Von der »Komplementarität« zum »gerechten Frieden«

Von der »Komplementarität« zum »gerechten Frieden«

Zur Entwicklung kirchlicher Friedensethik

von Ulrich Frey

Aus kirchenkritischer oder kirchendistanzierter Sicht mögen sich manche friedensethische Konzeptionen der christlichen Großkirchen ausnehmen wie legitimatorische Begleitmusik zum jeweils herrschenden sicherheitspolitischen Betrieb. Demnach wäre von dieser Seite auch kaum Erhellendes zu militärpolitischen Vorstellungen jüngeren Datums von zivil-militärischer Zusammenarbeit zu erwarten. Der Autor des folgenden Beitrags zeigt aber, dass diese Sicht zumindest in dieser Pauschalität ein Vorurteil ist. So erwiesen sich die Leitungsgremien der EKD als vergleichsweise offen für Impulse aus der Friedensbewegung, und mit der Leitidee des gerechten Friedens scheint sich eine grundsätzlich militärkritische friedensethische Konzeption durchzusetzen. Ihr Verhältnis zum politisch immer noch und wieder verstärkt bevorzugten »Friedenschaffen mit Waffen« bleibt dabei allerdings unterbestimmt. Auch konnte hier i.W. nur die Diskussion im protestantischen Raum nachgezeichnet werden.

Wie hat sich die friedensethische Sicht des Verhältnisses von zivilem und militärischem friedens- und sicherheitspolitischem Handeln entwickelt? Der Aufsatz versucht, den Wandel der friedensethischen Paradigmen und Prioritäten von der Zeit der atomaren Hochrüstung der 60er Jahre bis zur heutigen, so genannten zivil-militärischen Zusammenarbeit auf der nationalen Ebene in der weltweiten Perspektive zu skizzieren.

Nach dem 2. Weltkrieg: »Nie wieder Krieg!«

Die Charta der Vereinten Nationen (VN) von 1945 beginnt in der Präambel mit einer geradezu bekenntnishaften Positionsbestimmung: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat …“ Die Charta spricht deshalb in Artikel 2 Absatz 4 ein allgemeines völkerrechtliches Gewaltverbot aus. Ausnahmen sind lediglich in Artikel 51 und Artikel 42 vorgesehen. Die erste Weltkonferenz und Gründungsversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), die 1948 zu Beginn des Ost-West-Konfliktes in Amsterdam stattfand, stellte in vergleichbarer Weise fest: Die „herkömmliche Annahme, dass man für eine gerechte Sache einen gerechten Krieg mit rechten Waffen führen könne, ist unter solchen Umständen (sc. unter den Bedingungen des ‚modernen Krieges’) nicht mehr aufrecht zu erhalten.“ Der ÖRK bezeugte einmütig: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ (zit. nach Huber & Reuter, 1990, S. 161). Damit war auch für den Bereich des ÖRK Krieg grundsätzlich geächtet.

Komplementarität der Gewissensentscheidungen

Beide deutsche Staaten, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, waren ab 1954 mit begrenzter Souveränität fest in die konkurrierenden Militärbündnisse der Supermächte USA und Sowjetunion, die NATO und die Warschauer Vertragsorganisation, eingebunden.

In der Bundesrepublik lösten die Aufstellung der Bundeswehr ab 1954, ihre Aufrüstung und vor allem ihre mögliche Teilhabe an der atomaren Bewaffnung der NATO eine heftige innenpolitische Kontroverse aus. Sie spitzte sich in der Frage zu, die besonders die Militärseelsorge anging: Ist der Einsatz von atomaren Waffen vor dem Gewissen des Soldaten friedensethisch zu vertreten? Auf Anregung von Militärbischof D. Hermann Kunst wurde 1957 eine unabhängige wissenschaftliche Kommission seitens der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) eingesetzt, die 1959 die »Heidelberger Thesen« zur Frage gegensätzlicher Gewissensentscheidungen zum Dasein von Atomwaffen verabschiedete (Verfasser Carl Friedrich von Weizsäcker; vgl. Howe, 1959).

Die Heidelberger Thesen wurden zwar nie förmlich von einer evangelischen Kirche beschlossen, etablierten sich aber als Kompromissformulierungen im deutschen Protestantismus. Sie setzen mit einer allgemein gültigen Aussage der Vernunft (nicht der Theologie!) zum Überleben der Menschheit ein – „Der Weltfrieden wird zur Lebensbedingung des technischen Zeitalters.“ (These 1) –, betonen die Notwendigkeit, den Krieg abzuschaffen (These 3), und führen dann die Komplementaritätsformel ein: „Wir müssen versuchen, die verschiedenen im Dilemma der Atomwaffen getroffenen Gewissensentscheidungen als komplementäres Handeln zu verstehen.“ (These 6) und „Die Kirche muss den Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen.“ (These 8)

Die Überlebensbedingung des Weltfriedens und die Drohung mit Atomwaffen stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Das »Noch« deutet die Verpflichtung der Gewissen zur Überwindung der atomaren Bedrohung an. Darauf hatte sich die politische Dynamik zu richten. Dieses »Gefälle« machte den Kern der Auseinandersetzung aus. Die atomare Drohung sollte nur für eine Übergangszeit gelten. Atomwaffen wurden als politische Waffen zwecks Abschreckung verstanden. Die Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 1981 postulierte die weitere Gültigkeit von These 8 „in einem Rahmen…, in welchem alle politischen Anstrengungen darauf gerichtet sind, Kriegsursachen zu verringern, Möglichkeiten gewaltfreier Konfliktbewältigung auszubauen und wirksame Schritte zur Senkung des Rüstungsniveaus zu unternehmen“ (Kirchenkanzlei der EKD, 1981, S. 58).

Komplementarität von »Friedensdiensten«

Der Gedanke der Komplementarität wurde im Laufe der politischen und theologischen Auseinandersetzung von der Gewissensfrage auf das Verhältnis von Wehrdienst und Zivildienst und alternativer Optionen der Friedenspolitik übertragen. Kurz und knapp kam das in der beim Deutschen Evangelischen Kirchentag 1967 in Hannover geprägten Formel „Friedensdienst mit und ohne Waffen“ zum Ausdruck. Sie wurde nie als offizielle Position beschlossen, setzte sich aber informell gegen den Widerstand derjenigen durch, die das im »Noch« der 8. Heidelberger These verborgene Gefälle zur Überwindung des Abschreckungssystems erhalten und politisch nutzen wollten. Die Formel bezog sich auf die atomaren und die vergleichbar zerstörerischen konventionellen Waffensysteme, insbesondere bei »Anwendung« auf deutschem Boden. Sie löste heftige Debatten aus, vor allem zwischen der damaligen Militärseelsorge einerseits und den Friedensgruppen („Frieden schaffen ohne Waffen“) und Kriegsdienstverweigerern andererseits, weil sie aus dem geschichtlich-dynamischen »Noch« ein statisch-geschichtsneutrales, anthropologisch verstandenes Und gemacht und damit die Überwindung der atomaren Rüstung demotiviert hatte (vgl. Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr, 1990). Die Thesenreihe der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD zum »Friedensdienst der Christen« (1969) rückte noch einmal den Gewissensentscheid in den Vordergrund und forderte den Ausbau der Friedensdienste: „Wie sich der Christ im Falle eines atomaren Krieges im Widerstreit seines Gewissens zu verhalten hat, lässt sich mit der These von der Komplementarität nicht mehr sagen… Durch die Komplementaritätsthese können die daraus entstehenden psychischen Belastungen für die Streitkräfte, die Politiker und jeden Bürger, die letztlich mit der Vorläufigkeit und Gefährdetheit heutiger Friedensbemühungen zusammenhängen, nicht einfach aufgehoben, sie müssen vielmehr für verstärkte Friedensanstrengungen eingesetzt werden.“ (ebd., S. 22)

Gegen den „Friedensdienst mit und ohne Waffen“ arbeiteten Kriegsdienstverweigerer und ihre Unterstützer in den verfassten Kirchen (z.B. Moderamen des Reformierten Bundes, 1982) sowie die christlich motivierten Friedensdienste durch Einrichtung von sozialen Lern- und Friedensdiensten und Entwicklungsdiensten sowie der Initiative »Ohne Rüstung leben« als Folge des Aufrufes der Vollversammlung des ÖRK in Nairobi 1975 an die Kirchen, „ihre Bereitschaft (zu) betonen, ohne den Schutz von Waffen zu leben und bedeutsame Initiativen (zu) ergreifen, um auf eine wirksame Abrüstung zu drängen.“ (zit. nach Huber & Reuter, 1990, S. 165) Die Friedensbewegung trug durch ihren Widerstand gegen die Nachrüstung erheblich zur Überwindung des Denkens und politischen Agierens in den Kategorien des Antikommunismus und der Abschreckung bei. Sie unterstützte die Entspannungspolitik der KSZE und einer »gemeinsamen Sicherheit«. Zusammen mit den Bewegungen in den Niederlanden und in anderen europäischen Ländern vertrat sie im Rahmen eines gradualistischen Verständnisses von Abrüstung die Forderung, einseitige Abrüstungsschritte zu gehen.

Ganz anderes als in der Bundesrepublik – ohne Auseinandersetzung über Komplementarität – verlief die Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Kirchen in der DDR hatten sich in einer von der SED gelenkten Gesellschaft zu behaupten, die die Kirchen bekämpfte. Sie mussten deshalb auch ihre eigenständige christliche Friedens-Botschaft dem Staat gegenüber, der das Monopol für Friedenspolitik für sich beanspruchte, deutlich zum Ausdruck bringen. Einen Militärseelsorgevertrag gab es nicht. Im Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht von 1962 war Kriegsdienstverweigerung nicht zugelassen. Erst 1964 wurde die Möglichkeit eines waffenlosen Militärdienstes in Baueinheiten der Nationalen Volksarmee geschaffen. In ihrer Handreichung zur Seelsorge an Wehrpflichtigen nahm die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR erstmals selbständig Stellung zum Problem von Frieden und Sicherheit im Atomzeitalter. Dort heißt es zur Frage des Verhaltens von wehrpflichtigen Christen in der DDR: „Vielmehr geben die Verweigerer, die im Straflager für ihren Gehorsam mit persönlichem Freiheitsverlust leidend bezahlen, und auch die Bausoldaten, welche die Last nicht abreißender Gewissensfragen und Situationsentscheidungen übernehmen, ein deutlicheres Zeugnis des gegenwärtigen Friedensgebotes unseres Herrn. Aus ihrem Tun redet die Freiheit der Christen von den politischen Zwängen. Es bezeugt den wirklichen und wirksamen Friedensbund Gottes mitten unter uns.“ (Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, 1982, S. 244). Den Vorrang für einen nicht militärisch gesicherten Frieden dokumentierten die Kirchen in der DDR nicht nur in der Frage der Kriegsdienstverweigerung, sondern auch gegen die »Sozialistische Wehrerziehung« (1978) und in der Stationierungsdebatte (1982), als es um die Aufnäher der DDR-Friedensbewegung »Schwerter zu Pflugscharen« ging. Die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) beschloss 1983 die Absage an „Geist, Logik und Praxis der Abschreckung“, wie es im gleichen Jahre schon die Vollversammlung des ÖRK in Vancouver im Zusammenhang mit dem dort ausgerufenen Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung getan hatte. Unterstützt wurden die Kirchen in der DDR durch die Ökumene, insbesondere durch die Nederlandse Hervormde Kerk und durch den von den niederländischen Kirchen ins Leben gerufenen Zwischenkirchlichen Friedensrat.

Erst nachdem 1991 die Sowjetunion implodierte, war das Konstrukt der Komplementarität endgültig insoweit hinfällig, als die Strategie der nuklearen Abschreckung der beiden atomaren Supermächte USA und Sowjetunion betroffen war. Jetzt erst konnten die Kirchen in der Bundesrepublik und in der DDR eine gemeinsame Position zur nuklearen Abschreckung beziehen: Die Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD, in der nun auch Personen aus den ostdeutschen Kirchen mitarbeiteten, befand 1994 unter Bezug auf die neue Weltlage: „Heute kann und muss darum in der evangelischen Kirche die Verständigung darüber möglich sein, dass eine am Vorrang der politischen Friedensaufgabe orientierte Position, die die Existenz der nuklearen Abschreckung als Mittel auf dem Wege akzeptierte, und eine Position der Absage an die nukleare Abschreckung sich nicht überhaupt als unversöhnliche Gegensätze ausschließen, sondern – durchaus situationsbedingt – Ausdruck des Dilemmas waren, in das wir durch die Ausgestaltung der Ost-West-Konfrontation gestellt waren. Das Dilemma und der von ihm verursachte Dissens bestehen heute insofern noch fort, als auch nach dem Ende des Systems nuklearer Abschreckung Atomwaffen in großer Zahl vorhanden sind und sogar ihre Weiterentwicklung droht. Das Ziel der atomaren Abrüstung ist ethisch begründet und politisch sinnvoll… Auf jeden Fall muss auf die internationale Ächtung der Atomwaffen hingearbeitet werden.“ (Kirchenamt der EKD, 1994/2001, S. 13) Die »Komplementarität« des Dienstes mit konventionellen Waffen und der Friedensdienste blieb aber erhalten: „Eine ‚vorrangige Option für die Gewaltfreiheit’, die sich verantwortungsethisch versteht und sich darum zum Schutz von Gewaltopfern bekennt, und der Grenzfall des Einsatzes präventiv bereit gehaltener militärischer Gewalt schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sind notwenige Bestandteile einer auf der Herrschaft des Rechts gegründeten internationalen Friedensordnung. Die Kirche kann dementsprechend weder den Waffendienst noch den gewaltfreien Friedensdienst exklusiv vertreten.“ (ebd., S. 23; vgl. auch Kock, 2003).

Leitbild des gerechten Friedens

Das ökumenisch akzeptierte Leitbild des gerechten Friedens ist – nach einer langen Vorgeschichte – das Ergebnis des bei der Vollversammlung des ÖRK in Vancouver 1983 begonnenen weltweiten sog. konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Der konziliare Prozess sucht eine gewaltfreie bzw. gewaltarme Antwort auf die Frage, welche Ethik aus der Sackgasse der Rüstung, der Verelendung und der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen herausführen könne. In Vancouver brachte die Delegation des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR diese Idee ein. Der Beschluss ging dann von einer Koalition der Basis bei der Versammlung aus, nicht von Kirchenleitungen. Er wurde in der Folge auch von ökumenisch ausgerichteten Initiativen und Gruppen in die verfassten Kirchen – evangelisch und katholisch – hineingetragen, und in Deutschland und weltweit durch die Ökumenischen Versammlungen von 1984 bis 1997 in den verfassten Kirchen verankert.

Das neue Leitbild setzte in der Abkehr von der Komplementarität der Gewissensentscheidungen oder der »Friedensdienste« ein neues Paradigma: Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor. Die »prima ratio« hat auf staatlicher und gesellschaftlicher Seite der Einsatz von gewaltfreien Strategien, Mitteln und Methoden zu sein. Erstmals wurde damit ein »gerechter Friede« als Lehre und als Gegensatz zum »gerechten Krieg« ausdrücklich von der Ökumenischen Versammlung Dresden – Magdeburg – Dresden im Jahre 1989 noch vor der großen politischen Wende im Ost-West-Verhältnis gefordert: „Mit der notwendigen Überwindung der Institution des Krieges kommt auch die Lehre vom gerechten Krieg, durch welche die Kirchen den Krieg zu humanisieren hofften, an ein Ende. Daher muss schon jetzt eine Lehre vom gerechten Frieden entwickelt werden, die zugleich theologisch begründet und dialogoffen auf allgemein-menschliche Werte bezogen ist. Dies im Dialog mit Andersglaubenden und Nichtglaubenden zu erarbeiten, ist eine langfristige ökumenische Aufgabe der Kirchen.“ (Kirchenamt der EKD, 1991, S. 32) Die römisch-katholische Kirche mit dem Wort der Bischöfe »Gerechter Friede« (2000), der Zentralausschuss des Ökumenischen Rates in Potsdam 2001, die EKD 2001, viele kirchenleitende Voten sowie Erklärungen von Initiativen und Gruppen haben der Dresdener Forderung von 1989 zugestimmt.

Nimmt man die Inhalte dieser und anderer Quellen zusammen, so lässt sich die Botschaft des gerechten Friedens kurz so fassen:

  • Der gerechte Friede kann nicht als die bloße Abwesenheit von Krieg verstanden werden, sondern als ein umfassendes konstruktives Programm zur Durchsetzung der vorrangigen Optionen zugunsten der Armen, der Gewaltfreiheit und der Förderung und des Schutzes des Lebens.
  • Der gerechte Friede ist ein offener, geschichtlich-dynamischer Veränderungsprozess mit immer neuen Anstrengungen zur Verminderung oder gar Überwindung der sich wandelnden Ursachen von Unfrieden, welche sind: Not, Gewalt, Unfreiheit und destruktive Aggressivität aus Angst.
  • Leitlinien dieses Prozesses sind weltweit geltende Normen und Werte wie Demokratie und Menschenrechte, sowie die Forderung nach einer Weltinnen- und Weltordnungspolitik.
  • Das Leitbild des gerechten Friedens zielt darauf, kriegerischer Gewalt überhaupt die Legitimation zu entziehen, also das Kriegführen moralisch zu ächten, politisch überflüssig zu machen und von Rechts wegen zu verbieten. (vgl. Evangelische Kirche im Rheinland, 2005, S. 7)

Der zeitgeschichtliche Hintergrund ist die Erkenntnis auch der Militärs, dass militärische Einsätze im Falle z.B. innerstaatlicher Konflikte oder des Zerfalls von Staaten keine dauerhafte Lösung bringen. Die Diskussion, ob und unter welchen Voraussetzungen angesichts neuer Rahmenbedingungen nach welchen Kriterien im »Grenzfall« – als ultima ratio – dennoch militärische Gewalt eingesetzt werden darf, ist Gegenstand einer anhaltenden völkerrechtlichen, politologischen und theologischen Auseinandersetzung. Die Konzeption des gerechten Friedens ist nicht Leitbild im Sinne eines grundsätzlichen Pazifismus (vgl. Die deutschen Bischöfe, 2000, Ziff. 66, 124 und 181). Militärisches Eingreifen als Element eines Handelns in Richtung Frieden ist also nicht ausgeschlossen, aber eben kein friedensethisch gleichwertiges oder gar vorrangiges und in diesem Sinne kein »komplementäres« Element mehr. Das neue Leitbild hilft, die Koordinaten des außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Handelns neu zu bestimmen, die Menschenrechte als politisches Instrument zu schärfen und die zivile Bearbeitung von Konflikten zu entwickeln.

Der spürbare politische Trend bei den VN, der EU und auf der nationalen Ebene, militärische Elemente mit zivilen zu verbinden, erfordert eine kritische Diskussion über das Verständnis von »Sicherheit« im globalen Maßstab. Gegenwärtig dreht sich die Debatte um die Schnittstellen von zivilen und militärischen Einsätzen in der Perspektive der Stärkung von Demokratie und Menschenrechten. Sie resultiert aus zahlreichen militärischen Einsätzen innerhalb oder außerhalb der VN oder der EU vor dem Hintergrund sich wandelnder Bedrohungsvorstellungen. Grundsätzlich konkurriert ein auf entschränkte (eigene) »Verteidigung« abstellender Sicherheitsbegriff (NATO, verteidigungspolitische Richtlinien, Europäische Sicherheitsstrategie) mit dem begrenzenden UN-Konzept der »menschlichen Sicherheit«, das den Schutz von Menschen in den Mittelpunkt stellt. Die Debatte ist kontrovers insbesondere zur Frage, welche friedenspolitische Bedeutung die Einsätze des Militärs im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, der humanitären Hilfe und der Katastrophenhilfe haben. Zusätzliche aktuelle Bedrohungen des Friedens ergeben sich aus der Privatisierung von »Sicherheit« durch eine florierende »Sicherheitsindustrie« und aus der Proliferation von Atomwaffen. Abzuwarten bleibt, welche klärenden Aussagen die gegenwärtig in Arbeit befindliche neue Friedensdenkschrift der EKD machen wird, die den Leitbegriff des gerechten Friedens zum Mittelpunkt hat. Von Interesse ist auch, wie die Militärseelsorge beider Konfessionen ihren friedensethischen Bildungsauftrag im Verhältnis zur Führung der Bundeswehr (vgl. Löser, 2006) formuliert.

Literatur

Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste (Hrsg.) (1982): Christen im Streit um den Frieden. Dreisam, Freiburg.

Die deutschen Bischöfe (2000): Gerechter Friede. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn.

Evangelische Kirche im Rheinland (Hrsg.) (2005): Ein gerechter Friede ist möglich, Argumentationshilfe zur Friedensarbeit. Autor: Ulrich Frey. Landeskirchenamt, Düsseldorf. Verfügbar unter: http://www.ekir.de [Zugriff: 27.06.06].

Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr (Hrsg.) (1990): Streitkräfte im Wandel. Soldat – Schutzmann für den Frieden. Lutherisches Verlagshaus, Hannover.

Huber, Wolfgang & Reuter, Hans-Georg (1990): Friedensethik. Kohlhammer, Stuttgart.

Howe, Günther (1959): Atomzeitalter – Krieg und Frieden. Ullstein, Berlin.

Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD (Hrsg.) (1969): Friedensdienst der Christen. Mohn, Gütersloh.

Kirchenkanzlei der EKD (Hrsg.) (1981): Frieden wahren, fördern und erneuern. Mohn, Gütersloh.

Kirchenamt der EKD (Hrsg.) (1991): Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung Dresden – Magdeburg – Dresden. EKD-Texte 38. Herausgeber, Hannover.

Kirchenamt der EKD (Hrsg.) (1994/2001): Schritte auf dem Weg des Friedens. EKD-Texte 48. Herausgeber, Hannover.

Kirchenamt der EKD (Hrsg.) (2001): Friedensethik in der Bewährung. Eine Zwischenbilanz. EKD-Texte 48. Herausgeber, Hannover.

Kock, Manfred (2003). Friedensdienst als Auftrag für die verfasste Kirche und unabhängige christliche Friedensdienste. Ansprache zur Mitgliederversammlung der AGDF in Weisendorf (Erlangen), 26. Sept. 2003. Verfügbar unter: http://www.ekd.de/vortraege/kock/030926_kock_friedensdienst_html [Zugriff: 19.06.06].

Löser, Wolf-Dieter (2006): Ethische Grundsätze der Bundeswehr – besondere Bedeutung vor dem Hintergrund des neuen Aufgabenspektrums. Europäische Sicherheit, 55 (6). Verfügbar unter: http://www.europaeische-sicherheit.de [Zugriff: 14.08.06].

Moderamen des Reformierten Bundes (Hrsg.) (1982): Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche. Mohn, Gütersloh.

Zentralausschuss des ÖRK (2001): Der Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt: Ein ökumenischer ethischer Ansatz. epd-Dokumentation 8/01. Verfügbar unter: http://www.wcc-coe.org/wcc/who/cc2001/pi2rev-g.html [Zugriff: 14.08.06]

Ulrich Frey, Assessor iur., langjähriger Geschäftsführer der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF), Mitglied des Ausschusses für Außereuropäische Mission und Ökumene der Evangelischen Kirche im Rheinland

Weltfrieden durch ein Weltethos?

Weltfrieden durch ein Weltethos?

Frieden mit friedlichen Mitteln!

von Albert Fuchs

Dem friedensethisch und friedenspolitisch motivierten »Projekt Weltethos« des Tübinger Theologen Hans Küng liegt ein vergleichsweise einfaches Rationale zugrunde: Durch interkulturellen und interreligiösen Dialog zu einem globalen Ethos, durch ein globales Ethos zu Religionsfrieden und durch Religionsfrieden zum Weltfrieden. Diese Vereinfachung des Zusammenhangs zwischen Weltethos und Weltfrieden muss u.a. im Hinblick auf die eingeschränkte Konflikt-Relevanz religiöser Differenzen korrigiert werden. Dann erscheint eine strikt dialogische Orientierung bei kollektiven Auseinandersetzungen unterschiedlicher Art als Kern eines friedensförderlichen Weltethos. Eine solche Orientierung impliziert im Besonderen – anders als anscheinend von den Promotoren der Weltethos-Idee gesehen – den prinzipiellen und konsequenten Verzicht auf (die Androhung und Anwendung von) Gewalt.

Friedenswissenschaft und Friedenspsychologie sind in vielfacher Hinsicht auf moralische und ethische Fragen bezogen. Vor allem bilden Gerechtigkeits- und Reziprozitätsvorstellungen i.d.R. den Kern von Konfliktkonstellationen. Andererseits sind solche Konstellationen das Hauptanwendungsfeld ethischer Prinzipien und Normen und der Verfall des kognitiv-moralischen Funktionsniveaus der Kontrahenten gilt als adäquater Indikator der Konflikteskalation (z.B. Glasl, 1980 – zit. nach Eckert & Willems, 1992). Insofern liegt es nahe, die Stärkung des moralischen Bewusstseins als prophylaktische Maßnahme gegen destruktive Eskalationsprozesse zu betrachten und zu propagieren.

Dem von dem Tübinger Theologen Hans Küng zu Beginn der 1990er Jahre initiierten und seither breit diskutierten »Projekt Weltethos« (Küng, 1990/2003; Küng & Kuschel, 1993a ; vgl. Hasselmann, 2001) scheint genau dieses Rationale zugrunde zu liegen. Jedenfalls schreiben ihm seine Promotoren weit reichende friedenspolitische Bedeutung zu. Das kommt prägnant in drei viel zitierten Thesen Küngs zum Ausdruck: „Kein Überleben ohne Weltethos. Kein Weltfriede ohne Religionsfriede. Kein Religionsfriede ohne Religionsdialog.“ (Küng, 2003, S. 13 und passim). Bisweilen wird diese Bedeutungszuschreibung nochmals gesteigert, indem einschlägige Konzepte im Sinne hinreichender Bedingungen aufeinander bezogen werden, z.B.: „Weltfrieden durch Religionsfrieden“ (Küng & Kuschel, 1993b).

Mein Punkt ist genau dieser Bedeutungsanspruch. Ich möchte der Frage nachgehen, unter welchen Bedingungen ein globales Ethos plausiblerweise Religionsfrieden befördern und Religionsfrieden seinerseits zum Weltfrieden beitragen kann. Im Besonderen geht es mir um die Frage, wie ernst die substanzielle Weltethos-Komponente „Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben“ (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 29; s.u.) zu nehmen ist, wenn dieses Ethos die behauptete Bedeutung haben soll.

In der »Erklärung zum Weltethos« (Parlament der Weltreligionen, 1993) wird ausdrücklich „ein konsensfähiger mittlerer Wegzwischen einer›Realpolitik‹ der Gewalt zur Konfliktlösung und einem unrealistischen unbedingten Pazifismus“ (Küng, 1993a, S. 77f.) eingeschlagen. Dagegen läuft die im Untertitel angedeutete Antwort auf diese Frage auf einen »Gandhismus« ziemlich pur hinaus. Entsprechend dem Motto „Der Weg ist das Ziel“, möchte ich begründen, dass die Antwort lauten muss: „Frieden mit friedlichen Mitteln!“ Zunächst ist jedoch die Küngsche Konzeption näher zu erläutern.

Grundzüge der Weltethos-Konzeption

Die Erklärung zum Weltethos ist Ergebnis eines mehrjährigen interreligiösen Dialogs. Am Beginn stand ein Grundlagenreferat Hans Küngs zu einem von der UNESCO in Paris im Frühjahr 1989 ausgerichteten Symposium zum Thema »Pas de paix entre les nations sans paix entre les religions« (Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden). Verschiedene Zwischenschritte, unter Einbezug von mehr als hundert Experten aus allen größeren Religionen in den Konsultationsprozess, führten schließlich zur Annahme der Erklärung durch das »Zweite Parlament der Weltreligionen« in Chicago 1993 (Hasselmann, 2001; Küng, 1993a).1 Entsprechend diesem Verfahren der historisch-interpretativen Auswertung der ethischen Traditionen diverser Religionen ist die »Erklärung zum Weltethos« zunächst eine interreligiöse Proklamation eines Grundkonsenses „bezüglich verbindender Werte, unverrückbarer Maßstäbe und moralischer Grundhaltungen“ (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 20). Insbesondere in Vorwegnahme eines „Einspruch(s) der Buddhisten“ wurde jedoch von vornherein auf jede Erwähnung Gottes verzichtet (Küng, 1993a, S. 69ff.). Die Erklärung appelliert an „alle Menschen, ob religiös oder nicht“, sich diesen Grundkonsens zu eigen zu machen (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 42).

Der fragliche Konsens erfordert eine Unterscheidung von elementarem und kulturell differentem Ethos. Er bezieht sich nur auf die elementaren ethischen Grundlagen menschlichen Zusammenlebens und gemeinsamen Handelns, soll also keinen ethischen Total-, sondern einen Minimalkonsens darstellen. Mengentheoretisch gesprochen geht es um die Schnittmenge der ethischen Gehalte unterschiedlicher (religiöser) Traditionen. Inhaltlich wird diese Schnittmenge zunächst in sehr allgemeiner Weise gekennzeichnet. Einerseits kommt sie in der »Grundforderung« zum Ausdruck, jeden Menschen „menschlich“ zu behandeln, seine „unveräußerliche und unantastbare Würde“ zu respektieren, ihn „immer Rechtssubjekt und Ziel, nie bloßes Mittel“ sein zu lassen (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 26f.). Anderseits gilt die in vielen ethischen und religiösen Traditionen nachweisbare »Goldene Regel« als eine adäquate Formulierung dieser Grundforderung. Diese Regel fordert bekanntlich die wechselseitige Respektierung der Bedürfnisse und Interessen der Interaktionspartner.

Die Plausibilität dieser allgemeinen Formeln erleichtert den Konsens über ihre Orientierungsfunktion für moralisierbares Handeln. Ihre Allgemeinheit lässt jedoch auch kulturell, gesellschaftlich und individuell differente Lesarten zu und erschwert damit wechselseitig verbindliche Beurteilungen und Orientierungen in bestimmten Problemsituationen. Eine Konkretisierung der Grundforderung mit Bezug auf wichtige Sektoren der menschlichen Lebenswelt ist unabdingbar. Sie wird in einem ersten Schritt erreicht durch vier »unverrückbare Weisungen«. Diese Weisungen verpflichten auf eine Kultur

  • „der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben“,
  • „der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung“,
  • „der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit“ und
  • „der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau“ (Parlament der Religionen, 1993, S. 29-40).

Diese inhaltlichen Konkretisierungen eines auf „das Wohl und die Würde des Menschen als Grundprinzip und Handlungsziel“ (Küng, 2003, S. 81) ausgerichteten Weltethos gelten einerseits als Garanten der „unverletzliche(n) Würde und unveräußerliche(n) Rechte“ jedes Einzelnen (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 41). Sie sollen andererseits erlauben, der „unabweisbare(n) Verantwortung für das, was (man) tut und nicht tut“ zu entsprechen (ebd.) und der „planetarischen Verantwortung der Weltgesellschaft für ihre eigene Zukunft“ gerecht zu werden (Küng, 2003, S. 51f.).

In der transkulturellen Verbreitung der »Goldenen Regel« sieht Küng (1993a) einen eindrucksvollen Beleg dafür „dass das gemeinsame Weltethos der Religionen keine Neuerfindung, sondern nur eine Neuentdeckung ist.“ (S. 81f.) Darüber hinaus wird ausdrücklich „weder eine Weltideologie, noch eine einheitliche Weltreligion jenseits aller bestehenden Religionen noch eine Mischung aus allen Religionen“ bezweckt (Küng & Kuschel, 1993a, S. 9). Was soll dann aber eigentlich, mag man fragen, ein »Projekt Weltethos«? Hat das nicht zur Voraussetzung, dass noch kein globales Ethos existiert? Wenn aber kein globales Ethos existiert, kann auch kein »Projekt Weltethos« eins herbeizaubern. Ist also ein solches Projekt nicht in jedem Fall überflüssig? Obwohl die Weltethos-Erklärung sich diesen Fragen nicht ausdrücklich stellt, sind einige Antworten darauf angedeutet.

  • So wird ein „Wandel des Bewußtseins beim Einzelnen und der Öffentlichkeit“ avisiert (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 41). Offensichtlich geht es um nichts Geringeres als um die Entstehung einer neuen kollektiven Identität durch Verwandlung einer distributiven Gemeinsamkeit (gleiches elementares Ethos) in eine kollektive Gemeinsamkeit (geteiltes elementares Ethos), um die Konstituierung eines »moralischen Wir«. Das würde bedeuten, dass dieses Ethos derart selbstverständlich ist, dass jeder von seiner Existenz und Wirksamkeit beim andern über alle kulturellen und religiösen Differenzen hinweg ausgeht und darüber hinaus annimmt, dass der andere ihm Gleiches unterstellt.
  • Von einem Projekt zu reden, macht zweitens insofern Sinn, als „für viele umstrittene ethische Einzelfragen“ und „in vielen Lebensbereichen“ und „für möglichst viele Berufsklassen“ im Geiste des Grundkonsenses „sachgerechte Lösungen“ erst noch zu finden wären (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 41f.).
  • Drittens kommt es letztlich auf die Lebenspraxis an, d.h. auf die effektive Entwicklung „sozialverträgliche(r), friedensfördernde(r) und naturfreundliche(r) Lebensformen“ (ebd., S. 42).
  • Aus kritisch-philosophischer Sicht ist viertens zu ergänzen, dass Küngs Ansatz, so vorrangig zunächst der historisch-empirische Aufweis allgemeingültiger und konsensfähiger normativer Prinzipien sein mag, doch um die Erörterung von reflexiven Begründungsfragen nicht herumkommt (Fahrenbach, 2001).

Dem Küngschen Projekt liegt demnach eine Unterscheidung von potenziellem (implizitem) und aktualisiertem (explizitem) Weltethos zugrunde, von Weltethos und Weltethos*. Klar scheint im Hinblick auf die vorgenannten Dimensionen auch zu sein, dass diese Aktualisie rung immer nur annäherungsweise erfolgen kann, die Weltethos*-Idee also eine Leitidee bleiben muss. Die besondere friedenspolitische Bedeutung wird dem Aktualisierungsprozess bzw. dessen (Zwischen-) Ergebnissen zugeschrieben, also dem wie auch immer vorläufigen Weltethos*. Wichtig ist im Zusammenhang meiner Leitfrage (s.o.) vor allem, dass die Aktualisierung nur strikt dialogisch erfolgen kann, d.h.

  • in wechselseitig symmetrischer Anerkennung der Teilnehmer,
  • unter konsequentem Verzicht auf Zwangsmacht und Gewalt und
  • vor dem Hintergrund des regulativ unterstellten Grundkonsenses über die »Goldene Regel« o.Ä.

Insbesondere würde der Einschluss von Zwangsmacht oder Gewalt auf einen Widerspruch zu diesem Bezugspunkt und damit auch auf einen pragmatischen Selbstwiderspruch hinauslaufen.

Religionsfrieden via Weltethos*?

Die erläuterte Aktualisierung des Weltethos setzt im Hinblick auf die Zuständigkeit bzw. auf den Zuständigkeitsanspruch der Religionen für Fragen der Moral und Ethik zwar interreligiös an, dreht sich aber nicht um religiöse Fragen oder Religionsfrieden i.e.S. Was aber könnte das Weltethos* leisten, wenn es genau darum geht?

Zur Präzisierung dieser Frage ist zunächst daran zu erinnern, dass religiöse Systeme facettenreiche, mehrdimensionale Gebilde darstellen. So unterscheidet der Soziologe Glock (1969) auf religionsvergleichender Basis fünf grundlegende Ausdrucksformen oder Kerndimensionen von Religiosität: Religiöse Erfahrung, Ideologie, Ritus, Wissen und säkulare Konsequenzen. Dieser mehrdimensionale Bezugsrahmen hat sich inzwischen in zahlreichen empirischen Studien zur religiösen Orientierung bewährt (vgl. Huber, 1996). Trotz der augenscheinlich unterschiedlichen Gewichtung der einzelnen Dimensionen in verschiedenen Religionen kann daher seine generelle Relevanz unterstellt werden.

In unserem Zusammenhang erfordert die ideologische Dimension besondere Aufmerksamkeit. Mit dieser Dimension wird dem Umstand Rechnung getragen, dass jede Religion bestimmte Glaubensaussagen beinhaltet bzw. jeder religiöse Mensch sich zu bestimmten Glaubensaussagen bekennt. Das aber bedingt einen strukturellen Konflikt: Der Ausschließlichkeit des jeweiligen (absoluten) Wahrheits- und (universellen) Geltungsanspruchs steht der Pluralismus der religös-weltanschaulichen Deutungsangebote entgegen (Lütterfelds, 2001). Zur Entschärfung dieses Konflikts und damit zur Erreichung von Religionsfrieden via Weltethos* stellt Küng (z.B. 1993b) – unverkennbar in der Tradition von Lessings (1779) Nathan der Weise – auf die „Grundnorm echter Menschlichkeit“ als Wahrheitskriterium ab: „Nach dieser Grundnormlassen sich gut und böse, wahr und falsch unterscheiden, lässt sich auch unterscheiden, was in der einzelnen Religion grundsätzlich gut und böse, was wahr und was falsch ist.“ (ebd., S. 38)

Dieser Weg zu Religionsfrieden via Weltethos* kann jedoch nicht recht überzeugen. Zum einen dürfte eine solche Hierarchisierung der religiösen Ausdrucksformen selbst strittig sein. Zum anderen sind Wahrheit und Geltung einer Weltdeutung nicht Angelegenheit ihres ethischen Gehalts und erst recht nicht Funktion der Moralität ihrer Anhänger. Vor allem aber läuft diese »Lösung« inhaltlich-sachlicher Konflikte aufgrund der konkurrierenden Wahrheits- und Geltungsansprüche auf eine Nichtannahme der wechselseitigen Herausforderungen hinaus und damit auf eine Verleugnung des strukturellen Konflikts.

Andererseits existieren Wahrheit und Geltung nur in Form individueller und kollektiver Praxis des Für-wahr-Haltens und Geltend-Machens. Als soziales Verhalten unterliegt diese Praxis (auch) moralischen Kriterien. Damit kommt das Weltethos* nun doch als Grundlage eines ökumenischen (interreligiösen) Dialogs ins Spiel. Religionsfrieden kann es aber nur insoweit befördern, als es insbesondere lebenspraktisch aktualisiert wird (s.o.) und auf diese Weise den Konflikt der Überzeugungen und Bekenntnisse entschärft (Lütterfelds, 2001). In der Geschichte der Christenheit jedenfalls führten intensive Religionsgespräche, trotz des (bewussten) gemeinchristlichen Ethos, wiederholt zu blutigen Kriegen. Man wird also an einen friedensförderlichen interreligiösen Dialog i.e.S. grundsätzlich die gleichen Anforderungen stel len müssen wie an den Dialog zur Erarbeitung des Weltethos*:

  • wechselseitig symmetrische Anerkennung der Teilnehmer,
  • konsequenter Verzicht auf Zwangsmacht und Gewalt und wohl auch
  • Orientierung an der regulativen Idee einer Konvergenz der religiösen Wahrheit(en).

Weltfrieden durch Religionsfrieden?

Vor Erörterung dieser Frage ist eine Anmerkung zur Begrifflichkeit angebracht: Der Ausdruck »Weltfrieden« steht in diesem Zusammenhang offensichtlich nicht für den Oberbegriff zu den Begriffen Religionsfrieden und politischer Frieden. Denn dann ergäbe sich rein begriffslogisch, dass Religionsfrieden Weltfrieden impliziert. Soll es aber um ein empirisches Verhältnis gehen, muss mit »Weltfrieden« der politische Frieden gemeint sein. Ob ein in der geschilderten Weise gestifteter oder gewahrter Religionsfrieden zum Weltfrieden in diesem engeren Sinn beizutragen vermag, hängt aber davon ab, welche Rolle die Religion in »weltlichen« Konflikten spielt. In Zeiten eines weltweiten, fundamentalistisch (islamistisch) inspirierten Terrorismus und entsprechend fundamentalistischer Staatsterrorismen scheint auf den ersten Blick außer Frage zu stehen, dass Religionen einen wesentlichen Einfluss auf das Konfliktgeschehen ausüben. Nach Hasenclever & Rittberger (2000; Rittberger & Hasenclever, 2001) ist jedoch die wissenschaftliche Analyse keineswegs eindeutig; drei Sichtweisen konkurrieren um eine überzeugende Deutung der schwierigen Beziehung zwischen Religion und kriegerischer Gewalt.

In der sog. primordialistischen Perspektive stellen kulturell-religiöse Gegensätze als Konflikthintergrund oder Konfliktgegenstand originäre Ursachen gewaltförmiger Konfliktaustragung innerhalb von und zwischen Gesellschaften dar. Eine zeitgeschichtlich akzentuierende Version des primordialistischen Ansatzes ist Huntingtons (1993) viel diskutierte These von einem »Kampf der Kulturen« (clash of civilizations). Danach ist der Wandel der Weltpolitik nach Überwindung der Ost-West-Konfrontation i.W. als Neuausrichtung der Menschen und Völker nach indentitätsstiftenden religiös-kulturellen Deutungssystemen zu verstehen. Diese Neuausrichtung soll zu dramatischen Homogenisierungs- und Polarisierungsprozessen geführt haben oder führen, die mit gewaltförmigen Konflikten einhergehen.

Würde die primordialistische Sicht die Sachlage adäquat erfassen, hätte interreligiöser Frieden natürlich eine enorme unmittelbare Bedeutung für die inner- und zwischengesellschaftliche Konfliktaustragung. Mit der empirischen Bestätigung dieser Perspektive steht es aber eher schlecht. Bei Versuchen, beispielsweise die Huntington-These empirisch zu prüfen, konnte weder ein signifikanter Zusammenhang zwischen der religiös-kulturellen Heterogenität von Gesellschaften und ihrer Bürgerkriegsneigung nachgewiesen werden, noch ein Zusammenhang von religiös-kultureller Distanz zwischen Gesellschaften und deren kriegerischer Verwicklung (vgl. Chiozza, 2002). Der gewaltsame Verlauf der meisten inner- und zwischenstaatlichen Konflikte kann andererseits mit Hilfe der (traditionellen) Kategorien der Macht – und Interessenkonkurrenz erklärt werden. So liegt eher eine instrumentalistische Perspektive nahe. Danach können religiös-kulturelle Gegensätze zwar zur Konfliktverschärfung beitragen – von Kriegsunternehmern dazu benutzt werden –, jedoch kaum die Konflikte verursachen. Als Ursachen von Aufruhr und kriegerischer Gewalt gelten grundsätzlich politische und sozioökonomische Ungleichheiten und Begehrlichkeiten. Entsprechend bescheiden müssen bei dieser Sicht der Dinge die Erwartungen ausfallen, den Weltfrieden durch Religionsfrieden zu befördern.

In Anbetracht im Besonderen der Angewiesenheit von Kriegsherren auf das legitimatorische Potenzial religiös-weltanschaulicher Systeme präferieren Hasenclever & Rittberger (2000; Rittberger & Hasenclever, 2001) eine konstruktivistische Perspektive, die sie „irgendwo zwischen Primordialismus und Instrumentalismus“ verorten (2000, S. 647). Der Konstruktivismus teilt mit der instrumentalistischen Sicht die Überzeugung, dass Macht und Interessen entscheidende Bedeutung für politische Prozesse haben; und ebenso schreibt er politischen Führern und ihrer mobilisierten Anhängerschaft eine zentralen Rolle zu, vor allem im Hinblick die Art und Weise der Konfliktaustragung. Andererseits führen kollektive (religiös-weltanschauliche) Mentalitäten eine Art Eigenleben und die Macht der Propaganda ist keineswegs unbeschränkt. Nicht nur kann jede legitimatorische Argumentation problematisiert werden, auch die Deutungskompetenz der Propagandisten ist selbst in Frage zu stellen.

Für Konstruktivisten fungieren religiöse Systeme demnach sozusagen als Moderatorvariablen. Aufgrund ihres hoch ambivalenten konfliktkulturellen Gehalts – ihres Schwankens zwischen den Modellen »Heiliger Krieg« und »Reich Gottes« (Boulding, 1986) – können sie sowohl friedensförderlich wie kriegstreibend wirken. Es kommt darauf an, wie sie von den religiösen Autoritäten »geschaltet« werden. Aussichten, nachhaltig „Weltfrieden durch Religionsfrieden“ (Küng & Kuschel, 1993b) zu erreichen, bestehen also nur in dem Maße, wie diese Autoritäten einerseits konsequent die Legitimation von Gewalt bei inner- und intergesellschaftlichen Auseinandersetzungen verweigern und andererseits dialogisch-problemlösende Formen der Konfliktbearbeitung wie Verhandlung, Mediation und Selbsttransformation auch in die »weltlichen« Konflikte einbringen. Das aber läuft abermals auf den Verzicht von Gewalt bzw. Gewaltrechtfertigung hinaus. Die Bedeutung des interreligiösen Friedens für den Weltfrieden wird allerdings auch dadurch eingeschränkt, dass Religionen aus konstruktivistischer Sicht nur dann das Konfliktverhalten zu beeinflussen vermögen, wenn die Antagonisten auf Massenloyalität angewiesen sind; in den sog. neuen Kriegen scheint diese Bedingung kaum erfüllt.

Resümee und Schlussfolgerungen

Im Rahmen des nicht zuletzt friedenspolitisch motivierten »Projekts Weltethos« des Theologen Hans Küng gilt ein (aktualisiertes) globales Ethos als eine Art friedenspolitisches Allheilmittel. Und das, ohne dass ein konsequenter Gewaltverzicht als Wesensbestandteil eines solchen Ethos anerkannt wird. Demgegenüber habe ich zu zeigen versucht, dass zumindest analytisch drei Funktionsebenen klar zu unterscheiden sind: Entwicklung bzw. Aktualisierung eines globalen Ethos, Anwendung bei interreligiösen Auseinandersetzungen und Übertragung in den Bereich »weltlicher« Macht- und Interessen-Konflikte. Auf allen drei Ebenen kann ein Weltethos nur in dem Maße friedensförderlich sein, wie man bei der Konfliktbearbeitung strikt dialogisch verfährt. Das bedeutet aber, dass der konsequente Verzicht auf (die Androhung, Anwendung und Rechtfertigung von) verletzender und tötender Gewalt als solcher zum Kernbestand eines Weltethos gehören muss, das friedensförderlich sein soll. Insofern ist die Rede von „ein(em) konsensfähige(n) mittlere(n) Wegzwischen einer ›Realpolitik‹ der Gewalt zur Konfliktlösung und einem unrealistischen unbedingten Pazifismus“ (Küng, 1993a, S. 77f.) irreführend und gefährlich – »altes Denken« mit einem neuen Etikett. Auch und gerade im Rahmen eines Projekts Weltethos kann es Frieden nur mit friedlichen Mitteln geben.

Literatur

Boulding, E. (1986): Two cultures of religion as obstacles to peace. Zygon, 21, 501-518.

Chiozzo, G. (2002): Is there a clash of civilizations? Evidence from patterns of international conflict involvement, 1946-1997. Journal of Peace Research, 38, 711-734.

Eckert, R. & Willems, H. (1992): Konfliktintervention. Perspektivenübernahme in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Opladen: Leske + Budrich.

Fahrenbach, H. (2001): Die Notwendigkeit des Projekts Weltethos – aber ohne »theonome Begründung«. Beiträge einer Philosophie kommunikativer Vernunft – atheistisch, sozialistisch und diskursethisch akzentuiert. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Wissenschaft und Weltethos (S. 383-414). München: Piper.

Glock, C.Y. (1969): Über die Dimensionen der Religiosität. In J. Matthes: Kirche und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie II (S. 150-168). Reinbek: Rowohlt.

Hasenclever, A. & Rittberger, V. (2000): Does religion make a difference? Theoretical approaches to the impact of faith on political conflict. Millennium: Journal of International Studies, 29, 641-674.

Hasselmann, C. (2001): Parlament der Weltreligionen: Die Weltethos-Erklärung von Chicago 1993. Concilium, 37, 409-420.

Huber, S. (1997): Dimensionen der Religiosität. Skalen, Messmodelle und Ergebnisse einer empirisch orientierten Religionspsychologie. Bern: Huber.

Huntington, S.P. (1993). The clash of civilizations. Foreign Affairs, 72 (2), 22-49.

Küng, H. (1993a): Geschichte, Sinn und Methode der Erklärung zu einem Weltethos. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen (S. 49-87). München: Piper

Küng, H. (1993b): Kein Weltfriede ohne Religionsfriede. Ein ökumenischer Weg zwischen Wahrheitsfanatismus und Wahrheitsvergessenheit. In H. Küng H. & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Weltfrieden durch Religionsfrieden. Antworten aus den Weltreligionen (S. 21-49). München: Piper.

Küng, H. (2003): Projekt Weltethos (1. Auflage 1990). München: Piper

Küng, H. & Kuschel, K.-J. (Hrsg.) (1993a): Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen. München: Piper.

Küng, H. & Kuschel, K.-J. (Hrsg.) (1993b): Weltfrieden durch Religionsfrieden. Antworten aus den Weltreligionen. München: Piper.

Kuschel, K.J. (1993): Das Parlament der Weltreligionen 1893/1993. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen (S. 89-123). München: Piper.

Lütterfelds, W. (2001): Viele religiöse Wahrheiten und ein Weltethos? Zur begrifflichen Struktur eines Konfliktes und seiner Auflösung. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Wissenschaft und Weltethos (S. 415-437). München: Piper.

Parlament der Weltreligionen (1993): Erklärung zum Weltethos. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen. München: Piper.

Rittberger, V. & Hasenclever, A. (2001): Religionen in Konflikten. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Wissenschaft und Weltethos (S. 161-200). München: Piper.

Anmerkungen

1) Das »Zweite Parlament der Weltreligionen« tagte, unter Beteiligung von 6.500 Personen aus allen möglichen Religionen, vom 28. August bis 4. September 1993 in Chicago, zur Jahrhundertfeier der Tagung des »Ersten Parlaments der Weltreligionen« in Chicago 1893. Das Treffen von 1893 seinerseits stellt das erste formelle Treffen von Vertretern der Weltreligionen dar und gilt als Beginn eines genuinen – nicht auf Konversion abstellenden – interreligiösen Dialogs (vgl. Kuschel, 1993; Hasselmann, 2001).

Prof. Dr. Albert Fuchs ist Mitglied des Redaktionsteams von W&F

Friedliche Stimme der Vernunft?

Friedliche Stimme der Vernunft?

Nachtrag zu Stellungnahmen christlicher Kirchen zum Irak-Konflikt

von Albert Fuchs

Im W&F-Dossier Nr. 43 (Beilage zur Ausgabe 2-2003) hat der Theologe Thomas Nauerth eine erste Analyse von repräsentativen Stellungnahmen christlicher Kirchen zum Irak-Konflikt vorgelegt. Sie wird im Folgenden von unserem Redaktionskollegen Albert Fuchs kritisch ergänzt. Nauerth diagnostizierte aufseiten der Kirchenleitungen zwar nicht einen friedensethischen Paradigmenwechsel aus Anlass des »angekündigten Krieges«, aber doch eine Akzentverschiebung in Richtung einer insgesamt kriegskritischeren Haltung. Fuchs hält diese Sicht der Dinge im Interesse einer realistischen Einschätzung des friedenspolitischen Potenzials der Kirchen für ergänzungsbedürftig um die Herausarbeitung deutlicher Defizite der kirchlichen Positionierungen – so dass allenfalls »das Glas halb voll« erscheinen kann.
In seiner Analyse repräsentativer kirchenoffizieller Stellungnahmen zu dem offen betriebenen und konkret vorbereiteten Irakkrieg kommt der Theologe Nauerth (2003) zu einer Einschätzung, die sich etwa in folgenden Punkten zusammenfassen lässt:1

  • Historisch erstmalig nahmen christliche Kirchen jeglicher Denomination weltweit negativ Stellung zu einem Krieg, bevor dieser begonnen hatte (S. 2).
  • Sie gelangten zu diesem eindeutigen Urteil ohne Veränderung der Lehrbasis, im Rahmen ihrer (differierenden) traditionellen Lehre zu Krieg und Frieden und z.T. mit explizitem Bezug darauf (S. 2f.).
  • Aus der Sicht der Kirchenleitungen war und ist ihr Widerspruch eine notwendige Reaktion auf eine gravierende Veränderung der politischen Realität – auf die in der Idee des »Präventivkriegs« kulminierende Tendenz, um bestimmter politischer Zwecke willen (Abrüstung, Regimewechsel, Rohstoffsicherung…) Krieg als Mittel in Erwägung zu ziehen bzw. zu planen und konkret vorzubereiten (S. 3).
  • Als normativer Bezugsrahmen dienten nicht in erster Linie spezifisch biblisch-theologische Konzeptionen; er bestand vorrangig einerseits in den einschlägigen völkerrechtlichen Prinzipien und andererseits in der politischen Leitidee der Kriegsprävention durch Solidarität und Gerechtigkeit; gerade damit wurden die Vertreter des Glaubens zur »Stimme der Vernunft« (S. 3f.).
  • Bemerkenswert war ein starkes Bemühen bei allen Kirchen um Vernetzung untereinander – um zu vermeiden, dass man sie gegeneinander ausspielte, und um ihre globalen Interessen als »Weltkonzern« Kirche(n)/Christenheit – gegenüber staatlichen Akteuren – zu wahren (S. 4f.).
  • Neu, jedenfalls in dieser Breite bisher nicht zu beobachten, waren die Beharrlichkeit, der Mut zur Kontroverse und die innere Geschlossenheit, mit denen die Kirchen ihr Nein in die Öffentlichkeit trugen (S. 5f.).
  • Zu diesem Mut kam eine beachtliche politische Geschicklichkeit; im Besonderen scheinen die Verantwortlichen der Kirchen die Möglichkeiten der Kriegsprävention erkannt zu haben, die darin liegen, dass für Demokratien eine Rückgewinnung des Krieges als politisches Instrument nur über eine massive Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu erreichen ist (S. 6).

Alles in allem sieht Nauerth die Kirchenleitungen „in einem eminent wichtigen Lernprozess“ und hält es für möglich, dass sich „die Haltung, aus der heraus bisher Friedensethik entworfen wurde“ ändert, so dass „der andere, jesuanische, Weg in der Politik Wirkung entfalten kann“ (S. 8).

Alle Punkte belegt der Autor recht überzeugend anhand der (ausgewählten) Stellungnahmen und einschlägiger Aktivitäten der Kirchenleitungen, ohne sich in Einzelexegesen zu verlieren. Demnach soll und kann es im Folgenden nicht darum gehen, seine Analyse als solche zu problematisieren. Vielmehr sollen auf vergleichbarem Niveau und unter Beschränkung auf die a.a.O. dokumentierten Erklärungen einige Defizite der kirchlichen Positionierung(en) herausgearbeitet werden.

Politisch-praktische Dürftigkeit

Alle Erklärungen weisen, wie auch Nauerth bereits klarstellt (S. 7), ein starkes Defizit im Bereich der »Praxis« auf. Soweit die eigene Gefolgschaft überhaupt als potenzieller friedenspolitischer Akteur in den Blick kommt, wird fast ausschließlich Gebet als Handlungsform angeregt. Lediglich in der Gemeinsamen Erklärung der United Church of Christ und der Kirchenprovinz Sachsen wird dazu aufgefordert, „Sorgen und Protest in der Öffentlichkeit“ nicht zu verschweigen und die „Möglichkeiten unserer weltweiten ökumenischen Kontakte zur Werbung für den Frieden“ zu nutzen (Text 4, S. 12). Erst recht zieht keine Erklärung konkrete Widerstandshandlungen gegen die Kriegsvorbereitungen oder zivilen Ungehorsam in Betracht.

Diese »pietistische« Selbst-Bescheidung steht in auffälligem Gegensatz zu der vorherrschenden »rationalen« politisch-rechtlichen Argumentation der Bischöfe und Kirchenführer. Mögen sie auch „an die Kraft des Gebetes, das fähig ist, Berge zu versetzen“ glauben (Präsidium der Schweizer Bischofskonferenz, Text 6, S. 13) und mag das Gebet für den Frieden inzwischen auch „zum öffentlichen Ausdruck des Protests“ geworden sein (Nauerth, 2003, S. 7), so wird man den gebetsweisen Sprung in »die andere Wirklichkeit« doch kaum für ein rationales politisches Handeln im instrumentellen Sinne halten. Nauerth (2003) erwägt verschiedene plausible Ursachen und – zum Teil – ehrenwerte (doktrinäre) Gründe für die merkwürdige Abstinenz in politisch-praktischer Hinsicht. Das sollte aber nicht darüber hinwegsehen lassen, dass es zwischen Gebet und Widerstand viele Übergänge und vor allem eine Handlungsform gibt, deren Befürwortung »in der Logik der Sache« gelegen hätte. Gemeint ist die »bedingte Militärdienstverweigerung«. Denn wenn ein ganz bestimmter, von demokratischen Regierungen betriebener Krieg politisch-moralisch objektiv verwerflich ist, wie im konkreten Fall von den Kirchenleitungen behauptet, müsste man sich konsequenterweise doch auch dafür einsetzen, dass die Bürger und Bürgerinnen Kriegsunterstützung und Kriegsbeteiligung ganz legal unter Berufung auf ihr Gewissen verweigern können, auch wenn sie die Androhung und Anwendung von militärischer Gewalt nicht prinzipiell und ausnahmslos für ethisch verwerflich halten, also keine »prinzipiellen« Pazifisten sind.

Staats- und Regierungsnähe

Wenn die Kirchenleitungen aus gegebenem Anlass das Thema bedingte Militärdienstverweigerung auf die Tagesordnung gestellt oder wenigstens zu stellen verlangt hätten, wären institutionelle kirchliche Interessen kaum (unmittelbar) gefährdet gewesen; noch weniger hätte man doktrinäre Skrupel zu haben brauchen wegen eines legalistischen Verständnisses des Evangeliums oder wegen der Aufforderung zu Handlungen, deren unmittelbare Folgen andere zu tragen gehabt hätten. Damit hätte man allerdings die »staatstragende« Doktrin in Frage gestellt, die besagt, dass als Kriegsdienstverweigerer nur anerkannt werden kann, wer sich „aus Gewissensgründen der Beteiligung an jeder Waffenanwendung zwischen den Staaten widersetzt“ – wie es im deutschen Kriegsdienstverweigerungsgesetz heißt (§ 1 Satz 1; vgl. Bundesverfassungsgericht, 1962). Praktisch erkennt kein Staat eine situationsbedingte oder partielle Militärdienstverweigerung gesetzlich an2 – obwohl eine Unterkommission der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen bereits in den 1980er Jahren weit in diese Richtung gehende Empfehlungen gab (vgl. Eide, 1986). Eine entsprechende Positionierung hätte demnach eine Emanzipation von Staat und Staatsräson im Dienste des Friedens bedeutet, wie sie das (groß-)kirchliche Staats- und Kirchenverständnis offensichtlich (noch) nicht zulassen.

Im Umfeld der kirchlichen Erklärungen zum Irak-Konflikt sind durchaus direktere Hinweise auf die anhaltend hemmende Staats- und Regierungsnähe der Kirchen zu finden. Sie sind meist aber insofern ambivalent, als sie mit Nauerth (2003) auch als Ausdruck der „neuen politischen Geschicklichkeit“ (S. 6) verstanden werden können. Ein aufschlussreiches Beispiel ist der Auftritt der auf Initiative des Ökumenischen Rates der Kirchen zusammengekommenen protestantischen und orthodoxen Kirchenführer mit Bundeskanzler Schröder in Berlin am 5. Februar 2003. Mit diesem Schulterschluss wurde zweifelsohne dokumentiert, dass „der deutsche Regierungschef erkennbar nicht isoliert“ (ebd.) war. Andererseits begab man sich damit der Möglichkeit, die fragwürdige Doppelrolle der deutschen Bundesregierung im Zusammenhang des Irak-Konflikts zu problematisieren. Denn während sich die Bundesregierung vor der eigenen überwiegend kriegskritischen Bevölkerung und auf der internationalen Bühne einen wesentlichen Anteil daran zuschreiben konnte, dass die Mehrheit der Sicherheitsrats-Mitglieder dem Druck der US-Regierung nicht nachgab, wurde hinter den Kulissen der Krieg nicht zuletzt von Deutschland aus vorbereitet und von Deutschland unterstützt: Über die Flugplätze Frankfurt, Ramstein und Spangdahlem wurden Kriegsmaterial und Truppen an den Golf verlegt; Häfen und Bahnhöfe dienten als Zwischenstationen für die amerikanisch-britische Reise in den Krieg; die Bundeswehr übernahm den Schutz von US-Militäreinrichtungen und von der Kommandozentrale der US-Armee in Stuttgart (EUCOM) wurde der Nachschub für die Kriegführung koordiniert (vgl. Pflüger, 2003). Nach Art. 3f der Resolution der UN-Generalversammlung von 1974 zur Präzisierung des völkerrechtlichen Aggressionsbegriffs aber handelt nicht nur ein Aggressorstaat völkerrechtswidrig, sondern jeder Staat, der es auch nur duldet, „dass sein Hoheitsgebiet, das er einem anderen Staat zur Verfügung gestellt hat, von diesem anderen Staat dazu benützt wird, eine Angriffshandlung gegen einen dritten Staat zu begehen“ (zit. nach Deiseroth, 2003, S. 17). All dies scheint den Kirchenleitungen entgangen zu sein.

Perspektivenbeschränkung

Einen Sonderfall der problematischen Staats- und Regierungsnähe kann man darin sehen, dass eine biblisch-theologische Perspektive in den vorliegenden Stellungnahmen, wenn sich überhaupt Hinweise darauf finden, eher beiläufig und in keiner Weise argumentativ integriert zur Sprache kommt. So bringt beispielsweise die Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland einfach die „tiefe Überzeugung“ zum Ausdruck, „dass Krieg mit Lehre und Beispiel Christi unvereinbar“ sei und dass im Besonderen „der Weg, den Präsident Bush einschlägt, den Worten Jesu entgegengesetzt ist“ (Text 7, S. 10). Oder Papst Johannes Paul II. gibt gegen Ende seiner Ansprache zu bedenken: „Für einen Glaubenden kommen zu diesen Motivationen (d.h. den relativ ausführlich vorgetragenen politisch-rechtlichen – A.F.) natürlich noch jene hinzu, die ihm der Glaube an Gott als Schöpfer und Vater aller Menschen eingibt…“ (Text 3, S. 11).

Nach Nauerth (2003) ist diese theologische Zurückhaltung vor allem dem Versuch geschuldet, „Gehör in einer immer stärker säkularisierten Öffentlichkeit zu finden“ (S. 4). Mag sein. Die zentrale politisch-rechtliche Argumentation orientiert sich allerdings »rechtspositivistisch« an der UN-Charta oder »naturrechtlich« mehr oder weniger explizit an (den) traditionellen Kriterien der bellum-iustum-Lehre, bleibt jedenfalls argumentationslogisch völlig unkritisch der Voraussetzung verhaftet, dass es einen »gerechten« oder doch wenigsten einen (völkerrechtlich) »gerechtfertigten Krieg« geben könne (vgl. Fuchs, 2001). Damit aber dürften die fraglichen Stellungnahmen, statt einen effektiven Beitrag zur Überwindung der Institution des Krieges zu leisten, in subtiler, jedoch sehr wirkungsvoller Weise den staatsreligiösen Glauben an die »gute« militärische Gewalt bestärken. Nach Chomsky (1999) ist die propagandistische Nützlichkeit kritischer Stellungnahmen, die sich die grundlegenden Annahmen der offiziellen Doktrin zu eigen machen, kaum zu überschätzen; darin sieht er – wohl zu Recht – den Kern demokratischer Systeme der Gedankenkontrolle.

Die vorrangige bis ausschließliche Orientierung am Völkerrecht ist ferner aus einem Grund fatal, der sich aus Besonderheiten der Entstehung und Entwicklung des Völkerrechts ergibt. In prägnanter Weise hat Schweisfurth (2003) die betreffende Problematik zur Sprache gebracht. Es geht es um Folgendes: Die in der »National Security Strategy« der USA vom September 02 behauptete Befugnis zur »preemptive military action«, zum Präventivkrieg also, wurde mit dem jüngsten Irakkrieg zwar erstmals ausdrücklich in Anspruch genommen, zielt aber über diesen Konflikt hinaus. Das geltende Gewaltverbot soll aus den Angeln gehoben werden, so dass Präventivkriege (der USA!) gegen »Schurkenstaaten« künftig legal wären. Nun kann in der Tat geltendes Völkerrecht durch eine weit verbreitete Staatenpraxis, die von der allgemeinen Überzeugung begleitet wird, dass diese Praxis rechtmäßig sei, geändert werden. Noch ist die US-amerikanische Inanspruchnahme einer Befugnis zum Präventivkrieg nur eine Rechtsbehauptung. Doch fängt die Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht regelmäßig mit Rechtsbehauptungen eines Staates an. Auch liegt noch keine »weitverbreitete Staatenpraxis« vor. Wenn es den USA jedoch gelänge, die anderen Staaten von der Rechtmäßigkeit ihres »Präventivschlags« zu überzeugen und diese Praxis mit Billigung der meisten Staaten fortzusetzen, entstünde neues Völkergewohnheitsrecht, würde der Irakkrieg als Anfang vom Ende des völkerrechtlichen Gewaltverbots in die Geschichte eingehen. Es kann schon ausreichen, dass andere Staaten es unterlassen, gegen das US-amerikanische Vorgehen zu protestieren. Ihr Verhalten könnte als »stillschweigendes Einverständnis« mit der amerikanischen Rechtsbehauptung interpretiert werden. Die Art der »Versöhnung« zwischen den Kontrahenten im Streit um die jüngste Irakpolitik lässt diesbezüglich Schlimmes befürchten. Auch muss die seit der (Wieder)Erfindung der »humanitären Intervention« und verstärkt seit dem Kosovokrieg und dem »Krieg gegen den Terror« geführte Debatte über die angebliche Reformbedürftigkeit des Völkerrechts alarmieren (vgl. Boos, 2003; Greenwood, 1993; Mohr, 1999). Werden die Kirchenleitungen sich also bei nächster Gelegenheit an einem entsprechend »reformierten« Völkerrecht orientieren?

Bei dieser Aussicht kann man – gleichgültig, wie man sonst zu Religion und Kirche(n) steht – nur bedauern, dass die biblisch-evangelische Botschaft vom „Ende der Gewalt“ (Girard, 1983) und der „Heilkraft der Gewaltfreiheit“ (Häring, 1986) praktisch nicht einmal perspektivisch in den Blick kommt. Natürlich ist der »pazifistische Messianismus« der Bibel „kein Ersatz für moralische Einsichten und sittliche Vernunft“ und natürlich müssten seine „Grundlagen auf eine Weise formuliert werden, die allgemein zugänglich ist… insbesondere auch für die »säkularisierten« Menschen“ (Merks, 2002, S. 97). Aber bereits die bloße Problematisierung der Vereinbarkeit von militärischer Gewalt mit dem Paradigma des »gewaltfreien Christus« würde der fundamentalistischen Stilisierung einer machtpolitischen Auseinandersetzung zum (militärisch auszutragenden) „monumentalen Kampf “ des „Guten gegen das Böse“ (G.W. Bush am 12. September 2001, zit. nach Frankfurter Rundschau, 2001, S. 1) authentisch in die Parade fahren. Auf dieser Ebene bieten die kirchlichen Stellungnahmen der US-Administration jedoch in keiner Weise Paroli. Ansätze dazu sind lediglich in einer Einlassung des Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zu finden (Steinacker, 2003).

Fehlen von Selbstkritik

Eine Konfrontation mit dem »Bushismus« auf genuin weltanschaulich-religiöser Ebene hätte den Kirchen allerdings eine Auseinandersetzung mit dem eigenen »Schatten« abverlangt. Dagegen läuft beispielsweise Steinackers (2003) Abrechnung mit der zivilreligiösen Aufladung »Amerikas« im Kern darauf hinaus, sie als nicht-christliche »Theologie«, genauer: als Intrusion aus der Gnosis zu kennzeichnen. Manche solcher »Einsprengsel« sind jedoch historisch und ideologisch fest mit dem Christentum verzahnt und haben immer wieder zu schwersten Verstrickungen in die menschliche Gewalt- und Unterdrückungsgeschichte geführt; durch »Projektion« können die Kirchen sich sicher nicht davon befreien.

Als eine zentrale Komponente des kirchlichen »Schattens« muss die Verwendung der bellum-iustum-Lehre in der konstantinisch gewendeten Christenheit gelten. Wie erwähnt, spielt diese Lehre auch in mehreren der vorliegenden Stellungnahmen in Form eines kontrafaktischen Bezugs auf das eine oder andere Kriterium eine gewisse kritische Rolle. Andererseits scheint sich in Kirchenkreisen die Einsicht durchzusetzen, dass sie nur „allzu leicht die ideologische Grundlage… für einen leichtfertigen Umgang mit dem Frieden“ bildet (Merks, 2002, S. 94) – soll wohl heißen: ein wichtiges Instrument der Kriegstreiberei darstellt (vgl. Schildmann, 2002). Bei kritischem Umgang mit der eigenen Geschichte könnte sich erschließen, dass die kriegspropagandistische Funktionalisierung der bellum-iustum-Doktrin vor allem mit einer Sakralisierung von Krieg – in variabler Form – einhergeht bzw. zur Sakralisierung dient (vgl. Hasenclever & Rittberger, 2000; Kretschmar, 1995; Nitschke, 1995) und dass zudem der neuzeitliche Fortschrittsglaube als säkularisierte christliche Eschatologie weiterhin eine Grundlage dafür bietet. Vor dem Hintergrund einer Jahrhunderte langen Gefangenschaft in der Gewaltfalle in der Auseinandersetzung mit dem Islam hätte die kirchliche »Stimme der Vernunft« gerade im Zusammenhang des Irak-Konflikts erheblich an Glaubwürdigkeit gewinnen können, wenn in ihr auch solche selbstkritischen Untertöne zu vernehmen gewesen wären. Aus keiner der vorliegenden Stellungnahmen vermag ich sie herauszuhören.

Aufgrund der erklärten Konzentration auf Defizite kirchlicher Stellungnahmen zum Irak-Konflikt muss die Gesamtbilanz deutlich skeptischer ausfallen als bei Nauerth (2003). Aus dieser Sicht wurde die Gelegenheit verpasst, einen gesetzlichen Gewissensschutz auch bei bedingter Militärdienstverweigerung einzufordern und (damit) größere friedenspolitische Unabhängigkeit von Staat und Regierungen zu praktizieren, militärisches »Friedenschaffen« zumindest perspektivisch grundsätzlich zu problematisieren und Alternativen zu thematisieren und schließlich durch eine selbstkritische Reflexion der Verstrickung der Christenheit in die Netze kriegerischer Gewalt ein überzeugendes Beispiel dafür zu geben, wie man sich der eigenen »dunklen Seite« stellt, um weiteren Verstrickungen vorzubeugen. Mit dem Aufweis dieser Defizite wird Nauerths (2003) Analyse der kirchlichen Stellungnahmen zum Irak-Konflikt gleichwohl nicht in Frage gestellt, sondern ergänzt. Während Nauerth sich (einschlussweise) darauf bezieht, was die Kirchen bei ähnlichen früheren Gelegenheiten zu leisten nicht imstande waren, dient das (idealisierte) kirchliche Selbstverständnis als »Sakrament des Friedens« (z.B. Die deutschen Bischöfe, 2000, S. 89) als Bezugspunkt der vorliegenden Analyse. Beide Blickrichtungen sind erforderlich, nicht zuletzt für die Orientierung der friedenspolitisch engagierten kirchlichen Basis.

Literatur

Boos, P. (2003): Die gefährliche Debatte über die Reform des Völkerrechts. Friedens-Forum, 16 (3), 18-19.

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Anmerkungen

1) Alle im Folgenden nicht weiter spezifizierten Seitenangaben beziehen sich auf den Beitrag von Nauerth (2003) bzw. das Dossier Nr. 43.

2) Knebel, G./Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK): persönliche Mitteilung, 04.08.03.

Prof. Dr. Albert Fuchs gehört zum Redaktionsteam von W&F und ist Mitarbeiter des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung

Nukleare Weltraummissionen und moralische Grenzwerte

Nukleare Weltraummissionen und moralische Grenzwerte

von Regina Hagen

Anfang Februar 2003, zwei Tage nach dem Absturz des Space Shuttle Columbia, zeigten die Nachrichten in den USA eine gespenstisch anmutende Szene: Spezialisten in Schutzanzügen, Gasmasken vor dem Gesicht und Sauerstoffgeräte auf dem Rücken, überprüften mit Geigerzählern Anwohner auf radioaktive Verstrahlung, die zuvor mit Trümmerstücken der Raumfähre in Kontakt gekommen waren. Die US-Weltraumbehörde NASA (National Aeronautics and Space Administration) hatte die lokalen Suchtrupps angewiesen, potentiell radioaktiveÜberbleibsel des Unglücks mit höchster Priorität aufzuspüren. Die Bilder schienen zu bestätigen, was Sheriff Thomas Kerss von Nacogdoches, Texas, am Tag zuvor im National Public Radio bekannt gegeben hatte: „An Bord des Raumschiffs war radioaktives Material.“ Auf Nachfragen alarmierter Journalisten und verängstigter Anwohner versuchte die NASA später das Problem herunterzuspielen. Wenige Gramm Americium seien in Rauchmeldern enthalten, das Problem vernachlässigbar klein. Der Aufwand zur Messung von Radioaktivität spricht allerdings gegen diese Variante.1
Radioaktive Verseuchung als Folgeschäden von Weltraummissionen, ein solches Szenario wird seit langem von kritischen Wissenschaftlern, Friedensgruppen und Umweltexperten befürchtet. Schließlich umkreisen nicht nur mehrere hundert Kilogramm Plutonium und fast eine Tonne Uran die Erde als Erblast aus Weltraumissionen der Vergangenheit, der US-Haushalt hält auch mehrere Milliarden Dollar bereit für nukleare Weltraumtechnologien der Zukunft.

Strahlende Erkundung des Weltraums

Der Versuch, mit Kernantrieb die riesigen Distanzen im All rasch zu durchfliegen, reicht in den USA fast fünf Jahrzehnte zurück. 1958-65 beschäftigte sich Project Orion mit dem Antrieb von Weltraumraketen durch die Zündung von Atombomben: Der Rückstoß der Explosionen sollte das Raumschiff in den Weltraum katapultieren. 1961-71 erforschte das Programm NERVA (Nuclear Engines for Rocket Vehicle Applications) die Nutzung eines Atomreaktors für den Raketenantrieb. 1985 wurde an der Universität von Florida in Gainesville das Innovative Nuclear Space Power Propulsion Institute (INESPI) gegründet, das nach wie vor Reaktorkonzepte für die Weltraumfahrt erforscht. Und in Albuquerque, New Mexico, kamen einen Tag nach dem Unfall der Raumfähre Columbia Experten aus Forschung, Industrie und Militär zur 20. Jahrestagung über nukleare Raketenantriebe und Stromversorgungsmöglichkeiten bei Weltraummissionen zusammen.2

Beim neuesten dazu passenden Vorhaben der NASA ist schon der Projektname aussagekräftig: Prometheus. In der griechischen Mythologie stahl der Titan Prometheus das Feuer vom Olymp und gab es an die Menschheit weiter. Prometheus schenkte den Menschen mit dem Feuer die Voraussetzung für ihre weitere Entwicklung, wurde von Zeus dafür aber schrecklich bestraft. Project Prometheus hat unter Einbeziehung der erst kürzlich gestarteten Nuclear Systems Initiative der NASA in den nächsten fünf Jahren einen Etat von mehr als drei Milliarden US$ für die Entwicklung nuklearer Stromquellen und Antriebssysteme zur Verfügung.3Als erste Mission ist der Jupiter Icy Moon Orbiter (JIMO) geplant. Dabei soll ein kleiner Kernreaktor ein leistungsfähiges Ionentriebwerk mit Energie versorgen. Gleichzeitig wird auf diese Weise aber auch genug Energie erzeugt, um an Bord des Raumschiffes Hochleistungsinstrumente und ausgereifte Kommunikationstechnologie zu betreiben. Für Wissenschaftler sind das ganz neue Perspektiven, da Strom an Bord ansonsten immer streng rationiert ist, was in den vergangenen Jahrzehnten zur Entwicklung hochmoderner Geräte mit besonders sparsamen Energieverbrauch anregte.4

Project Prometheus umfasst neben Reaktorsystemen für den Antrieb sowie für die Stromversorgung auf der Marsoberfläche u.a. auch die Entwicklung neuer Plutoniumgeneratoren. Bei diesen Geräten wird Strom nicht durch die Spaltung des Atoms erzeugt, sondern es wird die Wärmeentwicklung beim natürlichen Zerfall radioaktiver Materialien genutzt. Einen fehlerfreien Flug vorausgesetzt, haben Plutoniumgeneratoren hinsichtlich Zuverlässigkeit und Langlebigkeit tatsächlich eine stolze Bilanz vorzuweisen. Erst im Februar 2003 hat die Sonde Pioneer-10 ihr letztes Signal an die irdische Empfangsstation ausgeschickt – gestartet ist sie im März 1972. Insgesamt 31 Jahre lang ermöglichte die nukleare Stromversorgung aufregende Einblicke in das Sonnensystem. Der Preis: Vier SNAP-Generatoren mit etwa acht kg Plutonium-238.

1997 geriet die NASA vor dem Start ihrer Saturn-Mission Cassini in die öffentliche Kritik. Zur Deckung des Strombedarfs der Muttersonde wie der von der Europäischen Weltraumagentur ESA beigesteuerten Erkundungssonde Huygens wurde die Mission mit 32 kg Plutonium-238 bestückt.

Und jetzt haben Friedens- und Umweltgruppen New Horizon im Blick. Die Vorgeschichte dieser ursprünglich Pluto-Kuiper-Express genannten Mission zur Erkundung des äußersten Planeten Pluto und des tiefer im Weltraum liegenden Kometengürtels Kuiper reicht schon einige Jahre zurück, das Zeitfenster für einen sinnvollen Starttermin ist aber äußerst schmal. Nur wenn die Sonde spätestens 2006 losgeschickt wird, ermöglicht die Planetenkonstellation einen Vorbeiflug am Jupiter und somit den nötigen Schwung für den Flug bis Pluto. Wird diese Chance nicht genutzt, kommt die Sonde deutlich nach 2015 an. In diesem Fall würde die Beobachtung des Planeten durch die rasch gefrierende Gashülle, die sich im 200 Jahre andauernden Pluto-Winter bildet, unmöglich gemacht.

Umstritten ist die Mission weniger wegen ihrer Kosten (500 MillionenUS$), sondern wegen der Nutzung eines RTG (radioisotope thermoelectric generator), der vermutlich als Reservesystem für Cassini diente. Der Plutoniumgenerator enthält knapp elf kg Plutonium-238 in Form eines keramischen Dioxidgemisches. Vom waffentauglichen Plutonium-239 unterscheidet sich dieser Stoff vor allem durch seine relativ kurze Halbwertzeit von 87,8 Jahren. Gerade dadurch ist das Isotop im Unglücksfall aber besonders gefährlich. Lungengrädige Partikel bedeuten durch das Dauerbombardement des umliegenden Gewebes mit Alphastrahlung ein hohes Krebsrisiko.

Mehr Plutonium und neue Generatoren

Im Oktober 1998 gab das Energieministerium der USA im Federal Register (Bundesanzeiger der USA) bekannt, dass Plutonium-238 für radioisotope Generatoren nicht mehr in ausreichender Menge vorhanden sei und daher die Produktion des Isotops wieder aufgenommen werden soll. Für die Ausarbeitung einer entsprechenden Umweltverträglichkeitsstudie wurden an mehreren denkbaren Produktionsstandorten (Oak Ridge National Laboratory, Idaho, Hanford Site) öffentliche Anhörungstermine angesetzt. Im September 1999 wurde dieses isolierte Vorhaben aufgegeben zu Gunsten der Ausarbeitung eines Programmatic Environmental Impact Statement für eine nukleare Infrastruktur, die ein sehr viel breiteres Spektrum an ziviler Nukleartechnologie und Isotopenproduktion abdecken soll (u.a. auch für medizinisch einsetzbare Isotopen). Und im Februar 2001 schließlich wurde Oak Ridge als künftige Produktionsstätte ausgedeutet – wobei die Finanzierung des Vorhabens offen blieb.

Aufgrund dieser Verzögerungen sowie der nicht näher erläuterten Umwidmung erheblicher Mengen des begrenzten Inventars an Plutonium-238 für »nationale Sicherheitsbelange« im Sommer 2002 sah sich das US-Energieministerium vor einem Materialengpass. Um die Lücke zu schließen, vereinbarte die Behörde im Januar 2003 die Fortsetzung eines bestehenden Lieferabkommens mit Russland. Über einen Zeitraum von fünf Jahren sollen ab 2004 Lieferungen im Wert von 32 Millionen Euro erfolgen.5 Die Liefermenge wurde nicht bekannt gegeben, vermutlich handelt es sich aber wie bei früheren Verträgen um etwa fünf kg pro Jahr. Dabei ist sich das Energieministerium bewusst, dass durch den Aufkauf von Plutonium-238 in Russland dort der Weiterbetrieb von Fertigungsanlagen unterstützt wird, die die US-amerikanischen Umweltschutz- und Nicht-Proliferationsauflagen nicht erfüllen.6Damit ist vorläufig das Problem geklärt, woher das Plutonium für die Weltraumgeneratoren kommt, die Frage nach einer neuen Generatorentechnologie mit geringerem Plutoniumbedarf ist aber nach wie vor offen. Schon während der Planungsphase für Cassini war die US-amerikanische Firma Advanced Modular Power Systems (AMPS) von der NASA und dem Energieministerium mit der Entwicklung neuer Plutoniumgeneratoren beauftragt. Die daraufhin entstandenen AMTEC-Generatoren stehen nach Angaben von AMPS bereits seit mehreren Jahren zur Verfügung.7 Dennoch sollen im Rahmen von Project Prometheus jetzt neue RTG-Modelle entwickelt werden, und zwar für eine Marsmission 2009.8 Als eine Technologie kommt ein Sterling-Konverter in Frage, der im Vergleich zum herkömmlichen RTG bei identischer Energieausbeute nur ein Drittel des Plutoniums benötigt.9

An alternativen Energieversorgungsmöglichkeiten – beispielsweise durch die Kopplung von Solarenergie mit hochleistungsfähigen Batterien mit hoher Lebensdauer – wird zwar gearbeitet. Sie werden bei der Missionsplanung aber offensichtlich nicht ernsthaft in Betracht gezogen, zumal für Missionen zu weitentfernten Zielen wie Pluto die verfügbaren Technologien vermutlich nicht ausreichen.

Verbote und Risikominimierung durch Völkerrecht

Entscheidungen über die Nutzung von Kernenergie im Weltraum fallen nicht im rechtsfreien Raum. Die Vereinten Nationen haben etliche völkerrechtliche Regelungen vereinbart.10 So untersagt der so genannte Weltraumvertrag die Stationierung von Kernwaffen im Weltraum, auf einer Erdumlaufbahn oder auf Himmelskörpern (Artikel IV).11 Laut Mondabkommen ist der Generalsekretär der Vereinten Nationen möglichst vorab davon zu informieren, wenn radioaktives Material auf den Mond verbracht wird (Artikel 7).12 Das partielle Atomteststopp-Abkommen verbietet Tests von Atomwaffen und andere nukleare Explosionen nicht nur unter Wasser und in der Atmosphäre sondern auch im Weltraum.13 Die Konvention über die Haftpflicht bei Weltraummissionen verpflichtet den Startstaat zur Kompensation für sämtliche Schäden, die beim Absturz eines Weltraumobjektes auf der Erde oder im Luftraum verursacht werden.14 Darunter zählen auch Aufräumarbeiten im Falle einer Freisetzung radioaktiver Materialien. Mittels des so genannten Gewohnheitsvölkerrechts entwickeln diese Vereinbarungen völkerrechtliche Wirkung über den Kreis der unterzeichnenden oder ratifizierenden Staaten hinaus – und sei es nur, indem sie moralische Grenzwerte setzen für das, was sich während des Verhandlungsprozesses als Handlungsnorm herauskristallisiert.

Neueren Datums sind die Prinzipien für die Nutzung von nuklearen Energiequellen im Weltraum.15 Vor dem Hintergrund mehrerer Weltraumunfälle, die teilweise zu einer erheblichen Verseuchung mit Uran-235 oder Plutonium-238 sowohl auf der Erde als auch in der Atmosphäre führten,16 stellt dieser Text vor allem Regeln zur Risikominimierung und Schadenshaftung auf. In der Präambel wird der Geltungsbereich ausdrücklich auf nukleare Energiequellen für die Stromerzeugung an Bord für Nicht-Antriebszwecke beschränkt, und zwar gemäß dem Stand der Systeme und Missionen, die 1992 bereits in Betrieb waren. Prinzip 3 konkretisiert den Geltungsbereich für Kernreaktoren, die ausschließlich mit Uran-235 betrieben werden sollen sowie radioisotope (d.h. auf dem Prinzip der Wärmeabstrahlung beruhende) Generatoren.

Obschon den Prinzipien nicht der Rang eines Vertrages zukommt, enthalten sie für eine Resolution ungewöhnlich weitreichende Formulierungen. Prinzip 1 und Prinzip 8 verweisen Staaten und internationale Organisationen, die nukleare Weltraummissionen durchführen, auf ihre Verantwortung gemäß dem Weltraumvertrag, der wiederum in Artikel IX die Vermeidung von schädlichen Kontaminationen von Himmelskörpern und eine Beeinträchtigung der irdischen Umwelt vorschreibt. Haftungs- und Kompensationsvorkehrungen umfassen laut Prinzip 9 den gesamten Schaden von natürlichen und juristischen Personen sowie die Erstattung sämtlicher Kosten für Suche und Sicherung radioaktiver Teile sowie für Säuberungsarbeiten.

Bezugspunkt der Resolution ist der Schutz von Mensch und Biosphäre vor radiologischen Gefährdungen. Nukleare Energiequellen für Weltraumzwecke sollen so konstruiert sein, dass bei einem Unfall bei hohem Vertrauensniveau folgende Strahlungsgrenzwerte nicht überschritten werden: ein mSv pro Jahr für ein begrenztes Gebiet und für Personen; ersatzweise fünf mSv über einige Jahre, solange die durchschnittliche Strahlenbelastung die Lebensdosis von durchschnittlich einem mSv pro Jahr nicht übersteigt. Die Grenzwerte übernimmt die Resolution dabei von den Empfehlungen der International Commission on Radiological Protection (ICRP), eine Ausnahme gilt lediglich für Unfälle mit schwerwiegenden Folgen aber geringer Wahrscheinlichkeit.

Die Frage nach dem moralischen Grenzwert

Experten schließen aus, dass die Grenzwerte der Prinzipien für die Nutzung von nuklearen Energiequellen im Weltraum bei einem Unfall vorhandener nuklearer Weltraumtechnologie eingehalten würden.17 Aufräum- und Sucharbeiten sind – wie der Fall Kosmos-954 und das Columbia-Unglück zeigen – mühsam, aufwendig und nur von begrenztem Erfolg.

Ein anderes Problem ist bislang gar nicht geklärt: Der Verbleib strahlender Altlasten im Weltraum. Die Weltraumsonde Galileo beispielsweise, die mit 24 kg Plutonium-238 an Bord 1989 von Astronauten der Raumfähre Atlantis auf ihren Flug durch das Sonnensystem geschickt wurde, soll am 21. Dezember 2003 durch kontrollierten Absturz in die Atmosphäre des Planeten Jupiter entsorgt werden. Experten versichern, dort könne das radioaktive Material keinen Schaden anrichten, nach einer sauberen Lösung klingt das aber nicht. Noch brennender ist der Verbleib von drei Dutzend Satelliten mit Plutoniumgeneratoren oder Uranreaktoren, die die Erde auf vorläufig sicheren Bahnen umkreisen, sich aber langsam der Erde nähern. Wird der Natur einfach Lauf gelassen, werden in den nächsten 650 Jahren etliche hundert Kilogramm Plutonium und etwa eine Tonne hochangereichertes Uran beim Absturz dieser Satelliten in der Erdatmosphäre verglühen und ihre radioaktive Fracht über die ganze Erde verteilen – mit unabsehbaren Folgen für die ganze Natur und Menschheit.

Ebenfalls schwerwiegend wären die Folgen eines Unfalls mit nuklearem Raketenantrieb. Die Fehlerrate beim Start von Weltraummissionen mit bewährter Technologie beträgt nach konservativen Werten zwischen 5 und 10 Prozent, selbst die NASA geht von einem Umfall bei 20 Starts aus. Das entspricht wohl kaum der in den Prinzipien für nukleare Weltraumtechnologie geforderten „geringen Unfallwahrscheinlichkeit“.

Wissenschaftler und Politiker tragen Verantwortung für die Entscheidungen, die sie treffen, und für die Projekte, an denen sie arbeiten. Sie müssen sich folglich entscheiden, wo für sie zulässige Grenzen erreicht sind: Bei elf nuklearen Heizern mit jeweils einem Gramm Plutonium zum Schutz empfindlicher Instrumente wie bei den zwei für Mai und Juni 2003 geplanten Starts des NASA-Projekts Mars Exploration Rover-2003? Bei leistungsfähigeren Generatoren mit »nur« noch zwei bis drei kg Plutonium? Oder erst bei Reaktoren mit 97% angereichertem Uran-235 für bis zu 400 kWe?

Sowohl bei nuklear als auch bei solar gespeisten Weltraummissionen ist bislang die Reduzierung des Strombedarfs von wissenschaftlichen Instrumenten Stand der Technik.18 Dreht sich die Sichtweise jetzt um? Sollen in Zukunft nukleare Reaktoren den Einsatz stromintensiver Geräte zur Erkundung und Nutzung des Weltraums ermöglichen? Wo sind die Grenzen – welches Risiko ist uns die Erforschung des tiefen Weltraums wert? Wo ist der Zugewinn für die Menschheit im Vergleich zu den Gefahren?Diese letzte Frage betrifft auch den erhofften wirtschaftlichen und militärischen Nutzen: Schon heute wird darüber nachgedacht, dass der Strom aus Kernreaktoren auf dem Mars die Rohstoffausbeute ermöglichen könnte. Und die US-Luftwaffe scheint in der Luft für Recht zu halten was im Weltraum billig ist: Sie erstellt gegenwärtig eine Machbarkeitsstudie über eine nukleare Version der Drohne Global Hawk, die monatelang unbemannt über einem zu beobachtenden Zielgebiet oder Objekt kreisen könnte.19

Aus Wien verlautet, die USA wollen im Technical & Scientific Subcommittee des UN Committee on the Peaceful Uses of Outer Space (UNCOPUOS) Kernenergie wieder auf die Tagesordnung setzen. Das lässt nichts Gutes ahnen.

Anmerkungen

1) Erhellende Informationen zu einer eventuellen radioaktiven Kontamination durch das Shuttle-Unglück sind nach wie vor nicht erhältlich.

2) 20th Annual Symposium on Space Nuclear Power and Propulsion; unter Vorsitz von Professor Mohamed S. El-Genk, Director des Institute for Space and Nuclear Power Studies der University of New Mexico; Programm und Abstracts unter http://www.unm.edu/~isnps/staif/archives/index.html

3) Frank Morring, Jr.: NASA Targets Jupiter’s Icy Moons With First Nuke-Propulsion Probe, Aviation Week & Space Technology, 10.2.2003.

4) Informationen zur laufenden Entwicklung von nuklearen Weltraumsystemen finden sich u.a. im Schwerpunkt Space Nuclear Power der Zeitschrift Nuclear News, herausgegeben von der American Nuclear Society im Dezember 2002.

5) Russia to provide US space program with nuclear fuel: official, AFP, 26.2.2003

6) Nuclear Energy Research Advisory Committee, Subcommittee for Long Term Planning for Nuclear Energy Research, Summary Report, Nuclear Waste Technology and Space Nuclear Systems R&D Working Group, October 18-20, 1999 Workshop. Die Arbeitsgruppe gab folgendes zu Protokoll: „Some participants were concerned about relying on Russian supplies for Pu-238. The US might be supporting a production scheme that is counter to US environmental and proliferation goals.“ http://www.ne.doe.gov/nerac/LTRDP-Appendices.pdf

7) www.ampsys.com/spacepower.htm; AMTEC = alkali metal thermal to electrical conversion.

8) Weitere Informationen zu den entsprechenden NASA-Plänen finden sich auf der Website der NASA Power and On-Board Propulsion Technology Division unter http://powerweb.grc.nasa.gov/sitemap.html. Allerdings ist der Zugang zu etlichen Unterseiten seit einiger Zeit gesperrt.

9) NASA Glenn Research Center: Thermo-Mechanical Systems Branch, Stirling Radioisotope Power for Deep Space. Available Today for Tomorrow’s Needs, http://www.grc.nasa.gov/WWW/tmsb/stirling/doc/stirl_radisotope.html

10) Für die Beantwortung von Verständnisfragen zu diesem Themenkomplex bin ich Marietta Benkö zu Dank verpflichtet.

11) Treaty on Principles Governing the Activities of States in the Exploration and Use of Outer Space, including the Moon and Other Celestial Bodies, in Kraft getreten 1967.

12) Agreement Governing the Activites of States on the Moon and Ohter Celestial Bodies, in Kraft getreten 1984, allerdings wurde dieses Abkommen von keiner der relevanten Weltraumnationen ratifiziert oder unterzeichnet.

13) Treaty Banning Nuclear Weapon Tests in the Atmosphere, in Outer Space And Under Water, in Kraft getreten 1963.

14) Convention on International Liability for Damage Caused by Space Objects, in Kraft getreten 1972.

15) Principles Relevant to the Use of Nuclear Power Sources, in Outer Space, Resolution der UN-Vollversammlung vom 14. Dezember 1992 (Res. 47/68).

16) Zu nennen sind hier besonders der Wiedereintritt von Kosmos-954 in die Erdatmosphäre im Jahre 1978, wobei 31 kg hoch angereichertes Uran über Kanada freigesetzt wurden. Vier Jahre später verglühte die gleiche Menge Uran bei einem Unfall von Kosmos-1402. Bereits 1964 verteilten sich bei einem Unfall des amerikanischen Satelliten Transit 5-BN-2 mehr als 2 kg in einem Generator enthaltenes Plutonium-238, die anschließend über die ganze Welt verteilt wurden. 1996 brach beim Absturz die russische Sonde Mars-96 auseinander und verteilte das radioaktive Inventar mit 200 g Plutonium über dem Grenzgebiet von Bolivien und Chile. Siehe auch Regina Hagen: Nuclear Powered Space Misssions – Past and Future, in Martin B. Kalinowski (Hrsg.): Energy Supply for Deep Space Missions, IANUS-Arbeitsbericht 5/1998.

17) Siehe z.B. Roland Wolff: Plutonium Releases into the Atmosphere, in Bender, Hagen, Kalinowski, Scheffran (Hrsg.): Space Use and Ethics, Darmstädter interdisziplinäre Beitrage 5/I, agenda, 2001.

18) Siehe z.B. Göstar Klingelhöfer: German Participation in the NASA ‚Mars Surveyor‘ Program, in: Bender et. al.: op. cit.

19) Duncan Graham-Rowe: Nuclear-powered drone aircraft on drawing board, New Scientist, 19.2.2003.

Regina Hagen ist Koordinatorin des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (www.inesap.org) und Vorstandsmitglied des Global Network Against Weapons and Nuclear Power in Space (www.space4peace.org).

Die Paradoxie des Friedens und die Lehre vom gerechten Krieg

Die Paradoxie des Friedens und die Lehre vom gerechten Krieg

von Gertrud Brücher

Nachdem es offensichtlich in Mode gekommen ist, Kriege mit »humanitären Gründen« zu rechtfertigen, nimmt auch die Debatte über die Lehre vom gerechten Krieg wieder einen breiteren Raum ein. Davon zeugen neue Buchveröffentlichungen; selbst große deutsche Tageszeitungen wie die Frankfurter Rundschau befasen sich mit diesemThema. In drei Ausgaben von Wissenschaft und Frieden haben bisher Albert Fuchs und Heinz-Günther Stobbe ihre unterschiedlichen Auffassungen dargelegt. Mit ihnen setzt sich die Marburger Philosophin und Soziologin Gertrud Brücher kritisch auseinander.
Die Kontroverse über Entbehrlichkeit oder Unentbehrlichkeit der Lehre vom gerechten Krieg, die zwischen Albert Fuchs und Heinz-Günther Stobbe in dieser Zeitschrift geführt wurde, kreist um ein Dilemma, das wohl niemals endgültig aus der Welt zu schaffen sein dürfte, dessen Reformulierung jedoch immer wieder auf die Höhe der Zeit gebracht werden muss. Dieses Dilemma lautet: Das säkularisierte Rechtsbewusstsein ist an rechtsetzende und -garantierende gewaltgestützte Instanzen gebunden und kennt deshalb – solange es kein internationales Gewaltmonopol gibt – nur positivistisch verfasste souveräne Rechtsgemeinschaften. Wenn es für diese Gemeinschaften eine reale oder fiktive Gefahr für ihr Bestehen gibt, dann können sie in ihrer Eigenschaft als reale Bedingungen geltenden Rechts, zu an sich rechtswidrigen Mitteln greifen, ohne ihren Status als rechtssetzende Gemeinschaft zu verlieren.

Dieses Dilemma fasst Immanuel Kant in den Satz: „Das Problem der Errichtung einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung ist von dem Problem eines gesetzmäßigen äußeren Staatsverhältnisses abhängig und kann ohne das letztere nicht aufgelöst werden“1. Anders gesagt. Demokratien können ihrer eigenen Maxime, Konflikte unter Rückgriff auf das Mittel des Diskurses, also nichtgewaltsam auszutragen, nur unter der Voraussetzung treu bleiben, dass alle Staaten der Erde demokratisch verfasst sind. Die Überführung der zwischenstaatlichen Verhältnisse von einem vorrechtlichen in ein rechtsförmliches Verhältnis setzt jedoch voraus, dass alle Staaten bereits Rechtsstaaten sind. Die Bedingung der Möglichkeit des Friedens – die weltweite Akzeptanz eines verbindlichen Regelwerkes, das gewaltsame Konfliktlösung ausschließt – ist die Bedingung der Unmöglichkeit des Friedens – ein Handeln mächtiger Akteure, die eine weltweite Akzeptanz im Falle einer Verweigerung erzwingt.

In diesem genuin rechtsfreien Zwischenraum, der das positive Recht von den vorpositiven Grundlagen positiven Rechts trennt, ist die Legitimation militärischer Aktionen angesiedelt. Jeder kriegerische Akt ist in sich gerechtfertigt, der sich als Verteidigung der Rechtsgemeinschaft ausgibt. Dieses formidable Legitimitätskonstrukt für Kriege jeder Art wird nicht bereits dadurch deplausibilisiert, dass ein ideologiekritisches Argument auf die Instrumentalisierbarkeit hinweist. Denn dieser Hinweis legt nur eine Selbstverständlichkeit offen, die das Grundproblem, die paradoxe Konstitution des Friedens, nicht tangiert.

Dieser bereits in den Grundentwurf moderner friedensfähiger Republiken eingebaute Widerspruch von Müssen und Nichtkönnen war zu Zeiten des Kalten Krieges in den Hintergrund getreten, um einem Allen oder zumindest dem größten Teil der Menschheit einleuchtenden Diktum der »pax atomica« zu weichen. Es verwundert nicht, dass mit dem Ende der allem Anschein nach friedenstiftenden »mutual destruction« das alte Paradoxon wieder die Konturen des politischen Weltgeschehens zu erobern beginnt.

Was in dieser Lage allein möglich scheint, ist die Diskussion jener Kasuistiken, die den Verteidigungsfall ausrufen lassen. Verteidigung ist notwendig, wenn angegriffen wird – und hier gehen die Meinungen über das Einheitskonstrukt auseinander, das in seiner Verfasstheit vor der Überwältigung geschützt werden muss. Provoziert nur die verletzte territoriale Integrität den Verteidigungfall oder werden bereits Wertegemeinschaften durch eine für sich werbende alternative Wertegemeinschaft gefährdet, »angegriffen«? Da Bedeutung und Reichweite dessen, was Verteidigung meint, von der Bestimmung der Einheit abhängt, deren Bestand zur Disposition gestellt sein kann, ist Verteidigung kein transdiskursives Thema; sie muss immer wieder – und gegenwärtig mit verstärkter Vehemenz – im diskurstheoretische Sinne auf ihre Geltungsgründe hin überprüft werden.

Ein durch Diskurs nicht mehr zu bewältigendes Problem ist und bleibt aber die paradoxe Konstitution des Friedens, die Kant gegenüber der alten aristotelisch-thomistischen Fassung lediglich den modernen säkularisierten Bedingungen angepasst hat. Da Kant nicht das Dilemma an sich schon aufzulösen vermag, ersetzen die in den Präliminar- und den Definitivartikeln genannten Bedingungen, die Staaten erfüllen sollen, um der Gefahr eines Krieges entgegenzuwirken2, nicht die Lehre vom gerechten Krieg, die Schadensbegrenzung angesichts einer in das Friedensproblem eingebauten Paradoxie ermöglichen sollte.An dieser Stelle greift die Kontroverse, die zu Unrecht als eine solche zwischen Bellizismus und Pazifismus wahrgenommen wird. Die Realität kriegerischer Auseinandersetzungen scheint ein Regelwerk zu erzwingen, wenn als Alternative nur der regel- und kriterienlose Einsatz für den guten Zweck bleibt. Wenn dies aber so ist, dann gewinnen die Hinweise von Albert Fuchs3 auf doktrinäre Schwachstellen der bellum-iustum-Lehre ein besonderes Gewicht, die in Frage stellen lassen, ob die selbstgesteckten Ziele eines Regelwerkes, nämlich regelnd in Erscheinung zu treten, überhaupt erfüllt werden können.

A. Fuchs formuliert diesen Zweifels als historisches Argument, das der bellum-iustum-Lehre bescheinigt, gemessen an dem „vorgeblichen Ziel der Kriegsverhinderung, -begrenzung oder -beendigung“ gescheitert zu sein.4 Die ganz offensichtliche Diskrepanz zwischen moralischem Anspruch und fatalen unmoralischen Konsequenzen wird gewissermaßen als Verstoß gegen das eigene Prinzip der Proportionalität betrachtet. Die Lehre hat über sich selbst das historische Urteil der Unverhältnismäßigkeit gefällt.

Dieser Einwand provoziert die grundsätzliche Frage, ob der Vergleich zwischen einer ethischen Konzeption, wie der »Lehre vom gerechten Krieg« , die Sollensprinzipien aufstellt, auf der einen Seite, und Wirkungen eines Handelns, das sich durch Berufung auf diese Lehre legitimiert, auf der anderen Seite, überhaupt möglich ist. Die Feststellung einer Inkompatibilität ist entweder logischer (wahr/unwahr, konsistent oder inkonsistent in Bezug auf Wahrheitskriterien) oder empirischer Art (Ursache/Wirkung, Intention und Resultat stimmen nicht überein). Als empirisch relevante Wirkursache tritt die Lehre nur als faktisches Legitimitätskonstrukt in Funktion. Empirisch ist die Intention, mit der ein Beobachter sich auf die Lehre beruft. Eine vom Beobachter abstrahierte Intentionalität der Lehre ist hingegen konzeptioneller Art und lässt sich nur im Kontext mit historisch-gesellschaftlichen Auslegungsvarianten ermitteln. Die bellum-iustum-Lehre muss als eine normative Theorie das Verhältnis von Absicht und Resultat konzeptionalisieren. Das tut sie, indem sie einen Akteur in seinen Konturen, d.h. in seinem Handlungsspielraum, beschreibt.

Wenn man nicht die konkrete Absicht eines konkreten Akteurs (bspw.: Nato, George W. Bush, Schröder), sondern die Intentionalität »der Lehre« herausarbeiten will, dann stößt man auf die unterschiedlichen semantisch-gesellschaftsstrukturellen Kontexte, einmal des aristotelisch-thomistischen, des kosmologischen Weltbildes, in dem die Lehre formuliert worden ist (Augustinus), und des subjektphilosophisch-aufklärerischen, innerhalb dessen eine Legitimierung des Menschenrechtsinterventionismus von Seiten der Humanisten in Angriff genommen wird.

Das Scheitern als unüberbrückbare Diskrepanz zwischen moralischem Anspruch und Resultat gilt Fuchs als empirisch erwiesen, weil es im historischen Geltungsbereich der bellum-iustum-Lehre weiterhin Kriege gegeben habe. Analog zu diesem Widerlegungstypus könnte man jedoch in gleicher Weise die Habermassche Diskursethik mit dem Argument widerlegen, dass es weiterhin Interaktionszusammenhänge gibt, in denen ethische Kriterien nicht auf ihren Geltungsgrund intersubjektiv überprüft werden. Im Falle eines Theorietypus, der Maximen für rechtmäßiges Handeln aufstellt oder – systemtheoretisch ausgedrückt – der ein Programm für den moralischen Code aufstellt, kann das Überprüfungskriterium nicht das der Falsifikation sein, mit dem empirisch-analytische Theorien auf ihre Validität getestet werden.

Wenn man die historische Wirkung als Maßstab der Bewertung ins Feld führt, dann muss man am Ereignischarakter der Lehre ansetzen; und das bedeutet, man muss die Lehre im Lichte der Intention analysieren, mit der ein bestimmter Akteur sich der Lehre bedient. Man muss sie aber auch im Lichte der intentionalen Struktur einer bestimmten historischen Ausprägung der Semantik der bellum-iustum-Lehre begutachten, die den Interpretationsradius der Akteure beeinflusst. Die konkrete Absicht, mit der sich ein Akteur auf die Lehre bezieht, ist nicht unabhängig von der historisch-semantischen Intentionalität des Textes, die unabhängig von den Instrumentalisierungsabsichten des Akteurs mit transportiert wird.

Das von H.-G. Stobbe konstatierte historische Scheitern der bellum-iustum-Lehre bezieht sich auf diesen zweiten Zusammenhang. Moralische Absicht und moralisches Resultat beginnen auf der konzeptionellen Ebene der Lehre in dem Augenblick auseinanderzutreten, in dem der politische Akteur nicht mehr als »Herrscher von Gottes Gnaden« gedacht ist, sondern als nur sich selbst unterworfener »Souverän«. Mit der Emanzipation des Politischen von religiösen und moralischen Bindungen, mit der Ausdifferenzierung des politischen Systems mithin (Westfälischer Frieden 1648, Herausbildung souveräner Nationalstaaten), entfällt der Hintergrund, vor dem die bellum-iustum-Lehre ihre Bindewirkung – Proportionalität, intentio recta, Immunität, causa iusta – entfalten konnte.

Diese Figur des »Herrschers von Gottes Gnaden« ist entgegen der Suggestion von A. Fuchs kein Symbol für Omnipotenz, sondern im Gegenteil eine Institution, die Machtbegrenzung durch die Differenz von irdischer und spiritueller Macht (Kaiser und Papst) zu garantieren suchte. Der »Herrscher von Gottes Gnaden« erreicht das moderne Souveränitätsprofil gerade nicht,5 weil er dem göttlichen Gesetz unterworfen ist. Erst Hugo Grotios hat mit der Völkerrechtsidee ein säkulares Äquivalent für die Dialektik von Macht und Gegenmacht entworfen, die ein autonom gesetztes politisches System ersatzlos gestrichen und durch eine Souveränitätstheorie ersetzt hatte, die nur die Vernunft der Staaten, die Staatsraison anerkennt.

Die im Hirtenbrief der Deutschen Bischofskonferenz von 1983 (»Gerechtigkeit schafft Frieden«) bestätigte Verabschiedung der Lehre vom gerechten Krieg, auf die H.-G. Stobbe Bezug nimmt, verweist auf eine Inkompatibilität zwischen historisch-semantischer Intentionalität und Resultat. Unter den Bedingungen eines autonom gesetzten politischen Akteurs ist die Berufung auf gerechte Gründe und auf eine Verhältnismäßigkeit der Mittel – die ein im Gewissen gegründetes Gerechtigkeitsempfinden voraussetzt – eine Persuasivtechnik, ein Rechtfertigungskonstrukt, das ausschließlich die Funktion hat, die Akzeptanz durch die Bevölkerung zu sichern und damit einen Anschein demokratischer Legitimität zu erwecken. Diese Funktion strukturiert die politische Handlungswirklichkeit aufgrund der intentionalen Struktur einer säkularisierten bellum-iustum Lehre unabhängig von den konkreten Absichten der politischen Akteure.

Vor dem Hintergrund der notwendigen Differenzierung von Ereignis (Intention des Akteurs) und Struktur (Intentionalität der BJL) können einige der strittigen Punkte der Kontroverse als Missverständnisse aufgezeigt werden.

  • Es wird deutlich, dass Fuchs (W&F 2/2002, S. 62) die Stobbessche Einordnung des Scheiterns als eine Folge der „’Ablösung (…) von ihrem traditionellen religiösen oder theologischen Fundament’ im Zusammenhang des geistesgeschichtlichen Umbruchs von Mittelalter zur Neuzeit“ kaum als „falsche Fährte“ bezeichnen kann, mit der das Versagen der BJL „rein external attribuiert“, also lediglich Umständen, Prozessen und Akteuren zuschrieben wird. H.-G. Stobbe attribuiert im Gegenteil gerade internal, indem er die Inkompatibilität als interne Unvereinbarkeit der semantisch festgelegten Intentionalität (Kriterium: Gewissensbindung) und gesellschaftsstrukturell ermöglichte Intentionalität (Kriterium: moralfreie Staatsraison) als Grund für das Scheitern angibt.
  • Die Thematisierung des Akteurs bei A. Fuchs mit der „Frage, wer letztverbindlich entscheiden soll, ob in einem konkreten Fall alle Voraussetzungen der ethischen Vertretbarkeit von militärischer Gewalt vorliegen“ (Fuchs 2001, S. 14, Sp. 2), reflektiert genau den Kontext eines Auseinanderdriftens von Semantik und Gesellschaftsstruktur, das die Intentionalität der BJL grundlegend verändert. Im Rahmen eines ausdifferenzierten, moralisch entlasteten politischen Systems ist die Entscheidungsinstanz, die die Bedingungen prüft, nicht mehr das Gewissen, sondern nur der sich selbst verantwortliche und damit in seiner Willkür bestätigte Souverän.
  • Der Definitionsnotstand, den A. Fuchs beschreibt, indem er die Kontingenz der Kriterien für den „gerechten Grund“, für eine kollektive „rechte Absicht“, für die Diagnose der „ultima-ratio“-Situation, der „legitimen Autorität“ hervorhebt, ist eine Folge des in der Neuzeit weggebrochenen religiösen Fundaments, von dem H.-G. Stobbe seine Überlegungen ausgehen lässt.
  • Wenn die »legitime Autorität« von der christlichen und katholischen Soziallehre lange Zeit in der „rechtmäßigen Regierung eines Staates“6ausgemacht wurde, so entsprang dies dem Wunsch, die BJL auf eine säkularisierte Legitimitätsgrundlage zu stellen, um auch weiterhin über einen Kriterienkatalog verfügen zu können, der innerhalb des Tötens im Krieg moralische Subdifferenzierungen vornehmen lässt. Damit hoffte man der in der Souveränitätstheorie liegenden Tendenz zum totalen Krieg – in Ermangelung eines alternativen Regelwerkes – etwas entgegensetzen zu können. Das ius ad bellum war durch die Verwandlung zum Recht auf legitime Verteidigung bereits durch die schwindenden Chancen der Verteidigung in einer Staatenwelt ausgehöhlt, die über ABC-Waffen verfügt. A. Fuchs moniert an diesem Konstrukt, dass mit dem Festhalten an einer »legitimen Autorität« Befreiungs- oder Sezessionskriege niemals »gerecht« sein könnten und stellt sich damit implizit auf den Boden der BJL, die in Bezug auf die Legitimität dieser Kriege keine Vorentscheidung trifft. Da in letzterem Fall beide Seiten – die Verteidiger der nationalen Einheit und die Verteidiger einer ethnisch oder religiös definierten Wertegemeinschaft – gute Gründe geltend machen können, bezeichnen sie geradezu den klassischen Konfliktfall, für dessen Lösung die BJL konzipiert ist.

In dem Augenblick jedoch, in dem die Verteidiger des Status quo mit den Verteidigern einer Wertegemeinschaft identisch werden, stehen nicht mehr zwei Konfliktparteien einander gegenüber, von denen jede für sich gerechte Gründe geltend machen kann. Wenn nun gefährliche und potenziell gefährliche Akteure als Exponenten des Bösen ausgeschaltet werden sollen, sind die Bedingungen, auf die das Regelwerk der BJL zugeschnitten ist, durch eine Wirklichkeitsdefinition eliminiert, die ausschließlich die Voraussetzungen für den – nicht mehr regulierbaren – »heiligen« oder »totalen« Krieg schafft. Das Strategiekonzept der »präventiven Verteidigung«, das der Potenzialität potenzieller Attacken noch vorzugreifen gebietet, um nicht den frühstmöglichen Zeitpunkt zu verpassen, an dem mit einem relativ geringen Mittelaufwand höchste Erfolge für die eigene Sicherheit erzielt werden können, etabliert nicht den »gerechten«, sondern den »permanenten« Krieg mit unabsehbaren Konsequenzen, die nicht weniger als das Ende der sogenannten zivilisierten Welt erahnen lassen.

Anmerkungen

1) Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Kant: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, hrsg. v. K. Vorländer, Hamburg 1959, S. 3-20, hier S. 12.

2) 1. „Es soll kein Friedensschluß für einen solchen geben, der mit dem geheimen Vorbehalte des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden.“ 2. „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen.“ 3. „Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen“. Die Definitivartikel lauten: 1. „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein.“ 2. „Das Völkerrecht soll auf einem Föderalism freier Staaten gegründet sein.“ 3. „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.“ (Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795).

3) Gerechter Krieg? Anmerkungen zur bellum-iustum-Lehre, in: W&F 2/2001, S. 12-15.

4) W&F 2/2002, S.62.

5) Der Obrichkeitsgehorsam als Kennzeichen einer hierarchischen Gesellschaftsstruktur, tangiert die BJL nur rudimentär, weil der geistigen und weltlichen Autorität die Autorität des individuellen Gewissens als höherstufige Instanz gegenüber steht. In das kirchliche Gesetzbuch wurde die Entscheidung des Papstes Innozenz III aufgenommen, im Falle inneren Konflikts zwischen dem Gewissen und Anordnungen einer Obrigkeit auf das Gewissen zu hören. „Alles, was nicht aus Überzeugung geschieht, ist Sünde (Röm. 14.23); und was gegen das Gewissen geschieht, erbaut zur Hölle. Gegen Gott darf man nicht dem Richter gehorchen, sondern muß lieber die Exkommunikation über sich ergehen lassen.“ (Corp.iur.can.II 286 s. Richer-Friedberg, nach Hirschberger 1965:319).

6) Stobbe W&F 4/2001, S. 53, Sp. 3.

Dr. Gertrud Brücher ist Privatdozentin an der FernUni Hagen

Zum neuen Paradigma internationaler Beziehungen

Zum neuen Paradigma internationaler Beziehungen

von Hans Küng

„In Würdigung seiner herausragenden Leistungen zur Erforschung, Aufbereitung und Verbreitung der friedensstiftenden, religionsübergreifenden und kulturverbindenden Vision des »Weltethos« als der »minima moralis« aller großen Religionen und Kulturen“ wurde der Göttinger Friedenspreis 2002 an Prof. Dr. Hans Küng und seine Stiftung Weltethos verliehen. In der Begründung der Jury heißt es weiter:„Das Weltethos basiert (…) auf zwei fundamentalen Prinzipien, die allen großen Religionen und Kulturen in ihrem letzten Kern eigen sind: ,Jeder Mensch – oder Mann oder Frau, weiß oder farbig, reich oder arm, jung oder alt –, soll menschlich und nicht unmenschlich behandelt werden.‘ und ,Was du nicht willst, dass man dir tut, das tue auch nicht den anderen!‘ (…) (Prof Küng) hat durch seine Forschungsleistung, Organisation und persönliche Ausstrahlungskraft dem »Projekt Weltethos« Stimme und Struktur, Profil und Schwung, Aufmerksamkeit und Bedeutung verliehen. Das »Projekt Weltethos« ist zu einem friedensethischen Gravitationszentrum geworden, was vielen Menschen in der Welt für ihre beschwerliche Friedensarbeit vor Ort wesentliche Orientierung gibt und bei vielen Rückschlägen immer wieder Mut macht. Die niedersächsische Landesbischöfin, Dr. Margot Käßmann, hielt bei der 4. Göttinger Friedenspreisverleihung die Laudatio auf die Preisträger. In seiner Antwort ging Prof. Küng auch auf die aktuelle Situation nach dem 11. September ein. Unter anderem führte er aus:
Aufgrund der Erfahrungen in EU und OECD lässt sich die neue politische Gesamtkonstellation wie folgt skizzieren (…) Das neue Paradigma besagt grundsätzlich: statt der neuzeitlichen nationalen Interessen-, Macht- und Prestigepolitik (wie noch in Versailles) eine Politik regionaler Verständigung, Annäherung und Versöhnung. Von Frankreich und Deutschland ist dies exemplarisch vorgemacht worden. Dies erfordert im konkreten politischen Handeln – auch in Nahost, Afghanistan und Kaschmir – statt der früheren Konfrontation, Aggression und Revanche wechselseitige Kooperation, Kompromiss und Integration.

Diese neue politische Gesamtkonstellation setzt offenkundig eine Mentalitäts-veränderung voraus, die weit über die Tagespolitik hinausgeht:

  • Neue Organisationen reichen dafür nicht aus, es braucht eine neue Denkart (»mind-set«).
  • Nationale, ethnische, religiöse Verschiedenheit darf nicht mehr grundsätzlich als Bedrohung verstanden werden, sondern als zumindest mögliche -Bereicherung.
  • Während das alte Paradigma immer einen Feind, gar Erbfeind voraussetzte, braucht das neue Paradigma keinen Feind mehr, wohl aber Partner, Konkurrenten und oft auch Opponenten. Statt militärischer Konfrontation gilt auf allen Ebenen wirtschaftlicher Wettbewerb. Denn es hat sich gezeigt, dass die nationale Wohlfahrt auf die Dauer nicht durch Krieg, sondern nur durch Frieden befördert wird, nicht im Gegen- oder Nebeneinander, sondern im Miteinander.
  • Und weil die nun einmal bestehenden verschiedenen Interessen im Miteinander befriedigt werden, ist eine Politik möglich, die nicht mehr ein Null-Summen-Spiel ist, bei welcher der eine auf Kosten des anderen gewinnt, sondern ein Positiv-Summen-Spiel, bei dem alle gewinnen.

Natürlich ist Politik im neuen Paradigma nicht einfach leichter geworden, sondern bleibt – die jetzt freilich gewaltfreie – »Kunst des Möglichen«. Wenn sie funktionieren soll, kann sie sich nicht gründen auf einen »postmodernistischen« Beliebigkeitspluralismus. Vielmehr setzt sie einen gesellschaftlichen Konsens bezüglich bestimmter Grundwerte, Grundrechte und Grundpflichten voraus. Dieser gesellschaftliche Grundkonsens muss von allen gesellschaftlichen Gruppen mitgetragen werden, von Glaubenden wie Nichtglaubenden, von den Angehörigen der verschiedenen Religionen wie Philosophien oder Ideologien (…) Die freie Verpflichtung auf ein gemeinsames Ethos schließt selbstverständlich nicht aus, sondern ein, dass sie vom Recht unterstützt wird und unter Umständen juristisch eingeklagt werden kann – im Fall von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und völkerrechtlicher Aggression allerneuestens sogar vor einem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (…) Aber nun ist ja notorisch, dass ja gerade die USA den Internationalen Strafgerichtshof – zusammen mit Israel – sabotieren (…) Die gegenwärtige Administration der einzig übriggebliebenen Supermacht scheint eine Politik im neuen Paradigma mehr als andere Großmächte in der asiatischen, islamischen oder afrikanischen Welt zu stören. Und so komme ich denn nicht darum, das neue Paradigma mit der politischen Wirklichkeit nach dem 11. September 2001 zu konfrontieren (…)

Nicht aufhalten möchte ich mich mit der Frage, ob es nach dem 11. September eine Alternative zum erlebten Afghanistan-Szenario gegeben hätte. Auf die Frage des »Göttinger Tageblatts« habe ich die Frage bejaht und konkretisiert: Krieg als »ultima ratio« und nicht wie jetzt als »proxima ratio«. Ein deshalb höchst fragwürdiger Krieg übrigens (…),

  • ein Krieg, der seine primären Ziele nach einem halben Jahr noch immer nicht erreicht hat, der nun länger und verlustreicher wird als zunächst angenommen und der sehr wohl enden kann mit einem militärischen Sieg der Amerikaner und einem nicht gewonnenen Frieden, neuen Stammeskonflikten, Herrschaft der Warlords und Banditentum wie in der Zeit vor der Talibanherrschaft;
  • ein Krieg, in dessen aktive Führung auch deutsche Soldaten aufgrund einer »uneingeschränkten Solidarität« immer mehr verwickelt werden und möglicherweise zu jahrelanger Präsenz und Auseinandersetzungen im Hindukusch und in der Hauptstadt Kabul verdammt sind;
  • ein Krieg, der manche keineswegs pazifistische Zeitgenossen fragen lässt, was deutsche Soldaten eigentlich in Afghanistan und im Jemen zu suchen haben und was deutsche Fregatten in Djibutti und am Horn von Afrika und ob deutsche Soldaten uneingeschränkt auch Kriege gegen Somalia und Syrien, den Irak und Iran mitmachen sollen.

Deutschland könnte »marginalisiert« werden, meinen die Verteidiger dieser neuen militärischen Außenpolitik. Aber nein, meine Damen und Herren, Deutschland ist zu groß und zu mächtig, als dass es »marginalisiert« werden könnte. Die entscheidende Frage ist nach den neuesten Erfahrungen mehr denn je: Wie sollen wir uns international engagieren? Und soll es im Kampf mit dem Terrorismus einfach in diesem Stil weitergehen? Nicht um die Alternativen der Vergangenheit geht es mir, sondern um die Alternativen der Zukunft. Haben wir überhaupt solche, solange Außenpolitik vor allem Militärpolitik ist und Abermilliarden für sündhaft teure neue Waffensysteme und Transportflugzeuge statt für Kindergärten und Schulen im eigenen Land und für die Bekämpfung von Armut, Hunger und Elend in der Welt ausgegeben werden? Gibt es überhaupt noch Chancen für das neue Paradigma auch außerhalb der OECD-Welt? Ich meine ja und möchte das vorsichtig andeuten: nicht mit scheinbar sicheren Voraussagen, sondern im Modus des »Es könnte ja sein, dass«. Also im vollen Bewusstsein all der realen Ungewissheiten der Zukunft, die heute oft rascher grundlegende Wendungen herbeiführen als früher und dies nicht immer zum Schlimmeren. Also sozusagen nach dem realistischen Anti-Murphy-Principle: „Was schief gehen kann, muss nicht immer schief gehen.“ Und ich beschränke dabei meine Bemerkungen auf Afghanistan und den Nahen Osten.

Was den Afghanistan-Krieg angeht: Ich bin ein Freund der Vereinigten Staaten, war dort oft viel geehrter Gastprofessor und ein Bewunderer der großen amerikanischen Tradition der Demokratie und der Einforderung der Menschenrechte. Und gerade deshalb plädiere ich für Frieden – auch angesichts der Kampagne gegen den Terrorismus:

  • Es könnte ja sein, dass auch die neue amerikanische Administration einsieht, dass wer den Kampf gegen das Böse in der ganzen Welt meint gewinnen zu können, sich selbstgerecht zum ewigen Krieg verdammt und dass auch eine Supermacht erfolgreiche Politik nur dann betreiben kann, wenn sie nicht selbstherrlich unilateral handelt, sondern echte Partner und Freunde, nicht Satelliten, hat.
  • Es könnte ja sein, dass die USA, klüger als frühere Imperien, ihre Macht doch nicht überdehnen und am Größenwahn scheitern werden, sondern dass sie ihre Vormachtstellung bewahren, indem sie nicht nur ihre Eigeninteressen, sondern auch die ihrer Partner berücksichtigen.
  • Es könnte ja sein, dass der amerikanische Präsident, dessen Haushaltsüberschuss im vergangenen Jahr um vier Trillionen Dollar abgenommen hat und der in Zukunft wieder mit Defiziten rechnen muss, seine Budget-Politik doch noch umorientiert und sich statt primär um Militärpolitik um eine erfolgreichere Wirtschaftspolitik kümmert, die auch weitere Enron-Pleiten, Börsendesaster und eine noch immer mögliche Rezession ins Auge fasst.
  • Es könnte ja sein, dass auch die gegenwärtige amerikanische Administration, weil sie sich nicht die ganze islamische Welt entfremden will, doch etwas mehr nach den Ursachen der Ressentiments der Araber und Muslime gegenüber dem Westen und den Vereinigten Staaten im Besonderen fragt; dass sie sich statt nur um Symptombekämpfung mehr um die Therapie an den sozialen, ökonomischen und politischen Wurzeln des Terrors kümmert; dass sie statt noch mehr Milliarden für militärische und polizeiliche Zwecke mehr Mittel für die Verbesserung der sozialen Lage der Massen im eigenen Land und der Globalisierungsverlierer in aller Welt aufwendet.
  • Es könnte ja sein, dass die Supermacht USA auch aus Eigeninteresse daran interessiert wäre, dass das internationale Rechtsbewusstsein nicht erschüttert wird dadurch, dass die einzige Supermacht andere Standards setzt als sie allgemein völkerrechtlich gelten – weil sie so denjenigen Kräften hilft, die sich überhaupt nicht an die Standards des internationalen Rechts halten wollen, und gerade so den Terror fördert.

Und was nun die Tragödie im Nahen Osten betrifft: Ich war ein Freund des Staates Israel von Anfang an, habe mich im Zweiten Vatikanischen Konzil nachdrücklich für die Judenerklärung eingesetzt und nach dem Konzil für die Anerkennung des Staates Israel durch den Vatikan. Gerade deshalb plädiere ich für Frieden – auch angesichts einer scheinbar ausweglosen Situation:

  • Es könnte ja sein, dass gerade angesichts der ständig steigenden Spirale der Gewalt und mehr als 1100 Toten (davon 3/4 Palästinenser – darunter 200 Kinder) seit dem September 2000 (als Scharon zur puren Provokation schwer bewaffnet und -beschützt den Tempelberg hinaufstieg und die zweite Intifada auslöste) immer mehr Israelis realisieren, dass sie diesen Krieg nicht gewinnen können. Sharons rein militärische Strategie »Frieden durch Repression« ist gescheitert.
  • Es könnte ja sein, dass eine zunehmende Zahl von Israelis einsieht, dass dieser Scharon, der bereits für das Verhängnis des Libanonkrieges 1982 und die Kriegsverbrechen in den dortigen Flüchtlingslagern verantwortlich war und deshalb zum Rücktritt als Verteidigungsminister gezwungen wurde, sie ein zweites Mal durch seine konzeptionslose Demagogie irregeführt hat, als er ihnen Frieden durch eine Politik der starken Hand versprach. Niemand täusche sich: Die zweite Intifada wird siegen, weil die Leidensfähigkeit der Unterdrückten größer und anhaltender ist als die der Unterdrücker.
  • Es könnte deshalb sein, dass jene mehr als 500 tapferen israelischen Offiziere und Soldaten von Armee und Bevölkerung immer mehr Unterstützung erhalten, die einen Militärdienst in einem unmoralischen Krieg verweigern – mit der Begründung: „Wir werden nicht länger kämpfen jenseits der »Grünen Linie«, um dort zu besetzen, zu deportieren, zu zerstören, zu blockieren, zu morden, auszuhungern und ein ganzes Volk zu demütigen.“
  • Es könnte auch sein, dass die Judenschaft in Amerika und Europa, schon längst herausgefordert durch die skandalöse Unterdrückung eines Volkes, mithilft, damit die wieder erwachte Friedensbewegung in Israel Unterstützung erhält und die Friedenswilligen in Israel gewinnen, damit in dieser chaotischen Pattsituation möglichst rasch eine andere Politik dieser Regierung sich durchsetzt oder dann eben eine andere Regierung, die wirklich den Frieden will.
  • Es könnte dann sein, dass eine israelische Regierung wie schon im Jahr 2000 im Libanon nach zwei Jahrzehnten Besatzung (Israels »Vietnam«) die Truppen zurückzieht und den Friedensvorschlag des saudiarabischen Kronprinzen Abdullah aufgreift: Rückzug aus allen besetzten Gebieten und Anerkennung des Staates Israel durch alle arabischen Staaten mit normalen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, um so einen autonomen und lebensfähigen (nicht zerstückelten) Palästinenserstaat zu ermöglichen, womöglich in einer Wirtschaftsunion mit Israel und Jordanien, die ein Segen für die gesamte Region und besonders für Israel sein könnte.
  • Es könnte ja sein, dass dann auch die radikalen Palästinenser, die mit der gleichen Gewaltslogik reagierten, ihre terroristischen Aktivitäten einstellen und dass die Palästinenser ihr »Recht auf Rückkehr« realistisch auf die symbolische Rückkehr für einige besonders harte Fälle beschränken – zu Gunsten von neuen Ansiedlungen oder von finanziellen Vergütungen, wie sie vielen Juden nach dem Zweiten Weltkrieg zukamen.
  • Es könnte ja sein, dass auch die Jerusalem-Frage eine Lösung finden könnte, wie die ebenfalls viele Jahrzehnte verschleppte »römische Frage«, als der Vatikan und der italienische Staat um Souveränität über die heilige Stadt Rom stritten, bis man in den Lateranverträgen die relativ einfache Lösung fand: eine einzige Stadt mit einer Stadtverwaltung aber zwei Souveränitäten, Italien auf dem linken Tiberufer und Città e Stato del Vaticano auf dem rechten. Was für Jerusalem hieße: In der einen Altstadt (nur sie zählt hier) zwei Fahnen und zwei Souveränitäten, aber eine einzige Stadtverwaltung – und womöglich mit einem Bürgermeister und einem Premierminister vom Format eines Teddy Kollek. Hier wären die Religionen besonders gefordert

„Vergeltet niemandem Böses mit Bösem!“ (Röm 12,17)

Dieses Wort des Neuen Testaments ist jenen christlichen Kreuzrittern in Amerika und Europa gesagt, die das Böse nur bei den anderen suchen und die meinen, ein Kreuzzug heilige jedes militärische Mittel und rechtfertige alle humanitären »Kollateralschäden«.

„Aug um Aug, Zahn um Zahn“ (Ex 21,24)

Dieses Wort der Hebräischen Bibel zur Schadensbeschränkung ist jenen israelischen Fanatikern gesagt, die dem Gegner immer lieber gleich zwei Augen als nur eines nehmen und mehrere Zähne einschlagen möchten und die vergessen, dass ein fortgesetztes „Aug um Aug die Welt erblinden lässt“ (Gandhi).

„Und wenn sie sich dem Frieden zuneigen, dann neige auch du dich ihm zu“ (Sure 8, 61)

Dieses Wort des Koran ist jenen palästinensischen Gotteskriegern gesagt, die noch heute den Staat Israel am liebsten von der Landkarte tilgen möchten (…)“

Passt Töten doch zum Beten?

Passt Töten doch zum Beten?

Eine Replik

von Albert Fuchs

Aus Anlass der Reaktivierung der bellum-iustum-Lehre im Zusammenhang des Militärinterventionsdiskurses der 90er Jahre hatte der Autor des vorliegenden Beitrags diese Lehre in W&F 2/01 einer fundamentalen Kritik unterzogen, ohne sie allerdings in Bausch und Bogen zu verwerfen. Diesen Ball nahm der katholische Theologe H.-G. Stobbe auf. In Heft 4/01 versuchte er, die Einwände von Fuchs aus der Sicht der Befürworter der bellum-iustum-Lehre zu entkräften. Fuchs weist in seiner Replik Stobbes Argumente als nicht stichhaltig zurück und vertieft die Kritik an der fraglichen Doktrin.
Nach Lage der Dinge können sich Pazifisten z.Z. glücklich schätzen, wenn sie noch wahrgenommen und ihre Argumente und Vorschläge halbwegs ernsthaft geprüft werden. Entsprechend dankbar bin ich H.-G. Stobbe, dass er als Befürworter der bellum-iustum-Konzeption sich mit meiner Kritik an dieser Lehre auseinandergesetzt hat. Seine Gegenargumente verfehlen jedoch den Kern meiner Argumentation, führen jedenfalls nicht weiter. Das ist nicht durchgehend evident. Insofern stellen sie bei aller Schwäche doch eine Herausforderung dar – und eine Gelegenheit, die Kritik an der bellum-iustum-Konzeption zu präzisieren und zu vertiefen. Um den Nachvollzug der Kontroverse zu erleichtern, werde ich mich an der Darlegung der „doktrinären Schwachstellen“ in dem Bezugsbeitrag orientieren (Fuchs, 2001).

Streitpunkte

Ich hatte zunächst das historische Scheitern der bellum-iustum-Lehre – gemessen am vorgeblichen Ziel der Kriegsverhinderung, -begrenzung oder -beendigung – geltend gemacht. Es wird auch von Stobbe ausdrücklich bestätigt (a.a.O., S. 52, Sp. 3). Allerdings bringt er es unmittelbar – das legt zumindest nahe: ursächlich – in Verbindung mit ihrer „Ablösung (…) von ihrem traditionellen religiösen oder theologischen Fundament“ im Zusammenhang des geistesgeschichtlichen Umbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit. Am Ende dieser Entwicklung stehe das ius ad bellum als wesentlicher Ausdruck staatlicher Souveränität und Autorität, ohne Rechenschaftspflicht gegenüber einer übergeordneten Instanz, nur dem Kalkül politischer Rationalität folgend.

Diese Sicht der Dinge stellt m.E. insofern eine »falsche Fährte« dar, als das Versagen der bellum-iustum-Lehre rein external attribuiert wird, d.h. es wird Umständen, Prozessen und Akteuren zugeschrieben, die mit der Doktrin selbst bzw. dem Trägerkollektiv möglichst wenig zu tun haben, am liebsten natürlich einem Gegner (vgl. Deutsche Bischofskonferenz, 1983, S. 29ff.). Dagegen übergeht Stobbe meine kaum weniger plausible internale Zuschreibung des fraglichen Befunds, d.h. die Zurückführung auf die ungeklärte Frage, wer denn letztverbindlich entscheiden soll, ob in einem konkreten Fall alle Voraussetzungen der ethischen Vertretbarkeit von militärischer Gewalt vorliegen (Fuchs, 2001, S. 14, Sp. 2, s.u.). Vor allem aber ist aus der offiziösen Sicht das Versagen vor dem Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit nicht zu erklären (vgl. Nitschke, 1995).

Zweitens: Auch meiner Feststellung einer „Schlangengrube von Problemen“ bei (Versuchen) einer genaueren Explizierung und Operationalisierung der bellum-iustum-Kriterien pflichtet Stobbe in der Sache bei, wenn er schreibt: „Man wird zugeben müssen, dass diese allgemeine bzw. grundsätzliche Bestimmung (seitens der deutschen Bischöfe in »Gerechtigkeit schafft Frieden« – A. F.) noch keine einfach zu handhabende Kriteriologie an die Hand gibt, um »im konkreten Fall« entscheiden zu können, ob die Anwendung von militärischer Gewalt ethisch legitim wäre oder nicht.“ (a.a.O., S. 53, Sp. 2). Im Weiteren wird das Manko einer „Kasuistik relevanter Rechtsbrüche“ betont und allgemein darauf verwiesen, dass „zusätzliche Bedingungen“ vorliegen müssen, „die allesamt eine automatische (…) Gewaltanwendung ausschließen.“ (ebd.)

Mit diesen Bemerkungen wird meine Problembeschreibung jedoch nur paraphrasiert; sie enthalten nicht einmal einen elementaren Lösungshinweis methodischer oder substanzieller Art. Gegenüber der vielleicht durch die Vorgabe induzierten Tendenz, sich auf das Kriterium des »gerechten Grundes« zu kaprizieren, muss betont werden, dass meine Defizitanzeige alle Kriterien betrifft. Was ist z.B. eine kollektive »rechte Absicht«? Und wie stellt man sie fest? Oder welche Indizien erlauben die Diagnose einer »ultima-ratio«-Situation? u.s.w.

Bezüglich des Kriteriums »legitime Autorität« scheint für Stobbe allerdings kein Klärungsbedarf zu bestehen: Legitime Entscheidungsinstanz ist gemäß der christlichen und katholischen Soziallehre die „rechtmäßige Regierung eines Staates“ (a.a.O., Sp. 3). Und damit basta? Wann hat man es aber beispielsweise bei Befreiungs- oder Sezessionsbewegungen mit einer »legitimen Entscheidungsinstanz« zu tun? Oder kann ein Befreiungs- oder Sezessionskrieg niemals »gerecht« sein? Und was gilt im Falle von Loyalitätsverpflichtungen gegenüber verschachtelten Autoritäten, die in Widerspruch zueinander stehen? Beispiel: Bundeswehrsoldaten gegenüber der Bundesregierung (im NATO-Verbund) und den Vereinten Nationen im Kosovo-Krieg. Was gilt vor allem, wenn sich fraglos rechtmäßige Regierungen als Konfliktparteien gegenüber stehen? »Beiderseits gerechter Krieg« – wie gehabt?

Meinen Hinweis, drittens, auf die normenlogische Unklarheit, wie sich aus einer Berechtigung zu einer (»humanitären«) militärischen Intervention – entgegen dem Gewaltverbot (und der Souveränitätsgarantie) des Völkerrechts und einer universellen Ethik des Lebensschutzes – eine Interventionspflicht bzw. eine Verpflichtungsabstufung ergeben soll, spricht Stobbe nur beiläufig im Zusammenhang des vorausgehenden Punktes an (a.a.O., S. 53, Sp. 2) und so, dass ich annehmen muss, mich nicht hinreichend klar ausgedrückt zu haben.

Mir geht es um die Lücke zwischen dem politisch-moralischen Urteil im i.e.S. – »Hier darf und sollte man militärisch eingreifen!« – und dem Verantwortungs- bzw. Verpflichtungsurteil – »Das ist unsere Sache. Hier müssen wir militärisch eingreifen!« Die in Anbetracht der prinzipiellen Begrenztheit aller Ressourcen (Fähigkeit, Mittel, Zeit) alltagsethisch selbstverständliche Verpflichtungsabstufung nach der Nähe der Sozialpartner hat diese Differenzierung zur Voraussetzung. Einen aus der philosophischen Ethik bekannten Anknüpfungspunkt stellen Ansätze dar, moralische Regeln nach dem Grad ihrer (abnehmenden) Verbindlichkeit zu hierarchisieren (z.B. Gert, 1983). Jedenfalls muss zu der grundsätzlichen Einschätzung »Hier darf und sollte man militärisch eingreifen!« die Einschätzung »Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt?« hinzukommen, damit das moralische Urteil i.e.S. handlungsrelevant werden kann. Das Verantwortungsurteil beinhaltet die prekäre Austarierung von Eigeninteressen und moralischen Interessen.

Soweit ich das beurteilen kann, wird diese Lücke von bellum-iustum-Experten bisher kaum gesehen. Andererseits ist seit den 90er Jahren der Militärinterventionsdiskurs (in der BRD) durchtränkt vom Verantwortungsjargon. Wenn beispielsweise die »Bündnisloyalität« oder die »Erwartung der internationalen Staatengemeinschaft« oder die »jüngere deutsche (Militär-) Geschichte« oder das »wohl verstandene deutsche Interesse« u.s.w. beschworen werden, hat man es offensichtlich nicht mit bellum-iustum-Kriterien zur grundsätzlichen Klärung der politisch-moralischen Legitimität eines militärischen Eingreifens zu tun, sondern mit Zusatz- oder Anschlusskriterien, welche die politische Verantwortbarkeit des eigenen Eingreifens oder Nicht-Eingreifens im konkreten Fall rechtfertigen sollen.

Dass Stobbe mir die Übernahme von Spiekers (1997) These einer »globalen Solidaritätspflicht« unterstellt (a.a.O., S. 53, Sp. 2), vermag ich nicht nachzuvollziehen. Denn diese These läuft ja darauf hinaus, einen Bedarf, das Legitimitätsurteil anhand von Zusatzkriterien in ein Verantwortungs- bzw. (Selbst-)Verpflichtungsurteil zu überführen, zu ignorieren oder zu leugnen, während ich einen solchen Bedarf ausdrücklich postuliere und als Alternative zu Spiekers Selbst-Verpflichtungs-Automatismus die normative Begründung einer Verpflichtungsabstufung fordere. Dass es sich dabei im Übrigen um ein höchst brisantes Thema handelt, lässt sich kaum besser verdeutlichen als am Funktionswandel des Versatzstücks »jüngere deutsche Geschichte« aus diesem Repertoire: Diente es bis weit in die 90er Jahre dazu, ein militärisches Engagement Deutschlands in einem von Hitlers Wehrmacht überfallenen Land als politisch nicht verantwortbar auszuschließen, mutierte es unter »Kriegskanzler Schröder« und »General Fischer« im Zusammenhang des Kosovo-Kriegs zu einem zentralen Bestandteil des Rechtfertigungs-Diskurses zu Gunsten der Beteiligung der Bundeswehr an diesem Krieg.

Ein Vorgang wie dieser, die geradezu inflationäre Zunahme der Positivkriterien für die Wahrnehmung »internationaler Verantwortung« in militärischer Form seit der Epochenwende und die immer unverhohlenere Beimischung von Interessenerwägungen im einschlägigen Begründungsdiskurs, könnten genuine bellum-iustum-Experten längst alarmiert und zur Problematisierung der Regeln dieses Spiels inspiriert haben. Soll denn dieses Feld die Spielwiese der jeweils regierenden Macchiavellisten sein und bleiben?

Viertens hatte ich hervorgehoben, dass ebenfalls ungeklärt ist, wer denn letztverbindlich und handlungsrelevant beurteilen soll, ob in einem konkreten Fall alle Voraussetzungen der ethischen Vertretbarkeit der Anwendung von militärischer Gewalt vorliegen. Auch bei diesem Punkt besteht anscheinend Klärungsbedarf. Unter Punkt 2 wurde die »legitime Autorität« unter dem Explizierungs- und Operationalisierungsaspekt thematisiert; hier dagegen geht es um die Verbindlichkeit der Situationsbeurteilung dieser wie auch immer bestimmten Autorität – einschließlich ihres Selbstverständnisses als »legitime Entscheidungsinstanz«! – für das Urteilen und Handeln der ihrem Anspruch Unterworfenen, der Bürger und Bürgerinnen als Kriegssteuer-Zahler und Soldaten. Beantwortet man diese Frage »obrigkeitsgefällig« – so meine These –, gerät man in Widerspruch zu den als universell verbindlich unterstellten Wertprämissen der Gewissensfreiheit und ethischen Letztverantwortung des Individuums; beantwortet man sie aber im Sinne dieser Wertprämissen, entfällt eine zentrale Funktionsbedingung des Militärs – und damit eines bellum iustum: die Erzwingbarkeit des Gehorsams der Regierten gegenüber dem obrigkeitlichen Ansinnen, Militär- und Kriegssteuer zu zahlen und sich zum Töten und Sich-töten-Lassen herzugeben.

Stobbe geht recht ausführlich auf diesen Aspekt ein (a.a.O., S. 53, Sp. 3f.). Einerseits ergibt sich für ihn aus der unterstellten Letztverantwortung des Einzelnen so etwas wie ein Grundrecht auf Ungehorsam: Eine »garantierte Folgebereitschaft« könne und dürfe es nicht geben, „weder im demokratischen Rechtsstaat noch überhaupt, weder für Bürger und Bürgerinnen im allgemeinen, noch für solche in Uniform im Besonderen.“ (a.a.O., S. 54, Sp. 1). Daraus resultiere aber keinerlei Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Militärs – und damit auch nicht für die Führbarkeit eines bellum iustum. Andererseits garantieren Stobbe zufolge die Bestimmungen des Soldatengesetzes der BRD, die einen Gehorsamsvorbehalt gegenüber rechtlich-moralisch fragwürdigen Befehlen von Vorgesetzten beinhalten (§ 11 Abs. 1 und 2 SG), dass der konkrete Militärdienst jederzeit mit der Letztverantwortungsprämisse kompatibel bleibt.

Auf den ersten Blick scheint damit der Widerspruch aufgelöst. Bei genauerem Hinsehen aber stellt sich heraus, dass wieder auf die Strategie der »falschen Fährte« zurückgegriffen wird, diesmal in Form eines Themenwechsels. Ich rede weder von einem diffusen Gewissensvorbehalt gegenüber dem allgemeinen Anspruch von Regierenden auf den Gehorsam ihrer Untergebenen noch von dem positivierten Gehorsamsverweigerungsrecht des Militärpersonals (der BRD!) gegenüber moralisch-rechtlich fragwürdigen Einzelbefehlen. Mein Thema ist der gegenüber jenem spezifischere und im Vergleich zu diesem allgemeinere Vorbehalt im Hinblick auf Militärdienst und Kriegssteuer-Zahlung aufgrund einer persönlichen Situationsbeurteilung anhand der bellum-iustum-Kriterien, die der »amtlichen« widerspricht. Ob eine Prioritierung der Gewissensfreiheit und Letztverantwortung des Einzelnen in dieser Spezifikation und Allgemeinheit nicht doch die Funktionsfähigkeit jedes Militärapparates und damit die Führbarkeit eines bellum iustum gefährdet?

Natürlich kann kein Staat, der auf dem »letzten Mittel der Könige« besteht, dieses Risiko eingehen. Wie ideal demokratisch er sich auch versteht und gesehen werden möchte, er muss in Militärdingen die Gewissensfreiheit seiner Untertanen einschränken. Im »Modell Deutschland« sind verschiedene Einschränkungen realisiert. Hier ist besonders von Interesse, dass das in Art. 4 Abs. 3 GG als »unmittelbar geltendes« Grundrecht verankerte Recht auf Kriegsdienstverweigerung durch die in Art. 4 Abs. 3 Satz 2 GG geforderte gesetzliche Regelung einschränkend im Sinne der »absoluten Kriegsdienstverweigerung« interpretiert wird. Das besagt: Nur wer die Androhung oder Anwendung von militärischer Gewalt prinzipiell und ausnahmslos für ethisch verwerflich hält und sich „aus Gewissensgründen der Beteiligung an jeder Waffenanwendung zwischen den Staaten widersetzt“, kann als Kriegsdienstverweigerer anerkannt werden (§ 1 Satz 1 Kriegsdienstverweigerungsgesetz). Wer dagegen unter Berufung auf sein Gewissen die Teilnahme an einem ganz bestimmten Krieg oder an Kriegen bestimmter Art oder mit bestimmten Waffen verweigern möchte, hat keinen Anspruch auf Anerkennung. Das Bundesverfassungsgericht (1962) hat mit Beschluss vom 20.12.60 diese Regelung anerkannt und seither auch nicht beanstandet. Gesetzgeber und Verfassungsrichter federn damit die Konsequenzen aus dem Widerspruch zwischen bellum-iustum-Idee und demokratischer Grundordnung ab und sichern so die Funktionsfähigkeit des Militärapparats, lösen den Widerspruch aber nicht, sondern handeln sich einen neuen ein. Bisher hat m.W. niemand schlüssig gezeigt, wie das skizzierte verfassungsrechtliche Entweder-oder-Denken mit der herrschenden Meinung in Einklang zu bringen ist, dass es gute und böse, rechtfertigungsfähige und verwerfliche Kriege, bella iusta eben und bella iniusta, geben könne.

Fünftens: Stobbes Ausführungen zu dem Widerspruch zwischen dem vorgeblichen Zweck des Lebensschutzes und dem Mittel Leben vernichtender militärischer Gewalt in der bellum-iustum-Konzeption machen mich etwas ratlos. Sie bestehen im Wesentlichen in einem umfänglichen historisch-exegetischen Exkurs zur Entwicklung des 5. Gebots des Dekalogs – »Du sollst nicht töten!« – und zu dessen Einbettung in das jüdische Normengefüge vor Beginn unserer Zeitrechnung. Im Ergebnis wird betont, dass das Tötungsverbot einerseits in jenem Normensystem durchaus mit einem Tötungsgebot vereinbar erschien – dort, wo es in seiner prohibitiven Funktion versagte –, dass es andererseits mit dem Krieg nichts zu tun hatte, sondern (lediglich) inner- und interfamiliäre Beziehungen vor den Folgen von Tötungsdelikten schützen sollte (während dieselbe Funktion im Verkehr zwischen verschiedenen Sippen durch die Institution der Blutrache erfüllt worden sei) (a.a.O., S. 52, Sp. 1f.).

So interessant diese Befunde und Interpretationen sein mögen, es ist nicht klar, was sie im gegebenen Zusammenhang leisten sollen. »Beweisen«, dass man das Tötungsverbot des Dekalogs nach wie vor nicht mit Töten im Krieg in Verbindung bringen darf? Dass man nach wie vor keinen Widerspruch zwischen Tötungsverbot und Tötungslizenz bzw. -gebot unserer Ethik zu sehen hat? Weil man vor ca. zweieinhalbtausend Jahren (angeblich) keine Verbindung hergestellt bzw. keinen Widerspruch gesehen hat? Das wären allerdings sehr gewagte Sprünge »vom Sein zum Sollen«.

Im Übrigen sehe ich eine radikale Verallgemeinerung des Tötungsverbots auf alle Artgenossen nicht primär im inhaltlich bestimmten »Du sollst nicht töten!« des Dekalogs verankert, sondern vor allem in der »Goldenen Regel«. Dieses in negativer Form im Alten Testament (Tob 4,15) und in positiver im Neuen (Mt 7,12; Lk 6,31) – sowie ansatzweise in mancher anderen Ethik-Tradition – zu findende formale ethische Prinzip führte in der rechtsphilosophischen und ethischen Reflexion der deutschen und schottischen Aufklärung einerseits zum Universalisierungsprinzip und andererseits – in Verbindung damit – zu Kants »kategorischem Imperativ« (vgl. Hruschka, 1987). Mir ist schlechterdings unvorstellbar, wie sich daraus etwas anderes als ein uneingeschränktes Tötungsverbot – die essenzielle Gleichheit aller Menschen vorausgesetzt – ergeben soll.

Wie immer aber die wirkungsgeschichtlichen Zusammenhänge sein mögen, der Widerspruch von Zweck und Mittel im bellum-iustum-Konzept ist davon völlig unabhängig. Stobbe verliert kein Wort dazu. Liegt dieser Widerspruch wirklich nicht auf der Hand? Auch nicht im Fall »unschuldiger Opfer« – wie er jetzt durch den US-amerikanischen Antiterror-Krieg in Afghanistan wieder einmal vorexerziert wurde? (vgl. Tutu, 2002, S. 5) Diesen Fall glaubt man vielfach mit einer Chirurgie-Metapher entschärfen zu können: Wie bei einem chirurgischen Eingriff die Heilung des ganzen Organismus schmerzhafte Einschnitte, u.U. die Opferung von Gewebe, Gliedern und Organen, erfordere, so seien auch militärische »chirurgische Eingriffe« zum Besten der internationalen Staatengemeinschaft – bella iusta eben – bedauerlicherweise nicht ohne Opfer zu haben. Um sich den kaum überbietbaren Zynismus dieses »zu Ende gedachten Utilitarismus« klar zu machen, stelle man sich vor, Herzchirurgen würden im Interesse der Heilung ihrer Patienten (gesunde) andere Menschen buchstäblich ausschlachten.

Schlussbemerkungen

In allen Einzelpunkten bleibt Stobbes Dissens zu meiner Kritik an der bellum-iustum-Lehre eher diffus. Gegen Ende seines Beitrags formuliert er ihn bilanzierend zwar explizit, aber immer noch so uneindeutig, dass man sich fragt, worin der denn nun eigentlich besteht. Einerseits wird die Ansicht verworfen, dass „das staatlich angeordnete Töten im Krieg eo ipso moralisch verurteilt werden“ müsse. Andererseits wird konstatiert: „Der Tod eines Menschen bleibt unaufhebbar und immer ein Übel, selbst wenn er aus moralisch einsichtigen Gründen herbeigeführt oder in Kauf genommen wird.“ (a.a.O., S. 54, Sp. 2f.) Doch was für ein Übel? Ein (objektives!) moralisches? Worin besteht dann der Unterschied zu der verworfenen Ansicht? Oder ein »bloß« außermoralisches, physisch-biologisches? Warum verweist Stobbe dann aber weiter zustimmend auf die Praxis der »Alten Kirche« – gemeint ist wohl eine vorkonstantinische Kirchenpraxis –, die „christlichen Soldaten, die im Krieg getötet hatten, harte Bußübungen auferlegt“ habe, da sie noch gewusst oder gespürt habe, „dass jedes Blutvergießen einer Welt Tribut zollt, die dem Willen Gottes widerstrebt“ (ebd., Sp. 3)?

Mir scheint, Stobbe landet mit dieser Nachbetrachtung zur Funktionalität der bellum-iustumLehre bei einem ähnlichen Grau wie ich mit dem Zugeständnis, „eine authentische und stringent gewaltkritische bellum-iustum-Argumentation“ könne ein effektives Instrument der Kritik von Militärgewalt darstellen und biete zumindest die Möglichkeit, „UN-Blauhelmeinsätze politisch-moralisch von Hitlers Vernichtungskriegen zu unterscheiden.“ (Fuchs, 2001, S. 15, Sp. 1) Vielleicht könnte sie auch im zwischen- und überstaatlichen (Straf-)Recht einer zukünftigen Welt-Rechtsgemeinschaft eine ähnliche Funktion haben wie das innerstaatliche Notwehr- und Nothilferecht, d.h. dazu dienen, die »Rechtmäßigkeit« des fraglichen Handelns zu überprüfen. Freilich bedeutet dieses ansatzweise »positive Denken« über die bellum-iustum-Lehre nicht, dass auch nur ein Kritikpunkt abzuschwächen oder gar zurückzunehmen wäre. Im Besonderen vermag keine bellum-iustum-Mühle aus dem, was nun einmal „unaufhebbar und immer ein Übel“ ist, moralisch wertvolles Handeln zu pressen.

Wenn also jemand »Töten und Beten« erklärtermaßen aus der Sicht der jüdisch-christlichen Tradition mit Hilfe der bellum-iustum-Lehre versöhnen zu können glaubt, muss er sich doch – aus eben dieser Perspektive! – fragen lassen, woran er eigentlich glaubt. Haben nicht biblische Querdenker (»Propheten«) schon in vorchristlicher Zeit »Glauben an Jahwe« statt des »Glaubens an die Rosse« gefordert?

Literatur

Bundesverfassungsgericht (1962): Beschluss des Ersten Senats vom 20. Dezember 1960 – 1BvL 21/60. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 12, 45-61.

Deutsche Bischofskonferenz (1983): Gerechtigkeit schafft Frieden. Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz.

Fuchs, A. (2001): Gerechter Krieg? Anmerkungen zur bellum-iustum-Lehre. Wissenschaft und Frieden, 19 (2), 12-15.

Gert, B. (1983): Die moralischen Regeln. Eine neue rationale Begründung der Moral. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Hruschka (1987): Die Konkurrenz von Goldener Regel und Prinzip der Verallgemeinerung in der juristischen Diskussion des 17./18. Jahrhunderts als geschichtliche Wurzel von Kants kategorischem Imperativ. Juristen Zeitung, 42, 941-952.

Nitschke, A. (1995): Von Verteidigungskriegen zur militärischen Expansion: Christliche Rechtfertigung des Krieges beim Wandel der Wahrnehmungsweise. In H. von Stietencron & J. Rüpke (Hrsg.): Töten im Krieg (S. 241-276). Freiburg/München: Alber.

Spieker, M. (1997): Von der nuklearen Abschreckung zur humanitären Intervention. Zur Aktualität der bellum-iustum-Lehre. Zeitschrift für Politik, 44, 310-323.

Stobbe, H.-G. (2001): Du sollst nicht töten! Das 5. Gebot und das Töten im Krieg. Wissenschaft und Frieden, 19 (4), 51-54.

Tutu, D. (2002) : „Ich bin ein Gefangener der Hoffnung“ – Erzbischof Desmond Tutu über Weißen-Witze, die langsame Heilung Südafrikas und die Arroganz der Supermacht USA. Frankfurter Rundschau vom 12.01.02, Magazin, S. 4-5.

Dr. Albert Fuchs ist apl. Professor für Psychologie an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt und arbeitet für das Forum Friedenspsychologie im Redaktionsteam von Wissenschaft und Frieden mit.

Du sollst nicht töten!

Du sollst nicht töten!

Das 5. Gebot und das Töten im Krieg

von Heinz-Günther Stobbe

In der vorletzten Nummer dieser Zeitschrift hat Albert Fuchs kritisch gegen die Lehre vom Gerechten Krieg Stellung bezogen. Er billigt ihr eine „beachtliche ethische Plausibilität“ zu (W&F 2-2000, S. 12), unterstreicht die Fragwürdigkeit einer pauschal diffamierenden Kritik, die ihre Stärken ignoriere (S. 13) und räumt am Ende sogar die Möglichkeit einer von Schwächen entlasteten hilfreichen Fassung ein (S. 15). Das lädt ein zu weiterem Nachdenken, das sich im Folgenden auf einige hoffentlich weiter führende Aspekte konzentrieren soll.
Als die eigentliche Achillesferse der BLJ bezeichnet der Autor den „unabdingbaren Widerspruch zwischen Mittel und Zweck bzw. von Tötungstabu und Tötungslizenz“, der sich nach seinem Urteil in der jüdisch-christlichen Tradition deshalb zuspitzt, weil diese seit alters her beansprucht habe, das in allen Kulturen vorhandene Tötungstabu „radikal verallgemeinert, auf alle Artgenossen ausgeweitet zu haben.“ (S. 14)

Offenbar hat der Autor bei dem Hinweis auf Juden- und Christentum das 5. Gebot des Dekalogs im Sinn, das üblicherweise lautet: »Du sollst nicht töten!«. Besser würde es heißen: »Du sollst nicht morden!«, doch kann auch diese Übersetzung nicht ganz befriedigen. Der Grund dafür eignet sich gut, um die historische und sachliche Schwierigkeit der von Fuchs vorgetragenen These zu beleuchten. Zunächst aber: Es erscheint wenig glücklich, in diesem Zusammenhang von einem »Tötungstabu« zu sprechen. Religionsgeschichtlich betrachtet handelt es sich bei einem Tabu ganz allgemein um ein Verbot, allerdings sehr eigener Art. Das wird unter anderem deutlich im Fall der Tabu-Verletzung und ihrer Sanktionierung: Wer gegen ein Tabu verstößt, zieht sich in jedem Fall eine Strafe zu – und zwar völlig unabhängig davon, ob der Verstoß wissentlich und willentlich vollzogen wurde. Das bedeutet: Das Tabu markiert eine vormoralische Grenze menschlichen Verhaltens, die sich mit dem modernen Verständnis moralisch verantwortlichen Handelns schwer vereinbaren lässt. Ob es historisch und inhaltlich angemessen ist, allen Kulturen ein »Tötungstabu« zuzuschreiben (S. 14), darf bezweifelt werden. Das wäre schon deshalb unstimmig, weil gerade Tabu-Verletzungen oft ihrerseits mit dem Tod bestraft werden.

Das Alte Testament kennt eine Fülle höchst unterschiedlicher Tabus in allen Bereichen des Zusammenlebens von Menschen sowie von Mensch und Tier. Besonders die sexuellen Beziehungen innerhalb der auf engstem Raum zusammenlebenden Großfamilie sind, wie etwa das Buch Levitikus belegt, in hohem Maße durch Tabu-Regeln normiert, denen meist noch magische Vorstellungen zugrunde liegen. Das Tötungsverbot des Dekalogs jedoch gehört auf keinen Fall zu den Tabus.

Tatsächlich gibt es, so weit kann Fuchs zugestimmt werden, keine Kultur ohne irgendeine Art von Tötungsverbot. Aber dieser allgemeine Befund sagt wenig aus, so lange nicht dessen jeweilige Eigenart und Reichweite bestimmt wird. Das lässt sich am Beispiel des 5. Gebots recht gut erläutern. Zwar wirft die historisch-kritische Interpretation des Dekalogs bzw. der Zehn Gebote recht verzwickte Fragen auf, immerhin jedoch besteht in der alttestamentlichen Forschung in drei Punkten Konsens. Zum ersten repräsentieren die beiden vorliegenden Fassungen des Dekalogs vergleichsweise späte Entwicklungsphasen. Das heißt konkret: Sie stammen mit Sicherheit aus dem späten Exil, unter Umständen sogar aus der nachexilischen Zeit. Zum zweiten: Die Einzelgebote der so genannten zweiten Tafel greifen älteres Traditionsgut aus dem Bereich des Familien- und Sippenrechts auf, das definitionsgemäß keine universale Geltung beansprucht. Zum dritten: Das Konstruktionsprinzip des Dekalogs besteht darin, diese traditionellen Elemente in den Rahmen des Gottesrechts einzuordnen. Ihr Geltungsgrund und ihre Reichweite hängen deshalb strikt vom 1. Gebot ab, das mit den Worten beginnt: „Ich bin Jahve, dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat, aus dem Sklavenhaus.“ (Ex 20, 2) Der Dekalog entfaltet demnach Gottesrecht als Bundesrecht des so genannten Sinai-Bundes und bezieht sich infolgedessen weder auf die Menschheit insgesamt noch auf andere Völker, sondern ausschließlich auf das Volk Israel als Jahves Bundesvolk. Man kann die Grenzen der einzelnen Gebote und Verbote sogar noch enger ziehen: Vorrangig geht es um den Rechtsschutz innerhalb der Familie, der sich ursprünglich nicht am Prinzip der Verschuldenshaftung, sondern am Prinzip der Erfolgs- bzw. Ergebnishaftung orientiert, also eine rechtswidrige Tat unabhängig vom Tatvorsatz bewertet. Daher unterscheidet die Verbotsnorm nicht zwischen Tötung im Allgemeinen und Mord im Besonderen. Das geschieht erst im Zuge der Verlagerung der Sanktionsgewalt weg vom Familienoberhaupt hin zur Ortgerichtsbarkeit und damit des Ausbaus rechtsförmiger Verfahren, in dessen Folge dann auch die Tatstrafen je nach Delikt differenziert werden. Obgleich es unhistorisch wäre, für die Entstehungszeit des Dekalogs eine klar und sauber durchgeführte Unterscheidung von Ethos bzw. Sitte einerseits und Recht andererseits zu erwarten, gehört das 5. Gebot dennoch primär in die Rechtssphäre, nicht in den Bereich der Ethik.

Die Eigenart des 5. Gebots lässt sich noch besser erkennen durch den Blick auf eine vergleichbare Stelle. Im Buch Genesis findet sich folgende Version des Tötungsverbotes: „Wenn aber euer Blut vergossen wird, fordere ich Rechenschaft, und zwar für das Blut eines jeden von euch. Von jedem Tier fordere ich Rechenschaft und vom Menschen. Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder.“ (9, 5) Erneut ist der theologische Bezug entscheidend: Dem Gott Israels wird eine allgemeine Strafandrohung in den Mund gelegt, die nach Art einer Generalprävention jedes Blutvergießen verhindern soll. Anders jedoch als im Dekalog begründet der (priesterschriftliche) Autor den Rechtsanspruch Gottes auf alles Blut (=Leben) nicht mit dem besonderen Verhältnis zwischen Jahve und seinem Bundesvolk Israel, sondern er verortet ihn im so genannten Noah-Bund (vgl. Gen 9, 1-17), der das ursprüngliche Schöpfungshandeln Gottes fortsetzt. Darum greift er auf den Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen zurück, den er bereits im ersten Kapitel eingeführt hatte (vgl. Gen 1, 26. 27): „Denn: Als Abbild Gottes hat er den Menschen gemacht“ (Gen 9, 6b). Erst dieser Begründungsschritt verleiht dem Tötungsverbot einen wirklich universellen Charakter. (Nur am Rande: Wie fern und fremd uns dennoch die zugrunde liegende Vorstellungswelt in anderer Hinsicht ist, zeigt die Einbeziehung der Tiere in die Strafandrohung Jahves, ein Echo altorientalischen Rechtsdenkens.) Selbst in dieser allgemeinsten Fassung allerdings bedeutet das Tötungsverbot mitnichten, dass überhaupt kein Töten erlaubt wäre. Schon Gen 9, 6a stellt ausdrücklich fest: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut wird durch Menschen vergossen.“ Im Übrigen kennt das Alte Testament unbeschadet der Geltung des Dekalogs zahlreiche Strafdelikte im sozialen und kultischen Leben, die mit dem Tode geahndet werden dürfen, ja sogar zwingend die Todesstrafe fordern. Dafür drei Beispiele: a) Ex 21, 16: „Wer seinen Vater oder seine Mutter schlägt, wird mit dem Tode bestraft.“ b) Deut 22, 23 für den Fall des Beischlafs einer verlobten Frau mit einem Liebhaber: „Ihr sollt sie steinigen, und sie sollen sterben…“ Schließlich c) aus dem Bereich des Kriegsrechts für den Fall einer erfolgreich belagerten Stadt: „Wenn der Herr, dein Gott, sie in deine Gewalt gibt, sollst du alle männlichen Personen mit scharfem Schwert erschlagen.“ (Deut 20,13)

Aus alledem ergibt sich eindeutig: Es ist verfehlt, das 5. Gebot im pazifistischen Sinne als ein uneingeschränktes ethisches Tötungsverbot zu interpretieren, das keinerlei Ausnahme zuließe. Sein Ziel als Rechtsnorm besteht darin, inner- und interfamiliäre Beziehungen vor den gefährlichen Folgen von Tötungsdelikten zu schützen, während dieselbe Funktion im Kontext des Verkehrs zwischen verschiedenen Sippen durch die Institution der Blutrache erfüllt wird. Wo das Verbot in seiner prohibitiven Funktion versagt, wird seine Übertretung ihrerseits in der Regel mit dem Tod geahndet. Den elementaren Schutz-Charakter dieser Tat/Sanktions-Folge »Leben gegen Leben« illustriert eindrucksvoll das Beispiel des Mordes durch einen unbekannten Täter, der durch die Tötung einer Kuh durch die Ältesten gesühnt werden muss: „Sie sollen feierlich sagen: Unsere Hände haben dieses Blut nicht vergossen, und unsere Augen haben nichts gesehen. Deck es zu, zum Schutze deines Volkes Israel, das du freigekauft hast, Herr, und lass kein unschuldig vergossenes Blut in der Mitte deines Volkes Israel bleiben. Dann ist das Blut zu ihrem Schutze zugedeckt.“ (Deut 21, 7. 8)

Man erkennt leicht die tiefe Einbettung praktischer Verhaltensformen im Umgang mit erlittener Gewalt in eine religiöse Vorstellungswelt, die weit entfernt ist von einer eigenständigen Ethik des Lebensschutzes. Darin wenigstens gleicht das Alte Testament den archaischen und antiken Kulturen. In ihnen existiert kein Widerspruch zwischen Tötungsverbot und Tötungsgebot. In Wahrheit verhält es sich umgekehrt: Gerade die Heiligkeit des Lebens verlangt zwingend danach, »unschuldig vergossenes Blut« durch Blut zu sühnen. Das und nichts anderes macht den Inhalt des Tötungsverbotes in allen bekannten Kulturen und Gesellschaften aus: das Töten unschuldigen Lebens zu verhindern.

Ein Letztes: Weder das Tötungsverbot noch das Institut der Blutrache haben mit dem Krieg zu tun. In keiner frühen Kultur wird der Krieg überhaupt als Problem der Ethik wahrgenommen. Auch hier hat die religiöse Perspektive unbedingten Vorrang: Der »Feind« verkörpert ja keineswegs nur einen politischen Gegner, sondern die Chaos-Mächte, die als solche die Ordnung der Welt und mit ihr die Grundlagen des Friedens bedrohen. Da er per definitionem nicht zu dieser Ordnung gehört, fällt er auch nicht unter die konstitutive Unterteilung in unschuldiges und schuldiges Leben. Man könnte in gewissem Sinne sagen, der »Feind« erscheine eigentlich nur als Un-Mensch, sofern dabei im Blick bleibt, dass seine Un-Mensch-lichkeit keine moralische Degeneration oder Perversion signalisiert, sondern seinen ontologischen Status. Das erklärt die unerhörte Brutalität der Kriegsführung: Der Feind als Feind kann ohne alle moralische Bedenken vertrieben, versklavt oder eben vernichtet werden, eben weil er weder als moralisches Subjekt noch als Träger von Rechten in den Blick kommt. Allen frühen Gesellschaften eigen ist mithin eine ethnozentrische Sichtweise, aufgrund derer die eigene Gruppe mit der »Menschheit« identifiziert wird, und nur innerhalb ihrer Grenzen ergibt sich die Notwendigkeit, das Töten zu rechfertigen. Entsprechend taucht nirgendwo die Frage nach Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit des Krieges im spätantiken oder gar modernen Sinne auf. Das »Legen der Feinde« zählt selbstverständlich zu den elementaren Herrschaftspflichten etwa des ägyptischen Pharao, der im Krieg und durch den Krieg nicht allein die politische und soziale, sondern zugleich und mehr noch die kosmische Ordnung schützt.

Die Lehre vom Gerechten Krieg (BJL) erweist sich demnach als Ergebnis einer höchst voraussetzungsvollen Entwicklung, im Verlauf derer religiöse, ethische und politische Reflexion allmählich auseinander treten, um sodann gerade in der Form dieser Lehre in eine neue Beziehung zueinander gebracht zu werden. Für dieses Bemühen stehen zumal ihre christlichen Vertreter, allen voran Augustinus. Wie immer man jedoch deren Anstrengungen beurteilen mag, dem Krieg einen Ort in der moralischen Weltordnung zu geben und ihn damit überhaupt einer ethischen Beurteilung unterwerfen zu können, fest steht ihr historisches Scheitern. Der geistesgeschichtliche Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit markiert neben manch anderen emanzipativen Bewegungen auch und nicht zuletzt die Ablösung der Lehre vom Gerechten Krieg von ihrem traditionellen religiösen oder theologischen Fundament. Mehr noch: Sie verliert gleichzeitig, wie das Verständnis der Politik weithin, auch den Bezug zur Ethik. Am Ende dieses Prozesses steht das Ius ad Bellum als wesentlichster Ausdruck absoluter staatlicher Souveränität und Autorität, die in der Wahrnehmung des Rechts zum Krieg keiner übergeordneten Instanz mehr rechenschaftspflichtig sind und ausschließlich dem Kalkül politischer Rationalität folgen. Es bedurfte offenbar der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, um nachhaltige Zweifel daran zu säen, ob dieser theoretische und praktische Stand der Dinge als der menschlichen Weisheit letzter Schluss angesehen werden kann.

An einer der wenigen Stellen seiner »Anmerkungen«, an denen ihr sachlicher Grundzug ironisch gebrochen wird, behauptet Fuchs, der vielfach belegte Missbrauch der BJL irritiere deren Vertreter so wenig wie die Logiker „Fehler von Laien beim schlussfolgernden Denken“ (W&F, S. 13). Woher er das weiß, verrät er allerdings nicht, und obgleich er wörtlich den Hirtenbrief der Deutschen Bischofskonferenz von 1983 (»Gerechtigkeit schafft Frieden«) zitiert, der ihre ideologische Anfälligkeit ausdrücklich feststellt, versäumt er es, ebenfalls mitzuteilen, dass am gleichen Ort die BJL in ihrer klassischen Form verabschiedet wird. Gänzlich immun gegen geschichtliche Erfahrung scheint man wenigstens auf kirchlicher Seite nicht zu sein. Vor diesem Hintergrund freilich wird in der Tat die von Fuchs abschließend aufgeworfene Frage unausweichlich: „Was bleibt?“ (S. 15), Die deutschen Bischöfe antworten zunächst mit einem terminologischen Vorschlag: „Angesichts der neuzeitlichen Wirkungsgeschichte der säkularen Theorien des »gerechten Krieges« mit ihren vielen problematischen Ausformungen empfiehlt es sich, folgerichtig eher von »gerechter Verteidigung« zu sprechen.“ (Nr. 3. 5. 1) Sachlich betrachtet, so die Bischöfe weiter, „behält der ethisch-normative Kerngehalt der Lehre »gerechter Verteidigung« innerhalb einer umfassenden Friedensethik der Kirche eine beschränkte, im konkreten Fall schwierige, dennoch für die ethische Orientierung bis jetzt unersetzliche Funktion, nämlich im Hinblick auf den Grenzfall einer fundamentalen Verteidigung des Lebens und der Freiheit der Völker, wenn diese in ihrer elementaren physischen und geistigen Substanz bedroht oder gar verletzt werden.“ (Nr. 4. 1) Man wird einräumen müssen, dass diese allgemeine bzw. grundsätzliche Bestimmung noch keine einfach zu handhabende Kriteriologie an die Hand gibt, um »im konkreten Fall« entscheiden zu können, ob die Anwendung militärischer Gewalt ethisch legitim wäre oder nicht. Immerhin aber lässt sie keinen Raum für die von Fuchs mit Blick auf die Problematik so genannter humanitärer Interventionen vorgetragene These, Staatenbündnisse oder gar alle einzelnen Staaten würden durch eine „globale Solidaritätspflicht“ (Spieker) eo ipso „in jedem Fall“ zum militärischen Eingreifen verpflichtet. (S. 14) Einen derartigen Automatismus kann es weder in völkerrechtlicher noch in ethischer Hinsicht geben. Zwar fehlt es bislang an einer Kasuistik relevanter Rechtsbrüche, dennoch liegt auf der Hand, dass fundamentale Rechtsgüter in beträchtlichem Ausmaß gefährdet sein müssen und infolgedessen selbst die Verletzung von Menschenrechten als solche nicht als Interventionsgrund ausreicht. Darüber hinaus fordert die BJL ja nicht nur einen schwerwiegenden Rechtsgrund (»causa iusta«), sondern das Vorliegen zusätzlicher Bedingungen, die allesamt eine automatische, sprich: unterschiedslose Gewaltanwendung ausschließen.

Zu diesen Bedingungen zählt unverändert auch die Notwendigkeit einer legitimen Entscheidungsinstanz, in der christlichen und katholischen Soziallehre üblicherweise mit der rechtmäßigen Regierung eines Staates gleichgesetzt. Fuchs hält diesen Standpunkt für „gewiss obrigkeitsgefällig,“ sieht jedoch einen Widerspruch zu „der in eben dieser Tradition betonten moralischen Letztverantwortung des Einzelnen“ sowie zur „grundgesetzlich garantierten unverletzlichen Gewissensfreiheit.“ (S. 14) Auch dieser Einwand hält einer genaueren Prüfung nicht stand. Zunächst stellt „die Einforderbarkeit bzw. Erzwingbarkeit des Gehorsams der Regierten gegenüber dem Anspruch der Obrigkeit“ mitnichten „eine zentrale Funktionsbedingung eines bellum iustum“ dar (S. 14). Das trifft nicht einmal für die Funktionsfähigkeit des Militärs zu, geschweige denn für das Verhältnis von Regierung und Volk im Rahmen eines demokratischen Rechtsstaates. Das Soldatengesetz der Bundesrepublik Deutschland billigt in § 10(4) Vorgesetzten Befehlsgewalt „nur unter Beachtung der Regeln des Völkerrechts, der Gesetze und der Dienstvorschriften“ zu und schreibt den Soldaten in § 11(1) zwar eine grundsätzliche Gehorsampflicht gegenüber seinen Vorgesetzten zu, hält dann aber fest: „Ungehorsam liegt nicht vor, wenn ein Befehl nicht befolgt wird, der die Menschenwürde verletzt oder der nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt worden ist.“ § 11(2) verbietet ausdrücklich den Befehlsgehorsam, „wenn dadurch eine Straftat begangen würde.“ Schon rechtlich also hat der »Anspruch der Obrigkeit« Grenzen, erst recht in moralischer Hinsicht. Kein Staat hat das Recht, die Gewissensfreiheit einzuschränken oder gar aufzuheben, niemand kann sich aber auch auf Amtspflichten oder Rechtsbefugnisse berufen um sich der Pflicht zu entziehen, sich auch in politischen Angelegenheiten ein moralisches Urteil zu bilden und dem eigenen Gewissen zu folgen. Art. 38 des Grundgesetzes bekräftigt ausdrücklich die exklusive Gewissensbindung der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, der nach Art. 80a GG über den so genannten Spannungsfall entscheidet.

Es lässt sich deshalb nur schlecht nachvollziehen, wie Fuchs dazu kommt, einen prinzipiellen Widerspruch zwischen Gewissensfreiheit und Gehorsamspflicht anzunehmen. Richtig ist allerdings: Eine garantierte »Folgebereitschaft der Regierten« kann und darf es nicht geben, weder im demokratischen Rechtsstaat noch überhaupt, weder für Bürger und Bürgerinnen im allgemeinen noch für solche in Uniform im Besonderen. Vorbehaltlose Zustimmung verdient, was die Wiener Philosophin H. Pauer-Studer jüngst geschrieben hat: „Die Konsequenzen von Entscheidungen zum Kriege und die Art der Kriegführung an moralischen Standards zu prüfen, ist eine Minimalbedingung ziviler Gesellschaften.“ (Ethik des gerechten Krieges, in: Liessmann, K.P.,Hg.: Der Vater aller Dinge. Nachdenken über den Krieg, Wien 2001, 93-117, dort 99)

Mit Rücksicht auf diese Sachlage kann keine Rede davon sein, die BJL verwandle gleichsam unter der Hand Mord in eine „prosoziale(n) Handlung“, in eine „Tugendheldentat“, einfach deshalb, weil er „von Staats wegen“ ausgeübt wird. Da der Begriff des Mordes per definitionem eine moralisch verwerfliche und rechtlich strafbare Tötung bezeichnet, lässt sich Mord schon aus analytischen Gründen niemals moralisch rechtfertigen, auch nicht dank einer „staatlichen Lizenz zum Töten“. Staatlich angeordneter Mord bleibt Mord und also ein Verbrechen. Dass in der Realität kaum ein Staat besonders ausgeprägte Neigungen zeigt, Staatsverbrechen effektiv zu verfolgen, liegt sozusagen in der Natur der Sache und sollte niemand verwundern, ändert aber nichts am Grundtatbestand: Gerade deshalb kann es nur als Fortschritt begrüßt werden, wenn mittlerweile begonnen wird, gegebenenfalls selbst Regierungschefs die Immunität zu entziehen, um sie strafrechtlich belangen zu können.

Nun lässt die Argumentation von Fuchs durchscheinen, dass er schon die Idee für untragbar hält, Töten könne jemals moralisch erlaubt oder sogar geboten sein. Wäre das richtig, müsste in der Tat auch das staatlich angeordnete Töten im Krieg eo ipso moralisch verurteilt werden. Das berühmt-berüchtigte Schlagwort, alle Soldaten seien Mörder, bringt genau das zum Ausdruck. Und natürlich macht es keinen Sinn, von besonderen Kriegsverbrechen zu sprechen, wenn der Krieg als solcher zum Verbrechen erklärt wird. Nur, mit allen derartigen Wertungen ist bereits vorweg entschieden, was erst noch zu klären wäre: Ob das Töten eines Menschen in jedem Fall und besonders im Krieg als moralisch verwerflich gelten muss. Strenge Pazifisten bejahen das, doch widerspricht dieser strenge Standpunkt sowohl unserem Rechtssystem als auch dem allgemeinen Rechtsempfinden. Beide unterscheiden vergleichsweise trennscharf zwischen Mord, Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge u.a.m., beziehen also in die rechtliche und moralische Beurteilung einer Tötungshandlung die ihr zugrunde liegende Absicht bzw. das Tatmotiv mit ein. Im Vergleich mit früheren Kulturen stellt das ohne Zweifel eine bedeutsame zivilisatorische Leistung dar, und man kann sich deshalb durchaus fragen, ob der Pazifismus nicht im Namen eines vermeintlich höheren moralischen Anspruchs solche Errungenschaften des moralischen Bewusstseins preisgibt. Wenn es keinen moralischen Unterschied macht, ob ein Soldat im Gefecht tötet oder einen wehrlosen Gefangenen erschießt, dann spricht das keineswegs für ein gesteigertes Moralempfinden, sondern für moralische Blindheit. Freilich: Der Tod eines Menschen bleibt unaufhebbar und immer ein Übel, selbst wenn er aus moralisch einsichtigen Gründen herbeigeführt oder in Kauf genommen wird. Für Heldenverehrung derer, die für ihn verantwortlich sind, sollte da keinerlei Raum sein. Die Alte Kirche hat christlichen Soldaten, die im Krieg getötet hatten, harte Bußübungen auferlegt. Sie wusste oder spürte noch, dass jedes Blutvergießen einer Welt Tribut zollt, die dem Willen Gottes widerstrebt. Es wäre gut, sich dessen wieder zu erinnern. Wer sich am Krieg begeistern kann, leidet an einer Perversion des Gemüts und der moralischen Urteilskraft. Die wahren Heldinnen und Helden sind immer noch jene Menschen, denen es gelingt, inmitten einer vom Krieg gequälten Welt ein wenig Frieden zu stiften.

Ein kurzes persönliches Wort zum Schluss: An einer Stelle schreibt Fuchs beiläufig den Anhängern der BJL einen „Glauben an militärische Gewalt“ zu (S. 14). Dagegen möchte ich mich entschieden verwahren. Ich kenne niemanden, der an militärische Gewalt glaubt, und jedenfalls für mich gilt, dass ich einzig und allein an Gott glaube, an nichts sonst, am wenigstens an Gewalt. Deswegen empfinde ich eine derartige Formulierung – mit Verlaub – als blasphemisch. Wenn ich unter Umständen selbst tötende Gewalt akzeptiere, dann nicht, weil ich an sie glaube, sondern weil ich wider Willen gelernt habe, dass es noch schlimmere und unmenschlichere Formen der Gewalt gibt als den Tod.

Professor Dr. Heinz Günther Stobbe