Kriegsführung 4.0


Kriegsführung 4.0

Ethische und rechtliche Implikationen

von Daniele Amoroso und Guglielmo Tamburrini

Dieser Beitrag gibt einen kurzen Überblick über die Bemühungen der Internationalen Staatengemeinsschaft, sich mit den ethischen und völkerrechtlichen Fragen auseinanderzusetzen, die durch neue destabilisierende Militärtechnologien aufgeworfen werden.

Dieser Text legt den Fokus auf drei Technologien, die die Konturen der Kriegsführung radikal neu zeichnen: bewaffnete Drohnen, Cyberwaffen und autonome Waffensysteme.

Kriegsführung mit Drohnen

Drohnenangriffe werden überwiegend im Kontext gezielter Tötungen eingesetzt und fallen unter das allgemeine Völkerrechtsregime bezüglich gezielter Tötungen (Melzer 2008). Dieses Regime unterscheidet Tötungen, die im Rahmen bewaffneter Konflikte stattfinden, von solchen, auf die das nicht zutrifft.

Im ersten Fall sind gezielte Tötungen dann legal, wenn die Prinzipien der Unterscheidung (zwischen militärischen und zivilen Zielen), der Verhältnismäßigkeit und der Vorsichtsmaßnahmen gemäß dem Humanitärem Völkerrecht (jus in bello) eingehalten werden. Im letzteren Fall sind gezielte Tötungen als Strafverfolgungsmaßnahmen zu behandeln; diese verletzen das Recht des Menschen auf Leben, außer andere Maßnahmen (wie die Gefangennahme) sind aufgrund einer unmittelbar bevorstehenden und ernsthaften Bedrohung nicht gangbar (Alston 2010).

Diese klaren Linien werden von Staaten, die Angriffe mit Drohnen ausführen, häufig verwischt. In den Vereinigten Staaten wird der globale »Kampf gegen den Terror« unzulässigerweise als bewaffneter Konflikt ausgelegt; dadurch fällt die Tötung von Terrorverdächtigen en bloc unter das weniger restriktive Regime des Humanitären Völkerrechts (Cullen 2017, S. 117-120). Außerdem sind Drohnenschläge meistens gegen unbekannte verdächtige Militante gerichtet, die auf der Basis von Verhaltensmustern ausgewählt werden, die auf ihre Beteiligung an terroristischen Aktivitäten schließen lassen. Diese »signature strikes« basieren auf Kriterien, die nicht notwendigerweise mit denen übereinstimmen, die gemäß Völkerrecht einen Einsatz tödlicher Gewalt rechtfertigen (Heller 2013).

Diese besorgniserregenden Entwicklungen verzerren die Interpretation und Anwendung eines Rechtsregimes, das bei korrekter Anwendung adäquate Regelungen für die Drohnenkriegsführung bietet. Es ist wichtig festzuhalten, dass die internationalen Einwände gegen Drohnenprogramme mehrheitlich als Aufruf formuliert sind, sich an das »lex lata«, also das geltende Recht zu halten, und seltener für die Annahme neuer Rechtsnormen plädiert wird (siehe z.B. Alston 2010; European Parliament 2014; Heyns 2014, Abs. 139-140; UNHCR 2014; Council of Europe (2014).

Mit Blick auf die Nichtverbreitung ist zu erwähnen, dass bereits etliche wichtige multilaterale Regime existieren, die den Handel mit Rüstungsgütern und die Exportkontrolle regulieren, entweder explizit (Raketentechnologie-Kontrollregime, Wassenaar Abkommen, Gemeinsamer Standpunkt der EU zu Rüstungsexporten von 2008) oder implizit (der 2013 geschlossene Vertrag über Waffenhandel, siehe Stohl/Dick 2018). Darüber hinaus wurde 2016 von den USA eine multilaterale Initiative gestartet, die sich speziell mit der Proliferation bewaffneter Drohnen auseinandersetzt. Der »Gemeinsame[n] Erklärung zum Export und der anschließenden Verwendung von bewaffneten oder bewaffnungsfähigen Drohnen« schlossen sich bereits 53 Staaten an (siehe dazu Bundestag 2018; d. Übers.). Einige dieser Instrumente sind zwar lediglich politisch bindend (darunter die Gemeinsame Erklärung von 2016), sie signalisieren aber alle eine Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft, den Transfer bewaffneter Drohnen an terroristische Gruppierungen und repressive Regime zu unterbinden. Dennoch könnte die Möglichkeit der zivil-militärischen Nutzung (Dual-use-Problematik) nichtmilitärischer Drohnentechnologie eine effektive Kontrolle behindern. Um tatsächlich eine nicht erwünschte Nutzung zu vermeiden, sind daher weitere multilaterale Anstrengungen nötig (Zwijnenburg/van Hoorn 2015, S. 32).

Kriegsführung mit Cyberwaffen

Für die Verfasser*innen der Genfer Konventionen und ihrer Zusatzprotokolle war die Cyberkriegsführung unvorhergesehen (und unvorhersehbar)“, das verhindert aber nicht ihre Anwendung auf Cyberoperationen (Solis 2016, S. 702). Dieser Ansatz wird im »Tallinn-Handbuch zur Anwendbarkeit des Völkerrechts auf Cyberoperationen«, welches kürzlich in der zweiten Auflage erschien und unter der Schirmherrschaft des NATO Exzellenzzentrums für gemeinsame Cyberabwehr ausgearbeitet wurde, unterstrichen (Schmitt 2017). Mit den 154 »Regeln« des Handbuchs wird versucht, das gesamte traditionelle Völkerrecht mit möglichst sparsamen Anpassungen auf die Cyberdomäne zu übertragen.

In dem Handbuch werden einige neuartige Eigenschaften von Cyberkonflikten offenkundig heruntergespielt, wie im Falle der »Virtualität« des Cyberraums, bei der insbesondere auf den territorialen Zusammenhang mit der Cyberinfrastruktur abgehoben wird (siehe insbesondere die Souveränitätsregeln 1-5), oder wenn der Begriff »Cyberangriffe« auf Cyberoperationen mit potentiell zerstörerischen Auswirkungen in der »physischen“ Welt beschränkt wird (z.B. „Verletzung oder Tod von Personen oder Beschädigung oder Zerstörung von Objekten“; Regel 92 und der zugehörige Kommentar). Nach Einschätzung u.a. des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK, engl. ICRC) ist die letztere Definition so eng gefasst, dass sie die Notwendigkeit, Zivilisten vor böswilligen Cyberoperationen zu schützen, die »lediglich« zur Löschung oder Veränderung von Daten führen, gar nicht abdeckt (ICRC 2015, S. 43). Dazu ist anzumerken, dass auch Datenverlust oder -fälschung ein »physikalisches« Ereignis ist, selbst wenn es auf Computersysteme und -netzwerke begrenzt ist.

Ein innovativerer Ansatz wurde kürzlich vom Präsidenten und Chefjuristen von Microsoft, Bradford Smith, vorgestellt, der die Staaten dazu aufrief, eine Art »Digitaler Genfer Konvention« zu verhandeln, mit speziellen Normen, die multinationale und globale Hightech-Unternehmen gegen staatliche Cyberattacken schützen, diese aber auch damit beauftragen würden, Zivilisten bei Maßnahmen gegen solche Angriffe zu unterstützen (Smith 2017). Der Vorschlag von Smith sieht auch die Schaffung einer internationalen Organisation vor, lose angelehnt an die Internationale Atomenergieagentur (IAEA), der „technologisch versierte Experten aus Regierungen, dem privaten Sektor, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft“ angehören sollen. Diese Agentur soll „über die Fähigkeit verfügen, spezifische Angriffe zu untersuchen und Material zur Verfügung zu stellen, das beweist, dass ein Angriff von einem bestimmten Nationalstaat durchgeführt wurde“ (Smith 2017). Dieser Punkt berührt das kritische »Attributionsproblem« in der Cyberkriegsführung. Die technische Möglichkeit, einen Angriff zu starten und sich dabei als ein anderer Staat oder eine andere Organisation auszugeben (spoofing), wirft in der Tat Fragen der Beweisführung auf, die mit der aus dem traditionellen Völkerrecht abgeleiteten Verantwortung nur schwer zu beantworten sind. Aus diesem Grund ist die Bekräftigung der klassischen Attributionskriterien (Regeln 15-18) im Tallinn-Handbuch zwar formal korrekt, aber kaum geeignet, ein Schlupfloch zu schließen, welches die Möglichkeit zur Reaktion auf eine rechtswidrige Cyberoperation zu unterminieren droht.

Angesichts dieser Herausforderungen ist es bedauerlich, dass die diesbezüglichen staatlichen Initiativen inzwischen festgefahren sind. So konnte sich die UN-Gruppe von Regierungsexperten (Group of Governmental Experts, GGE), die 2016-2017 tagte, nicht auf einen Konsensbericht einigen, da es bei der Frage der Anwendbarkeit der Prinzipien des »ius ad bellum« (Recht auf Krieg) und des »jus in bello« (Recht im Krieg) auf böswillige Cyberoperationen drastische Meinungsunterschiede gab, weil manche Staaten befürchten, damit würde eine destabilisierende »Militarisierung« des digitalen Raumes gefördert (Sukumar 2017).

Kriegsführung mit autonomen Systemen

Seit 2017 trifft sich eine andere Gruppe von Regierungsexperten, hoffentlich mit mehr Erfolg. Nach mehreren informellen Treffen 2014-2016 entschieden die Mitgliedsstaaten des VN-Waffenübereinkommens (Convention on Certain Conventional Weapons, CCW), eine offene Expertengruppe einzusetzen mit dem Mandat, „mögliche Empfehlungen für Optionen“ zur Frage der tödlichen autonomen Waffensysteme (Lethal Autonomous Weapons Sytems, LAWS) zu erkunden. Das IKRK definiert LAWS als „Waffen, die unabhängig Ziele auswählen und angreifen können, d.h. mit Autonomie in den »kritischen Funktionen« des Aufspürens, Verfolgens, Auswählens und Angreifens von Zielen“ (ICRC 2014 S. 5; für eine Analyse der Definitionen von LAWS siehe auch Amoroso et al. 2018, S. 19-22). Da die Neuartigkeit in der „Technik der Zielauswahl“ (Egeland 2016 S. 97) liegt und nicht in dem Waffensystem per se, ist Autonomie ein Merkmal, dass im Prinzip in jegliche Waffensysteme eingebaut werden kann, auch in bewaffnete Drohnen oder Cyberwaffen.

Die öffentliche Aufmerksamkeit wurde durch die Kampagne »Stop Killer Robots« auf die ethischen und rechtlichen Implikationen einer autonomen Zielauswahl gelenkt. Die Kampagne wurde 2013 von einer internationalen Koalition von Nichtregierungsorganisationen mit dem primären Ziel gestartet, „letale Roboterwaffen zu ächten“ (Stop Killer Robots 2013). Im gleichen Jahr stellte Christof Heyns, der damalige Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zu außergerichtlichen, summarischen oder willkürlichen Hinrichtungen, einen Bericht über LAWS vor, der die weiteren akademischen und diplomatischen Debatten stark prägte. Heyns benannte präzise die zentralen Probleme (Heyns 2013):

1. Die Einhaltung des Rechts hinsichtlich der Zielauswahl (insbesondere der Prinzipien der Unterscheidung und der Verhältnismäßigkeit) würde Fähigkeiten voraussetzen, über die nur der Mensch verfügt, nämlich die Fähigkeit zur Lageerkennung und zur Formulierung qualitativer Urteile (Abs. 63-74).

2. Mit der Herausnahme menschlichen Bedienpersonals aus dem Entscheidungsprozess würde Autonomie in Waffensystemen im Falle von Verstößen die Zuschreibung von Verantwortung behindern (Abs. 75-81).

3. Der Einsatz letaler autonomer Waffensysteme wäre ein Affront gegen die Menschenwürde, die vorschreibt, dass es Menschen vorbehalten sein sollte, einem Menschen das Leben zu nehmen (Abs. 89-97).

4. Autonomie in Waffensystemen könnte schädliche Konsequenzen für die Welt haben, weil es einfacher wird, Krieg zu führen (Abs. 57-62).

Die ersten Diskussionen der Expertengruppe zeigten den Dissens zwischen jenen, die den bestehenden rechtlichen Rahmen für ausreichend halten, um diese Probleme zu klären, und jenen, die sich für die Verabschiedung neuer Regeln einsetzen, sei es in Form von Ad-hoc-Regeln oder eines vollständigen Verbots von LAWS. Über die Jahre hat sich ein Konsens für die Idee herausgebildet, wonach alle Waffen (einschließlich LAWS) einer »bedeutsamen menschlichen Kontrolle« (meaningful human control) unterliegen sollten. Diese Formulierung war von der Nichtregierungsorganisation »Artikel 36« eingeführt worden. Das Konzept der bedeutsamen menschlichen Kontrolle könnte als »Brücke« fungieren, um den Graben zwischen den verschiedenen Positionen innerhalb der Expertengruppe zu schließen. Schließlich ergibt sich die Forderung nach bedeutsamer menschlicher Kontrolle aus dem bestehenden Rechtsrahmen, allerdings bedarf es einer neuen völkerrechtlichen Regelung, um die Details auszuformulieren und zu operationalisieren. Auch ein Zusatzprotokoll zum VN-Waffenübereinkommen, das die bedeutsame menschliche Kontrolle über Waffensysteme vorschreibt, wäre denkbar, das zugleich als ein „Verbot der vollständigen Autonomie über bestimmte (kritische) Funktionen eines Waffensystems“ zählt (Bhuta/Beck/Geiss 2016, S. 381). Daher wird dem Konzept der bedeutsamen menschlichen Kontrolle allgemein das Potenzial zugeschrieben, die Verhandlungen nach vorne zu bringen und ein (hoffentlich völkerrechtlich verbindliches) Instrument zu gestalten, welches im Rahmen des VN-Waffenübereinkommens Zustimmung findet.

Aber was macht menschliche Kontrolle über Waffensysteme tatsächlich »bedeutsam«? Dieser wesentliche Punkt ist weiterhin umstritten. Unsere Arbeitshypothese lautet, dass sich der Streit nicht mit einem definitorischen Patentrezept lösen lässt. Vielmehr wird ein prinzipieller, aber angemessen differenzierter Ansatz benötigt (für eine erste Darstellung siehe Amoroso/Tamurrini 2017, S. 13-14). Die ethischen und völkerrechtlichen Prinzipien, die den Weg zu einem hinreichend präzisen und restriktiven Verständnis der bedeutsamen menschlichen Kontrolle weisen, wurden oben bereits beschrieben. Nichtsdesto­trotz muss die Anwendung dieser Prinzipien in konkreten Situationen durch geeignete Regelsätze unterstützt werden. Entsprechende »Wenn-dann«-Regeln müssen die Entscheidung der involvierten Menschen leiten, ob im jeweiligen Kontext Bedingungen für die Ausübung einer wirklich bedeutsamen menschlichen Kontrolle über Waffensysteme vorliegen. Der »Wenn«-Teil dieser Regeln sollte folgende Faktoren für einen vorgesehenen Angriff berücksichtigen: Zeitfenster, Zielmodus, defensive oder offensive Einsatzziele, die Art des Einsatzes (gegen Menschen oder gegen Objekte), dynamische Umgebungsmerkmale und allgemeine Kalkulierbarkeit.

Mit Erwägungen auf der Basis von »Wenn-dann«-Regeln zu diesen und weiteren Faktoren sollte man in der Lage sein abzuschätzen, welche Art von bedeutsamer menschlicher Kontrolle bei jedem einzelnen Einsatz eines Waffensystems aus juristischer Sicht erforderlich wäre. Des Weiteren ist zu bedenken, ob und gegebenenfalls welche Handlungen Haftungsfragen nach sich ziehen würden, sollte die Entscheidung für eine bestimmte bedeutsame menschliche Kontrollaktion nicht rechtmäßig sein (Einsatz, Planung, Fehler bei der Ablehnung oder Autorisierung eines Ziels). In einem solchen rechtlichen Rahmen wäre die verbliebene Autonomie von Waffensystemen, so der Begriff dann überhaupt noch zutrifft, befreit von den problematischen ethischen und rechtlichen Aspekten bezüglich der vom Menschen unkontrollierten Zielauswahl und Angriffszwecke.

Die „Zehn mögliche[n] leitende[n] Prinzipien für aufkommende Technologien im Zeitalter letaler autonomer Waffensysteme“, die von der UN-Expertengruppe bei ihrem letzten Treffen (27.-31. August 2018) beschlossen wurden, gehen zaghaft in diese Richtung. Von besonderem Interesse für unser Thema sind das zweite Prinzip, welches postuliert, „Menschliche Verantwortung für Entscheidungen über den Einsatz tödlicher Gewalt muss erhalten bleiben“, und das dritte Prinzip, welches festlegt, dass Rechenschaftspflicht u.a. durch eine „verantwortliche Kommando- und Kontroll-Kette“ sichergestellt sein muss. Diese Prinzipien bleiben erkennbar sehr vage. Ob sie geeignet sind, den Grundstein für eine effektive Verrechtlichung letaler automatischer Waffen zu legen, hängt letztlich davon ab, ob weitere, detailliertere »Wenn-dann«-Regeln angenommen werden.

Schlussfolgerungen

Christopher Greenwood, der gegen Ende des letzten Jahrtausends über das Waffenrecht schrieb, lobte die Fähigkeit der bestehenden Normen, die Herausforderungen durch neue Militärtechnologie zu adressieren, und setzte daher die Priorität für das bevorstehende Jahrhundert nicht auf die „Verabschiedung neuer völkerrechtlicher Normen“, sondern auf „die effektive Umsetzung der Normen, die wir bereits haben“ (Greenwood 1998, S. 221-222). Dies lässt sich durch die hier durchgeführte Analyse nur in Teilen bestätigen.

Die Einhaltung des »lex lata«, des bestehenden Rechts, ist ein guter Startpunkt, um die ethischen und rechtlichen Implikationen neuer Technologien zu adressieren. Das trifft auf jeden Fall bei bewaffneten Drohnen zu. Manchmal aber sind Änderungen des Völkerrechts nötig, um mit Problemen Schritt zu halten, die sich neu ergeben, wie die Attribution von Cyberangriffen oder die Notwendigkeit, die bedeutsame menschliche Kontrolle von Waffensystemen zu konkretisieren. Auf der Grundlage des völkerrechtlichen Erbes der Vergangenheit dafür kreative und angemessene Lösungen zu finden, ist vielleicht die wichtigste Herausforderung, vor der die Völkergemeinschaft steht.

Literatur

Alston, P. (2010): Report of the Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions. Study on targeted killings. UN-Dokument A/HRC/14/24/Add.6. vom 28.5.2010.
In Auszügen ist eine deutsche Übersetzung des »Bericht[s] des Sonderberichterstatters über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen, Philip Alston, Addendum: Studie über gezielte Tötungen« erschienen in W&F 1-2011, S. 17-21. Die Übersetzung wurde vom Deutschen Übersetzungsdienst der Vereinten Nationen angefertigt und steht in voller Länge inkl. sämtlicher Fußnoten auf un.org/depts/german/de/menschenrechte.html [d. Übers.].

Amoroso, D.; Tamburrini, G. (2017): The Ethical and Legal Case Against Autonomy in Weapons Systems. Global Jurist, S. 1-20.

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Deutscher Bundestag (2018): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Michel Brandt, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 19/1406 – Internationale Regulierung bewaffneter oder bewaffnungsfähiger Drohnen. Bundestags-Drucksache 19/1988 vom 4.5.2018.

Council of Europe, Parliamentary Assembly (2015): Drones and targeted killings – the need to uphold human rights and international law. Resolution 2051 (2015), 23.4.2015.

Egeland, K. (2016): Lethal Autonomous Weapon Systems under International Humanitarian Law. Nordic Journal of International Law, Vol. 85, S. 89-118.

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Greenwood, C. (1998): The Law of Weaponry at the Start of the New Millennium. In: Schmitt, M.; Green, L.C., (eds.): The Law of Armed Conflict – Into the Next Millenium. Rhode Island: US Naval War College, S. 185-232.

Heller, K.J. (2013): One Hell of a Killing Machine -Signature Strikes and International Law. Journal of International Criminal Justice, Vol. 11, Issue 1, S. 89-119.

Heyns, C. (2013): Report of the Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions. UN-Dokument A/HRC/23/47 vom 9.4.2013.

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International Committee of the Red Cross and Red Crescent/ICRC (2014): Autonomous weapon systems – Technical, military, legal and humanitarian aspects. Expert meeting, Geneva, Switzerland, 26-28.3.2014.

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Schmitt, M.N. (ed.) (2017): Tallinn Manual 2.0 on the International Law Applicable to Cyber Operations. New York: Cambridge University Press.

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Solis, G. (2016): The Law of Armed Conflict – International Humanitarian Law in War. New York: Cambridge University Press.

Stohl, R. and Dick, S. (2018): The Arms Trade Treaty and Drones. Washington: Stimson Center

Stop Killer Robots (2013): Urgent Action Needed to Ban Fully Autonomous Weapons – Non-governmental organizations convene to launch Campaign to Stop Killer Robots. 30.5.2013). Siehe »Launch Statement« auf stopkillerrobots.org. Die Kampagne betreibt unter killer-­roboter-stoppen.de auch eine deutsche Website [d. Übers.].

Sukumar, A.M. (2017): The UN GGE Failed – Is International Law in Cyberspace Doomed As Well? Lawfare, 4.7.2017.

UN Human Rights Council/UNHCR (2014): Ensuring use of remotely piloted aircraft or armed drones in counterterrorism and military operations in accordance with international law, including international human rights and humanitarian law. UN-Dokument A/HRC/RES/25/22 vom 15.4.2014.

Zwijnenburg, W.; van Hoorn, K. (2015): Unmanned & Uncontrolled – Proliferation of unmanned systems and the need for improved arms export controls. PAX.

Daniele Amoroso ist Professor für Völkerrecht an der Universität von Cagliari, Italien.
Guglielmo Tamburrini ist Professor für Wissenschafts- und Technikphilosophie an der Universität Frederico II von Neapel, Italien.

Aus dem Englischen übersetzt von Marius Pletsch.

Glück als Ressource für Frieden


Glück als Ressource für Frieden

von Jochen Dallmer

Wie kann man sich nur um das eigene Glück kümmern in einer Welt voller Probleme und Konflikte? Der Artikel erläutert, dass Glück, wenn es denn ernst genommen wird, elementar mit dem guten Leben aller zu tun hat und die wichtigste Ressource für Frieden ist.

Glück ist in den letzten Jahren zu einem überaus populären Thema in allen Medien geworden. In kritischer Lesart ist dies Ausdruck der Individualisierung und Atomisierung der Gesellschaft, in der das Wohl des Einzelnen im Vordergrund steht und das Glücklichsein fast schon zum Zwang geworden ist. Wir leben in einer Erlebnisgesellschaft voller Narzisst*innen, denen lediglich ihr eigenes und möglichst unmittelbares Glück im Sinn steht (Cederström/Spicer 2016). Zugleich ist aber unstrittig, dass das Streben nach Glück des Menschen Ziel ist, wie es die Philosophie schon seit Jahrtausenden formuliert. Aus dieser Perspektive erscheint die aktuelle Aufmerksamkeit als ein Suchen in Zeiten von Unsicherheit und Wandel – und in positiver Lesart als ein (potentiell) emanzipativer Schritt, welcher bestehende Konzepte des guten Lebens, Traditionen und Strukturen herausfordert.

In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema wird mittels des Begriffs »subjektives Wohlbefinden« eine Definition von »Glück« geschaffen, die eine balancierte Beachtung der emotionalen und kognitiven Komponente umfasst: einerseits der Anzahl und Intensität der erlebten Glücksmomente, andererseits der Lebenszufriedenheit insgesamt. Es gibt also nicht »das« Glück, sondern es beruht letztlich auf Selbsteinschätzung, auf subjektiver Wahrnehmung. Wann und wie ich mich glücklich fühle, kann nur ich selbst fühlen, denken und sagen. Dabei ist das Individuum auf die eigenen Erfahrungen und Fähigkeiten angewiesen, das Wohlbefinden zu bestimmen, zugleich aber auch auf einen reflexiven Diskurs um die Frage, was »das Gute« sei. Letzteres wiederum trägt als gemeinsames gesellschaftliches Leitbild und die damit verbundenen Effekte von Anerkennung zum Glücklichsein bei. Eine entsprechende Ausrichtung der Motive für die Lebensgestaltung, sowohl individuell als auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene, fordert Annahmen über letztgültige Wertekataloge heraus.

Im Folgenden soll erörtert werden, wie sich das Streben nach subjektivem Wohlbefinden zum Thema Frieden verhält bzw. welche Ressource »Glück« für das Anliegen friedlicher Konfliktlösungen bietet.

Wohlbefinden als Friedensargument

In den vergangenen 30 Jahren hat sich mit dem Feld der so genannten »Glücksforschung« ein Bereich der Wissenschaft entwickelt, der, ausgehend von der Positiven Psychologie, mit empirischen Erhebungen neue Erkenntnisse bringt. So hat sich die Forschung zum subjektiven Wohlbefinden auch mit der Frage von Krieg und Frieden befasst. Beispielhaft dafür steht eines der bekanntesten Konzepte von Glück auf individueller Ebene, das Erleben von »flow«, welches als ein zentraler Glücksfaktor gilt, aber auch eine starke Ambivalenz aufweist (Csikszentmihalyi 1992). So berichten etwa Soldaten, dass sie Erlebnisse in Kampfeinsätzen als Erfahrungen von »flow« bewerten, kriegerische Handlungen also auch Glückserfahrungen bieten. Ähnlich problematisch sind Glückserlebnisse durch Gemeinschaftsgeist zu bewerten, wie sie etwa totalitäre Regime mit ihren autoritären Strukturen organisieren, oder die historischen Beispiele einer Kriegsbegeisterung weiter Bevölkerungsteile. Dieses Glückserlebnis beruht jedoch meistens auf einer Ausgangslage von Unglück, sei es eine wirtschaftliche Krise oder eingeschränkte individuelle Lebenszufriedenheit.

Die empirische Glücksforschung geht sehr nüchtern vor und unterteilt Glückserlebnisse nicht nach moralischen Maßstäben in höheres und niederes Glück, sondern ermittelt eine Gesamtbilanz der Glücksaspekte. Mit einer teilweise etwas gewagten Gegenüberstellung der Glücks- und Unglücksfaktoren von Krieg kam der Ökonom Bruno S. Frey (2011) zu dem wenig verwunderlichen Ergebnis, dass Krieg insgesamt deutlich mehr Unglück bringe als Glück. Andere Studien zeigten, dass glückliche Menschen sich eher für Frieden einsetzen (Diener 2007). Ausgehend von dem Primat des eigenen Wohlbefindens ist also Krieg insgesamt nicht wünschenswert. Dies klingt zunächst banal, ist aber als Grundlage für eine Friedensargumentation von hoher Relevanz.

Egoismus und das Glück der Anderen

Reicht es aber aus, nach dem eigenen Glück zu streben, um für Frieden zu votieren? In skeptischer Sicht auf das menschliche Sein ist es keine solide Grundlage, denn wenn jeder nach seinem eigenen Glück strebt, droht ein Kampf aller gegen alle, es entfesselt sich das Recht des Stärkeren. Entsprechend, so die Argumentation für alle starken Tugendkataloge, gilt es, das eigene Glücksstreben einzuschränken, um das größere und gemeinsame Gut zu ermöglichen, in diesem Fall Frieden. Jedoch: Im Tugendkanon klassischer Werke der Glücksphilosophie finden sich neben Freundschaft, Gerechtigkeit und Solidarität auch Mut und Tapferkeit. Immerhin ist Tapferkeit eine Tugend, die in militärischen Zusammenhängen ausgiebig angerufen und missbraucht wird.

Lösen wir die Idee eines fest gegebenen Katalogs der Tugenden (inkl. Friedenstugend) auf, so bleibt als finaler Bezugspunkt eines Moralkodex die Idee des guten Lebens. Als dessen Basis stehen wiederum die Idee und Wahrnehmung des eigenen Seins und des eigenen Wohlbefindens, der Rückbezug auf die eigene Leiblichkeit mit ihrer Verletzlichkeit und der Fähigkeit, Freude zu erfahren, das eigene Sein, das eigene Wohlergehen, das eigene Glück. Basis der Ethik ist das Lebenwollen der Menschen, so wie es im bekannten Spruchs Albert Schweizers heißt: Leben inmitten von Leben, das leben will. Dabei reicht aber die Idee des Lebenwollens über das eigene Leben hinaus. Da ist zum einen die persönliche Erfahrung, dass das eigene Leben von anderen Menschen und deren Wohlwollen abhängt. Dies gilt besonders in der Kindheit, aber auch in allen weiteren Lebensphasen. Durch die naturgegebene Abhängigkeit des Menschen ist eine Basis des Miteinanders verankert, welche sich als Veranlagung zur Kooperation genetisch etabliert hat. Zum anderen gilt die rationale Überlegung, dass das (gut) Leben wollen auch andere Menschen betrifft und einen guten Grund liefert, dies (gegenseitig) zu respektieren. Es ist als für alle Menschen gültig anzunehmen, dass sie gut leben und nicht unterdrückt werden wollen. Daraus ergibt sich die Aufgabe, Leid zu vermeiden, und umgekehrt, dass Gewalt etwas ist, das abzulehnen ist, das nicht gewollt sein kann. Dafür braucht es nicht einmal die individuelle Erfahrung von Gewalt, es reicht das Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit, welches jedem Menschen gegeben ist. Peter Stemmer (2013) verdeutlicht dies in seinem Konzept des »Unterdrückungsverbots«.

Hedonismus für den Frieden

Das Primat des guten Lebens als Leitbild für das kooperative Miteinander ist als »aufgeklärter Hedonismus« bezeichnet worden und wird z.B. von Bernulf Kanitscheider oder Michel Onfray vertreten. Sie verzichten explizit auf die Bezugnahme von höheren Gründen und Werten; als Bezugspunkt zählt nur das Leben im Diesseits. Die Idee der Opferung von Individuen für den Staat und das Gemeinwesen widerspricht daher der Idee des Hedonismus zutiefst. Vielmehr gebietet die Vermeidung von Leid implizit auch die Vermeidung von Krieg. „Mit Hilfe einer hedonistischen Ethik lässt sich kein Nazismus und kein Stalinismus hervorbringen, auch kein Christentum, sondern nur ein Aufrufen zur Anstrengung, zum Verzicht, zum Universalen, dem ganzen Arsenal des asketischen Ideals.“ (Onfray 1993, S. 187) Historisch sprachen sich entsprechend viele Hedonist*innen für den Pazifismus aus.

Als »hedonistische Intersubjektivität« bezeichnet Onfray diesen Ansatz eines hedonistischen Gesellschaftsvertrages (Onfray 2008, S. 125f.). Höffe nennt dies »hedonistischen Utilitarismus«, bei dem es eben auf alle Betroffenen ankomme, so wie es von John Stuart Mill auch bei der Entwicklung der Freiheitsidee ursprünglich gemeint war (Höffe 2007, S. 107). In der globalisierten Welt schließt das auch jene ein, die wir nicht direkt als Gegenüber wahrnehmen, die aber mit uns mittels Wirtschaft und Politik verbunden sind, letztendlich also alle: „Weil sein Leben vom Wohlergehen der umgreifenden Gesellschaft abhängt, etwa von deren materieller, sozialer und kultureller Infrastruktur, erweitere man die Quasi-Tugend, jetzt besser Solidarität genannt, auf diesen größeren Lebensraum. Im Zeitalter der Globalisierung erhält sie sogar eine globale Dimension; sie wird zur kosmopolitischen Solidarität.“ (Höffe 2007, S. 179-80)

Eine solcher Hedonismus lässt sich ebenso mit dem Begriff eines »aufgeklärten Egoismus« beschreiben, der sich der Gegenseitigkeit des Wohlergehens bewusst ist. Hierzu zählt auch die zunehmend Anerkennung findende Erkenntnis, dass das subjektive Wohlbefinden nicht rein individualistisch ist, sondern auf Miteinander und Kooperation beruht (Ahuvia et al. 2015). Dies gilt für das Überleben, noch mehr aber für Elemente des guten Lebens, ganz zentral etwa im Bereich der Entwicklung von Kultur und Lebenskunst (man denke etwa an die elaborierte Kooperation eines Orchesters). Die Kooperation besteht aus freien Stücken auf Grundlage der Überzeugung, das das gewählte Miteinander dem gegenseitigen Vorteil dient, wie es sich im theoretischen Rahmen des »Kontraktualismus« wiederfindet (Stemmer 2013). Es steht also Interesse gegen Interesse (oder man könnte auch sagen Glückskonzept gegen Glückskonzept), und es muss sich zeigen, wie eine einvernehmliche Regelung – im Idealfall eine »win-win«-Lösung – aussehen kann. Philosophisch findet sich dies in der Diskursethik wieder, welche etwa vom im Mai diesen Jahres verstorbenen Philosophen Karl-Otto Apel beschrieben wurde.

Das Glück ist politisch

Wie kann die Aufmerksamkeit nun vom egozentrischen Glück der Selbstoptimierungsratgeber hin zu einem reflektierten Glück des aufgeklärten Hedonismus verlagert werden? Es gilt zunächst, den emanzipativen Aspekt des Glücksstrebens zu stärken und sich nicht mit einfachen Antworten und Rezepten zufriedenzugeben. Dazu gehört ein aufgeklärtes Verständnis des eigenen Wohlbefindens, etwa die stärkere Beschäftigung mit der eigenen Leiblichkeit, ebenso wie die Idee und Erfahrung der Gegenseitigkeit des Glücks. Dafür ist es notwendig, die philosophischen Betrachtungen vom Sollen und Wollen zu stärken und über jene Ansätze psychologischer Resilienz hinauszugehen, die das Glücksstreben der Individuen im bestehenden System stärken wollen, ohne dessen immanente Widersprüche zu erkennen. (Beispiele für solche »Glückssackgassen« sind der Glückscoach in Unternehmen, Stärkentrainings in Schulen, etc.). Glück ist zwar eine subjektive Kategorie, aber ein gemeinsames Gut und daher ein politisches Anliegen. Es bedarf einer Stärkung der diskursiven Elemente, d.h. die Frage nach dem guten Leben ist gemeinsam zu behandeln.

In den letzten Jahren haben sich erste konkrete Ansätze entwickelt, um gesellschaftliche Entwicklung über bestehende Wirtschaftsindikatoren hinaus zu messen, von Bhutans Konzept des »Bruttosozialglücks« bis hin zu Indikatorensets, wie dem Index für Lebensqualität in Deutschland. Zwei Beispielfelder seien hier genannt:

1. Studien zu Ungleichheit zeigen, dass gleichere Gesellschaften mehr individuelle Zufriedenheit und weniger gesellschaftliche Spannungen mit sich bringen (Wilkinson/Pickett 2010). Dies hat große Relevanz für zahlreiche innergesellschaftliche Konfliktfelder. Entsprechend wurde der Regierung des Libanon empfohlen, einen Glücksindex zu erstellen, um zur Konfliktreduktion beizutragen (Yones 1998).

2. In Hinsicht auf die Herausforderung einer ökologisch nachhaltigen Entwicklung ist der Bezug zu Glück ein wertvoller Beitrag zur Entwicklung von Konzepten einer Postwachstumsgesellschaft, anknüpfend etwa an die oben genannten alternativen Indikatorensets. Was den materiellen Wohlstand angeht, welcher zum subjektiven Wohlbefinden beiträgt, zeigt sich eine Art Sättigungspunkt. Wohlstand ist also nur bedingt mit Wohlbefinden gekoppelt (vgl. Skidelsky 2013). Dieser Ansatz birgt eine Perspektive in Hinsicht auf steigende Konfliktpotentiale um zunehmend beanspruchte natürliche Ressourcen.

Glücksbausteine als Friedensressourcen

Es ist just die Subjektivität des persönlichen Wohlbefindens, welche die friedliche Konfliktregelung erfordert und begründet. Damit die unterschiedlichen Vorstellungen vom guten Leben in bestmöglichen gesellschaftlichen Vereinbarungen berücksichtigt werden können, braucht es einen Rahmen für den Diskurs, nämlich Frieden. Frieden ist die Grundlage für ein glückliches Leben, so wie umgekehrt das Streben nach Glück die Grundlage für Frieden ist. Sie sind nicht zu trennen. „Wie es niemanden gibt, der sich nicht freuen wollte, gibt es auch niemanden, der keinen Frieden haben will.“ (Aurelius Augustinus, zitiert nach Hoffmann 2006, S. 355).

Glücklichsein bedarf vor allem des Freiraums, um Glück zu (er)leben. Glücklichsein ist die beste Prävention gegen Aggression und Gewalt, gegen den aktuell wieder aufkommenden »autoritären Charakter«, welcher sich aus der subtilen Unterdrückung des eigenen Glücks in einer Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft nährt. Nach dem Glück zu streben ist das legitime Ziel des Menschen; es ist verbunden mit Emanzipation und Aufklärung und daher die wichtigste Ressource für Frieden.

Literatur

Ahuvia, A.; Thin, N.; Haybron, D. M.; Biswas-Diener, R.; Ricard, M.; Timsit, J. (2015): Happiness – An interactionist perspective. International Journal of Wellbeing, Vol. 5, Nr. 1, S. 1-18.

Apel, K.O. (1990): Diskurs und Verantwortung – Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Cederström, C.; Spicer, A. (2016): Das Wellness-Syndrom – Die Glücksdoktrin und der perfekte Mensch. Berlin: Edition Taimat.

Csikszentmihalyi, M. (1992): Flow – Das Geheimnis des Glücks. Stuttgart: Klett-Cotta.

Diener, E.; Tov, W. (2007): Subjective Well-Being and Peace. Journal of Social Issues, Nr. 63, S. 421-440.

Frey, B.S. (2011): Peace, war, and happiness – Bruder Klaus as wellbeing facilitator. International Journal of Wellbeing, Vol 1, Nr. 2, S. 226-234.

Hoffmann, S. (2006): Aurelius Augustinus – Glück als Friede. Einführung. In: Spaeman, R.; Schweidler, W. (Hrsg.) (2006): Ethik. Lehr- und Lesebuch. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 354-357.

Höffe, O. (2007): Lebenskunst und Moral – Oder: Macht Tugend glücklich? München: Hirzel.

Kanitscheider, B. (2011): Das hedonistische Manifest. Stuttgart: Hirzel.

Onfray, M. (2008): Die reine Freude am Sein – Wie man ohne Gott glücklich wird. München: Piper.

Onfray, M. (1993): Philosophie der Extase. München: Piper.

Skidelsky, R.; Skidelsky, E. (2013): Wie viel ist genug? München: Kunstmann.

Stemmer, P. (2013): Begründen, Rechtfertigen und das Unterdrückungsverbot. Berlin/Boston: De Gruyter.

Wilkinson, R.; Pickett, K. (2010): Gleichheit ist Glück – Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Berlin: Haffmanns & Tolkemitt.

Yones, M. (1998): Subjective Well-being as Public Policy and Tool to Prevent Future Civil Conflicts. Management & Technology Consulting Group (MTCG).

Jochen Dallmer, Politikwissenschaftler, promoviert zur Zeit an der Universität Kassel zum Thema »Glück & Nachhaltigkeit« und ist zudem im Bildungsbereich aktiv.

Weltstaat als globale Demokratie


Weltstaat als globale Demokratie

Perspektiven für kritische Ansätze

von Dirk Hannemann

Ein Weltstaat ist möglich und wünschenswert. Das zeigen progressive Ansätze, die Demokratie im globalen Maßstab denken. Aus der kritischen Auseinandersetzung wird deutlich, was Alexis de Toqueville 1830 auf seinen Reisen durch die USA feststellte: „Eine völlig neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft.“ Für Amerika lautete die Herausforderung, aus Millionen Menschen eine Nation zu formen, obwohl der Staat sich über einen Kontinent erstreckte, große ökonomische Unterschiede aufwies und sich auf Rassentrennung gründete. In der Gegenwart stellt sich exakt dieselbe Frage auf globaler Ebene. Allerdings muss die Nation dafür nicht erfunden, sondern überwunden werden.

Es gab schon immer den Wunsch, die Weltordnung anders zu denken denn als System von Nationalstaaten, die ökonomisch konkurrieren und blutige Kriege führen. Ein früher Versuch stammt aus der Feder des Abbé de Saint-Pierre. Als Frankreich, England und andere kriegführende Staaten den Frieden von Utrecht verhandelten, machte er ihnen 1713 den Vorschlag, sie sollten vereinbaren, ihre Heere abzurüsten und sich in Zukunft nicht mehr in die inneren Angelegenheiten des anderen Landes einzumischen. Er riet ihnen, als Christen einen Friedensbund in Europa zu gründen und ein Schiedsgericht zu installieren, das alle Streitigkeiten friedlich löst. Gottfried Wilhelm Leibniz, Ratgeber des Fürstenhauses von Hannover, schrieb ihm dazu in einem Brief: Es sei gut, diese Gedanken ins Publikum zu bringen, andererseits aussichtslos, die Fürsten der Zeit für ein solches Projekt zu gewinnen. „Nur ein Minister, der im Sterben liegt,“ schrieb Leibniz, „kann das wagen, und auch dieser nur dann, wenn er keine Familie hinterlässt.“ (Patzig 1996, S. 15)

Karl Marx und Friedrich Engels adressierten im »Kommunistischen Manifest« von 1848 ein anderes revolutionäres Subjekt: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Die Arbeiter sollten ihre Sache selbst in die Hand nehmen und sich in einer Internationalen organisieren, um den Völkergefängnissen der Nationalstaaten eine eigene Assoziation entgegenzusetzen. Ein erster Versuch 1864 scheiterte, weil Anarchisten und Kommunisten sich nicht auf eine Strategie einigen konnten. Der zweite Versuch starb in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges.

Weltrepublik – Immanuel Kant

Immanuel Kants Schrift »Zum ewigen Frieden« von 1795 hat ihren festen Platz in der Debatte behauptet. Kant dachte über eine »Weltrepublik« nach, in der sich freie Staaten zu einer »Republik der Republiken« zusammenschließen. Eine „Universalmonarchie“, die die einzelnen Republiken auflöse, müsse ein „seelenloser Despotismus“ sein und sei nie zur Debatte gestanden (Patzig 1996, S. 21). Aber auch dem föderalen Staatenbund gibt Kant letztlich wenig Chancen auf Verwirklichung. „Ein Lob dem nüchternen Kant, der den monolithischen Illusionen nicht auf den Leim gegangen ist“, zollen Wolf-Dieter Narr und Alexander Schubert Beifall (Narr und Schubert 1994, S. 242). Nach einer Diskussion von Weltstaatstheorien, die sie als Illusion und Wunschdenken abtun (ebd., S. 235-247), schließen sie sich der Kantschen Idee eines Weltföderalismus an, dessen lokale Ebene gestärkt werden müsse (ebd., S. 257). Ob die beiden wussten, dass Kants Anthropologie auf einer Hierarchie der Rassen aufbaut? Der Königsberger eignet sich kaum als Referenz für einen demokratischen Ansatz zur Weltordnung. Die amerikanischen Ureinwohner bezeichnet Kant als „zu schwach für schwere Arbeit“ und „unfähig zu aller Cultur; die Afrikaner hingegen als einer Kultur von Sklaven, nicht aber freier Völker fähig, und beide als unfähig, aus eigener Kraft eine ordentliche bürgerliche Gesellschaft zu errichten. Asiaten (Chinesen und Hindustani) werden als zivilisiert, aber wenig dynamisch und antriebslos dargestellt. Weißen hingegen wird nachgesagt, sie besäßen alle Antriebskräfte, Talente und Prädispositionen für Kultur und Zivilisationen, die für einen Fortschritt hin zur Vollkommenheit nötig seien.“ (McCarthy 2015, S. 90)

Und wie bewerten die Spezialisten von den Internationalen Beziehungen die Idee eines Weltstaates?

Das absolute Tabu – die Lehre von den Internationalen Beziehungen

In den 1.200 Seiten seines aktuellen Werkes »Die Ordnung der Welt« stellt der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel ohne Diskussion fest, einen Weltstaat könne es nicht geben, so laute „[d]as erste Axiom der Lehre von den internationalen Beziehungen“ (Menzel 2015, S. 29). Diese Disziplin betrachte es quasi als Natur­gesetz, dass es „keine übergeordnete In­stanz, keinen Weltstaat gibt, der mit einem internationalen Gewaltmonopol ausgestattet ist“ (ebd., S. 17). Alle menschliche Geschichte sei von Großmachtpolitik geprägt. Wenn die derzeitige Phase der US-amerikanischen Hegemonie ende, was laut Menzel im Jahr 2035 der Fall sein wird, würde eine neue Großmacht kommen, die der Welt ihren Stempel aufdrücke. Vielleicht China? Oder doch noch einmal die USA als aktueller Titel­verteidiger? Eine globale Demokratie jedenfalls sei ausgeschlossen.

Ganz in diesem Sinne fasst der Tübinger Friedens- und Konfliktforscher Volker Rittberger den Stand der Debatte zusammen: „Es gibt wenige Auffassungen in der Lehre von der Internationalen Politik, über die soviel Übereinstimmung besteht, wie die, dass die Idee eines Weltstaates ebenso unerfüllbar wie unpraktikabel ist.“ (Rittberger 2000, S. 204) Als Kunst des Möglichen bliebe ein »heterarchisches« (gleichberechtigtes) Weltregieren. Nationen blieben die zentralen Akteure, so Rittberger, kooperierten aber und bildeten supranationale Organisationen, wie die Europäische Union.

Mathias Albert, Professor in Bielefeld, stellt kurz und trocken fest: „Es gibt keinen Weltstaat und es wird auch in Zukunft keinen solchen geben.“ (Albert 2007, S. 9). Bemerkenswert ist, dass Albert mit diesem Satz einen Tagungsband einleitet, in dem acht Wissenschaftler ihre Forschung zum Weltstaat vorstellen. Aber er fasst die Befunde korrekt zusammen, wenn er schreibt: „Die Beiträge des vorliegenden Bandes finden nicht, was sie nicht finden wollen: einen Weltstaat als einen auf die globale Ebene projizierten Einheitsstaat in Analogie zum Nationalstaat“ (ebd., S. 21) – was sie auch nicht finden sollten, wie mir (Redner auf der Tagung) scheint. Wenn auf einem Tagungsband »Weltstaat« draufsteht, muss also keineswegs »Weltstaat« drin sein.

Wenn der Staat nicht global wird, dann werden es vielleicht die politischen Prozesse?

Weltregieren ohne Weltregierung – Global Governance

Michael Zürn vom Wissenschaftszen­trum Berlin beobachtet in seinem Projekt eines »komplexen Weltregierens« die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure. Seit etwa zwei Jahrzehnten sei eine zunehmende „Politisierung der Weltpolitik“ durch Bürgerinnen und Bürger festzustellen, etwa in Form von Protesten am Rande von Gipfelkonferenzen. Darum könne heute „Weltpolitik endgültig nicht mehr als zwischenstaatliche Politik“ verstanden werden (Zürn 2013, S. 11). Organisationen wie Greenpeace und Amnesty International erfüllten eine wichtige Funktion als Aufpasser bei internationalen Organisationen und würden über Politisierung zur Demokratisierung der Weltpolitik beitragen (ebd., S. 26). Gegenüber einer voll ausgebildeten globalen Staatlichkeit bleibt Zürn skeptisch. Diese scheitere an „kognitiven und soziokulturellen Voraussetzungen der Demokratie, die auf internationaler Ebene und selbst auf europäischer Ebene nicht gegeben seien (ebd., S. 26). Seine neueste empirische Forschung erkennt einen vorsichtigen Trend hin zum „minimalen Weltstaat“ mit Ansätzen eines Gewaltmonopols, aber nicht zur „kosmopolitischen Demokratie“ eines David Held – dafür fehle die Bereitschaft zur transnationalen Solidarität (Zürn 2016, S. 113).

Jürgen Neyer, Professor in Frankfurt (Oder), analysiert in »Globale Demokratie« (Neyer 2013) zahlreiche Weltordnungsmodelle. Besonders macht seine Darstellung nicht nur, in welcher Ausführlichkeit kosmopolitische und weltstaatliche Theorien dargestellt, sondern auch, wie objektiv sie beurteilt werden (ebd., S. 327). Der Idealtyp „Demokratischer Weltstaat“ wird von Neyer hinsichtlich etlicher Kriterien als „unproblematisch“ beurteilt: erstens bei der Kongruenz zwischen Herrschern und Beherrschten („Idealfall“, ebd. S. 228), zweitens bei der Möglichkeit, in angemessener Zeit zu Entscheidungen zu kommen, trotz vieler Beteiligter, und drittens bei der Fähigkeit, die Entscheidungen auch durchzusetzen, was mit einem globalen Gewaltmonopol natürlich gut gelingt. Das vierte Kriterium fällt besonders positiv aus: Die Bevölkerung eines demokratischen Weltstaates könne sich „umfassend“ beteiligen. Lediglich das fünfte Kriterium, die Kontrollmöglichkeiten eines Gobalstaates, stuft Neyer als „bechränkt“ ein (ebd., S. 228-234). Zur sachlichen Einschätzung Neyers hat vermutlich beigetragen, dass er seit Jahren zum Integrationsprozess in der Europäischen Union arbeitet, der vielen als Blaupause für die Entwicklung zu einem Weltstaat gilt (vgl. ebd., S. 223-228).

Neyer betrachtet eine Fülle von Weltstaatstheorien. Alexander Wendt (2003) steht bei ihm für einen funktionalen Ansatz. Dem Konstruktivisten Wendt gilt der Weltstaat als unausweichlich, weil er kollektive Sicherheit am besten garantiere (ebd., S. 219f.). Das Modell von David Held (2007) ist die wichtigste Referenz für Neyer. Helds kosmopolitischer Ansatz ist demokratietheoretisch fundiert und wartet mit konkreten Vorschlägen für die Institutionen auf der globalen Ebene auf (Neyer 2013, S. 138-142, 219). Held möchte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das Vetorecht für Großmächte abschaffen und die Organisation mit einer eigenen Armee ausstatten. Langfristig kann er sich ein Weltparlament vorstellen, das diesen Namen auch verdient. Zeitgemäß normative Ansätze für einen Weltstaat sieht Neyer in den Kantianern Otfried Höffe (2002) und Matthias Lutz-Bachmann (2002).

Zu welchen Ergebnissen kommen kriti­sche Ansätze, die sich an Rechts- und Gerechtigkeitsideen orientieren, ohne das Gerüst der Internationalen Beziehungen?

Weltstaat von oben – Sibylle Tönnies

Im Jahr 2002, kurz nach den Anschlägen auf das World Trade Center, erschien in Deutschland ein frisches und kraftvolles Buch, das in einer klaren Sprache den Weltstaat fordert: Sibylle Tönnies’ »Cosmopolis Now – Auf dem Weg zum Weltstaat« (2002). Wie das berühmte Werk »Empire« von Antonio Negri und Michael Hardt (2000) und »Global State« von Martin Shaw (2000), geht Tönnies ebenfalls davon aus, dass es im Ansatz bereits den Weltstaat gibt, nämlich in Form der US-amerikanischen Hegemonie. Diese müsse man anerkennen und versuchen, sie zu gestalten.

Der Rechtswissenschaftlerin an der Universität Bremen und an der Bucerius Law School in Hamburg geht es darum, die universalen Menschenrechte weltweit zu verwirklichen. Dafür sucht Tönnies eine Macht, die diese weltweit durchsetzen kann, und findet sie in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Menschenrechte können die Welt nur regieren, wenn eine Ordnung zur Verfügung steht, die genauso universal ist wie sie selbst. Sie brauchen eine Weltordnung, sie brauchen eine Weltpolizei, die sie schützt.“ (Tönnies 2002, S. 149)

Das Problem ist laut Tönnies, dass die USA diese Rolle des Weltpolizisten gar nicht einnehmen möchten. Sie möchten sich auch selbst keinem System internationaler Regeln unterwerfen. Typisch sei, dass die USA in Den Haag Kriegsverbrecher vor das Gericht stellen, aber sich selbst der Strafverfolgung durch diese Körperschaft entziehen (ebd., S. 66f). Im Jahre 2002 urteilt Tönnies: „Die Amerikaner haben noch nicht die Reife, eine Pax Americana zu schaffen. Sie genießen es, die einzige Supermacht zu sein, wollen aber weiterhin mit formal gleichberechtigten Rivalen ihre Kräfte messen und sich als Sieger erweisen. Die Vereinigten Staaten maßen sich keineswegs die Pax Americana an. Sie müssen im Gegenteil mit der Erwartung konfrontiert werden, dass sie sie etablieren sollen.“ (ebd., S. 41)

Tönnies ist dabei wichtig, bei ihrem Projekt von „Weltstaat“ zu sprechen. Natürlich wäre es mit ihrer Position geschickter, sagt sie, von einer „fälligen Verrechtlichung der Weltorganisationen“ zu sprechen, von der „Stärkung supranationaler Organisationen“ oder von der „Erforderlichkeit verbindlicher Regeln für die Voraussetzungen humanitärer Interventionen“. Dies seien aber verharmlosende Formulierungen. „In dem Moment, in dem eine Welt-Rechtsordnung auch durchgesetzt werden kann, in dem Moment also, wo eine Weltexekutive besteht, gibt es auch einen Weltstaat. In diesem Moment ist nämlich die Gewalt monopolisiert.“ (­Tönnies 2002, S. 11)

So groß dürfte der Schritt gar nicht sein in das US-amerikanische Imperium, zumindest für die Jugend der Welt – sie trägt doch ohnehin schon seine Kleidung, schaut seine Filme und spricht seine Sprache (ebd., S. 57). Was dem entgegensteht, ist eine der großen Schwächen der jungen Generation, sagt die Dame aus dem Jahrgang 1944, nämlich ihr mangelndes Machtbewusstsein (ebd., S. 79f.). Außerdem verachte sie die Staatsidee, was sich auch in einem naiven Glauben an die Macht von Nicht-Regierungsorganisationen zeige (ebd., S. 80). In diesem intellektuellen Klima müsse die Idee eines Weltstaats Ängste auslösen und seine Idee totalitär erscheinen (ebd., S. 84f.).

Sibylle Tönnies kann allerdings nicht gut erklären, wieso ein Hegemon zum »wohlwollenden Diktator« wird, wenn die USA die Weltarmee der Vereinten Nationen stellen, wie Tönnies vorschlägt (ebd., S. 32), Wie Tönnies dagegen mit Klassikern der Politischen Philosophie umgeht, ist brillant. Sie kann mit den »Federalist Papers« der USA von 1878/88, mit Thomas Hobbes und nicht zuletzt mit der Soziologie ihres berühmten Großvaters Ferdinand Tönnies (»Gemeinschaft und Gesellschaft«, 1887) zeigen, dass ein Weltstaat gut zu begründen ist, und schlägt seinen Kritikern einige der wichtigsten Waffen aus der Hand. Lesenswert!

Weltstaat von unten – Charles Monbiot

Charles Monbiot, Jahrgang 1963, wendet sich an die Millionen Globalisierungskritiker. Mit seinem Buch »United People – Manifest für eine neue Weltordnung« (2003) möchte er dem weltweiten „Netzwerk von Aufständischen“ eine Perspektive zu eröffnen, wie man über den Protest hinausgehen kann: Es „sollte unser Ziel nicht sein, die Globalisierung zu verhindern, sondern sie uns zunutze zu machen und sie zum Werkzeug zur Durchsetzung der ersten globalen Revolution in der Menschheitsgeschichte umzufunktionieren“ (Monbiot 2003, S. 32).

Ein Weltparlament ist das wichtigste Projekt des britischen Journalisten (»Guardian« u.a.). Die Bewegung solle eine weltweite Wahl nach dem Prinzip »ein Mensch, eine Stimme« selbstständig organisieren (ebd., S. 99). Aus der Wahl würden 600 Abgeordnete als wahre Vertreterinnen und Vertreter der Weltbevölkerung hervorgehen, für je zehn Millionen Menschen eine Vertretung. Dieses Weltparlament wäre dann eine wahrhaft demokratische Gegenmacht zu den internationalen Organisationen, die doch nur die reichen Nationen vertreten – eine moralische Instanz mit mächtiger Stimme. Die Idee eines Weltparlaments ist laut Monbiot wohl vor allem für den Westen eine große Herausforderung. Den plagt nämlich – so wörtlich – „die Angst vor der gelben Gefahr“ (ebd., S. 118-121). Die USA und Europa würden in einem Weltparlament überstimmt von 1,4 Milliarden Chinesen und einer Milliarden Indern, neben 800 Millionen Stimmberechtigten aus Afrika. „Als würden Truthähne für Weihnachten stimmen“, kommentierte dies ein führender US-Vertreter der Internationalen Beziehungen.

Zwei Lektionen müssen die heutigen Globalisierungskritiker laut Monbiot lernen. Erstens sollten die Aktivistinnen und Aktivisten vom Protestieren zum Gestalten übergehen – siehe oben – und zweitens ihre »small is beautiful«-Philosophie überdenken. Die angemessene Alternative sei, die globale Ebene als Demokratie zu gestalten. „Die Vorstellung, wir könnten Macht einfach zum Verschwinden bringen und sie durch eine so genannte »Anti-Macht« ersetzen, ist bei Anarchisten reicher Länder recht beliebt. Die meisten Aktivisten in den armen Ländern aber, in denen die Auswirkungen der Macht deutlich fühlbar sind, erkennen sie als das, was sie ist: purer Unsinn. Nur weil wir die Muskeln nicht spielen lassen, heißt das noch nicht, dass die anderen auch darauf verzichten werden.“ (ebd., S. 22f.)

Die klaren Worte für eine globale Identität, die er bereits als gegeben ansieht, und seine strikt ablehnende Haltung zur Nation machen das Werk besonders wertvoll, insbesondere, weil es in einer deutlichen Warnung vor einem Rassismus der gebildeten Stände mündet. Weniger überzeugend klingt Monbiots Entwurf neuer Welthandelsorganisationen. Was läuft auf institutioneller Ebene bei den existierenden drei Organisationen falsch? Das wird nicht ausreichend klar. Insgesamt aber ein kluger Ratgeber für Occupy & Co.

Folgerungen für Theorie und Praxis

Drei Folgerungen ergeben sich für kritische Ansätze und politische Kampagnen, die weltweite Demokratie verwirklichen möchten.

Erstens gilt es, globale Staatlichkeit authentisch zu denken, wobei antidemokratische Glaubenssätze nach und nach verabschiedet werden müssen, vor allem in der Disziplin der Internationalen Beziehungen. Das gleiche gilt für den Rassismus und die Idee einer Nation, die einer rationalen Forschungsagenda im Wege stehen.

Zweitens, moderne Ansätze dürfen nicht im Protest gegen die Globalisierung verharren, sondern sie sollten versuchen, sie nach ihren Interessen zu gestalten. Dafür könnten sie eine entschlossene Machtperspektive einnehmen zugunsten einer sozialen und ökologischen Demokratie, die einen Rahmen für eine gerechte Weltwirtschaft bietet.

Drittens sollten die lokale, regionale und globale Ebene nicht als Gegensatz angesehen und gegeneinander ausgespielt, sondern je nach Problemlage aufeinander abgestimmt werden. Nur weil die globale Ebene von der Normalwissenschaft so vernachlässigt wird, muss sie in der aktuellen Diskussion nicht mehr Raum einnehmen, als von der Sache her nötig wäre.

Der Weltstaat sei nicht möglich und nicht wünschenswert, deswegen müsse in Abwesenheit eines Weltstaates über zweitbeste Lösungen nachgedacht werden – diese Redensart sollte möglichst bald aus der Literatur verschwinden und eine fundierte Diskussion über Möglichkeiten globaler Demokratie an ihre Stelle treten.

Literatur

Albert, M. (2007): Weltstaat und Weltstaatlichkeit – Neubestimmung des Politischen in der Weltgesellschaft. In: Albert, M.; Stichweh, R. (Hrsg.): Weltstaat und Weltstaatlichkeit – Beobachtungen globaler Strukturbildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Held, D. (2007): Soziale Demokratie im globalen Zeitalter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Höffe, O. (2001): Globalität statt Globalismus – Über eine subsidiäre und föderale Weltrepublik. In: Lutz-Bachmann, M.; Bohmann, J. (Hrsg.): Weltstaat oder Staatenwelt? Für und wider die Idee einer Weltrepublik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Lutz-Bachmann, M. (2001): Weltweiter Frieden durch eine Weltrepublik? Probleme internationaler Friedenssicherung. In: Lutz-Bachmann, M.; Bohmann, J. (Hrsg.): Weltstaat oder Staatenwelt? Für und wider die Idee einer Weltrepublik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

McCarthy, T. (2015): Rassismus, Imperialismus und die Idee menschlicher Entwicklung. Berlin: Suhrkamp.

Menzel, U. (2015): Die Ordnung der Welt. Berlin: Suhrkamp.

Monbiot, G. (2003): United People. Manifest für eine neue Weltordnung. München: Riemann.

Narr, W.-D.; Schubert, A. (1994): Weltökonomie -Misere der Politik. Frankfurt: Suhrkamp.

Negri, A.; Hardt, M. (2003): Empire – Die neue Weltordnung. Frankfurt a.M: Campus.

Neyer, J. (2013): Globale Demokratie – Eine zeitgemäße Einführung in die Internationalen Beziehungen. Baden-Baden: Nomos.

Patzig, G. (1996): Kants Schrift »Zum ewigen Frieden«. In: Merkel R.; Wittmann R. (Hrsg.): »Zum ewigen Frieden« – Grundlagen, Aktualitäten und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Rittberger, V. (2000): Globalisierung und der Wandel der Staatenwelt – Welt regieren ohne Weltstaat. In: Menzel, U. (Hrsg.): Vom Ewigen Frieden und vom Wohlstand der Nationen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 188-219.

Shaw, M. (2000): Theory of the Global State – Globality as an Unfinished Revolution. Cambridge: Cambridge University Press.

Tönnies, S. (2002): Cosmopolis Now – Auf dem Weg zum Weltstaat. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt.

Wendt, A. (2003): Why A World State is Inevitable. European Journal of International Relations, Vol. 9, No. 4 (December), S. 491-542.

Zürn, M. (2013): Politisierung als Konzept der Internationalen Beziehungen. In: Zürn, M.; Ecker-Ehrhardt, M. (Hrsg.): Die Politisierung der Weltpolitik. Berlin: Suhrkamp, S. 7-35.

Zürn, M. (2016): Four Models of a Global Order with Cosmopolitan Intent – An Empirical Assessment. Journal of Political Philosophy, Vol. 24, Nr. 1, S. 88-119.

Dirk Hannemann, Jahrgang 1968, wohnhaft in Berlin, Diplom-Politologe (Universität Frankfurt am Main), Lehraufträge an der Freien Universität Berlin. Heute als selbstständiger Kommunikationstrainer tätig.

Ein offener Brief


Ein offener Brief

Kooperation zwischen Hochschule Bremen und Bundeswehr

Ralf E. Streibl

Mitte Mai 2016 schickte Ralf E. Streibl einen offenen Brief an die Rektorin der Hochschule Bremen, Prof. Dr. Karin Luckey, und kündigte seine Lehrtätigkeit an der Hochschule auf. Grund für seine Entscheidung war der Abschluss eines Kooperationsabkommens zwischen der Hochschule und dem Bildungszentrum der Bundeswehr im Kontext eines neuen dualen Studienangebots (vgl. Bundeswehr-Journal 2016). In seinem Schreiben setzt sich der Autor mit seiner Verantwortung als Wissenschaftler auseinander. W&F dokumentiert den offenen Brief.

Sehr geehrte Frau Luckey,
die Hochschule Bremen hat – so war zu erfahren – entschieden, dass es künftig zum »Internationalen Frauenstudiengang Informatik« (IFI) eine zusätzliche Variante als Duales Studium geben wird. Gleichzeitig wurde beschlossen, hierfür eine Kooperation mit der Bundeswehr einzugehen.

Seit Gründung des IFI-Studiengangs im Wintersemester 2000/2001 bis heute habe ich regelmäßig als Lehrbeauftragter innerhalb dieses Studiengangs das Fachgebiet »Informatik und Gesellschaft« in der Lehre vertreten. Angesichts der oben genannten Beschlusslage werde ich diese Aufgabe in der Zukunft nicht mehr übernehmen. Denn für die Mitwirkung im Regellehrbetrieb eines in Kooperation mit der Bundeswehr betriebenen Studiengangs stehe ich nicht zur Verfügung.

Gesellschaftlich und hochschulpolitisch halte ich die strukturelle Kooperation eines Studiengangs mit der Bundeswehr für eine Fehlentscheidung. Ich bedauere sehr, dass die Leitung der Hochschule Bremen die kritischen und nachdenklichen Stimmen innerhalb der eigenen Institution letztlich ignoriert hat.

Da ich diese Entscheidung nicht beeinflussen kann, bleibt mir nur, persönliche Konsequenzen zu ziehen. Auf die künftige Zusammenarbeit der Hochschule Bremen mit der Bundeswehr wird es keine Auswirkungen haben, dass ich mich aus dem Studiengang verabschiede. Für mich selbst und vor dem Hintergrund meines Verständnisses von Wissenschaft und Hochschullehre ist es jedoch ein notwendiger und folgerichtiger Schritt, jetzt Nein zu sagen – und dies auch öffentlich.

Ich möchte Ihnen im folgenden einige der Überlegungen und Bezüge darstellen, die zu meiner Entscheidung beitrugen. Im Kern geht es dabei immer um Verantwortung (in) der Wissenschaft. Die Auseinandersetzung damit kann und muss – das ist meine feste Überzeugung – auf ganz unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig erfolgen.

Gesellschaft und Politik: Friedensorientierung

Die Umbrüche in Osteuropa ließen kurzfristig auf ein Ende der langjährigen Dominanz militärisch-strategischer Kalküle sowie der Ideologie der Abschreckung hoffen. Leider hat sich schnell gezeigt, dass diese Hoffnung trog. Die viel zitierte »neue Weltordnung« nahm eine andere Richtung auf: Die im Grundsatz an humanitären Werten orientierte Idee internationaler Hilfe für bedrohte oder unterdrückte Menschen wird mit zunehmender Selbstverständlichkeit im Sinne militärischer Interventionen verstanden bzw. vorrangig unter diesem Paradigma geplant und betrieben.

Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem damals ausgerufenen »Krieg gegen den Terror« werden militärische Operationen als naheliegende Reaktionsmöglichkeit und gerechtfertigte Handlungsoption angesehen. Krisendiplomatie und ihre langfristigen, oft auch zähen Verhandlungsprozesse werden auf die Seite gedrängt. Albert Fuchs (2004) bezeichnet diesen Weg von den »humanitären Interventionen« zur Wiedereinführung eines »Rechts auf Kriegführung« als Wiederbelebung der Kriegskultur.

Dem gegenüber steht die Forderung nach einer gesellschaftlichen Friedensorientierung. Das Ziel eines umfassenden Friedens steht im Einklang mit der UN-Charta und – bezogen auf die Bundesrepublik – mit dem Grundgesetz. Begreift man den Prozess zu einer Kultur des Friedens auch als Bildungsprozess, so wäre ein erstes Lernziel, Kriege als vom Menschen herbeigeführt und damit als vermeidbar zu begreifen (Nicklas 1996).

Mit dem Slogan »Terrorismusbekämpfung« werden nicht nur Kriegseinsätze gerechtfertigt, sondern auch die Intensivierung staatlicher Überwachung, geheimdienstlicher Datensammlung und sogar offensichtliche Verstöße gegen die Menschenrechte bis hin zu Folter. Die Entwicklung geht somit auch einher mit einer Intensivierung struktureller Gewalt und hat so auch direkte Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft.

Kriterium für Frieden ist die Fähigkeit, mit Konflikten umzugehen (vgl. Galtung 1998). Erforderlich hierfür ist gleichermaßen eine Friedensstruktur wie auch eine Friedenskultur. Dem entgegen steht jedoch die bis heute in vielen Köpfen fest verwurzelte Überzeugung, Frieden sei nur durch Stärke erreichbar. Diese Überzeugung zu hinterfragen und in einem offenen Diskurs jenseits militärisch geprägter Sichtweisen den Weg zu einer echten Friedensfähigkeit zu eröffnen ist eine große Herausforderung für Politik und Gesellschaft und damit eine zentrale Aufgabe für Bildung und Wissenschaft.

Friedensorientierung – um auf den konkreten Anlass des vorliegenden Textes zurück zu kommen – ist viel mehr als die bloße Ablehnung einer strukturellen Kooperation von Bildungseinrichtungen mit militärischen oder rüstungsaffinen Einrichtungen, Organisationen oder Unternehmen. Es geht nicht darum, einfach nicht zu kooperieren: Vielmehr geht es um zugrundeliegende Entscheidungen und Prozesse. Diese betreffen gleichermaßen die Wissenschaft an sich, ihre Disziplinen und ihre Institutionen sowie die dort tätigen Individuen. Davon wird deswegen in den nächsten Abschnitten die Rede sein.

Verantwortung von WissenschaftlerInnen

Unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe und des nuklearen Wettrüstens zwischen den USA und der Sowjetunion formulierte der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell [1955] ein von Albert Einstein und acht weiteren namhaften Wissenschaftlern mitunterzeichnetes Manifest, in dem vor den Gefahren des Krieges mit Nuklearwaffen gewarnt und die bewusste Entscheidung gegen bewaffnete Konflikte gefordert wurde. Das daraus resultierende erste Zusammentreffen von 22 hochrangigen Wissenschaftlern aus zehn Nationen in [dem kanadischen Fischerdorf] Pugwash – ein Auftakt für folgende Konferenzen – war ein frühes Signal dafür, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bekennen und in dieser Konsequenz auch politisch Position beziehen müssen. Die Teilnehmer wurden angefeindet und galten als weltfremd oder Verräter (vgl. Neuneck 2009). 1995 erhielten die Pugwash-Konferenzen sowie ihr Mitbegründer und langjähriger Präsident Józef Rotblat den Friedensnobelpreis. In seiner Dankesrede stellte Rotblat heraus, dass es in unterschiedlichen Forschungsfeldern zu negativen gesellschaftlichen Folgen kommen könne, weswegen stete Wachsamkeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gefragt sei sowie die Bereitschaft bzw. Verpflichtung, ggf. kritische Entwicklungen auch an die Öffentlichkeit zu bringen (Rotblat 1995).

Wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die fachlichen Grenzen ihrer Disziplin verlassen und öffentlich über die Folgen und möglichen Grenzen ihres Tuns nachdenken, wird ihnen oftmals die Zuständigkeit für die damit einhergehenden gesellschaftlichen oder politischen Fragen abgesprochen. Auch die 18 Atomwissenschaftler, die 1957 die »Göttinger Erklärung« verfassten, antizipierten entsprechende Reaktionen und äußerten in ihrer Erklärung die Erwartung, dass man ihnen die Berechtigung abstreiten werde, politische Konsequenzen aus ihren Erkenntnissen zu ziehen. Doch – so verdeutlichten sie in ihrer Erklärung – ihre wissenschaftliche Tätigkeit und insbesondere auch die Tatsache, dass sie viele jungen Menschen dem Gebiet zuführen würden, belade sie mit der Verantwortung für die Folgen, weswegen sie nicht zu allen politischen Fragen schweigen könnten (vgl. Albrecht et al. 2009).

Dass die Freiheit von Wissenschaft Grenzen hat und haben sollte, ist inzwischen weit in das gesellschaftliche Bewusstsein vorgedrungen. Die grundgesetzlich garantierte Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre stößt regelmäßig an Grenzen, wo andere Menschen- oder Verfassungsrechte berührt sind oder wo beispielsweise durch internationale Verträge oder nationale Regelungen Forschungsziele ausgeschlossen oder Methoden reglementiert sind. Doch die Beachtung rechtlicher Normen und Regelungen allein genügt nicht, um verantwortliches Handeln in der Wissenschaft sicherzustellen.

Die 2010 von der Max-Planck-Gesellschaft beschlossenen Hinweise und Regeln zum verantwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungsrisiken (MPG 2010) stellen in diesem Sinne explizit heraus, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgefordert sind, weitergehende ethische Grundsätze zu berücksichtigen. Sie sollen Risiken für Mensch und Umwelt vor dem Hintergrund ihrer Fachkompetenz erkennen und abschätzen und ggf. persönliche Entscheidungen über die Grenzen ihrer Arbeit treffen, was auch bedeuten kann, dass Vorhaben modifiziert oder – als Ultima Ratio – gar nicht durchgeführt werden. Die Kriterien für solch eine Entscheidung können vielfältig sein. Neben Fragen der Risikoabschätzung (z.B. Wahrscheinlichkeit eines Schadens, Ausmaß eines eventuellen Schadens, Beherrschbarkeit von Ergebnissen) benennt die Max-Planck-Gesellschaft auch strukturelle Aspekte, die für solch eine Entscheidung erheblich sein können, nämlich wer Kooperationspartner, Auftraggeber, Nutzer oder Finanzier der Forschung ist.

Verantwortung in der Wissenschaft endet nicht bei der Forschung. Die Identifikation, Betrachtung, Analyse, Bewertung und Reflexion von Rahmenbedingungen, divergierenden Interessen, gesellschaftlichen Wirkungen, ethischen Fragen und Dilemmata, Entwicklungspfaden, Handlungsspielräumen und Gestaltungsoptionen im offenen kommunikativen Miteinander und im gegenseitigen kritischen Diskurs muss wesentlicher Teil von Hochschullehre und Studium sein.

Ambivalenzen und Verant­wortungsdiskurse im Fach

Seit dem Russel-Einstein-Manifest und der Göttinger Erklärung haben viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für sich individuelle Entscheidungen getroffen und beschlossen, die eine oder andere Forschungsfrage nicht anzugehen oder bestimmte Projekte nicht durchzuführen. Beispiele finden sich in vielen Fächern und Fachgebieten.

Da es bei dem an der Hochschule Bremen geplanten Kooperationsstudiengang um einen Informatikstudiengang handelt, möchte ich hier – ohne Beschränkung der Allgemeinheit – exemplarisch einige Positionierungen heranziehen:

  • David L. Parnas begründete 1985 seinen Rücktritt aus einem Beratergremium zum SDI-Projekt des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan mit seinen fachlichen Zweifeln an einer verantwortbaren Funktionsfähigkeit und Beherrschbarkeit des geplanten Systems (vgl. Parnas 2009).
  • Benjamin Kuipers veröffentlichte 2003 ein Positionspapier, in dem er begründete, warum er keine Fördermittel vom Militär annimmt (Kuipers 2003).
  • 1996 fand eine ausführliche und differenzierte Debatte in einem großen deutschen Softwarehaus darüber statt, ob die Durchführung eines Projekts für das Bundesministerium der Verteidigung mit dem Selbstverständnis der Firma verträglich sei. Besonders erfreulich ist, dass die Debatte zusammengefasst dokumentiert nachlesbar ist (Brössler, Biskup, Rauschmayer 1996).

Bereits 1984 hatte sich Terry Winograd in einem kleinen Aufsatz »Some thoughts on military funding« mit der Frage beschäftigt, ob die Nichtannahme militärischer Fördergelder nur ein »symbolischer Akt« sei oder ob auf diesem Weg auch mehr zu bewirken sei (Winograd 1985). Die Reihe solcher Beispiele könnte noch lang fortgeführt werden.

In der Informatik haben Debatten um Militär-Bezüge und Dual-use eine lange Geschichte, die sich in die Gegenwart fortsetzt. Krieg, Militär und Rüstungswettlauf waren bereits in der Frühzeit der Computerentwicklung wesentliche Triebkräfte. Mit der weiträumigen Durchdringung von Arbeitswelt und Gesellschaft mit Informationstechnik und digitalen Medien scheint der Stellenwert militärischer Anwendungen und Bezüge etwas in den Hintergrund zu treten. Bei genauerer Betrachtung stellt man jedoch fest, dass dies wohl nicht so ist – der Rahmen hat sich jedoch verändert. Exemplarisch seien hier nur drei Aspekte genannt:

  • Aktuelle Kriege sind ohne Informatik und ihre Produkte nicht führbar. Dies betrifft nicht nur technisierte Waffensysteme, sondern die gesamte Infrastruktur. Viele im zivilen Bereich eingesetzte technische Komponenten und Lösungen können und werden auch militärisch genutzt.
  • Dual-use-Strategien werden aktiv betrieben und gefördert. Neben klassischen Forschungsaufträgen und -kooperationen wird zunehmend auch über Wettbewerb-Szenarien Knowhow abgeschöpft, Imagepflege betrieben und Personal rekrutiert (vgl. bspw. Streibl 2012b).
  • Die uns im zivilen Leben direkt umgebende Informationstechnik ist Teil und Gegenstand militärischer und strategischer Überlegungen. Sie wird gleichermaßen zum Angriffsziel und zum Angriffsmittel – das Schlachtfeld hat sich längst auf diese Sphäre erweitert.

Ambivalenz ist im Bereich wissenschaftlicher Forschung und technischer Entwicklung grundsätzlich nicht vermeidbar. Gerade deswegen ist eine kritisch-reflektierende inhaltliche Befassung mit diesen Fragen in den Fächern und Forschungs- und Bildungseinrichtungen zentral. Im Mittelpunkt muss dabei eine frühzeitige antizipative Analyse von Forschung und Entwicklung stehen, die – wie Wolfgang Liebert fordert – nach Intentionen, wissenschaftlich-technischen Potenzialen, normativen Rand- und Vorbedingungen, ambivalenten Entwicklungslinien, gewollten Wirkungen, nicht-intendierten Folgen und sichtbaren Entwicklungsrisiken fragt (Liebert 2009).

In diesem Sinne wäre dann wohl auch die aktuelle Ausbildungsinitiative der Bundeswehr, in deren Rahmen der Kooperationsstudiengang mit der Hochschule Bremen angesiedelt ist, im Kontext ihres Gesamtszenarios zu betrachten:

Die Bundeswehr – so zeigen es die aktuellen Planungen – soll in der nächsten Zeit wachsen; ein besonderes Augenmerk kommt dabei dem Ausbau und der Bündelung von Cyber- und IT-Aktivitäten zu. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen stellte jüngst entsprechende Pläne der Öffentlichkeit vor. Bis Ende 2016 soll in ihrem Ministerium eine neue Abteilung Cyber/IT eingerichtet werden, und 2017 soll ein zusätzlicher militärischer Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum (CIR) aufgestellt werden (BMVg 2016b). Gleichzeitig wurden Kampagnen gestartet, mit denen auf dem Arbeitsmarkt stark nachgefragte IT-Spezialisten für die Streitkräfte gewonnen werden sollen. Ein Beispiel dafür ist das im März 2016 gestartete Projekt »Digitale Kräfte« mit dem Slogan „Entwickle mit uns die Bundeswehr der Zukunft“ (BMVg 2016a). Auf der Projekt-Website wird auch der Kooperationsstudiengang mit der Hochschule Bremen beworben. Der entsprechende Verweis auf die Hochschule Bremen und den konkreten Studiengang war übrigens dort schon lange, bevor die Hochschule Bremen die Kooperation offiziell beschlossen hatte, eingetragen.

Verantwortungsentschei­dungen in Institutionen

Selbstverständlich kann eine Hochschule keine Beschlüsse fassen, die verfassungsgemäße Rechte, wie die Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit, außer Kraft setzen würden. Wie sind dann aber institutionelle Selbstverpflichtungen einzuschätzen, die eine Ablehnung jeglicher Beteiligung von Wissenschaft und Forschung mit militärischer Nutzung bzw. Zielsetzung bzw. eine Verpflichtung auf den Frieden oder zivile Zwecke beinhalten? Derartige Beschlüsse – gemeinhin Zivilklauseln genannt – stellen kein grundsätzliches Verbot derartiger Forschung dar. Sie sind darüber hinaus weder ein trennscharfes Entscheidungsinstrument noch wird durch sie eine finale Kontrolle etabliert. Wirkungs- oder gar bedeutungslos sind solche Beschlüsse gleichwohl nicht: Denn wenn eine Hochschule oder eine andere große Institution solch einen Beschluss fasst, hat dies eine weitergehende Außenwirkung, als wenn einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für sich individuelle Entscheidungen treffen. Eine Institution, die einen derartigen Beschluss gefasst hat, muss sich dann auch daran messen lassen, wie der Beschluss gelebt wird und wie ernsthaft sich die Institution selbst damit auseinandersetzt:

  • Ermutigt und unterstützt sie ihre Mitglieder, regelmäßig im Sinne praktizierter gesellschaftlicher Verantwortung die Auswirkungen und Folgen eigenen wissenschaftlichen Handelns in Forschung und Lehre zu prüfen und zu hinterfragen?
  • Werden Studierende angeregt und eingeladen, sich mit entsprechenden Fragen und Problemen als Teil ihres Studiums zu beschäftigen?
  • Ermöglicht die Institution einen öffentlichen Diskurs über die Bedeutung und Folgen der dort betriebenen Forschung?
  • Schafft sie Transparenz durch eine Verpflichtung zur Bekanntgabe von Forschungsthemen, Kooperationen und Herkunft von Fördermitteln sowie die Verpflichtung zur Veröffentlichung von Forschungsergebnissen?
  • Fördert sie Diskurse in den Gremien und Fächern hinsichtlich der Ambivalenz wissenschaftlicher Erkenntnisse und Entwicklungen?

Die staatlichen Hochschulen im Land Bremen haben allesamt Beschlüsse gefasst, die als Zivilklausel verstanden werden. Den Auftakt machte im Januar 2012 die Bestätigung und Konkretisierung der bereits seit 1986 bestehenden Beschlusslage der Universität Bremen (vgl. Streibl 2012a). Im Juni 2012 wurde im Akademischen Senat der Hochschule Bremen eine Zivilklausel beschlossen (HSB 2012), und die Hochschule Bremerhaven folgte im Juli 2012. Erst einige Jahre später, im Jahr 2015, wurde im Bremischen Hochschulgesetz ein Paragraph eingeführt, der die Hochschulen des Landes explizit dazu verpflichtet, sich jeweils selbst eine Zivilklausel zu geben. Es wird dafür kein konkreter Wortlaut vorgegeben – dies wäre wohl auch rechtlich bedenklich; auf jeden Fall würde es den wesentlichen Sinn verfehlen und konterkarieren, innerhalb der Institutionen eine Auseinandersetzung und Beschlussfassung über eine solche Selbstverpflichtung zu befördern. Denn wenn eine Zivilklausel nicht aktiv gelebt und im wissenschaftlichen Alltag immer wieder aufs neue an Ambivalenzen geprüft und hinterfragt wird, verkommt sie schnell zur Makulatur.

Die aktuelle Entscheidung der Hochschule Bremen zur Einrichtung eines Kooperationsstudiengangs mit der Bundeswehr wurde in den letzten Tagen auch hinsichtlich der Vereinbarkeit mit der Zivilklausel der Hochschule Bremen diskutiert. Argumentative Versuche, in diesem Zusammenhang die Formulierung jener Zivilklausel nur auf Forschung begrenzt zu interpretieren und den Bereich der Lehre und des Studiums auszuklammern, muten vergleichsweise konstruiert und hilflos an. Konsequent wäre – sofern die Hochschule den Kooperationsstudiengang mit der Bundeswehr ernst meint –, die bestehende Zivilklausel an sich zu hinterfragen und ggf. abzuändern oder abzuschaffen. Ich selbst würde einen solchen Schritt sehr bedauern, aber das Festhalten eines halt- und bedeutungslosen Feigenblattes, während gleichzeitig mit der Einrichtung dieses Kooperationsstudiengangs strukturelle Fakten in anderer Richtung geschaffen werden, erscheint mir als noch schlechtere Alternative.

Eine wichtige Funktion hat eine Zivilklausel in einer Institution übrigens auf jeden Fall: Sollten Beschäftigte aus Gewissensgründen oder ethischen Überlegungen unter Verweis auf die in ihrer Institution beschlossene Zivilklausel die Mitarbeit an Projekten oder Kooperationsprojekten mit militärischen Bezügen verweigern, dann wäre es wohl insbesondere die Aufgabe der Hochschulleitung sicherzustellen, dass diesen Personen hieraus keine Nachteile erwachsen. Spätestens hier wird die Absurdität der Situation, welche die Leitung der Hochschule Bremen mit der Einrichtung solch eines Kooperationsstudiengangs selbst geschaffen hat, offenbar.

Individuelle Entscheidung

Erfreulicherweise thematisiert das Bremische Hochschulgesetz auch jenseits institutioneller Beschlüsse und Zivilklauseln schon seit langem Fragen der Verantwortung und fordert in dem der Freiheit von Wissenschaft und Kunst, Forschung, Lehre und Studium gewidmeten Paragraphen alle an Forschung und Lehre Beteiligten zur Achtsamkeit hinsichtlich der gesellschaftlichen Folgen wissenschaftlicher Erkenntnisse auf.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind dem Rahmen und Kontext, in dem sie tätig werden, nicht passiv-hilflos ausgesetzt. Sobald sie sich als in Forschung und Entwicklung sowie in Lehre und Studium aktiv Handelnde begreifen, sind sie gefordert, sich proaktiv mit unterschiedlichen Perspektiven, ethischen Fragen, Ambivalenzen des Faches sowie der eigenen Verantwortung auseinanderzusetzen und, sie müssen dann letztendlich für sich individuelle Entscheidungen treffen (vgl. auch Liebert 2005).

Eine solche Entscheidung habe ich nun für mich getroffen: Als Reaktion auf den Beschluss der Hochschule Bremen, den besagten Kooperationsstudiengang mit der Bundeswehr einzurichten, werde ich – wie bereits eingangs erwähnt – meine langjährige Mitwirkung in diesem Studiengang beenden. Seit Gründung des Internationalen Frauenstudiengangs Informatik an der Hochschule Bremen im Jahr 2000 war ich regelmäßig dort als Lehrbeauftragter für »Informatik und Gesellschaft« tätig. Mein Bemühen galt der Schaffung eines anregenden Lern- und Studienambiente, in welchem – geprägt durch Offenheit, Wertschätzung und Reflexion – die Studentinnen die Möglichkeit erhalten sollten, Szenarien und Entwicklungen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und zu bewerten, ihre und anderer Leute Sichtweisen in Frage zu stellen und vor allem kontrovers zu diskutieren.

In der Presse wurde berichtet, dass – laut Leitung der Hochschule Bremen – die Bundeswehr keinen Einfluss auf Inhalte des Studiums nehmen könne. Dies mag formal auch so sein. Durch die strukturelle und finanzielle Verbindung zwischen Hochschule und Bundeswehr verändert sich aber der Gesamtkontext. Ich selbst bin nicht dazu bereit, als Person und mit meiner Lehrveranstaltung Teil solch einer Konstruktion zu sein – auch vor dem Hintergrund meiner oben skizzierten Überlegungen und Überzeugungen hinsichtlich der Friedensorientierung und Verantwortung in der Wissenschaft.

Der Beschluss, einen Dualen Studiengang mit der Bundeswehr als Kooperationspartner einzurichten, hat eine öffentliche Debatte in Bremen ausgelöst. Ich würde es sehr begrüßen, wenn die Leitung der Hochschule bereit wäre, entsprechende Diskussionen sowohl innerhalb der Hochschule als auch öffentlich weiter zu führen.

Hierfür stehe ich gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen,
Ralf E. Streibl

Literatur

Albrecht, S.; Bieber, H.-J.; Braun, R.; Croll, P.; Ehringhaus, H.; Finckh, M.; Graßl, H.; von Weizsäcker, E.U. (Hrsg.) (2009): Wissenschaft – Verantwortung – Frieden: 50 Jahre VDW. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag.

Bundesministerium der Verteidigung/BMVg (2016a): Projekt Digitale Kräfte (Website).

Bundesministerium der Verteidigung/BMVg (2016b): Die Bundesministerin – Tagesbefehl 26.04.2016 (CIR).

rpm (2016): Verwaltungsdienst – Kooperation mit fünf Hochschulen. bundeswehr-journal.de, 8. Mai 2016.

Brössler, P.; Biskup, H.; Rauschmayer, H. (1996): Damals hatte es ja keine Bedeutung – Ein Softwarehaus stellt sich der Gewissensfrage. FifF-Kommunikation, 13(3), S. 28-34.

Fuchs, A. (2004): Vom »neuen Denken« zur »neuen Weltordnung«. In: Sommer, G.; Fuchs, A. (Hrsg.): Krieg und Frieden – Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie. Weinheim: Beltz, S. 237-249.

Galtung, J. (1998): Frieden mit friedlichen Mitteln – Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen: Leske + Budrich.

Hochschule Bremen/HSB (2012): Zivilklausel der Hochschule Bremen. Beschluss des Akademischen Senats vom 12. Juni 2012.

Kuipers, B. (2003): Why don’t I take military funding? Online unter web.eecs.umich.edu/­~kuipers/.

Liebert, W. (2005): Dual-use revisited – Die Ambivalenz von Forschung und Technik. Wissenschaft und Frieden, 23(1), S. 26-29.

Liebert, W. (2009): Umgang mit Dual-Use von Technologien und Ambivalenz in der Forschung. In: Albrecht, S.; Bieber, H.-J.; Braun, R.; Croll, P.; Ehringhaus, H.; Finckh, M.; Graßl, H.; von Weizsäcker, E.U. (Hrsg.): Wissenschaft – Verantwortung – Frieden: 50 Jahre VDW. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, S. 445-450.

Max-Planck-Gesellschaft/MPG (2010): Hinweise und Regeln der Max-Planck-Gesellschaft zum verantwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungsrisiken (beschlossen am 19. März 2010 vom Senat der Max-Planck-Gesellschaft).

Neuneck, G. (2009): Die deutsche Pugwash-Geschichte und die Pugwash-Konferenzen. Ursprünge, Arbeitsweise und Erfolge – Das Ende des Kalten Krieges und die Herausforderungen der Zukunft. In: Albrecht, S.; Bieber, H.-J.; Braun, R.; Croll, P.; Ehringhaus, H.; Finckh, M.; Graßl, H.; von Weizsäcker, E.U. (Hrsg.): Wissenschaft – Verantwortung – Frieden: 50 Jahre VDW. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, S. 378-392.

Nicklas, H. (1996): Erziehung zur Friedensfähigkeit. In: Imbusch, P.; Zoll, R. (Hrsg.): Friedens- und Konfliktforschung. Opladen: Leske+Budrich, S. 463-480.

Parnas, D.L. (2009): Ein Brief aus dem Jahr 1985. Retrospektive. FifF-Kommunikation, 26(1), S. 7-10.

Rotblat, J. (1995): Remember your Humanity. Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises.

Streibl, R.E. (2012a): Bremer Universität bestätigt Zivilklausel – Wichtiges Signal für Verantwortung in der Wissenschaft. Wissenschaft & Frieden, 30(1), S. 58-59.

Streibl, R.E. (2012b): It’s a Challenge – Militärische Roboterwettbewerbe. FifF-Kommunika­tion, 29(1), S. 21-25.

Winograd, T. (1985): Einige Gedanken zur finanziellen Fo?rderung durch das Milita?r. In: Bickenbach, J.; Keil-Slawik, R.; Löwe, M.; Wilhelm, R. (Hrsg.): Militarisierte Informatik. Schriftenreihe »Wissenschaft und Frieden« Bd. 4. Marburg/Berlin/Münster: BdWi/FIfF/Natwiss, S. 169-173.

Ralf E. Streibl ist Diplom-Psychologe und arbeitet hauptberuflich an der Universität Bremen im Fach Informatik sowie im Personalrat. Von 2000 bis 2016 war er zusätzlich als Lehrbeauftragter im Studiengang IFI an der Hochschule Bremen tätig. Er ist langjähriges Mitglied des Forum Friedenspsychologie sowie des Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortungen und dort auch Mitglied des Beirats.

„Dass wir zivilisiert sind, ist eine Lüge“

„Dass wir zivilisiert sind, ist eine Lüge“

Plinio Villagráh Galindo im Interview mit María Cárdenas

von Plinio Villagráh Galindo und María Cárdenas

Der guatemaltekische Künstler Plinio Villagráh Galindo stellte die Bilder für diese Ausgabe von W&F zur Verfügung. In seinen Werken beschäftigt er sich u.a. mit Gewalt, Polarisierung und ihren Folgen für die Gesellschaft und das Individuum. Für ihn ist Gewalt eine politische, soziale und historische Realität, deren Spuren im menschlichen Körper sichtbar werden. Deshalb versucht er, dieser Realität über eine Betrachtung dieser Spuren mittels Kollagen, Grafiken und Installationen näher zu kommen. Er befasst sich dabei auch mit der Kommerzialisierung von Kunst und dem Wunsch nach einer »schönen« Kunst, die jedoch den realen Schrecken der Welt verdeckt. Das folgende Interview erkundet die Hintergründe seiner Kunst und hilft, die Bilder in diesem Heft zu »entschlüsseln«. Eine Reihe seiner Werke steht unter arte-sur.org/artists/plinio-villagran-galindo-2 in Farbe online.

Maria: Plinio, wie bist du zur Kunst gekommen?

Plinio: Das begann, als ich an der Universidad de San Carlos in Guatemala-Stadt Architektur studierte. Mit einigen Freunden gründete ich das Kollektiv »La Torana«. Im Kollektiv arbeiteten wir mehr als zehn Jahre lang auf verschiedene Weise zusammen. Zuerst stellten wir lediglich zusammen aus, doch bald konzipierten wir auch gemeinschaftliche Kunstwerke und verknüpften in ihnen unsere jeweiligen Kunstformen, Methoden und Visionen. Unser Ziel war es, eine wahrhaft kollektive Kunst zu schaffen. Mein künstlerisches Leben ist also aus einem gemeinschaftlichen Projekt erwachsen. Gemeinschaft – das gibt es in Guatemala, einem sehr polarisierten Land mit ausgeprägter sozialer Schichtung, sehr selten.

Maria: Was meinst du mit gemeinschaftlicher bzw. kollektiver Kunst?

Plinio: Als ich noch Teil des Kollektivs war, dachten wir wirklich als Einheit. Wir entwickelten zu fünft eine gemeinsame Idee und setzten sie in einem gemeinsamen Werk um. Das Kollektiv funktionierte also wie ein einziges Gehirn. Jeder von uns hatte zwar seine eigenen Ideen, wir mussten uns aber gemeinsam darauf einigen, wie das Werk schließlich aussehen soll. Hier liegt der Unterschied zu einem herkömmlichen Kollektiv, in dem verschiedene Akteure zusammenarbeiten, denn wir erarbeiteten uns diese Kollektivität regelrecht durch Lernprozesse, Theoriebildung und Gruppenkritik.

Diese Zeit war außerordentlich lehrreich für mich, da ich hier lernte, meine Kunst aus einer gemeinschaftlichen Kritik heraus zu konzipieren. Wir arbeiteten auf Augenhöhe miteinander und befassten uns mit den spezifischen Problemen, denen die Kunst in einem gewaltsamen Kontext wie dem guatemaltekischen ausgesetzt ist. Als ich mit einem Stipendium nach Mexiko ging, verlief sich das Kollektiv. Doch die gemeinsame Zeit prägt uns bis heute.

Maria: Du hast von der Polarisierung in Guatemala gesprochen und davon, wie besonders es ist, in diesem Kontext gemeinsam Kunst zu machen. Wie hat dich diese Zeit der Gewalt während des Bürgerkriegs in Guatemala geprägt?

Plinio: Ehrlich gesagt, habe ich die Gewalt in Guatemala ganz anders erlebt als die Generation vor mir. Zudem bin ich zwar im Kriegskontext aufgewachsen, meine Familie war aber nicht politisch aktiv, sodass ich den Krieg vor allem indirekt, über die Zensur und die Selbstzensur, erfahren habe. Ich wuchs in einer »Kultur der Stille« auf.1

Maria: Wie hat dich und deine Generation diese Kultur der Stille in eurer beruflichen und persönlichen Entwicklung betroffen?

Plinio: Das wurde vor allem über Verbote transportiert, wie »davon redet man nicht«, »rede nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst«, »rede nicht so laut«. Die Kultur der Stille überschattet alles: die freie Fortbewegung, die Möglichkeit, sich frei auszudrücken, was du tun sollst und darfst. Dies hat mich und meine Generation in der Entwicklung eigener Positionen und dem Einüben, dem Formulieren von Widerspruch stark behindert. Ich habe versucht, diese Muster aufzubrechen. Allerdings ist es nicht einfach, sich von dem Gefühl zu befreien, dass du permanent überwacht wirst, denn genau das vermitteln uns unsere Eltern ständig. Gleichzeitig ist meine Generation im Vergleich zur vorherigen sehr apathisch. Die Geschichte hat uns enttäuscht – der Krieg ist zwar vorbei, es hat sich aber nicht wirklich etwas verändert. Viele soziale Probleme bestehen unverändert weiter.

Als die Friedensverträge unterzeichnet wurden, war ich ein Heranwachsender; ich erlebte also vor allem den Übergang vom Krieg zur Demokratie. Allerdings muss dazu gesagt werden, dass sich mit diesem Übergang lediglich die Form der Gewalt verändert hat – die Gewalt selbst ist nicht verschwunden. Es gibt heute aufgrund der sozialen Probleme im Land mehr Morde unter den Jugendlichen als früher. Die Gangs und der Drogenhandel sind das Ergebnis einer gesellschaftlichen Indifferenz, des Rassismus und der sozialen Ungerechtigkeit, in der wir leben – in der wir zur Kriegszeit lebten, und die im sozialen Gewebe noch immer weiterlebt. Die USA tragen für diese sozialen Probleme eine besondere Verantwortung, in ganz Lateinamerika, aber das ist ja nichts Neues.

Maria: Welche Rolle kann die Kunst in diesem Kontext spielen?

Plinio: Die Kunst muss von einem kritischen Bewusstsein ausgehen: Wir, die wir die Möglichkeit zum kritischen Denken haben, müssen uns dieser bedienen. Wenngleich auch die Kunst nicht die vielen schwerwiegenden Probleme, vor denen z.B. Guatemala steht, lösen kann, so kann sie doch zumindest Werkzeuge für das Denken und die Diskussion liefern. Wie aber schaffen wir die Nähe zur Öffentlichkeit? Mit dieser Frage haben sich schon Karl Marx und Walter Benjamin beschäftigt: Wie können diese Werkzeuge auch der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden? Diese Frage ist nach wie vor aktuell

Diesen Knoten versuche auch ich zu entwirren. Schau dir meine Arbeiten an: Sie befassen sich mit Sexualität, Gewalt, Tod. Aber in dieser markt- und konsumorientierten Gesellschaft, die Angst vor dem Tod und vor dem Zerfall hat, möchte niemand gespaltene Schädel sehen, so metaphorisch sie auch sein mögen. Die Zeichen des Todes waren noch nie angenehm für Menschen. Aber wie willst Du sonst ein Bewusstsein, ein Gewissen schaffen? Mit Blümchen und bepinseltem Porzellan?

Maria: Wenn du Guatemala und Mexiko vergleichst, welche Ähnlichkeiten und Unterschiede siehst du?

Plinio: Na ja, Mexiko und Guatemala haben eine große indigene Bevölkerung, wir essen Bohnen und Tortillas und haben »eine große prähispanische Vergangenheit«. Jenseits der Tourismusklischees jedoch, kritischer gesehen, springen ganz andere Ähnlichkeiten ins Auge: der Rassismus, die Homophobie, der Sexismus, ein armseliges Justizsystem. In Mexiko wie in Guatemala gilt es als angenehmer, den Indigenen als Skulptur oder in einem Gemälde zu betrachten als in seiner realen und wahrhaftigen Existenz.

Auf der anderen Seite unterscheiden sich Mexiko und Guatemala in ihrer Konstituierung als Nation und hinsichtlich der Rolle der Kunst in diesem Zusammenhang sehr stark. Mexiko visualisierte seine Konstituierung als »heroische Nation« mittels Statuen, Theaterstücken, Kinofilmen und Wandmalereien. Der mexikanische Staat sah sich schon früh als Nation der Denker und Intellektuellen und hat diese Wahrnehmung seither immer gefördert. Guatemala hingegen war ein Land der ignoranten Großgrundbesitzer, ein durch und durch latifundistischer und ausbeutender Staat. Dies wirkt sich auf die Kunst aus: Guatemala hat Ausstellungsräume, Mexiko hat Museen.

Maria: Du sprichst davon, dass die Indigenen nur als folkloristisches Objekt Eingang in die Massenkultur Guatemalas gefunden haben bzw. nur als solches existieren dürften. Wie gehen du und andere kritische Künstler mit dieser Entmündigung um?

Plinio: Ich setze an ihrer eigenen Strategie an, das heißt, ich zeige diese unterdrückerischen Elemente, allerdings stelle ich sie neben archetypische Schönheit. Meine Bilder sind immer Referenzen auf die Gewalt, die ich aber mit der Schönheit vermische, die die Menschen eigentlich sehen wollen. So versuche ich, die Betrachter zu konfrontieren und ihre Sehgewohnheiten zu stören.

Nimm zum Beispiel das Werk, bei dem ich den Kopf eines Geköpften dreimal nebeneinander in Farbpaletten von Blau und grün abbilde und darunter ein Landschaftsbild von Humberto Garavito, einem sehr bekannten guatemaltekischen Maler stelle (siehe Abbildung auf auf S. 27). Dieser hat seine Kunst an die reichen Konservativen verkauft, die einfach nur ein schönes Landschaftsbild haben wollten. Bei seinen Landschaftsbildern sind die Indigenen immer als Objekt im Bild dem Malerischen untergeordnet; der Indigene fungierte in diesen Bildern lediglich als Maßstab, um die Perspektiven und Größenverhältnisse des Bildes besser zur Wirkung zu bringen. Diese scheinbare Schönheit des Bildes des guatemaltekischen Künstlers versuche ich durch die Konfrontation mit den Köpfen zu entmachten, denn diese stören den Betrachter in seinem Wunsch, nur das Schöne und Angenehme zu sehen.

Maria: Lass uns zur Gewalt zurückkommen. Wie hat das Aufwachsen in einem Kontext von Gewalt dich und deine Arbeit als Künstler beeinflusst?

Plinio: Ich komme aus dem Mittelstand. Mein Vater war Arzt und absolvierte sein praktisches Jahr in den Departments, die am meisten vom Krieg betroffen waren. Mein Bezug zum Krieg entstand durch die Aufzeichnungen, Dokumente und Fotografien, die er während seiner Studienzeit dort gemacht und aufbewahrt hatte. Eine wichtige Rolle spielten auch seine Bücher über Krankheiten und Obduktionsmethoden, der »Netter« (Atlas der Anatomie) etc. Dabei war mein Vater mit diesem Beruf nicht glücklich – er hatte immer Soldat werden wollen. Für mich ist dies völlig unverständlich und widersprüchlich und hat mich Zeit meines Lebens begleitet, als etwas Ungelöstes, Stilles. Die Beziehung zu meinem Vater wurde dadurch sehr geprägt, eine verbale Kommunikation zwischen uns war quasi inexistent.

Die Frustration meines Vaters, kein Soldat geworden zu sein, hat dazu geführt, dass ich mich mit den Widersprüchen in seinem Leben auseinandersetze, damit, wie er eine Antithese entwirft: Eigentlich liebt er das Militär, und das steht für Tod bzw. Töten. Und dann entscheidet er sich, Arzt zu werden, was das Synonym für Heilen ist. Diese Antithese spiegelt sich heute in meinen Werken wider.

Über das Fernsehen habe ich indirekt dann doch am Krieg teilgenommen. Die Strategie des Terrors, die über das Fernsehen verbreitet wurde, war sehr effektiv. Ich erinnere mich noch heute an die öffentliche Erschießung zweier Männer, die eines frühen Morgens im Fernsehen übertragen wurde. Sie hatten ein Mädchen entführt und vergewaltigt. Ziel war es, der Bevölkerung Angst zu machen und sie einzuschüchtern. Meine Eltern hatten mir verboten, es anzuschauen, also sah ich mir das heimlich an.

Maria: Und was für eine Beziehung zur Gewalt hast du heute? Zieht dich die Gewalt auf gewisse Weise an?

Plinio: Der Punkt ist nicht, ob Gewalt mich anzieht. Für mich ist sie ein existentieller Bestandteil des Lebens. In meiner Arbeit zeige ich sie, um dem anderen zu sagen: Schau her, das bist du, das sind wir. Es ist eine Lüge, dass wir zivilisiert sind. Die Aufklärung und der technische Fortschritt haben nichts gebracht. Schau dir an, unter welchen Bedingungen viele Menschen leben. Der Mensch wird immer eine wilde Gattung sein. Und doch, trotz all dem, entsteht Kunst. Das ist ein Mysterium.

Maria: Wir werden immer Wilde sein? Denkst du also, dass Gewalt und Brutalität quasi wie ein Gen in unserer Natur liegen und wir nichts dagegen machen können, dass es kein Mittel dagegen gibt?

Plinio: Ich denke dass es sehr wohl ein Gen gibt, nicht ein Gen der Gewalt – das Wort »Gewalt« ist ja durch menschliche Normativität geprägt. Tiere beispielsweise sind nicht gewalttätig, wir können ihr Handeln nicht unseren Geboten unterwerfen. Ich denke vielmehr, dass wir einen Instinkt haben, den wir nicht leugnen können, und um dies zu veranschaulichen, muss man sich nur einmal ein Fussballspiel näher anschauen. In vielen Fällen sind Fußballspiele ein Spektakel der Barbarei, das nicht kontrollierbar ist. Die Gewalt äussert sich hier in der Zerstörung von Gegenständen, aber auch in der Intoleranz, der Homophobie, dem Machismo, etc. Zeigt sich dort etwa – und das trotz aller Zivilisationsprozesse – nicht dieses Gen, welches uns so unverhältnismäßig handeln lässt? Selbst die gebildetsten Akademiker sind vor diesem Verhalten beim Fussball nicht gefeit.

Ich denke, die Bildung, die Herausbildung des Bewusstseins und die Entwicklung eines Subjekts, welches selbstbewusst ist, das sind positive Aspekte der emanzipatorischen Prozesse sozialer Gesellschaften. Aber selbst diese emanzipatorischen Prozesse bauen letztlich doch auf einem Teppich voller Leichen von bereits Besiegten auf. Diese Absurdität ist es laut Erasmus von Rotterdam, worauf die Zivilisation aufbaut. Das selbstbewusste Subjekt, welches zu sein wir anstreben – das ist durchaus möglich, allerdings kein Schicksal und kein Garant. Dieses Gen, von dem ich spreche, es kann in jedem Moment wieder ausbrechen. Ich meine nicht, dass wir den Status quo anerkennen sollten, sondern dass wir in unseren Gesellschaften und von uns selbst ausgehend im Rahmen unserer Möglichkeiten Denkstrukturen und ein Bildungshandwerk aufbauen sollten, welches es uns ermöglicht, den Ausbruch dieses Gens sinnvoll zu steuern.

Maria: Kunst hat also eine besondere Verantwortung, quasi einen Bildungsauftrag?

Plinio: Kunst ist für mich in erster Linie ein Selbstzweck. Aber sie nimmt ihr Umfeld und dessen Phänomene in sich auf und spiegelt sie dann wider. Kunst ist keine Technik, keine Kunstfertigkeit, keine Genialität, sondern ein menschliches Produkt. Unnütz, an sich, denn sie hilft dir in deinem Leben nicht weiter. Andererseits hilft sie dir doch: Sie zeigt dir, dass du ein Mensch bist, der fähig ist zur Reflexion, der kritisch mit der Realität, in der er lebt, umgehen kann.

Kritisch sein wiederum bedeutet für mich, eine Beziehung zu deinem Kontext zu pflegen und zu wissen, was passiert, es auseinander zu nehmen, zu studieren, um es zu verstehen. Etwas aus deinen eigenen Werkzeugen zu machen. Ich möchte nicht missverstanden werden: Die Kunst ist kein Sozialaktivismus, keine direkte Politik. Es ist ein Unterschied, ob wir Gegebenheiten aufnehmen, um aus ihnen heraus einen spezifischen Vorschlag herauszuarbeiten, oder ob wir sie wie ein Pamphlet hochhalten.

Maria: Wie wirkt sich Gewalt heute auf deine Arbeit und dein Leben aus?

Plinio: Hier in Mexiko bin ich ein freier Mensch – auch in Guatemala könnte ich es jetzt sein, denn das Land hat sich sehr verändert. Gewalt und Tod sind heute seltener geplant und nicht mehr so persönlich, eher zufällig: Ich fahre im Bus, und auf einmal werde ich von einem verirrten Schuss getroffen, oder ich sterbe bei einem Überfall.

Auf der anderen Seite ist diese Freiheit nicht absolut. Die kapitalistische Gesellschaft wird durch eine gesichtslose Gewalt beherrscht: ein Paar Prada-Schuhe, die so viel kosten, dass eine ganze Familie in Zentralafrika davon ein Jahr Essen kaufen könnte. Diese Gewalt ist obszöner, brutaler – und pornografischer als die Pornographie selbst. Die Gewalt, die durch den Kampf um Ideale entstand, ist aus meiner Sicht Vergangenheit. Andererseits – es werden noch immer Intellektuelle aufgrund ihrer Aussagen politisch verfolgt.

Maria: Du sagst, die Gewalt aufgrund der Verfolgung politischer Ideen sei Vergangenheit. In Guatemala gibt es aber doch immer noch politisch motivierte Gewalt. Was ist mit den Menschenrechtsverletzungen bei Minenprojekten, um die Widerstandsgemeinden einzuschüchtern? Wo liegt hier die Verbindung zwischen dem Kapitalismus als Unterdrücker und der Kunst als Mittel des Widerstands und der Kritik am Alltäglichen?

Plinio: Was ich sagen wollte ist, dass die Gewalt heute nicht mehr zwischen Rechten und Linken ausgetragen wird, sondern dass es heute um transnationale Interessen, den fortschreitenden Kapitalismus und den Bergbau geht, ohne Rücksicht auf Verluste, und das ist noch viel schlimmer. Der Kapitalismus ist eine Form von Gewalt, die im Verborgenen agiert und lernfähig ist. Die Gewalt des Kapitalismus bedient sich der Psychologie: durch den Konsumwahn, den Müll im Fernsehen, die Entfremdung. Dieses System nutzt die Verdinglichung als Werkzeug, um uns zu subjektivieren, in Dinge zu verwandeln und nicht in Personen. Die Kunst ist das Gegenteil davon. Sie zeigt, was die Menschen nicht sehen wollen, während der Kapitalismus, der das Begehren bedient, zensiert. Das Problem dabei ist allerdings, dass die Kunst in diesem holistischen kapitalistischen System nicht mehr getrennt von ihm existieren kann, sondern aufgrund der Marktdynamik innerhalb seiner Dialektik existiert: Auktionen, Kunstsammlungen, etc. Dies gegeneinander auszuhandeln, ist eine schwierige Aufgabe.

Maria: Was ist dein Eindruck von der Beziehung zwischen Gewalt, Krieg und Kunst in Guatemala und Mexiko?

Plinio: Ungeachtet der Unterschiede zwischen den Ländern, von denen ich vorher sprach, hat die zeitgenössische Kunst in beiden Ländern die gleiche kontextuelle Qualität – im Sinne einer Alternativen schaffenden und einschreitenden Kunst. Hieraus erwächst die besondere Bedeutung und Verantwortung, die Kunst hier hat: Sie ist ein Licht, welches die Dunkelheit der Ignoranz erleuchten kann. Der Bezug zu Gewalt kann helfen, eine Diskussion in Gang zu bringen, kritisch zu denken und eine Gemeinschaft zu gründen bzw. aufzubauen. Probleme wie Gewalt zu bekämpfen, ist eine Frage der kreativen Bildung. Das Problem ist, dass in Guatemala keine Räume hierfür existieren. Die kritische Kunst wird nicht gefördert; es gibt keinen Wunsch, Kunst als Diskussionsplattform zu verstehen und als solche zu stärken.

Maria: Eine letzte Frage: Du sprichst davon, dass die Kunst notwendig ist, um die Dunkelheit aufzuhellen? Wie funktioniert das?

Plinio: Die Kunst, wenngleich sie häufig als elitär bezeichnet wird, ist doch das einzige Medium, welches die Werkzeuge für Reflektion zur Verfügung stellt. Sie ist das Schlachtfeld der Ideen, der Kreativität, der Sensibilität als Waffe gegen die Gewalt.

Hiermit möchte ich gerne schließen: Die Kunst ist nicht elitär, sie formt eine Elite – das ist etwas anderes. Nehmen wir zum Beispiel die deutsche und französische Burgeoisie. Sie schufen das moderne westliche Denken. Die Aufklärung, die Emanzipation, das sind Ideen, die nicht aus der Masse erwachsen sind, sondern aus der Bourgeoisie. Das hat selbst Marx im ersten Teil von »Das Kapital« anerkannt. Die Bourgeousie ist der Vorreiter, zu ihr wird aufgeschaut. Aber die Industrialisierung und die Vermarktung haben die Kunst entwertet bis hin zu dem Punkt, dass sie selbst zum Ausbeuter wurde, ein Monster, welches den Westen zu dem gemacht hat, was er heute ist. Das Problem ist also nicht, dass es eine Bourgeoisie gibt, dass die Kunst in Galerien verkauft wird und dass es Auktionen gibt. Das Problem ist, dass eben diese Bourgeoisie sich entmenschlicht hat, dass sie sich nicht (mehr) für eine gerechte Bildung und für den Aufbau einer Gesellschaft emanzipierter Subjekte interessiert. Eine solche Gesellschaft fehlt bis heute. Stattdessen sind wir in eine dunkle Vergangenheit zurückgekehrt, in der es neue Formen der Sklaverei gibt, neue Formen der Ausbeutung, ganze Länder, die in unvorstellbarem Elend leben. Es gibt keine Wertschätzung für das menschliche Leben und für die Menschlichkeit. Die Abschiebegefängnisse der USA sind dafür ebenso Zeugnis wie die haitianischen Mädchen, die sich aus Hunger prostituieren. Was, frage ich, bringt da die Kunst noch? Das ist eine Frage, die ich mir immer und immer wieder stelle – und die zu beantworten, das ist nicht einfach.

Anmerkung

1) Zum Thema »Stille« und den sozial- wie individualpsychologischen Langzeitfolgen des innerstaatlichen Konflikts in Guatemala siehe: María Cárdenas und Philipp Schultheiss: Das zerrissene Geflecht der Seele. Langzeitfolgen des Konflikts in Guatemala. W&F 2-2013, S.6-9.

Plinio Villagráh Galindo (35) aus Guatemala-Stadt lebt seit fünf Jahren in Oaxaca, Mexiko. Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr obduziert er die Welt und das Geschehen in dieser auf Leinwänden.
María Cárdenas ist Friedens- und Konfliktforscherin (M.A.), arbeitet momentan bei UNDP in Timor-Leste und ist Mitglied der W&F-Redaktion. Das Interview wurde über E-Mail und Skype geführt.

Bilder im Zeitalter des Drohnenkriegs

Bilder im Zeitalter des Drohnenkriegs

Tim Holert im Interview mit Felix Koltermann

von Tim Holert und Felix Koltermann

Am Rande der Tagung »Image Operations«, die im April 2014 in Berlin stattfand, führte Felix Koltermann ein Gespräch mit Tim Holert über »operative Bilder und die Funktion von Bildern in Kriegen.

FK: Die Tagung trägt den Titel »Image Operations«. Was verbinden Sie mit dem Begriff?

TH: Zum einen ist natürlich der Bezug zu Harun Farockis Begriff der »operativen Bilder« offensichtlich und auch gesucht. Farocki beobachtet seit Jahrzehnten mit den Mitteln des Dokumentarfilms unterschiedliche Kontexte der Bildgebung und der Transformation unseres weiterhin stark an Repräsentation und Abbildung orientierten Bildbegriffs. So ist ihm etwa bei den Simulationen, die in der Ausbildung von Piloten zum Einsatz kommen, aufgefallen, dass solche Bilder zu Bestandteilen einer funktionalen, technischen Umgebung geworden sind, die ein mehr oder weniger automatisches Handeln und Verhalten bedingen. Eine solche determinierende oder programmierende Funktion von Bildern bezeichnet Farocki als operativ.

Der Begriff der »Image Operations«, wie ihn die Organisatoren dieser Tagung verstehen, ist allerdings noch etwas weiter gefasst. Es geht hier nicht nur um die erwähnten, Handlungen und Entscheidungen konditionierenden Funktionen von Bildern in technisch kontrollierten Umgebungen, sondern um jene Bildoperationen, die beispielsweise Feindvorstellungen formen, zur Identifizierung mit Opfern oder Tätern auffordern und generell auf Meinungsbildung aus sind. Diese Operationen finden im Raum der Öffentlichkeit, der Zivilgesellschaft und der Medien statt; sie zeigen sich an den Bildpolitiken von Medienkonzernen oder Nichtregierungsorganisationen oder daran, wie Bilder von Staaten und der Wirtschaft zur Propagierung ihrer Ziele und zur Bewerbung ihrer Produkte eingesetzt werden.

Darüber hinaus wird in der Tagung an einen anderen, doch wieder näher an Farocki liegenden Begriff von Operativität oder Operationalität angeknüpft, der sich auf bildgebende Verfahren und deren Handlungen auslösende und steuernde Funktionen in den diagnostischen und therapeutischen Bereichen der modernen, in vieler Hinsicht digitalisierten Medizin bezieht. Also kann man von einer gewissen Öffnung und Erweiterung des Farockischen Begriffs sprechen.

FK: Muss man bei der determinierenden Funktion, die Bilder nach dieser Logik einnehmen können, verschiedene Kontexte unterscheiden, in denen Bilder operieren oder eingesetzt werden?

TH: Unbedingt. Ich würde davon abraten, einen Bildbegriff anzustreben, der wie ein Passepartout auf alle Kontexte passt. Das wäre vollkommen unangemessen. Dafür sind die spezifischen operativen Einsatzgebiete von Bildern tatsächlich zu unterschiedlich und bedingen auch jeweils die Wirkung, die Bilder haben können. Wenn man sich etwa klarmacht, wie das Militär die Zirkulation von Bildern kontrolliert und ganze Bildräume dem öffentlichen Blick beispielsweise durch Zensur verwehrt, dann ist offensichtlich, dass es weniger um Bilder als um asymmetrische Sichtbarkeiten geht, und die Verfügbarkeit visueller Daten immer auch deren Abwesenheit bedeuten kann. Für die einen sind sie entscheidende Hilfsmittel bei der Definition und Destruktion so genannter Zielpersonen (oder allgemeiner: »targets«), für die anderen bleiben sie mehr oder weniger »Bildgerüchte«, um welche sich Vorstellungen von militärischem Handeln ranken, die aber wiederum dort wirkmächtig werden können, wo diese Bildgerüchte öffentlich diskutiert werden.

FK: Gerade im Zusammenhang mit Bildern und Krieg ist immer wieder der Begriff des »Bilderkriegs« in Gebrauch. Meiner Wahrnehmung nach steckt hinter diesem Begriff auch eine Form der Versicherheitlichung des Bilddiskurses. Wie schätzen Sie das ein? Halten Sie es für produktiv, diese Rahmung »Bilderkrieg« zu benutzen?

TH: Ich halte ehrlich gesagt nicht allzu viel von dieser Formulierung. Natürlich erscheint die Metapher sehr griffig, jeder kann sich darunter irgendetwas vorstellen. Zugleich ist »Bilderkrieg« aber eine der ungenauesten Begriffsprägungen. Man muss bei der Verwendung des Begriffs »Krieg« sehr vorsichtig sein. Aufgrund seiner Kombination aus imaginativer Wucht und semantischer Vagheit lässt er sich ideologisch allzu leicht aufladen. Er wandert dann in unterschiedliche Bereiche, die als kriegerisch zu bezeichnen ihren wahren Charakter, etwa als Polizeiaktionen oder der immer umfassenderen Prägung des Alltags durch Aspekte von Sicherheit und Versicherheitlichung, verkennen. Wenn zwischen dem »War on Drugs« und dem »War on Terror« die Grenzen fließend werden, muss unterschieden werden zwischen der Militarisierung von polizeilichen Formen des Regierens und jener Rhetorik, die diese Militarisierung legitimiert und ihr eine – durchaus brisante – Evidenz und Plausibilität verleiht. So lädt auch die Verwendung der Formel »Bilderkriege« letztlich dazu ein, beide Bestandteile der Metapher, die jeweils für sich schon höchst vieldeutig sind, weiter zu verunklären.

FK: Heißt dies, dass in der Diskussion um die Funktion von Bildern in Kriegen auch eine Art von Ideologisierung des Diskurses stattfindet, die die Verschiebung der Auseinandersetzung vom eigentlichen Kriegsgeschehen zur Bildebene zum Ziel hat?

TH: Das wird mit Prägungen wie »image wars« oder »cyber wars« durchaus angestrebt. Man will damit die Vorstellung etablieren, dass sich das Kriegsgeschehen von den physischen Körpern und den Landschaften in die Virtualität von Bildern und Informationen verlagern lässt. Wie gesagt, ich halte nicht allzu viel davon, den Begriff Krieg in dieser oder anderer Weise zu dehnen.

Andererseits ist beispielsweise nicht zu leugnen, dass Datenverarbeitung und Kampfgeschehen unauflöslich miteinander verwoben sind. Die Realität militärischer Ereignisse ist nicht mehr ohne Bezug auf ihre kybernetische Dimension zu begreifen. Zwischen den computerisierten Plattformen militärischer Aufklärung, Überwachung und strategischer Planung und den handelnden (und leidenden) Personen in den physischen »Theatern« des Krieges besteht längst viel mehr als der gute alte Funkkontakt. Die Ebenen oder Räume des Bildlichen sind hier auf unterschiedliche Weise aktiviert. Das reicht von der Krypto-Propaganda des »embedded journalism« oder den neuen, in den sozialen Medien ausgeübten Formen verallgemeinerter Berichterstattung durch Bildreporter und Blogger, die sich außerhalb oder am Rand der Sphären des professionell organisierten Journalismus bewegen, bis hin zu per Satellit oder Drohne erhobenen Datenpaketen, die als Bilder auf den Monitoren der Kontrollräume und tragbarer Kommunikationsgeräte im Kampfgebiet ausgegeben werden.

FK: In ihrem Vortrag auf der Konferenz »Image Operations« haben Sie vor allem über den Drohnenkrieg referiert. Wie ist denn dort das Verhältnis? Spielen digitale Bildtechniken dort nicht eine entscheidende Rolle, weil sie diese Form der Kriegführung erst möglich gemacht haben?

TH: Ja. Aber es sind ja nicht nur Techniken der Bildgebung, sondern hoch entwickelte digitale Steuerungssysteme, die von satellitengestützten Verfahren bis zu eher traditionellen Radar- und Infrarotanwendungen reichen. Insofern wird man sich da sehr genau überlegen müssen, wie man den Bildbegriff in diesem Kontext kalibriert. Sicherlich ist es so, dass im Bereich der IRS (intelligence, reconnaissance, surveillance) nach wie vor auch die repräsentierenden Bilder eine große Rolle spielen, also beispielsweise die Full-Motion-Video-Feeds, welche die Drohnenpiloten und Bildanalysten am Boden auswerten und in Abstimmung mit den geheimdienstlichen und Regierungsstellen zur Definition bestimmter Missionen verwenden. Aber mit den traditionellen Konzepten und Performanzen des Bildes, die bis in die Renaissance und weiter zurück reichen, sind heute unauflöslich oftmals Bildlichkeiten verbunden, die sich weniger »visuell« als in mathematischen Formeln ausdrücken lassen.

Wenn das, was wir gemeinhin als »Bild« erkennen und begreifen, auch in seiner algorithmischen, vermeintlich nicht-ästhetischen Dimension theoretisch reflektiert wird, rückt ein angemessenes Verständnis des aktuellen Visuellen näher. Schlicht gesagt: Bilder sind ein Rohstoff, den Computerprogramme in eine Form bringen, die wiederum operativ »lesbar« ist. Nur in diesem Sinne lässt sich auch von einer Bildgestütztheit der Drohnenkriege sprechen. Noch einmal anders: Bilder in dem unmittelbaren Verständnis, das wir von ihnen haben mögen, »operieren« weiterhin in den neuen militärtechnologischen Assemblagen, aber man muss sie als Schnittstellen der Mensch-Maschine-Interaktionen, als komplexe Interfaces begreifen lernen, um von ihnen nicht länger eine Wahrheit über die Wirklichkeit zu erwarten. Andererseits könnte man auch sagen, dass Bilder letztlich immer schon, spätestens seit Erfindung der Fotografie, in dieser Weise – als auszuwertende Datensätze und Anlässe zur Mustererkennung und Feinbestimmung – verwendet wurden, zum Zwecke der Sichtbarmachung des Verborgenen und zur Produktion eines Ziels.

Ob eine Unterscheidung von unmittelbarer Bildevidenz und der Sprache der Codes und Algorithmen weiterhin sinnvoll ist, wo es um, wie es im Militärjargon heißt, tödliche »find, fix, and finish«-Missionen geht, berührt Fragen der Ontologie des Sichtbaren.

FK: Wenn wir nochmal zurückgehen zur visuellen Darstellung von Krieg: Was sind aus Ihrer Wahrnehmung die zentralen Veränderungen der letzten beiden Jahrzehnte?

TH: Eine immer wieder und zurecht zitierte Zäsur war der Zweite Golfkrieg von 1990/91, der die Fadenkreuz-Bilder aus den Köpfen der amerikanischen Marschflugkörper einführte. Diese Bilder haben die Vorstellung von Krieg und Kriegführung, von Sichtbarkeit und Sichtbarmachung militärischer Gewalt immens verändert.

Natürlich gab es auch schon im Ersten und Zweiten Weltkrieg Luftaufnahmen für Aufklärungszwecke, die auf militärische Entscheidungen direkten Einfluss nahmen. Oder man denke an den Vietnamkrieg und die spektakulären Bilder, die aus der Warte des Flugzeugs die Bombenteppiche und damit die (vermeintliche) Überlegenheit der amerikanischen Luftmacht dokumentierten. Aber mit den Entwicklungen seit den 1990er Jahren, zu denen auch satellitengestützte kartografisch-fotografische Erfassungen der Erde aus dem Orbit und die Einführung von Lokalisierungstechnologien wie GPS gehören, wurde die neoimperiale Vertikalität zu einem prägenden Element der Machtausübung.

Je mehr die dominante Visualität »top-down« organisiert ist, desto prekärer, aber auch wichtiger wird das Bildgeschehen am Boden. Der Bildjournalismus, ob nun von professionellen Reportern oder von »citizen journalists« betrieben, schildert und dokumentiert ja unter anderem jene Realitäten der Zerstörung, die von einer vertikalen Bild- und Kriegführung verursacht wurden. Die von Leuten am Boden gemachten Bilder sind auch deshalb von so großer Bedeutung, weil wir es heute vermehrt mit Bildern zu tun haben, die sich vom menschlichen Eingriff, vom menschlichen Auge und der Hand, die die Kamera hält, vollkommen befreit haben. Sie werden von Kameras produziert, die auf eine Rakete oder eine Drohne montiert sind. Das verändert auch die Vorstellungen darüber, wer der Agent oder die Agentin der Bildproduktion (nicht nur) in Kriegssituationen ist. Die Drohnen liefern Bilder genau diesen Typs und vermitteln damit das Gefühl, dass die Bildproduktion letztlich automatisiert und autonomisiert worden ist, also nur noch bis zu einem gewissen Grad menschlicher Kontrolle unterliegt.

Dazu kommen andere Veränderungen, wie die schon erwähnte »Einbettung« des Journalismus durch die USA, die zu Bildern des Krieges führte, die man so noch nicht kannte. Vieles, was nach »9/11« an neuen Bildsituationen durch die Krieg führenden Parteien angeregt und dirigiert wurde, ist relativ neu.

FK: Was bedeuten die von Ihnen geschilderten Veränderungen über Bildpraktiken im Krieg für den Konsumenten oder Rezipienten? Braucht es eine neue Bildkompetenz, oder was ist nötig, um diese Bilder überhaupt entschlüsseln und kontextualisieren zu können?

TH: Die erforderliche Bild- und Medienkompetenz ist schon eine andere geworden, weil man Bilder heute unter den Generalverdacht stellt, weitgehend manipulierbar zu sein. Dahinter steht das Wissen darüber, wie Bildbearbeitungsprogramme und die Digitalisierung auch zu einer Formbarkeit und zu einer Manipulierbarkeit des Bildes geführt haben.

Damit zusammen hängt auch die Frage, die beispielsweise von den öffentlich-rechtlichen Medienanstalten immer wieder gestellt wird, inwieweit etwa Handyvideos aus Kriegs- und Krisengebieten, die in die Nachrichten geraten, authentisch sind und inwieweit man von ihnen als dokumentarische oder journalistische Bilder im traditionellen Sinne der Profession sprechen kann. Immer mehr Akteure sehen sich ermächtigt, in die Rolle des Bildjournalisten zu schlüpfen. Das heißt, dass die Kompetenzen oder die Legitimitäten nicht mehr in der Weise festgezurrt sind, wie das traditionellerweise mit einem sehr strengen journalistischen Kodex der Fall gewesen ist, wo immer auch eine gewisse Professionalität der Ausgangspunkt war, um Bilder in den etablierten Medien überhaupt für satisfaktionsfähig zu halten.

Das heißt, auf der einen Seite braucht es zur Rezeption der Bilder eine veränderte, ausgeweitete Kompetenz, die vor allem die Überprüfung von Authentizität betrifft. Aber auf der Bildproduktionsseite zeigt sich eine veränderte Landschaft der Zuständigkeit und der Kompetenz.

FK: Bleibt damit dem Rezipienten letztlich nichts anderes übrig, als diese Kompetenz den Institutionen, die diese Bilder verbreiten, wie den klassischen Medieninstitutionen, zu überlassen, weil die Bildkompetenz so speziell ist, dass sie ein normaler Medienkonsument, der in Deutschland sozialisiert ist und kein spezielles Interesse an diesem Thema hat, eigentlich kaum haben kann?

TH: Ja, einerseits stimmt das. Weiterhin wird die Verantwortung für die Beurteilung von Bildern an die betreffenden Institutionen mit Deutungsautorität delegiert, oft auch sehr bereitwillig. Anderseits gibt es heute unendlich viel mehr Möglichkeiten, sich auch innerhalb kürzester Zeit gewisse Grundvoraussetzungen der Bild- und Medienkompetenz anzueignen. Das Internet und seine Infrastruktur der Suchmaschinen und Veröffentlichungsplattformen treibt einen förmlich in – natürlich stark formatierte – Praktiken der Produktion und Rezeption von »Bildern«. Gefordert (manchmal auch: gefördert) wird der angeblich selbstständige Umgang mit Bildern, die man in den sozialen Medien zirkulieren lassen soll. Das heißt, die Bereitschaft wird permanent geweckt und gesteigert, sich selbst ins Bild zu setzen und dabei auch als bildnerisch kreativ zu verstehen, was einhergeht mit einer erhöhten Laxheit oder Naivität im Umgang mit den besagten Plattformen, auf denen Bilder archiviert und verbreitet werden.

FK: Wenn wir abschließend nochmal auf den Zusammenhang von Bildern und Krieg schauen: Sind aus Ihrer Perspektive Strategien des Widerstands erforderlich, um Bilder aus dem militärischen Zusammenhang herauszulösen, und wie könnten diese aussehen? Braucht es vielleicht so etwas wie eine zivile Wiederaneignung des Bildes oder des Bildbegriffs?

TH: Ja, diese Notwendigkeit gibt es. Mir gefällt sehr gut, was die israelische Philosophin und Fototheoretikerin Ariella Azoulay dazu sagt. In Anlehnung an Rousseau, Benjamin, Arendt, Deleuze, Lyotard und andere schlägt sie – im konkreten Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts – den Begriff eines »fotografischen Sozialvertrags« vor. Damit verbunden ist der Gedanke, die Fotografie sei eine Praxis, bei der die verschiedenen an ihr beteiligten Akteure – die Kameras; diejenigen, die mit ihnen Fotos machen; diejenigen, von denen Fotos gemacht werden; diejenigen, die Fotos betrachten – in eine vertragsähnliche Beziehung zueinander treten, welche eine spezifische Form von Zivilität und Bürger_innenschaft sowohl herstellt wie bedingt.

Die Anerkennung des Anderen, die Verantwortung für das fotografisch Aufgenommene und für die je eigene Rolle in den Prozessen, die zu einer Fotografie führen, stören auf verunsichernde, politische Weise die Gewissheit über Eigentumsverhältnisse und Autorschaft. Einzelne Fotografien und »die Fotografie« als kooperatives oder konflikthaftes Ereignis werden in diesem Sinne zu einer geteilten, interaktiven und damit ethischen Angelegenheit. Die Betrachtung einer Fotografie erschöpft sich dann nicht in ihrer Interpretation entlang ästhetischer Kriterien, sondern involviert eine Verpflichtung, die Herrschaftsverhältnisse, die sich in ihr zeigen, mit den Kompetenzen einer Bild-Bürgerin oder eines Bild-Bürgers zu analysieren und zu kritisieren – und damit den Funktionen militärischer Kontrolle oder politischer Manipulation zu entwinden.

Zwischen den verschiedenen Seiten einer fotografischen Handlung entsteht also eine verpflichtende Bürgerschaft des fotografischen Bildes, die ich als Objekt, als Rezipient oder als Produzent annehmen kann. Dabei geht es nicht nur um Verantwortung im ethisch-moralischen Sinn, sondern um politisches Handeln in der Auseinandersetzung mit Bildern und mit Infrastrukturen der Bildlichkeit. Das betrifft auch und vor allem widerständige Bildpraktiken. Auf jeden Fall erscheint mir geboten, die Strategien des eigenen Bildhandelns diskursiv zu erfassen und sie gegebenenfalls zu verändern, um nicht in die Fallen einer bestimmten, abgelebten Vorstellung von Gegenpropaganda zu tappen, sondern ein aufgeklärtes Verständnis davon zu entwickeln, was es heißt, zu einem Akteur in Bildfragen zu werden – gerade dort, wo Bilder hochgradig militarisiert sind.

Ernste Spiele

Die Beziehung von Bildern, sowohl fotografischen wie computergenerierten, zum Krieg ist so vielschichtig und komplex, wie es das Geschehen des Krieges selbst ist. Bildgebende Verfahren haben eine immer größere Bedeutung in der zeitgenössischen Kriegstechnologie (siehe nebenstehendes Interview mit Tim Holert). Wie computergenerierte Bilder für das Training von Soldaten eingesetzt werden, ist noch bis Jahresende in der vierteiligen Werkreihe »Ernste Spiele« von Harun Farocki zu sehen, die in der gleichnamigen Ausstellung im Berliner Museum für Gegenwartskunst (Hamburger Bahnhof) gezeigt wird.

Das Simulieren von Krieg ist heute nicht nur ein elementarer Teil von Computerspielen, sondern auch zentraler Bestandteil der Einsatzvorbereitung von Soldaten, insbesondere in der US Army. Farockis Werkzyklus »Ernste Spiele« greift dieses Thema auf und zeigt verschiedene Möglichkeiten der Nutzung computergenerierter Bilder. Mit dem Titel der Arbeit greift er den Begriff der »Serious Games« auf, mit dem digitale Spiele bezeichnet werden, die nicht der Unterhaltung, sondern dem Training bestimmter Gruppen – in diesem Fall Soldaten – dienen.

Der Videozyklus »Ernste Spiele« hat dokumentarischen Charakter und wurde auf US-amerikanischen Militärbasen gedreht. Er umfasst vier Teile, die unterschiedliche Aspekte der Nutzung von Videospiel-Simulationen für das militärische Training der US-Armee zeigen. Im ersten Film, »Ernste Spiele I: Watson ist tot«, sind amerikanische Rekruten zu sehen, die in der digitalen Simulation einer Übung mit Militärjeeps durch eine Wüstenlandschaft fahren und dabei verschiedene Aufgaben bewältigen. Das Video »Ernste Spiele II: Drei tot« zeigt junge Rekruten bei einem simulierten Antiterroreinsatz gegen arabische Statisten auf einer Militärbasis in Kalifornien. In »Ernste Spiele III: Immersion« ist eine Testperson beim Einsatz einer Videosimulation zur Behandlung von Soldaten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung zu sehen. Im letzten Teil des Werkkomplexes, »Ernste Spiele IV: Eine Sonne ohne Schatten«, wird ein Ausbilder gezeigt, wie er die technische Beschaffenheit der Software vorführt, um die Computersimulationen für die Soldaten so realitätsnah wie möglich zu gestalten.

Auf anschauliche Art und Weise zeigt »Ernste Spiele«, welche sozialen und medialen Praktiken das Training für den Krieg mit sich bringt und welche mediale Hilfsmittel dabei zum Einsatz kommen. Die Grenze zwischen Videospiel und Simulation des Ernstfalls scheinen dabei fließend zu sein und orientieren sich allein am Ziel der in Farockis Arbeiten gezeigten Verfahren und Praktiken: der Perfektionierung des militärischen Handelns der Soldaten.

Die Ausstellung »Ernste Spiele« ist noch bis Anfang 2015 im »Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwartskunst« in Berlin zu sehen. Die Ausstellung ist Dienstag, Mittwoch und Freitag von 10 bis 18 Uhr, Donnerstag von 10 bis 20 Uhr sowie Samstag und Sonntag von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Weitere Informationen sind unter smb.museum/hbf zu finden . Eine Übersicht über Farockis Arbeiten findet sich auf der Webseite des Künstlers, farocki-film.de.

Felix Koltermann

Tim Holert ist ein in Berlin lebender deutscher Kunsthistoriker. Zusammen mit Mark Terkessidis gründete er das »Institute for Studies in Visual Culture«. Seit vielen Jahren forscht Holert zu bildwissenschaftlichen Fragestellungen, unter anderem zum Verhältnis von Bildern und Krieg. Holert veröffentlichte zahlreiche Monographien und Sammelbände, darunter das 2008 erschienene Buch »Regieren im Bildraum«.
Felix Koltermann ist Friedens- und Konfliktforscher, Trainer und Journalist. Er promoviert an der Universität Erfurt über die fotojournalistische Produktion in Israel und den palästinensischen Gebieten. Auf fotografieundkonflikt.blogspot.com bloggt er zum Thema.

Y’en a marre: HipHop in Bewegung

Y’en a marre: HipHop in Bewegung

von Louisa Prause

„Die Menschen legen Hoffnung in ihre Stimme. Doch die, die wir kennen, haben uns verraten. Wir werden alles von Beginn an neu aufbauen müssen. Wir wollen dich nicht mehr, du wirst den Zorn des Volkes spüren. Dieses Land braucht neues Blut, es ist Zeit für dich, zu gehen.“ Diese Worte richtet der Rapper Fou Malade im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2012 in dem Lied »Doggali« an den ehemaligen senegalesischen Präsidenten Wade. Fou Malade ist ein Gründungsmitglied und Anführer der Bewegung »Y’en a marre« – übersetzt: Wir haben die Schnauze voll. Y’en a marre war eine der wichtigsten Gruppen bei den Massenprotesten gegen die dritte und verfassungswidrige Präsidentschaftskandidatur von Abdoulaye Wade. Dieser Artikel geht der Frage nach, wie Y’en a marre im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2012 HipHop und Rap für die politische Mobilisierung der Jugend nutzte.

18. Januar 2011: Die Rapper Thiat, Kilifeu, Simon und Fou Malade sitzen bei einem Glas Tee in der Wohnung des Journalisten Fadel Barro im Banlieue von Dakar, und zwar im Dunkeln. Der Strom ist ausgefallen, wie fast jeden Tag. Das ist der Moment, in dem die Freunde beschließen, dass es ihnen reicht: Sie gründen die Bewegung »Y’en a marre«. So erzählt Fadel Barro den Gründungsmythos der Bewegung (Interview mit der Autorin, Fadel Barro, 28.02.2012). Zunächst prangern die Rapper und der Journalist vor allem die steigenden Lebenshaltungskosten sowie die schlechte Strom- und Wasserversorgung in Dakar an. Als erste Aktion formulieren sie einen Beschwerdebrief an Präsident Abdoulaye Wade, den sie auf kleinen Märschen in den dakarer Banlieues verteilen.

Drei Monate später, es ist der Feiertag der »Alternance«, der zu Ehren des friedlichen und demokratischen Machtwechsels im Jahr 2000 gefeiert wird. Y’en a marre ruft zu einem Sit-In auf dem Place de l’Obélisque im Zentrum von Dakar auf. Hunderte überwiegend junge Aktivisten folgen ihrem Aufruf. Das Sit-In richtet sich gegen die Politik von Präsident Wade, den ehemaligen Helden der »Alternance«. Y’en a marre macht Wade für die sich verschlechternden Lebensverhältnisse großer Teile der Bevölkerung, besonders der Jugend, verantwortlich.

23. Juni 2011: Tausende Menschen blockieren in der Hauptstadt Dakar die senegalesische Nationalversammlung und legen das gesamte Stadtzentrum lahm. Sie wollen die Abstimmung über einen Gesetzentwurf des damaligen Präsidenten Abdoulaye Wade blockieren, der ihm die Wiederwahl mit nur 25% der Stimmen ermöglicht hätte. Zudem sollte das Amt eines Vizepräsidenten eingeführt werden. Der Posten, so vermuten die Protestierenden, ist für seinen Sohn Karim vorgesehen. Nach massiven Auseinandersetzungen zwischen den Protestierenden und der Polizei muss Wade noch am Abend desselben Tages den Gesetzentwurf zurückziehen – ein fulminanter Sieg für die Protestierenden.

Der 23. Juni ist ein Wendepunkt für Y’en a marre. Die Bewegung hatte die Proteste am Tag zuvor mit einem Sit-In, bei dem Thiat und Fou Malade, zwei ihrer Anführer, verhaftet wurden, initiiert und andere oppositionelle Gruppen zum Demonstrieren gedrängt. Die Bewegung war bei der Parlamentsblockade stark vertreten, gut zu erkennen an ihren markanten T-Shirts mit der Aufschrift »Y’en a marre«.

Sechs Monate später, 27. Januar 2012: Das senegalesische Verfassungsgericht erklärt die dritte Kandidatur von Abdoulaye Wade für die im Februar anstehenden Präsidentschaftswahlen für gültig, obwohl Wade selbst eine Begrenzung auf zwei Amtszeiten eingeführt hatte. Am Abend kommt es zu einer nicht genehmigten Massendemonstration von Y’en a marre, gemeinsam mit dem zivilgesellschaftlichen Bündnis »M23«, das aus den Protesten am 23. Juni hervorgegangen war. Die Versammlung wird nach einem gemeinsamen Freitagsgebet gewaltsam aufgelöst. Wenige Tage darauf rufen Y’en marre und M23 erneut zu einer Versammlung auf. Tausende kommen zum Place de l’Obélisque. Trotz Genehmigung der Versammlung wird der Platz erneut gewaltsam geräumt. Zwei Menschen kommen dabei ums Leben, viele werden verletzt.

11. Februar 2012: Y’en a marre veranstaltet erneut ein Sit-In mit mehreren tausend Anhängern auf dem Place de l’Obélisque, der inzwischen zum symbolischen Ort des Widerstandes gegen die erneute Kandidatur von Präsident Wade geworden ist. Per Abstimmung wird beschlossen, dass die Aktivisten den Platz dauerhaft besetzt halten wollen. Die versuchte Platzbesetzung einige Tage später wird von der Polizei jedoch verhindert.

Während des ersten und zweiten Wahlgangs der Präsidentschaftswahlen ruft Y’en a marre seine Anhänger nicht nur zur friedlichen Abwahl von Wade auf, sondern organisiert auch Wahlbeobachter in mehreren Wahllokalen.

24. März 2012: Der oppositionelle Präsidentschaftskandidat Macky Sall gewinnt die Stichwahl in einer weitgehend fairen und freien Wahl mit 65,8% der Stimmen.

Verwurzelt im HipHop-Milieu

Von Januar 2011 bis März 2012 schaffte es Y’en a marre, insbesondere die senegalesische Jugend zu einer Vielzahl von Protestaktionen zu mobilisieren. Ein Schlüssel für ihren Erfolg war dabei ihre enge Verbindung zur HipHop-Bewegung. Im Senegal gibt es seit den 1980er Jahren eine lebendige HipHop-Szene. Allein in Dakar wird die Anzahl der Rapgruppen auf über 1.200 geschätzt (Niang 2013). Von Beginn an nutzten die vier Gründungsmitglieder Thiat, Fou Malade, Kilifeu und Simon ihre Verbindungen zu anderen Rapgruppen, um eine lose Organisationsstruktur aufzubauen. In Dakar, aber auch in vielen kleinen Städten, bauten Rapper lokale Gruppen der Bewegung auf, von den Aktivisten selbst als »Esprits« bezeichnet. Die lokalen Gruppen mobilisierten in ihrem Umfeld und ihren Nachbarschaften für die großen Protestaktionen der Bewegung und setzten Kampagnen wie »Ma carte, mon arme!« (Mein Wahlzettel, meine Waffe!) um, welche die Jugend zur Abwahl von Wade aufrief.

Die Mitwirkung zahlreicher HipHop-Künstler garantierte der Bewegung einerseits einen einfachen Zugang zu den Fans der jeweiligen Gruppen. Diese sind offen für die Botschaft von Y’en a marre und dementsprechend einfach für Protestaktionen zu mobilisieren. Andererseits genießen die bei Y’en a marre aktiven Rapper aber auch bei großen Teilen der Jugend, die sich nicht dem HipHop zugehörig fühlen, großen Respekt. Die Anführer der Bewegung leben bescheiden und verfügen im Vergleich zu senegalesischen Politikern und religiösen Führern über wenig Geld. Die politische Elite des Landes unterstellte ihnen zwar die Annahme von Bestechungsgeldern, konnte dies aber in keinem einzigen Fall belegen; was ihnen bei der Jugend viel Legitimität und Anerkennung verschafft. Viele der bei Y’en a marre organisierten Künstler waren zudem schon vor der Gründung der Bewegung politisch aktiv. Die Grünungsmitglieder Thiat und Kilifeu sind im Senegal schon lange für ihr kritisches, politisches Engagement bekannt. Sie organisierten bereits Mitte der 2000er Jahre Protestaktionen gegen den Bürgermeister ihrer Heimatstadt Kaolack und wurden dafür verhaftet. Beide Rapper gelten durch ihr konsequentes und langfristiges politisches Engagement als sehr authentisch (Interview mit der Autorin, Abdoulaye Niang 3.2012).

Zum HipHop-Milieu gehören jedoch nicht nur Rapper und deren Fans, sondern auch Graffitikünstler, Produzenten, Tontechniker, Tänzer, Musikjournalisten und –blogger. Diese Netzwerke wussten die Aktivisten von Y’en a marre optimal zu nutzen. Die Bewegung hatte durch zahlreiche Radiosendungen, die sich mit Rapmusik beschäftigen, sowie einige Fernsehsendungen eigene Medienkanäle. Diese Sendungen richten sich primär an junge Senegalesen, die auch die wichtigste Zielgruppe von Y’en a marre waren. Die Bekanntheit der HipHop-Künstler trug zudem dazu bei, dass auch die senegalesischen Mainstream-Medien sowie die internationale Presse früh über die Bewegung berichteten.

Anschluss an senegalesische HipHop-Diskurse

Auch in der Begründung und Legitimierung ihres Protests greift Y’en a marre auf im HipHop-Milieu verbreitete und akzeptierte Diskurse zurück. Ein wichtiges Konzept, welches Y’en a marre während ihrer Proteste nutzte, war der »Nouveau Type de Sénégalais«, kurz NTS genannt. Der NTS stellt einen neuen Typ des senegalesischen Bürgers dar, der seine bürgerlichen Pflichten verantwortungsbewusst wahrnimmt, sich aktiv an der Gestaltung des Gemeinwesens beteiligt und zudem stolz darauf ist, Senegalese zu sein. Die Aktivisten von Y’en a marre bezeichneten sich selbst als NTS und sahen es als ihre Mission an, ihre Mitbürger von diesem Konzept zu überzeugen. Dazu gehören auch sehr praktische Verhaltensanleitungen, wie nicht mehr auf die Straße zu pinkeln und den Müll nicht mehr auf die Straße zu werfen, aber auch die alltägliche Korruption nicht mehr zu akzeptieren.

In der Form knüpft Y’en a marre damit an eine im senegalesischen HipHop verbreitete Vorstellung an, es sei Teil der Mission der Künstler, bei ihren Mitbürgern ein Bewusstsein für ihre Pflichten und Rechte als Bürger zu schaffen (Niang 2013, S.584). Inhaltlich schließen die Betonung von Eigenverantwortlichkeit und das Bild des verantwortungsbewussten Bürgers an die ebenfalls im HipHop-Milieu entstandene Bewegung »Bul Falé« der 1990er Jahre an. Die Bul-Falé-Idee bricht mit dem »traditionellen« Bild des fatalistischen Senegalesen, der an sein vorbestimmtes Schicksal glaubt und daher alle Eigenverantwortung abgibt. Bul Falé propagiert stattdessen das Bild eines durch harte Arbeit erfolgreich gewordenen Senegalesen (vgl. Ludl 2008). Y’en a marre nimmt dieses Konzept der Eigenverantwortlichkeit auf, bezieht es jedoch auf die Mitgestaltung der Demokratie und des Gemeinwesens, statt auf ökonomischen Erfolg.

Ein weiteres wichtiges Element in der Begründung und Legitimierung ihres Protests ist der patriotische Stolz auf ihr Land und die daraus resultierende Verpflichtung, das Land vor der schlechten Politik des Präsidenten zu schützen. Auch hier schließt Y’en a marre an dominierende Vorstellungen in der HipHop-Bewegung an. Bei seiner Entstehung in den 1980er Jahren war der senegalesische HipHop noch stark von amerikanischen Einflüssen geprägt. Der amerikanische Stil, sowohl im Rap als auch in der Mode, wurde kopiert. Dies hat sich seit Anfang der 1990er Jahre stark gewandelt. Die senegalesischen HipHopper entwickelten ihre eigene Form: im Rap, im Graffiti, im Tanz und in der Mode. Statt auf Englisch oder Französisch, begannen viele Künstler auf Wolof, der wichtigsten Sprache im Senegal, zu rappen. Mit dieser Aneignung des HipHop entwickelte sich auch eine eigene kollektive Identität der HipHop-Bewegung, bei der der Stolz darauf, Senegalese bzw. weiter gefasst Afrikaner zu sein, eine zentrale Funktion einnimmt (Niang 2011).

Rap und Set Settal als Form des Protests

Ein zentrales Werkzeug für die erfolgreiche Mobilisierung vor den Präsidentschaftswahlen 2012 war, dass die Rapper von Y’en a marre ihre Lieder nutzten, um ihre Botschaft zu verbreiten und für Proteste zu mobilisieren. Rapkonzerte und die Veröffentlichung kritischer Songs waren ein fester Teil ihres Protestrepertoires. Die Rapper der Bewegung produzierten ein gemeinsames Album, auf dem sie 18 Protestsongs gegen das Regime von Präsident Wade veröffentlichten. Die Songs »Faux! Pas Force!« sowie das eingangs zitierte Lied »Doggali« wurden bis zur Wahl von zahlreichen Radiosendern gespielt.

Rap ist als Protestform besonders wirkungsvoll, da diese Ausdrucksform offene, direkte Kritik an gesellschaftlichen Missständen ermöglicht. In den Liedtexten werden Politiker offen angeprangert, wobei die Rapper oft harsche und provokative Ausdrücke nutzen. In der senegalesischen Gesellschaft dominieren Zurückhaltung und Diskretion die sozialen Praktiken. Die direkte Benennung sozialer Probleme im Rap verstößt gegen diese gesellschaftlichen Normen (Maraszto 2002). Große Teile der Jugend, die im Senegal weitgehend aus dem politischen und öffentlichen Diskurs ausgeschlossen sind, schätzen daher Rap als Kunstform, die einen Raum für direkte und klar artikulierte Kritik schafft (Niang 2013). Y’en a marre nutzt die für den Rap typischen direkten und provozierenden Ausdrucksformen nicht nur in Liedtexten, sondern auch in ihren Slogans und ihrem Auftreten. Das beste Beispiel dafür ist der Name der Bewegung selbst: Y’en a marre – Wir haben die Schnauze voll (Prause März 2013).

Neben Rapsongs, Versammlungen und Demonstrationen gehörte zum Protestrepertoire von Y’en a marre auch, kollektive Aufräumarbeiten zu organisieren. Auf diese Weise eigneten sie sich den öffentlichen Raum an, machten ihn zu einem Ort politischer Auseinandersetzung und sorgten zugleich für ein gutes Image der Bewegung. Auch hier greift Y’en a marre auf eine im HipHop-Milieu entwickelte Protestform zurück. Anfang der 1990er Jahre prägten Akteure aus dem HipHop-Milieu, insbesondere Graffitikünstler, diese Form kollektiven Handelns unter dem Namen »Set Settal«, auf deutsch in etwa »Reinigung«. Der Name bezieht sich einerseits auf die Mobilisierung für kollektive Reinigung- und Müllbeseitigungsaktionen, andererseits auf eine moralische Säuberung der Gesellschaft von Korruption und Verbrechen (Diouf 1996, S.241). In diesem Sinne organisierte Set Settal kollektive Aufräumarbeiten in ihren lokalen Stadtvierteln, oft einhergehend mit der Bemalung von Wänden.

Fazit

Das Engagement von Y’en a marre schließt also an eine lange Tradition des politischen HipHop im Senegal an. Seit den 1990er Jahren ist die Benennung sozialer, politischer und ökonomischer Probleme ein zentrales Motiv der senegalesischen HipHop Bewegung. Y’en a marre nimmt Diskurse und Protestrepertoires früherer HipHop-Bewegungen, wie Bul Falé und Set Settal, in ihrem Protest auf. Das Netzwerk der HipHop-Szene, auf das Y’en a marre zugreifen konnte, war zentral, um eine lose Organisationsstruktur aufzubauen sowie Zugang zu den Medien zu erlangen – beides wichtige Faktoren für die erfolgreiche Mobilisierung der Bewegung. Darüber hinaus waren kritische Raplieder ein zentrales Werkzeug für Y’en a marre, um ihre Botschaft zu verbreiten und Kritik am politischen System und den sozialen Umständen zu üben und damit auch für ihre Demonstrationen und Sit-Ins zu mobilisieren.

Gerade hierin unterscheidet sich Y’en a marre von vorherigen Protesten der HipHop-Bewegung. Y’en a marre kombiniert künstlerische und kulturelle Formen des Protests mit konfrontativen Taktiken, wie Demonstrationen, Straßenblockaden oder Sit-Ins. Genau diese Kombination verschiedener Repertoires hat die erfolgreiche Umsetzung von kollektivem Protest ermöglicht, den Protest über das HipHop Milieu hinausgetragen und ihn damit für große Teile der Jugend attraktiv gemacht (Prause 2013, S.38).

Literatur

Mamadou Diouf (1996): Urban Youth and Senegalese Politics: Dakar 1988-1994. Public Culture 8 (2), S.225-249.

Fou Malade, Simon, Keyti, Cap 2 Seus, Général, Rauna niambou mbaam, Bra x-press, Djily 5kiém (2012): Doggali. Kassette, ohne Verlag.

Christine Ludl (2008): »To Skip a Step«. New Representation(s) of Migration, Success and Politics in Senegalese Rap and Theatre. Stichproben – Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien 8 (14), S.97-122.

Caroline Maraszto (2002): Sozialpolitische Wende? Zur Entwicklung des Rap im Senegal. Stichproben – Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien 4 (2), S.81-104.

Abdoulaye Niang (2011): »Nous le Hip hop, on le tropicalise«. Hip hop, engagement et renouveau panafricaniste. Konferenzpapier für die 13. Generalversammlung von Codesria: Africa and the Challenges of the Twenty First Century. CODESRIA; general.assembly.codesria.org.

Abdoulaye Niang (2013): Le mouvement hip-hop au Sénégal. Des marges à une légitimité sociale montante. In: Momar-Coumba Diop (ed.): Sénégal sous Abdoulaye Wade. Le Sopi à l‘épreuve du pouvoir. Paris: Karthala.

Louisa Prause (2013): Mit Rap zur Revolte: Die Bewegung Y‘en a marre. PROKLA 43 (1), S.23-42.

Louisa Prause (März 2013): Senegal: Y‘en a marre. Eine erfolgreiche Jugendrevolte. iz3w, März-April 2013 (335), S.13-15.

Louisa Prause ist Politikwissenschaftlerin und promoviert an der Freien Universität Berlin zu Konflikten um Land im Senegal.

Lebenslaute

Lebenslaute

Gewaltfreier Widerstand mit Konzertblockaden

von Gerd Büntzly und Ulrich Klan

Die gewaltfreie Bewegung hat auch in Deutschland seit Jahrzehnten in verschiedenen Regionen Kulturen des Zivilen Ungehorsams aufgebaut. Bekannt wurden vor allem der Widerstand im Wendland gegen das geplante atomare Endlager Gorleben oder der erfolgreiche Protest gegen das so genannte Bombodrom, einen geplanten Luftkriegsübungsplatz in Brandenburg. Gewaltlose, genau kalkulierte und inszenierte Gesetzesübertretungen möglichst vieler verschiedener Teile der Bevölkerung und öffentlichkeitswirksame symbolische Aktionen bringen die Spannung zwischen Recht und Gesetz, Legitimität und Legalität immer neu in Fluss, schaffen Aufmerksamkeit, nutzen und erweitern Spielräume des Widerstands und erinnern die Herrschenden daran, dass viele Gesetze und politische Maßnahmen nicht den Interessen der Menschen entsprechen, die sie zu vertreten vorgeben. Einer ungewöhnlichen Art des gewaltfreien Protests widmen sich die MusikerInnen der Lebenslaute.

Natürlich kommt es immer wieder zu gewalttätigen Protesten, der gewaltfreie Widerstand hat aber mehr positive und nachhaltige Veränderungen in der Gesellschaft bewirkt. Gewaltfreie Aktions- und Lebensformen verzichten auf (Be-) Drohung und gestalten eine Atmosphäre der Entspannung und des menschenfreundlichen Geistes, und zwar auf beiden Seiten, bei den AktivistInnen wie den »Anderen«. Die liebevolle und genaue Vorbereitung derartiger Aktionen sowie das intensive Training des gewaltfreien Dialogs wirken bis zu einem gewissen Grad »entwaffnend«, da sie Feindbilder der Polizei bzw. der Sicherheitsbeauftragten unterlaufen. Nicht zuletzt deshalb haben Gerichte schon mehrmals versucht, solche Trainings zu verbieten.

Der Verzicht auf atavistische Routinen des Auftrumpfens oder Drohgebärden erfordert von gewaltfreien Aktionen um so mehr Innovation und Phantasie. Daher spielen in gewaltfreien Bewegungen häufig KünstlerInnen und Formen der Kunst und Kultur eine große Rolle. In Deutschland macht sich die Initiative Lebenslaute seit mehr als einem Vierteljahrhundert ihre künstlerische Phantasie für gewaltfreien Widerstand zunutze.

Lebenslaute

Die Lebenslaute sind ein Zusammenschluss klassischer MusikerInnen – Professionelle wie Laien – sowie vieler UnterstützerInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ihre Spezialität ist ziviler Ungehorsam durch gewaltlose »Konzertblockaden« gegen Krieg, Unrecht und Zerstörung. Mindestens einmal im Jahr kommen größere oder kleinere Ensembles der Lebenslaute, immer in Zusammenarbeit mit örtlichen Widerstandsgruppen und vor Ort betroffenen Menschen, zusammen – an Raketendepots, Waffenfabriken, Abschiebe-Behörden, genmanipulierten Äckern oder anderen Plätzen, von denen Gewalt bzw. Zerstörung der Natur ausgeht.

Die AktivistInnen übertreten dort Gesetze und übersteigen Bauzäune oder Absperrungen. In Konzertkleidung und oft raumgreifenden Orchester-/Chor-Formationen besetzen sie Plätze oder Zufahrten. Mit geübten Stimmen und Instrumenten funktionieren sie »trockene Stellen« und »verbotene Orte« zur Musikbühne um, locken viele ZuhörerInnen und auch zahlreiche ReporterInnen an, tauchen Nato-Draht, Absperrgitter und Polizeikordons überraschend in eine Atmosphäre von Wohlklang und Schönheit – und stellen damit besonders effektive Sitzblockaden her. Im Zusammenspiel mit den ZuhörerInnen sind solche »Konzertblockaden« eine ebenso lustvolle wie gewaltlose Form, den Ablauf der bespielten Betriebe wirksam zu stören bzw. zum Erliegen zu bringen. Zuweilen helfen Aktionen der Lebenslaute, das tödliche Geheimnis bestimmter Orte wirksam ans Licht zu bringen: Die attraktive Art ihrer Auftritte popularisiert den Widerstand auch an verschwiegenen oder abgelegenen Orten.

Das hat Geschichte – und es fing an mit einer Idee dreier Musiker. Im Kontext des wachsenden weltweiten Widerstands gegen die Bedrohung durch sowjetische und US-amerikanische Atomraketen – konkret gegen die Stationierung von SS20- und Pershing-Raketen in der DDR und der BRD – wurde Ende August 1986 im schwäbischen Mutlangen die Aktionsform Lebenslaute aus der Taufe gehoben: Zwei Musikensembles – ein Sinfonieorchester und ein Chor – sorgten für Verblüffung und für Schlagzeilen, als 120 MusikerInnen in feiner Konzertkleidung und Hunderte HelferInnen und ZuhörerInnen sechs Stunden lang alle Zufahrten des Pershing-Depots dicht machten. Sie spielten dabei Beethovens »Egmont«-Ouverture und Schuberts »Unvollendete«. Die US-Soldaten und die Polizei waren ratlos, und die Tatsache, dass bei dieser Aktion auch prominente Tonkünstler und mehrere TV-Sender dabei waren, machte es ihnen nicht leichter.

Später unterstützten die Lebenslaute mehrfach örtliche Anti-Atom-Initiativen mit Konzertblockaden auf »verbotenem Gelände«, etwa in Gorleben oder Wackersdorf. »Konzertblockiert« wurden unter anderem auch die Rhein-Main Air Base am Frankfurter Flughafen zu Beginn des Zweiten Golfkriegs 1991, das geplante Bombodrom in Brandenburg, das Bundesinnenministerium in Berlin wegen seiner unmenschlichen Abschiebepraxis und die Rüstungsfirma Heckler & Koch in Oberndorf als größter Kleinwaffenhersteller Europas und Profiteur von Waffenexporten in viele Teile der Welt.

Musikalischer und künstlerischer Widerstand im Flughafen-Terminal

Wie läuft eine Lebenslaute-Aktion ab? Als Beispiel eine Momentaufnahme vom August 2011 im Flughafen Halle/Leipzig: Vier intensive Tage mit Proben, Diskussionen und gewaltfreiem Aktionstraining liegen hinter den fast 100 MusikerInnen und HelferInnen, die sich jetzt in der Abflughalle unauffällig unter die Passagiere mischen. Um Punkt 11 Uhr 30 formieren sich plötzlich ein großes Sinfonieorchester und ein Chor, im Rekordtempo und zugleich in größter Ruhe. Sicherheitsdienst und Polizei haben keine Chance, das zu verhindern, oder nur um den Preis, dass der gesamte Passagierbetrieb zum Erliegen käme. Presse- und Polizei-SprecherInnen der Lebenslaute binden die Akteure der Gegenseite. Die Konzertblockade startet mit bestgelaunter Musik von Joseph Haydn.

Warum diese Aktion an diesem Ort? Wie aus dem Nichts werden Transparente entrollt. AktivistInnen lassen von einer Empore die riesige Reproduktion eines Scherenschnittes herunter, geschaffen von dem Leipziger Künstler Jan Caspers. Das große Bild zeigt die erschreckende Szene eines Kriegstransportes: Soldaten, die aus einem Flugzeugbauch stürmen und zu schießen anfangen. Das bei einem Kunstwettbewerb der Stadt Halle ausgezeichnete Kunstwerk sollte schon einmal in eben diesem Flughafen hängen. Das hatte die Flughafengesellschaft damals in einem Akt der Zensur unterbunden.

Die Lebenslaute helfen hier, den geheim gehaltenen Missbrauch des »zivilen« Flughafens Halle/Leipzig aufzudecken: Dieser Ort ist Umschlagplatz für Truppen und schweres Kriegsgerät nach Afghanistan oder in den Irak. Jeder vierte Fluggast ist hier in militärischem Auftrag unterwegs in diese Kriegsgebiete. Diese Flüge werden nicht im Flugplan aufgelistet und sind ein schmutziges und profitables Geschäft für den Flughafen-Betreiber, die Kommunen und den Freistaat Sachsen.

In Kooperation mit örtlichen Friedensinitiativen erheben die Musiker von Lebenslaute ihre geübten Stimmen gegen das »Tabu« dieses Ortes, mit Musik auf hohem Niveau. Zum Beispiel aus Benjamin Brittens erschütterndem »War Requiem« und dem Anti-Kriegs-Oratorium »Das Alexanderfest« von Georg Friedrich Händel: Der Weltbürger aus Halle vertonte darin u.a. die Arie »Waffenhandwerk schafft nur Unheil«. Ohne Zwischenfälle gelingt es »spielend«, eine dreistündige gewaltlose Protestaktion im Flughafen durchzuführen. Auf die Drohung der Polizei, man werde Chor und Orchester räumen lassen, wird lächelnd weiter musiziert. Schließlich verzichtet die Flughafenleitung auf eine Räumung.

Als die Lebenslaute den »Jazz-Walzer« von Dmitri Schostakowitsch anstimmen, springt der Funke über: Viele ZuhörerInnen beginnen, sich im Tanz zu drehen. Auch wartende Flugpassagiere. Das Bild ist so ungewöhnlich wie anrührend: Warteschlangen in fröhlich-subversiver Bewegung – ein Hochglanzterminal lustvoll umfunktioniert. Die österreichische Dirigentin dieser Aktion sagt im Interview mit einem Rundfunksender: „Diese Verbindung von politischer Aktion mit klassischer Musik – das macht Lebenslaute so unwiderstehlich.“ 1

Musik ist subversiv

Von Daniel Barenboim, der zusammen mit seinem palästinensischen Freund Edward Said das israelisch-arabische West-Eastern-Divan-Orchester ins Leben rief, stammt das Bonmot: „Music is subversive.“ Damit trifft er kurz und bündig verschiedene Eigenschaften der Musik: ihre Kraft zur Überraschung und zur Freude, ihre Kraft, Bewegung und »swing« in festgefahrene, verkrustete Verhältnisse zu bringen, ihre Kraft, Grenzen zu überschreiten, Menschen zu vereinen, und ihre Kraft zur Heilung. Wo Musik beruhigend und entspannend wirkt, ist sie selbst ein Element von Gewaltfreiheit. Die Lebenslaute wählen eine spezifische Form der Musik, nämlich eine hoch artifizielle, die eine gründliche Vorbereitung erfordert. Dabei wird auch ein entscheidendes Element gewaltfreien Handelns eingeübt: Disziplin.

Musik kann, wie alle Kunst, auch das Lachen freisetzen, welches Herrschaft untergräbt. So haben sich bei Lebenslaute-Aktionen immer wieder satirische und kritische Musikstücke bewährt, etwa Mauricio Kagels »10 Märsche um den Sieg zu verfehlen«. Musik kann auf angenehme Weise auch Distanz und Reflexion schaffen: „Wir wollen an Orten, an denen Argumente nichts mehr bewirken, Musik als abstrahierendes Element einsetzen, um so auf die Absurdität der Situation hinzuweisen“, so eine Teilnehmerin der Lebenslaute-Aktion 2012 vor der Waffenfabrik Heckler & Koch in Oberndorf am Neckar.

Musik, Kunst oder Performance, wie sie von den Lebenslauten gemacht werden, sind nicht exklusiv und niemals nur Mittel zum Zweck. Sie sind nicht weniger als attraktive, erstaunliche, unabgenutzte Formen des Liebens, des Lebens und des Widerstands. Unsere eigenen Formen, wenn wir sie uns aneignen oder selbst kultivieren. Wir sind am lebendigsten mit dem, was wir mit größter Lust und Liebe tun. Und was wir am besten können, das überzeugt am meisten. Uns selbst und andere. Hier könnten Lebenslaute ein Modell für jede andere Menschengruppe sein, die ihr Können und ihre Lust in den Widerstand einbringen will. Warum dem Ton und dem Trott folgen, den andere vorgeben, wenn mensch die eigene Stimme finden kann?

In Aktionen des zivilen Ungehorsams, zumal in künstlerischen oder musikalischen, gilt jedoch: Sie müssen gut gemacht sein. Es soll schön sein, sie zu erleben. Oder »schön hässlich«. Und insgesamt heiter. Wenn wir provozieren, dann mit Grazie und auch mit Selbstironie. Die Wirkung auf alle, die da sind, ist um so tiefer, je inniger, witziger, authentischer und virtuoser wir sind. „Schlechte Töne, Texte, Bilder oder Happenings sind gerade im Widerstand nicht erlaubt.“ 2

Anmerkungen

1) graswurzel.tv (2011): piano und forte statt Kriegstransporte – LL-Aktion 2011 im Flughafen Halle/Leipzig. Kurzfilm.

2) Ulrich Klan (2000): Ungehorsam, lachend, zivil. In: Wolfram Beyer (Hrsg.): Kriegsdienste verweigern – Pazifismus heute. Hommage an Ossip K. Flechtheim. Berlin: Humanistischer Verband Deutschlands, Landesverband Berlin-Brandenburg.

Gerd Büntzly ist Musiker und Übersetzer in Herford.
Ulrich Klan ist Musiker, Komponist, Autor und Pädagoge in Wuppertal. Er ist aktiv bei den gewaltfreien Ensembles Lebenslaute und »Fortschrott – Musksatire« sowie Vorsitzender der internationalen Armin T. Wegner-Gesellschaft.
Die Lebenslaute erhalten für ihr dauerhaftes, phantasievolles und effektives Friedensengagement zusammen mit der US-Gruppe CODEPINK 2014 den Aachener Friedenspreis.

Kunst gegen den Krieg – Kunst für den Frieden

Kunst gegen den Krieg – Kunst für den Frieden

von Bentje Woitschach

Kunst ist in erster Linie Selbstzweck. Sie lebt von freier Entfaltung und orientiert sich vorwiegend an ästhetischen Kriterien. Im Mittelpunkt steht die ästhetische Erfahrung, weniger die Verfolgung eines festgelegten Zwecks. Kunst findet aber nie losgelöst von ihrer Umgebung statt, vielmehr werden in Kunstwerken individuelle oder gesellschaftliche Verhältnisse ausgedrückt und reflektiert. Kunstwerke können den Wissenshorizont ihrer Rezipienten erweitern, durch Ironie, Wiedererkennungs- oder Verfremdungseffekte ihre Weltsichten herausfordern oder gesellschaftliche Missstände kritisieren. Solche Funktionen von Kunst stehen nicht im Widerspruch zum künstlerischen Selbstzweck. Kunst lebt von künstlerischer Freiheit, ist aber ihrerseits der Gesellschaft verpflichtet. »Die Kraft der Künste« – so lautet der Titel dieses Heftes. Dazu der guatemaltekische Künstler Plinio Villagráh Galindo in seinem Interview: „Die Kunst, wenngleich sie häufig als elitär bezeichnet wird, ist doch das einzige Medium, welches die Werkzeuge für Reflexion zur Verfügung stellt. Sie ist das Schlachtfeld der Ideen, der Kreativität, der Sensibilität als Waffe gegen die Gewalt.“ Damit verweist Villagráh Galindo auf den inhaltlichen Zusammenhang der beiden großen Themenfelder in dieser Ausgabe: die Verbindung von Kunst zu Krieg und Frieden. Wie greift Kunst das Thema Krieg und Frieden auf? Mit welchen ästhetischen Mitteln wird das Unfassbare ausgedrückt? Wie positionieren KünstlerInnen sich selbst und ihr künstlerisches Werk in diesem Zusammenhang?

Aus unterschiedlichen Blickwinkeln wird in dieser Ausgabe gefragt, welche spezielle »Kraft« die Kunst entfalten kann in ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema Krieg und Frieden. Dies kann sowohl eine positive, also gewaltkritische, wie auch eine negative Kraft sein. So beschreibt Benjamin Hilger in seinem Artikel über Krieg und Musik, wie musikalische »Schlachtengemälde« und Triumphlieder den Krieg verherrlichen. Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche gewaltkritische Werke von Beethoven über Schönberg bis hin zu Nono. Auch im musikalischen Bereich angesiedelt, aber in völlig anderem Kontext stehen die von Jürgen Nieth zusammengestellten politischen Lieder der Friedensbewegung: „Nie, nie woll‘n wir Waffen tragen, nie, nie woll‘n wir wieder Krieg. Lasst die hohen Herrn sich selber schlagen, wir machen einfach nicht mehr mit.“

Einen Blick über den westlichen Kulturkreis hinaus wagt Friederike Pannewick in ihrem Artikel über politische Literatur in der arabischen Welt: Einem Klima der Zensur und eingeschränkten Meinungsfreiheit ausgesetzt, bedienen sich arabische Schriftsteller vielfach dem Mittel der Subversion, um ihre politischen Botschaften zu transportieren. Steffen Bruendel hingegen rückt die spezielle Situation der KünstlerInnen zur Zeit des Ersten Weltkrieges ins Blickfeld. Einige Kunstschaffende sahen anfangs voller Euphorie dem Krieg entgegen und wechselten freiwillig vom Atelier an die Front. Zutiefst erschüttert von ihren Erfahrungen, wandelten sich aber viele im Laufe der Zeit zu vehementen Kriegsgegnern und verliehen ihren schockierenden Erlebnissen in Gemälden und Skulpturen künstlerischen Ausdruck. Was Theater mit Konfliktbearbeitung zu tun hat, beschreibt Linda Ebbers in ihrem Artikel über das Theater der Unterdrückten. Dabei steht der Dialog zwischen Schauspielern und Zuschauern im Mittelpunkt: Das Publikum greift aktiv in das Geschehen ein, so dass die Grenzen zwischen Bühne und Publikum verschwimmen. Ziel ist es, durch die Auseinandersetzung mit konkreten Konflikten eine gesellschaftliche Transformation zu erreichen.

Die vorliegende Ausgabe thematisiert nicht nur das Verhältnis verschiedener Kunstrichtungen zu Gewalt, Krieg und Frieden, sondern rückt auch die KünstlerInnen selbst ins Blickfeld. So äußert sich der guatemaltekische Künstler Plinio Villagráh Galindo, dessen Bilder in diesem Heft zu sehen sind, über sein Kunstverständnis: „Die zeitgenössische Kunst [hat] die gleiche kontextuelle Qualität – im Sinne einer Alternativen schaffenden und einschreitenden Kunst. Hieraus erwächst die besondere Bedeutung und Verantwortung, die Kunst hier hat: Sie ist ein Licht, welches die Dunkelheit der Ignoranz erleuchten kann. Der Bezug zu Gewalt kann helfen, eine Diskussion in Gang zu bringen, kritisch zu denken und eine Gemeinschaft zu gründen bzw. aufzubauen.“ Die Mobilisierungskraft einer einschreitenden Kunst zeigt eindrucksvoll der Artikel von Louisa Prause über die senegalesische HipHop-Bewegung »Y’en marre«. Die KünstlerInnen nutzten sowohl ihre Lieder und Texte als auch das breite Netzwerk der mit ihnen verbundenen Aktivisten, um Protest gegen die verfassungswidrige Wiederwahl des Präsidenten zu mobilisieren.

Wie zeitlos die »Kraft der Künste« und ihre Botschaften sind, zeigt ein Ereignis aus dem Jahre 2003. Im Vorraum des Sitzungssaales des UN-Sicherheitsrats in New York hängt eine Kopie von Picassos Guernica, des bekanntesten Anti-Kriegs-Gemäldes des 20. Jahrhunderts. Als US-Außenminister Powell dort im Februar 2003 seine Gründe für einen Krieg gegen den Irak erläuterte, wurde das Gemälde verhängt. Picassos bildhafter Aufschrei gegen den Krieg war offenkundig kein angemessener Hintergrund für das Vorhaben der USA, neues Leid über die Welt zu bringen.

Ihre Bentje Woitschach

Hauptsache gut gemeint?

Hauptsache gut gemeint?

Die friedensethische Bilanz der EKD zum Afghanistan-Krieg

von Albert Fuchs

Mit Blick auf das bevorstehende Ende des internationalen militärischen Engagements in Afghanistan hat die EKD unlängst eine bilanzierende Stellungnahme vorgelegt. Gefragt wird insbesondere nach der Bewährung des (groß-) kirchlichen friedensethischen Leitbildes eines gerechten Friedens im (militärischen) Einsatz. Die Autorinnen und Autoren des EKD-Papiers halten die Leitidee des gerechten Friedens für grundsätzlich bewährt. Unser Autor problematisiert die Rahmensetzung und findet die Bewährungsfrage großteils nicht überzeugend bzw. unhaltbar beantwortet. Jedenfalls werde kein Ausweg aus der »Militärgewaltfalle« aufgezeigt.

Unter dem Titel »„Selig sind die Friedfertigen“ – Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik« hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) unlängst eine bilanzierende friedensethische Stellungnahme zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr zur Diskussion gestellt (EKD 2013/14; zur weiteren Referenz nur Seitenzahlen). Wie der Vorsitzende des Rates der EKD, Nikolaus Schneider, im Vorwort zu dieser Stellungnahme erläutert, liegen ihr zwei Leitfragen zugrunde: „Bewährt sich das Leitbild des gerechten Friedens im Einsatz oder muss es von den Erfahrungen in Afghanistan her konkretisiert, präzisiert oder sogar korrigiert werden?“ Und: „Wird der deutsche Einsatz in Afghanistan dem Anspruch gerecht, eine Rechtsordnung zu schaffen und dadurch Frieden zu ermöglichen?“ (S.8) Für den friedensethischen Diskurs ist vor allem die erste Leitfrage von Interesse; sie wird im Wesentlichen in Kapitel 2 des Papiers erörtert. Betitelung und Vorwort beinhalten aber eine aufschlussreiche Rahmensetzung, die hier zunächst beleuchtet werden soll. Im Ausblick werde ich kurz die Frage aufgreifen, ob das EKD-Papier einen Ausweg aus der »Militärgewaltfalle« aufzeigt.

Staatstragende Rahmensetzung

Als Haupttitel verwendet das EKD-Papier den expressiven Teil der siebten jesuanischen »Seligpreisung« aus der im Matthäus-Evangelium überlieferten so genannten Bergpredigt: „Selig die Friedfertigen!“ (Mt. 5,9) Das altgriechische »eirenepoioi« – wörtlich »Friedenstäter« – meint aber nicht (bloß) zum Nachgeben, Dulden und Verzeihen bereite Menschen und schon gar nicht Konfliktvermeider, sondern Menschen, die aktiv Gegensätze ausgleichen und Frieden stiften. Die Rede von Friedfertigkeit könnte purem Übersetzungskonventionalismus geschuldet sein. Sie scheint jedoch im gegebenen Kontext zumindest in gleichem Maße eine Vorliebe für eine Art Gesinnungspazifismus zu signalisieren.

In seinem Vorwort versichert der EKD-Vorsitzende, der Friede, den Gott nach christlicher Überzeugung schenke, bewege „Menschen dazu, Frieden zu stiften“ (S.7). Demnach geht es nicht um »pietistische«, sich auf Innerlichkeit zurückziehende und damit begnügende Gesinnung, sondern um Friedenshandeln einschließende. Inwiefern das noch als »gesinnungspazifistisch« deutbar ist, erschließt sich unmittelbar im Anschluss: Die christlichen Kirchen, so der Vorsitzende weiter, würden immer wieder neu um die Frage ringen: „Wieweit ist es im Blick auf das Evangelium von Jesus Christus zu rechtfertigen, dem Frieden mit militärischer Gewalt den Weg zu bereiten?“ (ebd.) Die Frage ist aus der EKD-Perspektive also nicht, ob militärische Gewalt für Frieden (politisch-moralisch) gerechtfertigt werden kann, ja nicht einmal, ob das in christlich-religiöser Hinsicht – „im Blick auf das Evangelium von Jesus Christus“ – möglich ist; das »Ob« im engeren emphatischen und damit auch im weiteren Sinn wird fraglos gestellt. Die Frage ist lediglich, „wieweit“ das so oder so möglich ist. Da aber die Anwendung von militärischer Gewalt vom Standpunkt der Ethik und Moral – und wohl erst recht „im Blick auf das Evangelium von Jesus Christus“ – in sich hoch problematisch ist, läuft diese Rahmung augenscheinlich auf einen Gesinnungspazifismus des Typs »Hauptsache gut gemeint« hinaus, auf einen Gesinnungspazifismus also, der sich gerne als »Verantwortungspazifismus« versteht und anpreist.

Der beiläufige Anspruch, damit für »die« christlichen Kirchen zu sprechen, kann hier dahingestellt bleiben. Wichtiger ist die weitere Ausgestaltung der grundlegenden Rahmung unter Rückgriff auf die so genannte Friedensdenkschrift der EKD von 2007. Dort habe man, so der Vorsitzende, „das biblisch begründete friedensethische Leitbild des »gerechten Friedens« formuliert“. Ein solcher Friede aber bedürfe einer Rechtsordnung. „Um sie zu schaffen und zu bewahren“, betone „die Friedensdenkschrift die vorrangige Option der Gewaltfreiheit“; als »ultima ratio« aber halte sie „ein militärisches Eingreifen zur Erhaltung oder Aufrichtung einer Rechtsordnung für möglich“ (S.7f.). Mit der Einführung der Konzepte »Rechtsordnung« und »militärisches Eingreifen« und mit der Mittel-Ziel-Staffelung dieser Importe im Hinblick auf das biblische Leitbild, sozusagen als Unterbau eines gerechten Friedens, erhöht sich die Angleichung der Rahmenkonstruktion an den staatlichen Ansatz. Durch ein drittes Moment wird sie damit nahezu deckungsgleich.

Dieses Moment deutet der Ratsvorsitzende an, wenn er davon berichtet, wie er bei Gelegenheit einer Pastoralreise zum deutschen Einsatzkontingent nach Afghanistan „mit großem Respekt […] wahrgenommen“ habe, „dass die Soldatinnen und Soldaten sich der Zwiespältigkeit ihres Einsatzes bewusst waren“; einhellig hätten sie zum Ausdruck gebracht: „Militärischer Einsatz schafft keinen Frieden, sondern schafft Voraussetzungen dafür, dass Frieden sich entwickeln kann.“ (S.8) Implizit wird damit das Kongruenz- oder Kohärenzpostulat der Friedensdenkschrift angesprochen. Dem zufolge sollten „militärische Maßnahmen […] Bestandteil einer kohärenten Friedenspolitik unter dem Primat des Zivilen“ sein (EKD 2007, Ziff. 118). Das entspricht weitgehend dem politischen Konzept »vernetzte Sicherheit« (»comprehensive approach«; z.B. ZIF, o.J.) – wobei allerdings der „Primat des Zivilen“ im politischen Diskurs in der Regel nur verhalten gefordert wird.

Wie nun stellt sich bei dieser ausgesprochen staatstragenden Rahmensetzung die Bewährung des Leitbildes des gerechten Friedens im Einsatz (in Afghanistan) dar?

Friedensethisches Leitbild im Lichte des Afghanistan-Einsatzes

Bereits im Vorwort zu dem neuen Papier wird unterstellt, dass militärisches Eingreifen nicht nur als »rechtserhaltende Gewalt« rechtfertigungsfähig ist, sondern auch als Recht schaffende oder aufrichtende Gewalt. In der Stellungnahme wird dieser Gedanke näher ausgeführt: „Friedenskompatible Rechtsinstitutionen sind eine wesentliche Voraussetzung nachhaltigen Friedens. Um sie zu schaffen, kann es nötig sein, rechtsermöglichende Gewalt anzuwenden.“ Der „dabei vorausgesetzte Begriff des Rechts“ beziehe sich jedoch „nicht auf ein faktisch gegebenes Rechtssystem, sondern normativ auf die in den grundlegenden Menschenrechten und einer legitimen Völkerrechtsordnung konkretisierte Rechtsidee“ (S.12). Auch in der Friedensdenkschrift wird die Reichweite rechtfertigungsfähiger »rechtserhaltender Gewalt« unter Berufung auf die Menschenrechtesidee ähnlich extensiv ausgelegt (vgl. EKD 2007, Ziff. 88) – aber nicht so ausdrücklich und klar wie (vermutlich einsatzbezogen) an dieser Stelle. Und ebenso wie dort werden auch hier die bekannten Schwierigkeiten mit dem zugrundeliegenden Universalitäts- und vor allem mit dem Unteilbarkeitspostulat im Menschenrechtsdiskurs ausgeblendet (vgl. Hamm und Nuscheler 1995). Demnach ist schwer zu sagen, ob die friedensethische Konzeption der Denkschrift in diesem Punkt als einsatzbezogen bestätigt oder als in Frage gestellt anzusehen ist. Die eventuelle Ergänzung bzw. Korrektur wird jedenfalls nicht thematisiert, geschweige denn näher begründet.

Damit tritt ein Grundproblem der (Erörterung der) Bewährungsfrage zutage: Weder wird erläutert, wonach eigentlich gefragt wird, noch, woran Bewährung oder Nicht-Bewährung dingfest zu machen sein könnten. Der Ratsvorsitzende meint dessen ungeachtet, der Rat und die (federführende) Kammer (für Öffentliche Verantwortung) seien „der Überzeugung, dass das Leitbild des gerechten Friedens der Denkschrift und die sich aus ihm ergebenden Prinzipien und Kriterien schriftgemäße und sachgemäße Aussagen evangelischer Friedensethik sind“ (S.8f.). So heißt es denn abschließend auch in dem Papier selbst, das Leitbild des gerechten Friedens bewähre sich „mit Blick auf eine friedenspolitische Bewertung der Situation in Afghanistan“ (S.49). Wie aber sieht es beim Vergleich von normativen Vorstellungen und einschlägiger Einsatzrealität im Einzelnen aus?

Die Ausführungen zu Legitimität und Legalität der militärischen Intervention in Afghanistan in Kapitel 2 des Papiers wirken bereits bei flüchtiger Durchsicht ausgesprochen affirmativ. Das ändert sich nur wenig bei genauerem Hinsehen. So geht man eigentümlich salopp über die Frage hinweg, wie es mit der Erfüllung der allgemeinen, von der Denkschrift der Bellum-iustumLehre entlehnten Kriterien »rechtserhaltender Gewalt« (Erlaubnisgrund, Autorisierung, rechte Absicht … – EKD, 2007, Ziff. 102) steht. Mit der Bescheidung, „um […] aussagekräftig zu sein, bedürfen diese allgemeinen Kriterien einer ersten Konkretisierung im Blick auf unterschiedliche Situationstypen“ (S.12), wird statuiert: „Für die Beurteilung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan […] sind die Prüfkriterien heranzuziehen, die in der »Friedensdenkschrift« […] für »internationale bewaffnete Friedensmissionen« formuliert worden sind (Ziffern 117-123).“ (S.15) Nun stellen aber die an dieser Stelle konkretisierend formulierten Kriterien erkennbar nur eine Schnittmenge des allgemeinen Kriteriensatzes dar. Was also ist aus den allgemeinen, nicht konkretisierend erfassten Prüfkriterien geworden?

Bei der Prominenz des Ultima-ratioAspekts bereits in der Rahmenkonzeption (s.o.) hätte sich die EKD-Kammer zumindest mit der Frage der Erfüllung dieses Kriteriums gründlich auseinandersetzen müssen. Doch Fehlanzeige! Immerhin wird nach Einordnung des Beginns der Afghanistan-Kriegs mit der US-Operation »Enduring Freedom« als Fall von (kollektiver) Selbstverteidigung das allgemeine Kriterium »Erlaubnisgrund« eingehender diskutiert (S.13). Bei dieser kaum weniger fundamentalen Frage folgt man kritiklos der Auffassung der USA und ihrer Verbündeten und deren Interpretation der relevanten Resolutionen des UN-Sicherheitsrats (Res. 1368 vom 12.09.2001 und Res. 1373 vom 28.09.2001). Dass diese Auffassung völkerrechtlich sehr umstritten ist und zahlreiche renommierte Juristen den USA die Führung eines Angriffskrieges vorwerfen (z.B. Boyle 2001; Deiseroth 2009; Paech 2002), wird ignoriert. Dem Gremium scheint auch nicht der gut bezeugte Sachverhalt zur Kenntnis gekommen zu sein, dass der Angriffsplan der USA gegen Afghanistan bereits mehrere Wochen vor dem 11. September, Mitte Juli 2001, vorlag und demzufolge der Angriff Mitte Oktober stattfinden sollte (Arney 2001; vgl. Meacher 2003).

Ein besonderes Erklärungsformat, eine Art argumentatives Patt, führt die Kammer (erstmals) bei Erörterung der Legitimation der extremen zeitlichen Ausdehnung des Selbstverteidigungsanspruchs der USA vor: Ein Teil des Gremiums sieht unter Berufung auf die Friedensdenkschrift „den Legitimationstitel der Selbstverteidigung schon 2001 nach der Entmachtung des Talibanregimes und der Zerschlagung der Stellungen von Al Qaida in Afghanistan erschöpft“. Der andere Teil dagegen glaubt, es sei „über das in der Friedensdenkschrift ausdrücklich Gesagte hinaus“ anzuerkennen, „dass ein militärisches Engagement über längere Zeit hinaus erforderlich sein könne, um einen Rückfall in eine unmittelbare Bedrohungssituation zu verhindern“ (S.14f.).

Mit der zunehmenden Entwicklung »kriegsähnlicher Zustände«, die als solche in der hiesigen Öffentlichkeit erst ab dem September-Desaster am Kundusfluss 2009 breiter realisiert wurde, war die Kammer auch herausgefordert, sich eingehender mit einer in der Friedensdenkschrift eher vernachlässigten Frage auseinanderzusetzen. Man kann sie als Frage nach der Bedeutung des Verhältnisses von »ius in bello« und »ius ad bellum« für die moralische Qualität (des Handelns) der militärischen Akteure kennzeichnen. Die Brisanz dieser Frage resultiert aus der zunehmenden Verknüpfung der UN-mandatierten ISAF-Stabilisierungsmission mit dem US-erklärten »war on terror«, insbesondere aus dem verstärkten Rückgriff der US-Streitkräfte auf »verdeckte Operationen«, auf die gezielte Tötung Aufständischer und Terrorismusverdächtiger und auf Angriffe mit »Kampfdrohnen«.

Die Frage wird breit, aber analytisch eher oberflächlich und letztlich ergebnislos diskutiert: In der Kammer blieb (abermals) strittig, ob bei der ursprünglichen Interventionsentscheidung unvorhergesehene und ungewollte Gewaltmaßnahmen im Gefolge seinerzeit nicht erkennbarer Faktoren „ihre Legitimität aus der ursprünglichen Interventionsentscheidung erhalten“ oder ob „die Legitimität der Fortsetzung einer Intervention situativ immer wieder sorgfältig überprüft und unter Umständen revidiert werden muss“ (S.17). Einigen konnte man sich offensichtlich auf den wohlgemeinten Appell, „von vornherein“ müsse „die Grundentscheidung zur militärischen Intervention mit größter Sorgfalt Unvorhergesehenes einkalkulieren“ und es müssten „Ausstiegsszenarien mit bedacht werden“ (S.17f.).

Entsprechende argumentative Patts dokumentiert das EKD-Papier auch bei den untergeordneten Fragen zur Bedeutung der Bündnissolidarität gegenüber friedensethischen und rechtlichen Bindungen (S.18) sowie zur Bewertung der „Praxis des gezielten Tötens nichtstaatlicher Akteure, die nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen“ (S.22).

Beim kurzen Blick auf das dritte zentrale Element der Rahmenkonzeption, zivil-militärische Zusammenarbeit „unter dem Primat des Zivilen“ (s.o.), überlässt man es nicht näher identifizierten „zivile[n] Akteure[n]“, darin eine „Instrumentalisierung ziviler, politischer und entwicklungspolitischer Maßnahmen für eine Kriegführung »niedriger Intensität«“ zu befürchten. Man konstatiert lediglich kontrafaktisch – für den Fall, dass dem so wäre: „Dies würde die in der Denkschrift für bewaffnete Friedenserzwingungsmissionen formulierten Grenzen überschreiten, […]“ (S.21). Abschließend zeigt man sich diesbezüglich überzeugt, dass insbesondere „das Verhältnis von militärischen und zivilen Anteilen […] einer genaueren Abstimmung bedurft hätte“ (S.49).

In Sachen Drohnenkrieg wird auf jede Positionierung verzichtet; stattdessen die so wohlfeil wie hilflos wirkende Forderung nach „breite[r] öffentliche[r] Diskussion mit dem Ziel einer völkerrechtlich verbindlichen Normierung“ (S.24). Und was die so genannten Kollateralschäden betrifft, die unbeteiligten Opfer von Kampfhandlungen, so scheint man voll und ganz damit zufrieden, dass „die Gewaltanwendung nach ISAF- Regularien nur zulässig“ sein soll, „wenn sie der Notwehr und Nothilfe dient und die Gefahr für Leib und Leben der Soldaten nicht anders abgewehrt werden kann“ (S.24f.).

So weit zur »Bewährung« des Leitbilds des gerechten Friedens im Afghanistan-Einsatz anhand ausgewählter Detail-Fragen.

Resümee und Ausblick

Die Bilanz muss nach dem vorausgehenden Durchgang anders ausfallen, als es der Ratsvorsitzende und auch die Kammer selbst zusammenfassend nahelegen (s.o). Deren positives Gesamturteil wird den Detail-Befunden nicht gerecht. Im Übrigen ist in der »Schlussbemerkung« ein fünftes und letztes argumentatives Patt dokumentiert, das mit dem vorausgeschickten positiven Gesamturteil schwer vereinbar erscheint: Ein Teil der Kammer „sieht durch die Situation in Afghanistan die Prinzipien und Kriterien der Friedensdenkschrift bestätigt und bewertet die friedensethische Legitimität des Einsatzes trotz gegebener völkerrechtlicher Mandatierung sehr kritisch“ (S.49). Ein anderer Teil „betont die Legitimität des Einsatzes unter dem Gesichtspunkt, dass die ursprüngliche Interventionsentscheidung durch nicht erkennbare Faktoren und Entwicklungen im laufenden Einsatz zu zuvor unvorhergesehenen und ungewollten Gewaltmaßnahmen gezwungen habe. […] Es sei geboten, nicht die Prinzipien, wohl aber die auf einzelne Handlungssituationen bezogenen Kriterien der Friedensdenkschrift weiterzuentwickeln.“ (S.50) Etwas zugespitzt also: Die einen kritisieren die Entwicklung im Lichte der normativen Vorgaben, die anderen möchten diese Vorgaben im Lichte der Entwicklung korrigiert bzw. »weiterentwickelt« sehen.

Die diskursiven Patts in dem EKD-Papier werden jedoch vom Ratsvorsitzenden bereits im Vorwort als „argumentative Gabelungen“ angekündigt und positiv als „differenzierter Konsens“ gewürdigt, in dem sich der „prozessuale Charakter evangelischer Ethik prägnant“ ausdrücke (S.9). Ähnlich sieht der Vorsitzende der Kammer, Hans-Jürgen Papier, an diesen Stellen „eine sozusagen klassische Alternative evangelischer Ethik“ wiedergegeben (Papier 2014). Diese Deutung einer augenscheinlichen Schwäche als Stärke wirkt befremdlich. Ein Durchhalten der ethischen Perspektive dürfte jedenfalls an den besagten »argumentativen Gabelungen« oder »Weichen« in besonderer Weise gefährdet sein durch individuelle, soziale und politische Voreingenommenheiten. Zu erfahren, welche Kammer-Mitglieder sich jeweils wie positionierten, hätte diesbezüglich sehr aufschlussreich und diskursförderlich sein können,

Doch auch wo kein interner Dissens hervortritt, scheint die Detail-Befundung zumindest nicht durchgehend ergebnisoffen aufgenommen und durchgeführt worden zu sein. Gegen eine ergebnisoffene Bewährungsprüfung spricht die Vernachlässigung substanzieller Komponenten der normativen Bezugskonzeption, insbesondere von so grundlegenden Prüfkriterien wie dem Ultima-ratioKriterium. Dagegen spricht auch die partiell selektive und voreingenommene Verarbeitung einsatzbezogener Sachinformation, insbesondere zum Selbstverteidigungsspruch der USA (und ihrer Verbündeten) – und wohl auch das umstandslos extensive Verständnis von »rechtserhaltender Gewalt«.

Interessanterweise war man sich einig bei der zweiten, eingangs nur kurz erwähnten Leitfrage der Stellungnahme, bei der Frage der Anspruchsangemessenheit des Afghanistan-Einsatzes. So heißt es im Vorwort: „[…] übereinstimmend urteilen Kammer und Rat mit großer Skepsis in der Frage, ob die in Afghanistan eingesetzten militärischen Mittel dem politischen Ziel des Einsatzes angemessen waren und sind“ (S.9). Und in der Schlussbemerkung heißt es: „Im Blick auf den Afghanistan-Einsatz stellt sich allerdings die ernste Frage, ob nicht die militärischen Mittel eine Eigendynamik entwickelt haben, die dazu führte, dass das Leitbild des »gerechten Friedens« aus dem Zentrum des Handelns herausgerückt ist.“ (S.49) Dieses Urteil „mit großer Skepsis“ ist am Zielgehalt gerechten Friedens gemäß der Friedensdenkschrift orientiert: Schutz vor Gewalt, Förderung der Freiheit, Abbau von Not und Anerkennung kultureller Verschiedenheit (EKD 2007, Ziff. 80-84), statt an der Frage der Rechtfertigungsfähigkeit der militärischen Mittel. Die unübersehbare Übereinstimmungs-Diskrepanz – ganz abgesehen von den Informationsvermeidungs- und Rationalisierungstendenzen bei den Gewaltrechtfertigungsfragen – dürfte ein deutlicher Indikator dafür sein, dass mit der friedensethischen Leitidee des »gerechten Friedens«, anders als vielfach verkündet, der Gegensatz von Bellizismus und Pazifismus keineswegs überwunden ist und dass das bellizistische Urteilsinstrumentarium selbst in den Händen von Leuten versagt, die die fragliche Rahmenkonzeption teilen.

Weder die im Lichte der Leitidee desillusionierenden Ergebnisse des Afghanistan-Einsatzes noch die massiven Probleme der Gewaltrechtfertigungsdebatte sind für die Kammer erkennbar Anlass, die Rahmenkonzeption in Frage zu stellen; der quasi-religiöse Glaube an »gute Gewalt« ist wohl nicht falsifizierbar. Im Gegenteil bestätigt z.B. der Kammervorsitzende genau diese Rahmenkonzeption, wenn er zusammenfassend „vom Leitbild des »gerechten Friedens« her […]. aus dem Afghanistan-Einsatz einige grundsätzliche Anforderungen an humanitäre Interventionen“ glaubt ableiten zu können (Papier 2014). Doch damit weist die (groß-) kirchliche Friedensethik keinen Ausweg aus der Militärgewaltfalle, sondern verstrickt sich letztlich nur tiefer in die Logik der Gewalt – wie »gut gemeint« und als »ultima ratio« eingeschränkt das auch daherkommen mag (vgl. Enns 2013).

Literatur

George Arney (2001): US planned attack on Taleban. BBC, 18.09.2001.

Francis Boyle (2001): Dieser Krieg ist illegal. Interview mit Spiegel Online, 31.10.2001.

Dieter Deiseroth (2009): Deutschlands »Kampfeinsatz« – Jenseits des Rechts. Frankfurter Rundschau, 26.11.2009.

Fernando Enns (2013): Responsibility to Protect – Das ethische Dilemma der Gewaltanwendung. Friedens-Forum, 26(5), S.30-31.

Evangelische Kirche in Deutschland/EKD (2007): Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Evangelische Kirche in Deutschland/EKD (2013/14): „Selig sind die Friedfertigen“ – Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik. Eine Stellungnahme der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD. Hannover: Kirchenamt der EKD.

Brigitte Hammund und Franz Nuscheler (1995): Zur Universalität der Menschenrechte. Institut für Entwicklung und Frieden, INEF-Report 11/95.

Michael Meacher (2003): This war on terrorism is bogus. The 9/11 attacks gave the US an ideal pretext to use force to secure its global domination. The Guardian, 06.09.2003.

Norman Paech (2001): Afghanistan-Krieg, Bundeswehreinsatz und Völkerrecht. Ein Gutachten zum Antrag der Bundesregierung. 12.11.2001.

Hans-Jürgen Papier (2014): Statement auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des Textes »„Selig sind die Friedfertigen“ – Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik«.

Zentrum für Internationale Friedenseinsätze/ZIF (o.J.): Vernetzte Sicherheit/Comprehensive Approach.

Prof. Dr. Albert Fuchs ist Hochschullehrer für Kognitions- und Sozialpsychologie i.R., Mitglied des Beirats von W&F und u.a. bei Pax Christi engagiert.