Es gibt keinen »gerechten« Krieg und hat ihn nie gegeben

Es gibt keinen »gerechten« Krieg und hat ihn nie gegeben

von Karlheinz Koppe

Die überwältigende Mehrheit der Menschen hat seit alten Zeiten im Krieg eine grausame Geissel gesehen – und doch gibt es den Krieg. Dieser Widerspruch hat naturgemäß immer wieder Menschen veranlaßt, über den Krieg nachzudenken und nach Erklärungen zu suchen. Eine der ersten Gewalttaten, die Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain, den Ackerbauern, läßt keinen Zweifel an der Antwort: Es ist das Böse, die Sünde, die den Menschen zur Gewalt verführt und damit zum Krieg. Wie aber ist es um jene bestellt, die sich gegen Gewalt wehren? Sind nicht sie im Recht, wenn sie ihrerseits Krieg führen?

Die Problematik des »gerechten Krieges« ist so alt wie der Krieg selbst. In der Gedankenwelt der alten Griechen, die noch keine ausgeprägte Vorstellung von »Böse« und »Sünde« hatten, waren Gewalt, Kampf und Krieg unter Menschen das Spiegelbild ihrer Götterwelt. Das erlaubte ihnen, auch ihrerseits in Gewalt, Kampf und Krieg etwas alltägliches zu sehen. Der „Streit ist der Vater aller Dinge“ hatte Heraklit formuliert, damit zwar nicht unbedingt den Krieg gemeint, wie in der irrigen Übersetzung „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ zum Ausdruck kommt, die vor allem im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert einer heroisierenden Geschichtsschreibung Vorschub leistete, sondern jede Form von Auseinandersetzung (»Konflikt« sagen wir heute). Doch schon Thukydides hatte Zweifel daran, ob das Kriegsgeschehen so einfach auf den Götterwillen oder auf Göttereinwirken geschoben werden könne. Er sah vielmehr die Ursachen des Krieges eindeutig in Furcht, Gier und Ehrgeiz von Menschen und hütete sich vor jeder einseitigen Schuldzuweisung. Er kommt zu dem Urteil, daß angesichts der herrschenden Unvernunft der Krieg unvermeidlich war.

Für die Römer, vor allem für Cicero, war der Krieg schlicht ein zweckrationales und opportunistisches Mittel zum Vorteil des Staates. Nicht die Gerechtigkeit stand im Vordergrund, sondern das Recht des Staates, über Krieg und Frieden zu entscheiden. Das spätere ius ad bellum, das Recht auf Kriegführung, war damit vorgedacht.

Das frühe Christentum hatte den Krieg in Auslegung des Evangeliums als Botschaft der Gewaltlosigkeit eindeutig geächtet. Christen, die in den Soldatendienst traten, wurden exkommuniziert. Das änderte sich schlagartig, als 313 das Christentum von Kaiser Konstantin anerkannt (Edikt von Mailand) und gegen Ende des 4. Jahrhunderts von Kaiser Theodosius zur Staatsreligion erhoben wurde. Konnte die Kirche unter diesen Umständen noch den Krieg so eindeutig ächten und Christen den Soldatendienst verbieten? Denn die Mächtigen erwarteten, daß die Kirche ihren Segen gebe. Die dafür geeignete theologische Begründung formulierte der Bischof von Hippo, Augustinus, eben mit dem Begriff des »gerechten« Krieges, der freilich sehr dehnbar war.

Kriterien des »gerechten« Krieges

Andererseits hat Augustinus den Begriff des bellum iustum offensichtlich eher in der Absicht geprägt, den Krieg einzudämmen und zu verhindern als zu rechtfertigen, denn die Kriterien, die er zu diesem Zwecke entwickelte, sind derart angelegt, daß es den »gerechten« Krieg eigentlich nicht geben kann. So mußte zunächst eine causa iusta, ein gerechter Grund, für einen Krieg erkennbar sein: Das bedeutete, daß eine der Kriegsparteien eindeutig und allein im Unrecht und damit »schuldig« war. Weiter mußte eine recta intentio, also die richtige Absicht, mit dem Krieg verbunden sein: Das anzustrebende Wohl des Staates mußte das in Kauf zu nehmende Übel des Krieges und seiner Folgen übersteigen. In diesem Kriterium liegt das begründet, was wir heute die »Verhältnismäßigkeit« der Kriegführung und der eingesetzen Mittel nennen. Schließlich durfte der Krieg nur von einer von Gott eingesetzten legitima potestas, also von einer befugten Obrigkeit, geführt werden. Mit anderen Worten hieß das: Nicht auf Eroberung, Rache oder Bestrafung durfte ein Krieg gerichtet sein, sondern ausschließlich auf die Herstellung von Frieden. Augustinus war es auch, der frühzeitig den inneren Zusammenhang von Frieden und Gerechtigkeit erkannte: pax iustitiae opera – der Frieden ist das Werk der Gerechtigkeit.

Augustinus erkannte aber, wie schlecht es mit dem gerechten Grund, der richtigen Absicht und der legitimen Obrigkeit seiner und aller Zeiten bestellt war, denn – so formuliert er – »was anders sind also Reiche, wenn ihnen die Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden?“ Er hat sicher auch gewußt, wie schwierig es war, eine einseitige und eindeutige Schuld festzustellen. Und die rechte Absicht ist nur selten, wenn überhaupt beachtet worden. Dennoch konnten Papst und Bischöfe mit der Lehre vom »gerechten Krieg« seither Soldaten zumuten, ihrer Obrigkeit gehorsam zu sein und in den Krieg zu ziehen, zugleich aber die Obrigkeiten jederzeit bezichtigen, zu Unrecht Krieg zu führen. Der Keim zur Pervertierung des Denkens war damit gelegt: zeitweise erklärte sich die Kirche selbst zur Obrigkeit und führte Krieg, doch schließlich obsiegte die weltliche Obrigkeit (im 19. Jahrhundert der Nationalstaat) und übernahm vom bellum iustum nur das, was alle Obrigkeiten wirklich interessierte: das ius ad bellum, das Recht auf Krieg. In diesem Verständnis wurden von der Kirche die Kreuzzüge ebenso gerechtfertigt wie der Dienst des Soldaten unter eindeutig ungerechten Obrigkeiten, sofern er selbst fest im Glauben steht. Das führte dann im Zweiten Weltkrieg dazu, daß selbst katholische Deserteure von der Kirche verurteilt wurden sowie deutsche Bischöfe und Pfarrer auch Hitlers Krieg noch als »gerecht« preisen konnten.

Franziskus Maria Stratmann, ein überzeugter katholischer Pazifist, hat aus der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur über den bellum iustum zehn Kriterien, zum Teil unter Wiederholung von Originalpassagen bei Augustinus, herausgearbeitet und aus der Sicht der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts kommentiert:

„1. schweres Unrecht auf Seiten einer und nur einer der beiden streitenden Parteien;

2. schwere moralische Schuld auf einer der beiden Seiten. Bloß materielles Unrecht genügt nicht;

3. zweifelsfreie Nachweisbarkeit dieser Schuld;

4. Unvermeidbarkeit der kriegerischen Auseinandersetzung nach Fehlschlagen aller mit ganzem Ernst und ganzer Kraft unternommenen Verständigungsversuche;

5. Proportion zwischen Schuld und Strafmittel. Ein das Maß der Schuld überschreitendes Strafmaß ist ungerecht und unerlaubt;

6. moralische Gewißheit, daß der Sieg der gerechten Sache zuteil werden wird;

7. rechte Absicht, durch den Krieg das Gute zu fördern und das Böse zu vermeiden. Das aus dem Krieg zu erwartende Wohl des Staates muß das zu erwartende Übel übersteigen;

8. rechte Art der Kriegführung: Einhaltung der Schranken der Gerechtigkeit und Liebe;

9. Vermeidung schwerer Erschütterung anderer nicht unmittelbar in die Kriegshandlung verwickelter Staaten sowie der christlichen Gesamtheit:

10. Kriegserklärung durch eine gesetzlich dazu autorisierte Obrigkeit im Namen Gottes zur Vollstreckung seiner Gerichtsbarkeit.

Fehlt eine dieser Voraussetzungen, so wird der Krieg ungerecht.“ (Franziskus Maria Stratmann O.P., Weltkirche und Weltfriede, Augsburg 1924, 103 – 104.)

Auch für Stratmann gibt es keinen »gerechten« Krieg, denn wenn eines Tages die Voraussetzungen dafür verwirklicht sein sollten, dann ist der Krieg als solcher überwunden, dann werden Polizeikräfte im zwischenstaatlichen Bereich für die Beachtung des Rechts sorgen, so wie dies innerhalb demokratischer Staaten schon heute der Fall ist.

Vollends unhaltbar wurde die These vom »gerechten« Krieg, als mit der Entwicklung von Massenvernichtungsmitteln, vor allem von Atomwaffen, erstmals in der Geschichte die Gefahr gegeben war, nicht nur einem Gegner Schaden zuzufügen und ihn zu besiegen, sondern Massenmord zu begehen und im Extremfall die menschliche Zivilisation auszulöschen. Die Vereinten Nationen haben deshalb in ihrer Charta den Krieg grundsätzlich geächtet und lassen lediglich die militärische Verteidigung im Verständnis kollektiver Notwehr gegen einen Angreifer zu.

Aber selbst wenn solche Verteidigung zulässig und geboten sein sollte, wie beispielsweise gegen das nationalsozialistische Deutsche Reich unter Hitler, ist die Benutzung des Begriffes »gerechter“ Krieg unangemessen, wenn bedacht wird, welche Schäden der Zweite Weltkrieg auf allen Seiten gekostet und welche unermeßlichen Opfer er gefordert hat. War beispielsweise die Zerstörung Dresdens im Februar 1945 ein »verhältnismäßiges« Mittel der Kriegführung, auch wenn die Alliierten ohne Zweifel begründeten Anlaß hatten, dem kriminellen Treiben der Nazis ein Ende zu setzen? Ähnliche Situationen sind auch in der jüngsten Geschichte zu verzeichnen. Der Krieg gegen Saddam Hussein hat ein Vielfaches an Schaden angerichtet, als die Aggression des irakischen Diktators gegen Kuweit verursacht hatte; ganz zu schweigen davon, daß die Legitimation der militärischen Gegenintervention völkerrechtlich umstritten ist, weil nicht die Vereinten Nationen die Verantwortung trugen, sondern einer Gruppe von Staaten unter Führung der USA die Kriegführung überließen. Exzesse der amerikanischen/alliierten Kriegführung sind inzwischen belegt, beispielsweise die Tötung fliehender Soldaten in der letzten Kampfphase. Weder der »gerechte Grund«, noch die »richtige Absicht« und auch nicht die »legitime Obrigkeit« waren bei diesem angeblich so »gerechten« Krieg deutlich auszumachen.

Gerade weil Krieg immer Unrecht mit sich bringt und mehr denn je Unschuldige trifft, sollte der Terminus »gerechter Krieg« zu den Akten der Geschichte gelegt werden. Selbst die Ideologen der kommunistischen Weltrevolution hatten diesen Begriff schon lange vor dem Zusammenbruch der sowjetischen Herrschaft aufgegeben. Sie (Lenin u.a.) hatten ihre »Lehre vom gerechten Krieg« ursprünglich damit begründet, daß Waffeneinsatz immer dann gerechtfertigt sei, wenn er der Emanzipation der Arbeiterklasse nütze. Aber auch sie erkannten, daß der moderne Krieg dem Interesse der Arbeiterklasse nicht dienen könne, wenn die Existenzgrundlagen der Gesellschaft vernichtet würden.

Am schwersten tun sich die Kirchen (und analog auch der Islam), auf den von ihnen so lange gehegten und gepflegten Begriff zu verzichten. Er feiert immer wieder fröhliche Urständ. So hat vor einigen Wochen der Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes, Gunnar Staalsett, den »gerechten Krieg« ausdrücklich wieder in die Debatte eingeführt. Wer solches propagiert, muß sich dann auch fragen lassen, warum die schwarze Bevölkerung Südafrikas jahrzehntelang erfolglos gegen den ihr aufgezwungenen Krieg der Apartheid um Hilfe rufen mußte. Allein dieses Beispiel zeigt, wie opportunistisch mit dem Begriff des »gerechten Krieges« umgegangen wird.

Selbst die Vereinten Nationen geraten plötzlich in Verdacht, zur »kriegführenden« Partei zu werden. Mit militärischen Interventionen, für die sie immer noch nicht über eigene Truppen verfügen, sondern bereitwillige Regierungen anheuern, nehmen sie eindeutig Partei, lassen – wie in Somalia – regelrechte Jagden auf Diktatoren und Aufstandsführer veranstalten. »Gewalt für den Frieden« nennt das VN-Generalsekretär Butros Ghali. Das sind keine Friedensmissionen, auch keine humanitären Maßnahmen, das sind Kriegseinsätze zur Erzwingung von Frieden, der nicht auf ausgleichender Konfliktregelung beruht, sondern ausschließlich auf den Vorstellungen des Generalsekretärs und parteiischer Regierungen. Und deutsche Soldaten sollen nach Vorstellung der Bundesregierung dabei sein.

Vor allem aber gilt, daß Krieg und militärische Interventionen zur Friedenserzwingung vor allem deshalb ungeeignet sind, weil sie an den wirtschaftlichen, ökologischen und ethno-nationalen Ursachen der gegenwärtigen Konflikte überhaupt nichts ändern. Dennoch ist mit der Feststellung, daß es den »gerechten Krieg« nicht gibt, die Frage nicht beantwortet, wie sich Dritte angesichts so grausamer Kriege und Bürgerkriege wie im ehemaligen Jugoslawien, im Kaukasus, in Afghanistan, in Somalia, im Sudan und in etwa zwanzig weiteren Weltregionen verhalten sollen. Zuschauen macht sie nicht weniger schuldig als militärisches Eingreifen.

Was wir brauchen, ist die Entwicklung eines glaubhaften und wirksamen gewaltarmen Instrumentariums der Prävention und Beendigung von gewaltsamen Konflikten. Dazu gehört vor allem die Entschlossenheit hilfsbereiter Regierungen, solche Maßnahmen auch wirklich anzuwenden: Einfrieren von Auslandsguthaben der beteiligten Parteien, Embargo auf die Lieferung aller Waffen und strategischen Güter, Einsatz von Blauhelmen, die zwischen die Fronten treten, wirtschaftliche Hilfe, weil die meisten Ursachen solcher Konflikte auf wirtschaftliche Not zurückzuführen sind. Im Falle Jugoslawiens und anderer Konflikte fehlt es bis heute an solcher Entschlossenheit. Dieses politische Versagen der Völkergemeinschaft macht den »gerechten Krieg« noch unglaubwürdiger. Nicht auf ihn dürfen sich unsere Hoffnungen richten, sondern auf einen »gerechten Frieden«, der allein geeignet ist, Kämpfe wie in Jugoslawien, auf Sri Lanka, in Kolumbien, Nordirland und wo auch immer gar nicht erst ausbrechen zu lassen und, wenn es denn dazu gekommen ist, auch wieder zu beenden.

Karlheinz Koppe ist Leiter der Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn und Vizepräsident der katholischen Friedensbewegung Pax Christi.

Die Ethik des Zenbuddhismus in Japan

Die Ethik des Zenbuddhismus in Japan

Verletzung anderer ist Selbstverletzung, Un-Sinn.

von Sybille Fritsch-Oppermann

Die Ethik des Zenbuddhismus führt zu friedenstiftendem Handeln. Im Vordergrund steht die Befreiung vom eigenen Ich; aus der daraus resultierenden Autonomie folgt, daß jegliche Verletzung anderer als Selbstverletzung, als Un-Sinn empfunden wird. Dieser sehr positiv beschriebenen Lehre des Zenbuddhismus in Japan, als einer Schule des Buddhismus, stellt die Autorin aber auch die Wirklichkeit gegenüber, aus der deutlich wird, daß auch diese Religion funktionalisiert und mißbraucht wird.

Im Gegensatz zu einer in Europa und besonders im Christentum weit verbreiteten Meinung kennt sowohl der südliche wie auch der nördliche Buddhismus eine Ethik. Sie leitet sich her von den im Sangha geltenden Regeln, Regeln die in einer Gemeinschaft von Mönchen und Nonnen entwickelt wurden, die sich um Shakyamuni Buddha versammelt hatten. Vor allem im Mahayana und im Zen wird immer wieder betont, daß alle Wesen dem Sangha zugehören und somit diese Regeln auch für alle gelten. Das ist bis heute so geblieben. Die Betonung der Meditation und der Befreiung vom eigenen Ich und seinem Weltverhaftetsein wurde zu Unrecht als Weltflucht oder subjektivistische Frömmigkeit ausgelegt. Die buddhistische Erkenntnis, daß anderen nur helfen könne, wer zuerst sich selber befreit habe, ist kein Egoismus. Ganz im Gegenteil dient die Befreiung vom eigenen Ich einer Zuwendung zur Welt und allem Seienden, die zur Voraussetzung die Einsicht in die gegenseitige Bedingtheit all dieses Seienden (Sanskrit: Pratityasamutpada) hat. Sie ist das letzte und letztgültige Gesetz (Dharma) der Wirklichkeit. Die liebevolle und solidarische Zuwendung zu anderen Wesen wird allerdings anders als im traditionellen Christentum nicht als Akt des Gehorsams Gott gegenüber, sondern als quasi »von selbst« entstehende Handlungsweise dessen erlebt, der erleuchtet ist und daher weiß, daß alle anderen angetane Gewalt das Ganze der Wirklichkeit und damit auch ihn selbst verletzt.

Wir können dieses einen pragmatischen oder epistemologischen Altruismus nennen, der in buddhistisch geprägten Kulturen – selbst so hochtechnologisierten und modernisierten wie der japanischen – einer nahezu völligen Subjektivierung der Gesellschaft, der Trennung von Subjekt und Objekt und damit dem »Willen zur Macht« über andere Lebewesen (nicht nur Menschen) als Objekte dieses Willens gewehrt hat.

Die Idee des Bodhisattva, eines Wesens, das die Erleuchtung erlangt hat, aber nicht ins Nirvana eingehen will, bevor nicht alle anderen Wesen auch erlöst sind, hat außerdem dazu geführt, daß buddhistische Mönche immer darauf bedacht waren und sind, neben der Mönchsgemeinschaft auch die weltliche Gemeinschaft zu suchen und dieser in Lehre und Tun verbunden zu bleiben. Aus der Soto-Zen-Schule hat sich u.a. die Harada-Yasutani-Tradition des Zen entwickelt, in der die Schüler »die sechzehn Bodhisattva-Gebote« studieren. Diese werden eingeleitet durch die »drei Gelübde der Zufluchtnahme«, und zwar zum Buddha, zur Lehre und zur Gemeinschaft. Alle drei bilden gleichermaßen wichtige Voraussetzungen für ein Leben in Erleuchtung und Zuwendung zur Welt. Eines ist nicht ohne das andere zu denken. Nimmt man hinzu, daß der Buddhismus, besonders der Zen, sich als ein Weg versteht, auf dem es diese »Gebote« zu befolgen gilt, und gerade nicht als esoterische oder metaphysische Lehre über das Sein und einen wie auch immer gearteten Status der Wahrheit, so wird klar, daß jede einzelne Tat auf dem Weg zu Frieden, Gerechtigkeit und der Bewahrung der Erde auch im Buddhismus gar nicht hoch genug bewertet werden kann.

Die Tatsache, daß die letzte (Heils-)Wirklichkeit im Buddhismus mit Nirvana oder Sunyata, der »absoluten Leere«, umschrieben wird, weist in diesem Zusammenhang nun gerade nicht auf wie auch immer geartete nihilistische Tendenzen, sondern darauf, daß jede Verabsolutierung von Substanz gerade dieses Miteinander aller Seienden nicht nur verletzt, sondern im Gegenteil in eine oft tödliche Subjekt-Objekt-Trennung verfällt. Leere bedeutet im Buddhismus immer auch Freiheit von der Verabsolutierung des Ich, von einem schmerzhaften und besitzergreifenden Haften an den Dingen dieser Welt, und führt zur Freiheit für die Liebe zum Anderen und zur Freiheit für die Hochachtung all dessen, was ist.

Die Ethik des Zen ist eine Situationsethik (und wird daher oft mit der Bergpredigt Jesu verglichen). Das macht es schwierig, dem Zen irgendwelche ethischen Systeme oder Theorien zu entziehen. Das macht ihn aber andererseits empfänglich für eine sich stetig wandelnde Welt und Gesellschaft und fähig, auf die Fragen und Nöte eines technologischen Zeitalters in Auslegung der alten Regeln zu reagieren. „Sie sind keine in Stein gemeißelten Befehle, sondern inspirierte Kundgaben, eingeschrieben in etwas, das flüssiger ist als Wasser. Relatives und Absolutes sind in ihnen zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen. Die von Bodhidharma und Dogen Zenji überlieferten Kommentierungen der Gebote lassen sich wie Koan studieren, aber auch unser Alltagsleben ist nichts anderes als ein großes, facettenreiches Koan, mit dessen »Aufschlüsselung« wir unentwegt beschäftigt sind, ohne es je ganz lösen zu können.“ (Aitken, S. 25)

Die Regeln: Weder Befehle noch Verbote

Nach den »drei Gelübden der Zufluchtnahme« und den »drei Geboten der Reinheit« folgen in den »sechzehn Bodhisattva-Geboten« die »zehn Hauptgebote«. Das erste, besser die erste Regel, betrifft das Töten. Sie ist, wie alle anderen Regeln, weder positiv als Befehl noch negativ als Verbot aufgefaßt, sondern gilt als Ausdruck einer mitfühlenden Weisheit, die die Gegensätze »falsch/richtig« oder »negativ/positiv« äußerst zurückhaltend verwendet. Die erste Regel bedeutet also nicht einfach „du sollst nicht töten“, sondern vielmehr „laßt uns das Leben nach Kräften fördern“ und „es gibt keinen Gedanken des Tötens“.

Im Jainismus wird diese Regel in solcher Konsequenz befolgt, daß die Mönche sogar ihr Trinkwasser filtern, um auch den Verzehr von Mikroorganismen noch auszuschließen. Ob überhaupt jemand in diesem Sinne das Töten vermeiden kann, ist fraglich, denn auch Pflanzen gehören zu den Seienden, die in gegenseitiger Abhängigkeit mit allen anderen verbunden sind. Aber es wird doch gerade an dieser Überspitzung deutlich, daß in der Weltsicht und dem Wirklichkeitsverständnis des Buddhismus keine wie auch immer gearteten ethischen Abstufungen vorhanden sind etwa in der Weise, daß das Leben der Menschen per se schützenswerter sei als das der Tiere und Pflanzen. Die ökologische Fragestellung war so von Anfang an in die Ethik des Buddhismus integriert.

Das hat nicht zuletzt mit der Anthropologie des Zen zu tun, in der zwischen »Bewußtsein und Über-Bewußtsein« unterschieden wird. Der »Geist«, der sich im Zustand des »Nichts« findet, darf nicht in erster Linie negativ verstanden werden. Vielmehr wird mit dieser Formulierung ein psychologischer Zustand beschrieben, in dem der »Geist« sich auf dem Punkt höchster Anspannung, Klarheit und Intensität befindet. In diesem Zustand kennt er das »Objekt« so vollkommen, daß überhaupt kein Bewußtsein von diesem übrigbleibt, ja nicht einmal ein Bewußtsein von diesem Kennen existiert; so wie ein Musiker im besten Fall eins mit der von ihm gespielten Musik wird. Dies ist der Zustand des »Über-Bewußtseins« (Isutzu, S. 21f). „Vom zen-buddhistischen Standpunkt aus ist die »verwesentlichende« Tendenz des empirischen Ichs nicht akzeptabel, und dies nicht nur, weil es überall »Objekte« als substantielle Wesen setzt, sondern besonders, weil sich das empirische Ich selbst als eine Ich-Substanz setzt.“(Isutzu, S. 23) Es bleibt in der Subjekt-Objekt-Trennung gefangen und setzt »äußere« Objekte als nicht reduzierbare Wirklichkeiten und sich selbst als aller selbst-ständigste Wirklichkeit. Es gibt aber, wie wir gesehen haben, im Buddhismus keine unveränderlichen Substanzen in dieser Welt. Selbst da noch, wo in der westlichen Kultur die empirische Weltanschauung das cartesianische Weltbild abgelöst hat, ist die Unterscheidung zwischen dem Ich und dem Anderen vorausgesetzt. (S. 25) Dem gegenüber steht die buddhistische Sicht der So-heit, der erstaunlicherweise Ansätze in der poststrukturalistischen Hermeneutik Lévinas und Derridas entgegen kommen. Es ist die Sicht von Sunyata und Pratityasamutpada, in der absolute Leere und phänomenale Welt zeitgleich die letzte Realität ausmachen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, daß es nach buddhistischer Ansicht in der Welt des Nirvana (die durchaus ein diesseitiger Zustand ist, der in der Erleuchtung erfaßt werden kann), der wahren Welt der leeren Unendlichkeit, nichts gibt, was als »Tod« bezeichnet werden könnte. Der Zen-Meister Takuan Zenji behauptet deshalb, daß es weder Töten noch Getötet-Werden gibt. Der Friede der unendlichen Leere erfüllt vielmehr das Universum (Aitken, S. 27f). Dies ist nicht im Sinne einer Mißachtung der konkreten menschlichen Leiden zu sehen, sondern im Sinne einer Weltsicht zu verstehen, die Nirvana und Samsara (der Zustand vollkommenen Friedens in der Erleuchtung und die Welt des Relativen, des Entstehens und Vergehens) als zwei Wirklichkeiten begreift, deren Teil wir, solange wir leben, gleichzeitig sind. Für die Praxis ausgedrückt bedeutet dies, daß der Weg des Mitempfindens und solidarischen Handelns gleichzeitig der Weg der Erleuchtung ist. Kein Dualismus ist hier als Ausflucht möglich; weder im persönlich-zwischenmenschlichen noch im politisch-ethischen Bereich. Die Ethik des Zen ist eine radikale Ethik, die auch in der Geschichte nie so etwas wie die christliche Vertröstung auf ein Jenseits und damit Legitimierung der bestehenden Zustände geduldet hat. Letztere werden vielmehr im Sinne eines kollektiven oder nationalen Selbst gedeutet. Ebenso radikal sind die ethischen Regeln und Forderungen des Buddhismus für den gesamten politischen und gesellschaftlichen Bereich. Da es keinen Dualismus zwischen Nirvana und Samsara gibt, kann auch nicht im Sinne einer lutherischen Zwei-Reiche-Lehre zwischen dem Reich der Kirche/der Religion und dem staatlicher Obrigkeit getrennt und eine wie auch immer geartete Stufenethik eingeführt werden. Jede Rationalisierung des Tötens, alle Kriterien für einen »gerechten Krieg«, jede Argumentation im Sinne von Sachzwängen wird abgelehnt, weil die dafür geltenden Prämissen, wie etwa der überragende Wert des Nationalstaates, ebenfalls abgelehnt werden. „Die Tatsache, daß historische Statistiken eine Unmenge von Kriegen verzeichnen, läßt noch lange nicht den (Kurz-)Schluß zu, der Geschichtsverlauf füge sich einem hinter den Kulissen wirkenden Zwang, der keinen Frieden duldet.“ (Aitken, S. 31)

Ähnlich wie seit Jahren in der feministischen Theologie legt der Buddhismus, besonders der Zen, einen großen Wert auf die richtige Einschätzung der Bedeutung von Sprache und des davon abhängigen rechten Sprachgebrauches. Das rührt in beiden Fällen von der Überzeugung, daß Sprache nicht nur Kommunikationsmittel ist, sondern buchstäblich unser Handeln und Tun macht. Denn bereits im Kindesalter beispielsweise gewöhnen wir uns an die Koordination bestimmter Farben, Geschlechter, Eigenschaften etc. mit negativen Werturteilen. Sie gehen in unser Unbewußtes, in unsere Wirklichkeitssicht über und lassen uns ungerecht handeln oder auch uns selber falsch einschätzen. Der Buddhismus ist darüber hinaus so radikal, Begriffe selber eher als Teil des Samsara und daher überwindungsbedürftig zu betrachten. Begriffe wollen etwas ergreifen und festhalten. Demgegenüber steht der Zustand des Nirvana, der ein gegenstandsloser ist. In einem solchen gibt es nichts zu ergreifen und daher auch keinen Gedanken des Tötens. Auf diesem Hintergrund muß die Aufforderung verstanden werden, sich vor allem um die eigene Erleuchtung zu bemühen, denn im Zustand der Erleuchtung werden Menschen und dann auch Gesellschaften im Sinne eines kollektiven Selbst kein Verlangen mehr kennen, zu besitzen und zu töten. Nicht im Sinne einer moralisch schwer erkämpften guten Handlung oder Haltung, sondern ganz natürlich, gemäß ihrem wahren Selbst, der Buddha-Natur, des mächtigen Selbst der Nicht-Substanz. Über letzteren Zusammenhang hat sich besonders der Zen-Meister Bodhidharma Gedanken gemacht, der den Zen von Indien nach China brachte und auch in Japan eine wichtige Rolle in der Zen-Tradition spielt. „Bodhidharma zielt (…) auf das Wesentliche und überspringt gleichsam die klassische Mittel-Zweck-Relation. Die Praxis der Friedfertigkeit und der Harmonie ist in gewisser Hinsicht bereits die Vollendung des Friedens und der Harmonie, sie ist nicht nur eine Vorgehensweise, um Frieden und Harmonie zu verwirklichen.“ (Aitken, S. 35f)

Im Zusammenhang damit ist eine der vorrangigsten Forderungen für den Dialog, tiefverwurzelte Überzeugungen durch die Dynamik des Gebens und Nehmens wieder in Bewegung zu bringen. Auch über gefährliche Ansichten kann man reden, wenn die Gefahrenpunkte sorgfältig aufgezeigt werden im Sinne der Maxime der »Society of Friends«: „Sag der Macht die Wahrheit ins Gesicht.“ „Die Vorzüge dieses Vorgehens kann man bisweilen deutlich spüren, wenn man einmal beobachtet, wie etwa bei Friedensdemonstrationen die Mitglieder freier Theatergruppen ihre »Botschaft« unter die Leute bringen. Im allgemeinen funktioniert das so, daß die Mitglieder eines solchen Ensembles die Anschauungen der Gegenseite aufgreifen und die extremen Folgen dieser Haltung aufzeigen. Gelingt es Ihnen dabei, ihr Anliegen kreativ umzusetzen, so halten sie der Wirklichkeit gleichsam den Spiegel vor. Dies ist nun in der Tat auch eine Form, die Perspektive anderer Menschen zu »töten«. In diesem Fall ist das Motiv jedoch Ahimsa, das Streben, niemanden zu verletzen. Und dieser Art des Vorgehens liegt es fern, die Entfaltung von Leben zu beeinträchtigen.“ (Aitken, S. 36f) Diese Haltung kann als ein Plädoyer für unbedingte Ehrlichkeit auch im interreligiösen und interkulturellen Dialog verstanden werden. Es geht ihr um eine Achtung und Beibehaltung der Verschiedenheiten und nicht so sehr um eine wie auch immer geartete Integration. Oberstes Ziel ist, sich selber in den Verschiedenheiten der anderen wiederzuerkennen, da ja alles mit allem verbunden ist. Von hier aus ließen sich interessante neue Perspektiven auch für die europäische Asyl- und Flüchtlingsarbeit entwickeln.

Buddha selber forderte seine Schüler auf, sich hermeneutischen Fragen zuzuwenden. Er ging eher von der Verwandtschaft der Wörter, die auf ihrem Gebrauch beruht, aus als von einfacher Etymologie, wie sie etwa vornehmlich von Grammatikern angewendet wird. Auch hier gibt es erstaunliche Parallelen zu westlichen Sprachphilosophien jüngeren Datums. Außerdem weist er die absoluten Strukturen von Sprache zurück, wie sie die linguistische Analyse zu eruieren bemüht ist. (Kalapuhana, S. 61f) Sein Diskurs war nie absolut oder letztgültig und beinhaltete dementsprechend keine absolute Wahrheit. Damit verfolgte er eine Methode der »Dekonstruktion«, um alle ontologischen Aussagen zu vermeiden, jedoch darauf eine Methode der »Rekonstruktion«, um den Inhalt menschlicher Erfahrung auszudrücken (und zwar mit der positiven Lehre des abhängigen Entstehens) (S. 66) Auch in der Sprache gibt es die Gleichzeitigkeit von letzter Wirklichkeit (Nirvana oder Sunyata) und der Welt wie sie ist (Samsara).

Einer der wichtigsten Zen-Meister des japanischen Zen ist Dogen Zenji. Im Gegensatz zu dem schon erwähnten Bodhidharma, der den Standpunkt unbefleckter Reinheit vertritt, vertritt Dogen eine Praxis, die sich Schritt für Schritt entwickelt. Die Praxis des Nicht-verletzens wird erlernt, indem wir, was immer wir tun und sehen auch die mit diesem Produkt oder Ereignis verbundenen Ungerechtigkeiten vor Augen haben und sie der Öffentlichkeit bekannt machen. Das Engagement einer Gruppe ist dem Engagement des Einzelnen in jedem Fall an Tragweite überlegen. Nur in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, im Sangha, lernen wir rechtes Sehen.

Die Voraussetzung ist in jedem Fall das ZaZen-Sitzen, eine (meditative) Übung des Stillewerdens, in dem mir die Erleuchtung der Großen Leere des Universums und der gegenseitigen Abhängigkeit alles Seienden bewußt wird.

Die Buddha-Natur überschreitet alle Erscheinungen von Gewalt

Die Ethik des Zen und damit seine Einstellung zu friedenstiftendem Handeln ist also eine ganz und gar autonome. Damit steht sie im Gegenüber der nach wie vor durch das Christentum – wenn auch in säkularisierter Form – geprägten Ethik in westlichen Gesellschaften. Wie wir gesehen haben, führt aber gerade diese Autonomie in keinen wie auch immer gearteteten Subjektivismus der Moderne, sondern ist die Voraussetzung für ein kollektives Lebensgefühl, das die Verletzung anderer Lebewesen und der Natur als Selbst-Verletzung, als Un-Sinn empfindet. Diese Haltung macht es dem modernen Buddhismus leicht, sich in der Friedensbewegung unabhängig von nationalen, kulturellen oder religiösen Grenzen zu bewegen. Eine Konkurrenz unter Friedensgruppen mit verschiedenen ideologischen Hintergründen und Ausrichtungen ist noch nie das Problem des Buddhismus gewesen. Ebensowenig eine oft in europäischen Friedensgruppen zu beobachtende Freudlosigkeit, die von einer Überarbeitung in Sachen Frieden, von einem Engagement herrührt, das mehr noch als ethisches als moralisches Muß verstanden wird.

Die in der Erleuchtung erkannte – nicht gewonnene – Buddha-Natur ist etwas, was jedem Menschen von Geburt an zugrunde liegt. Sie ist ewige Gegenwart, die alle Erscheinungen von Haß und Gewalt überschreitet. Aber weil sie ewige Gegenwart ist, führt sie auch notwendig zu ethischem und politischen Handeln. (In anderen buddhistischen Schulen ist dies nicht anders. Gute Beispiele für friedenspolitisches Engagement aus religiösen Kreisen heraus sind die Aktivitäten des Dalai Lama. In Vietnam und Sri Lanka hat allerdings die Notwendigkeit zu politischer Verantwortung auch dazu geführt, daß buddhistische Mönche sich im Widerstand gegen Okkupation und Fremdherrschaft selbst bewaffneten und in ihrer Interpretation ihres Tuns einer Vorstellung vom »Gerechten Krieg« sehr nahe kamen.)

Die Seinsweise des Selbst-Erwachens überwindet jegliche Form von Nihilismus. Alle Abhängigkeit, Passivität und Theonomie wird überwunden. Der Mensch wird absolut autonom und aktiv. (Hisamatsu, S. 135) Der berühmte japanische Zen-Philosoph und Begründer der Kyoto-Schule Kitaro Nishida nannte diesen Zustand »handlungsmäßige Anschauung«. „Dieses Selbsterwachen ist, wie weit man auch geht, ein Selbsterwachen, das nicht Gegenstand äußerer Wahrnehmung wird, sondern es ist aktives Subjekt, das an und für sich selbst wach ist. Es ist für uns heutige die Zeit gekommen, mittelalterliche Theonomie und Heteronomie abstoßend zur Autonomie des Menschen zu erwachen, den blinden Optimismus der modernen humanistischen Seinsweise abzutun, obgleich sie daran ist, eine staunenswerte moderne Welt aufzubauen. Es ist die Zeit gekommen, den Komplex des tiefen Pessimismus der nihilistischen Seinsweise aufzuheben, uns der aus diesem Komplex entstehenden theistischen abhängigen Seinsweise prämoderner Heteronomie zu entledigen, zu erwachen zur absoluten Autonomie der Seinsweise des Selbsterwachens.“ (Hisamatsu, S. 137)

Die beiden größten japanischen neuen Religionen, die Soka-Gakkai und die Rissho Kosei-kai, die sich von dem großen buddhistischen Reformer Japans, Nichiren, herleiten, verstehen sich ebenso dezidiert als Friedensreligionen. Das drückt sich u. a. in der Organisation und Finanzierung internationaler interreligiöser Friedenstreffen aus. Allerdings ist mindestens die erstere der beiden Vereinigungen mit ihren vielen Millionen Anhängern zu einer politisch aggressiven und militanten Sekte geworden, die den Anspruch vertritt, die einzig wahre Religion der Gegenwart zu sein. (Gerlitz, S. 23f) Bereits die Nichiren-Schule entwickelte angesichts einer drohenden Mongolen-Invasion eine militante Haltung und benutzte die ethischen Regeln des Buddhismus zu ihrer Legitimierung.

Die Rissho Kosei-kai wurde von Niwano und Nagamuna gegründet. Bereits ihr Name ist Programm: die zwei Zeichen von »rissho« deuten auf das Ideal von Gerechtigkeit und Sicherheit im Land hin, wie es von Nichiren im japanischen Mittelalter gepredigt wurde. »Ko« bedeutet die religiöse Verbindung von vielen Menschen und die Harmonie von Gläubigen. »Sei« drückt die Vervollkommnung der Persönlichkeit aus. (Nehring, S. 37) Die in der RKK geforderte Missionsarbeit bedeutete zunächst überwiegend praktische Lebenshilfe, vorwiegend in Japan und analog der sich in den 30er Jahren verschlechternden politischen und wirtschaftlichen Situation in diesem Land. „Der Buddhismus lehrt, daß Geist und Körper eins sind und nicht als getrennte Einheiten aufgefaßt werden können. Wenn der Körper leidet, dann leidet auch der Geist und andersherum. Diese Vorstellung ist fest gegründet in dem buddhistischen Gesetz des Kausalzusammenhangs … .“ (N. Niwano, Buddhism and Health, in DW, Vol. 9, Nr. 6, 1982, S. 2. Hier zitiert nach Nehring, S. 38).

So praktisch engagiert diese Grundhaltung auch ist, so kann doch nicht übersehen werden, daß zum erstenmal Mission vordergründiges Ziel innerhalb einer buddhistischen Schule ist. Das praktische Engagement konzentriert sich auf Gesprächsgruppen, Sozialarbeit, Ausbau von Schulen und Krankenhäusern, Flüchtlingsarbeit, Entwicklungshilfe und hat einen Schwerpunkt in der Friedensarbeit, vor allem in der Mitgliedschaft im WCRP (World Congress for Religion and Peace) und im Bemühen um interreligiösen Dialog. An dieser Friedensarbeit und damit einhergehenden interreligiösen Arbeit beteiligen sich allerdings auch Mitglieder und Anhänger der beiden großen Zen-Schulen Japans, der Soto-Zen-Schule und der Rinzai-Zen-Schule.

In der RKK sind Mitleid und ethisches Handeln praktischer Ausdruck der Wahrheit. Das Mitleid mit der Welt kann auf allen Ebenen zum Ausdruck gebracht werden, auf der individuellen ebenso wie im (inter-)(nationalen) Handeln. Die Aufgabe Japans als kollektiver Größe wird in der Rolle eines Bodhisattvas gesehen. Es muß als eines der reichsten Länder der Erde den armen Ländern mit Mitleid begegnen. Dieses Mitleid soll sich auch auf die Natur erstrecken. Die RKK engagiert sich seit etwa 10 Jahren zunehmend im Bereich der Ökologie und des Umweltschutzes. „Verschiedene Entwicklungsprojekte der RKK sind Ausdruck für diese Haltung. Anders als die Sokka Gakkei hat die RKK keine eigene politische Partei gegründet, die Mitglieder werden jedoch aufgerufen, bestimmte Abgeordnete in der LDP zu unterstützen, die für die Ziele der RKK in der Regierungspartei eintreten.“ (Nehring, S. 90)

Das direkte politische Engagement ist, so haben wir gesehen, auch im Zen und im älteren Buddhismus angelegt. Neu ist in der RKK jedoch das parteipolitische Engagement, das – gekoppelt mit dem Anspruch, die Wahrheit für die ganze Welt zu haben, skeptisch macht. Es steht ein gewisser »Japanozentrismus« hinter diesem Anspruch, den es allerdings als Eurozentrismus und Absolutheitsanspruch auch in westlichen Kulturen seit dem 19. Jahrhundert gibt, und der sich teilweise bis hinein in westliche entwicklungspolitische Basis- und Friedensarbeit gehalten hat.

Die RKK arbeitete oft mit finanzieller und personeller Unterstützung der UNO und UNICEF und ihrer Projekte. Später wurden allerdings auch konkrete ökonomische Hilfsprogramme und -konzepte von der RKK selber für bestimmte Krisengebiete entwickelt.

1978 wurde die Buddhist Peace Fellowship von Robert Aitken und Nelson Forster gegründet, die sich auf Themen der Friedensarbeit und Ökologie konzentriert. Sie hat heute einige tausend Mitglieder in Nordamerika, Europa und Asien. Vierteljährlich erscheint die Zeitschrift »Seeds of peace«.

1989 begann das INEB (International Network of Engaged Buddhists) seine Arbeit in Thailand. Seit 15 Jahren arbeitet die ISEC (International Society for Ecology and Culture) in Ladakh, um nur einige wenige Beispiele organisierter Friedensarbeit und ökologischer Arbeit im modernen Buddhismus zu nennen.

Für den Buddhismus, auch für den Zenbuddhismus, gilt allerdings – wie für alle anderen Religionen –, daß Zeit seines Bestehens ein Unterschied wahrgenommen werden muß zwischen Lehre und Ideal einerseits und der Verwirklichung dieses Ideals in Politik und Gesellschaft andererseits. Dies kann nicht einfach auf die Friedfertigkeit und damit verbundene Machtlosigkeit der Religionen in der Welt zurückgeführt werden. Vielmehr neigt Religion, wo immer sie quantitativen oder qualitativen Einfluß in der Politik des jeweiligen Landes gewinnt, dazu, sich den machtpolitischen Regeln anzupassen oder sogar diese Regeln zu diktieren oder in die eigene Gemeinschaft zu übernehmen. Selbst da noch, wo religiöse Grundüberzeugungen bestimmter (ethnischer) Gruppen benutzt werden, um ethnonationale Konflikte zu schüren oder zu legitimieren, geht dies nur, wenn die Strukturen der jeweiligen Religionen für so einen Mißbrauch anfällig geworden sind.

Eine Religion ohne Missions- und Absolutheitsanspruch

Im Unterschied zu christlichen oder christlich-säkularen westlichen Gesellschaften kann dennoch für den Buddhismus in Anspruch genommen werden, daß er aufgrund seines Weltbildes und seiner Wirklichkeitssicht zu den eher friedfertigen Religionen dieser Welt zählt. Das liegt sicher – auch hier wieder besonders im Zen-Buddhismus – daran, daß es in dieser Religion kein theistisches Gottesverständnis gibt. Einen Absolutheitsanspruch, wie er sich im Christentum und dem folgend auch in der christlichen/westlichen Kultur im 19. Jahrhundert entwickelte und eine damit einhergehende missionstheologisch legitimierte Kolonisationsgeschichte, kennt der Buddhismus nicht. Aufgrund seiner Grundannahme, daß die letzte Wirklichkeit die »absolute Leere« und – in ihr gründend – die »gegenseitige Abhängigkeit alles Seienden« ist, ist Wahrheit im Buddhismus niemals in einem ausschließlichen oder gar argumentierbaren Sinne absolut. Sowohl Dualismus als auch jede Form von Metaphysik und abgrenzendem Substanzdenken werden abgelehnt. Natürlich geht auch der Buddhismus davon aus, daß das in der Erleuchtung erkannte letzte Gesetz der Wirklichkeit für alle Seienden gilt. Doch müssen diese selber dazu erwachen. Es gilt nicht, Andersgläubige zu missionieren oder mit welcher Form von Gewalt auch immer zu überzeugen, sondern ihnen in ihrer Andersheit solidarisch zu begegnen.

Pratityasamutpada, das Prinzip der abhängigen Entstehung, ist eine Alternative zum Substanzdenken und Egozentrismus. Es vermeidet jede Form von Geheimnis und Metaphysik und erklärt (auch gesellschaftliche) Phänomene als im Zustand stetigen Entstehens und Vergehens. Damit wird eine Wirklichkeitssicht geliefert, die an vielen Stellen derjenigen einer postmodernen Hermeneutik entgegenkommt, ohne jedoch auf deren Tendenz zu »Mythologie« und »Semiologie« eingehen zu müssen. „Thus the difficulty in perceiving and understanding dependence is due not to any mystery regarding the principle itself but to people's love of mystery. The search for mystery, the hidden something (kinei), is looked upon as a major cause of anxiety and frustration (dukkha). Therefore the one who does not look for any mystery (akincana), and who perceives things »as they have come to be« (yathabhuta), is said to enjoy peace of mind that elevates him intellectually as well as morally.“ (Kalupahana, S. 59)

Ein Austausch der Religionen über die Möglichkeiten gemeinsamen Engagements für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Erde (nicht Schöpfung), nicht im Sinne eines in jüngster Zeit vielfach propagierten »Weltethos«, sondern im Sinne eines gemeinschaftlichen ethischen Engagements bei Achtung der bestehenden Verschiedenheiten wird nicht nur von der RKK, sondern auch von anderen Religionsphilosophen und Wissenschaftlern, etwa von dem englischen Historiker A. Toynbee als unumstößlich notwendige Voraussetzung für den Frieden der Welt gesehen. Religion ist mehr als Humanismus auch religiöser Humanismus, weil sie strukturell von der Geborgenheit der einzelnen Menschen in einem sie umfassenden Ganzen ausgeht und so zu wirklichem Altruismus mindestens potentiell befähigt. Auf Japanisch heißt Religion »shukyo«, übersetzt »große Quelle aller Erziehung«. Sie bringt das reinste, heiligste und schönste im Menschen zum Vorschein: das, was nicht von Buddha verschieden ist, die Buddha-Natur, die am Grunde aller liegt. (M. Yamada, in: A Zen-Christian Pilgrimage, S. 33) Die heutige spirituelle Krise ging einher mit der materialistischen Gesellschaft in Europa und der Überbewertung von Wissenschaft im Sinne eines Szientismus. Im Gegensatz zu diesem Egoismus gibt es im Buddhismus die Forderung einer »spirituellen Zivilisation«. Letztere erst ermöglicht aber die Verantwortung für alles, was ist. (S. 34)

Literatur

Masao Abe, Buddhist Nirvana: Its Significance in Contemporary Thought and Life, in: ER XXV, No.2, 1973, S. 158-168.

Ders., The Problem of Evil in Christianity and Buddhism, in: Buddhist-Christian Dialogue: Mutual Renewal and Transformation, ed. by P.O. Ingram and F.J. Streng, Hawaii 1986.

Robert Aitken, Ethik des Zen, München 1989.

Peter Gerlitz, Gott erwacht in Japan. Neue fernöstliche Religionen und ihre Botschaft vom Glück, Freiburg im Breisgau 1977.

Shinichi Hisamatsu, Satori (Selbsterwachen). Zum post-modernen Menschenbild, in: Gott in Japan, hg. von Seiichi Yagi und Ulrich Luz, München 1973.

Toshihiko Isutzu, Philosophie des Zen-Buddhismus, Hamburg 1979.

David J. Kalapuhana, A History of Buddhist Philosophy, Honululu 1992.

Andreas Nehring, Rissho Kosei-kai, Erlangen 1992.

Kitaro Nishida, A Study of Good, Tokyo 1960.

Peter Schenkel, Die Welt in uns. Überlegungen zu Buddhismus und Ökologie, in: Dialog der Religionen, 3. Jahrgang, No. 2 1993, S. 129-157.

A Zen-Christian Pilgrimage, The Zen-Christian-Colloquium, Hong Kong 1981.

Sybille Fritsch-Oppermann ist Pfarrerin und Studienleiterin der Akademie Loccum, 31545 Rehburg-Loccum.

Wissenschaft und Ethik

Wissenschaft und Ethik

von Christiane Floyd

Ich bin 40 km entfernt vom eisernen Vorhang in der früheren sowjetischen Besatzungszone Österreichs aufgewachsen und ich habe viele Jahre in dieser großartigen Stadt Berlin gelebt. Daher habe ich die Öffnung Osteuropas mit einem Gefühl tiefer Dankbarkeit erlebt. Als ein vollkommen unerwartetes Geschenk. Als eine unvermutete Chance, unsere Zusammengehörigkeit anzuerkennen und zu feiern, jenseits der Schrecken der Vergangenheit. Als eine Möglichkeit für mich und für uns alle, die Zersplitterung zu überwinden und ein Ganzes zu werden. Als eine einzigartige historische Verantwortung.

Doch wir wissen, daß dieser Neuanfang ein sehr schwieriger Prozeß ist, der auch Irrtum, gegenseitiges Mißtrauen, Mangel an Verständnis und die Gefahr einschließt, in alte destruktive Verhaltensmuster zurückzufallen. Wir sind Zeugen des Wiederauflebens lang vergessener Vorurteile, Konflikte und Rivalitäten. Wir sind mit neuen Ängsten konfrontiert. In dieser unruhigen Zeit gibt uns die hier stattfindende Konferenz die Möglichkeit, gemeinsam Fragen nachzugehen, die für die Zukunft unseres Kontinents von entscheidender Bedeutung sind.

Obwohl wir also als Europäer zur Zeit vor allem damit beschäftigt sind, uns in dieser neuen Situation zurechtzufinden, gehen die Fragen, die auf dieser Konferenz diskutiert werden sollen, weit über die Grenzen unseres Kontinents hinaus. Wissenschaft und Technologie werden international unter der Führung der industrialisierten Länder betrieben. Das Netz der Beziehungen zwischen wissenschaftlichen Institutionen ist so eng, und die damit verbundenen technologischen und ökonomischen Bedingungen sind so ähnlich, daß Wissenschaft und Technologie, trotz nationaler Unterschiede, als ein Programm wahrgenommen werden, das, formuliert und durchgeführt vom Norden, dem Süden eingepflanzt oder vielmehr aufgezwungen wird. Diese Konferenz bietet die große Chance, über die lebenswichtigen Fragen, um die es uns geht, mit Repräsentanten sowohl der Industrie- als auch der Entwicklungsländer zu diskutieren.

Wettrennen in die Katastrophe – wir nehmen teil

Wir kommen hier zusammen in einer einzigartigen geschichtlichen Situation. Als Wissenschaftler wußten wir schon lange Zeit von den fundamentalen Gefahren, die der Welt drohen. Einige von uns haben früh Warnungen ausgesprochen. Dann begannen wir, zusammen mit allen anderen, die Auswirkungen, die vorhergesagt worden waren, zu sehen: Hunger, Überbevölkerung, wiederkehrende nationale und ökonomische Konflikte, Übernutzung und Erschöpfung der natürlichen Ressourcen, Vergiftung und Verfall unserer natürlichen Umwelt in großem Umfang, Orientierungslosigkeit des Einzelnen, gesellschaftliche Umwälzungen und zwischenmenschliche Brutalität. Viele von uns versuchen noch die Illusion aufrechtzuerhalten, wir beobachteten all dies, während wir annahmen, daß unser eigenes Leben sicher sei. Wir verschließen die Augen gegenüber der Tatsache, daß wir selbst jetzt mittendrin leben. Wir beobachten nicht ein verrücktes Wettrennen in die Katastrophe, wir nehmen daran teil.

Die Hand auszustrecken, um sich in dieser Situation gegenseitig zu helfen, bedeutet Risiken einzugehen. Es ist meine Aufgabe, zu dem Thema Wissenschaft und Ethik sinnvolle Worte zu finden und zu sprechen. Aber wie können wir zusammen über Ethik reden angesichts der schrecklichen Leiden – der gegenwärtigen, der vergangenen und der zukünftigen –, die wir, unsere Nationen, unsere Kulturen einander zufügen? Angesichts der massiven Bedrohung, die wir, die menschliche Rasse, für alle Lebewesen der Erde herbeigeführt haben? Angesichts der zerstörerischen Natur der Maschinerie wissenschaftlicher und technologischer Entwicklung, deren Teil wir sind? Angesichts unserer völligen Desillusionierung über Ideologien und moralische Autoritäten? Angesichts unserer grundlegend unterschiedlichen Lebensauffassungen? Wie kann ich, mit all meinen Schwächen und meinem eingeschränkten Blick, in sinnvoller Weise zu Ihnen allen über Ethik sprechen?

Wir haben die Wahl

Ich hatte ein Jahr Zeit, um dieses Referat vorzubereiten. In die Person hineinzuwachsen, die schließlich hier und jetzt zu Ihnen über Ethik sprechen würde, bedeutete für mich einen anstrengenden Prozeß, in dem ich mich einigen schmerzhaften Wahrheiten stellen mußte. Meine Grenzen und meine Ängste wurden mir bewußt, und ich verstrickte mich in ein Netz unlösbarer Zweifel und Paradoxien. Dann kam ich zu dem Schluß, daß ich meine Schwierigkeiten offen formulieren müßte. Vielleicht hilft es Ihnen, Ihre eigenen zu überwinden. Wir müssen zusammen drei Schritte vollziehen, jeder in seiner eigenen Weise: zu sprechen lernen, unser Blickfeld erweitern, zu handeln wagen.

Der Schlüssel zur Ethik ist, sich bewußt zu werden, daß wir wählen können. Eine Wahl, die wir als autonome Wesen in verantwortlicher Weise treffen können. Eine Wahl, bei der wir uns gegenseitig unterstützen können, wenn es uns gelingt, uns zu artikulieren und uns über das, was uns wichtig ist, auszutauschen.

Die Notwendigkeit, das Schweigen zu überwinden

In unserer Kultur über Ethik zu sprechen ist schwierig. Es ist im alltäglichen Leben nicht üblich. Man tut es einfach nicht. Ethik ist institutionalisiert. Es gibt Profis, die dafür ausgebildet sind, passende Worte in einer Fachsprache zu sagen, die zur Tradition einer Religion, Ideologie oder philosophischen Schule gehört. Auch Politiker können sich gelegentlich auf Werte beziehen; einigen von ihnen gelingt es dabei sogar, überzeugend zu wirken. Doch wir übrigen halten uns von all dem fern. Wir haben die Freiheit, zuzuhören, oder uns zurückzuziehen. Als Individuen lassen sich einige von uns auf spirituelle Übungen oder Diskussionen über Werte ein. Aber zumeist sind wir unentschlossen oder verlegen und schweigen.

Das gilt insbesondere für WissenschaftlerInnen, denn wir sind geschult worden, sogenannte Tatsachen von Werten zu trennen, und wir sind auf eine Art der Interaktion konditioniert, aus der alle mit Werten zusammenhängenden Fragen ausgeschieden werden. In gewissem Sinne ist »Wissenschaft und Ethik« überhaupt kein Thema. Der Titel meines Referats benennt zwei grundlegende menschliche Arten des Umgangs mit der Welt, von denen jede ihre eigene Kultur mitbringt. Die Ethik mag zwar ein hochdifferenziertes Gerüst für die Diskussion von Werten bieten, doch die traditionelle Vorstellung ist, daß Wissenschaft und Technologie wertfrei sind. Es gibt kein »und«, diese beiden Kulturen bleiben getrennt.

Das Schweigen zu Fragen der Ethik ist von Ludwig Wittgenstein sogar programmatisch gefordert worden in seinem berühmten Ausspruch: Alles, was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen, und worüber man nicht reden kann, darüber muß man schweigen. Es ist bekannt, daß sich Wittgenstein hier auf die Welt der Werte bezog, die er allerdings in den Bereich des Schweigens verwies. Er protestierte gegen dogmatische Institutionen und Denkschulen, die auf ungenau definierten und irreführenden Vorstellungen basierten. Solche Fallstricke existieren zweifellos auch weiterhin. Aber Schweigen ist nicht notwendigerweise die beste Antwort. Wir können versuchen, gangbare Wege zu finden, um unsere eigenen Werte in konkreten Kontexten zum Ausdruck zu bringen.

Auch mißtrauen wir denen, die sich zu moralischen Autoritäten erheben und im Namen der Ethik zweifelhafte Anforderungen an andere stellen. Wir wissen, daß wir selbst keine solchen moralischen Autoritäten sind, und wir haben keine Übung darin, ohne solche Autorität über Ethik zu sprechen.

Wir müssen uns dieser Hindernisse bewußt sein, um als Wissenschaftler über Ethik reden zu können. Ich kann nicht versuchen, einen wissenschaftlichen Vortrag zu meinem Thema zu halten. Ich werde vielmehr für meinen Versuch, Sie als Menschen zu erreichen, die einfachsten Worte verwenden, die ich finden kann. Meine Schwierigkeiten, mich auszudrücken, mit Ihnen teilen, um Ihnen dadurch Mut zu machen, mit Ihren eigenen fertig zu werden. Versuchen, mich nicht an irgendwelche Glaubenssätze zu binden, durch die jemand von Ihnen ausgeschlossen werden könnte. Eine Sprache und ein Klima schaffen, die unserer Diskussion förderlich sind. Gemeinschaftliche Prozesse ermöglichen, in denen wir alle es wagen können, uns zu öffnen, unsere eigenen Sichtweisen zu artikulieren und auszutauschen, um auf diese Weise gemeinsam tiefere Einsichten zu gewinnen.

Die Wurzel der Ethik, wie ich sie vestehe, liegt im Aufeinander-Bezogen- Sein der Menschen. Zweck der Ethik ist es, Lebensbedingungen zu schaffen und zu erhalten, die Glück möglich machen. Und der Geist der Ethik ist die Hoffnung. Die Hoffnung, daß wir durch das, was wir tun, einen sinnvollen Beitrag für die menschliche Gemeinschaft leisten können. Dies führt uns direkt zu der Idee der Verantwortung, in der ich den Schlüssel für die Diskussion von Fragen der Wissenschaft und Ethik sehe.

Ebenen des Nachdenkens über Wissenschaft und Ethik

Für die Verbindung von Wissenschaft und Ethik schlage ich vor, verschiedene Ebenen zu unterscheiden, auf denen Verantwortung zu übernehmen ist:

  1. Wie können wir innerhalb der Wissenschaft verantwortlich handeln?
  2. Wie können wir über Wissenschaft verantwortlich nachdenken?
  3. Wie können wir Wissenschaft verantwortlich umgestalten?

Verantwortung innerhalb der Wissenschaft

Ich verwende den Begriff »Wissenschaft« hier in einer sehr umfassenden Bedeutung. Er bezieht sich nicht nur auf die Arbeit, die wir gewöhnlich als »wissenschaftlich« ansehen – idealerweise die Beschäftigung mit isolierten und exakt definierten Problemen, mit den der Untersuchung zugrundeliegenden Hypothesen, den Experimenten, die zur Erzielung von Resultaten durchgeführt werden, mit der Feststellung und Diskussion von Resultaten und möglichen Verallgemeinerungen – sondern ebenso auf die gesamten Annahmen, Untersuchungsmethoden, Problemen, die in Betracht gezogen, und Zielen, die unter diesem Namen verfolgt werden. Der Begriff »Wissenschaft« steht für die Institutionen der Lehre und Forschung, in denen sich wissenschaftliche Arbeit entfaltet. Für die Ausbildungsprogramme, in denen der Nachwuchs geschult wird, die Tradition zu übernehmen und fortzuführen. Für die Mechanismen bei der Forschungsförderung und die Abhängigkeit wissenschaftlicher Arbeit von solchen Mitteln. Für die Technologie, die als Resultat der Forschungen produziert wird, und ihre Verwendungsmöglichkeit für ökonomische und militärische Zwecke. Für den Status, den Wissenschaft und Technologie in unserer Welt für sich in Anspruch nehmen.

Wissenschaft verkörpert eine Art und Weise, die Welt wahrzunehmen. Sie erlaubt uns, gewisse Richtungen der Forschung weiterzuverfolgen und scheidet andere aus. Sie baut auf einer Grundlage von Annahmen, die die Antworten, die wir bekommen können, vorbestimmt, durch die Beschränkung der Fragen, die wir stellen, und der Methoden, die wir verwenden können. Sie bereitet das Umfeld für den Gebrauch der Technologie in unserer Welt. Sie ist eng verflochten mit soziokulturellen Bedingungen, die auf der einen Seite all dies erst möglich machen und auf der anderen Seite ständig durch die Wissenschaft umgeformt werden.

Auf der ersten Ebene der Verantwortung in der Wissenschaft erfahren wir Wissenschaft als etwas Gegebenes. Wir finden uns in die Wissenschaft »geworfen« (ein von Heidegger entlehnter Begriff). Die Wissenschaft stellt Forderungen an uns, und unsere Rolle ist unklar. An dieser Stelle sind wir mit persönlichen Entscheidungen konfrontiert, wie: Kann ich zwischen dem, was ich für ethische und unethische Forderungen halte, unterscheiden? Wie finde ich heraus, in welchem Umfang ich selbst autonom entscheiden und verantwortlich handeln kann? Werde ich in das einwilligen, was ich für unethisch halte, oder werde ich es ablehnen? Es geht darum, persönliche Verantwortung zu übernehmen oder mit anderen gemeinsam vor Ort zu handeln, während man die Wissenschaft selbst als in sich stabil betrachtet.

Wissenschaft und Gesellschaft

Die zweite Ebene impliziert, daß wir uns die Weltsicht und die Interessen, die der Wissenschaft, wie wir sie kennen, zugrundeliegen, und die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft bewußt machen. Das bedeutet, die Anforderungen, die an uns gestellt werden, die Zwänge, denen wir unterworfen sind, die Annahmen, auf die wir bauen und die Privilegien, die wir genießen, in Frage zu stellen. Dafür müssen wir den Rahmen der Wissenschaft verlassen und uns anderen Möglichkeiten der Lebenserfahrung zuwenden. Wir sind gefordert, in Betracht zu ziehen, daß wir uns aus der Wissenschaft ganz lösen könnten, und daß es unsere eigene Wahl ist, wenn wir in der Wissenschaft bleiben. Es ist wichtig, sich dieser Wahl bewußt zu werden, welcher Art unsere Beschränkungen auch sein mögen. So werden wir uns der Kompromisse bewußt, auf die wir uns einlassen, und der Alternativen, nach denen wir nicht suchen.

Die Gestaltung der Wissenschaft

Auf der dritten Ebene gilt es, unsere eigene aktive und verantwortliche Rolle bei der Gestaltung der Wissenschaft zu übernehmen. Themen für die Forschung wählen. Methoden und Formen der Zusammenarbeit wählen. Unsere Wahl deutlich machen. Die Öffentlichkeit wahrheitsgemäß informieren. Forschungsgemeinschaften aufbauen, die auf Verantwortung ausgerichtet sind. Neue Wege des behutsamen Denkens aneignen. Unsere eigenen Möglichkeiten finden, die Orientierung auf Werte mit klarem Denken zu verbinden. Einander unterstützen. Netzwerke verantwortlichen Handelns bilden.

Es ist weder meine Absicht, diesen Ebenen eine Rangfolge zuzuordnen, je nach der größeren oder geringeren Verantwortung, die sie erfordern, noch zu behaupten, daß sie notwendigerweise zeitlichen Stufen in der persönlichen Entwicklung der einzelnen WissenschaftlerInnen entsprechen. Dennoch finde ich sie für die Diskussion von Wissenschaft und Ethik unter WissenschaftlerInnen nützlich, denn Wissenschaft ist das Thema, das uns verbindet. Aber, wie genau definiert ist Wissenschaft? Die Unterscheidung, die ich oben zwischen den Ebenen gemacht habe, zeigt, daß für mich Wissenschaft eingebettet ist in die menschliche Lebenswelt, und daß sie sich in der Zeit weiterentwickelt und verändert. Außerdem sehe ich jede/n von uns als jemand, die/der die Wissenschaft, so wie sie ist, im Prozeß ihres Werdens mit konstituiert. So umfassen die Ebenen eine breite Skala möglicher persönlicher Handlungsprofile. Diese reicht von individuellen Entscheidungen im Rahmen spezifischer wissenschaftlicher Bemühungen über politische Aktionen, die die Anwendung der Technologie betreffen, bis zu der Möglichkeit, das herbeizuführen, was man einen Paradigmenwechsel in der Philosophie der Wissenschaft nennt.

Teilnehmen am ethischen Diskurs: eine Einladung

Ich sehe meine Aufgabe darin, den ethischen Diskurs unter uns – hier und in seiner Fortführung später – zu erleichtern. Darum möchte ich einige Aspekte der Ethik verdeutlichen.

Der eine ist, daß Sprechen über Ethik notwendigerweise auch ein Sprechen über uns selbst bedeutet. Es ist dem Wesen nach selbstreferentiell; ich gehe das Risiko ein, mit all meinen Schwächen und meinem Versagen an die Öffentlichkeit zu treten. Wenn ich hier über Ethik spreche, haben Sie alle das Recht zu fragen: Lebt sie so, wie sie spricht? Wir können uns der Diskussion nicht entziehen. Bin ich aufrichtig, finde ich mich schutzlos über dem Abgrund meiner eigenen Unzulänglichkeiten. Bin ich es nicht, strapaziere ich meine Glaubwürdigkeit. In den vergangenen Monaten habe ich dies als bedrohlich erlebt, trotzdem möchte ich Sie einladen, daran teilzuhaben.

Ein anderer ist, daß wir keine gemeinsame Vorstellung von Ethik besitzen. Im engeren Sinne bezeichnet der Begriff einen Zweig der Philosophie, den die Griechen begannen und der in vielerlei Varianten durch die europäische Geschichte hindurch weiterverfolgt wurde. Er bezieht sich auf die philosophische im Unterschied zur christlich-religiösen Tradition der Wertediskussion. Er entwickelte sich parallel zum Christentum. Was wir unter Ethik verstehen, spiegelt die Annahmen und Erfahrungen unserer Kultur. In dieser Kultur, die das Erbe griechischer Philosophie und monotheistischer Religionen übernahm, waren Werte traditionell an Gebote oder Gesetze gebunden, die einer Autorität zugeschrieben wurden. (Das ist nicht in sich zwingend. In der buddhistischen Tradition zum Beispiel gibt es keine Gebote. Dort ist die Grundlage für verantwortliches Handeln spirituelle Übung und persönliches Engagement.) Unter der Autorität verstand man Gott, vertreten durch die Kirche oder den Staat (später die Partei), oder vielleicht das moralische Gesetz in uns. Allen gemeinsam war die Idee, kontextunabhängige und verallgemeinerbare Prinzipien des Handelns in der Form zeitloser Werte oder Normen zu formulieren, denen alle zu gehorchen haben. Solche expliziten Normen verbanden sich mit Mechanismen gesellschaftlicher Kontrolle.

Diese ursprüngliche Idee der Ethik steht in enger Übereinstimmung mit hierarchischen Gesellschaftsformen. Ethik bedeutete für das Individuum, das anerkannte Gesetz richtig zu verstehen und nach ihm zu handeln, entsprechend dem eigenen Gewissen. Die Entscheidung beruhte auf genau definierten Begriffen von dem, was »gut« ist. Obwohl die Diskussion um die Ethik im Laufe der Jahrhunderte eine enorme Entwicklung durchlaufen hat, hat sich die Grundidee, daß es in der Ethik um universelle Gesetze geht, bis heute erhalten.

Allerdings können wir einer interkulturellen Diskussion über Ethik nicht eine allgemein akzeptierte Autorität oder eine Reihe festgelegter Normen zugrundelegen. Die hier Anwesenden kommen aus 36 Ländern mit unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Traditionen. Wenn wir vermeiden wollen, daß eine Auffassung von Ethik die Diskussion dominiert, müssen wir akzeptieren, daß Ethik für uns unterschiedliche Bedeutungen hat, daß wir zu unterschiedlichen Werten hingeführt wurden und daß wir unterschiedliche Mechanismen haben, um verantwortliches Handeln zu ermöglichen und zu fördern. Wir müssen uns dessen bewußt sein, wenn wir eine gemeinsame Sprache finden wollen.

Maßstäbe für das Handeln des Einzelnen

Viele besorgte Menschen haben die Wirksamkeit der Ethik, was die Förderung gesellschaftlichen Wandels angeht, in Frage gestellt. Ethik richtet sich in erster Linie an das Individuum und an seine Handlungsweise. Ich bin es, und jeder von Ihnen, der zuerst und vor allem zählt. Und ausgehend von dieser persönlichen Betroffenheit können wir vielleicht zusammen gemeinsame Wege des Handelns finden. Die Konzentration auf das durch Werte geleitete Handeln des einzelnen erscheint vielen, die lieber mit kollektiven politischen Aktionen für Veränderungen kämpfen wollen, zweifelhaft, wenn nicht heuchlerisch. Wir haben aber auch erfahren müssen, daß angeblich wertorientierte politische Programme vor Mißbrauch in großem Maßstab nicht gefeit waren.

Wie kommt es dann, daß wir nach Jahren der Ernüchterung plötzlich wieder nach Ethik suchen, und wonach suchen wir eigentlich? Ist es Trost, nachdem alle Ideologien zusammengebrochen sind? Ist es Sicherheit in der seelischen Leere, in der wir uns befinden? Suchen wir nach fertigen Antworten? Halten wir Ausschau nach der nächsten Autorität, der wir folgen können?

Ich glaube, daß uns ein solcher Versuch aus verschiedenen Gründen nirgendwohin führen würde. Wir können nicht in die Vergangenheit zurück, wir können nicht künstlich naiv werden; die alten Autoritäten haben uns in der Tat im Stich gelassen. Wir haben unsere Autonomie gefunden. Überdies sind die alten Gesetze und Prinzipien auf Grund von Voraussetzungen formuliert worden, die nicht mehr stimmen. Damals gab es keine Überbevölkerung, keine Erschöpfung der natürlichen Ressourcen, keine Gefahr, die Grundlagen unseres Lebens zu zerstören. Und schließlich sind die engen, gegenseitigen Abhängigkeiten der Systeme, die uns heute bewußt sind, allgemeinverbindlichen Gesetzen nicht zugänglich. Wir können nicht hoffen, sie in explizite Regeln zu fassen. Dennoch sind wir nicht der Willkür ausgeliefert. Ich stelle mir Ethik als einen Diskurs vor, in dem wir innerhalb von Prozessen, die in konkreten Situationen ablaufen, unsere eigenen Werte in authentischer Weise artikulieren und einbringen können.

Für einen grundlegenden Paradigmenwechsel

Wir leben heute in einer radikal neuen Situation. Grundlegende Prämissen für die Diskussion im allgemeinen sind:

  • Ethik ist eine Einladung, für ein gemeinsames Überleben auf der Erde zusammenzuarbeiten;
  • Ethik ist von Natur aus dialogisch und erkennt die Rechte des Anderen an;
  • Ethik muß ihren Ausdruck finden in einer Sprache über die Grenzen unterschiedlicher kultureller Blickwinkel hinweg;

Ich skizziere einen grundlegenden Paradigmenwechsel im Umgang mit Wertfragen; er geht von

Autorität – Gesetz – Allgemeingültigkeit – Gebot – Gehorsam – Kontrolle

zu

Authentizität – Wahl – Situationsbezogenheit – Einladung – Engagement – gegenseitige Unterstützung.

Ich schlage vor, die Praxis des ethischen Diskurses in Wissenschaft und Technologie auf diesem neuen Paradigma aufzubauen.

Wir wissen, daß die Praxis des ethischen Diskurses in verschiedenartiger Weise behindert wird: der Mythos von der wertfreien Wissenschaft, das wissenschaftliche Establishment, persönlicher Ehrgeiz, Konkurrenz, Loyalität gegenüber Forschungsgruppen und -gemeinschaften, die Interessen des Berufsstandes, Beziehungen zum militärisch-industriellen Komplex, Finanzierungspolitik – sie alle stehen im Weg.

Daher geht jeder von uns ein persönliches Risiko ein, einige Risiken sind relativ klein, andere weitreichend und existentiell.

Inmitten dieses wahnsinnigen Wettlaufs müssen wir zurücktreten, um die Mechanismen der Zerstörung, die uns antreiben – unsere eigene geistige und emotionale Programmierung ebenso wie die äußeren Zwänge – zu erkennen, und aus unseren eigenen Quellen der Freundlichkeit und des Mutes schöpfen.

Altes und neues Denken in der Wissenschaft

Die meisten von uns haben eine verschwommene Vorstellung von der »modernen Wissenschaft«, die ihren Ursprung als Forschungsprogramm in Westeuropa im 17. Jh. hat.

Ich werde den Versuch machen, die Denkweise, die mit der westlichen Wissenschaft verbunden ist, in den Begriffen des mechanistischen Weltbildes zu skizzieren, das sich weit über die Physik hinaus erstreckt. Einige ihrer Aspekte waren: Die Realität ist ihrer Natur nach atomistisch. Materielle Phänomene sind voneinander in Zeit und Raum getrennt. Es gibt eine eindeutige Beziehung zwischen Ursache und Wirkung in Form einer linearen Kausalität. Mit Hilfe analytischen Denkens können trennbare Probleme isoliert werden. Die Analyse, die auf zeitlosen, universellen Gesetzen beruht, wird von einem unbeteiligten Beobachter durchgeführt, mit wiederholbaren Ergebnissen; Beobachter sind als Menschen austauschbar. Dieses mechanistische Weltbild und die mit ihm verbundenen Prozesse gesellschaftlicher Umsetzung und technologischer Entwicklung hatten ihren Platz in einer Welt, in der diese Annahmen gerechtfertigt schienen.

Mit ihm entstand das Rollenmodell des Wissenschaftlers und Ingenieurs mit klaren Vorstellungen von ihrer Verantwortlichkeit. Eine grundlegende Unterscheidung war die zwischen Beobachtung und Anwendung, die Trennung von Forschung und Technologie. Insbesondere die »reine« Forschung bewegte sich außerhalb der Reichweite von Wertediskussionen. Reine Forschung wurde von »angewandter« Forschung getrennt, die mit der Technologie verbunden war. In der Technologie gab es wiederum eine klare Unterscheidung zwischen Produktion und Anwendung. Was produziert wurde, war wertfrei, seine »gute« oder »schlechte« Anwendung lag nicht in der Verantwortung der WissenschaftlerInnen.

Lassen Sie mich die traditionelle Haltung gegenüber Wissenschaft und Ethik skizzieren: Ethische Richtlinien lassen sich in Form universeller Gesetze ausdrücken. Das Ideal der Wissenschaft besteht in der Suche nach der objektiven Wahrheit, unter klarer Trennung zwischen objektiven Fakten und subjektiven Werten, die jeweils dem Reich des Verstandes bzw. des Gefühls zugeordnet sind. Die Realität wird durch Entdeckungen nicht berührt; der Beobachter bleibt außerhalb der Beobachtung, folglich ist Beobachtung wertfrei. Technologie mit vorausberechenbaren Wirkungen für festumrissene Zwecke kann entwickelt und angewendet werden, ohne den globalen Kontext zu beeinflussen. Nicht interessengeleitete Entwicklungsarbeit kann deutlich geschieden werden von interessengeleiteter; wünschenswerte Anwendung ist klar trennbar von Mißbrauch. Die Natur ist der Ausbeutung durch den Mann unterworfen (die Einschränkung auf »Mann« ist beabsichtigt). Wir können über die Ressourcen grenzenlos verfügen, daher ist die Nutzung der Ressourcen kein Gegenstand der Ethik. Der ethische Standpunkt: allgemeine ethische Richtlinien beachten, die Wissenschaft selbst steht außerhalb der Ethik.

Das 20. Jahrhundert hat erlebt, wie diese Denkweise als universeller Rahmen für die Wahrnehmung der Welt zusammengebrochen ist. Um 1920 mußte das mechanistische Weltbild in der physikalischen Forschung aufgegeben werden. Die Beschaffenheit der »Probleme«, mit denen sich die Wissenschaft beschäftigte, änderte sich grundlegend. Sie waren nicht länger trennbar innerhalb von Raum und Zeit, sondern umfaßten systemische gegenseitige Abhängigkeiten scheinbar isolierter Phänomene. Man entdeckte, daß der Beobachter konstitutiv für die Beobachtung ist, und daß die Fragen, die wir stellen, die Antworten vorbestimmen, die wir erhalten. Lineare Kausalität wurde durch zirkuläre Kausalität verschiedener Komplexitätsgrade ersetzt. Rekursive Formen der Organisation mit aufeinander bezogenen Ebenen der Beschreibung kommen in den Blick.

Wissenschaft als menschliches Konstrukt

In der Wissenschaft gibt es keine objektive Wahrheit, sondern wir konstruieren selbst, was wir verstehen. Unsere Wahrnehmung ist von Natur aus selektiv, sie ist abhängig von unserem Blickwinkel und spiegelt unsere Kultur, unsere Geschichte und unsere persönlichen Erfahrungen wider. Die Wissenschaft selbst ist eine Kultur, die sich international über den ganzen Erdball ausdehnt. Ihre Annahmen, Arbeitsmethoden und Tabus, die uns geformt haben, gehören noch dem alten Denken an und geben dem neuen keinen Raum. Wir wissen heute, daß die Erfindung als Grundelement der Wissenschaft an die Stelle der Entdeckung tritt: wir entdecken keine universellen Gesetze, sondern wir erfinden Formen der Beschreibung. Alle Beobachtung ist an den Beobachter gebunden; sie wird in den Begriffen des Beobachters formuliert und spiegelt spezifische Bedürfnisse, Werte und Interessen wider. Doch auf der Grundlage dieses Verständnisses müssen wir handeln, wenn wir uns mit der Wissenschaft beschäftigen.

Die Technologie ist explodiert. Wir leben in ihr, sind von ihr geformt, in ihr verwurzelt und von ihr abhängig. Sie beeinflußt die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen, wie wir unser gesellschaftliches Leben einrichten, wie wir unsere grundlegenden Entscheidungen treffen. Unsere Entscheidungen gründen sich auf Technologie, und Entwicklung und Anwendung von Technologie beruhen auf Entscheidungen. Die Technologie bringt vollkommen unberechenbare systemische Auswirkungen mit sich, von denen der gesamte Weltzusammenhang betroffen ist. In allen Systementwicklungen ist die Entwicklung verknüpft mit der Anwendung. Es gibt keine klar definierbare »wünschenswerte Anwendung«. Wir müssen uns über die wünschenswerte Anwendung während der Entwicklung auseinandersetzen und uns dabei auf Werte stützen.

Wir haben die fundamentale Erfahrung gemacht, daß alle natürlichen Ressourcen begrenzt, viele Ressourcen erschöpft sind und daß die Natur geschützt werden muß. Das gesamte Szenario hat sich geändert.

Wir haben das heilige Gleichgewicht, das sich in so schöner Weise in der lebendigen Natur offenbart, gestört. Gleichgewicht kann nicht ohne Selbstbeschränkung wiederhergestellt werden, die sich auf eine heilende Vision für das Überleben der Menschheit gründet.

Elemente einer heilenden Vision

Die Entwicklung einer heilenden Vision setzt voraus, daß wir unsere Blindheit überwinden. Befangen sein in geistigen Konstrukten und ausblenden, was wir nicht sehen können. Wir können nicht sehen, daß wir Teil einer zerstörerischen Maschinerie sind in einem wahnwitzigen Wettrennen, das sehr leicht im Selbstmord der Menschheit enden könnte. Wir können nicht sehen, das wir vorangetrieben werden, indem wir uns in konkurrenzorientierte Machtspiele hineinziehen lassen. Blindheit ist untrennbar mit der selektiven Natur unserer Wahrnehmung verbunden. Wir können dieser grundsätzlichen Bedingung nicht entgehen; aber wir können, wie Heinz von Foerster uns immer wieder erinnert, lernen zu sehen, daß wir blind sind. Dann, so argumentiert er, sind wir nicht mehr blind.

Ethik verlangt von uns, Anstrengungen zu machen, auf diesem Weg unsere Blindheit zu überwinden. Die Übernahme eines komplizierten Regelwerks ist nicht erforderlich. Es geht um das Bemühen, die Vielfalt der Perspektiven, unsere gegenseitige Abhängigkeit von anderen Menschen wie von allen anderen Formen des Lebens zu verstehen – und daß wir ein Teil dieser Welt sind.

In einem Versuch, den Kern aller Religionen zu charakterisieren, hat der Anthropologe Gregory Bateson kürzlich die menschliche Bezogenheit das „Wesen des Heiligen“ genannt. Welchem Glauben wir als Individuen auch angehören, welche Lehren auch immer uns Inspiration und Orientierung geben, vielleicht ist dies eine Verständigungsebene.

Ethik bietet utopische Szenarios für eine wünschenswerte Gestaltung der menschlichen Angelegenheiten. Solche Szenarios inspirieren Gemeinschaften und setzen Paradigmen für unser Leben. Ich möchte heute als eine Vision vorschlagen: Gemeinsames Leben auf der Erde. Dafür müßten wir lernen, unsere Bezogenheit nicht zu mißbrauchen, sondern zu feiern. Es würde bedeuten, den Anderen zu respektieren. Autonomie und Selbstbestimmung zu fördern. Versöhnung zwischen den Menschen und mit der Natur. Vielfalt zulassen. Ressourcen erhalten und teilen. Die Gemeinschaft unterstützen. Gefahren vorbeugen. Sorge tragen um alle lebendigen Wesen. Raum für sinnvolle Entscheidungen schaffen. Wachstum beschränken.

Lassen Sie uns in unserer Forschung und systemischen Praxis einige Elemente dieser heilenden Vision erforschen. Lassen Sie uns einen Entwurf machen für unser gemeinsames Überleben.

Entwurf für Bewahrung und Entwicklung

Gewöhnlich werden unterschiedliche Szenarios unserer Fähigkeit zur Veränderung diskutiert: es gibt das deterministische Szenario, das von der Vorherbestimmung durch die Evolution ausgeht, und das Szenario, das sich von der Selbstorganisation tiefere Einsichten erhofft. Es gibt die Gegenüberstellung von »rationalen« und »irrationalen« Dingen, die in der öffentlichen Diskussion nicht vereinbar sind. Es gibt die Idee von dem männlich aggressiven, individuellen Streben nach Herrschaft, gegenüber dem nachgebenden Weiblichen, das in der Gemeinschaft das Leben umsorgt. Es gibt die Idee vom sozialen Konflikt und vom Klassenkampf. Von nationalen und kulturellen Bindungen.

Wenn wir Verantwortung übernehmen wollen, müssen wir über all dies hinausgehen. Einen Entwurf fürs Überleben zu machen erfordert, daß wir alle zusammenarbeiten und unsere unterschiedlichen Vorstellungen einbringen, während wir zugleich die Sichtweise des Anderen ernst nehmen. Die kulturelle Perspektive und die Notwendigkeit, in Würde zu überleben.

Ich sehe einige verheerende Tendenzen der Entwicklung:

  • Zulassen partiellen unbeschränkten Wachstums,
  • Unterdrückung der Vielfalt und Störung des Gleichgewichts,
  • Zerstörung der physischen Bedingungen des Lebens auf der Erde,
  • Versuch globaler Kontrolle einer nicht beherrschbaren Komplexität,
  • Delegieren verantwortlicher Entscheidungen des Menschen an Maschinen.

Einige besorgte Wissenschaftler haben einfache und wirksame Konzepte angeboten, um die Vertretbarkeit technologischer Optionen vor diesem tristen Hintergrund zu diskutieren. Kurt Schumacher zum Beispiel schlägt als Alternative zur globalen Kontrolle das Konzept der kleinen Systeme vor. Ivan Illich hat den Begriff des »geselligen und unbeschwerten Handwerkszeugs« geprägt, als Basis für die Beurteilung bestimmter Technologien in ihrem Wert für den Menschen. Heinz von Foerster schlägt eine ethische Richtlinie vor: Handle immer so, daß sich deine Wahlmöglichkeiten erweitern. Sie hängt direkt mit dem Entwurf zusammen.

Diese und andere Ideen können wir als Sprachelemente in unserer interkulturellen, wertorientierten Diskussion verwenden. Sie müssen konkretisiert und an den jeweiligen Orten den Problemen, um die es geht, angepaßt werden. Ich kann nicht versuchen, dies für die Vielfalt von Problemen und Disziplinen, die hier vertreten sind, zu leisten.

Ich arbeite in der Computerwissenschaft, in der ich einen auf den Menschen ausgerichteten Ansatz für Technologie-Design entwickele. In meiner Forschung bin ich auf tiefgehende ethische Fragen gestoßen, die mit dem Entwurf computergestützter Systeme zu tun haben. Ich sehe sie als paradigmatisch an für viele ethische Fragen, die sich aus Wissenschaft und Technologie ergeben. Ich würde sogar so weit gehen: wir leben im Zeitalter der Entwürfe. Wir brauchen einen Entwurf, unsere begrenzten Ressourcen mit Vorsicht zu nutzen, um unsere Lebensbedingungen zu erhalten und die Entfaltung höherer Qualität zu fördern; Einen Entwurf einer dialogischen Haltung, die die Bedürfnisse des Anderen ernst nimmt, dies scheint mir der einleuchtende Weg zu sein. Dies ist der Kern von Wissenschaft und Ethik. Locker verbundene, kleine computergestützte Systeme, die die menschliche Gemeinschaft pfleglich behandeln und verantwortliches menschliches Handeln ermöglichen.

Keine allgemeingültigen Antworten

Aber ich kann, niemand kann allgemeingültige Antworten auf ethische Dilemmata in der wissenschaftlichen Arbeit geben: Wird alles, was einmal gedacht wurde, früher oder später auch getan? Müssen wir bestimmte Richtungen der Forschung aufgeben? Könnten wir uns auf eine wertorientierte (humanistische?) Ausrichtung in Forschung und Entwicklung einlassen? Können (müssen) niedere Dinge zugunsten der höheren Dinge vernachlässigt werden? Ist die Natur ein Gegenstand der Ethik? Welche Formen des Eingriffs in die Natur sind sicher? Wo fängt meine Verantwortung an und wo hört sie auf? Was nützt es, wenn wir uns an ethische Normen halten, während andere…? Meiner Ansicht nach sind diese Fragen prinzipiell nicht zu entscheiden. Wir entscheiden sie, indem wir unseren eigenen Standpunkt einnehmen, hier und jetzt, und weiterhin in unserer täglichen Praxis.

Die entscheidende Frage also ist: Wie können wir ethische Praxis fördern – in unserer Umgebung? in unserer wissenschaftlichen Gemeinschaft? in der Gesellschaft als ganzes?

Zur wissenschaftlichen Arbeit gehört, Entscheidungen zu treffen: Wir müssen zusammen auf ihre Veränderung hinarbeiten. Wir könnten Grundsätze erarbeiten, durch die wir uns gesellschaftlichen Mechanismen verpflichten, die die Änderungen, die wir wünschen, befördern. Das betrifft sowohl Lehre wie Forschung, die Verteilung der Gelder, das Setzen von Forschungszielen und die Anwendung von Forschungsmethoden.

Grundsätze haben mit Engagement und Selbstbeschränkung zu tun. Gesellschaftliche Mechanismen sind diskursiv. Sie betreffen Forschungsumfelder, wissenschaftliche Gemeinschaften, Fördereinrichtungen, die Zusammenarbeit mit der Öffentlichkeit, Entscheidungen über Technologie-Design und seine Anwendung. Lassen Sie uns damit beginnen, ethische Richtlinien in der Wissenschaft und bei Entwürfen zu befolgen. Lassen Sie uns Netzwerke betroffener WissenschaftlerInnen bilden. Wenn wir uns zu gemeinsamen Handeln zusammenfinden, wissen wir nicht, ob wir Erfolg haben. Aber wir können hoffen.

Dokumentation

Forschung für den Frieden

In seiner Sitzung vom 19.12.1991 hat der Senat der
Ruhr-Universität Bochum folgende Beschlußvorlage einstimmig angenommen:

„Die Ruhr-Universität Bochum hat sich in Artikel 2
Absatz 2 ihrer Verfassung dazu verpflichtet, in Forschung und Lehre zu Sicherung und
Erhalt des Friedens beizutragen. Vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrung, daß
durch Kriege politische Konflikte nicht gelöst werden können, sowie im Bewußtsein der
Verantwortung aller in der Wissenschaft Tätigen für die Folgen ihres Forschens und
Lehrens erklärt der Senat der Ruhr-Universität Bochum:

  • Gemäß der Verpflichtung, zu Sicherung und Erhalt des
    Friedens beizutragen, sollen an der Ruhr-Universität keine Forschungs- und
    Entwicklungsvorhaben durchgeführt werden, die erkennbar Angriffskriegen dienen.
  • Alle an der Ruhr-Universität in der Wissenschaft Tätigen
    sind aufgerufen, ihre Forschungsvorhaben sowie Kooperationsvereinbarungen mit Dritten
    dahingehend zu prüfen, ob sie kriegerischen Zwecken dienen, und diese gegebenenfalls
    abzulehnen.
  • Generell liegt es in der Verantwortung aller in der
    Wissenschaft Tätigen, die politischen, ökologischen und sozialen Folgen ihrer eigenen
    wissenschaftlichen Tätigkeit zu reflektieren und daraus in Forschung und Lehre
    Konsequenzen zu ziehen.“

Dieser Beitrag basiert auf dem Vortrag, den Chr. Floyd auf dem Kongress »Challenges: Science and Peace in a Rapidly Changing Environment« in Berlin am 29.11.91 gehalten hat.
Dr. Christiane Floyd ist Professorin am Fachbereich Informatik der Universität Hamburg.

Friedensdiskurs – Friedensethik: »Wahrheitstheorien« von Jürgen Habermas in pädagogischer Sicht

Friedensdiskurs – Friedensethik: »Wahrheitstheorien« von Jürgen Habermas in pädagogischer Sicht

von Karl Brose

Die Wandlungen des Friedensbegriffs in den gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen sind rasant. Das gilt auch für deren pädagogische Implikationen. Den Veränderungen in der großen Welt müßte eine Wandlung im Mikrokosmos der Erziehung entsprechen. Bleiben hier Konflikte ungelöst, so können sie zur Gewalt im späteren Leben führen, zu Aggressionen zwischen Völkern und Staaten. Die Friedenserziehung versucht besonders junge Menschen auf die konfliktfreie und dissenslösende Gestaltung des künftigen Lebens vorzubereiten. Aus der zermürbenden Analyse dieser Konfliktbewältigungen sucht die Friedenserziehung freilich oft vorzeitig zu entfliehen. Sie geht dann zu Werten und Wahrheiten über, die sich über die Widersprüche und Problematik der Zeit hinwegsetzen. Unter solchen Voraussetzungen sollte man auch die Wahrheitstheorien von Jürgen Habermas1 lesen. Bieten sie Fixpunkte im derzeitigen Ablauf der politischen Ereignisse? Befreien sie von traditionellen und moralistischen Friedenskategorien? Erweitern sie den Blick auf politische Veränderung und philosophische Aufklärung, wie man sie Vertretern der Kritischen Theorie nachsagt?2

1. Wahrheit, Wahrhaftigkeit und ideale Sprechsituation

Wahrheit sollte hinter jeder Friedenserziehung stehen. Sie ist ein Geltungsanspruch in allen unseren Behauptungen und Aussagen; genauer; bei der Verwendung von Aussagen und Behauptungen. Eine solche Verwendung gehört neben Erfahrungen und Argumenten zur Konsensustheorie der Wahrheit: „Der Sinn von Wahrheit, der in der Pragmatik von Behauptungen impliziert ist, läßt sich erst hinreichend klären, wenn wir angeben können, was »diskursive Einlösung« von erfahrungsfundierten Geltungsansprüchen bedeutet. Genau dies ist das Ziel einer Konsensustheorie der Wahrheit“; diese beansprucht den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments durch formale Eigenschaften des Diskurses zu erklären… Der Ausgang eines Diskurses kann weder durch logischen noch durch empirischen Zwang allein entschieden werden, sondern durch die »Kraft des besseren Argumentes““ (136, 161). Die konsenserzielende Kraft dieses Arguments beruht auf einer der Argumentation vorausliegenden rationalen Entwicklung. Wir sind auf den diskursiven Gang dieser Argumentation angewiesen, damit ein gewähltes Sprach- und Begriffsystem auch revidiert werden kann: ein argumentativ erzielter Konsensus muß als Wahrheitskriterium die Möglichkeit bieten, „die jeweilige Begründungssprache, in der Erfahrungen interpretiert werden, zu hinterfragen, zu modifizieren und zu ersetzen“ (172). Konsequenz für Friedenserzieher: Wahrheit als Versprechen eines vernünftigen Konsensus könnte als eine sprachlich fundierte Verständigungstheorie des Friedens angesehen werden.

Vor Wahrheit unterscheidet Habermas Wahrhaftigkeit. Wir stellen Fragen wie: Täuscht er mich? Täuscht er sich über sich selbst? Wir verbinden Wahrhaftigkeit also mit Glauben und Vertrauen. Deren Gewißheit verdankt sich Interaktionen, in denen wir die Wahrhaftigkeit des anderen erfahren. Diese ist von kommunikativen Erfahrungen mit dem anderen abhängig. Wenn wir jemandem glauben, entsprechen wir dem Geltungsanspruch einer Person auf Wahrhaftigkeit. Ein Sprecher ist wahrhaftig, wenn er weder sich noch andere täuscht.

Wahrhaftigkeit in Diskursen, begründeter Konsensus als Wahrheitskriterium und die konsenserzielende Kraft des besseren Arguments in der Freizügigkeit zwischen den Diskursebenen: solche Bedingungen sind für Habermas erfüllt in der idealen Sprechsituation (174-183). Diese schließt systematische Verzerrungen in der Kommunikation aus. Für alle Diskursteilnehmer ist eine „symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszuführen, gegeben“ (177). Sie können Behauptungen oder Rechtfertigungen aufstellen, Gefühle zum Ausdruck bringen und regulative Sprechakte zulassen oder verbieten. Solche Bedingungen beruhen für Habermas auf reziproker „Unterstellung, Antizipation“ und „Vorgriff auf eine ideale Sprechsituation“ (180). Letztere ist ein kritischer Maßstab für einen begründeten Konsensus. Die formale Vorwegnahme des idealisierten Gesprächs garantiert das letzte tragende Einverständnis zwischen Sprechern. Wiederum Schlußfolgerung für Friedenserzieher: Habermas geht es um die methodische Überwindung verzerrter Kommunikation; auch im Friedensdiskurs könnte der vernünftige Konsensus von einem trügerischen nur durch die Bezugnahme auf eine ideale Sprechsituation unterschieden werden.

Kritik der idealen Sprechsituation und Konsensustheorie

Die philosophisch-theoretischen Voraussetzungen von Habermas und die pädagogisch-praktische Friedenserziehung gehen offenbar nicht bruchlos ineinander auf, schon gar nicht in der idealen Sprechsituation und Konsensustheorie der Wahrheit. In der alltäglichen Erziehungswirklichkeit erscheint ein Friedensdiskurs im Sinne von Habermas kaum als realistisch. Es gibt hier keine „gleiche Chance…kommunikative Sprechakte zu verwenden“ (177). Vielmehr besteht in der Erziehung grundsätzlich ein Herrschaftsgefälle. Niemand spricht hier konsensuell miteinander über Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsfragen – es sei denn im Religionsunterricht. Kinder und Jugendliche messen die Sprachkompetenz ihrer Eltern und Lehrer an Slogans angloamerikanischer Schlager. Zum begründeten oder unbegründeten Konsens sind sie allenfalls auf der Ebene von Medienjargon und kryptischem McDonald-Deutsch bereit.3 Ob die ideale Sprechsituation und Konsensustheorie von Habermas diese Widersprüche pädagogischer Realität und Ursachen latenter Gewaltsamkeit nicht verstellt? Friedenserzieher fragen: bietet sie mehr als ein Postulat und Regulativ – als jene „im Kommunikationsvorgang operativ wirksame Fiktion“ (180) und bloße Antizipation von Frieden und Gewaltlosigkeit?

Eher nämlich zeigt die Konsensustheorie und ideale Sprechsituation von Habermas die Gefahr einer nur idealistischen Wahrheits- und Friedenstheorie. Während der »Dauer« (177) eines lediglich idealen Friedenszustandes4 können Kriege ausbrechen, deren Ursachen durch Idealismen idealer Sprechsituationen und eines nur scheinbaren Konsensus zugedeckt werden. Der Trost solcher Ideale gehört zu einem Verblendungszusammenhang, der nicht nur sprachlich, sondern auch gesellschaftlich aufzuarbeiten wäre. Für eine kritische Friedenserziehung gelten die Vorbehalte: die ideale Sprechsituation und Konsensustheorie verschleiert wohl Ursachen des mißlungenen Sprechens, kaschiert offenbar Mißverständnisse und Verständigungsmangel im pädagogischen Alltag. Sie fördert damit eher latente Friedlosigkeit und Unfriedensstrukturen. Der ideale Gestus jener Diskurs- und Wahrheitstheorien verstellt das Aufsuchen realer, materialer und empirischer Gründe des mißlungenen Sprechens. Die Analyse von Gewaltsamkeit und Vorurteilen – bereits in der Kindersprache – müßte einer idealen Sprechsituation und dem projizierten Konsensus vorausgehen.

Die Wahrheitstheorien von Habermas bleiben also offenbar irrational. Der pädagogische Alltag steht unter Herrschafts-, Sach- und Zeitzwängen, die keine erfahrungs- und handlungsentlastende „reine“(78, 180 Anm. 45) Kommunikation und ideale Sprechsituation zulassen. Noch immer ist der Klassendurchschnitt zu hoch, gibt es zu wenige Lehrer und fallen zu viele Stunden aus – ein Anlaß zu täglichem Unfrieden, Aggression und Gewalt. Vielleicht gibt es eine ideale Sprechsituation nur zwischen zwei Menschen, dialogisch (Buber) oder in einem Klassenzimmer von höchstens zehn Schülern – und weniger – ähnlich dem Behandlungszimmer eines Arztes. Jedenfalls ändert die ideale Überhöhung der Realität durch Sprache, Konsensus und Wahrheitstheorie nichts an den Zwängen und Unfriedensstrukturen der Schul- und Erziehungswirklichkeit. Diese werden eben zugedeckt durch Metakommunikation. Habermas projiziert, projektiert und »unterstellt« zwangsfreie Kommunikation, die sich aus der Analyse der tatsächlichen Gewaltverhältnisse hinaushebt, d.h. davonstiehlt. Dadurch läßt er diese, wie sie sind. Es zeigt sich ein Mangel der Kritischen Theorie: die Kluft zwischen idealer und reiner Theorie auf der einen Seite auf Kosten einer nur „unterstellten und antizipierten“ Praxis auf der anderen Seite5. Die Konsequenz für eine kritische Friedenserziehung ist deutlich: der Ewige Friede (Kant) thront weiterhin über einer unbewältigten Realität und den tatsächlich gegebenen Unfriedensstrukturen in Schule und Hochschule, Wissenschaft und Gesellschaft.

3. Zur Rechtfertigung der »Wahrheitstheorien« von Habermas

Nun kann die Kluft zwischen Theorie und Praxis in den Wahrheitstheorien von Habermas auch als Ausdruck einer immer noch unfriedlichen und in ihren Gegensätzen unausgeglichenen Gesellschaft der Gegenwart interpretiert werden. Dann bieten die „Vorgriffe und Antizipationen“ seiner Diskurs- und Konsensustheorie Fernziele, ohne die eine kritische Friedenserziehung auch nicht leben kann. Die Gewaltsamkeit der alltäglichen Umgangssprache – und der Kindersprache im besonderen – verlangt durchaus eine „ethische Sprache“ (173). Hier könnte ein diskurstheoretisches Fundament für die Friedenserziehung liegen. Welchen Stellenwert hat da die »ideale Sprechsituation«? Oder umgekehrt argumentiert: das Fehlen von Frieden und Gewaltlosigkeit in der Sprache muß auch einen Verlust für die ideale Sprechsituation mit sich bringen – und damit auch für den philosophischen Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsanspruch der Diskurs- und Konsensustheorie von Habermas. Von dieser Argumentation aus stellt sich dann auch die pädagogische Frage neu und realitätsrelevant, woher die Symptome der Gewaltsamkeit in der Sprache der Kinder und Erwachsenen, Schüler und Lehrer kommen, die so weit vom Konsensus der Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Chancengleichheit der idealen Sprechpartner entfernt sind. Das Gewaltphänomen müßte dann von einer erweiterten und zusätzlichen „Tiefengrammatik“ (Wittgenstein) aus begründet und beschrieben werden, von Kommunikations- und Diskursstrukturen diesseits idealer Sprechsituationen.

Die ideale Sprechsituation und Konsensustheorie von Habermas könnte also eine ethische Antwort auf die Unfriedensstrukturen der Gegenwart geben, die weder von Erziehungsinstanzen noch von religiösen oder technisch verwalteten Institutionen zu erwarten ist. Pädagogisch kaum möglich erscheint uns die Chancengleichheit im Erziehungsprozeß. Weiterführend ist hier wohl die Rück- und Neubesinnung auf jene „ethische Sprache“ und „vernünftige Rede“ (181). Grundbegriffe einer solchen ethischen und vernünftigen Sprache lassen sich als „kognitive Schemata auffassen, die sich… mit der Entwicklung des moralischen Bewußtseins herausbilden“ (173). Das gewählte konsensfähige Sprachsystem muß dann auch Bedürfnisinterpretationen zulassen, in denen die Sprecher ihr wirkliches Wollen artikulieren. Sie müssen die Begründungssprache ihrer Bedürfnisse jederzeit hinterfragen, revidieren und die Gesprächs- und Diskursebene wechseln können. Die Verbindung des theoretisch-philosophischen Diskurses mit dem praktischen ist für Habermas unerläßlich zur Grundlegung einer „universalistischen Sprachethik“ (145 Anm. 18). Mit dieser praktisch-ethischen Wendung seines philosophisch-theoretischen Ansatzes überwindet Habermas die Irrealität seiner „idealen Sprechsituation“. Damit vollzieht er auch die praktisch-ethische Wende für einen kritischen Friedensdiskurs über die Beseitigung von Unfrieden und Gewaltstrukturen in der Schule und Hochschule, Wissenschaft und Gesellschaft.

Anmerkungen

1) J. Habermas: Wahrheitstheorien (1972). In: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handels. Frankfurt/M. 1984, S. 127-183. Im folgenden wird die Seitenzahl in Klammern angegeben. Zurück

2) Vgl. M. Horkheimer/Th.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. 1988; ferner Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche 1959-1969. Frankfurt/M. 1986. Zurück

3) Zu Gewalt, Angst und Vorurteil in der Kindersprache vgl. K. Brose: Wittgenstein als Sprachphilosoph und Pädagoge. Grundlagen zu einer Philosophie der Kindersprache. Frankfurt/New York 1987, S. 171-202. Zurück

4) Vgl. K. Jaspers: Kants „Zum ewigen Frieden“. In: Philosophie und Welt. Reden und Aufsätze (1949-1957). München 1963, S. 134. Zurück

5) Vgl M. Theunissen: Kritische Theorie der Gesellschaft. Zwei Studien. Berlin/NewYork² 1982. Zurück

Karl Brose ist apl. Professor an der Univ. Münster und unterrichtet Pädagogik und Philosophie.

Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen

Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen

Philosophische Überlegungen zum »Neusser Ärztefall«

von Matthias Gatzemeier

Ein Arzt und eine Ärztin haben unter Berufung auf ihr Gewissen die Mitwirkung an der Erforschung einer Substanz abgelehnt, die nach ihrer Darstellung nicht nur dazu geeignet ist, sondern dezidiert zu dem Zweck entwickelt werden sollte, die Einsatzfähigkeit von nuklear verstrahlten Soldaten in einem Atomkrieg zu erhalten bzw. kurzfristig zu verlängern. Die Firma Beecham-Wülfing in Neuss, hat daraufhin die Arbeitsverhältnisse gekündigt. Die Kündigungsschutzklagen der Betroffenen wurden vom ArbG Mönchengladbach (am 12.8.1987) und vom LAG Düsseldorf (am 22.4.1988) zurückgewiesen. –
Das BAG hat in seinem Urteil vom 24.5.1989 den Rechtsstreit an das LAG Düsseldorf zurückverwiesen [Da die ausführliche Urteilsbegründung des BAG noch nicht vorliegt, kann sie hier nicht berücksichtigt werden].
Die Rechtsprechung im »Neusser Ärztefall« hat allgemein Aufsehen erregt. Sie wurde verschiedentlich aus juristischer und politischer Sicht kritisch kommentiert.1 Im folgenden sollen die philosophischen, d.h. vor allem die ethischen und argumentationstheoretischen Implikationen des Falles untersucht werden.

I. Schutz der Menschenwürde

Das zu entwickelnde »Medikament« sollte strahlenbedingtes Erbrechen verhindern. Anwendungsmöglichekiten eines derartigen »Antiemetikums« sind z.B. Migräne oder Brechreiz nach Chemotherapie bzw. Strahlentherapie bei Krebskranken – so die Erklärung der Firmenvertreter vor Gericht.2 Das von den Ärzten vorgebrachte Argument, das Präparat solle auch bzw. sogar in erster Linie zur „Sicherstellung der kurzfristigen Einsatzfähigkeit von … tödlich verletzten Soldaten“ eingesetzt werden,3 wird von den Gerichten nicht behandelt. – Das hinter diesem Argument stehende »Szenario« kann man sich unschwer vorstellen: Soldaten erhalten in einem Atomkrieg eine tödliche Strahlendosis; man kann ihnen nicht mehr helfen; sie aber könnten noch »nützlich« sein, wenn der Brechreiz nicht ihren weiteren Einsatz unmöglich machen würde; das »Medikament« unterdrückt den Brechreiz und dient damit dazu, die Funktionsfähigkeit der Soldaten noch für einige Zeit zu gewährleisten.

Hier geht es um den Tatbestand der Mißachtung der Menschenwürde der betroffenen Soldaten. Der Schutz der Menschenwürde ist das erste der im GG aufgeführten Grundrechte. Wer ein Präparat herstellt (und vertreibt), das (u.a.) der „Sicherung der kurzfristigen Einsatzfähigkeit“ von Soldaten dient, reduziert den Menschen auf die Funktion eines bloßen Mittels; der Mensch wird damit nicht mehr als Person, sondern nur noch als Sache angesehen.

Kant hat die Degradierung des Menschen zum bloßen Mittel, zur Sache, als Verstoß gegen Menschenwürde und Sittengesetz verurteilt: Der »kategorische Imperativ« gebietet, den Menschen „niemals bloß als Mittel“ zu gebrauchen; „der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen … Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden. […] Die Wesen, deren Dasein zwar nicht auf unserm Willen, sondern der Natur beruht, haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen Werth, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d.i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet “.4 „In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch blos als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch … ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subject des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit“.5 – Man wird schwerlich behaupten können, daß die Maxime der „Sicherstellung der kurzfristigen Einsatzfähigkeit von … tödlich verletzten Soldaten“ mit der Achtung des Menschen als »Selbstzweck« und Person vereinbar ist. Auch der Soldat darf nicht derart erniedrigt werden, daß er nur noch in seiner Funktionsfähigkeit als Mittel betrachtet wird.

II. Der zweifache Gewissensbezug

Bei der Berufung auf das Gewissen ist der formale vom inhaltlichen Aspekt zu unterscheiden. Mit dem formalen Gewissensbezug ist die bloße Tatsache der Berufung auf das Gewissen gemeint, hier das Faktum der Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen. – Die Korrektheit des Gewissensbezuges wird vom LAG Düsseldorf als gegeben angesehen.6 Daß heißt, die Integrität der Motive der Ärzte wird nicht in Zweifel gezogen.

Mit dem inhaltlichen Gewissensbezug sind die konkreten Argumente gemeint, die für den Gewissenskonflikt angegeben werden. Diese werden im vorliegenden Fall vom Gericht nicht akzeptiert.7 Dies wiegt umso schwerer, als die inhaltlichen Argumente in diesem Fall keine Nebensächlichkeiten betreffen, sondern das Leben, die Überlebensfähigkeit, die Gesundheit und die Menschenwürde einer gegebenenfalls sehr großen Anzahl von Menschen. Es handelt sich um Güter von rechtlich und ethisch höchstem Rang. Man hätte also erwarten können, daß die Rechtsprechung hier größte Sorgfalt walten läßt.

Die inhaltlichen Argumente der Ärzte im einzelnen:

Arg.1: Ein Nuklearkrieg führt zur Tötung und Gefährdung einer unübersehbar großen Anzahl von Menschen.

Arg.2: Es gibt einen allgemeinen Zusammenhang zwischen der Herstellung des besagten Präparates und einem Atomkrieg, und zwar

  1. weil durch dies Präparat ein Atomkrieg als führbar und gewinnbar erscheint,
  2. weil dadurch ein Atomkrieg in seinen Konsequenzen verharmlost wird, was die Gefahr des Eintrittes in einen Atomkrieg erhöht.

Arg.3: Es gibt einen unmittelbaren Zweck-Mittel-Zusammenhang, der auf eine Verwendung des Präparates in einem Nuklearkrieg schließen läßt.

III. Gewissen versus Rationalität

Bevor im einzelnen auf das Pro und Contra zu diesem Zweck-Mittel-Zusammenhang eingegangen werden kann, muß zunächst die Frage erörtert werden, ob bei der Berufung auf das Gewissen Rationalitätserwägungen überhaupt zuzulassen sind. Sowohl in diesem Verfahren8 als auch häufig bei der Frage der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird unterstellt, daß Gewissen und Verstand einander ausschließen.

In philosophischer Terminologie formuliert, geht es darum, ob es sich bei »Gewissen« und »Verstand« (»Rationalität«) um eine »vollständige Disjunktion« handelt. Eine derartige Disjunktion bedeutet, daß man sich ausschließlich entweder auf das Gewissen berufen oder nur rationale Gründe vortragen kann; das Verquicken beider Bereiche ist unzulässig und legt den Verdacht der Unglaubwürdigkeit nahe.

Das Arb.Gericht Mönchengladbach versucht,seine Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Gewissensbezugs dadurch zu begründen, daß es eine prinzipielle Unvereinbarkeit von Gewissensbezug und Rationalität zugrundelegt. Eine derartige Unvereinbarkeit steht jedoch weder im Einklang mit der in Bezug auf Art.4 Abs.3 GG geübten juristischen Praxis und dem allgemeinen moralischen Empfinden, noch kann sie als theoretisch (philosophisch) legitimierbar angesehen werden.

1. Würde man in der juristischen Praxis konsequent die Unvereinbarkeit von Gewissen und Vernunft zugrundelegen, so dürfte im Fall der Kriegsdienstverweigerung nur die sogenannte »Postkartenlösung« akzeptiert werden; d.h. wer sich in diesem Fall auf Art.4 Abs.3 GG beruft („Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“), dürfte sich nur auf sein Gewissen berufen. Andere Berufungsgründe (Vernunftargumente) wären weder seitens des Betroffenen zulässig, noch dürften sie von der »Prüfungsbehörde« eingefordert werden.

2. Auch dem »normalen moralischen Empfinden« (wenn von einem solchen denn überhaupt in argumentativen Kontexten die Rede sein kann) dürfte es wohl kaum entsprechen, daß bei einer Gewissensentscheidung jegliche Rationalität ausgeschaltet werden muß. Eher ist davon auszugehen, daß jeder, der sich auf sein Gewissen beruft, auch Vernunftgründe für seine Entscheidung geltend machen kann und darf.

3. Die philosophisch-theoretische Gegenposition zur Ausschließlichkeitsthese von Gewissen und Vernunft hat oben (Nr. II) schon eine erste Legitimationsbasis erhalten: Der Kläger beruft sich (formal) auf sein Gewissen, das ihm (inhaltlich) die (direkte oder indirekte) Tötung und den Mißbrauch des Menschen als bloßes Mittel verbietet; setzt man das Tötungs- und Mißbrauchsverbot als unmittelbar vom Gewissen gefordert, so ist bis zu dieser Stelle nur das Gewissen in Anspruch genommen worden. Der reine, ausschließliche Gewissensbezug reicht nur dann aus, wenn eine (geforderte oder geplante) Handlung unmittelbar diese Verbote tangiert. In allen anderen Fällen ist zusätzlich zur Gewissensentscheidung eine (mehr oder weniger ausführliche) rationale Argumentation erforderlich, die den Nachweis zu erbringen hat, daß eine bestimmte Handlung mittelbar eine Tötung bzw. eine Verletzung der Menschenwürde zur Folge hat (haben kann). Es handelt sich hier um die Zu- bzw. Unterordnung einer konkreten Handlung unter eine allgemeine Regel oder Maxime (z.B. „Du sollst nicht töten!“ ).

Ein derartiger Zuordnungs- oder Subsumptionszusammenhang kann nur mit Hilfe einer rationalen Argumentation deutlich gemacht werden – im vorliegenden Fall sind dazu etliche Argumentationsschritte erforderlich. Gewissen und Vernunft schließen sich also nicht aus, sondern sie ergänzen einander.

Dieses Verhältnis von Gewissen und Rationalität ist der philosophischen Tradition seit dem Mittelalter (Thomas von Aquin) durchaus vertraut. Bei Wahrung des nicht-rationalen, intuitiven oder gefühlsmäßigen Charakters des unmittelbaren Gewissensbezuges ist immer wieder betont worden, daß die konkrete Gewissensentscheidung ein Erkenntnis-Urteil ist; dies Urteil besteht in einem »praktischen Syllogismus« (z.B.) folgender Art:

1. Prämisse: Du sollst nicht töten 2. Prämisse: Diese bestimmte Handlung führt zur Tötung

Schlußfolgerung: Diese bestimmte Handlung ist verboten.

An dieser syllogistischen Form der Argumentation wird unmittelbar deutlich, an welcher Stelle das Gewissen bzw. die Rationalität zur Geltung kommen: die 1. Prämisse formuliert den unmittelbaren (inhaltlichen) Gewissensbezug, die 2. Prämisse bringt die argumentativ zu leistende Subsumption einer bestimmten Handlung zum Ausdruck.9

IV. Der Zusammenhang zwischen Präparat und Atomkrieg

Diese generelle Klärung des Verhältnisses von Gewissen und Vernunft führt im vorliegenden Fall zugleich zu einer Präzisierung der Argumentationssituation der Kläger : der von ihnen behauptete allgemeine und spezielle Zweck-Mittel-Zusammenhang zwischen Präparat und Atomkrieg (s.o. Nr.II) fällt in den Bereich der 2. Prämisse; d.h., der Kläger muß durch rationale Argumente diesen Zusammenhang nachweisen.

  1. Führbarkeit und Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges

Diese beiden Argumente hängen inhaltlich eng zusammen: Wenn durch ein bestimmtes Präparat ein Atomkrieg als führbar und gewinnbar erscheint , dann erhöht sich die Gefahr, daß ein derartiger Krieg auch wirklich begonnen (und nicht nur als strategisches Drohmittel benutzt) wird. Die Plausibilität dieses Argumentationszusammenhanges ergibt sich aus seiner Umkehrung: Solange ein Atomkrieg nicht als gewinnbar gilt, ist (wenn man bei den Entscheidungsträgern ein »Normalverhalten« unterstellt) nach menschlichem Ermessen anzunehmen, daß niemand ein derartiges Risiko ernsthaft eingehen wird.

Hierzu stellt das LAG Düsseldorf fest, daß diese „Erwägungen … aus der Sicht eines außenstehenden Dritten nicht ganz nachvollziehbar“ sind.10 Es geht aus dieser lapidaren Feststellung nicht hervor, auf welchen „außenstehenden Dritten“ hier Bezug genommen wird. Vermutlich handelt es sich um die Fiktion eines derartigen »Dritten« bzw. lediglich um die (solchermaßen verklausulierte) subjektive Einschätzung der Richter (zum Argument des „außenstehenden Dritten“ s. unt. Nr. VI). – Zugunsten der Argumentation des Arztes hätte man (u.a.) Äußerungen von Politikern über die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges (vor allem in Europa) und Stellungnahmen von Sachverständigen über die mögliche Funktion des zu entwickelnden Präparates hinzuziehen können. Außerdem ist festzuhalten, daß es sich ja nicht um ein beliebiges »Medikament« handelt, das irgendein beliebiges »Symptom unterdrückt«, sondern um ein ganz bestimmtes Präparat, das (u.a.) geeignet ist, den Brechreiz von verstrahlten Soldaten im Fall eines Nuklearkrieges zu unterdrücken. – Das Gericht hat Argumentationsmöglichkeiten, die für den Kläger sprechen, nicht hinreichend berücksichtigt.

  1. Zweckbestimmung und mögliche Nutzung des Präparates
    Theoretisch sind hier (u.a.) folgende Argumentationsvarianten zu unterscheiden und zu prüfen:

    1. Es ist vom Hersteller beabsichtigt, das Präparat (auch, überwiegend bzw. ausschließlich) in einem Nuklearkrieg einzusetzen.
    2. Unabhängig von den explizit geäußerten Absichten des Herstellers ist es erwartbar, wahrscheinlich oder zumindest nicht auszuschließen, daß das Präparat militärisch (in der von den Klägern dargelegten Weise) genutzt wird.

Die Kläger haben sich für die (stärkere) Argumentationsvariante a) entschieden: „Es gehe nicht um einen potentiellen »Mißbrauch« eines Medikaments, sondern um seine ins Auge gefaßte Zweckbestimmung.“11)

Zur Begründung ihrer Behauptung führen die Kläger einerseits ein schriftliches Dokument der Firma, andererseits mündliche Aussagen von Firmenvertretern an.

Bei der schriftlichen Unterlage handelt es sich um das 1985 verfaßte sogenannte »Decision A Document«, in dem es unmißverständlich heißt: „Falls sich die Strahlenkrankheit, hervorgerufen entweder bei der Strahlenbehandlung des Krebses oder als mögliche Folge eines Nuklearkrieges, durch einen 5-HT Rezeptor Antagonisten als behandelbar oder verhütbar erweisen sollte, würde das Marktpotential für solch eine Substanz signifikant erhöht werden.11

Auch in mündlichen Gesprächen mit Firmenvertretern ist diese Verkaufsaussicht verschiedentlich angesprochen worden. Aus einer Gesprächsnotiz des deutschen Forschungsleiters der beklagten Firma geht hervor, „daß NATO-Soldaten in ihren Kampfanzügen die Substanz Domperidon als intramuskuläre Spritze bei sich trügen, um sich im Falle einer nuklearen Verstrahlung gegen Erbrechen zu injizieren. Dies sei ein »Huge market«.12

Weder das schriftliche Firmendokument noch die Gesprächsnotizen konnten die Gerichte überzeugen. Für den „außenstehenden Dritten“ ist in der Argumentation der Gerichte insbesondere überrraschend und erstaunlich, daß das schriftliche Verkaufs-Dokument der Firma keinerlei Beachtung findet. Die allgemeine Argumentationsstrategie der Gerichte besteht darin, a) nur die nachträglichen Erklärungen der Firmenvertreter bei der Beurteilung der Zweckbestimmung des Präparates zu berücksichtigen (nicht die von den Ärzten vorgelegten Beweismittel), b) die Zweckbestimmung bzw. die mögliche Nutzung des Präparates insgesamt für irrelevant zu erklären. – Die Argumentation zu a) im einzelnen:13

Die Firma erklärt, die Unterdrückung von Erbrechungserscheinungen bei Chemotherapie, Strahlentherapie u.ä. sei der alleinige bzw. primäre Zweck der zu entwickelnden Substanz; ein Einsatz im Nuklearkrieg wird als Zweck ausdrücklich zurückgewiesen.14

Die Frage der Nutzungsmöglichkeit des Präparates in einem Atomkrieg wird nicht behandelt; eine derartige Möglichkeit wird seitens der Firma nicht explizit bestritten. Ob sie (billigend oder mißbilligend) bewußt in Kauf genommen wird, bleibt offen. Die Gerichte gehen verschiedentlich auf diese Möglichkeit ein, ohne die erwartbaren Konsequenzen zu ziehen.

Ein weiteres, für die Kläger wichtiges Argument im Kontext der von ihnen behaupteten militärischen Zwecksetzung besteht in dem Nachweis enger Kontakte zwischen ihrer Firma und der NATO in Bezug auf das zur Diskussion stehende Präparat. In Gesprächen hätten Firmenvertreter erklärt, „die NATO sei an Beecham-Wülfing herangetreten und habe ihr Interesse an der Substanz bekundet; selbstverständlich würde der NATO die Substanz zur Erprobung übergeben, falls diese Interesse zeige.15 Bei einem Gespräch erwähnte ein Beecham-Arzt, der in England die Substanz erprobte, „daß NATO-Soldaten in ihren Kampfanzügen die Substanz Domperidon als intramuskuläre Spritze bei sich trügen, um sich im Falle einer nuklearen Verstrahlung gegen Erbrechen zu injizieren.16 Diese in einer Gesprächsnotiz festgehaltene Aussage wird von Firmenvertretern vor Gericht dementiert.17 Aber es wird zugestanden: „Die Substanz würde nur der NATO zur weiteren Erprobung übergeben.18

Inkonsistenzen und Dementis dieser Art erregen normalerweise den Verdacht der Verschleierung und der Unglaubwürdigkeit. Jedenfalls hätte an dieser für die Kläger zentralen Stelle ihrer Beweisführung unbedingt zweifelsfreie Klarheit herbeigeführt werden müssen. Der dringende Verdacht, daß die Substanz an Soldaten erprobt wurde bzw. weiterhin erprobt werden sollte, ist nicht ausgeräumt. Wenn aber eine derartige Erprobung im Interesse der NATO liegt, ist weiter zu fragen, worin denn in concreto dies Interesse besteht. Aus der Logik der Firma argumentiert, müßte es bei der NATO eine erhebliche Anzahl von Soldaten geben, die an den Folgen einer Chemotherapie bzw. an Migräneanfällen leidet.

Trotz der offensichtlichen Inkonsistenzen und Unklarheiten in Bezug auf die Aussagen zur Zweckbestimmung der Substanz schließen sich die Gerichte den Erklärungen der Firma an, eine militärische Nutzung sei nicht beabsichtigt.19 Das LAG Düsseldorf leistet der Firma sogar noch argumentative »Schützenhilfe«, denn das Argument vom »großen Markt«, das die Firma in ihrem »Decision A Document« in Bezug auf die NATO einbringt, wird durch das Gericht zugunsten der Firma in Bezug auf die Krebstherapie abgewandelt: „Bei der großen Zahl der Krebspatienten ist dies sicherlich ein großer Markt.20

V. Firmeninteresse contra Gewissen

Vermutlich haben die Gerichte die intendierte Zweckbestimmung bzw. die mögliche Nutzung des Präparates deshalb nicht ernsthaft zu klären versucht, weil sie diese ohnehin als irrelevant ansehen. Ihre Argumentation dient in der Hauptsache dem Zweck, das Gewicht des Gewissensbezuges zu relativieren und zu reduzieren: Der Gewissensbezug gem. Art.4 Abs.1 GG wird von den Gerichten mit dem Weisungsrecht des Arbeitgebers und dem darin enthaltenen »billigen Ermessen« gem. § 315 BGB konfrontiert, was schließlich auf eine Interessenabwägung der Arbeitsvertragsparteien hinausläuft, und zwar mit dem Ergebnis, daß die Interessen des Arbeitgebers gleich bzw. höher bewertet werden als der Gewissensbezug des Arbeitnehmers: „Es kann dahinstehen, ob im konkreten Falle ein Gewissenskonflikt vorgelegen hat. Die vorzunehmende Interessenabwägung führt dazu, daß dem Arbeitgeber nicht mehr weiter zugemutet werden kann, den Kläger weiter zu beschäftigen.“ So das ArbG Möchengladbach.21

Das LAG Düsseldorf äußert sich ähnlich. Nach der Erörterung von BAG- und BVerfG-Entscheiden sowie etlicher rechtstheoretischer Publikationen sieht es das Grundproblem des vorliegenden Falles darin, „einerseits dem Grundrecht der Gewissensfreiheit im Arbeitsrecht Geltung zu verschaffen, andererseits jedoch das Recht zur Leistungsverweigerung aus Gewissensnot zu begrenzen.22 Der entscheidende und für einen „außenstehenden Dritten“ vielleicht überraschende Schritt dieser Argumentation besteht darin, die durch das GG gewährleistete Gewissensfreiheit einzuschränken. Allgemein betrachtet ist jedoch dem Gericht durchaus darin zuzustimmen, daß eine derartige Begrenzung unter bestimmten Bedingungen sinnvoll sein kann, denn : „Nicht jede innere Belastung des Betroffenen reicht für die Anerkennung einer Gewissensentscheidung aus; vielmehr muß der Gewissenszwang einen gewissen »Mindestrang« erreichen23. Und dies macht u.U. „eine Gewichtung des Gewissenskonflikts“ erforderlich.24

Diese Prämissen erscheinen durchaus plausibel, wenn nur darauf geachtet wird, daß nicht auf der anderen Seite jede Belastung des Arbeitgebers als Abwehrargument gegen den Gewissensbezug gewertet werden kann. Die Anerkennung dieser Prämissen erfordert jeweils von Fall zu Fall eine Festsetzung und Bewertung des »Mindestranges« des Gewissensbezuges, aus der sich dann eine »Gewichtung des Gewissenskonflikts« in Relation zu den Rechten der Firma ergibt. Es ist an dieser Stelle nicht erforderlich, eine allgemeine Theorie des »Mindestranges« mit einem vollständigen Kriterienkatalog zu entwerfen. Es reicht hier aus, die methodische Einsicht zu beachten, daß die Beurteilung des »Mindestranges« sich auf die inhaltliche Komponente des Gewissensargumentes zu beziehen hat. Im vorliegenden Fall bedeutet dies: es geht um die Tötung bzw. schwere gesundheitliche Schädigung und um die Menschenwürde einer großen Anzahl von Menschen. Damit dürfte das Kriterium des »Mindestranges« erfüllt sein. Es handelt sich nicht um irgendeine beliebige »innere Belastung«, sondern um das Leben und die Menschenwürde als höchste moralische Werte und höchste Rechtsgüter. Demgegenüber dürften Firmeninteressen (welcher Art auch immer) wohl kaum einen ähnlichen Rang erreichen.

Daß das LAG Düsseldorf zu einer anderen „Gewichtung des Gewissenskonflikts und der Stärke der Beeinträchtigung der Rechte des Vertragspartners25 gelangt, liegt daran, daß es die inhaltliche Komponente des Gewissensbezuges (Tötung, Gesundheitsgefährdung, Verletzung der Menschenwürde) nicht berücksichtigt bzw. nicht als gegeben ansieht.

Das Gericht hält es weiterhin für entscheidend, ob den Klägern, die maßgeblich an der Entwicklung dieses Präparates arbeiten sollen, eine »Identifikation« mit ihrem Produkt, d.h. eine Zustimmung zur Zwecksetzung bzw. möglichen Nutzung des Präparates zugemutet wird oder nicht.26 Diese Frage wird verneint, und zwar mit Hinweis darauf, daß die erforderliche »Nähe« zur Entscheidungskompetenz nicht gegeben sei. Zunächst führt das Gericht allgemein aus: „Für die Frage, ob die »Persönlichkeitsidentität« betroffen ist oder gewahrt bleibt, spielt die Qualität des vom Arbeitnehmer zu leistenden Arbeitsbeitrages eine Rolle, so z.B. in der Rüstungsindustrie, ob eine unmittelbare tatsächliche Nähe zur Waffenherstellung besteht, oder der Schutz der Gewissensüberzeugung nur in einer formellen Randposition betroffen ist“. 27 In Bezug auf den vorliegenden Fall heißt es: „Es fehlt … die Nähe zu denjenigen, die über die Anwendung des fertigen Produkts entscheiden.28

Dies bedeutet: Nur dann, wenn eine unmittelbare »Nähe« zur Entscheidungsbefugnis über die Anwendung eines Produkts vorliegt, ist der Gewissensbezug zulässig; die moralische Verantwortung für ein Produkt beginnt erst mit der Entscheidungskompetenz über die Anwendung.

Man möchte nicht annehmen, daß das Gericht sich der Tragweite einer derartigen Position bewußt gewesen ist. So zu argumentieren bedeutet nämlich, daß der Konstrukteur einer bestimmten Art von Gasöfen, die in Konzentrationslagern Verwendung finden sollen, weder (im Falle der Arbeitsverweigerung) sich seinem Arbeitgeber gegenüber auf sein Gewissen berufen noch (im Falle der Ausführung der Arbeit) moralisch oder rechtlich verurteilt werden kann. – Hierbei geht es übrigens nicht, das sei ausdrücklich klargestellt, um einen (möglicherweise unzulässigen) »Vergleich« zwischen der Firma Beecham-Wülfing und den Konzentrationslagern, sondern um das argumentationstheoretische Postulat der Verallgemeinerbarkeit von Argumenten; konkret: um die Verallgemeinerung der vom Gericht vorgetragenen Position. Es hat den Anschein, als habe das Gericht lediglich ein ad-hoc-Argument konstruiert, ohne das Prinzip der Verallgemeinerbarkeit von Argumenten zu beachten.

VI. Der Gewissensbezug aus der Sicht eines „außenstehenden Dritten

Das LAG Düsseldorf bedient sich der Argumentationsfigur des sogenannten „außenstehenden Dritten“, um festzustellen, ob der Gewissenskonflikt zumutbar ist: „Bei der Beurteilung der rechtlichen Relevanz des Gewissenskonflikts kommt es auf die Sicht eines außenstehenden Dritten an. Nur wenn nach allgemeiner Ansicht die Verrichtung der verlangten Arbeit den Betroffenen in einen unzumutbaren Gewissenskonflikt bringt, verstößt der Arbeitgeber durch das Verlangen gegen Treu und Glauben.29 Weiterhin ist vom „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ die Rede.30 In Bezug auf den vorliegenden Fall kommt das Gericht zu dem Ergebnis: „Die Erwägungen des Klägers sind auch aus der Sicht eines außenstehenden Dritten nicht ganz nachvollziehbar.31

Eine inhaltliche Stellungnahme dazu ist bereits oben (Nr. IV)erfolgt. Hier geht es um methodische Aspekte, die mit der Bezugnahme auf »Außenstehende« im Fall einer Berufung auf das Gewissen verbunden sind.

Zunächst ist festzuhalten, daß es sich bei der Argumentationsfigur des „außenstehenden Dritten“ sinnvollerweise nicht um einen empirischen Berufungsgrund handeln kann. Denn da es nicht schwierig sein dürfte, für irgendeine beliebige Meinung einen „außenstehenden Dritten“ zu finden, der sie vertritt, bzw. einen »Dritten«, der sie ablehnt, würde die Bezugnahme auf einen „außenstehenden Dritten“ jeden argumentativen Wert verlieren. – Auch die Interpretation des „außenstehenden Dritten“ als Repräsentanten einer Vielheit bzw. Mehrheit, wie sie in der Formulierung „nach allgemeiner Ansicht “ anklingt, kann nicht sinnvoll als empirische Bezugnahme verstanden werden. Einerseits wäre dann das Gericht (in jedem einschlägigen Fall) auf (jeweils die neuesten) Meinungsumfragen angewiesen, andererseits würde die Meinung vieler (auch sehr vieler) Zeitgenossen nichts aussagen über die Berechtigung der Mehrheitsmeinung. Die Berufung auf die Meinung „aller billig und gerecht Denkenden“ ergibt nur dann einen rationalen Sinn, wenn sie nicht quantitativ und nicht empirisch, sondern etwa im Sinn logischer Allgemeingültigkeit verstanden wird. Nicht der „außenstehende Dritte“, sondern das allgemein einsehbare, rationale, als gültig einzusehende Urteil dürfte ausschlaggebend sein. Die Berufung des Gerichts auf das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ täuscht eine Objektivität vor, die durch nichts legitimiert ist.

Neben der Frage der empirischen bzw. nicht-empirischen Qualität ist methodisch zu klären, auf welche Art des Gewissensbezuges das Argument vom „außenstehenden Dritten“ anzuwenden ist. Oben (Nr. II) ist zwischen a) einem formalen und b) einem inhaltlichen Gewissensbezug unterschieden worden. Beide Arten des Gewissensbezugs sind dem Urteil »Außenstehender« entzogen, und zwar selbst dann, wenn sich einsehbare Gründe für eine bestimmte Gewissensentscheidung anführen ließen.

Zu a): Der formale Gewissensbezug verweist ausschließlich auf die Tatsache, daß jemand sich in einer bestimmten Situation auf sein Gewissen (und eben nicht auf andere Instanzen) beruft. Der formale Gewissensbezug ist im Grundgesetz als Grundrecht verankert und kann nicht als solcher bestritten werden.

Zu b): Für den inhaltlichen Gewissensbezug gilt dasselbe. Wenn jemand z.B. (inhaltlich) aus Gewissensgründen das Töten und Quälen von Mensch und Tier ablehnt, so ist er dazu laut Art. 4 GG berechtigt, ohne daß ihm dieses Recht von einem »Dritten« streitig gemacht werden könnte. Der Sinn der grundrechtlich verbrieften Gewissensfreiheit besteht ja gerade darin, daß sie nicht von »Außenstehenden« oder einer »Mehrheit« abhängig ist. Gewissensfreiheit ist ein Individualrecht, dessen Bonität sich gerade auch in der Abweichung von einer Mehrheitsmeinung zeigt (vorausgesetzt, es sind nicht Grundrechte anderer tangiert). Wäre die Gewissensfreiheit an eine Mehrheitsmeinung gebunden, so wäre ihr Status als Grundrecht obsolet.

Schließlich muß methodisch geklärt werden, auf welche Stelle im »praktischen Syllogismus« (s.ob.Nr. III) das Argument vom „außenstehenden Dritten“ zu beziehen ist. Schon ein flüchtiger Blick auf diesen Syllogismus zeigt, daß hier nur die 2. Prämisse infrage kommen kann. Das heißt für den vorliegenden Fall: die Zuordnung (Subjunktion) der Herstellung eines bestimmten Präparates zur Maxime „Du sollst nicht töten“ ist dem allgemeinen rationalen Urteil Außenstehender zugänglich; d.h. die Frage, ob bei einer bestimmten Tätigkeit ein Anwendungsfall für eine bestimmte Maxime vorliegt, muß mit einsehbaren Vernunftgründen behandelt werden. Das »Anstandsgefühl«, das vom Gericht in diesem Zusammenhang eingebracht wird, spielt hier keine Rolle.

Diese ethische und argumentationstheoretische Analyse der Urteile hat einige grundlegende methodische Schwächen in den Argumentationen der Gerichte aufgezeigt. Die beiden Urteile implizieren eine weitgehende Abschaffung des im GG garantierten Individualrechts der Gewissensfreiheit. Die Höherrangigkeit des Grundrechts wird zugunsten partikularer Firmeninteressen nivelliert. Die folgende Bemerkung des LAG Düsseldorf verrät deutlich, worum es den Richtern geht: „Der Umstand, daß gleich drei Ärzte die Leistung der Arbeit verweigerten, ist sicherlich auch geeignet, daß man damit rechnen muß, daß sich zukünftig auch andere Ärzte in vergleichbaren Situationen auf einen Gewissenskonflikt berufen.32 Seit wann ist es rechtserheblich, wieviele Bürger/innen von einem Grundrecht Gebrauch machen? – Der Verdacht, daß hier »politische Justiz« geübt wurde, liegt nahe. Offensichtlich wollten die Richter ein »Exempel statuieren«: „Das Gericht folgt … einer Art »Dammbruchtheorie« nach dem Motto: da könnte ja jeder kommen. Praktisch wird an den ÄrztInnen ein Exempel statuiert, damit gegenüber allen, die ihrer Verantwortung im Beruf folgen wollen, juristische Schranken gesetzt werden. Wo kämen wir denn hin, wenn viele Menschen ihre Mitarbeit an friedensgefährdenden, sozial unverträglichen oder ökologisch schädlichen Forschungen, Produktionen usw. verweigerten?!33

Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts Nr. 17/89 Gewissensentscheidung und Kündigung

1. Der Kläger ist Arzt, die Klägerin Ärztin und Apothekerin. Beide waren in
der Forschungsabteilung der Beklagten, einer deutschen Tochter eines international
tätigen Pharmakonzerns, beschäftigt. Im Frühjahr 1987 begann die beklagte mit
Forschungsarbeiten an einer Substanz, die geeignet ist , Brechreiz zu unterdrücken. In
einem internen Firmenvermerk hieß es dazu, falls sich die Strahlenkrankheit,
hervorgerufen entweder bei der Strahlenbehandlung des Krebses oder als die mögliche Folge
eines Nuklearkrieges, als behandelbar oder verhütbar erweisen sollte, würde das
Marktpotential für eine solche Substanz signifikant erhöht werden.

Die klagenden Parteien lehnten nach mehreren Gesprächen mit der Beklagten die
Mitwirkung bei de Erforschung dieser Substanz unter Berufung auf die Gewissensentscheidung
ab. Sie machten geltend, sie hätten bei ihrer Einstellung nicht mit einem solchen Einsatz
rechnen müssen. Als Mediziner könnten sie es nicht zulassen, daß ihre ärztliche
Tätigkeit im zusammenhang mit einer geplanten Verwendung des Medikaments im Nuklearkrieg
gebracht werde.

Die Beklagte hat die Arbeitsverhältnisse daraufhin ordentlich gekündigt. Das
Landesarbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklagen abgewiesen. Es hat angenommen, unter
Zugrundlegung der Sicht eines außenstehenden Dritten sei der Gewissenskonflikt nicht
relevant. Ob die klagenden Parteien in einem anderen Bereich hätten beschäftigt werden
können, sei unerheblich, weil diese Frage sich nur bei einer rechtlich erheblichen
Gewissensentscheidung stelle.

2. Der Senat ist diese Würdigung nicht gefolgt und hat deswegen den
Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht
zurückverwiesen.

a) Er geht entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts mit dem
Bundesverfassungsgericht und dem Bundesverwaltungsgericht unter Bestätigung des
Senatsurteils vom 20. September 1984 (Bage 47, 363) vom sogenannten subjektiven
Gewissensbegriff aus. Danach ist als eine Gewissensentscheidung jede ernste sittliche,
d.h. an den Kategorien von »gut« oder »böse« orientierte Entscheidung anzuerkennen,
die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und verpflichtend
erfährt. Hierbei muß ein Arbeitnehmer seine Konfliktlage im einzelnen darlegen und
erläutern, wobei es für das Gericht überprüfbar bleibt, ob der vom Abeitnehmer geltend
gemachte Gewissenskonflikt bei der vereinbarten Tätigkeit tatsächlich auftritt.

Das verfassungsrechtlich geschützte »subjektive Gewissen« wird gesetzwidrig
verkürzt, wenn aus Zweckmäßigkeitserwägungen auf sogenannte objektive Kriterien wie
»Mindestrang«, »Realitätsbezug« oder darauf abgestellt wird, ob der Konflikt für
einen dritten »nachvollziehbar« ist (kein objektiver Gewissensbegriff).

b) Der Senat hat unter Zugrundelegung der Feststellungen des Landesarbeitsgerichts das
Vorliegen eines Gewissenkonfliktes bejaht, weil die klagenden Parteien davon ausgehen
konnten, das zu entwickelnde Medikament sei auch geeignet, in einem Nuklearkrieg
eingesetzt zu werden und die Beklagte diesen möglichen Einsatz in ihren Planungen
jedenfalls nicht ausgeschlossen hat. Sie waren deswegen aus in ihrer Person liegenden, vom
Arbeitgeber im Rahmen der näheren Leistungsbestimmungen nach 315 BGB zu respektierenden
Gründen berechtigt, die weitere Mitwirkung an der Erforschung der Substanz aus
Gewissensnot abzulehnen.

Diese Begrenzung des Direktionsrechtes durch die berechtigte Berufung auf eine
Gewissensnot führt nicht unter Einschränkung der unternehmerischen Freiheit hinsichtlich
der Bestimmung der Produktion zu einer gesetzwidrigen Erweiterung des Bestandsschutzes und
zu einer einseitigen Belastung des Arbeitgebers mit dem Beschäftigungsrisiko. Wenn
Arbeitnehmer, deren Einsatzmöglichkeiten durch eine von ihnen getroffene
Gewissensentscheidung eingeschränkt ist, nicht im Rahmen der vereinbarten oder
geänderter Arbeitsbedingungen anderweitig beschäftigt werden können, ist an sich ein in
ihrer Person liegender Grund gegeben, der jedenfalls nach 1 Abs. 2 KSchG eine ordentliche
Kündigung rechtfertigen kann. Wenn ein anderer Einsatz nicht möglich ist, gerät der
Arbeitgeber auch nicht nach 615 BGB in Annahmeverzug.

3. Da das Landesarbeitsgericht die Frage der anderweitigen
Beschäftigungsmöglichkeit nicht geprüft hat und darüber hinaus zwischen den Parteien
streitig ist, ob der Betriebsrat insoweit zu den Kündigungen ordnungsmäßig angehört
worden ist, war der Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

BAG Urteile vom 24. Mai 1989 – 2 AZR 283/88 und 2 AZR 285/88 – LAG
Düsseldorf Teilurteile vom 22. April 1988 – 11 (6) Sa 1349/78 und 1364/87 –.

Anmerkungen

1) Vgl. z.B. U. Wendeling-Schröder, Gewissen und Eigenverantwortung im Arbeitsleben …, in: Betriebs-Berater, H. 25 (10.09. 1988), S.1742-48 und G. Witt, Gewissensfreiheit im Beruf, in: Informationsdienst Wissenschaft & Frieden, 7.Jg., Nr.1, Februar 1989, S.15. Zurück

2) Urteilsbegründung des LAG Düsseldorf (im folgenden abgekürzt als U 2), S.3. – Die Abkürzung »U 1« bezieht sich auf die Urteilsbegründung des ArbG Mönchengladbach. Zurück

3) U 2, S.11. Zurück

4) I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. Bd.IV, S.428f. Zurück

5) I.Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Akad.-Ausg. Bd.V, S.87. Zurück

6) U 2, S.24. Zurück

7) U 2, S.24. Zurück

8) U 1, S.13; vgl. hierzu U. Wendeling-Schröder [Anm.1], 1743 b. Zurück

9) Zur philosophischen Tradition der Gewissensproblematik vgl. H. Reiner, »Gewissen«, in: J.Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.3, Basel/Stuttgart 1974, Sp. 574-592, bes. Sp.582 ff. Zurück

10) U 2, S.25. Zurück

11) U 2, S.4; vgl. U 1,S.3f. Zurück

12) U 2, S.4; vgl. U 1, S.4. Zurück

13) Zu b) s.u. Nr. V Zurück

14) Vgl. U 2, S.3, 5 f und 9. Zurück

15) U 2, S.6. Zurück

16) U 2, S.4. Zurück

17) U 2, S. 9, S.13 f. Zurück

18) U 1, S.5. Zurück

19) U 1, S.12; U 2, S.26. Zurück

20) U 2, S.26. Zurück

21) U 1, S.12 f. Zurück

22) U 2, S.21. Zurück

23) U 2, S.21. Zurück

24) U 2, S.22. Zurück

25) U 2, S.22. Zurück

26) U 2, S.25. Zurück

27) U 2, S.22 f. Zurück

28) U 2, S.25. Zurück

29) U 2, S.22. Zurück

30) U 2, S. 23. Zurück

31) U 2, S.25. Zurück

32) U 2, S. 26 f. Zurück

33) G. Witt [Anm.1], S. 15. Zurück

Dr. Matthias Gatzemeier ist Professor für Philosophie an der RWTH Aachen

Gewissensfreiheit im Beruf

Gewissensfreiheit im Beruf

von Gregor Witt

Am 16. März 1989 urteilt das Bundesarbeitsgericht (BAG) über die Frage, inwieweit das Grundrecht auf Gewissensfreiheit nach Artikel 4 Absatz 1 Grundgesetz die Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen schützt. Konkret geht es um die Kündigungsschutzklage zweier Neusser ÄrztInnen; Bedeutung hat das Verfahren jedoch für alle, die über praktische Konsequenzen aus ihrer beruflichen Verantwortung nachdenken.

Im Auftrag des Pharmakonzerns Beecham-Wülfing arbeitete eine Forschergruppe an einem Medikament BRL 43694, das die Nebenwirkungen bei bestimmten Krebsbehandlungsmethoden eindämmen soll. Die Substanz sollte Übelkeit und Erbrechen verhindern. Gleichzeitig ist es aber auch ein Mittel, mit dem im Falle eines Atomkrieges die tödlichen Folgen von Strahlenbelastungen hinausgezögert und dadurch Soldaten ein paar Stunden länger kampffähig gehalten werden können.

Anhand firmeneigener Dokumente stellten die beteiligten drei ÄrztInnen fest, daß der Pharmakonzern auch die militärische Verwendbarkeit im Auge hat: „Falls sich die Strahlenkrankheit, hervorgerufen durch die Strahlentherapie des Krebses oder als Folge eines Nuklearkrieges, durch einen 5-HT-Rezeptor-Antagonisten als behandelbar oder verhütbar erweisen sollte, würde das Marktpotential für solch eine Substanz signifikant erhöht werden“, heißt es in einem Forschungsbericht der Firma. Von einem „riesigen Markt bei Nato-Soldaten“ ist die Rede. Die weitere Entwicklung der Substanz erhält oberste Prioriät.

Daraufhin meldeten die ÄrztInnen Bedenken gegen die Entwicklung der Substanz an. Bernd Richter, damals stellvertretender Forschungsleiter des Konzerns, befürchtet, daß das Medikament „die psychologische Hemmschwelle in puncto eines Nuklearkrieges herabsetzt, weil den Soldaten vorgemacht werden kann, daß eine Hilfe im Nuklearkrieg für sie möglich wäre.“ Da er und seine KollegInnen Brigitte Ludwig und Norbert Neumann durch die Mitarbeit an der Substanz den Sinn ihres ärztlichen Tuns pervertiert sahen, verweigerten sie ihre weitere Mitarbeit. Ihrer Forderung, bei anderen Forschungsaufgaben eingesetzt zu werden, kam ihr Arbeitgeber nicht nach, sondern kündigte ihnen bzw. stellte Neumann, der sich noch in der Probezeit befand, nicht ein.

Bernd Richter und Brigitte Ludwig strengten daraufhin eine Kündigungsschutzklage gegen Wülfram-Beeching an. In den beiden ersten Instanzen gaben die Richter jedoch dem Konzern recht. Im Urteil des Landesarbeitsgerichtes (LAG) Düsseldorf kristallisieren sich die Streitpunkte heraus, über die im anstehenden BAG-Verfahren aller Voraussicht nach entschieden werden wird. Streitpunkte, die für Gewissensentscheidungen in allen Berufen – Wissenschaft, Technik, Forschung, Produktion – und für alle Konflikte – Rüstung, Umwelt, Technologieentwicklung, Informatik – so oder so Bedeutung haben, wenn die allenthalben diskutierte »Ethik der Verantwortung« über theoretische Einsichten hinausgehend für die Beteiligten auch praktische Konsequenzen begründet:

1. Wer entscheidet über die Verantwortbarkeit von Forschung?

Das LAG akzeptiert nicht die Gewissensentscheidung der ÄrztInnen, sondern begibt sich in die Rolle eines »außenstehenden Dritten«, um die Gewissensentscheidungen einer vermeintlich objektiven Prüfung zu unterziehen. Da das Gericht im Gegensatz zu den ÄrztInnen weder einen Atomkrieg für wahrscheinlich hält, noch meint, durch ein solches Medikament würden Überlegungen zur Führbarkeit eines Atomkrieges gefördert, hält es die Arbeitsverweigerung für unbegründet.

Aber wenn das Grundrecht der Gewissensfreiheit einen Sinn hat, dann nur, wenn das Gewissen des jeweiligen Individuums Maßstab ist. Dieses entzieht sich einer gerichtlichen Prüfung, gerade weil es staatlichen oder gesellschaftlichen Normen nicht entspricht. Anderenfalls bedürfte es eines solchen individuellen Schutzrechtes nicht!

2. Wo beginnt die Verantwortung der Forschenden, wo endet sie?

Das LAG will die Verantwortung auf den unmittelbaren Tätigkeitsbereich der Betroffenen reduzieren. Seinem Urteil nach ist der Anteil der ÄrztInnen an der Gesamtforschung und einer möglichen Anwendung so gering, daß ihr Forschungsbeitrag als »wertneutral« zu beurteilen sei. Außerdem fehle es an der „Nähe zu denjenigen, die über die Anwendung des fertigen Produktes entscheiden“.

Erneut macht das LAG das eigene Werturteil zum Maßstab für fremdes Gewissen. Die Konstruktion von vermeintlich unbeachtlichen Teil-Verantwortlichkeiten ist faktisch ein Plädoyer für jenen Typus von Schreibtischtätern und Mitläufern, mit dem Deutschland und die Welt 1933 – 1945 seine grausigen Erfahrungen gemacht haben.

3. Darf individuelles Gewissen gesellschaftliche Bedeutung erlangen?

Das LAG meint nicht zuletzt deshalb hohe Maßstäbe anlegen zu müssen, weil sich möglicherweise auch andere ÄrztInnen in vergleichbaren Situationen auf einen Gewissenskonflikt berufen und dies im Falle des beklagten Konzerns „zu unzumutbaren Schwierigkeiten führen“ könnte.

Das Gericht folgt damit einer Art »Dammbruchtheorie« nach dem Motto: da könnte ja jeder kommen. Praktisch wird an den ÄrztInnen ein Exempel statuiert, damit gegenüber allen, die ihrer Verantwortung im Beruf folgen wollen, juristische Schranken gesetzt werden. Wo kämen wir denn hin, wenn viele Menschen ihre Mitarbeit an friedensgefährdenden, sozial unverträglichen oder ökologisch schädlichen Forschungen, Produktionen usw. verweigerten?!

Das BAG wird am 16. März entscheiden, welche Bedeutung die Gewissensfreiheit nach seinem Urteil in dieser Republik haben soll. Wie auch immer das Urteil lautet: ethisch und politisch bedeutsamer wird die weitere Diskussion über die Ethik der Verantwortung angesichts globaler Gefährdungen und die Bereitschaft zu praktischen Konsequenzen von vielen Menschen sein, denn nicht die Gerichte, jede/r entscheidet heute mit, wohin die weitere Entwicklung geht.

Gregor Witt lebt als Publizist in Köln und ist Mitglied des Bundesvorstandes der DFG/VK.

Von Galilei bis Hiroshima. Über Sittlichkeit und Naturwissenschaft

Von Galilei bis Hiroshima. Über Sittlichkeit und Naturwissenschaft

von Harald Böhme

Preis oder Verdammnis des Galilei? „Die Atombombe ist sowohl als technisches als auch soziales Phänomen das klassische Endprodukt seiner wissenschaftlichen Leistung und seines sozialen Versagens“1

Die Legende von Galilei erzählt, er habe widerrufen, um seine Mechanik zu vollenden, so daß die Discorsi dieser seiner Klugheit zu verdanken wären. Doch was ist eine Wissenschaft wert, wenn sie auf Unterwerfung angewiesen ist? Hiroshima gibt die Antwort; Wissenschaft im Dienste der Staatsmacht ermöglichen ihr den Massenmord. Allerdings hat Galilei das nicht getan, insofern beinhaltet seine Wissenschaft nicht an sich die Entartung der Wissenschaft. Doch gerade sie bietet die Möglichkeit dazu, daß die Erkenntnis über die Natur mißbraucht und gegen die Gesellschaft gewendet wird. Zu zeigen ist, inwiefern Galilei auf diese Möglichkeit verweist, und welche Bedingungen zu ihrer Realisierung notwendig sind.

Galileis wesentliche Entdeckung ist die analytische Methode. Sein Anspruch auf Wahrheit gründet sich auf diese Methode welche den Unterschied ausmacht von seiner neuen Wissenschaft zur Wissenschaft der Alten. Mittels des Experiments will er das Verhalten der Natur erforschen. Dies bedeutet nicht nur die Beobachtung der Natur, sondern die wirkliche Erzeugung des Naturzusammenhangs, den die Analytik als möglichen Zusammenhang erkannt hat. Z.B. „über die natürliche beschleunigte Bewegung“; darin stellt Galilei zunächst den abstrakten Zusammenhang von Zeit und Geschwindigkeit auf, leitet daraus das „Fallgesetz“ ab und versucht, dieses konkret nachzuweisen.2

Das Gesetz behauptet jedoch mehr als die Gültigkeit bestimmter Werte, es stellt die abstrakte Möglichkeit für alle Werte dar, als ein Zusammenhang unbestimmter Werte bzw. variabler Größen. Damit wird die Bewegung in Variablen bestimmt, deren Bedeutung ihre Unbestimmtheit ist; ihr gesetzmäßiger Zusammenhang ist daher als Gleichung von Unbestimmten ein funktionaler Zusammenhang.3

Die durch die Analyse gefundene Gleichung eines Prozesses ist dann am Naturprozeß selbst nachzuweisen. Dabei ist die Messung bestimmter Größen natürlich mit Meßfehlern behaftet, so daß die angenommene Identität dieser Größen zugleich eine Nichtidentität ist und die Gleichheit der Größen zugleich ihre Verschiedenheit. Doch dies erscheint als zufällige Abweichung von der Gleichheit, die in deren Gesetzmäßigkeit wieder aufgehoben ist. Insofern kann Galilei von Meßfehlern absehen und behaupten, daß seine zahlreichen Beobachtungen bzgl. des Fallgesetzes „niemals merklich voneinander abwichen“.4 Ganz anders stellt sich die Gesetzmäßigkeit jedoch dar, wenn wir sie nicht als Gleichheit bestimmter Größen, sondern als funktionalen Zusammenhang von Unbestimmten auffassen. Die Variablen sind dann als identische sich selbst gleich, aber zugleich als Variable veränderlich, also nichtidentisch und ungleich. Dieser Widerspruch kann nicht auf die prinzipielle Identität der Größen zurückgeführt werden, denn er macht den Inhalt des Prozesses aus, der analysiert wird. Vielmehr überführt die Analyse diesen Widerspruch in eine höhere Identität, die Gleichung der Variablen, wodurch der Prozeß als Bewegung identifiziert ist. Aber erst das Experiment zeigt, ob die analytische Lösung als abstrakte Möglichkeit tatsächlich eine konkrete Möglichkeit ist, indem die Bedingungen ihrer Wirklichkeit hergestellt werden.

Das Experiment ist keine an sich beobachtete Natur, sondern bedeutet die Produktion einer zweiten Natur. Die Gleichung eines Prozesses identifiziert einen Zusammenhang, der nur in einer künstlichen Identität real besteht. In dieser Identität besteht die Notwendigkeit des Zusammenhanges, indem aus den Anfangsbedingungen das Endresultat analytisch abzuleiten ist. Doch ebensowenig wie die bloße Beobachtung diese innere Notwendigkeit beweisen kann, kann sie die Identität des Prozesses beweisen, sondern käme nur per Induktion auf eine äußerliche, verständige Abstraktion. Die analytische Methode, welche die Wahrheit als innere Gesetzmäßigkeit behauptet, kann daher nicht davon abstrahieren, daß diese Wahrheit auf die Produktion einer entsprechenden Gegenständlichkeit angewiesen ist. Dies bedeutet die Fixierung eines gegenständlichen Zusammenhangs als sich identischen, so daß die Produktion in der Ausschließung des Nichtidentischen besteht, des Unendlichen der Materie, die gleichwohl aller Produktion zugrunde liegt. Daher stellt z.B. Galilei eine glatte Fläche her und läßt eine runde Messingkugel laufen, wodurch erst die Bedingungen der Identität gegeben sind. Die Herstellung dieser Bedingungen bedeutet aber den Umgang mit einer unbedingten, materiell gegebenen Nichtidentität.

In der Nichtidentität des Prozesses hat die analytische Methode schließlich ihren wesentlichen Widerspruch. Die Identität löst den Widerspruch insofern, wie er analytisch erscheint, als ein Widerspruch der analytischen Bestimmungen des Prozesses, der aber ein Widerstreit der materiellen Bedingungen des Prozesses ist. Die analytische Methode ist also letztlich die Wissenschaft davon, diesen Widerstreit theoretisch und praktisch zu bestimmen. Als „reine“ Analytik jedoch schließt sie diesen Widerstreit methodisch aus, indem sie den erscheinenden Widerspruch in der Identität aufhebt. Die Realität erscheint dann als Resultat dieser Abstraktion, was nach Marx die Verselbständigung der Abstraktion bedeutet.5 In dieser „Mystifikation“ der Analytik besteht ihre Metaphysik, ihr Zweck ist nicht mehr die Aneignung der Natur als zweite Natur, sondern die Beherrschung der Natur unter reiner Zweckmäßigkeit.(5a)

Doch inwiefern bedeutet Galilei, der die analytische Methode in der Physik entdeckt hat, zugleich ihre metaphysische Verselbständigung? Sicher nicht, weil seine Wissenschaft zunächst ohne Einfluß blieb auf die Entwicklung der Produktivkraft; denn dies liegt im Charakter der Wissenschaft, Modelle zur Produktion zu erstellen (mögliche und wirkliche), die an sich keine gesellschaftliche Reproduktion darstellen. Ebensowenig ist die Analytik deswegen Metaphysik, weil darin die Mathematik in der Natur angewendet wird, denn dies hieße den abstrakt möglichen Charakter der mathematischen Analysis zu verwechseln mit dem konkret möglichen Experiment, also die Vorwegnahme der Metaphysik, gegen die Intention der Galileischen Physik.6 Der Verrat, den Galilei an der Wissenschaft verübt hat, besteht vielmehr in seinem Widerruf, durch den er die Wissenschaft der herrschenden Macht ausgeliefert hat. Diese Macht entschied über die Wahrheit, und Galilei mußte die von ihm vertretene Lehre (das kopernikanische System) zur „falschen Meinung“ erklären.7 Damit war aber von der Kirche die Analytik insgesamt zur bloßen Hypothese erklärt, ihre Wahrheiten zu spekulativen Möglichkeiten, denen an sich keine Wirklichkeit zukommt. In der Form war die Wissenschaft zu vereinbaren mit dem Glauben, heute erhält sie diese Form im Kritizismus.

Darüber hinaus demonstriert Galileis Unterwerfung das Ungenügen einer Moral, deren Verantwortung allein im Gewissen gegeben ist. Entsprechend beschreibt Hegel das Gewissen als gehaltlos, ohne objektive Bedeutung; daher kann „die Sehnsucht nach einer Objektivität entstehen, in welcher sich der Mensch lieber zum Knecht und zur vollendeten Abhängigkeit erniedrigt“.8 Diese Erniedrigung betrifft jedoch nicht nur Galilei als Person, sondern bedeutet zugleich die Erniedrigung seiner Wissenschaft. Sie wird zur verfügbaren Wissenschaft, die ebenso gebraucht wie mißbraucht werden kann, je nach den Zwecken der Macht, der sie unterworfen ist. In Brechts Stück erkennt dies Galilei selbst, und er nennt davon die Ursache: „Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden!“9 Dieser Eid stellt für Galilei jedoch nur eine abstrakte Möglichkeit dar, die er in der konkreten Wirklichkeit bereits hintergangen hat. Somit betreibt Galilei am Ende seine Wissenschaft wie ein Laster, „heimlich, wahrscheinlich mit Gewissensbissen“.10 Bei Brecht ebenso wie bei Hegel scheitert Galilei am Gewissen, weil dieses keine konkrete Handlungsmöglichkeit bedeutet. Damit ist die Lage der Wissenschaft jedoch nur an ihrem Anfang charakterisiert, als eine Wissenschaft, die noch kein wesentlicher Faktor der Gesellschaft ist. Erst in der bürgerlichen Gesellschaft wird sie zum konkreten Moment der Reproduktion, so daß die Wissenschaft keine Frage mehr der Moral und des Gewissens ist, sondern der Sittlichkeit, die mit dieser Gesellschaft gegeben ist.

II

Hegel bestimmt die Sittlichkeit als die konkrete Identität des Guten und der Freiheit.11 Als „Idee der Freiheit“12 ist sie das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Wirklichkeit ist der Staat.13 Die Sittlichkeit wird dabei als Inhalt einer Form gedacht, welche durch die Organisation des Staates gegeben ist. Entscheidend ist, daß dieser Staat der Form nach mit der Wissenschaft übereinstimmt. Für den Staat ist „das Prinzip seiner Form als Allgemeines wesentlich der Gedanke“;14 die Wissenschaft „hat den Zweck des Erkennens, und zwar der gedachten objektiven Wahrheit und Vernünftigkeit“.15 Indem der Staat aber die Wirklichkeit der konkreten Freiheit ist, so ist „von seiner Seite die Freiheit des Denkens und der Wissenschaft ausgegangen“.16 Genau dadurch unterscheidet sich der Staat von der Kirche, die Giordano Bruno verbrannt und Galilei hat Abbitte tun lassen. Die Objektivität des Staates steht hier gegen die subjektive Gestalt der Wahrheit, wie sie der Autorität der Kirche entspringt. Diese Autorität beruht allein auf Glauben und Versicherung, wenn sie nicht mit Zwang durchgesetzt wird. Der Staat hingegen weiß sich als Allgemeines, gerade weil dieses für ihn die Form der Wissenschaft hat. Insofern ist er die Notwendigkeit ihrer Freiheit, und umgekehrt wird die Freiheit der Wissenschaft für den Staat zur Notwendigkeit. Doch daraus geht auch hervor, daß dies keine Freiheit um der Freiheit der Wissenschaft willen ist, sondern eine um der Freiheit des Staates, in dessen Willen die Wissenschaft gegeben ist. Demgemäß werden die Staatsbeamten und die Intelligenz in der Organisation des Staates in einem Mittelstand zusammengefaßt.17 Was als Widerspruch erscheint, einerseits Hierarchie und Bürokratie, andererseits die Freiheit der Wissenschaft, bedingt sich gegenseitig. Aus diesem Einssein ergibt sich schließlich die Verantwortung des Wissenschaftlers; es ist die Verantwortlichkeit des Beamten.18

Das äußere Staatsrecht zeigt dann die Bedeutung der Freiheit im Verhältnis der Staaten, das „ihre Souveränität zum Prinzip hat“.19 Die Freiheit des einzelnen Staates steht dabei im Widerspruch zur Freiheit der anderen Staaten, was die gegenseitige Anerkennung der Staaten bewirkt. Dies bedeutet einerseits den Krieg der Staaten,20 andererseits die Einschränkung dieses Krieges auf ein „Vorübergehensollendes“,21 so daß die Möglichkeit des Friedens erhalten bleibt, d.h. die Fähigkeit zur Reproduktion der Gattung. Darin ist aber auch die Äußerlichkeit des Staats gegenüber der Gattung ausgedrückt; dies wird bei Hegel deutlich, wenn er die Erhaltung des Familien- und Privatlebens als Bedingung des Krieges setzt. Jedoch bleibt dies bei Hegel ein Sollen, eine moralische Forderung, die auf den Sitten beruht und daher als Voraussetzung der Sittlichkeit von dieser aufgehoben wird. 22

Daraus, daß das Völkerrecht allein im Willen der Staaten seine Wirklichkeit hat, ergibt sich nunmehr die Bedeutung der Wissenschaft als Grundlage dieses Willens. Dies bedeutet nicht nur den friedlichen wissenschaftlichen Wettbewerb zwischen den Staaten, worin die technologischen Möglichkeiten zur kriegerischen Nutzung geschaffen werden, sondern dies bedeutet auch den wirklichen Einsatz der Wissenschaft für den Krieg. Entsprechend gehört in der Jenaer Realphilosophie die Wissenschaft zum öffentlichen Stand, der für den Staat arbeitet. Dieser besteht aus dem Geschäftsmann, der zugleich Gelehrter ist, und dem Soldatenstand. Dessen Tätigkeit beschreibt Hegel wie folgt: „im Krieg ist es ihm gewährt: es ist Verbrechen für das Allgemeine, der Zweck der Erhaltung des Ganzen gegen den Feind, der auf die Zerstörung desselben geht. Diese Entäußerung muß eben diese abstrakte Form haben, individualitätslos sein, der Tod kalt empfangen und gegeben werden (…) -, unpersönlich aus dem Pulverdampf.“23

III

In Hiroshima starben 100.000 Menschen den unpersönlichen Tod an der Atomexplosion.24 Am Projekt zur Herstellung der Bombe waren mehr als 10.000 Wissenschaftler beteiligt. Vier der prominentesten Physiker des Projekts bildeten das „scientific panel“,25 welches gefragt wurde, wie die Bombe benutzt werden sollte 26. Sie wurden allerdings nicht gefragt, ob die Bombe benutzt werden sollte, hatten also nur Bedingungen für einen möglichen Einsatz anzugeben, während die Entscheidung über den wirklichen Einsatz dem Präsidenten vorbehalten war. Vor diesem Einsatz und seinen Konsequenzen warnte eindringlich der Franck-Report,27 der ersten Initiative von Atomphysikern gegen den Atomkrieg. Er wurde dem Kriegsminister übersandt und von diesem dem „scientific panel“ vorgelegt, welches sich auch hierbei an seine Aufgabe hielt. Nach R. Oppenheimer: „Wir sagten, wir glaubten nicht, daß unsere Eigenschaft als Wissenschaftler uns speziell dazu befähige, die Frage zu beantworten, ob die Bomben angewendet werden sollten oder nicht.“28 Damit war der Report abgelehnt, indem die Physiker dafür allein den offiziellen Weg wählten, überließen sie auch allein dem Staat die Entscheidung. Sie dachten einerseits gesellschaftlich verantwortlich, verhielten sich aber nur formal sittlich, indem sie nicht vor die Öffentlichkeit traten, um die Welt vor der atomaren Zerstörung zu warnen.

Das staatliche Interesse am Einsatz der Atombomben entsprach auch dem unmittelbar wissenschaftlichen Interesse. Die Gegner des Einsatzes hatten zu weit gedacht, als sie sich um die Zukunft besorgt zeigten. Zunächst galt es, die atomaren Möglichkeiten zu beweisen, die Zerstörung der Städte als Demonstration militärischer Macht sollte den Wissenschaftlern auch ihre faktische Macht demonstrieren, bei gleichzeitiger politischer Ohnmacht. Ihnen ging es um die Funktion der „Trinity“ von Atombomben, von denen „erst“ eine Plutonium-Bombe explodiert war. Hiroshima war dann das erste Experiment, daß eine Uran-Bombe explodierte und man ihre Folgen studierte. Doch dies Experiment war keines mehr, wodurch Naturkräfte erkannt wurden, sondern eines, in dem sie als Destruktionskräfte nicht mehr gebannt waren. Insofern hat die Wissenschaft dabei keine Macht gewonnen, sondern verloren, anstatt die Natur zu beherrschen, wurde sie deren Opfer. Für die beteiligten Wissenschaftler gilt das allerdings nicht, in der Laboratoriumsstadt Los Alamos, die zur Kriegsfront geworden war, feierte man den „Sieg“.29

Die Atombombe ist jedoch nicht nur als Ausdruck der formalen Verfügung des Staates über die Wissenschaft zu begreifen, sie ist ebenso ein Resultat der Entwicklung der Produktivkräfte auf der Basis der von der Wissenschaft entdeckten Naturkräfte. So wurde mit der Entdeckung der Uranspaltung sogleich die Möglichkeit der Atombombe erkannt; zu ihrem Bau bedurfte es allerdings der riesigen technischen und finanziellen Mittel, welche die USA dafür zur Verfügung stellten. Insofern entschied der Staat als die Organisation der Produktionsverhältnisse über die Wirklichkeit der Atombombe. Hegels Idee des Staates als Form der Sittlichkeit widerspricht nicht einer solchen Wirklichkeit. Diese Form der Sittlichkeit, das wissen wir heute, widerspricht nicht einmal einer Option, die zur Vernichtung der menschlichen Gattung führen kann. Dies ist m.E. das nicht zu hintergehende Problem der Sittlichkeit. Seine Lösung liegt sicher nicht im Zurück zur zweckfreien, analytischen Wissenschaft. Denn die Wissenschaft ist heute mindestens durch einen Zweck bestimmt, den der Erhaltung der menschlichen Gattung. Deren Lebensprozeß hat aber als Erhaltungsbedingung seine Entwicklung, dies bedeutet sowohl die Entwicklung ihres gesellschaftlichen Verhältnisses als auch ihres Naturverhältnisses. Für die Naturwissenschaft bedeutet diese Entwicklung ihre reale Sittlichkeit. Dies schließt aber jede Entwicklung aus, die zur Vernichtung des Naturverhältnisses der Gattung und damit des Gattungslebens überhaupt führen kann. Oder anders gesagt, die Naturwissenschaft trägt erst dann reale Verantwortung, wenn sie das Telos der Freiheit negiert;30 positiv ausgedrückt, wenn ihr einziges Telos, als Tendenz der Entwicklung, die freie Zeit ist.31

Anmerkungen

1 Brecht, B.: Gesammelte Werke (Ed. Suhrkamp). Frankturt a. M. 1967; Bd. 17, S. 1109. Zum wissenschaftlichen Zusammenhang siehe Kuznecov, B. G.: Von Galilei bis Einstein. Berlin 1970.Zurück

2 Siehe Galilei, G.: Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betrettend. Darmstadt 1973, S. 146 f.Zurück

3 Galileis Darstellung des funktionalen Zusammenhanges ist noch die geometrische Darstellung des Oresme. Jedoch entsteht fast zeitgleich mit den „Discorsi“ die algebraische Geometrie des Descartes, in der Linien durch Gleichungen in Unbestimmten ausgedruckt werden. Erst mit dieser algebraischen Darstellung vollendet sich die analytische Methode; insofern ist es historisch nicht ganz korrekt, allein Galilei als ihren Entdecker anzusehen.Zurück

4 A.a.O., S. 163.Zurück

5 Siehe Marx, K., Engels, F.: Werke (MEW), Bd. 1, S. 213.Zurück

5a Zusatz: Der Super-GAU von Tschernobyl demonstriert in erschreckender Weise die reale Gefahr, die von solcher Metaphysik ausgeht. Siehe Traube, K. u.a.: Nach dem Super-GAU, Hamburg 1986.Zurück

6 Siehe Strong, E. W.: Procedures and Metaphysics. Berkeley 1936.Zurück

7 Siehe Galilei, G.: Dialog über die beiden hauptsachlichsten Weltsysteme. Übers. u. Erl. E. Strauß. Stuttgart 1982, S. LXXIV.Zurück

8 Hegel, G. W. F.: Werke (Suhrkamp). Frankfurt a. M. 1970 f., Bd. 7, S. 290.Zurück

9 Brecht Werke, Bd. 3, S. 1341. Siehe auch Bd. 17, S. 1129 f.Zurück

10 Brecht Werke, Bd. 17, S. 1109.Zurück

11 Hegel Werke, Bd. 7, § 141, S. 286.Zurück

12 A.a.O., § 142, S. 292.Zurück

13 A.a.O., § 257, S. 398.Zurück

14 A.a.O., § 270, S. 426.Zurück

15 Ebenda.Zurück

16 Ebenda.Zurück

17 Siehe a.a.O., § 297, S. 464.Zurück

18 Siehe MEW, Bd. 1, S. 246 f.Zurück

19 Hegel Werke, Bd.7, § 333, S. 499.Zurück

20 Siehe a.a.O., §§ 330-334.Zurück

21 A.a.O., § 338, S. 502.Zurück

22 A.a.O., § 339, S. 502. – Es ist das unbestreitbare Verdienst der Hegelschen Rechtsphilosophie, den Antagonismus der bürgerlichen Staaten erkannt zu haben. Hegels Idealismus besteht allerdings darin, die Weltgeschichte dieses Antagonismus als Weltgeist zu begreifen, worin die Illusion einer Vernunft in der Geschichte ausgedruckt ist. Diese übernimmt Holz, wenn er meint, mit Leibniz´ Begriff der Kompossibilitat eine den Antagonismus übergreifende logische Gattung gefunden zu haben. Siehe Holz, H. H.: Zur Logik der Koexistenz. In: Dialektik, Bd. 4, Köln 1982, S. 65-74. Jedoch lassen sich logisch nur erscheinende Widersprüche vermitteln, während wesentliche Widersprüche (die Antinomie des politischen Staates und der bürgerlichen Gesellschaft) als wirkliche Extreme nicht miteinander vermittelt werden können (MEW 1, S. 292-296). Holz nennt weiter als Bedingung der Koexistenz „das Zugleichsein von Gegensätzlichem“ (S. 67), so daß die Veränderung unter Erhaltung der Gegensätze möglich ist. Das Modell dafür ist die kontinuierliche Bewegung, die in der mathematischen Gleichung als Funktion (y = f(x)) ausgedruckt ist. Holz, der die mathematische Gleichung nur als Modell des statischen Gleichgewichts begreift (S. 66), plädiert nun implizit für eine solche Funktion als Modell des dynamischen Gleichgewichts der Gesellschaftssysteme (S. 69), z.B. als „Verhältnis von second (y) und first (x) Strike capacity“ (S. 70). Damit beruht sein Konzept der friedlichen Koexistenz auf „Abschreckung“ (ebenda), was jedoch kein Frieden ist. Siehe Furth, P.: Logik der Abschreckung – eine Kritik. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden, H. 2, 1984, S. 28 f. Zusatz: Im atomaren Abschreckungsfrieden ist keine friedliche Nutzung der Kernenergie möglich, im wirklichen Frieden konnte man auf sie verzichten. Zurück

23 Hegel, G. W. F.: Jenaer Realphilosophie 1805/06. Hamburg 1969, S. 261.Zurück

24 Die eindringlichste Darstellung der Geschichte der Atombombe ist m.E. diejenige von Jungk, R.: Heller als tausend Sonnen. Hamburg 1964. Eine neuere Zusammenfassung gibt Scherer, W.: Physikalische Grundlagen und Geschichte des Baus der ersten Nuklearwaffen. In: Physik & Rüstung. Universität Marburg 1983, S. 66-115.Zurück

25 J. Robert Oppenheimer, Enrico Fermi, Arthur H. Compton und Ernest O. Lawrence (Jungk, S. 168).Zurück

26 Bereits Galilei ließ bei seiner Untersuchung der Bewegung die Frage nach dem „warum“ fallen, um zunächst das „wie“ zu bestimmen. Siehe Mach, E.: Die Mechanik, Leipzig 1933, S. 119. Diese Beschränkung auf die Kinematik war sinnvoll, solange keine analytische Theorie der Dynamik vorlag. Ist diese aber gegeben, bedeutet die Beschränkung auf das „wie“, daß die Physik lediglich Möglichkeiten bestimmt und von den Konsequenzen für die Wirklichkeit absieht. Dies war der Inhalt von Galileis Unterwerfung, ebenso bedeutet diese Beschränkung der Physik heute die Unterwerfung des Physikers.Zurück

27 Text in: Jungk, S. 324 f. Zurück

28 Jungk, S. 173.Zurück

29 Jungk, S. 210 f. Kriegsopfer waren im Laboratorium erst später zu beklagen: H. Dagnian und L. Slotin (S. 180, 213).Zurück

30 Siehe Furth, P.: Arbeit, Teleologie, Hegelianismus. In: Dialektik, Bd. 2, Köln 1981, S. 99-121.Zurück

31 Dies wird von Galilei ausgesprochen: „Wofür arbeitet Ihr? Ich halte dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern.“ Brecht Werke, Bd. 3, S. 1340. Zur Entwicklung der Produktivkraft als Ökonomie der Zeit siehe Marx, K.: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 599. „Ersparung von Arbeitszeit gleich Vermehrung der freien Zeit“ (ebenda) bedeutet in den charakteristischen Großen der politischen Ökonomie die Verminderung von (v + m).Zurück

Dr. Harald Böhme ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Mathematik/Informatik an der Universität Bremen. Bei dem vorstehenden Aufsatz handelt es sich um einen Vortrag, den H. Böhme beim XVI. Internationalen Hegel-Kongreß zum Thema „Moralität und Sittlichkeit“ in Zürich 1986 gehalten hat. Er wird auch im Hegel-Jahrbuch 1988 erscheinen.

In the name of the Prince of Peace

Christliche Kirchen als friedliche Stimme der Vernunft

In the name of the Prince of Peace

von Dr. Thomas Nauerth

Einleitung

Als 1939 mit dem deutschen Überfall auf das katholische Polen der II. Weltkrieg begann, haben die deutschen Kirchen, katholische wie evangelische, den in diesen Krieg ziehenden »Gotteskindern« ihren Segen auf dem Weg des Mordens mitgegeben. Man sprach zu den Soldaten von der „trostvollen Gewissheit“: dass ihr (…) „nicht bloß dem Vaterlande dient, sondern zugleich dem heiligen Willen Gottes folgt, der alles Geschehen, auch das Schicksal der Völker und der einzelnen Menschen in seiner weisen Vorsehung lenkt.“1 Es war die Erfahrung dieses furchtbaren Weltkrieges, die die im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) zusammengeschlossenen Kirchen 1948 in Amsterdam formulieren ließ: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“. Das von Pius XII vorgetragene katholische Resumee, wonach „die Unsittlichkeit des Angriffskrieges immer augenfälliger geworden“ sei,2 war allerdings präziser, weil es zunächst allein den Angriffskrieg als offenkundig unsittlich verwirft. Denn ungeachtet der volltönenden Formel vom Krieg, der nach Gottes Willen nicht sein solle, war schon auf der Konferenz von Amsterdam 1948 strittig, welche Folgerungen für die Kirchen aus dieser Einsicht zu ziehen sind. Und die Frage, welche Konsequenzen der Satz vom göttlichen Unwillen über den Krieg praktisch für die Kirchen (und für die Gesellschaft) haben muss, blieb von Amsterdam an bis heute unter den christlichen Kirchen strittig und kontrovers. Soll (oder muss gar) eine christliche Kirche gegen den (jeden?) Krieg Stellung beziehen? Gibt es weiterhin Situationen, wo ein Krieg zwar nach Gottes Willen nicht sein soll, aber aufgrund menschlichen Unvermögens eben doch sein muss? Die Zerrissenheit der christlichen Kirchen in diesen Fragen, verbunden mit weithin ungeklärten Fragen bezüglich des Verhältnisses Kirche-Staat und nicht zuletzt im Verbund mit einer gehörigen Portion Ängstlichkeit, in Konfrontation mit staatlicher Machtpolitik zu geraten, haben dazu geführt, dass die Stimme der christlichen Kirchen in Europa in den Kriegen nach 1989 Jahre schwach geblieben ist, die Positionen vorsichtig formuliert und niemals eindeutig von allen Mitgliedern der Kirchenführung geteilt und vertreten wurden.

Erst vor diesem hier nur knapp skizzierten Hintergrund wird die historische Dimension dessen, was zur Zeit zu beobachten ist, deutlich.

Die christlichen Kirchen sagen einmütig und gemeinsam wie selten: Nein. Sie verweigern sich der Logik der Macht, sie bedauern nicht nur, „dass die mächtigsten Länder der Welt Krieg auch weiterhin als annehmbares Instrument der Außenpolitik ansehen“3 , sie verwerfen solche Außenpolitik, sie verwerfen die aktuellen Kriegsplanungen der zentralen politischen Macht dieser Welt in Bezug auf den Irak grundsätzlich.

Eine solche weltweite Einmütigkeit aller christlichen Kirchen in der Beurteilung der traditionell als schwierig und komplex eingeschätzten Wirklichkeit »Krieg«, ist ein historisch einmaliges Ereignis. Zum ersten Mal in der Geschichte nehmen christliche Kirchen jeglicher Denomination weltweit, mit großem Engagement und mit klarer Argumentation negativ Stellung zu einem Krieg, bevor dieser begonnen hat.

In dieser theologisch wie politisch neuen Situation liegt der Grund für dieses aktuelle Dossier, in dem neun repräsentative kirchenoffizielle Stellungnahmen dokumentiert werden, und indem eine erste Analyse versucht wird. Vollständigkeit ist in beiden Fällen weder möglich noch angestrebt.4 Angesichts eines sich täglich ändernden Sachstandes können hier nur erste Anmerkungen und Beobachtungen vorgelegt werden zu einem Phänomen, das politologisch wie theologisch eine neue Chance, eine neue Hoffnung, auf jeden Fall aber eine neue Herausforderung ist.

Alte Lehren und modernes Völkerrecht

Liest man die Stellungnahmen der verschiedenen christlichen Denominationen, so findet man überraschenderweise das gewohnte breite Spektrum an friedensethischen und friedenstheologischen Aussagen. Es reicht von der stärker naturrechtlich, sozialethisch argumentierenden katholischen Tradition bis zu den eher biblisch, christologisch argumentierenden Traditionen bestimmter evangelischer (Frei)Kirchen. „We believe war is incompatible with the teachings and example of Christ“ schreibt Sharon A. Brown Christopher, Präsidentin des Bischofsrates der United Methodist Church, während ihre katholischen Kollegen formulieren, dass „für die Charta der Vereinten Nationen und für die katholische ethische Tradition (…) jeder Rückgriff auf Waffengewalt trotz wünschenswerter Ziele für das Gemeinwohl eine schwerwiegende Entscheidung“ sei, „die nur als letzte Möglichkeit erwogen werden darf und nur unter ganz strengen Bedingungen.“5

Es hat also kein »Paradigmenwechsel« kirchlicher Lehrmeinungen bezüglich des Krieges stattgefunden. Von einer pazifistischen Wende kann nicht gesprochen werden. Alle Kirchen und christlichen Gemeinschaften bleiben im Rahmen ihrer traditionellen Lehre, die einen lehnen grundsätzlich Krieg als Mittel ab, die anderen können sich in Ausnahmefällen unter besonderen Umständen eventuell Krieg weiterhin als letzte Handlungsmöglichkeit vorstellen. Es wird verschiedentlich sogar explizit Bezug genommen auf den Rahmen der traditionellen Lehre. So formulieren die deutschen katholischen Bischöfe, dass „wir uns in der Pflicht“ sehen, „an einige Grundsätze der katholischen Friedensethik zu erinnern.“6 Darüber hinaus wird mehrfach in katholischen Erklärungen auf die einschlägigen Bestimmungen des Weltkatechismus verwiesen. Auch die methodistische Kirche verweist zur Begründung für ihre Position auf ihr »Book of Resolutions 2000«, aus dem hervorgehe, dass „unsere Kirche Interventionen kategorisch ablehnt.“7

Es liegt also nicht an einer Veränderung der Lehrbasis, dass aktuell so gut wie alle christlichen Kirchen einmütig die Kriegsplanungen gegen den Irak verwerfen. Dies ist insofern bemerkenswert, als die traditionelle inner- wie außerkirchliche Kritik die offiziellen Lehrdoktrinen immer für zu schwach gehalten hat. Nun aber zeigt sich, dass auch die traditionelle Lehre in jeder Kirche für deutliche Worte und ein eindeutiges Urteil ausreicht.8 Aus Sicht der Kirchenleitungen wäre zu formulieren, nicht die Lehre wurde neu gefasst, sondern die politische Realität hat sich so verändert, dass Widerspruch nötig wurde.

Die entscheidende politische Veränderung, die die christlichen Kirchen zum Widerspruch nötigte, sind die Überlegungen, um bestimmter politischer Zwecke willen (Regimewechsel, Abrüstung, Öl?) Krieg als Mittel in Erwägung zu ziehen, bzw. konkret zu planen und vorzubereiten. Das Stichwort »Präventivkrieg« findet sich in so gut wie allen kirchlichen Stellungnahmen. An diesem Wort und an der dahinter stehenden politisch-militärischen Konzeption kristallisiert sich der kirchliche Protest. „Keine Präventivkriege! Nicht gegen den Irak und auch sonst nicht“, so ist programmatisch die Stellungnahme der Evangelisch-Methodistischen-Kirche vom 26.11.2002 überschrieben. Die Deutsche katholische Bischofskonferenz hatte schon im September grundsätzlich geurteilt: „Die Beanspruchung eines Rechts zum »Präventivkrieg«, der auf Verdacht und Vermutung hin erklärt würde, ist nicht zulässig.“9 Hinter diesen deutlichen Stellungnahmen gegen die konkreten Planungen eines bestimmten Präventivkrieges wird allerdings noch eine grundsätzlichere Sorge erkennbar: Krieg als „eines der schwerwiegendsten Übel (…) darf (…) niemals zu einem normalen »Mittel« der internationalen Politik werden.“10 Die Befürchtung, dass genau solch ein Prozess der Normalisierung im Gang ist, erklärt, warum die christlichen Kirchen so massiv gegen die Kriegsplanungen bezüglich des Irak protestieren: „damit sie nicht in Torheit geraten“ (s. Text 4). Die Kirchen, möglicherweise sensibilisiert durch die bioethischen Debatten und Entwicklungen, fürchten einen (weiteren) Dammbruch. Es geht ihnen darum, „zu vermeiden, dass ein negativer Präzedenzfall geschaffen wird, der die Hemmschwelle erniedrigt, gewaltsame Mittel zur Lösung internationaler Konflikte einzusetzen“ (s. Text 7).

Wie weit die Hemmschwelle inzwischen gesunken ist, zeigt unfreiwillig J. Ch. Koecke, der Teamleiter Religion und Wertorientierung bei der CDU-nahen Konrad-Adenauer Stiftung in einem kürzlich erschienenen Zeitungsbeitrag.11 Koecke spricht von einer Weltinnenpolitik , in der ein „Krieg, wie der jetzt diskutierte (…) als eine (…) angeordnete Polizeimaßnahme angesehen werden“ kann.

Gegen solche politischen Träume von der Lösungsfähigkeit militärischer Gewalt setzen die Kirchen eindringlich und nachdrücklich immer wieder die Erinnerung an die realen, sicheren Folgen eines Krieges: „Kann man daran zweifeln, dass ein Krieg gegen den Irak aller Wahrscheinlichkeit nach eine Unzahl von Toten und Verwundeten, von Flüchtlingen und um ihre Existenz Gebrachten mit sich bringen würde?“ (s. Text 5).

Der Vorwurf, dass die Kirchen nicht auf der „Höhe der veränderten Weltlage“ seien, trifft also die Sachlage in keiner Weise. Gerade aufgrund einer aktuell veränderten Weltlage melden sich die Kirchen zu Wort. Allerdings bestehen zwischen dem Weltlageverständnis bestimmter politischer Kreise und dem Weltlageverständnis der christlichen Kirchen erhebliche Differenzen. Die Kirchen sind weder überzeugt von den Beweisen gegen den Irak („Stellt das irakische Regime, wenn es auch noch so zu verurteilen ist (…) wirklich eine gefährliche und unmittelbare Bedrohung dar?“)12 , noch können die Kirchen „neue und vorbildlose Handlungsfragen“ aufgrund des 11.9.2001 erkennen.13 Wie die in dieses Dossier zusätzlich aufgenommene Predigt des amerikanischen Bischofs und ehemaligen Kampfpiloten Bowmann zeigt (s. Text 9), ist die Rede von neuen und vorbildlosen Handlungsfragen in der Tat mehr als problematisch. Das Phänomen des Terrorismus ist sowenig neu, wie die von Koecke beschworene angeblich „neue Asymmetrie von Verteidigung und Angriff.“ Gerade weil heute eine „Strategie der ordnenden Gestaltung des Kriegsvorfeldes angestrebt werden“ muss, ist für die Kirchen Kriegsprävention die neue ultima ratio. Und die Leitkategorien christlicher Kriegsprävention heißen Solidarität und Gerechtigkeit, nicht Präventivkrieg. Wer davon spricht, dass die „Unterscheidung in einen unmittelbar bevorstehenden (…) und einen potentiellen Angriff keinen Sinn mehr“ mache, und wer damit offenkundig die Beschränkungen aufgrund des derzeit geltenden Völkerrechtes für überholt erklären will, der hat sich jeder Chance beraubt noch »kirchlich ernst genommen zu werden«. Wer für eine Strategie der ordnenden Gestaltung des Kriegsvorfeldes mit militärischen Mitteln votiert, der betreibt, so würde es der biblisch orientierte Teil der christlichen Kirchen formulieren, nicht Politik nach Maßstäben des Lammes, sondern Politik nach Maßstäben des Tiers aus dem Abgrund (vgl. Offenbarung 13).

Beachtenswert an den kirchlichen Stellungnahmen ist gerade vor dem Hintergrund solcher Analysen der ständige Rekurs auf die völkerrechtlichen Grundlagen. „Selbst nach den Regeln des Völkerrechts wäre ein Angriff auf den Irak derzeit nicht zu rechtfertigen. (…) Erst recht kann ein Krieg allein zum Zwecke des Regimewechsels in einem anderen Staat nicht in Frage kommen, und schon gar nicht die willkürliche Ausweitung des nach dem Völkerrecht äußerst begrenzten Begriffes der Prävention.“14 Die Kirchen beschränken sich in ihren Stellungnahmen also keineswegs auf ihren eigenen theologischen, religiösen Kompetenzbereich. Auf die theologische Aussage, dass „die Vorstellung, das Böse könne durch Krieg vernichtet werden (…) der biblischen Sicht der Welt und des Menschen“ widerspricht folgt unmittelbar die Aussage, dass eine „militärische Intervention ohne UN Mandat (…) die Autorität der Vereinten Nationen“ untergräbt.15 Die Vertreter des Glaubens werden zur Stimme der Vernunft.

Mit solchen politischen und rechtlichen Argumenten versuchen die Kirchen offensichtlich Gehör im Raum einer immer stärker säkularisierten Öffentlichkeit zu finden Die Stimme der Kirchen muss zur Zeit als stärkste und lauteste Stimme der Verteidigung von internationalem Recht und von internationalen Institutionen wie der UNO, bezeichnet werden. Immer wieder wird betont, dass die Auffassung von Krieg als legitimem Mittel „sowohl gegen die Vereinten Nationen als auch gegen die christliche Lehre“ verstoße.16 Die Kirchen als nichtstaatliche Akteure bitten die Staaten eindringlich „sich zum Erreichen gewaltfreier angemessener Lösungen internationaler und nationaler Konflikte unablässig für eine Stärkung der Autorität der Vereinten Nationen und der Europäischen Union einzusetzen, die sicherstellt, dass Gewaltanwendung nicht mehr als Ausdruck des Recht des Stärkeren, sondern nur noch zur Stärkung des Rechts erlaubt oder auch geboten sein darf.“17 Dabei verlieren die Kirchen keineswegs aus dem Blick, dass „eine bloße UN Autorisierung einen Krieg noch nicht gerecht macht. Wenn der präventive Aspekt eines Angriffs fortbestehe, sei dieser auch weiterhin inakzeptabel.“18

Weltweites Netzwerk und weltweite Interessen

Dass zum erstenmal in der Geschichte sich weltweit so gut wie alle christlichen Kirchen und Gemeinschaften in der Ablehnung eines Krieges einig sind, ist nicht ganz zufällig. Denn von Beginn an ist bei allen Kirchen ein starkes Bemühen nach Vernetzung untereinander zu beobachten. „We Christians of the Middle East urge the churches of the West, to speak to their governments.“ So formulierte am 5.8.2002 das Middle East Council of Churches. Die Kirchen des Westens sind dieser Bitte inzwischen weitgehend gefolgt. Auch dabei ist ein Bedürfnis nach Zusammenarbeit zu beobachten, das ungewöhnlich ist. So haben 37 Kirchenobere aus den USA, Kanada und aus Großbritannien am 30.8.2002 einen gemeinsamen Appell »A Call to Stop the Rush to War« veröffentlicht. Am 18.1.2003 wurde unter dem Titel »Krieg ist keine Antwort. Frieden ist der Weg zum Frieden« eine gemeinsame Erklärung der Kirchenprovinz Sachsen und der United Church of Christ verabschiedet (s.Text 4). „Wir stellen uns an die Seite der Kirchen in den Vereinigten Staaten“, hat im November 2002 bereits die kleine lippische Landeskirche auf ihrer 32. Synode formuliert. Und am 5.2.2003 trafen sich auf Initiative des Ökumenischen Rates der Kirchen Repräsentanten von über 20 verschiedenen protestantischen wie orthodoxen Kirchen aus Europa wie aus den USA in Berlin um eine gemeinsame Position zu finden und zu formulieren

(s. Text 7). Am Ende ihrer Erklärung richten sie den Blick auf die Schwesterkirche(n) des Irak, ihre Erklärung sei als Zeichen der Solidarität und Unterstützung zu verstehen.

Politisch ist die Stoßrichtung solcher Zusammenschlüsse deutlich, man möchte vermeiden, dass die einzelnen Kirchen gegeneinander ausgespielt werden, man möchte gerade in Europa jeden Anschein von Antiamerikanismus vermeiden und man versucht das Gewicht der Erklärungen durch möglichst »breite Bündnisse« zu stärken. Theologisch ist dabei vor allem spannend, dass ganz unterschiedliche christliche Kirchen hier zu gemeinsamen Tun, zu gemeinsamem Widerstand finden. Dies ist ein ökumenischer Lernprozess ganz besonderer Art.

Die weltweite Vernetzung christlicher Kirchen untereinander führt dazu, dass „our knowledge of and links with church partners in the Middle East and our unity in Christ with Christians there make us very sensitive to the destabilizing potential of a war against Iraq for the whole region.“19 Deutlich wird an dieser Formulierung auch, dass die von Politikern öfter geäußerte Meinung, dass die christlichen Kirchen sich allein aus humanitären Gründen zu Wort melden (und man deswegen ihre Wortmeldung nicht so ganz ernst zu nehmen habe, weil Kirchen ja so reden müssten), nicht ganz stimmt. Kirchen, die Partnerschaften pflegen und Verbindungen aufgebaut haben, die sich evtl. sogar materiell und personell in verschiedenen Ländern engagieren, haben ganz unmittelbare institutionelle Eigeninteressen und sie haben ganz elementare emotionale Bindungen weltweit. Christliche Kirchen sind in dieser Hinsicht nicht mit Staaten zu vergleichen, sondern eher mit weltweit operierenden Konzernen. Liest man die Berichte des Ökumenischen Rates der Kirchen oder die Nachrichtenübersichten aus dem Vatikan, ist es erstaunlich zu sehen, wie konkret die Fragen von Gerechtigkeit, Frieden und Menschenrechten behandelt werden; wie oft ein fundamentaler Dissens zwischen dieser globalen Institution »Kirche(n)/Christenheit« und den jeweiligen staatlichen Akteuren gegeben ist und wie oft ein fundamentaler Interessengegensatz zwischen kirchlichen Interessen und US-amerikanischen Regierungsinteressen besteht (z.B. Kolumbien). Es dürfte auch politologisch und nicht nur theologisch angezeigt sein, die Rolle dieser humanitär ausgerichteten Global Player als Anwalt der Völker dieser Erde stärker in den Blick zu nehmen.

Die Kriegsplanungen der USA und Großbritanniens haben daher eine von diesen Mächten sicher nicht beabsichtigte Nebenwirkung. Der Weltkonzern »Christenheit« entdeckt seine unmittelbar bedrohten Filialen im Irak in ganz neuer Weise. Über lange Jahre waren es lediglich vereinzelte Friedensaktivisten, die Solidaritätsreisen in den Irak durchführten. Diese Arbeit wurde wenig beachtet in den Großkirchen, so dass in den christlichen Gemeinden des Westens weithin unbekannt blieb, dass es eine zwar kleine, aber real existierende und ihren Glauben lebende christliche Minderheit im Irak gab. Das hat sich deutlich geändert. Nicht nur die Zahl der Solidaritätsreisen ist angestiegen, inzwischen sind auch offizielle Kirchenvertreter in den Irak gefahren. Das Motto, mit dem der Dominikanerorden die Solidarität mit seinen Klöstern im Irak umschreibt, lautet „Wir haben eine Familie im Irak.“ Dieses Motto wird immer mehr zur Erfahrung der Christenheit insgesamt. Um die Aufmerksamkeit der westlichen Christenheit auf die Schwestern und Brüder im Irak zu richten, werden dabei auch ungewöhnliche Wege beschritten. Ausgerechnet in dieser spannungsgeladenen Zeit wollen die Bibelgesellschaften Jordaniens und Libanons Tausende von Bibeln in den Irak bringen und bitten alle Christen zum Gebet für das Gelingen dieser Aktion!20

Kritisch anzumerken bleibt, dass trotz dieses wachsenden Bewusstseins über die bedrohte Lage der christlichen Brüder und Schwestern im Irak, die mörderischen Auswirkungen der Sanktionen in den kirchlichen Erklärungen wenig thematisiert werden (vgl. aber Text 6, 7 und 8). Eine Sonderrolle spielt hier allerdings der Vatikan. Die chaldäische Kirche des Irak zählt zu den katholisch unierten Kirchen, ihre Bischöfe sind daher regelmäßig im Vatikan zu Besuch, der Austausch und die Kontakte sind eng. Bereits im Dezember 2001 hatte Johannes Paul II zusammen mit Bischöfen aus dem Irak und dem vorderen Orient einen Appell, zur Aufhebung der Sanktionen verabschiedet.21 Und im Oktober 2002 bereiste eine Delegation der Internationalen Caritas den Irak. Die Sanktionen seien ineffizient, weil sie das Regime nicht beträfen, sie seien grausam, weil die Armen darunter leiden und sie seien gefährlich, weil sie die irakische Gesellschaft zerstörten und zu starken Ressentiments gegen die westlichen Mächte führten, so das bündige Fazit.22

Neuer Mut und neue Einigkeit

Wenn auch, wie gezeigt, kein Paradigmenwechsel in der kirchlichen Lehrentwicklung vorliegt, sondern die traditionellen friedensethischen Positionen vertreten werden, so ist doch etwas ganz und gar Neues zu beobachten. Die Beharrlichkeit, mit der die Kirchen ihr Nein in die Öffentlichkeit tragen, der Mut zur Kontroverse und die innerkirchliche Geschlossenheit, mit der diese Kontroverse geführt wird, waren in dieser Form und vor allem in dieser Breite bisher nicht zu beobachten. Die offiziellen Stellungnahmen kirchlicher Gremien, die in diesem Dossier dokumentiert bzw. zitiert werden, sind bildlich gesprochen nur die Spitze des Eisbergs. Denn anders als bei so vielen anderen Gelegenheiten belassen es die christlichen Kirchen diesmal nicht bei einer theoretischen Erklärung ihrer Führungsgremien. Eine Fülle von Stellungnahmen einzelner Kirchenführer, einzelner Gemeinden oder einzelner Verbände bzw. Werke liegt vor. Auch die Kirchenoberen selbst melden sich ausgehend von ihrer Stellungnahme immer wieder zu Wort. Sie wollen, dass ihre Stimme Gehör findet, gerade auch in den politisch relevanten Gremien: „As you prepare for further deliberations of the United Nations Security Council this week, I would like to draw your attention to the numerous voices of Christians around the world, who, committed to the teachings of Jesus Christ and the prophetic vision of peace, strongly believe that preemptive war against Iraq is illegal, immoral and unwise,“ mit diesen Worten wandte sich der Generalsekretär des ÖRK, Konrad Reiser, am 15.10.2002 an den Sicherheitsrat. Sie wollen politischen Einfluss nehmen. Nicht an den Sicherheitsrat, sondern direkt an den Präsidenten der Vereinigten Staaten wendet sich seit August 2002 immer wieder die Kirchenführung der United Methodist Church. „Methodisten haben eine besondere Pflicht sich gegen einen solchen Angriff auszusprechen. Präsident Bush und Vizepräsident Cheney sind beide Mitglieder unserer Kirche. Wenn wir jetzt schweigen, könnte das als stillschweigendes Einverständnis mit diesem Krieg interpretiert werden.“23 „Especially lift your prayers for United Methodists President Bush and Vice-President Cheney,“ so schließt ein Brief der Präsidentin der Methodistischen Bischofsversammlung, Bischöfin Sharon A. Brown Christopher vom 4.10.2002. Dieser Brief war begleitet vom (vergeblichen) Versuch mit dem Kirchenmitglied Bush selbst ins Gespräch zu kommen. Die methodistische Kirche aber gibt nicht auf in ihrem seelsorgerischen Bemühen um das Kirchenglied G. W. Bush: „We pray that every possible means to prevent war will be pursued in the coming days. (…) The Council of Bishops holds you before God in prayer in this time of decision. In the name of the Prince of Peace“, mit diesen eindringlichen Worten schließt ein Brief der Bischöfin vom 4.2.2003.24

Gerade im Bereich des deutschen Episkopats, der deutschen katholischen Bischöfe, fällt besonders auf, wie geschlossen alle Bischöfe hinter den gemeinsam verabschiedeten Erklärungen stehen und wie beharrlich und geschickt sie jede sich bietende Gelegenheit (jede Kamera, jedes Mikrofon, jeden Notizblock) nutzen, um ihre Ablehnung des Krieges immer wieder zu unterstreichen. „Krieg gehöre wie die Folter und die Todesstrafe in die Mottenkiste der Geschichte“, mit diesen Worten wird der Aachener Bischof Mussinghof vom katholischen Internetradio kip-radio.de zitiert (23.1.2003). Eine solche Ausdrucksweise war bislang eher Kennzeichen bestimmter friedensbewegter Basiskreise, für die kirchliche Hierarchie ist dies ein recht neuer Ton. Einen neuen Ton hat am 30.1.2003 auch Kardinal Meisner anlässlich eines Soldatengottesdienstes gefunden. Gerade Soldatengottesdienste waren in der Vergangenheit ein beliebter Anlass, um die offizielle Lehre ein wenig militärfreundlicher zu interpretieren. Bei dem von der katholischen Militärseelsorge verantworteten Festgottesdienst zur Feier des Weltfriedenstages 2003 aber bleibt Meisner in seiner Predigt vor den versammelten Soldaten ganz im Rahmen der neuen »Mottenkistendoktrin«: „Die Soldaten mit ihrem Dienst sind nicht dazu da, Kriege zu führen, sondern sie zu verhindern und den Frieden zu erhalten. (…) Sich für die Bewahrung, Verteidigung und Erhaltung des Friedens berufen und ermächtigt zu wissen, sollte die Frucht dieser Stunde sein. Amen.“ Der letzte Satz von Kardinal Meisner ist besonders interessant. Er scheint aus dem Formulierungsfundus traditioneller Soldatengottesdienste zu stammen, doch Meisner hat ein Wort ausgetauscht und damit die Aussage vollkommen verändert. Statt von der Verteidigung der Freiheit spricht er nun von der Verteidigung des Friedens!

In den USA wurde inzwischen sogar während einer CNN Talkshow ein kirchlicher Werbespot geschaltet. Zusammen mit einer Schauspielerin und politischen Aktivistin erklärt darin ein methodistischer Bischof, dass ein Angriff auf den Irak »Gottes Gesetz verletzt«. So weit gehen die deutschen Kirchenleitungen noch nicht. Aber sie haben immerhin bereits die Möglichkeiten der Morgenandachten entdeckt bzw. deren Nutzung für eine Ansprache gegen Krieg und Kriegsvorbereitung freigegeben.25 Die kirchliche Stimme ist darüber hinaus recht häufig in den Leserbriefspalten zu finden. Nicht nur Pfarrer melden sich hier lokal zu Wort, auch der Altbischof der Methodistischen Kirche in Deutschland Hermann Sticher hat sich mit einem längeren Leserbrief eingemischt. Als Grund für seinen Brief führt er an, dass die „deutschen Medien (…) mehr an den konservativen bis fundamentalistischen Kirchen (…) in den USA interessiert“ seien, als an dem, was die »Main-Line« Kirchen, die zahlenmäßig stärksten (…) Kirchen sagen, und tun.“26 Explizite Medienkritik und die Sorge, dass die kritische Stimmen der Kirchen kein Gehör findet, haben demnach diesen Bischof zum Schreiben bewogen. Damit die in seinem Leserbrief skizzierten kritischen Stimmen der amerikanischen Kirchen hierzulande aber wirklich bekannt werden, wurde dieser Leserbrief zeitgleich ins Internet gestellt. Die souveräne Nutzung des Internet durch die Kirchen hat begonnen, und trägt zur Verbreitung kirchlicher Positionen im Sinne einer Gegenöffentlichkeit erheblich bei.

Neue politische Geschicklichkeit und alte Handlungsmodelle

Zum neuen Mut gesellt sich eine neue politische Geschicklichkeit. Der Vatikan mit den Möglichkeiten, die die Staatlichkeit bietet, agiert traditionell gerade auch friedenspolitisch gekonnt auf dem diplomatischen Parkett. Der Papst hat in Privataudienz fast alle in diesem Konflikt wichtigen Politiker empfangen, er sandte darüber hinaus Mitte Februar mit Kardinal Roger Etchegaray einen hochrangigen Gesandten in den Irak. Neben der Stärkung der dortigen Kirche waren politische Gespräche auch mit Saddam Hussein die Hauptaufgabe dieser Mission. Die Staatlichkeit des Vatikan erlaubte es dann auch Ende Februar vor dem UN Sicherheitsrat das Wort zu ergreifen. Die Aussage war klar und eindeutig. Zur Aufhebung der Bedrohung, welche die Massenvernichtungswaffen, die man dem Irak zuschreibt, darstellen, sei der Griff zu den Waffen nicht rechtens. Der Vatikan sei vielmehr der Ansicht, dass die Arbeit der UN-Inspektoren zu einer „ehrbaren Konsenslösung des Problems“ führen könnte, wenn nur sie von der internationalen Staatengemeinschaft unterstützt werden.27 Bemerkenswert ist die Formulierung „ehrbare Konsenslösung“, hier wird deutlich, wie sehr die vatikanische Diplomatie aufgrund ihrer weltweiten Kontakte die kulturellen Besonderheiten der arabischen Welt im Blick hat, es geht in der Tat bei jeder Lösung immer auch um Ehre und Ansehen!

Doch diplomatische Einflussnahme, politisches Geschick und ein Sinn für symbolhafte Aktionen sind inzwischen nicht nur Kennzeichen des Vatikan. „Ich glaube nicht, dass sie eine nicht verhandelbare Einstellung hätten“, so äußerte sich M.G.Talbert, Bischof der Evangelisch-Methodistischen Kirche nach seiner Rückkehr aus dem Irak, wo er Gespräche u.a. mit Tarek Aziz, dem stellvertretenden Premierminister des Irak führen konnte.28

Genau an jenem Tag, an dem der amerikanische Außenminister im UN Sicherheitsrat Beweise für permanente Verstöße des Irak gegen die Abrüstungsauflagen präsentierte, und damit die Welt für die Notwendigkeit eines Präventivkrieges gewinnen wollte, wurde vom Ökumenischen Rat der Kirchen eine Zusammenkunft von über zwanzig orthodoxen wie evangelischen Kirchenführern durchgeführt. Dieses Treffen fand in Berlin statt, am Sitz jener Regierung, die als einzige angekündigt hatte, im Sicherheitsrat mit Nein zu stimmen und am Sitz jener Regierung, der von der Opposition seit Wochen vorgeworfen wurde, sie isoliere das Land. An jenem politisch so wichtigen Tag war der deutsche Regierungschef erkennbar nicht isoliert, sondern eingerahmt von einer schwarzen Menge kirchlicher Würdenträger. Die Bedeutung dieses Tages war auch dem Vatikan nicht entgangen. Er verkündete an jenem Tag, dass Tarek Aziz vom Papst in Kürze in Privataudienz empfangen würde und sendete damit ein deutliches Signal, dass die Zeit für Gespräche noch nicht abgelaufen sei. Zwei Tage später wurde zudem der deutsche Außenminister Fischer im Vatikan hochoffiziell empfangen. Was ein Fernsehkommentar spöttelnd zu Gerhard Schröders Auftritt mit den protestantisch / orthodoxen Kirchenführern anmerkte, das galt nun auch für Fischer: der deutsche Außenminister im Kreis von Gleichgesinnten.

Das Treffen wichtiger Kirchenrepräsentanten des Ökumenischen Rates der Kirchen in Berlin hat darüber hinaus zu einer Einladung einer Delegation der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in die USA geführt. Auch bei dieser Reise Ende Februar geht es nicht nur um pastorale Besuche amerikanischer Partnerkirchen. Am 26. Februar findet in Washington am Capitol Hill, im Zentrum der politischen Macht, eine Zusammenkunft von kirchlichen Vertretern aus den Ländern, die ständige Mitglieder im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sind, statt. Ziel ist es „nationale und internationale kirchliche Stimmen für den Frieden zu erheben“ – in den Räumen des amerikanischen Senats! 29

Wie die Kriege der 90 er Jahre exemplarisch gezeigt haben, ist die Rückgewinnung des Krieges als politisches Instrument für Demokratien nur über massive Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu erreichen. Die öffentliche Meinung muss in einem wie auch immer demokratisch verfassten politischem System gewonnen werden. Es scheint, dass die Verantwortlichen der Kirchen die hierin liegenden Möglichkeiten der Kriegsprävention erkannt haben. Durch ihre Wortmeldungen weit im Vorfeld des Krieges und nicht erst, wie bisher, nach dem Beginn des Krieges, erschweren sie den Politikern die Überzeugungsarbeit erheblich. Gegen alle mediale und politische Verharmlosung des Krieges steht diesmal die einige Stimme der Kirchen, dass „niemand (…) den Krieg als Lösung ansehen“ darf, „denn er bleibt immer eine Katastrophe mit unberechenbaren Folgen, eine Niederlage menschlicher Bemühungen.“30 Die deutschen Bischöfe sprechen in ihrer Erklärung daher mit einigem Stolz davon, dass die Stimme der Kirche, „in diesen Monaten der sich ständig weiter zuspitzenden Krise unüberhörbar ist“ (s. Text 5).

Dabei ist eine zunehmende verbale Radikalisierung zu beobachten. Gerade der Vatikan, ausgestattet mit einer eigenen Zeitung, dem Osservatore Romano und einem eigenen Radiosender, spielt recht virtuos mit diesen verschiedenen Äußerungsebenen, um über offiziöse Quellen Deutlichkeit und Schärfe in die Debatte zu bringen. So wurde der die Idee eines Präventivkrieges verteidigende Außenminister Italiens im Osservatore Romano mit der Formulierung bedacht: „Den Präventivkrieg als einen Akt der Besonnenheit zu definieren bedeutet, die Intelligenz, die auf einer gewissen Ebene nötig wäre, entweder nicht zu haben oder sie nicht ausüben zu können.“31 Von ähnlich brutaler Deutlichkeit waren die Äußerungen des Radioleiters Pasquale Borgomeo, der am 18.2. den USA „die Attitüde eines Kreuzzüglers“ bescheinigte. Washington scheine „Diplomatie für Zeitverschwendung“, das „internationale Recht für einen Knüppel zwischen den Beinen“ und die „Vereinten Nationen für einen Sophisten-Club“ zu halten. Die öffentliche Meinung werde von den USA nach Gutdünken instrumentalisiert, und wenn dies nicht möglich sei, ignoriert. Die AFP Meldung vom 18.2. 2003 über diese Äußerungen des vatikanischen Radios ist übertitelt: „Vatikan [!] übt scharfe Kritik an US-Haltung im Irak-Konflikt“. Diese journalistische Unschärfe dürfte ganz im Sinne des Vatikans sein.

Solch ein offensives, fast aggressives Agieren im öffentlichen Kommunikationsraum ihrer Gesellschaften ist ein eminent politisches Vorgehen. Selbst das traditionellste und intimste, anscheinend unpolitischste Mittel, das Gebet um den Frieden, ist inzwischen zu einem öffentlichen Zeichen und zum öffentlichen Ausdruck des Protestes geworden. An vielen Orten wird dieses Mittel sozusagen aus der Stille der Kirchen herausgeholt und auf den Marktplatz der Gesellschaft gestellt. Die Kirche entdeckt ihre Kirchenglocken neu. So hat der Bischof von Osnabrück zusammen mit der Landessuperintendentin zu einem landesweiten gleichzeitig stattfindenden Friedensgebet aufgerufen, das eingeleitet wurde durch ein zehnminütiges Friedensgeläut. In seiner Predigt führt er zur Bergpredigt aus, dass sie „nicht ein politisches Programm“ sei, „und doch (…) die Grundlage und Wurzel unseres Handelns als Christen, von dem sich auch die Politik prägen lassen muss.“32 Prägen lassen muss, der neue entschiedene und selbstbewusste Ton ist unüberhörbar.33

Der Vorschlag von Papst Johannes Paul II., für den Frieden in der Welt den Rosenkranz zu beten, hat zu einem Aufruf geführt, weltweit demonstrative (!) Rosenkranzgebete in großen Gruppen für den 1. März zu organisieren. Das Rosenkranzgebet ist eine katholische Frömmigkeitsübung, die innerhalb der katholischen Kirche vorrangig von konservativen Kreisen gepflegt wird. Im Rahmen der neuen Entschiedenheit für den Frieden beginnen sich die alten Einteilungen in konservativ und progressiv offensichtlich aufzulösen. Das Gebet am 1. März soll außerdem dazu dienen einen Gebets- und Fastentag für den Frieden vorzubereiten, den Papst Johannes Paul II. für den 5. März ausgerufen hat.34

Vor einem Schritt allerdings scheuen bis jetzt alle kirchlichen Erklärungen zurück. Keine der Erklärungen ruft ihre Gläubigen zu Widerstandshandlungen auf, als Handlungsform wird allein das Gebet genannt. „Ich persönlich bin der Meinung, dass wir als Christen und als Kirche nur die Macht des Wortes und des Gebetes haben,“ so der evangelische Ratsvorsitzende Kock.35

Ein aktuelles Beispiel kann verdeutlichen, um welche Dimension es bei dieser Frage geht.

Zwei Lokomotivführer in England haben sich geweigert einen Munitionszug zu fahren, dessen Ladung für die britischen militärischen Aktivitäten in der Golfregion bestimmt war.36 Es ist nicht überliefert, ob diese Männer Christen waren. Wenn sie aber Christen gewesen wären, hätten sie sich auf die eindeutigen Stellungnahmen ihrer Kirchen berufen können. Denn es ist unmittelbar einleuchtend, dass Beihilfe zu Handlungen, die von der Kirchenleitung als sittlich verwerflich beurteilt werden, nach Möglichkeit zu unterbleiben haben. Damit ist nicht gesagt, dass kirchliche Verlautbarungen das Gewissen der Christen unmittelbar binden. Wer aber im Gewissen zur Auffassung kommt, eine von der kirchlichen Leitung verworfene Handlung, sei dennoch legitim und sittlich erlaubt, der trägt die volle Beweislast, so lautet zumindest in der katholischen Kirche die Verfahrensregel. Angesichts der Einmütigkeit des christlichen Nein zu dem geplanten Irakkrieg dürfte es allerdings zur Zeit schwer fallen für ein Ja die volle Beweislast zu tragen.

Wie das Beispiel der Lokführer zeigt, gäbe es also vielfältige Möglichkeiten für Christen, die kirchlichen Stellungnahmen in praktisches individuelles Handeln umzusetzen. Doch diese Möglichkeiten sind in den vorliegenden kirchenoffiziellen Erklärungen nicht im Blick.37 Es wird nicht gewagt, die allgemeinen Urteile individualethisch durchzubuchstabieren.

Erst wenn die Kirchenleitungen den Mut fänden, ihre allgemeinen Verlautbarungen auch in Bezug auf individuelle Konsequenzen und Handlungsoptionen zu dolmetschen (»Die Waffen nieder«), wäre die Christenheit eine wirkliche politische Macht.38 Warum diese Konsequenzen nicht in den Blick genommen werden, darüber können nur Vermutungen angestellt werden. Eine weitergehende Analyse ist an diesem Punkt unbedingt erforderlich. Zu vermuten ist zunächst, dass ein bestimmtes Staatsverständnis, die bürgerliche Herkunft und soziale Verankerung der Kirchenleitungen bei dieser Zurückhaltung eine wichtige Rolle spielen. Bei evangelischen Kirchenleitungen kommt noch hinzu, dass generell eine tiefe Scheu besteht, konkrete Handlungsanweisungen zu geben, weil man nicht in den Verdacht geraten will, das Evangelium gesetzlich auszulegen. Nicht zu unterschätzen dürfte aber auch die Angst vor den Folgen sein. Es gibt ein berühmtes Beispiel, welche dramatischen Konsequenzen eine derartige Konkretisierung haben kann. Als der mittelamerikanische katholische Erzbischof Oscar Arnulf Romero nach jahrelangem Protest gegen soziale Ausbeutung und Unterdrückung in El Salvador ganz konkret die Armee ansprach und sie aufforderte, die Waffen niederzulegen, da war er für die Herrschenden nicht mehr tragbar und wurde am Altar erschossen. Solche Konsequenzen wären in Bezug auf die Kirchenleitungen der westlichen Demokratien wahrscheinlich nicht zu erwarten, andererseits ist die Verbindung mit dem Staat für viele Kirchen in wirtschaftlicher Hinsicht so eng, dass handfeste materielle Folgen real zu befürchten wären. Ein weiteres Motiv für die Scheu vor Konkretionen könnte schließlich darin liegen, dass es schwerfällt, zu Handlungen aufzufordern, deren unmittelbare Folgen (Arbeitsplatzverlust etc.) man nicht selbst zu tragen hat. Ein Aufruf an die Gläubigen, Konsequenzen zu ziehen, müsste deswegen auf jeden Fall unterstützt werden durch materielle Hilfestellungen der Kirchenleitungen (Rechtsberatung, Sozialfonds für Gläubige, die aufgrund bischöflicher Weisungen ihren Arbeitsplatz verlieren etc.).

Weil die Stellungnahmen solche konkrete Umsetzung nicht in den Blick nehmen, weisen alle Erklärungen ein starkes Defizit im Bereich »Praxis« auf. An diesem Punkt haben die kirchlichen bzw. der Kirche nahe stehenden Basisbewegungen (z.B. Pax Christi; Internationaler Versöhnungsbund) immer noch einen weiten Erfahrungsvorsprung. Doch ansonsten ist eine erstaunliche Annäherung zwischen Basis und Kirchenleitung zu beobachten. Lange Jahre war die Arbeitsteilung zwischen kirchennahen Bewegungen und Kirche klar. Die Bewegungen waren für radikale Stellungnahmen und Aktionen zuständig, die Kirchen für ausgewogene Erklärungen. Was zur Zeit passiert ist eine interessante Verschiebung der Gewichte. Die Erklärungen der Kirchen nähern sich immer mehr der Eindeutigkeit der Erklärungen der Bewegungen. Als Proprium verbleiben den Bewegungen die konkretere politische Analyse und die konkretere Handlungsoption. Sollte sich der Prozess kirchenoffizieller Deutlichkeit in Friedensfragen auch auf diese beiden Felder noch ausdehnen (wobei in Bezug auf die politische Analyse fast schon von einem Anfang gesprochen werden kann), dann ergäben sich in naher Zukunft Phänomene, die politologisch und politisch eine ganz neue Herausforderung darstellen würden. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Zur Zeit sind es Aktivisten der (christlichen) Basis, die über die konkrete Begegnungs- und Solidaritätsarbeit vor Ort hinaus die Idee eines »menschlichen Schutzschildes« andenken und umzusetzen suchen. Wenn Kirchenleitungen diese Handlungsmöglichkeit aufnähmen, ergäbe sich eine neue politische Realität. Die Machtfrage wäre offen gestellt – und fast schon entschieden. Denn welche Macht kann einen Krieg durchführen, wenn mitten im Zielgebiet Kirchenführer aus aller Welt Pastoralbesuche machen und alternative Friedenskonferenzen durchführen?

Perspektiven

Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg notierte der Dominikanerpater Franziskus Maria Stratmann, leicht resignierend: „Die Tatsache, dass in unserer Kirche ein übernatürlicher Weltorganismus gegeben ist, ein Friedenspotential, das zwar quantitativ, kaum aber qualitativ noch übertroffen werden kann, bleibt bestehen. Freilich, seine Güte ist objektiv. Die subjektive Ausnützung lässt viel zu wünschen übrig. Ein Friedenspotential kann wie ein Kriegspotential ruhen, rosten, veralten, wenn es nicht gebraucht und richtig eingesetzt wird, und über diese Versäumnis haben wir zu klagen.“39

Der Grad der »subjektiven Ausnutzung« dieses Friedenspotentials steigt zur Zeit deutlich. Auch wenn kein Paradigmenwechsel der kirchenoffiziellen Friedensethik zu beobachten ist, so ist die derzeitige Situation ein eminent wichtiger Lernprozess für die Kirchenleitungen. Das zu enge Bündnis mit dem Staat, die Übermacht der Staatsraison und des nationalen Gedankens waren für G. J. Heering die Hauptursachen dafür, dass die christlichen Kirchen es „seit langer Zeit verlernt“ haben, „ihre Stimme im Weltgeschehen hören zu lassen, es sei denn, »um im hohen Ton zu singen, was die Staaten wollen bringen«.“40 Wenn diese Analyse stimmt, dann passiert zur Zeit mehr und Wichtigeres, als eine Korrektur kirchenamtlicher Friedensethik. Die Haltung, aus der heraus bisher Friedensethik entworfen wurde, könnte beginnen sich zu ändern. Die „Wiedergewinnung einer von der Staatsmacht unabhängigen Haltung (die ja nicht Staatsfeindlichkeit bedeutet!)“, so hat Kaspar Mayr die zentrale Vorraussetzung genannt, damit der andere, jesuanische, Weg in der Politik Wirkung entfalten kann.41

Wohin dieser Weg führen wird, wohin dieser Weg die Kirchen noch führen wird, ist zur Zeit offen.

Der amerikanische Poet, Priester, Jesuit und radikale Pflugscharaktivist Daniel Berrigan hat 1982 auf der Jahrestagung des Internationalen Versöhnungsbundes / Deutscher Zweig in Bonn ein Referat gehalten, in dem er u.a. ausführte:

„Es scheint, als ob die Kirche eine letzte Herausforderung Gottes annimmt. Diese Herausforderung übersetzt den alten politischen Grundsatz, dass nur das Volk das Volk retten kann, dahingehend, dass nur die Kirche das Volk retten kann. Das passiert noch nicht; aber es ist möglich, dass es passiert.“ Wie so manche Sätze von Dichtern, sind auch diese Sätze zunächst sehr dunkel. Aber wenn nicht alles täuscht, ist aktuell eine Entwicklung zu beobachten, die eines Tages diese dunklen Sätze als helle Prophezeiung bewahrheiten könnte.

Stellungnahmen

Text 1: Beschluss der 9. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) auf ihrer 7. Tagung vom 3. – 8. November 2002.

Die Synode lehnt einen Angriff gegen den Irak mit dem Ziel, Saddam Hussein aus dem Amt zu drängen, ab. Sie macht sich damit die Erklärung des Rates der EKD vom 6. September 2002 (…) zu eigen, darunter den dort unterstrichenen Grundsatz, dass die Anwendung militärischer Gewalt nur nach den Regeln des Völkerrechts erfolgen darf. Das Völkerrecht und ebenso das deutsche Verfassungs- wie Strafrecht verbieten jeden Angriffskrieg.

Die Synode verkennt nicht die Gefahren, die von Massenvernichtungswaffen in der Hand eines Regimes ausgehen, das bisher die entsprechenden UN-Resolutionen missachtet und solche Waffen in der Vergangenheit bereits eingesetzt hat.

Die Synode bekräftigt ihre bisherigen friedensethischen Aussagen, die sie zuletzt am 8. November 2001 in Amberg aktualisiert hat und erinnert insbesondere daran, dass militärische Gewalt nur dann angewendet werden darf, wenn gewährleistet ist, dass

  • „ein solches Eingreifen im Rahmen und nach den Regeln der Vereinten Nationen erfolgt,
  • die Politik im Rahmen des Schutzes oder der Wiederherstellung einer rechtlich verfassten Friedensordnung über klar angebbare Ziele einer Intervention verfügt,
  • die an den Zielen gemessenen Erfolgsaussichten realistisch veranschlagt werden,
  • von Anfang an bedacht wird, wie eine solche Intervention beendet werden kann.

Zu berücksichtigen ist bei einem solchen Einsatz militärischer Mittel weiterhin, ob solche Maßnahmen letztendlich den Aufbau und die Weiterentwicklung einer internationalen Rechtsordnung eher stärken oder schwächen.“

Sie stellt sich an die Seite all der Kirchen in den Vereinigten Staaten von Amerika, die ihre Regierung nachdrücklich aufgefordert haben, von den Kriegsplänen gegen den Irak Abstand zu nehmen.

Wir beten für den Tag, an dem das irakische Volk in Frieden und Freiheit leben kann. Die Synode bittet das Kirchenamt darum, diese Erklärung ins Englische zu übersetzen und den Partnerkirchen in den USA sowie den Kirchen im Irak zu übersenden.

Timmendorfer Strand, den 7.11.2002 Der Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (Mit dem mit einer Gegenstimme und drei Enthaltungen angenommenen Beschluss, stellte sich die Synode hinter eine Erklärung des EKD-Rates vom September. Siehe www.ekd.de)

Text 2: Keine Präventiv-Kriege! Nicht gegen den Irak und auch sonst nicht.

Mit dieser Stellungnahme erteilen wir jedem Präventivkrieg eine eindeutige Absage. Die Drohung eines Präventivkrieges der USA gegen den Irak steht nach wie vor im Raum, die Interventionsvorbereitungen laufen auf Hochtouren. Wenn wir jetzt schweigen, könnte dies von den Methodisten Bush und Cheney als still- schweigendes Einverständnis zu einem Präventivkrieg gegen den Irak interpretiert werden, deshalb äußern wir uns jetzt!

Es ist unsere tiefe Überzeugung und wir halten es für unsere Pflicht, dies öffentlich zu sagen, dass Krieg mit Lehre und Beispiel Christi unvereinbar ist, wie es in den Sozialen Grundsätzen (SG) der weltweiten EmK festgeschrieben ist. Außerdem ist Beschlusslage, dass die EmK Interventionen kategorisch ablehnt und sie es für die wichtigste moralische Pflicht aller Nationen hält, Auseinandersetzungen zwischen Völkern mit friedlichen Mitteln zu lösen (Book of Resolutions 2000, S.277).

Gerade reiche und mächtige Staaten wie die USA haben eine besondere Verantwortung beim Einsatz militärischer Gewalt. Hier stellt die EmK fest: Einige Staaten besitzen mehr militärische und wirtschaftliche Macht als andere. Die Machthaber sind dafür verantwortlich, dass ihr Reichtum und ihr Einfluss mit Zurückhaltung eingesetzt werden? (SG S.39)

Krieg als Vorsichtsmaßnahme wäre für das gesamte Rechtswesen eine unvorstellbare Vorgehensweise sowohl beim Völkerrecht wie auch als Rechtsprinzip z.B. im Strafrecht! Für andere Länder hätte dies außerdem eine erschreckende Signalwirkung! Wie könnte man dann z. B. Indien oder Pakistan oder irgend ein Land davon abhalten, einen Angriff auf das andere Land auszuführen mit der Begründung, sie könnten ja sonst eines Tages angegriffen werden?

Präventivkriege als allgemeines Prinzip würden zu Katastrophe und Chaos führen. Sie sind nicht hinnehmbar!

Wenn wir die Worte Jesu ernst nehmen, Friedensstifter zu werden (Matth.5) und Gerechtigkeit und Frieden zu suchen, müssen wir jetzt deutlich sagen, dass der Weg, den Präsident Bush einschlägt, den Worten Jesu entgegengesetzt ist und in keiner Weise mit der Position der Evangelisch-methodistischen Kirche übereinstimmt und auch die Rolle des (Völker-) Rechts als grundlegendes Prinzip der Demokratie bedroht.

Wir weisen darauf hin, dass unsere Position von allen Leitungsgremien der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK) geteilt wird und öffentlich gemacht wurde:

  • vom Bischofsrat der weltweiten EmK, der sich direkt an das EmK–Mitglied Präsident Bush und Vizepräsident Cheney in einem eindringlichen Appell gewandt hat;
  • von der Kommission für Kirche und Gesellschaft der weltweiten EmK in New York;
  • vom Europäischen methodistischen Jugendrat;
  • vom Europäischen Rat methodistischer Kirchen und
  • vom Bischof der deutschen EmK Dr. Walter Klaiber in einem Schreiben an Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer mit der Bitte, bei der ablehnenden Haltung gegen eine militärische Aktion zu bleiben und alles zu tun, um zu verhindern, dass mit uns verbündete Staaten einen solchen Schritt tun. (Schreiben vom 11.9.2002)

Einen Präventivkrieg zu planen und führen zu wollen, stellt eine Grenzüberschreitung dar, der wir hiermit deutlich und mit aller Kraft entgegentreten. Internationale Differenzen dürfen nur auf dem Verhandlungsweg ausgeräumt werden.

Stellungnahme der Ausschüsse für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK) in Deutschland zu einem Präventiv-Krieg gegen den Irak vom 26.11.2002. (www.emk.de/aktuelles)

Text 3: Nein zum Tod! Nein zum Egoismus! Nein zum Krieg! Ja zum Leben! – Ja zum Frieden!

Exzellenzen, meine Damen und Herren!

  1. Eine willkommene Tradition ist dieses Treffen zum Jahresbeginn, das mir die Freude zuteil werden lässt, Sie zu empfangen und gewissermaßen alle von Ihnen vertretenen Völker zu umarmen! Zu Beginn dieses Jahrtausends spürt der Mensch deutlicher denn je, wie zerbrechlich die von ihm gestaltete Welt ist.
  2. Ich bin persönlich beeindruckt (struck) von dem Gefühl der Angst, das oft in den Herzen unserer Mitmenschen wohnt. Der heimtückische Terrorismus, der jederzeit und überall zuschlagen kann; das ungelöste Problem des Nahen Ostens mit dem Hl. Land und dem Irak; die Unruhen, die Südamerika und insbesondere Argentinien, Kolumbien und Venezuela erschüttern; die Konflikte, die zahlreiche afrikanische Länder davon abhalten, sich ihrer Entwicklung zu widmen. (…) Dies alles sind Geißeln, die das Überleben der Menschheit, die innere Ruhe (peace) des einzelnen und die Sicherheit der Gesellschaften gefährden.
  3. All dies kann sich jedoch ändern. Das hängt von jedem einzelnen von uns ab. Jeder kann in sich selbst sein Potential an Glauben, Redlichkeit, gegenseitigem Respekt und an Hingabe im Dienst an den anderen entfalten. Das hängt natürlich auch von den politisch Verantwortlichen ab, die dazu aufgerufen sind, dem Gemeinwohl zu dienen. Es wird Sie nicht überraschen, dass ich vor einem Publikum von Diplomaten diesbezüglich einige Imperative aufzeige, die meiner Ansicht nach erfüllt werden müssen, wenn man vermeiden will, dass ganze Völker, ja vielleicht sogar die gesamte Menschheit in den Abgrund stürzen:

Zunächst ein »Ja zum Leben!« Die Achtung vor dem Leben an sich und vor dem Leben jedes einzelnen: Dies ist der Ausgangspunkt für alles weitere, denn das fundamentalste aller Menschenrechte ist gewiss das Recht auf Leben. (…) Auch der Krieg ist ein Angriff auf das menschliche Leben, weil er Leid und Tod mit sich bringt. Der Kampf für den Frieden ist immer auch ein Kampf für das Leben!

Dann die Einhaltung des Rechts. Das gesellschaftliche Leben – insbesondere auf internationaler Ebene – setzt gemeinsame, unantastbare Prinzipien voraus, deren Ziel es ist, die Sicherheit und Freiheit von Bürgern und Nationen zu garantieren. Diese Verhaltensnormen sind die Grundlage der nationalen und internationalen Stabilität. Heute verfügen die Verantwortlichen in der Politik über äußerst zweckmäßige Texte und Institutionen. Es genügt, sie in die Tat umzusetzen. Die Welt wäre ganz anders, wenn man damit anfinge, die unterzeichneten Abkommen aufrichtig anzuwenden!

Schließlich die Pflicht zur Solidarität. In einer mit Informationen überfrachteten Welt, der jedoch paradoxerweise die Kommunikation so schwer fällt und in der die Lebensbedingungen so skandalös ungleich sind, ist es wichtig, nichts unversucht zu lassen, damit sich alle für das Wachstum und das Wohlergehen aller verantwortlich fühlen. Es geht dabei um unsere Zukunft. (…)

  1. Aus diesem Grund müssen Entscheidungen getroffen werden, damit der Mensch noch eine Zukunft hat. Dazu müssen die Völker der Erde und ihre Verantwortlichen manchmal den Mut haben, »Nein« zu sagen:
    »Nein zum Tod!« Das bedeutet Nein zu allem, was die unvergleichliche Würde aller Menschen zu verletzen droht, angefangen bei der Würde der ungeborenen Kinder.
    »Nein zum Egoismus!«, also zu all dem, was den Menschen dazu bringt, sich in der Nische einer privilegierten sozialen Klasse oder einer kulturellen Behaglichkeit, die andere ausschließt, abzukapseln. Der Lebensstil derer, die im Wohlstand leben, und ihre Konsumgewohnheiten müssen im Licht der Auswirkungen auf die anderen Länder überprüft werden. (…)Alle Völker haben das Recht, einen angemessenen Anteil an den Gütern dieser Welt und am Know-how der entwickelten Länder zu erhalten.
    »Nein zum Krieg!« Er ist nie ein unabwendbares Schicksal. Er ist immer eine Niederlage der Menschheit. Das Völkerrecht, der aufrichtige Dialog, die Solidarität zwischen den Staaten und die ehrenvolle Ausübung der Diplomatie sind jene Mittel zur Lösung von Streitigkeiten, die des Menschen und der Nationen würdig sind. Ich sage dies mit Blick auf jene, die ihr Vertrauen noch immer in Atomwaffen setzen, und auf die allzu zahlreichen Konflikte, die unsere Mitmenschen noch immer gefangen halten. (…) Und was soll man über einen drohenden Krieg sagen, der über die Bevölkerung des Irak, des Landes der Propheten, hereinbrechen könnte, eine Bevölkerung, die schon von einem zwölf Jahre andauernden Embargo entkräftet ist? Der Krieg ist nie ein Mittel wie andere, das man zur Beilegung von Auseinandersetzungen zwischen Nationen einsetzen kann. Die Charta der Vereinten Nationen und das Völkerrecht erinnern daran, dass der Krieg, auch wenn es um die Sicherung des Gemeinwohls geht, nur im äußersten Fall und unter sehr strengen Bedingungen gewählt werden darf, ohne dabei die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung während und nach den Kampfhandlungen zu vergessen. (…)
  1. Für einen Glaubenden kommen zu diesen Motivationen natürlich noch jene hinzu, die ihm der Glaube an Gott als Schöpfer und Vater aller Menschen eingibt, ein Gott, der ihm die Verwaltung der Erde und die Verpflichtung zur Bruderliebe überantwortet hat. (…) Der ökumenische Dialog zwischen Christen und die respektvollen Kontakte zu den anderen Religionen, insbesondere zum Islam, sind das beste Gegenmittel zu sektiererischen Verirrungen, zum Fanatismus oder religiösen Terrorismus. (…)
  2. Exzellenzen, meine Damen und Herren, wir, die wir an diesem Ort, einem Symbol der Spiritualität, des Dialogs und des Friedens, versammelt sind, sollen durch unser tägliches Tun dazu beizutragen, dass alle Völker der Erde in Gerechtigkeit und Eintracht auf glücklichere und gerechtere Zeiten zugehen können, fern von Armut, Gewalt und Kriegsgefahr!

Gott möge Sie und alle Menschen, die Sie vertreten, mit seinem reichen Segen erfüllen. Ihnen allen ein gutes und glückliches neues Jahr !

Ansprache von Papst Johannes Paul II. beim Neujahrsempfang für das beim Hl. Stuhl akkreditierte Diplomatische Korps am 13. Januar 2003. (www.vatikan.va bzw. www.dbk.de)

Text 4: Krieg ist keine Antwort! Frieden ist der Weg zum Frieden!

„Könnten wir doch hören, was Gott der Herr redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen, damit sie nicht in Torheit geraten.“ Psalm 85,9

Mit großer Sorge nehmen wir die Vorbereitung eines Krieges gegen den Irak wahr. (…) Wir spüren die wachsende Angst in unseren Kirchengemeinden und in unserem Volk. Das Gefühl von Ohnmacht wächst – Resignation macht sich breit, äußert sich im Wegschauen – aber auch in zornigen Aktionen.

Wir erklären gemeinsam: Krieg ist keine Antwort! Krieg ist selbst eine Niederlage! Frieden ist der Weg zum Frieden! Die Erfüllung der UN-Charta, die Präventivkriege kategorisch ausschließt, und die Erfüllung des deutschen Grundgesetzes, das Teilnahme an Angriffshandlungen gegen andere Staaten untersagt, ist unter allen Umständen einzuhalten.

Dauerhafte Sicherheit ist immer gemeinsame Sicherheit. Und diese Sicherheit lässt sich nicht durch militärische Erfolge schaffen. Krieg schürt neuen Hass. Und neu entfachter Hass wird zu neuem Terrorismus führen. Der Terror kann die ganze Welt mit seinem Schrecken überziehen. Politische Stabilität, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entfaltung für alle Völker sind für den Frieden unabdingbar. Diese Erfahrung haben die Völker Europas im vergangenen Jahrhundert immer wieder gemacht. Daran gilt es festzuhalten, und sie der Welt immer wieder mitzuteilen.

Darum sagen wir:

  • NEIN zu allem, was in den Krieg führt.
  • NEIN zu allen Anmaßungen der Mächtigen gegen geltendes internationales Recht.
  • NEIN zum Versuch, Terror mit Krieg zu überwinden; der ganze Völker wegen einzelner Diktatoren leiden lässt.
  • NEIN zu allem, was die Kluft zwischen den Kulturen verbreitert.
  • JA zu aller konsequenten Verfolgung und Verurteilung von Terroristen und Terrorgruppen auf der Grundlage der Rechtsstaatlichkeit.
  • JA zu allen entschlossenen politischen Schritten im Rahmen der Vereinten Nationen, ihrer Charta und ihrer Resolutionen.
  • JA zu jeder geduldigen, mutigen, gewalteindämmenden Friedensoffensive, die den Frieden mit dem Feind sucht, statt ihn mit Krieg loszuwerden.

Unsere Kirchengemeinden und alle – die sich aus christlicher Verantwortung – für den Frieden engagieren bitten wir:

  • Werft in dieser bedrängten Situation euer Vertrauen nicht weg.
  • Lasst euch nicht von dem Geist der fatalen Zwangsläufigkeit prägen und lähmen.
  • Widersteht aller Resignation.
  • Sucht Hilfe und Geborgenheit im Gebet und Hören auf Gottes Wort.
  • Ruft zu Friedensgebeten auf und verschweigt nicht eure Sorgen und euren Protest in der Öffentlichkeit.
  • Beteiligt euch an der Aktion der Leipziger Nikolai-Gemeinde, ein sichtbar weißes Band als Zeichen des Protestes gegen die Kriegsvorbereitung zu tragen.
  • Nutzt die Möglichkeit unserer weltweiten ökumenischen Kontakte zur Werbung für den Frieden.
  • Lasst euch nicht abbringen vom Weg des Friedens und von der Einsicht, dass Krieg nach Gottes Willen nicht sein soll.

für die United Church of Christ – John Deckenback (Central Atlantic Conference, Baltimore)

für die Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen – Axel Noack (Bischof, Magdeburg)

Gemeinsame Erklärung der United Church of Christ (UCC) und der Kirchenprovinz Sachsen vom 18. Januar 2003. Die 1957 gegründete UCC ist eine der großen Kirchen in den USA und vereinigt evangelische Christen verschiedener Konfessionen und Traditionen zu einer Kirche. (www.Kirchenprovinz.de siehe auch www.ucc.org.)

Text 5: Ein Präventivkrieg wäre sittlich unerlaubt!

Das Ringen um Krieg und Frieden im Mittleren Osten geht weiter. Steht die Welt am Vorabend einer neuerlichen bewaffneten Auseinandersetzung oder werden doch noch Wege zu politischen Lösungen beschritten, um ein Blutvergießen zu vermeiden? Die politische Lage verändert sich von Tag zu Tag.

In dieser Situation ist es wichtig, erneut ethische Prinzipien und christliche Optionen in Erinnerung zu rufen, wie wir sie in unserem Wort »Gerechter Friede« dargelegt haben.

Wir wissen uns dabei in vollständiger Übereinstimmung mit dem Papst und mit der Kirche weltweit, deren Stimme in diesen Monaten der sich ständig weiter zuspitzenden Krise unüberhörbar ist.

Dankbar stellen wir auch die Gemeinsamkeit mit den evangelischen Christen fest.

Erstens: Ein Staat, der mehrfach den Frieden mit den Nachbarländern gebrochen und dessen Regierung den brutalen Gewalteinsatz gegen die eigene Bevölkerung nicht gescheut hat, stellt ein Risiko für die internationale Ordnung dar, das die Weltgemeinschaft nicht ignorieren darf. Das gilt zumal, wenn das Regime erkennbar danach strebt, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu gelangen.

Wir bejahen deshalb das Bemühen der Vereinten Nationen, Druck auf den Irak auszuüben, um eine Produktion atomarer, biologischer und chemischer Waffen zu verhindern und die irakische Angriffsfähigkeit so weit wie möglich zu schwächen. Insoweit eine politische Strategie letztlich auf die Vermeidung eines Krieges zielen muss, kann dabei unter Umständen das Mittel der Drohung sittlich erlaubt sein; keinesfalls jedoch darf diese Politik in eine Eskalationslogik geraten, die einen Krieg am Ende unvermeidlich macht.

Zweitens: Krieg ist immer ein schwerwiegendes Übel. Er darf darum überhaupt nur im Falle eines Angriffs oder zur Abwehr schlimmster Menschheitsverbrechen, wie eines Völkermords, in Erwägung gezogen werden. Daher erfüllt es uns mit größter Sorge, dass das völkerrechtlich verankerte Verbot des Präventivkrieges in den letzten Monaten zunehmend in Frage gestellt wird.

Es geht nicht um einen Präventivkrieg, sondern um Kriegsprävention!

Eine Sicherheitsstrategie, die sich zum vorbeugenden Krieg bekennt, steht im Widerspruch zur katholischen Lehre und zum Völkerrecht. Darauf hat vor wenigen Tagen der Hl. Vater selbst mit allem Nachdruck hingewiesen: „Wie uns die Charta der Vereinten Nationen und das internationale Recht erinnern, kann man nur dann auf einen Krieg zurückgreifen, wenn es sich um das allerletzte Mittel handelt.“ Ein präventiver Krieg ist eine Aggression, und er kann nicht als gerechter Krieg zur Selbstverteidigung definiert werden. Denn das Recht auf Selbstverteidigung setzt einen tatsächlichen oder einen unmittelbar bevorstehenden Angriff voraus, jedoch nicht nur die Möglichkeit eines Angriffs.

Der Krieg zur Gefahrenvorbeugung würde das völkerrechtliche Gewaltverbot aushöhlen, politische Instabilität fördern und letztlich das ganze internationale System der Staatengemeinschaft in seinen Grundfesten erschüttern.

Drittens: Bei der Entscheidung über einen Einsatz militärischer Mittel müssen die absehbaren Folgen stets in Betracht gezogen werden. Kann man daran zweifeln, dass ein Krieg gegen den Irak aller Wahrscheinlichkeit nach eine Unzahl von Toten und Verwundeten, von Flüchtlingen und um ihre Existenz Gebrachten mit sich bringen würde? Auch drohen dann schwerste politische Verwerfungen im gesamten Nahen und Mittleren Osten, die die Erfolge der internationalen Allianz gegen den Terror gefährden. Fanatische islamische Fundamentalisten würden bei einem Krieg gegen den Irak möglicherweise überall in der Region an Einfluss gewinnen, und die jetzt schon starken Vorbehalte in der arabischen und muslimischen Welt gegen den Westen drohen sich weiter zu vertiefen. Werden nach einem Krieg die Aussichten auf Frieden, Stabilität und den Schutz der Menschenrechte in der Region verbessert?

Daher fordern wir alle Verantwortlichen auf, das in ihrer Macht Stehende zu tun, einen Krieg im Irak zu verhindern und – mit den Worten von Papst Johannes Paul II. – „das unheilvolle Flackern eines Konflikts, der mit dem Einsatz aller vermeidbar ist, auszulöschen.“

Niemandem sind in dieser Stunde Resignation oder ein taktierender Opportunismus erlaubt, der sich mit dem scheinbar unaufhaltsamen Lauf der Dinge arrangiert.

Ausdrücklich weisen wir darauf hin, dass die Weltgemeinschaft sich keineswegs zur Tatenlosigkeit verurteilt, indem sie die Option des Krieges zurückweist. Der Druck auf das Regime des Diktators Saddam Hussein und eine Politik der strikten Eindämmung seiner militärischen Handlungsfreiheit sind weiterhin erforderlich.

Wir rufen alle Gläubigen auf, in diesen Tagen und Wochen im Gebet für den Frieden nicht nachzulassen.

Im Gebet wenden wir uns an Christus, der die Friedensstifter selig gepriesen hat.

Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zum Irak-Konflikt vom 22. Januar 2003 (www.dbk.de)

Text 6: Erklärung des Präsidiums der Schweizer Bischofskonferenz

Seit einigen Tagen wird in den Medien nicht mehr die Frage nach der Zweckmäßigkeit eines Krieges gegen den Irak gestellt, sondern das genaue Datum des Beginns der Kampfhandlungen in Erwägung gezogen. Schlimmer noch: Einige machen sich schon Gedanken über die Nachkriegszeit… Wir sind zutiefst beunruhigt über diese Sichtweise und erinnern mit Entschiedenheit daran, dass wir einen Krieg ablehnen, dessen hauptsächliches Opfer die Zivilbevölkerung wäre. Seit Jahren leidet das irakische Volk und ganz besonders die Kinder entsetzlich an den Folgen des internationalen Embargos, das gegen dieses Land verhängt worden ist. Lassen wir es nicht zu, dass dieses Volk noch mehr gefoltert wird, denn noch sind nicht alle Wege des Dialogs ausgeschöpft und noch gibt es keine eindeutigen Beweise für die durch den irakischen Diktator drohende Gefahr.

Der Krieg ist immer der schlechteste Weg, Konflikte zu lösen, selbst wenn er bisweilen das letzte Hilfsmittel gegen einen noch größeren Wahnsinn sein kann. Sind wir denn wirklich sicher, dass die Welt vor dieser Situation steht? Die Vereinigten Staaten haben für den heutigen Tag Beweise für diese uns bedrohende Gefahr versprochen. Diese müssen sicher mit Sorgfalt untersucht werden, wir zweifeln aber, dass der »point of no return« – wie ihn manche nennen – schon gekommen ist! Was wir brauchen, sind über alle Zweifel erhabene Beweise einer unausweichlichen und unmittelbaren Gefahr, um einen eventuellen Krieg zu legitimieren – wie auch der Papst schon mehrere Male unterstrichen hat. Sogar wenn – so zahlreiche Bischöfe der Welt im Wortlaut – der Irak wegen Saddam Hussein zu einer realen Bedrohung für uns werden sollte, müsste die internationale Gemeinschaft sich deswegen noch lange nicht Hals über Kopf in einen Krieg stürzen. Die Welt muss vor einem Präventivkrieg verschont werden; sie braucht vielmehr eine echte Prävention vor Krieg!

Außerdem sollten wir uns bewusst sein, dass ein Krieg gegen den Irak zahlreiche Muslime »verletzen« wird und so gewiss das Gegenteil des erhofften Effektes erreicht würde. Dies bedeutete nicht zuletzt einen starken Anstieg terroristischer Bedrohungen durch fanatische Islamisten. Statt der »neuen Weltordnung«, wie sie manche anpreisen, würde sich eher eine »Weltunordnung« einstellen.

Wir rufen alle Gläubigen unseres Landes auf, vermehrt dafür zu beten, dass der Krieg nicht ausbricht und der gute Menschenverstand siegt. Wir glauben an die Kraft des Gebetes, das fähig ist, Berge zu versetzen. Beten wir Christen aller Konfessionen zusammen – mit unseren muslimischen Mitmenschen, damit ein Blutbad verhindert werde. Gedenken wir ebenfalls in unseren Gebeten der Christen, Muslime und Juden in Palästina und Israel, die in einer ebenso dramatischen Situation leben. Erinnern wir uns daran: Niemals kann im Namen irgendeiner Religion Gewalt ausgeübt werden.

Das Präsidium der Schweizer Bischofskonferenz zum geplanten Krieg gegen den Irak am 5. Februar 2003 (www.kath.ch [bischofskonferenz])

Text 7: Verantwortliche der Kirchen vereint gegen einen Krieg im Irak

  1. Als Verantwortliche aus Kirchen in Europa, in Beratung mit den Kirchenräten in den USA und dem Nahen Osten, sind wir äußerst besorgt über die nicht nachlassenden Forderungen der USA und einiger europäischer Regierungen nach militärischen Aktionen gegen den Irak. Als Menschen des Glaubens drängt uns die Liebe zu unseren Nächsten dazu, gegen Krieg Widerstand zu leisten und friedliche Konfliktlösungen zu suchen. Als Kirchen beten wir für Frieden und Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit für die Menschen im Irak und im Nahen Osten insgesamt. Solches Beten verpflichtet uns, Werkzeuge des Friedens zu sein.
  2. Wir bedauern, dass die mächtigsten Nationen dieser Welt Krieg wieder als ein akzeptables Mittel der Außenpolitik betrachten. Dies schafft ein internationales Klima der Furcht, Bedrohung und Unsicherheit.
  3. Wir können die Ziele, die von diesen Regierungen, insbesondere den USA, zur Begründung eines Krieges gegen den Irak angeführt werden, nicht akzeptieren. Ein präventiver kriegerischer Angriff als Mittel, um die Regierung eines souveränen Staates auszuwechseln, ist unmoralisch und stellt eine Verletzung der UN-Charta dar. Wir appellieren an den Sicherheitsrat, an den Grundsätzen der UN-Charta festzuhalten, die die legitime Anwendung militärischer Gewalt eng begrenzen, und zu vermeiden, dass ein negativer Präzedenzfall geschaffen wird, der die Hemmschwelle erniedrigt, gewaltsame Mittel zur Lösung internationaler Konflikte einzusetzen.
  4. Wir glauben, dass militärische Gewalt ein ungeeignetes Mittel ist, um die Abrüstung irakischer Massenvernichtungswaffen zu erreichen. Wir bestehen darauf, dass für die sorgfältig geplanten Maßnahmen der UN-Waffeninspektionen genügend Zeit eingeräumt wird, um die Arbeit zu Ende führen zu können.
  5. Alle Mitgliedsstaaten der UNO müssen sich an bindende UN-Resolutionen halten und Konflikte durch friedliche Mittel lösen. Der Irak kann keine Ausnahme sein. Wir rufen die Regierung des Irak dazu auf, alle Massenvernichtungswaffen zu zerstören und damit verbundene Forschung und Produktionsstätten aufzugeben. Der Irak muss in jeder Hinsicht mit den UN-Inspektoren zusammenarbeiten und allen seinen Bürgern die volle Anerkennung der bürgerlichen und politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte garantieren. Den Menschen im Irak muss die Hoffnung gegeben werden, dass es Alternativen sowohl zu Diktatur als zu Krieg gibt.
  6. Ein Krieg hätte unannehmbare Folgen für die Situation der Menschen, u.a. die Entwurzelung von großen Teilen der Bevölkerung, den Zusammenbruch staatlicher Funktionen, die Gefahr von Bürgerkrieg und Destabilisierung der ganzen Region. Das Leiden irakischer Kinder und der unnötige Tod hunderttausender Iraker während der letzten zwölf Jahre der Sanktionen lasten schwer auf unseren Herzen. In der gegenwärtigen Situation bekräftigen wir mit Nachdruck das seit langem geltende humanitäre Prinzip, bedingungslosen Zugang zu Menschen in Not zu gewähren.
  7. Außerdem warnen wir vor den möglichen sozialen, kulturellen und religiösen, aber auch diplomatischen Langzeitfolgen eines solchen Krieges. Weiteres Öl in das Feuer der Gewalt zu gießen, das die Region bereits auffrisst, wird den Hass nur noch weiter anfachen, indem extremistische Ideologien gestärkt und weiter globale Instabilität und Unsicherheit genährt werden. Als Verantwortliche aus Kirchen in Europa haben wir eine moralische und pastorale Verpflichtung, Fremdenhass in unseren Ländern entgegenzutreten und den Menschen in der muslimischen Welt die Furcht zu nehmen, die sogenannte westliche Christenheit stelle sich gegen ihre Kultur, Religion und Werte. Wir müssen die Zusammenarbeit für Frieden, Gerechtigkeit und Menschenwürde suchen.
  8. Alle Regierungen, insbesondere die Mitglieder des Sicherheitsrates haben die Verantwortung, diese Frage in ihrer ganzen Komplexität zu bedenken. Es sind noch nicht alle friedlichen und diplomatischen Mittel ausgeschöpft worden, um den Irak zu zwingen, den Resolutionen des UN Sicherheitsrates zu folgen.
  9. Es ist für uns eine geistliche Verpflichtung, die sich auf Gottes Liebe zur ganzen Menschheit gründet, uns gegen den Krieg im Irak zu stellen. Mit dieser Botschaft senden wir ein starkes Zeichen der Solidarität und Unterstützung an die Kirchen im Irak, im Nahen Osten und in den USA. Wir beten, dass Gott die Verantwortlichen leiten möge, Entscheidungen zu treffen, die auf der Basis sorgfältiger Überlegung, moralischer Prinzipien und hoher rechtlicher Standards beruhen. Wir laden alle Kirchen ein, sich uns in diesem Zeugnis anzuschließen, für eine friedliche Lösung dieses Konflikts zu beten und alle Menschen zu ermutigen, sich am Ringen um eine solche Lösung zu beteiligen.

Präses Manfred Kock, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) · Bischof Dr. Rolf Koppe, Leiter der Hauptabteilung Ausland und Ökumene im Kirchenamt der EKD (www.ekd.de) · Dr. Konrad Raiser, Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, ÖRK (www.wcc-coe.org) · Dr. Keith Clements, Generalsekretär der Konferenz Europäischer Kirchen, KEK (www.cec-kek.org) · Bischof Dr. Walter Klaiber, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK), (www.oekumene-ack.de), Bischof und damit oberster Geistlicher der Evangelisch-Methodistischen Kirche (Deutschland) (www.emk. de) · Präsident Jean-Arnold de Clermont, Präsident der Fédération Protestante de France (www.protestants.org) · Bischof Mag. Herwig Sturm, Evangelische Kirche Augsburger Bekenntnisses (A. B.) in Österreich (www.evang.at) · Präsident Thomas Wipf, Vorstands-Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) (www.sek.ch) · Bischof Jonas Jonsson, Bischof der Schwedischen Kirche (Svenska kyrkan) (www.svenskakyrkan.se) · Probst Trond Bakkevig, Norwegische Kirche (Norske Kirke) (www.kirken.no) · Erzbischof Jukka Parma, Evangelisch-Lutherische Kirche Finnlands, (Suomen Evankelis-Luterilainen Kirkko) (www.evl.fi) · Bischof Karsten Nissen, Evangelisch-Lutherische Kirche in Dänemark (Evangelisk-Lutherske Folkekirk), (www.folkekirken.dk) · Dr. Alison Elliot, Kirche von Schottland (Church of Scotland), (www.churchofscotland.org.uk) · Pfarrer Arie W. van der Plas, Vorsitzender der Generalsynode der Niederländische Reformierte Kirche und Vorsitzender des Moderamen der Protestantische Kirche in der Niederlände (www.unitingprotestantchurches.nl) · Erzbischof Feofan, Russisch-Orthodoxe Kirche, Erzbischof von Berlin und Deutschland (www.r-o-k.de) · Bischof Athanasius von Achaja, Kirche von Griechenland (Church of Greece) (www.ecclesia.gr) · Rev. Dr. Nuhad Daoud Tomeh, Sonderbeauftragter des Generalsekretariats des Middle East Council of Churches (MECC), Pastor der Presbyterian Church of Syria and Lebanon (www.mecchurches.org) · Dr. Bob Edgar, Generalsekretär des National Council of Churches (NCCC), USA (www.ncccusa. org) · James Winkler, Generalsekretar des General Board of Church and Society der United Methodist Church, USA (www. umc.org) · Dr. Rebecca Larson, Executive Director der Division for Church and Society der Evangelical-Lutheran Church in America, USA (www.elca.org) · Mister Thor Arne Prois (Director of ACT/Action of Churches Together, Genf)

Aufruf von Verantwortlichen aus europäischen Kirchen bei einem Treffen in Berlin, am 5. 2. 2003, einberufen vom Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) in Absprache mit der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), dem Nationalen Kirchenrat in den USA (NCCCUSA) und dem Mittelöstlichen Kirchenrat (MECC), auf Einladung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). (www.ekd.de [Stellungnahmen zum Irak-Konflikt])

Text 8: Mahnwort der orthodoxen Bischöfe in Deutschland zum Irak-Konflikt

Liebe Brüder und Schwestern,

vor vier Jahren haben wir vor und während des NATO-Einsatzes in Jugoslawien in eindringlichen Worten vor dem Einsatz militärischer Gewalt gewarnt, die nicht zu einer wirklichen Lösung des Konfliktes beitragen, sondern diesen im Gegenteil noch verschärfen und für unzählige unschuldige Menschen Leid, Elend, Verstümmelung und Tod bedeuten würde.

Die Ereignisse haben uns recht gegeben: Um ein – vermeintliches oder wirkliches Unrecht – zu bekämpfen, wurde neues Unrecht zugelassen, ja durch den Krieg erst ermöglicht.

Nun scheint es so, als würde ein neuer Krieg unabsehbaren Ausmaßes unseren Planeten bedrohen, nämlich der Angriff auf den Irak.

Sicher ist nicht zu übersehen, dass das Regime im Irak seinen Teil Schuld an der Entwicklung trägt. Trotzdem sind wir mit der überwiegenden Mehrheit der christlichen Kirchen in aller Welt, auch in diesem Land, der Meinung, dass ein mit modernsten Waffen, wie sie insbesondere den USA zur Verfügung stehen, gegen den Irak geführter Krieg gerade die treffen wird, die die Eskalation des Konfliktes nicht zu verantworten haben, vor allem Frauen und Kinder.

Vergessen werden sollte in diesem Zusammenhang auch nicht, dass im Irak eine Zahl orthodoxer und orientalisch-orthodoxer Christen lebt und ihren Glauben praktizieren kann. Für sie dürfte ein solcher Krieg im wahrsten Sinne des Wortes existenzbedrohend werden.

Dem schon seit Jahren unter einer humanitären Katastrophe großen Ausmaßes leidenden irakischen Volk würde im Falle eines Krieges weiteres unermessliches Leiden und Sterben und eine politisch nicht zu kalkulierende Zukunft bevorstehen. Die Folgen können nicht nur für den Irak, sondern die gesamte krisenerschütterte Region des Vorderen Orients verheerend sein; es steht zu befürchten, dass auch diesmal die Kriegsfolgen gar nicht absehbare negative Entwicklungen begünstigen, darunter auch eine Eskalation des Terrors, den man bekämpfen will.

In diesem Sinne hat der Papst und Patriarch von Alexandreia Petros VII. jüngst dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Georg W. Bush, geschrieben: „Der Mittlere Osten ist ein sensitives Gebiet, das jetzt schon viel leidet. Ein solcher Krieg würde als Angriff auf den Islam gesehen. Solch ein Eindruck, auch wenn er falsch ist, hätte weitreichende und andauernde Konsequenzen für die Religionen, die Gläubigen und ihren Ruf. Religionen haben ihrem Wesen nach nichts mit Politik, mit Terrorismus und Krieg zu tun“.

Diesen Worten können wir uns nur anschließen: Ein Krieg kann nicht gerechtfertigt werden, solange es auch nur die geringste Möglichkeit zu einer anderen Lösung der strittigen Fragen gibt. Dazu gehört auch, dass die UN-Waffeninspekteure ihre Arbeit vollständig abschließen können. Jede Form eines Präventivschlages, der erfolgt, bevor jede, auch die geringste und aussichtslos erscheinende Chance zu einer friedlichen Lösung vergeblich genutzt worden ist, aber muss verurteilt werden.

In unserer Sicht sind jedoch bei weitem nicht alle Möglichkeiten ausgenutzt worden. Insbesondere gilt dies für internationale humanitäre Aktionen, die das Los der irakischen Bevölkerung bessern und – so darf man hoffen – diplomatischen Versuchen der Verständigung mit der irakischen Regierung neue Impulse geben würden. Ein Krieg würde aber jeden Ansatz hierzu zunichte machen.

So schließen wir uns allen an, die zum Frieden mahnen, und fordern jene, die dies noch nicht getan haben, auf, ein Zeichen des Friedens zu setzen und alles in ihrer Macht stehende zu tun, dass der Menschheit ein neuer Krieg erspart bleibt, dessen Folgen für uns alle schrecklich sein können.

Unsere Gläubigen und ihre Hirten rufen wir als Orthodoxe Kirche in Deutschland, die – wie alle Orthodoxen – in jedem Gottesdienst um den »Frieden von oben« beten, inständig dazu auf, Gott den Allmächtigen zu bitten, dass Friede in der ganzen Welt herrsche und Er die Führer aller Nationen und alle Völker erleuchte, mitzubauen an einer Welt, in der die Menschen keine Gewalt mehr gegen ihre Brüder und Schwestern anwenden, einer Welt, die das gottgegebene Leben liebt und in Gerechtigkeit und Solidarität zusammenwächst.

Dortmund, 29. Januar 2003

Für das Ökumenische Patriarchat: Augoustinos, Metropolit von Deutschland, Exarch von Zentraleuropa Für die Russische Orthodoxe Kirche: Longin, Erzbischof von Klin, Ständiger Vertreter der Russischen Orthodoxen Kirche in Deutschland Für die Serbische Orthodoxe Kirche: Konstantin, Bischof für Mitteleuropa Für die Rumänische Orthodoxe Kirche: Serafim, Metropolit von Deutschland und Zentraleuropa Für die Bulgarische Orthodoxe Kirche: Simeon, Metropolit von West- und Mitteleuropa

Text 9: Robert Bowman: Weil wir gehasst werden

Wenn wir uns weiterhin über die wahren Hintergründe des Terrorismus täuschen lassen, wird er uns so lange weiter bedrohen, bis wir vernichtet werden.

Die Wahrheit ist, dass keine unserer tausend Atomwaffen uns vor dieser Bedrohung schützen kann. Kein Star-War-System – ganz egal wie technisch hochentwickelt, ganz egal wie viele Milliarden Dollar hineingesteckt worden sind – kann uns vor einer Atomwaffe schützen, die in einem Segelboot oder in einer Cessna, in einem Koffer oder in einem Mietwagen ankommt. Nicht eine einzige Waffe in unserem riesigen Arsenal kann uns gegen eine Terroristenbombe schützen. Das ist eine militärische Tatsache.

Die Frage ergibt sich: Was können wir dann tun? Gibt es denn nichts, wodurch wir unseren Bürgern Sicherheit bieten können?

Doch! Aber um das zu begreifen, müssen wir die Wahrheit über die Bedrohung kennen. (…) Wir sind das Ziel der Terroristen, weil unsere Regierung fast weltweit für Diktatur, Sklaverei und Ausbeutung steht. Wir sind das Ziel der Terroristen, weil wir gehasst werden. Und wir werden gehasst, weil unsere Regierung hassenswerte Taten begangen hat. In wie vielen Ländern haben die Vertreter unserer Regierung Führer, die von der Bevölkerung gewählt waren, abgesetzt und durch Militärdiktaturen ausgetauscht, die nichts anderes als Marionetten und bereit waren, ihre eigenen Bürger an amerikanische Großkonzerne zu verkaufen?

Wir taten dies im Iran, als die US-Marine und das CIA Mossadegh absetzten, weil er die Ölindustrie nationalisieren wollte…

Wir taten dies in Chile. Wir taten dies in Vietnam. (…) Wieder und wieder haben wir angesehene Führer verdrängt, die den Reichtum des Landes unter den Leuten, die dafür gearbeitet haben, verteilen wollten.

Wir ersetzten sie durch mörderische Tyrannen, die ihre eigenen Leute verkauften, sodass der Reichtum des Landes durch Konzerne wie Domino Sugar, Folgers und Chiquita Banana ausgebeutet werden konnte.

In einem Land nach dem anderen hat unsere Regierung Demokratie vereitelt, Freiheit unterdrückt und ist auf den Menschenrechten herumgetrampelt. Deswegen wird sie rund um die Welt gehasst. Und deswegen sind wir das Ziel der Terroristen.

In Kanada genießen die Menschen Demokratie, Freiheit und Menschenrechte; ebenso die Menschen in Norwegen und Schweden. Hast du schon mal von einer kanadischen Botschaft gehört, die bombardiert wurde? Oder von einer norwegischen oder schwedischen?

Wir werden nicht gehasst, weil wir Demokratie ausüben, Freiheit schätzen oder die Menschenrechte unterstützen. (…) Sobald die Wahrheit erkannt ist, warum diese Bedrohung besteht, wird die Lösung klar: Wir müssen unsere Richtung ändern. Unsere Atomwaffen loszuwerden gegebenenfalls einseitig – wird unsere Sicherheit erhöhen, und eine drastische Änderung unserer Außenpolitik wird sie garantieren. Anstatt unsere Söhne und Töchter um die Welt zu schicken, um Araber zu töten, damit wir das Öl, das unter deren Sand liegt, haben können, sollten wir sie senden, um deren Infrastruktur wieder in Stand zu setzen, reines Wasser zu liefern und hungernde Kinder zu füttern. Anstatt damit weiterzumachen, tagtäglich Hunderte von irakischen Kindern durch unsere Sanktionen umzubringen, sollten wir den Irakern helfen, ihre Elektrizitätswerke, ihre Wasseraufbereitungsanlagen und ihre Krankenhäuser wieder aufzubauen. (…) Anstatt Aufstand, Zerrüttung, Mord und Terror weltweit zu unterstützen, sollten wir den CIA abschaffen und das Geld Hilfsorganisationen geben.

Kurzum, wir sollten Gutes tun anstelle von Bösem. Wer würde versuchen, uns aufzuhalten? Wer würde uns hassen? Wer würde uns bombardieren wollen? Das ist die Wahrheit, die die amerikanischen Bürger – und die Welt – hören müssen.

Robert Bowman war Militärpilot in Vietnam und ist heute Bischof der Vereinigten Katholischen Kirche in Melbourne Beach, Florida/USA. Seine Stellungnahme zum Phänomen terroristischer Angriffe auf die USA erschien im Frühjahr 1999, zweieinhalb Jahre vor dem 11.9., in DER PFLUG

Anmerkungen

1) So die deutschen katholischen Bischöfe im Hirtenwort vom 26.6.1941, zitiert nach Breuer, Thomas: Gehorsam, pflichtbewusst und opferwillig. Deutsche Katholiken und ihr Kriegsdienst in der Wehrmacht. In: Stimmen der Zeit 217 (1999) 37-44.

2) Papst Pius XII: Weihnachtsansprache 1944, zit. n. Stratmann, Franziskus Maria: Krieg und Christentum heute, Trier 1950, 54.

3) Aus der »Erklärung zu den Gefahren eines militärischen Angriffs auf den Irak« des Oekumenischen Rates der Kirchen (Zentralausschuss, Tagung v. 26.8.2002 bis 3.9.2002).

4) Eine – ebenfalls keineswegs vollständige – Übersicht über Stellungnahmen zum Irak-Krieg aus der Oekumene und den deutschen Kirchen findet sich unter http://www.ecunet.de/gewaltueberwinden/gew.aktuelles/gew_aktuelles.2/

5) Erklärung der französischen Bischofskonferenz; zitiert nach www.zenit.org 21.10.2002. Es sei darauf hingewiesen, dass die zitierte Formulierung deutlich zeigt, dass die katholische Kirche nicht umstandslos von Gewalt als letztem Mittel spricht, wie dies manche Politiker suggerieren und manche Journalisten unbedacht schreiben. Die Kategorie »letztes Mittel« ist eine notwendige Bedingung, ob sie hinreichend ist, muss erst noch unter Heranziehung der anderen »ganz strengen Bedingungen« geprüft werden.

6) Erklärung der Herbstvollversammlung vom 27.9.2002.

7) So Jim Winkler, Generalsekretär der Kommission Kirche und Gesellschaft der United Methodist Church in einen Brief an die Kirchenmitglieder vom 30.8.2002.

8) Es macht deshalb aktuell wenig Sinn die theologisch wie philosophisch/ethischen Argumente der verschiedenen Erklärungen im Detail kritisch zu diskutieren. Kritische Aufarbeitung kirchenamtlicher Friedenslehre ist zudem mehrfach bereits geleistet worden (vgl. nur Beestermöller, Gerhard / Glatzel, Norbert (Hg.): Theologie im Ringen um Frieden: Einblicke in die Werkstatt theologischer Friedensethik, Stuttgart 1995 und Haspel, Michael: Friedensethik und Humanitäre Intervention. Der Kosovo-Krieg als Herausforderung evangelischer Friedensethik, Neukirchen-Vlyun 2002). Eine erneute Darstellung würde das Neue der gegenwärtigen Situation, das eben nicht in der Lehre liegt, verdecken.

9) Erklärung der Herbstvollversammlung vom 27.9.2002.

10) ebd.

11) Johannes Christian Koecke: Zwischen Pfarrhaus und Pentagon. Ist die in sich stringente und folgerichtige Haltung der Kirchen im Irak-Konflikt noch auf der Höhe der veränderten Weltlage?, FR , 4.3.2003, S.7.

12) So die Französische Bischofskonferenz am 21.10.2002.

13) Dies ist der zentrale Vorwurf von Koecke in seinem Beitrag in der FR: „Die Bischöfe argumentieren aus einer Sicht der Welt vor dem 11.9.2001 und wenden anders als die Amerikaner und die Briten die neuen Fragen, die sich stellen, auf den jetzigen Fall nicht an.“ Unbegreiflich an solchen Passagen ist die pauschale Rede von „Amerikaner und Briten“. Gemeint sind die Regierungen, nicht das Volk und vergessen sind u.a. die amerikanischen wie britischen Kirchen, die seit Sommer 2002 ihre Regierungen auf Wege des Friedens zu drängen versuchen.

14) Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) vom 24.1.2003.

15) So die Erklärung des Bischofskollegiums und der Synodenpräsidentin der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Erklärung »Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein« vom 22.1.2003.

16) Aus der »Erklärung zu den Gefahren eines militärischen Angriffs auf den Irak« des Oekumenischen Rates der Kirchen (Zentralausschuss, Tagung v. 26.8.2002 bis 3.9.2002).

17) So die Hauptversammlung des Reformierten Bundes im Juni 2002.

18) So der Generalsekretär der Italienischen Bischofskonferenz, Guiseppe Betori, zitiert nach einem Bericht der Nachrichtenagentur zenit vom 30.1.2003.

19) So das Statement von 37 Kirchenführern aus USA, Großbritannien und Kanada vom 30.8.2002 »A Call to Stop the Rush to War«.

20) Katholische Nachrichten Agentur (KNA) vom 13.01.2003.

21) „Der Patriarch dankte dem Heiligen Vater für seine mutigen und wiederholten Stellungnahmen gegen das Embargo. (…) Im Irak sind wir gegenüber der Regierung und den Muslimen stolz auf diese Position des Papstes. Wir fühlen uns stark, weil wir uns als Teil der Kirche Jesu Christi empfinden“, so Jacques Isaak, der Generalsekretäre der Synode der chaldäischen Bischöfe in Bagdad (www.zenit.org v. 18.12.2001).

22) Zitiert nach www.zenit.org vom 27.1.2003, vgl. auch www.caritas.org.

23) So Jim Winkler, Generalsekretär der Kommission Kirche und Gesellschaft der United Methodist Church (UMC) in einen Brief an die Kirchenmitglieder vom 30.8.2002.

24) Am 18. Februar 2003 konnte inzwischen eine Delegation von Vertretern verschiedener Kirchen aus den USA und Großbritannien ein überraschend langes Gespräch mit dem englischen Premierminister Blair führen. Dan Weiss von der American Baptist Church USA erklärte, dass sich das erwartete nur 15-minütige Gespräch in eine Diskussion verwandelte, die fast eine Stunde dauerte und sagte: „Wir waren erfreut, den Premierminister zu treffen, während uns unser eigener Präsident nicht sehen will.“ (s. www.umc-europe.org / emknewsalt v. 24.2.2003)

25) So z.B. am 10.2.2003 und 17.2.2003 im Deutschlandfunk.

26) Nürtinger Zeitung vom 29.1.2003 bzw. www.emk-gfs.de

27) Zitiert nach www.zenit.org v. 20.2.2003.

28) Zitiert nach www.umc-europe.org / emknewsalt v. 24.2.2003.

29) Zitiert nach der Pressemitteilung der EKD vom 14. Februar 2003.

30) So der Osnabrücker katholische Bischof Franz-Josef Bode in einer Predigt vom 7.2.2003.

31) Zitiert nach www.zenit.org vom 31.1.2003.

32) Bischof Franz-Josef Bode, Predigt vom 7.2.2003.

33) Inzwischen hat auch der Bischof von Münster und der Bischof von Fulda eine ähnliche Aktion durchgeführt, ähnliche Aktionen haben u.a. auch in der Schweiz stattgefunden. Die traditionelle Zurückhaltung staatlichen und politischen Dingen gegenüber zerbricht immer stärker.

34) www.ZENIT.org vom 24. Februar 2003.

35) Interview mit der Stuttgarter Zeitung vom 4. Februar 2003.

36) IPNW Forum 79/03, S. 5.

37) Einzelne katholische Bischöfe gehen vorsichtig etwas weiter. So heißt es in einem Bericht über die Ansprache des Fuldaer Bischofs Heinz Josef Algermissen bei einem ökumenischen Friedensgebet: „Frieden bauen bedeute aber nicht, zu allem Ja und Amen zu sagen und um des lieben Friedens willen dauernd fünf gerade sein zu lassen“. Es könne eben auch einmal heißen, ungehorsam zu sein, gab der Bischof zu bedenken. „Denn immer dann, wenn der Ruf nach Ruhe und Ordnung das Übel beschwichtigt, verfault der Friede.“ Wer den Frieden wolle, dürfe die Auseinandersetzung um Wahrheit und Gerechtigkeit nicht scheuen, sondern er müsse mit dem Konflikt leben, um den Krieg zu verhindern. (…) Der Standpunkt „ohne mich“ sei falsch. „Werden Sie politisch aktiv! Politik verdirbt nicht den Charakter, schlechte Charaktere verderben vielmehr die Politik.“ Was mit dem Stichwort »ungehorsam« näher gemeint ist, bleibt allerdings offen.

38) Damit soll nicht bestritten werden, dass in einem gewissen Sinn die christlichen Kirchen bereits jetzt zu einem politischen Machtfaktor geworden sind. Ein guter Gradmesser für ihr politisches Gewicht ist die Massivität der Reaktionen auf politischer Seite, vgl. neben dem bereits mehrfach zitierten Artikel von J. Ch. Koecke vor allem Friedbert Pflüger: Die Kirchen, Luther und der Irak (Die Welt v. 7.2.2003). Beide Artikel versuchen verschiedene Kirchen gegeneinander auszuspielen, und greifen interessanterweise jeweils den ÖRK in äußerst unsachlicher Weise an. Es fällt schwer in diesen Ausfällen nicht eine Retourkutsche für die Unterstützung des deutschen Bundeskanzlers durch den ÖRK am 5.2.2003 zu sehen. Pflügers Ausführungen sind darüber hinaus für einen Theologen sehr interessant, auf grund der enormen Bedeutung, die er dem Glauben zuspricht. Es ist allerdings nicht der christliche Glaube. Pflügers Ausführungen sind durchzogen und getragen vom festen Glauben an die Güte, Lauterkeit und Uneigennützigkeit der derzeitigen Regierung der USA.

39) Stratmann, Franziskus Maria: Krieg und Christentum heute, Trier 1950, 22.

40) Heering, J. G.: Der Sündenfall des Christentums, Gotha 1930, S. 212.

41) Mayr, Kaspar: Der andere Weg. Dokumente und Materialien zur europäisch-christlichen Friedenspolitik, Nürnberg 1957, 224.

Dr. Thomas Nauerth, katholischer Theologe, Mitglied des Internationalen Versöhnungsbundes / Deutscher Zweig, seit September 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Theologie: Religionspädagogik und Pastoraltheologie (Prof. Dr. Egon Spiegel) des Institutes für Katholische Theologie der Hochschule Vechta

Von der »Komplementarität« zum »gerechten Frieden«

Von der »Komplementarität« zum »gerechten Frieden«

Zur Entwicklung kirchlicher Friedensethik

von Ulrich Frey

Aus kirchenkritischer oder kirchendistanzierter Sicht mögen sich manche friedensethische Konzeptionen der christlichen Großkirchen ausnehmen wie legitimatorische Begleitmusik zum jeweils herrschenden sicherheitspolitischen Betrieb. Demnach wäre von dieser Seite auch kaum Erhellendes zu militärpolitischen Vorstellungen jüngeren Datums von zivil-militärischer Zusammenarbeit zu erwarten. Der Autor des folgenden Beitrags zeigt aber, dass diese Sicht zumindest in dieser Pauschalität ein Vorurteil ist. So erwiesen sich die Leitungsgremien der EKD als vergleichsweise offen für Impulse aus der Friedensbewegung, und mit der Leitidee des gerechten Friedens scheint sich eine grundsätzlich militärkritische friedensethische Konzeption durchzusetzen. Ihr Verhältnis zum politisch immer noch und wieder verstärkt bevorzugten »Friedenschaffen mit Waffen« bleibt dabei allerdings unterbestimmt. Auch konnte hier i.W. nur die Diskussion im protestantischen Raum nachgezeichnet werden.

Wie hat sich die friedensethische Sicht des Verhältnisses von zivilem und militärischem friedens- und sicherheitspolitischem Handeln entwickelt? Der Aufsatz versucht, den Wandel der friedensethischen Paradigmen und Prioritäten von der Zeit der atomaren Hochrüstung der 60er Jahre bis zur heutigen, so genannten zivil-militärischen Zusammenarbeit auf der nationalen Ebene in der weltweiten Perspektive zu skizzieren.

Nach dem 2. Weltkrieg: »Nie wieder Krieg!«

Die Charta der Vereinten Nationen (VN) von 1945 beginnt in der Präambel mit einer geradezu bekenntnishaften Positionsbestimmung: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat …“ Die Charta spricht deshalb in Artikel 2 Absatz 4 ein allgemeines völkerrechtliches Gewaltverbot aus. Ausnahmen sind lediglich in Artikel 51 und Artikel 42 vorgesehen. Die erste Weltkonferenz und Gründungsversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), die 1948 zu Beginn des Ost-West-Konfliktes in Amsterdam stattfand, stellte in vergleichbarer Weise fest: Die „herkömmliche Annahme, dass man für eine gerechte Sache einen gerechten Krieg mit rechten Waffen führen könne, ist unter solchen Umständen (sc. unter den Bedingungen des ‚modernen Krieges’) nicht mehr aufrecht zu erhalten.“ Der ÖRK bezeugte einmütig: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ (zit. nach Huber & Reuter, 1990, S. 161). Damit war auch für den Bereich des ÖRK Krieg grundsätzlich geächtet.

Komplementarität der Gewissensentscheidungen

Beide deutsche Staaten, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, waren ab 1954 mit begrenzter Souveränität fest in die konkurrierenden Militärbündnisse der Supermächte USA und Sowjetunion, die NATO und die Warschauer Vertragsorganisation, eingebunden.

In der Bundesrepublik lösten die Aufstellung der Bundeswehr ab 1954, ihre Aufrüstung und vor allem ihre mögliche Teilhabe an der atomaren Bewaffnung der NATO eine heftige innenpolitische Kontroverse aus. Sie spitzte sich in der Frage zu, die besonders die Militärseelsorge anging: Ist der Einsatz von atomaren Waffen vor dem Gewissen des Soldaten friedensethisch zu vertreten? Auf Anregung von Militärbischof D. Hermann Kunst wurde 1957 eine unabhängige wissenschaftliche Kommission seitens der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) eingesetzt, die 1959 die »Heidelberger Thesen« zur Frage gegensätzlicher Gewissensentscheidungen zum Dasein von Atomwaffen verabschiedete (Verfasser Carl Friedrich von Weizsäcker; vgl. Howe, 1959).

Die Heidelberger Thesen wurden zwar nie förmlich von einer evangelischen Kirche beschlossen, etablierten sich aber als Kompromissformulierungen im deutschen Protestantismus. Sie setzen mit einer allgemein gültigen Aussage der Vernunft (nicht der Theologie!) zum Überleben der Menschheit ein – „Der Weltfrieden wird zur Lebensbedingung des technischen Zeitalters.“ (These 1) –, betonen die Notwendigkeit, den Krieg abzuschaffen (These 3), und führen dann die Komplementaritätsformel ein: „Wir müssen versuchen, die verschiedenen im Dilemma der Atomwaffen getroffenen Gewissensentscheidungen als komplementäres Handeln zu verstehen.“ (These 6) und „Die Kirche muss den Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen.“ (These 8)

Die Überlebensbedingung des Weltfriedens und die Drohung mit Atomwaffen stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Das »Noch« deutet die Verpflichtung der Gewissen zur Überwindung der atomaren Bedrohung an. Darauf hatte sich die politische Dynamik zu richten. Dieses »Gefälle« machte den Kern der Auseinandersetzung aus. Die atomare Drohung sollte nur für eine Übergangszeit gelten. Atomwaffen wurden als politische Waffen zwecks Abschreckung verstanden. Die Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 1981 postulierte die weitere Gültigkeit von These 8 „in einem Rahmen…, in welchem alle politischen Anstrengungen darauf gerichtet sind, Kriegsursachen zu verringern, Möglichkeiten gewaltfreier Konfliktbewältigung auszubauen und wirksame Schritte zur Senkung des Rüstungsniveaus zu unternehmen“ (Kirchenkanzlei der EKD, 1981, S. 58).

Komplementarität von »Friedensdiensten«

Der Gedanke der Komplementarität wurde im Laufe der politischen und theologischen Auseinandersetzung von der Gewissensfrage auf das Verhältnis von Wehrdienst und Zivildienst und alternativer Optionen der Friedenspolitik übertragen. Kurz und knapp kam das in der beim Deutschen Evangelischen Kirchentag 1967 in Hannover geprägten Formel „Friedensdienst mit und ohne Waffen“ zum Ausdruck. Sie wurde nie als offizielle Position beschlossen, setzte sich aber informell gegen den Widerstand derjenigen durch, die das im »Noch« der 8. Heidelberger These verborgene Gefälle zur Überwindung des Abschreckungssystems erhalten und politisch nutzen wollten. Die Formel bezog sich auf die atomaren und die vergleichbar zerstörerischen konventionellen Waffensysteme, insbesondere bei »Anwendung« auf deutschem Boden. Sie löste heftige Debatten aus, vor allem zwischen der damaligen Militärseelsorge einerseits und den Friedensgruppen („Frieden schaffen ohne Waffen“) und Kriegsdienstverweigerern andererseits, weil sie aus dem geschichtlich-dynamischen »Noch« ein statisch-geschichtsneutrales, anthropologisch verstandenes Und gemacht und damit die Überwindung der atomaren Rüstung demotiviert hatte (vgl. Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr, 1990). Die Thesenreihe der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD zum »Friedensdienst der Christen« (1969) rückte noch einmal den Gewissensentscheid in den Vordergrund und forderte den Ausbau der Friedensdienste: „Wie sich der Christ im Falle eines atomaren Krieges im Widerstreit seines Gewissens zu verhalten hat, lässt sich mit der These von der Komplementarität nicht mehr sagen… Durch die Komplementaritätsthese können die daraus entstehenden psychischen Belastungen für die Streitkräfte, die Politiker und jeden Bürger, die letztlich mit der Vorläufigkeit und Gefährdetheit heutiger Friedensbemühungen zusammenhängen, nicht einfach aufgehoben, sie müssen vielmehr für verstärkte Friedensanstrengungen eingesetzt werden.“ (ebd., S. 22)

Gegen den „Friedensdienst mit und ohne Waffen“ arbeiteten Kriegsdienstverweigerer und ihre Unterstützer in den verfassten Kirchen (z.B. Moderamen des Reformierten Bundes, 1982) sowie die christlich motivierten Friedensdienste durch Einrichtung von sozialen Lern- und Friedensdiensten und Entwicklungsdiensten sowie der Initiative »Ohne Rüstung leben« als Folge des Aufrufes der Vollversammlung des ÖRK in Nairobi 1975 an die Kirchen, „ihre Bereitschaft (zu) betonen, ohne den Schutz von Waffen zu leben und bedeutsame Initiativen (zu) ergreifen, um auf eine wirksame Abrüstung zu drängen.“ (zit. nach Huber & Reuter, 1990, S. 165) Die Friedensbewegung trug durch ihren Widerstand gegen die Nachrüstung erheblich zur Überwindung des Denkens und politischen Agierens in den Kategorien des Antikommunismus und der Abschreckung bei. Sie unterstützte die Entspannungspolitik der KSZE und einer »gemeinsamen Sicherheit«. Zusammen mit den Bewegungen in den Niederlanden und in anderen europäischen Ländern vertrat sie im Rahmen eines gradualistischen Verständnisses von Abrüstung die Forderung, einseitige Abrüstungsschritte zu gehen.

Ganz anderes als in der Bundesrepublik – ohne Auseinandersetzung über Komplementarität – verlief die Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Kirchen in der DDR hatten sich in einer von der SED gelenkten Gesellschaft zu behaupten, die die Kirchen bekämpfte. Sie mussten deshalb auch ihre eigenständige christliche Friedens-Botschaft dem Staat gegenüber, der das Monopol für Friedenspolitik für sich beanspruchte, deutlich zum Ausdruck bringen. Einen Militärseelsorgevertrag gab es nicht. Im Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht von 1962 war Kriegsdienstverweigerung nicht zugelassen. Erst 1964 wurde die Möglichkeit eines waffenlosen Militärdienstes in Baueinheiten der Nationalen Volksarmee geschaffen. In ihrer Handreichung zur Seelsorge an Wehrpflichtigen nahm die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR erstmals selbständig Stellung zum Problem von Frieden und Sicherheit im Atomzeitalter. Dort heißt es zur Frage des Verhaltens von wehrpflichtigen Christen in der DDR: „Vielmehr geben die Verweigerer, die im Straflager für ihren Gehorsam mit persönlichem Freiheitsverlust leidend bezahlen, und auch die Bausoldaten, welche die Last nicht abreißender Gewissensfragen und Situationsentscheidungen übernehmen, ein deutlicheres Zeugnis des gegenwärtigen Friedensgebotes unseres Herrn. Aus ihrem Tun redet die Freiheit der Christen von den politischen Zwängen. Es bezeugt den wirklichen und wirksamen Friedensbund Gottes mitten unter uns.“ (Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, 1982, S. 244). Den Vorrang für einen nicht militärisch gesicherten Frieden dokumentierten die Kirchen in der DDR nicht nur in der Frage der Kriegsdienstverweigerung, sondern auch gegen die »Sozialistische Wehrerziehung« (1978) und in der Stationierungsdebatte (1982), als es um die Aufnäher der DDR-Friedensbewegung »Schwerter zu Pflugscharen« ging. Die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) beschloss 1983 die Absage an „Geist, Logik und Praxis der Abschreckung“, wie es im gleichen Jahre schon die Vollversammlung des ÖRK in Vancouver im Zusammenhang mit dem dort ausgerufenen Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung getan hatte. Unterstützt wurden die Kirchen in der DDR durch die Ökumene, insbesondere durch die Nederlandse Hervormde Kerk und durch den von den niederländischen Kirchen ins Leben gerufenen Zwischenkirchlichen Friedensrat.

Erst nachdem 1991 die Sowjetunion implodierte, war das Konstrukt der Komplementarität endgültig insoweit hinfällig, als die Strategie der nuklearen Abschreckung der beiden atomaren Supermächte USA und Sowjetunion betroffen war. Jetzt erst konnten die Kirchen in der Bundesrepublik und in der DDR eine gemeinsame Position zur nuklearen Abschreckung beziehen: Die Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD, in der nun auch Personen aus den ostdeutschen Kirchen mitarbeiteten, befand 1994 unter Bezug auf die neue Weltlage: „Heute kann und muss darum in der evangelischen Kirche die Verständigung darüber möglich sein, dass eine am Vorrang der politischen Friedensaufgabe orientierte Position, die die Existenz der nuklearen Abschreckung als Mittel auf dem Wege akzeptierte, und eine Position der Absage an die nukleare Abschreckung sich nicht überhaupt als unversöhnliche Gegensätze ausschließen, sondern – durchaus situationsbedingt – Ausdruck des Dilemmas waren, in das wir durch die Ausgestaltung der Ost-West-Konfrontation gestellt waren. Das Dilemma und der von ihm verursachte Dissens bestehen heute insofern noch fort, als auch nach dem Ende des Systems nuklearer Abschreckung Atomwaffen in großer Zahl vorhanden sind und sogar ihre Weiterentwicklung droht. Das Ziel der atomaren Abrüstung ist ethisch begründet und politisch sinnvoll… Auf jeden Fall muss auf die internationale Ächtung der Atomwaffen hingearbeitet werden.“ (Kirchenamt der EKD, 1994/2001, S. 13) Die »Komplementarität« des Dienstes mit konventionellen Waffen und der Friedensdienste blieb aber erhalten: „Eine ‚vorrangige Option für die Gewaltfreiheit’, die sich verantwortungsethisch versteht und sich darum zum Schutz von Gewaltopfern bekennt, und der Grenzfall des Einsatzes präventiv bereit gehaltener militärischer Gewalt schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sind notwenige Bestandteile einer auf der Herrschaft des Rechts gegründeten internationalen Friedensordnung. Die Kirche kann dementsprechend weder den Waffendienst noch den gewaltfreien Friedensdienst exklusiv vertreten.“ (ebd., S. 23; vgl. auch Kock, 2003).

Leitbild des gerechten Friedens

Das ökumenisch akzeptierte Leitbild des gerechten Friedens ist – nach einer langen Vorgeschichte – das Ergebnis des bei der Vollversammlung des ÖRK in Vancouver 1983 begonnenen weltweiten sog. konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Der konziliare Prozess sucht eine gewaltfreie bzw. gewaltarme Antwort auf die Frage, welche Ethik aus der Sackgasse der Rüstung, der Verelendung und der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen herausführen könne. In Vancouver brachte die Delegation des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR diese Idee ein. Der Beschluss ging dann von einer Koalition der Basis bei der Versammlung aus, nicht von Kirchenleitungen. Er wurde in der Folge auch von ökumenisch ausgerichteten Initiativen und Gruppen in die verfassten Kirchen – evangelisch und katholisch – hineingetragen, und in Deutschland und weltweit durch die Ökumenischen Versammlungen von 1984 bis 1997 in den verfassten Kirchen verankert.

Das neue Leitbild setzte in der Abkehr von der Komplementarität der Gewissensentscheidungen oder der »Friedensdienste« ein neues Paradigma: Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor. Die »prima ratio« hat auf staatlicher und gesellschaftlicher Seite der Einsatz von gewaltfreien Strategien, Mitteln und Methoden zu sein. Erstmals wurde damit ein »gerechter Friede« als Lehre und als Gegensatz zum »gerechten Krieg« ausdrücklich von der Ökumenischen Versammlung Dresden – Magdeburg – Dresden im Jahre 1989 noch vor der großen politischen Wende im Ost-West-Verhältnis gefordert: „Mit der notwendigen Überwindung der Institution des Krieges kommt auch die Lehre vom gerechten Krieg, durch welche die Kirchen den Krieg zu humanisieren hofften, an ein Ende. Daher muss schon jetzt eine Lehre vom gerechten Frieden entwickelt werden, die zugleich theologisch begründet und dialogoffen auf allgemein-menschliche Werte bezogen ist. Dies im Dialog mit Andersglaubenden und Nichtglaubenden zu erarbeiten, ist eine langfristige ökumenische Aufgabe der Kirchen.“ (Kirchenamt der EKD, 1991, S. 32) Die römisch-katholische Kirche mit dem Wort der Bischöfe »Gerechter Friede« (2000), der Zentralausschuss des Ökumenischen Rates in Potsdam 2001, die EKD 2001, viele kirchenleitende Voten sowie Erklärungen von Initiativen und Gruppen haben der Dresdener Forderung von 1989 zugestimmt.

Nimmt man die Inhalte dieser und anderer Quellen zusammen, so lässt sich die Botschaft des gerechten Friedens kurz so fassen:

  • Der gerechte Friede kann nicht als die bloße Abwesenheit von Krieg verstanden werden, sondern als ein umfassendes konstruktives Programm zur Durchsetzung der vorrangigen Optionen zugunsten der Armen, der Gewaltfreiheit und der Förderung und des Schutzes des Lebens.
  • Der gerechte Friede ist ein offener, geschichtlich-dynamischer Veränderungsprozess mit immer neuen Anstrengungen zur Verminderung oder gar Überwindung der sich wandelnden Ursachen von Unfrieden, welche sind: Not, Gewalt, Unfreiheit und destruktive Aggressivität aus Angst.
  • Leitlinien dieses Prozesses sind weltweit geltende Normen und Werte wie Demokratie und Menschenrechte, sowie die Forderung nach einer Weltinnen- und Weltordnungspolitik.
  • Das Leitbild des gerechten Friedens zielt darauf, kriegerischer Gewalt überhaupt die Legitimation zu entziehen, also das Kriegführen moralisch zu ächten, politisch überflüssig zu machen und von Rechts wegen zu verbieten. (vgl. Evangelische Kirche im Rheinland, 2005, S. 7)

Der zeitgeschichtliche Hintergrund ist die Erkenntnis auch der Militärs, dass militärische Einsätze im Falle z.B. innerstaatlicher Konflikte oder des Zerfalls von Staaten keine dauerhafte Lösung bringen. Die Diskussion, ob und unter welchen Voraussetzungen angesichts neuer Rahmenbedingungen nach welchen Kriterien im »Grenzfall« – als ultima ratio – dennoch militärische Gewalt eingesetzt werden darf, ist Gegenstand einer anhaltenden völkerrechtlichen, politologischen und theologischen Auseinandersetzung. Die Konzeption des gerechten Friedens ist nicht Leitbild im Sinne eines grundsätzlichen Pazifismus (vgl. Die deutschen Bischöfe, 2000, Ziff. 66, 124 und 181). Militärisches Eingreifen als Element eines Handelns in Richtung Frieden ist also nicht ausgeschlossen, aber eben kein friedensethisch gleichwertiges oder gar vorrangiges und in diesem Sinne kein »komplementäres« Element mehr. Das neue Leitbild hilft, die Koordinaten des außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Handelns neu zu bestimmen, die Menschenrechte als politisches Instrument zu schärfen und die zivile Bearbeitung von Konflikten zu entwickeln.

Der spürbare politische Trend bei den VN, der EU und auf der nationalen Ebene, militärische Elemente mit zivilen zu verbinden, erfordert eine kritische Diskussion über das Verständnis von »Sicherheit« im globalen Maßstab. Gegenwärtig dreht sich die Debatte um die Schnittstellen von zivilen und militärischen Einsätzen in der Perspektive der Stärkung von Demokratie und Menschenrechten. Sie resultiert aus zahlreichen militärischen Einsätzen innerhalb oder außerhalb der VN oder der EU vor dem Hintergrund sich wandelnder Bedrohungsvorstellungen. Grundsätzlich konkurriert ein auf entschränkte (eigene) »Verteidigung« abstellender Sicherheitsbegriff (NATO, verteidigungspolitische Richtlinien, Europäische Sicherheitsstrategie) mit dem begrenzenden UN-Konzept der »menschlichen Sicherheit«, das den Schutz von Menschen in den Mittelpunkt stellt. Die Debatte ist kontrovers insbesondere zur Frage, welche friedenspolitische Bedeutung die Einsätze des Militärs im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, der humanitären Hilfe und der Katastrophenhilfe haben. Zusätzliche aktuelle Bedrohungen des Friedens ergeben sich aus der Privatisierung von »Sicherheit« durch eine florierende »Sicherheitsindustrie« und aus der Proliferation von Atomwaffen. Abzuwarten bleibt, welche klärenden Aussagen die gegenwärtig in Arbeit befindliche neue Friedensdenkschrift der EKD machen wird, die den Leitbegriff des gerechten Friedens zum Mittelpunkt hat. Von Interesse ist auch, wie die Militärseelsorge beider Konfessionen ihren friedensethischen Bildungsauftrag im Verhältnis zur Führung der Bundeswehr (vgl. Löser, 2006) formuliert.

Literatur

Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste (Hrsg.) (1982): Christen im Streit um den Frieden. Dreisam, Freiburg.

Die deutschen Bischöfe (2000): Gerechter Friede. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn.

Evangelische Kirche im Rheinland (Hrsg.) (2005): Ein gerechter Friede ist möglich, Argumentationshilfe zur Friedensarbeit. Autor: Ulrich Frey. Landeskirchenamt, Düsseldorf. Verfügbar unter: http://www.ekir.de [Zugriff: 27.06.06].

Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr (Hrsg.) (1990): Streitkräfte im Wandel. Soldat – Schutzmann für den Frieden. Lutherisches Verlagshaus, Hannover.

Huber, Wolfgang & Reuter, Hans-Georg (1990): Friedensethik. Kohlhammer, Stuttgart.

Howe, Günther (1959): Atomzeitalter – Krieg und Frieden. Ullstein, Berlin.

Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD (Hrsg.) (1969): Friedensdienst der Christen. Mohn, Gütersloh.

Kirchenkanzlei der EKD (Hrsg.) (1981): Frieden wahren, fördern und erneuern. Mohn, Gütersloh.

Kirchenamt der EKD (Hrsg.) (1991): Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung Dresden – Magdeburg – Dresden. EKD-Texte 38. Herausgeber, Hannover.

Kirchenamt der EKD (Hrsg.) (1994/2001): Schritte auf dem Weg des Friedens. EKD-Texte 48. Herausgeber, Hannover.

Kirchenamt der EKD (Hrsg.) (2001): Friedensethik in der Bewährung. Eine Zwischenbilanz. EKD-Texte 48. Herausgeber, Hannover.

Kock, Manfred (2003). Friedensdienst als Auftrag für die verfasste Kirche und unabhängige christliche Friedensdienste. Ansprache zur Mitgliederversammlung der AGDF in Weisendorf (Erlangen), 26. Sept. 2003. Verfügbar unter: http://www.ekd.de/vortraege/kock/030926_kock_friedensdienst_html [Zugriff: 19.06.06].

Löser, Wolf-Dieter (2006): Ethische Grundsätze der Bundeswehr – besondere Bedeutung vor dem Hintergrund des neuen Aufgabenspektrums. Europäische Sicherheit, 55 (6). Verfügbar unter: http://www.europaeische-sicherheit.de [Zugriff: 14.08.06].

Moderamen des Reformierten Bundes (Hrsg.) (1982): Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche. Mohn, Gütersloh.

Zentralausschuss des ÖRK (2001): Der Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt: Ein ökumenischer ethischer Ansatz. epd-Dokumentation 8/01. Verfügbar unter: http://www.wcc-coe.org/wcc/who/cc2001/pi2rev-g.html [Zugriff: 14.08.06]

Ulrich Frey, Assessor iur., langjähriger Geschäftsführer der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF), Mitglied des Ausschusses für Außereuropäische Mission und Ökumene der Evangelischen Kirche im Rheinland

Weltfrieden durch ein Weltethos?

Weltfrieden durch ein Weltethos?

Frieden mit friedlichen Mitteln!

von Albert Fuchs

Dem friedensethisch und friedenspolitisch motivierten »Projekt Weltethos« des Tübinger Theologen Hans Küng liegt ein vergleichsweise einfaches Rationale zugrunde: Durch interkulturellen und interreligiösen Dialog zu einem globalen Ethos, durch ein globales Ethos zu Religionsfrieden und durch Religionsfrieden zum Weltfrieden. Diese Vereinfachung des Zusammenhangs zwischen Weltethos und Weltfrieden muss u.a. im Hinblick auf die eingeschränkte Konflikt-Relevanz religiöser Differenzen korrigiert werden. Dann erscheint eine strikt dialogische Orientierung bei kollektiven Auseinandersetzungen unterschiedlicher Art als Kern eines friedensförderlichen Weltethos. Eine solche Orientierung impliziert im Besonderen – anders als anscheinend von den Promotoren der Weltethos-Idee gesehen – den prinzipiellen und konsequenten Verzicht auf (die Androhung und Anwendung von) Gewalt.

Friedenswissenschaft und Friedenspsychologie sind in vielfacher Hinsicht auf moralische und ethische Fragen bezogen. Vor allem bilden Gerechtigkeits- und Reziprozitätsvorstellungen i.d.R. den Kern von Konfliktkonstellationen. Andererseits sind solche Konstellationen das Hauptanwendungsfeld ethischer Prinzipien und Normen und der Verfall des kognitiv-moralischen Funktionsniveaus der Kontrahenten gilt als adäquater Indikator der Konflikteskalation (z.B. Glasl, 1980 – zit. nach Eckert & Willems, 1992). Insofern liegt es nahe, die Stärkung des moralischen Bewusstseins als prophylaktische Maßnahme gegen destruktive Eskalationsprozesse zu betrachten und zu propagieren.

Dem von dem Tübinger Theologen Hans Küng zu Beginn der 1990er Jahre initiierten und seither breit diskutierten »Projekt Weltethos« (Küng, 1990/2003; Küng & Kuschel, 1993a ; vgl. Hasselmann, 2001) scheint genau dieses Rationale zugrunde zu liegen. Jedenfalls schreiben ihm seine Promotoren weit reichende friedenspolitische Bedeutung zu. Das kommt prägnant in drei viel zitierten Thesen Küngs zum Ausdruck: „Kein Überleben ohne Weltethos. Kein Weltfriede ohne Religionsfriede. Kein Religionsfriede ohne Religionsdialog.“ (Küng, 2003, S. 13 und passim). Bisweilen wird diese Bedeutungszuschreibung nochmals gesteigert, indem einschlägige Konzepte im Sinne hinreichender Bedingungen aufeinander bezogen werden, z.B.: „Weltfrieden durch Religionsfrieden“ (Küng & Kuschel, 1993b).

Mein Punkt ist genau dieser Bedeutungsanspruch. Ich möchte der Frage nachgehen, unter welchen Bedingungen ein globales Ethos plausiblerweise Religionsfrieden befördern und Religionsfrieden seinerseits zum Weltfrieden beitragen kann. Im Besonderen geht es mir um die Frage, wie ernst die substanzielle Weltethos-Komponente „Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben“ (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 29; s.u.) zu nehmen ist, wenn dieses Ethos die behauptete Bedeutung haben soll.

In der »Erklärung zum Weltethos« (Parlament der Weltreligionen, 1993) wird ausdrücklich „ein konsensfähiger mittlerer Wegzwischen einer›Realpolitik‹ der Gewalt zur Konfliktlösung und einem unrealistischen unbedingten Pazifismus“ (Küng, 1993a, S. 77f.) eingeschlagen. Dagegen läuft die im Untertitel angedeutete Antwort auf diese Frage auf einen »Gandhismus« ziemlich pur hinaus. Entsprechend dem Motto „Der Weg ist das Ziel“, möchte ich begründen, dass die Antwort lauten muss: „Frieden mit friedlichen Mitteln!“ Zunächst ist jedoch die Küngsche Konzeption näher zu erläutern.

Grundzüge der Weltethos-Konzeption

Die Erklärung zum Weltethos ist Ergebnis eines mehrjährigen interreligiösen Dialogs. Am Beginn stand ein Grundlagenreferat Hans Küngs zu einem von der UNESCO in Paris im Frühjahr 1989 ausgerichteten Symposium zum Thema »Pas de paix entre les nations sans paix entre les religions« (Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden). Verschiedene Zwischenschritte, unter Einbezug von mehr als hundert Experten aus allen größeren Religionen in den Konsultationsprozess, führten schließlich zur Annahme der Erklärung durch das »Zweite Parlament der Weltreligionen« in Chicago 1993 (Hasselmann, 2001; Küng, 1993a).1 Entsprechend diesem Verfahren der historisch-interpretativen Auswertung der ethischen Traditionen diverser Religionen ist die »Erklärung zum Weltethos« zunächst eine interreligiöse Proklamation eines Grundkonsenses „bezüglich verbindender Werte, unverrückbarer Maßstäbe und moralischer Grundhaltungen“ (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 20). Insbesondere in Vorwegnahme eines „Einspruch(s) der Buddhisten“ wurde jedoch von vornherein auf jede Erwähnung Gottes verzichtet (Küng, 1993a, S. 69ff.). Die Erklärung appelliert an „alle Menschen, ob religiös oder nicht“, sich diesen Grundkonsens zu eigen zu machen (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 42).

Der fragliche Konsens erfordert eine Unterscheidung von elementarem und kulturell differentem Ethos. Er bezieht sich nur auf die elementaren ethischen Grundlagen menschlichen Zusammenlebens und gemeinsamen Handelns, soll also keinen ethischen Total-, sondern einen Minimalkonsens darstellen. Mengentheoretisch gesprochen geht es um die Schnittmenge der ethischen Gehalte unterschiedlicher (religiöser) Traditionen. Inhaltlich wird diese Schnittmenge zunächst in sehr allgemeiner Weise gekennzeichnet. Einerseits kommt sie in der »Grundforderung« zum Ausdruck, jeden Menschen „menschlich“ zu behandeln, seine „unveräußerliche und unantastbare Würde“ zu respektieren, ihn „immer Rechtssubjekt und Ziel, nie bloßes Mittel“ sein zu lassen (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 26f.). Anderseits gilt die in vielen ethischen und religiösen Traditionen nachweisbare »Goldene Regel« als eine adäquate Formulierung dieser Grundforderung. Diese Regel fordert bekanntlich die wechselseitige Respektierung der Bedürfnisse und Interessen der Interaktionspartner.

Die Plausibilität dieser allgemeinen Formeln erleichtert den Konsens über ihre Orientierungsfunktion für moralisierbares Handeln. Ihre Allgemeinheit lässt jedoch auch kulturell, gesellschaftlich und individuell differente Lesarten zu und erschwert damit wechselseitig verbindliche Beurteilungen und Orientierungen in bestimmten Problemsituationen. Eine Konkretisierung der Grundforderung mit Bezug auf wichtige Sektoren der menschlichen Lebenswelt ist unabdingbar. Sie wird in einem ersten Schritt erreicht durch vier »unverrückbare Weisungen«. Diese Weisungen verpflichten auf eine Kultur

  • „der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben“,
  • „der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung“,
  • „der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit“ und
  • „der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau“ (Parlament der Religionen, 1993, S. 29-40).

Diese inhaltlichen Konkretisierungen eines auf „das Wohl und die Würde des Menschen als Grundprinzip und Handlungsziel“ (Küng, 2003, S. 81) ausgerichteten Weltethos gelten einerseits als Garanten der „unverletzliche(n) Würde und unveräußerliche(n) Rechte“ jedes Einzelnen (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 41). Sie sollen andererseits erlauben, der „unabweisbare(n) Verantwortung für das, was (man) tut und nicht tut“ zu entsprechen (ebd.) und der „planetarischen Verantwortung der Weltgesellschaft für ihre eigene Zukunft“ gerecht zu werden (Küng, 2003, S. 51f.).

In der transkulturellen Verbreitung der »Goldenen Regel« sieht Küng (1993a) einen eindrucksvollen Beleg dafür „dass das gemeinsame Weltethos der Religionen keine Neuerfindung, sondern nur eine Neuentdeckung ist.“ (S. 81f.) Darüber hinaus wird ausdrücklich „weder eine Weltideologie, noch eine einheitliche Weltreligion jenseits aller bestehenden Religionen noch eine Mischung aus allen Religionen“ bezweckt (Küng & Kuschel, 1993a, S. 9). Was soll dann aber eigentlich, mag man fragen, ein »Projekt Weltethos«? Hat das nicht zur Voraussetzung, dass noch kein globales Ethos existiert? Wenn aber kein globales Ethos existiert, kann auch kein »Projekt Weltethos« eins herbeizaubern. Ist also ein solches Projekt nicht in jedem Fall überflüssig? Obwohl die Weltethos-Erklärung sich diesen Fragen nicht ausdrücklich stellt, sind einige Antworten darauf angedeutet.

  • So wird ein „Wandel des Bewußtseins beim Einzelnen und der Öffentlichkeit“ avisiert (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 41). Offensichtlich geht es um nichts Geringeres als um die Entstehung einer neuen kollektiven Identität durch Verwandlung einer distributiven Gemeinsamkeit (gleiches elementares Ethos) in eine kollektive Gemeinsamkeit (geteiltes elementares Ethos), um die Konstituierung eines »moralischen Wir«. Das würde bedeuten, dass dieses Ethos derart selbstverständlich ist, dass jeder von seiner Existenz und Wirksamkeit beim andern über alle kulturellen und religiösen Differenzen hinweg ausgeht und darüber hinaus annimmt, dass der andere ihm Gleiches unterstellt.
  • Von einem Projekt zu reden, macht zweitens insofern Sinn, als „für viele umstrittene ethische Einzelfragen“ und „in vielen Lebensbereichen“ und „für möglichst viele Berufsklassen“ im Geiste des Grundkonsenses „sachgerechte Lösungen“ erst noch zu finden wären (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 41f.).
  • Drittens kommt es letztlich auf die Lebenspraxis an, d.h. auf die effektive Entwicklung „sozialverträgliche(r), friedensfördernde(r) und naturfreundliche(r) Lebensformen“ (ebd., S. 42).
  • Aus kritisch-philosophischer Sicht ist viertens zu ergänzen, dass Küngs Ansatz, so vorrangig zunächst der historisch-empirische Aufweis allgemeingültiger und konsensfähiger normativer Prinzipien sein mag, doch um die Erörterung von reflexiven Begründungsfragen nicht herumkommt (Fahrenbach, 2001).

Dem Küngschen Projekt liegt demnach eine Unterscheidung von potenziellem (implizitem) und aktualisiertem (explizitem) Weltethos zugrunde, von Weltethos und Weltethos*. Klar scheint im Hinblick auf die vorgenannten Dimensionen auch zu sein, dass diese Aktualisie rung immer nur annäherungsweise erfolgen kann, die Weltethos*-Idee also eine Leitidee bleiben muss. Die besondere friedenspolitische Bedeutung wird dem Aktualisierungsprozess bzw. dessen (Zwischen-) Ergebnissen zugeschrieben, also dem wie auch immer vorläufigen Weltethos*. Wichtig ist im Zusammenhang meiner Leitfrage (s.o.) vor allem, dass die Aktualisierung nur strikt dialogisch erfolgen kann, d.h.

  • in wechselseitig symmetrischer Anerkennung der Teilnehmer,
  • unter konsequentem Verzicht auf Zwangsmacht und Gewalt und
  • vor dem Hintergrund des regulativ unterstellten Grundkonsenses über die »Goldene Regel« o.Ä.

Insbesondere würde der Einschluss von Zwangsmacht oder Gewalt auf einen Widerspruch zu diesem Bezugspunkt und damit auch auf einen pragmatischen Selbstwiderspruch hinauslaufen.

Religionsfrieden via Weltethos*?

Die erläuterte Aktualisierung des Weltethos setzt im Hinblick auf die Zuständigkeit bzw. auf den Zuständigkeitsanspruch der Religionen für Fragen der Moral und Ethik zwar interreligiös an, dreht sich aber nicht um religiöse Fragen oder Religionsfrieden i.e.S. Was aber könnte das Weltethos* leisten, wenn es genau darum geht?

Zur Präzisierung dieser Frage ist zunächst daran zu erinnern, dass religiöse Systeme facettenreiche, mehrdimensionale Gebilde darstellen. So unterscheidet der Soziologe Glock (1969) auf religionsvergleichender Basis fünf grundlegende Ausdrucksformen oder Kerndimensionen von Religiosität: Religiöse Erfahrung, Ideologie, Ritus, Wissen und säkulare Konsequenzen. Dieser mehrdimensionale Bezugsrahmen hat sich inzwischen in zahlreichen empirischen Studien zur religiösen Orientierung bewährt (vgl. Huber, 1996). Trotz der augenscheinlich unterschiedlichen Gewichtung der einzelnen Dimensionen in verschiedenen Religionen kann daher seine generelle Relevanz unterstellt werden.

In unserem Zusammenhang erfordert die ideologische Dimension besondere Aufmerksamkeit. Mit dieser Dimension wird dem Umstand Rechnung getragen, dass jede Religion bestimmte Glaubensaussagen beinhaltet bzw. jeder religiöse Mensch sich zu bestimmten Glaubensaussagen bekennt. Das aber bedingt einen strukturellen Konflikt: Der Ausschließlichkeit des jeweiligen (absoluten) Wahrheits- und (universellen) Geltungsanspruchs steht der Pluralismus der religös-weltanschaulichen Deutungsangebote entgegen (Lütterfelds, 2001). Zur Entschärfung dieses Konflikts und damit zur Erreichung von Religionsfrieden via Weltethos* stellt Küng (z.B. 1993b) – unverkennbar in der Tradition von Lessings (1779) Nathan der Weise – auf die „Grundnorm echter Menschlichkeit“ als Wahrheitskriterium ab: „Nach dieser Grundnormlassen sich gut und böse, wahr und falsch unterscheiden, lässt sich auch unterscheiden, was in der einzelnen Religion grundsätzlich gut und böse, was wahr und was falsch ist.“ (ebd., S. 38)

Dieser Weg zu Religionsfrieden via Weltethos* kann jedoch nicht recht überzeugen. Zum einen dürfte eine solche Hierarchisierung der religiösen Ausdrucksformen selbst strittig sein. Zum anderen sind Wahrheit und Geltung einer Weltdeutung nicht Angelegenheit ihres ethischen Gehalts und erst recht nicht Funktion der Moralität ihrer Anhänger. Vor allem aber läuft diese »Lösung« inhaltlich-sachlicher Konflikte aufgrund der konkurrierenden Wahrheits- und Geltungsansprüche auf eine Nichtannahme der wechselseitigen Herausforderungen hinaus und damit auf eine Verleugnung des strukturellen Konflikts.

Andererseits existieren Wahrheit und Geltung nur in Form individueller und kollektiver Praxis des Für-wahr-Haltens und Geltend-Machens. Als soziales Verhalten unterliegt diese Praxis (auch) moralischen Kriterien. Damit kommt das Weltethos* nun doch als Grundlage eines ökumenischen (interreligiösen) Dialogs ins Spiel. Religionsfrieden kann es aber nur insoweit befördern, als es insbesondere lebenspraktisch aktualisiert wird (s.o.) und auf diese Weise den Konflikt der Überzeugungen und Bekenntnisse entschärft (Lütterfelds, 2001). In der Geschichte der Christenheit jedenfalls führten intensive Religionsgespräche, trotz des (bewussten) gemeinchristlichen Ethos, wiederholt zu blutigen Kriegen. Man wird also an einen friedensförderlichen interreligiösen Dialog i.e.S. grundsätzlich die gleichen Anforderungen stel len müssen wie an den Dialog zur Erarbeitung des Weltethos*:

  • wechselseitig symmetrische Anerkennung der Teilnehmer,
  • konsequenter Verzicht auf Zwangsmacht und Gewalt und wohl auch
  • Orientierung an der regulativen Idee einer Konvergenz der religiösen Wahrheit(en).

Weltfrieden durch Religionsfrieden?

Vor Erörterung dieser Frage ist eine Anmerkung zur Begrifflichkeit angebracht: Der Ausdruck »Weltfrieden« steht in diesem Zusammenhang offensichtlich nicht für den Oberbegriff zu den Begriffen Religionsfrieden und politischer Frieden. Denn dann ergäbe sich rein begriffslogisch, dass Religionsfrieden Weltfrieden impliziert. Soll es aber um ein empirisches Verhältnis gehen, muss mit »Weltfrieden« der politische Frieden gemeint sein. Ob ein in der geschilderten Weise gestifteter oder gewahrter Religionsfrieden zum Weltfrieden in diesem engeren Sinn beizutragen vermag, hängt aber davon ab, welche Rolle die Religion in »weltlichen« Konflikten spielt. In Zeiten eines weltweiten, fundamentalistisch (islamistisch) inspirierten Terrorismus und entsprechend fundamentalistischer Staatsterrorismen scheint auf den ersten Blick außer Frage zu stehen, dass Religionen einen wesentlichen Einfluss auf das Konfliktgeschehen ausüben. Nach Hasenclever & Rittberger (2000; Rittberger & Hasenclever, 2001) ist jedoch die wissenschaftliche Analyse keineswegs eindeutig; drei Sichtweisen konkurrieren um eine überzeugende Deutung der schwierigen Beziehung zwischen Religion und kriegerischer Gewalt.

In der sog. primordialistischen Perspektive stellen kulturell-religiöse Gegensätze als Konflikthintergrund oder Konfliktgegenstand originäre Ursachen gewaltförmiger Konfliktaustragung innerhalb von und zwischen Gesellschaften dar. Eine zeitgeschichtlich akzentuierende Version des primordialistischen Ansatzes ist Huntingtons (1993) viel diskutierte These von einem »Kampf der Kulturen« (clash of civilizations). Danach ist der Wandel der Weltpolitik nach Überwindung der Ost-West-Konfrontation i.W. als Neuausrichtung der Menschen und Völker nach indentitätsstiftenden religiös-kulturellen Deutungssystemen zu verstehen. Diese Neuausrichtung soll zu dramatischen Homogenisierungs- und Polarisierungsprozessen geführt haben oder führen, die mit gewaltförmigen Konflikten einhergehen.

Würde die primordialistische Sicht die Sachlage adäquat erfassen, hätte interreligiöser Frieden natürlich eine enorme unmittelbare Bedeutung für die inner- und zwischengesellschaftliche Konfliktaustragung. Mit der empirischen Bestätigung dieser Perspektive steht es aber eher schlecht. Bei Versuchen, beispielsweise die Huntington-These empirisch zu prüfen, konnte weder ein signifikanter Zusammenhang zwischen der religiös-kulturellen Heterogenität von Gesellschaften und ihrer Bürgerkriegsneigung nachgewiesen werden, noch ein Zusammenhang von religiös-kultureller Distanz zwischen Gesellschaften und deren kriegerischer Verwicklung (vgl. Chiozza, 2002). Der gewaltsame Verlauf der meisten inner- und zwischenstaatlichen Konflikte kann andererseits mit Hilfe der (traditionellen) Kategorien der Macht – und Interessenkonkurrenz erklärt werden. So liegt eher eine instrumentalistische Perspektive nahe. Danach können religiös-kulturelle Gegensätze zwar zur Konfliktverschärfung beitragen – von Kriegsunternehmern dazu benutzt werden –, jedoch kaum die Konflikte verursachen. Als Ursachen von Aufruhr und kriegerischer Gewalt gelten grundsätzlich politische und sozioökonomische Ungleichheiten und Begehrlichkeiten. Entsprechend bescheiden müssen bei dieser Sicht der Dinge die Erwartungen ausfallen, den Weltfrieden durch Religionsfrieden zu befördern.

In Anbetracht im Besonderen der Angewiesenheit von Kriegsherren auf das legitimatorische Potenzial religiös-weltanschaulicher Systeme präferieren Hasenclever & Rittberger (2000; Rittberger & Hasenclever, 2001) eine konstruktivistische Perspektive, die sie „irgendwo zwischen Primordialismus und Instrumentalismus“ verorten (2000, S. 647). Der Konstruktivismus teilt mit der instrumentalistischen Sicht die Überzeugung, dass Macht und Interessen entscheidende Bedeutung für politische Prozesse haben; und ebenso schreibt er politischen Führern und ihrer mobilisierten Anhängerschaft eine zentralen Rolle zu, vor allem im Hinblick die Art und Weise der Konfliktaustragung. Andererseits führen kollektive (religiös-weltanschauliche) Mentalitäten eine Art Eigenleben und die Macht der Propaganda ist keineswegs unbeschränkt. Nicht nur kann jede legitimatorische Argumentation problematisiert werden, auch die Deutungskompetenz der Propagandisten ist selbst in Frage zu stellen.

Für Konstruktivisten fungieren religiöse Systeme demnach sozusagen als Moderatorvariablen. Aufgrund ihres hoch ambivalenten konfliktkulturellen Gehalts – ihres Schwankens zwischen den Modellen »Heiliger Krieg« und »Reich Gottes« (Boulding, 1986) – können sie sowohl friedensförderlich wie kriegstreibend wirken. Es kommt darauf an, wie sie von den religiösen Autoritäten »geschaltet« werden. Aussichten, nachhaltig „Weltfrieden durch Religionsfrieden“ (Küng & Kuschel, 1993b) zu erreichen, bestehen also nur in dem Maße, wie diese Autoritäten einerseits konsequent die Legitimation von Gewalt bei inner- und intergesellschaftlichen Auseinandersetzungen verweigern und andererseits dialogisch-problemlösende Formen der Konfliktbearbeitung wie Verhandlung, Mediation und Selbsttransformation auch in die »weltlichen« Konflikte einbringen. Das aber läuft abermals auf den Verzicht von Gewalt bzw. Gewaltrechtfertigung hinaus. Die Bedeutung des interreligiösen Friedens für den Weltfrieden wird allerdings auch dadurch eingeschränkt, dass Religionen aus konstruktivistischer Sicht nur dann das Konfliktverhalten zu beeinflussen vermögen, wenn die Antagonisten auf Massenloyalität angewiesen sind; in den sog. neuen Kriegen scheint diese Bedingung kaum erfüllt.

Resümee und Schlussfolgerungen

Im Rahmen des nicht zuletzt friedenspolitisch motivierten »Projekts Weltethos« des Theologen Hans Küng gilt ein (aktualisiertes) globales Ethos als eine Art friedenspolitisches Allheilmittel. Und das, ohne dass ein konsequenter Gewaltverzicht als Wesensbestandteil eines solchen Ethos anerkannt wird. Demgegenüber habe ich zu zeigen versucht, dass zumindest analytisch drei Funktionsebenen klar zu unterscheiden sind: Entwicklung bzw. Aktualisierung eines globalen Ethos, Anwendung bei interreligiösen Auseinandersetzungen und Übertragung in den Bereich »weltlicher« Macht- und Interessen-Konflikte. Auf allen drei Ebenen kann ein Weltethos nur in dem Maße friedensförderlich sein, wie man bei der Konfliktbearbeitung strikt dialogisch verfährt. Das bedeutet aber, dass der konsequente Verzicht auf (die Androhung, Anwendung und Rechtfertigung von) verletzender und tötender Gewalt als solcher zum Kernbestand eines Weltethos gehören muss, das friedensförderlich sein soll. Insofern ist die Rede von „ein(em) konsensfähige(n) mittlere(n) Wegzwischen einer ›Realpolitik‹ der Gewalt zur Konfliktlösung und einem unrealistischen unbedingten Pazifismus“ (Küng, 1993a, S. 77f.) irreführend und gefährlich – »altes Denken« mit einem neuen Etikett. Auch und gerade im Rahmen eines Projekts Weltethos kann es Frieden nur mit friedlichen Mitteln geben.

Literatur

Boulding, E. (1986): Two cultures of religion as obstacles to peace. Zygon, 21, 501-518.

Chiozzo, G. (2002): Is there a clash of civilizations? Evidence from patterns of international conflict involvement, 1946-1997. Journal of Peace Research, 38, 711-734.

Eckert, R. & Willems, H. (1992): Konfliktintervention. Perspektivenübernahme in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Opladen: Leske + Budrich.

Fahrenbach, H. (2001): Die Notwendigkeit des Projekts Weltethos – aber ohne »theonome Begründung«. Beiträge einer Philosophie kommunikativer Vernunft – atheistisch, sozialistisch und diskursethisch akzentuiert. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Wissenschaft und Weltethos (S. 383-414). München: Piper.

Glock, C.Y. (1969): Über die Dimensionen der Religiosität. In J. Matthes: Kirche und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie II (S. 150-168). Reinbek: Rowohlt.

Hasenclever, A. & Rittberger, V. (2000): Does religion make a difference? Theoretical approaches to the impact of faith on political conflict. Millennium: Journal of International Studies, 29, 641-674.

Hasselmann, C. (2001): Parlament der Weltreligionen: Die Weltethos-Erklärung von Chicago 1993. Concilium, 37, 409-420.

Huber, S. (1997): Dimensionen der Religiosität. Skalen, Messmodelle und Ergebnisse einer empirisch orientierten Religionspsychologie. Bern: Huber.

Huntington, S.P. (1993). The clash of civilizations. Foreign Affairs, 72 (2), 22-49.

Küng, H. (1993a): Geschichte, Sinn und Methode der Erklärung zu einem Weltethos. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen (S. 49-87). München: Piper

Küng, H. (1993b): Kein Weltfriede ohne Religionsfriede. Ein ökumenischer Weg zwischen Wahrheitsfanatismus und Wahrheitsvergessenheit. In H. Küng H. & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Weltfrieden durch Religionsfrieden. Antworten aus den Weltreligionen (S. 21-49). München: Piper.

Küng, H. (2003): Projekt Weltethos (1. Auflage 1990). München: Piper

Küng, H. & Kuschel, K.-J. (Hrsg.) (1993a): Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen. München: Piper.

Küng, H. & Kuschel, K.-J. (Hrsg.) (1993b): Weltfrieden durch Religionsfrieden. Antworten aus den Weltreligionen. München: Piper.

Kuschel, K.J. (1993): Das Parlament der Weltreligionen 1893/1993. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen (S. 89-123). München: Piper.

Lütterfelds, W. (2001): Viele religiöse Wahrheiten und ein Weltethos? Zur begrifflichen Struktur eines Konfliktes und seiner Auflösung. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Wissenschaft und Weltethos (S. 415-437). München: Piper.

Parlament der Weltreligionen (1993): Erklärung zum Weltethos. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen. München: Piper.

Rittberger, V. & Hasenclever, A. (2001): Religionen in Konflikten. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Wissenschaft und Weltethos (S. 161-200). München: Piper.

Anmerkungen

1) Das »Zweite Parlament der Weltreligionen« tagte, unter Beteiligung von 6.500 Personen aus allen möglichen Religionen, vom 28. August bis 4. September 1993 in Chicago, zur Jahrhundertfeier der Tagung des »Ersten Parlaments der Weltreligionen« in Chicago 1893. Das Treffen von 1893 seinerseits stellt das erste formelle Treffen von Vertretern der Weltreligionen dar und gilt als Beginn eines genuinen – nicht auf Konversion abstellenden – interreligiösen Dialogs (vgl. Kuschel, 1993; Hasselmann, 2001).

Prof. Dr. Albert Fuchs ist Mitglied des Redaktionsteams von W&F