Legitimierung des Illegitimen

Legitimierung des Illegitimen

Ideologische Sprache und der Genozid an den Rohingya

von Maximilian Wegener

Dass ideologisch geprägte Sprache im Kontext systematischer Massengewalt eine wichtige Rolle spielt, erscheint wenig überraschend. Doch wie genau wird die Anwendung genozidaler Gewalt gegen bestimmte Gruppen diskursiv gerechtfertigt? Durch welche Strategien werden Gräueltaten bis hin zum Völkermord als notwendig, vertretbar und gar wünschenswert dargestellt? Ein Blick auf den Genozid an der Minderheit der Rohingya in Myanmar zeigt, dass politische und symbolische Eliten ideologische Sprache bemühen, um kollektive Gewalt zu rechtfertigen. Welche diskursiven Strategien der Gewaltlegitimierung sie dabei nutzen, soll im Fokus dieses Beitrages stehen.

Ideologien, also übergeordnete, gruppenspezifische und potenziell handlungsleitende Ideen und Weltbilder, können sowohl strukturell als auch instrumentell zur Verübung kollektiver Gewaltverbrechen beitragen. Ob Nationalsozialismus, Stalinismus, Maoismus, Khmer-Nationalismus in Kambodscha oder ethnonationalistische Konstrukte wie »Hutu Power« in Ruanda – eine theoretisch fundierte und analytisch weitsichtige Untersuchung der schlimmsten Menschheitsverbrechen darf ideologische Parameter nicht außer Acht lassen. Längst ist klar, dass Gräueltaten nicht nur auf ideologisch besessene Fanatiker*innen zurückgeführt werden können und Täter*innen keine homogene ideologische Masse bilden (Leader Maynard 2014). Ideologie ist vielmehr ein alltägliches und sozial omnipräsentes Ideensystem, das auf recht subtile Art und Weise beeinflusst, wie Menschen die Welt um sie herum betrachten, interpretieren und bewerten. Ideologische Dispositive prägen nicht nur Wertesysteme, politische Einstellungen und soziale Verhaltensmuster von Einzelpersonen; auf kollektiver Ebene strukturieren sie darüber hinaus maßgeblich die Beziehungen zwischen sozio-politischen Gruppen.

Ideologie lässt sich nur dann adäquat untersuchen, wenn ihre diskursiven Erscheinungs-, Verbreitungs- und Wirkformen berücksichtigt werden. Sprache kreiert, prägt, transportiert und verbreitet Ideologie ebenso wie sich Ideensysteme in Diskursen, Symbolen und Bildern manifestieren, sie beeinflussen und teilweise neu erfinden. In Kontexten kollektiver Gewaltanwendung verleiht ideologische Sprache den Gräueltaten einen ideellen Überbau in Form eines größeren Sinnzusammenhangs. Dabei geht es nicht zuletzt um die ideologisch hergeleitete und diskursiv gerahmte Legitimierung genozidaler Gewalt (aber auch anderer Formen kollektiver Gewalt, diese Feststellung ist nicht auf Genozide beschränkt). Ideologische Sprache porträtiert systematische Massengewalt in den Augen von Täter*innen und Unterstützer*innen oft nicht nur als notwendig und vertretbar, sondern kann sie gar als erstrebenswert und unausweichlich erscheinen lassen. Vereinfachende Narrative entlang der Gegenüberstellung »Wir gegen Die« erzeugen eine gruppenspezifische Abwertung der Anderen bei gleichzeitiger Aufwertung des Eigenen. Diese Gegenüberstellung von Ingroup und Outgroup bildet letztlich den Nährboden für hegemoniale Diskursfiguren, die strategisch darauf ausgerichtet sind, kollektive Gewaltverbrechen bis hin zum Völkermord zu rechtfertigen. Teilweise aufbauend auf einem von Jonathan Leader Maynard und Susan Benesch geprägten Modell zu »gefährlicher Sprache und gefährlicher Ideologie« (2016) lassen sich mehrere diskursiv-ideologische Mechanismen identifizieren, die die Anwendung von Massengewalt als legitim darzustellen helfen. Im Folgenden skizziere ich eine Auswahl dieser Legitimierungsstrategien am Beispiel des Völkermords an den Rohingya in Myanmar.

Genozid an den Rohingya

Der Vielvölkerstaat Myanmar wird politisch dominiert durch die Bamar als zahlenmäßig größte ethnische Gruppe sowie den Theravada-Buddhismus, der als offizielle Staatsreligion gilt. Vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Instabilität, Repression, Polarisierung und bewaffneter Konflikte ist auf Basis dieser beiden Identitätsmarker ein ideologisches Umfeld entstanden, in dem Staatsangehörigkeit und nationale Zugehörigkeit keine formal-juristischen Kategorien mehr sind, sondern fast ausschließlich über ethno-religiöse Zuschreibungen definiert werden. Angetrieben durch das Militär, politische Parteien, radikale Prediger sowie andere Eliten aus Wirtschaft, Wissenschaft und den Medien sind birmanischer Ethnonationalismus und buddhistischer Fundamentalismus längst zu einem brandgefährlichen ideologischen Gemisch geworden, das den öffentlichen Diskurs maßgeblich prägt und daher im Folgenden untersucht wird.

Dies hat insbesondere für die mehrheitlich muslimische Minderheit der Rohingya existenzielle Konsequenzen. Historische, religiöse, ethnische und linguistische Besonderheiten der rund 1,4 Mio. Rohingya werden bereits seit den 1960er Jahren instrumentalisiert, um die Gruppe als fremde und andersartige Eindringlinge aus Bangladesch (»Bengalis«) zu porträtieren. Die diskursive Festschreibung dichotomer und exkludierender Kategorien (»einheimisch« vs. »zugewandert«; »legal« vs. »illegal«) schuf die Voraussetzung für die systematische Diskriminierung, Verfolgung, Vertreibung und Gewalt gegen die Rohingya. Im August 2017 kulminierte diese Gewaltkampagne in einer groß angelegten Militäraktion im Norden des Bundesstaates Rakhine. Binnen weniger Wochen töteten nationale Streitkräfte, regionale Milizen sowie Teile der lokalen Bevölkerung mehr als 10.000 Rohingya, Tausende wurden vergewaltigt und gefoltert sowie hunderte Dörfer niedergebrannt und geplündert; bis zum März des darauffolgenden Jahres flohen fast 700.000 Rohingya über die Grenze ins benachbarte Bangladesch (Ware und Laoutides 2019, S. 60f.).

Legitimierungsstrategien

Wie wurden diese kollektiven Gewaltverbrechen möglich (gemacht)? Ein ausführlicher Blick auf den öffentlichen Diskurs der Jahre 2012-2019 zeigt, dass ideologische Sprache den zentralen Rechtfertigungsrahmen für die Verübung von gegen die Rohingya gerichteter Massengewalt bereitstellt. Die Primäranalyse von 150 eigens zusammengetragenen Diskursfragmenten (politische Reden, Parlamentsdebatten, Pressemitteilungen, Propagandamagazine, Medieninhalte, etc.) fördert neun Legitimierungsstrategien zu Tage, die den Diskurs dominieren und Gewalt gegen die Rohingya aus Sicht der birmanisch-buddhistischen Bevölkerungsmehrheit als notwendig und erstrebenswert darstellen. Während sechs dieser Mechanismen Gräueltaten sprachlich explizit fordern oder nahelegen (aktive Legitimierung), rechtfertigen die anderen drei Strategien die Gewaltverbrechen gerade durch das, was bewusst nicht zur Sprache kommt, einseitig dargestellt oder beschönigt wird (passive Legitimierung).

Aktive Legitimierung

Wie in den meisten Kontexten genozidaler Gewalt wird die strategische Gefahrenkonstruktion auch im Völkermord an den Rohingya genutzt, um Gräueltaten eine zwingende Notwendigkeit zuzuschreiben. Politisches Spitzenpersonal wie Aung San Suu Kyi oder Vorgängerpräsident Thein Sein konstruieren die Rohingya als existenzielle Bedrohung für nationale Sicherheit, Stabilität und Wohlstand. Basierend auf historisch tief verwurzelten Narrativen werden die Rohingya nicht nur als gefährliche »Flutwelle« illegaler Eindringlinge aus Bangladesch und Indien stigmatisiert, sondern darüber hinaus als gewaltbereite jihadistische Terrorgruppe, die die Islamisierung Myanmars anstrebt. Falschmeldungen, Gerüchte und gezielte Desinformation über mutmaßliche Waffendepots, Terror-Camps oder auch Zwangskonvertierungen laufen in einer strategischen Umkehrung der Täter-Opfer-Konstellation zusammen: um von der eigenen Gewaltkampagne abzulenken, werfen staatliche Medien und Propagandamagazine der Opfergruppe vor, die birmanisch-buddhistische Bevölkerung unterjochen und ausmerzen zu wollen. Massengewalt gegen die Rohingya gilt damit als notwendiges Übel, Selbstverteidigung und gar Überlebenskampf in den Augen der Ingroup. Vereinzelte Angriffe bewaffneter Rohingya-Milizen greifen Eliten wie Militärführer Min Aung Hlaing dankbar auf, um die Rohingya insgesamt als extremistische Terrorgruppe zu verteufeln, die nur durch staatlich organisierte »Gegenmaßnahmen« aufgehalten werden könne.

Flankiert wird das Narrativ der »gefährlichen Rohingya« durch die Strategie der Entmenschlichung. Basierend auf der ideologischen Dichotomie zwischen buddhistischer Ingroup und muslimischer Outgroup porträtiert dehumanisierende Sprache die Rohingya als nichtmenschlich, untermenschlich und biologisch unterlegen gegenüber der birmanisch-buddhistischen Mehrheitsbevölkerung. Dominante Narrative wie »Blutsauger« und »verachtenswerte Flöhe«, »giftige Pflanzen«, »verrückt gewordene Hunde«, »bedrohliche Wölfe«, »blutrünstige Tiger« und »sich schnell vermehrende Karpfen« skizzieren die Rohingya als abscheuliche Parasiten, lästige Plagen, potenziell gefährliche Krankheitserreger und wilde, unzivilisierte Tiere. Prominente Sprecher*innen im Diskurs (sogenannte »epistemische Autoritäten«) wie der radikale buddhistische Prediger Ashin U Wirathu nutzen derartige Diskursfiguren, um exzessive Gewalt gegen die Rohingya als »Pestprävention«, »Reinigung« und »Parasitenbekämpfung« zu beschönigen. Durch diese Form der moralischen Distanz zwischen Täter*innen und Opfergruppe rechtfertigt dehumanisierende Sprache Massengewalt als angemessen und vertretbar.

Zur ideologisch-diskursiven Legitimierung kollektiver Gewalt gehört neben der Konstruktion zukünftiger Gefahren auch die strategische Schuldzuweisung für vermeintliche Delikte, Konflikte und Gewalt­episoden der Vergangenheit. In Myanmar findet sich diese Strategie insbesondere mit Blick auf zwei Zeitabschnitte wieder. Erstens existieren historisch gewachsene Vorwürfe, wonach muslimische Brüdervölker der Rohingya über die vergangenen vier Jahrhunderte weite, vormals buddhistische Teile Süd- und Südostasiens angegriffen und in muslimische Gesellschaften konvertiert hätten. Insbesondere epistemische Autoritäten wie der radikale Mönch Ashin Sada Ma oder Ashin Tawpaka, Sprecher der fundamentalbuddhistischen Organisation MaBaTha, werfen den Rohingya mithilfe pseudo-historischer Belege und manipulierter Quellen vor, Myanmar wie bereits Indonesien, Bangladesch, Pakistan und Malaysia »schlucken« und islamisieren zu wollen (Foxeus 2019, S. 678). Zweitens nutzen Eliten die jüngere Konfliktgeschichte zwischen den Rohingya und Bamar zur gezielten Aktualisierung kollektiver Traumata. Während die Rohingya im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der britischen Kolonialtruppen kämpften, kooperierten die Rakhine und Bamar mehrheitlich mit der japanischen Armee. Zahlreiche Massaker zwischen den Gruppen verstärkten unter der buddhistisch-birmanischen Mehrheit ein »anti-buddhistisches« und »anti-nationales« Bild von den Rohingya (Wolf 2017, S. 7). Die diskursive Instrumentalisierung psychokulturell aufgeladener Gewaltepisoden schafft letztlich eine Atmosphäre gerechter Bestrafung oder gar legitimer Rache – frei nach dem Motto »sie haben es verdient« (Leader Maynard und Benesch 2016, S. 81).

Aus diesem Vergangenheitsbild leitet sich viertens das Narrativ der Alternativ­losigkeit ab, mit dem die Massengewalt gegen die Rohingya als naturgemäß und unausweichlich dargestellt wird. Spirituelle Eliten wie U Parmoukkha werfen den »von Natur aus brutalen« Rohingya vor, die »Ausrottung« des Buddhismus anzustreben (Wade 2019, S. 256). Gräueltaten werden demnach nicht länger als Taten von Subjekten beschrieben, sondern als Produkt unvermeidlicher Rahmenbedingungen und äußerer Zwänge. Höchste politische Würdenträger*innen wie Aung San Suu Kyi relativieren die »Rohingya-Krise« mit dem Verweis auf das während der Diktatur entstandene Misstrauen und negieren damit die individuelle Verantwortung, Entscheidungs- und Handlungsmacht einzelner Täter*innen. Rhetorisch geht diese Strategie mit der vermehrten Verwendung des Passivs einher. Ob Suu Kyi Gewalt gegen die Rohingya als »durch unser Leiden begründet« rechtfertigt oder aber Militärchef Min Aung Hlaing anmerkt, dass die »Rohingya-Problematik« endlich final »gelöst werden« müsse – individuelle Schuld wird ebenso verschleiert wie die Tatsache, dass Genozid nie alternativlos ist.

Dieser Umgang mit Schuld ermöglicht wiederum das strategisch eingesetzte Narrativ der Tugendhaftigkeit, aus dem eine moralische Überlegenheit der In­group gegenüber der Outgroup abgeleitet wird. Während die Rohingya als »böse«, »moralisch verkommen«, »unzivilisiert«, »verräterisch« und »umstürzlerisch« beschrieben werden, rahmt der öffentliche Diskurs die birmanisch-buddhistische Mehrheit als »prinzipientreu«, »mutig« und »patriotisch«. Gewalt gegen die Rohingya gilt in der Folge als tugendhafter, moralisch richtiger und dementsprechend lobenswerter Akt ziviler Wachsamkeit. Fundamentalistische Prediger wie U Wirathu bekunden öffentlich, stolz darauf zu sein, radikaler Buddhist und Nationalist genannt zu werden. Gräueltaten gegen die Rohingya werden verknüpft mit positiv konnotierten Begriffen wie »Liebe zur Heimat«, »religiöser Stolz« und »nationale Sicherheit«. Während Täter*innen als selbstlose, pflichtbewusste, tapfere und heroische Bürger*innen gelten, werden moderatere Stimmen und Unterstützer*innen der Opfer als moralisch schwach, pervers und verräterisch bezeichnet. Vertreter*innen der politischen Elite konstruieren in diesem Kontext immer wieder das Bild von Buddha als »bekennendem Nationalisten« (Foxeus 2019), um nicht-buddhistische Gruppen wie die Rohingya als Schande für die Nation zu brandmarken.

Die sechste aktive Legitimierungsform impliziert ein ideologisch hergeleitetes Belohnungsversprechen. Politische Hardliner und Militärs bemühen das Kosten-Nutzen-Prinzip, um gegenwärtige Gewalt gegen die Rohingya als sich lohnenden Einsatz für zukünftige Prosperität und ethno-religiöse Homogenität zu porträtieren. So fordert mit Aye Maung einer der einflussreichsten Politiker im Bundesstaat Rakhine, die Rohingya zum Wohlergehen des Landes in Drittstaaten zu vertreiben. Radikale Sprecher*innen wie U Wirathu stilisieren den »Kampf« gegen die Rohingya als Schicksalsaufgabe des birmanischen Volkes, mit der nicht nur die nationale Existenz, sondern auch das konkrete Überleben von Kindern und Kindeskindern verknüpft sei. Dafür wird ethnische Pluralität und religiöse Offenheit als Antithese zur von vermeintlicher Souveränität und Stabilität geprägten birmanisch-buddhistischen Utopie konstruiert (Wade 2019, S. 235). Die Gleichzeitigkeit von existenzieller Bedrohungskulisse und utopischem Zukunftsversprechen verstärkt insbesondere bei der Gruppe der Bamar die Antipathien und Gewaltbereitschaft gegenüber den Rohingya (Lall 2018).

Passive Legitimierung

Im Kontrast zu den sechs aktiven Legitimierungsmechanismen wirkt die diskursiv-ideologische Strategie der Nichtbeachtung deutlich subtiler und stiller. Sprecher*innen mit großer medialer Reichweite und Wirkung auf den politischen Diskurs rufen oftmals nicht explizit zu Gräueltaten auf, sondern streiten gezielt etwaige Vorwürfe ab, antworten ausweichend, vermeiden kritische Nachfragen und blenden das Schicksal von Opfergruppen rhetorisch aus. In Myanmar wählte insbesondere Aung San Suu Kyi diese Strategie, als sie als de facto-Regierungschefin mehrfach die Existenz einer Gruppe namens Rohingya abstritt und stattdessen von »Muslimen«, »Bengalis« und »irregulären Migrant*innen« sprach. Die systematische Leugnung der jahrhundertelangen Geschichte der Rohingya als eigenständigem Volk konstruiert diese einerseits als unehrlich und spricht ihnen andererseits ab, als kohärente Gruppe von Gewaltverbrechen betroffen zu sein. Zudem haben Suu Kyi und andere politische Eliten betont, dass Gewalt »von beiden Seiten« ausgehe und man deshalb nicht klar Partei ergreifen könne. Im Kontext massiver ideologischer Polarisierung kommt diese diskursive Nicht-Intervention einer ohrenbetäubenden Stille gleich, die die Rohingya faktisch unsichtbar werden lässt und ein Klima der Straflosigkeit für radikalere Stimmen erzeugt.

Dieses Klima ist geprägt durch die strategische Delegitimierung von Opferaussagen bei gleichzeitiger Legitimierung des Verhaltens der Ingroup. Im Zuge selektiver Klassifizierung ignorieren, diskreditieren und verhöhnen Sprecher*innen die vielen Berichte und Zeugenaussagen zu Gräueltaten, während Täter*innen in Schutz genommen und gegen Kritik, Anklage und Strafverfolgung verteidigt werden. Auch hier sind es insbesondere politische Eliten wie Suu Kyi, die auf Völkermord-Anschuldigungen mit Spott und lautem Lachen reagieren oder aber die Aussagen mutmaßlich vergewaltigter Rohingya-Frauen als Falschmeldung zurückweisen (Wade 2019, S. 20). Gleichzeitig wird das kryptische Narrativ von »globaler muslimischer Macht« etabliert, um die Rohingya mit Terrorgruppen wie Al-Qaida und dem IS in Verbindung zu bringen. Während staatlich eingesetzte Kommissionen das eigene Militär vom Vorwurf des Völkermords freisprechen, behaupten der Armeechef, radikale Prediger sowie an der Gewalt beteiligte Milizen, die Rohingya hätten ihre eigenen Häuser aus Propagandazwecken in Brand gesteckt.

Sowohl die genannten aktiven als auch passiven Legitimierungsstrategien kulminieren in einer diskursiven Harmonisierung, die den ideologischen Gesamtdis­kurs stringenter und mächtiger werden lässt. Da die einzelnen Narrative der Ge­waltrechtfertigung erst durch ihre enge thematische, rhetorische und personelle Verknüpfung einflussreich werden, bedienen birmanisch-buddhistische Sprecher*innen aus Politik, Militär, Religion und Medien nicht nur wiederkehrende Sprachbilder und Diskursfiguren; sie gehen dabei auch gezielt aufeinander ein. Diese stilistische Synchronisierung verleiht dem Rechtfertigungsdiskurs aus Sicht der Ingroup letztlich mehr Kohärenz, Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Staatlich kontrollierte Zeitungen wie die »Global New Light of Myanmar« fingen beispielsweise kurz vor der Eskalation der Gewalthandlungen im August 2017 an, die offizielle Linie der Staats- und Militärführung zu übernehmen und die Rohingya als lokale Zelle transnational vernetzter Terrorgruppen darzustellen. Diese diskursive Angleichung führte unweigerlich dazu, dass Gewaltaufrufe gegen die Rohingya semantisch in den in Myanmar konsensfähigen »Globalen Kampf gegen den Terror« eingebettet und gesellschaftlich salonfähig wurden.

Fazit und Implikationen

Der Völkermord an den Rohingya lässt sich nicht adäquat untersuchen, ohne die diskursiv-ideologischen Mechanismen der Gewaltlegitimierung in den Blick zu nehmen. Die neun skizzierten Strategien ideologischer Sprache konstruieren die Rohingya als gefährlich, minderwertig, schuldig, kriminell, fremd, unzivilisiert und subversiv – und damit als fundamentalen und unversöhnlichen Antipol zur birmanisch-buddhistischen Mehrheitsbevölkerung Myanmars. Die diskursive Rahmung von Täter*innen- und Opfergruppen entlang ideologischer Bruchlinien spiegelt sich vor allem in der selektiven Anwendung, Reinterpretation und Instrumentalisierung fundamentaler Konzepte wie Inklusivität, Demokratie, Staatsbürgerschaft und Menschenrechte wider. Der radikale Kurs ideologischer Hardliner wird damit nicht nur ungefiltert in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs übernommen, sondern explizit verteidigt, beworben und als legitimer »Kampf« gerechtfertigt. Genozidale Gewalt gegen die Rohingya gilt in der Folge in weiten Teilen der Ingroup als vertretbar, notwendig, wünschenswert und sogar unausweichlich.

Die Analyse impliziert zwei zentrale Folgen für zukünftige Forschung zur Rolle ideologischer Sprache im Kontext von Massengewalt.

Erstens zeigt der Fall Myanmar, dass nicht nur wichtig ist, worüber gesprochen wird, sondern wer spricht. Vor dem Hintergrund des großen Einflusses mächtiger Sprecher*innen auf die Mehrheitsgesellschaft ist die Untersuchung ideologischer Sprache in erster Linie eine Analyse von Elitendiskursen. Dass einflussreiche Eliten aus Politik, Militär und Religion eine gewisse Deutungshoheit in ideologisch polarisierten Gesellschaften innehaben, erscheint wenig überraschend. Dennoch ist ideologische Sprache keineswegs streng von oben nach unten strukturiert. Von epistemischen Autoritäten geprägte Diskursfiguren entfalten nur dann ihre Wirkung, wenn sie bestehende ideologische Strukturen und Präferenzen auf Graswurzelebene aufgreifen und instrumentalisieren. Wie genau sie das tun und ob es gruppenspezifische Unterschiede in der Rezeption ideologischer Sprache gibt, sind wichtige offene Fragen für zukünftige Forschung.

Zweitens muss die Gewalt- und Genozidforschung das Verhältnis zwischen ideologischer Legitimierung auf der Makro- und individueller Mobilisierung auf der Mikroebene stärker beleuchten. Zwar lässt sich durch Diskursanalysen zeigen, wie ideologisch gerahmte Rechtfertigungsnarrative die Grenzen des Sag-, Denk- und Machbaren in Richtung genozidaler Gewalt verschieben. Allerdings klafft nach wie vor eine große Forschungslücke bei der Frage, wie sich diese übergeordneten Diskursfiguren im Detail auf die individuelle Motivation von Täter*innen auswirken (vgl. für einen ersten Ansatz: Williams 2022). Eine Integration von diskursanalytischen und interviewgestützten Ansätzen erscheint vor diesem Hintergrund sinnvoll, um neben der Mobilisierungskraft gewaltlegitimierender Diskursfragmente auch die Struktur und Wirkung gewalthemmender Sprache zu beleuchten.

Literatur

Foxeus, N. (2019): The Buddha was a devoted nationalist: Buddhist nationalism, ressentiment, and defending Buddhism in Myanmar. In: Religion 49(4), S. 661-690.

Lall, M. (2018): Myanmar’s youth and the question of citizenship. In: South, A.; Lall, M. (Hrsg.): Citizenship in Myanmar: ways of being in and from Burma. Singapur: ISEAS, S. 145-160.

Leader Maynard, J. (2014): Rethinking the role of ideology in mass atrocities. In: Terrorism and Political Violence 26(5), S. 821-841.

Leader Maynard, J.; Benesch, S. (2016): Dangerous speech and dangerous ideology: an integrated model for monitoring and prevention. In: Genocide Studies and Prevention: An International Journal 9(3), S. 70-95.

Wade, F. (2019): Myanmar’s enemy within: Buddhist violence and the making of a Muslim ‘Other’. Croydon: ZED Books.

Ware, A.; Laoutides, C. (2019): Myanmar’s ‘Rohingya’ conflict: misconceptions and complexity. In: Asian Affairs 50(1), S. 60-79.

Wolf, S. (2017): Genocide, exodus and exploitation for Jihad. The urgent need to address the Rohingya crisis. Heidelberg: SADF Working Paper (6).

Williams, Th. (2022): Warum töten sie? Motivationen von Täter*innen im Völkermord. W&F 1/2022, S. 11-13.

Maximilian Wegener ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Sicherheitspolitik der Zeppelin Universität Friedrichshafen. In seiner Forschung beschäftigt er sich primär mit der Frage, wie Völkermord möglich (gemacht) wird. Dieser Artikel baut auf seiner Masterarbeit auf, die mit dem Christiane-­Rajewsky-Preis 2022 ausgezeichnet wurde.

Respektierte Großmacht?


Respektierte Großmacht?

China im globalen Machtgefüge

von Wolfgang Müller

China ist eine Großmacht. Der Westen versucht, das aufsteigende China als aggressive und imperialistische Macht abzustempeln. Doch welche eigenen internationalen Ambitionen lassen sich aus den politischen und ökonomischen Aktivitäten Chinas erkennen? Der Beitrag versucht eine knappe Einordnung von Chinas Stellung im globalen Machtgefüge – ein Blick auf eine eher »nach Innen« und auf wirtschaftliche Prosperität und Ressourcensicherung ausgerichtete Großmacht.

Die Lage ist angespannt: Viele sprechen schon von einem neuen Kalten Krieg zwischen dem jetzigen Hegemon USA und China. China sei nicht nur auf dem Weg zu einer neuen Supermacht, es wolle sein Modell auch in die ganze Welt exportieren. Damit sei die freie Welt, gemeint ist der Westen, in Gefahr. Chinas Wende zu mehr Autokratie sei eine Herausforderung für die Welt, so die Financial Times in einem Kommentar 2019.1 Zweifellos ist China demnächst die führende Wirtschaftsmacht und politisch und auch militärisch eine Großmacht. Auch wenn dies für Beobachter*innen im Vergleich zur sozioökonomischen Situation des Landes noch vor weniger als fünfzig Jahren durchaus erstaunlich ist, aufgrund der Größe des Landes und seiner Bevölkerungszahl ergibt sich diese Position mehr oder weniger zwangsläufig. Anders wäre das nur bei weitgehender Abschottung des Landes. Zudem haben die marktwirtschaftlichen Reformen eine dynamische Kapitalakkumulation in Gang gesetzt. Längst haben die chinesischen Kapitalgruppen die nationalen Schranken für ihre Profitmacherei hinter sich gelassen. Aber ist die Volksrepublik deswegen eine neue aggressive imperialistische Supermacht, eine Bedrohung für den Rest der Welt?

Chinas Vorgehen speziell in Asien lässt sich als Versuch beschreiben, das regionale Umfeld präventiv zu kontrollieren, zum Schutz seiner territorialen Integrität und der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung. Es ist eine weitgehend defensive Einflussnahme, gerichtet auf enge Beziehungen zu den Nachbarländern. Weil China viel größer ist als die meisten Länder in seiner Umgebung und mittlerweile eine um ein Vielfaches höhere Wirtschaftskraft hat, bringt diese Einflussnahme auch Abhängigkeiten mit sich – zuvorderst ökonomische, aber auch politische. Daraus einen aggressiven chinesischen Imperialismus zu konstruieren, geht an den Realitäten vorbei. Denn China hat bislang keine Versuche unternommen, sich Länder in Asien oder anderen Erdteilen gefügig zu machen, also etwa Regimewechsel zu inszenieren. Der einzige Militärstützpunkt außerhalb des Landes im afrikanischen Dschibuti dient westlichen Analysen zufolge allein dem Schutz chinesischer Handelsschiffe vor der Piraterie am Eingang zum Roten Meer.2 Aber schon allein aufgrund seiner Größe, seiner Bevölkerungszahl kombiniert mit seiner wirtschaftlichen und technologischen Stärke, ist China ein viel gefährlicherer Konkurrent für die USA, als es andere Großmächte jemals waren. Irgendwann in den nächsten Jahrzehnten wird sich auch die chinesische Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung der der USA annähern. Dann wird die chinesische Wirtschaft um ein Mehrfaches größer sein als die der USA. Diese historische Kräfteverschiebung in der Welt wollen die USA möglichst verlangsamen. Deshalb die Propaganda von einem neuen Kalten Krieg.

Die globale Ordnung mitgestalten

Alle Belege für die angeblich zunehmend aggressive Außenpolitik Chinas beziehen sich auf Auseinandersetzungen, in denen die staatliche Souveränität Chinas berührt ist, in denen es zumindest aus Sicht der Regierung in Beijing um chinesisches Hoheitsgebiet geht. Das mag im Einzelfall strittig sein. Aber es gibt keine sichtbaren Versuche Chinas, trotz der wahrnehmbaren Aufrüstung der Marine, etwa international oder auch nur regional militärisch einzugreifen.

Der US-Ökonom Jeffrey Sachs beklagte die Behauptungen über Chinas angeblich aggressives Auftreten „ohne die leisesten Hinweise auf die aggressiven und expliziten Versuche der USA, China nach dem alten Lehrbuch der US-Außenpolitik einzudämmen. Die USA haben verschiedene Kriege gestartet, haben hunderte Militärbasen im Ausland, brechen einen internationalen Vertrag nach dem anderen, starten zunehmend schrille, einseitige Handels- und Technologiekriege gegen China, machen äußerst umstrittene Vorwürfe gegen China wegen der Covid-19-Pandemie ohne die behaupteten enormen Beweise. Sie fordern ihre Bündnispartner explizit auf, sich gegen China zu verbünden. Das gegenwärtige Drehbuch der US-Außenpolitik ist geprägt von dem Interesse der USA, ihre Vorherrschaft überall aufrechtzuerhalten.3

Auch ein Blick in Chinas »jüngere« Geschichte gibt keinen Hinweis darauf, dass Xi Jinping und die KPCh an der Umsetzung heimlicher Welteroberungspläne arbeiten. Eher das Gegenteil ist der Fall: War China noch im 18. Jahrhundert ein wirtschaftlich hoch entwickeltes Land (auf China und Indien entfiel die Hälfte der gesamten Wirtschaftsleistung der Welt), so wurde China im Zeitalter des Kolonialismus und Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert von den Kolonialmächten des Westens und später von Japan ausgeplündert. China war zum Spielball fremder Länder geworden. Aus dieser Position hat sich das Land seit 1949 befreit, ist vom »Armenhaus der Welt« zu einem Land mit bescheidenem Wohlstand für die Masse der Bevölkerung geworden und hat sich zur führenden Industrienation und demnächst größten Wirtschaftsmacht entwickelt. Nicht überall im Westen wird das bislang anerkannt.

China will als Großmacht respektiert werden

Das Narrativ von Xi Jinping zielt darauf ab, den Wiederaufstieg Chinas als eines großen, international wichtigen Landes plausibel zu machen. China will international als Großmacht respektiert werden, die zur Neugestaltung einer bislang US-dominierten Weltordnung beitragen will. Damit gilt zwar nicht mehr die früher von Deng Xiaoping propagierte Außenpolitik nach dem Motto: »Den Ball flach halten«. Doch »aggressive Supermacht« geht anders.

2017 gab Xi Jinping einen Hinweis auf Chinas langfristiges Denken, als er erklärte, China habe jetzt auch einen Fahrersitz in internationalen Angelegenheiten und wolle größere Beiträge für die Menschheit leisten. Das bedeutet nicht, Länder mit Chinas Modell vom »Sozialismus mit chinesischer Prägung« zu beglücken. Die KPCh will vielmehr sicherstellen, dass andere Mächte dem Land nicht in die Quere kommen. Die Regierung arbeitet daran, seine Diplomat*innen in einfluss­reichen Positionen in multilateralen Institutionen zu etablieren, sodass sie die globalen Regeln etwa über Internet-Governance oder über Menschenrechte mitgestalten können. Zudem nutzt die Regierung ihre Position im Sicherheitsrat der UN mittlerweile eigenständiger, als noch vor wenigen Jahren beobachtet – nimmt also eine gestaltende Rolle ein, auch wenn dies nicht von allen Seiten gleichermaßen begrüßt wird.

China hat also zweifellos internationale Ambitionen. Aber Wirtschaftsmacht zu sein allein reicht nicht aus, um aus einem Land eine »Supermacht« zu machen. Darauf hat der britische Historiker Adam Tooze hingewiesen. Es habe erst eine Umwälzung der globalen politischen Verhältnisse gebraucht, um den USA die Chance zu bieten, ihre industrielle und finanzielle Stärke auszuspielen. „Darin liegt der Unterschied zwischen Chinas Aufstieg und dem Aufstieg der USA. Die USA stiegen auf vor dem Hintergrund eines totalen Krieges, der Europas Militärmacht ausgelaugt hatte und der das perfekte Vehikel für Amerika bot, seine industrielle und technologische Stärke auszuspielen (…). Die USA beanspruchten die demokratische Führung in der Welt, als der Krieg alle traditionellen Standards der Legitimität untergraben hatte (…). Für China bietet sich keine solche Möglichkeit. Seine relative finanzielle und wirtschaftliche Stärke ist weit geringer als die der USA im frühen 20. Jahrhundert (…). Will Beijing zu einem neuen Kreuzzug für eine Modernisierung mit chinesischen Charakteristiken aufrufen? Sicher nicht4 China will in der Welt vor allem Geschäfte machen, Produkte aus den chinesischen Fabriken verkaufen, mit Auslandsinvestitionen neue Absatzmärkte erschließen und sich Zugriff auf Technologien sichern, um international wettbewerbsfähig zu sein. Außerdem will das rohstoffarme Land, das fast die Hälfte der Weltproduktion von Kupfer, Eisenerz, Seltenen Erden etc. verbraucht, seinen riesigen Rohstoffbedarf absichern. Geschäftliche Interessen dominieren also die chinesische Politik in den Ländern Afrikas und in anderen Regionen des globalen Südens. Dieser Zugriff Chinas auf Märkte, Arbeitskräfte und Ressourcen sollte genauso herrschaftskritisch und kapitalismuskritisch begleitet werden, wie das wirtschaftliche Gebaren anderer Staaten – einen aggressiven Imperialismus stellt es aber nicht dar.

Auch hinter dem von Xi Jinping 2013 angekündigten Projekt der »Neuen Seidenstraße«, die Ost- und Südasien, Europa und den Nahen und Mittleren Osten auf dem Landweg und maritim enger verknüpfen soll, stehen in erster Linie wirtschaftliche Überlegungen. Gleichzeitig ist die Initiative ein großes geopolitisches Programm, um die Distanzen zwischen Ost und West wesentlich zu verkürzen und China als vorherrschende eurasische Macht zu etablieren. Der britische Historiker Peter Frankopan hat darauf hingewiesen, dass mit dem Projekt der »Neuen Seidenstraße« auch die Jahrtausende alte Idee des eurasischen Großkontinents wiederbelebt wird. Langfristig könne sich das Zentrum der Weltwirtschaft vom Atlantik zurück nach Eurasien verlagern.5 Ob die chinesischen Strategen auch solche Gedanken hatten, ist eine andere Frage. Definitiv sichert China damit aber seine wirtschaftliche Einflusssphäre ab.

Neokoloniale Ambitionen?

Die USA unterstellen China neokoloniale Ambitionen in Afrika und Lateinamerika. Für die amerikanische Afrika-Expertin Deborah Braeutigam ist der Vorwurf des chinesischen Neokolonialismus in Afrika überzogen: „Der Kolonialismus hat totale politische Kontrolle bedeutet, für China ist das politische Element eher leicht.6 Afrika ist für China vor allem ein Versuchsfeld für die weitere wirtschaftliche Expansion und Sicherung der Rohstoffzugänge. Die Baukonzerne z.B. üben für Bauprojekte bei mittelgroßen bis großen Bauvorhaben; dort sind sie sehr wettbewerbsfähig. Aus afrikanischer Perspektive bringt Chinas Präsenz bei allen Risiken einzelner Projekte und von Korruptionsfällen, die auch öffentlich diskutiert werden7, handfeste Vorteile bei der Finanzierung und bei Ingenieurleistungen.

Vor allem aber bringt die Volksrepu­blik für die afrikanischen Staaten endlich Wahlmöglichkeiten im Handel und in den wirtschaftlichen Beziehungen. Der US-Ökonom Jeffrey Sachs beschreibt deshalb Chinas Engagement in Afrika als die „wichtigste Entwicklung für Afrika in dieser Generation“.8 Für den sam­bischen Ökonomen Dambisa Moyo, der in seinem Buch »Dead Aid« von 2011 die westliche Entwicklungshilfe an den Pranger gestellt hatte, hat sich „mit China das alte Narrativ von Geberländern und Empfängerländern massiv verändert (…). Afrikanische Länder brauchen Handel und Investitionen. Es ist gut, wenn China oder auch Indien, Türkei, Russland oder Brasilien neue Handels- und Investitionsmöglichkeiten für Afrika bringen.9

Die nach innen gewandte Großmacht

KPCh und Regierung sind weiterhin vorsichtig im Angesicht der riesigen Aufgabe, ein Land mit 1,4 Mrd. Menschen zu regieren. Die Größe und Komplexität Chinas setzt das politische System und die Entscheidungsträger*innen unter extremen Druck. Denn es gibt genügend Probleme im Land. So wird China zwar bald die USA überholen und die weltgrößte Wirtschaftsmacht sein. Für mehr als 120 Länder ist China jetzt schon der wichtigste Handelspartner. Kaufkraftbereinigt ist Chinas Wirtschaftsleistung schon seit Jahren höher als die der USA. Aber angesichts von 1,4 Mrd. Einwohner*innen relativiert sich dieser Vergleich. So ist pro Kopf Chinas Wirtschaftsleistung nicht höher als die von Mexiko oder der Türkei. Es ist also noch viel Luft nach oben. Die KPCh und die Regierung haben deshalb klare Prioritäten: Bis 2025 soll China zur Liga der Länder mit höherem Pro-Kopf-Einkommen aufschließen und bis 2050 zu den 30 reichsten Volkswirtschaften in der Welt gehören. Der Fokus ist also die weitere Entwicklung des eigenen Landes. Aber nicht der Aufbau eines weltweiten Imperiums mit Militärstützpunkten, Agenten und Truppen rund um den Globus, das die globale politische und militärische Dominanz der USA herausfordern soll.

Es besteht zudem die Gefahr einer permanenten strukturellen inneren Überdehnung und einer Überforderung des Systems und seiner Institutionen. Zum Beispiel ist die Bevölkerungsdichte im Osten und Süden des Landes sehr hoch, während der Westen und Südwesten – Regionen mit vielen ethnischen Minderheiten – dünn besiedelt ist. Das wirtschaftliche und soziale Gefälle zwischen einzelnen Landesteilen ist sehr hoch. Solche internen Widersprüche machen eine imperiale Rolle Chinas in der Welt sehr unwahrscheinlich. Die zentralen Interessen der chinesischen Politik sind die weitere Modernisierung des Landes, die politische Stabilität und der Erhalt des Regimes sowie die Einheit Chinas. Diese Prioritäten werden sich langfristig kaum ändern.

Für eine andere Globalisierung

China hat eine andere Vorstellung von Globalisierung als das westlich-liberale Projekt einer Welt, die vom Westen dominiert ist. Xi Jinping verteidigte die Globalisierung 2017 vor der in Davos versammelten globalen politischen und wirtschaftlichen Elite. Er beschränkte sich dabei aber auf die Aspekte der Globalisierung, von denen China profitiert, also den freien Handel. Gleichzeitig beharrt China in den internationalen Beziehungen auf dem Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder, anders als das liberale Projekt der Globalisierung, das Freiheit für das Kapital und gleichzeitig die Übernahme westlicher Werte und Demokratiemodelle impliziert. Xi Jinping insistierte auf Chinas Recht, seinen Entwicklungsweg selbst zu bestimmen. Sein Land habe sich nach seinen eigenen Bedingungen in das globale Wirtschaftssystem eingebracht und binnen einer Generation 600 Mio. Menschen aus der Armut befreit. „China steht zu seinen eigenen Bedingungen und Erfahrungen. Wir haben die Weisheit der chinesischen Zivilisation geerbt und lernen von den Stärken im Osten und Westen (…). Wir lernen, wir kopieren aber nicht von anderen. Wir formulieren unseren eigenen Entwicklungsweg durch kontinuierliches Experimentieren (…). Kein Land sollte den eigenen Weg als den einzig gangbaren Weg aufs Podest stellen“, zitierte die Financial Times den chinesischen Staatspräsidenten.10

In der Logik christlich geprägter, aggressiv-imperialer Welteroberungsstrategien ergibt die Angst vor China sogar begrenzten Sinn, denn wenn China zur größten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigt, dann muss das Land diesen westlichen Vorstellungen zufolge beinahe zwangsläufig ebenfalls auf politische und militärische Expansion setzen, den Westen herausfordern und die USA vom Thron stoßen. Dazu aber schreibt der Ökonom und frühere polnische Außenminister Grzegorz Kolodko 2020: „China will nicht andere Länder zu Feinden abstempeln (…). Es ist erstaunlich, aber China scheint besser zu verstehen, was gegenwärtig auf dem Spiel steht an der gegenwärtigen Kreuzung der Zivilisation.“11

China ist also im globalen Machtge­füge als wirtschaftliche Weltmacht mit enorm­em internationalen Einfluss mittlerweile klar platziert. Die Bedrohungsszenarien der westlichen Propaganda entspringen Ängsten im Westen, ins Hintertreffen zu geraten. Mit einer tatsächlichen, vor allem militärischen Bedrohung der Welt durch China hat all dies wenig zu tun. China muss in seinem primären Bemühen um die innere Stabilität, Regimesicherung und wirtschaftliche Absicherung verstanden werden – und für die Folgen mancher dieser Aspekte fair kritisiert werden. Die globale Angstmache vor einem neuen »Kalten Krieg« hilft hier allerdings niemandem – weder in China noch in den Zivilgesellschaften im Westen oder in den Ländern des globalen Südens.

Anmerkungen

1) Financial Times, 20.7.2019

2) Economist, 9.4.2016

3) Financial Times, 10.6.2020: Letter: US containment policy feeds into China tensions.

4) Financial Times, 24.5.2014: China cannot follow America´s route to world leadership.

5) Frankopan, P. (2015): Das Licht aus dem Osten: Eine neue Geschichte der Welt. Berlin: Rowohlt.

6) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.1.2018

7) Economist, 9.3.2019

8) Financial Times, 14.6.2017: Chinese investment in Africa: Beijing´s testing ground.

9) Financial Times, 25.6.2020: Letter: Africa needs capital and good policies, not aid.

10) Financial Times, 20.1.2017: China is shaping up to be a world leader on climate change.

11) Kolodko, G. (2020): China and the Future of Globalization: The Political Economy of ­China’s Rise. London: IB Tauris Publishers, S. 120.

Wolfgang Müller ist Sozialwissenschaftler und Informatiker und hat nach seinem Berufsverbot mehrere Jahre in Beijing gelebt. Für die IG Metall hat er die Beziehungen zu den chinesischen Gewerkschaften aufgebaut und organisiert seit über 10 Jahren Studienreisen mit dem Schwerpunkt Arbeitswelt in China. Im Frühjahr 2021 erschien im VSA Verlag sein Buch »Die Rätsel Chinas – Wiederaufstieg einer Weltmacht«.

Alte Klischees neu konfiguriert


Alte Klischees neu konfiguriert

Die Konstruktion Chinas als Bedrohung

von Mechthild Leutner

Das Bild eines für die Welt bedrohlichen Chinas ist alt und voller rassistischer Konnotationen. Es entfaltet seine Wirkung vornehmlich im Zusammenhang mit globalstrategischen Überlegungen und dient der Legitimation von Konfrontation und Aufrüstung. Seit den 2000er Jahren wird ein »neues« Bedrohungsszenario entwickelt – mindestens auf drei Ebenen: China gilt als ökonomische, politisch-ideologische und militärische Bedrohung. Der Beitrag versucht die Entwicklung und die Konsequenzen dieses Narrativs nachzuzeichnen.

China als Gefahr für die Welt – dieses Narrativ knüpft an koloniale Feindbilder des 19. Jahrhunderts an, die China und Chines*innen als andersartig, „rassisch minderwertig“ und „halbzivilisiert konstruierten und die »Gelbe Gefahr«“ beschworen. Das Feindbild legitimierte die Expansion der imperialistischen Mächte, die in den Opium­kriegen 1840/41, 1858/60 und im Boxerkrieg 1900/01 ihre katastrophalen Höhepunkte hatte. Kaiser Wilhelm II. forderte in der berüchtigten »Hunnenrede« 1900: „Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! (…) Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen (…) sich einen Namen gemacht (…), so möge der Name Deutscher in China auf 1.000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“

Die Aggression des mit NS-Deutschland verbündeten Japan im Zweiten Weltkrieg knüpfte an die Kolonialzeit an, in Deutschland wurden Chines*innen diskriminiert. Der im Kalten Krieg in der Bundesrepublik virulente Antikommunismus führte zur Erweiterung des Bedrohungsnarrativs, siehe stellvertretend den Buchtitel »Die Gelbe Gefahr hat rote Hände. Ein Chinabericht aus dem Winter 1962/63« von Pieter van Blättjen (1963).

Das Feindbild China ist langlebig (Sommer 1991) und wird mit seinen kolonial-rassistischen Klischees immer wieder neu belebt (Suda u.a. 2020) – per politischem Diskurs, aber auch medial.1 Das zeigt sich diskursiv in der Dichotomisierung von Demokratie versus Diktatur, im Anspruch des Westens auf „kulturelle Hegemonie (Edward Said) und der Überzeugung von der Höherwertigkeit des eigenen Ordnungsmodells, während Chinas Entwicklungsmodell als Bedrohung des Eigenen konstruiert wird. Das »andere« Ordnungsmodell beunruhigt (Vogel 2019).

Systematische »Pflege« des Feindbilds

Das im kollektiven Gedächtnis verankerte Feindbild entfaltet in Wechselwirkung mit geopolitischen Interessen seine Wirksamkeit. Das gegenwärtige Bedrohungsnarrativ hat sich wesentlich unter dem Einfluss der USA durchgesetzt, die ihren globalen Führungsanspruch zu sichern suchen. US-Denkfabriken entwickelten dazu ab den 1990er Jahren eine entsprechende Strategie und erklärten die Menschenrechte zum außenpolitisch relevanten argumentativen Kernanliegen. Viele öffentliche Intellektuelle äußerten sich zu diesen Bedrohungsszenarien: Samuel Huntington schürte mit der These vom »naturgemäß zu erwartenden Kampf der Kulturen« Ängste; Zbigniew Brzezinski betrachtete 1999 die Ausdehnung des Einflusses Chinas als nicht hinnehmbar (so unter anderem in seinem viel zitierten Werk »The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives«); Bill Gertz von der evangelikalen Moon-Bewegung publizierte »The China Threat« (2000).

Mit der erfolgreichen Entwicklung Chinas wurde das Bedrohungsnarrativ ausgebaut, zumal das Land sich einer uneingeschränkten neoliberalen Transformation verweigerte. Präsident Obama leitete die Politik des »Pivot to Asia« ein. 2018 bestimmte Präsident Trump Russland und China als Priorität der US-Außenpolitik, noch vor dem »Krieg gegen den Terror«. China wurde zum »strategischen Rivalen« erklärt, ein Handelskonflikt und eine Debatte um einen neuen Kalten Krieg initiiert, wie sich dies in Schlagzeilen manifestierte: »Trump is preparing for a New Cold War With China« (»Trump bereitet sich auf einen neuen Kalten Krieg mit China vor«; The Atlantic, 27.2.2018). Die Politik der Eindämmung Chinas (»Containment«) wurde von amerikanischen Denkfabriken begründet und medial durchgesetzt.

Denkfabriken spielen auch in anderen Kontexten eine zentrale Rolle. Als „Architektin der Theorie von China als Bedrohung in Australien“ wird beispielsweise die australische Denkfabrik »Australian Strategic Policy Institute« (ASPI) genannt. Kaum zufällig wird ASPI vom australischen Verteidigungsministerium mit 4 Mio. US$ finanziert, weitere 5 Mio. US$ seines Budgets zahlen Rüstungsunternehmen, Technologiekonzerne sowie die NATO und die britischen und US-amerikanischen Außenministerien (Robin 2020). Auch in Deutschland wird China als ein »dem Westen« entgegengesetztes System konstruiert, welches »unsere« Freiheit und Demokratie in aggressiver Weise bedrohe und die bestehende Weltordnung infrage stelle (Jia u.a. 2021, S. 54); auch medial wird dieses Szenario in Szene gesetzt – so illustrierte schon 2004 ein die Weltkugel spaltender Drache ein Cover des ­SPIEGEL. Der Bedrohung müsse mit einer robusten Chinapolitik begegnet werden, um Deutschlands »Sicherheit, Wohlstand und Freiheit«, auch durch Auslands­einsätze, zu schützen (vgl. Major und Mölling 2021).

Elemente eines Feindbilds

Verschiedene Komponenten konstituieren das aktuelle Feindbild.

  • 2018 wurde das Diktum von der ökonomischen Bedrohung in den Diskurs eingespeist (Benner et al 2018; kritisch dazu: Rogelja/Tsimonis 2020, S. 103ff.): Aktivitäten chinesischer Unternehmen seien angesichts des feindlichen autoritären Regimes der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) eben nicht mehr nur ökonomische Konkurrent*innen auf dem Weltmarkt, sondern ein Sicherheitsrisiko und drohten, Menschenrechte und Demokratie zu unterminieren.

Die Corona-Pandemie und das Hongkonger Sicherheitsgesetz boten Anlässe, das Bedrohungsnarrativ um politische Komponenten zu erweitern.

  • Chinas weltweite Unterstützung mit Masken und Impfstoffen erfuhr eine Rahmung als »Masken-« bzw. »Impf­diplomatie«. Chinesische Diplomat*innen, die eine Politisierung der Pandemie kritisierten, wurden teils als aggressive „Wolfskrieger“ bezeichnet (Heide 2020), die Abhängigkeit Deutschlands von chinesischen Waren zum Sicherheitsinteresse erklärt.
  • Das Sicherheitsgesetz wurde als Verletzung des Völkerrechts, als „Warnung für den Westen“ (Brüggmann 2020) und in einer Linie mit Chinas aggressivem Vorgehen im südchinesischen Meer, den Drohgebärden gegen Taiwan, der brutalen Unterdrückung der Uiguren und den opportunistischen Versuchen, die Coronakrise für Einflusskampagnen zu nutzen“, präsentiert (SPIEGEL 2020).
  • Dies stützte das Diktum von der „angestrebten globalen Hegemonie Chinas“.2 China sei unter all den mächtigen Feinden von Menschenrechten, demokratischer Entscheidungsfindung und Rechtsstaatlichkeit „der vermutlich bedrohlichste dieser Feinde“, der die westlichen Demokratien „unterwandert“ und die Welt „lautlos erobert“ (Hamilton/Ohlberg 2020, Klappentext).

»Eroberung« verweist auf die militärische Komponente des Bedrohungsnarrativ.

  • Am 7. März 2021 titelte die FAZ „Verteidigungsministerium warnt vor Bedrohung durch China“ und zitierte Militärexperten der Bundeswehr zur „weltweiten Einflussnahme [Chinas], unter anderem bezüglich Rüstungsverkäufen und Militärkooperationen“.3
  • NATO-Generalsekretär Stoltenberg stellte China als „eine systemische Herausforderung“ dar. Seine Relativierung: „China ist nicht unser Gegner, nicht unser Feind“ und man stehe nicht vor einem neuen Kalten Krieg,4 wurde allerdings von einem der Axel Springer SE mehrheitlich zugehörigen Medium anders interpretiert: »China als neue Bedrohung: So will sich die Nato gegen die ehrgeizige Supermacht aufstellen« (Business Insider 2021). Inzwischen geraten verstärkt Taiwan und das südchinesische Meer in den Fokus. Eine mögliche Invasion Taiwans wird als „größte militärische Gefahr, die von China ausgeht“ postuliert.5
  • Die Durchsetzung des Militärpaktes AUKUS gilt nun folgerichtig als „new U.S. alliance responding to the Chinese threat” (Neue US-Allianz als Antwort auf die chinesische Bedrohung, Washington Post, 15.9.2021). China, nicht die USA und ihre Kriege, ist darin eine Bedrohung globaler Stabilität. Von „Einschüchterungs- und Erpressungspolitik“ in den Meeren des West-Pazifik durch China ist die Rede, der nicht mehr mit einer »Appeasement-Politik« begegnet werden könne (vgl. Winkler 2021).

Das Feindbild ist also gesetzt: China ist »strategischer Rivale« in einer globalen Systemauseinandersetzung und ökonomische, politische und militärische Bedrohung, da aggressiver Gegenpol eines demokratisch-liberalen westlichen Ordnungsmodells. Es wird getitelt: »Weltmacht China: Eine Bedrohung« (Süddeutsche Zeitung) und »Chinas Marsch nach Westen: Wie gefährlich die „Neue Seiden­straße“ wirklich ist«. Das Handelsblatt karikiert einen lächelnden chinesischen Staatspräsidenten, der auf der nördlichen Welthalbkugel ein Lasso nach Europa auswirft. Das Bild lehnt sich an eine alte Karikatur von Cecil Rhodes an, der breitbeinig auf dem afrikanischen Kontinent stehend Telegraphenlinien spannt und den britischen Kolonialanspruch verdeutlicht.6 Die Leichtigkeit, mit der kolonial-rassistische Karikaturen wieder aufgenommen werden, ist frappierend.

Die Folgen des Feindbildes: Aufrüstung und Drohungen

Das Feindbild China ist zu einer „ideologischen Hauptwaffe“ (Sommer 1991) bei der Festschreibung des globalen Führungsanspruches der USA geworden. Kritische Stimmen problematisieren die in Gang gesetzte Eskalationsspirale, verweisen auf unterschiedliche Interessenlagen von USA und Europa/Deutschland sowie auf mögliche Folgen des Feindbildes.

Schon jetzt haben Debatten um die Erhöhung der Rüstungsausgaben Auftrieb, ein für alle Staaten kostspieliges militärisches Wettrüsten hat eingesetzt, die Gefahr eines Krieges steigt. Die Entsendung des deutschen Kriegsschiffes »Bayern« in den Indo-Pazifik (vgl. Hoering in dieser Ausgabe) lässt Parallelen ziehen zum deutschen Ostasiengeschwader (1869-1914) an Chinas Küsten.

Das Feindbild dient zugleich der Selbstvergewisserung westlicher Höherwertigkeit und Relativierung eigener Probleme, z.B. in der Pandemie-Bekämpfung und beim Klimaschutz, und fungiert als soziales Stabilisierungselement. Die von evangelikalen Kreisen in den USA postulierte gottgegebene Mission zur Rettung Chinas, das »kommunistische« »Reich des Bösen«, kann zwar in Deutschland kaum mobilisieren, doch deutsche evangelikale Rechte wie Adrian Zenz haben das allerorten wiederholte Narrativ des repressiven chinesischen Staates und seiner globalen Bedrohung in essentiellen Teilen mit etabliert (vgl. Sachs 2020; Chin 2019).7 Bellizistische Töne finden sich auch bei Politiker*innen, die sich in der »Inter-Parlamentarischen Allianz zu China (Inter-Parliamentary Alliance on China)« zusammengeschlossen haben. Das Bedrohungsnarrativ wirkt sich zudem auf die asiatischen Communities im Westen aus. Seit Beginn der Corona-Pandemie 2020 ist auch in Deutschland vermehrt anti-asiatischer Rassismus zu beobachten, befeuert durch Diskussionen um mögliche Schuldzuweisungen an China. Abbildungen in den Medien stigmatisieren Masken tragende Chines*innen, asiatisch gelesene Menschen werden verbal attackiert, Kabarettisten verhunzen die chinesische Sprache.

Ins Visier der Protagonist*innen des Feindbildes geraten weiter auch diejenigen, die sich gegen die doppelten Standards der Bewertung und für Kooperation mit China einsetzen. Sie werden diskreditiert und eine skeptische Haltung zu Kooperationen mit China und Chines*innen (Stichwort »Gelbe Spione«) wird bemerkbar. Für die USA wird von manchen befürchtet, dass sich eine so starke Anti-China-Rhetorik entwickeln könnte, die mit der vorgeblich antikommunistischen Rhetorik der McCarthy-Ära vergleichbar wäre.8 Das gefährdet gemeinsame Projekte, dies umso mehr, als die Wirkung des Feindbildes China auch diejenigen in China schwächt, die sich für umfassende Kooperation einsetzen.

Nach dem Afghanistan-Rückzug titelte die New York Times „What Comes After the War on Terrorism? War on China?“ (07.09.2021). Der Autor, Thomas Friedman, warnte dringend davor, einem »Krieg« gegen China nun oberste Priorität zu geben – eine Warnung die wir ernst nehmen sollten.

Anmerkungen

1) Siehe auch minima sinica: Zeitschrift zum chinesischen Geist, 32 (2020), mit einem Dossier zum Thema China als Drohkulisse, hrsg. v. Roderich Ptak/Ylva Monschein, OSTASIEN Verlag 2021.

2) Menschenrechtspolitischer Sprecher der CDU, Michael Brand, in: Ismar und Wang 2020.

3) Noch ein Jahr zuvor hatte ein Militärexperte wegen seines im Verhältnis zu den USA und Russland geringen nuklearen Potentials eine militärische Bedrohung durch China ausgeschlossen; siehe Lüdeking 2020.

4) Hier zitiert nach SPIEGEL 2021.

5) So Francis Fukuyama im Interview mit dem Tagesspiegel, vgl. Schäuble und Lehming 2021.

6) Vgl. die originale Karikatur von Edward Sambourne: The Rhodes Colossus. Punch 1892.

7) Zenz sagte selbst: Ich spüre, dass Gott mich leitet, das zu tun“ (I feel very clearly led by God to do this“), in Wall Street Journal 2019.

8) Hier der ehemalige Botschafter Max Baucus im CGTN-Interview (CGTN 2020).

Literatur

Benner, Th.; Weidenfeld, J.; Ohlberg, M.; Poggetti, L.; Shi-Kupfer, K. (2018): Authoritarian Advance: Responding to China’s Growing Political Influence in Europe. Global Public Policy Institute and Mercator Institute for China Studies.

Brüggmann, M. (2020): Warnung für den Westen. Handelsblatt, 08.07.2020.

Business Insider Deutschland (2021): China als neue Bedrohung: So will sich die Nato gegen die ehrgeizige Supermacht aufstellen. 14.06.2021.

CGTN (2020): Former U.S. Amb. to China Max Baucus: Being constructive & honest could save U.S.-China relations. World Insight with Tian Wei,15.05.2020.

Chin, J. (2019): The German Data Diver Who Exposed China’s Muslim Crackdown. Wall Street Journal, 21.05.2019.

Hamilton, C.; Ohlberg, M. (2020): Die lautlose Eroberung. Wie China westliche Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet. München: DVA.

Heide, D. (2020): China schadet sich mit seiner aggressiven Außenpolitik selbst. Handeslblatt, 13.5.2020.

Ismar, G.; Wang, N. (2020): Auf Abstand, Tagesspiegel, 23.06.2020.

Jia Ch.; Leutner, M.; Xiao M. (2021): Die China-­Berichterstattung in deutschen Medien im Kontext der Corona-Krise. Studie im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung 12/2021, Berlin.

Lüdeking, R. (2020): 50 Jahre Atomwaffensperrvertrag. Ein Plädoyer für atomare Abrüstung und Nichtverbreitung in Zeiten der Coronapandemie. BAKS-Arbeitspapier 4/2020.

Major, C.; Mölling, Ch. (2021): Nach dem Rückzug kein Rückzug! Tagesspiegel, 12.09.2021.

Robin, M. (2020): The think tank behind Australia’s changing view of China. Financial Review, 15.02.2020.

Rogelja, I.; Tsimonis, K. (2020): Narrating the China Threat: Securitising Chinese Economic Presence in Europe. The Chinese Journal of International Politics 13(1), S. 103–133.

Sachs, J. (2020): Amerikas heilloser Kreuzzug gegen China. Aus dem Englischen von Sandra Pontow. Project-Syndikate.org, 05.08.2020.

Schäuble, J.; Lehming, M. (2021): Francis Fukuyama zu 9/11 und Afghanistan: „Die wirklichen Fehler wurden später unter Obama gemacht“. Der Tagesspiegel, 07.09.2021.

Sommer, G. (1991): Zur Relevanz von Feindbildern – am Beispiel des Golfkrieges. Dossier No.09, Beilage zu Wissenschaft und Frieden 3/1991.

SPIEGEL (2020): Ich werde die letzte Stimme der Hongkonger sein. Interview mit Nathan Law von Jörg Schindler. Der Spiegel, 8.8.2020.

SPIEGEL (2021): Nato stuft China als »systemische Herausforderung« ein. Der Spiegel, 14.06.2021.

Suda, K., Mayer, S.; Nguyen, Ch. (2020): Antiasiatischer Rassismus in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. (Anti-)Rassismus, No. 42-44, S. 39-44.

Vogl, D. (2019): Volksrepublik China. Zivilisationsanspruch und Wahrnehmung hybrider Bedrohung. Wissenschaft und Frieden 3/2019, S. 20-22.

Winkler, P. (2021): Neues Bündnis im Südpazifik: Australien wählt das Lager der Freiheit. Neue Zürcher Zeitung, 16.09.2021.

Mechthild Leutner ist emeritierte Professorin für Staat und Gesellschaft des modernen China an der Freien Universität Berlin. Sie hat zahlreiche Publikationen vorgelegt zur neueren und neuesten Geschichte Chinas, zu den deutsch-­chinesischen Beziehungen und zur Wahrnehmung Chinas.

Zum Krieg – im Krieg – gegen den Krieg

Zum Krieg – im Krieg – gegen den Krieg

von Jürgen Nieth

»1914 – Die Avantgarden im Kampf«. Unter diesem Titel befasst sich eine Ausstellung in der Bundeskunsthalle in Bonn mit der modernen Kunst vor dem und im Ersten Weltkrieg. Sie präsentiert vom 8. November 2013 bis zum 23. Februar 2014 über 300 herausragende Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen sowie dokumentarische Fotografien von 60 der wichtigsten Künstler und Künstlerinnen Europas. Unter ihnen viele, die vor dem Krieg international einen engen Austausch miteinander gepflegt hatten und ihre Werke in vielen Ländern Europas ausstellten. KünstlerInnen, die sich in Vereinigungen zusammengeschlossen hatten, wie der »Blaue Reiter«, die von vornherein international angelegt waren, und die häufig über die Landesgrenzen hinweg eng befreundet waren. 1914 standen sie sich dann »im Feld« oder mit ihrem Wirken in der Etappe gegenüber.

Viele Künstler warnten in der Vorkriegszeit vor den Gräueln des Krieges, z. B. der Österreicher Alfred Kubin mit seinen Werken »Der Krieg« und »Nach der Schlacht«; andere Künstler entzogen sich dem Krieg und arbeiteten gegen ihn, wie Frans Masereel.

Doch viele andere beflügelten mit ihren Werken den »Patriotismus«, so Lovis Corinth, der sich selbst 1914 kriegsbereit im Harnisch portraitierte. KünstlerInnen wie Ernst Barlach, Käthe Kollwitz und Max Liebermann fertigten in Deutschland Lithografien für die Künstlerflugblätter »Kriegszeit«. Auf russischer Seite veröffentlichte Kasimir Malewitsch eine Reihe von Propagandablättern. In Italien oder Frankreich finden wir ähnliche Entwicklungen.

Und es gab jene, die »verschont« blieben, wie Pablo Picasso, der als Spanier, oder Henri Matisse, der aus gesundheitlichen Gründen nicht eingezogen wurde. Einige waren auch zu alt, wie Emil Nolde. Doch sie waren die Ausnahme. Die Mehrheit der Künstler zog mit unterschiedlichen Motiven aber freiwillig in den Krieg:

  • mit Begeisterung, wie z. B. Franz Marc, der im Krieg ein „selbstgewolltes Opfer“ sah (S.24);
  • aus Sorge, sonst als Drückeberger bezeichnet zu werden, wie Oskar Kokoschka, der befürchtete, es wird „eine ewige Schande sein […], zu Hause gesessen zu haben“ (S.25);
  • manche auch, um den Krieg zu erleben, ohne selbst zu kämpfen, wie Max Beckmann, der als freiwilliger Krankenpfleger in einem Lazarett arbeitete.

70 Millionen Soldaten nahmen am Ersten Weltkrieg teil, mehr als jeder Achte kam dabei um. Rund fünf Millionen Tote wurden nicht einmal identifiziert (ihnen ist ein gesonderter Ausstellungsteil gewidmet, »Vermisste Söhne – der Krieg als Akt der Auslöschung«).

Doch die barbarischen Gemetzel hinterließen ihre Spuren, die existenziellen Seinserfahrungen stießen ein neues Bewusstsein an. Viele der nach 1914 entstandenen Gemälde und Zeichnungen der Kriegsfreiwilligen und -unterstützer müssen heute als Ablehnung der Gewalt, als Antikriegsposition gesehen werden. Deutlich wird das u.a. bei Oskar Kokoschka, der vom Kriegsfreiwilligen zum Pazifisten wurde. Noch 1916 wurde er als »Kriegsmaler« der militärischen Propagandazentrale Österreich-Ungarns zugeordnet, ein Jahr später zeichnet er seine »Kriegsmappe«, die wahrscheinlich aufgrund der kompromisslosen Anklage gegen den Krieg damals nicht veröffentlicht wurde.

Der älteste Sohn von Käthe Kollwitz starb in der frühen Kriegsphase. Es hat die Künstlerin, deren Arbeiten ich immer als einheitliches Werk gegen Elend und Gewalt gesehen habe, bis zum Ende ihres Lebens nicht losgelassen, dass sie zusammen mit ihrem Mann die freiwillige Kriegsmeldung ihres Sohnes befürwortet hatte.

Einigen blieb nicht die Zeit für eine Korrektur ihrer Position: August Macke fiel schon am 26.9.1914 in Frankreich, und Franz Marc starb am 04.3.1916 bei Verdun.

Durch die extremen Erfahrungen des Krieges wandten sich viele Künstler aber nicht nur neuen Themen zu, sie veränderten auch ihre bildnerischen Verfahren. Kriegsgegner emigrierten in die neutrale Schweiz und gründeten 1916 »Dada« als internationale Protestbewegung. Sie forderten eine sich von allem Alten befreiende Kultur. Andere setzten gegen Ende des Krieges immer stärker auf Abstraktion.

Die großzügige und eindrucksvolle Präsentation der Ausstellung wirft einen politischen Blick auf das Wirken der Künstlerinnen und Künstler vor dem und im Ersten Weltkrieg und dokumentiert die damit verbundenen kunstgeschichtlichen Entwicklungen. Sie enthält viele Werke, die man nur selten zu sehen bekommt. Vor allem aber lohnt ein Besuch, weil diese Ausstellung Zusammenhänge und Entwicklungsprozesse erkennen lässt.

Unbeantwortet bleiben muss die Frage, warum sich so viele Künstler 1914 für den nationalistischen Wahnsinn begeistern ließen, obwohl sie vorher die Chance hatten, Völker verbindende Erfahrungen zu sammeln.

Anmerkung

Die Seitenzahlen beziehen sich auf den Ausstellungskatalog »1914 – Die Avantgarden im Krieg«, hrsg. von der Bundeskunsthalle Bonn, Buchhandelsausgabe erschienen bei Snoeck, 352 S.

Jürgen Nieth ist Mitglied der Redaktion von Wissenschaft und Frieden.

Opferidentitätenfalle in Konflikten

Georgien/Abchasien

Opferidentitätenfalle in Konflikten

von Anna Lübbe

Am Beispiel des seit zwei Jahrzehnten sich hinziehenden Sezessionskonflikts wird gezeigt, wie Großgruppen kollusiv in einen existentiellen, kaum mehr lösbaren Widerstreit geraten können, wenn im Geschichtsbild der beteiligten Gruppen wurzelnde Empfindlichkeiten getriggert werden. Es werden Ansätze diskutiert, um Konfliktsysteme, die sich in einer solchen psychopolitischen Dynamik festgefahren haben, wieder zu mobilisieren.

Abchasien liegt im Nordwesten Georgiens an der Schwarzmeerküste. Es ist eine von mehreren Regionen Georgiens, die durch multiethnische Zusammensetzung gekennzeichnet sind. Mit dem Zerfall der Sowjetunion wurden Abchasiens Sezessionsbestrebungen wach, und Georgien entwickelte einen starken Ethnonationalismus (»Georgien den Georgiern«). Die Abchasen setzten in einem Krieg 1992-1994 ihre De-facto-Unabhängigkeit durch. Die Auseinandersetzungen waren mit Tausenden von Toten und Hunderttausenden von Flüchtlingen verbunden. Vor allem Russland und die Vereinten Nationen bemühten sich um Befriedung, vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Interessenlage aber mit unterschiedlichen Zielvorstellungen (Gruska 2005).

Durch die unblutige »Rosenrevolution« im Jahr 2003 kam in Georgien eine junge, nationalistische und westorientierte Führungselite unter dem Präsidenten Saakashvili an die Macht. Im August 2008 begann Saakashvili einen Krieg mit dem Ziel, Abchasien und das ebenfalls abtrünnige Südossetien zurück zu erobern. Der Krieg dauerte fünf Tage, führte zum Kriegseintritt Russlands auf der abchasischen und südossetischen Seite und endete mit einer harschen Niederlage Georgiens. Westliche Politiker und Medien kritisierten Russlands harte Reaktion scharf, militärisch griff der Westen aber nicht ein. Russland erkannte nun Abchasien und Südossetien als eigenständige Staaten an. Offizielle Bemühungen, unter Beteiligung der Konfliktparteien einschließlich Russlands und unter der Leitung von Vereinten Nationen, OSZE und Europäischer Union die Situation zu klären – die so genannten »Genfer Gespräche«, mittlerweile in der 15. Runde –, taten sich bereits schwer festzulegen, wer als Verhandlungspartner auftreten darf. Bereits in den Jahren vor der militärischen Eskalation vom August 2008 hatte es wiederholte Vermittlungsbemühungen unterschiedlicher Akteure gegeben (Gruska 2005; Kaufmann 2007). Die Positionen in der Statusfrage blieben aber unbeweglich.

Die Mediationsresistenz des Konflikts hat viele Gründe. In der Konfliktforschung werden zunehmend auch psychologische Faktoren für die Verhärtung von Großgruppenkonflikten herausgearbeitet (Volkan 2007; Kelman 2009; Kaufman 2001; Simon 2004; Wallach 2006; Lübbe 2009; 2010). Ein für ethnopolitisierte Großgruppenkonflikte typischer Blockademechanismus sei am georgisch-abchasischen Beispiel aufgezeigt.

Mediationsresistenz des Konflikts

Bei dem Konflikt zwischen Georgien und Abchasien handelt es sich um einen ethnopolitisierten Konflikt in dem Sinne, dass die Freund/Feind-Unterscheidung entlang ethnischer Grenzen verläuft. Die Konfliktforschung hat einige Faktoren ausgemacht, die eine Eskalation von Großgruppenkonflikten entlang ethnischer Gruppengrenzen zu begünstigen scheinen (Kaufman 2001; Volkan 2007). Dazu gehört eine schwache gesamtstaatliche Integrationskraft, typischerweise bei Staatenbildung auf tribalistischer Grundlage. Im Kaukasus kommt die ethnisierende Wirkung der sowjetischen Nationalitätenpolitik hinzu (Gruska 2005). Ein weiterer Faktor ist die Destabilisierung durch eine politische Übergangssituation, im Kaukasus durch den Zerfall der Sowjetunion. Hinzu kommt eine ethnopolitisierende Propaganda durch Großgruppenführer, die in unsicheren und konfliktträchtigen Zeiten ihre Stunde finden. Durch die Ethnopolitisierung bekommt der Konflikt einen existenziellen, die Identität der Parteien betreffenden Charakter. Wie tragen solche Identitätsaspekte im georgisch-abchasischen Fall zur Mediationsresistenz des Konflikts bei?

Bestandteil gelingender Mediation ist ein Übergang von den unvereinbaren Positionen der Konfliktparteien zu den dahinter liegenden Bedürfnissen. Der Übergang ist blockiert, wenn er sich den beteiligten Kollektiven in der ihre Politiken dominierenden Wahrnehmung als Selbstaufgabe darstellt, weil die Positionen existentiell besetzt sind. Im georgisch-abchasischen Konflikt betrifft das die Statusfrage. Die Positionen lauten auf georgischer Seite: Abchasien ist und bleibt ein Teil Georgiens, und auf abchasischer Seite: Abchasien gehört nicht und wird nie wieder zu Georgien gehören. Eine größere Vielfalt an Optionen mit dann möglicherweise auch konsensfähigen Lösungen könnte sich allenfalls auf der Ebene der Bedürfnisse eröffnen (Sicherheit, Autonomie, gerechte Verteilung von Lasten und Ressourcen, usw.). Ist der Übergang von den Positionen zu den Bedürfnissen blockiert, weil die Positionen existenziell unverzichtbar erscheinen, bleibt die Welt, in der die Parteien leben, eine, in der es nur Sieg oder Niederlage geben kann.

Um die Fixierung der Parteien auf ihre Positionen in der Statusfrage zu verstehen, muss man die mediationstypische Zukunftsorientierung verlassen und die historische Dimension eröffnen. Vamik Volkan (2004; 2007) hat herausgearbeitet, dass als kollektive Traumata bewertete historische Erfahrungen einer ethnischen Schicksalsgemeinschaft in aktuellen Konflikten reaktiviert werden und dann unbewusst die Wahrnehmung der gegenwärtigen Lage prägen. Wie also konstruieren die Konfliktparteien vor dem Hintergrund ihrer identitätsprägenden Geschichtsbilder ihre Realität?

Selbsterfüllend wirkende Opferidentitäten

Mit Gründung der Sowjetunion erhielt Abchasien im März 1921 zunächst gleichen Status wie Georgien als Sozialistische Sowjetrepublik. Der weitere Verlauf stellt sich aus abchasischer Sicht als eine Geschichte zunehmender Dominierung dar. 1931 wurde Abchasien zur autonomen Republik innerhalb von Georgien degradiert. Durch die stalinistische Deportations- und Zwangsassimiliationspolitik waren die Abchasen nahe daran, als Volk mit eigener Identität ausgelöscht zu werden. Es wiederholten sich damit Erfahrungen aus dem Zarenreich, als nach brutal unterdrückten Aufständen Tausende Abchasen ins Exil fliehen mussten, ein kollektives Trauma, das den Abchasen noch gut erinnerlich ist (Kaufman 2001). Die postsowjetische Übergangsphase und die damit einhergehende Propaganda waren geeignet, diese Opferanteile der abchasischen Identität zu reaktivieren. Konnte sich Abchasien mit dem Ende der Sowjetunion befreien und für unabhängig erklären, entwickelt sich seither – so die Opfererwartung – eine erneute Gefahr der ethnischen Auslöschung. Das Aufgeben der Position »Unabhängigkeit von Georgien« fällt in der die abchasische Politik dominierenden Wahrnehmung zusammen mit dem Ende einer eigenständigen abchasischen Identität.

Die im Konflikt wirksamen Erwartungen Georgiens resultieren aus identitätsprägenden Elementen des georgischen Geschichtsbildes. Viele Male in seiner Geschichte hat Georgien seine Unabhängigkeit ganz oder teilweise an umgebende Großmächte verloren: Osmanen, Perser, Russen und andere haben im Lauf der Jahrhunderte Georgien besetzt; immer wieder fand es sich im Grenzbereich konkurrierender Einflusssphären übermächtiger Nachbarn (Kaufman 2001). Nach dem Ende des russischen Zarenreiches erlebte Georgien eine kurze Phase der Unabhängigkeit; schon 1921 verlor es seine Freiheit – und das abchasische Gebiet – wieder an die Sowjetunion. Die zentrale georgische Angst richtet sich darauf, nie ein unabhängiger Staat in stabilen Grenzen sein zu dürfen – entweder unfrei oder fragmentiert, das scheint die Alternative zu sein. Auch die georgische Existenzangst wird durch die postsowjetische Entwicklung aktiviert: Kaum hat Georgien seine Eigenstaatlichkeit wiedergewonnen und möchte seine Freiheit für eine Annäherung an den Westen nutzen, unterstützt Russland den Separatismus georgischer Gebiete. Aus dieser Perspektive sind Abchasien, Südossetien und andere ethnische Minderheiten in Georgien russische Marionetten, die Georgien fragmentieren sollen, sobald es sich von der russischen Unterdrückung zu befreien wagt (Kaufman 2001; Gruska 2005). Für Georgien ist das Aufgeben seiner Position in der Statusfrage gleichbedeutend mit dem Zerfall des georgischen Staates.

Das Beispiel zeigt, wie sich identitätsprägende kollektive Traumata in aktuellen Konflikten eskalierend und blockierend auswirken können: Im ethnopolitisierten Konflikt werden im Geschichtsbild der ethnischen Schicksalsgemeinschaft wurzelnde, existentielle Ängste salient. Geschichts»bild« deshalb, weil die Narrative, mit denen ethnische Schicksalsgemeinschaften ihre Identität konstruieren, mit Geschichte selektiv und mythifizierend umgehen. Geschichte wird immer wieder neu und anders erzählt, je nachdem, wer sie wann in welchem Kontext und zu welchen Zwecken erzählt. Insofern sind kollektive Identitäten nichts ahistorisch Feststehendes, sondern zeitbedingt und wandelbar. In ethnopolitisierten Zeiten kommt es zu einem unbewussten »time collapse« (Volkan 2004): In der Wahrnehmung kann zwischen vergangenen, im Narrativ der Gruppe als Traumakapitel verbuchten Erfahrungen und dem gegenwärtigen Konflikt nicht mehr angemessen unterschieden werden. Durch diese Verknüpfung erscheinen bestimmte Positionen als existentiell unverzichtbar und ihre Aufgabe als Selbstaufgabe. Wenn sich in einem Konflikt zwei Parteien mit erstens unvereinbaren und zweitens derart existenziell belegten Positionen treffen, ist der Konflikt blockiert. Der mediationstypische Übergang zur ergebnisoffeneren Ebene der Bedürfnisse und des kooperativen Suchens nach kreativen Lösungen findet nicht statt. Die Beteiligten stecken in der Opferidentitätenfalle.

Internationale Aspekte

Wenn sich die bisherige Analyse auf das Verhältnis zwischen Abchasien und Georgien konzentriert hat, so sollen damit nicht die internationalen Faktoren des Konflikts ignoriert werden, insbesondere die russische und amerikanische Konkurrenz im Südkaukasus vor dem Hintergrund von hegemonialen und Energieinteressen (Kaufmann 2007). Die konkurrierenden Großmächte haben zur Verfestigung der kompromisslosen Haltung der unmittelbar betroffenen Parteien beigetragen, indem ihre Unterstützung auf beiden Seiten Hoffnungen auf eine Durchsetzung der jeweiligen Maximalforderungen weckten. Und die zwischen Ost und West gespaltene Interessenlage torpediert auch die internationalen Vermittlungsbemühungen (Gruska 2005; Kaufmann 2007). Es erscheint aber nicht hilfreich, den Konflikt als Stellvertreterkrieg anzusehen. Die Wahrnehmung, Spielball konkurrierender Großmächte zu sein, ist selbst eine Opferperspektive, die eigene Verantwortungsanteile und Handlungsmöglichkeiten ausblendet. Die Anlehnung an Großmächte erspart die eigenverantwortliche Verständigung mit dem Konfliktpartner, macht erneut abhängig und lässt die Ermächtigungspotentiale regionaler Kooperationen, also auch mit Armenien und Aserbaidschan, ungenutzt.

Ansätze zur Mobilisierung der Blockade

Vor der Diskussion von Ansätzen für eine Mobilisierung der beschriebenen Blockade sei klargestellt, dass die Opferidentitätenfalle hier nicht als die alleinige Ursache für den Konflikt oder für seine Hartnäckigkeit angesehen wird. Solche verfestigten Konfliktsysteme sind durch zirkuläre Kausalitäten mit zahlreichen, sich gegenseitig stabilisierenden Faktoren und Subsystemen gekennzeichnet. Will man den komplexen Interdependenzen gerecht werden, muss auf mehreren Ebenen angesetzt und geduldig der Boden für stabile Veränderungen bereitet werden. Versuche, an dem zu arbeiten, was in konflikthaften Großgruppenbeziehungen unbewusst wirksam ist, finden in der Regel in Dialogprojekten statt (Ropers 2004).

grassroot-Dialogprojekte

Als ein Beispiel für ein Dialogprojekt, das explizit kollektiv-traumatische Vergangenheit bearbeitet, seien Dan Bar Ons »To Reflect and Trust«-Gruppen genannt. Bar On brachte Nachkommen von Holocaust-Opfern und Nachkommen von Holocaust-Tätern in »story telling«-Projekten zusammen. Er fand heraus, dass sie alle unter der unverarbeiteten Vergangenheit litten. Um die Verbindung zu heutigen politischen Folgen herzustellen, integrierte er später auch palästinensische Jugendliche mit in diese Dialogprojekte (Bar On 2008). Dialogprojekte werden häufig mit jungen Menschen veranstaltet, hauptsächlich wohl deshalb, weil sie dafür leichter erreichbar sind. Oft sind das dann, anders als in den Workshops von Bar On, einfach Begegnungsprojekte, in denen die Erfahrung gemacht werden soll, dass die »feindlichen Anderen« so anders und so feindlich nicht sind.

Vamik Volkan hat geltend gemacht, dass in solchen Begegnungsprojekten die konfliktrelevanten Aspekte der jeweiligen Gruppenidentitäten, an denen das einzelne Gruppenmitglied teil hat, nicht transformiert würden, und zwar auch nicht in der einzelnen Person. Die Gruppenidentität werde quasi an der Tür – des Ferienlagers zum Beispiel – abgelegt wie ein Mantel. Bei den gemeinsamen Aktivitäten lassen sich dann leicht Freundschaften schließen, und zuhause legt man den Mantel und damit den das andere Kollektiv betreffenden Hass rasch wieder an. In der Konsequenz hat Volkan mit Dialogprojekten gearbeitet, in denen die zuvor von einem multidisziplinären Team analysierten, konfliktrelevanten Aspekte der Gruppenidentitäten absichtlich getriggert wurden – etwa indem man sich am Schauplatz eines einschlägigen kollektiven Traumas traf – und dann bearbeitet werden konnten (Volkan 2004).

Diese Überlegungen sprechen bereits das Transferproblem an. Dabei geht es über die Frage hinaus, wie in den an Dialogprojekten beteiligten Personen stabile Einstellungsänderungen bewirkt werden können, um die Frage, wie man eine gesellschaftliche Breitenwirkung erreicht. Ein Transfer-Ansatz besteht darin, in den Dialogprojekten die Teilnehmer selbst gemeinsam ein Transferprojekt erarbeiten zu lassen (Ropers 2004). Das kann von einer an die Medien beider Kollektive gerichteten Presseerklärung über eine Vorstellung des im Projekt Erfahrenen zuhause in Bildungseinrichtungen bis hin zur Gründung einer Nichtregierungsorganisation gehen. Beim Transfer kommt es also auf die Handlungsmöglichkeiten der Dialogprojekt-Beteiligten in ihren jeweiligen Kollektiven an. Ein nahe liegender Ansatz für die Erzielung einer großgruppenkonfliktrelevanten Breitenwirkung ist deshalb die Arbeit mit möglichst einschlägig einflussreichen Teilnehmern.

Makropolitische Ansätze

Die direktesten Handlungsmöglichkeiten haben regelmäßig die politischen Führungseliten. Diese sind allerdings für jegliche Art von Arbeit, die nicht strategisch, sondern dialogisch orientiert ist, schwierig zu erreichen. „Strategisch“ meint auf die Durchsetzung von vornherein festliegender und auch fest bleibender Agenden ausgerichtet, während „dialogisch“ eine suchende Haltung bezeichnet, die offen ist für eine mit Einstellungsänderungen einhergehende Veränderung von Agenden im Lauf der Auseinandersetzung. Gerade die psychopolitische Neulanderoberung braucht Offenheit für die Begleiterscheinungen von Selbst-, Fremd- und Weltbildveränderungen. In den Berichten aus Dan Bar Ons Workshops (Bar On 2008) ist beeindruckend, wie die teilnehmende Jugendliche in Phasen von Verleugnung und Verwirrung gerieten, bevor sie nach und nach nur dieses akzeptieren konnten: dass auch die Gegenseite wirklich leidet.

Ein Ansatz auf der Makro-Ebene, der in Reaktion auf diese Probleme entwickelt und auch praktiziert wird, ist die informelle Diplomatie (Fisher 2005; Kelman 2009). Das sind Beratungs- oder Dialogprojekte mit Teilnehmern aus Nichtregierungsorganisationen oder Wissenschaft sowie Personen aus dem Umfeld politischer Entscheidungsträger. Diese Personen, oft selbst ehemalige Funktionsträger, werden darin unterstützt, gewonnene Einsichten an geeigneter Stelle in die Makropolitik einfließen zu lassen. Gegenüber offiziellen diplomatischen Begegnungen ist in informellen Workshops eine Beziehungsarbeit, die den grundlegenden Ängsten und Bedürfnissen der Konfliktparteien gerecht zu werden versucht, eher möglich. Ansätze dazu gibt es bereits, und gab es auch im Kaukasus, genannt sei für den abchasischen Fall der Stadtschlaining-Prozess (Wolleh 2006). Für dergleichen muss sich im Kaukasus nach der Eskalation vom August 2008 erst wieder ein Gelegenheitsfenster öffnen.

Gerade Krisenzeiten bringen in Kollektiven oft Persönlichkeiten an die Spitze, die für dialogisches Arbeiten besonders unzugänglich sind, während gleichzeitig große Teile der Bevölkerung in zunehmendem Bewusstsein der hohen Kosten einer fortdauernden Konfrontation durchaus verständigungsorientiert sein können. Ich habe Gespräche zur Kaukasuskrise begleitet, die von der INGO-Konferenz des Europarats – der zivilgesellschaftlichen Säule des Europarats – organisiert wurden. Die Teilnehmer stammten hauptsächlich aus Nichtregierungsorganisationen und Think Tanks der vom Konflikt betroffenen Regionen, einschließlich Russlands. Es war beeindruckend zu erleben, wie offen und konstruktiv die Gespräche verliefen. Die Teilnehmer, und besonders die Teilnehmerinnen, zeigten sich mit ihrer Betroffenheit und ihren Bedürfnissen, und der enorme Schmerz, den das Trauma des Krieges hinterlassen hat, stand bei zahlreichen Äußerungen aller Seiten deutlich im Raum. Dadurch wurde jenseits aller Freund/Feind-Dichotomien ein Boden des gemeinsamen Menschseins spürbar.

Im weiteren Verlauf der Gespräche wurde deutlich, dass auf dieser zivilgesellschaftlichen Ebene eine hohe Kooperationsbereitschaft und auch praktischer Ideenreichtum herrschen, gleichzeitig aber Frustration wegen der Aussichtslosigkeit, damit die Führungsebenen zu erreichen, und zwar besonders die autoritäre Führungselite Georgiens. Die georgische Führungsebene ist, auch zur innenpolitischen Stabilisierung ihrer eigenen Position, ganz auf die angeblichen Notwendigkeiten der internationalen Politik und die Statusfrage konzentriert. Den Bedürfnissen der Bevölkerung und der drängenden Frage, wie Georgien zu einem Land werden kann, in dem sich ethnische Minderheiten aufgehoben statt bedroht fühlen, wird nicht ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt. Auch dieses prekäre Verhältnis von Führung und Zivilgesellschaft (Kaufmann 2007) ist ein den Konflikt stabilisierender Faktor.

Unterstützung zivilgesellschaftlicher MultiplikatorInnen

Solange also die Makroebene für dialogische Ansätze nicht erreichbar ist, bietet sich weiter die Arbeit mit zivilgesellschaftlichen MultiplikatorInnen an: Medienleute, Menschen aus Bildungswesen, Kunst und Wissenschaft, religiöse Autoritäten, Angehörige von Nichtregierungsorganisationen, Parteien, Gewerkschaften, Stiftungen etc. In Gebieten mit chronifizierten Großgruppenkonflikten, die durch schwache oder autoritäre Staatlichkeit, Ethnisierung, Gewaltökonomien und multiple soziale Probleme gekennzeichnet sind, liegt viel Transformationspotential in zivilgesellschaftlichen Kräften, die in der Gesellschaft meinungs- und einstellungsbildend wirken können. Zivilgesellschaftliche Institutionen haben einen dichteren Kontakt zur Bevölkerung, ein oft auch kooperatives Verhältnis zu ähnlichen Initiativen auf Seiten der anderen Konfliktpartei und nicht zuletzt einen höheren Anteil an Frauen. Damit sind sie eine innersystemische Ressource, die zu unterstützen sich lohnt (Kaufmann 2007). Marco de Carvalho und Jörgen Klußmann (2010) haben in Afghanistan großgruppenkonfliktbezogene Klärungsanliegen dieser Zielgruppe systemisch bearbeitet, also zum Beispiel das Anliegen eines lokalen Mediators zur Frage „Wie können Paschtunen und Tadschiken wieder friedlich im Dorf miteinander leben?“.

Es könnte nützlich sein, systemische Beratungsansätze in den Methodenkoffer der psychopolitischen Friedensarbeit zu integrieren, auf welchen Ebenen der Gesellschaft auch immer (Wils et al. 2006; Lübbe 2007; 2010). Die blockierte Situation im Kaukasus beruht, wie hier zu zeigen versucht wurde, unter anderem darauf, dass die Akteure den existenziellen Kampf antizipieren und ihn in der Folge kollusiv konstruieren. Es fehlt ein Bild davon, dass Staaten Minderheiten in deren Eigenständigkeit unterstützen können, ohne zu zerfallen. Es fehlt an Konzepten, wie man sich von Großmächten emanzipiert, ohne sie sich zu Feinden zu machen, und wie man durch regionale Kooperation an Eigenständigkeit gewinnt, statt sich von globalen Interessengegensätzen spalten zu lassen. Indem die Akteure ihr Handeln an der Welt ausrichten, wie sie sie erleben, rekonstruieren sie diese permanent. Solche fatalen Dynamiken können ein System trotz erheblichen Leidensdrucks resistent gegen Veränderungsbemühungen machen.

Hier braucht es Methoden, die diese Dynamiken bewusst machen und wieder positive Optionen in das System einführen, ressourcenvollere Beziehungen und Systemzustände. Systemische Beratung und insbesondere analoge Simulationsverfahren (Lübbe 2010; de Carvalho/Klußmann/Rahman 2010) sind eine Möglichkeit, solche ressourcenvolleren Konzepte zu entwickeln. Wesentlich ist dabei, dass die Lösungen mit den Betroffenen aus dem simulierten System selbst heraus entwickelt werden. Derart innersystemisch angeregte Veränderungsprozesse halte ich für chancenreicher als Versuche, ein System nach Maßgabe von auf externen Analysen beruhenden, mitgebrachten Konzepten instruktiv verändern zu wollen (Lübbe 2007). Möglicherweise können sie im System Veränderungen in Richtung ressourcenvollerer Systemzustände anregen, die dann nicht mehr an den Grenzen der bisherigen Realitätskonstruktionen scheitern müssen.

Fazit

Eine Bearbeitung ethnopolitisierter Großgruppenkonflikte erfordert nach allem die Integration psychopolitischer Sicht- und Herangehensweisen in den Friedensprozess. Opferidentitäten wirken selbsterfüllend; sie tendieren dazu, gegenwärtige Beziehungen der Tragik des Wiederholungszwangs zu unterwerfen. In dem Maße, wie sie zurücktreten, könnten sich wieder Optionen für ressourcenvollere Koexistenzen im Kaukasus eröffnen.

Literatur

Bar On, Dan (2008): The »Others«“ Within Us. Constructing Jewish-Israeli Identity. Cambridge University Press.

de Carvalho, Marco/Klußmann, Jörgen/Rahman, Bahram (2010): Konfliktbearbeitung in Afghanistan. Die Systemische Konflikttransformation im praktischen Einsatz bei einem Großgruppenkonflikt. Friedrich-Ebert-Stiftung.

Fisher, Ronald (Hrsg.) (2005): Paving the Way. Contributions of Interactive Conflict Resolution to Peacemaking. Lexington Books.

Gruska, Ulrike (2005): Separatismus in Georgien. Möglichkeiten und Grenzen friedlicher Konfliktregelung am Beispiel Abchasien. Universität Hamburg.

Kaufman, Stuart (2001): Modern Hatreds. The Symbolic Politics of Ethnic War. Cornell University Press.

Kaufmann, Walter (2007): Die Rolle von Nichtregierungsorganisationen bei der Bearbeitung von Konflikten im Südkaukasus. In: Klein, Ansgar/Roth, Silke (Hrsg.): NGOs im Spannungsfeld von Krisenprävention und Sicherheitspolitik. VS Verlag, S.299-312.

Kelman, Herbert (2009): Interactive Conflict Resolution by the Scholar-Practitioner. Zeitschrift für Konfliktmanagement, S.. 74-78.

Lübbe, Anna (2007): Ethnopolitische Konflikte. Das Potenzial der Systemaufstellungsmethode. Zeitschrift für Konfliktmanagement, S.12-16.

Lübbe, Anna (2009): Us versus Them. Splitting Dynamics and Turning Points in Ethnopolitical Conflict. Journal of Peace, Conflict and Development 13.

Lübbe, Anna (2010): Systemic Constellations and their Potential in Peace Work. In: Fitz-Gibbon, Andrew (Hrsg.): Positive Peace. Reflections on Peace, Education, Nonviolence and Social Change. Rodopi vibs, S.49-57.

Ropers, Norbert (2004): From Resolution to Transformation. The Role of Dialogue Projects. In: Austin, Alex et al. (Hrsg.): Transforming Ethnopolitical Conflict. The Berghof Handbook, Berghof Research Center for Constructive Conflict Management, S.225-269.

Simon, Fritz (2004): Patterns of War. Systemic Aspects of Deadly Conflicts. Carl Auer.

Volkan, Vamik (2004): Das Baum-Modell. In: Geißler, Peter (Hrsg.): Mediation – Theorie und Praxis. Neue Beiträge zur Konfliktregelung. Psychosozial Verlag, S.69-96.

Volkan, Vamik (2007): Killing in the Name of Identity. A Study of Bloody Conflicts. Pitchstone Publishing.

Wallach, Tracy (2006): Conflict Transformation: A Group Relations Perspective. In: Fitzduff, Mari/Stout, Chris E. (Hrsg.): The Psychology of Resolving Global Conflicts. From War to Peace. Praeger Publishers, S.285-305.

Wils, Oliver et al. (2006): The Systemic Approach to Conflict Transformation. Concepts and Fields of Application. Berghof Foundation for Peace Support.

Wolleh, Oliver (2006): A Difficult Encounter – The Informal Georgian-Abchazian Dialogue Process. Berghof Report No. 12, Berghof Research Center for Constructive Conflict Management.

Anna Lübbe ist Juristin, Mediatorin und systemische Beraterin. Als Professorin an der Hochschule Fulda lehrt und forscht sie mit den Schwerpunkten Öffentliches Recht und Konfliktforschung. Sie supervidiert MediatorInnen und führt den systemischen Supervisionsansatz auch in die politische Friedensarbeit ein. Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den die Autorin 2010 am Konfliktforschungszentrum der Universität Marburg gehalten hat.

»Gerechter Krieg« und Pazifismus

»Gerechter Krieg« und Pazifismus

Ein Vergleich islamisch-westlicher Denktraditionen

von Kai Hafez

Vor allem die Existenz des islamistischen Terrorismus lässt nach dem Verhältnis des Islam zur Gewalt fragen. Besteht in der islamischen Welt eine im Vergleich zur christlich-abendländischen Welt kulturell und religiös stärker ausgeprägte Gewaltneigung? Diese auf den ersten Blick plausible Annahme erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht haltbar. Ein Vergleich westlich-christlicher und östlich-islamischer Denktraditionen verweist sogar auf erstaunliche Parallelen des Gewaltbegriffs.

In beiden Sphären prägt die Idee des »gerechten Krieges« und der »gerechten Gewalt« den Mainstream der Theologie und der Denktraditionen, während sowohl Extremismus als auch Pazifismus Minderheitenmeinungen geblieben sind, die allerdings in der politischen Entwicklung für bedeutsame Ereignisse des gewaltfreien Widerstandes stehen. Der bislang fast durchgehend verweigerte Vergleich der religiösen und politischen Kulturen zeigt, dass Unterschiede zwischen Islam und Westen eher in der Form der ideologischen Begründungen und der Traditionen als in deren Substanz begründet liegen.

Die Lehre vom »gerechten Krieg« – kein Krieg ist heilig

Das Verhältnis von Religion und politischer Gewalt wird nur in einer minoritären Richtung des Islam so gedeutet, dass sich die entsprechenden Interpretationen als Grundlage für terroristische Akte eignen. In der islamischen Tradition lassen sich drei Strömungen einer politischen Gewalttheorie ausmachen (Bennett 2005, S.198 ff.). Am bedeutsamsten ist die Theorie des gerechten Krieges, wonach Gewalt nur defensiv und im Falle eines Angriffes von außen erlaubt ist. Daneben existieren die kleineren Denkströmungen des offensiven und totalen Krieges (Dschihadismus) und des islamischen Pazifismus, auf den später einzugehen sein wird.

Gemäß der moderaten Lesart, die heute die meisten Gelehrten vertreten (Abu-Nimer 2003, S.26 ff., 35; Bennett 2005, S.219 ff.), ist Krieg im Islam nur erlaubt, wenn die Intentionen und die Abwägung der Verhältnismäßigkeit der Mittel keinen anderen Weg erlauben, also etwa zur Befreiung von Muslimen von Aggressoren. Auch im Krieg soll Gewalt verhältnismäßig eingesetzt werden, und Zivilisten dürfen nicht das Ziel des Angriffs sein. Kernpunkt dieser Ansicht ist, dass das sogenannte »Haus des Islam« (Dar al-Islam), also das Territorium mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, zwar gewaltsam verteidigt, aber nicht gewaltsam erweitert werden darf. Kriege um der Mission und Konversion willen dürfen nicht geführt werden.

Vor allem die bei extremistischen Islamisten beliebten Denker Sayyid Qutb und Sayyid Abul Ala Maududi haben einen offensiven »heiligen Krieg« propagiert (Bennett 2005. S.198 ff.). Das Dar al-Islam steht demnach in ständigem Krieg mit dem Dar al-Kufr, mit dem Territorium der »Ungläubigen«. Frieden wird erst im Jenseits gewährt. Historische Bezüge lassen sich zum Beispiel zu den Kalifen herstellen, die als Nachfolger Mohammeds das arabische Territorium aktiv erweitert haben und damit die islamische imperiale Phase einleiteten. Heute ist diese Auslegung einer kleinen terroristischen Minderheit vorbehalten, die als »dschihadistisch« bezeichnet wird (Understanding Islamism 2005).

Die Existenz einer moderaten, defensiven wie einer radikalen, offensiven theologischen Begründung politischer Gewalt stimmt mit der christlichen Tradition überein, auch wenn deren historische Konjunkturen oft zeitversetzt waren. Vilho Harle: „Der Islam ist wegen des Konzepts des Jihad, üblicherweise übersetzt mit ›heiliger Krieg‹, vielfach als eine gewaltsame Doktrin betrachtet worden. Dies ist unzutreffend: Gemäß dem klassischen Islam ist keine menschliche Aktivität heilig, und dies gilt ganz besonders für den Krieg. Es steht auf einem anderen Blatt, dass der Islam, ganz wie der Zoroastrismus, das Judentum und das Christentum, Menschen dazu bewegt hat, im Namen der Religion und im Auftrag Gottes Kriege zu führen – für das Gute und gegen das Böse. (…) Die religiöse Doktrin als solche aber beinhaltet nicht mehr Gewalt als die des Christentums“ (Harle 2000, S.75, 77, eigene Übers.).

In der Geschichte hat es immer wieder das Bild des christlichen Märtyrers gegeben (Davis III 2004). Für den christlichen Krieger war allerdings nicht Jesus Christus das Vorbild, da er mit der traditionellen christlich-jüdischen Figur des kriegerischen Messias, der die Welt reinigt und sie dem richtigen Glauben zuführt, gebrochen hatte. In den Jahrhunderten nach dem Tod Christi entwickelte sich die Märtyrer-Figur des Christentums immer stärker vom leidenden und pazifistischen Märtyrer zum christlichen Krieger-Märtyrer, etwa in der legendären Figur des Heiligen Georg aus Lydda/Palästina, die im 4. Jahrhundert entstand. Georg wurde später von Richard Löwenherz zum Schutzherrn dessen Kreuzzuges erkoren. Muslime und Christen haben über Jahrhunderte nahezu identische Vorstellungen vom gerechten Krieg entwickelt. Wichtig waren hierbei im Christentum etwa die Lehren des Heiligen Augustinus oder die frühmittelalterliche Theologie des französischen Klosters Cluny, deren Abt Odo (926-44) argumentierte, man könne Kriege für gute Motive, also »heilige Kriege«, führen (Davis III 2004, S.251). Diese Vorstellung wurde während der Kreuzzüge offensiv-radikal, während der Angriffe islamischer Staaten aber auch defensiv-moderat gedeutet, und sie lebt auch heute noch in der Sprachgebung solcher Evangelisten wie Billy Graham fort, dessen Reden deutliche Spuren der heiligen Kriegslehre aufweisen. Glaube, so Graham, sei permanenter Krieg, Krieg gegen die Sünder und die Sünde (Davis III, S.244). Im Westen ist die offensive Reinigungsmetapher zum Teil auch bei christlich inspirierten Sekten wie Scientology sehr beliebt, bekannt geworden etwa im Januar 2008, als der amerikanische Schauspieler Tom Cruise, ein hohes Mitglied der Sekte, in einem später veröffentlichten internen Video zur Reinigung der Welt aufrief.

Der christliche Protestantismus hat in den letzten einhundert Jahren zahlreiche Begründungsmuster entwickelt, die einen moralischen Einsatz von Gewalt rechtfertigen und »gerechte Kriege« möglich erscheinen lassen. Der berühmte amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr bereitete mit seiner Lehre vom ethischen Perfektionismus im Umgang mit Gewalt den moralphilosophischen Grund für den amerikanischen Eintritt in den Zweiten Weltkrieg (Childless 1974). Der Mensch, so Niebuhr, sei im Grunde sündhaft, und Gewalt sei dem Leben immanent. Es komme darauf an, im Umgang mit der Gewalt ein ziviles Maß zu entwickeln, nicht aber, wie in der pazifistischen Leugnung jeglicher Gewalt, soziale Verantwortung abzulehnen. »Notwendigkeit« (necessity) und »Verantwortung« (responsibility) waren für Niebuhr die zentralen Maßstäbe, an denen die Anwendung von Gewalt auszurichten war.

Doktrinäre Fortschritte erzielte etwa die protestantische Kirche dann nach dem Zweiten Weltkrieg, als immer mehr Interpreten unter dem Eindruck der entwickelten Atom- und Massenvernichtungswaffen eine pazifistische Wendung forderten und den »gerechten Krieg« nicht mehr für durchführbar hielten (Honecker 1995, S.416 ff.). Dass diese Interpretation jedoch nicht die gesamte christliche Weltkirche in gleicher Weise erfasst hat, sondern immer wieder auch »gerechte Kriege« kirchlicherseits propagiert werden können, zeigte sich etwa am 17. Februar 2008, als die orthodoxe Kirche in Belgrad die Regierung anlässlich der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo zur Mobilisierung der Armee und zur Besetzung der ehemaligen serbischen Republik aufforderte. Dieses eine Beispiel zeigt bereits, dass weder das Christentum noch der Islam mit einer offensiven und radikalen Deutung von Gewalt vollständig abgeschlossen haben.

Gewaltfreier islamischer Widerstand – im Westen ignoriert

Der Pazifismus ist in Europa und Nordamerika eine verbreitete Weltanschauung, in der verschiedene humanistische und christliche Begründungen zu einer grundsätzlichen Ablehnung von Krieg und Gewalt führen. In den USA ist vor allem der Quietismus-Pazifismus der Quäker und der Amish-People ein Begriff. Wesentliche Einflüsse gingen aber auch von der Aufklärung aus, von Kants »ewigem Frieden« und der sich entwickelnden Menschenrechtsphilosophie. Moderne Friedensbewegungen haben sich in westlichen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder gebildet, vor allem gegen den Krieg in Vietnam, die Golfkriege oder die Aufrüstungsbestrebungen während des Kalten Krieges. Pazifismus und Friedensbewegungen sind allerdings nicht identisch. Letztere sind relativ kurzfristige soziale Bewegungen, die Menschen unterschiedlicher Motivation vereinen, von denen die Wenigsten konsequente Pazifisten sind, wofür etwa der Zerfall der amerikanischen Friedensbewegung vor dem Einstieg der USA in den Zweiten Weltkrieg steht.

Eine mit dem Pazifismus verwandte Strömung stellt der gewaltfreie Widerstand dar. Sowohl in Europa als auch in Nordamerika haben sich Bewegungen entwickelt, die der Ansicht sind, dass der gesellschaftliche Frieden nicht allein durch die Abwesenheit von Kriegen geschaffen werden kann (Ebert 1978). In den USA wurde vor allem Martin Luther King mit seiner Philosophie des gewaltlosen Widerstandes gegen die Rassendiskriminierung berühmt. In jüngeren Jahren vereinen zum Beispiel die Umwelt- oder auch die Anti-Globalisierungsbewegungen unterschiedliche Formen des gewaltfreien Widerstandes, wobei vor allem symbolische Aktionen einen moralischen Vorteil verschaffen sollen (LeVine 2005, S.246 ff.).

Es wäre trotz entsprechender starker Traditionen dennoch falsch anzunehmen, dass Pazifismus oder gewaltfreier Widerstand im Westen akzeptierte Mehrheitskulturen seien. Der konservative deutsche Bundestagsabgeordnete Heiner Geißler ging 1983 sogar so weit, den Pazifismus für Auschwitz verantwortlich zu machen. Geißlers Aussage macht in überspitzter Form deutlich, dass eine prinzipielle Ablehnung von Gewalt und Krieg von einer Mehrheit in westlichen Gesellschaften als soziale Verantwortungslosigkeit betrachtet wird; eine Position, die in völliger Übereinstimmung mit der gerechten Kriegslehre von Theologen wie Reinhold Niebuhr steht (s.o.). Die zivilisierte Gewalt, nicht aber die völlige Ablehnung von Gewalt, prägt den zeitgenössischen Westen etwa im System der kollektiven militärischen Sicherheit der NATO und militärischer Einsätze im Rahmen der Vereinten Nationen. Zwar wird an dieser herrschenden Lehre von Seiten der Pazifisten immer wieder kritisiert, sie erhalte den Teufelskreis von Krieg und Gewalt aufrecht. Dennoch bleibt die Vorstellung von der ethischen, angemessenen und gerechten Gewalt die primäre, der Pazifismus hingegen die sekundäre Kultur des Westens, die allenfalls von Minderheiten vertreten wird.

Mark LeVine war einer der Ersten, die darauf hingewiesen haben, dass pazifistische und gewaltfreie Denkströmungen und Strategien des Islam im Westen nahezu völlig ignoriert werden. In der westlichen Welt herrscht eine selektive Wahrnehmung vor, die den Islam vor allem auf Terrorismus und alle möglichen Formen der Gewaltausübung reduziert, während umgekehrt der Buddhismus und Hinduismus von Vielen als »Friedensreligionen« verortet werden. Die selektive Festlegung des Islam auf Gewaltaspekte hat dazu geführt, dass der Versuch, Islam und Pazifismus in Einklang zu bringen, für viele Kritiker einer Quadratur des Kreises gleichkommt. Theologisch scheinen unüberwindbare Probleme zu bestehen, da der Koran Gewalt und Krieg, wenn auch unter bestimmten Bedingungen, rechtfertigt und vor allem, weil der Prophet Mohammed selbst Kriege führte. Während christliche Kriegsbegründungen stets sehr aufwändig sind, da sie der pazifistischen Botschaft von Jesus Christus zu widersprechen scheinen, könnte man meinen, dass Krieg und Gewalt dem Grundcharakter des Islam widerspruchsfrei und vollständig entsprechen. Dennoch hat sich ein islamischer Pazifismus entwickeln können, wobei Christentum und Islam spiegelbildliche Methoden der Exegese hervorgebracht haben. Das Christentum hat über Jahrhunderte, und zum Teil bis heute, die radikale Friedensbotschaft von Jesus Christus, die er nicht zuletzt in der Bergpredigt formuliert hat, in der praktischen Theologie durch Kriegsrechtfertigungen konterkariert. Im Islam ist die Lehre vom gerechten Krieg zwar tatsächlich die Hauptbotschaft des Korans, während pazifistische Lehren am Rande existieren (Abu-Nimer 2003, S.33). Allerdings berufen sich islamische Pazifisten auf die frühe Periode des Propheten Mohammed, in der dieser immer wieder trotz Verfolgung seinen Anhängern Gewaltausübung verbot, und zwar auch in Fällen der Selbstverteidigung. Die Person des Propheten Mohammed wird von den unterschiedlichen Richtungen vereinnahmt: Den Pazifisten gilt dieser ebenso als Vorbild wie den Terroristen (s.o.). Die Gruppen beziehen sich auf unterschiedliche Taten und Perioden seines Lebens. Der Missachtung der pazifistischen Schrift (Bibel) durch die christliche Kriegslehre entspricht also eine Relativierung der koranischen Lehre des gerechten Krieges durch die muslimischen Pazifisten unter Rückgriff auf bestimmte islamische Traditionsschriften der Hadith (Taten Mohammeds). Durch diesen epistemologischen Kunstgriff besteht durchaus die Möglichkeit, einen islamischen pazifistischen Traditionsbezug herzustellen. In einzelnen Fällen gelingt heute sogar bereits eine entsprechende Neudeutung des Korans selbst.

Das Bild des leidenden und verfolgten Propheten Mohammed hat sich im Sufismus wie auch in der Ahmadiyya-Bewegung verfestigt. Beide Richtungen stellen starke volksislamische Strömungen dar, die innere Askese und Reinigung durch Leidensfähigkeit predigen und sich vom Dschihad-Begriff als Metapher für den physischen Kriegskonflikt getrennt haben (Abu-Nimer 2003, S.45). Der moderne Reformislam hat diese Impulse aufgenommen und zur Herausbildung eines intellektuellen Pazifismus beigetragen. Maulana Wahiduddin Khan begründet die Überlegenheit des gewaltfreien Widerstandes mit den ersten Jahren des Wirkens des Propheten Mohammed in Mekka, als dieser Gewaltfreiheit und friedliche Mission (dawa) predigte (Khan o.J.). Zeki Saritoprak beruft sich unter Hinweis auf die türkischen Reformdenker Said Nursi und Fetullah Gülen ebenfalls auf das Vorbild Mohammeds (Saritoprak 2005).

Eine außergewöhnliche elegante Argumentation ist die von Chaiwat Satha-Anand, da sie sich nicht nur auf die Praxis des Propheten, sondern auf den Koran selbst bezieht. Zwar räumt Satha-Anand ein, dass der Koran die Anwendung von Gewalt unter bestimmten Bedingungen erlaube. Allerdings seien diese Konditionen in der Ära hochtechnologischer Kriegsführung nicht mehr einhaltbar. Satha-Anand meint, die im Mainstream des Islam verankerte Unterscheidung zwischen Schuldigen und Unschuldigen (Zivilisten) sei im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen nicht mehr schlüssig, da Tötung nicht zielgenau auf Soldaten beschränkt werden könne, was praktisch bedeute, dass auch der Koran unter den zeitgenössischen Bedingungen als Aufforderung zum Kriegsverzicht zu interpretieren sei (Satha-Anand 1993, S.15). Hier deutet sich eine Argumentation an, die absolut parallel zu der pazifistischen Debatte des protestantischen Christentums nach dem Zweiten Weltkrieg verläuft. Beide Überzeugungen, der islamische wie auch der christliche Pazifismus, wenden sich gegen die von Niebuhr und anderen geprägte Vorstellung vom ethisch perfektionierbaren Umgang mit der Gewalt (s.o.) und weisen dabei insbesondere auf die Zerstörungskraft moderner Massenvernichtungswaffen hin.

Es gibt eine große Zahl von Beispielen für den Einsatz gewaltfreier Widerstandstechniken in der jüngeren islamischen Geschichte, die allerdings im Westen kaum beachtet werden. Auch islamistisch-fundamentalistische Organisationen setzen diese Techniken ein. Zu den berühmtesten Beispielen für gewaltfreien Widerstand (vgl. u.a. Wiktorowicz 2004, Zunes 1999) zählen die Ägyptische Revolution 1919 (monatelanger gewaltfreier Widerstand gegen die britische Besatzung), der paschtunische Widerstand 1930 unter Abdul Ghaffar Khan (»Badschah Khan«), der als enger Weggefährte Gandhis im heutigen Nordpakistan Tausende Mitstreiter seiner »Armee Gottes« (Khudai Khidmatgar) zum gewaltfreien Widerstand gegen die britische Kolonialmacht sammelte und sich dabei auf Mohammeds frühe pazifistische Tradition berief (vg. Easwaran 1999, Johansen 1997, Milton-Edwards 2006, S.187 ff.) oder auch in jüngerer Zeit der palästinensische Widerstand 1987, als im ersten Intifada-Aufstand die Palästinenser in der Westbank und im Gaza-Streifen ihre Form des Widerstandes vom bewaffneten Kampf der PLO zu zivilem Ungehorsam und gewaltfreiem Widerstand änderten.

Neben diesen großen Bewegungen ist gewaltfreier Widerstand ein alltäglicher Bestandteil des politischen Lebens in der islamischen Welt; ob Demonstrationen algerischer Journalisten, Hungerstreiks an palästinensischen Universitäten, von irakischen Ajatollahs organisierte Großdemonstrationen oder von Hamas initiierte Menschenketten durch den Gaza-Streifen: Die Zahl der Aktivitäten ist groß, ihr Charakter vielfältig.

Gegen kulturalistische Sichtweisen

Diese Beispiele zeigen schon, dass kulturalistische Thesen, die dem islamischen Raum gewaltfreien Widerstand oder gar Pazifismus grundsätzlich nicht zutrauen und von einer immanenten Gewaltneigung ausgehen, die Verhältnisse in den etwa sechzig islamischen Staaten dieser Erde nie genau analysiert haben. Chancen und Grenzen des gewaltfreien Widerstandes gegen Besatzung und autoritäre Herrschaft in der islamischen Welt sind bislang erst ansatzweise wissenschaftlich erörtert worden. Manchmal hat es den Eindruck, als ob westliche Öffentlichkeiten gewaltfreien Widerstand im islamischen Raum geradezu systematisch ignorieren würden. Während jeder Terroranschlag in den Abendnachrichten landet, sind auch die aufwändigsten gewaltfreien Aktionen bestenfalls Randnotizen in unseren Medien.

Dabei wäre gerade der systematische islamisch-westliche Vergleich von großer Bedeutung. Die muslimische Welt hat eine reiche Tradition friedlicher ziviler Streitschlichtung, aber Strategien des modernen Pazifismus und gewaltfreien Widerstandes sind nur mit begrenztem Erfolg umgesetzt worden. Zwar sind solche Erfahrungen auch im Westen in der Regel gesellschaftliche Randerscheinungen geblieben, aber die Errungenschaften etwa der Arbeiterbewegungen, der Friedensbewegungen oder der afro-amerikanischen Bewegung in den USA zeigen, dass tradierte Institutionen der gesellschaftlichen Streitbeilegung nicht ausreichen, um sich gegen Unterdrückung des modernen Staates zur Wehr zu setzen, egal ob es sich um den eigenen autoritären Staat oder einen fremden Okkupationsstaat handelt. Gerade im Nahen Osten hat sich ein Teil der Jugend der Gewalt zugewandt, weil die alten gesellschaftlichen Friedenssicherungen vom modernen Staat vereinnahmt wurden. Saddam Hussein kooperierte mit den tribalen Autoritäten des Irak (Jabar 2003) und Gamal Abdel Nasser kontrollierte die traditionelle islamische Geistlichkeit. Zur Bewältigung aktueller politischer und sozialer Probleme der islamischen Welt aber bedarf es moderner Emanzipationsbewegungen, in denen die patriarchalische Kluft zwischen Mann und Frau und soziale wie ethnische Grenzen überwunden werden müssen, um den Werten des Pazifismus und des gewaltfreien Widerstandes zum Durchbruch zu verhelfen (Abu-Nimer 2003, S.110 ff.).

Literatur

Abu-Nimer, Mohammed (2003): Nonviolence and Peace Building in Islam. Theory and Practice. Gainesville u.a.: University of Florida Press.

Bennett, Clinton (2005): Muslims and Modernity. An Introduction to the Issues and Debates. London/New York: Continuum.

Childless, James F. (1974): Reinhold Niebuhr’s Critique of Pacifism, The Review of Politics 4: 467-491.

Cleaver, Harry M. (1998): The Zapatista Effect: The Internet and the Rise of an Alternative Political Fabric, Journal of International Affairs 2: 621-640.

Davis III, Charles T. (2004): The Qur’an, Muhammad, and the Jihad in Context, in: J. Harold Ellens (Hrsg.): The Destructive Power of Religion. Violence in Judaism, Christianity, and Islam. Westport/London: Praeger, S.233-254.

Easwaran, Eknath (1999): Nonviolent Soldier of Islam. Badshah Khan: A Man to Match His Mountains. Tomales: Nilgiri.

Ebert, Theodor (1978): Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg. Frankfurt: Waldkircher.

Harle, Vilho (2000): The Enemy with a Thousand Faces. The Tradition of the Other in Western Political Thought and History. Westport/London: Praeger.

Honecker, Martin (1995): Grundriss der Sozialethik. Berlin: de Gruyter.

Jabar, Faleh A. (2003): Der Stamm im Staat. Zur Wiederbelebung der Stammeskultur im Irak, in: Kai Hafez/Birgit Schäbler (Hrsg.): Der Irak – Land zwischen Krieg und Frieden. Mit einem Vorwort von Hans Küng. Heidelberg: Palmyra, S.187-207.

Johansen, Robert C. (1997): Radical Islam and Nonviolence: A Case Study of Religious Empowerment and Constraint among Pashtuns, Journal of Peace Research 1, S.53-71.

Khan, Maulana Wahiduddin (o.J.): Non-Violence and Islam. URL: http://www.alrisala.org/Articles/papers/nonviolence.htm (15. September 2007).

LeVine, Mark (2005): Why They Don’t Hate Us. Lifting the Veil on the Axis of Evil. Oxford: Oneworld.

Saritoprak, Zeki (2005): An Islamic Approach to Peace and Nonviolence: A Turkish Experience, The Muslim World 7, S.413-427.

Satha-Anand, Chaiwat (1993): The Nonviolent Crescent: Eight Theses on Muslim Nonviolent Actions, in: Glenn Paige/Chaiwat Satha-Anand/Sarah Gilliatt (Hrsg.): Islam and Nonviolence. Honolulu: University of Hawaii, Center for Global Nonviolence Planning Project, S.7-26.

Understanding Islamism, International Crisis Group, Middle East/North Africa Report, Nr. 37, 2. März 2005, o.O.

Wiktorowicz, Quintan (Hrsg.) (2004): Islamic Activism. A Social Movement Theory Approach. Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press.

Zunes, Stephen (1999): Unarmed Resistance in the Middle East and North Africa, in: Stephen Zunes/Lester R. Kurtz/Sarah Beth Asher (Hrsg.): Nonviolent Social Movements. A Geographical Perspective. Malden/Oxford: Blackwell, S.41-51.

Prof. Dr. Kai Hafez ist Professor für Vergleichende Medienforschung an der Universität Erfurt und Autor des Buches »Heiliger Krieg und Demokratie« (Bielefeld 2009).

Europa – Haus der Kulturen?

Europa – Haus der Kulturen?

von Werner Ruf

Die Haus-Metaphorik ist schon des Öfteren bemüht worden, suggeriert sie doch friedliches und gutnachbarliches Zusammenleben unterschiedlicher Parteien. Welche Euphorie umgab diesen Begriff vor zwanzig Jahren zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Charta von Paris! Doch dann wollte die Mehrheit der am Projekt Beteiligten einen der wichtigsten Bewohner, Michael Gorbatschow und seine russische Familie, nicht haben. Das Haus wurde nie gebaut; stattdessen schob die NATO ihre Festungsanlagen weit gegen die Verschmähten vor. Nun geht es wieder um das Haus Europa, in dem sich schon viele Bewohner aus – fast – aller Herren Länder niedergelassen haben. Davon tragen manche Frauen Kopftücher, kochen mit viel Knoblauch und wollen in der Nachbarschaft noch ach so fremde Gebetshäuser bauen, gar mit eleganten, schlanken Türmen. Statt an einer gemeinsamen Hausordnung zu arbeiten, die die Regeln und Pflichten aller Partien im Hause einvernehmlich und respektvoll regelt, gibt es plötzlich Bedrohungsgefühle.

Nun herrschte in einem großen Teil Europas vor nicht allzu langer Zeit ein tausendjähriges Reich, das ganze zwölf Jahre zu lange dauerte, die nördliche Hälfte des Planeten in den bis dahin fürchterlichsten aller Kriege stürzte und einen Teil seiner Bewohner in einem industriellen Massenmord bestialisch vernichtete. Einige »Wissenschaftler« hatten behauptet, dass die Menschheit in Rassen aufgeteilt sei und dass die gute Rasse, um zu überleben, die minderwertige Rasse vernichten müsse, weil sonst ihr gutes Erbgut infiziert würde. Dieser Irrlehre schwört man heute öffentlich tüchtig ab. Reste dieser menschenverachtenden Einstellung scheinen aber überlebt zu haben und scheinen in anderen Gewändern wieder aufzustehen: Da sind plötzlich neue Fremde, die uns bedrohen, diesmal nicht ob ihrer Rasse, sondern ob ihrer »Kultur«, unsere Identität scheint in Gefahr.1

Abendländische Wurzeln

Die Herstellung von Identität bedarf der Abgrenzung des »Wir« von »den Anderen«. Fremdheit speist sich aus der Entgegensetzung zum Eigenen, wobei dem Selbst ganz selbstverständlich positive Attribute zugewiesen werden, dem Fremden dagegen negative.2 So benötigt das »Wir« die »Anderen« als Projektionsfläche für die eigene Identitätsstiftung. Und in diesem wechselseitigen Prozess sagt meist die Ausmalung des »Anderen«, des »Fremden« mehr über die Befindlichkeit des »Wir« aus als über diesen »Anderen«, von dem es sich abzugrenzen versucht. Dabei werden »die Anderen« als fest zusammen geschmiedetes Kollektiv wahrgenommen, ihre »Kultur« (der Begriff der »Rasse« ist ja unbrauchbar geworden) determiniert ihre kollektiven Eigenschaften, Denkweisen, ihr Handeln. So werden sie dann auch berechenbar – anders ausgedrückt: »Wir« wissen, was »sie« wollen. Und damit »wir« in Furcht fest zusammen stehen, müssen »wir« auch wissen, wie bedrohlich »sie« sind. In einem der erfolgreichsten deutschen Internet-Blogs »Politically Incorrect«, der sich explizit gegen das „Götzenbild des Multikulturalismus“ richtet,3 klingt das so: „Die Islamisierung Europas ist in vollem Gang. Die Mehrheit der Europäer steht dieser Entwicklung hilflos gegenüber. Weder sind sie über das wahre Wesen des Islams informiert, noch über die Hintergründe islamischer Politik auf europäischem Boden. Die Muslime sind nicht gekommen, um sich in die europäischen Gesellschaften zu integrieren. Ihr Ziel ist die Umgestaltung Europas in ein islamisches Herrschaftsgebiet, wo künftig nur noch die Scharia herrschen soll: das Gesetz des Islam.“ 4 „Weltherrschaft ist das Hauptziel des Islam“ heißt es weiter auf dieser Internet-Seite, die eine geradezu komplette Link-Liste zu rechten und rassistischen Organisationen enthält, die von der Bürgerbewegung »Pax Europa« bis »Support Geert Wilders« reichen. Diese Schlachtrufe erinnern überdeutlich an die »kommunistische Weltbedrohung«, die uns allerdings abhanden kam, als die Perspektive für den Bau jenes zuvor genannten Gemeinsamen Hauses am politischen Horizont auftauchte: Das »Wir« hatte die für seinen Zusammenhalt notwendige Bedrohung durch »den Anderen« verloren. Auch hier schuf die Wissenschaft Abhilfe: Samuel Huntington befand, bar jeder Empirie: „… über die Jahrhunderte hinweg haben die Konflikte zwischen den Kulturen die längsten und gewalttätigsten Konflikte erzeugt.“ 5

Und der Islam wurde als die gefährlichste Kultur identifiziert, denn „Islam has bloody borders“. 1996 legte er nach, indem er die westliche Kultur als einzigartig bezeichnete, weil nur sie das Erbe der griechischen Philosophie rezipiert habe,6 weil sie geprägt sei vom Christentum, weil die europäische Sprachenvielfalt ein Unikat darstelle, weil es nur dem Westen gelungen sei, geistliche und weltliche Autorität zu trennen, weil nur im Westen Rechtsstaatlichkeit herrsche, weil es nur dort sozialen Pluralismus und Zivilgesellschaft, repräsentativ gewählte Körperschaften und Individualismus gäbe.7 Und vehement wandte er sich gegen jeden Universalismus oder gar Multikulturalismus, da die westliche Kultur gerade nicht universell, sondern einzigartig sei.

Diese Argumentation ist schlicht rassistisch – nur dass sie die Rassenlehre hinter dem Begriff »Kultur« verbirgt. Huntingtons Aussagen über die Kulturen erinnern fatal an die Feststellung Ernest Renans, des Ahnvaters des Orientalismus, in seiner Vorlesung über die semitischen Völker (1883), wonach die Orientalen/Semiten unfähig zu wissenschaftlichen Leistungen seien, wegen „(…) der schrecklichen Schlichtheit des semitischen Geistes, die den menschlichen Verstand jeder subtilen Vorstellung, jedem feinsinnigen Gefühl, jedem rationalen Forschen unzugänglich macht, um ihm die immer gleiche Tautologie ‚Gott ist Gott’ entgegenzuhalten“.8

Das antisemitisch/antijüdische Klischee war auch schon konstitutiv für die Entstehung des deutschen Nationalismus. Von Ernst-Moritz Arndt stammt der schöne Satz, in dem man nur das Wort »Juden« durch »Muslime« ersetzen muss, um 200 Jahre später denselben Diskurs zu finden: „Man sollte die Einfuhr der Juden aus der Fremde in Deutschland schlechterdings verbieten und hindern. … Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, dass sie auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden.“ 9

Einschluss – Ausschluss – Religion

Nun ist das Verhältnis zwischen dem »Wir« und »den Anderen« ein dialektisches: Ausschluss, Abgrenzung bewirken Reaktionen der Besinnung auf das Eigene, das »Wir« der »Anderen«. Wer die Debatte um Integration einigermaßen sorgfältig verfolgt, wird feststellen, dass fast überall dort, wo von Integration die Rede ist, im Kern Assimilation gemeint ist. Man lese nur die Einbürgerungsfragebogen einiger Bundesländer. Viele von ihnen haben mehr oder weniger deutliche islamfeindliche oder islam-kritische Konnotationen. Das bewirkt bei den Betroffenen eine Rückbesinnung auf die eigene Identität. Wer immer mit Menschen mit muslimischem Immigrationshintergrund spricht, und seien diese Menschen Intellektuelle, die genauso säkular denken wie »wir«, wird feststellen, dass sie auf solche Aussagen angewidert bis aggressiv reagieren, dass sie sich nicht kollektiv durch eine »Kultur« oder gar in eine Religionszugehörigkeit etikettieren lassen wollen, die sie oft selbst ablehnen, die aber zu identifikatorischen Reaktionen provoziert, weil sie merken, dass solche Fragen und Zuweisungen dazu dienen, sie als Menschen kollektiv zu diskriminieren.

»Wir« agieren im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Vor zwanzig Jahren, als der Höhepunkt der Immigration längst vorbei war, sahen wir in deutschen Schulen, Universitäten, Städten kaum ein Kopftuch! Bei diesem ist zu unterscheiden zwischen dem traditionellen Kopftuch türkischstämmiger Frauen, das dem unserer deutschen Trümmerfrauen ähnelt, und dem »hijab«, jenem Tuch, das den Kopf eng einschließt und das demonstrative Bekenntnis von Frauen zum Islam signalisiert. Die Aufwertung des Religiösen ist – auch ohne männlichen Zwang – zu einem identitären Akt von Menschen geworden, die in diesem »Haus Europa« angekommen sind, darin leben und leben wollen, ohne ihre Identität preiszugeben.

Gerade die Religion wird auch von den »christlichen« Hausbewohnern bemüht. Das christlich-(jüdisch-)abendländische Erbe »unserer« Identität sei bedroht: Die behauptete Bedrohung wird dann oft von der höheren Geburtenrate der Migranten abgeleitet: Das reicht von den Vorstellungen des ehemaligen Berliner Innensenators und heutigen Vorstandsmitglieds der Deutschen Bundesbank Thilo Sarrazin, über „ständig neue Kopftuchmädchen“ 10 bis zu Theologen wie dem Fernsehpfarrer Jürgen Fliege, der die Gefahr in der „schrumpfenden Zahl an Nachkommen in christlichen Familien“ sieht.11 Die merkwürdige Annahme dahinter ist wohl, dass Religion erblich sei: Wie viele Alt-Europäer sind denn noch »Christen«? Sind alle Immigranten aus islamischen Ländern praktizierende Muslime, werden es auch ihre Kindeskinder bleiben? Religion wird nicht genetisch vererbt. Oder verbirgt sich hinter diesem Argumentationsmuster doch das alte rassische Klischee? Unzweideutig klingt es an in Sarrazins Behauptung, dass „osteuropäische Juden (einen) um 15% höheren IQ (hätten) als die deutsche Bevölkerung.“

Und die Muslime?

Der Islam kennt zwei große Glaubensrichtungen, Sunna und Shi’a. Im sunnitischen Islam gibt es vier Rechtsschulen. Darüber hinaus gibt es von Westafrika bis in die Südsee und nach China unzählige Formen eines Volksislam. Vor allem: Es gibt keine zentrale Instanz, die für alle Muslime sprechen und verhandeln könnte. Dies ist eines der Probleme, weshalb es beispielsweise so schwierig ist, etwa bei der Frage nach muslimischem Religionsunterricht repräsentative Ansprechpartner zu finden. Dennoch spielt für die innerislamische wie für die interkulturelle Debatte in Europa eine Person eine zentrale Rolle: der Schweizer Islamwissenschaftler Tariq Ramadan, der wegen seiner Auftritte und Publikationen große Aufmerksamkeit erregt hat, geht es ihm doch in erster Linie um das Gesicht eines europäischen Islam. Eine Auseinandersetzung mit seinen Ideen war auch von der Redaktion von »Wissenschaft & Frieden« gewünscht.

Ramadan ist ohne Zweifel ein international anerkannter Wissenschaftler. Davon zeugen sein Ruf an die hochkarätige Notre Dame University in Indiana und sein Visiting Fellowship am prestigereichen St. Anthony’s Collegs in Oxford wie auch seine vielfältigen Lehrtätigkeiten an verschiedenen europäischen Universitäten. Wo immer man eine Seite über ihn aufschlägt, findet man den Hinweis auf seine Abstammung: Er ist der Enkel von Hassan El Banna, der 1928 in Ägypten die Muslim-Bruderschaft gründete. Ist er deshalb – genetisch bedingt – ein Muslimbruder? Ja, er ist gläubiger Muslim und beruft sich bei vielen seiner Thesen auf das Denken von Jamal ed-Din al Afghani und Mohamed Abduh, die am Ende des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als Repräsentanten eines Reformislam bezeichnet wurden. Die Muslimbrüder selbst, die heute in der Literatur oft auf Dogmatismus reduziert werden und mit denen Ramadan während seines Studium in Kairo in Kontakt stand, waren jedoch ursprünglich eher eine radikale Widerstandsbewegung gegen den britischen Kolonialismus denn eine Gruppe religiöser Fanatiker.

Immer wieder wird ihm vorgeworfen oder unterstellt, er sei ein Wolf im Schafspelz, ein verkappter Muslimbruder.12 So etwa wirft der deutsche Islamwissenschaftler Ralph Ghadban ihm vor, sein Ziel sei „die Integration des Westens in den Islam.“ 13 Dahinter stehen die Vorwürfe oder Ängste, der Islam sei seinem Wesen nach expansionistisch.14 Daran ist sicherlich richtig, dass der Islam ebenso wie das Christentum – im Gegensatz zum Judentum – eine missionarische Religion ist. Andere kompetente Autoren nehmen dagegen die Äußerungen Ramadans ernst und sehen in seinen Gedanken wichtige Perspektiven für die Entwicklung der muslimischen Präsenz in Europa.15

Ramadans Hauptanliegen ist es, den »Ijtihad«, die undogmatische und kontextabhängige Auslegung der heiligen Texte, wieder zur Grundlage des Glaubens zu machen, so wie es in den Anfangszeiten des Islam der Fall war. Mit dem im 11. Jahrhundert staatlich verordneten Dogmatismus, demzufolge – ganz in Analogie zum späteren christlichen Fundamentalismus – nur der Buchstabe der Schriften gültig war, wurde der auf der »ratio« basierende Umgang mit den Texten beendet. Grundlage des »Ijtihad« war die Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie, die ursächlich war für die Blüte der Wissenschaften auf der iberischen Halbinsel und im Zweistromland und von dort ins »Abendland« gelangte. Ramadan will an diese rationalen Traditionen anknüpfen, es geht ihm um eine „kritische Auseinandersetzung mit dem Islam von innen, die darlegt, dass wir eine radikale Reform benötigen.“ (Hervorhebung im Original).16 „Es geht nicht länger nur darum, die Lehren eines ahistorischen Buches zu befolgen … sondern auch den jeweiligen Kontext und das menschliche, soziale und wissenschaftliche Umfeld (zu berücksichtigen).“ 17 Und weiter: „Widerstand ist also nach zwei Seiten erforderlich: gegen einen gewissens- und seelenlosen Fortschritt einerseits, gegen ein buchstabengetreues Verharren … und irreführenden Formalismus andrerseits.“. Es geht um eine „auf gesellschaftliche Transformation abzielende Reform, (einen neuen) Ausblick auf die Schriftquellen und ihren menschlichen/gesellschaftlichen Kontext (…), um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.“ 18

Das wäre, nach Ramadan, die Rolle und Aufgabe eines europäischen Islam, der, in Europa angekommen, mit den europäischen Werten einen reformerischen Impetus für den Islam in seiner Gesamtheit zu leisten hätte und dies auch könnte. Leistbar ist dies nur durch „beständige Selbstkritik hinsichtlich der eigenen Praktiken und eine besondere Neigung zur intellektuellen Empathie, die darin besteht, dass man sich in die Sichtweise des Anderen versetzt und somit dessen Bezugssystem verstehen kann. (…) Das ethische Erfordernis setzt ein beständiges Infragestellen voraus.“ 19 Alles Lüge und Tarnung? Weshalb? Warum nehmen wir diesen Text nicht beim Wort? Ein verborgener Aufruf zur »Islamisierung Europas« ist darin nicht zu entdecken.

So scheinen die Angriffe auf Ramadan eher gespeist von Bedrohungsphantasien, die in der Präsenz des Islam in Europa das Ende »unserer« Zivilisation sehen wollen. Damit stellt sich jedoch zugleich die Frage, wie wir dieses Europa (und »unser« Deutschland) sehen: als freiheitliche Republik,20 in der laut Grundgesetz die individuellen Freiheiten des Kultus, der Weltanschauung und des religiösen Bekenntnisses geschützt und garantiert sind oder als Raum der Assimilation, in dem die Immigranten gezwungen werden sollen, ihre Identität aufzugeben.

Die schon fast ins Gespenstische gehende Debatte erweist sich so als ein dialektischer Prozess, der nicht nur die Muslime vor allem in Europa betrifft, sondern auch die Mehrheitsbevölkerung – und die Zukunft der Verfasstheit des gemeinsamen Hauses. Tariq Ramadan hat genau dies im Blick, wenn er treffend schreibt: „Es gibt keine Wirklichkeit des ›wir gegen sie‹. Ein ›wir gegen sie‹ wäre das Ende unserer gemeinsamen Zukunft. Um dies zu verhindern, braucht es Menschen, die aus ihren jeweiligen kulturellen, religiösen und intellektuellen Ghettos herauskommen. (…) Ihr seid Teil dieses Prozesses. Ihr werdet die Muslime bekommen, die Ihr verdient.“ 21

Anmerkungen

1) Vgl. dazu den verdienstvollen Sammelband von Thorsten Schneiders (Hrsg.): Islamfeindlichkeit, Wiesbaden 2009.

2) Vgl. bspw. Birgit Rommelspacher (2002): Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle Gesellschaft, Frankfurt/Main & New York, S.9-20; Ulrich Beck (1996): Wie aus Nachbarn Juden werden. Zur politischen Konstruktion des Fremden in der reflexiven Moderne, in: Miller, Max & Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Modernität und Barbarei, Frankfurt/Main, S.318-343. Vgl. auch Hobsbawm, Eric (2005): Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, 3. Auflage, Frankfurt/Main & New York, S.7.

3) Leitlinien der Homepage »Politically Incorrect«. URL: http://www.pi-news.net/leitlinien/ [26.2.20010]

4) http://www.pi-news.net/2009/08/eurabia-die-geplante-islamisierung-europas/ [15-02-10] Die website von »Politically Incorrect« verzeichnet rd. 50.000 und mehr Besucher täglich.

5) Huntington, Samuel P. (1993): The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs Vol. 72, No. 3, S.22-49, hier S.25.

6) Unerwähnt bleibt hier, dass die griechische Philosophie erst über muslimische Philosophen wie Avicenna (Ibn Sina) und Averroes (Ibn Ruschd) überhaupt ins christliche Abendland kam – ohne sie wären Renaissance, Aufklärung und Republikanismus gar nicht möglich gewesen.

7) Huntington Samuel P. (1996): The West Unique, not universal, in: Foreign Affairs Vol. 75, No. 6, S.28-49, hier S.30-33.

8) Ernest Renan (1948): De la part des peuples sémitiques dans l’histoire de la civilisation, in: Oeuvres complètes, Bd. 2, Paris, S.333.

9) Arndt, Ernst Moritz (1814): Blick aus der Zeit auf die Zeit, Germanien. Frankfurt/Main: Eichenberg.

10) URL: http://www.faz.net/s/RubA24ECD630C AE40E483841DB7D16F4211/Doc~E528F39 D378054A5699DBE2EF84B4F1D7~ATpl~Ecommon~Scontent.html [16-02-10]

11) URL: http://www.freie-allgemeine.de/artikel/news/problem-ist-nicht-islam-sondern-ueberfremdung/ [16-02-10]. Vgl. http://www.nexworld.tv/sendereihen/meinungsbilder/story/news/die-zukunft-der-religionen/ [16-02-10].

12) Fourest, Caroline (2004): Frère Tariq: Discours, stratégie et méthode de Tariq Ramadan, Paris. Schon im Titel wird hier die Richtung gewiesen: »Frère« (also: Bruder) Tariq.

13) Interview in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 32 (6. August 2007). Vgl. auch. ders. (2006): Tariq Ramadan und die Islamisierung Europas, Berlin: Verlag Hans Schiler Berlin.

14) Haenni, Patrick/Amghar, Samir: Die falsche Angst. Le Monde Diplomatique (dt. Ausgabe), 12. Febr. 2010.

15) Roy, Olivier (2006): Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung, München; Todd, Emmanuel (1997): Le Destin des Immigrés, Paris.

16) Ramadan, Tariq (2009): Radikale Reform. Die Botschaft des Islam für die moderne Gesellschaft, München, S.419.

17) Ebd., S.419 f.

18) Ebd., 421 f.

19) Ebd., S.417.

20) Vgl. dazu einschlägige Arbeiten von Dieter Oberndörfer wie Turkophobie (Blätter für Deutsche und internationale Politik 2/2003, 138-142) und Die Rückkehr der Gastarbeiterpolitik (Blätter für Deutsche und internationale Politik 6/2005, S.725-734.

21) Ramadan, Tariq (2006): Euro-Islam und muslimische Renaissance, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2006, S.673-685, hier: S.685.

Prof. em. Dr. Werner Ruf lehrte von 1982 bis 2003 Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel.

Der Endzeitwahn Ahmadinedschads

Der Endzeitwahn Ahmadinedschads

Der iranische Präsident, die A-Bombe und die Apokalypse

von Victor und Victoria Trimondi

Seit seiner ersten Wahl im Sommer 2005 provoziert und erschreckt der iranische Präsident Mahmoud Ahmadinedschad die Weltöffentlichkeit mit seiner apokalyptisch-messianischen Rhetorik. Ihm war es innerhalb kürzester Zeit gelungen, Osama bin Laden den ersten Platz auf der Bühne möglicher Bedrohungsszenarien streitig zu machen. Ahmadinedschad leugnet den Holocaust, ruft zur totalen Vernichtung Israels auf, stachelte den Libanon-Krieg an, sperrt Oppositionelle ins Gefängnis, lässt sich nicht in sein Nuklearprogramm schauen, fordert eine islamische Weltrevolution und beschwört das Erscheinen eines militanten Messias. Es besteht die begründete Vermutung, dass er ein Programm zur Konstruktion einer iranischen Atombombe durchsetzen will.

Mahmoud Ahmadinedschad hatte sich schon bald nach der Machtübernahme als ein weltweit gefürchteter, politischer Apokalyptiker geoutet. Seither wird in der westlichen Presse über die endzeitlichen Inhalte des von ihm vertretenen Schia-Glaubens diskutiert. Die Schiiten glauben, dass Abul-Qassam Mohammed, der 12. Imam, in direkter Blutslinie von dem Propheten Mohammed abstammt. Im Jahre 941 n. Chr. ging diese mystische Gestalt in die »Große Verborgenheit«. Unsterblich, nahm und nimmt er aus der Verdeckung heraus Einfluss auf die Geschicke der Welt. Er ist der »Rechtgeleitete«, andere Beinamen sind »Fürst der Zeit« oder »Der Aufständische«. Eines Tages, so berichten es die Prophezeiungen, wird er zurückkehren, wie die Sonne, die sich hinter schwarzen Wolken verbirgt. Nach einer Periode gesellschaftlicher Dekadenz und schrecklicher Kriege erscheint er dann als der Erlöser von Ungerechtigkeit, Not und Unterdrückung.

Sayyed Ruhollah Khomeini (1900-1989), der Gründer der islamischen Republik, hatte den schiitischen Erlösungsglauben mit der machtpolitischen Herrschaft der Ayatollahs verknüpft. Er überwand dadurch den vorher weit verbreiteten Quietismus vieler Schiiten, demzufolge das Erscheinen des Imam-Mahdi nicht durch Menschenwerk (d. h. durch die Politik) beschleunigt werden könne. „Die Behauptung, dass sich die Propheten und Imame nur mit moralischen und spirituellen Angelegenheiten beschäftigt hätten und dass die Regierungstätigkeit, die sich mit säkularen und temporären Fragen beschäftigt, von ihnen zurückgewiesen worden seien, ist ein verhängnisvoller Irrtum“ – mahnte der Gründer des theokratischen Irans noch in seinem Testament.1 Aus einem Hadith Mohammeds ergab sich zudem, dass der 12. Imam nicht mit einem Olivenzweig sondern mit dem Schwert in der Hand erscheint: „Ich bin der Prophet, und Ali ist mein Erbe, und von uns wird abstammen der Mahdi, das Siegel (das heißt der letzte) der Imame, und er wird alle Religionen erobern und Rache nehmen an den Übeltätern. Er wird die Festungen einnehmen und sie zerstören, alle Stämme der Götzendiener vernichten, und er wird Vergeltung üben für den Tod jedes Märtyrer Gottes.“ 2 Immer wieder betonte der Ayatollah die Pflicht zum aktiven politischen Handeln: „Brüder, sitzt nicht zuhause herum, so dass der Feind angreifen kann. Geht zur Offensive über, und seid gewiss, dass der Feind sich zurückziehen wird. […] Gebt euch nicht zufrieden damit, das Volk die Regeln des Gebets und des Fastens zu lehren. […] Warum zitiert ihr nicht die Sure über den Qital [bewaffneten Kampf]? Warum tragt ihr immer nur die Suren über die Barmherzigkeit vor? Vergesst nicht, dass Töten auch eine Form der Gnade ist.“ 3 Sogar nach dem Erscheinen des erwarteten Erlösers, gehe der Kampf weiter, versicherte Khomeini: „Und wenn der Große Erneuerer [der Imam-Mahdi] erscheint, glaubt nicht daran, dass ein Wunder geschieht und dass die ganze Welt in einem einzigen Tag in Ordnung gebracht wird. Nein, es erfordert [auch dann] harte Arbeit und Opfer, bevor die Unterdrücker verjagt sind.“ 4 Seither ist der militante Messianismus im Iran ein Politikum.

Der Glaube an den 12. Imam ist Teil der iranischen Verfassung

Selbst in der theokratischen Verfassung des Landes wird die Rückkehr des Imam-Mahdis erwähnt. Artikel 2 Abs. 5 fordert: „Das ununterbrochene Imamat, seine Führerschaft und seine fundamentale Rolle in der islamischen Revolution.“ Aus Artikel 5 lässt sich entnehmen, dass die Herrschaft des Klerus nur bis zur Ankunft des Imam-Mahdis andauert und dann außer Kraft gesetzt wird.5 Der Wächterrat von 12 Mitgliedern, das höchste politische Gremium des Landes, der Oberste Religiöse Führer und der Präsident handeln deswegen nicht nur »in spirito«, sondern auch »de jure« im Auftrag des Verborgenen Imam. Das gilt als herrschende Meinung des Klerus: „Aber es war nach über einem Jahrtausend Verborgenheit Imam Khomeini, der 1979 erstmalig einen Staat gründete, welcher besagten 12. Imam zum verfassungsmäßigen Staatsoberhaupt hat. Imam Khomeini selbst war ‚nur’ dessen Stellvertreter“ – schreibt Yavuz Özoguz, Vorsitzender der Organisation »Islamischer Weg« und Wortführer des Khomeinismus in Deutschland am 18. Juni 2009 im »Muslim-Forum für deutschsprachige Gottesfürchtige«.6

In der Präambel der Verfassung ist zudem die Idee einer islamischen Weltrevolution angedeutet, mit dem Ziel „eine einzige Welt-Ordnung (Ommat)“ zu schaffen und einen „andauernden Kampf“ zu führen, „um die entrechteten und die unterdrückten Nationen der Welt zu befreien.“ Die Vision von einer Welteroberung durch den »Heiligen Krieg« war ein alter Traum Khomeinis, den dieser schon 1942 aufs Papier brachte: „Diejenigen, die den Djihad studieren, werden verstehen, weshalb der Islam die gesamte Welt erobern will. Alle durch den Islam eroberten Länder oder Länder, die von ihm in Zukunft erobert werden, werden das Zeichen immerwährender Rettung tragen.“ schrieb er damals.7 Seine Vision von einem islamischen »Imperium Mundi« hat er nie aufgekündet.

Erfüllungsgehilfe des 12. Imam

Auch Mahmoud Ahmadinedschad sieht sich wie Khomeini als der Erfüllungsgehilfe des 12. Imams, obgleich er keinen klerikalen Status hat. Bei seinen öffentlichen Reden erwähnt er ständig Sätze, wie den folgenden: „Die Hauptmission unserer Revolution besteht darin, den Weg für das Erscheinen des 12. Imams, des Mahdi, zu pflastern. Wir sollten unsere Wirtschaft, unsere Kultur und unsere Politik nach der Politik von der Rückkehr des Imam Mahdi ausrichten.“ 8 Als er noch Bürgermeister von Teheran war, ließ er einen Boulevard renovieren, weil der Imam-Mahdi dereinst darüber in die Hauptstadt einmarschieren werde. Mit der fortschreitenden »Profanisierung« des Politischen in der Ära Rafsanjani und Khatami hat Ahmadinedschad Schluss gemacht. Er revitalisierte das messianisch-apokalyptische Weltbild Khomeinis. Das machte er der ganzen Welt klar, als er am 17. September 2005 eine Rede vor dem Plenum der Vereinten Nationen in New York hielt. Religionspolitisch war diese »Predigt« eine Sensation, denn der iranische Präsident proklamierte schlichtweg das Ende des agnostischen, säkularen Zeitalters und stellte das Primat der Aufklärung in Frage. Heute kultiviere die gesamte Menschheit wieder den Glauben an einen einzigen Schöpfergott, sagte er. Der Monotheismus sei das Band, das alle Völker zusammenschließe.

Den eigentlichen Höhepunkt der Rede bildeten die Schlusssätze, in denen Ahmadinedschad die Epiphanie des muslimischen Welterlösers beschwört: „Wenn dieser Tag [des Friedens] kommt, wird das letzte Versprechen aller Religionen erfüllt werden durch die Erscheinung eines perfekten menschlichen Wesens, das der Erbe aller Propheten und frommen Männer ist.“ 9 Von New York in den Iran zurückgekehrt erklärte er, während seiner Ansprache habe sich ein heiliges Licht auf ihn hinabgesenkt.10 2009 erhielt der Präsident erneut die Möglichkeit vor der UNO-Vollversammlung zu sprechen und auch dieses Mal kulminierte die Ansprache am Ende in einer pathetischen Anrufung des 12. Imam: „Dies alles [die Utopie des Friedens] wird dank der Herrschaft des vollkommenen Menschen Wahrheit werden: der Herrschaft dessen, den Gott als letztes in der Reserve hält: einem Nachkommen aus der Generation des ehrwürdigen Propheten des Islam, nämlich Hazrate Mahdi, gegrüßt sei er. Er wird kommen! Und der geehrte Jesus, Sohn der Maria, und andere rechtschaffene Menschen werden bei dieser großen internationalen Mission an seiner Seite stehen.“ 11 Was er jedoch in New York nicht erwähnte, ist die schiitische Doktrin, dass sich die von ihm prognostizierte Utopie nur dann verwirklichen lasse, nachdem die gesamte Menschheit (freiwillig oder durch Gewalt) zum Islam konvertiert ist: „Zweifelt nicht daran, alle Menschen sehnen sich nach einem islamischen Weltstaat, und dieser Staat wird bald kommen.“ 12

Typisch für das apokalyptisch-messianisches Denken ist, dass in Perioden gesellschaftlichen Pragmatismus das Interesse am Pleroma des Endzeitwahns sinkt. Das war auch im Iran der letzten drei Jahre feststellbar, nachdem sich die aufregenden Zeiten normalisiert hatten, die dem Irak-Krieg gefolgt waren. Aber die inneren Konflikte seit den turbulenten Wahlen 2009 haben das apokalyptische Phantasma des Präsidenten wieder neu entfacht. Seinen angezweifelten Wahlsieg erklärte er zum Geschenk des schiitischen Messias: „Wir sehen deutlich den Segen Gottes, die Unterstützung vom 12. Imam Mahdi, und die Wachsamkeit der großen iranischen Nation.“ 13 Auch wurde die Zeremonie zu seiner Amtseinführung auf den Geburtstag des 12. Imam verlegt. Ayatollah Khamenei sprach seine Gratulation aus: „An der Schwelle zu dem gesegneten Jahrestag der Geburt des Retters der Menschheit, des großartigen Gottesfreundes und des Imams der Rechtschaffenen, Hasrate Hodschat-ul Ibn-ul Hassan – mein Leben sei ihm geopfert und Gott möge ihn schneller erscheinen lassen – möchte ich dieses große Fest würdigen und Herrn Dr. Mahmoud Ahmadinedschad zu seiner Wahl bei den 10. Präsidentschaftswahlen gratulieren.“ 14 Zunehmend wird in den innenpolitischen Wirren der apokalyptische Wahn wieder mit realpolitischen Szenarien verknüpft, und das ist nicht ungefährlich. So sagte Ahmadinedschad am 4. Dezember 2009 in Isfahan: „Wir verfügen über Dokumente, die belegen, dass Amerika die Rückkehr des zwölften Imam verhindern will.“ 15

Ausgehend von der Prämisse, dass der Präsident der Erfüllungsgehilfe des 12. Imams ist, müssen seine Opponenten als Rebellen und Häretiker gegen den göttlichen Willen des schiitischen Messias gebrandmarkt werden. So glaubt Yavuz Özoguz von Oppositionsführer Mohammad Mousawi, dieser unterminiere die aus der Verborgenheit betriebene Politik des 12. Imam: „Ein Mensch, der von seiner Entwicklung und seinen Anlagen das Zeug dazu hätte, die höchsten Stufen islamischer Erkenntnis zu erlangen, stürzt unfreiwillig in die Jauche westlicher Dienerschaft, weil er seine eigene Einschätzung der Lage für höher einstuft als diejenige des Vertreters des 12. Imams.“ 16

Ayatollah Mesbahe-Yazdi – Die graue Eminenz

Der spirituelle Meister Ahmandinedschads ist Ayatollah Mesbahe -Yazdi (Jahrgang 1934) aus der Stadt Yazd. Er ist der Gründer der ultra-islamischen Haghani-Schule und firmiert immer noch als der (verborgene) Chefideologe der Islamischen Republik. In der »heiligen Stadt« Ghom leitet er das »Imam-Khomeini-Institut für Lehre und Forschung«. Der Ayatollah ist Befürworter eines rein muslimischen Gottesstaates, ein Verfechter selbstmörderischer Märtyreroperationen und ein fanatischer Gegner des Westens. Eine seiner vordringlichen Aufgaben sieht er darin, die islamische Republik von allen Reformströmungen zu reinigen und wieder in ein apokalyptisch-messianisches Fahrwasser zu treiben, aus dem sie einmal entstanden ist. Mesbahe-Yazdi gilt als der große Hintergrundspieler der aktuellen iranischen Politik. Er war der erste religiöse Führer, den Ahmadinedschad nach seiner ersten Wahl (in Ghom) aufsuchte und von dem er sich absegnen ließ. Selbstbewusst präsentierte sich Mesbahe als Königsmacher und ebenfalls als ein Erfüllungsgehilfe des »Imam-Mahdi«: „Wir haben für unseren Bruder [Ahmadinedschad] gebetet, und der verborgene Imam hat unsere Gebete erhört und ihm zum Sieg verholfen.“ sagte er nach dem Sieg seines Schützlings.17

Der radikale Ayatollah aber steht mit seinen Ideen keineswegs isoliert da. In der Regierungszeit Ahmadinedschads ist bei einem beachtlichen Teil der klerikalen Intelligenzija des Landes die Beschäftigung mit dem »Madaviyat« („der Glaube an den Mahdi und die Anstrengung, sich auf sein Erscheinen vorzubereiten“) en vogue gekommen. Die »Reformer«, die unter Khatami für einen »Dialog der Kulturen« eingetreten waren, galten von nun an als out, und die so genannten »Prinzipientreuen«, die Khomeinis Vision einer islamischen Weltrevolution folgten, waren in. So erklärte Hassan Abbasi, einer der prominenten Theoretiker des Landes, dass die Idee von einer »messianischen Gesellschaft« seit dem Beginn der iranischen Revolution noch nie so aktuell und attraktiv gewesen sei wie heute.18 Ayatollah Nouri Hamedani sieht insbesondere durch die politischen Turbulenzen der Gegenwart bestätigt, dass die Endzeit angebrochen sei. Einer seiner Sprüche lautete: „Bekämpft die Juden, um das Kommen des Verborgenen Imam zu beschleunigen.“ 19 Selbst der höchste spirituelle Führer des Landes, Ali Khamenei, beschwor 2005 in einer Rede vor Hadsch-Pilgern: „Heute ist die Zeit gekommen, die günstigen Bedingungen für eine Regierung des Imam-Mahdis zu schaffen, möge Allah bald sein nobles Erscheinen bewirken.“ 20

Der 12. Imam in Deutschland

Auch in der Diaspora sind die Propagandisten des 12. Imam rührig, zum Beispiel in Deutschland. Wir haben schon den vom Verfassungsschutz beobachteten Vorsitzenden der Organisation »Islamischer Weg«, Yavuz Özoguz, erwähnt. Von der deutschen Website der staatlich iranischen Rundfunkgesellschaft I.R.I.B. mit einem Sitz im Bundespressehaus (http://www.germanradio.ir) lassen sich mehrere Reden des iranischen Präsidenten, in denen er den 12. Imam beschwört, herunterladen. Außerdem ist die Seite voll mit messianisch-apokalyptischen Spekulationen wie zum Beispiel über die profanisierende Rolle der Renaissance: „Der Glaube an die Endzeit und den Weltretter schrumpfte nach der Renaissance und der wachsenden materialistischen Lebenseinstellung. […] Deshalb haben die Menschen in Europa und den USA erneut begonnen, sich der Spiritualität zuzuwenden und auf einen Retter zu hoffen.“ 21

Auf einem Kongress des so genannten »Bright Future Instituts«, einer Art ständiger Konferenz zur Verbreitung des Mahdismus mit Sitz in Teheran, wurde auch ein deutsches Referat mit dem Titel »Der Imam Mahdi, der der Welt Gerechtigkeit bringen wird« von Doris Tarabolsi gehalten und dann auf einer von und für Muslimas betriebenen, deutschen Website (»Meryems Welt«) publiziert. Die Autorin proklamiert das baldige Erscheinen des schiitischen Messias und stellt – angeblich aus traditionellen Quellen – einen ziemlich modern wirkenden Katalog von »Zeichen« zusammen, die dem Arrival des »Imam Mahdi« vorausgehen sollen:

Ausbreitung der Unterdrückung und Tyrannei;

Korrupte Dominanz. Erscheinen der korrupten Überzeugungen, moralischer Verfall der Zivilisationen;

Großer wissenschaftlicher Fortschritt;

Vernichtende Uneinigkeit und Kriege. Schwinden der Sicherheit und des Friedens;

Das Erscheinen von Lügnern und Schwindlern, die behaupten, Reformatoren zu sein;

Preissteigerungen und ökonomischer Verfall;

Reformatorische Bewegungen und Führerschaften werden sich den Weg zu al-Mahdi bahnen. Menschen werden nach Hilfe rufen, um sich von Staaten der Unkenntnis zu befreien, die von Mächten des Materialismus und der Aggressionen unterstützt werden.22

Anschließend beschreibt Tarabosi kurz das kommende Paradiesreich des 12. Imam, erwähnt aber, dass „die unterdrückerischen Systeme, wo sie auch überall auf der Welt regieren, nicht kampflos aufgeben werden.“ Darauf gelte es sich vorzubereiten. In der sich schon anbahnenden Sammlung aller gerechten Menschen und Völker stehe der iranische Staat an der Spitze: „Es gibt ein Volk auf der Welt, das erkannt hat, dass es schon jetzt möglich ist, nach den Prinzipien des Imam Mahdi, […] zu leben, und das sich eine entsprechende Verfassung gegeben hat, das ist die Islamische Republik Iran. Dort ist festgelegt, dass das Staatsoberhaupt Statthalter des verborgenen Imams, […] ist und in Verantwortung vor Allah und diesem regiert.“ 23 Die Version ihres Referats, das sie vor dem »Bright Future Institut« gehalten hat, ist etwas schärfer formuliert als die Fassung auf der Muslima-Website. Dort kommt sie direkt auf die Apokalypse und einen Endzeitkrieg zu sprechen: „Es ist meiner Meinung nach ein Teil der Wahrheit, dass die Erde und die Menschheit vor einer Apokalypse stehen, aber nur in einem Teil der Menschheit, die das Üble und Teuflische verkörpert. Der andere Teil, der das Gute und Göttliche verkörpert, wird sich in dem Maße verstärken, wie auch der üble Teil zunimmt. Im Ausmaße dessen, wie die Menschen an Wissen, Erkenntnis, Vervollkommnung wachsen, werden sie das Üble, Falsche, Schlechte wahrhaftig erkennen. Das Üble wird kämpfen, um den unvermeidlichen Niedergang seiner Macht auf Erden aufzuhalten, und das Gute wird sich erheben für die Gerechtigkeit und am Ende den Sieg davon tragen mit Gottes Hilfe.“ 24

Apokalypse und A-Bombe

Die endzeitlich-messianischen Polit-Visionen des iranischen Präsidenten dürfen nicht als ein Kuriosum abgetan werden. Sie sind Bestandteil des Khomeinismus und fest im Denken und Kulturbetrieb der iranischen Theokratie verankert. Ein Zusammenhang zwischen Apokalypse und A-Bombe besteht nicht nur deswegen, weil hier einem religiösen Fanatiker eine ultimative Waffe in die Hand gegeben würde, sondern weil Atombomben bei Fundamentalisten aller Glaubensrichtungen in ihren apokalyptischen Phantasien eine zentrale Rolle spielen. Seit den Mega-Explosionen von Los Alamos, Hiroshima und Nagasaki werden Zerstörungs-Passagen aus den traditionellen Endzeit-Texten der Religionen als Beschreibungen eines atomaren Holocausts gedeutet.

Wahied Wahdat-Hagh, Kolumnist in der Tageszeitung »Die Welt«, bringt das iranische Atomprogramm direkt mit dem Endzeitwahn des Präsidenten und mit dessen spirituellem Hintermann in Verbindung: „Die Urananreicherung und das Atomprogramm dienen nach dem Verständnis von Präsident Ahmadinedschad und seinem Mentor Ayatollah Mesbahe-Yazdi der Beschleunigung der Rückkehr des in der Mitte des 10. Jahrhunderts verschwundenen zwölften Imam der schiitischen Muslime. […] In der khomeinistischen Interpretation des Islam muss der Klerus solange herrschen, bis der Messias erschienen ist. Und in der Interpretation von Ayatollah Mesbahe-Yazdi, un-geistiger Mentor des Präsidenten Ahmadinedschad, kann dieser Prozess beschleunigt werden. In einer Schlacht gegen die ungläubige Welt soll dann die Islamisierung der Welt erfolgen. […] Ayatollah Mesbahe-Yazdi und Präsident Ahmadinedschad gehen vom festen Glauben aus, dass die Welt sich in dieser messianischen Phase befindet. Dies ist die schiitische Variante eines apokalyptischen Denkens, das die paramilitärischen Unterdrückungsorgane der Bassiji und der Revolutionsgardisten nicht als Instrumente einer totalitären Herrschaft, sondern als ‚heilige Institutionen’ versteht. Daher ist die ‚mahdistische Gesellschaft’, von der Präsident Ahmadinejad spricht, die totalitäre ‚Utopie’ aller schiitischen Islamisten.“ 25

Der Märtyrerwahn

Was könnte geschehen, wenn die USA einen kurzfristigen Militärschlag gegen das Land durchführen? Die Antwort regimetreuer Iraner lautet: eine weltweite Entfesselung schiitischer Selbstmordattentate. Schon 2005 hatte Mohammadresa Jafari, Chef einer Militäreinheit mit dem Namen »Kommando der freiwilligen Märtyrer«, gedroht, 50.000 Kämpfer stünden bereit, um sich nicht nur im Nahen und Mittleren Osten, sondern auch in den USA und anderen NATO-Staaten in die Luft zu sprengen und die Welt mit Terror zu überziehen. „Der Feind hat Angst, dass die Kultur des Martyriums zu einer Weltkultur aller Freiheitsliebenden wird“, erklärt Jafari und fährt fort: „Märtyreraktionen stellen den Gipfel in der Größe eines Volkes dar und sind die höchsten Form seines Kampfes.“ 26 Diese Drohung ist mittlerweile mehrmals von Sprechern des iranischen Mullah-Regimes wiederholt worden.

Wie ernst ist ein solches Szenario zu nehmen? Die Zahlen mögen übertrieben sein, dass aber der Märtyrer-Kult ein zentrales Ereignis in der schiitischen Kultur darstellt, darüber besteht kein Zweifel. Das Martyrium (»Shahadat«) wird hier keineswegs nur als Waffe angesehen, um dem Gegner Schaden zuzufügen, sondern es wird mystisch verklärt und erhält einen theologischen Eigenwert. Weit verbreitet ist der Glaube, das vergossene Blut der Märtyrer selber, unabhängig von jeglichem militärischen Effekt, bringe die islamische Weltrevolution voran und beschleunige das Erscheinen des schiitischen Erlösers, des Imam-Mahdi. „Gibt es eine Kunst, die schöner, göttlicher und andauernder ist als die Kunst des Martyriums? Eine Nation, die das Martyrium pflegt, kennt keine Versklavung. Diejenigen, die dieses Prinzip aushöhlen wollen, höhlen die Grundlagen unserer Unabhängigkeit und unserer nationalen Sicherheit aus. Sie unterminieren die Grundlage unserer Ewigkeit…“ schwärmt Mahmoud Ahmadinedschad.27

Kommt es zu Märtyreraktionen, dann muss auch mit dem massiven Einsatz von Kinder-Märtyrern gerechnet werden. Während des Irak-Iran Krieges wurden diese, selbst gegen den Willen ihrer Eltern, an die Front geschickt. Man benutzte die Jugendlichen im Alter von 10 bis 17 Jahren als Kanonenfutter. Unter anderem hatten sie die Minenfelder freizumachen, damit die regulären Truppen nachsetzen konnten. Dabei sollen Zehntausende getötet worden sein. „Der Baum des Islam kann nur wachsen, wenn er ständig mit dem Blut der Märtyrer getränkt wird“ hatte Ayatollah Khomeini während des Krieges verkündet.28

Was also ist zu tun, wenn ein Krieg gegen den Iran die Situation noch verschärfen würde? Der Westen muss alles Mögliche daran setzen, die derzeitige Opposition zu unterstützen und die Sanktionen gegen das Regime zu verschärfen. Die oppositionelle Bewegung ist seit den letzten Wahlen stark, selbstbewusst und zeigt Durchhaltekraft. Sie hat eine Verankerung nicht nur in der Bevölkerung oder bei den Intellektuellen, sondern ebenfalls im Klerus. Auch unter den Ayatollahs ist der von Ahmadinedschad kultivierte Endzeitwahn nicht unwidersprochen. Der kürzlich verstorbene Groß-Geistliche Hossein Ali Montazari zum Beispiel kritisierte die Regierung, sie missbrauche den Mahdi Kult für ihre politischen Interessen.

Anmerkungen

1) Ruhullah al-Musavi al-Khomeini: »In the Name of God the Compassionate, the Merciful« URL: www.wandea.org.pl/khomeini-pdf/ruhullah-musavi-khomeini.pdf

2) Thomas Patrick Hughes (1995): Lexikon des Islam. Wiesbaden, S.455, 456.

3) Bruno Schirra (2006): Iran – Sprengstoff für Europa. Berlin, S.146.

4) Ruhullah al-Musavi al-Khomeini: »In the Name of God the Compassionate, the Merciful«. URL: www.wandea.org.pl/khomeini-pdf/ruhullah-musavi-khomeini.pdf

5) Verfassung des Iran. URL: www.iranonline.com/iran/iran-info/Government/constitution-1.html.

6) Yavuz Özoguz: »Die Islamische Revolution beginnt in der Selbsterziehung«. URL: www.muslim-markt.de/forum/messages/795.htm.

7) Ayatollah Ruhollah Khomeini (1924): »Islam is not a Religion of Pacifists«. URL: www.scepticism.info/quotes/archives/islamic_extremism_index.shtml

8) Patrick Poole: »Ahmadinejad’s Apocalyptic Faith«. URL: www.frontpage.com/Articles/Printable.asp?ID=23916.

9) Text der Rede Ahmadinedschads vor der UN-Generalversammlung. URL: www.globalsecurity.org/wmd/library/news/iran/2005/iran-050918-irna02.htm.

10) »Ahmadinedschad – Der Hetzer aus Teheran«. URL: www.focus.de/politik/ausland/ahmadinedschad_nid_25028.html.

11) I.R.B.I – Rede des iranischen Staatspräsidenten vor der 64. UNO-Vollversammlung in New York am 23.9.2009. URL: http://german.irib.ir/index.php?option=com_contentview=articleid=27694:die-ansprache-des-iranischen-staatspraesidenten

12) Iran-Report der Heinrich Boell-Stiftung. URL: www.boell.de/downloads/presse2005/iran-report0705.pdf.

13) »Die glorreiche Präsenz der Iraner an den Wahlen«. URL: http://pressemitteilung.ws/node/159927.

14) International Quran News Agency: »Der republikanische und der islamische Charakter sind zwei untrennbare Momente«. URL: www.iqna.ir/de/news_detail.php?ProdID=443283.

15) Wahied Wahdat-Hagh: »Mahdismus und das iranische Atomprogramm«. URL: www.welt.de/debatte/kolumnen/Iran-aktuell/article6061745/Mahdismus-und-das-iranische-Atomprogramm.html.

16) Vgl. Fußnote 6.

17) Vgl. Fußnote 10.

18) »Eine zweite Stunde Null im Iran – Hoffen auf eine messianische Gesellschaft«. Interview mit Hassan Abbasi. URL: www.prayradio.fm/5045739662125e506/53882196c1105830d.php.

19) Memri (Middle East Media Research Institute): »Ayatollah Nouri-Hamedani: Fight the Jews and Vanquish Them so as to Hasten the Coming of the Hidden Imam«. URL: www.memri.org/report/en/0/0/0/0/0/0/1362.htm.

20) Jüngste Äußerungen Khameneis im iranischen Fernsehen. URL: www.timesonline.co.uk/article/0,,2092-2281184_1,00.html.

21) I.R.B.I: »Glaube an Retter im Okzident«. URL: http://german.irib.ir/index.php?option=com_contentview=articleid=26303:glaube-an-retter-im-okzidentcatid=95:beitraegeItemid=43

22) Meryems Welt: »Was sind die Zeichen der Wiederkehr Imam Mahdis, f.?«, Teil 2. URL: http://meryemdeutschemuslima.wordpress.com/2009/06/19/imam-mahdi-moge-er-bald-erscheinen-teil-2/

23) Meryems Welt: »Was sind die Zeichen der Wiederkehr Imam Mahdis, f.?«, Teil 3. URL: http://meryemdeutschemuslima.wordpress.com/2009/06/21/uber-imam-mahdif-teil-3-die-art-seines-aufstandes-und-aktueller-bezug/.

24) Bright Future Institute/Doris Tarabolsi: »Vortrag zum Imam Mahdi«. URL: www.mahdaviat-conference.com/vdcebv8eijh8f.k1j.html.

25) Vgl. Fußnote 15.

26) Bruno Schirra: »How Dangerous Is Iran?«. URL: http://regimechangeiran.blogspot.com/2005/11/how-dangerous-is-iran-full-text-of.html.

27) MEMRI (2005): Special Dispatch Series No. 945 (29.07.2005).

28) Kevin Toolis: »A million martyrs await the call«. URL: www.timesonline.co.uk/article/0,,1072-1878612,00.html.

Victor und Victoria Trimondi sind Publizisten, Kultur- und Religionsforscher. Sie arbeiten zu Themen wie Apokalyptik, Fundamentalismus, politische Theologie sowie zur Rolle der Geschlechter und des Eros in Religion, Mythos und Kunst (vgl. www.trimondi.de). Zuletzt erschien im Münchner Fink-Verlag der Band »Krieg der Religionen – Politik, Glaube und Terror im Zeichen der Apokalypse«.

Im Haus der Vernunftflucht

Im Haus der Vernunftflucht

von Sabine Korstian

„Immer wenn es um die Iren ging, ist bei den Briten die Vernunft aus dem Fenster geflogen.“ An diesen Spruch einer nordirischen Bekannten muss ich oft denken, wenn über den Islam diskutiert wird. Nicht wegen Iren und Briten, sondern wegen der Vernunftflucht, die offenbar einsetzt, sobald das Stichwort Islam fällt. Im multikulturell bewohnten Haus der Vernunftflucht wimmeln die üblichen Verdächtigen – Intoleranz, Ignoranz, verzerrte Wahrnehmung, Neid, Vorurteile, Aus- und Abgrenzung, Fremdenfeindlichkeit, Chauvinismus, Rassismus – meist geschmückt als Kulturdeterminismus – und ähnlich hässliche Hausgenossen, die verstärkt und ermuntert seit 9-11 mit einem neuen Jargon ihren Hass- und Projektionsobjekten religiöse Etikette anheften. Da Menschen im Guten wie im Bösen gleich sind, sollte das nicht überraschen, sondern eher die Frage aufwerfen, ob es nicht weniger das »Anderssein« ist, an dem man sich stört, als vielmehr das hässliche Spiegelbild des Eigenen. So verwundern weitere Gemeinsamkeiten nicht, wie Demokratiefeindlichkeit, Gewaltverherrlichung, Sexismus, Homophobie und Antisemitismus.

Islamkritische Argumente erinnern an frühere Debatten über die angeblich ebenso chronische wie automatische Rückständigkeit, Autoritätsgläubigkeit usw. von Katholiken, wie sie sowohl im angelsächsischem Raum als auch in Deutschland mit größter Selbstverständlichkeit geführt wurden, während gleichzeitig katholische Reaktionen oft genauso wenig als Sternstunden der Vernunft gelten können. Das in den 60er Jahren populär gewordene »katholische Arbeitermädchen vom Lande« war z. B. keineswegs zufällig katholisch. War dies ein sozialwissenschaftliches Konstrukt, um verschiedene Dimensionen von Benachteiligung in einem Schlagwort zu benennen, so beschäftigten sich einige Mieter im Haus der Vernunftflucht mit der Vermischung von Dimensionen ohne Analyse: Soziale Fragen werden zu kulturellen, kulturelle zu religiösen, religiöse zu politischen, politische zu individuellen, individuelle zu kollektiven und umgekehrt und weiter beliebig vermischbar bis man entweder gar nicht mehr weiß, worüber gesprochen wird oder nur allzu genau: Der Islam und die Muslime. Sind sie friedlich? Sind sie kriegerisch? Gibt es blöde Fragen? Ja!

Denn auch die anderen beiden Fragen sind schnell beantwortet: Ja und nein; nein und ja; sowohl als auch; mal so, mal so. Inhaltsleere Antworten ergeben sich aus inhaltsleeren Fragen, denn was ist »der Islam« und wer ist »der Muslim«? Das essentialistische Denken ist das Hobby weiterer Mieter und daher sind beide überzeugt, die Essenz des Islam gefunden zu haben. Der eine hat den Muslim an sich durchschaut, der andere weiß genau, wie ein echter Muslim zu sein hat. Vielfalt, Kontextualisierungen, innerislamische Debatten und sonstige Differenzierungen erscheinen ihnen überflüssig, wenn nicht sogar gefährlich. Doch sie haben einen Vetter, der es nicht einmal böse meint, allerdings dazu neigt, alles unschöne auszublenden. So kann dieser zum Beispiel sagen »Islam heißt Frieden«. Als persönliches Bekenntnis und als theologischer Standpunkt ist dagegen nichts einzuwenden, ebenso wie man glauben kann, »Christentum heißt Nächstenliebe«. In jedem anderen Zusammenhang sind solche Floskeln allerdings nicht nur eine Unverschämtheit gegenüber den unzähligen Opfern religiös begründeter Gewalt, sondern Unsinn, wie historisch und aktuell unschwer feststellbar ist. Erschwerend kommt hinzu, dass »Frieden« und »Nächstenliebe« nicht selbsterklärend sind. Schon manch einer hat aus lauter Nächstenliebe jemanden den Schädel eingeschlagen oder so Frieden hergestellt. Weder sind andere Religionen besser, noch ist Gewalt ein Merkmal, das Religionen auszeichnet. Man kann Religionen als Versuche interpretieren, Gewalt als omnipräsente Handlungsoption des Menschen einzudämmen, aber sie können ebenso das Gegenteil befördern.

Schließlich will ich eine WG im Hause nicht unerwähnt lassen. Dort ist man gerne und ausdauernd mit den eigenen Gefühlen beschäftigt oder den angeblichen Gefühlen anderer. Manche fühlen sich bedroht und überfremdet, manche bedroht und nicht respektiert. Alle sind sich ganz sicher, dass es Millionen anderen genauso geht und haben sich gegenseitig von der Richtigkeit dieser Einschätzung überzeugt: Welcher echte Deutsche wacht demnach morgens nicht schweißgebadet vor Islamangst auf und welcher echte Muslim ist nicht schon beim Aufwachen beleidigt? Das Gerede über Gefühle hat Vorteile: Es ist nicht überprüfbar, muss sich von Fakten nicht stören lassen und lenkt von tatsächlichen Problemen ab.

Kann mal jemand im Haus die Fenster schließen und statt dessen die Tür öffnen? Mit dieser Ausgabe, versuchen wir einen kleinen Beitrag dazu zu leisten.

Ihre Sabine Korstian

»Der« Islam?

»Der« Islam?

Vielfalt und Friedensvorstellungen

von Dr. Silvia Kaweh

In Deutschland leben über vier Millionen Muslime, und dies oft schon in der dritten Generation. Die meisten stammen aus der Türkei. Mittlerweile sind 45 Prozent der Muslime in Deutschland eingebürgert. Rund ein Drittel lebt in Nordrhein-Westfalen, und manchmal stellt dort die muslimische Schülerschaft die Mehrheit in den Klassen. Auch wenn nicht alle Muslime als streng gläubig anzusehen sind, sind sie jedoch religiöser als die meisten ihrer nicht-muslimischen Mitbürger. Was sind die Grundgedanken des Islam – der nach dem Christentum zweitgrößten Weltreligion –, zu dem sich mehr als eine Milliarde Menschen bekennt? Welche Bedeutung kommen dem Koran, der »Sunna« und Muhammad als Religionsstifter zu? Längst meinen die meisten zu wissen, was »den« Islam ausmacht: Gewaltbereitschaft, Antimodernismus, fehlende Integrationsbereitschaft und damit einhergehende muslimische Parallelgesellschaften in Europa. Die Wirklichkeit ist deutlich differenzierter.

Letztendlich zielen die religiös begründeten ethnischen Prinzipien und Pflichten im Islam auf ein konfliktarmes Zusammenleben. Darin ähneln sich wohl alle Religionen. Dies schließt den religiösen Einfluss auf Gesellschaft und Politik mit ein und setzt die moralische Vervollkommnung des Menschen auf ein religiöses Ziel hin voraus.

Das arabische Substantiv »Islam« leitet sich vom 4. Wortstamm der arabischen Konsonantenwurzeln »s-l-m« ab. Das Verb des 4. Stammes »Aslama« bedeutet: »sich (Gott) hingeben, den Islam annehmen«. Muslim ist also derjenige, der »sich Gott hingibt«. Auf die gleiche Wortfamilie bezieht sich auch die Begrüßungsformel »As-Salam alaikum« (Friede sei mit Euch). Einige Muslime in Deutschland übersetzen das Wort Islam oft mit „Frieden finden durch die Hingabe an Gott“ (Kaweh 2006, S.110 f.). Eine den Ge- und Verboten entsprechende islamische Lebensweise führt zu innerem und äußerem Frieden. Ein Frieden, der seinen Niederschlag finden soll in Toleranz, Tugendhaftigkeit und tiefer Gottverbundenheit. Gottesfürchtige Muslime sind sich der Allgegenwärtigkeit Gottes bewusst und glauben, dass Gott hinter jeder Tat auch die dahinter stehende Absicht sieht.

Mitleid und Selbstkontrolle

Zu den moralischen Grundwerten zählen Aufrichtigkeit und Mitleid. Von äußerster Wichtigkeit ist das Gemeinwohl. Gegen Unterdrückung, Armut und Verleumdung müssen sich gläubige Muslime zur Wehr setzen. Eine gute Muslimin und ein guter Muslim üben sich in Selbstkontrolle, beachten die Speisegebote und verzichten auf jegliche Rauschmittel. Sie begehen keinen Ehebruch, vermeiden jegliches außereheliches sexuell aufreizendes, aber genauso auch prahlerisch-narzistisches Verhalten.

Für Gott gibt es keine Rangunterschiede zwischen den Menschen. Wenn doch, bestehen diese nur in der Intensität der Frömmigkeit. Wer die Ge- und Verbote beachtet, dem erweist sich Gott als der, der er nach muslimischer Auffassung ist: Ein barmherziger, verzeihender Gott, der »beste Erbarmer«, »Helfer und Beschützer«.

Der Islam versteht sich als eine natürliche Religion. Der Mensch als Statthalter (nicht Ebenbild) Gottes besitzt eine ihm von Gott von Natur aus gegebene monotheistische Veranlagung (Fitra). Er ist daher von Geburt an Muslim (der, der sich Gott hingibt). Adam ist demnach gleichzeitig erster Mensch und Muslim. Einen Aufnahmeritus wie beispielsweise die christliche Taufe, die Kommunion oder Konfirmation oder eine formale Mitgliedschaft gibt es entsprechend für den Muslim nicht. Auch sind muslimische Imame und Religionsgelehrte in der Regel verheiratet.

Beziehung zu Juden- und Christentum

Der Glauben an das Jenseits (Hölle und Paradies) und den Jüngsten Tag, an die Engel Gottes, an die Bücher (Thora, Evangelium, Koran) und die Gesandten Gottes zählt zur Glaubenspflicht. Dem einzigen Gott (Tauhid = Bekenntnis zu dem einen Gott) darf nichts gleichgestellt werden. Dies gilt als »Schirk« (Beigesellung), die einzige Sünde, die Gott niemals verzeiht. Deshalb lehnen Muslime die christliche Trinität ab.

Islam verbunden mit Propheten Muhammad

Der Islam beruht auf einer göttlichen Offenbarung, die historisch eng verbunden ist mit der Person des Propheten Muhammad. Muhammad kam um cirka 570 (n. Chr.) in Mekka auf der Arabischen Halbinsel zur Welt und entstammte dem Stamm der Qureisch. Mekka diente als Handelszentrum und Pilgerstätte zur Kaaba, wo verschiedene Gottheiten und auch der Hochgott Allah angebetet wurden. Um 610 erhielt Muhammad (circa vierzigjährig) zum ersten Mal eine göttliche Offenbarung durch den Engel Gabriel. Diese Gottesworte in arabischer Sprache wurden Muhammad über einen Zeitraum von 22 Jahren offenbart. In Mekka konnte er jedoch nicht viele Anhänger für seine Botschaft gewinnen. Seine Aufrufe zu Ehrlichkeit im Handel, Gerechtigkeit und Milde gegenüber sozial Schwachen, seine Warnung zur Umkehr zu dem einen Gott angesichts eines bevorstehenden Endgerichtes fanden kaum Widerhall.

Beginn der islamischen Zeitrechnung

Muhammad prüfte ein Auswanderungsangebot, das ihm von Abgesandten verschiedener Stämme der Stadt Jathrib, dem späteren Medina (an-Nabiy), übersetzt »Stadt (des Propheten)«, gemacht wurde. Er stimmte diesem 622 zu und emigrierte (Hidschra) im gleichen Jahr mit seinen Anhängern nach Yathrib. Die islamische Zeitrechnung beginnt mit diesem Datum neu: 622 n. Chr. ist damit das Jahr 0.

In Medina konnte Muhammad nicht nur als Bußprediger auftreten. Hier war sein Können als politisches wie religiöses Gemeindeoberhaupt gefragt. Hiermit vollzog sich eine inhaltliche Neuausrichtung. Blutsverwandtschaft und Stammeszugehörigkeit waren jetzt nicht mehr ausschlaggebend. Die Gläubigengemeinschaft, die der Islam und der Glaube an den einen Gott vereint und zu »Verwandten« macht, übernahm jetzt diese Funktion. Die Umma (al-Mu‘minin), d.h. die Gemeinschaft (der Gläubigen), ist somit ein religiös begründetes Gemeinschaftswesen.

Entstehung des Koran

Die von Muhammad in wörtlicher Rede wiedergegebenen Gottesoffenbarungen wurden von seinen Gefährten gesammelt, teils auswendig gelernt und circa 20 Jahre nach Muhammads Tod zum Koran zusammengefasst. Der Koran ist in erster Linie »gehörtes Wort« und bedeutet übersetzt nicht das »Buch«, sondern die »Lesung, Rezitation (Qur‘an)«. Die 114 Suren (Kapitel) im Koran sind nicht chronologisch, sondern der Länge nach abfallend angeordnet (außer der ersten Sure). Sie sind unterteilt in mekkanische Suren, die göttlichen Worte, die Muhammad in Mekka von 610 bis zu seiner Auswanderung 622 offenbart wurden, und in die medinensischen Suren, die er seit seiner Emigration in Medina (ehemals Yathrib) übermittelt bekam. Die mekkanischen Suren betonen den Aufruf zum Eingottglauben und die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Taten vor Gott über den Tod hinaus. Sie warnen vor dem jüngsten Gericht und lehren eine allgemeinverbindliche Ethik ähnlich dem Dekalog, der im Koran auch vorkommt. Die medinensischen Suren enthalten dagegen mehr konkrete Gebote, rechtliche Regelungen des Erbrechts, des Strafrechtes und rituelle Vorschriften. Sie thematisieren unter anderem auch die politische Situation der jungen muslimischen Gemeinschaft, ihre (kriegerischen) Konflikte und können so auch zur Legitimierung von Gewalt herangezogen werden.

Die Gläubigengemeinschaft weitete ihren Machtbereich schon zur Zeit Muhammads fast auf die gesamte arabische Halbinsel aus, einschließlich Mekka. Muhammad schloss einen auch bis heute für das islamische Gemeinwesen beispielhaften Vertrag mit den jüdischen arabischen Stämmen in Medina ab (Verfassung von Medina). Der Vertrag besagte: Freie Religionsausübung, gleiche Hilfeleistungen wie den Muslimen gegenüber bei Kämpfen oder Notsituationen. Dafür keine Verbrüderung dieser mit Muhammad feindlich gesinnten Stämmen. Muhammad führte mehrere Kämpfe gegen die Mekkaner und ihre Verbündeten, aus denen er mehr oder weniger siegreich hervorging. Ab 632 mit seinem Einmarsch in Mekka schlugen sich fast alle bis dahin feindlichen Clanführer zunächst auf seine Seite. Muhammad erteilte ihnen Generalamnestie und wählte die von Götzenbildern befreite Kaaba als Wallfahrtsziel und Kultstätte. Die Riten seiner Wallfahrt und Kaaba-Umkreisung, die er dort 632 vollführte, werden bis heute penibel befolgt. Im gleichen Jahr starb er, ohne seine Nachfolge abschließend geregelt zu haben.

Die Hauptrichtungen Sunniten und Schiiten – Streit unter Glaubensbrüdern

Deshalb kam es gleich zu ersten Streitigkeiten innerhalb der jungen muslimischen Gemeinde bezüglich der Nachfolge Muhammads. Endgültig spaltete sich diese nach dem Tode Ali ibn Abu Talib‘s, des vierten (nach schiitischer Auffassung ersten) Kalifen und Schwiegersohns Muhammads, in die für Ali und seine Söhne Hussein und Hassan (Schi‘a = Partei) Partei ergreifenden Schiiten und die später als Sunniten (Sunna = die durch Muhammad vorgelebte Offenbarungsinterpretation des Koran) bezeichneten Anhänger der omayyadischen Kalifen (661-750). Als Hussein in den kämpferischen Auseinandersetzungen zwischen Schiiten und Sunniten in Kerbela (Irak) 680 den Märtyrertod fand, war die Trennung unwiderruflich vollzogen.

Unterschiedliche Führungsqualitäten

Die Nachfolge Muhammads und damit die Leitung der Umma durften nur Persönlichkeiten (Kalifen) übernehmen, die aufgrund ihrer Lebensführung als Vorbild dienen konnten. Der Kalif muss für die Schiiten – im Unterschied zu den Sunniten – aus der direkten Verwandtschaft mit dem Propheten Muhammad stammen. Eine direkte Nachkommenschaft ist jedoch nur über die Linie von Muhammads Tochter Fatima und ihrem Ehemann Ali Ibn Abu Talib gegeben. Viele Schiiten glauben an die Wiederkehr des Mahdi, des zwölften (deshalb »Zwölfer-Schiiten«) oder – wie einige schiitische Gruppierungen glauben – siebten (= Ismailiten) Imam, der als Erlöser wiederkommt. Die Zaiditen lehnen den Mahdi-Glauben ab und halten den Sohn Zaid des vierten Imam Ali ibn Hussein für den rechtmäßigen Nachfolger Muhammads und der Söhne Ali ibn Abu Talib‘s Hassan und Hussein.

Dieser Mahdi (= der unter göttlicher Leitung Stehende) ist in die Zeitlosigkeit entrückt und handelt aus dieser Verborgenheit (Ghaibat) heraus. Als »Imam« bezeichnen Schiiten – im Gegensatz zu den Sunniten – nicht nur den Vorbeter in der Moschee. Schiitische Imame sind von Gott beauftragt, nehmen teil am göttlichen Wissen und gelten als sündenlos. Schiitische Rechtsgelehrte handhaben die Auslegung des Koran flexibler als Sunniten. Gerade innerhalb der Zwölferschia hat sich eine geistliche Hierarchie entwickelt, die es bei Sunniten so nicht gibt. Rund 10 bis 15 Prozent der Muslime gehören der schiitischen, der Rest der sunnitischen Glaubensrichtung an. Die Schiiten leben hauptsächlich im Iran und Irak, als Minderheiten im Libanon, Jemen, in Syrien, in der Türkei, in Israel, Albanien, Turkestan und in Pakistan.

Verhältnis zu Andersgläubigen

Muhammad schuf eine Gemeindeordnung, die gesellschaftliche Ideale wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Glaubenseinheit ermöglichen sollte. Die Christen und Juden wurden jedoch der Umma mit fortschreitender Islamisierung der Gesellschaft als »Schutzbefohlene« (Dhimmi) unterstellt. Die Umma sah sich nun vor die Aufgabe gestellt, eine islamische Lebensweise zu gewährleisten, in der jeder Muslim für den anderen wie auch für die Verwirklichung der islamischen Gemeindeordnung verantwortlich war. Die islamische Gemeinde machte keinen Unterschied zwischen einem profanen und religiösen Bereich. Die ideale religiöse Gemeinschaft Umma ist nach muslimischer Auffassung keine Utopie geblieben, sondern zur Zeit Muhammads in Medina in die Tat umgesetzt worden. Muslime greifen auf sie als Ideal einer starken und erfolgreichen muslimischen Gesellschaftsform immer wieder zurück, auch in den islamischen Reformbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts.

Ähnlich wie die Thora wird der Koran zum Wegweiser in allen aufkommenden Fragen der Gläubigen. Islamische Theologen haben genauso über die wahre Beschaffenheit des Koran disputiert wie beispielsweise christliche Theologen über die wahre Natur Christi. Jesus ist für den Islam ein Prophet wie viele andere vor ihm, nicht der Sohn Gottes. Aber er gilt als Sohn der Maria, der im Koran eine ganze Sure gewidmet ist (Sure 19) und die als weibliches Vorbild gesehen wird.

Der Koran sucht immer den Kontext der anderen beiden heiligen Schriften Evangelium und Thora. Er bezieht sich auf diese, versteht sich aber gleichzeitig als letztgültige Offenbarung. Im Koran gibt es eine lange Prophetenreihe. Diese Reihe beginnt mit Adam, dem ersten Menschen, und setzt sich nach der Sintflut fort mit Noah, Moses, Jesus bis hin zu Muhammad. Häufig werden im Koran Moses und Abraham erwähnt. Gott hat seit Beginn der Menschheitsgeschichte immer wieder Propheten gesandt. Die Botschaften dieser Propheten wurden jedoch verfälscht. Deshalb greift Gott immer wieder korrigierend ein und entsendet neue Propheten mit der gleichen alten Botschaft, die den vergesslichen Menschen jedoch neu vorkommt. Es kommt so zu Religionsspaltungen und zu neuen Religionen, deren Botschaften jedoch durch Menschenhand verfälscht wurden. Judentum und Christentum gehören auch dazu. (Wild 2001)

Schari‘a oder Tariqa?

Das islamische Recht (Schari‘a) wurde als religiöse Pflichtenlehre konzipiert und regelt das öffentliche wie private Leben. Schari‘a hat übersetzt die Bedeutung »Weg zur Oase«. Sie ist für Muslime Gottes gute Gabe und Rechtleitung. „Der Lebensweg zwischen Wiege und Bahre gerinnt im Sinnbild des Weges zur Wasserstelle als Grundbedeutung des arabischen shari‘ah; wer vom Weg abkommt, verdurstet seelisch.“ (Behr 2005, S.77) Die Scharia umfasst die gottesdienstlichen Handlungen, ethische Grundsätze für jeden Muslim, familienrechtliche, strafrechtliche und sozialpolitische Bestimmungen. Sie ist aber nie abschließend kodifiziert worden. Heute ist sie meist eine Kombination aus traditionellem und modernem europäischem Recht.

Die islamische Mystik ist mit ihren religiösen Orden (Tariqa) den nicht allen zugänglichen »engeren« Pfad (Tariq) der asketischen inneren Versenkung gegangen. Ihr geht es weniger um die Befolgung der Pflichtenlehre als um Glaubensverinnerlichung unter Aufgabe jeglicher weltlicher Bindung. Ziel ist die »unio mystica«, die höchste Stufe der Gotteserkenntnis und liebenden Vereinigung mit Gott.

Methoden der Rechtsfindung

Der Koran enthält keine komplette Strafrechtslehre und oft auch nur Antworten auf Einzelfragen. So musste das islamische Recht zur Rechtsfindung auch auf zusätzliche Quellen zurückgreifen. Neben dem Koran dient als zweite Rechtsquelle die Sunna. Sie umfasst die überlieferte Lebenspraxis und die Handlungsgewohnheiten des Propheten Muhammad und seiner Gefährten. Hier handelt es sich um Hadithsammlungen (Aussprüche des Propheten) und die durch Muhammad vorgelebte Offenbarungsinterpretation. Als dritter Quelle bediente man sich zur Rechtsfindung des Analogieschlusses (Qiyas) und des Gebrauches der menschlichen Vernunft (Idschtihad). Als vierte Rechtsquelle zog man den Konsens der jeweiligen Gemeinde (Idschma‘) hinzu. Ab dem achten Jahrhundert entstanden die für Muslime noch heute wichtigen Rechtsschulen. Diese Rechtsschulen unterscheiden sich weniger in ihren Inhalten als in unterschiedlichen Mitteln der Rechtsfindung. Heute kann ein Muslim auch Rechtsgutachten (Fatwa) anderer Rechtsschulen einholen. Die heutigen englischsprachigen Fatwa-Online-Dienste konnten die Grenzlinien zwischen den Rechtsschulen aufweichen.

Vergebung und Zuneigung im Islam

Im Koran finden wir den Frieden befürwortende wie die Gewalt legitimierende Textstellen. Es gibt genug Beispiele im Koran wie auch in der islamischen Traditionsliteratur dafür, dass das Verhältnis von Gott und Mensch und der Menschen zueinander geprägt ist von Reue, Vergebung, Zuneigung und Geduld. 113 der 114 Suren (außer Sure 9) im Koran beginnen mit der Eröffnungsformel „Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes“. Nahezu jede Tat gläubiger Muslime wird mit dieser Formel eingeleitet. Auch der Koran berichtet von der Versuchung Adam und Evas durch den Teufel (Iblis) und ihrer Vertreibung aus dem Paradies. Jedoch trägt Eva daran keine besondere Schuld, und Gott verzeiht Adam, als dieser seine Tat bereut (Sure 20, Vers 122 und 2, 37). Die Erbsünde gibt es im Islam nicht. Frau und Mann sollen als Ehepartner einander in Zuneigung und Geduld begegnen (Sure 30, Vers 21). Die Feindseligkeit begünstigende Charaktereigenschaften des Menschen wie Neid, Hass und Verachtung sollen vermieden werden. Mit den Anhängern anderer (monotheistischer) Religionen soll man miteinander in einen Wettkampf für das Gute eintreten (2,148). Auch müssen nicht alle im Koran beschriebenen Strafandrohungen vollzogen werden (soweit sie nicht die Rechte Gottes betreffen), wenn die koranische Ermahnung, dem Reue zeigenden Täter zu vergeben (Sure 5, Vers 38 f.), beim jeweiligen Kläger und Richter Berücksichtigung findet.

Auch die Deutung von Dschihad ist entsprechend vielschichtig. »Dschihad« ist die Substantivform von »dschahada« und bedeutet »sich bemühen, anstrengen (»auf dem Wege Gottes = fi Sabil-i-llah«). Erst in zweiter Linie kann dieser Begriff mit »kämpfen« übersetzt werden. Er bedeutet aber nicht automatisch Krieg oder gar heiliger Krieg. Der Koran selbst gibt Anlass zu verschiedenen Auslegungen: Einerseits mahnt er die muslimischen Gläubigen zu Geduld auch bei schwerwiegenden Verstößen der Gegner, andererseits lässt er den Krieg zur Verteidigung und als Kampf mit klaren Eingrenzungen zu (Sure 2, Vers 190 -193).

Islam in Deutschland

Dschihad als Selbstaufopferung

Die Diskussion über den Dschihad ist mit Sicherheit noch nicht abgeschlossen. Mit dem Dschihad verbinden Muslime in Deutschland beispielsweise die Selbstaufopferung auf dem Wege Gottes. Diese kann Gewaltverzicht meinen gemäß der islamischen Mystik, die den Dschihad verinnerlicht und vergeistigt hat hin zum Weg der persönlichen Vervollkommnung. Dschihad kann den Einsatz der »Waffe« des Wortes für die Sache Gottes meinen, jedoch auch den als verdienstvoll angesehenen Einsatz von Vermögen, Gut und Leben bedeuten. (Kaweh 2006, 145 ff.)

Ideale muslimischer Jugendlicher

Im Prinzip geht es immer um Selbstvervollkommnung auf dem Wege zu Gott. Höflichkeit, Aufrichtigkeit, eine angemessene und überlegte Haltung gelten als Ideal auch der islamischen Jugend in Deutschland. Der Islam wird als friedliebend und tolerant gesehen (Kaweh 2007, 59). (Bertelsmann-Studie 2009) Geduldig, aber selbstbewusst sollen diese islamischen Werte in die nicht-muslimische Gesellschaft hinein getragen werden, auch wenn diese durchaus kritisch gesehen wird. (Kaweh 2007, 56ff.)

Islamischer Religionsunterricht

Muslimische Schüler erhalten ihre religiöse Erziehung mittlerweile nicht nur im Elternhaus, in den Koranschulen der Moscheen, sondern auch im deutschsprachigen Schulversuch »Islamische Unterweisung«, der ausgeweitet wird zum bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht. Hier findet sich ein kritisches Hinterfragen, Abwägen und Vergleichen als pädagogisches Erziehungskonzept, das die Erziehungstraditionen einiger islamischer Heimatländer durchaus herausfordern wird.

Selbsterziehung und interreligiöse Kompetenz

Eine Didaktik gegenüber Heranwachsenden müsse die Bereitschaft zur Selbsterziehung fördern, meint Harry Harun Behr, Professor für Islamische Religionslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg. Deshalb könne man islamische Erziehung heute eher unter den Begriff Tazkiyya (zaka = im Innern gut sein, wachsen, sich läutern) fassen als unter die ursprüngliche Bezeichnung Tarbiyya (yurabbi = aufziehen, ernähren, beibringen) oder Ta‘dib (= das gute Verhalten beibringen). Muhammad sei der ideale »Lehrer« und sein Leben das ideale »Curriculum« (Behr 2005, S.77). Islamische Theologie vermittle zwischen Tradition und Moderne, so Behr. Ein säkular verstandener Humanismus könnte sich aber herausgefordert fühlen. „Der These von der reinen Selbstbildung des Menschen aus eigener Kraft begegnet das muslimische Credo, dass es »keine Macht und Kraft außer Gott« gibt.“ (Behr, S.77)

Es existieren bereits konkrete Vorstellungen darüber wie islamische Erziehung auch interreligiös im Unterricht umzusetzen ist: Muslime und Musliminnen würden im Koran dazu aufgefordert, im Glauben wie auch im praktischen Zusammenleben „mit denen gemeinsam zu wirken, die bereits über ein eigenes Buch göttlicher Rechtleitung verfügen“, schlussfolgert Rabiyya Müller vom Institut für Interreligiöse Pädagogik und Didaktik Köln. Interreligiosität sei dem Islam bereits immanent (Müller 2005, S.144). Junge Muslime sollen sich ungeachtet der Religionszugehörigkeit solidarisch mit allen Menschen fühlen. Muslim zu sein heißt, „nicht zuzusehen wie sich die Menschen schon auf Erden gegenseitig die Hölle bereiten.“ (Behr 2008, S.12 f.)

Literatur

Behr, Harry (2005): Erziehung und Bildung, S.76-78, in Tworuschka, Udo (Hrsg.): Ethik in den Weltreligionen, Darmstadt.

Behr, Harry (2008): Zeitschrift für die Religionslehre des Islam, Heft 4, Dez. 2008, 2. Jg., S.7-16, Nürnberg.

Bertelsmann-Stiftung (2009): Religionsmonitor 2008.

Kaweh, Silvia (2006): Integration oder Segregation? Religiöse Werte in muslimischen Printmedien, Nordhausen Bautz-Verlag.

Kaweh, Silvia (2007): Religion und Identität – Junge Muslime in Deutschland und das ihnen vermittelte Europabild, in: Orient. Deutsche Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur des Orients, IV/2007, S.52 – 63.

Müller, Rabiyya (2005): Wie ‚inter‘ ist der Islam, in: Schreiner, Peter (Hrsg.): Handbuch interreligiöses Lernen.

Paret, Rudi (1979): Der Koran, Stuttgart Kohlhammer-Verlag.

Wild, Stefan (2001): Mensch, Prophet und Gott im Koran, Münster Rhema-Verlag.

Dr. Silvia Kaweh ist Islam- und Religionswissenschaftlerin. Sie arbeitet zur Zeit als Lehrbeauftragte für Religionswissenschaft an der Universität Siegen. Sie forscht zu Muslimen in Deutschland, zum Islam aus interkultureller und interreligiöser Perspektive, zu religiösen Kinder- und Jugendprintmedien in Deutschland und sozialkritischen iranischen Schriftstellern der Nachkriegszeit.