größe und jeden Maßstab annehmen, insbesondere im aktuellen politischen Klima (vgl. Agius 2011).

Wie das »neutrale« Den Haag konstruiert wird

Zur Zeit der Friedenskonferenz 1899 koexistierten und interagierten zwei Versionen der Neutralität, um dieses einzigartige und im Entstehen begriffene neutrale Gemeinwesen auf der organisatorischen Ebene zu etablieren: Die Internationale Stadt des Friedens und der Gerechtigkeit Den Haag. Die eine Art der Neutralität, die sich in der niederländischen Außenpolitik ausdrückte, war eine realistische Abweichung, die die Machtlosigkeit und das Desinteresse des Landes betonte. Den Haag mit seiner ganz eigenen Wissensgemeinschaft von externen, visionären Jurist*innen und ihren kosmopolitischen Anhänger*innen vertrat dagegen eine dynamischere, moralische und selbstlose Neutralität. Es bestand der Wille, »gute Dienste« zu leisten: ein diplomatischer Standort mit Expertise in der Mediation. Indem es einerseits seine als notwendig markierte, regelbasierte Autorität pflegte und gleichzeitig unnahbar und unbedeutend erschien, erwuchs Den Haag als eine Organisation, die als Produkt und Schöpfer von »irgendwo anders sein« gedieh; durch die Kombination von beinahe heiligengleichen Rechtsgelehrten, symbolischer Architektur, und niederländischer Außenpolitik. Paradoxerweise führte diese einzigartige Form der (un)organisierten Neutralität des HICPJs zum weiteren Bedeutungsverlust der Niederlande und stärkte aber gleichzeitig sowohl ihre Handlungsfähigkeit als auch ihre Macht.

Konferenzen verweben Menschen, Orte, ganz spezifisches Erkenntniswissen und politische Vorgaben nachhaltig miteinander. Orte und Kulturen formen Konferenzergebnisse, während Konferenzergebnisse die gebaute Umwelt, Werte und Verhaltensweisen prägen (vgl. Craggs und Mahony 2014). Die Haager Friedenskonferenz von 1899 und ihre Nachfolgekonferenzen brachten den Internationalen Gerichtshof, den Ständigen Schiedshof und, als konkretere Verkörperung, den Friedenspalast eines Philanthropen hervor. Die willkürlich und ungeplant wirkende Pflege, die Funktion und die Belegung dieses Gebäudes und der umliegenden Nachbarschaften spiegeln dabei bis heute die wechselhafte Rolle Den Haags in der globalen Ordnung wider. Auch wenn diese Organisierung einer übergreifenden Autorität zwei Weltkriege und einen Kalten Krieg nicht verhindern konnte und der Friedenspalast für eine lange Zeit lediglich als Bibliothek überlebte (vgl. van der Wusten 2006), gipfelte diese Entwicklung ein Jahrhundert später in der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs mit seinem ganz eigenen architektonischen Wahrzeichen. Heutzutage betreibt die HICPJ den Justizzweig des gegenwärtigen, weltumspannenden Systems des liberalen Friedens (vgl. Richmond 2011), in dem internationale Organisationen hinterherhinkende Staaten beim Aufholen unterstützen wollen, indem sie Friedenssicherung (»peacekeeping«) betreiben, demokratische Normen und Gesetze installieren und eine globale freie Marktwirtschaft aufrechterhalten. Die HICPJ lässt die Niederlande weiterhin als unbedeutend und neutral erscheinen (aber verwoben mit ihrer eigenen dynamischeren, strategischen Art der Neutralität), im Gegensatz zu anderen enthusiastischen Mitgliedern der NATO oder Befürworter*innen von Peacekeeping-Missionen, denen es nichts ausmachen würde, wenn die internationalen Justizorgane versagen würden.

Doch neben den endogenen Faktoren erhalten auch „ihre Identität und ihre Handlungen“ die einzigartige Form der Neutralität eines Systems aufrecht und werden in das Selbst und die Subjektivität von Menschen eingebettet (vgl. Agius 2006, S. 5). Diejenigen, die in der »World Forum Area« und der internationalen Zone von Den Haag, dem physischen Gegenstück zur HICPJ, leben und arbeiten, tragen zusammen mit ihren Nachbar*innen in anderen Teilen Den Haags und der Welt zu seiner Darstellung und Verkörperung als einem von Außenseitern bevölkerten »Irgendwo anders« bei, das wider Erwarten eine über allem stehende Autorität bewahrt. Wie Grotius und Asser erlangen zahlreiche Jurist*innen, die sich auf ihr Handwerk verstehen, diesen Außenseiterstatus durch ihre explizite Loslösung vom nationalen und politischen Hintergrund. Viele von ihnen, die wie mit dem Fallschirm eingeflogen kamen, um das internationale Strafrecht zu entwickeln und in die Praxis umzusetzen, zeigen sich überrascht, dass sie sich gegen die Ambivalenz der mächtigen Nationalstaaten durchsetzen. Auch sie sind von der Stadt und dem Land abgeschnitten, indem sie als »Internationale« (»expats«) gelten, die vom „städtischen Gefüge abgetrennt“ in einer „Blase“ leben.

Eine Anwältin, die ich 2017 interviewte, war nach ihrer Ankunft schockiert, als sie feststellte, dass Den Haag überhaupt eine Stadt ist, da sie sich den Friedenspalast zuvor in einem ummauerten Gebiet mitten im Nirgendwo vorgestellt hatte. Doch diese »expats« müssen sich eine Stadt teilen und viele kommentierten, dass das Fortbewegen mit dem Fahrrad zum »herumschnüffeln« einlade, als ob sie unbekannte Regeln brechen würden. Diese zwischenmenschlichen Begegnungen in der Nachbarschaft spiegeln die Durchsetzung der Prinzipien der HICPJ innerhalb ihrer Friedens- und Gerechtigkeitsinstitutionen wider. Sie praktizieren passive Aggression im Gegensatz zu physischer Gewalt (wie der Anwendung von militärischer Gewalt in Konfliktregionen) und sind greifbare Beispiele für die in ihnen eingebetteten Kulturen der Neutralität Den Haags, der Niederlande und des Rechts an sich.

Wenn Den Haag eine mächtige geopolitische Darbietung der Neutralität ist, dann benötigt diese in gewissem Maße immer auch eine »Marketingstrategie«, die es vor Kritik an den Ergebnissen von Prozessen und deren Durchführung abschirmt. Die »Andersartigkeit« von Den Haag ist grundlegend für die Darbietung der internationalen Gemeinschaft, dass diese Gerechtigkeit gerecht sei, da neutrale Menschen und Orte als Bekräftigung der Gerechtigkeit zu agieren scheinen und nicht umgekehrt. Neutralität als ein kulturspezifischer Wert oder ein Artefakt, das durch pazifizierende juristische Schiedsgerichtsbarkeit oder Strafprozesse erzeugt wird, ist in dieser Funktion ernsthaft problematisch. Doch täuscht sie jemanden? Ob diese einen »Leuchtturm der Hoffnung« darstellt, hängt davon ab, wo man positioniert ist in einer Welt, die nach dem je spezifischen Erfolg in Demokratie und Kapitalismus stratifiziert ist.

Ein positiver Moment in all dem ist, dass die HICPJ ein kontinuierlicher Organisierungsprozess ist, mit Prinzipien und Praktiken, die aus dem Nichts heraus entstanden sind. Das bedeutet auch, dass alternative emanzipatorische, post-liberale Gerechtigkeitsprojekte überall entwickelt werden können und dass auch diese über Zeit, Raum und Skalen hinweg ihre ganz eigene Macht und Schwung gewinnen können (vgl. Richmond 2011).

Literatur

Agius, C. (2006): The social construction of ­swedish identity. Manchester: Manchester University Press.

Agius, C. (2011): Transformed beyond recognition? The politics of post-neutrality. Cooperation and Conflict, 46(3), S. 370-395.

Craggs, R.; Mahony, M. (2014): The geographies of the conference: Knowledge, performance and protest. Geography Compass 8(6), S. 414-430.

Eyffinger, A. (2003): The Hague International Centre of Justice and Peace. The Hague: Jongbloed Law Booksellers.

Eyffinger, A. (2005): Living up to a tradition. In van Krieken, P.J.; Mackay, D. (Hrsg.): The Hague Legal Capital of the World. The Hague: TMC Asser Press, S. 29-45.

Richmond, O.P. (2011): Critical agency, resistance and a post-colonial civil society. Cooperation and Conflict, 46(4), S. 419-440.

The Embassy of The Kingdom of The Netherlands to the United Kingdom (2010): The Hague. Webpage.

Traynor, C. (2017): Mapping neutralities: Critical geographies of The Hague. Dissertation.

van der Wusten, H. (2006): Legal capital of the world: Political centre-formation in The Hague. Tijdschrift voor Economische en Social Geografie, 97(3), S. 253-266.

van Ittersum, M. (2010): The wise man is never merely a private citizen: the Roman Stoa in Hugo Grotius De Jure Praedae (1604-1608). History of European Ideas, 36, S. 1-18.

van Krieken, P.J.; Mackay, D. (2005): Introduction. In: dies. (Hrsg.): The Hague Legal Capital of the World. The Hague: TMC Asser Press, S. 2-28.

Cathie Traynor arbeitet am Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Universität Nottingham und forscht zur Mehrebenenregulation von Gefängnissen für sicherere Gesellschaften. Das steht im Einklang mit ihrem Wunsch nach post-liberalen Gerechtigkeit(en).

Aus dem Englischen übersetzt von Franziska Benz und David Scheuing