Von der »Komplementarität« zum »gerechten Frieden«
Von der »Komplementarität« zum »gerechten Frieden«
Zur Entwicklung kirchlicher Friedensethik
von Ulrich Frey
Aus kirchenkritischer oder kirchendistanzierter Sicht mögen sich manche friedensethische Konzeptionen der christlichen Großkirchen ausnehmen wie legitimatorische Begleitmusik zum jeweils herrschenden sicherheitspolitischen Betrieb. Demnach wäre von dieser Seite auch kaum Erhellendes zu militärpolitischen Vorstellungen jüngeren Datums von zivil-militärischer Zusammenarbeit zu erwarten. Der Autor des folgenden Beitrags zeigt aber, dass diese Sicht zumindest in dieser Pauschalität ein Vorurteil ist. So erwiesen sich die Leitungsgremien der EKD als vergleichsweise offen für Impulse aus der Friedensbewegung, und mit der Leitidee des gerechten Friedens scheint sich eine grundsätzlich militärkritische friedensethische Konzeption durchzusetzen. Ihr Verhältnis zum politisch immer noch und wieder verstärkt bevorzugten »Friedenschaffen mit Waffen« bleibt dabei allerdings unterbestimmt. Auch konnte hier i.W. nur die Diskussion im protestantischen Raum nachgezeichnet werden.
Wie hat sich die friedensethische Sicht des Verhältnisses von zivilem und militärischem friedens- und sicherheitspolitischem Handeln entwickelt? Der Aufsatz versucht, den Wandel der friedensethischen Paradigmen und Prioritäten von der Zeit der atomaren Hochrüstung der 60er Jahre bis zur heutigen, so genannten zivil-militärischen Zusammenarbeit auf der nationalen Ebene in der weltweiten Perspektive zu skizzieren.
Nach dem 2. Weltkrieg: »Nie wieder Krieg!«
Die Charta der Vereinten Nationen (VN) von 1945 beginnt in der Präambel mit einer geradezu bekenntnishaften Positionsbestimmung: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat …“ Die Charta spricht deshalb in Artikel 2 Absatz 4 ein allgemeines völkerrechtliches Gewaltverbot aus. Ausnahmen sind lediglich in Artikel 51 und Artikel 42 vorgesehen. Die erste Weltkonferenz und Gründungsversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), die 1948 zu Beginn des Ost-West-Konfliktes in Amsterdam stattfand, stellte in vergleichbarer Weise fest: Die „herkömmliche Annahme, dass man für eine gerechte Sache einen gerechten Krieg mit rechten Waffen führen könne, ist unter solchen Umständen (sc. unter den Bedingungen des ‚modernen Krieges’) nicht mehr aufrecht zu erhalten.“ Der ÖRK bezeugte einmütig: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ (zit. nach Huber & Reuter, 1990, S. 161). Damit war auch für den Bereich des ÖRK Krieg grundsätzlich geächtet.
Komplementarität der Gewissensentscheidungen
Beide deutsche Staaten, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, waren ab 1954 mit begrenzter Souveränität fest in die konkurrierenden Militärbündnisse der Supermächte USA und Sowjetunion, die NATO und die Warschauer Vertragsorganisation, eingebunden.
In der Bundesrepublik lösten die Aufstellung der Bundeswehr ab 1954, ihre Aufrüstung und vor allem ihre mögliche Teilhabe an der atomaren Bewaffnung der NATO eine heftige innenpolitische Kontroverse aus. Sie spitzte sich in der Frage zu, die besonders die Militärseelsorge anging: Ist der Einsatz von atomaren Waffen vor dem Gewissen des Soldaten friedensethisch zu vertreten? Auf Anregung von Militärbischof D. Hermann Kunst wurde 1957 eine unabhängige wissenschaftliche Kommission seitens der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) eingesetzt, die 1959 die »Heidelberger Thesen« zur Frage gegensätzlicher Gewissensentscheidungen zum Dasein von Atomwaffen verabschiedete (Verfasser Carl Friedrich von Weizsäcker; vgl. Howe, 1959).
Die Heidelberger Thesen wurden zwar nie förmlich von einer evangelischen Kirche beschlossen, etablierten sich aber als Kompromissformulierungen im deutschen Protestantismus. Sie setzen mit einer allgemein gültigen Aussage der Vernunft (nicht der Theologie!) zum Überleben der Menschheit ein – „Der Weltfrieden wird zur Lebensbedingung des technischen Zeitalters.“ (These 1) –, betonen die Notwendigkeit, den Krieg abzuschaffen (These 3), und führen dann die Komplementaritätsformel ein: „Wir müssen versuchen, die verschiedenen im Dilemma der Atomwaffen getroffenen Gewissensentscheidungen als komplementäres Handeln zu verstehen.“ (These 6) und „Die Kirche muss den Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen.“ (These 8)
Die Überlebensbedingung des Weltfriedens und die Drohung mit Atomwaffen stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Das »Noch« deutet die Verpflichtung der Gewissen zur Überwindung der atomaren Bedrohung an. Darauf hatte sich die politische Dynamik zu richten. Dieses »Gefälle« machte den Kern der Auseinandersetzung aus. Die atomare Drohung sollte nur für eine Übergangszeit gelten. Atomwaffen wurden als politische Waffen zwecks Abschreckung verstanden. Die Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 1981 postulierte die weitere Gültigkeit von These 8 „in einem Rahmen…, in welchem alle politischen Anstrengungen darauf gerichtet sind, Kriegsursachen zu verringern, Möglichkeiten gewaltfreier Konfliktbewältigung auszubauen und wirksame Schritte zur Senkung des Rüstungsniveaus zu unternehmen“ (Kirchenkanzlei der EKD, 1981, S. 58).
Komplementarität von »Friedensdiensten«
Der Gedanke der Komplementarität wurde im Laufe der politischen und theologischen Auseinandersetzung von der Gewissensfrage auf das Verhältnis von Wehrdienst und Zivildienst und alternativer Optionen der Friedenspolitik übertragen. Kurz und knapp kam das in der beim Deutschen Evangelischen Kirchentag 1967 in Hannover geprägten Formel „Friedensdienst mit und ohne Waffen“ zum Ausdruck. Sie wurde nie als offizielle Position beschlossen, setzte sich aber informell gegen den Widerstand derjenigen durch, die das im »Noch« der 8. Heidelberger These verborgene Gefälle zur Überwindung des Abschreckungssystems erhalten und politisch nutzen wollten. Die Formel bezog sich auf die atomaren und die vergleichbar zerstörerischen konventionellen Waffensysteme, insbesondere bei »Anwendung« auf deutschem Boden. Sie löste heftige Debatten aus, vor allem zwischen der damaligen Militärseelsorge einerseits und den Friedensgruppen („Frieden schaffen ohne Waffen“) und Kriegsdienstverweigerern andererseits, weil sie aus dem geschichtlich-dynamischen »Noch« ein statisch-geschichtsneutrales, anthropologisch verstandenes Und gemacht und damit die Überwindung der atomaren Rüstung demotiviert hatte (vgl. Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr, 1990). Die Thesenreihe der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD zum »Friedensdienst der Christen« (1969) rückte noch einmal den Gewissensentscheid in den Vordergrund und forderte den Ausbau der Friedensdienste: „Wie sich der Christ im Falle eines atomaren Krieges im Widerstreit seines Gewissens zu verhalten hat, lässt sich mit der These von der Komplementarität nicht mehr sagen… Durch die Komplementaritätsthese können die daraus entstehenden psychischen Belastungen für die Streitkräfte, die Politiker und jeden Bürger, die letztlich mit der Vorläufigkeit und Gefährdetheit heutiger Friedensbemühungen zusammenhängen, nicht einfach aufgehoben, sie müssen vielmehr für verstärkte Friedensanstrengungen eingesetzt werden.“ (ebd., S. 22)
Gegen den „Friedensdienst mit und ohne Waffen“ arbeiteten Kriegsdienstverweigerer und ihre Unterstützer in den verfassten Kirchen (z.B. Moderamen des Reformierten Bundes, 1982) sowie die christlich motivierten Friedensdienste durch Einrichtung von sozialen Lern- und Friedensdiensten und Entwicklungsdiensten sowie der Initiative »Ohne Rüstung leben« als Folge des Aufrufes der Vollversammlung des ÖRK in Nairobi 1975 an die Kirchen, „ihre Bereitschaft (zu) betonen, ohne den Schutz von Waffen zu leben und bedeutsame Initiativen (zu) ergreifen, um auf eine wirksame Abrüstung zu drängen.“ (zit. nach Huber & Reuter, 1990, S. 165) Die Friedensbewegung trug durch ihren Widerstand gegen die Nachrüstung erheblich zur Überwindung des Denkens und politischen Agierens in den Kategorien des Antikommunismus und der Abschreckung bei. Sie unterstützte die Entspannungspolitik der KSZE und einer »gemeinsamen Sicherheit«. Zusammen mit den Bewegungen in den Niederlanden und in anderen europäischen Ländern vertrat sie im Rahmen eines gradualistischen Verständnisses von Abrüstung die Forderung, einseitige Abrüstungsschritte zu gehen.
Ganz anderes als in der Bundesrepublik – ohne Auseinandersetzung über Komplementarität – verlief die Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Kirchen in der DDR hatten sich in einer von der SED gelenkten Gesellschaft zu behaupten, die die Kirchen bekämpfte. Sie mussten deshalb auch ihre eigenständige christliche Friedens-Botschaft dem Staat gegenüber, der das Monopol für Friedenspolitik für sich beanspruchte, deutlich zum Ausdruck bringen. Einen Militärseelsorgevertrag gab es nicht. Im Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht von 1962 war Kriegsdienstverweigerung nicht zugelassen. Erst 1964 wurde die Möglichkeit eines waffenlosen Militärdienstes in Baueinheiten der Nationalen Volksarmee geschaffen. In ihrer Handreichung zur Seelsorge an Wehrpflichtigen nahm die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR erstmals selbständig Stellung zum Problem von Frieden und Sicherheit im Atomzeitalter. Dort heißt es zur Frage des Verhaltens von wehrpflichtigen Christen in der DDR: „Vielmehr geben die Verweigerer, die im Straflager für ihren Gehorsam mit persönlichem Freiheitsverlust leidend bezahlen, und auch die Bausoldaten, welche die Last nicht abreißender Gewissensfragen und Situationsentscheidungen übernehmen, ein deutlicheres Zeugnis des gegenwärtigen Friedensgebotes unseres Herrn. Aus ihrem Tun redet die Freiheit der Christen von den politischen Zwängen. Es bezeugt den wirklichen und wirksamen Friedensbund Gottes mitten unter uns.“ (Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, 1982, S. 244). Den Vorrang für einen nicht militärisch gesicherten Frieden dokumentierten die Kirchen in der DDR nicht nur in der Frage der Kriegsdienstverweigerung, sondern auch gegen die »Sozialistische Wehrerziehung« (1978) und in der Stationierungsdebatte (1982), als es um die Aufnäher der DDR-Friedensbewegung »Schwerter zu Pflugscharen« ging. Die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) beschloss 1983 die Absage an „Geist, Logik und Praxis der Abschreckung“, wie es im gleichen Jahre schon die Vollversammlung des ÖRK in Vancouver im Zusammenhang mit dem dort ausgerufenen Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung getan hatte. Unterstützt wurden die Kirchen in der DDR durch die Ökumene, insbesondere durch die Nederlandse Hervormde Kerk und durch den von den niederländischen Kirchen ins Leben gerufenen Zwischenkirchlichen Friedensrat.
Erst nachdem 1991 die Sowjetunion implodierte, war das Konstrukt der Komplementarität endgültig insoweit hinfällig, als die Strategie der nuklearen Abschreckung der beiden atomaren Supermächte USA und Sowjetunion betroffen war. Jetzt erst konnten die Kirchen in der Bundesrepublik und in der DDR eine gemeinsame Position zur nuklearen Abschreckung beziehen: Die Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD, in der nun auch Personen aus den ostdeutschen Kirchen mitarbeiteten, befand 1994 unter Bezug auf die neue Weltlage: „Heute kann und muss darum in der evangelischen Kirche die Verständigung darüber möglich sein, dass eine am Vorrang der politischen Friedensaufgabe orientierte Position, die die Existenz der nuklearen Abschreckung als Mittel auf dem Wege akzeptierte, und eine Position der Absage an die nukleare Abschreckung sich nicht überhaupt als unversöhnliche Gegensätze ausschließen, sondern – durchaus situationsbedingt – Ausdruck des Dilemmas waren, in das wir durch die Ausgestaltung der Ost-West-Konfrontation gestellt waren. Das Dilemma und der von ihm verursachte Dissens bestehen heute insofern noch fort, als auch nach dem Ende des Systems nuklearer Abschreckung Atomwaffen in großer Zahl vorhanden sind und sogar ihre Weiterentwicklung droht. Das Ziel der atomaren Abrüstung ist ethisch begründet und politisch sinnvoll… Auf jeden Fall muss auf die internationale Ächtung der Atomwaffen hingearbeitet werden.“ (Kirchenamt der EKD, 1994/2001, S. 13) Die »Komplementarität« des Dienstes mit konventionellen Waffen und der Friedensdienste blieb aber erhalten: „Eine ‚vorrangige Option für die Gewaltfreiheit’, die sich verantwortungsethisch versteht und sich darum zum Schutz von Gewaltopfern bekennt, und der Grenzfall des Einsatzes präventiv bereit gehaltener militärischer Gewalt schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sind notwenige Bestandteile einer auf der Herrschaft des Rechts gegründeten internationalen Friedensordnung. Die Kirche kann dementsprechend weder den Waffendienst noch den gewaltfreien Friedensdienst exklusiv vertreten.“ (ebd., S. 23; vgl. auch Kock, 2003).
Leitbild des gerechten Friedens
Das ökumenisch akzeptierte Leitbild des gerechten Friedens ist – nach einer langen Vorgeschichte – das Ergebnis des bei der Vollversammlung des ÖRK in Vancouver 1983 begonnenen weltweiten sog. konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Der konziliare Prozess sucht eine gewaltfreie bzw. gewaltarme Antwort auf die Frage, welche Ethik aus der Sackgasse der Rüstung, der Verelendung und der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen herausführen könne. In Vancouver brachte die Delegation des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR diese Idee ein. Der Beschluss ging dann von einer Koalition der Basis bei der Versammlung aus, nicht von Kirchenleitungen. Er wurde in der Folge auch von ökumenisch ausgerichteten Initiativen und Gruppen in die verfassten Kirchen – evangelisch und katholisch – hineingetragen, und in Deutschland und weltweit durch die Ökumenischen Versammlungen von 1984 bis 1997 in den verfassten Kirchen verankert.
Das neue Leitbild setzte in der Abkehr von der Komplementarität der Gewissensentscheidungen oder der »Friedensdienste« ein neues Paradigma: Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor. Die »prima ratio« hat auf staatlicher und gesellschaftlicher Seite der Einsatz von gewaltfreien Strategien, Mitteln und Methoden zu sein. Erstmals wurde damit ein »gerechter Friede« als Lehre und als Gegensatz zum »gerechten Krieg« ausdrücklich von der Ökumenischen Versammlung Dresden – Magdeburg – Dresden im Jahre 1989 noch vor der großen politischen Wende im Ost-West-Verhältnis gefordert: „Mit der notwendigen Überwindung der Institution des Krieges kommt auch die Lehre vom gerechten Krieg, durch welche die Kirchen den Krieg zu humanisieren hofften, an ein Ende. Daher muss schon jetzt eine Lehre vom gerechten Frieden entwickelt werden, die zugleich theologisch begründet und dialogoffen auf allgemein-menschliche Werte bezogen ist. Dies im Dialog mit Andersglaubenden und Nichtglaubenden zu erarbeiten, ist eine langfristige ökumenische Aufgabe der Kirchen.“ (Kirchenamt der EKD, 1991, S. 32) Die römisch-katholische Kirche mit dem Wort der Bischöfe »Gerechter Friede« (2000), der Zentralausschuss des Ökumenischen Rates in Potsdam 2001, die EKD 2001, viele kirchenleitende Voten sowie Erklärungen von Initiativen und Gruppen haben der Dresdener Forderung von 1989 zugestimmt.
Nimmt man die Inhalte dieser und anderer Quellen zusammen, so lässt sich die Botschaft des gerechten Friedens kurz so fassen:
- Der gerechte Friede kann nicht als die bloße Abwesenheit von Krieg verstanden werden, sondern als ein umfassendes konstruktives Programm zur Durchsetzung der vorrangigen Optionen zugunsten der Armen, der Gewaltfreiheit und der Förderung und des Schutzes des Lebens.
- Der gerechte Friede ist ein offener, geschichtlich-dynamischer Veränderungsprozess mit immer neuen Anstrengungen zur Verminderung oder gar Überwindung der sich wandelnden Ursachen von Unfrieden, welche sind: Not, Gewalt, Unfreiheit und destruktive Aggressivität aus Angst.
- Leitlinien dieses Prozesses sind weltweit geltende Normen und Werte wie Demokratie und Menschenrechte, sowie die Forderung nach einer Weltinnen- und Weltordnungspolitik.
- Das Leitbild des gerechten Friedens zielt darauf, kriegerischer Gewalt überhaupt die Legitimation zu entziehen, also das Kriegführen moralisch zu ächten, politisch überflüssig zu machen und von Rechts wegen zu verbieten. (vgl. Evangelische Kirche im Rheinland, 2005, S. 7)
Der zeitgeschichtliche Hintergrund ist die Erkenntnis auch der Militärs, dass militärische Einsätze im Falle z.B. innerstaatlicher Konflikte oder des Zerfalls von Staaten keine dauerhafte Lösung bringen. Die Diskussion, ob und unter welchen Voraussetzungen angesichts neuer Rahmenbedingungen nach welchen Kriterien im »Grenzfall« – als ultima ratio – dennoch militärische Gewalt eingesetzt werden darf, ist Gegenstand einer anhaltenden völkerrechtlichen, politologischen und theologischen Auseinandersetzung. Die Konzeption des gerechten Friedens ist nicht Leitbild im Sinne eines grundsätzlichen Pazifismus (vgl. Die deutschen Bischöfe, 2000, Ziff. 66, 124 und 181). Militärisches Eingreifen als Element eines Handelns in Richtung Frieden ist also nicht ausgeschlossen, aber eben kein friedensethisch gleichwertiges oder gar vorrangiges und in diesem Sinne kein »komplementäres« Element mehr. Das neue Leitbild hilft, die Koordinaten des außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Handelns neu zu bestimmen, die Menschenrechte als politisches Instrument zu schärfen und die zivile Bearbeitung von Konflikten zu entwickeln.
Der spürbare politische Trend bei den VN, der EU und auf der nationalen Ebene, militärische Elemente mit zivilen zu verbinden, erfordert eine kritische Diskussion über das Verständnis von »Sicherheit« im globalen Maßstab. Gegenwärtig dreht sich die Debatte um die Schnittstellen von zivilen und militärischen Einsätzen in der Perspektive der Stärkung von Demokratie und Menschenrechten. Sie resultiert aus zahlreichen militärischen Einsätzen innerhalb oder außerhalb der VN oder der EU vor dem Hintergrund sich wandelnder Bedrohungsvorstellungen. Grundsätzlich konkurriert ein auf entschränkte (eigene) »Verteidigung« abstellender Sicherheitsbegriff (NATO, verteidigungspolitische Richtlinien, Europäische Sicherheitsstrategie) mit dem begrenzenden UN-Konzept der »menschlichen Sicherheit«, das den Schutz von Menschen in den Mittelpunkt stellt. Die Debatte ist kontrovers insbesondere zur Frage, welche friedenspolitische Bedeutung die Einsätze des Militärs im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, der humanitären Hilfe und der Katastrophenhilfe haben. Zusätzliche aktuelle Bedrohungen des Friedens ergeben sich aus der Privatisierung von »Sicherheit« durch eine florierende »Sicherheitsindustrie« und aus der Proliferation von Atomwaffen. Abzuwarten bleibt, welche klärenden Aussagen die gegenwärtig in Arbeit befindliche neue Friedensdenkschrift der EKD machen wird, die den Leitbegriff des gerechten Friedens zum Mittelpunkt hat. Von Interesse ist auch, wie die Militärseelsorge beider Konfessionen ihren friedensethischen Bildungsauftrag im Verhältnis zur Führung der Bundeswehr (vgl. Löser, 2006) formuliert.
Literatur
Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste (Hrsg.) (1982): Christen im Streit um den Frieden. Dreisam, Freiburg.
Die deutschen Bischöfe (2000): Gerechter Friede. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn.
Evangelische Kirche im Rheinland (Hrsg.) (2005): Ein gerechter Friede ist möglich, Argumentationshilfe zur Friedensarbeit. Autor: Ulrich Frey. Landeskirchenamt, Düsseldorf. Verfügbar unter: http://www.ekir.de [Zugriff: 27.06.06].
Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr (Hrsg.) (1990): Streitkräfte im Wandel. Soldat – Schutzmann für den Frieden. Lutherisches Verlagshaus, Hannover.
Huber, Wolfgang & Reuter, Hans-Georg (1990): Friedensethik. Kohlhammer, Stuttgart.
Howe, Günther (1959): Atomzeitalter – Krieg und Frieden. Ullstein, Berlin.
Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD (Hrsg.) (1969): Friedensdienst der Christen. Mohn, Gütersloh.
Kirchenkanzlei der EKD (Hrsg.) (1981): Frieden wahren, fördern und erneuern. Mohn, Gütersloh.
Kirchenamt der EKD (Hrsg.) (1991): Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung Dresden – Magdeburg – Dresden. EKD-Texte 38. Herausgeber, Hannover.
Kirchenamt der EKD (Hrsg.) (1994/2001): Schritte auf dem Weg des Friedens. EKD-Texte 48. Herausgeber, Hannover.
Kirchenamt der EKD (Hrsg.) (2001): Friedensethik in der Bewährung. Eine Zwischenbilanz. EKD-Texte 48. Herausgeber, Hannover.
Kock, Manfred (2003). Friedensdienst als Auftrag für die verfasste Kirche und unabhängige christliche Friedensdienste. Ansprache zur Mitgliederversammlung der AGDF in Weisendorf (Erlangen), 26. Sept. 2003. Verfügbar unter: http://www.ekd.de/vortraege/kock/030926_kock_friedensdienst_html [Zugriff: 19.06.06].
Löser, Wolf-Dieter (2006): Ethische Grundsätze der Bundeswehr – besondere Bedeutung vor dem Hintergrund des neuen Aufgabenspektrums. Europäische Sicherheit, 55 (6). Verfügbar unter: http://www.europaeische-sicherheit.de [Zugriff: 14.08.06].
Moderamen des Reformierten Bundes (Hrsg.) (1982): Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche. Mohn, Gütersloh.
Zentralausschuss des ÖRK (2001): Der Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt: Ein ökumenischer ethischer Ansatz. epd-Dokumentation 8/01. Verfügbar unter: http://www.wcc-coe.org/wcc/who/cc2001/pi2rev-g.html [Zugriff: 14.08.06]
Ulrich Frey, Assessor iur., langjähriger Geschäftsführer der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF), Mitglied des Ausschusses für Außereuropäische Mission und Ökumene der Evangelischen Kirche im Rheinland