Weltstaat als globale Demokratie


Weltstaat als globale Demokratie

Perspektiven für kritische Ansätze

von Dirk Hannemann

Ein Weltstaat ist möglich und wünschenswert. Das zeigen progressive Ansätze, die Demokratie im globalen Maßstab denken. Aus der kritischen Auseinandersetzung wird deutlich, was Alexis de Toqueville 1830 auf seinen Reisen durch die USA feststellte: „Eine völlig neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft.“ Für Amerika lautete die Herausforderung, aus Millionen Menschen eine Nation zu formen, obwohl der Staat sich über einen Kontinent erstreckte, große ökonomische Unterschiede aufwies und sich auf Rassentrennung gründete. In der Gegenwart stellt sich exakt dieselbe Frage auf globaler Ebene. Allerdings muss die Nation dafür nicht erfunden, sondern überwunden werden.

Es gab schon immer den Wunsch, die Weltordnung anders zu denken denn als System von Nationalstaaten, die ökonomisch konkurrieren und blutige Kriege führen. Ein früher Versuch stammt aus der Feder des Abbé de Saint-Pierre. Als Frankreich, England und andere kriegführende Staaten den Frieden von Utrecht verhandelten, machte er ihnen 1713 den Vorschlag, sie sollten vereinbaren, ihre Heere abzurüsten und sich in Zukunft nicht mehr in die inneren Angelegenheiten des anderen Landes einzumischen. Er riet ihnen, als Christen einen Friedensbund in Europa zu gründen und ein Schiedsgericht zu installieren, das alle Streitigkeiten friedlich löst. Gottfried Wilhelm Leibniz, Ratgeber des Fürstenhauses von Hannover, schrieb ihm dazu in einem Brief: Es sei gut, diese Gedanken ins Publikum zu bringen, andererseits aussichtslos, die Fürsten der Zeit für ein solches Projekt zu gewinnen. „Nur ein Minister, der im Sterben liegt,“ schrieb Leibniz, „kann das wagen, und auch dieser nur dann, wenn er keine Familie hinterlässt.“ (Patzig 1996, S. 15)

Karl Marx und Friedrich Engels adressierten im »Kommunistischen Manifest« von 1848 ein anderes revolutionäres Subjekt: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Die Arbeiter sollten ihre Sache selbst in die Hand nehmen und sich in einer Internationalen organisieren, um den Völkergefängnissen der Nationalstaaten eine eigene Assoziation entgegenzusetzen. Ein erster Versuch 1864 scheiterte, weil Anarchisten und Kommunisten sich nicht auf eine Strategie einigen konnten. Der zweite Versuch starb in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges.

Weltrepublik – Immanuel Kant

Immanuel Kants Schrift »Zum ewigen Frieden« von 1795 hat ihren festen Platz in der Debatte behauptet. Kant dachte über eine »Weltrepublik« nach, in der sich freie Staaten zu einer »Republik der Republiken« zusammenschließen. Eine „Universalmonarchie“, die die einzelnen Republiken auflöse, müsse ein „seelenloser Despotismus“ sein und sei nie zur Debatte gestanden (Patzig 1996, S. 21). Aber auch dem föderalen Staatenbund gibt Kant letztlich wenig Chancen auf Verwirklichung. „Ein Lob dem nüchternen Kant, der den monolithischen Illusionen nicht auf den Leim gegangen ist“, zollen Wolf-Dieter Narr und Alexander Schubert Beifall (Narr und Schubert 1994, S. 242). Nach einer Diskussion von Weltstaatstheorien, die sie als Illusion und Wunschdenken abtun (ebd., S. 235-247), schließen sie sich der Kantschen Idee eines Weltföderalismus an, dessen lokale Ebene gestärkt werden müsse (ebd., S. 257). Ob die beiden wussten, dass Kants Anthropologie auf einer Hierarchie der Rassen aufbaut? Der Königsberger eignet sich kaum als Referenz für einen demokratischen Ansatz zur Weltordnung. Die amerikanischen Ureinwohner bezeichnet Kant als „zu schwach für schwere Arbeit“ und „unfähig zu aller Cultur; die Afrikaner hingegen als einer Kultur von Sklaven, nicht aber freier Völker fähig, und beide als unfähig, aus eigener Kraft eine ordentliche bürgerliche Gesellschaft zu errichten. Asiaten (Chinesen und Hindustani) werden als zivilisiert, aber wenig dynamisch und antriebslos dargestellt. Weißen hingegen wird nachgesagt, sie besäßen alle Antriebskräfte, Talente und Prädispositionen für Kultur und Zivilisationen, die für einen Fortschritt hin zur Vollkommenheit nötig seien.“ (McCarthy 2015, S. 90)

Und wie bewerten die Spezialisten von den Internationalen Beziehungen die Idee eines Weltstaates?

Das absolute Tabu – die Lehre von den Internationalen Beziehungen

In den 1.200 Seiten seines aktuellen Werkes »Die Ordnung der Welt« stellt der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel ohne Diskussion fest, einen Weltstaat könne es nicht geben, so laute „[d]as erste Axiom der Lehre von den internationalen Beziehungen“ (Menzel 2015, S. 29). Diese Disziplin betrachte es quasi als Natur­gesetz, dass es „keine übergeordnete In­stanz, keinen Weltstaat gibt, der mit einem internationalen Gewaltmonopol ausgestattet ist“ (ebd., S. 17). Alle menschliche Geschichte sei von Großmachtpolitik geprägt. Wenn die derzeitige Phase der US-amerikanischen Hegemonie ende, was laut Menzel im Jahr 2035 der Fall sein wird, würde eine neue Großmacht kommen, die der Welt ihren Stempel aufdrücke. Vielleicht China? Oder doch noch einmal die USA als aktueller Titel­verteidiger? Eine globale Demokratie jedenfalls sei ausgeschlossen.

Ganz in diesem Sinne fasst der Tübinger Friedens- und Konfliktforscher Volker Rittberger den Stand der Debatte zusammen: „Es gibt wenige Auffassungen in der Lehre von der Internationalen Politik, über die soviel Übereinstimmung besteht, wie die, dass die Idee eines Weltstaates ebenso unerfüllbar wie unpraktikabel ist.“ (Rittberger 2000, S. 204) Als Kunst des Möglichen bliebe ein »heterarchisches« (gleichberechtigtes) Weltregieren. Nationen blieben die zentralen Akteure, so Rittberger, kooperierten aber und bildeten supranationale Organisationen, wie die Europäische Union.

Mathias Albert, Professor in Bielefeld, stellt kurz und trocken fest: „Es gibt keinen Weltstaat und es wird auch in Zukunft keinen solchen geben.“ (Albert 2007, S. 9). Bemerkenswert ist, dass Albert mit diesem Satz einen Tagungsband einleitet, in dem acht Wissenschaftler ihre Forschung zum Weltstaat vorstellen. Aber er fasst die Befunde korrekt zusammen, wenn er schreibt: „Die Beiträge des vorliegenden Bandes finden nicht, was sie nicht finden wollen: einen Weltstaat als einen auf die globale Ebene projizierten Einheitsstaat in Analogie zum Nationalstaat“ (ebd., S. 21) – was sie auch nicht finden sollten, wie mir (Redner auf der Tagung) scheint. Wenn auf einem Tagungsband »Weltstaat« draufsteht, muss also keineswegs »Weltstaat« drin sein.

Wenn der Staat nicht global wird, dann werden es vielleicht die politischen Prozesse?

Weltregieren ohne Weltregierung – Global Governance

Michael Zürn vom Wissenschaftszen­trum Berlin beobachtet in seinem Projekt eines »komplexen Weltregierens« die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure. Seit etwa zwei Jahrzehnten sei eine zunehmende „Politisierung der Weltpolitik“ durch Bürgerinnen und Bürger festzustellen, etwa in Form von Protesten am Rande von Gipfelkonferenzen. Darum könne heute „Weltpolitik endgültig nicht mehr als zwischenstaatliche Politik“ verstanden werden (Zürn 2013, S. 11). Organisationen wie Greenpeace und Amnesty International erfüllten eine wichtige Funktion als Aufpasser bei internationalen Organisationen und würden über Politisierung zur Demokratisierung der Weltpolitik beitragen (ebd., S. 26). Gegenüber einer voll ausgebildeten globalen Staatlichkeit bleibt Zürn skeptisch. Diese scheitere an „kognitiven und soziokulturellen Voraussetzungen der Demokratie, die auf internationaler Ebene und selbst auf europäischer Ebene nicht gegeben seien (ebd., S. 26). Seine neueste empirische Forschung erkennt einen vorsichtigen Trend hin zum „minimalen Weltstaat“ mit Ansätzen eines Gewaltmonopols, aber nicht zur „kosmopolitischen Demokratie“ eines David Held – dafür fehle die Bereitschaft zur transnationalen Solidarität (Zürn 2016, S. 113).

Jürgen Neyer, Professor in Frankfurt (Oder), analysiert in »Globale Demokratie« (Neyer 2013) zahlreiche Weltordnungsmodelle. Besonders macht seine Darstellung nicht nur, in welcher Ausführlichkeit kosmopolitische und weltstaatliche Theorien dargestellt, sondern auch, wie objektiv sie beurteilt werden (ebd., S. 327). Der Idealtyp „Demokratischer Weltstaat“ wird von Neyer hinsichtlich etlicher Kriterien als „unproblematisch“ beurteilt: erstens bei der Kongruenz zwischen Herrschern und Beherrschten („Idealfall“, ebd. S. 228), zweitens bei der Möglichkeit, in angemessener Zeit zu Entscheidungen zu kommen, trotz vieler Beteiligter, und drittens bei der Fähigkeit, die Entscheidungen auch durchzusetzen, was mit einem globalen Gewaltmonopol natürlich gut gelingt. Das vierte Kriterium fällt besonders positiv aus: Die Bevölkerung eines demokratischen Weltstaates könne sich „umfassend“ beteiligen. Lediglich das fünfte Kriterium, die Kontrollmöglichkeiten eines Gobalstaates, stuft Neyer als „bechränkt“ ein (ebd., S. 228-234). Zur sachlichen Einschätzung Neyers hat vermutlich beigetragen, dass er seit Jahren zum Integrationsprozess in der Europäischen Union arbeitet, der vielen als Blaupause für die Entwicklung zu einem Weltstaat gilt (vgl. ebd., S. 223-228).

Neyer betrachtet eine Fülle von Weltstaatstheorien. Alexander Wendt (2003) steht bei ihm für einen funktionalen Ansatz. Dem Konstruktivisten Wendt gilt der Weltstaat als unausweichlich, weil er kollektive Sicherheit am besten garantiere (ebd., S. 219f.). Das Modell von David Held (2007) ist die wichtigste Referenz für Neyer. Helds kosmopolitischer Ansatz ist demokratietheoretisch fundiert und wartet mit konkreten Vorschlägen für die Institutionen auf der globalen Ebene auf (Neyer 2013, S. 138-142, 219). Held möchte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das Vetorecht für Großmächte abschaffen und die Organisation mit einer eigenen Armee ausstatten. Langfristig kann er sich ein Weltparlament vorstellen, das diesen Namen auch verdient. Zeitgemäß normative Ansätze für einen Weltstaat sieht Neyer in den Kantianern Otfried Höffe (2002) und Matthias Lutz-Bachmann (2002).

Zu welchen Ergebnissen kommen kriti­sche Ansätze, die sich an Rechts- und Gerechtigkeitsideen orientieren, ohne das Gerüst der Internationalen Beziehungen?

Weltstaat von oben – Sibylle Tönnies

Im Jahr 2002, kurz nach den Anschlägen auf das World Trade Center, erschien in Deutschland ein frisches und kraftvolles Buch, das in einer klaren Sprache den Weltstaat fordert: Sibylle Tönnies’ »Cosmopolis Now – Auf dem Weg zum Weltstaat« (2002). Wie das berühmte Werk »Empire« von Antonio Negri und Michael Hardt (2000) und »Global State« von Martin Shaw (2000), geht Tönnies ebenfalls davon aus, dass es im Ansatz bereits den Weltstaat gibt, nämlich in Form der US-amerikanischen Hegemonie. Diese müsse man anerkennen und versuchen, sie zu gestalten.

Der Rechtswissenschaftlerin an der Universität Bremen und an der Bucerius Law School in Hamburg geht es darum, die universalen Menschenrechte weltweit zu verwirklichen. Dafür sucht Tönnies eine Macht, die diese weltweit durchsetzen kann, und findet sie in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Menschenrechte können die Welt nur regieren, wenn eine Ordnung zur Verfügung steht, die genauso universal ist wie sie selbst. Sie brauchen eine Weltordnung, sie brauchen eine Weltpolizei, die sie schützt.“ (Tönnies 2002, S. 149)

Das Problem ist laut Tönnies, dass die USA diese Rolle des Weltpolizisten gar nicht einnehmen möchten. Sie möchten sich auch selbst keinem System internationaler Regeln unterwerfen. Typisch sei, dass die USA in Den Haag Kriegsverbrecher vor das Gericht stellen, aber sich selbst der Strafverfolgung durch diese Körperschaft entziehen (ebd., S. 66f). Im Jahre 2002 urteilt Tönnies: „Die Amerikaner haben noch nicht die Reife, eine Pax Americana zu schaffen. Sie genießen es, die einzige Supermacht zu sein, wollen aber weiterhin mit formal gleichberechtigten Rivalen ihre Kräfte messen und sich als Sieger erweisen. Die Vereinigten Staaten maßen sich keineswegs die Pax Americana an. Sie müssen im Gegenteil mit der Erwartung konfrontiert werden, dass sie sie etablieren sollen.“ (ebd., S. 41)

Tönnies ist dabei wichtig, bei ihrem Projekt von „Weltstaat“ zu sprechen. Natürlich wäre es mit ihrer Position geschickter, sagt sie, von einer „fälligen Verrechtlichung der Weltorganisationen“ zu sprechen, von der „Stärkung supranationaler Organisationen“ oder von der „Erforderlichkeit verbindlicher Regeln für die Voraussetzungen humanitärer Interventionen“. Dies seien aber verharmlosende Formulierungen. „In dem Moment, in dem eine Welt-Rechtsordnung auch durchgesetzt werden kann, in dem Moment also, wo eine Weltexekutive besteht, gibt es auch einen Weltstaat. In diesem Moment ist nämlich die Gewalt monopolisiert.“ (­Tönnies 2002, S. 11)

So groß dürfte der Schritt gar nicht sein in das US-amerikanische Imperium, zumindest für die Jugend der Welt – sie trägt doch ohnehin schon seine Kleidung, schaut seine Filme und spricht seine Sprache (ebd., S. 57). Was dem entgegensteht, ist eine der großen Schwächen der jungen Generation, sagt die Dame aus dem Jahrgang 1944, nämlich ihr mangelndes Machtbewusstsein (ebd., S. 79f.). Außerdem verachte sie die Staatsidee, was sich auch in einem naiven Glauben an die Macht von Nicht-Regierungsorganisationen zeige (ebd., S. 80). In diesem intellektuellen Klima müsse die Idee eines Weltstaats Ängste auslösen und seine Idee totalitär erscheinen (ebd., S. 84f.).

Sibylle Tönnies kann allerdings nicht gut erklären, wieso ein Hegemon zum »wohlwollenden Diktator« wird, wenn die USA die Weltarmee der Vereinten Nationen stellen, wie Tönnies vorschlägt (ebd., S. 32), Wie Tönnies dagegen mit Klassikern der Politischen Philosophie umgeht, ist brillant. Sie kann mit den »Federalist Papers« der USA von 1878/88, mit Thomas Hobbes und nicht zuletzt mit der Soziologie ihres berühmten Großvaters Ferdinand Tönnies (»Gemeinschaft und Gesellschaft«, 1887) zeigen, dass ein Weltstaat gut zu begründen ist, und schlägt seinen Kritikern einige der wichtigsten Waffen aus der Hand. Lesenswert!

Weltstaat von unten – Charles Monbiot

Charles Monbiot, Jahrgang 1963, wendet sich an die Millionen Globalisierungskritiker. Mit seinem Buch »United People – Manifest für eine neue Weltordnung« (2003) möchte er dem weltweiten „Netzwerk von Aufständischen“ eine Perspektive zu eröffnen, wie man über den Protest hinausgehen kann: Es „sollte unser Ziel nicht sein, die Globalisierung zu verhindern, sondern sie uns zunutze zu machen und sie zum Werkzeug zur Durchsetzung der ersten globalen Revolution in der Menschheitsgeschichte umzufunktionieren“ (Monbiot 2003, S. 32).

Ein Weltparlament ist das wichtigste Projekt des britischen Journalisten (»Guardian« u.a.). Die Bewegung solle eine weltweite Wahl nach dem Prinzip »ein Mensch, eine Stimme« selbstständig organisieren (ebd., S. 99). Aus der Wahl würden 600 Abgeordnete als wahre Vertreterinnen und Vertreter der Weltbevölkerung hervorgehen, für je zehn Millionen Menschen eine Vertretung. Dieses Weltparlament wäre dann eine wahrhaft demokratische Gegenmacht zu den internationalen Organisationen, die doch nur die reichen Nationen vertreten – eine moralische Instanz mit mächtiger Stimme. Die Idee eines Weltparlaments ist laut Monbiot wohl vor allem für den Westen eine große Herausforderung. Den plagt nämlich – so wörtlich – „die Angst vor der gelben Gefahr“ (ebd., S. 118-121). Die USA und Europa würden in einem Weltparlament überstimmt von 1,4 Milliarden Chinesen und einer Milliarden Indern, neben 800 Millionen Stimmberechtigten aus Afrika. „Als würden Truthähne für Weihnachten stimmen“, kommentierte dies ein führender US-Vertreter der Internationalen Beziehungen.

Zwei Lektionen müssen die heutigen Globalisierungskritiker laut Monbiot lernen. Erstens sollten die Aktivistinnen und Aktivisten vom Protestieren zum Gestalten übergehen – siehe oben – und zweitens ihre »small is beautiful«-Philosophie überdenken. Die angemessene Alternative sei, die globale Ebene als Demokratie zu gestalten. „Die Vorstellung, wir könnten Macht einfach zum Verschwinden bringen und sie durch eine so genannte »Anti-Macht« ersetzen, ist bei Anarchisten reicher Länder recht beliebt. Die meisten Aktivisten in den armen Ländern aber, in denen die Auswirkungen der Macht deutlich fühlbar sind, erkennen sie als das, was sie ist: purer Unsinn. Nur weil wir die Muskeln nicht spielen lassen, heißt das noch nicht, dass die anderen auch darauf verzichten werden.“ (ebd., S. 22f.)

Die klaren Worte für eine globale Identität, die er bereits als gegeben ansieht, und seine strikt ablehnende Haltung zur Nation machen das Werk besonders wertvoll, insbesondere, weil es in einer deutlichen Warnung vor einem Rassismus der gebildeten Stände mündet. Weniger überzeugend klingt Monbiots Entwurf neuer Welthandelsorganisationen. Was läuft auf institutioneller Ebene bei den existierenden drei Organisationen falsch? Das wird nicht ausreichend klar. Insgesamt aber ein kluger Ratgeber für Occupy & Co.

Folgerungen für Theorie und Praxis

Drei Folgerungen ergeben sich für kritische Ansätze und politische Kampagnen, die weltweite Demokratie verwirklichen möchten.

Erstens gilt es, globale Staatlichkeit authentisch zu denken, wobei antidemokratische Glaubenssätze nach und nach verabschiedet werden müssen, vor allem in der Disziplin der Internationalen Beziehungen. Das gleiche gilt für den Rassismus und die Idee einer Nation, die einer rationalen Forschungsagenda im Wege stehen.

Zweitens, moderne Ansätze dürfen nicht im Protest gegen die Globalisierung verharren, sondern sie sollten versuchen, sie nach ihren Interessen zu gestalten. Dafür könnten sie eine entschlossene Machtperspektive einnehmen zugunsten einer sozialen und ökologischen Demokratie, die einen Rahmen für eine gerechte Weltwirtschaft bietet.

Drittens sollten die lokale, regionale und globale Ebene nicht als Gegensatz angesehen und gegeneinander ausgespielt, sondern je nach Problemlage aufeinander abgestimmt werden. Nur weil die globale Ebene von der Normalwissenschaft so vernachlässigt wird, muss sie in der aktuellen Diskussion nicht mehr Raum einnehmen, als von der Sache her nötig wäre.

Der Weltstaat sei nicht möglich und nicht wünschenswert, deswegen müsse in Abwesenheit eines Weltstaates über zweitbeste Lösungen nachgedacht werden – diese Redensart sollte möglichst bald aus der Literatur verschwinden und eine fundierte Diskussion über Möglichkeiten globaler Demokratie an ihre Stelle treten.

Literatur

Albert, M. (2007): Weltstaat und Weltstaatlichkeit – Neubestimmung des Politischen in der Weltgesellschaft. In: Albert, M.; Stichweh, R. (Hrsg.): Weltstaat und Weltstaatlichkeit – Beobachtungen globaler Strukturbildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Held, D. (2007): Soziale Demokratie im globalen Zeitalter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Höffe, O. (2001): Globalität statt Globalismus – Über eine subsidiäre und föderale Weltrepublik. In: Lutz-Bachmann, M.; Bohmann, J. (Hrsg.): Weltstaat oder Staatenwelt? Für und wider die Idee einer Weltrepublik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Lutz-Bachmann, M. (2001): Weltweiter Frieden durch eine Weltrepublik? Probleme internationaler Friedenssicherung. In: Lutz-Bachmann, M.; Bohmann, J. (Hrsg.): Weltstaat oder Staatenwelt? Für und wider die Idee einer Weltrepublik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

McCarthy, T. (2015): Rassismus, Imperialismus und die Idee menschlicher Entwicklung. Berlin: Suhrkamp.

Menzel, U. (2015): Die Ordnung der Welt. Berlin: Suhrkamp.

Monbiot, G. (2003): United People. Manifest für eine neue Weltordnung. München: Riemann.

Narr, W.-D.; Schubert, A. (1994): Weltökonomie -Misere der Politik. Frankfurt: Suhrkamp.

Negri, A.; Hardt, M. (2003): Empire – Die neue Weltordnung. Frankfurt a.M: Campus.

Neyer, J. (2013): Globale Demokratie – Eine zeitgemäße Einführung in die Internationalen Beziehungen. Baden-Baden: Nomos.

Patzig, G. (1996): Kants Schrift »Zum ewigen Frieden«. In: Merkel R.; Wittmann R. (Hrsg.): »Zum ewigen Frieden« – Grundlagen, Aktualitäten und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Rittberger, V. (2000): Globalisierung und der Wandel der Staatenwelt – Welt regieren ohne Weltstaat. In: Menzel, U. (Hrsg.): Vom Ewigen Frieden und vom Wohlstand der Nationen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 188-219.

Shaw, M. (2000): Theory of the Global State – Globality as an Unfinished Revolution. Cambridge: Cambridge University Press.

Tönnies, S. (2002): Cosmopolis Now – Auf dem Weg zum Weltstaat. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt.

Wendt, A. (2003): Why A World State is Inevitable. European Journal of International Relations, Vol. 9, No. 4 (December), S. 491-542.

Zürn, M. (2013): Politisierung als Konzept der Internationalen Beziehungen. In: Zürn, M.; Ecker-Ehrhardt, M. (Hrsg.): Die Politisierung der Weltpolitik. Berlin: Suhrkamp, S. 7-35.

Zürn, M. (2016): Four Models of a Global Order with Cosmopolitan Intent – An Empirical Assessment. Journal of Political Philosophy, Vol. 24, Nr. 1, S. 88-119.

Dirk Hannemann, Jahrgang 1968, wohnhaft in Berlin, Diplom-Politologe (Universität Frankfurt am Main), Lehraufträge an der Freien Universität Berlin. Heute als selbstständiger Kommunikationstrainer tätig.

Ein offener Brief


Ein offener Brief

Kooperation zwischen Hochschule Bremen und Bundeswehr

Ralf E. Streibl

Mitte Mai 2016 schickte Ralf E. Streibl einen offenen Brief an die Rektorin der Hochschule Bremen, Prof. Dr. Karin Luckey, und kündigte seine Lehrtätigkeit an der Hochschule auf. Grund für seine Entscheidung war der Abschluss eines Kooperationsabkommens zwischen der Hochschule und dem Bildungszentrum der Bundeswehr im Kontext eines neuen dualen Studienangebots (vgl. Bundeswehr-Journal 2016). In seinem Schreiben setzt sich der Autor mit seiner Verantwortung als Wissenschaftler auseinander. W&F dokumentiert den offenen Brief.

Sehr geehrte Frau Luckey,
die Hochschule Bremen hat – so war zu erfahren – entschieden, dass es künftig zum »Internationalen Frauenstudiengang Informatik« (IFI) eine zusätzliche Variante als Duales Studium geben wird. Gleichzeitig wurde beschlossen, hierfür eine Kooperation mit der Bundeswehr einzugehen.

Seit Gründung des IFI-Studiengangs im Wintersemester 2000/2001 bis heute habe ich regelmäßig als Lehrbeauftragter innerhalb dieses Studiengangs das Fachgebiet »Informatik und Gesellschaft« in der Lehre vertreten. Angesichts der oben genannten Beschlusslage werde ich diese Aufgabe in der Zukunft nicht mehr übernehmen. Denn für die Mitwirkung im Regellehrbetrieb eines in Kooperation mit der Bundeswehr betriebenen Studiengangs stehe ich nicht zur Verfügung.

Gesellschaftlich und hochschulpolitisch halte ich die strukturelle Kooperation eines Studiengangs mit der Bundeswehr für eine Fehlentscheidung. Ich bedauere sehr, dass die Leitung der Hochschule Bremen die kritischen und nachdenklichen Stimmen innerhalb der eigenen Institution letztlich ignoriert hat.

Da ich diese Entscheidung nicht beeinflussen kann, bleibt mir nur, persönliche Konsequenzen zu ziehen. Auf die künftige Zusammenarbeit der Hochschule Bremen mit der Bundeswehr wird es keine Auswirkungen haben, dass ich mich aus dem Studiengang verabschiede. Für mich selbst und vor dem Hintergrund meines Verständnisses von Wissenschaft und Hochschullehre ist es jedoch ein notwendiger und folgerichtiger Schritt, jetzt Nein zu sagen – und dies auch öffentlich.

Ich möchte Ihnen im folgenden einige der Überlegungen und Bezüge darstellen, die zu meiner Entscheidung beitrugen. Im Kern geht es dabei immer um Verantwortung (in) der Wissenschaft. Die Auseinandersetzung damit kann und muss – das ist meine feste Überzeugung – auf ganz unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig erfolgen.

Gesellschaft und Politik: Friedensorientierung

Die Umbrüche in Osteuropa ließen kurzfristig auf ein Ende der langjährigen Dominanz militärisch-strategischer Kalküle sowie der Ideologie der Abschreckung hoffen. Leider hat sich schnell gezeigt, dass diese Hoffnung trog. Die viel zitierte »neue Weltordnung« nahm eine andere Richtung auf: Die im Grundsatz an humanitären Werten orientierte Idee internationaler Hilfe für bedrohte oder unterdrückte Menschen wird mit zunehmender Selbstverständlichkeit im Sinne militärischer Interventionen verstanden bzw. vorrangig unter diesem Paradigma geplant und betrieben.

Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem damals ausgerufenen »Krieg gegen den Terror« werden militärische Operationen als naheliegende Reaktionsmöglichkeit und gerechtfertigte Handlungsoption angesehen. Krisendiplomatie und ihre langfristigen, oft auch zähen Verhandlungsprozesse werden auf die Seite gedrängt. Albert Fuchs (2004) bezeichnet diesen Weg von den »humanitären Interventionen« zur Wiedereinführung eines »Rechts auf Kriegführung« als Wiederbelebung der Kriegskultur.

Dem gegenüber steht die Forderung nach einer gesellschaftlichen Friedensorientierung. Das Ziel eines umfassenden Friedens steht im Einklang mit der UN-Charta und – bezogen auf die Bundesrepublik – mit dem Grundgesetz. Begreift man den Prozess zu einer Kultur des Friedens auch als Bildungsprozess, so wäre ein erstes Lernziel, Kriege als vom Menschen herbeigeführt und damit als vermeidbar zu begreifen (Nicklas 1996).

Mit dem Slogan »Terrorismusbekämpfung« werden nicht nur Kriegseinsätze gerechtfertigt, sondern auch die Intensivierung staatlicher Überwachung, geheimdienstlicher Datensammlung und sogar offensichtliche Verstöße gegen die Menschenrechte bis hin zu Folter. Die Entwicklung geht somit auch einher mit einer Intensivierung struktureller Gewalt und hat so auch direkte Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft.

Kriterium für Frieden ist die Fähigkeit, mit Konflikten umzugehen (vgl. Galtung 1998). Erforderlich hierfür ist gleichermaßen eine Friedensstruktur wie auch eine Friedenskultur. Dem entgegen steht jedoch die bis heute in vielen Köpfen fest verwurzelte Überzeugung, Frieden sei nur durch Stärke erreichbar. Diese Überzeugung zu hinterfragen und in einem offenen Diskurs jenseits militärisch geprägter Sichtweisen den Weg zu einer echten Friedensfähigkeit zu eröffnen ist eine große Herausforderung für Politik und Gesellschaft und damit eine zentrale Aufgabe für Bildung und Wissenschaft.

Friedensorientierung – um auf den konkreten Anlass des vorliegenden Textes zurück zu kommen – ist viel mehr als die bloße Ablehnung einer strukturellen Kooperation von Bildungseinrichtungen mit militärischen oder rüstungsaffinen Einrichtungen, Organisationen oder Unternehmen. Es geht nicht darum, einfach nicht zu kooperieren: Vielmehr geht es um zugrundeliegende Entscheidungen und Prozesse. Diese betreffen gleichermaßen die Wissenschaft an sich, ihre Disziplinen und ihre Institutionen sowie die dort tätigen Individuen. Davon wird deswegen in den nächsten Abschnitten die Rede sein.

Verantwortung von WissenschaftlerInnen

Unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe und des nuklearen Wettrüstens zwischen den USA und der Sowjetunion formulierte der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell [1955] ein von Albert Einstein und acht weiteren namhaften Wissenschaftlern mitunterzeichnetes Manifest, in dem vor den Gefahren des Krieges mit Nuklearwaffen gewarnt und die bewusste Entscheidung gegen bewaffnete Konflikte gefordert wurde. Das daraus resultierende erste Zusammentreffen von 22 hochrangigen Wissenschaftlern aus zehn Nationen in [dem kanadischen Fischerdorf] Pugwash – ein Auftakt für folgende Konferenzen – war ein frühes Signal dafür, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bekennen und in dieser Konsequenz auch politisch Position beziehen müssen. Die Teilnehmer wurden angefeindet und galten als weltfremd oder Verräter (vgl. Neuneck 2009). 1995 erhielten die Pugwash-Konferenzen sowie ihr Mitbegründer und langjähriger Präsident Józef Rotblat den Friedensnobelpreis. In seiner Dankesrede stellte Rotblat heraus, dass es in unterschiedlichen Forschungsfeldern zu negativen gesellschaftlichen Folgen kommen könne, weswegen stete Wachsamkeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gefragt sei sowie die Bereitschaft bzw. Verpflichtung, ggf. kritische Entwicklungen auch an die Öffentlichkeit zu bringen (Rotblat 1995).

Wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die fachlichen Grenzen ihrer Disziplin verlassen und öffentlich über die Folgen und möglichen Grenzen ihres Tuns nachdenken, wird ihnen oftmals die Zuständigkeit für die damit einhergehenden gesellschaftlichen oder politischen Fragen abgesprochen. Auch die 18 Atomwissenschaftler, die 1957 die »Göttinger Erklärung« verfassten, antizipierten entsprechende Reaktionen und äußerten in ihrer Erklärung die Erwartung, dass man ihnen die Berechtigung abstreiten werde, politische Konsequenzen aus ihren Erkenntnissen zu ziehen. Doch – so verdeutlichten sie in ihrer Erklärung – ihre wissenschaftliche Tätigkeit und insbesondere auch die Tatsache, dass sie viele jungen Menschen dem Gebiet zuführen würden, belade sie mit der Verantwortung für die Folgen, weswegen sie nicht zu allen politischen Fragen schweigen könnten (vgl. Albrecht et al. 2009).

Dass die Freiheit von Wissenschaft Grenzen hat und haben sollte, ist inzwischen weit in das gesellschaftliche Bewusstsein vorgedrungen. Die grundgesetzlich garantierte Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre stößt regelmäßig an Grenzen, wo andere Menschen- oder Verfassungsrechte berührt sind oder wo beispielsweise durch internationale Verträge oder nationale Regelungen Forschungsziele ausgeschlossen oder Methoden reglementiert sind. Doch die Beachtung rechtlicher Normen und Regelungen allein genügt nicht, um verantwortliches Handeln in der Wissenschaft sicherzustellen.

Die 2010 von der Max-Planck-Gesellschaft beschlossenen Hinweise und Regeln zum verantwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungsrisiken (MPG 2010) stellen in diesem Sinne explizit heraus, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgefordert sind, weitergehende ethische Grundsätze zu berücksichtigen. Sie sollen Risiken für Mensch und Umwelt vor dem Hintergrund ihrer Fachkompetenz erkennen und abschätzen und ggf. persönliche Entscheidungen über die Grenzen ihrer Arbeit treffen, was auch bedeuten kann, dass Vorhaben modifiziert oder – als Ultima Ratio – gar nicht durchgeführt werden. Die Kriterien für solch eine Entscheidung können vielfältig sein. Neben Fragen der Risikoabschätzung (z.B. Wahrscheinlichkeit eines Schadens, Ausmaß eines eventuellen Schadens, Beherrschbarkeit von Ergebnissen) benennt die Max-Planck-Gesellschaft auch strukturelle Aspekte, die für solch eine Entscheidung erheblich sein können, nämlich wer Kooperationspartner, Auftraggeber, Nutzer oder Finanzier der Forschung ist.

Verantwortung in der Wissenschaft endet nicht bei der Forschung. Die Identifikation, Betrachtung, Analyse, Bewertung und Reflexion von Rahmenbedingungen, divergierenden Interessen, gesellschaftlichen Wirkungen, ethischen Fragen und Dilemmata, Entwicklungspfaden, Handlungsspielräumen und Gestaltungsoptionen im offenen kommunikativen Miteinander und im gegenseitigen kritischen Diskurs muss wesentlicher Teil von Hochschullehre und Studium sein.

Ambivalenzen und Verant­wortungsdiskurse im Fach

Seit dem Russel-Einstein-Manifest und der Göttinger Erklärung haben viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für sich individuelle Entscheidungen getroffen und beschlossen, die eine oder andere Forschungsfrage nicht anzugehen oder bestimmte Projekte nicht durchzuführen. Beispiele finden sich in vielen Fächern und Fachgebieten.

Da es bei dem an der Hochschule Bremen geplanten Kooperationsstudiengang um einen Informatikstudiengang handelt, möchte ich hier – ohne Beschränkung der Allgemeinheit – exemplarisch einige Positionierungen heranziehen:

  • David L. Parnas begründete 1985 seinen Rücktritt aus einem Beratergremium zum SDI-Projekt des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan mit seinen fachlichen Zweifeln an einer verantwortbaren Funktionsfähigkeit und Beherrschbarkeit des geplanten Systems (vgl. Parnas 2009).
  • Benjamin Kuipers veröffentlichte 2003 ein Positionspapier, in dem er begründete, warum er keine Fördermittel vom Militär annimmt (Kuipers 2003).
  • 1996 fand eine ausführliche und differenzierte Debatte in einem großen deutschen Softwarehaus darüber statt, ob die Durchführung eines Projekts für das Bundesministerium der Verteidigung mit dem Selbstverständnis der Firma verträglich sei. Besonders erfreulich ist, dass die Debatte zusammengefasst dokumentiert nachlesbar ist (Brössler, Biskup, Rauschmayer 1996).

Bereits 1984 hatte sich Terry Winograd in einem kleinen Aufsatz »Some thoughts on military funding« mit der Frage beschäftigt, ob die Nichtannahme militärischer Fördergelder nur ein »symbolischer Akt« sei oder ob auf diesem Weg auch mehr zu bewirken sei (Winograd 1985). Die Reihe solcher Beispiele könnte noch lang fortgeführt werden.

In der Informatik haben Debatten um Militär-Bezüge und Dual-use eine lange Geschichte, die sich in die Gegenwart fortsetzt. Krieg, Militär und Rüstungswettlauf waren bereits in der Frühzeit der Computerentwicklung wesentliche Triebkräfte. Mit der weiträumigen Durchdringung von Arbeitswelt und Gesellschaft mit Informationstechnik und digitalen Medien scheint der Stellenwert militärischer Anwendungen und Bezüge etwas in den Hintergrund zu treten. Bei genauerer Betrachtung stellt man jedoch fest, dass dies wohl nicht so ist – der Rahmen hat sich jedoch verändert. Exemplarisch seien hier nur drei Aspekte genannt:

  • Aktuelle Kriege sind ohne Informatik und ihre Produkte nicht führbar. Dies betrifft nicht nur technisierte Waffensysteme, sondern die gesamte Infrastruktur. Viele im zivilen Bereich eingesetzte technische Komponenten und Lösungen können und werden auch militärisch genutzt.
  • Dual-use-Strategien werden aktiv betrieben und gefördert. Neben klassischen Forschungsaufträgen und -kooperationen wird zunehmend auch über Wettbewerb-Szenarien Knowhow abgeschöpft, Imagepflege betrieben und Personal rekrutiert (vgl. bspw. Streibl 2012b).
  • Die uns im zivilen Leben direkt umgebende Informationstechnik ist Teil und Gegenstand militärischer und strategischer Überlegungen. Sie wird gleichermaßen zum Angriffsziel und zum Angriffsmittel – das Schlachtfeld hat sich längst auf diese Sphäre erweitert.

Ambivalenz ist im Bereich wissenschaftlicher Forschung und technischer Entwicklung grundsätzlich nicht vermeidbar. Gerade deswegen ist eine kritisch-reflektierende inhaltliche Befassung mit diesen Fragen in den Fächern und Forschungs- und Bildungseinrichtungen zentral. Im Mittelpunkt muss dabei eine frühzeitige antizipative Analyse von Forschung und Entwicklung stehen, die – wie Wolfgang Liebert fordert – nach Intentionen, wissenschaftlich-technischen Potenzialen, normativen Rand- und Vorbedingungen, ambivalenten Entwicklungslinien, gewollten Wirkungen, nicht-intendierten Folgen und sichtbaren Entwicklungsrisiken fragt (Liebert 2009).

In diesem Sinne wäre dann wohl auch die aktuelle Ausbildungsinitiative der Bundeswehr, in deren Rahmen der Kooperationsstudiengang mit der Hochschule Bremen angesiedelt ist, im Kontext ihres Gesamtszenarios zu betrachten:

Die Bundeswehr – so zeigen es die aktuellen Planungen – soll in der nächsten Zeit wachsen; ein besonderes Augenmerk kommt dabei dem Ausbau und der Bündelung von Cyber- und IT-Aktivitäten zu. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen stellte jüngst entsprechende Pläne der Öffentlichkeit vor. Bis Ende 2016 soll in ihrem Ministerium eine neue Abteilung Cyber/IT eingerichtet werden, und 2017 soll ein zusätzlicher militärischer Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum (CIR) aufgestellt werden (BMVg 2016b). Gleichzeitig wurden Kampagnen gestartet, mit denen auf dem Arbeitsmarkt stark nachgefragte IT-Spezialisten für die Streitkräfte gewonnen werden sollen. Ein Beispiel dafür ist das im März 2016 gestartete Projekt »Digitale Kräfte« mit dem Slogan „Entwickle mit uns die Bundeswehr der Zukunft“ (BMVg 2016a). Auf der Projekt-Website wird auch der Kooperationsstudiengang mit der Hochschule Bremen beworben. Der entsprechende Verweis auf die Hochschule Bremen und den konkreten Studiengang war übrigens dort schon lange, bevor die Hochschule Bremen die Kooperation offiziell beschlossen hatte, eingetragen.

Verantwortungsentschei­dungen in Institutionen

Selbstverständlich kann eine Hochschule keine Beschlüsse fassen, die verfassungsgemäße Rechte, wie die Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit, außer Kraft setzen würden. Wie sind dann aber institutionelle Selbstverpflichtungen einzuschätzen, die eine Ablehnung jeglicher Beteiligung von Wissenschaft und Forschung mit militärischer Nutzung bzw. Zielsetzung bzw. eine Verpflichtung auf den Frieden oder zivile Zwecke beinhalten? Derartige Beschlüsse – gemeinhin Zivilklauseln genannt – stellen kein grundsätzliches Verbot derartiger Forschung dar. Sie sind darüber hinaus weder ein trennscharfes Entscheidungsinstrument noch wird durch sie eine finale Kontrolle etabliert. Wirkungs- oder gar bedeutungslos sind solche Beschlüsse gleichwohl nicht: Denn wenn eine Hochschule oder eine andere große Institution solch einen Beschluss fasst, hat dies eine weitergehende Außenwirkung, als wenn einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für sich individuelle Entscheidungen treffen. Eine Institution, die einen derartigen Beschluss gefasst hat, muss sich dann auch daran messen lassen, wie der Beschluss gelebt wird und wie ernsthaft sich die Institution selbst damit auseinandersetzt:

  • Ermutigt und unterstützt sie ihre Mitglieder, regelmäßig im Sinne praktizierter gesellschaftlicher Verantwortung die Auswirkungen und Folgen eigenen wissenschaftlichen Handelns in Forschung und Lehre zu prüfen und zu hinterfragen?
  • Werden Studierende angeregt und eingeladen, sich mit entsprechenden Fragen und Problemen als Teil ihres Studiums zu beschäftigen?
  • Ermöglicht die Institution einen öffentlichen Diskurs über die Bedeutung und Folgen der dort betriebenen Forschung?
  • Schafft sie Transparenz durch eine Verpflichtung zur Bekanntgabe von Forschungsthemen, Kooperationen und Herkunft von Fördermitteln sowie die Verpflichtung zur Veröffentlichung von Forschungsergebnissen?
  • Fördert sie Diskurse in den Gremien und Fächern hinsichtlich der Ambivalenz wissenschaftlicher Erkenntnisse und Entwicklungen?

Die staatlichen Hochschulen im Land Bremen haben allesamt Beschlüsse gefasst, die als Zivilklausel verstanden werden. Den Auftakt machte im Januar 2012 die Bestätigung und Konkretisierung der bereits seit 1986 bestehenden Beschlusslage der Universität Bremen (vgl. Streibl 2012a). Im Juni 2012 wurde im Akademischen Senat der Hochschule Bremen eine Zivilklausel beschlossen (HSB 2012), und die Hochschule Bremerhaven folgte im Juli 2012. Erst einige Jahre später, im Jahr 2015, wurde im Bremischen Hochschulgesetz ein Paragraph eingeführt, der die Hochschulen des Landes explizit dazu verpflichtet, sich jeweils selbst eine Zivilklausel zu geben. Es wird dafür kein konkreter Wortlaut vorgegeben – dies wäre wohl auch rechtlich bedenklich; auf jeden Fall würde es den wesentlichen Sinn verfehlen und konterkarieren, innerhalb der Institutionen eine Auseinandersetzung und Beschlussfassung über eine solche Selbstverpflichtung zu befördern. Denn wenn eine Zivilklausel nicht aktiv gelebt und im wissenschaftlichen Alltag immer wieder aufs neue an Ambivalenzen geprüft und hinterfragt wird, verkommt sie schnell zur Makulatur.

Die aktuelle Entscheidung der Hochschule Bremen zur Einrichtung eines Kooperationsstudiengangs mit der Bundeswehr wurde in den letzten Tagen auch hinsichtlich der Vereinbarkeit mit der Zivilklausel der Hochschule Bremen diskutiert. Argumentative Versuche, in diesem Zusammenhang die Formulierung jener Zivilklausel nur auf Forschung begrenzt zu interpretieren und den Bereich der Lehre und des Studiums auszuklammern, muten vergleichsweise konstruiert und hilflos an. Konsequent wäre – sofern die Hochschule den Kooperationsstudiengang mit der Bundeswehr ernst meint –, die bestehende Zivilklausel an sich zu hinterfragen und ggf. abzuändern oder abzuschaffen. Ich selbst würde einen solchen Schritt sehr bedauern, aber das Festhalten eines halt- und bedeutungslosen Feigenblattes, während gleichzeitig mit der Einrichtung dieses Kooperationsstudiengangs strukturelle Fakten in anderer Richtung geschaffen werden, erscheint mir als noch schlechtere Alternative.

Eine wichtige Funktion hat eine Zivilklausel in einer Institution übrigens auf jeden Fall: Sollten Beschäftigte aus Gewissensgründen oder ethischen Überlegungen unter Verweis auf die in ihrer Institution beschlossene Zivilklausel die Mitarbeit an Projekten oder Kooperationsprojekten mit militärischen Bezügen verweigern, dann wäre es wohl insbesondere die Aufgabe der Hochschulleitung sicherzustellen, dass diesen Personen hieraus keine Nachteile erwachsen. Spätestens hier wird die Absurdität der Situation, welche die Leitung der Hochschule Bremen mit der Einrichtung solch eines Kooperationsstudiengangs selbst geschaffen hat, offenbar.

Individuelle Entscheidung

Erfreulicherweise thematisiert das Bremische Hochschulgesetz auch jenseits institutioneller Beschlüsse und Zivilklauseln schon seit langem Fragen der Verantwortung und fordert in dem der Freiheit von Wissenschaft und Kunst, Forschung, Lehre und Studium gewidmeten Paragraphen alle an Forschung und Lehre Beteiligten zur Achtsamkeit hinsichtlich der gesellschaftlichen Folgen wissenschaftlicher Erkenntnisse auf.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind dem Rahmen und Kontext, in dem sie tätig werden, nicht passiv-hilflos ausgesetzt. Sobald sie sich als in Forschung und Entwicklung sowie in Lehre und Studium aktiv Handelnde begreifen, sind sie gefordert, sich proaktiv mit unterschiedlichen Perspektiven, ethischen Fragen, Ambivalenzen des Faches sowie der eigenen Verantwortung auseinanderzusetzen und, sie müssen dann letztendlich für sich individuelle Entscheidungen treffen (vgl. auch Liebert 2005).

Eine solche Entscheidung habe ich nun für mich getroffen: Als Reaktion auf den Beschluss der Hochschule Bremen, den besagten Kooperationsstudiengang mit der Bundeswehr einzurichten, werde ich – wie bereits eingangs erwähnt – meine langjährige Mitwirkung in diesem Studiengang beenden. Seit Gründung des Internationalen Frauenstudiengangs Informatik an der Hochschule Bremen im Jahr 2000 war ich regelmäßig dort als Lehrbeauftragter für »Informatik und Gesellschaft« tätig. Mein Bemühen galt der Schaffung eines anregenden Lern- und Studienambiente, in welchem – geprägt durch Offenheit, Wertschätzung und Reflexion – die Studentinnen die Möglichkeit erhalten sollten, Szenarien und Entwicklungen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und zu bewerten, ihre und anderer Leute Sichtweisen in Frage zu stellen und vor allem kontrovers zu diskutieren.

In der Presse wurde berichtet, dass – laut Leitung der Hochschule Bremen – die Bundeswehr keinen Einfluss auf Inhalte des Studiums nehmen könne. Dies mag formal auch so sein. Durch die strukturelle und finanzielle Verbindung zwischen Hochschule und Bundeswehr verändert sich aber der Gesamtkontext. Ich selbst bin nicht dazu bereit, als Person und mit meiner Lehrveranstaltung Teil solch einer Konstruktion zu sein – auch vor dem Hintergrund meiner oben skizzierten Überlegungen und Überzeugungen hinsichtlich der Friedensorientierung und Verantwortung in der Wissenschaft.

Der Beschluss, einen Dualen Studiengang mit der Bundeswehr als Kooperationspartner einzurichten, hat eine öffentliche Debatte in Bremen ausgelöst. Ich würde es sehr begrüßen, wenn die Leitung der Hochschule bereit wäre, entsprechende Diskussionen sowohl innerhalb der Hochschule als auch öffentlich weiter zu führen.

Hierfür stehe ich gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen,
Ralf E. Streibl

Literatur

Albrecht, S.; Bieber, H.-J.; Braun, R.; Croll, P.; Ehringhaus, H.; Finckh, M.; Graßl, H.; von Weizsäcker, E.U. (Hrsg.) (2009): Wissenschaft – Verantwortung – Frieden: 50 Jahre VDW. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag.

Bundesministerium der Verteidigung/BMVg (2016a): Projekt Digitale Kräfte (Website).

Bundesministerium der Verteidigung/BMVg (2016b): Die Bundesministerin – Tagesbefehl 26.04.2016 (CIR).

rpm (2016): Verwaltungsdienst – Kooperation mit fünf Hochschulen. bundeswehr-journal.de, 8. Mai 2016.

Brössler, P.; Biskup, H.; Rauschmayer, H. (1996): Damals hatte es ja keine Bedeutung – Ein Softwarehaus stellt sich der Gewissensfrage. FifF-Kommunikation, 13(3), S. 28-34.

Fuchs, A. (2004): Vom »neuen Denken« zur »neuen Weltordnung«. In: Sommer, G.; Fuchs, A. (Hrsg.): Krieg und Frieden – Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie. Weinheim: Beltz, S. 237-249.

Galtung, J. (1998): Frieden mit friedlichen Mitteln – Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen: Leske + Budrich.

Hochschule Bremen/HSB (2012): Zivilklausel der Hochschule Bremen. Beschluss des Akademischen Senats vom 12. Juni 2012.

Kuipers, B. (2003): Why don’t I take military funding? Online unter web.eecs.umich.edu/­~kuipers/.

Liebert, W. (2005): Dual-use revisited – Die Ambivalenz von Forschung und Technik. Wissenschaft und Frieden, 23(1), S. 26-29.

Liebert, W. (2009): Umgang mit Dual-Use von Technologien und Ambivalenz in der Forschung. In: Albrecht, S.; Bieber, H.-J.; Braun, R.; Croll, P.; Ehringhaus, H.; Finckh, M.; Graßl, H.; von Weizsäcker, E.U. (Hrsg.): Wissenschaft – Verantwortung – Frieden: 50 Jahre VDW. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, S. 445-450.

Max-Planck-Gesellschaft/MPG (2010): Hinweise und Regeln der Max-Planck-Gesellschaft zum verantwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungsrisiken (beschlossen am 19. März 2010 vom Senat der Max-Planck-Gesellschaft).

Neuneck, G. (2009): Die deutsche Pugwash-Geschichte und die Pugwash-Konferenzen. Ursprünge, Arbeitsweise und Erfolge – Das Ende des Kalten Krieges und die Herausforderungen der Zukunft. In: Albrecht, S.; Bieber, H.-J.; Braun, R.; Croll, P.; Ehringhaus, H.; Finckh, M.; Graßl, H.; von Weizsäcker, E.U. (Hrsg.): Wissenschaft – Verantwortung – Frieden: 50 Jahre VDW. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, S. 378-392.

Nicklas, H. (1996): Erziehung zur Friedensfähigkeit. In: Imbusch, P.; Zoll, R. (Hrsg.): Friedens- und Konfliktforschung. Opladen: Leske+Budrich, S. 463-480.

Parnas, D.L. (2009): Ein Brief aus dem Jahr 1985. Retrospektive. FifF-Kommunikation, 26(1), S. 7-10.

Rotblat, J. (1995): Remember your Humanity. Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises.

Streibl, R.E. (2012a): Bremer Universität bestätigt Zivilklausel – Wichtiges Signal für Verantwortung in der Wissenschaft. Wissenschaft & Frieden, 30(1), S. 58-59.

Streibl, R.E. (2012b): It’s a Challenge – Militärische Roboterwettbewerbe. FifF-Kommunika­tion, 29(1), S. 21-25.

Winograd, T. (1985): Einige Gedanken zur finanziellen Fo?rderung durch das Milita?r. In: Bickenbach, J.; Keil-Slawik, R.; Löwe, M.; Wilhelm, R. (Hrsg.): Militarisierte Informatik. Schriftenreihe »Wissenschaft und Frieden« Bd. 4. Marburg/Berlin/Münster: BdWi/FIfF/Natwiss, S. 169-173.

Ralf E. Streibl ist Diplom-Psychologe und arbeitet hauptberuflich an der Universität Bremen im Fach Informatik sowie im Personalrat. Von 2000 bis 2016 war er zusätzlich als Lehrbeauftragter im Studiengang IFI an der Hochschule Bremen tätig. Er ist langjähriges Mitglied des Forum Friedenspsychologie sowie des Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortungen und dort auch Mitglied des Beirats.

„Dass wir zivilisiert sind, ist eine Lüge“

„Dass wir zivilisiert sind, ist eine Lüge“

Plinio Villagráh Galindo im Interview mit María Cárdenas

von Plinio Villagráh Galindo und María Cárdenas

Der guatemaltekische Künstler Plinio Villagráh Galindo stellte die Bilder für diese Ausgabe von W&F zur Verfügung. In seinen Werken beschäftigt er sich u.a. mit Gewalt, Polarisierung und ihren Folgen für die Gesellschaft und das Individuum. Für ihn ist Gewalt eine politische, soziale und historische Realität, deren Spuren im menschlichen Körper sichtbar werden. Deshalb versucht er, dieser Realität über eine Betrachtung dieser Spuren mittels Kollagen, Grafiken und Installationen näher zu kommen. Er befasst sich dabei auch mit der Kommerzialisierung von Kunst und dem Wunsch nach einer »schönen« Kunst, die jedoch den realen Schrecken der Welt verdeckt. Das folgende Interview erkundet die Hintergründe seiner Kunst und hilft, die Bilder in diesem Heft zu »entschlüsseln«. Eine Reihe seiner Werke steht unter arte-sur.org/artists/plinio-villagran-galindo-2 in Farbe online.

Maria: Plinio, wie bist du zur Kunst gekommen?

Plinio: Das begann, als ich an der Universidad de San Carlos in Guatemala-Stadt Architektur studierte. Mit einigen Freunden gründete ich das Kollektiv »La Torana«. Im Kollektiv arbeiteten wir mehr als zehn Jahre lang auf verschiedene Weise zusammen. Zuerst stellten wir lediglich zusammen aus, doch bald konzipierten wir auch gemeinschaftliche Kunstwerke und verknüpften in ihnen unsere jeweiligen Kunstformen, Methoden und Visionen. Unser Ziel war es, eine wahrhaft kollektive Kunst zu schaffen. Mein künstlerisches Leben ist also aus einem gemeinschaftlichen Projekt erwachsen. Gemeinschaft – das gibt es in Guatemala, einem sehr polarisierten Land mit ausgeprägter sozialer Schichtung, sehr selten.

Maria: Was meinst du mit gemeinschaftlicher bzw. kollektiver Kunst?

Plinio: Als ich noch Teil des Kollektivs war, dachten wir wirklich als Einheit. Wir entwickelten zu fünft eine gemeinsame Idee und setzten sie in einem gemeinsamen Werk um. Das Kollektiv funktionierte also wie ein einziges Gehirn. Jeder von uns hatte zwar seine eigenen Ideen, wir mussten uns aber gemeinsam darauf einigen, wie das Werk schließlich aussehen soll. Hier liegt der Unterschied zu einem herkömmlichen Kollektiv, in dem verschiedene Akteure zusammenarbeiten, denn wir erarbeiteten uns diese Kollektivität regelrecht durch Lernprozesse, Theoriebildung und Gruppenkritik.

Diese Zeit war außerordentlich lehrreich für mich, da ich hier lernte, meine Kunst aus einer gemeinschaftlichen Kritik heraus zu konzipieren. Wir arbeiteten auf Augenhöhe miteinander und befassten uns mit den spezifischen Problemen, denen die Kunst in einem gewaltsamen Kontext wie dem guatemaltekischen ausgesetzt ist. Als ich mit einem Stipendium nach Mexiko ging, verlief sich das Kollektiv. Doch die gemeinsame Zeit prägt uns bis heute.

Maria: Du hast von der Polarisierung in Guatemala gesprochen und davon, wie besonders es ist, in diesem Kontext gemeinsam Kunst zu machen. Wie hat dich diese Zeit der Gewalt während des Bürgerkriegs in Guatemala geprägt?

Plinio: Ehrlich gesagt, habe ich die Gewalt in Guatemala ganz anders erlebt als die Generation vor mir. Zudem bin ich zwar im Kriegskontext aufgewachsen, meine Familie war aber nicht politisch aktiv, sodass ich den Krieg vor allem indirekt, über die Zensur und die Selbstzensur, erfahren habe. Ich wuchs in einer »Kultur der Stille« auf.1

Maria: Wie hat dich und deine Generation diese Kultur der Stille in eurer beruflichen und persönlichen Entwicklung betroffen?

Plinio: Das wurde vor allem über Verbote transportiert, wie »davon redet man nicht«, »rede nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst«, »rede nicht so laut«. Die Kultur der Stille überschattet alles: die freie Fortbewegung, die Möglichkeit, sich frei auszudrücken, was du tun sollst und darfst. Dies hat mich und meine Generation in der Entwicklung eigener Positionen und dem Einüben, dem Formulieren von Widerspruch stark behindert. Ich habe versucht, diese Muster aufzubrechen. Allerdings ist es nicht einfach, sich von dem Gefühl zu befreien, dass du permanent überwacht wirst, denn genau das vermitteln uns unsere Eltern ständig. Gleichzeitig ist meine Generation im Vergleich zur vorherigen sehr apathisch. Die Geschichte hat uns enttäuscht – der Krieg ist zwar vorbei, es hat sich aber nicht wirklich etwas verändert. Viele soziale Probleme bestehen unverändert weiter.

Als die Friedensverträge unterzeichnet wurden, war ich ein Heranwachsender; ich erlebte also vor allem den Übergang vom Krieg zur Demokratie. Allerdings muss dazu gesagt werden, dass sich mit diesem Übergang lediglich die Form der Gewalt verändert hat – die Gewalt selbst ist nicht verschwunden. Es gibt heute aufgrund der sozialen Probleme im Land mehr Morde unter den Jugendlichen als früher. Die Gangs und der Drogenhandel sind das Ergebnis einer gesellschaftlichen Indifferenz, des Rassismus und der sozialen Ungerechtigkeit, in der wir leben – in der wir zur Kriegszeit lebten, und die im sozialen Gewebe noch immer weiterlebt. Die USA tragen für diese sozialen Probleme eine besondere Verantwortung, in ganz Lateinamerika, aber das ist ja nichts Neues.

Maria: Welche Rolle kann die Kunst in diesem Kontext spielen?

Plinio: Die Kunst muss von einem kritischen Bewusstsein ausgehen: Wir, die wir die Möglichkeit zum kritischen Denken haben, müssen uns dieser bedienen. Wenngleich auch die Kunst nicht die vielen schwerwiegenden Probleme, vor denen z.B. Guatemala steht, lösen kann, so kann sie doch zumindest Werkzeuge für das Denken und die Diskussion liefern. Wie aber schaffen wir die Nähe zur Öffentlichkeit? Mit dieser Frage haben sich schon Karl Marx und Walter Benjamin beschäftigt: Wie können diese Werkzeuge auch der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden? Diese Frage ist nach wie vor aktuell

Diesen Knoten versuche auch ich zu entwirren. Schau dir meine Arbeiten an: Sie befassen sich mit Sexualität, Gewalt, Tod. Aber in dieser markt- und konsumorientierten Gesellschaft, die Angst vor dem Tod und vor dem Zerfall hat, möchte niemand gespaltene Schädel sehen, so metaphorisch sie auch sein mögen. Die Zeichen des Todes waren noch nie angenehm für Menschen. Aber wie willst Du sonst ein Bewusstsein, ein Gewissen schaffen? Mit Blümchen und bepinseltem Porzellan?

Maria: Wenn du Guatemala und Mexiko vergleichst, welche Ähnlichkeiten und Unterschiede siehst du?

Plinio: Na ja, Mexiko und Guatemala haben eine große indigene Bevölkerung, wir essen Bohnen und Tortillas und haben »eine große prähispanische Vergangenheit«. Jenseits der Tourismusklischees jedoch, kritischer gesehen, springen ganz andere Ähnlichkeiten ins Auge: der Rassismus, die Homophobie, der Sexismus, ein armseliges Justizsystem. In Mexiko wie in Guatemala gilt es als angenehmer, den Indigenen als Skulptur oder in einem Gemälde zu betrachten als in seiner realen und wahrhaftigen Existenz.

Auf der anderen Seite unterscheiden sich Mexiko und Guatemala in ihrer Konstituierung als Nation und hinsichtlich der Rolle der Kunst in diesem Zusammenhang sehr stark. Mexiko visualisierte seine Konstituierung als »heroische Nation« mittels Statuen, Theaterstücken, Kinofilmen und Wandmalereien. Der mexikanische Staat sah sich schon früh als Nation der Denker und Intellektuellen und hat diese Wahrnehmung seither immer gefördert. Guatemala hingegen war ein Land der ignoranten Großgrundbesitzer, ein durch und durch latifundistischer und ausbeutender Staat. Dies wirkt sich auf die Kunst aus: Guatemala hat Ausstellungsräume, Mexiko hat Museen.

Maria: Du sprichst davon, dass die Indigenen nur als folkloristisches Objekt Eingang in die Massenkultur Guatemalas gefunden haben bzw. nur als solches existieren dürften. Wie gehen du und andere kritische Künstler mit dieser Entmündigung um?

Plinio: Ich setze an ihrer eigenen Strategie an, das heißt, ich zeige diese unterdrückerischen Elemente, allerdings stelle ich sie neben archetypische Schönheit. Meine Bilder sind immer Referenzen auf die Gewalt, die ich aber mit der Schönheit vermische, die die Menschen eigentlich sehen wollen. So versuche ich, die Betrachter zu konfrontieren und ihre Sehgewohnheiten zu stören.

Nimm zum Beispiel das Werk, bei dem ich den Kopf eines Geköpften dreimal nebeneinander in Farbpaletten von Blau und grün abbilde und darunter ein Landschaftsbild von Humberto Garavito, einem sehr bekannten guatemaltekischen Maler stelle (siehe Abbildung auf auf S. 27). Dieser hat seine Kunst an die reichen Konservativen verkauft, die einfach nur ein schönes Landschaftsbild haben wollten. Bei seinen Landschaftsbildern sind die Indigenen immer als Objekt im Bild dem Malerischen untergeordnet; der Indigene fungierte in diesen Bildern lediglich als Maßstab, um die Perspektiven und Größenverhältnisse des Bildes besser zur Wirkung zu bringen. Diese scheinbare Schönheit des Bildes des guatemaltekischen Künstlers versuche ich durch die Konfrontation mit den Köpfen zu entmachten, denn diese stören den Betrachter in seinem Wunsch, nur das Schöne und Angenehme zu sehen.

Maria: Lass uns zur Gewalt zurückkommen. Wie hat das Aufwachsen in einem Kontext von Gewalt dich und deine Arbeit als Künstler beeinflusst?

Plinio: Ich komme aus dem Mittelstand. Mein Vater war Arzt und absolvierte sein praktisches Jahr in den Departments, die am meisten vom Krieg betroffen waren. Mein Bezug zum Krieg entstand durch die Aufzeichnungen, Dokumente und Fotografien, die er während seiner Studienzeit dort gemacht und aufbewahrt hatte. Eine wichtige Rolle spielten auch seine Bücher über Krankheiten und Obduktionsmethoden, der »Netter« (Atlas der Anatomie) etc. Dabei war mein Vater mit diesem Beruf nicht glücklich – er hatte immer Soldat werden wollen. Für mich ist dies völlig unverständlich und widersprüchlich und hat mich Zeit meines Lebens begleitet, als etwas Ungelöstes, Stilles. Die Beziehung zu meinem Vater wurde dadurch sehr geprägt, eine verbale Kommunikation zwischen uns war quasi inexistent.

Die Frustration meines Vaters, kein Soldat geworden zu sein, hat dazu geführt, dass ich mich mit den Widersprüchen in seinem Leben auseinandersetze, damit, wie er eine Antithese entwirft: Eigentlich liebt er das Militär, und das steht für Tod bzw. Töten. Und dann entscheidet er sich, Arzt zu werden, was das Synonym für Heilen ist. Diese Antithese spiegelt sich heute in meinen Werken wider.

Über das Fernsehen habe ich indirekt dann doch am Krieg teilgenommen. Die Strategie des Terrors, die über das Fernsehen verbreitet wurde, war sehr effektiv. Ich erinnere mich noch heute an die öffentliche Erschießung zweier Männer, die eines frühen Morgens im Fernsehen übertragen wurde. Sie hatten ein Mädchen entführt und vergewaltigt. Ziel war es, der Bevölkerung Angst zu machen und sie einzuschüchtern. Meine Eltern hatten mir verboten, es anzuschauen, also sah ich mir das heimlich an.

Maria: Und was für eine Beziehung zur Gewalt hast du heute? Zieht dich die Gewalt auf gewisse Weise an?

Plinio: Der Punkt ist nicht, ob Gewalt mich anzieht. Für mich ist sie ein existentieller Bestandteil des Lebens. In meiner Arbeit zeige ich sie, um dem anderen zu sagen: Schau her, das bist du, das sind wir. Es ist eine Lüge, dass wir zivilisiert sind. Die Aufklärung und der technische Fortschritt haben nichts gebracht. Schau dir an, unter welchen Bedingungen viele Menschen leben. Der Mensch wird immer eine wilde Gattung sein. Und doch, trotz all dem, entsteht Kunst. Das ist ein Mysterium.

Maria: Wir werden immer Wilde sein? Denkst du also, dass Gewalt und Brutalität quasi wie ein Gen in unserer Natur liegen und wir nichts dagegen machen können, dass es kein Mittel dagegen gibt?

Plinio: Ich denke dass es sehr wohl ein Gen gibt, nicht ein Gen der Gewalt – das Wort »Gewalt« ist ja durch menschliche Normativität geprägt. Tiere beispielsweise sind nicht gewalttätig, wir können ihr Handeln nicht unseren Geboten unterwerfen. Ich denke vielmehr, dass wir einen Instinkt haben, den wir nicht leugnen können, und um dies zu veranschaulichen, muss man sich nur einmal ein Fussballspiel näher anschauen. In vielen Fällen sind Fußballspiele ein Spektakel der Barbarei, das nicht kontrollierbar ist. Die Gewalt äussert sich hier in der Zerstörung von Gegenständen, aber auch in der Intoleranz, der Homophobie, dem Machismo, etc. Zeigt sich dort etwa – und das trotz aller Zivilisationsprozesse – nicht dieses Gen, welches uns so unverhältnismäßig handeln lässt? Selbst die gebildetsten Akademiker sind vor diesem Verhalten beim Fussball nicht gefeit.

Ich denke, die Bildung, die Herausbildung des Bewusstseins und die Entwicklung eines Subjekts, welches selbstbewusst ist, das sind positive Aspekte der emanzipatorischen Prozesse sozialer Gesellschaften. Aber selbst diese emanzipatorischen Prozesse bauen letztlich doch auf einem Teppich voller Leichen von bereits Besiegten auf. Diese Absurdität ist es laut Erasmus von Rotterdam, worauf die Zivilisation aufbaut. Das selbstbewusste Subjekt, welches zu sein wir anstreben – das ist durchaus möglich, allerdings kein Schicksal und kein Garant. Dieses Gen, von dem ich spreche, es kann in jedem Moment wieder ausbrechen. Ich meine nicht, dass wir den Status quo anerkennen sollten, sondern dass wir in unseren Gesellschaften und von uns selbst ausgehend im Rahmen unserer Möglichkeiten Denkstrukturen und ein Bildungshandwerk aufbauen sollten, welches es uns ermöglicht, den Ausbruch dieses Gens sinnvoll zu steuern.

Maria: Kunst hat also eine besondere Verantwortung, quasi einen Bildungsauftrag?

Plinio: Kunst ist für mich in erster Linie ein Selbstzweck. Aber sie nimmt ihr Umfeld und dessen Phänomene in sich auf und spiegelt sie dann wider. Kunst ist keine Technik, keine Kunstfertigkeit, keine Genialität, sondern ein menschliches Produkt. Unnütz, an sich, denn sie hilft dir in deinem Leben nicht weiter. Andererseits hilft sie dir doch: Sie zeigt dir, dass du ein Mensch bist, der fähig ist zur Reflexion, der kritisch mit der Realität, in der er lebt, umgehen kann.

Kritisch sein wiederum bedeutet für mich, eine Beziehung zu deinem Kontext zu pflegen und zu wissen, was passiert, es auseinander zu nehmen, zu studieren, um es zu verstehen. Etwas aus deinen eigenen Werkzeugen zu machen. Ich möchte nicht missverstanden werden: Die Kunst ist kein Sozialaktivismus, keine direkte Politik. Es ist ein Unterschied, ob wir Gegebenheiten aufnehmen, um aus ihnen heraus einen spezifischen Vorschlag herauszuarbeiten, oder ob wir sie wie ein Pamphlet hochhalten.

Maria: Wie wirkt sich Gewalt heute auf deine Arbeit und dein Leben aus?

Plinio: Hier in Mexiko bin ich ein freier Mensch – auch in Guatemala könnte ich es jetzt sein, denn das Land hat sich sehr verändert. Gewalt und Tod sind heute seltener geplant und nicht mehr so persönlich, eher zufällig: Ich fahre im Bus, und auf einmal werde ich von einem verirrten Schuss getroffen, oder ich sterbe bei einem Überfall.

Auf der anderen Seite ist diese Freiheit nicht absolut. Die kapitalistische Gesellschaft wird durch eine gesichtslose Gewalt beherrscht: ein Paar Prada-Schuhe, die so viel kosten, dass eine ganze Familie in Zentralafrika davon ein Jahr Essen kaufen könnte. Diese Gewalt ist obszöner, brutaler – und pornografischer als die Pornographie selbst. Die Gewalt, die durch den Kampf um Ideale entstand, ist aus meiner Sicht Vergangenheit. Andererseits – es werden noch immer Intellektuelle aufgrund ihrer Aussagen politisch verfolgt.

Maria: Du sagst, die Gewalt aufgrund der Verfolgung politischer Ideen sei Vergangenheit. In Guatemala gibt es aber doch immer noch politisch motivierte Gewalt. Was ist mit den Menschenrechtsverletzungen bei Minenprojekten, um die Widerstandsgemeinden einzuschüchtern? Wo liegt hier die Verbindung zwischen dem Kapitalismus als Unterdrücker und der Kunst als Mittel des Widerstands und der Kritik am Alltäglichen?

Plinio: Was ich sagen wollte ist, dass die Gewalt heute nicht mehr zwischen Rechten und Linken ausgetragen wird, sondern dass es heute um transnationale Interessen, den fortschreitenden Kapitalismus und den Bergbau geht, ohne Rücksicht auf Verluste, und das ist noch viel schlimmer. Der Kapitalismus ist eine Form von Gewalt, die im Verborgenen agiert und lernfähig ist. Die Gewalt des Kapitalismus bedient sich der Psychologie: durch den Konsumwahn, den Müll im Fernsehen, die Entfremdung. Dieses System nutzt die Verdinglichung als Werkzeug, um uns zu subjektivieren, in Dinge zu verwandeln und nicht in Personen. Die Kunst ist das Gegenteil davon. Sie zeigt, was die Menschen nicht sehen wollen, während der Kapitalismus, der das Begehren bedient, zensiert. Das Problem dabei ist allerdings, dass die Kunst in diesem holistischen kapitalistischen System nicht mehr getrennt von ihm existieren kann, sondern aufgrund der Marktdynamik innerhalb seiner Dialektik existiert: Auktionen, Kunstsammlungen, etc. Dies gegeneinander auszuhandeln, ist eine schwierige Aufgabe.

Maria: Was ist dein Eindruck von der Beziehung zwischen Gewalt, Krieg und Kunst in Guatemala und Mexiko?

Plinio: Ungeachtet der Unterschiede zwischen den Ländern, von denen ich vorher sprach, hat die zeitgenössische Kunst in beiden Ländern die gleiche kontextuelle Qualität – im Sinne einer Alternativen schaffenden und einschreitenden Kunst. Hieraus erwächst die besondere Bedeutung und Verantwortung, die Kunst hier hat: Sie ist ein Licht, welches die Dunkelheit der Ignoranz erleuchten kann. Der Bezug zu Gewalt kann helfen, eine Diskussion in Gang zu bringen, kritisch zu denken und eine Gemeinschaft zu gründen bzw. aufzubauen. Probleme wie Gewalt zu bekämpfen, ist eine Frage der kreativen Bildung. Das Problem ist, dass in Guatemala keine Räume hierfür existieren. Die kritische Kunst wird nicht gefördert; es gibt keinen Wunsch, Kunst als Diskussionsplattform zu verstehen und als solche zu stärken.

Maria: Eine letzte Frage: Du sprichst davon, dass die Kunst notwendig ist, um die Dunkelheit aufzuhellen? Wie funktioniert das?

Plinio: Die Kunst, wenngleich sie häufig als elitär bezeichnet wird, ist doch das einzige Medium, welches die Werkzeuge für Reflektion zur Verfügung stellt. Sie ist das Schlachtfeld der Ideen, der Kreativität, der Sensibilität als Waffe gegen die Gewalt.

Hiermit möchte ich gerne schließen: Die Kunst ist nicht elitär, sie formt eine Elite – das ist etwas anderes. Nehmen wir zum Beispiel die deutsche und französische Burgeoisie. Sie schufen das moderne westliche Denken. Die Aufklärung, die Emanzipation, das sind Ideen, die nicht aus der Masse erwachsen sind, sondern aus der Bourgeoisie. Das hat selbst Marx im ersten Teil von »Das Kapital« anerkannt. Die Bourgeousie ist der Vorreiter, zu ihr wird aufgeschaut. Aber die Industrialisierung und die Vermarktung haben die Kunst entwertet bis hin zu dem Punkt, dass sie selbst zum Ausbeuter wurde, ein Monster, welches den Westen zu dem gemacht hat, was er heute ist. Das Problem ist also nicht, dass es eine Bourgeoisie gibt, dass die Kunst in Galerien verkauft wird und dass es Auktionen gibt. Das Problem ist, dass eben diese Bourgeoisie sich entmenschlicht hat, dass sie sich nicht (mehr) für eine gerechte Bildung und für den Aufbau einer Gesellschaft emanzipierter Subjekte interessiert. Eine solche Gesellschaft fehlt bis heute. Stattdessen sind wir in eine dunkle Vergangenheit zurückgekehrt, in der es neue Formen der Sklaverei gibt, neue Formen der Ausbeutung, ganze Länder, die in unvorstellbarem Elend leben. Es gibt keine Wertschätzung für das menschliche Leben und für die Menschlichkeit. Die Abschiebegefängnisse der USA sind dafür ebenso Zeugnis wie die haitianischen Mädchen, die sich aus Hunger prostituieren. Was, frage ich, bringt da die Kunst noch? Das ist eine Frage, die ich mir immer und immer wieder stelle – und die zu beantworten, das ist nicht einfach.

Anmerkung

1) Zum Thema »Stille« und den sozial- wie individualpsychologischen Langzeitfolgen des innerstaatlichen Konflikts in Guatemala siehe: María Cárdenas und Philipp Schultheiss: Das zerrissene Geflecht der Seele. Langzeitfolgen des Konflikts in Guatemala. W&F 2-2013, S.6-9.

Plinio Villagráh Galindo (35) aus Guatemala-Stadt lebt seit fünf Jahren in Oaxaca, Mexiko. Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr obduziert er die Welt und das Geschehen in dieser auf Leinwänden.
María Cárdenas ist Friedens- und Konfliktforscherin (M.A.), arbeitet momentan bei UNDP in Timor-Leste und ist Mitglied der W&F-Redaktion. Das Interview wurde über E-Mail und Skype geführt.

Bilder im Zeitalter des Drohnenkriegs

Bilder im Zeitalter des Drohnenkriegs

Tim Holert im Interview mit Felix Koltermann

von Tim Holert und Felix Koltermann

Am Rande der Tagung »Image Operations«, die im April 2014 in Berlin stattfand, führte Felix Koltermann ein Gespräch mit Tim Holert über »operative Bilder und die Funktion von Bildern in Kriegen.

FK: Die Tagung trägt den Titel »Image Operations«. Was verbinden Sie mit dem Begriff?

TH: Zum einen ist natürlich der Bezug zu Harun Farockis Begriff der »operativen Bilder« offensichtlich und auch gesucht. Farocki beobachtet seit Jahrzehnten mit den Mitteln des Dokumentarfilms unterschiedliche Kontexte der Bildgebung und der Transformation unseres weiterhin stark an Repräsentation und Abbildung orientierten Bildbegriffs. So ist ihm etwa bei den Simulationen, die in der Ausbildung von Piloten zum Einsatz kommen, aufgefallen, dass solche Bilder zu Bestandteilen einer funktionalen, technischen Umgebung geworden sind, die ein mehr oder weniger automatisches Handeln und Verhalten bedingen. Eine solche determinierende oder programmierende Funktion von Bildern bezeichnet Farocki als operativ.

Der Begriff der »Image Operations«, wie ihn die Organisatoren dieser Tagung verstehen, ist allerdings noch etwas weiter gefasst. Es geht hier nicht nur um die erwähnten, Handlungen und Entscheidungen konditionierenden Funktionen von Bildern in technisch kontrollierten Umgebungen, sondern um jene Bildoperationen, die beispielsweise Feindvorstellungen formen, zur Identifizierung mit Opfern oder Tätern auffordern und generell auf Meinungsbildung aus sind. Diese Operationen finden im Raum der Öffentlichkeit, der Zivilgesellschaft und der Medien statt; sie zeigen sich an den Bildpolitiken von Medienkonzernen oder Nichtregierungsorganisationen oder daran, wie Bilder von Staaten und der Wirtschaft zur Propagierung ihrer Ziele und zur Bewerbung ihrer Produkte eingesetzt werden.

Darüber hinaus wird in der Tagung an einen anderen, doch wieder näher an Farocki liegenden Begriff von Operativität oder Operationalität angeknüpft, der sich auf bildgebende Verfahren und deren Handlungen auslösende und steuernde Funktionen in den diagnostischen und therapeutischen Bereichen der modernen, in vieler Hinsicht digitalisierten Medizin bezieht. Also kann man von einer gewissen Öffnung und Erweiterung des Farockischen Begriffs sprechen.

FK: Muss man bei der determinierenden Funktion, die Bilder nach dieser Logik einnehmen können, verschiedene Kontexte unterscheiden, in denen Bilder operieren oder eingesetzt werden?

TH: Unbedingt. Ich würde davon abraten, einen Bildbegriff anzustreben, der wie ein Passepartout auf alle Kontexte passt. Das wäre vollkommen unangemessen. Dafür sind die spezifischen operativen Einsatzgebiete von Bildern tatsächlich zu unterschiedlich und bedingen auch jeweils die Wirkung, die Bilder haben können. Wenn man sich etwa klarmacht, wie das Militär die Zirkulation von Bildern kontrolliert und ganze Bildräume dem öffentlichen Blick beispielsweise durch Zensur verwehrt, dann ist offensichtlich, dass es weniger um Bilder als um asymmetrische Sichtbarkeiten geht, und die Verfügbarkeit visueller Daten immer auch deren Abwesenheit bedeuten kann. Für die einen sind sie entscheidende Hilfsmittel bei der Definition und Destruktion so genannter Zielpersonen (oder allgemeiner: »targets«), für die anderen bleiben sie mehr oder weniger »Bildgerüchte«, um welche sich Vorstellungen von militärischem Handeln ranken, die aber wiederum dort wirkmächtig werden können, wo diese Bildgerüchte öffentlich diskutiert werden.

FK: Gerade im Zusammenhang mit Bildern und Krieg ist immer wieder der Begriff des »Bilderkriegs« in Gebrauch. Meiner Wahrnehmung nach steckt hinter diesem Begriff auch eine Form der Versicherheitlichung des Bilddiskurses. Wie schätzen Sie das ein? Halten Sie es für produktiv, diese Rahmung »Bilderkrieg« zu benutzen?

TH: Ich halte ehrlich gesagt nicht allzu viel von dieser Formulierung. Natürlich erscheint die Metapher sehr griffig, jeder kann sich darunter irgendetwas vorstellen. Zugleich ist »Bilderkrieg« aber eine der ungenauesten Begriffsprägungen. Man muss bei der Verwendung des Begriffs »Krieg« sehr vorsichtig sein. Aufgrund seiner Kombination aus imaginativer Wucht und semantischer Vagheit lässt er sich ideologisch allzu leicht aufladen. Er wandert dann in unterschiedliche Bereiche, die als kriegerisch zu bezeichnen ihren wahren Charakter, etwa als Polizeiaktionen oder der immer umfassenderen Prägung des Alltags durch Aspekte von Sicherheit und Versicherheitlichung, verkennen. Wenn zwischen dem »War on Drugs« und dem »War on Terror« die Grenzen fließend werden, muss unterschieden werden zwischen der Militarisierung von polizeilichen Formen des Regierens und jener Rhetorik, die diese Militarisierung legitimiert und ihr eine – durchaus brisante – Evidenz und Plausibilität verleiht. So lädt auch die Verwendung der Formel »Bilderkriege« letztlich dazu ein, beide Bestandteile der Metapher, die jeweils für sich schon höchst vieldeutig sind, weiter zu verunklären.

FK: Heißt dies, dass in der Diskussion um die Funktion von Bildern in Kriegen auch eine Art von Ideologisierung des Diskurses stattfindet, die die Verschiebung der Auseinandersetzung vom eigentlichen Kriegsgeschehen zur Bildebene zum Ziel hat?

TH: Das wird mit Prägungen wie »image wars« oder »cyber wars« durchaus angestrebt. Man will damit die Vorstellung etablieren, dass sich das Kriegsgeschehen von den physischen Körpern und den Landschaften in die Virtualität von Bildern und Informationen verlagern lässt. Wie gesagt, ich halte nicht allzu viel davon, den Begriff Krieg in dieser oder anderer Weise zu dehnen.

Andererseits ist beispielsweise nicht zu leugnen, dass Datenverarbeitung und Kampfgeschehen unauflöslich miteinander verwoben sind. Die Realität militärischer Ereignisse ist nicht mehr ohne Bezug auf ihre kybernetische Dimension zu begreifen. Zwischen den computerisierten Plattformen militärischer Aufklärung, Überwachung und strategischer Planung und den handelnden (und leidenden) Personen in den physischen »Theatern« des Krieges besteht längst viel mehr als der gute alte Funkkontakt. Die Ebenen oder Räume des Bildlichen sind hier auf unterschiedliche Weise aktiviert. Das reicht von der Krypto-Propaganda des »embedded journalism« oder den neuen, in den sozialen Medien ausgeübten Formen verallgemeinerter Berichterstattung durch Bildreporter und Blogger, die sich außerhalb oder am Rand der Sphären des professionell organisierten Journalismus bewegen, bis hin zu per Satellit oder Drohne erhobenen Datenpaketen, die als Bilder auf den Monitoren der Kontrollräume und tragbarer Kommunikationsgeräte im Kampfgebiet ausgegeben werden.

FK: In ihrem Vortrag auf der Konferenz »Image Operations« haben Sie vor allem über den Drohnenkrieg referiert. Wie ist denn dort das Verhältnis? Spielen digitale Bildtechniken dort nicht eine entscheidende Rolle, weil sie diese Form der Kriegführung erst möglich gemacht haben?

TH: Ja. Aber es sind ja nicht nur Techniken der Bildgebung, sondern hoch entwickelte digitale Steuerungssysteme, die von satellitengestützten Verfahren bis zu eher traditionellen Radar- und Infrarotanwendungen reichen. Insofern wird man sich da sehr genau überlegen müssen, wie man den Bildbegriff in diesem Kontext kalibriert. Sicherlich ist es so, dass im Bereich der IRS (intelligence, reconnaissance, surveillance) nach wie vor auch die repräsentierenden Bilder eine große Rolle spielen, also beispielsweise die Full-Motion-Video-Feeds, welche die Drohnenpiloten und Bildanalysten am Boden auswerten und in Abstimmung mit den geheimdienstlichen und Regierungsstellen zur Definition bestimmter Missionen verwenden. Aber mit den traditionellen Konzepten und Performanzen des Bildes, die bis in die Renaissance und weiter zurück reichen, sind heute unauflöslich oftmals Bildlichkeiten verbunden, die sich weniger »visuell« als in mathematischen Formeln ausdrücken lassen.

Wenn das, was wir gemeinhin als »Bild« erkennen und begreifen, auch in seiner algorithmischen, vermeintlich nicht-ästhetischen Dimension theoretisch reflektiert wird, rückt ein angemessenes Verständnis des aktuellen Visuellen näher. Schlicht gesagt: Bilder sind ein Rohstoff, den Computerprogramme in eine Form bringen, die wiederum operativ »lesbar« ist. Nur in diesem Sinne lässt sich auch von einer Bildgestütztheit der Drohnenkriege sprechen. Noch einmal anders: Bilder in dem unmittelbaren Verständnis, das wir von ihnen haben mögen, »operieren« weiterhin in den neuen militärtechnologischen Assemblagen, aber man muss sie als Schnittstellen der Mensch-Maschine-Interaktionen, als komplexe Interfaces begreifen lernen, um von ihnen nicht länger eine Wahrheit über die Wirklichkeit zu erwarten. Andererseits könnte man auch sagen, dass Bilder letztlich immer schon, spätestens seit Erfindung der Fotografie, in dieser Weise – als auszuwertende Datensätze und Anlässe zur Mustererkennung und Feinbestimmung – verwendet wurden, zum Zwecke der Sichtbarmachung des Verborgenen und zur Produktion eines Ziels.

Ob eine Unterscheidung von unmittelbarer Bildevidenz und der Sprache der Codes und Algorithmen weiterhin sinnvoll ist, wo es um, wie es im Militärjargon heißt, tödliche »find, fix, and finish«-Missionen geht, berührt Fragen der Ontologie des Sichtbaren.

FK: Wenn wir nochmal zurückgehen zur visuellen Darstellung von Krieg: Was sind aus Ihrer Wahrnehmung die zentralen Veränderungen der letzten beiden Jahrzehnte?

TH: Eine immer wieder und zurecht zitierte Zäsur war der Zweite Golfkrieg von 1990/91, der die Fadenkreuz-Bilder aus den Köpfen der amerikanischen Marschflugkörper einführte. Diese Bilder haben die Vorstellung von Krieg und Kriegführung, von Sichtbarkeit und Sichtbarmachung militärischer Gewalt immens verändert.

Natürlich gab es auch schon im Ersten und Zweiten Weltkrieg Luftaufnahmen für Aufklärungszwecke, die auf militärische Entscheidungen direkten Einfluss nahmen. Oder man denke an den Vietnamkrieg und die spektakulären Bilder, die aus der Warte des Flugzeugs die Bombenteppiche und damit die (vermeintliche) Überlegenheit der amerikanischen Luftmacht dokumentierten. Aber mit den Entwicklungen seit den 1990er Jahren, zu denen auch satellitengestützte kartografisch-fotografische Erfassungen der Erde aus dem Orbit und die Einführung von Lokalisierungstechnologien wie GPS gehören, wurde die neoimperiale Vertikalität zu einem prägenden Element der Machtausübung.

Je mehr die dominante Visualität »top-down« organisiert ist, desto prekärer, aber auch wichtiger wird das Bildgeschehen am Boden. Der Bildjournalismus, ob nun von professionellen Reportern oder von »citizen journalists« betrieben, schildert und dokumentiert ja unter anderem jene Realitäten der Zerstörung, die von einer vertikalen Bild- und Kriegführung verursacht wurden. Die von Leuten am Boden gemachten Bilder sind auch deshalb von so großer Bedeutung, weil wir es heute vermehrt mit Bildern zu tun haben, die sich vom menschlichen Eingriff, vom menschlichen Auge und der Hand, die die Kamera hält, vollkommen befreit haben. Sie werden von Kameras produziert, die auf eine Rakete oder eine Drohne montiert sind. Das verändert auch die Vorstellungen darüber, wer der Agent oder die Agentin der Bildproduktion (nicht nur) in Kriegssituationen ist. Die Drohnen liefern Bilder genau diesen Typs und vermitteln damit das Gefühl, dass die Bildproduktion letztlich automatisiert und autonomisiert worden ist, also nur noch bis zu einem gewissen Grad menschlicher Kontrolle unterliegt.

Dazu kommen andere Veränderungen, wie die schon erwähnte »Einbettung« des Journalismus durch die USA, die zu Bildern des Krieges führte, die man so noch nicht kannte. Vieles, was nach »9/11« an neuen Bildsituationen durch die Krieg führenden Parteien angeregt und dirigiert wurde, ist relativ neu.

FK: Was bedeuten die von Ihnen geschilderten Veränderungen über Bildpraktiken im Krieg für den Konsumenten oder Rezipienten? Braucht es eine neue Bildkompetenz, oder was ist nötig, um diese Bilder überhaupt entschlüsseln und kontextualisieren zu können?

TH: Die erforderliche Bild- und Medienkompetenz ist schon eine andere geworden, weil man Bilder heute unter den Generalverdacht stellt, weitgehend manipulierbar zu sein. Dahinter steht das Wissen darüber, wie Bildbearbeitungsprogramme und die Digitalisierung auch zu einer Formbarkeit und zu einer Manipulierbarkeit des Bildes geführt haben.

Damit zusammen hängt auch die Frage, die beispielsweise von den öffentlich-rechtlichen Medienanstalten immer wieder gestellt wird, inwieweit etwa Handyvideos aus Kriegs- und Krisengebieten, die in die Nachrichten geraten, authentisch sind und inwieweit man von ihnen als dokumentarische oder journalistische Bilder im traditionellen Sinne der Profession sprechen kann. Immer mehr Akteure sehen sich ermächtigt, in die Rolle des Bildjournalisten zu schlüpfen. Das heißt, dass die Kompetenzen oder die Legitimitäten nicht mehr in der Weise festgezurrt sind, wie das traditionellerweise mit einem sehr strengen journalistischen Kodex der Fall gewesen ist, wo immer auch eine gewisse Professionalität der Ausgangspunkt war, um Bilder in den etablierten Medien überhaupt für satisfaktionsfähig zu halten.

Das heißt, auf der einen Seite braucht es zur Rezeption der Bilder eine veränderte, ausgeweitete Kompetenz, die vor allem die Überprüfung von Authentizität betrifft. Aber auf der Bildproduktionsseite zeigt sich eine veränderte Landschaft der Zuständigkeit und der Kompetenz.

FK: Bleibt damit dem Rezipienten letztlich nichts anderes übrig, als diese Kompetenz den Institutionen, die diese Bilder verbreiten, wie den klassischen Medieninstitutionen, zu überlassen, weil die Bildkompetenz so speziell ist, dass sie ein normaler Medienkonsument, der in Deutschland sozialisiert ist und kein spezielles Interesse an diesem Thema hat, eigentlich kaum haben kann?

TH: Ja, einerseits stimmt das. Weiterhin wird die Verantwortung für die Beurteilung von Bildern an die betreffenden Institutionen mit Deutungsautorität delegiert, oft auch sehr bereitwillig. Anderseits gibt es heute unendlich viel mehr Möglichkeiten, sich auch innerhalb kürzester Zeit gewisse Grundvoraussetzungen der Bild- und Medienkompetenz anzueignen. Das Internet und seine Infrastruktur der Suchmaschinen und Veröffentlichungsplattformen treibt einen förmlich in – natürlich stark formatierte – Praktiken der Produktion und Rezeption von »Bildern«. Gefordert (manchmal auch: gefördert) wird der angeblich selbstständige Umgang mit Bildern, die man in den sozialen Medien zirkulieren lassen soll. Das heißt, die Bereitschaft wird permanent geweckt und gesteigert, sich selbst ins Bild zu setzen und dabei auch als bildnerisch kreativ zu verstehen, was einhergeht mit einer erhöhten Laxheit oder Naivität im Umgang mit den besagten Plattformen, auf denen Bilder archiviert und verbreitet werden.

FK: Wenn wir abschließend nochmal auf den Zusammenhang von Bildern und Krieg schauen: Sind aus Ihrer Perspektive Strategien des Widerstands erforderlich, um Bilder aus dem militärischen Zusammenhang herauszulösen, und wie könnten diese aussehen? Braucht es vielleicht so etwas wie eine zivile Wiederaneignung des Bildes oder des Bildbegriffs?

TH: Ja, diese Notwendigkeit gibt es. Mir gefällt sehr gut, was die israelische Philosophin und Fototheoretikerin Ariella Azoulay dazu sagt. In Anlehnung an Rousseau, Benjamin, Arendt, Deleuze, Lyotard und andere schlägt sie – im konkreten Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts – den Begriff eines »fotografischen Sozialvertrags« vor. Damit verbunden ist der Gedanke, die Fotografie sei eine Praxis, bei der die verschiedenen an ihr beteiligten Akteure – die Kameras; diejenigen, die mit ihnen Fotos machen; diejenigen, von denen Fotos gemacht werden; diejenigen, die Fotos betrachten – in eine vertragsähnliche Beziehung zueinander treten, welche eine spezifische Form von Zivilität und Bürger_innenschaft sowohl herstellt wie bedingt.

Die Anerkennung des Anderen, die Verantwortung für das fotografisch Aufgenommene und für die je eigene Rolle in den Prozessen, die zu einer Fotografie führen, stören auf verunsichernde, politische Weise die Gewissheit über Eigentumsverhältnisse und Autorschaft. Einzelne Fotografien und »die Fotografie« als kooperatives oder konflikthaftes Ereignis werden in diesem Sinne zu einer geteilten, interaktiven und damit ethischen Angelegenheit. Die Betrachtung einer Fotografie erschöpft sich dann nicht in ihrer Interpretation entlang ästhetischer Kriterien, sondern involviert eine Verpflichtung, die Herrschaftsverhältnisse, die sich in ihr zeigen, mit den Kompetenzen einer Bild-Bürgerin oder eines Bild-Bürgers zu analysieren und zu kritisieren – und damit den Funktionen militärischer Kontrolle oder politischer Manipulation zu entwinden.

Zwischen den verschiedenen Seiten einer fotografischen Handlung entsteht also eine verpflichtende Bürgerschaft des fotografischen Bildes, die ich als Objekt, als Rezipient oder als Produzent annehmen kann. Dabei geht es nicht nur um Verantwortung im ethisch-moralischen Sinn, sondern um politisches Handeln in der Auseinandersetzung mit Bildern und mit Infrastrukturen der Bildlichkeit. Das betrifft auch und vor allem widerständige Bildpraktiken. Auf jeden Fall erscheint mir geboten, die Strategien des eigenen Bildhandelns diskursiv zu erfassen und sie gegebenenfalls zu verändern, um nicht in die Fallen einer bestimmten, abgelebten Vorstellung von Gegenpropaganda zu tappen, sondern ein aufgeklärtes Verständnis davon zu entwickeln, was es heißt, zu einem Akteur in Bildfragen zu werden – gerade dort, wo Bilder hochgradig militarisiert sind.

Ernste Spiele

Die Beziehung von Bildern, sowohl fotografischen wie computergenerierten, zum Krieg ist so vielschichtig und komplex, wie es das Geschehen des Krieges selbst ist. Bildgebende Verfahren haben eine immer größere Bedeutung in der zeitgenössischen Kriegstechnologie (siehe nebenstehendes Interview mit Tim Holert). Wie computergenerierte Bilder für das Training von Soldaten eingesetzt werden, ist noch bis Jahresende in der vierteiligen Werkreihe »Ernste Spiele« von Harun Farocki zu sehen, die in der gleichnamigen Ausstellung im Berliner Museum für Gegenwartskunst (Hamburger Bahnhof) gezeigt wird.

Das Simulieren von Krieg ist heute nicht nur ein elementarer Teil von Computerspielen, sondern auch zentraler Bestandteil der Einsatzvorbereitung von Soldaten, insbesondere in der US Army. Farockis Werkzyklus »Ernste Spiele« greift dieses Thema auf und zeigt verschiedene Möglichkeiten der Nutzung computergenerierter Bilder. Mit dem Titel der Arbeit greift er den Begriff der »Serious Games« auf, mit dem digitale Spiele bezeichnet werden, die nicht der Unterhaltung, sondern dem Training bestimmter Gruppen – in diesem Fall Soldaten – dienen.

Der Videozyklus »Ernste Spiele« hat dokumentarischen Charakter und wurde auf US-amerikanischen Militärbasen gedreht. Er umfasst vier Teile, die unterschiedliche Aspekte der Nutzung von Videospiel-Simulationen für das militärische Training der US-Armee zeigen. Im ersten Film, »Ernste Spiele I: Watson ist tot«, sind amerikanische Rekruten zu sehen, die in der digitalen Simulation einer Übung mit Militärjeeps durch eine Wüstenlandschaft fahren und dabei verschiedene Aufgaben bewältigen. Das Video »Ernste Spiele II: Drei tot« zeigt junge Rekruten bei einem simulierten Antiterroreinsatz gegen arabische Statisten auf einer Militärbasis in Kalifornien. In »Ernste Spiele III: Immersion« ist eine Testperson beim Einsatz einer Videosimulation zur Behandlung von Soldaten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung zu sehen. Im letzten Teil des Werkkomplexes, »Ernste Spiele IV: Eine Sonne ohne Schatten«, wird ein Ausbilder gezeigt, wie er die technische Beschaffenheit der Software vorführt, um die Computersimulationen für die Soldaten so realitätsnah wie möglich zu gestalten.

Auf anschauliche Art und Weise zeigt »Ernste Spiele«, welche sozialen und medialen Praktiken das Training für den Krieg mit sich bringt und welche mediale Hilfsmittel dabei zum Einsatz kommen. Die Grenze zwischen Videospiel und Simulation des Ernstfalls scheinen dabei fließend zu sein und orientieren sich allein am Ziel der in Farockis Arbeiten gezeigten Verfahren und Praktiken: der Perfektionierung des militärischen Handelns der Soldaten.

Die Ausstellung »Ernste Spiele« ist noch bis Anfang 2015 im »Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwartskunst« in Berlin zu sehen. Die Ausstellung ist Dienstag, Mittwoch und Freitag von 10 bis 18 Uhr, Donnerstag von 10 bis 20 Uhr sowie Samstag und Sonntag von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Weitere Informationen sind unter smb.museum/hbf zu finden . Eine Übersicht über Farockis Arbeiten findet sich auf der Webseite des Künstlers, farocki-film.de.

Felix Koltermann

Tim Holert ist ein in Berlin lebender deutscher Kunsthistoriker. Zusammen mit Mark Terkessidis gründete er das »Institute for Studies in Visual Culture«. Seit vielen Jahren forscht Holert zu bildwissenschaftlichen Fragestellungen, unter anderem zum Verhältnis von Bildern und Krieg. Holert veröffentlichte zahlreiche Monographien und Sammelbände, darunter das 2008 erschienene Buch »Regieren im Bildraum«.
Felix Koltermann ist Friedens- und Konfliktforscher, Trainer und Journalist. Er promoviert an der Universität Erfurt über die fotojournalistische Produktion in Israel und den palästinensischen Gebieten. Auf fotografieundkonflikt.blogspot.com bloggt er zum Thema.

Y’en a marre: HipHop in Bewegung

Y’en a marre: HipHop in Bewegung

von Louisa Prause

„Die Menschen legen Hoffnung in ihre Stimme. Doch die, die wir kennen, haben uns verraten. Wir werden alles von Beginn an neu aufbauen müssen. Wir wollen dich nicht mehr, du wirst den Zorn des Volkes spüren. Dieses Land braucht neues Blut, es ist Zeit für dich, zu gehen.“ Diese Worte richtet der Rapper Fou Malade im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2012 in dem Lied »Doggali« an den ehemaligen senegalesischen Präsidenten Wade. Fou Malade ist ein Gründungsmitglied und Anführer der Bewegung »Y’en a marre« – übersetzt: Wir haben die Schnauze voll. Y’en a marre war eine der wichtigsten Gruppen bei den Massenprotesten gegen die dritte und verfassungswidrige Präsidentschaftskandidatur von Abdoulaye Wade. Dieser Artikel geht der Frage nach, wie Y’en a marre im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2012 HipHop und Rap für die politische Mobilisierung der Jugend nutzte.

18. Januar 2011: Die Rapper Thiat, Kilifeu, Simon und Fou Malade sitzen bei einem Glas Tee in der Wohnung des Journalisten Fadel Barro im Banlieue von Dakar, und zwar im Dunkeln. Der Strom ist ausgefallen, wie fast jeden Tag. Das ist der Moment, in dem die Freunde beschließen, dass es ihnen reicht: Sie gründen die Bewegung »Y’en a marre«. So erzählt Fadel Barro den Gründungsmythos der Bewegung (Interview mit der Autorin, Fadel Barro, 28.02.2012). Zunächst prangern die Rapper und der Journalist vor allem die steigenden Lebenshaltungskosten sowie die schlechte Strom- und Wasserversorgung in Dakar an. Als erste Aktion formulieren sie einen Beschwerdebrief an Präsident Abdoulaye Wade, den sie auf kleinen Märschen in den dakarer Banlieues verteilen.

Drei Monate später, es ist der Feiertag der »Alternance«, der zu Ehren des friedlichen und demokratischen Machtwechsels im Jahr 2000 gefeiert wird. Y’en a marre ruft zu einem Sit-In auf dem Place de l’Obélisque im Zentrum von Dakar auf. Hunderte überwiegend junge Aktivisten folgen ihrem Aufruf. Das Sit-In richtet sich gegen die Politik von Präsident Wade, den ehemaligen Helden der »Alternance«. Y’en a marre macht Wade für die sich verschlechternden Lebensverhältnisse großer Teile der Bevölkerung, besonders der Jugend, verantwortlich.

23. Juni 2011: Tausende Menschen blockieren in der Hauptstadt Dakar die senegalesische Nationalversammlung und legen das gesamte Stadtzentrum lahm. Sie wollen die Abstimmung über einen Gesetzentwurf des damaligen Präsidenten Abdoulaye Wade blockieren, der ihm die Wiederwahl mit nur 25% der Stimmen ermöglicht hätte. Zudem sollte das Amt eines Vizepräsidenten eingeführt werden. Der Posten, so vermuten die Protestierenden, ist für seinen Sohn Karim vorgesehen. Nach massiven Auseinandersetzungen zwischen den Protestierenden und der Polizei muss Wade noch am Abend desselben Tages den Gesetzentwurf zurückziehen – ein fulminanter Sieg für die Protestierenden.

Der 23. Juni ist ein Wendepunkt für Y’en a marre. Die Bewegung hatte die Proteste am Tag zuvor mit einem Sit-In, bei dem Thiat und Fou Malade, zwei ihrer Anführer, verhaftet wurden, initiiert und andere oppositionelle Gruppen zum Demonstrieren gedrängt. Die Bewegung war bei der Parlamentsblockade stark vertreten, gut zu erkennen an ihren markanten T-Shirts mit der Aufschrift »Y’en a marre«.

Sechs Monate später, 27. Januar 2012: Das senegalesische Verfassungsgericht erklärt die dritte Kandidatur von Abdoulaye Wade für die im Februar anstehenden Präsidentschaftswahlen für gültig, obwohl Wade selbst eine Begrenzung auf zwei Amtszeiten eingeführt hatte. Am Abend kommt es zu einer nicht genehmigten Massendemonstration von Y’en a marre, gemeinsam mit dem zivilgesellschaftlichen Bündnis »M23«, das aus den Protesten am 23. Juni hervorgegangen war. Die Versammlung wird nach einem gemeinsamen Freitagsgebet gewaltsam aufgelöst. Wenige Tage darauf rufen Y’en marre und M23 erneut zu einer Versammlung auf. Tausende kommen zum Place de l’Obélisque. Trotz Genehmigung der Versammlung wird der Platz erneut gewaltsam geräumt. Zwei Menschen kommen dabei ums Leben, viele werden verletzt.

11. Februar 2012: Y’en a marre veranstaltet erneut ein Sit-In mit mehreren tausend Anhängern auf dem Place de l’Obélisque, der inzwischen zum symbolischen Ort des Widerstandes gegen die erneute Kandidatur von Präsident Wade geworden ist. Per Abstimmung wird beschlossen, dass die Aktivisten den Platz dauerhaft besetzt halten wollen. Die versuchte Platzbesetzung einige Tage später wird von der Polizei jedoch verhindert.

Während des ersten und zweiten Wahlgangs der Präsidentschaftswahlen ruft Y’en a marre seine Anhänger nicht nur zur friedlichen Abwahl von Wade auf, sondern organisiert auch Wahlbeobachter in mehreren Wahllokalen.

24. März 2012: Der oppositionelle Präsidentschaftskandidat Macky Sall gewinnt die Stichwahl in einer weitgehend fairen und freien Wahl mit 65,8% der Stimmen.

Verwurzelt im HipHop-Milieu

Von Januar 2011 bis März 2012 schaffte es Y’en a marre, insbesondere die senegalesische Jugend zu einer Vielzahl von Protestaktionen zu mobilisieren. Ein Schlüssel für ihren Erfolg war dabei ihre enge Verbindung zur HipHop-Bewegung. Im Senegal gibt es seit den 1980er Jahren eine lebendige HipHop-Szene. Allein in Dakar wird die Anzahl der Rapgruppen auf über 1.200 geschätzt (Niang 2013). Von Beginn an nutzten die vier Gründungsmitglieder Thiat, Fou Malade, Kilifeu und Simon ihre Verbindungen zu anderen Rapgruppen, um eine lose Organisationsstruktur aufzubauen. In Dakar, aber auch in vielen kleinen Städten, bauten Rapper lokale Gruppen der Bewegung auf, von den Aktivisten selbst als »Esprits« bezeichnet. Die lokalen Gruppen mobilisierten in ihrem Umfeld und ihren Nachbarschaften für die großen Protestaktionen der Bewegung und setzten Kampagnen wie »Ma carte, mon arme!« (Mein Wahlzettel, meine Waffe!) um, welche die Jugend zur Abwahl von Wade aufrief.

Die Mitwirkung zahlreicher HipHop-Künstler garantierte der Bewegung einerseits einen einfachen Zugang zu den Fans der jeweiligen Gruppen. Diese sind offen für die Botschaft von Y’en a marre und dementsprechend einfach für Protestaktionen zu mobilisieren. Andererseits genießen die bei Y’en a marre aktiven Rapper aber auch bei großen Teilen der Jugend, die sich nicht dem HipHop zugehörig fühlen, großen Respekt. Die Anführer der Bewegung leben bescheiden und verfügen im Vergleich zu senegalesischen Politikern und religiösen Führern über wenig Geld. Die politische Elite des Landes unterstellte ihnen zwar die Annahme von Bestechungsgeldern, konnte dies aber in keinem einzigen Fall belegen; was ihnen bei der Jugend viel Legitimität und Anerkennung verschafft. Viele der bei Y’en a marre organisierten Künstler waren zudem schon vor der Gründung der Bewegung politisch aktiv. Die Grünungsmitglieder Thiat und Kilifeu sind im Senegal schon lange für ihr kritisches, politisches Engagement bekannt. Sie organisierten bereits Mitte der 2000er Jahre Protestaktionen gegen den Bürgermeister ihrer Heimatstadt Kaolack und wurden dafür verhaftet. Beide Rapper gelten durch ihr konsequentes und langfristiges politisches Engagement als sehr authentisch (Interview mit der Autorin, Abdoulaye Niang 3.2012).

Zum HipHop-Milieu gehören jedoch nicht nur Rapper und deren Fans, sondern auch Graffitikünstler, Produzenten, Tontechniker, Tänzer, Musikjournalisten und –blogger. Diese Netzwerke wussten die Aktivisten von Y’en a marre optimal zu nutzen. Die Bewegung hatte durch zahlreiche Radiosendungen, die sich mit Rapmusik beschäftigen, sowie einige Fernsehsendungen eigene Medienkanäle. Diese Sendungen richten sich primär an junge Senegalesen, die auch die wichtigste Zielgruppe von Y’en a marre waren. Die Bekanntheit der HipHop-Künstler trug zudem dazu bei, dass auch die senegalesischen Mainstream-Medien sowie die internationale Presse früh über die Bewegung berichteten.

Anschluss an senegalesische HipHop-Diskurse

Auch in der Begründung und Legitimierung ihres Protests greift Y’en a marre auf im HipHop-Milieu verbreitete und akzeptierte Diskurse zurück. Ein wichtiges Konzept, welches Y’en a marre während ihrer Proteste nutzte, war der »Nouveau Type de Sénégalais«, kurz NTS genannt. Der NTS stellt einen neuen Typ des senegalesischen Bürgers dar, der seine bürgerlichen Pflichten verantwortungsbewusst wahrnimmt, sich aktiv an der Gestaltung des Gemeinwesens beteiligt und zudem stolz darauf ist, Senegalese zu sein. Die Aktivisten von Y’en a marre bezeichneten sich selbst als NTS und sahen es als ihre Mission an, ihre Mitbürger von diesem Konzept zu überzeugen. Dazu gehören auch sehr praktische Verhaltensanleitungen, wie nicht mehr auf die Straße zu pinkeln und den Müll nicht mehr auf die Straße zu werfen, aber auch die alltägliche Korruption nicht mehr zu akzeptieren.

In der Form knüpft Y’en a marre damit an eine im senegalesischen HipHop verbreitete Vorstellung an, es sei Teil der Mission der Künstler, bei ihren Mitbürgern ein Bewusstsein für ihre Pflichten und Rechte als Bürger zu schaffen (Niang 2013, S.584). Inhaltlich schließen die Betonung von Eigenverantwortlichkeit und das Bild des verantwortungsbewussten Bürgers an die ebenfalls im HipHop-Milieu entstandene Bewegung »Bul Falé« der 1990er Jahre an. Die Bul-Falé-Idee bricht mit dem »traditionellen« Bild des fatalistischen Senegalesen, der an sein vorbestimmtes Schicksal glaubt und daher alle Eigenverantwortung abgibt. Bul Falé propagiert stattdessen das Bild eines durch harte Arbeit erfolgreich gewordenen Senegalesen (vgl. Ludl 2008). Y’en a marre nimmt dieses Konzept der Eigenverantwortlichkeit auf, bezieht es jedoch auf die Mitgestaltung der Demokratie und des Gemeinwesens, statt auf ökonomischen Erfolg.

Ein weiteres wichtiges Element in der Begründung und Legitimierung ihres Protests ist der patriotische Stolz auf ihr Land und die daraus resultierende Verpflichtung, das Land vor der schlechten Politik des Präsidenten zu schützen. Auch hier schließt Y’en a marre an dominierende Vorstellungen in der HipHop-Bewegung an. Bei seiner Entstehung in den 1980er Jahren war der senegalesische HipHop noch stark von amerikanischen Einflüssen geprägt. Der amerikanische Stil, sowohl im Rap als auch in der Mode, wurde kopiert. Dies hat sich seit Anfang der 1990er Jahre stark gewandelt. Die senegalesischen HipHopper entwickelten ihre eigene Form: im Rap, im Graffiti, im Tanz und in der Mode. Statt auf Englisch oder Französisch, begannen viele Künstler auf Wolof, der wichtigsten Sprache im Senegal, zu rappen. Mit dieser Aneignung des HipHop entwickelte sich auch eine eigene kollektive Identität der HipHop-Bewegung, bei der der Stolz darauf, Senegalese bzw. weiter gefasst Afrikaner zu sein, eine zentrale Funktion einnimmt (Niang 2011).

Rap und Set Settal als Form des Protests

Ein zentrales Werkzeug für die erfolgreiche Mobilisierung vor den Präsidentschaftswahlen 2012 war, dass die Rapper von Y’en a marre ihre Lieder nutzten, um ihre Botschaft zu verbreiten und für Proteste zu mobilisieren. Rapkonzerte und die Veröffentlichung kritischer Songs waren ein fester Teil ihres Protestrepertoires. Die Rapper der Bewegung produzierten ein gemeinsames Album, auf dem sie 18 Protestsongs gegen das Regime von Präsident Wade veröffentlichten. Die Songs »Faux! Pas Force!« sowie das eingangs zitierte Lied »Doggali« wurden bis zur Wahl von zahlreichen Radiosendern gespielt.

Rap ist als Protestform besonders wirkungsvoll, da diese Ausdrucksform offene, direkte Kritik an gesellschaftlichen Missständen ermöglicht. In den Liedtexten werden Politiker offen angeprangert, wobei die Rapper oft harsche und provokative Ausdrücke nutzen. In der senegalesischen Gesellschaft dominieren Zurückhaltung und Diskretion die sozialen Praktiken. Die direkte Benennung sozialer Probleme im Rap verstößt gegen diese gesellschaftlichen Normen (Maraszto 2002). Große Teile der Jugend, die im Senegal weitgehend aus dem politischen und öffentlichen Diskurs ausgeschlossen sind, schätzen daher Rap als Kunstform, die einen Raum für direkte und klar artikulierte Kritik schafft (Niang 2013). Y’en a marre nutzt die für den Rap typischen direkten und provozierenden Ausdrucksformen nicht nur in Liedtexten, sondern auch in ihren Slogans und ihrem Auftreten. Das beste Beispiel dafür ist der Name der Bewegung selbst: Y’en a marre – Wir haben die Schnauze voll (Prause März 2013).

Neben Rapsongs, Versammlungen und Demonstrationen gehörte zum Protestrepertoire von Y’en a marre auch, kollektive Aufräumarbeiten zu organisieren. Auf diese Weise eigneten sie sich den öffentlichen Raum an, machten ihn zu einem Ort politischer Auseinandersetzung und sorgten zugleich für ein gutes Image der Bewegung. Auch hier greift Y’en a marre auf eine im HipHop-Milieu entwickelte Protestform zurück. Anfang der 1990er Jahre prägten Akteure aus dem HipHop-Milieu, insbesondere Graffitikünstler, diese Form kollektiven Handelns unter dem Namen »Set Settal«, auf deutsch in etwa »Reinigung«. Der Name bezieht sich einerseits auf die Mobilisierung für kollektive Reinigung- und Müllbeseitigungsaktionen, andererseits auf eine moralische Säuberung der Gesellschaft von Korruption und Verbrechen (Diouf 1996, S.241). In diesem Sinne organisierte Set Settal kollektive Aufräumarbeiten in ihren lokalen Stadtvierteln, oft einhergehend mit der Bemalung von Wänden.

Fazit

Das Engagement von Y’en a marre schließt also an eine lange Tradition des politischen HipHop im Senegal an. Seit den 1990er Jahren ist die Benennung sozialer, politischer und ökonomischer Probleme ein zentrales Motiv der senegalesischen HipHop Bewegung. Y’en a marre nimmt Diskurse und Protestrepertoires früherer HipHop-Bewegungen, wie Bul Falé und Set Settal, in ihrem Protest auf. Das Netzwerk der HipHop-Szene, auf das Y’en a marre zugreifen konnte, war zentral, um eine lose Organisationsstruktur aufzubauen sowie Zugang zu den Medien zu erlangen – beides wichtige Faktoren für die erfolgreiche Mobilisierung der Bewegung. Darüber hinaus waren kritische Raplieder ein zentrales Werkzeug für Y’en a marre, um ihre Botschaft zu verbreiten und Kritik am politischen System und den sozialen Umständen zu üben und damit auch für ihre Demonstrationen und Sit-Ins zu mobilisieren.

Gerade hierin unterscheidet sich Y’en a marre von vorherigen Protesten der HipHop-Bewegung. Y’en a marre kombiniert künstlerische und kulturelle Formen des Protests mit konfrontativen Taktiken, wie Demonstrationen, Straßenblockaden oder Sit-Ins. Genau diese Kombination verschiedener Repertoires hat die erfolgreiche Umsetzung von kollektivem Protest ermöglicht, den Protest über das HipHop Milieu hinausgetragen und ihn damit für große Teile der Jugend attraktiv gemacht (Prause 2013, S.38).

Literatur

Mamadou Diouf (1996): Urban Youth and Senegalese Politics: Dakar 1988-1994. Public Culture 8 (2), S.225-249.

Fou Malade, Simon, Keyti, Cap 2 Seus, Général, Rauna niambou mbaam, Bra x-press, Djily 5kiém (2012): Doggali. Kassette, ohne Verlag.

Christine Ludl (2008): »To Skip a Step«. New Representation(s) of Migration, Success and Politics in Senegalese Rap and Theatre. Stichproben – Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien 8 (14), S.97-122.

Caroline Maraszto (2002): Sozialpolitische Wende? Zur Entwicklung des Rap im Senegal. Stichproben – Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien 4 (2), S.81-104.

Abdoulaye Niang (2011): »Nous le Hip hop, on le tropicalise«. Hip hop, engagement et renouveau panafricaniste. Konferenzpapier für die 13. Generalversammlung von Codesria: Africa and the Challenges of the Twenty First Century. CODESRIA; general.assembly.codesria.org.

Abdoulaye Niang (2013): Le mouvement hip-hop au Sénégal. Des marges à une légitimité sociale montante. In: Momar-Coumba Diop (ed.): Sénégal sous Abdoulaye Wade. Le Sopi à l‘épreuve du pouvoir. Paris: Karthala.

Louisa Prause (2013): Mit Rap zur Revolte: Die Bewegung Y‘en a marre. PROKLA 43 (1), S.23-42.

Louisa Prause (März 2013): Senegal: Y‘en a marre. Eine erfolgreiche Jugendrevolte. iz3w, März-April 2013 (335), S.13-15.

Louisa Prause ist Politikwissenschaftlerin und promoviert an der Freien Universität Berlin zu Konflikten um Land im Senegal.

Lebenslaute

Lebenslaute

Gewaltfreier Widerstand mit Konzertblockaden

von Gerd Büntzly und Ulrich Klan

Die gewaltfreie Bewegung hat auch in Deutschland seit Jahrzehnten in verschiedenen Regionen Kulturen des Zivilen Ungehorsams aufgebaut. Bekannt wurden vor allem der Widerstand im Wendland gegen das geplante atomare Endlager Gorleben oder der erfolgreiche Protest gegen das so genannte Bombodrom, einen geplanten Luftkriegsübungsplatz in Brandenburg. Gewaltlose, genau kalkulierte und inszenierte Gesetzesübertretungen möglichst vieler verschiedener Teile der Bevölkerung und öffentlichkeitswirksame symbolische Aktionen bringen die Spannung zwischen Recht und Gesetz, Legitimität und Legalität immer neu in Fluss, schaffen Aufmerksamkeit, nutzen und erweitern Spielräume des Widerstands und erinnern die Herrschenden daran, dass viele Gesetze und politische Maßnahmen nicht den Interessen der Menschen entsprechen, die sie zu vertreten vorgeben. Einer ungewöhnlichen Art des gewaltfreien Protests widmen sich die MusikerInnen der Lebenslaute.

Natürlich kommt es immer wieder zu gewalttätigen Protesten, der gewaltfreie Widerstand hat aber mehr positive und nachhaltige Veränderungen in der Gesellschaft bewirkt. Gewaltfreie Aktions- und Lebensformen verzichten auf (Be-) Drohung und gestalten eine Atmosphäre der Entspannung und des menschenfreundlichen Geistes, und zwar auf beiden Seiten, bei den AktivistInnen wie den »Anderen«. Die liebevolle und genaue Vorbereitung derartiger Aktionen sowie das intensive Training des gewaltfreien Dialogs wirken bis zu einem gewissen Grad »entwaffnend«, da sie Feindbilder der Polizei bzw. der Sicherheitsbeauftragten unterlaufen. Nicht zuletzt deshalb haben Gerichte schon mehrmals versucht, solche Trainings zu verbieten.

Der Verzicht auf atavistische Routinen des Auftrumpfens oder Drohgebärden erfordert von gewaltfreien Aktionen um so mehr Innovation und Phantasie. Daher spielen in gewaltfreien Bewegungen häufig KünstlerInnen und Formen der Kunst und Kultur eine große Rolle. In Deutschland macht sich die Initiative Lebenslaute seit mehr als einem Vierteljahrhundert ihre künstlerische Phantasie für gewaltfreien Widerstand zunutze.

Lebenslaute

Die Lebenslaute sind ein Zusammenschluss klassischer MusikerInnen – Professionelle wie Laien – sowie vieler UnterstützerInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ihre Spezialität ist ziviler Ungehorsam durch gewaltlose »Konzertblockaden« gegen Krieg, Unrecht und Zerstörung. Mindestens einmal im Jahr kommen größere oder kleinere Ensembles der Lebenslaute, immer in Zusammenarbeit mit örtlichen Widerstandsgruppen und vor Ort betroffenen Menschen, zusammen – an Raketendepots, Waffenfabriken, Abschiebe-Behörden, genmanipulierten Äckern oder anderen Plätzen, von denen Gewalt bzw. Zerstörung der Natur ausgeht.

Die AktivistInnen übertreten dort Gesetze und übersteigen Bauzäune oder Absperrungen. In Konzertkleidung und oft raumgreifenden Orchester-/Chor-Formationen besetzen sie Plätze oder Zufahrten. Mit geübten Stimmen und Instrumenten funktionieren sie »trockene Stellen« und »verbotene Orte« zur Musikbühne um, locken viele ZuhörerInnen und auch zahlreiche ReporterInnen an, tauchen Nato-Draht, Absperrgitter und Polizeikordons überraschend in eine Atmosphäre von Wohlklang und Schönheit – und stellen damit besonders effektive Sitzblockaden her. Im Zusammenspiel mit den ZuhörerInnen sind solche »Konzertblockaden« eine ebenso lustvolle wie gewaltlose Form, den Ablauf der bespielten Betriebe wirksam zu stören bzw. zum Erliegen zu bringen. Zuweilen helfen Aktionen der Lebenslaute, das tödliche Geheimnis bestimmter Orte wirksam ans Licht zu bringen: Die attraktive Art ihrer Auftritte popularisiert den Widerstand auch an verschwiegenen oder abgelegenen Orten.

Das hat Geschichte – und es fing an mit einer Idee dreier Musiker. Im Kontext des wachsenden weltweiten Widerstands gegen die Bedrohung durch sowjetische und US-amerikanische Atomraketen – konkret gegen die Stationierung von SS20- und Pershing-Raketen in der DDR und der BRD – wurde Ende August 1986 im schwäbischen Mutlangen die Aktionsform Lebenslaute aus der Taufe gehoben: Zwei Musikensembles – ein Sinfonieorchester und ein Chor – sorgten für Verblüffung und für Schlagzeilen, als 120 MusikerInnen in feiner Konzertkleidung und Hunderte HelferInnen und ZuhörerInnen sechs Stunden lang alle Zufahrten des Pershing-Depots dicht machten. Sie spielten dabei Beethovens »Egmont«-Ouverture und Schuberts »Unvollendete«. Die US-Soldaten und die Polizei waren ratlos, und die Tatsache, dass bei dieser Aktion auch prominente Tonkünstler und mehrere TV-Sender dabei waren, machte es ihnen nicht leichter.

Später unterstützten die Lebenslaute mehrfach örtliche Anti-Atom-Initiativen mit Konzertblockaden auf »verbotenem Gelände«, etwa in Gorleben oder Wackersdorf. »Konzertblockiert« wurden unter anderem auch die Rhein-Main Air Base am Frankfurter Flughafen zu Beginn des Zweiten Golfkriegs 1991, das geplante Bombodrom in Brandenburg, das Bundesinnenministerium in Berlin wegen seiner unmenschlichen Abschiebepraxis und die Rüstungsfirma Heckler & Koch in Oberndorf als größter Kleinwaffenhersteller Europas und Profiteur von Waffenexporten in viele Teile der Welt.

Musikalischer und künstlerischer Widerstand im Flughafen-Terminal

Wie läuft eine Lebenslaute-Aktion ab? Als Beispiel eine Momentaufnahme vom August 2011 im Flughafen Halle/Leipzig: Vier intensive Tage mit Proben, Diskussionen und gewaltfreiem Aktionstraining liegen hinter den fast 100 MusikerInnen und HelferInnen, die sich jetzt in der Abflughalle unauffällig unter die Passagiere mischen. Um Punkt 11 Uhr 30 formieren sich plötzlich ein großes Sinfonieorchester und ein Chor, im Rekordtempo und zugleich in größter Ruhe. Sicherheitsdienst und Polizei haben keine Chance, das zu verhindern, oder nur um den Preis, dass der gesamte Passagierbetrieb zum Erliegen käme. Presse- und Polizei-SprecherInnen der Lebenslaute binden die Akteure der Gegenseite. Die Konzertblockade startet mit bestgelaunter Musik von Joseph Haydn.

Warum diese Aktion an diesem Ort? Wie aus dem Nichts werden Transparente entrollt. AktivistInnen lassen von einer Empore die riesige Reproduktion eines Scherenschnittes herunter, geschaffen von dem Leipziger Künstler Jan Caspers. Das große Bild zeigt die erschreckende Szene eines Kriegstransportes: Soldaten, die aus einem Flugzeugbauch stürmen und zu schießen anfangen. Das bei einem Kunstwettbewerb der Stadt Halle ausgezeichnete Kunstwerk sollte schon einmal in eben diesem Flughafen hängen. Das hatte die Flughafengesellschaft damals in einem Akt der Zensur unterbunden.

Die Lebenslaute helfen hier, den geheim gehaltenen Missbrauch des »zivilen« Flughafens Halle/Leipzig aufzudecken: Dieser Ort ist Umschlagplatz für Truppen und schweres Kriegsgerät nach Afghanistan oder in den Irak. Jeder vierte Fluggast ist hier in militärischem Auftrag unterwegs in diese Kriegsgebiete. Diese Flüge werden nicht im Flugplan aufgelistet und sind ein schmutziges und profitables Geschäft für den Flughafen-Betreiber, die Kommunen und den Freistaat Sachsen.

In Kooperation mit örtlichen Friedensinitiativen erheben die Musiker von Lebenslaute ihre geübten Stimmen gegen das »Tabu« dieses Ortes, mit Musik auf hohem Niveau. Zum Beispiel aus Benjamin Brittens erschütterndem »War Requiem« und dem Anti-Kriegs-Oratorium »Das Alexanderfest« von Georg Friedrich Händel: Der Weltbürger aus Halle vertonte darin u.a. die Arie »Waffenhandwerk schafft nur Unheil«. Ohne Zwischenfälle gelingt es »spielend«, eine dreistündige gewaltlose Protestaktion im Flughafen durchzuführen. Auf die Drohung der Polizei, man werde Chor und Orchester räumen lassen, wird lächelnd weiter musiziert. Schließlich verzichtet die Flughafenleitung auf eine Räumung.

Als die Lebenslaute den »Jazz-Walzer« von Dmitri Schostakowitsch anstimmen, springt der Funke über: Viele ZuhörerInnen beginnen, sich im Tanz zu drehen. Auch wartende Flugpassagiere. Das Bild ist so ungewöhnlich wie anrührend: Warteschlangen in fröhlich-subversiver Bewegung – ein Hochglanzterminal lustvoll umfunktioniert. Die österreichische Dirigentin dieser Aktion sagt im Interview mit einem Rundfunksender: „Diese Verbindung von politischer Aktion mit klassischer Musik – das macht Lebenslaute so unwiderstehlich.“ 1

Musik ist subversiv

Von Daniel Barenboim, der zusammen mit seinem palästinensischen Freund Edward Said das israelisch-arabische West-Eastern-Divan-Orchester ins Leben rief, stammt das Bonmot: „Music is subversive.“ Damit trifft er kurz und bündig verschiedene Eigenschaften der Musik: ihre Kraft zur Überraschung und zur Freude, ihre Kraft, Bewegung und »swing« in festgefahrene, verkrustete Verhältnisse zu bringen, ihre Kraft, Grenzen zu überschreiten, Menschen zu vereinen, und ihre Kraft zur Heilung. Wo Musik beruhigend und entspannend wirkt, ist sie selbst ein Element von Gewaltfreiheit. Die Lebenslaute wählen eine spezifische Form der Musik, nämlich eine hoch artifizielle, die eine gründliche Vorbereitung erfordert. Dabei wird auch ein entscheidendes Element gewaltfreien Handelns eingeübt: Disziplin.

Musik kann, wie alle Kunst, auch das Lachen freisetzen, welches Herrschaft untergräbt. So haben sich bei Lebenslaute-Aktionen immer wieder satirische und kritische Musikstücke bewährt, etwa Mauricio Kagels »10 Märsche um den Sieg zu verfehlen«. Musik kann auf angenehme Weise auch Distanz und Reflexion schaffen: „Wir wollen an Orten, an denen Argumente nichts mehr bewirken, Musik als abstrahierendes Element einsetzen, um so auf die Absurdität der Situation hinzuweisen“, so eine Teilnehmerin der Lebenslaute-Aktion 2012 vor der Waffenfabrik Heckler & Koch in Oberndorf am Neckar.

Musik, Kunst oder Performance, wie sie von den Lebenslauten gemacht werden, sind nicht exklusiv und niemals nur Mittel zum Zweck. Sie sind nicht weniger als attraktive, erstaunliche, unabgenutzte Formen des Liebens, des Lebens und des Widerstands. Unsere eigenen Formen, wenn wir sie uns aneignen oder selbst kultivieren. Wir sind am lebendigsten mit dem, was wir mit größter Lust und Liebe tun. Und was wir am besten können, das überzeugt am meisten. Uns selbst und andere. Hier könnten Lebenslaute ein Modell für jede andere Menschengruppe sein, die ihr Können und ihre Lust in den Widerstand einbringen will. Warum dem Ton und dem Trott folgen, den andere vorgeben, wenn mensch die eigene Stimme finden kann?

In Aktionen des zivilen Ungehorsams, zumal in künstlerischen oder musikalischen, gilt jedoch: Sie müssen gut gemacht sein. Es soll schön sein, sie zu erleben. Oder »schön hässlich«. Und insgesamt heiter. Wenn wir provozieren, dann mit Grazie und auch mit Selbstironie. Die Wirkung auf alle, die da sind, ist um so tiefer, je inniger, witziger, authentischer und virtuoser wir sind. „Schlechte Töne, Texte, Bilder oder Happenings sind gerade im Widerstand nicht erlaubt.“ 2

Anmerkungen

1) graswurzel.tv (2011): piano und forte statt Kriegstransporte – LL-Aktion 2011 im Flughafen Halle/Leipzig. Kurzfilm.

2) Ulrich Klan (2000): Ungehorsam, lachend, zivil. In: Wolfram Beyer (Hrsg.): Kriegsdienste verweigern – Pazifismus heute. Hommage an Ossip K. Flechtheim. Berlin: Humanistischer Verband Deutschlands, Landesverband Berlin-Brandenburg.

Gerd Büntzly ist Musiker und Übersetzer in Herford.
Ulrich Klan ist Musiker, Komponist, Autor und Pädagoge in Wuppertal. Er ist aktiv bei den gewaltfreien Ensembles Lebenslaute und »Fortschrott – Musksatire« sowie Vorsitzender der internationalen Armin T. Wegner-Gesellschaft.
Die Lebenslaute erhalten für ihr dauerhaftes, phantasievolles und effektives Friedensengagement zusammen mit der US-Gruppe CODEPINK 2014 den Aachener Friedenspreis.

Kunst gegen den Krieg – Kunst für den Frieden

Kunst gegen den Krieg – Kunst für den Frieden

von Bentje Woitschach

Kunst ist in erster Linie Selbstzweck. Sie lebt von freier Entfaltung und orientiert sich vorwiegend an ästhetischen Kriterien. Im Mittelpunkt steht die ästhetische Erfahrung, weniger die Verfolgung eines festgelegten Zwecks. Kunst findet aber nie losgelöst von ihrer Umgebung statt, vielmehr werden in Kunstwerken individuelle oder gesellschaftliche Verhältnisse ausgedrückt und reflektiert. Kunstwerke können den Wissenshorizont ihrer Rezipienten erweitern, durch Ironie, Wiedererkennungs- oder Verfremdungseffekte ihre Weltsichten herausfordern oder gesellschaftliche Missstände kritisieren. Solche Funktionen von Kunst stehen nicht im Widerspruch zum künstlerischen Selbstzweck. Kunst lebt von künstlerischer Freiheit, ist aber ihrerseits der Gesellschaft verpflichtet. »Die Kraft der Künste« – so lautet der Titel dieses Heftes. Dazu der guatemaltekische Künstler Plinio Villagráh Galindo in seinem Interview: „Die Kunst, wenngleich sie häufig als elitär bezeichnet wird, ist doch das einzige Medium, welches die Werkzeuge für Reflexion zur Verfügung stellt. Sie ist das Schlachtfeld der Ideen, der Kreativität, der Sensibilität als Waffe gegen die Gewalt.“ Damit verweist Villagráh Galindo auf den inhaltlichen Zusammenhang der beiden großen Themenfelder in dieser Ausgabe: die Verbindung von Kunst zu Krieg und Frieden. Wie greift Kunst das Thema Krieg und Frieden auf? Mit welchen ästhetischen Mitteln wird das Unfassbare ausgedrückt? Wie positionieren KünstlerInnen sich selbst und ihr künstlerisches Werk in diesem Zusammenhang?

Aus unterschiedlichen Blickwinkeln wird in dieser Ausgabe gefragt, welche spezielle »Kraft« die Kunst entfalten kann in ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema Krieg und Frieden. Dies kann sowohl eine positive, also gewaltkritische, wie auch eine negative Kraft sein. So beschreibt Benjamin Hilger in seinem Artikel über Krieg und Musik, wie musikalische »Schlachtengemälde« und Triumphlieder den Krieg verherrlichen. Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche gewaltkritische Werke von Beethoven über Schönberg bis hin zu Nono. Auch im musikalischen Bereich angesiedelt, aber in völlig anderem Kontext stehen die von Jürgen Nieth zusammengestellten politischen Lieder der Friedensbewegung: „Nie, nie woll‘n wir Waffen tragen, nie, nie woll‘n wir wieder Krieg. Lasst die hohen Herrn sich selber schlagen, wir machen einfach nicht mehr mit.“

Einen Blick über den westlichen Kulturkreis hinaus wagt Friederike Pannewick in ihrem Artikel über politische Literatur in der arabischen Welt: Einem Klima der Zensur und eingeschränkten Meinungsfreiheit ausgesetzt, bedienen sich arabische Schriftsteller vielfach dem Mittel der Subversion, um ihre politischen Botschaften zu transportieren. Steffen Bruendel hingegen rückt die spezielle Situation der KünstlerInnen zur Zeit des Ersten Weltkrieges ins Blickfeld. Einige Kunstschaffende sahen anfangs voller Euphorie dem Krieg entgegen und wechselten freiwillig vom Atelier an die Front. Zutiefst erschüttert von ihren Erfahrungen, wandelten sich aber viele im Laufe der Zeit zu vehementen Kriegsgegnern und verliehen ihren schockierenden Erlebnissen in Gemälden und Skulpturen künstlerischen Ausdruck. Was Theater mit Konfliktbearbeitung zu tun hat, beschreibt Linda Ebbers in ihrem Artikel über das Theater der Unterdrückten. Dabei steht der Dialog zwischen Schauspielern und Zuschauern im Mittelpunkt: Das Publikum greift aktiv in das Geschehen ein, so dass die Grenzen zwischen Bühne und Publikum verschwimmen. Ziel ist es, durch die Auseinandersetzung mit konkreten Konflikten eine gesellschaftliche Transformation zu erreichen.

Die vorliegende Ausgabe thematisiert nicht nur das Verhältnis verschiedener Kunstrichtungen zu Gewalt, Krieg und Frieden, sondern rückt auch die KünstlerInnen selbst ins Blickfeld. So äußert sich der guatemaltekische Künstler Plinio Villagráh Galindo, dessen Bilder in diesem Heft zu sehen sind, über sein Kunstverständnis: „Die zeitgenössische Kunst [hat] die gleiche kontextuelle Qualität – im Sinne einer Alternativen schaffenden und einschreitenden Kunst. Hieraus erwächst die besondere Bedeutung und Verantwortung, die Kunst hier hat: Sie ist ein Licht, welches die Dunkelheit der Ignoranz erleuchten kann. Der Bezug zu Gewalt kann helfen, eine Diskussion in Gang zu bringen, kritisch zu denken und eine Gemeinschaft zu gründen bzw. aufzubauen.“ Die Mobilisierungskraft einer einschreitenden Kunst zeigt eindrucksvoll der Artikel von Louisa Prause über die senegalesische HipHop-Bewegung »Y’en marre«. Die KünstlerInnen nutzten sowohl ihre Lieder und Texte als auch das breite Netzwerk der mit ihnen verbundenen Aktivisten, um Protest gegen die verfassungswidrige Wiederwahl des Präsidenten zu mobilisieren.

Wie zeitlos die »Kraft der Künste« und ihre Botschaften sind, zeigt ein Ereignis aus dem Jahre 2003. Im Vorraum des Sitzungssaales des UN-Sicherheitsrats in New York hängt eine Kopie von Picassos Guernica, des bekanntesten Anti-Kriegs-Gemäldes des 20. Jahrhunderts. Als US-Außenminister Powell dort im Februar 2003 seine Gründe für einen Krieg gegen den Irak erläuterte, wurde das Gemälde verhängt. Picassos bildhafter Aufschrei gegen den Krieg war offenkundig kein angemessener Hintergrund für das Vorhaben der USA, neues Leid über die Welt zu bringen.

Ihre Bentje Woitschach

Hauptsache gut gemeint?

Hauptsache gut gemeint?

Die friedensethische Bilanz der EKD zum Afghanistan-Krieg

von Albert Fuchs

Mit Blick auf das bevorstehende Ende des internationalen militärischen Engagements in Afghanistan hat die EKD unlängst eine bilanzierende Stellungnahme vorgelegt. Gefragt wird insbesondere nach der Bewährung des (groß-) kirchlichen friedensethischen Leitbildes eines gerechten Friedens im (militärischen) Einsatz. Die Autorinnen und Autoren des EKD-Papiers halten die Leitidee des gerechten Friedens für grundsätzlich bewährt. Unser Autor problematisiert die Rahmensetzung und findet die Bewährungsfrage großteils nicht überzeugend bzw. unhaltbar beantwortet. Jedenfalls werde kein Ausweg aus der »Militärgewaltfalle« aufgezeigt.

Unter dem Titel »„Selig sind die Friedfertigen“ – Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik« hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) unlängst eine bilanzierende friedensethische Stellungnahme zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr zur Diskussion gestellt (EKD 2013/14; zur weiteren Referenz nur Seitenzahlen). Wie der Vorsitzende des Rates der EKD, Nikolaus Schneider, im Vorwort zu dieser Stellungnahme erläutert, liegen ihr zwei Leitfragen zugrunde: „Bewährt sich das Leitbild des gerechten Friedens im Einsatz oder muss es von den Erfahrungen in Afghanistan her konkretisiert, präzisiert oder sogar korrigiert werden?“ Und: „Wird der deutsche Einsatz in Afghanistan dem Anspruch gerecht, eine Rechtsordnung zu schaffen und dadurch Frieden zu ermöglichen?“ (S.8) Für den friedensethischen Diskurs ist vor allem die erste Leitfrage von Interesse; sie wird im Wesentlichen in Kapitel 2 des Papiers erörtert. Betitelung und Vorwort beinhalten aber eine aufschlussreiche Rahmensetzung, die hier zunächst beleuchtet werden soll. Im Ausblick werde ich kurz die Frage aufgreifen, ob das EKD-Papier einen Ausweg aus der »Militärgewaltfalle« aufzeigt.

Staatstragende Rahmensetzung

Als Haupttitel verwendet das EKD-Papier den expressiven Teil der siebten jesuanischen »Seligpreisung« aus der im Matthäus-Evangelium überlieferten so genannten Bergpredigt: „Selig die Friedfertigen!“ (Mt. 5,9) Das altgriechische »eirenepoioi« – wörtlich »Friedenstäter« – meint aber nicht (bloß) zum Nachgeben, Dulden und Verzeihen bereite Menschen und schon gar nicht Konfliktvermeider, sondern Menschen, die aktiv Gegensätze ausgleichen und Frieden stiften. Die Rede von Friedfertigkeit könnte purem Übersetzungskonventionalismus geschuldet sein. Sie scheint jedoch im gegebenen Kontext zumindest in gleichem Maße eine Vorliebe für eine Art Gesinnungspazifismus zu signalisieren.

In seinem Vorwort versichert der EKD-Vorsitzende, der Friede, den Gott nach christlicher Überzeugung schenke, bewege „Menschen dazu, Frieden zu stiften“ (S.7). Demnach geht es nicht um »pietistische«, sich auf Innerlichkeit zurückziehende und damit begnügende Gesinnung, sondern um Friedenshandeln einschließende. Inwiefern das noch als »gesinnungspazifistisch« deutbar ist, erschließt sich unmittelbar im Anschluss: Die christlichen Kirchen, so der Vorsitzende weiter, würden immer wieder neu um die Frage ringen: „Wieweit ist es im Blick auf das Evangelium von Jesus Christus zu rechtfertigen, dem Frieden mit militärischer Gewalt den Weg zu bereiten?“ (ebd.) Die Frage ist aus der EKD-Perspektive also nicht, ob militärische Gewalt für Frieden (politisch-moralisch) gerechtfertigt werden kann, ja nicht einmal, ob das in christlich-religiöser Hinsicht – „im Blick auf das Evangelium von Jesus Christus“ – möglich ist; das »Ob« im engeren emphatischen und damit auch im weiteren Sinn wird fraglos gestellt. Die Frage ist lediglich, „wieweit“ das so oder so möglich ist. Da aber die Anwendung von militärischer Gewalt vom Standpunkt der Ethik und Moral – und wohl erst recht „im Blick auf das Evangelium von Jesus Christus“ – in sich hoch problematisch ist, läuft diese Rahmung augenscheinlich auf einen Gesinnungspazifismus des Typs »Hauptsache gut gemeint« hinaus, auf einen Gesinnungspazifismus also, der sich gerne als »Verantwortungspazifismus« versteht und anpreist.

Der beiläufige Anspruch, damit für »die« christlichen Kirchen zu sprechen, kann hier dahingestellt bleiben. Wichtiger ist die weitere Ausgestaltung der grundlegenden Rahmung unter Rückgriff auf die so genannte Friedensdenkschrift der EKD von 2007. Dort habe man, so der Vorsitzende, „das biblisch begründete friedensethische Leitbild des »gerechten Friedens« formuliert“. Ein solcher Friede aber bedürfe einer Rechtsordnung. „Um sie zu schaffen und zu bewahren“, betone „die Friedensdenkschrift die vorrangige Option der Gewaltfreiheit“; als »ultima ratio« aber halte sie „ein militärisches Eingreifen zur Erhaltung oder Aufrichtung einer Rechtsordnung für möglich“ (S.7f.). Mit der Einführung der Konzepte »Rechtsordnung« und »militärisches Eingreifen« und mit der Mittel-Ziel-Staffelung dieser Importe im Hinblick auf das biblische Leitbild, sozusagen als Unterbau eines gerechten Friedens, erhöht sich die Angleichung der Rahmenkonstruktion an den staatlichen Ansatz. Durch ein drittes Moment wird sie damit nahezu deckungsgleich.

Dieses Moment deutet der Ratsvorsitzende an, wenn er davon berichtet, wie er bei Gelegenheit einer Pastoralreise zum deutschen Einsatzkontingent nach Afghanistan „mit großem Respekt […] wahrgenommen“ habe, „dass die Soldatinnen und Soldaten sich der Zwiespältigkeit ihres Einsatzes bewusst waren“; einhellig hätten sie zum Ausdruck gebracht: „Militärischer Einsatz schafft keinen Frieden, sondern schafft Voraussetzungen dafür, dass Frieden sich entwickeln kann.“ (S.8) Implizit wird damit das Kongruenz- oder Kohärenzpostulat der Friedensdenkschrift angesprochen. Dem zufolge sollten „militärische Maßnahmen […] Bestandteil einer kohärenten Friedenspolitik unter dem Primat des Zivilen“ sein (EKD 2007, Ziff. 118). Das entspricht weitgehend dem politischen Konzept »vernetzte Sicherheit« (»comprehensive approach«; z.B. ZIF, o.J.) – wobei allerdings der „Primat des Zivilen“ im politischen Diskurs in der Regel nur verhalten gefordert wird.

Wie nun stellt sich bei dieser ausgesprochen staatstragenden Rahmensetzung die Bewährung des Leitbildes des gerechten Friedens im Einsatz (in Afghanistan) dar?

Friedensethisches Leitbild im Lichte des Afghanistan-Einsatzes

Bereits im Vorwort zu dem neuen Papier wird unterstellt, dass militärisches Eingreifen nicht nur als »rechtserhaltende Gewalt« rechtfertigungsfähig ist, sondern auch als Recht schaffende oder aufrichtende Gewalt. In der Stellungnahme wird dieser Gedanke näher ausgeführt: „Friedenskompatible Rechtsinstitutionen sind eine wesentliche Voraussetzung nachhaltigen Friedens. Um sie zu schaffen, kann es nötig sein, rechtsermöglichende Gewalt anzuwenden.“ Der „dabei vorausgesetzte Begriff des Rechts“ beziehe sich jedoch „nicht auf ein faktisch gegebenes Rechtssystem, sondern normativ auf die in den grundlegenden Menschenrechten und einer legitimen Völkerrechtsordnung konkretisierte Rechtsidee“ (S.12). Auch in der Friedensdenkschrift wird die Reichweite rechtfertigungsfähiger »rechtserhaltender Gewalt« unter Berufung auf die Menschenrechtesidee ähnlich extensiv ausgelegt (vgl. EKD 2007, Ziff. 88) – aber nicht so ausdrücklich und klar wie (vermutlich einsatzbezogen) an dieser Stelle. Und ebenso wie dort werden auch hier die bekannten Schwierigkeiten mit dem zugrundeliegenden Universalitäts- und vor allem mit dem Unteilbarkeitspostulat im Menschenrechtsdiskurs ausgeblendet (vgl. Hamm und Nuscheler 1995). Demnach ist schwer zu sagen, ob die friedensethische Konzeption der Denkschrift in diesem Punkt als einsatzbezogen bestätigt oder als in Frage gestellt anzusehen ist. Die eventuelle Ergänzung bzw. Korrektur wird jedenfalls nicht thematisiert, geschweige denn näher begründet.

Damit tritt ein Grundproblem der (Erörterung der) Bewährungsfrage zutage: Weder wird erläutert, wonach eigentlich gefragt wird, noch, woran Bewährung oder Nicht-Bewährung dingfest zu machen sein könnten. Der Ratsvorsitzende meint dessen ungeachtet, der Rat und die (federführende) Kammer (für Öffentliche Verantwortung) seien „der Überzeugung, dass das Leitbild des gerechten Friedens der Denkschrift und die sich aus ihm ergebenden Prinzipien und Kriterien schriftgemäße und sachgemäße Aussagen evangelischer Friedensethik sind“ (S.8f.). So heißt es denn abschließend auch in dem Papier selbst, das Leitbild des gerechten Friedens bewähre sich „mit Blick auf eine friedenspolitische Bewertung der Situation in Afghanistan“ (S.49). Wie aber sieht es beim Vergleich von normativen Vorstellungen und einschlägiger Einsatzrealität im Einzelnen aus?

Die Ausführungen zu Legitimität und Legalität der militärischen Intervention in Afghanistan in Kapitel 2 des Papiers wirken bereits bei flüchtiger Durchsicht ausgesprochen affirmativ. Das ändert sich nur wenig bei genauerem Hinsehen. So geht man eigentümlich salopp über die Frage hinweg, wie es mit der Erfüllung der allgemeinen, von der Denkschrift der Bellum-iustumLehre entlehnten Kriterien »rechtserhaltender Gewalt« (Erlaubnisgrund, Autorisierung, rechte Absicht … – EKD, 2007, Ziff. 102) steht. Mit der Bescheidung, „um […] aussagekräftig zu sein, bedürfen diese allgemeinen Kriterien einer ersten Konkretisierung im Blick auf unterschiedliche Situationstypen“ (S.12), wird statuiert: „Für die Beurteilung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan […] sind die Prüfkriterien heranzuziehen, die in der »Friedensdenkschrift« […] für »internationale bewaffnete Friedensmissionen« formuliert worden sind (Ziffern 117-123).“ (S.15) Nun stellen aber die an dieser Stelle konkretisierend formulierten Kriterien erkennbar nur eine Schnittmenge des allgemeinen Kriteriensatzes dar. Was also ist aus den allgemeinen, nicht konkretisierend erfassten Prüfkriterien geworden?

Bei der Prominenz des Ultima-ratioAspekts bereits in der Rahmenkonzeption (s.o.) hätte sich die EKD-Kammer zumindest mit der Frage der Erfüllung dieses Kriteriums gründlich auseinandersetzen müssen. Doch Fehlanzeige! Immerhin wird nach Einordnung des Beginns der Afghanistan-Kriegs mit der US-Operation »Enduring Freedom« als Fall von (kollektiver) Selbstverteidigung das allgemeine Kriterium »Erlaubnisgrund« eingehender diskutiert (S.13). Bei dieser kaum weniger fundamentalen Frage folgt man kritiklos der Auffassung der USA und ihrer Verbündeten und deren Interpretation der relevanten Resolutionen des UN-Sicherheitsrats (Res. 1368 vom 12.09.2001 und Res. 1373 vom 28.09.2001). Dass diese Auffassung völkerrechtlich sehr umstritten ist und zahlreiche renommierte Juristen den USA die Führung eines Angriffskrieges vorwerfen (z.B. Boyle 2001; Deiseroth 2009; Paech 2002), wird ignoriert. Dem Gremium scheint auch nicht der gut bezeugte Sachverhalt zur Kenntnis gekommen zu sein, dass der Angriffsplan der USA gegen Afghanistan bereits mehrere Wochen vor dem 11. September, Mitte Juli 2001, vorlag und demzufolge der Angriff Mitte Oktober stattfinden sollte (Arney 2001; vgl. Meacher 2003).

Ein besonderes Erklärungsformat, eine Art argumentatives Patt, führt die Kammer (erstmals) bei Erörterung der Legitimation der extremen zeitlichen Ausdehnung des Selbstverteidigungsanspruchs der USA vor: Ein Teil des Gremiums sieht unter Berufung auf die Friedensdenkschrift „den Legitimationstitel der Selbstverteidigung schon 2001 nach der Entmachtung des Talibanregimes und der Zerschlagung der Stellungen von Al Qaida in Afghanistan erschöpft“. Der andere Teil dagegen glaubt, es sei „über das in der Friedensdenkschrift ausdrücklich Gesagte hinaus“ anzuerkennen, „dass ein militärisches Engagement über längere Zeit hinaus erforderlich sein könne, um einen Rückfall in eine unmittelbare Bedrohungssituation zu verhindern“ (S.14f.).

Mit der zunehmenden Entwicklung »kriegsähnlicher Zustände«, die als solche in der hiesigen Öffentlichkeit erst ab dem September-Desaster am Kundusfluss 2009 breiter realisiert wurde, war die Kammer auch herausgefordert, sich eingehender mit einer in der Friedensdenkschrift eher vernachlässigten Frage auseinanderzusetzen. Man kann sie als Frage nach der Bedeutung des Verhältnisses von »ius in bello« und »ius ad bellum« für die moralische Qualität (des Handelns) der militärischen Akteure kennzeichnen. Die Brisanz dieser Frage resultiert aus der zunehmenden Verknüpfung der UN-mandatierten ISAF-Stabilisierungsmission mit dem US-erklärten »war on terror«, insbesondere aus dem verstärkten Rückgriff der US-Streitkräfte auf »verdeckte Operationen«, auf die gezielte Tötung Aufständischer und Terrorismusverdächtiger und auf Angriffe mit »Kampfdrohnen«.

Die Frage wird breit, aber analytisch eher oberflächlich und letztlich ergebnislos diskutiert: In der Kammer blieb (abermals) strittig, ob bei der ursprünglichen Interventionsentscheidung unvorhergesehene und ungewollte Gewaltmaßnahmen im Gefolge seinerzeit nicht erkennbarer Faktoren „ihre Legitimität aus der ursprünglichen Interventionsentscheidung erhalten“ oder ob „die Legitimität der Fortsetzung einer Intervention situativ immer wieder sorgfältig überprüft und unter Umständen revidiert werden muss“ (S.17). Einigen konnte man sich offensichtlich auf den wohlgemeinten Appell, „von vornherein“ müsse „die Grundentscheidung zur militärischen Intervention mit größter Sorgfalt Unvorhergesehenes einkalkulieren“ und es müssten „Ausstiegsszenarien mit bedacht werden“ (S.17f.).

Entsprechende argumentative Patts dokumentiert das EKD-Papier auch bei den untergeordneten Fragen zur Bedeutung der Bündnissolidarität gegenüber friedensethischen und rechtlichen Bindungen (S.18) sowie zur Bewertung der „Praxis des gezielten Tötens nichtstaatlicher Akteure, die nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen“ (S.22).

Beim kurzen Blick auf das dritte zentrale Element der Rahmenkonzeption, zivil-militärische Zusammenarbeit „unter dem Primat des Zivilen“ (s.o.), überlässt man es nicht näher identifizierten „zivile[n] Akteure[n]“, darin eine „Instrumentalisierung ziviler, politischer und entwicklungspolitischer Maßnahmen für eine Kriegführung »niedriger Intensität«“ zu befürchten. Man konstatiert lediglich kontrafaktisch – für den Fall, dass dem so wäre: „Dies würde die in der Denkschrift für bewaffnete Friedenserzwingungsmissionen formulierten Grenzen überschreiten, […]“ (S.21). Abschließend zeigt man sich diesbezüglich überzeugt, dass insbesondere „das Verhältnis von militärischen und zivilen Anteilen […] einer genaueren Abstimmung bedurft hätte“ (S.49).

In Sachen Drohnenkrieg wird auf jede Positionierung verzichtet; stattdessen die so wohlfeil wie hilflos wirkende Forderung nach „breite[r] öffentliche[r] Diskussion mit dem Ziel einer völkerrechtlich verbindlichen Normierung“ (S.24). Und was die so genannten Kollateralschäden betrifft, die unbeteiligten Opfer von Kampfhandlungen, so scheint man voll und ganz damit zufrieden, dass „die Gewaltanwendung nach ISAF- Regularien nur zulässig“ sein soll, „wenn sie der Notwehr und Nothilfe dient und die Gefahr für Leib und Leben der Soldaten nicht anders abgewehrt werden kann“ (S.24f.).

So weit zur »Bewährung« des Leitbilds des gerechten Friedens im Afghanistan-Einsatz anhand ausgewählter Detail-Fragen.

Resümee und Ausblick

Die Bilanz muss nach dem vorausgehenden Durchgang anders ausfallen, als es der Ratsvorsitzende und auch die Kammer selbst zusammenfassend nahelegen (s.o). Deren positives Gesamturteil wird den Detail-Befunden nicht gerecht. Im Übrigen ist in der »Schlussbemerkung« ein fünftes und letztes argumentatives Patt dokumentiert, das mit dem vorausgeschickten positiven Gesamturteil schwer vereinbar erscheint: Ein Teil der Kammer „sieht durch die Situation in Afghanistan die Prinzipien und Kriterien der Friedensdenkschrift bestätigt und bewertet die friedensethische Legitimität des Einsatzes trotz gegebener völkerrechtlicher Mandatierung sehr kritisch“ (S.49). Ein anderer Teil „betont die Legitimität des Einsatzes unter dem Gesichtspunkt, dass die ursprüngliche Interventionsentscheidung durch nicht erkennbare Faktoren und Entwicklungen im laufenden Einsatz zu zuvor unvorhergesehenen und ungewollten Gewaltmaßnahmen gezwungen habe. […] Es sei geboten, nicht die Prinzipien, wohl aber die auf einzelne Handlungssituationen bezogenen Kriterien der Friedensdenkschrift weiterzuentwickeln.“ (S.50) Etwas zugespitzt also: Die einen kritisieren die Entwicklung im Lichte der normativen Vorgaben, die anderen möchten diese Vorgaben im Lichte der Entwicklung korrigiert bzw. »weiterentwickelt« sehen.

Die diskursiven Patts in dem EKD-Papier werden jedoch vom Ratsvorsitzenden bereits im Vorwort als „argumentative Gabelungen“ angekündigt und positiv als „differenzierter Konsens“ gewürdigt, in dem sich der „prozessuale Charakter evangelischer Ethik prägnant“ ausdrücke (S.9). Ähnlich sieht der Vorsitzende der Kammer, Hans-Jürgen Papier, an diesen Stellen „eine sozusagen klassische Alternative evangelischer Ethik“ wiedergegeben (Papier 2014). Diese Deutung einer augenscheinlichen Schwäche als Stärke wirkt befremdlich. Ein Durchhalten der ethischen Perspektive dürfte jedenfalls an den besagten »argumentativen Gabelungen« oder »Weichen« in besonderer Weise gefährdet sein durch individuelle, soziale und politische Voreingenommenheiten. Zu erfahren, welche Kammer-Mitglieder sich jeweils wie positionierten, hätte diesbezüglich sehr aufschlussreich und diskursförderlich sein können,

Doch auch wo kein interner Dissens hervortritt, scheint die Detail-Befundung zumindest nicht durchgehend ergebnisoffen aufgenommen und durchgeführt worden zu sein. Gegen eine ergebnisoffene Bewährungsprüfung spricht die Vernachlässigung substanzieller Komponenten der normativen Bezugskonzeption, insbesondere von so grundlegenden Prüfkriterien wie dem Ultima-ratioKriterium. Dagegen spricht auch die partiell selektive und voreingenommene Verarbeitung einsatzbezogener Sachinformation, insbesondere zum Selbstverteidigungsspruch der USA (und ihrer Verbündeten) – und wohl auch das umstandslos extensive Verständnis von »rechtserhaltender Gewalt«.

Interessanterweise war man sich einig bei der zweiten, eingangs nur kurz erwähnten Leitfrage der Stellungnahme, bei der Frage der Anspruchsangemessenheit des Afghanistan-Einsatzes. So heißt es im Vorwort: „[…] übereinstimmend urteilen Kammer und Rat mit großer Skepsis in der Frage, ob die in Afghanistan eingesetzten militärischen Mittel dem politischen Ziel des Einsatzes angemessen waren und sind“ (S.9). Und in der Schlussbemerkung heißt es: „Im Blick auf den Afghanistan-Einsatz stellt sich allerdings die ernste Frage, ob nicht die militärischen Mittel eine Eigendynamik entwickelt haben, die dazu führte, dass das Leitbild des »gerechten Friedens« aus dem Zentrum des Handelns herausgerückt ist.“ (S.49) Dieses Urteil „mit großer Skepsis“ ist am Zielgehalt gerechten Friedens gemäß der Friedensdenkschrift orientiert: Schutz vor Gewalt, Förderung der Freiheit, Abbau von Not und Anerkennung kultureller Verschiedenheit (EKD 2007, Ziff. 80-84), statt an der Frage der Rechtfertigungsfähigkeit der militärischen Mittel. Die unübersehbare Übereinstimmungs-Diskrepanz – ganz abgesehen von den Informationsvermeidungs- und Rationalisierungstendenzen bei den Gewaltrechtfertigungsfragen – dürfte ein deutlicher Indikator dafür sein, dass mit der friedensethischen Leitidee des »gerechten Friedens«, anders als vielfach verkündet, der Gegensatz von Bellizismus und Pazifismus keineswegs überwunden ist und dass das bellizistische Urteilsinstrumentarium selbst in den Händen von Leuten versagt, die die fragliche Rahmenkonzeption teilen.

Weder die im Lichte der Leitidee desillusionierenden Ergebnisse des Afghanistan-Einsatzes noch die massiven Probleme der Gewaltrechtfertigungsdebatte sind für die Kammer erkennbar Anlass, die Rahmenkonzeption in Frage zu stellen; der quasi-religiöse Glaube an »gute Gewalt« ist wohl nicht falsifizierbar. Im Gegenteil bestätigt z.B. der Kammervorsitzende genau diese Rahmenkonzeption, wenn er zusammenfassend „vom Leitbild des »gerechten Friedens« her […]. aus dem Afghanistan-Einsatz einige grundsätzliche Anforderungen an humanitäre Interventionen“ glaubt ableiten zu können (Papier 2014). Doch damit weist die (groß-) kirchliche Friedensethik keinen Ausweg aus der Militärgewaltfalle, sondern verstrickt sich letztlich nur tiefer in die Logik der Gewalt – wie »gut gemeint« und als »ultima ratio« eingeschränkt das auch daherkommen mag (vgl. Enns 2013).

Literatur

George Arney (2001): US planned attack on Taleban. BBC, 18.09.2001.

Francis Boyle (2001): Dieser Krieg ist illegal. Interview mit Spiegel Online, 31.10.2001.

Dieter Deiseroth (2009): Deutschlands »Kampfeinsatz« – Jenseits des Rechts. Frankfurter Rundschau, 26.11.2009.

Fernando Enns (2013): Responsibility to Protect – Das ethische Dilemma der Gewaltanwendung. Friedens-Forum, 26(5), S.30-31.

Evangelische Kirche in Deutschland/EKD (2007): Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Evangelische Kirche in Deutschland/EKD (2013/14): „Selig sind die Friedfertigen“ – Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik. Eine Stellungnahme der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD. Hannover: Kirchenamt der EKD.

Brigitte Hammund und Franz Nuscheler (1995): Zur Universalität der Menschenrechte. Institut für Entwicklung und Frieden, INEF-Report 11/95.

Michael Meacher (2003): This war on terrorism is bogus. The 9/11 attacks gave the US an ideal pretext to use force to secure its global domination. The Guardian, 06.09.2003.

Norman Paech (2001): Afghanistan-Krieg, Bundeswehreinsatz und Völkerrecht. Ein Gutachten zum Antrag der Bundesregierung. 12.11.2001.

Hans-Jürgen Papier (2014): Statement auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des Textes »„Selig sind die Friedfertigen“ – Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik«.

Zentrum für Internationale Friedenseinsätze/ZIF (o.J.): Vernetzte Sicherheit/Comprehensive Approach.

Prof. Dr. Albert Fuchs ist Hochschullehrer für Kognitions- und Sozialpsychologie i.R., Mitglied des Beirats von W&F und u.a. bei Pax Christi engagiert.

Wissenschaftler

Wissenschaftler

Verantwortung und der Krieg

von Dave Webb

Am 11. September 1939, kurz nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, erschien im »Time Magazine« ein Beitrag mit dem Titel »Wissenschaft und Krieg«. Der Artikel brachte die Ansicht zum Ausdruck, dass Wissenschaftler nicht dafür verantwortlich gemacht werden können, wie ihre Entdeckungen von „Männern mit schlechtem Ruf“ verwandt und missbraucht werden zur „Unterwerfung und Ermordung von Menschen“. Auch wenn es zutrifft, dass WissenschaftlerInnen oft nicht wissen können, wie ihre Erfindungen in der Zukunft genutzt werden, so sind es doch gewöhnlich Wissenschaftler und Ingenieure, die sich darüber Gedanken machen, welchen Verwendungen die Entdeckungen zugeführt werden können, und die sie weiterentwickeln zu Waffensystemen.

Der Beitrag fährt damit fort, wie Lord Rutherford während des Ersten Weltkrieges vermied, an Verfahren der U-Boot-Entdeckung für das Militär zu arbeiten, indem er erzählte, dass es kurz vor dem Durchbruch bei der Atomspaltung sei und dass „der Nachweis atomarer Zertrümmerung von weit größerer Bedeutung als der Krieg selbst“ sei. Im Beitrag findet sich dazu interessanterweise der Kommentar: „Wie sich herausstellte, was es das nicht.“ Den Herausgebern des »Time Magazine« war zu jener Zeit der berühmte Brief an Präsident Roosevelt, unterschrieben von Einstein und datiert auf den 2. August 1939, ohne Zweifel noch nicht bekannt. In diesem Brief wurde der Präsident davor gewarnt, dass Nazi-Deutschland an der Nuklearspaltung forsche, mit dem Ziel eine Atombombe herzustellen. Dieser Brief führte zum US-geführten »Manhattan-Projekt«, um noch vor Hitler Nuklearwaffen bauen zu können.

Es gab keine Zweifel am Grund und am möglichen Ergebnis dieses Projektes. Dazu wurden die fähigsten Wissenschaftler der USA und Europas rekrutiert, um unter der Kontrolle des »U.S. Army Corps of Engineers« und der wissenschaftlichen Leitung des Physikers J. Robert Oppenheimer tätig zu werden. Ihre Arbeit fand unter äußerster Geheimhaltung in Los Alamos statt – in einem eigens errichteten Ort in der Wüste New Mexicos. Die Beteiligten waren davon überzeugt, dass es lebenswichtig sei, die Atombombe vor Deutschland zu entwickeln, da sich niemand einen unangefochtenen Atomwaffenbesitz seitens der Nazis vorstellen mochte. Trotzdem verweigerten einige WissenschaftlerInnen die Mitarbeit. Die österreichische Physikerin Lise Meitner beispielsweise, die eine zentrale Rolle bei der Entdeckung der Atomspaltung gespielt und die im Reaktionsprozess frei werdende Energie berechnet hatte, schlug die Einladung zur Mitwirkung aus: „Ich will mit der Bombe nichts zu tun haben“ (Sime 1996).

Die meisten der angesprochenen Wissenschaftler stimmten einer Beteiligung jedoch zu und – wie es oft der Fall in der Wissenschaft und bei Entwicklungsproblemen ist – die Schwierigkeit der Problemlösung und die aufgeworfenen intellektuellen Herausforderungen erhielten bei den Beteiligten höchste Priorität. Die möglichen Nachwirkungen schienen nicht von vielen bedacht worden zu sein.

Mit der Niederlage Hitlers und der Entdeckung, dass es kein ernsthaftes Programm zur Entwicklung der Atomwaffe in Deutschland gegeben hatte, entschied die politische und militärische Führung, das Projekt fortzusetzen. Bis auf einen setzten alle Wissenschaftler ihre Arbeit am »Manhattan-Projekt« fort. Nur Joseph Rotblat verließ zu diesem Zeitpunkt das Projekt, weil der ursprüngliche Grund für seine Existenz nicht mehr gegeben war. Ein neuer Grund zur Fortführung wurde genannt – die Beendigung des Krieges gegen Japan so schnell wie möglich. Die Arbeit wurde fortgeführt und führte zur Zerstörung der Städte Hiroshima und Nagasaki, der Tötung bzw. schweren Verwundung von Hunderttausenden von Menschen und lang anhaltenden Verletzungen. Zugleich wurde ein nuklearer Waffenwettlauf in Gang gesetzt, dessen Drohung globaler Vernichtung bis heute existiert.

Einige der Wissenschaftler haben später ihre fortgesetzte Beteiligung bereut und die Frage, ob das Richtige getan wurde, ist immer noch Gegenstand von Diskussionen. Einige glaubten – möglicherweise naiv -, dass die Entwicklung von Atomwaffen den Krieg obsolet macht, weil ihr Gebrauch zu schrecklich sei – so wie Alfred Nobel gehofft hatte, die Erfindung des Dynamits im Jahr 1867 würde ähnlich wirken. Aber sie haben das militärische und politische Verlangen nach Überlegenheit und Macht entweder nicht verstanden oder ignoriert.

Die Rolle der Wissenschaft und des Wissenschaftlers im Krieg hat seit 1945 an Bedeutung zugenommen – nicht nur bei der Entwicklung von Waffentechnologien, einschließlich derjenigen der Massenvernichtung, sondern auch bei der Berechnung möglicher »Verlustraten« und der Formulierung militärischer und politischer Strategien durch Methoden wie der Spieltheorie. Als Folge hat militärische Finanzierung großen Einfluss bekommen auf die Richtung technologischen Wandels und auf die Perspektiven und Methoden der Wissenschaft. Brian Martin (1983) nimmt an, dass das große Ausmaß an militärischer Wissenschaftsförderung erhebliche Auswirkungen auf die Ausrichtung technologischer Innovation hat. Er behauptet, dass die hohe Präsenz von Themen wie Nuklearphysik, Gentechnologie und Plasmaphysik wenigstens zum Teil durch deren potentielle Bedeutung für die Kriegsführung zu erklären ist und dass der Maßstab für die Bedeutung einer Wissenschaft inzwischen mehr darin liegt, ob mit ihr die Natur manipuliert und kontrolliert werden kann, als dass diese verstanden wird. Für Martin ist Wissenschaft nicht nur eine Dienerin, sondern direkt Teil des Kriegssystems wie andere Staatsbürokratien auch. WissenschaftlerInnen sind stärker von den Entwicklungen und den finanziellen Ressourcen der Staaten abhängig geworden; daher orientieren sie sich stärker an dessen Bedarfen und sind nicht mehr unabhängig von ihm.

Aus dieser Perspektive kann die Herausbildung einer Antikriegswissenschaft nur als Teil eines umfassenden Vorhabens der Transformation eines auf Krieg basierenden Systems in eine Ordnung stattfinden, deren soziale Institutionen Kriegführung nicht zulassen. Allerdings ist eine solche gesellschaftliche Transformation extrem schwierig zu erreichen und ein langfristiger Prozess, so dass die Frage möglicherweise darin besteht, welche Hilfestellung und Beratung für WissenschaftlerInnen möglich sind, um die Fallstricke zu erkennen, die möglicherweise auftreten, und welche Leitlinien für die Entscheidungsfindung hinsichtlich des Ob und Wie der Weiterführung ihrer Forschung existieren.

Die ethischen Fragen, mit denen WissenschaftlerInnen konfrontiert sind, beschäftigen die in Großbritannien ansässigen »Scientists for Global Responsibility« (SGR) seit längerer Zeit. SGR ist eine unabhängige Organisation mit 1.000 Mitgliedern aus den Natur- und Sozialwissenschaften, Ingenieure, IT-Fachleuten und ArchitektInnen, die sich für ethisch vertretbare Wissenschaft und Technologie einsetzt – basierend auf den Prinzipien der Offenheit und Verantwortung, des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit sowie der Umweltverträglichkeit.

Ethik in der Wissenschaft

Im Jahr 2000 befragte SGR Naturwissenschaftler und Ingenieure nach ihren Erfahrungen mit ethischen Dilemmata bei der Arbeit. 43 WissenschaftlerInnen füllten einen Fragebogen aus und 21 beteiligten sich an einem Interview. Als Probleme wurden u.a. benannt:

Nutzung der Arbeit führt zu steigenden sozialen bzw. Umweltbelastungen,

Missbrauch der Arbeit durch die Industrie,

Missbrauch der Arbeit durch das Militär,

Unterdrückung oder Manipulation der Arbeitsergebnisse,

Mitwirkung an Tierversuchen.

Die Ergebnisse dieser Studie und eine Diskussion der dort angesprochenen Probleme wurden in dem Bericht »An Ethical Career in Science and Technology?« (hrsg. von Stuart Parkinson und Vanessa Spedding) veröffentlicht. Im Vorwort wird Michael Atiyah zitiert, ein Ausnahme-Mathematiker des 20. Jahrhunderts, der 1997 in einer Schrödinger-Vorlesung sagte: „Wenn Sie etwas erschaffen, sollten Sie auch an die Folgen denken. Das sollte für die wissenschaftliche Forschung genau so gelten wie für's Kinderkriegen.“

Ein Schwerpunkt der Studie beschäftigt sich mit der Verantwortung der WissenschaftlerInnen für die Folgen ihrer Arbeit. Da PolitikerInnen oder BürgerInnen in der Regel sehr viel weniger von technischen Problemen verstehen, ist es wichtig, dass die Wissenschaftler nicht nur Wissen haben, sondern auch ein gutes Gespür für ihre Verantwortung. Oft können Wissenschaftler mit ihrem technischen Sachverstand dafür sorgen, dass unerwünschte Nebenfolgen neuer Entwicklungen erkannt werden, und sie können vor künftigen Gefahren warnen. Außerdem gehören die meisten Wissenschaftler internationalen Verbänden an, für die natürliche und politische Grenzen keine Rolle spielen. Das ist eine gute Voraussetzung, um die Dinge global zu betrachten und die Interessen der Menschheit und der Umwelt im Blick zu behalten.

Seit der Veröffentlichung von »An Ethical Career in Science and Technology?« sind zehn Jahre vergangen und es wäre interessant, heute eine ähnliche Studie durchzuführen und herauszufinden, ob sich die Probleme gewandelt haben oder noch dringlicher und wichtiger geworden sind. Inzwischen wurden an den Universitäten Ethikkommissionen etabliert und die meisten Studierenden der Natur- und Ingenieurswissenschaften müssen bei ihren Promotions- und anderen Projekten deren Regeln einhalten. Dennoch: Die Ethikkommissionen sind zwar in ein dichtes Bürokratie- und Verwaltungsgeflecht eingebettet, interessieren sich aber nur dafür, wie Forschung stattfindet, nicht warum, und sie kümmern sich normalerweise nicht um die möglichen Auswirkungen der Forschungsarbeiten. Folglich lernen die Studierenden, wo sie in den Genehmigungsformularen zur Forschungsethik die Häkchen setzen und wie sie Untersuchungen und Interviews korrekt durchführen müssen, sie werden aber nicht immer ermutigt, darüber nachzudenken, wohin die Ergebnisse ihrer Arbeit führen können. So wird zum Beispiel die Entwicklung neuer Massenvernichtungswaffen nicht kommentiert, solange die Untersuchungen richtig konzeptualisiert und durchgeführt werden. Die von ihnen entwickelten Produkte und Prozesse tragen vielleicht dazu bei, natürliche Ressourcen oder Gemeinschaften auszubeuten oder zu vernichten; auf den Ethikformularen sind für diesen Fall aber keine Kästchen vorgesehen. Diese Aspekte der Forschung werden nicht ernsthaft diskutiert, und das ist für Nachwuchswissenschaftler und -ingenieure, die ihre Fähigkeiten im Rahmen einer Karriere für Projekte einsetzen wollen, in denen sie gut sind und die sie interessieren, nicht hilfreich. Die Konzerne und Regierungen reden ihnen ein, dass die zuständigen Gremien die Einhaltung ethischer Standards und verantwortliches Handeln überwachen – dass die schwierigen moralischen Fragen bei diesen Gremien gut aufgehoben sind. Es gibt aber berechtige Gründe zum Zweifel. Denn wie können Forschende sicher sein, dass ihre Entdeckungen nicht in einer Weise benutzt werden, die sie nicht wünschen?

Die Dual-Use Problematik

Malcolm Dando (2009) hat kürzlich auf das Problem eines möglichen »dual use« von Forschungsergebnissen hingewiesen, bei dem eine bestimmte Entdeckung zu Anwendungen führt, die entweder gesellschaftlich nützlichen oder schädlichen Zwecken dienen. Als Beispiel nennt er den US-Wissenschaftler Arthur Galston, der in den 1940er Jahren entdeckt hat, dass der Einsatz bestimmter synthetischer Chemikalien den Entwicklungsprozess von Pflanzen beschleunigt, bei höheren Dosierungen diese jedoch ihre Blätter abwerfen. Gut zwanzig Jahre später musste er erkennen, dass dieses Wissen bei den umfangreichen Entlaubungsoperationen in Vietnam eine grundlegende Rolle spielte. Er selbst wandte sich entschieden gegen diese Verwendung seiner Forschungsresultate.

Dando verweist auch auf die Idee der Herausbildung einer »Kultur der Verantwortlichkeit« und auf den freiwilligen »Responsible Conduct of Research« (RCR) des U.S. Office of Research Integrity, in dem die eher traditionellen Verantwortlichkeiten von Forschenden angesprochen werden, wie die Frage von Interessenskonflikten, die Einbeziehung von Menschen in die Forschung und Fehlverhalten. Er schlussfolgert jedoch, dass weder der RCR noch die U.S. National Academies of Science mit ihrer Publikation »On Being a Scientist: A Guide to Responsible Conduct in Research« besonderes Augenmerk „auf die Möglichkeit der Nutzung wissenschaftlicher Forschung für unheilvolle Ziele bzw. Möglichkeiten entsprechender Risikosensibilisierung“ legen.

Die Welt steht vor gewaltigen Problemen. Der anthropogene Klimawandel und die nukleare Weiterverbreitung sind enorme Herausforderungen; unsere Handlungen und politischen Entscheidungen der nächsten Jahre entscheiden vielleicht über das Überleben unseres Planeten. Das Artensterben vollzieht sich momentan etwa 1.000 Mal schneller als normal, jedes Jahr werden etwa 300.000 Menschen in Kriegen getötet, jährlich sterben eine Million Menschen im Straßenverkehr und über eine Milliarde Menschen leben in absoluter Armut. Wissenschaftler und Ingenieure können bei der Bewältigung dieser Probleme helfen, sie ignorieren – oder sie verstärken.

Ein Ethik-Code für WissenschaftlerInnen

Als Antwort auf Bedenken hinsichtlich der Anwendungen und Auswirkungen von Forschung sowie der potentiellen Gefahren bei der Entwicklung moderner Waffen hat eine Gruppe von WissenschaftlerInnen aus dem schwedischen Uppsala einen »Ethik-Code für WissenschaftlerInnen« (Gustaffson u.a. 1984) entwickelt. In der Einleitung heißt es, dass „er für den einzelnen Wissenschaftler gedacht ist. Denn es ist vor allem die Aufgabe des Forschers bzw. der Forscherin selbst, die Auswirkungen seiner/ihrer Forschungen einzuschätzen. Eine solche Bewertung ist immer schwer vorzunehmen und wird nicht bis ins Letzte möglich sein; WissenschaftlerInnen haben gewöhnlich auch nicht die Kontrolle über ihre Forschungsergebnisse, deren Anwendung oder gar – wie in vielen Fällen – die Planung der eigenen Arbeit. Dennoch darf dies den einzelnen Forscher nicht davon abhalten, einen ernsthaften Versuch zu unternehmen, kontinuierlich die möglichen Auswirkungen seiner/ihrer Forschung zu bewerten, diese Urteile bekannt zu machen und sich von solcher Forschung zurückzuziehen, die er/sie für unethisch hält.“

In dieser Hinsicht erklärt der Code insbesondere folgende Aspekte für handlungsrelevant:

Forschung soll so ausgerichtet sein, dass ihre Anwendungen und anderen Auswirkungen keinen relevanten ökologischen Schaden anrichten.

Forschung soll so ausgerichtet sein, dass es ihre Konsequenzen für gegenwärtige und zukünftige Generationen nicht schwieriger machen, eine gesicherte Existenz zu führen. Daher sollten sich Forschungsanstrengungen nicht darauf richten, Anwendungen oder Fähigkeiten zu entwickeln, die im Krieg oder zur Unterdrückung eingesetzt werden. Außerdem soll Forschung nicht so ausgerichtet sein, dass ihre Auswirkungen mit grundlegenden Menschenrechten, wie sie in internationalen Abkommen zu bürgerlichen, politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechten zum Ausdruck kommen, in Konflikt geraten.

Der/die WissenschaftlerIn hat eine besondere Verantwortung, die Auswirkungen der eigenen Forschung sorgsam abzuschätzen und diese Bewertung publik zu machen.

WissenschaftlerInnen, die zum Schluss kommen, dass die Forschung, die sie machen oder an der sie beteiligt sind, gegen den Code verstoßen, sollen diese Arbeit nicht fortsetzen und öffentlich die Gründe für ihr Urteil kenntlich machen. Solche Bewertungen sollen sowohl die Eintrittswahrscheinlichkeit als auch die Schwere der negativen Auswirkungen berücksichtigen.

Vergleichbare Überlegungen finden sich auch im Buch von Robert Hinde und Joseph Rotblat mit dem Titel »War no More« (2003): „In einer Zeit, in der wissenschaftlicher Fortschritt zur Entwicklung von Waffen bisher unbekannter Zerstörungskraft führen kann, obliegt es den Forschenden, sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst zu sein und nicht wissentlich Forschungen durchzuführen, die der Gesellschaft Schaden zufügen können.“

Allerdings macht es die Richtung, die die Forschungsförderung genommen hat, den WissenschaftlerInnen zunehmend schwer, Arbeitsfelder zu meiden, in denen zukünftig Probleme auftreten können. Im Jahr 2005 veröffentlichten die SGR »Soldiers in the Laboratory«, einen detaillierten Bericht über das Ausmaß der Beteiligung des Militärs an Forschung und Entwicklung, der die Größe seiner Lobby-Netzwerke und die damit verbundenen ethischen und politischen Aspekte deutlich machte.

Der Bericht legte auch offen, dass Großbritannien der weltweit zweitgrößte Förderer militärisch ausgerichteter Forschung ist. Im Haushaltsjahr 2003/04 kamen 30% des gesamten öffentlichen Budgets für Forschung und Entwicklung vom Verteidigungsministerium, das auch 40% des in diesem Bereich eingesetzten Personals beschäftigte. Der Bericht schlug vor, Ethik zu einer zentralen Kompetenz der akademischen Ausbildung, aber auch in der breiteren Öffentlichkeit zu machen, um so zu verantwortlichem und ethischem Handeln zu ermutigen. Allerdings verwies das Dokument auch darauf, dass die Verantwortung für die Entwicklung ethisch vertretbarer Wissenschaft und Technologie bei der Gesellschaft als Ganzer liege und daher eine weit größere öffentliche Beteiligung an Entscheidungsprozessen wünschenswert sei. Zudem müssten das Ausmaß der Wissenschaftsförderung durch Interessengruppen einer öffentlichen Überprüfung zugänglich sein und die Universitäten beauftragt werden, detailliert ihre Geldquellen offen zu legen.

Da die Kommerzialisierung und Politisierung von Wissenschaft und Technologie sowie der Einfluss des militärisch-industriell-akademischen Komplexes wächst, sind WissenschaftlerInnen und Ingenieure immer mehr mit dem ethischen Dilemma konfrontiert, dass ihnen die zukünftige Entwicklung ihrer Forschungen aus der Hand genommen wird und für etwas eingesetzt wird, das sie nicht akzeptieren. Forschungsergebnisse können vom Auftraggeber verfälscht oder der Geheimhaltung unterworfen werden, um damit kommerzielle Ziele oder politische Vorteile zu erreichen. WissenschaftlerInnen, die mit solchen Dingen zu tun haben, verfügen gegenwärtig über wenig oder keine Fähigkeiten damit umzugehen. Die SGR-Schrift »Ethical Career in Science and Technology« enthält folgende Hinweise für Studierende der Naturwissenschaften:

Informiere Dich über die sozialen und ökologischen Aspekte Deiner Disziplin.

Entwickle »transferierbare Fähigkeiten«.

Sammle auf freiwilliger Basis oder im Urlaub Erfahrungen jenseits von Wissenschaft und Technologie.

Hole Dir Unterstützung und Rat von den SGR oder von anderswo.

Regierungen und internationale Unternehmen werden nur selten für ihre Sünden zur Verantwortung gezogen; und selbst in den Fällen, in denen Kritik formuliert wird, gibt es wenige Beispiele, wo auch ernsthaft eingegriffen wurde. Daher ist es so besonders wichtig, dass NaturwissenschaftlerInnen und IngenieurInnen sorgsam die ethischen Implikationen ihrer Arbeit berücksichtigen. Wenn sie es nicht machen, wer dann?

Literatur

Dando,M. (2009): Bringing a »culture of responsibility« to life scientists, The Bulletin of Atomic Scientists 18 December 2009.

Gustafsson, B., Ryden, L., Tibell, G. & Wallenstein, P. (1984): Focus on: The Uppsala Code of Ethics for Scientists, Journal of Peace Research Vol. 21, No 4, S.311-316.

Hind, R. & Rotlblat, J. (2003): War no More – Eliminating Conflict in the Nuclear Age. Pluto Press, London.

Langley, C., Parkinson, S. & Webber, P. (2005): Soldiers in the Laboratory. Scientists for Global Responsibility, UK. http://www.sgr.org.uk/pubdescs/SITL.html

Langley, C. Parkinson, S. & Webber, P. (2007): More Soldiers in the Laboratory. Scientists for Global Responsibility, UK. http://www.sgr.org.uk/pubdescs/MSITL.html

Langley, C., Parkinson, S. & Webber, P. (2008): Behind Closed Doors. Scientists for Global Responsibility, UK. http://www.sgr.org.uk/pubdescs/BCD.html

Langley, C. & Parkinson, S. (2009): Science and the Corporate Agenda. Scientists for Global Responsibility, UK. http://www.sgr.org.uk/pubdescs/SATCA.html

Martin, Brian (1983): Science and war, in: Arthur Birch (ed): Science Research in Australia: Who Benefits? Canberra: Centre for Continuing Education at Australian National University, S.101-108.

Parkinson, S. & Spedding, V. (eds) (2001): An Ethical Career in Science and Technology. Scientists for Global Responsibility, UK. http://www.sgr.org.uk/ethics.html

Sime, R.L. (1996): Lise Meitner: A Life in Physics, California Studies in the History of Science, Volume 13, (Ed) J.I. Heilbron, University of California Press, London.

Time (1939): Science and War, Time Magazine, September 11, 1939 – abrufbar unter http://www.time.com/time/magazine/article/0,9171,711767-1,00.html

Dave Webb ist Professor am »Praxis Centre« der Leeds Metropolitan University und hat zahlreiche Beiträge zu den Themen Krieg und Frieden verfasst.

Foltern ohne Spuren

Foltern ohne Spuren

Psychologie im Dienste des »Kampfes gegen den Terrorismus«

von Rainer Mausfeld

Verschleppung und Folter an Terroraktionen Verdächtigter ist – der Empörung in westlichen Medien zum Trotz – fester Bestandteil des »Krieges gegen den Terror«. Wer Folter als etwas westlichen Demokratien Jenseitiges ansieht, übersieht leicht, dass es eine Kontinuität der Nutzung der Folter als Instrument politischer Machtausübung gibt. An ihr hat auch die Psychologie als wissenschaftliche Disziplin unrühmlichen Anteil.

Guantánamo ist, wie immer wieder bekundet wird, ein Schandfleck für den Westen in seinem »Kampf gegen den Terrorismus«. Eine derartige Formulierung drückt unsere natürliche Abscheu vor Folter aus und unser Erschrecken über die unmenschliche Behandlung, die den Insassen von Guantanamo widerfahren ist. Eine solche Reaktion, die auf unserer natürlichen Befähigung zur Empathie beruht, hat zur Voraussetzung, dass diese Vorgänge überhaupt in den Fokus unserer Aufmerksamkeit gelangen. Was uns nicht im Gedächtnis oder in der Aufmerksamkeit präsent ist, ist uns auch nicht moralisch präsent. Daher gilt auch für die Bewertung politischen Handelns: »aus den Augen, aus dem Sinn«. Dies eröffnet in medial gelenkten Demokratien die Möglichkeit, die Ziele moralischer Empörung nicht dem Zufall zu überlassen, sondern sie je nach politischen Interessen in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu bringen oder sie daraus auch wieder verschwinden zu lassen.

Die »Terroristen« wechseln, die Folter bleibt

Es lohnt sich daher ein zweiter Blick auf die Formulierung, dass Guantánamo ein Schandfleck im Kampf gegen den Terrorismus sei. Zur Natur eines Flecks gehört, dass er sich von etwas abhebt, das nicht befleckt ist, also von etwas, das erst befleckt wurde. Was hier befleckt wurde, sind – unserer Selbstwahrnehmung zufolge – die eigentlich hehren Ideale und edelmütigen Absichten, die uns moralisch verpflichten, für den Erhalt zivilisatorischer Werte und die Verbreitung von Demokratie zu kämpfen, also den Kampf gegen den Terrorismus aufzunehmen. In diesem guten und gerechten Krieg für humanitäre Werte ist es – im Großen durch eine Handvoll ideologisch verblendeter und fanatischer Politiker, wie Bush, Cheney, oder Rumsfeld, und im Kleinen durch eine Handvoll schwarzer Schafe, wie in Abu Ghraib Charles Graner oder Lynndie England – zu einigen schwerwiegenden Verletzungen unserer eigentlich untadeligen Absichten gekommen. Dies gilt es, getreu unseren Werten, entschlossen zu korrigieren und den »Kampf gegen den Terrorismus« wieder von seinen hässlichen Seiten zu befreien. In diesem Sinne symbolisiert ein Schandfleck einen historischen Ausrutscher und markiert zudem etwas, das wir als einen Extrempunkt des Versagens ansehen. Indem wir ihn bemerken und benennen, haben wir zugleich unsere moralische Empfindsamkeit bezeugt und damit einen ersten Schritt zur Bewältigung dieser – am nahezu undenkbaren Rand der Möglichkeiten liegenden – Verletzung unserer Ideale geleistet. Mit Guantánamo beginnt und mit Guantánamo endet zugleich eine Phase in der »wir«, also westliche Demokratien, in systematischer und geplanter Weise Folter zu einem Instrument der politischen Machtausübung gemacht haben.

Diese Selbstwahrnehmung steht jedoch ganz im Gegensatz zu den Fakten. Mehr noch: Die geschichtlichen Fakten widersprechen ihr in einem derart erdrückenden und erschütternden Ausmaß, dass wir mit der tiefer liegenden Frage konfrontiert sind, durch welche politischen und psychischen Mechanismen es zu einer derartig monströsen Fehleinschätzung kommen kann. Denn auch nach dem Zweiten Weltkrieg stellt die Folter ein Instrument der politischen Machtausübung dar, auf das auch demokratische Staaten immer noch ungern verzichten. Frankreich sah seine Massenfolterungen im Algerienkrieg als notwendige Maßnahmen im Kampf gegen den »Terrorismus« der algerischen FLN an. Großbritannien verwendete im Nordirlandkonflikt »neuartige Verhörmethoden«, die Vorläufer der in Guantánamo eingesetzten Techniken sind. Entsprechende Methoden werden auch von Israel bei der systematischen Folterung palästinensischer Gefangener eingesetzt.1 Amerikanische Regierungen haben in den 1970er und 1980er Jahren für die »Bekämpfung kommunistischer subversiver Kräfte« systematisch Foltertechniken für befreundete Regime bereitgestellt und insbesondere in Lateinamerika die 1975 gegründete Terrororganisation »Operation Condor« wesentlich unterstützt.2 Diese Kontinuität einer Nutzung der Folter als Instrument politischer Machtausübung durchzieht die US-Außenpolitik und erreichte in der Reagan-Regierung ihren Höhepunkt. Gegenüber dieser Tradition war die Neuerung der Bush-Regierung, dass sie sich offen zur systematischen Anwendung folterartiger Verhörtechniken im Bereich ihrer Hoheitsgewalt bekannt hat und versucht hat, der Folter eine juristische Legitimationsbasis zu verschaffen.

Mit der Einengung des Blicks auf den »Schandfleck Guantánamo« läuft man zwangsläufig Gefahr, die strukturelle Beschaffenheit des Hintergrundes, auf dem etwas als Schandfleck wahrgenommen wird, zu übersehen. Auch die jetzige amerikanische Regierung wird auf das Instrument der Folter nicht vollständig verzichten. Zwar hat Obama einige der von der Bush-Regierung praktizierten »innovativen Verhörmethoden« als Folter eingestuft – will jedoch ausdrücklich von juristischen Folgen für die Verantwortlichen absehen – und ihre Anwendung auf amerikanischem Boden und in der Militärbasis Guantanamo Bay untersagt. Zugleich setzt er das CIA-Programm zur Überstellung von Gefangenen an andere Staaten ohne juristische Grundlage fort, also ein »Outsourcing« der Folter in Staaten, in denen öffentliche Reaktionen kaum zu befürchten sind. Auch will er auf »Amerikas Folterkammer« Bagram nicht verzichten. Zudem erklärte er, die unbefristete Inhaftierung von Terrorverdächtigen auch ohne Gerichtsverhandlung beibehalten zu wollen.

Auch die politische Praxis der jetzigen Bundesregierung und ihrer Vorgängerin lässt hinter der Menschenrechtsrhetorik die üblichen Doppelstandards zur Folter erkennen, wie sich u.a. in der engen Zusammenarbeit von BND und Bundeswehr mit Folterregimen zeigt. Besonders eklatant ist dies im Fall Usbekistans, ein Land, in dem »Human Rights Watch« zufolge „Folter tief im Strafjustizsystem verwurzelt“ ist, zu dessen autokratischem Folterregime Deutschland jedoch freundschaftliche Beziehungen pflegt und in dem es einen Luftwaffenstützpunkt unterhält; der BND unterhält enge Beziehungen zu Usbekistan und hat, nach Angaben des ehemaligen englischen Botschafters Craig Murray, Informationen aus Foltergeständnissen genutzt. Auch das Bundeskriminalamt (BKA) arbeitet sehr »pragmatisch« mit Folterregimen zusammen.3

Trotz der Eindeutigkeit des absoluten Folterverbotes ist eine pragmatische und utilitaristische Haltung zur Folter weit verbreitet und bildet erst die Voraussetzung dafür, dass sich entsprechende zivilisatorische Regressionen immer wieder ereignen. Mit dem absoluten Folterverbot wird die Folter – ebenso wie die Sklaverei – einer abwägenden Bewertung von Pro und Contra entzogen. Gleichwohl finden sich unter dem Mäntelchen einer »rationalen« und »vernünftigen« Herangehensweise immer wieder Versuche, das absolute Folterverbot einer Abwägungshaltung zugänglich zu machen. Der ZEIT-Herausgeber Josef Joffe bringt im »Tagesspiegel« vom 27.04.2009 eine solche Haltung so zum Ausdruck: „Nützlicher wäre eine systematische Untersuchung, ob denn Erschöpfung, Erniedrigung und simuliertes Ertrinken überhaupt den gewünschten Effekt gehabt haben.“ Was wäre nun, wenn diese Foltermethoden den gewünschten Effekt hätten? Müssten wir dann zu einer »vernünftigen« Neubewertung der Folter kommen? Interessanterweise würde, bislang zumindest, niemand eine gleichermaßen »vernünftige« Haltung zum absoluten Verbot der Sklaverei vertreten und deren Bewertung von der Evaluation der »gewünschten Effekte«, etwa wirtschaftlicher Art, abhängig machen. Auch Psychologen sind dieser Art von affirmativer Scheinrationalität erlegen, wenn sie etwa untersuchen, ob Folter überhaupt zur Gewinnung brauchbarer Informationen taugt. So kommt eine kürzlich veröffentlichte Studie nach einer Auswertung neurophysiologischer Literatur insbesondere zu Gedächtnisfunktionen zu dem Schluss, dass auf der Basis der verfügbaren Befunde extremer Stress zu einer Beeinträchtigung der Gedächtnisfunktionen führt und daher mit dem Ziel einer Gewinnung brauchbarer Informationen nicht vereinbar ist.4 Was aber wäre, wenn dies nicht der Fall wäre und wenn Stress und Schmerzen vielleicht sogar die Bereitschaft erhöhten, freiwillig nicht geäußerte Gedächtnisinhalte preiszugeben? Müsste dann nicht Folter als die Methode der Wahl angesehen werden? Dies ist genau die Haltung, mit der man unter dem Vorwand eines »rationalen Diskurses« letztlich wieder die Folterlogik staatlicher Interessen übernimmt. Zudem verdeckt diese Art einer »nüchternen wissenschaftlichen Herangehensweise«, dass es sich bei dem Ziel einer vorgeblichen Informationsbeschaffung nur um eine Rechtfertigungsrhetorik handelt und dass Folter vorrangig auf die Disziplinierung, Demütigung und Erniedrigung bestimmter – zumeist ethnisch definierter – Gruppen zielt, deren soziale oder kulturelle Identität sie zu zerstören sucht. Die vorgebliche oder tatsächliche Aufklärungsintention derartiger psychologisch-wissenschaftlicher Studien trägt letztlich nur dazu bei, das absolute Folterverbot zu erodieren und einer Abwägungshaltung zugänglich zu machen.

Da das absolute Folterverbot aus den geschichtlichen Erfahrungen erwachsen ist, kann es uns nur in dem Maße vor einer Wiederholung dieser Erfahrungen schützen, wie diese im kollektiven Gedächtnis präsent bleiben. In dem Maße, in dem Regierungen Folter als unverzichtbares Instrument ihrer Machtpolitik ansehen, haben sie, besonders in Demokratien, ein Interesse daran, dass die öffentliche Bewertung entsprechender Vorgänge geschichtslos und damit jeder Fall ein Einzelfall bleibt. Auf diese Weise lassen sich unsere natürlichen moralischen Reaktionen im Einklang mit politischen Machtinteressen kanalisieren, und hinter der berechtigten Empörung über Guantanamo verschwindet die lange Kontinuität der Folter in der kollektiven geschichtlichen Amnesie. Auch die »innovativen Verhörmethoden« beginnen weder mit Guantánamo noch werden sie damit enden. Zur Entwicklung dieser Methoden hat die Psychologie seit den 1950er Jahren beigetragen.

Psychologie und weiße Folter: Das neue Gesicht der Folter

Wenn von »Psychologie und Folter« die Rede ist5, wird man zuerst an therapeutische Aufgaben denken. Psychologen spielen eine wichtige Rolle bei der Betreuung von Folteropfern. Der Versuch, sie zu lindern, erfordert profundes Wissen über die Auswirkungen, die solche »Verwüstungen der Seele« haben.

Die Psychologie trägt aber auch dazu bei, die Bedingungen besser zu verstehen, unter denen es zu Folter kommt; sie betreibt Ursachenforschung. So wäre Folter kaum denkbar ohne die Annahme, dass bestimmte Personen- und Kulturgruppen minderwertig seien und man ihnen jene Rechte absprechen könne, die wir ansonsten für selbstverständlich halten. Aus geschichtlichen Erfahrungen ebenso wie aus Untersuchungen der Sozialpsychologie wissen wir, dass der Mensch eine einzigartige Flexibilität darin hat, auf der Basis nahezu x-beliebiger Merkmale, sei es Hautfarbe, Religion, Herkunft, Geschlecht oder sexuelle Orientierung, andere aus der Kategorie »Meinesgleichen« auszugrenzen und ihnen das zu verwehren, was er als elementare Menschenwürde für die als »Seinesgleichen« Empfundenen beansprucht. Dies macht ihn unempfänglich für das Leid derjenigen, die er als »Nicht-Seinesgleichen» ansieht. Die Psychologie kann die Mechanismen solcher Kategorisierungen aufklären helfen. Die Voraussetzungen sowie die Auswirkungen von Folter gehören folglich in ihren Untersuchungsbereich. Wenn von »Psychologie und Folter« die Rede ist, denkt jedoch kaum jemand daran, dass Psychologen auch zur Entwicklung und Verfeinerung von Foltertechniken beigetragen haben. In den letzten Jahren kamen mehr und mehr Details darüber ans Licht, wie sehr Vertreter des Fachs an der Entwicklung und Durchführung von Methoden psychologischer Folter beteiligt waren.

Mit der Etablierung demokratischer Rechtsstaaten und ihrer weit gehenden Kontrolle durch die Öffentlichkeit veränderte sich auch das Gesicht der Folter. Um sie gleichsam unsichtbar zu machen, wurden neue Techniken entwickelt, die man als »Clean Torture«, »White Torture« oder »Psychological Torture« bezeichnet. Mit diesen Methoden lässt sich der Wille eines Gefangenen ebenso effizient brechen wie durch körperliche Misshandlungen. Jedoch hinterlassen sie keine sichtbaren Spuren, was diese neuen Techniken gerade für Regierungen demokratischer Staaten attraktiv macht. Diese neuen Foltertechniken breiten sich, Menschenrechtsorganisationen zufolge, epidemieartig aus.

An den »innovativen Verhörmethoden«, wie sie in Guantánamo, Bagram oder Abu Ghraib zum Einsatz kamen, haben Psychologen entscheidend mitgewirkt. In den Fokus der Weltöffentlichkeit geriet dies im Jahr 2007: Damals bekundete die größte psychologische Berufsvereinigung, die American Psychological Association (APA), dass Psychologen, die »innovative Verhörtechniken« entwickeln oder Verhörexperten darin ausbilden, »einen wertvollen Beitrag« leisten, um »Schaden von unserer Nation, anderen Nationen und unschuldigen Zivilisten abzuwenden«. Um die Tragweite eines solchen Legitimierungsversuchs der weißen Folter zu verstehen, muss man die Hintergründe näher betrachten.

Nach internationalen Rechtsnormen stellt Folter einen Angriff auf ein Rechtsgut dar, das absolut schützenswert ist. Das Folterverbot gestattet keine Ausnahmen – auch nicht im Fall eines politischen oder gesellschaftlichen Notstands. Es gegen andere Rechtsgüter abzuwägen, gilt grundsätzlich als nicht statthaft. Auf diese Weise soll dem Macht- und Sicherheitsanspruch des Staates eine absolute rechtsstaatliche Grenze gesetzt werden.

Eine Frage des »Ausgeliefertseins«

Ob etwas als Folter anzusehen ist oder nicht, lässt sich freilich nicht allein am Grad des verursachten körperlichen oder seelischen Schmerzes messen. Das bestimmende Merkmal ist vielmehr die besondere Art der interpersonalen Situation, in der sich der Gefolterte in seiner gesamten Existenz dem Willen des Folterers ausgeliefert fühlt. In einer solchen Situation stellen bestimmte Techniken, wenn man sie in geeigneter Kombination anwendet, ein äußerst effektives Mittel dar, den Willen eines Menschen zu brechen. Hierzu zählen vor allem: räumliche und zeitliche Desorientierung, soziale Isolation, Reiz und Schlafentzug, sensorischer Schmerz durch Lärm und grelles Licht, Erzwingen körperlicher Stresspositionen sowie sexuelle und kulturelle Erniedrigung.

An den ersten Untersuchungen zu den Folgen sensorischer Deprivation in den 1950er Jahren war einer der damals bedeutendsten Psychologen, der Kanadier Donald O. Hebb, entscheidend beteiligt. Hebb berichtete, dass sich „die Identität von Versuchspersonen aufzulösen begann“, nachdem diese zwei bis drei Tage lang schalldichte Kopfhörer, eine Augenbinde und besondere, das Tastempfinden reduzierende Kleidung trugen. Wie viele andere Forscher suchte Hebb nach Mitteln und Wegen, die psychische Widerstandskraft und den Willen einer Person zu schwächen.

1959 fasste Albert Biderman die damals bekannte Forschung über »Improved Interrogation Techniques« zusammen: Psychologische Folter sei „der ideale Weg, einen Gefangenen zu brechen“, da sich „Isolation auf die Hirnfunktion des Gefangenen ebenso auswirkt, wie wenn man ihn schlägt, hungern lässt oder ihm Schlaf entzieht“. Dafür genüge es, den Betreffenden aller sozialen Kontakte zu berauben, ihn zu desorientieren, seinen Schlaf-wach-Rhythmus zu stören und ihn massiv unter Stress zu setzen. Nach und nach komme es so zur Regression auf eine infantile Stufe.

Auch ein Verhörhandbuch der CIA, das berüchtigte »KUBARK«6 von 1963, beschreibt bereits ausführlich, wie sich die emotionale Verletzbarkeit des Einzelnen zu diesem Zweck ausnutzen lässt. Das Handbuch erklärt den Auszubildenden sogar, dass die betreffenden Techniken dank der psychologischen Forschung leicht erlernbar seien: „Es hört sich schwieriger an als es ist, den Willen einer Person durch psychologische Manipulation und ohne Anwendung von äußerlichen Methoden zu brechen.“ Das KUBARK-Handbuch empfiehlt etwa die ständige Manipulation der Zeit durch Vor- und Zurückdrehen der Uhr, was den Gefangenen „immer tiefer in sich selbst verstrickt“. Ist die zeitliche Orientierung einmal zerstört, sollten weitere Methoden hinzutreten. Letztlich komme es darauf an, die Erfahrungswelt des Betreffenden völlig unberechenbar und chaotisch zu gestalten – ein Vorgehen, das als »Alice-in-Wonderland-Technik« bezeichnet wird.

Nach dem 11. September 2001 wurde die psychologische Forschung auf diesem Gebiet wieder verstärkt. Eine Verhörtechnik galt als optimal, wenn sich durch sie der Wille selbst der stärksten Persönlichkeit brechen ließ und ihre Folgen zugleich für die Öffentlich unsichtbar blieben. Im Jargon der Guantánamo-Verhörprotokolle tragen die von Psychologen entwickelten Maßnahmen Namen wie »Pride and Ego down«, »Fear up Harsh« oder »Invasion of Space by a Female«. Hinter »Pride and Ego down« verbirgt sich beispielsweise, muslimische Gefangene nackt vor weiblichen Aufsehern zu verhören oder in Frauenunterwäsche posieren zu lassen. Auch erzwungenes Masturbieren oder das Vorführen von »Kunststücken« wie ein dressierter Hund gehören dazu. Verbunden mit mehrtägigem Schlafentzug, sensorischer Deprivation und Desorientierung sowie stundenlangem Verharren in starren Körperhaltungen destabilisiert dies die Gefangenen psychisch derart, dass es schließlich zu willfähriger Unterwerfung kommt.

Die in Guantánamo angewandten Verhörtechniken haben Psychologen entworfen – insbesondere die Firma »Mitchell, Jessen & Associates«, die sich auf die Ausbildung von Verhörexperten spezialisiert hatte. James Mitchell und Bruce Jessen nahmen im Mai 2002 an einem vom Pentagon und der CIA organisierten Symposium teil, bei dem anlässlich der Festnahme eines al-Qaida-Führungsmitglieds »innovative Verhörtechniken« vorgestellt und diskutiert wurden. Auf dieser Veranstaltung hielt der renommierte Psychologe Martin Seligman einen Vortrag, in dem er über das Konzept der erlernten Hilflosigkeit referierte. Die von Mitchell und Jessen entwickelte Methode zielt vornehmlich darauf ab, den Verhörten in einen solchen Zustand erlernter Hilflosigkeit zu versetzen. Auch die Verhöre in Guantánamo selbst fanden häufig unter Aufsicht von Psychologen statt.

Müssten diese Vorgänge unter Psychologen nicht für Empörung sorgen? Sollte man der American Psychological Association (APA) nicht ihre eigenen ethischen Richtlinien in Erinnerung rufen? Tatsächlich verlangten nur wenige der rund 150 000 APA-Mitglieder das wahre Ausmaß der Beteiligung von Psychologen an Menschenrechtsverletzungen aufzudecken. Nachdem bekannt wurde, wie sehr das Prinzip der »innovativen Verhörmethoden« auf der Expertise von Psychologen beruhte, geriet die APA dennoch zunehmend unter Druck. Zwar stellte der Verband in einer Stellungnahme fest, dass er jede Art von Folter ablehne. Bei den angewandten Methoden handle es sich jedoch zum einen gar nicht um Folter. Zum anderen gebe es nicht nur eine ethische Verpflichtung, das Individuum zu schützen, sondern auch die, Schaden von der Nation abzuwenden. Im Konfliktfall gelte es, beides gegeneinander abwägen – etwa um sicherheitsrelevante Informationen zu beschaffen. (Die Argumentation klingt erschreckend vertraut: Auch NS-Ärzte hatten seinerzeit einen Konflikt geltend gemacht zwischen der Verpflichtung, dem Wohl des Einzelnen zu dienen, sowie der, den »Volkskörper« gesund zu erhalten.)

Unter dem wachsenden öffentlichen Druck vollzog die APA im Oktober 2008 – rechtzeitig zum erwarteten politischen Machtwechsel in den USA – eine späte Kehrtwende. Sie kündigte eine »deutliche Änderung« ihrer Haltung an: Psychologen dürften sich ab sofort nicht mehr an Menschenrechtsverletzungen von Gefangenen beteiligen. Dennoch vermittelt die APA bis heute den Eindruck, dass sie die Diskussion um die Entwicklung und Durchführung von Techniken der weißen Folter nicht unmittelbar betreffe und dass es nur um Verfehlungen einzelner »schwarzer Schafe« gehe. Zugleich hat sie erkennen lassen, dass sie die verabschiedeten Resolutionen gegen eine Beteiligung von Psychologen an folterähnlichen Verhören nicht als verbindlichen Teil ihrer ethischen Richtlinien ansieht.

Wie sicher können wir vor dem Hintergrund solcher geschichtlichen Erfahrungen sein, dass der Schutz und die Menschenwürde des Einzelnen nicht bei nächster Gelegenheit wieder dem vermeintlich übergeordneten Interesse des Staates zum Opfer fallen?

Anmerkungen

1) Nach Schätzungen der israelischen Bürgerrechtsorganisation B'Tselem werden 85% aller palästinensischen Gefangenen gefoltert (vgl. B'Tselem (2007): Absolute Prohibition. The Torture and Ill-Treatment of Palestinian Detainees. Jerusalem). Nach Schätzungen des »Public Committee Against Torture« in Israel wurden allein zwischen 1987 und 1994 über 23.000 Palästinenser gefoltert (s.a. Public Committee against Torture in Israel (2008): 'Family Matters'. Using Family Members to Pressure Detainees Under GSS interrogation. Jerusalem).

2) Vgl. Dana Priest (1996): US instructed Latins on Executions, Torture; Manuals used 1982-1991, Pentagon Reveals, Washington Post, Sept. 21; Amnesty International (2001): Stopping the Torture Trade; Amnesty International (2002): Unmatched Power, Unmet Principles: The Human Rights Dimensions of US Training of Foreign Military and Police Forces; J.K. Harbury (2005): Truth, Torture, and the American Way: The History and Consequences of U.S. Involvement in Torture. Boston: Beacon Press; F.H. Gareau (2004): State Terrorism and the United States. From Counterinsurgency to the War on Terrorism. London: Zed Books; A. George (ed.) (2004): Western State Terrorism. Cambridge: Polity. Für eine Chronik siehe W. Blum (2004): Killing Hope. US Military and CIA Interventions since World War II. Monroe: Common Courage Press.

3) Schenk, D. (2008): BKA – Polizeihilfe für Folterregime. Bonn: Dietz.

4) S. O'Mara (2009): Torturing the brain: On the folk psychology and folk neurobiology motivating 'enhanced and coercive interrogation techniques', Trends in Cognitive Sciences, 13, 497-500.

5) Für weitere Details und Quellennachweise siehe R. Mausfeld (2009): Psychologie, »weiße Folter« und die Verantwortlichkeit von Wissenschaftlern. Psychologische Rundschau, 60, 229-240.

6) CIA (1963). KUBARK Counterintelligence lnterrogatioll. [http://www.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB122/index.htm#kubark] McCoy, A.W. (2005). Foltern und Foltern lassen. 50 Jahre Folterforschung und -Praxis von CIA und US-Mililär. Frankfurt: Zweitausendeins.

Rainer Mausfeld ist Professor für Allgemeine Psychologie an der Christian-Albrechts-Universität Kiel.