Problematische Kriegsmetaphern


Problematische Kriegsmetaphern

Warum wir nicht von einem »Krieg gegen SARS-CoV-2« sprechen sollten

von Marcel Vondermaßen

Kriegsmetaphern sind seit Langem Teil politischer Rhetorik. »Krieg« wurde von führenden Politiker*innen der Armut erklärt (Lyndon B. Johnson, 1964), dem Krebs (Richard Nixon, 1971), Aids, den Drogen, dem Klimawandel … Derzeit wird die Kriegsmetapher zur Mobilisierung gegen eine globale Pandemie genutzt. Im Folgenden wird gezeigt, welcher Nutzen und welche Probleme sich aus ihrer Verwendung ergeben. Insbesondere wird herausgearbeitet, wie problematisch und folgenreich es sein kann, Kriegsmetaphern zu verwenden, wenn das »zu bekämpfende« Phänomen hauptsächlich medizinische und soziale Dimensionen aufweist.

Seit sich SARS-CoV-2 zu einer Pandemie entwickelte, greifen Politiker*innen gerne auf die Kriegsmetapher zurück. „SARS-CoV-2 ist unser gemeinsamer Feind. Wir müssen diesem Virus den Krieg erklären. Das bedeutet, dass die Länder die Verantwortung haben, mehr zu tun, sich zu rüsten und sich zu verstärken,“ stellte UN-Generalsekretär António Guterres fest (15.3.2020). Auch der französische Präsident Emmanuel Macron oder der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte beschwören den Krieg oder fordern, die „ganze Feuerkraft der EU“ (Meiler 19.4.2020) gegen die neuartige Krankheit ins Feld zu führen. US-Präsident Donald Trump erklärte sich selbst zu einem „wartime President“.

Warum die Kriegsmetapher wirkt

Die meisten, die diese Aussagen tätigen, tun dies vermutlich in guter Absicht: Um die Pandemie in den Griff zu bekommen, ist es notwendig, allen Beteiligten teils drastische Einschränkungen und Umstellungen zuzumuten. Mit der Kriegsmetapher soll der Ernst der Lage beschworen und die Notwendigkeit betont werden, gegen eine Bedrohung von außen zusammenzustehen. Sie ist zur Mobilisierung durchaus geeignet. Wie Forschung im Kontext der Klima­krise zeigt, vermittelt die Kriegsmetapher, im Vergleich etwa zum Bild des »Wettlaufs«, eher die Dringlichkeit einer Lage und motiviert zu Verhaltensänderungen im Alltag (Wehling 27.5.2020).

Dieser Effekt dürfte auch bei der Verbindung von Krieg und Pandemie eintreten, da zwei der wichtigsten Grundlagen für eine Wirksamkeit gegeben sind: Verständlichkeit und Konnektivität. Wenn wir Worte verwenden, dann aktiviert dies in unserem Gehirn nicht nur eine einzelne Bedeutung, sondern einen ganzen Deutungsrahmen (Frame), der verschiedene Bedeutungen, Gefühle und Erinnerungen umfassen kann. Damit eine Metapher wirkt, muss für die Empfänger*innen der Deutungsrahmen, den sie mit der Metapher verbinden, zu der Botschaft passen, die ihnen vermittelt werden soll. Krieg wird von den allermeisten Menschen mit Elend, Tod, Vertreibung etc. assoziiert. Er sollte nur als letztes Mittel geführt und möglichst schnell beendet werden. Krieg stellt eine existentielle Bedrohung dar, die drastische Mittel von Seiten der Exekutive rechtfertigt. Dieser Deutungsrahmen ist fast überall auf der Welt selbsterklärend und verständlich.

Konnektivität meint, dass der Deutungsrahmen der Metapher auch zum Problem passen muss. So dürften zwar Sportmetaphern ähnlich verständlich sein, doch der Vergleich einer globalen Pandemie etwa mit einem Fußballspiel scheint unangemessen. Die Grundlage für die Konnektivität von Krieg und Gesundheit wurde von Robert Koch gelegt, der 1876 eindeutig nachwies, dass ein Zusammenhang zwischen bakteriellen Erregern und Krankheiten existiert. Diese Erkenntnis veränderte den Blick auf Krankheiten grundlegend: Bakterien dringen in den Körper der Erkrankten ein. Die Verbindung von »Plagen« und Seuchen mit anderen Erzählungen, wie einer Strafe Gottes oder einem üblen Schicksal, wurde zurückgedrängt. Dafür etablierten sich zunehmend militärische Sprachmuster, die sich bis heute im Sprachgebrauch finden: Wir bekämpfen die Ansteckungsgefahr, das Immunsystem verteidigt uns gegen Erreger, Medikamente vernichten die Eindringlinge.

Der Kampf gegen Viren und Bakterien ist daher auch kein Krieg im Allgemeinen, sondern ein Verteidigungskrieg. Mit Verteidigungskriegen werden jedoch zusätzliche Bedeutungen verbunden: Bedrohung von außen; gerechtfertigte Verteidigung der eigenen Gemeinschaft, des eigenen Landes, des Eigentums; ein gemeinsames Schicksal aller Angegriffenen. Die Kriegsmetapher dürfte daher die von Wehling und ihren Kolleg*innen nachgewiesenen positiven Effekte einer Mobilisierung auch im Fall der Corona-Pandemie aufweisen, denn die Metapher ist verständlich und gut mit dem Problem zu verbinden.

Ist die Wortwahl in diesem Fall also hilfreich? Um dies zu beurteilen, gilt es die verschiedenen Implikationen zu betrachten, die mit der Kriegsmetapher einhergehen:

Der Feind als äußere Bedrohung – der Staat als Bezugsgröße

Spätestens seit sich Nationen als oberste Organisationsform von Gemeinwesen durchgesetzt haben, wird »Krieg« hauptsächlich als Krieg zwischen Staaten verstanden. Die Landesverteidigung ist eine zentrale Verantwortung staatlicher Gewalt. Die Kriegsmetapher rückt daher den Staat als Akteur in den Mittelpunkt. Dies trifft zusammen mit nationalen Zuständigkeiten, was die Organisation der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung betrifft. Die Berichterstattung in den Medien verstärkt diese Wahrnehmung noch: Die Infizierten, die Gestorbenen und die Gesundeten werden national erfasst; Erfolge und Misserfolge werden in Bezug auf Regierungen und Länder diskutiert und bewertet. Eine Folge dieses nationalstaatlichen Denkens zeigte sich in Europa, als sich die Regierungen entschlossen, den grenzüberschreitenden Verkehr einzustellen, obwohl das Virus bereits in den einzelnen Staaten angekommen war. Diese Logik widerspricht jedoch den Erfordernissen einer globalen Pandemie, die eigentlich Multilateralismus, Transparenz, Solidarität und Kooperation über Grenzen hinweg erfordert.

Die Konzentration auf den Staat als maßgeblichen Akteur kann allerdings nicht nur auf internationaler Ebene Probleme verursachen. Militär-Metaphern implizieren immer auch ein hierarchisches (Top-down-) Verständnis von Führung, obwohl in einer Pandemie vielfach Bottom-up-Netzwerke unverzichtbare Arbeit leisten. Dies beginnt mit Spontanhelfenden und geht über Nachbarschaftshilfen und Tafeln bis hin zu grenzübergreifend arbeitenden Nichtregierungsorganisationen. Diese sind jedoch in Gefahr, aus dem Blick zu geraten, weshalb zentral und von oben verfügte Maßnahmen deren Arbeiten sogar erschweren können. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn in einem harten Lockdown der Einkauf für Nachbar*innen kein legitimer Grund ist, die Wohnung zu verlassen.

Viren sind keine Menschen

Wenn Politiker*innen in der Kriegsmetapher denken, besteht die Gefahr, dass sie Logiken des Krieges anwenden. So impliziert »Krieg« einen klaren, identifizierbaren Gegner und ein klares Ende, sei es durch Kapitulation einer Seite oder Friedensverhandlungen. SARS-CoV-2 hat jedoch keinen Willen. Es wird weder kapitulieren noch verhandeln. In der Kriegslogik bleibt daher als einzige Option die Überwältigung des Gegners, die totale Vernichtung. Alternative Settings, wie zum Beispiel zukünftiges Leben »mit dem Virus« aussehen könnte, sind in einer Kriegslogik schwerer zu diskutieren.

Doch auch die Identifizierung des Virus als Feind ist problematisch. Dadurch, dass das Virus von Mensch zu Mensch übertragen wird, kann schnell »der Andere« selbst zur Bedrohung werden. Übergriffe gegen vermeintliche Chines*innen zu Beginn der Pandemie haben gezeigt, wie schnell aus der Angst vor dem Virus gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit werden kann. Die Kriegsmetapher verstärkt das »Wir vs. Die Anderen«-Denken und damit potenziell auch Aggressionen und Vorbehalte gegen bestimmte Gruppen, wie sich beim Ausbruch von Covid-19 im Mai/Juni 2020 in Göttingen beobachten ließ (vgl. Heisterkamp und Sussebach 2020), anstatt Mitgefühl oder Hilfsbereitschaft auszulösen.

Der Sieg als oberstes Ziel

Es gibt Implikationen, die in einem militärischen Setting durchaus Sinn machen oder sogar überlebenswichtig sind: Gehorsam, Homogenität, Vertrauen in die Kommandostruktur. Militärische Logiken kommen jedoch in zivilen Situationen schnell an ihre Grenzen. Viele Stärken und Verhaltensweisen, die zur Bewältigung der aktuellen Krise und für eine auch zukünftig solidarische Gemeinschaft notwendig sind, finden keinen Platz in Kriegsmetaphern. Individuelle Bedürfnisse, kreative Lösungen, selbständiges In-Verantwortung-Gehen können nicht adäquat abgebildet werden. Die Kriegsmetapher verstärkt den Drang zu einem Sieg über den Feind, dem alles andere unterzuordnen sei. Dazu zählen auch Kritik, Zweifel und Skepsis. Gerade weil die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie extrem waren bzw. sind, sollten sie von einer kritischen Öffentlichkeit begleitet und immer wieder hinterfragt werden. Der Vereinigungsdruck, den eine Kriegsmetapher auslöst, führt leicht dazu, das Infragestellen oder den Widerstand gegen Maßnahmen als Verrat zu diffamieren. Dies ist umso gravierender, da Kriegssituationen den Einsatz extremer Gewalt rechtfertigen. In allen westlichen Gesellschaften erlaubt der Verteidigungsfall weitreichende Eingriffe der Exekutive in das Leben der Bewohner*innen. Selbst Grundrechte, sei es die Versammlungsfreiheit, die Reisefreiheit oder das Recht auf Eigentum, können temporär überschrieben werden.

Die Schwierigkeit, Kritik zu äußern, betrifft auch die Langzeitfolgen, welche Maßnahmen mit sich bringen. Die zahlreichen niemals aufgehobenen Anti-Terror-Gesetzgebungen, die als Antwort auf die Anschläge vom 11.9.2001 erlassen wurden, zeigen, wie wichtig eine kritische Begleitung von Krisenmaßnahmen ist. Maßnahmen, die in einer Krise beschlossen wurden, überdauern in der Regel die Krise, die sie hervorgebracht hat.

Gesundheitsbudget als »Verteidigungshaushalt«

Wird die Sicht auf Gesundheit militarisiert, besteht die Gefahr, dass das Gesundheitsbudget als »Verteidigungsbudget« angesehen wird, was Folgen für die Priorisierung innerhalb des Gesundheitswesens hat: „Man neigt dazu, der Gesundheitsfürsorge (insbesondere der medizinischen Versorgung) Vorrang vor anderen Gütern einzuräumen. Innerhalb der Gesundheitsfürsorge wird der Intensiv­pflege Vorrang vor der präventiven und Chroniker- Versorgung gegeben. Tödliche Krankheiten werden eher angegangen als Krankheiten, die Behinderungen hervorrufen; technologischen Interventionen wird Vorrang vor weniger technischen Eingriffen gegeben. Eher wird eine heroische Behandlung sterbender Patienten durchgeführt, anstatt sie in Frieden sterben zu lassen.“ (Childress 2001, S. 189)

Viele der von Childress vorgebrachten Punkte lassen sich auch heute im Gesundheitswesen beobachten, sei es die Marginalisierung von Prävention, die hohe Priorisierung technologischen Fortschritts im Vergleich zur Care-Arbeit oder das Aufblähen des Gesundheitssektors zu Lasten anderer sozialer Güter. Hier braucht es eine kritische Diskussion, ob diese Effekte gewünscht werden – eine Diskussion, die wiederum durch die Kriegsrhetorik eher erschwert als gefördert wird.

Das Krankenhaus als Front

Wer die Bemühungen rund um die Corona-Pandemie in ein Kriegssetting versetzt, kommt nicht umhin, Krankenhäuser als Front im Kampf gegen das Virus zu sehen. Dies macht das Personal zwangsläufig zu Frontkämpfer*innen. Diese Bezeichnung des Krankenhauspersonals ist sicherlich anerkennend gemeint, doch auch in diesem Fall zeigen sich Schattenseiten. Zwar werden Soldat*innen gerne als Hero*innen verehrt, die ihr Land verteidigen, fester Bestandteil von Kriegserzählungen ist allerdings das Opfer: Der Sieg im Krieg wird nicht ohne Opfer errungen, und Opfererzählungen dienen oft sogar der Motivation der noch Kämpfenden (»Das Opfer unserer Kameraden darf nicht umsonst gewesen sein!«). Die Versorgung von Patient*innen folgt jedoch der entgegengesetzten Logik. Ein funktionierendes Gesundheitswesen vermeidet gerade die Notwendigkeit, für ein höheres Ziel Menschen zu opfern. So ist die Anwendung der Triage sicheres Zeichen eines überforderten Systems. Darüber hinaus hat sich das Krankenhauspersonal nicht willentlich dazu verpflichtet, bei der Arbeit das eigene Leben zu riskieren. Der Einsatz in der Pandemie, sich oftmals mit mangelnder Schutzausrüstung um hoch ansteckende Patient*innen zu kümmern, geht weit über das Berufsprofil hinaus. Die Wahrnehmung als Soldat*innen kann den die Grenzen der Pflicht deutlich übersteigenden Charakter dieses Einsatzes sogar verschleiern und normalisieren.

Die Kriegsmetapher betrifft auch die Erkrankten. Der Kampf gegen das Virus macht den Körper zum Schlachtfeld. Wie problematisch es ist, Kriegsmetaphern auf Krankheiten anzuwenden, lässt sich eindrucksvoll bei Susan Sontag in »Krankheit als Metapher« (1978) nachlesen. Sie schildert darin, wie ihre eigene Krebsbehandlung von Kriegsrhetorik begleitet wurde: Ziel ist die Vernichtung der Krankheit; es müssen dafür Opfer (gesunde Zellen) gebracht werden; Aufgeben ist keine Alternative; gewisses Leid und extreme Maßnahmen sind notwendig (S. 74).

Es besteht die Gefahr, dass im Zuge dieses Kampfes vergessen wird, worum es in der Behandlung letztlich geht. Der Verzicht auf invasive Maßnahmen ist kein schmachvoller Rückzug, der Tod nicht in jedem Fall die möglichst lange herauszuzögernde, absolute Niederlage. „Es geht nicht um Tapferkeit, es geht um Würde.“ (Stöcker 2020) In einer Kriegslogik gehen Mahnungen leichter unter, wie die von Palliativmediziner*innen, wenn sie darauf dringen, der Möglichkeit eines würdevollen Sterbens an Covid-19 mehr Raum zu geben.

Fazit: Kriegsmetapher vermeiden

Die Corona-Pandemie ist eine Krise, die klare Vorgaben und Vorschriften braucht. Sie ist aber auch eine Krankheitswelle, die andere Bilder und Vergleiche als die mit Kriegshandlungen benötigt. Ein Fokus auf Kriegsmetaphern verhindert, dass wir den gesellschaftlichen Blick auf jene Werte legen, die zur Bewältigung der Krise unverzichtbar sind: Eigenverantwortung, Fürsorge, Empathie, Kritikfähigkeit. Die Corona-Krise, in all ihren Facetten, darf nicht militarisiert, sie muss, im Gegenteil, zivilisiert werden.

Literatur

Childress, J.F. (2001): The War Metaphor in Public Policy – Some Moral Reflections. In: Ficarrotta, J.C. (ed.): The Leader’s Imperative – Ethics, Integrity, and Responsibility. West Lafayette: Purdue University Press, S. 181-197.

Guterres, A. (2020): Wir müssen diesem Virus den Krieg erklären. Süddeutsche.de, 15.3.2020.

Heisterkamp, L.; Sussebach H. (2020): 18 Stockwerke Stigma. DIE ZEIT, No.25, 10.6.2020, S. 3.

Meiler, O. (2020): Premier Conte fordert „ganze Feuerkraft der EU“. Süddeutsche.de, 19.4.2020.

Sontag, S. (1978): Krankheit als Metapher. München, Wien: Hanser.

Stöcker, C. (2020): Das hier ist kein Krieg. SPIEGEL Online, 5.4.2020.

Wehling, E. (2020), Krieg gegen Corona – die Macht der Worte. After Corona Club, NDR Doku, 27.5.2020; https://youtu.be/xm-­uZpr4nkk.

Dr. Marcel Vondermaßen ist Akademischer Mitarbeiter am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen und Mitorganisator des Graduierten-Netzwerks »Zivile Sicherheit«.

Eine Kurzversion dieses Textes wurde am 2.4.2020 im Blog »Bedenkzeiten« veröffentlicht (uni-tuebingen.de/de/174903).

Umgang mit Killerrobotern


Umgang mit Killerrobotern

Tagung, Evang. Akademie Loccum, 27.-29. Januar 2020

von Thea Riebe

Autonome Waffensysteme werden die Dynamik bewaffneter Konflikten verändern und bergen neue Risiken für die strategische Stabilität und Sicherheit der internationalen Gemeinschaft. Der Druck zu immer mehr Autonomisierung birgt die Gefahr eines Rüstungswettlaufs, in dessen Verlauf durch den Zwang zu immer schnelleren Entscheidungen der Mensch zunehmend zugunsten von autonomen Waffensystemen verdrängt werden könnte. Um dies zu verhindern, diskutieren Diplomat*innen und Expert*innen im Rahmen der UN Convention on Certain Conventional Weapons (CCW) sowie innerhalb der Nationalstaaten und in Nichtregierungsorganisationen intensiv darüber, wie solche autonomen Waffensysteme reguliert oder verboten werden können.

Die Tagung »Killerroboter – Überlegungen zum zukünftigen Umgang mit automatisierten Waffensystemen« der Evangelischen Akademie Loccum im Januar 2020 bot ein Diskussionsforum zu aktuellen Ansätzen der Regulierung von autonomen Waffensystemen. Dem Organisationsteam gelang es, viele Expert*innen aus der Wissenschaft und Praxis zusammenzubringen, u.a. Mitarbeiter*innen des Auswärtigen Amtes, der Bundeswehr und des Verteidigungsministeriums, Vertreter*innen von Polizei, internationalen Organisationen und Gremien wie NATO und UN, Mitglieder der Campaign to Stop Killer Robots und von Human Rights Watch sowie Mitarbeiter*innen von Airbus und deren Projekt »Future Combat Air System«. Da die Konferenz unter der Chatham-House-Regel stattfand, die festlegt, dass in Konferenzberichten keine Aussagen einer bestimmten Person oder Institution zugeordnet werden dürfen, werden im Folgenden keine direkten Zitate verwendet.

Am ersten Tag wurde die Konferenz mit Beträgen über Grundlagen und Fachperspektiven eröffnet. Die Keynote wurde durch Marcel Dickow, Leiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und Leiter des »International Panel on the Regulation of Autonomous Weapons«, gehalten. Er stellte grundlegende Herausforderungen für die internationale Sicherheit und die Regulierung von autonomen Systemen dar. Anschließend beschäftigten sich die ersten beiden Sessions mit der Frage, wie der technische Fortschritt in den Bereichen Künstliche Intelligenz, Robotik und Sensorik die zukünftige Entwicklung von autonomen Waffen beeinflusst und welche militärischen Anforderungen die zukünftige Kriegsführung in Bezug auf autonome Funktionen hat. Der militärische Bedarf einer zukunftsfähigen Armee wurde von Brigadegeneral Gerald Funke, Unterabteilungsleiter Planung I im Bundesministerium der Verteidigung, und Dr. Jean-Christophe Noël vom Security Studies Center des Institut Français Des Relations Internationales (Paris) diskutiert. In dieser Session zu den Risiken und Chancen sowie zum Bedarf wurde deutlich, dass nicht nur strategische Fragen der internationalen Sicherheit zu bedenken sind (security), sondern auch die technische Sicherheit der Anwendungen (safety) einbezogen werden muss.

In der folgenden Session wurden die strategischen, völkerrechtlichen und friedens­ethischen Bewertungen und erwarteten Konsequenzen autonomer Waffensysteme durch Frank Sauer, Senior Researcher der Bundeswehr Universität München, Dr. Henning Lahmann vom Digital Society Institute der European School of Management and Technology (Berlin) und Peter Asaro, Associate Professor an der School of Media Studies at The New School (New York) sowie Mitgründer und stellvertretender Vorsitzender des International Committee for Robot Arms Control (ICRAC), eingeführt. Hier wurde u.a. die sinkende Hemmschwelle zum Einsatz autonomer Waffensysteme diskutiert, welche schrittweise dazu führen könnte, dass bei militärischen Einsätzen autonome Waffensysteme Entscheidungen treffen und nicht mehr der Mensch. Völkerrechtlich und ethisch ist der Einsatz von letalen autonomen Waffensystemen (LAWS) weder verantwortbar noch mit den Menschenrechten vereinbar, da Roboter keine moralischen Agenten sind und auch keine Verantwortung übernehmen können.

Am zweiten Tag gab der nordmazedonische Botschafter Ljupco Jivan Gjorgjinski, Vorsitzender der Regierungsexpertengruppen zu letalen autonomen Waffensystemen der CCW, den Teilnehmer*innen einen Einblick in die Probleme für die Regulierung autonomer Waffensysteme innerhalb der CCW. In der Diskussion wurde deutlich, dass die Verständnisse und Interessen der Staaten in der UN einen Konsens über die Definition zentraler Begriffe, wie »Autonomie« und »autonome Systeme«, erschweren. Mary Wareham, Koordinatorin der Campaign to Stop Killer Robots in Washington D.C., und Anja Dahlmann, Mitglied der International Security Research Division der SWP, ergänzten die Diskussion um die Perspektive einer Nichtregierungsorganisation und die wissenschaftliche Analyse des Diskurses. Hier werde zunehmend von »Systemen mit autonomen Funktionen« statt von »autonomen Systemen« gesprochen, um den Diskursgegenstand auf die relevanten Funktionen, wie den Zielauswahlprozess, einzugrenzen. Dabei seien nicht nur der Verlauf und die zentralen Akteure der Regulierungsdebatte Gegenstand, sondern auch die Haltung zentraler Staaten, wie den USA, China, Russland, Deutschland und der EU. Das Konzept der »meaningful human control«, welches von IRAC und der Campaign to Stop Killer Robots als Maßstab zur Sicherstellung menschlicher Entscheidungskontrolle eingefordert wird, findet auch bei vielen Staaten kaum Unterstützung und wird sowohl durch NGOs als auch unterstützende Staaten unterschiedlich interpretiert. Auf Grund diplomatischer Verwerfungen zwischen den USA, Russland und China und inhaltlicher Differenzen ist ein Konsens zur Regulierung von letalen autonomen Waffensystemen in den Vereinten Nationen nicht in Sicht.

Anschließend wurde die Diskussion auf mögliche Analogien zu anderen Rüstungskontrollregimen gelenkt, wie dem Biowaffenübereinkommen, das durch Elisande Nexon von der Fondation Pour La Recherche Stratégique (Paris) vorgestellt wurde. Die Lehren der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa diskutierte Oberst a.D. Wolfgang Richter von der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik an der SWP.

Die Loccumer Konferenz zu autonomen Waffensystemen brachte nicht nur Expert*innen aus unterschiedlichsten Domänen zusammen, sondern experimentierte auch mit interaktiven Formaten, wie dem Ideenworkshop, in welchem ein*e Impulsgeber*in einen Vorschlag zur Rüstungskontrolle von autonomen Waffen unterbreitete und dieser im Anschluss von einem*r weiteren Teilnehmer*in kommentiert wurde. Als Kommentatorin durfte ich Prof. Daniel Amoroso, Professor für internationales Recht an der Universität di Cagliari, kommentierten. Er schlug basierend auf seinem 2019 mit G. Tamburrini verfassten IRAC-Bericht »What makes human control over weapons systems ‚meaningful‘?« vor, die Autonomisierung in fünf Stufen zu klassifizieren, welche je nach Fähigkeit und Einsatzbereich reguliert und unter bestimmten Bedingungen eingesetzt werden könnten, beispielsweise zum Schutz von Menschen, wie im deutschen Nächstbereichsschutzsystem MANTIS. Dieser differenzierte Ansatz wurde positiv aufgenommen und durch meinen Beitrag um Fragen der Datenethik und des Datenschutzes ergänzt. In der zivilen Forschung und Entwicklung von autonomen Systemen entstehen durch den hohen Dual-use von Daten und Algorithmen bereits Ansatzpunkte für eine ethische und soziale Technikfolgenabschätzung, welche auch auf die militärischen Anwendung Auswirkungen hat. Ein weiterer Impuls wurden durch Dr. Jürgen Altmann gegeben, der ein Vorgehen zur nachträglichen Verifikation durch ein Blackbox-System vorschlug, welches im Anschluss an einen Einsatz die menschliche Kontrolle überprüfen könnte.

Nach dem Ideenworkshop fand ein Szenarienworkshop statt. Hier wurden die Teilnehmer*innen in Gruppen aufgeteilt, die die zentralen Akteure des Regulierungsprozesses repräsentierten, u.a. die USA, Deutschland, die NATO, die Blockfreien Staaten, das Internationale Komitee des Roten Kreuzes sowie Google als Vertreter der IT-Industrie. Die Teilnehmer*innen sollten Handlungsempfehlungen für die jeweiligen Akteure erarbeiten; diese wurden am letzten Konferenztag diskutiert.

Auf der Konferenz wurde also aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert, welche strategischen, rechtlichen, ethischen und sicherheitsrelevanten Implikationen durch die zunehmende Automatisierung von Waffensystemen entstehen, wie menschliche Kontrolle sichergestellt werden kann und welche Fragen von »safety« und »security« im Bereich der Systeme mit autonomen Funktionen zu bedenken sind. Es wurde deutlich, dass es in Deutschland zwischen den Regierungsparteien CDU/CSU und SPD sowie zwischen dem Auswärtigem Amt und dem Verteidigungsministerium keine einheitliche Haltung zur Regulierung gibt. Es liegen auf politischer Ebene aber durchaus Vorschläge vor, um den Einsatz letaler autonomer Waffensysteme zu regulieren. Nur zwei Tage nach der hier besprochenen Tagung wurden im Bundestag entsprechende Anträge der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke diskutiert und mit den Stimmen der Koalitionsparteien abgelehnt.

Thea Riebe

Friedenslogik

Friedenslogik

Eine praxisorientierte Theorie mit noch offenen Enden

von Christiane Lammers

Seit mehr als zehn Jahren arbeiten Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen und Bildungsarbeiter*innen an einem Konstrukt, das unter dem Begriff »Friedenslogik« firmiert. Die Zusammenführung verschiedener Perspektiven, Erfahrungswissensbestände und theoriegeleiteter Zugänge ermöglichte, dass aus dem anfangs eher intuitiven Gegenbegriff zu der in den 2000er Jahren allseits beschworenen »vernetzten Sicherheit« eine Theorie für die Arbeit am Frieden wurde. Gleichwohl sind viele Fragen noch offen.

Das Grundgerüst der Friedenslogik fußt auf der Erkenntnis, dass Frieden einerseits durch die Abwesenheit von Gewalt und andererseits durch Beziehungssysteme bestimmt ist. Ziel des Konzepts ist, zu einer Veränderung von Praxis beizutragen, sei es auf sozialer, sei es auf politischer Ebene. Die Richtung ist jedoch klar: Es geht um die Verminderung von Gewalt.

Fünf Handlungsprinzipien wurden von H.-M. Birckenbach herausgearbeitet,1 sodass auf der Grundlage wesentlicher Erkenntnisse der Friedens- und Konfliktforschung ein praxistaugliches, kohärentes Gerüst entstand.

1. Gewaltabbau und Gewaltprävention

Friedenslogisch betrachtet wird bei der Konfliktbearbeitung die Gewaltdimension in den Mittelpunkt gerückt. Bestehende Gewalt soll verringert, drohende Gewalt verhindert werden. Gewalt wird nach Galtung hierbei verstanden als Erfahrung der Nichtbeachtung von Grundbedürfnissen.

Mit der Prämisse, primär danach zu fragen, wo Menschen in einem Konflikt Gewalt erfahren, wird automatisch die Opferperspektive viel zentraler als dies bei nicht-friedenslogischem Handeln der Fall ist. Viele politische Entscheidungen müssten anders getroffen und vor allem begründet werden, wäre die Opferper­spektive ausschlaggebend für die Fokussierung auf einen Konflikt.

Eines der einleuchtendsten Beispiele für die Nichtbeachtung dieses Prinzips ist das der Rüstungsexporte. Die Entscheidung, ob Menschen Opfer werden durch den in Kauf genommenen Einsatz deutscher Waffen, wird aufgrund der folgenden, offiziell geltenden Prüfkriterien getroffen: Achtung von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht, keine Nutzung des Rüstungsgutes zur Verschärfung von Spannungen oder zu sonstigen friedensstörenden Handlungen. Angewandt werden diese Kriterien nur auf Nicht-NATO-Importstaaten, also z.B. nicht auf die Türkei. Und trotz dieser Kriterien werden Waffen an die
Vereinigten Arabischen Emirate und an Ägypten (beide beteiligt am Krieg im Jemen) geliefert.

2. Konfliktanalyse unter Einbeziehung eigener Verantwortung

Konfliktbearbeitung kann nur gelingen, wenn eine tiefreichende Konfliktanalyse die Komplexität des Konfliktes erfasst. Hierzu gehört ein so genanntes Akteursmapping über die Beteiligten, die Art ihrer Beteiligung und ihrer Beziehungen, ebenso wie Klarheit über Konfliktursachen, mit dem Konflikt verbundene Interessen etc. Die Analyseinstrumente stehen schon seit Jahrzehnten zur Verfügung, auch das Datenmaterial könnte aufgrund vielfältiger Informationsquellen in der transparent gewordenen, global vernetzten Welt zusammengeführt werden. Säulendenken in Form von ministeriellen Abgrenzungen,
die Nichtberücksichtigung zivilgesellschaftlicher Warnungen, Handlungsbereitschaft erst in eskalierten Situationen und die daraus resultierende Kurzfristigkeit des Handelns oder gar das Bestreben, mithilfe eines entsprechenden Handlungsinstrumentariums Macht zu demonstrieren, verhindern eine frühzeitige und umfassende Konfliktanalyse.

Ein weiterer Anspruch bleibt oft unerfüllt: Soll die Analyse zu wirksamen Handeln führen, dann ist ein besonderes Augenmerk darauf zu richten, wo man selbst Anteile an dem Konflikt hat. Die Veränderung eigenen Handelns ist allemal einfacher als auf das Handeln Dritter Einfluss zu nehmen. Dies betrifft in einer Vielzahl von Fällen vor allem mittelbare Wirkungsketten, die es nachzuzeichnen gilt.

Viele Beispiele hierfür finden sich in der Verschlechterung der existenziellen Lebensbedingungen als Konfliktursache. Aktuell wird dies in Bezug auf die ökologisch verursachten Konflikte thematisiert, die ihren Ausgangspunkt in den von uns zu verantwortenden Klimaveränderungen hat. Es geht aber auch um das »Land Grabbing«, also die Aneignung von Land auf Kosten von Kleinbauern, um Nahrungsmittel für den Weltmarkt anzubauen, oder um unsere Nahrungsmittelexporte, die in den Importgebieten die heimische Landwirtschaft zerstören.

Andere Beispiele sind Folge der Finanzierung gewaltförmiger Konflikte. Sie reichen vom Handel mit »Blutdiamanten« über den Kauf wertvoller Kulturgüter aus den so genannten IS-Gebieten bis hin zum Erdölimport aus dem Mittleren Osten.

3. Deeskalation und Konflikt­bearbeitung unter Beachtung der Dialog- und Prozessverträglichkeit

Mit Blick auf die Opfer gewaltförmiger Konflikte ist die Deeskalation eines Konflikts zentral.

Das Handeln soll also darauf gerichtet sein, wie eine Situation entschärft werden kann. In zweierlei Hinsicht ist dies von Bedeutung: Einerseits wird die Gewaltanwendung verringert und damit werden Opfer geschützt; andererseits wird der Konflikt selbst, also in seiner Substanz, einer Bearbeitung zugeführt. Mit Deeskalation ist nicht gemeint, dass nach einer Gewaltminimierung die Bearbeitung des Konfliktes ad acta gelegt wird. Ausgehandelte Waffenruhen sind sehr fragil, Schutzzonen unter UN-Mandaten sind nur eine Notlösung.

Der Vielfältigkeit von Konfliktbearbeitungsformaten sind im Konzept der Friedenslogik keine Grenzen gesetzt. Voraussetzung ist allerdings, dass man sich vor dem Handeln nicht nur Klarheit über den Konflikt verschafft hat, sondern auch über die eigene realistische Zielsetzung, die damit verbunden ist.

Zwei friedenslogische Ansprüche an die Konfliktbearbeitung geben dieser zusätzliche Orientierung: Die Dialogverträglichkeit greift die Erkenntnis auf, dass Konflikte am Ende, jenseits einer Friedhofsruhe, nur in einem Dialog zwischen den beteiligten Akteuren geregelt werden können, also kooperativ. Werden Maßnahmen getroffen, die der Schaffung von Dialogmöglichkeiten entgegen stehen, etwa durch Vorbedingungen, die einer Seite unannehmbar erscheinen, oder durch Ignoranz gegenüber Konfliktakteuren und entsprechende Ausschlussverfahren, dann wird die Wahrscheinlichkeit einer guten,
nachhaltigen Lösung geringer. Ähnliches gilt für die Prozessverträglichkeit der getroffenen Entscheidungen: Sind Handlungen nicht eingebunden in einen Gesamtprozess, so wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht nachhaltig wirken, ins Leere laufen oder sogar kontraproduktiv sind, wesentlich erhöht.

Ein jüngstes Beispiel für die (späte) Einsicht in die Notwendigkeit einer kooperativen Problemlösung sind die nun begonnenen Dialoge der US-amerikanischen Regierung über die Zukunft Afghanistans unter Einschluss der Taliban. Ein anderes Beispiel ist der stetig gewaltförmige Konflikt zwischen Israel und Palästina, aus dem es kein Entrinnen gibt, wenn nicht beide Seiten in einen Dialog treten zur Aushandlung der verschiedenen berechtigten Interessen.

4. Werteorientierte Überprüfung und Unterordnung bzw. Modifikation eigener Interessen

Politisches Handeln in demokratisch organisierten Systemen muss begründet werden. Begründungen legitimieren nicht nur Handlungen, sondern sie können auch helfen, das Handeln entsprechend zu qualifizieren. Das vierte Prinzip der Friedenslogik nimmt eine Einordnung der im Raum stehenden Begründungen für »Interventionen« in Konflikten vor. Es betrifft sowohl die Grundsatzentscheidung, ob überhaupt interveniert wird, als auch die Einzelentscheidungen über Maßnahmen, also das Wie. Im Raum der Begründungszusammenhänge stehen die ethischen Werte, denen Handeln genügen muss, aber auch die
Interessen, die Akteure mit ihrem Handeln konkret verfolgen. Für Deutschland gilt, dass Handeln zweifach ethisch gebunden ist: zum einen durch das Grundgesetz Art. 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“) und Art. 2 („Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“), zum anderen durch die Unterzeichnung
der Charta der Vereinten Nationen, also das Völkerrecht. Im alltäglichen Handeln werden diese Werte nur allzu oft in den Hintergrund gerückt. In den Begründungen dominieren oft Interessen, die eher kurzfristig und eindimensional sind, oder es findet eine Gleichsetzung bzw. Gleichwertsetzung von ethischen Grundsätzen mit Interessen statt. So werden z.B. in den »Verteidigungspolitischen Leitlinien« der Bundesregierung die „Werte“ der deutschen (Sicherheits-) Politik und „unsere Interessen“ gleichermaßen und gleichrangig betont.

Um dieser Verwischung vorzubeugen und damit auch dem ersten friedenslogischen Prinzip gerecht zu werden, bedarf es einer ständigen werteorientierten Überprüfung des Handelns. Der mögliche Widerspruch zu vermeintlichen Interessen kann nur aufgelöst werden, indem eigene Interessen hintangestellt, modifiziert oder korrigiert bzw. Handlungsoptionen gefunden werden, die sowohl den Werten entsprechen als auch die unterschiedlichen Interessen berücksichtigen. Einfach ist dies nicht!

Ein Beispiel: In der Diskussion um die Notwendigkeit von Rüstungsindus­trie ist ein häufig vorgebrachtes Argument das des Erhalts von Arbeitsplätzen. Dem Wert, Gewalt durch Rüstungsproduktionsabbau vorzubeugen, steht das Interesse, Arbeitsplätze zu erhalten, entgegen. Dieser Widerspruch kann durch Rüstungskonversion aufgelöst werden. Ein anderes Beispiel, bei dem es ganz klar um die Unterordnung von Interessen gehen muss, ist die Flüchtlingsrettung, sei es direkt aus dem Mittelmeer, sei es aus den humanitär katastrophalen Bedingungen auf den griechischen Inseln und in anderen
Flüchtlingslagern.

5. Offene Reflexion des bisherigen Vorgehens und Möglichkeit zur Korrektur

Fehleinschätzungen beim Handeln in Konflikten liegen fast in der Natur der Sache, insbesondere wenn es um Handeln in anderen kulturellen Zusammenhängen, um eine Gemengelage von beteiligten Akteuren, um historisch gewachsene Konflikte, um politische Machtinteressen versus gesellschaftliche Entwicklung geht. Oftmals werden nicht-intendierte Wirkungen nach anfänglichen Erfolgen erst mittelfristig, d.h. mit Verzögerung, sichtbar. Um nicht in diese Falle zu laufen, gilt es Vorkehrungen zu treffen. Hierzu gehört neben der oben schon angesprochenen genauen Klärung realistischer Ziele und einer
Fortschreibung der Konfliktanalyse eine ständige prozessbegleitende Überprüfung der Wirkungen. Evaluationsinstrumente müssen das Handeln begleiten; die Reflexion muss ergebnisoffen und durch unabhängige Kompetenzträger qualifiziert werden. Die Implementierung einer Fehlerkultur ist vonnöten. Darunter ist nicht die Ignoranz gegenüber Fehlern zu verstehen, sondern ein konstruktiver Umgang mit ihnen. Statt der Konzentration auf Fehlervermeidung, der Fehlervertuschung und der Tendenz zum Nichthandeln wird aus Fehlern produktiv gelernt und nach Alternativen gesucht.

An Wissen und auch an für die Anwendung dienlichen Instrumenten zur Planung, Beobachtung und Bewertung (Planning, Monitoring, Evaluation) mangelt es bei zivilgesellschaftlicher Friedensarbeit zumeist nicht. Hier ist es auch Usus, dass diese Instrumentarien fester Bestandteil von Ausbildungsprogrammen sind. In staatlichen und politischen Handlungsräumen werden diese Instrumentarien dagegen noch eher verhalten angewandt, zumindest jedoch die Ergebnisse einer offenen Diskussion vorenthalten.

Der Umgang mit den verschiedenen militärischen Interventionen der letzten Jahrzehnte ist ein Paradebeispiel hierfür. Der von vielen als gescheitert eingestufte Bundeswehreinsatz in Afghanistan führte zumindest zu einer parlamentarischen Beratung über die Notwendigkeit von Evaluationen. Entsprechende Gesetzentwürfe der Jahre 2016 und 2018 wurden jedoch u.a. mit dem Argument abgelehnt, durch Evaluationen würde das Regierungshandeln eingeschränkt.

Sicherheitslogik vs. Friedenslogik – eine Übersicht

Die Erfahrung, dass aktuelle friedenspolitische Debatten in den letzten 20 Jahren zunehmend durch sicherheitspolitische Strategien und Konzepte dominiert oder verdrängt wurden, legt es nahe, auch die immanenten Unterschiede zwischen Sicherheitslogik und Friedenslogik deutlich zu machen. Unter Mitwirkung von Sabine Jaberg und in Ergänzung zu ihren bisherigen Arbeiten wurde eine tabellarische Übersicht entwickelt (siehe Tab. 1). Sie orientiert sich an Leitfragen, die im Rahmen der konzeptionellen Entwicklung einer Konfliktbearbeitung zu beantworten sind. Um Missverständnissen vorzubeugen:
Auch hier geht es um theoretisch hergeleitete Prinzipien und Prämissen, nicht um eine 1:1-Abbildung von Realitäten, die immer komplexer als beschrieben und von Grautönen geprägt sind.

Fragestellung und Sicherheitslogische Antwort Friedenslogische Antwort
Handlungsfokussierung
Was wird als Problem wahrgenommen? Bedrohung, Gefahr, Unsicherheit Gewalt, die stattfindet oder bevorsteht
Handlungen orientieren sich an Gefahrenabwehr und Verteidigung Gewaltprävention und Gewaltminimierung zum Schutz von Betroffenen
Wodurch ist das Problem entstanden? Durch andere/von außen kommend als Folge komplexer Konflikte
Handlungen zielen auf Schuldzuschreibung, Wahrung eigener Interessen Konfliktanalyse und Konflikttransformation – eigene Konfliktanteile einbeziehend
Wie wird das Problem bearbeitet? mit Selbstschutz (Abschreckung, Drohung, Einsatz von Gewaltmitteln) durch kooperative Konfliktbearbeitung
Handlungsansätze sind Abschottung, Ausbau des Sicherheitsapparats, Drohungen bis hin zum Einsatz von Gewaltmitteln Deeskalation, Schutzmaßnahmen für Opfer, gewaltlose Konfliktbearbeitung – dialogverträglich und prozessorientiert
Wodurch wird eigenes Handeln gerechtfertigt? mit dem Vorrang eigener Interessen mit der Universalität von Menschen- und Völkerrecht
Rechtfertigung führt zu Relativierung, Unterordnung und Anpassung von Normen an eigene Interessen werteorientierter Hinterfragung eigener Interessen und ihrer Modifikation im Sinne globaler Normen
Wie wird auf Scheitern und Misserfolg reagiert? mit Selbstbestätigung, ohne Selbstkritik mit offener, kritischer Reflexion
Handlungsfolge ist Verschärfung der bisher eingesetzten Mittel oder Rückzug in die Passivität Einräumung von Problemen bzw. Fehlern und Suche nach gewaltfreien Alternativen

Tab. 1: Quelle: Flyer »Friedenslogik weiterdenken« der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung, 2. Aufl., 2019.

Die offenen Enden des roten Fadens Friedenslogik

Sicherlich liegen dem Leser/der Leserin schon viele Fragen auf der Zunge, die auf die konkrete Umsetzung der theoretischen Prämissen des Konzepts abzielen. Ohne diesen ausweichen zu wollen, sei zunächst betont, dass es sich bei dem Konzept oder besser Konstrukt nicht um einen Instrumentenkasten handelt, den man einfach so auspacken und ohne weiteres Nachdenken nutzen kann. Theorie kann vor allem helfen, Wirklichkeit zu reflektieren und zu erklären, im Falle der Friedenslogik aber auch, Handlungsorientierung zu geben.

In der Arbeit an und mit der Friedenslogik wurde die Theorie auf verschiedene Felder der Friedens- und Konfliktarbeit angewandt. Dabei wurden weiter zu durchdenkende Fragekomplexe sichtbar:

  • Gewalteinsatz zur Verhinderung von Gewalt ist seit jeher ein hoch problematisches Thema. Allein der Hinweis auf die dringende Notwendigkeit von Gewaltprävention oder der Verweis auf den Erfolg gewaltfreier Gegenwehr reichen als Antwort der Friedenslogik m.E. nicht aus. Normen, wie das Völkerrecht, haben Gewalt nicht grundsätzlich geächtet, jedoch die Legitimität eng begrenzt. Zusätzlich zu dieser »Eindämmung« kommt friedenslogisch betrachtet die Notwendigkeit hinzu, dass ein Gewalteinsatz die Gewaltspirale nicht weiter in Schwung bringen darf. Auch oder gerade beim Einsatz von Gewalt
    müssen die Opfer weiter im eigenen Handlungsfokus bleiben, Wege zur gewaltfreien Konfliktbearbeitung dürfen nicht versperrt werden. Ob dies realistisch betrachtet möglich ist, ist vorläufig eine offene Frage.
  • Sicherheit ist – begrenzt – ein legitimes Bedürfnis oder Anliegen. Sie zu gewährleisten gilt als ureigenste Aufgabe des Staates. Wenn Sicherheitspolitik aber der oben kurz skizzierten Eigenlogik unterliegt, wie kann diese durchbrochen werden? Lässt sich eine Systematik entwickeln, die das sicherheitspolitische Instrumentarium kompatibel mit friedenslogischen Prinzipien macht? Konzepte der »Gemeinsamen Sicherheit« sind hierzu ein Stichwort.
  • Zwischen Friedens- und Entwicklungsarbeit wird seit den Anfängen der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland ein Zusammenhang gesehen, insbesondere auch bezüglich der Prävention von Gewalt. Dieser Nexus ist noch weitgehend undefiniert. Neuere Forschungsergebnisse verweisen darauf, dass Inklusion ein zentrales gemeinsames Element ist. Auch ist zu beobachten, dass Friedens- und Entwicklungsförderung nicht linear zueinander erfolgen. Langfristig angelegte Transformationsprozesse könnten ein Schlüssel sein, verlangen aber ihrerseits ein komplexes, kaum handhabbares
    Setting.2
  • In der Menschenrechtsarbeit spielt die Frage des Schuldeingeständnisses und der Wiedergutmachung eine große Rolle. In der Praxis der Konfliktbearbeitung wird dies manchmal eher als hinderlich gesehen, um sich offen und unbelastet der »Zukunft« zuzuwenden. Vergangenheitsbewältigung erscheint deshalb nachrangig bei der Bewältigung aktueller Probleme. Konfliktanalyse, werteorientierte Bearbeitung und kritische Reflexion könnten die Kompatibilität herstellen.
  • Die Dialoggestaltung zwischen Konfliktbeteiligten ist in der Praxis eine Herausforderung. Täter- und Opfer-Zuschreibungen spielen eine Rolle, Machtsysteme eine noch größere, ebenso die Frage, durch wen und wie eine Moderation erfolgen kann, wie Verbindlichkeit hergestellt wird etc.

Aus Forschung und Praxis der Mediation gibt es hierzu wichtige Beiträge, die diese Problematiken aufgreifen. Sie sind jedoch noch zu wenig implementiert.3

  • Der Anspruch der Deeskalation widerspricht dem Verständnis, dass eine Konfliktverschärfung notwendig sei, um »an den Verhandlungstisch zu zwingen«. Erst durch die Eskalation würde eine öffentliche Sichtbarmachung erfolgen, wäre die Überführung in eine Konfliktbearbeitung möglich. Es stellt sich dann die Frage, auf wessen Kosten die Eskalation geht und ob dieses legitim ist und gewaltmindernd wirkt. Ist z.B. die Verweigerung von Medikamentenlieferungen friedensfördernd, um durch die damit erhoffte Destabilisierung Verhandlungsbereitschaft herzustellen? Hier bedarf es zumindest auch einer
    Plausibilitätsprüfung des Verhaltens.
  • Der ethische Maßstab »Menschenrechte« löst noch nicht das Problem, dass es im konkreten Fall Unvereinbarkeiten zwischen verschiedenen ethisch begründeten Werten geben kann. M.E. gibt es eine schwierige, aber doch zu rechtfertigende Priorisierung der Werte mit der Vorrangigkeit des Rechts auf Leben und der Unversehrtheit der Person. Vielleicht bleibt in bestimmten Situationen nur die Priorisierung humanitärer Handlungsoptionen anstatt direkt die Konfliktbearbeitung anzustreben.
  • Wie kann die Theorie der Friedenslogik wirkmächtiger werden? Im Rahmen des Projekts »Friedenslogik weiterdenken« der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (2016-2017) und seitdem weit darüber hinaus wurden Workshops veranstaltet, fanden Vorträge in unterschiedlichen Organisationszusammenhängen statt. Die friedenslogischen Prinzipien wurden in Arbeitskonzepte integriert, wurden explizit zum Bestandteil von Fortbildungen, waren Bezugspunkt für Kritik an der herrschenden Politik. Ebenso wie für den Friedensbegriff ist es auch für die Friedenslogik vordringlich, sie nicht als
    zeitgeschichtlich gebundenes Konstrukt ad acta zu legen, sondern mutig daran und damit zu arbeiten.

Anmerkungen

1) Die erste umfangreichere Publikation zur Friedenslogik war das W&F-Dossier 75, »Friedenslogik statt Sicherheitslogik«, Beilage zu W&F 2-2014. Weiterführende Literatur- und Veranstaltungsberichte sind der Webseite der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung zu finden: konfliktbearbeitung.net/friedenslogik.

2) Siehe dazu Wolff, J. et al: Frieden und Entwicklung 2020 – Eine Analyse aktueller Erfahrungen und Entwicklungen. Frankfurt a.M.: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.

3) Siehe dazu beispielsweise die Ausführungen zu einem Projekt des Berghof-Forschungszentrums: Göldner-Ebenthal, K. (2019): Verhandeln mit Jihadisten – Worauf kommt es an? Debattenbeitrag in peacelab.blog, 11.12.2019.

Christiane Lammers ist Redaktions- und Vorstandsmitglied von W&F, Mitglied der Arbeitsgruppe »Friedenslogik« der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und wiss. Mitarbeiterin der FernUniversität in Hagen.

Die Bedeutung von Frieden

Die Bedeutung von Frieden

von Paul Schäfer

UN-Generalsekretär António Guterres erklärte Mitte März angesichts der Corona-Pandemie: „Die Wut des Virus zeigt die Torheit des Krieges. Deshalb fordere ich heute einen sofortigen Waffenstillstand in allen Teilen der Welt.“ Ja, er hat tatsächlich von der Torheit des Krieges gesprochen und gedanklich Krieg mit dem quasi blindwütigen Voranschreiten eines todbringenden, »bewusstlosen« Kleinstlebewesens verbunden. Kann man Krieg noch schärfer anprangern? Das einzige Problem dabei: Kriege
werden nach wie vor von Menschen gemacht, die bestimmte Macht- und Besitzinteressen verfolgen, Geltungsbedürfnisse ausleben und jeweiligen Rachegelüsten nachgehen. Und da gilt: Die Herren der Kriege hören nicht auf den UN-Generalsekretär; die Charta der Vereinten Nationen ist für sie nicht der kategorische Imperativ ihres politischen Handelns. Ob der nach dem Aufruf verkündete befristete Waffenstillstand für den Jemen – ein besonders sinnfreier, massenmörderischer Krieg im Übrigen – hält, ist überaus fraglich. Die Erfahrungen mit vorangegangenen Epidemien in Afrika haben gezeigt,
dass der Einbruch eines solchen »Naturereignisses« lediglich ein zeitweises Abflauen der innerstaatlichen Kämpfe bewirkte.

Dass der flammende Appell des UN-Generalsekretärs konsequent aufgegriffen wird, ist eher unwahrscheinlich. Guterres hätte eigentlich noch ein paar Schritte weiter gehen müssen: Die Weltmilitärausgaben erreichten 2019 fast zwei Billionen Dollar. Es wäre auch gut gewesen, Ross und Reiter zu benennen: Über die Hälfte dieser Ausgaben gehen auf das Konto der NATO-Mitgliedsstaaten. Zählt man die Etats der fünf UN-Sicherheitsratsmitglieder zusammen, ergibt sich eine noch höhere Zahl. Und vergessen wir nicht die größten Waffenimporteure weltweit, Saudi-Arabien und Indien. Das sind die
Verantwortlichen für diese gigantische Verschwendung von Vermögen und Ressourcen. Der Generalsekretär der NATO verkündete in diesen Tagen stolz, die Militärallianz sei trotz Corona »abwehrbereit«. Andere Sorgen hat der Mann offensichtlich nicht.

Noch sind angesichts der exorbitanten Summen, die derzeit von der Staatenwelt zur Abwehr des Virus und zur Rettung der Wirtschaft aufgebracht werden, die Rüstungslasten kein relevantes öffentliches Thema. Es wäre aber gut, ein paar Gedanken darauf zu verwenden, was das krasse Missverhältnis zwischen den globalen Militärausgaben und den immer noch bescheidenen Mitteln für die globale Entwicklungszusammenarbeit (knapp 150 Mrd. Dollar in 2019) zur Ausbreitung von Elend, Not, Gewalt und Krieg beiträgt. Und schon bald wird sich die Frage zugespitzt stellen, wie der »Wiederaufbau« und die
notwendigen Schritte zur Abwendung der Klimakatastrophe mittel- bis längerfristig geschultert werden sollen. Kann es sich die Welt leisten, jährlich fast zwei Billionen für Waffen und Soldaten zu verschwenden? Dann wird es auch darum gehen, ob der jetzige, auf Kapitalwachstum fixierte Entwicklungspfad fortgesetzt wird oder ob der Einstieg in einen »Green New Deal« gelingt. Das wiederum hieße, gezielt Ressourcen in eine nachhaltige und sozial gerechte Entwicklung zu lenken, damit die »Sustainable Development Goals« der UN bis 2030 überhaupt in Reichweite bleiben. Rüstungswahn und törichte
Kriege müssen wir hinter uns lassen.

Diese Ausgabe von W&F beschäftigt sich damit, wie Frieden zu verstehen, zu begreifen ist und welche Ansätze es gibt, ihn zu erreichen. Angesichts des gegenwärtig alles dominierenden Themas Covid-19 erscheinen solche Betrachtungen und Reflexionen als akademische Fingerübung. Man hat sich schon fast daran gewöhnt, dass im öffentlichen Diskurs das Wort »Frieden« kaum auftaucht, »Sicherheit« dagegen in der internationalen Politik das Codewort ist, wenn über aktuelle Krisen und Konflikte gesprochen und verhandelt wird. Daher halten wir eine Verständigung darüber für hilfreich, was Frieden
eigentlich bedeutet, wie sich »Frieden«, der über die unmittelbare Vermeidung von Gewalt hinausgehen müsste, von »Sicherheit« unterscheidet und welche Orientierungspunkte ein solch umfassenderes Konzept für praktisch-politisches Handeln bieten könnte. Damit soll auch der Weg geöffnet werden, um über alternative Lösungsansätze in Gewaltkonflikten nachzudenken. Dazu gehört auch, vorhandene Friedens»praktiken« zu reflektieren. Aufgenommen habe wir in das Heft exemplarisch u.a. folgende Gesichtspunkte: die Historie der Friedensnarrative in der Bundesrepublik, Beispiele interreligiöser
Friedensdialoge, einen Einblick in das indigene Friedensverständnis der L/Dakota, die Reflexion zu den Auswirkungen des so genannten Liberalen Friedens in Lateinamerika sowie eine kritische Bilanz des Friedensvertrags in Kolumbien.

Die Corona-Krise beinhaltet die Gefahr, dass sie und ihre brachialen Folgen für das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben genutzt werden, um autoritäre Politikformen, nationalistische Separierung und Einschränkungen sozialer Rechte zu etablieren bzw. zu verstärken. Die Folge wäre unvermeidlich mehr Gewalt! Andererseits haben sich auch neue Räume geöffnet, in denen über die Notwendigkeit und Möglichkeit (!) einer anderen, nachhaltigeren, solidarischeren Produktions- und Lebensweise nachgedacht wird. Klima- und Umweltschutz, gerechte Weltwirtschaft und radikale Abrüstung gehören in diesen
Zusammenhang.

Ihr Paul Schäfer

Das Ende der »Frist«


Das Ende der »Frist«

Die atomare Abschreckung im Licht der römisch-katholischen Soziallehre

von Heinz-Günther Stobbe

Kaum präsent ist die Ablehnung der Atombewaffnung durch die römisch-katholische Kirche schon seit Ende der 1940er Jahre. Überlagert wurde sie durch die Missinterpretation der so genannten Fristsetzung, also der Zeit, die gegeben wurde, um Atomwaffen vollständig abzurüsten. Diese Zeit ist nun abgelaufen.

Am 10./11. November 2017 organisierte die von Papst Franziskus neu geschaffene Zentralbehörde, das »Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen«, in Rom ein Expertensymposium über »Perspektiven für eine atomwaffenfreie Welt und für eine umfassende Abrüstung«. Während der Konferenz lud der Papst die Teilnehmer*innen zu einer Audienz ein. In seiner dort verlesenen Botschaft begrüßte er, dass „kürzlich der größte Teil der Mitglieder der Internationalen Gemeinschaft durch eine historische Abstimmung am Sitz der UNO festgelegt“ habe, „Atomwaffen nicht nur als unmoralisch, sondern auch als illegitimes Mittel der Kriegsführung zu betrachten“. Dadurch werde „eine wichtige juristische Lücke geschlossen“, noch wichtiger sei aber, so der Papst weiter, „die Tatsache, dass diese Resultate in erster Linie einer »humanitären Initiative« zu verdanken sind, gefördert von einer wertvollen Allianz zwischen Zivilgesellschaft, Staat, internationalen Organisationen, Kirchen, Akademien und Expertengruppen“.

Diese Haltung bekräftigte Franziskus, wie allgemein erwartet, im Zusammenhang mit seinem Japan-Besuch Ende November 2019. Beim Rückflug erklärte er in einer Pressekonferenz: „Hiroshima war ein echter Ethik-Unterricht über die Grausamkeit. Er fügte hinzu, die moralische Verurteilung von Anwendung und Besitz von Atomwaffen muss in den Katechismus der Katholischen Kirche kommen“. Im Ton immer drängender, in der Sache aber ohne weitere Zuspitzung gab der Papst damit zu erkennen, dass er eine stärkere Verbindlichkeit in der ablehnenden Haltung der römisch-katholischen Kirche anstrebt, vergleichbar der Entwicklung in Bezug auf die Todesstrafe. Das hat, wie er in seiner Botschaft vom Friedenspark in Nagasaki ausführte, seinen entscheidenden Grund in der kirchlichen Tradition: „Die katholische Kirche ist unwiderruflich engagiert im Entschluss, den Frieden zwischen den Völkern und Nationen zu fördern; es ist eine Aufgabe, zu der sie sich vor Gott und vor allen Männern und Frauen dieser Erde verpflichtet fühlt. Wir dürfen nie müde werden, unverzüglich dafür zu arbeiten und darauf Nachdruck zu legen, die wichtigsten internationalen Rechtsmittel für die Abrüstung und Nichtverbreitung von Kernwaffen, einschließlich des Atomwaffenverbotsvertrags, zu unterstützen.

Zur Vorgeschichte

Für manche*n mag das starke Engagement des Papstes und des Heiligen Stuhls für die Ächtung der Atomwaffen und für Abrüstung überraschend sein. Doch bereits in der ersten päpstlichen Friedensnote des 20. Jahrhunderts vom August 1917, »Dès les débuts«, gerichtet „an die Staatsführungen der kriegführenden Länder“, legte Papst Benedikt XV. eine Reihe von Punkten als „Grundlagen für einen gerechten und dauerhaften Frieden“ vor. Dort heißt es: „Vor allem muss der erste und zentrale Punkt sein, dass an die Stelle der physischen Gewalt die moralische Macht des Rechtes tritt. Es braucht daher eine allgemein akzeptierte Übereinkunft über die gleichzeitige und allseitige Abrüstung, deren Regeln und Garantien festzusetzen sind, unbeschadet der für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in den einzelnen Staaten notwendigen und ausreichenden Verbände. Dieses Anliegen bildet fortan ein beständiges Leitmotiv der römisch-katholischen Friedenslehre.

Das kirchliche Lehramt begegnet den Rüstungsbemühungen der Staaten durchweg mit unüberhörbarer Skepsis, auch wenn kein allgemein-pazifistischer Anspruch gegenüber den Staaten erhoben wird. Diese Grundhaltung verschärft sich deutlich im Fall der Atomwaffen. Bereits in der wohl ersten Stellungnahme zu dieser neuen Waffengattung betont Papst Pius XII. in dem Lehrschreiben »Fulgens radiatur« vom März 1947 die direkte Verknüpfung zwischen der Existenz von Atomwaffen und der moralischen Verwerflichkeit einer bestimmten Form der Kriegsführung einerseits und dem daraus resultierenden zwingenden Erfordernis, die entstandene Situation durch vertragliche Vereinbarungen zu entschärfen: „Die Atomwaffenfrage stellt noch einen Bestandteil eines viel allgemeineren Problems dar. Die Entwicklung der modernen Angriffsmittel ist ihrerseits durch die Technik bedingt und diese selbst ist wieder vollständig in den Dienst des totalen Krieges gestellt worden. Die dabei maßgebliche verhängnisvolle Auffassung macht keinen Unterschied zwischen Kämpfern und Nichtkämpfern und daraus sind die so schmerzlichen Wirkungen des letzten Weltkrieges erwachsen. Ein Ausweg aus der dadurch entstandenen furchtbaren Lage wird nur möglich, wenn die Lenker der Nationen ihre Pflicht erkennen, solche Verträge zustande zu bringen, die der Welt wirklich den Frieden sichern. Es ist, wie der Papst bereits in seiner Weihnachtsansprache ausführt, die Entwicklung der Waffentechnik, die nach einer neuen internationalen Ordnung ruft, in der „kein Platz [ist] für einen totalen Krieg und für eine hemmungslose Aufrüstung. Man darf nicht zulassen, daß das Grauen eines Weltkrieges mit seiner wirtschaftlichen Not, seinem sozialen Elend und seinen sittlichen Verirrungen zum dritten Mal über die Menschheit komme.

Wichtig ist sich zu vergegenwärtigen, dass sich bis heute die ethische Diskussion über Sicherheits- und Rüstungspolitik sowohl auf Ebene des päpstlichen Lehramts als auch in weiten Teilen der katholischen Moraltheologie im Rahmen der überkommenen Lehre vom Gerechten Krieg bewegt. Dementsprechend wird auch die Problematik der nuklearen Abschreckung im Licht der dort entwickelten Kriterien erörtert.

Das Motiv der »Frist«

Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) erneuerte das Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche und viele ihrer Lehren grundlegend. Doch keine der Neuerungen fiel gleichsam vom Himmel, sie hatten sich in Kirche und Theologie bereits angebahnt. Auch mit Blick auf die Friedenslehre nahm das Konzil die Kernelemente der mit den Weltkriegen verbundenen Einsichten auf, besonders indem es seine Aufmerksamkeit auf die nunmehr verfügbaren Massenvernichtungswaffen richtete: „Die Anwendung solcher Waffen im Krieg vermag ungeheure und unkontrollierbare Zerstörungen auszulösen, die die Grenzen einer gerechten Verteidigung weit überschreiten. Dem Konzil zufolge wohnt den Massenvernichtungswaffen eine Tendenz zum totalen Krieg inne, den es wegen seiner verbrecherischen Qualität entschieden als „ein Verbrechen gegen Gott und gegen den Menschen“ verurteilt (Gaudium et spes Nr. 80). Um dieser Gefahr zu begegnen, sah das Konzil nur einen Weg: „Gewarnt vor Katstrophen, die das Menschengeschlecht heute möglich macht, wollen wir die Frist, die uns noch von oben gewährt wurde, nützen, um mit geschärftem Verantwortungsbewußtsein Methoden zu finden, unsere Meinungsverschiedenheiten auf eine Art und Weise zu lösen, die des Menschen würdig ist. Die göttliche Vorsehung fordert dringend von uns, daß wir uns von der alten Knechtschaft des Krieges befreien. (Gaudium et spes Nr. 81)

Das Motiv der »Frist«, die es zu nutzen gilt, um politische Alternativen zum Krieg zu schaffen, wird von da an die lehramtliche Beurteilung der nuklearen Abschreckung prägen. So erörterte die Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten in ihrem Hirtenbrief »Die Herausforderung des Friedens – Gottes Verheißung und unsere Antwort« von 1983 ihre Problematik so sorgfältig wie keine andere lehramtliche Instanz vorher und nachher. Die Bischöfe gestanden zu, sie diene dazu, einen „gewissen Frieden“ zu gewährleisten, und vermieden deshalb eine grundsätzliche Ablehnung. Ihre klare Absicht aber war, durch moralische Verbote und Vorschriften „die weit verbreitete politische Barriere gegenüber einem Griff zur Atomwaffe zu verstärken“. Und sie drängten „auf Verhandlungen, um die Erprobung, Produktion und Stationierung neuer nuklearer Waffensysteme anzuhalten. Es sollten nicht nur Schritte unternommen werden, um die Entwicklung und Stationierung von Waffen zu beenden, auch die Zahl der vorhandenen Waffen muß auf eine Weise verringert werden, die die Kriegsgefahr vermindert. Gleichfalls im Jahr 1983 zitierte die Deutsche Bischofskonferenz in ihrem Hirtenwort »Gerechtigkeit schafft Frieden« das Konzilswort von der »Frist«, die genutzt werden müsse, um eine nukleare Bewaffnung im Sinne einer „Notstandsethik“ „vorübergehend“ tolerieren zu können.

Die Rede von der Frist sollte offenkundig die Dringlichkeit der politischen Aufgabe unterstreichen. Sie förderte allerdings ein Missverständnis: Die Fristsetzung wurde nicht als eine zeitliche Dimension verstanden, sondern als ethische Zustimmung oder Duldung der nuklearen Abschreckung unter bestimmten Bedingungen. Die Stellungnahmen von Papst Franziskus beruhen nun offenkundig auf seiner Überzeugung, diese Bedingungen seien nicht mehr gegeben und deshalb müsse ihre ethische Akzeptanz aufgekündigt werden.

Das Ende der »Frist«

Die Absage in Bezug auf die ethische Duldung der nuklearen Abschreckung ist als Gedanke schon seit Langem in der päpstlichen Verkündigung präsent und von Anfang an dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt zugeordnet. Bereits 1965 hatte Paul VI. in seiner Botschaft zum 20. Jahrestag des Abwurfs der Hiroshima-Bombe dazu aufgerufen, für die Ächtung der Atomwaffen zu beten. 1978 bekräftigte er in seiner Botschaft an die Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen das Ziel, „ das Arsenal der Atomwaffen völlig zu beseitigen“. Der jetzige Papst setzt diese Linie konsequent fort und konkretisiert sie, indem er die Atomwaffen grundsätzlich verurteilt.

Die Deutsche Kommission Justitia et Pax als Organ der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken sah sich durch ihn veranlasst, mit Blick auf die gegenwärtige Lage der internationalen Politik die Frage zu prüfen, ob sie die Position des Papstes teilen kann. Die Kommission hatte sich schon ein Jahrzehnt zuvor ausführlich mit der Problematik beschäftigt und 2008 in der Studie »Die wachsende Bedeutung nuklearer Rüstung – Herausforderung für Friedensethik und Politik« grundsätzlich festgestellt: „Vor dem Hintergrund, dass das tolerierende »Noch« der 1980er Jahre, das stets mit Abrüstungsappellen an alle Seiten verbunden war, seitens der Politik zu oft entweder überhört oder als friedensethisch gerechtfertigte Akzeptanz umgedeutet und die kirchliche Position dadurch instrumentalisiert wurde, kommt dabei einer Klarstellung der friedensethischen Position der Kirche eine große Bedeutung zu. Die Rede vom »Noch« war und ist nicht als Legitimation zur einfachen Fortschreibung der Abschreckung zu verstehen. Sie soll lediglich den notwendigen politischen Spielraum zur deutlichen Verringerung der Abhängigkeit der Kriegsverhütung von Mitteln nuklearer Abschreckung, zur angestrebten vollständigen Überwindung atomarer Rüstungen und damit auch der mit ihnen verbundenen Einsatzszenarien erhalten. An der konkreten Nutzung dieses Spielraums ist die Politik zu messen. (Nr. 3.1) Schon 2008 wurde der Trend zur Unterhöhlung der Rüstungskontrollverträge gesehen, und die Kommission erklärte: „Blickt man auf die tatsächlich beobachtbaren Trends im Bereich der Nuklearrüstung, so gewinnen die Argumente dafür, dass dieses »Noch« seine Geltung zunehmend einbüßt, immer mehr an Gewicht. (Nr. 3.1)

In ihrer aktuellen Stellungnahme »Die Ächtung der Atomwaffen als Beginn nuklearer Abrüstung« von 2019 analysierte die Kommission ein weiteres Mal, ob die Strategie der nuklearen Abschreckung den ethischen und völkerrechtlichen Kriterien genügen kann, die für eine Fortschreibung der »Frist« maßgeblich sind. Ihr Urteil fällt eindeutig aus: Es überwiegen mittlerweile die Gründe dafür, dem »Noch« jede weitere Geltung abzusprechen. Nicht nur erodieren die vertraglichen Pfeiler der Rüstungs- und Kontrollpolitik, auch die Abrüstungserfolge hatten erkennbar ihre Grenze in dem Willen der Nuklearmächte, die Strategie der nuklearen Abschreckung aufrecht zu erhalten. Die mehrfach wiederholte Versicherung der NATO, nukleare Abschreckung bleibe der Grundsatz ihrer Politik, solange es Atomwaffen gebe, bringt deren innere Widersprüchlichkeit auf den Punkt. Eine atomwaffenfreie Welt zu wollen, zugleich aber die Abwesenheit von Atomwaffen zur entscheidenden Bedingung für das Ende der nuklearen Abschreckung zu erklären, ist glaubwürdig nur dann, wenn die Überwindung der Strategie der nuklearen Abschreckung mit der Ächtung der Atomwaffen beginnt. Hatte Justitia et Pax 2008 noch vergleichsweise unbestimmt festgehalten, „Ein unverzichtbarer Schritt auf dem Weg zur Abschaffung von Nuklearwaffen ist ihre internationale Ächtung“ (Nr. 3.2), so legt die Kommission sich jetzt in der Reihenfolge der notwendigen Schritte fest: Die internationale Ächtung der Nuklearwaffen kann nicht am Ende eines Prozesses stehen, der in ihrer faktischen Beseitigung mündet, sondern muss dessen Anfang markieren (vgl. Nr. 6).

Von der Ächtung zur Abschaffung der Atomwaffen

Die Soziallehre der römisch-katholischen Kirche richtet sich keineswegs nur an ihre Mitglieder, sondern – gemäß einer häufig benutzten Formel – „an alle Menschen guten Willens“. Anders ausgedrückt: Ihre Argumente sollen auch für Menschen einsichtig sein, die zwar nicht den Glauben der Kirche teilen, sich aber dem Anspruch der sittlichen Vernunft unterstellen, mit dem sie auf Grund ihres Menschseins konfrontiert sind. Dementsprechend wenden sich die Päpste immer wieder an Politik und Öffentlichkeit, mahnend an die gemeinsame menschliche Verantwortung. Die Tatsache, dass trotz aller Risiken der atomaren Abschreckung kein Atomkrieg stattgefunden hat, mag – wie die Abschreckungsbefürworter geltend machen – ein Stück weit ihrer Abschreckungswirkung zuzuschreiben sein. Aber sie unterschätzen, dass die Menschheit mit den Atomwaffen erstmals die Möglichkeit ihrer Selbstauslöschung geschaffen hat.

Papst Franziskus baut auf das vorbildhafte Engagement all der Menschen, die für die Abschaffung der Atomwaffen eintreten: „Eine Welt in Frieden und frei von Atomwaffen ist das Bestreben von Millionen von Männern und Frauen überall auf der Erde. Dieses Ideal Wirklichkeit werden zu lassen erfordert die Beteiligung aller: Einzelne, Religionsgemeinschaften, die Zivilgesellschaft, die Staaten im Besitz von Atomwaffen und atomwaffenfreie Staaten, private und militärische Bereiche sowie die internationalen Organisationen. Unsere Antwort auf die Bedrohung durch Nuklearwaffen muss gemeinsam und konzentriert sein und auf dem mühsamen, aber beständigen Aufbau gegenseitigen Vertrauens beruhen, das die Dynamik des gegenwärtig vorherrschenden Misstrauens durchbricht. (Botschaft über die Atomwaffen, Nagasaki, 24.11.2019)

In der römisch-katholischen Kirche hat ein neues Nachdenken über die Strategie der atomaren Abschreckung eingesetzt, und einige Bischofskonferenzen schlossen sich bereits der Position des Papstes an. Als Weltkirche, die alle nationalen Kontexte umfasst und übergreift, könnte sie ein Laboratorium sein, in dem sich modellhaft die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung abspielt, ohne die ein wirkmächtiger weltweiter Konsens und damit ein Erfolg des Kampfes gegen die Atomwaffen nicht erreichbar sind.

Prof. i.R. Dr. Heinz-Günther Stobbe ist Moderator für den Sachbereich Frieden der Deutschen Kommission Justitia et Pax und Leiter der AG Gerechter Friede der Kommission. Er war an verschiedenen Universitäten, vor allem in Münster und Siegen, tätig.

Der Raum dazwischen


Der Raum dazwischen

Hybrider Krieg und die »revisionistische Theorie des gerechten Krieges«

von Bernhard Koch

Die Ethik hat – ähnlich wie die Alltagssprache – lange Zeit Krieg und Frieden wie kontradiktorische Gegenteile behandelt: Entweder ist Krieg, oder es ist Frieden. Beides hat seine eigenen Regeln. Nun stellen wir aber gerade durch die »hybride« Kriegsführung fest, dass sich bereits sozialwissenschaftlich keine richtige Grenze zwischen Krieg und Frieden mehr ausmachen lässt. Ein »Hybrider Krieg« ist (noch) kein »voll ausgeprägter« Krieg, aber eben auch kein Frieden. Er liegt dazwischen: Tertium datur, es gibt ein Drittes. Kann eine Ethik, die auf die Unterscheidbarkeit dieser beiden Zustände setzt, überhaupt noch anwendbar sein (vgl. Koch 2017)?

Nein, sagt die »revisionistische Theorie des gerechten Krieges«. Ihre Vertreter*innen wollen die These der normativen Trennung von Krieg und Frieden revidieren.1 Wenn wir über ethische Legitimation im Rahmen kriegerischer Gewalt sprechen, dann müssen wir dies – so ihre Annahme – auf einer Grundlage tun, wie sie auch für legitime Gewalt in einem friedlichen Umfeld gegeben ist. Eine Ethik von Kriegsführung kann auf keiner anderen normativen Quelle fußen als jede andere Ethik legitimer Gewaltanwendung. Diese Quelle findet die revisionistische Theorie in der Rechtfertigung verteidigender Gewalt: Nur wo die grundsätzliche Immunität einer Person übertreten und dadurch diese Person in ihren Rechten verletzt wird, ist Gewalt zur Abwehr des Angriffs erlaubt. Aber diese verteidigende Gegengewalt unterliegt selbst strengen Bedingungen. Im »verantwortungsbasierten Ansatz verteidigender Gewalt« (responsibility account of permissible defense) von Jeff McMahan (2011a, S. 392), dem wichtigsten Denker dieser Richtung, dürfen nur jene »Bedrohenden« Gegengewalt erfahren, die eine moralische Verantwortung für die relevante Bedrohung tragen. Solche Personen sind je nach Grad ihrer Verantwortung »haftbar« (d. h. legitim angreifbar; orig. »liable«) für ein bestimmtes Ausmaß von Verteidigung. So können entschuldigende Gründe, wie (unverschuldete) Unwissenheit oder der Umstand, dass man unter Druck gesetzt wurde, die Haftbarkeit merklich senken und dadurch auch das Maß erlaubter verteidigender Gegengewalt.

Moralische Verantwortlichkeit ist aber nicht die einzige Größe, die den Umfang der Haftbarkeit bestimmt. Hinzu kommen Faktoren wie das Ausmaß der Bedrohung oder die Wahrscheinlichkeit, mit der eine Abwehrmaßnahme überhaupt erfolgreich sein kann (McMahan 2011b, S. 548). Wenn eine gewaltsame Handlung zur Bedrohungsabwehr nichts beitragen kann, ist sie nicht erlaubt, selbst wenn andere Faktoren eine Haftbarkeit begründen würden.

Wenn eine Person mutwillig und aggressiv eine andere Person in ungerechtfertigter Weise bedroht, ohne äußere Zwänge, bei klarem Bewusstsein, ist sie für die Bedrohung in anderer Weise verantwortlich als eine Person, die zwar auch illegitim bedroht, aber sich über diesen Umstand nicht im Klaren ist oder die von anderen dazu gezwungen wurde. Aus dieser veränderten Art der Verantwortlichkeit folgt eine veränderte Angreifbarkeit. Die intuitive Plausibilität dieses Ansatzes zeigt sich darin, dass es uns Unbehagen bereitet, wenn Kindersoldat*innen gleichermaßen massiv angegriffen werden wie erwachsene Kämpfer*innen.

Dieser Ansatz stellt immerhin einen grundsätzlichen Maßstab für kollektive Gewaltakte (worunter auch politische Gewalt und Krieg fällt) bereit, auch wenn er das Phänomen etwas einengt. Die Frage nach der Legitimation von kollektiver Gewalt wird in diesem »methodischen Individualismus« zurückgeführt auf die Frage nach der Legitimation individueller Gewalt; die Eigendynamik von Gruppen findet keine Berücksichtigung. (Menschen-) Rechte folgen nicht aus dieser Ethik, sondern sind ihre Voraussetzung. Vor allem ein Schritt ist bedeutsam: Das Haftbarkeitskonzept verlegt das Fundament dessen, was an verteidigender Gewalthandlung erlaubt ist, weg von den eigenen Sicherheitsbedürfnissen hin zu einer Eigenschaft des Gegners. Nicht die Frage, wieviel Gewalt ich benötige, um mich selber zu schützen, ist der erste Anker für das Gewaltmaß, sondern die Frage, wieviel Gewalt ich dem Gegner angesichts seines moralisch zu beurteilenden Zustands zumuten darf. Wenn ich in Rechnung stelle, dass auch der Gegner glaubt – und sei es irrtümlich –, er würde sich mit seinen Gewalthandlungen lediglich verteidigen, muss ich ihm diesen Irrtum unter Umständen entschuldigend anrechnen. Freilich unterliegt auch er einer solchen Pflicht, die moralische Situation seines Gegners in den Blick zu nehmen und sich ihr entsprechend zu mäßigen. Konsequent durchgedacht, beinhaltet also dieser ethische Ansatz ein beträchtliches Gewalt deeskalierendes Potential.

Akteur*innen in einem »hybriden« Konflikt sollten sich also fragen, ob sie überhaupt versuchen, die Sichtweise ihres Gegners adäquat in den Blick zu nehmen. Möglicherweise gibt es dort Sicherheits- und Identitätsbedürfnisse, denen man grundsätzlich Rechnung tragen muss. Freilich entbindet dies den Gegner nicht seinerseits von der Pflicht, vertrauensbildend zu agieren und zu reflektieren.

Im Folgenden sollen kurz – und unvermeidlich auch verkürzt – drei Felder die Anwendung dieser ethischen Überlegungen in praktischen Kontexten exemplifizieren: Waffenlieferungen, militärische Robotik und Kulturgüterschutz.

Waffenlieferungen zur Selbstverteidigung?

Der verantwortungsbasierte Ansatz der verteidigenden Gewalt unterscheidet grundsätzlich nicht danach, wer die verteidigende Gewalt vornimmt. Es kommt nicht darauf an, ob es das bedrohte Opfer selbst ist, das abwehrend handelt, oder ein Dritter, der dem Opfer zu Hilfe eilt. Ausschlaggebend ist einzig die Haftbarkeit des*der Bedrohenden selbst, die die Grenzen der verteidigenden Gewalt festlegt, und zwar sowohl in einem Akt der Selbstverteidigung (Notwehr) wie in einem Akt der Fremdverteidigung (Nothilfe).

Nun könnte man denken, dass es aus diesem Grund auch gleichgültig ist, ob eine Person A dem bedrohten Menschen B Waffen zu dessen Selbstverteidigung bereitstellt oder ob A selbst die Waffen nutzt, um in Fremdverteidigung der bedrohten Person zu helfen. Wenn wir beispielsweise überlegen, ob Waffenlieferungen an die vom IS bedrohten Jesiden erlaubt oder gar geboten waren oder ob wir nicht besser selbst mit unseren eigenen Streitkräften hätten intervenieren sollen, bietet uns der verantwortungsbasierte Ansatz erst einmal wenig Hilfestellung. Häufig wird daher ein zusätzliches Prinzip herangezogen: Wenn die bedrohte Person die Verteidigung selbst übernehmen kann, dann soll sie dies auch tun. Dritte Personen sind lediglich aufgefordert, sie dazu zu ermächtigen. Die bedrohte Person bleibt dann nicht zu Dankbarkeit oder Abhängigkeit schaffenden Haltungen verpflichtet.

Das ist nachvollziehbar, aber vielleicht zu kurz gegriffen: Verteidigende Gewalt erfolgt ja in einem Rechtsrahmen, ohne den nicht einmal das Selbstverteidigungsrecht als solches begründet wäre. In einem Rechtsrahmen sollte aber die Rechtswahrung immer zunächst bei den dafür bestellten Rechtswahrern liegen. Daher kann man argumentieren, eine autorisierte Verteidigung der Rechte angegriffener Personen sei der Selbstermächtigung dieser Personen grundsätzlich vorzuziehen.2 Das Argument spräche also eher für die (z.B. durch die Vereinten Nationen mandatierte) Intervention als für das Liefern von Waffen. Dazu kommen wichtige konsequentialistische Überlegungen, wie die Möglichkeit der Proliferation der Waffen nach dem Konflikt oder ein mögliches Eskalationspotential (vgl. zur Debatte Pattison 2015). Andererseits ist es im internationalen System leider noch so, dass rechtswahrende Soldat*innen, wenn sie von einzelnen Staaten bereitgestellt werden, auch als Exponenten der Interessen ihrer Staaten wahrgenommen werden – zuweilen zurecht, was natürlich den Erfolg eines militärischen Einsatzes torpedieren kann.

Bewaffnete Drohnen und autonome Waffensysteme

Da die »revisionistische Theorie« von individueller Haftbarkeit ausgeht, fordert sie uns auf, das militärische Handeln immer wieder in legitimatorischer Hinsicht an die betroffenen Individuen zurückzubinden. In solchen Überlegungen zeigt sich die Tragik des Einsatzes militärischer Gewalt ganz besonders,3 denn häufig sind Menschen von der Gewalt betroffen, die nichts dazu getan haben, dass es zu den Bedrohungen kam, und es sind sogar Menschen von ihr betroffen, die viel oder alles dafür getan haben, dass es zu den Bedrohungen nicht kommt, und die nun dennoch in Gefahr sind. Dadurch werden im Krieg manche Menschen zu Tätern von Unrecht, obwohl sie gerade Unrecht verhindern und recht handeln wollen.

Weil es diese Tragik gibt, suchen wir Erlösung in der Technik. Die Hoffnun­gen, die Politik und Militär in bewaffnete ferngesteuerte Waffensysteme stecken, zeugen davon.4 Ferngesteuerte militärische Robotik (z.B. bewaffnete Drohnen) versprechen Sicherheit für die eigenen Streitkräfte, die ja dem Idealbild nach nur in gerechtfertigter Selbst- und Fremdverteidigung handeln, und gleichzeitig auch größere Sicherheit für jene Personen, die – obwohl ohne Haftbarkeit – bei den überkommenen militärischen Mitteln von der Gewalt betroffen wären, vor allem Zivilist*innen (Koch und Rinke 2018). Durch diese technischen Mittel sollen nur noch die wirklich haftbaren Personen die Folgen ihres bedrohenden Handelns zu spüren bekommen, was insbesondere bei komplexen Gemengelagen, wie den so genannten hybriden Kriegen, verheißungsvoll klingt.

Dabei wird aber ausgerechnet durch die gegebene Distanz die Legitimationsgrundlage für Gewalt immer schwammiger. Verteidigende letale Gewalt kann bestenfalls legitim sein, wenn eine unmittelbare Bedrohung für das Leben einer anderen Person oder anderer Personen vorliegt. Oft ist es aber die Drohne selbst, die durch ihre Aufklärungsfähigkeit dazu beiträgt, dass es zu dieser unmittelbaren Bedrohung nicht kommen muss, weil sie beispielsweise Rückzugsoptionen schafft. Zugestanden: Es sind Szenarien denkbar, in denen eine Person andere Personen mit unmittelbarer illegitimer tödlicher Gewalt bedroht, bei denen es naheliegt, dass eher der*die Bedrohende durch verteidigende tödliche Gewalt sein Leben verlieren sollte als die Opfer der Bedrohung. Alleine dadurch aber, dass die vom Militär genutzten Drohnen immer ein Gewaltausmaß schaffen, das für individuell austarierte Gewalt viel zu groß ist, ist die Konstruktion solcher Fälle reichlich hypothetisch. In gewisser Weise schaffen bewaffnete Drohnen ihren bevorzugten Handlungstyp selbst, nämlich die »targeted killings«,5 denn – salopp gesprochen – für jemanden, der einen Hammer hat, sehen viele Probleme wie ein Nagel aus.

Vor allem muss die Frage gestellt werden, welche Befriedungsfähigkeit im Einsatz roher Technik liegt oder ob diese nicht letztlich als Exekutionsinstrument einer dominanten Macht verstanden wird. Da die derzeitigen Drohnensysteme offenkundig nur den Auftakt zu wesentlich »autonomeren« Waffensystemen darstellen, werden sich künftig auch Fragen nach unkalkulierten und unkalkulierbaren Risiken beim Einsatz »autonomer« Technik sowie Probleme der Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit stellen. Es deutet nichts darauf hin, dass sich mit diesen Systemen hybride Bedrohungen wirklich beseitigen und, mehr noch, Regionen hybrider Bedrohungen befrieden ließen.

Kulturgüterschutz in bewaffneten Konflikten

Dass in den gewaltsamen Auseinandersetzungen der letzten Jahre Kulturgüter zum Ziel von mutwilligen Angriffen wurden – also ihre Zerstörung oder Beschädigung nicht nur wie im Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger billigend in Kauf genommen wurde –, zeigt eine verschärfte Dimension dieser »hybriden« Kriegsführung an, denn mit dem Kulturgut werden zwar Menschen häufig nicht direkt in ihrer physischen Existenz getroffen, sollen aber indirekt in ihrer Identität geschädigt werden.

Damit ein Kulturgut im Modell der »revisionistischen Theorie des gerechten Krieges« überhaupt zum Gegenstand legitimer verteidigender Gewalt werden kann, muss sich sein Wert in irgendeiner Weise als bezogen auf das Leben von natürlichen Personen ausdrücken lassen. Es ist offenkundig, dass der militärische Schutz für ein Elektrizitätswerk ethisch erlaubt sein kann, wenn dessen Zerstörung das Leben von Menschen gefährden würde. Bei Kulturgütern hingegen muss zur Begründung ein sehr viel weitergehendes Konzept gelingenden menschlichen Lebens in Anschlag gebracht werden. Dort, wo Kulturgüter zu einem »reichhaltigeren« sozialen und damit individuellen Leben beitragen, kann man ihren Schutz immerhin als Schutz dieses »reichhaltigen« sozialen oder individuellen Lebens verstehen. So können religiöse Bauten für die Mitglieder dieser Gemeinschaft zu einer Fülle beitragen, ohne die sie ihr Leben als »unvollständig« oder »leer« empfinden würden.

Was aber ist mit solchen kulturellen Objekten, die nicht mehr einfachhin in einer identitätsstiftenden Beziehung zu einer lebendigen Gemeinde von kulturell verbundenen Menschen stehen, wie z. B. die 2001 zerstörten Buddhas von Bamyan? Mir scheint, wir müssen den Schutz von Kulturgütern als kosmopolitische Aufgabe begreifen und auch das gefährdete Objekt in seiner Bezogenheit auf die Menschheitsgeschichte als solche sehen (Koch 2016). Dies setzt die Bereitschaft voraus, etwas, was in einer partikularen Kultur besonderen Wert hat, auch als für die Weltgemeinschaft wertvoll anzuerkennen, weil man eben auch die andere partikulare Kultur als wertvoll bejaht. Nun mag man einwenden, dass gerade diese Anerkennungsforderung einer partikularen Kultur zugehört – nennen wir sie die »aufklärerisch-westliche« – und man von denen, die diesen Anspruch nicht teilen, den Schutz solcher Objekte nicht erwarten, ja nicht einmal einfordern könne. Das befreit aber nicht von der Verpflichtung, seinen eigenen Maßstäben treu zu bleiben. Manchmal bleiben eben nur noch unilaterale Kriterien und Wertbindungen.

Fazit

Die »revisionistische Theorie des gerechten Krieges« setzt normativ um, was empirisch schon ansatzweise der Fall ist: Sie unterscheidet nicht grundsätzlich zwischen »zivil« und »militärisch«, zwischen »innerer« und »äußerer« Bedrohung oder zwischen »Krieg« und »Frieden«. Unterschiede sind eine Sache des Grades, nicht der Schwellen. Insofern stellt der »Revisionismus« in der Tat ein normatives Modell vor, das Gewalt auf allen Stufen der Eskalation binden und einhegen kann. Darin liegt die Stärke des Ansatzes. Seine Schwäche liegt vielleicht darin, dass er dem Menschen als bedeutungs- und wertsetzendes, als geschichtliches sowie als friedenssehnsüchtiges Wesen nicht ganz gerecht wird. Auch die Maßstäbe legitimer Angreifbarkeit (liability) beruhen auf werthaften Vorentscheidungen, die so oder anders getroffen werden können. Frieden im Sinne einer völligen Abwesenheit von Gewalt gibt es (zumindest in der geschichtlichen »civitas terrena«, dem irdischen Staat) nicht. Wichtig ist ein nüchterner und sachlicher Blick auf den Menschen und die realen Umstände, auch wenn es um eine normative Einschätzung der neuen Gewaltformen – seien sie asymmetrisch, terroristisch, hybrid oder dergleichen mehr – geht. Nüchterne Blicke relativieren Bedrohungen und eigene Ansprüche und verhindern so in guten Fällen Gewaltspiralen und Eskalationstendenzen.

Anmerkungen

1) Der Auftakt machte Jeff McMahans programmatischer Aufsatz McMahan 2004.

2) In innerstaatlichen Rechtsräumen würden wir es jedenfalls kaum akzeptieren, dass die Polizei, anstatt einzugreifen, bedrohten Personen Waffen zur Selbstverteidigung zur Verfügung stellt.

3) Tragik ist es ja nicht, zum Opfer eines Unglücks oder ungerechter Gewalt zu werden. Tragik ist es, im Streben nach Recht zum Täter ungerechter Gewalt zu werden oder werden zu müssen.

4) Zur Debatte um bewaffnete Drohnen vgl. Koch 2015 und Koch 2019.

5) Zum Begriff des »targeted killing« vgl. Melzer 2008, S. 3 f. Siehe zu diesem Thema auch Alston 2011.

Literatur

Alston, P. (2011): Dokumentation – Gezielte Tötungen. W&F 1-2011, S. 17-21 (Auszüge der »Studie über gezielte Tötungen« des Sonderberichterstatters über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen für den Menschrechtsrat der Vereinten Nationen).

Koch, B. (2015): Bewaffnete Drohnen und andere militärische Robotik – Ethische Betrachtungen. In: Gramm, C.; Weingärtner, D. (Hrsg.): Moderne Waffentechnologie – Hält das Recht Schritt? Baden-Baden: Nomos, S. 32-56.

Koch, B. (2016): Es geht nicht nur um Steine – Ist militärischer Schutz von Kulturgütern erlaubt oder gar geboten? Herder Korrespondenz, Vol. 70, Nr. 11, S. 38-41.

Koch, B. (2017): Diskussionen zum Kombattantenstatus in asymmetrischen Konflikten. In: Werkner, I.-J.; Ebeling, K. (Hrsg.): Handbuch Friedensethik. Wiesbaden: Springer VS, S. 843-854.

Koch, B. (2019): Die ethische Debatte um den Einsatz von ferngesteuerten und autonomen Waffensystemen. In: Werkner, I.-J.; Hofheinz, M. (Hrsg.): Unbemannte Waffen und ihre ethische Legitimierung. Wiesbaden: Springer VS, S. 15-46.

Koch, B.; Rinke, B.-W. (2018): Der militärische Einsatz bewaffneter Drohnen – Zwischen Schutz für Soldaten und gezieltem Töten. TATuP – Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis, Vol 27, Nr. 3, S. 38-44

McMahan, J. (2004): The Ethics of Killing in War. Ethics, Vol. 114, Nr. 4, S. 693-733.

McMahan, J. (2011a): Self-Defense Against Morally Innocent Threats. In: Robinson, P.H.; Garvey, S.; Kessler Ferzan, K. (eds.): Criminal Law Conversations. Oxford: OUP, S. 385-394.

McMahan, J. (2011b): Who is Morally Liable to be Killed in War? Analysis, Vol 71, Nr. 3, S. 544-559.

Melzer, N. (2008): Targeted Killing in International Law. Oxford: OUP.

Pattison, J. (2015): The Ethics of Arming Rebels. Ethics & International Affairs, Vol. 29, Nr. 4, S. 455-471.

Dr. Bernhard Koch ist stellvertretender Direktor des Hamburger Instituts für Theologie und Frieden und Lehrbeauftragter für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

„Nicht dazu da, Waffen zu segnen“?


„Nicht dazu da, Waffen zu segnen“?

Über den Militär- und Kriegsdienst der Militärseelsorge

von Albert Fuchs

Im Zentrum von Auseinandersetzungen mit dem bundesdeutschen Zusammenspiel von Staat und Kirche in Form der Militärseelsorge steht in der Regel die rechtliche und organisatorische Seite dieses Zusammenspiels. Doch auch das konkrete dienstbezogene und dienstliche Reden und Handeln von (hochrangigen) Vertretern der kirchlichen Militärseelsorge bedarf der kritischen Analyse, wie der vorliegende Beitrag exemplarisch verdeutlicht. Zur klären, ob und ggf. wie dieses Reden und Handeln sich effektiv auf das Militärpersonal und eine interessierte Öffentlichkeit auswirkt, ist oder wäre Sache eingehender empirischer Forschung.

Das besondere, »Militär-« oder »Soldatenseelsorge« genannte, bundesdeutsche Zusammenspiel von Staat und Kirche gilt als im Kern grundgesetzlich verankert: einerseits durch die in Artikel 4 (Abs. 1 und 2) des Grundgesetzes garantierte „Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ und ungestörte Religionsausübung“ und andererseits durch eine gemäß Artikel 140 GG aus der Weimarer Reichsverfassung übernommene Regelung. „Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht“, sind dieser Regelung zufolge „[…] die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen“ (Art. 141 WRV).

Um dem Ziel der insoweit grundgesetzlich angelegten Kooperation von Staat und Kirche im Falle des „Heer[es]“ gerecht zu werden, hält man es für erforderlich, seelsorgerliche Leistungen zur Verfügung zu stellen, die speziell auf die Arbeit und die Arbeitsbedingungen des Militärpersonals inkl. seiner Dienstzeiten und örtlichen Gegebenheiten abgestimmt sind. Das wiederum erfordert Vereinbarungen zum Status, zur Tätigkeit und zur Alimentierung der Militärseelsorger sowie zur Organisation dieses Dienstbereichs. Entsprechende rechtliche Regelungen liegen für die katholische Militärseelsorge im Wesentlichen in dem einschlägigen Passus des (gemäß einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1957) weiter geltenden Reichkonkordats von 1933 vor (Art. 27 RK). Die evangelische Seelsorge in der Bundeswehr ist durch den Militärseelsorgevertrag von 1957 geregelt; er gilt seit Anfang 2004 als rechtlicher Rahmen auch für die ostdeutschen Landeskirchen.

Diese Verträge und deren konkrete Umsetzung laufen auf eine institutionelle Verflechtung von Staat und Kirche in der Militärseelsorge hinaus, die in dieser Enge und Dichte weit über das grundgesetzlich eher minimalistisch angelegte Kooperationsverhältnis hinausgeht; auf Details ist hier nicht näher einzugehen (vgl. Czermak 2017; Kropp 2018). Aus der Sicht der Kirchen (-Leitungen) wie aus der Sicht (von Repräsentant*innen) des Staates hat sich das tendenziell staatskirchliche Arrangement der bundesdeutschen Militärseelsorge bestens bewährt. Kritiker*innen liefert es dagegen reichlich und anhaltend Grund zu politischer, rechtlicher, ethischer und theologisch-religiöser Infragestellung. Als verfassungswidrig gilt vielen – wohl zu Recht – der Staatsbeamtenstatus der Militärgeistlichen mit enger Integration in den militärischen Dienstbetrieb und bei voller staatlicher Finanzierung. Unbestritten ist andererseits, dass jedenfalls im kirchlichen Wertehimmel das „auf Erden Frieden den Menschen“ des Evangeliums (Lukas 2,14) einen außerordentlich hohen Rang einnimmt, in Verkündigung und Lehre ebenso wie im Selbstverständnis der Kirchen.

Aus dieser Perspektive sollte demnach ausschlaggebend sein, ob die etablierte Militärseelsorge einen friedenspolitischen Mehrwert hat im Vergleich zu einer konsequent staatsunabhängigen bzw. nicht über die grundgesetzliche Minimalkooperation hinausgehenden Regelung. Das folgende Hitler-Zitat lässt auch für die Bundeswehr eher Gegenteiliges mutmaßen: „Es droht eine schwarze Wolke […] Wir haben Soldaten notwendig, gläubige Soldaten. Gläubige Soldaten sind die wertvollsten. Sie setzen alles ein.“ (Adolf Hitler in einem Gespräch mit dem Osnabrücker Bischof Berning, 26. April.1933; zitiert nach Breuer 2015, S. 75)

Zurüstung der »Seelen«

Erwartungen Hitlers an die Militärseelsorge und die Bereitschaft zumindest eines hochrangigen kirchlichen Amtsträgers, diese Erwartungen zu bedienen, kamen, wie gut verbürgt, deutlich zum Ausdruck bei einem Zusammentreffen Hitlers mit dem Münchner Erzbischof Kardinal Faulhaber im November 1936 auf dem Obersalzberg. Auf Hitlers Bemerkung, der Soldat, der drei oder vier Tage im Trommelfeuer liege, brauche einen religiösen Halt, versicherte ihm Faulhaber, da könne die Kirche dem Staat helfen und die Seelen rüsten (Czermak 2017). Seelsorge also als Zurüstung der gläubigen Herde – jedenfalls im Nebeneffekt – für den staatlichen Menschen-Schlachtbetrieb! Die konkreten Formen und Auswirkungen dieses perversen Zusammenspiels von Staat und Kirche sind hinlänglich beforscht und bekannt (z.B. Röw 2014).

Gewiss, man muss sich davor hüten, die kirchliche Seelsorge bei der Bundeswehr den Verhältnissen »unter dem Hakenkreuz« gleichzustellen. Das von diesen Verhältnissen ausgehende kalte Licht kann aber und sollte den kritischen Blick auf die Entwicklung bei der Bundeswehr-Seelsorge schärfen. So kommt ein in der Richtung »wie damals« liegender staatlich-militärischer Erwartungshorizont durchaus auch in der Zentralen Dienstvorschrift 66/1 (vom 25.8.1956) zum Ausdruck, die für die Bundeswehr-Seelsorge immer noch maßgeblich ist – freilich nicht annähernd so brutal offen wie bei Hitler. Dieser Dienstvorschrift zufolge stellt sich die Militärseelsorge „die Aufgabe, unter Wahrung der freiwilligen Entscheidung des einzelnen das religiöse Leben zu wecken, zu festigen und zu vertiefen. Dadurch fördert sie zugleich die charakterlichen und sittlichen Werte in den Streitkräften und hilft die Verantwortung tragen, vor die der Soldat als Waffenträger gestellt ist.“ (zit. nach Czermak 2017) Und in der so genannten Dienststelle Blank, dem Vorläufer des Verteidigungsministeriums, wurde bereits 1954 intern von einer Bringschuld des Staates gesprochen mit der Begründung, der Staat selbst habe ein echtes Interesse an der Militärseelsorge. Der Wert seiner Streitkräfte, so das Argument, hänge vom Charakter und der seelischen Einstellung der Soldaten nicht weniger ab als vom waffentechnischen Ausbildungsstand. Diese Eigenschaften aber würden bei den meisten Menschen von der religiösen Grundlage her bestimmt (ebd.).

So stellt sich die Frage, wie die maßgebenden Vertreter der zeitgenössischen Militärseelsorge mit dem staatlich-militärischen Erwartungshorizont umgehen. Abermals wird kaum ein ähnlich offenes Andienen gegenüber (Mitgliedern) einer Bundesregierung nachzuweisen sein wie seinerzeit das von Kardinal Faulhaber gegenüber Hitler. Systematische Untersuchungen zu diesem Thema sind nicht bekannt. Immerhin sind öffentliche Einlassungen ranghoher Militärseelsorger zu finden, die mustergültig sein dürften für ihren Umgang mit dem staatlich-militärischen Erwartungshorizont.

Aufschlussreiche Interviews mit den ranghöchsten amtierenden Vertretern der kirchlichen Militärseelsorge, mit dem katholischen Militärbischof Dr. Franz-Josef Overbeck und dem evangelischen Militärbischof Sigurd Rink, wurden im vergangenen Jahr vom Bonner General-Anzeiger veröffentlicht (Overbeck 2018; Rink 2018). Mit den Ausführungen von Bischof Overbeck hat sich eine kleine Gruppe aktiver Mitglieder der katholischen Friedensbewegung Pax Christi in einem offenen Brief eingehend auseinandergesetzt (Pax Christi/Impulsgruppe 2018). Aus ihrer differenzierten Kritik am Amtsverständnis und der Amtsführung des katholischen Militärbischofs stechen zwei Punkte hervor, die, geringfügig anders akzentuierend, auch bei Bischof Rink zu konstatieren sind.

Zum einen macht man es sich ausgesprochen leicht mit dem eklatanten Gegensatz zwischen dem jesuanischen Ethos radikaler Gewaltfreiheit und der Gewaltverhaftung des Militärbetriebs. Bischof Overbeck verschiebt diesen Konflikt in das Gewissen der Einzelnen, hält aber andererseits, höchst begründungsdürftig, die Anwendung von militärischer Gewalt „im Krisen- und Konfliktfall“ nicht nur für rechtfertigungsfähig, also für erlaubt, sondern sogar für „mitunter auch geboten“. Und Bischof Rink genügt eine kleine Schrift von Martin Luther aus der Zeit der […] Bauernkriege“ im geistig-geistlichen Überlebensbeutel für den soldatischen Weg durch die Dilemmata militärischer Gewalt.

In der angesprochenen Abhandlung »Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können« von 1526 (verfügbar unter glaubensstimme.de) stellt Luther grundlegend ab auf den Unterschied zwischen der Sorge um sich selbst und der Sorge für andere; bei jener fordert er Gewaltverzicht, bei dieser dagegen heißt er Gewaltgebrauch (unter bestimmten Bedingungen) gut. Wie frei von Sorge um sich selbst aber muss und kann die Sorge für andere sein? Der Konflikt wird also letztlich ebenfalls in das individuelle moralische Bewusstsein verschoben. Die strukturelle Gewalt, das Militärgewaltsystem, kommt nicht in den Blick, wird erst recht nicht in Frage gestellt, sondern im Gegenteil bestätigt. Es ist ja rettende und folglich »gute Gewalt«. Dass derart obrigkeitsgefällige Ethik auch immer noch die Verwicklung der Bundeswehr in die Nuklearstrategie der NATO ethisch sanieren können soll, ist vielleicht am besten als (ungewollte) Karikatur zu jedem Versuch zu lesen, sich mit der ethischen Problematik militärischer Gewalt »staatstragend« auseinanderzusetzen.

Der zweite Hauptkritikpunkt betrifft die Linientreue, die beide Kirchenherren gegenüber der laufenden Militär- und Sicherheitspolitik an den Tag legen. So schätzt Bischof Overbeck u.a. die bundesdeutsche militär- und sicherheitspolitische Entwicklung seit der Epochenwende von 1989/90 durchweg als positiv ein, von der fraglosen Hinnahme des Eintritts der Bundeswehr in eine neue Ära ihrer Existenz“ im Zuge des Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik und der Beschwörung „weltweite[r] Gefahren“ als treibende Kraft der Umwandlung der einst grundgesetzlich verankerten Verteidigungsarmee in eine „Armee im Einsatz“ bis hin zu einem vorbehaltlosen Lobspruch auf die Bundeswehr als „Parlamentsarmee“ mit „klaren ethischen Standards“. Und Bischof Rink, von der Redaktion als „bekennende[r] Pazifist“ vorgestellt, scheint sich mindestens ebenso sehr um „Material und Personal für die Einsätze“ zu sorgen wie um die Menschen, die beim Militär bzw. im Einsatz angeblich besonders „offen für die Seelsorge“ sind.

Besteht also doch nur ein gradueller Unterschied zwischen Kardinal Faulhabers Bereitschaft, sich auf Hitlers Erwartungen einzulassen, und der Kammerdienerei der amtierenden Militärbischöfe gegenüber dem staatlich-militärischen Erwartungshorizont für die Bundeswehr?

Militärgeistlicher Kriegsdienst

Für einen dezidierten Kritiker aus theologisch-religiöser Sicht, wie den ehemaligen Militärseelsorger Matthias Engelke, ist ausgemacht, dass die etablierte Militärseelsorge nicht nur Militärdienst im Sinne der Zurichtung der Seelen leistet, sondern »Kriegsdienst« in einem engeren Sinn (Engelke 2010). Der Autor untermauert diese These durch einen Abgleich des Militärbetriebs mit formalen (soziologischen) Merkmalen von Religion. Zu jedem kritischen Religionsmerkmal findet sich ein Pendant beim Militär: von der deutlichen, durchaus auch physischen Trennung von »innen« und »außen« über eine eigene Sprache mit eigener Begrifflichkeit und einer Fülle von Abkürzungen, eine eigene Hierarchie mit eigenem Ethos und besonderen Verhaltensstandards, eigene Zeremonien und Feiern bis zu einer spezifischen Vorstellung vom »Ganz Anderen« samt der Besorgung seiner Präsenz in Kult und Ritus durch religiöse Spezialisten. Der Kern der Sonderexistenz des Militärs – und damit die Basis des militäreigenen »Ganz Anderen« – liegt in der ihm zugestandenen Tötungslizenz und in der Ausrichtung des gesamten Betriebs auf die Wahrnehmung dieser Lizenz, unter Einschluss der Hinnahme von eigener Verletzung und Tod.

Der Verlust eigener Soldat*innen aber ist die Stunde der religiösen Spezialisten. Ihnen obliegt die Kommunikation an der Grenze zwischen Leben und Tod – und darüber hinaus. Dabei geht es insbesondere darum, dem Geschehen irgendwie Sinn abzugewinnen und Schuld(-gefühle) zu bewältigen. Gemäß der herrschenden politisch-militärischen Ideologie haben Soldat*innen dafür zu sorgen, dass »notfalls« getötet wird, wer sich der Zielsetzung der eigenen Regierenden widersetzt; der Tod »der anderen« – für »unsere« Sicherheit und »unseren« Wohlstand – ist kaum des Nachdenkens und der Rede wert.

Der Verlust eigener Soldat*innen jedoch kann nicht Sinn und Zweck kriegerischer Unternehmungen sein. Die Eigenen dürfen auch nicht umsonst gestorben sein; das würde ja einzugestehen bedeuten, dass zumindest das betreffende militärische Unternehmen »unsinnig« ist. So muss ihr Tod für die Überlebenden einen besonderen Sinn haben. Er besteht zum einen darin, die »Sache«, für die sich die »Gefallenen« bis zum »Opfer des Lebens« eingesetzt haben, mit möglichst gleichem Einsatz weiter zu betreiben. Mit der Rede von einem Opfertod wird zum andern der Soldatentod zu einem übergeordneten Geschehen erhoben und erhält gleichsam sakrale Qualität. Beide Varianten der Konstruktion von Sinn entlasten zugleich von der Schuldproblematik, die sich den Überlebenden aufdrängt, wenn sie sich fragen, warum es die Kameraden und nicht sie selbst getroffen hat, sich eventuell (mit-) verantwortlich sehen (müssen) für den Tod von Kameraden oder unabweislich mit der politisch-moralischen Fragwürdigkeit eines kriegerischen Einsatzes konfrontiert werden.

Zum Kriegsdienst wird dieser militärgeistliche Service Engelke (2010) zufolge vor allem durch die Abwesenheit der Opfer der anderen Seite, der verletzten und/oder getöteten Gegner: „Dadurch wird augenfällig, dass die Militärseelsorger nicht im Dienste einer Institution stehen, die unabhängig vom Militär andere Zusammenhänge und Bezüge schafft und lebt, wie es etwa die weltweite Kirche beansprucht, sondern sie agieren innerhalb der Grenzen und Regeln des jeweiligen Militärs. […] Feindesliebe, die Jesus gemäß zum Weg derer gehört, die ihm nachfolgen, […] ist ausgeschlossen.“ (ebd. S. 8)

Engelkes hier nur gedrängt zu rekonstruierende Analyse mag bei aller Plausibilität Zweifel nahelegen, ob sie auch für die Bundeswehr zutrifft. Bei solchen Vorbehalten ist nachzulesen, was z.B. der damalige Bundesverteidigungsminister und der seinerzeit amtierende katholische Militärgeneralvikar im Rahmen der offiziellen Trauerfeier für die im April 2010 in Afghanistan »gefallenen« Bundeswehrangehörigen zu sagen hatten (Guttenberg 2010; Wakenhut 2010; vgl. Fuchs 2010). Nicht zuletzt diese oder ähnliche Ansprachen dürften Engelke zu seinen Einsichten zum Kriegsdienst-Charakter der etablierten Militärseelsorge inspiriert haben – und machen sie zumindest zu wohl begründeten Hypothesen.

Fazit

Die dargestellten Sachverhalte und Analysen lassen die im Titel des vorliegenden Beitrags aufgenommene Bemerkung von Bischof Overbeck, er sei „nicht dazu da, Waffen zu segnen“ (Overbeck 2018, S. 3), bestenfalls als Ausdruck von Selbsttäuschung erscheinen. Es geht aber nicht nur um individuelle Selbsttäuschung, sondern um sozial geteilte und insofern um eine Art institutionell verfestigte Selbsttäuschung, die darauf hinausläuft, im politischen und kulturellen Sinn sehr wohl „Waffen zu segnen“, und die damit höchstwahrscheinlich beiträgt zur Verstärkung und Perpetuierung des kulturellen „Mythos erlösender Gewalt“ (Wink 2014). Wie sich dieses Waffensegnen aber tatsächlich auf das Bundeswehrpersonal auswirkt, lässt sich weder auf der Basis von Plausibilitätserwägungen noch durch eine – u.U. auch kunstgerechtere – Interpretation von Einlassungen hochrangiger Akteure der Militärseelsorge ausmachen, sondern nur durch empirische Forschung.

Was immer aber diese Wirkungen sein mögen, militärgeistliches Waffensegnen auch indirekter Art stellt aus der hier zugrunde gelegten Perspektive eine schwere Belastung für die Glaubwürdigkeit des amtskirchlichen Friedensengagements dar.

Literatur

Breuer, T. (1999/2015): Gehorsam, pflichtbewusst und opferwillig – Deutsche Katholiken und ihr Kriegsdienst in der Wehrmacht. In Bürger, P. (Hrsg.): „Es droht eine schwarze Wolke“ – Katholische Kirche und Zweiter Weltkrieg. ­Berlin: Pax Christi, S. 75-84.

Czermak, G. (2017): Militärseelsorge. Institut für Weltanschauungsrecht (Lexikon); ­weltanschauungsrecht.de

Engelke, M. (2010): Der Kriegsdienst der Militärseelsorge. Wissenschaft und Frieden, 3-2010, Dossier 65, S. 6-8.

Fuchs, A. (2010): Re-Sakralisierung des Militärischen. Wissenschaft und Frieden, 3-2010, Dossier 65, S. 2-5.

Guttenberg, K.-T. zu (2010): Rede des Verteidigungsministers auf der Trauerfeier in Ingolstadt, 24.4.2010; bmvg.de

Kropp, V. (2018): Mit kirchlichem Segen in den Krieg? Die Militärseelsorge in der Bundeswehr. Ausdruck 3-2018, S. 13-22.

Overbeck, F.-J. (2018): „Ich bin nicht dazu da, Waffen zu segnen“ – Über die Seelsorge für Soldaten, soziale Brennpunkte und das Verhältnis von Staat und Kirche. General-Anzeiger/Bonn, 11.1.2018, S. 3.

Pax Christi/Impulsgruppe (2018): An den katholischen Militärbischof Herrn Dr. Franz-Josef Overbeck, Bischof von Essen – Offener Brief anlässlich des »Tages der Militärseelsorge« im Rahmen des 101. Deutschen Katholikentags vom 9. bis 13. Mai 2018 in Münster; ­militaerseelsorge-abschaffen.de.

Rink, S. (2018): „Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sind keine Trockenübungen“ – Über schlechte Ausrüstung der Truppe und anspruchsvolle Soldatenseelsorge. General-­Anzeiger/Bonn, 20.11.2018, S. 26.

Röw, M. (2014): Militärseelsorge unter dem Hakenkreuz – Die katholische Feldpastoral 1939-1945. Paderborn: Schöningh.

Wakenhut, W. (2010): Ansprache von Militärgeneralvikar Walter Wakenhut aus Anlass der Trauerfeier für die in Afghanistan gefallenen Soldaten am 24.04.2010 in Ingolstadt; katholische-­militaerseelsorge.de.

Wink, W. (2014): Verwandlung der Mächte – Eine Theologie der Gewaltfreiheit. Herausgegeben von Thomas Nauerth und Georg Steins. Regensburg: Pustet.

Prof. Dr. Albert Fuchs war Hochschullehrer für Kognitions- und Sozialpsychologie und psychologische Methodenlehre, ist u.a. Mitglied des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung und bei Pax Christi engagiert.

Menschliche Steuerung von Waffensystemen

Menschliche Steuerung von Waffensystemen

von Noel Sharkey

Im April 2018 fand in Genf eine Arbeitstagung der »Gruppe der Regierungsexpert*innen« des VN-Waffenübereinkommens statt. An der Sitzung nahmen auch Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen teil, darunter des International Committee for Robot Arms Control – ICRAC. Der für W&F übersetzte und nachfolgend abgedruckte Text wurde bei der Tagung als ICRAC Working Paper 3 vorgelegt.

Seit 2014 bekunden Vertragsparteien der Convention on Certain Conventional Weapons (CCW; VN-Waffenübereinkommen) ihr Interesse und ihre Besorgnis hinsichtlich einer bedeutsamen menschlichen Steuerung von Waffensystemen. Zur Dynamik der Mensch-Maschine-Wechselwirkung und zur überwachenden Steuerung von Maschinen durch den Menschen liegt eine umfangreiche wissenschaftliche und technische Literatur vor. Nachfolgend wird ein kurzer Leitfaden vorgestellt, der aus zwei Teilen besteht: Teil 1 ist eine einfache Einführung in die Psychologie menschlicher Entscheidungsfindung (human reasoning). Teil 2 skizziert verschiedene Niveaus der Steuerung von Waffensystemen, die sich aus der Forschung zur Mensch-Maschine-Wechselwirkung ergeben, und diskutiert diese in Bezug auf die Eigenschaften menschlichen Denkens. Dies macht deutlich, welche der Niveaus die Rechtmäßigkeit menschlicher Steuerung von Waffensysteme sicherstellen und garantieren können, dass vorbeugende Maßnahmen ergriffen werden, um die Relevanz, Notwendigkeit und Angemessenheit potenzieller Ziele sowie die wahrscheinlichen Nebenwirkungen und möglichen unbeabsichtigten Auswirkungen des Angriffs zu bewerten.

Menschliche Entscheidungen zur Steuerung von Waffen

Eine gut begründete Unterscheidung, die sich auf mehr als 100 Jahre umfangreicher Forschung in der Humanpsycho­logie stützt, unterteilt menschliche Entscheidungen in zwei Typen:

  • schnelle automatische Prozesse, die für Routine- bzw. Basistätigkeiten, wie Fahrradfahren oder Tennisspielen, benötigt werden, und
  • langsamere abwägende (deliberative) Prozesse, die für durchdachte Überlegungen notwendig sind, etwa für eine diplomatische Entscheidung.

Der Nachteil des deliberativen Denkens besteht darin, dass es Aufmerksamkeit und Gedächtnisressourcen erfordert, d.h. es kann durch Stress oder durch den Zwang zu einer schnellen Entscheidungsfindung leicht gestört werden.

Zunächst greifen automatische Prozesse, wir können uns aber über sie hinwegsetzen, wenn wir unter neuen Umständen arbeiten oder Aufgaben ausführen, die eine aktive Steuerung oder Aufmerksamkeit erfordern. Automatische Prozesse sind für unser normales Funktionieren unerlässlich, aber sie haben etliche Nachteile, wenn es darum geht, wichtige Entscheidungen zu treffen, z.B. darum, die Legitimität eines Ziels festzustellen.

Vier der bekannten Eigenschaften automatischen Denkens1 verdeutlichen, warum dieses für die überwachende Steuerung von Waffen problematisch ist:

  • Es vernachlässigt Mehrdeutigkeiten und unterdrückt Zweifel. Automatische Denkprozesse führen zu voreiligen Schlussfolgerungen. Eine eindeutige Antwort drängt sich sofort und unhinterfragt auf. Es wird nicht nach alternativen Interpretationen oder Unsicherheiten geschaut. Wenn etwas wie ein legitimes Ziel aussieht, wird die automatische Entscheidungsfindung sich in einer mehrdeutigen Situation darauf verlassen, dass es tatsächlich ein legitimes Ziel ist.
  • Es folgert und erfindet Ursachen und Absichten. Automatisches Denken erfindet schnell stimmige, kausale Geschichten, indem es Fragmente verfügbarer Information miteinander verknüpft. Ereignisse, an denen Personen beteiligt sind, werden automatisch mit Absichten verknüpft, die zu einer logischen Geschichte passen. Zum Beispiel könnten Menschen, die Mistgabeln auf einen Lastwagen laden, eine kausale Geschichte auslösen, dass sie Gewehre verladen. Dies wird in der Literatur zur menschlich überwachten Steuerung als »Assimilationsverzerrung« bezeichnet.2
  • Es tendiert dazu, zu glauben und zu bestätigen. Automatisches Denken begünstigt die unkritische Annahme von Vorschlägen und fördert eine starke Voreingenommenheit. Wenn ein Computer einem Nutzer ein Ziel vorschlägt, würde es bei nur automatischem Denken sehr wahrscheinlich akzeptiert. Dies wird Automatisierungsverzerrung genannt.3 Demgegenüber wird aufgrund der Bestätigungsverzerrung4 Information ausgewählt, die etwas bereits Geglaubtes bestätigt.
  • Es konzentriert sich auf vorhandene Anhaltspunkte und ignoriert, welche fehlen. Automatisches Denken erstellt stimmige, erläuternde Geschichten, ohne zu berücksichtigen, welche Anhaltspunkte oder Kontextinformationen möglicherweise fehlen. Was man sieht, ist alles, was da ist (What You See Is All There Is, WYSIATI).5 Es erleichtert das Gefühl von Kohärenz, das uns zuversichtlich macht, Informationen als wahr anzunehmen. Zum Beispiel kann ein Mann, der ein Gewehr abfeuert, mit WYSIATI als feindliches Ziel betrachtet werden, während ein kurzer Rundblick zeigen könnte, dass er einen Wolf erschießt, der seine Ziegen jagt.

Niveaus menschlicher Steuerung und wie sie menschliche Entscheidungsprozesse beeinflussen

Wir können Niveaus der menschlichen Steuerung von Waffensystemen betrachten, indem wir die Forschungsliteratur zur menschlichen überwachenden Steuerung auswerten (siehe Tab. 1).6

Niveau 1

Ein Mensch denkt bewusst über ein Ziel nach, bevor er einen Angriff auslöst.

Niveau 2

Das Programm liefert eine Liste von Zielen, und ein Mensch wählt aus, welches Ziel angegriffen werden soll.

Niveau 3

Das Programm wählt ein Ziel aus, und ein Mensch genehmigt es vor dem Angriff.

Niveau 4

Das Programm wählt ein Ziel aus, und ein Mensch hat eine begrenzte Zeit für ein Veto.

Niveau 5

Das Programm wählt ein Ziel aus und löst den Angriff ohne menschliche ­Beteiligung aus.

Tab. 1: Klassifizierung für Niveaus menschlicher überwachender Steuerung von Waffen

Steuerung auf Niveau 1 ist das Ideal

Ein*e menschliche*r Befehlshaber*in (oder Bediener*in) hat zum Zeitpunkt eines konkreten Angriffs volle Kenntnis der Situation und des Kontextes im Zielgebiet und ist in der Lage, jede Veränderung oder unvorhergesehene Situation wahrzunehmen, die seit der Planung des Angriffs aufgetreten sein könnten, und darauf zu reagieren. Es gibt eine aktive kognitive Beteiligung am Angriff und genügend Zeit, um die Art des Ziels und seine Bedeutung im Hinblick auf die Notwendigkeit, die Angemessenheit sowie die Wahrscheinlichkeit von zufälligen und unbeabsichtigten Nebenwirkungen zu bedenken. Es muss auch ein Verfahren für die schnelle Aussetzung oder den Abbruch des Angriffs geben.

Steuerung auf Niveau 2 könnte akzeptabel sein

Dazu muss gezeigt werden, dass Steuerung die Anforderungen an das Nachdenken über mögliche Ziele erfüllt. Menschliche Bediener*innen oder Befehlshaber*innen sollten bewusst beurteilen, ob der Angriff notwendig und angemessen ist und ob die vorgeschlagenen Ziele zulässige Angriffsobjekte sind. Ohne ausreichende Zeit oder in einer Umgebung mit vielen Ablenkungen könnte die Illegitimität eines Ziels übersehen werden.

Eine Rangliste von Zielen ist besonders problematisch, weil Automatisierungsverzerrung eine Tendenz erzeugen könnte, das am höchsten eingestufte Ziel zu akzeptieren, außer es ist genügend Zeit und Aufmerksamkeit für gründliche Überlegungen vorhanden.

Steuerung auf Niveau 3 ist inakzeptabel

Für diese Art von Steuerung wurde experimentell die Automatisierungsverzerrung nachgewiesen, bei der menschliche Bediener*innen darauf vertrauen, dass computergenerierte Lösungen korrekt sind, und deshalb widersprüchliche Informationen ignorieren oder nicht danach suchen. Cummings untersuchte Automatisierungsverzerrung in einer Studie über eine Schnittstelle, die zur Überwachung und Ressourcenverteilung von GPS-gesteuerten Tomahawk-Marsch­flugkörpern entworfen worden war.7 Sie fand heraus, dass Betreiber*innen bei Niveau-3-Steuerung eine deutlich geringere Fehlerfreiheit aufwiesen, wenn die Computerempfehlungen falsch waren.

Steuerung auf Niveau 4 ist inakzeptabel

Dieses Niveau fördert die Validierung der Ziele nicht, und eine kurze Vorgabezeit für ein Veto verstärkt die Automatisierungsverzerrung und lässt keinen Raum für Zweifel oder Nachdenken. Da der Angriff stattfindet, sofern nicht ein Mensch eingreift, untergräbt dies gängige Vermutungen gemäß dem humanitären Völkerrecht, die den Schutz der Zivilbevölkerung fördern.

Der Zeitdruck wird dazu führen, dass Bediener*innen Mehrdeutigkeit außer Acht lassen und Zweifel unterdrücken, Ursachen und Absichten ableiten und erfinden, der Überzeugungs- und Bestätigungsverzerrung ausgesetzt sind, sich auf vorhandene Anhaltspunkte konzentrieren und fehlende, aber notwendige Anhaltspunkte ignorieren. Ein Beispiel für Fehler, die durch den Zwang zu einem schnellen Veto entstehen, ist ein Vorfall im Irakkrieg 2003,8 als das Patriot-Raketenabwehrsystem der US-Armee einen britischen Tornado und eine amerikanische F/A-18 abschoss und vier Piloten tötete.

Steuerung auf Niveau 5 ist inakzeptabel

Niveau 5 beschreibt Waffen, die bei den kritischen Funktionen der Zielauswahl und der Anwendung von Gewalt autonom agieren.

Aus dem oben Gesagten sollte klar sein, dass sowohl aus der Psychologie menschlichen Denkens als auch aus der Literatur über die Mensch-Maschine-Interaktion Lehren gezogen werden müssen. Eine Kenntnis dieser Forschung ist dringend erforderlich, um sicherzustellen, dass die Wechselwirkung zwischen Mensch und Maschine so gestaltet wird, dass sie das beste Maß an menschlicher Steuerung erreicht, das zur Einhaltung des Völkerrechts unter allen Umständen erforderlich ist.

Schlussfolgerung: Notwendige Voraussetzungen für eine bedeutsame menschliche Steuerung von Waffen

Ein*e Befehlshaber*in oder Bediener*in sollte

1. einen vollständigen kontext- und situationsbezogenen Überblick über das Zielgebiet zum Zeitpunkt der Auslösung eines konkreten Angriffs haben;

2. in der Lage sein, Veränderungen oder unvorhergesehene Situationen, die sich seit der Planung des Angriffs ergeben haben, wahrzunehmen und darauf zu reagieren, beispielsweise Änderungen in der Legitimität der Ziele;

3. eine aktive kognitive Beteiligung am Angriff haben;

4. genügend Zeit haben, um über die Art und Relevanz der Ziele, die Notwendigkeit und Angemessenheit eines Angriffs, die wahrscheinlichen Folgen und die zufälligen und unbeabsichtigten Nebenwirkungen des Angriffs nachzudenken; und

5. über die Mittel verfügen, den Angriff rasch auszusetzen oder abzubrechen.

Anmerkungen

1) Kahneman, D. (2011): Thinking, Fast and Slow. London: Penguin Books. Kahnemann bezieht sich auf die beiden Prozesse als System 1 und System 2. Diese entsprechen den Begriffen automatisch und deliberativ, die hier der Klarheit und Konsistenz wegen verwendet wurden.

2) Carroll, J.M.; Rosson, M.B. (1987): Paradox of the active user. In: Carroll, J.M. (ed.): Interfacing Thought – Cognitive Aspects of Human-Computer Interaction. Cambridge/MA: MIT Press, S. 80-111.

3) Mosier, K.L.; Skitka, L.J. (1996): Human decision makers and automated decision aids – made for each other? In: Mouloua, M. (ed.): Automation and Human Performance – Theory and Applications. Milton Park: Lawrence Erlbaum Associates, S. 201-220.

4) Lord, C.G.; Ross, L.; Lepper, M. (1979): Biased assimilation and attitude polarization – the effects of prior theories on subsequently consid­ered evidence. Journal of Personality and Social Psychology, Vol. 37, No. 11, S. 1231-1243.

5) Kahneman (2011), op.cit.

6) Für ein tiefergehendes Verständnis dieser Analysen und Quellen siehe Sharkey, N. (2016): Staying in the Loop – Human Supervisory Control of Weapons. In: Nehal, B. et al. (eds.): Autonomous Weapons Systems – Law, Ethics, Policy. Cambridge: Cambridge University Press, S. 23-38.

7) Cummings, M.L. (2006): Automation and Accountability in Decision Support System Interface Design. Journal of Technology Studies, Vol. 32, No. 1, S. 23-31.

8) Jahreszahl gegenüber dem Originaltext durch Übers. korrigiert.

Noel Sharkey ist Vorsitzender des International Committee for Robot Arms Control (ICRAC).

Ein besonderer Dank geht an Lucy Suchman, Frank Sauer, Amanda Sharkey und weitere Mitglieder von ICRAC für hilfreiche Kommentare.

Aus dem Englischen übersetzt von ­Jürgen Scheffran.

Das International Committee
for Robot Arms Control – ICRAC

Nach der ersten gezielten Drohnentötung durch die USA im Jahr 2001 verdichteten sich die Hinweise, dass bewaffnete unbemannte Luftfahrzeuge ein neuer militärischer Trend werden würden. Bislang wurden und werden Drohnenangriffe durch Menschen ferngesteuert. Aber bereits in den »Unmanned Sytems Roadmaps« des US-Verteidigungsministeriums (2007, 2009, 2011, 2013) wurden autonome Angriffe als Ziel für die weitere Forschung und Entwicklung benannt.

Alarmiert durch die absehbaren Gefahren für das Kriegsvölkerrecht und den internationalen Frieden, gründeten im September 2009 Jürgen Altmann (Physiker/Friedensforscher, TU Dortmund), Peter Asaro (Philosoph, USA), Noel Sharkey (Robotikforscher, Großbritannien) und Rob Sparrow (Philosoph, Australien) das International Committee for Robot Arms Control (ICRAC; icrac.net). Alle vier hatten zu unbemannten bzw. autonomen Waffensysteme geforscht und publiziert, J. Altmann mit Förderung durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung (siehe dazu »Unbemannte bewaffnete Systeme – Trends, Gefahren und Präventive Rüstungskontrolle« 2009-2011 auf bundesstiftung-friedensforschung.de).

Im Jahr 2010 organisierte J. Altmann mit Partnern den ersten internationalen interdisziplinären Expert*innen-Workshop »Arms Control for Robots – Limiting Armed Tele-Operated and Autonomous Systems« in Berlin (gefördert durch die DSF und den Joseph Rowntree Charitable Trust, UK). Der Workshop erarbeitete eine Erklärung, die mit Mehrheit verabschiedet und von 21 Teilnehmer*innen persönlich unterzeichnet wurde (icrac.net/statements). Die darin aufgestellten Forderungen sind bis heute relevant: Verbot von robotischen autonomen Waffen, neuen Arten autonomer oder ferngesteuerter Kernwaffen, robotischen Weltraumwaffen; Beschränkungen bei ferngesteuerten bewaffneten unbemannten Systemen. Einige Workshop-Teilnehmer*innen traten ICRAC bei.

Über die Jahre kamen weitere Mitglieder hinzu; heute besteht ICRAC aus 29 Personen. Vorsitzender ist Noel Sharkey, stellvertretende Vorsitzende sind Jürgen Altmann, Peter Asaro und Denise Garcia (Politikwissenschaft, Northeastern University, USA). Weitere in ICRAC vertretene Disziplinen sind Anthropologie, Informatik, Medienwissenschaft, Politikwissenschaft, Psychologie, Recht, Soziologie; neben Akademiker*innen beteiligen sich auch Aktive von regierungsunabhängigen Organisationen.

Kontakte zu den regierungsunabhängigen Organisationen, die sich schon für die Verbote von Landminen und Streumunition eingesetzt hatten, führten 2013 zur Gründung der Campaign to Stop Killer Robots (stopkillerrobots.org), der heute 76 internationale, regionale und nationale Organisationen aus 32 Ländern angehören. Zusammen mit der Campaign to Stop Killer Robots nimmt ICRAC regelmäßig an den Genfer Expert*innentreffen zu »Lethal Autonomous Weapons« im Rahmen des VN-Waffenübereinkommens (CCW) teil. Neben wissenschaftlichen Analysen liefern die Mitglieder Informationen an die Medien und haben Kontakte zu Regierungsvertreter*innen.

Jürgen Altmann

Kriegsführung 4.0


Kriegsführung 4.0

Ethische und rechtliche Implikationen

von Daniele Amoroso und Guglielmo Tamburrini

Dieser Beitrag gibt einen kurzen Überblick über die Bemühungen der Internationalen Staatengemeinsschaft, sich mit den ethischen und völkerrechtlichen Fragen auseinanderzusetzen, die durch neue destabilisierende Militärtechnologien aufgeworfen werden.

Dieser Text legt den Fokus auf drei Technologien, die die Konturen der Kriegsführung radikal neu zeichnen: bewaffnete Drohnen, Cyberwaffen und autonome Waffensysteme.

Kriegsführung mit Drohnen

Drohnenangriffe werden überwiegend im Kontext gezielter Tötungen eingesetzt und fallen unter das allgemeine Völkerrechtsregime bezüglich gezielter Tötungen (Melzer 2008). Dieses Regime unterscheidet Tötungen, die im Rahmen bewaffneter Konflikte stattfinden, von solchen, auf die das nicht zutrifft.

Im ersten Fall sind gezielte Tötungen dann legal, wenn die Prinzipien der Unterscheidung (zwischen militärischen und zivilen Zielen), der Verhältnismäßigkeit und der Vorsichtsmaßnahmen gemäß dem Humanitärem Völkerrecht (jus in bello) eingehalten werden. Im letzteren Fall sind gezielte Tötungen als Strafverfolgungsmaßnahmen zu behandeln; diese verletzen das Recht des Menschen auf Leben, außer andere Maßnahmen (wie die Gefangennahme) sind aufgrund einer unmittelbar bevorstehenden und ernsthaften Bedrohung nicht gangbar (Alston 2010).

Diese klaren Linien werden von Staaten, die Angriffe mit Drohnen ausführen, häufig verwischt. In den Vereinigten Staaten wird der globale »Kampf gegen den Terror« unzulässigerweise als bewaffneter Konflikt ausgelegt; dadurch fällt die Tötung von Terrorverdächtigen en bloc unter das weniger restriktive Regime des Humanitären Völkerrechts (Cullen 2017, S. 117-120). Außerdem sind Drohnenschläge meistens gegen unbekannte verdächtige Militante gerichtet, die auf der Basis von Verhaltensmustern ausgewählt werden, die auf ihre Beteiligung an terroristischen Aktivitäten schließen lassen. Diese »signature strikes« basieren auf Kriterien, die nicht notwendigerweise mit denen übereinstimmen, die gemäß Völkerrecht einen Einsatz tödlicher Gewalt rechtfertigen (Heller 2013).

Diese besorgniserregenden Entwicklungen verzerren die Interpretation und Anwendung eines Rechtsregimes, das bei korrekter Anwendung adäquate Regelungen für die Drohnenkriegsführung bietet. Es ist wichtig festzuhalten, dass die internationalen Einwände gegen Drohnenprogramme mehrheitlich als Aufruf formuliert sind, sich an das »lex lata«, also das geltende Recht zu halten, und seltener für die Annahme neuer Rechtsnormen plädiert wird (siehe z.B. Alston 2010; European Parliament 2014; Heyns 2014, Abs. 139-140; UNHCR 2014; Council of Europe (2014).

Mit Blick auf die Nichtverbreitung ist zu erwähnen, dass bereits etliche wichtige multilaterale Regime existieren, die den Handel mit Rüstungsgütern und die Exportkontrolle regulieren, entweder explizit (Raketentechnologie-Kontrollregime, Wassenaar Abkommen, Gemeinsamer Standpunkt der EU zu Rüstungsexporten von 2008) oder implizit (der 2013 geschlossene Vertrag über Waffenhandel, siehe Stohl/Dick 2018). Darüber hinaus wurde 2016 von den USA eine multilaterale Initiative gestartet, die sich speziell mit der Proliferation bewaffneter Drohnen auseinandersetzt. Der »Gemeinsame[n] Erklärung zum Export und der anschließenden Verwendung von bewaffneten oder bewaffnungsfähigen Drohnen« schlossen sich bereits 53 Staaten an (siehe dazu Bundestag 2018; d. Übers.). Einige dieser Instrumente sind zwar lediglich politisch bindend (darunter die Gemeinsame Erklärung von 2016), sie signalisieren aber alle eine Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft, den Transfer bewaffneter Drohnen an terroristische Gruppierungen und repressive Regime zu unterbinden. Dennoch könnte die Möglichkeit der zivil-militärischen Nutzung (Dual-use-Problematik) nichtmilitärischer Drohnentechnologie eine effektive Kontrolle behindern. Um tatsächlich eine nicht erwünschte Nutzung zu vermeiden, sind daher weitere multilaterale Anstrengungen nötig (Zwijnenburg/van Hoorn 2015, S. 32).

Kriegsführung mit Cyberwaffen

Für die Verfasser*innen der Genfer Konventionen und ihrer Zusatzprotokolle war die Cyberkriegsführung unvorhergesehen (und unvorhersehbar)“, das verhindert aber nicht ihre Anwendung auf Cyberoperationen (Solis 2016, S. 702). Dieser Ansatz wird im »Tallinn-Handbuch zur Anwendbarkeit des Völkerrechts auf Cyberoperationen«, welches kürzlich in der zweiten Auflage erschien und unter der Schirmherrschaft des NATO Exzellenzzentrums für gemeinsame Cyberabwehr ausgearbeitet wurde, unterstrichen (Schmitt 2017). Mit den 154 »Regeln« des Handbuchs wird versucht, das gesamte traditionelle Völkerrecht mit möglichst sparsamen Anpassungen auf die Cyberdomäne zu übertragen.

In dem Handbuch werden einige neuartige Eigenschaften von Cyberkonflikten offenkundig heruntergespielt, wie im Falle der »Virtualität« des Cyberraums, bei der insbesondere auf den territorialen Zusammenhang mit der Cyberinfrastruktur abgehoben wird (siehe insbesondere die Souveränitätsregeln 1-5), oder wenn der Begriff »Cyberangriffe« auf Cyberoperationen mit potentiell zerstörerischen Auswirkungen in der »physischen“ Welt beschränkt wird (z.B. „Verletzung oder Tod von Personen oder Beschädigung oder Zerstörung von Objekten“; Regel 92 und der zugehörige Kommentar). Nach Einschätzung u.a. des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK, engl. ICRC) ist die letztere Definition so eng gefasst, dass sie die Notwendigkeit, Zivilisten vor böswilligen Cyberoperationen zu schützen, die »lediglich« zur Löschung oder Veränderung von Daten führen, gar nicht abdeckt (ICRC 2015, S. 43). Dazu ist anzumerken, dass auch Datenverlust oder -fälschung ein »physikalisches« Ereignis ist, selbst wenn es auf Computersysteme und -netzwerke begrenzt ist.

Ein innovativerer Ansatz wurde kürzlich vom Präsidenten und Chefjuristen von Microsoft, Bradford Smith, vorgestellt, der die Staaten dazu aufrief, eine Art »Digitaler Genfer Konvention« zu verhandeln, mit speziellen Normen, die multinationale und globale Hightech-Unternehmen gegen staatliche Cyberattacken schützen, diese aber auch damit beauftragen würden, Zivilisten bei Maßnahmen gegen solche Angriffe zu unterstützen (Smith 2017). Der Vorschlag von Smith sieht auch die Schaffung einer internationalen Organisation vor, lose angelehnt an die Internationale Atomenergieagentur (IAEA), der „technologisch versierte Experten aus Regierungen, dem privaten Sektor, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft“ angehören sollen. Diese Agentur soll „über die Fähigkeit verfügen, spezifische Angriffe zu untersuchen und Material zur Verfügung zu stellen, das beweist, dass ein Angriff von einem bestimmten Nationalstaat durchgeführt wurde“ (Smith 2017). Dieser Punkt berührt das kritische »Attributionsproblem« in der Cyberkriegsführung. Die technische Möglichkeit, einen Angriff zu starten und sich dabei als ein anderer Staat oder eine andere Organisation auszugeben (spoofing), wirft in der Tat Fragen der Beweisführung auf, die mit der aus dem traditionellen Völkerrecht abgeleiteten Verantwortung nur schwer zu beantworten sind. Aus diesem Grund ist die Bekräftigung der klassischen Attributionskriterien (Regeln 15-18) im Tallinn-Handbuch zwar formal korrekt, aber kaum geeignet, ein Schlupfloch zu schließen, welches die Möglichkeit zur Reaktion auf eine rechtswidrige Cyberoperation zu unterminieren droht.

Angesichts dieser Herausforderungen ist es bedauerlich, dass die diesbezüglichen staatlichen Initiativen inzwischen festgefahren sind. So konnte sich die UN-Gruppe von Regierungsexperten (Group of Governmental Experts, GGE), die 2016-2017 tagte, nicht auf einen Konsensbericht einigen, da es bei der Frage der Anwendbarkeit der Prinzipien des »ius ad bellum« (Recht auf Krieg) und des »jus in bello« (Recht im Krieg) auf böswillige Cyberoperationen drastische Meinungsunterschiede gab, weil manche Staaten befürchten, damit würde eine destabilisierende »Militarisierung« des digitalen Raumes gefördert (Sukumar 2017).

Kriegsführung mit autonomen Systemen

Seit 2017 trifft sich eine andere Gruppe von Regierungsexperten, hoffentlich mit mehr Erfolg. Nach mehreren informellen Treffen 2014-2016 entschieden die Mitgliedsstaaten des VN-Waffenübereinkommens (Convention on Certain Conventional Weapons, CCW), eine offene Expertengruppe einzusetzen mit dem Mandat, „mögliche Empfehlungen für Optionen“ zur Frage der tödlichen autonomen Waffensysteme (Lethal Autonomous Weapons Sytems, LAWS) zu erkunden. Das IKRK definiert LAWS als „Waffen, die unabhängig Ziele auswählen und angreifen können, d.h. mit Autonomie in den »kritischen Funktionen« des Aufspürens, Verfolgens, Auswählens und Angreifens von Zielen“ (ICRC 2014 S. 5; für eine Analyse der Definitionen von LAWS siehe auch Amoroso et al. 2018, S. 19-22). Da die Neuartigkeit in der „Technik der Zielauswahl“ (Egeland 2016 S. 97) liegt und nicht in dem Waffensystem per se, ist Autonomie ein Merkmal, dass im Prinzip in jegliche Waffensysteme eingebaut werden kann, auch in bewaffnete Drohnen oder Cyberwaffen.

Die öffentliche Aufmerksamkeit wurde durch die Kampagne »Stop Killer Robots« auf die ethischen und rechtlichen Implikationen einer autonomen Zielauswahl gelenkt. Die Kampagne wurde 2013 von einer internationalen Koalition von Nichtregierungsorganisationen mit dem primären Ziel gestartet, „letale Roboterwaffen zu ächten“ (Stop Killer Robots 2013). Im gleichen Jahr stellte Christof Heyns, der damalige Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zu außergerichtlichen, summarischen oder willkürlichen Hinrichtungen, einen Bericht über LAWS vor, der die weiteren akademischen und diplomatischen Debatten stark prägte. Heyns benannte präzise die zentralen Probleme (Heyns 2013):

1. Die Einhaltung des Rechts hinsichtlich der Zielauswahl (insbesondere der Prinzipien der Unterscheidung und der Verhältnismäßigkeit) würde Fähigkeiten voraussetzen, über die nur der Mensch verfügt, nämlich die Fähigkeit zur Lageerkennung und zur Formulierung qualitativer Urteile (Abs. 63-74).

2. Mit der Herausnahme menschlichen Bedienpersonals aus dem Entscheidungsprozess würde Autonomie in Waffensystemen im Falle von Verstößen die Zuschreibung von Verantwortung behindern (Abs. 75-81).

3. Der Einsatz letaler autonomer Waffensysteme wäre ein Affront gegen die Menschenwürde, die vorschreibt, dass es Menschen vorbehalten sein sollte, einem Menschen das Leben zu nehmen (Abs. 89-97).

4. Autonomie in Waffensystemen könnte schädliche Konsequenzen für die Welt haben, weil es einfacher wird, Krieg zu führen (Abs. 57-62).

Die ersten Diskussionen der Expertengruppe zeigten den Dissens zwischen jenen, die den bestehenden rechtlichen Rahmen für ausreichend halten, um diese Probleme zu klären, und jenen, die sich für die Verabschiedung neuer Regeln einsetzen, sei es in Form von Ad-hoc-Regeln oder eines vollständigen Verbots von LAWS. Über die Jahre hat sich ein Konsens für die Idee herausgebildet, wonach alle Waffen (einschließlich LAWS) einer »bedeutsamen menschlichen Kontrolle« (meaningful human control) unterliegen sollten. Diese Formulierung war von der Nichtregierungsorganisation »Artikel 36« eingeführt worden. Das Konzept der bedeutsamen menschlichen Kontrolle könnte als »Brücke« fungieren, um den Graben zwischen den verschiedenen Positionen innerhalb der Expertengruppe zu schließen. Schließlich ergibt sich die Forderung nach bedeutsamer menschlicher Kontrolle aus dem bestehenden Rechtsrahmen, allerdings bedarf es einer neuen völkerrechtlichen Regelung, um die Details auszuformulieren und zu operationalisieren. Auch ein Zusatzprotokoll zum VN-Waffenübereinkommen, das die bedeutsame menschliche Kontrolle über Waffensysteme vorschreibt, wäre denkbar, das zugleich als ein „Verbot der vollständigen Autonomie über bestimmte (kritische) Funktionen eines Waffensystems“ zählt (Bhuta/Beck/Geiss 2016, S. 381). Daher wird dem Konzept der bedeutsamen menschlichen Kontrolle allgemein das Potenzial zugeschrieben, die Verhandlungen nach vorne zu bringen und ein (hoffentlich völkerrechtlich verbindliches) Instrument zu gestalten, welches im Rahmen des VN-Waffenübereinkommens Zustimmung findet.

Aber was macht menschliche Kontrolle über Waffensysteme tatsächlich »bedeutsam«? Dieser wesentliche Punkt ist weiterhin umstritten. Unsere Arbeitshypothese lautet, dass sich der Streit nicht mit einem definitorischen Patentrezept lösen lässt. Vielmehr wird ein prinzipieller, aber angemessen differenzierter Ansatz benötigt (für eine erste Darstellung siehe Amoroso/Tamurrini 2017, S. 13-14). Die ethischen und völkerrechtlichen Prinzipien, die den Weg zu einem hinreichend präzisen und restriktiven Verständnis der bedeutsamen menschlichen Kontrolle weisen, wurden oben bereits beschrieben. Nichtsdesto­trotz muss die Anwendung dieser Prinzipien in konkreten Situationen durch geeignete Regelsätze unterstützt werden. Entsprechende »Wenn-dann«-Regeln müssen die Entscheidung der involvierten Menschen leiten, ob im jeweiligen Kontext Bedingungen für die Ausübung einer wirklich bedeutsamen menschlichen Kontrolle über Waffensysteme vorliegen. Der »Wenn«-Teil dieser Regeln sollte folgende Faktoren für einen vorgesehenen Angriff berücksichtigen: Zeitfenster, Zielmodus, defensive oder offensive Einsatzziele, die Art des Einsatzes (gegen Menschen oder gegen Objekte), dynamische Umgebungsmerkmale und allgemeine Kalkulierbarkeit.

Mit Erwägungen auf der Basis von »Wenn-dann«-Regeln zu diesen und weiteren Faktoren sollte man in der Lage sein abzuschätzen, welche Art von bedeutsamer menschlicher Kontrolle bei jedem einzelnen Einsatz eines Waffensystems aus juristischer Sicht erforderlich wäre. Des Weiteren ist zu bedenken, ob und gegebenenfalls welche Handlungen Haftungsfragen nach sich ziehen würden, sollte die Entscheidung für eine bestimmte bedeutsame menschliche Kontrollaktion nicht rechtmäßig sein (Einsatz, Planung, Fehler bei der Ablehnung oder Autorisierung eines Ziels). In einem solchen rechtlichen Rahmen wäre die verbliebene Autonomie von Waffensystemen, so der Begriff dann überhaupt noch zutrifft, befreit von den problematischen ethischen und rechtlichen Aspekten bezüglich der vom Menschen unkontrollierten Zielauswahl und Angriffszwecke.

Die „Zehn mögliche[n] leitende[n] Prinzipien für aufkommende Technologien im Zeitalter letaler autonomer Waffensysteme“, die von der UN-Expertengruppe bei ihrem letzten Treffen (27.-31. August 2018) beschlossen wurden, gehen zaghaft in diese Richtung. Von besonderem Interesse für unser Thema sind das zweite Prinzip, welches postuliert, „Menschliche Verantwortung für Entscheidungen über den Einsatz tödlicher Gewalt muss erhalten bleiben“, und das dritte Prinzip, welches festlegt, dass Rechenschaftspflicht u.a. durch eine „verantwortliche Kommando- und Kontroll-Kette“ sichergestellt sein muss. Diese Prinzipien bleiben erkennbar sehr vage. Ob sie geeignet sind, den Grundstein für eine effektive Verrechtlichung letaler automatischer Waffen zu legen, hängt letztlich davon ab, ob weitere, detailliertere »Wenn-dann«-Regeln angenommen werden.

Schlussfolgerungen

Christopher Greenwood, der gegen Ende des letzten Jahrtausends über das Waffenrecht schrieb, lobte die Fähigkeit der bestehenden Normen, die Herausforderungen durch neue Militärtechnologie zu adressieren, und setzte daher die Priorität für das bevorstehende Jahrhundert nicht auf die „Verabschiedung neuer völkerrechtlicher Normen“, sondern auf „die effektive Umsetzung der Normen, die wir bereits haben“ (Greenwood 1998, S. 221-222). Dies lässt sich durch die hier durchgeführte Analyse nur in Teilen bestätigen.

Die Einhaltung des »lex lata«, des bestehenden Rechts, ist ein guter Startpunkt, um die ethischen und rechtlichen Implikationen neuer Technologien zu adressieren. Das trifft auf jeden Fall bei bewaffneten Drohnen zu. Manchmal aber sind Änderungen des Völkerrechts nötig, um mit Problemen Schritt zu halten, die sich neu ergeben, wie die Attribution von Cyberangriffen oder die Notwendigkeit, die bedeutsame menschliche Kontrolle von Waffensystemen zu konkretisieren. Auf der Grundlage des völkerrechtlichen Erbes der Vergangenheit dafür kreative und angemessene Lösungen zu finden, ist vielleicht die wichtigste Herausforderung, vor der die Völkergemeinschaft steht.

Literatur

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In Auszügen ist eine deutsche Übersetzung des »Bericht[s] des Sonderberichterstatters über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen, Philip Alston, Addendum: Studie über gezielte Tötungen« erschienen in W&F 1-2011, S. 17-21. Die Übersetzung wurde vom Deutschen Übersetzungsdienst der Vereinten Nationen angefertigt und steht in voller Länge inkl. sämtlicher Fußnoten auf un.org/depts/german/de/menschenrechte.html [d. Übers.].

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Zwijnenburg, W.; van Hoorn, K. (2015): Unmanned & Uncontrolled – Proliferation of unmanned systems and the need for improved arms export controls. PAX.

Daniele Amoroso ist Professor für Völkerrecht an der Universität von Cagliari, Italien.
Guglielmo Tamburrini ist Professor für Wissenschafts- und Technikphilosophie an der Universität Frederico II von Neapel, Italien.

Aus dem Englischen übersetzt von Marius Pletsch.

Glück als Ressource für Frieden


Glück als Ressource für Frieden

von Jochen Dallmer

Wie kann man sich nur um das eigene Glück kümmern in einer Welt voller Probleme und Konflikte? Der Artikel erläutert, dass Glück, wenn es denn ernst genommen wird, elementar mit dem guten Leben aller zu tun hat und die wichtigste Ressource für Frieden ist.

Glück ist in den letzten Jahren zu einem überaus populären Thema in allen Medien geworden. In kritischer Lesart ist dies Ausdruck der Individualisierung und Atomisierung der Gesellschaft, in der das Wohl des Einzelnen im Vordergrund steht und das Glücklichsein fast schon zum Zwang geworden ist. Wir leben in einer Erlebnisgesellschaft voller Narzisst*innen, denen lediglich ihr eigenes und möglichst unmittelbares Glück im Sinn steht (Cederström/Spicer 2016). Zugleich ist aber unstrittig, dass das Streben nach Glück des Menschen Ziel ist, wie es die Philosophie schon seit Jahrtausenden formuliert. Aus dieser Perspektive erscheint die aktuelle Aufmerksamkeit als ein Suchen in Zeiten von Unsicherheit und Wandel – und in positiver Lesart als ein (potentiell) emanzipativer Schritt, welcher bestehende Konzepte des guten Lebens, Traditionen und Strukturen herausfordert.

In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema wird mittels des Begriffs »subjektives Wohlbefinden« eine Definition von »Glück« geschaffen, die eine balancierte Beachtung der emotionalen und kognitiven Komponente umfasst: einerseits der Anzahl und Intensität der erlebten Glücksmomente, andererseits der Lebenszufriedenheit insgesamt. Es gibt also nicht »das« Glück, sondern es beruht letztlich auf Selbsteinschätzung, auf subjektiver Wahrnehmung. Wann und wie ich mich glücklich fühle, kann nur ich selbst fühlen, denken und sagen. Dabei ist das Individuum auf die eigenen Erfahrungen und Fähigkeiten angewiesen, das Wohlbefinden zu bestimmen, zugleich aber auch auf einen reflexiven Diskurs um die Frage, was »das Gute« sei. Letzteres wiederum trägt als gemeinsames gesellschaftliches Leitbild und die damit verbundenen Effekte von Anerkennung zum Glücklichsein bei. Eine entsprechende Ausrichtung der Motive für die Lebensgestaltung, sowohl individuell als auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene, fordert Annahmen über letztgültige Wertekataloge heraus.

Im Folgenden soll erörtert werden, wie sich das Streben nach subjektivem Wohlbefinden zum Thema Frieden verhält bzw. welche Ressource »Glück« für das Anliegen friedlicher Konfliktlösungen bietet.

Wohlbefinden als Friedensargument

In den vergangenen 30 Jahren hat sich mit dem Feld der so genannten »Glücksforschung« ein Bereich der Wissenschaft entwickelt, der, ausgehend von der Positiven Psychologie, mit empirischen Erhebungen neue Erkenntnisse bringt. So hat sich die Forschung zum subjektiven Wohlbefinden auch mit der Frage von Krieg und Frieden befasst. Beispielhaft dafür steht eines der bekanntesten Konzepte von Glück auf individueller Ebene, das Erleben von »flow«, welches als ein zentraler Glücksfaktor gilt, aber auch eine starke Ambivalenz aufweist (Csikszentmihalyi 1992). So berichten etwa Soldaten, dass sie Erlebnisse in Kampfeinsätzen als Erfahrungen von »flow« bewerten, kriegerische Handlungen also auch Glückserfahrungen bieten. Ähnlich problematisch sind Glückserlebnisse durch Gemeinschaftsgeist zu bewerten, wie sie etwa totalitäre Regime mit ihren autoritären Strukturen organisieren, oder die historischen Beispiele einer Kriegsbegeisterung weiter Bevölkerungsteile. Dieses Glückserlebnis beruht jedoch meistens auf einer Ausgangslage von Unglück, sei es eine wirtschaftliche Krise oder eingeschränkte individuelle Lebenszufriedenheit.

Die empirische Glücksforschung geht sehr nüchtern vor und unterteilt Glückserlebnisse nicht nach moralischen Maßstäben in höheres und niederes Glück, sondern ermittelt eine Gesamtbilanz der Glücksaspekte. Mit einer teilweise etwas gewagten Gegenüberstellung der Glücks- und Unglücksfaktoren von Krieg kam der Ökonom Bruno S. Frey (2011) zu dem wenig verwunderlichen Ergebnis, dass Krieg insgesamt deutlich mehr Unglück bringe als Glück. Andere Studien zeigten, dass glückliche Menschen sich eher für Frieden einsetzen (Diener 2007). Ausgehend von dem Primat des eigenen Wohlbefindens ist also Krieg insgesamt nicht wünschenswert. Dies klingt zunächst banal, ist aber als Grundlage für eine Friedensargumentation von hoher Relevanz.

Egoismus und das Glück der Anderen

Reicht es aber aus, nach dem eigenen Glück zu streben, um für Frieden zu votieren? In skeptischer Sicht auf das menschliche Sein ist es keine solide Grundlage, denn wenn jeder nach seinem eigenen Glück strebt, droht ein Kampf aller gegen alle, es entfesselt sich das Recht des Stärkeren. Entsprechend, so die Argumentation für alle starken Tugendkataloge, gilt es, das eigene Glücksstreben einzuschränken, um das größere und gemeinsame Gut zu ermöglichen, in diesem Fall Frieden. Jedoch: Im Tugendkanon klassischer Werke der Glücksphilosophie finden sich neben Freundschaft, Gerechtigkeit und Solidarität auch Mut und Tapferkeit. Immerhin ist Tapferkeit eine Tugend, die in militärischen Zusammenhängen ausgiebig angerufen und missbraucht wird.

Lösen wir die Idee eines fest gegebenen Katalogs der Tugenden (inkl. Friedenstugend) auf, so bleibt als finaler Bezugspunkt eines Moralkodex die Idee des guten Lebens. Als dessen Basis stehen wiederum die Idee und Wahrnehmung des eigenen Seins und des eigenen Wohlbefindens, der Rückbezug auf die eigene Leiblichkeit mit ihrer Verletzlichkeit und der Fähigkeit, Freude zu erfahren, das eigene Sein, das eigene Wohlergehen, das eigene Glück. Basis der Ethik ist das Lebenwollen der Menschen, so wie es im bekannten Spruchs Albert Schweizers heißt: Leben inmitten von Leben, das leben will. Dabei reicht aber die Idee des Lebenwollens über das eigene Leben hinaus. Da ist zum einen die persönliche Erfahrung, dass das eigene Leben von anderen Menschen und deren Wohlwollen abhängt. Dies gilt besonders in der Kindheit, aber auch in allen weiteren Lebensphasen. Durch die naturgegebene Abhängigkeit des Menschen ist eine Basis des Miteinanders verankert, welche sich als Veranlagung zur Kooperation genetisch etabliert hat. Zum anderen gilt die rationale Überlegung, dass das (gut) Leben wollen auch andere Menschen betrifft und einen guten Grund liefert, dies (gegenseitig) zu respektieren. Es ist als für alle Menschen gültig anzunehmen, dass sie gut leben und nicht unterdrückt werden wollen. Daraus ergibt sich die Aufgabe, Leid zu vermeiden, und umgekehrt, dass Gewalt etwas ist, das abzulehnen ist, das nicht gewollt sein kann. Dafür braucht es nicht einmal die individuelle Erfahrung von Gewalt, es reicht das Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit, welches jedem Menschen gegeben ist. Peter Stemmer (2013) verdeutlicht dies in seinem Konzept des »Unterdrückungsverbots«.

Hedonismus für den Frieden

Das Primat des guten Lebens als Leitbild für das kooperative Miteinander ist als »aufgeklärter Hedonismus« bezeichnet worden und wird z.B. von Bernulf Kanitscheider oder Michel Onfray vertreten. Sie verzichten explizit auf die Bezugnahme von höheren Gründen und Werten; als Bezugspunkt zählt nur das Leben im Diesseits. Die Idee der Opferung von Individuen für den Staat und das Gemeinwesen widerspricht daher der Idee des Hedonismus zutiefst. Vielmehr gebietet die Vermeidung von Leid implizit auch die Vermeidung von Krieg. „Mit Hilfe einer hedonistischen Ethik lässt sich kein Nazismus und kein Stalinismus hervorbringen, auch kein Christentum, sondern nur ein Aufrufen zur Anstrengung, zum Verzicht, zum Universalen, dem ganzen Arsenal des asketischen Ideals.“ (Onfray 1993, S. 187) Historisch sprachen sich entsprechend viele Hedonist*innen für den Pazifismus aus.

Als »hedonistische Intersubjektivität« bezeichnet Onfray diesen Ansatz eines hedonistischen Gesellschaftsvertrages (Onfray 2008, S. 125f.). Höffe nennt dies »hedonistischen Utilitarismus«, bei dem es eben auf alle Betroffenen ankomme, so wie es von John Stuart Mill auch bei der Entwicklung der Freiheitsidee ursprünglich gemeint war (Höffe 2007, S. 107). In der globalisierten Welt schließt das auch jene ein, die wir nicht direkt als Gegenüber wahrnehmen, die aber mit uns mittels Wirtschaft und Politik verbunden sind, letztendlich also alle: „Weil sein Leben vom Wohlergehen der umgreifenden Gesellschaft abhängt, etwa von deren materieller, sozialer und kultureller Infrastruktur, erweitere man die Quasi-Tugend, jetzt besser Solidarität genannt, auf diesen größeren Lebensraum. Im Zeitalter der Globalisierung erhält sie sogar eine globale Dimension; sie wird zur kosmopolitischen Solidarität.“ (Höffe 2007, S. 179-80)

Eine solcher Hedonismus lässt sich ebenso mit dem Begriff eines »aufgeklärten Egoismus« beschreiben, der sich der Gegenseitigkeit des Wohlergehens bewusst ist. Hierzu zählt auch die zunehmend Anerkennung findende Erkenntnis, dass das subjektive Wohlbefinden nicht rein individualistisch ist, sondern auf Miteinander und Kooperation beruht (Ahuvia et al. 2015). Dies gilt für das Überleben, noch mehr aber für Elemente des guten Lebens, ganz zentral etwa im Bereich der Entwicklung von Kultur und Lebenskunst (man denke etwa an die elaborierte Kooperation eines Orchesters). Die Kooperation besteht aus freien Stücken auf Grundlage der Überzeugung, das das gewählte Miteinander dem gegenseitigen Vorteil dient, wie es sich im theoretischen Rahmen des »Kontraktualismus« wiederfindet (Stemmer 2013). Es steht also Interesse gegen Interesse (oder man könnte auch sagen Glückskonzept gegen Glückskonzept), und es muss sich zeigen, wie eine einvernehmliche Regelung – im Idealfall eine »win-win«-Lösung – aussehen kann. Philosophisch findet sich dies in der Diskursethik wieder, welche etwa vom im Mai diesen Jahres verstorbenen Philosophen Karl-Otto Apel beschrieben wurde.

Das Glück ist politisch

Wie kann die Aufmerksamkeit nun vom egozentrischen Glück der Selbstoptimierungsratgeber hin zu einem reflektierten Glück des aufgeklärten Hedonismus verlagert werden? Es gilt zunächst, den emanzipativen Aspekt des Glücksstrebens zu stärken und sich nicht mit einfachen Antworten und Rezepten zufriedenzugeben. Dazu gehört ein aufgeklärtes Verständnis des eigenen Wohlbefindens, etwa die stärkere Beschäftigung mit der eigenen Leiblichkeit, ebenso wie die Idee und Erfahrung der Gegenseitigkeit des Glücks. Dafür ist es notwendig, die philosophischen Betrachtungen vom Sollen und Wollen zu stärken und über jene Ansätze psychologischer Resilienz hinauszugehen, die das Glücksstreben der Individuen im bestehenden System stärken wollen, ohne dessen immanente Widersprüche zu erkennen. (Beispiele für solche »Glückssackgassen« sind der Glückscoach in Unternehmen, Stärkentrainings in Schulen, etc.). Glück ist zwar eine subjektive Kategorie, aber ein gemeinsames Gut und daher ein politisches Anliegen. Es bedarf einer Stärkung der diskursiven Elemente, d.h. die Frage nach dem guten Leben ist gemeinsam zu behandeln.

In den letzten Jahren haben sich erste konkrete Ansätze entwickelt, um gesellschaftliche Entwicklung über bestehende Wirtschaftsindikatoren hinaus zu messen, von Bhutans Konzept des »Bruttosozialglücks« bis hin zu Indikatorensets, wie dem Index für Lebensqualität in Deutschland. Zwei Beispielfelder seien hier genannt:

1. Studien zu Ungleichheit zeigen, dass gleichere Gesellschaften mehr individuelle Zufriedenheit und weniger gesellschaftliche Spannungen mit sich bringen (Wilkinson/Pickett 2010). Dies hat große Relevanz für zahlreiche innergesellschaftliche Konfliktfelder. Entsprechend wurde der Regierung des Libanon empfohlen, einen Glücksindex zu erstellen, um zur Konfliktreduktion beizutragen (Yones 1998).

2. In Hinsicht auf die Herausforderung einer ökologisch nachhaltigen Entwicklung ist der Bezug zu Glück ein wertvoller Beitrag zur Entwicklung von Konzepten einer Postwachstumsgesellschaft, anknüpfend etwa an die oben genannten alternativen Indikatorensets. Was den materiellen Wohlstand angeht, welcher zum subjektiven Wohlbefinden beiträgt, zeigt sich eine Art Sättigungspunkt. Wohlstand ist also nur bedingt mit Wohlbefinden gekoppelt (vgl. Skidelsky 2013). Dieser Ansatz birgt eine Perspektive in Hinsicht auf steigende Konfliktpotentiale um zunehmend beanspruchte natürliche Ressourcen.

Glücksbausteine als Friedensressourcen

Es ist just die Subjektivität des persönlichen Wohlbefindens, welche die friedliche Konfliktregelung erfordert und begründet. Damit die unterschiedlichen Vorstellungen vom guten Leben in bestmöglichen gesellschaftlichen Vereinbarungen berücksichtigt werden können, braucht es einen Rahmen für den Diskurs, nämlich Frieden. Frieden ist die Grundlage für ein glückliches Leben, so wie umgekehrt das Streben nach Glück die Grundlage für Frieden ist. Sie sind nicht zu trennen. „Wie es niemanden gibt, der sich nicht freuen wollte, gibt es auch niemanden, der keinen Frieden haben will.“ (Aurelius Augustinus, zitiert nach Hoffmann 2006, S. 355).

Glücklichsein bedarf vor allem des Freiraums, um Glück zu (er)leben. Glücklichsein ist die beste Prävention gegen Aggression und Gewalt, gegen den aktuell wieder aufkommenden »autoritären Charakter«, welcher sich aus der subtilen Unterdrückung des eigenen Glücks in einer Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft nährt. Nach dem Glück zu streben ist das legitime Ziel des Menschen; es ist verbunden mit Emanzipation und Aufklärung und daher die wichtigste Ressource für Frieden.

Literatur

Ahuvia, A.; Thin, N.; Haybron, D. M.; Biswas-Diener, R.; Ricard, M.; Timsit, J. (2015): Happiness – An interactionist perspective. International Journal of Wellbeing, Vol. 5, Nr. 1, S. 1-18.

Apel, K.O. (1990): Diskurs und Verantwortung – Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Cederström, C.; Spicer, A. (2016): Das Wellness-Syndrom – Die Glücksdoktrin und der perfekte Mensch. Berlin: Edition Taimat.

Csikszentmihalyi, M. (1992): Flow – Das Geheimnis des Glücks. Stuttgart: Klett-Cotta.

Diener, E.; Tov, W. (2007): Subjective Well-Being and Peace. Journal of Social Issues, Nr. 63, S. 421-440.

Frey, B.S. (2011): Peace, war, and happiness – Bruder Klaus as wellbeing facilitator. International Journal of Wellbeing, Vol 1, Nr. 2, S. 226-234.

Hoffmann, S. (2006): Aurelius Augustinus – Glück als Friede. Einführung. In: Spaeman, R.; Schweidler, W. (Hrsg.) (2006): Ethik. Lehr- und Lesebuch. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 354-357.

Höffe, O. (2007): Lebenskunst und Moral – Oder: Macht Tugend glücklich? München: Hirzel.

Kanitscheider, B. (2011): Das hedonistische Manifest. Stuttgart: Hirzel.

Onfray, M. (2008): Die reine Freude am Sein – Wie man ohne Gott glücklich wird. München: Piper.

Onfray, M. (1993): Philosophie der Extase. München: Piper.

Skidelsky, R.; Skidelsky, E. (2013): Wie viel ist genug? München: Kunstmann.

Stemmer, P. (2013): Begründen, Rechtfertigen und das Unterdrückungsverbot. Berlin/Boston: De Gruyter.

Wilkinson, R.; Pickett, K. (2010): Gleichheit ist Glück – Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Berlin: Haffmanns & Tolkemitt.

Yones, M. (1998): Subjective Well-being as Public Policy and Tool to Prevent Future Civil Conflicts. Management & Technology Consulting Group (MTCG).

Jochen Dallmer, Politikwissenschaftler, promoviert zur Zeit an der Universität Kassel zum Thema »Glück & Nachhaltigkeit« und ist zudem im Bildungsbereich aktiv.