Leben mit der Pandemie:

Leben mit der Pandemie:

Klappt nur in privilegierten Zonen

von Katja Maurer

Gerade haben mich Freunde aus Chile besucht. Sie berichteten aus ihrem Dorf, ca. 150 Kilometer von der Hauptstadt Santiago entfernt. In der ersten Welle von Covid-19 bewachten die Anwohner*innen alle Eingänge zum Dorf, um niemand Auswärtigen hineinzulassen. „Wir können hier nicht schwer krank werden. Das ist ein Todesurteil“, sagten sie mir. Das nächste Krankenhaus mit Sauerstoff und Lungenmaschine befindet sich nämlich erst in Santiago.

In Chile wurde ein großer Teil der Bevölkerung mit dem chinesischen Impfstoff »Sinovac« geimpft. Der schützt aber nur vor einem schweren Verlauf, also stiegen im chilenischen Winter die Ansteckungsraten wieder in schwindel­erregende Höhen. Nun könnten noch andere Kriterien als die Inzidenzraten herangezogen und mehr getestet werden, um so hohe Inzidenzen verkraften zu können. In Chile geht das leider nicht. Denn es gibt keine frei verfügbaren Tests. Es lässt sich nur testen, wer sich krank fühlt – und das möglichst heimlich.

Die Regierung reagierte mit autoritären Maßnahmen. Seit fast anderthalb Jahren herrschen mit Unterbrechungen eine abendliche Ausgangssperre und Notzustand, kontrolliert von schwer bewaffneter Polizei und Sondereinheiten des Militärs. Dies ruft keine guten Erinnerungen bei vielen Chilen*innen wach. Alle Maßnahmen sind notgedrungen löchrig, weil die Leute arbeiten müssen, um zu überleben. Busse und Bahnen sind weiter gestopft voll. Eine vollständige Ausgangssperre gilt oft nur am Wochenende, was keinen gesundheitspolitischen Sinn ergibt. Die Schulen und Universitäten sind seit anderthalb Jahren geschlossen. Doch selbst bei vorsichtigen Versuchen sie zu öffnen, weigern sich die Eltern, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Die meisten können sich nicht gegen Covid-19 schützen. Krank zu werden birgt ein großes, wenn nicht tödliches Risiko.

Chile ist vergleichsweise wohlhabend. Was dieses Beispiel über andere ärmere Länder erzählt, in denen es nicht einmal Impfstoff gibt, lässt sich ausmalen. Die Welt wird künftig in voneinander unabhängige räumliche Blasen mit unterschiedlichen Gesundheitsmöglichkeiten aufgeteilt sein. Alle Hoffnungen, dass wir aus der Pandemie auch für zukünftige Krisen lernen könnten, haben sich zerschlagen.

Für diese gesundheitspolitische Spaltung der Welt gibt es verschiedene Gründe. Die Gesundheitssysteme wurden in den vergangenen Jahren in vielen Staaten dem Gesundheitsmarkt zugeführt. Die „öffentliche Gesundheitsinfrastruktur“, so der Gesundheitswissenschaftler Remco van der Pas, sei im Süden in den vergangenen Jahrzehnten
„fast völlig verschwunden“. So leidet die Gesundheitsprävention, die nur funktionieren kann, wenn Aufklärung, Heilungsmöglichkeiten und demokratische Beteiligung an den Formen der Prävention Hand in Hand gehen. Die AIDS-Pandemie ist der historische Beweis dafür. Davon sind wir heute meilenweit entfernt. Die aktuelle Pandemiebewältigung ist eine Mischung aus medizinischen und autoritären Maßnahmen – zu wenig, wenn man mit dem Virus leben muss.

Die zweite Katastrophe in der globalen Krisenbewältigung ist die Weigerung, die Patente auf den Impfstoff wenigstens zeitweise freizugeben. Allen voran Deutschland und die EU setzen ihre Wirtschaftsinteressen vor die globalen Interessen der Gesundheit. Doch nur mit lokalen Produktionen des Impfstoffes wäre es möglich, diese Pandemie weltweit einzudämmen. Deutschland lädt sich mit seiner Weigerung eine hohe moralische Schuld auf. Eine Initiative deutscher Bürger*innen verlangt nun, wenigstens mit dem einstigen Kolonialstaat Namibia Impfstoff zu teilen. Hier habe man schließlich eine historische Verantwortung aus dem Kolonialismus. Ob das Bewegung in die festgefahrene Haltung bringt? Es wäre eine Überraschung.

Denn in der globalen Gesundheitspolitik hat längst eine weitgehende Versicherheitlichung eingesetzt. Statt über Formen der Demokratisierung von Weltgesundheit nachzudenken, in der ein öffentliches Gut eine wesentliche Rolle spielen würde, ist der Diskurs über »Gesundheitssicherheit« immer stärker geworden. Dabei geht es hauptsächlich um die Sicherheit der Privilegierten in den Ländern mit höherem Einkommen. Gesundheitssicherheit ist das Gegenmodell zur »Gesundheit für alle«, dem einstigen Leitmotto der WHO. Gesundheitssicherheit dämmt ein und schottet ab. Darin bildet sich eine künftige Weltpolitik ab, die kein Problem mehr lösen kann. Schlechte Aussichten also für eine solidarische Gesundheitspolitik.

Katja Maurer ist Chefredakteurin der Zeitschrift „rundschreiben“, die von der sozialmedinischen Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international herausgegeben wird.

Bundeswehr als Katastrophenschutz?


Bundeswehr als Katastrophenschutz?

Corona-Pandemie verdeutlicht Missstände

von Martin Kirsch

Die Bundeswehr geriert sich in der Corona-Pandemie als besserer Katastrophenschutz und nutzt ihre Aktivitäten für eine Propaganda­offensive. Währenddessen geraten die ohnehin unterfinanzierten Institutionen der zivilen Krisenvorsorge nicht nur medial ins Hintertreffen. Das Vordringen der Bundeswehr in den zivilen Katastrophenschutz ist kein neues Phänomen in der Corona-Pandemie, wird aber wie diverse andere gesellschaftliche Schieflagen in der aktuellen Krise besonders deutlich.

Nach einer kurzen Phase, in der sich auch die Bundeswehr auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie in ihren Reihen einstellen musste, fuhren die Streitkräfte ihre Aktivitäten im Inland ab Ende März 2020 massiv hoch. Zusätzlich zu den fünf Bundeswehrkrankenhäusern, die ohnehin in die zivile Krankenversorgung in Deutschland eingebunden sind, stehen fast 32.000 Soldat*innen für Hilfsaufgaben in Bereitschaft: knapp 17.000 Sanitätssoldat*innen und 15.000 Angehörige der sonstigen Waffengattungen (BMG u. BMI 2020, S. 12). Damit handelt es sich um das größte Einsatzkontingent, dass die Bundeswehr je für Einsätze im Inland aufgestellt hat. Erst zum zweiten Mal, nach dem Hochwassereinsatz 2013, wurden Soldat*innen für Hilfeleistungen im Inland in großer Zahl präventiv in Bereitschaft versetzt. Dabei handelt es sich um die Vorbereitung für ein Worst-case-Szenario, dies zeigt sich am tatsächlich eingesetzten Personal: Die Zahl der gleichzeitig eingesetzten Soldat*innen blieb im Verlauf des gesamten Mai deutlich unter 1.000. Dennoch soll das überdimensionierte Kontingent der Streitkräftebasis bis zum Herbst aufrecht erhalten werden.

Koordiniert werden die Einsatzkontingente von den bereits etablierten Strukturen der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit und einem Führungsstab des Sanitätsdienstes sowie von vier Regionalen Führungsstäben, die kurzerhand bei den Truppenkommandos von Marine, Luftwaffe und den beiden Panzerdivisionen des Heeres eingerichtet wurden. Auch diese ab April ad hoc eingerichteten Führungsstrukturen sollen bis zum Herbst bestehen bleiben (Wiegold 2020). Bis dahin plant der für Inlandseinsätze zuständige Generalleutnant Martin Schelleis, die Erfahrungen zum Aufbau neuer Koordinations- und Führungsstrukturen zu nutzen. Diese Umstrukturierung, die ohne Corona-Pandemie vermutlich Jahre gedauert hätte, soll nicht nur zur Steuerung von möglichen Corona-Einsätzen der Bundeswehr bis ins nächste Jahr genutzt werden, sondern zur Basis dauerhafter neuer Strukturen werden.

Über 600 Amtshilfeanträge

Bis Anfang Juni 2020 reagierte die Bundeswehr auf über 600 Anträge auf Amtshilfe von zivilen Behörden und Ministerien (Wiegold 2020). Knapp die Hälfte, rund 280 Anträge, wurden von der Bundeswehr wegen fehlendem Personal und Material oder wegen fehlender Rechtsgrundlage abgelehnt oder von den Antragssteller*innen zurückgezogen. Darunter waren rechtswidrige Anfragen der grün-schwarzen Landesregierung in Baden-Württemberg, die für die Soldat*innen hoheitliche Aufgaben als Ordnungskräfte in unter Quarantäne stehenden Geflüchtetenunterkünften sowie die Unterstützung der Landespolizei bei der Durchsetzung der Corona-Maßnahmen vorsahen.

Im gesamten Jahr 2019 reagierte die Bundeswehr insgesamt auf 250 Amtshilfeersuchen, was die Dimension der aktuellen Maßnahmen verdeutlicht. Die Bandbreite der durchgeführten Amtshilfemaßnahmen überschreitet den Rahmen des hier Darstellbaren. Daher werden im Folgenden einige Aufgaben-Cluster aufgeführt, die die Bundeswehr im Rahmen der Corona-Pandemie übernahm, und an einigen Beispielen erläutert (Kirsch 2020).

  • Zu Beginn des unkontrollierten Ausbruchs der Corona-Pandemie in Deutschland im März 2020 wurde die Versorgung von Krankenhäusern und weiteren medizinischen und pflegenden Einrichtungen mit Schutzausrüstung und Medizinprodukten zu einem zentralen politischen Thema. Schnell begann die Beschaffungsbehörde der Bundeswehr für das Bundesgesundheitsministerium entsprechende Kaufaufträge im dreistelligen Millionenbereich abzuwickeln. Für den Lufttransport der bestellten Produkte aus China nutzten die Streitkräfte für sie unter Vertrag stehende Großraumtransportflugzeuge des zivilen Firmenkonsortiums SALIS. Zudem wurden Soldat*innen, beispielsweise in Hessen, in die Planung – vom Einkauf über die Verteilung bis hin zur tatsächlichen Verteilung der Schutzausrüstung – eingebunden. Ende März waren Logistikeinheiten der Bundeswehr damit betraut, die gesamte Schutzausrüstung für Sachsen-Anhalt von Flughäfen abzuholen, zu rationieren und umzuverpacken sowie an zivile Stellen, wie die Gesundheitsämter, zu verteilen.
  • Ab Mitte April wurden in Brandenburg die ersten Soldat*innen in Gesundheitsämtern eingesetzt, um das Stammpersonal bei der telefonischen Kontaktverfolgung von Infizierten und an der allgemeinen Telefonhotline zu unterstützen. Im Gesundheitsamt Potsdam wurden die 25 regulären Mitarbeiter*innen um 15 weitere Soldat*innen aufgestockt. Obgleich ihnen hoheitliche Aufgaben, wie das Verhängen verpflichtender Quarantänemaßnahmen, rechtlich verboten sind, werden hier Bundeswehrangehörige in sensiblen Bereichen der Gesundheitsüberwachung eingesetzt. Anfang Juni waren knapp 200 Soldat*innen in 30 Gesundheitsämtern in acht Bundesländern im Einsatz.
  • Einen weiteren Arbeitsschwerpunkt bildet der Einsatz von Soldat*innen in Alten- und Pflegeheimen. In einem Altenheim im Kreis Bamberg, in dem es zu einem Corona-Ausbruch gekommen war, wurden vorübergehend 35 Panzersoldat*innen eingesetzt. In vier Bundesländern waren Anfang Juni knapp 100 Soldat*innen in rund 20 Heimen tätig. Neben wenigen Sanitätssoldat*innen mit medizinischer Ausbildung, die auch im pflegerischen Bereich tätig werden dürfen, besteht der Großteil der Aufgaben in der Essensausgabe und weiteren nicht-pflegerischen Tätigkeiten.
  • Ebenfalls in Heimeinrichtungen werden in Deutschland, häufig zwangsweise, geflüchtete Menschen im Asylverfahren untergebracht. Dort kam es in oft überbelegten Heimen aufgrund der beengten Lebensverhältnisse und der teils katastrophalen hygienischen Bedingungen bereits gehäuft zu Corona-Ausbrüchen. Mehrfach wurden hunderte Bewohner*innen solcher Einrichtungen kollektiv unter Quarantäne gestellt. Die Bundeswehr lehnte zwar rechtswidrige Anträge aus Thüringen und Baden-Württemberg ab, Soldat*innen als Wachmannschaften für solche Einrichtungen zur Verfügung zu stellen, für Hilfstätigkeiten, wie Essenszubereitung und -ausgabe, sowie medizinische Überwachung und Betreuung werden jedoch Bundeswehrangehörige eingesetzt.
  • Darüber hinaus sind Soldat*innen mit und ohne medizinische Ausbildung an Aufbau und Betrieb von Teststationen, Notkliniken und medizinischen Versorgungsstationen beteiligt. Seltener stellt die Bundeswehr zivilen Krankenhäusern Sanitätspersonal sowie mobile Beatmungsgeräte, Röntgen- und CT-Container zur Verfügung.

Unabhängig von Amtshilfeanträgen sind die fünf Bundeswehrkrankenhäuser sowie Labore der Bundeswehr, darunter ein Speziallabor für die Erkennung biologischer Waffen, in die Versorgung und Testung der Bevölkerung eingebunden.

Zivile Alternativen

Für alle Aufgaben, die die Bundeswehr im Rahmen der Corona-Pandemie bisher übernimmt, bestehen zivile Alternativen. In der medialen Berichterstattung zumeist unerwähnt, wickelt das Technische Hilfswerk (THW) die gesamte Logistik rund um Schutzausrüstungen und Medizinprodukte in Bayern ab und betreibt Logistikeinrichtungen in diversen weiteren Bundesländern. Zudem blieben Transport- und Logistikkapazitäten von zivilen Speditions- und Luftfahrtunternehmen, die aufgrund des Lockdown nicht ausgelastet waren, ungenutzt.

Für die Unterstützung der Gesundheitsämter wurde im März ein Programm des Bundesgesundheitsministeriums aufgelegt. Vermittelt über das Robert-Koch-Institut (RKI), wurden Stellen für 500 Studierende ausgeschrieben. Sie werden als »Containment Scouts« in der telefonischen Kontaktverfolgung eingesetzt. Trotz mehr als 10.000 Bewerbungen wurden bis Mitte Juni allerdings nur 380 Stellen besetzt (Fuchs 2020). Die Option, das Programm aufzustocken, wurde gar nicht erst diskutiert.

Ein Arbeitsschwerpunkt der Containment Scouts ist Nordrhein-Westfalen, wo auf den Einsatz von Soldat*innen in Gesundheitsämtern verzichtet wurde. Ein Grund für die auch unabhängig von der aktuellen Pandemie angespannte Situation in den Gesundheitsämtern ist häufig der Personalmangel. In vielen Kreisen und Städten werden Stellen für Ärzt*innen in den Ämtern aufgrund der miserablen Bezahlung nur mit Interimslösungen besetzt.

Für die medizinische, pflegerische und allgemeine Betreuung in Alten- und Pflegeheimen sowie Geflüchtetenunterkünften müssten Kapazitäten der zivilen Katastrophenschutzeinrichtungen zur Verfügung stehen. So sind bei Evakuierungen aufgrund von Bombenentschärfungen Rotes Kreuz, Johanniter, Malteser und Arbeiter-Samariter-Bund in der Lage, Tausende Menschen, darunter auch Alte und Kranke, in Turnhallen und sonstigen Notunterkünften zu betreuen. Zudem ist die Personalsituation in der Pflege, ob in Heimen oder Krankenhäusern, nicht nur, aber vor allem aufgrund der schlechten Bezahlung bereits im Normalbetrieb an der Belastungsgrenze.

Für Aufbau und Betrieb von Teststationen, Notkliniken und medizinischen Versorgungseinrichtungen ähnelt das Bild der Situation in Pflegeeinrichtungen. Diese Aufgaben fallen in den Kernbereich der zivilen Katastrophenschutzeinrichtungen für die medizinische Versorgung der Bevölkerung in Ausnahmesituationen.

Zivil-Militärische-Zusammenarbeit

Der bisher größte Wendepunkt in der Geschichte der Bundeswehr war das Ende des Kalten Krieges 1989/90. Bis dahin schien der Auftrag der Streitkräfte der Bundesrepublik klar: Landes- und Bündnisverteidigung, d.h. ein potenzieller Krieg auf deutschem Territorium gegen den Warschauer Pakt im Rahmen der NATO-Bündnisverteidigung. Alle weiteren Aufgaben der Bundeswehr mussten sich dieser Kernaufgabe unterordnen. So existieren zwar bereits seit den 1960er Jahren Strukturen der Bundeswehr für die Zivil-Militärische-Zusammenarbeit innerhalb des so genannten Territorialheeres. Sie waren allerdings für die Unterstützung der Bundeswehr durch zivile Organisationen im Kriegsfall ausgelegt.

Seit der Umstrukturierung der Bundeswehr in der ersten Hälfte der 2000er Jahre wurde dieser Auftrag um 180 Grad gewendet. Die Möglichkeit eines Krieges in der Heimat schien in weite Ferne gerückt, und die Kampftruppen der Bundeswehr wurden zunehmend in Interventionskriege und Auslandsmissionen geschickt. Der Ansatz der »Vernetzten Sicherheit« wurde mit dem »Weißbuch 2006« erstmals in einem zentralen Regierungsdokument festgeschrieben. Im In- und Ausland sollte die Bundeswehr dazu befähigt werden, im engen Verbund mit zivilen Institutionen auf gesellschaftlich, ökonomisch, ökologisch und kulturell bedingte Krisen zu reagieren. Diesem neuen Paradigma entsprechend war der Kernauftrag der neu aufgestellten Strukturen der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit ab 2006, die Fähigkeiten der Bundeswehr als Teil der gesamtstaatlichen Krisenvorsoge aktiv zur Unterstützung ziviler Institutionen, zuvorderst des Katastrophenschutzes, anzubieten. Verfestigt wurden diese Strukturen bei den regelmäßig stattfindenden Länder- und Ressortübergreifenden Krisenmanagementübungen (LÜKEX), in denen die Bundeswehr als fester und dauerhafter Bestandteil des staatlichen Katastrophenschutzes etabliert wurde (BBK o.D.). Als Übungsszenarien für LÜKEX dienen u.a. extreme Schneefälle, Sturmfluten und Terroranschläge sowie Stromausfälle und Cyberattacken. Im Rahmen von LÜKEX 2007 wurden die Reaktionen auf eine weltweite Influenza-Pandemie geübt (ebenda).

Falsche Prioritätensetzung – oder: Wer bezahlt die Rechnung?

Warum werden die Institutionen des zivilen Katastrophenschutzes in der Corona-Pandemie und bei Naturkatastrophen eigentlich nicht in vollem Umfang einbezogen? Und kann der zivile Katastrophenschutz diese Aufgaben aktuell überhaupt übernehmen?

Offengelegt werden bei dieser Fragestellung zentrale Missstände finanzieller, personeller und politischer Natur, die bereits vor der Corona-Pandemie existierten, jetzt aber besonders deutlich zu Tage treten. Die Menschen, auf die der zivile Katastrophenschutz zurückgreifen kann – über zwei Millionen –, sind Mitglieder der jeweiligen Organisationen und leisten ihren Dienst größtenteils freiwillig und ehrenamtlich. Ein Extrembeispiel ist das THW: Dort stehen den rund 64.000 ehrenamtlichen Einsatzkräften nur 1.800 hauptamtliche THW-Angehörige gegenüber, die ausschließlich mit Führungs-, Verwaltungs- und Organisationsaufgaben sowie der Materialwirtschaft betraut sind (THW 2020a, S. 8-9; THW 2020b). Wie in vielen Bereichen der Zivilgesellschaft haben auch diese Organisationen in den letzten Jahren mit einem Mitgliederrückgang und Mangel an Freiwilligen zu kämpfen.

Zudem wurden auch dem zivilen Katastrophenschutz nach 1990 massiv die finanziellen Mittel gekürzt. Einrichtungen wie Notkrankenhäuser wurden geschlossen, und die Lagerhaltung von Medikamenten und Material wurde abgewickelt. Um diesem Trend entgegenzusteuern, plant das Rote Kreuz aktuell wieder Materiallager anzulegen und zehn neue Behandlungseinrichtungen für bis zu 50.000 Patient*innen aufzubauen. Dafür wird mit Kosten von rund einer Viertel Milliarde Euro gerechnet. Während der Rüstungshaushalt in den letzten Jahren kontinuierlich stieg und weiter steigen soll, ist die Finanzierung dieses Vorhaben bisher nicht gesichert.

In die bestehenden Lücken im zivilen Katastrophenschutz dringt die Bundeswehr seit rund 15 Jahren massiv vor. Dabei wird sie keineswegs bloß als vermeintlich notwendiger Lückenfüller gesehen. Als um 2006 die neuen Strukturen der Zivil-Militärischen-Zusammenarbeit der Bundeswehr aufgebaut wurden, gab es aktive Bestrebungen in der Bundespolitik, für die Streitkräfte neue Aufgabenfelder im Inland zu erschließen. Abgesehen von grundsätzlichen Kritikpunkten an diesem gezielten Vordringen der Armee in die Sphäre der Innenpolitik, entstanden durch dieses Vorgehen auch ganz konkrete, praktische Probleme. Einerseits ist die Bundeswehr für Teile dieser Aufgaben gar nicht entsprechend ausgebildet und ausgerüstet. Andererseits bleibt die Priorität der Bundeswehr die Fähigkeit, von der Ostflanke der NATO bis nach Mali und Afghanistan Krieg führen zu können. Sind Personal und Material also in Manövern, Eingreiftruppen und Kriegseinsätzen gebunden, stehen sie für Katastrophenschutzaufgaben in Deutschland nicht oder nur stark eingeschränkt zur Verfügung.

Ein weiterer Faktor kommt dazu: Für die Bewältigung von Naturkatastrophen, Großunfällen und Pandemien sind in Friedenszeiten die föderalen Strukturen der Bundesländer und Kommunen zuständig. Ministerpräsident*innen und Landrät*innen, die für die Hilfsanträge an die Bundeswehr verantwortlich sind, versuchen in solchen Ausnahmesituationen häufig Handlungsfähigkeit und Stärke zu beweisen. Der Ruf nach der Bundeswehr und die Mobilisierung von Soldat*innen wird auch medial als Signal der Stärke transportiert, weil martialische Bilder erzeugt werden können. Übersehen wird dabei zumeist, dass sich so zwar kurzfristig praktische und politische Erfolge erzielen lassen. Das Bild von zupackenden Soldat*innen wirkt im jeweiligen Moment stark. Mit einer alltäglichen und dauerhaften Unterstützung und Ausfinanzierung des Katastrophenschutzes hingegen – die dauerhaft Kosten erzeugt, auch wenn akut keine Katastrophe vorliegt – lassen sich kaum Sympathiewerte und Wähler*innenstimmen gewinnen. Viele Landes- und Kommunalpolitiker*innen unterliegen daher dem Reiz des militärischen, auch wenn sie damit dem zivilen, föderalen System des Katastrophenschutzes die Grundlagen entziehen.

Verstärkt wird die finanzielle Schieflage zwischen Zentralstaat und föderalen Strukturen zudem in der konkreten Krisen- oder Katastrophensituation. Die Kosten für die Einsätze des Katastrophenschutzes müssen die Kommunen und Länder tragen, die die Katastrophenschutzkräfte mobilisieren. Ein Großteil der anfallenden Kosten ergibt sich aus der Kompensation der Verdienstausfälle der ehrenamtlichen Helfer*innen, und das kann teuer werden. Die Bundeswehr hingegen stellt ihre Katastrophenschutz- und Hilfseinsätze nicht in Rechnung. Denn auch das Verteidigungsministerium, das die Kosten übernimmt, profitiert von diesen Einsätzen. In der aktuellen Corona-Pandemie sogar von einer privaten PR-Agentur mit Sonderwebsite und YouTube-Doku-Serie in Szene gesetzt, kann sich die Bundeswehr als Hilfsorganisation präsentieren, um Rekrut*innen werben, die Akzeptanz in der Bevölkerung steigern und mit diesen positiven Bildern weiter steigende Rüstungsausgaben rechtfertigen.

Mit der Übernahme der Kosten für Einsätze der Bundeswehr wird damit ein weiterer Anreiz geschaffen, nicht auf einen verlässlich finanzierten und funktionierenden zivilen Katastrophenschutz, sondern selbst bei kleineren Ereignissen auf die vermeintlich kostengünstigere Akuthilfe der Bundeswehr zu setzen.

Konsequenzen

Um die aktuell vorherrschende Bevorzugung der Bundeswehr und das damit einhergehende Ausbluten des zivilen Katastrophenschutzes zu beenden, wäre es dringend nötig, Gelder aus dem Rüstungshaushalt des Bundes in die Länder- und Kommunen umzuleiten. Nur so ließe sich eine funktionsfähige Alternative zur faktischen Militarisierung der zivilen Katastrophenvorsorge sichern bzw. wieder herstellen. Im Gegensatz zu einer zentralstaatlichen und häufig militärischen Krisenreaktion würden so lokale und regionale Strukturen der Zivilgesellschaft gestärkt.

Zudem wären die Ausfinanzierung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtung sowie eine angemessene Bezahlung der dort arbeitenden Menschen und damit ein Ende der marktförmigen Organisation der medizinischen Versorgung der Bevölkerung bitter nötig. Von einem solchen Sinneswandel würde die Bevölkerung auch im Alltag, ganz unabhängig von Naturkatastrophen oder einer Pandemie, erkennbar profitieren.

Wachsamkeit ist allerdings bei Vorstößen des Bundesinnenministeriums aus den letzten Jahren gefragt, die auf den ersten Blick wie eine Stärkung des zivilen Katastrophenschutzes aussehen. Mit der 2016 veröffentlichten »Konzeption Zivile Verteidigung« (KZV) wird erstmals seit den 1990er Jahren der Kriegsfall in Deutschland wieder zur festen Planungsgröße (BMI 2016). Hinter dem Begriff der »Zivilen Verteidigung« verbirgt sich eine Art Katastrophenschutz für den Kriegsfall. Damit reiht sich die Vorbereitung ziviler Infrastruktur für die Arbeitsfähigkeit unter Kriegsbedingungen in die allgemeine Aufrüstung von NATO und EU gegen Russland ein.

Mehr als deutlich wird angesichts der aktuellen Pandemie allerdings, dass weder machtpolitische und militärische Strategien noch zentralstaatliche Führungsstrukturen und Bunker, sondern funktionsfähige lokale und zivile Strukturen des Katastrophenschutzes und ein stabiles, ausfinanziertes Gesundheitswesen tatsächliche Verbesserung bringen würden.

Literatur

Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe/BBK (o.D.): LÜKEX-Historie – von Terror bis Stromausfall. Online auf bbk.bund.de

Bundesministerium der Verteidigung/BMVg (2006): Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin.

Bundesministerium des Inneren/BMI (2016): Konzeption Zivile Verteidigung (KZV). Berlin, 24.8.2016.

Bundesministerium für Gesundheit/BMG und Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat/BMI (2020): Lagebild Gemeinsamer Krisenstab BMI-BMG COVID-19 – Stand: 16.04.2020, 09:00 Uhr. VS – Nur für den Dienstgebrauch. Abrufbar über: Semsrott, A. (2020): Corona-Krise – Wir veröffentlichen aktuelles Lagebild des Krisenstabs. fragdenstaat.de, 18.4.2020.

Fuchs, T. (2020): Corona und die Detektive. Redaktionsnetzwerk Deutschland, 14.5.2020.

Kirsch, M. (2020): Die Bundeswehr und das Virus – Teil II: Mitte März bis Mitte Mai – Amtshilfe und Eiserne Reserve. Ausdruck – Magazin der Informationsstelle Militarisierung e.V., Vol. 18, Nr. 2, S. 34-40.

Koytek, O.; Boje, M.; Schulze, J. (2020): Kata­strophenschutz am Limit – Wie gut ist Deutschland aufgestellt? ZDF zoom, Erstausstrahlung 1.4.2020.

Technisches Hilfswerk/THW (2020a): Jahrsbericht 2019. Bonn, Mai 2020.

Technisches Hilfswerk/THW (2020b): Die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk im Überblick. Bonn: Juli 2020.

Wiegold, T. (2020): Coronavirus – Bundeswehr fährt Bereitschaftszeiten zurück, bleibt aber in Reserve. augengeradeaus.net, 4.6.2020.

Martin Kirsch ist Sozialwissenschaftler und Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

Im Auge des Sturms


Im Auge des Sturms

Die WHO in der COVID-19-Pandemie

von Anna Holzscheiter

Who is WHO? Zweifelsohne hat sich innerhalb von nur wenigen Monaten die Zahl der Menschen vervielfacht, die wissen, was sich hinter dem Akronym WHO verbirgt. Wie schon bei anderen Gesundheitskrisen vor und nach dem Ende des Kalten Krieges blicken große Teile der Weltbevölkerung und selbst der Mitgliedsstaaten mit gemischten Gefühlen auf die Weltgesundheitsorganisation. Die Autorin geht den aktuellen Diskussionen um die WHO nach und erklärt am Ende, warum eine handlungsfähige und finanziell ausreichend ausgestattete WHO unverzichtbar ist.

Welchen Beitrag kann die Weltgesundheitsorganisation leisten, um „allen Völkern zur Erreichung des bestmöglichen Gesundheitszustand[s] zu verhelfen“ (Artikel 1 der WHO-Verfassung von 1946) und Gesundheitssicherheit selbst in Zeiten einer vielerorts schwer kontrollierbaren globalen Pandemie herzustellen? Wie sehr hängen unser persönliches Wohlbefinden und der Schutz unserer individuellen und öffentlichen Gesundheit von den Handlungsmöglichkeiten, der Autorität und möglicherweise auch der Intransparenz und Ineffektivität der WHO ab? Wie stark wird die WHO von unterschiedlichen staatlichen und gesellschaftlichen, unternehmensnahen und profitorientierten Akteuren vereinnahmt? Und wie beeinflussen ihre mächtigsten Geldgeber die Handlungsfähigkeit der WHO in Zeiten eines globalen Gesundheitsnotstands und darüber hinaus?

All diesen wichtigen Fragen zum Trotz verfolgte in den vergangenen Monaten die Öffentlichkeit vor allem den sich zuspitzenden Konflikt zwischen den USA und China innerhalb der WHO. Die Ankündigung des US-Präsidenten Donald Trump im April 2020, die Zahlungen an die WHO einzustellen, weil diese aufgrund ihrer zu engen Beziehungen zu China die Welt nicht rechtzeitig vor der drohenden COVID-19-Pandemie gewarnt habe, seine Ankündigung Ende Mai, die USA würden ihre Zusammenarbeit mit der WHO beenden, und schließlich Anfang Juli seine Kündigung der WHO-Mitgliedschaft binnen Jahresfrist werfen ein grelles mediales Scheinwerferlicht auf die WHO und ihre Rolle in der Pandemie.

Die Kritik am zögerlichen Handeln der WHO teilen viele Beobachter*innen. Ähnlich wie bei der Ebola-Epidemie ab 2014 wird der WHO vorgeworfen, sie habe zu spät einen internationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen. Während das zögerliche Handeln bei Ebola vor allem auf die dysfunktionale Arbeitsweise der WHO und deren mangelnde Führung zurückgeführt wurde, fokussiert die Kritik an den Fehlern der WHO gegenwärtig darauf, dass sie einer Verschleierungstaktik der chinesischen Regierung nichts entgegengesetzt habe. Der WHO-Nothilfekoordinator Mike Ryan hatte nach dem Besuch einer WHO-Delegation in China Ende Januar 2020 die chinesische Regierung für ihren Umgang mit der Corona-Epidemie ausdrücklich gelobt. Ihre Anstrengungen seien vorbildlich gewesen. Andere Politiker*innen und Wissenschaftler*innen äußern sich allerdings ähnlich kritisch über die Schwäche und Vereinnahmung der WHO wie Trump.

Jenseits der Frage, ob und wieviel Schuld die chinesische Regierung und die WHO an der COVID-19-Pandemie tragen, wird im öffentlichen Diskurs immer wieder die allgemeinere Frage erörtert, warum Staaten die WHO als politische Plattform nutzen – eine Frage, die verdeutlicht, wie stark doch das Bild von der WHO als technokratischer Gesundheitsbehörde und politikfreier Zone die öffentliche Wahrnehmung dominiert. Gesundheitsfragen sollen bitte jenseits von Politik gelöst werden, daheim wie auf dem internationalen Parkett, und ganz besonders in Zeiten eines internationalen Gesundheitsnotstands.

Die ideale Weltgesundheitsorganisation stellen wir uns vor als Hort von Expert*innen, die Richtlinien und Standards formulieren, für Gesundheitskrisen genauso wie für eine lange Liste anderer Gesundheitsthemen und -probleme, die Länder beim Aufbau robuster und für alle zugänglicher Gesundheitssysteme beraten, die für die Koordination der Maßnahmen ihrer Mitgliedsstaaten und die Einbindung gesellschaftlicher Akteure zuständig sind. Wir wünschen uns die WHO frei vom Tauziehen um Einfluss, frei von Interessenpolitik und Lobbyismus, frei von Wettbewerb und Streit um Expertise, Wissen, Fakten und Daten. Die Vorstellung behagt uns gar nicht, dass im politischen Alltagsgeschäft von Regierungen, Ministerien und eben auch der WHO, in Zeiten großer Unsicherheit und trotz täglich sich wandelnder Fakten und Erkenntnisse weitreichende Entscheidungen fallen und Krisenstrategien beschlossen werden müssen. Genauso wenig wünschen sich viele innerhalb der WHO eine »Politisierung« der COVID-19-Pandemie, eine Infragestellung der Relevanz und Integrität der WHO und ihrer Führungspersonen, allen voran ihres Generaldirektors, und eine Kritik an ihrem Krisenmanagement zu einem Zeitpunkt, an dem in vielen Ländern und Regionen der Welt die Krise in vollem Gange ist.

Und doch kam – scheinbar aus heiterem Himmel – schon kurze Zeit nach dem Ausrufen einer »public health emergency of international concern« (PHEIC; gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite) durch die WHO die große Weltordnungspolitik ins Spiel, und viele, die sich sonst kaum mit internationalen Organisationen und internationaler Politik befassen, zeigten sich entsetzt. Ich möchte behaupten, dass die öffentliche Debatte über die Rolle der WHO in der Pandemie von einer seltsam ahistorischen und weltfremden Vorstellung von internationaler Politik und internationalen Organisationen geprägt ist.

Internationale Organisationen, und das schließt die WHO genauso ein wie das Welternährungsprogramm, das UN-Kinderhilfswerk oder die internationale Arbeitsorganisation, sind selbstverständlich immer auch politische Institutionen, selbst dann, wenn wir annehmen, dass sie vorwiegend technische, logistische oder humanitäre Aufgaben vor Ort erfüllen sollen. Einflussreiche Akteure der globalen Gesundheitspolitik, allen voran die großen Stiftungen und öffentlich-privaten Partnerschaften, die sich in diesem Feld tummeln, umschreiben globale Gesundheit gerne als ein Feld evidenz-basierter Strategien und Programme, deren vorrangiges Ziel es ist, Leben zu retten und Gesundheit und Wohlergehen weltweit sicherzustellen. Dass dabei natürlich auch Prioritäten gesetzt werden, dass um die Agenda der globalen Gesundheit, um Strategien, Therapien und Wissen ein fortwährender Konflikt ausgetragen wird – dieser Aspekt von Gesundheitspolitik als politischer Kampf um Einfluss, legitimes Wissen, Prioritäten und »value for money« soll lieber im Verborgenen bleiben.

Im Auge des Sturms

Internationale Gesundheitspolitik ist immer auch Ausdruck einer größeren und längerfristigen Weltordnungspolitik sowie von Auseinandersetzungen um Einflusssphären innerhalb und außerhalb von internationalen Organisationen. Und sie zeigt momentan auch, wie die Verachtung, die populistische Präsidenten, wie Trump oder Jair Bolsonaro, für multilaterale Organisationen hegen, sich für deren Zwecke als nützlich erweist. Indem sie nahelegen, auf der einen Seite stünden die WHO, auf der anderen einzelne Staaten der Welt, negieren sie die lange Geschichte und den Einfluss ihrer eigenen Länder als Mitgliedsstaaten und tragende Säulen der Politik, die internationale Organisationen wie die WHO machen. Eine solche Darstellung erlaubt es, die Schuld für die verheerende Lage im eigenen Land und das eigene klägliche Krisenmanagement auf die WHO abzuwälzen.

Jetzt, da die WHO wie keine andere Institution im Rampenlicht der internationalen Politik steht, ist das Interesse daran, die Politik hinter der globalen Gesundheit zu verstehen, größer denn je. Die Vorwürfe Donald Trumps gegen die WHO sind ungeachtet ihrer Verdrehung und Instrumentalisierung in Verschwörungstheorien offenbar auf fruchtbaren Boden gefallen. Befürworter*innen und Kritiker*innen der WHO finden sich in Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Die Serie an Interviews, Medienbeiträgen und Kommentaren, beispielsweise in »Foreign Policy« (Lynch 2020), »Foreign Affairs« (Bollyky und Fidler 2020) oder »The Lancet« (Durrheim et al. 2020), reißt nicht ab. Immer wieder steht dabei die Frage im Raum, wie sehr sich die WHO von Interessen, Staaten und privaten Geldgebern abhängig machen darf, welche Macht sie über starke Mitgliedsstaaten, wie China, hat und welches Handeln wir in Zeiten einer globalen Gesundheitskrise von ihr erwarten.

Einmal mehr zeigt sich in der COVID-19-Pandemie, wie sehr internationale Gesundheitsnotstände ein diplomatischer Drahtseilakt für die WHO sind. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn Regierungen, die ein ungewöhnliches Infektionsgeschehen im eigenen Land beobachten, dies zu vertuschen versuchen (wie schon bei der SARS-Epidemie 2002/2003), obwohl sie gemäß den Internationalen Gesundheitsvorschriften der WHO die Verpflichtung haben, die Staatengemeinschaft zu alarmieren. Bei der Ebola-Epidemie 2014 brauchte die WHO viereinhalb Monate, um endlich von ihrem Recht Gebrauch zu machen, die höchste Alarmstufe, einen internationalen Gesundheitsnotstand, auszurufen. Die berechtigte Kritik an der Schwerfälligkeit der Organisation und die verheerenden »lessons learned« aus der Ebola-Krise führten zu weitreichenden Reformen im WHO-Krisenmanagement, allen voran die Einrichtung eines Gesundheitsnotstandsprogramms und einer unabhängigen Aufsichts- und Beratungskommission, die die Notstandsmaßnahmen der WHO engmaschig evaluieren soll.

In der COVID-19-Pandemie hat die WHO vier Wochen gebraucht, um einen internationalen Gesundheitsnotstand auszurufen. Kritiker urteilen, die WHO habe auch hier zu spät auf den Alarmknopf gedrückt. Die unabhängige Aufsichtskommission wiederum weist in ihrem ersten Bericht von Mitte Mai daraufhin, trotz der Ausrufung eines Gesundheitsnotstandes Ende Januar 2020 hätten viele Länder nur sehr zögerlich auf die Warnung der WHO reagiert. Auch in Deutschland stufte das Robert Koch-Institut erst am 17. März 2020 das Infektionsrisiko der Bevölkerung als »hoch« ein.

Ungeachtet des »shitstorm« aus den USA und des machtpolitischen Strudels, in dem die WHO sich seit Mitte April befindet, zeigte die online abgehaltene Jahresversammlung der WHO-Mitgliedsstaaten Mitte Mai, dass die internationale Gemeinschaft, und zwar nicht nur die Staaten, sondern auch die wissenschaftlichen und nicht-staatlichen Akteur*innen und Organisationen, mehr denn je auf die WHO angewiesen ist. Überraschend wenig Raum nahm während des Gipfels die Auseinandersetzung zwischen den USA und China ein. Stattdessen bewirkten die Besonnenheit einiger Staatschef*innen, einschließlich Kanzlerin Merkel, und die vermittelnde Rolle der Europäischen Union, dass eine Resolution mit einem umfangreichen Maßnahmenkatalog verabschiedet werden konnte (WHO 2020).

Diese Resolution stärkt der WHO einerseits den Rücken, verlangt aber zugleich eine „unparteiische, unabhängige und umfassende“ wissenschaftliche Untersuchung des Ursprungs des Coronavirus. Statt die WHO noch stärker in ihrer Autonomie und Autorität einzuschränken – und damit möglicherweise noch anfälliger für die Vereinnahmung durch starke Mitgliedsstaaten zu machen –, bestätigen die Mitgliedsstaaten die Rolle der WHO als Koordinationsinstanz des internationalen Gesundheitsmanagements. Die Resolution unterstreicht auch die beispiellose Relevanz der WHO für den Austausch zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden. Die Forderungen nach einem gerechten Zugang zu Diagnostik, Therapie und Impfstoffen für SARS-CoV-2, nach einem freiwilligen Pool für Patente und generell nach internationaler Solidarität und Zusammenarbeit offenbaren, wie wichtig diese Institution für eine wahrhaft »globale Perspektive« ist in einer Zeit, in der Grenzen geschlossen, Medizinprodukte gehortet und bereits egoistische Ansprüche auf den Impfstoff »in spe« erhoben werden.

Die Untätigkeit des UN-Sicherheitsrats

Während die WHO momentan extrem belastet ist und mit einer nie dagewesenen Präsenz zugleich an ihrem Image und an der Bewältigung der Krise arbeitet, war das mächtigste Organ der Vereinten Nationen, der UN-Sicherheitsrat, in den vergangenen Monaten aus einem anderem Grund massiver Kritik ausgesetzt. In der Ebola-Krise 2014/15 hatte sich der Sicherheitsrat zum ersten Mal in seiner Geschichte zu einer Dringlichkeitssitzung aufgrund einer Gesundheitskrise getroffen und die Ebola-Epidemie als Gefahr für Frieden und Sicherheit weltweit eingestuft (Resolution S/RES/2177 vom 18. September 2014). Er forderte unter anderem, die UN-Mitgliedsstaaten sollten die Reise- und Grenzbeschränkungen aufheben (!), die während des Ebola-Ausbruchs verhängt worden waren.

In der aktuelle Pandemie gelang es dem UN-Sicherheitsrat nach monatelangen Verhandlungen erst Anfang Juli, eine dringend notwendige Resolution zu verabschieden. Am 23. März 2020 hatte UN-Generalsekretär António Guterres verkündet, es sei Zeit „bewaffnete Konflikte zu beenden und sich gemeinsam auf den wahren Kampf unseres Lebens zu konzentrieren”, und rief zu einem „sofortigen globalen Waffenstillstand in allen Teilen der Welt“ auf (Guterres 2020). Daraufhin drängte insbesondere Frankreich zum Handeln, um dem UN-Generalsekretär den Rücken zu stärken. Die USA versuchten, die 15 Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, dem China als ständiges Mitglied mit Vetorecht angehört, dazu zu überreden, in der Resolution China als Ursprungsland zu nennen, ja gar das Virus als »Wuhan-Virus« zu bezeichnen. Überdies, so die Forderung der USA, solle die WHO in einer solchen Resolution auf keinen Fall erwähnt werden. Russland wiederum stellte sich bei Formfragen quer und unterstellte, das Votum des Sicherheitsrates sei nur bei körperlicher Anwesenheit gültig, nicht per Videokonferenz. Nachdem der überarbeitete Resolutionstext, von Deutschland und Estland als nicht-ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates eingereicht, die Nennung der WHO nicht mehr vorsah, bestand nun die chinesische Delegation darauf, es müsse zumindest die UN Health Group erwähnt werden. Erst als am 1. Juli 2020 Deutschland als nicht-ständiges Mitglied des Sicherheitsrates für einen Monat den Vorsitz übernahm, gelang endlich der Durchbruch, und der Sicherheitsrat sprach sich einstimmig für Resolution 2532 aus, die eine globale Waffenruhe fordert, aber zugleich die WHO nicht namentlich benennt – stattdessen wird dort nur von „allen relevanten Teilen des UN-Systems“ gesprochen (Resolution S/RES/2532(2020)).

Die sicherheitspolitischen Risiken der COVID-19-Pandemie sind offensichtlich und groß, die Konflikte im Sicherheitsrat werfen daher ein verheerendes Licht auf den Mangel an Vertrauen und Kooperationsbemühungen unter den UN-Mitgliedsstaaten. Gerade weil die COVID-19-Pandemie ungleich dramatischere Ausmaße angenommen hat als die Ebola-Pandemie 2014/15, ist ein koordiniertes Handeln von UN-Sicherheitsrat, UN-Generalsekretär und den anderen Organisationen im UN-System notwendiger denn je. Vergangene Gesundheitsnotstände und Resolutionen des Sicherheitsrates hatten gezeigt, wie stark globale Gesundheit und sicherheitspolitische Fragen miteinander verknüpft sind. Das Gezerre um die COVID-19-Resolution verdeutlicht, dass nicht alle Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates sich eine solche Ausweitung des Mandats wünschen. Auch der chinesische UN-Botschafter Zhang Jun wollte das Thema lieber bei den UN-Organisationen sehen, die sich explizit mit Gesundheit befassen, und nicht beim Sicherheitsrat.

Who pays WHO?

Die Aufregung über den Rückzug der USA aus der wichtigsten internationalen Organisation für Gesundheitsfragen ist groß. Die WHO mitten in der Pandemie in Frage zu stellen, „wäre wie während eines Flugs den Piloten aus dem Flugzeug zu werfen“, twitterte der deutsche Außenminister Heiko Maas Mitte April. Zugleich warnte er die USA vor einem internationalen Bedeutungsverlust, sollten sie sich aus der WHO zurückziehen.

Welche Auswirkungen wird die US-amerikanische Abkehr von der WHO aber tatsächlich haben? Was passiert, wenn der größte Beitragszahler den Geldhahn zudreht? Geht dann der WHO tatsächlich das Geld aus? Natürlich nicht. Im Nu stehen andere bereit, um nicht nur die finanzielle Lücke zu schließen, die die USA hinterlassen, sondern auch die Machtlücke in der WHO. Die 2019 von Deutschland und Frankreich gegründete »Allianz der Multilateralisten«, die aus gut 20 Staaten besteht, sprach sich am Tag nach der Hiobsbotschaft aus den USA für eine Stärkung der WHO aus. Angela Merkel räumte zwar ein, die WHO habe zu Beginn nicht ausreichend über die Gefahr des COVID-19-Ausbruchs in der chinesischen Provinz Wuhan informiert, sicherte der Organisation aber dennoch ihre volle Unterstützung zu. Auch Bill Gates kritisierte den US-Präsidenten scharf für seine Abkehr von der WHO und machte unmissverständlich klar, dass auch er, der mit seiner Stiftung wie kein anderer privater Akteur globale Gesundheitspolitik beeinflusst, gerne für die fehlenden Beiträge der USA aufkommen wird. Der chinesische Präsident Xi kündigt bei der Jahresversammlung der WHO an, China wolle die Arbeit der Organisation in der COVID-19-Pandemie mit zwei Milliarden Dollar unterstützen, um vor allem Entwicklungsländern den Zugang zu einem Impfstoff zu ermöglichen.

Die WHO hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges, aber vor allem seit der Jahrtausendwende, stark verändert. Der Siegeszug des Liberalismus nach 1990, der sprunghafte Anstieg zivilgesellschaftlicher Akteure und Organisationen, die sich transnational vernetzten und organisierten, und das steigende Interesse multinationaler Unternehmen, über philanthropische Stiftungen und öffentlich-private Partnerschaften soziale Verantwortung zu übernehmen – all dies vergrößerte in den 1990er Jahren auch in der globalen Gesundheitspolitik den Einfluss privater Akteure immens. Vor allem die damalige WHO-Generaldirektorin Gro Harlem Brundlandt förderte die Zusammenarbeit zwischen der WHO und gemeinnützen sowie profitorientierten Akteuren. Damit sollte sichergestellt werden, dass die WHO sich als zentraler Akteur in einer stetig länger werden Liste von Gesundheitsproblemen einbringen konnte: HIV/AIDS, Malaria, Tuberkulose, vernachlässigte Tropenkrankheiten, Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten …

Zugleich schlossen sich jedoch auch viele Mitgliedsstaaten der WHO alternativen, öffentlich-privaten Gesundheits­initiativen an, allen voran dem »Globalen Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Malaria und Tuberkulose« oder der globalen Impfallianz GAVI. Diese neuen, als flexible, unbürokratische und auf einzelne Gesundheitsprobleme zugeschnitten konzipierte Institutionen sollten der WHO Konkurrenz machen. Das schwindende Vertrauen der Mitgliedsstaaten in »ihre« WHO drückt sich auch darin aus, dass der WHO-Generalsekretär und die Mitarbeiter*innen seiner Behörde über ein immer kleiner werdendes reguläres Budget verfügen. In den 1970er Jahren betrug das Verhältnis zwischen den Pflichtbeiträgen der Mitgliedsstaaten und den freiwilligen, mit einem speziellen Verwendungszweck versehenen Beiträgen 80:20. Inzwischen liegt es bei 20:80. Wer sich eine WHO wünscht, die weder von großen privaten Stiftungen noch von autokratischen oder populistischen Regierungschef*innen überrollt wird, muss zwangsläufig fordern, dass die Mitgliedsstaaten mehr Beiträge in das reguläre Budget der WHO einzahlen – das ist der dringendste Reformbedarf für die WHO.

Ein Appell für eine starke WHO

Eine Organisation, die weltweit tätig ist, die sich mittlerweile nicht nur um Impfstandards, die Eindämmung von Infektionskrankheiten oder Medikamentenkontrolle kümmert, sondern auch um eHealth, Homöopathie, Gesundheit in Gefängnissen oder mentale Gesundheit, und die vor allem der Verständigung und demokratischen Willensbildung zwischen 194 Mitgliedsstaaten und einer Vielzahl nichtstaatlicher Akteure dient – eine solche Organisation ist zwangsläufig schwerfälliger und bürokratischer als kleine, hierarchisch organisierte und oft hochgradig intransparente »public-private partnerships«, die sich für einzelne Gesundheitsprobleme zuständig erklären. Für schwächere Länder, insbesondere Länder des Globalen Südens, genauso wie für die vielen NGOs, Berufsverbände, Betroffenengruppen, Stiftungen, Unternehmen und Wissenschaftler*innen, die in der WHO zusammentreffen, ist es von immensem Wert, über die grundlegenden Werte, Themen und Strategien globaler Gesundheitspolitik mitbestimmen zu können, eine Stimme zu haben, wenn über Agenden, Budgets und die Validität und Folgen wissenschaftlicher Erkenntnisse entschieden wird.

Die Botschaften der WHO und ihres Generaldirektors in den vergangenen vier Monaten haben unmissverständlich die internationale Solidarität mit ärmeren Ländern des Globalen Südens und die globale Gerechtigkeit thematisiert und darauf hingewiesen, wie sehr die Pandemie auch eine Pandemie der Armut und Ungleichheit ist – und wie groß die Verantwortung mächtiger und wohlhabender Staaten, durch internationale Kooperation und Solidarität globale Gesundheitssicherheit möglich zu machen.

Literatur

Bollyky T.J.; Fidler, D.P. (2020): It’s Time for an Independent Coronavirus Review. Foreign Affairs, 24.4.2020.

Durrheim, D.N.; Gostin, L.O.; Moodley, K. (2020): When does a major outbreak become a Public Health Emergency of International Concern? The Lancet, 19.5.2020.

Guterres, A. (2020): Aufruf zu einem globalen Waffenstillstand. Regionales Informationszentrum der Vereinten Nationen (UNRIC), 23.3.2020.

Lynch, C. (2020): Can the United Nations Survive the Coronavirus? Foreign Policy, 8.4.2020.

WHO (2020): Seventy-Third World Health ­Assembly, Agenda item 3 – COVID-19 re­sponse. Dokument WHA73.1 vom 19. Mai 2020.

Prof. Dr. Anna Holzscheiter ist Leiterin der Forschungsgruppe »Governance for Global Health« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Professorin für Internationale Politik an der Technischen Universität Dresden.

Problematische Kriegsmetaphern


Problematische Kriegsmetaphern

Warum wir nicht von einem »Krieg gegen SARS-CoV-2« sprechen sollten

von Marcel Vondermaßen

Kriegsmetaphern sind seit Langem Teil politischer Rhetorik. »Krieg« wurde von führenden Politiker*innen der Armut erklärt (Lyndon B. Johnson, 1964), dem Krebs (Richard Nixon, 1971), Aids, den Drogen, dem Klimawandel … Derzeit wird die Kriegsmetapher zur Mobilisierung gegen eine globale Pandemie genutzt. Im Folgenden wird gezeigt, welcher Nutzen und welche Probleme sich aus ihrer Verwendung ergeben. Insbesondere wird herausgearbeitet, wie problematisch und folgenreich es sein kann, Kriegsmetaphern zu verwenden, wenn das »zu bekämpfende« Phänomen hauptsächlich medizinische und soziale Dimensionen aufweist.

Seit sich SARS-CoV-2 zu einer Pandemie entwickelte, greifen Politiker*innen gerne auf die Kriegsmetapher zurück. „SARS-CoV-2 ist unser gemeinsamer Feind. Wir müssen diesem Virus den Krieg erklären. Das bedeutet, dass die Länder die Verantwortung haben, mehr zu tun, sich zu rüsten und sich zu verstärken,“ stellte UN-Generalsekretär António Guterres fest (15.3.2020). Auch der französische Präsident Emmanuel Macron oder der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte beschwören den Krieg oder fordern, die „ganze Feuerkraft der EU“ (Meiler 19.4.2020) gegen die neuartige Krankheit ins Feld zu führen. US-Präsident Donald Trump erklärte sich selbst zu einem „wartime President“.

Warum die Kriegsmetapher wirkt

Die meisten, die diese Aussagen tätigen, tun dies vermutlich in guter Absicht: Um die Pandemie in den Griff zu bekommen, ist es notwendig, allen Beteiligten teils drastische Einschränkungen und Umstellungen zuzumuten. Mit der Kriegsmetapher soll der Ernst der Lage beschworen und die Notwendigkeit betont werden, gegen eine Bedrohung von außen zusammenzustehen. Sie ist zur Mobilisierung durchaus geeignet. Wie Forschung im Kontext der Klima­krise zeigt, vermittelt die Kriegsmetapher, im Vergleich etwa zum Bild des »Wettlaufs«, eher die Dringlichkeit einer Lage und motiviert zu Verhaltensänderungen im Alltag (Wehling 27.5.2020).

Dieser Effekt dürfte auch bei der Verbindung von Krieg und Pandemie eintreten, da zwei der wichtigsten Grundlagen für eine Wirksamkeit gegeben sind: Verständlichkeit und Konnektivität. Wenn wir Worte verwenden, dann aktiviert dies in unserem Gehirn nicht nur eine einzelne Bedeutung, sondern einen ganzen Deutungsrahmen (Frame), der verschiedene Bedeutungen, Gefühle und Erinnerungen umfassen kann. Damit eine Metapher wirkt, muss für die Empfänger*innen der Deutungsrahmen, den sie mit der Metapher verbinden, zu der Botschaft passen, die ihnen vermittelt werden soll. Krieg wird von den allermeisten Menschen mit Elend, Tod, Vertreibung etc. assoziiert. Er sollte nur als letztes Mittel geführt und möglichst schnell beendet werden. Krieg stellt eine existentielle Bedrohung dar, die drastische Mittel von Seiten der Exekutive rechtfertigt. Dieser Deutungsrahmen ist fast überall auf der Welt selbsterklärend und verständlich.

Konnektivität meint, dass der Deutungsrahmen der Metapher auch zum Problem passen muss. So dürften zwar Sportmetaphern ähnlich verständlich sein, doch der Vergleich einer globalen Pandemie etwa mit einem Fußballspiel scheint unangemessen. Die Grundlage für die Konnektivität von Krieg und Gesundheit wurde von Robert Koch gelegt, der 1876 eindeutig nachwies, dass ein Zusammenhang zwischen bakteriellen Erregern und Krankheiten existiert. Diese Erkenntnis veränderte den Blick auf Krankheiten grundlegend: Bakterien dringen in den Körper der Erkrankten ein. Die Verbindung von »Plagen« und Seuchen mit anderen Erzählungen, wie einer Strafe Gottes oder einem üblen Schicksal, wurde zurückgedrängt. Dafür etablierten sich zunehmend militärische Sprachmuster, die sich bis heute im Sprachgebrauch finden: Wir bekämpfen die Ansteckungsgefahr, das Immunsystem verteidigt uns gegen Erreger, Medikamente vernichten die Eindringlinge.

Der Kampf gegen Viren und Bakterien ist daher auch kein Krieg im Allgemeinen, sondern ein Verteidigungskrieg. Mit Verteidigungskriegen werden jedoch zusätzliche Bedeutungen verbunden: Bedrohung von außen; gerechtfertigte Verteidigung der eigenen Gemeinschaft, des eigenen Landes, des Eigentums; ein gemeinsames Schicksal aller Angegriffenen. Die Kriegsmetapher dürfte daher die von Wehling und ihren Kolleg*innen nachgewiesenen positiven Effekte einer Mobilisierung auch im Fall der Corona-Pandemie aufweisen, denn die Metapher ist verständlich und gut mit dem Problem zu verbinden.

Ist die Wortwahl in diesem Fall also hilfreich? Um dies zu beurteilen, gilt es die verschiedenen Implikationen zu betrachten, die mit der Kriegsmetapher einhergehen:

Der Feind als äußere Bedrohung – der Staat als Bezugsgröße

Spätestens seit sich Nationen als oberste Organisationsform von Gemeinwesen durchgesetzt haben, wird »Krieg« hauptsächlich als Krieg zwischen Staaten verstanden. Die Landesverteidigung ist eine zentrale Verantwortung staatlicher Gewalt. Die Kriegsmetapher rückt daher den Staat als Akteur in den Mittelpunkt. Dies trifft zusammen mit nationalen Zuständigkeiten, was die Organisation der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung betrifft. Die Berichterstattung in den Medien verstärkt diese Wahrnehmung noch: Die Infizierten, die Gestorbenen und die Gesundeten werden national erfasst; Erfolge und Misserfolge werden in Bezug auf Regierungen und Länder diskutiert und bewertet. Eine Folge dieses nationalstaatlichen Denkens zeigte sich in Europa, als sich die Regierungen entschlossen, den grenzüberschreitenden Verkehr einzustellen, obwohl das Virus bereits in den einzelnen Staaten angekommen war. Diese Logik widerspricht jedoch den Erfordernissen einer globalen Pandemie, die eigentlich Multilateralismus, Transparenz, Solidarität und Kooperation über Grenzen hinweg erfordert.

Die Konzentration auf den Staat als maßgeblichen Akteur kann allerdings nicht nur auf internationaler Ebene Probleme verursachen. Militär-Metaphern implizieren immer auch ein hierarchisches (Top-down-) Verständnis von Führung, obwohl in einer Pandemie vielfach Bottom-up-Netzwerke unverzichtbare Arbeit leisten. Dies beginnt mit Spontanhelfenden und geht über Nachbarschaftshilfen und Tafeln bis hin zu grenzübergreifend arbeitenden Nichtregierungsorganisationen. Diese sind jedoch in Gefahr, aus dem Blick zu geraten, weshalb zentral und von oben verfügte Maßnahmen deren Arbeiten sogar erschweren können. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn in einem harten Lockdown der Einkauf für Nachbar*innen kein legitimer Grund ist, die Wohnung zu verlassen.

Viren sind keine Menschen

Wenn Politiker*innen in der Kriegsmetapher denken, besteht die Gefahr, dass sie Logiken des Krieges anwenden. So impliziert »Krieg« einen klaren, identifizierbaren Gegner und ein klares Ende, sei es durch Kapitulation einer Seite oder Friedensverhandlungen. SARS-CoV-2 hat jedoch keinen Willen. Es wird weder kapitulieren noch verhandeln. In der Kriegslogik bleibt daher als einzige Option die Überwältigung des Gegners, die totale Vernichtung. Alternative Settings, wie zum Beispiel zukünftiges Leben »mit dem Virus« aussehen könnte, sind in einer Kriegslogik schwerer zu diskutieren.

Doch auch die Identifizierung des Virus als Feind ist problematisch. Dadurch, dass das Virus von Mensch zu Mensch übertragen wird, kann schnell »der Andere« selbst zur Bedrohung werden. Übergriffe gegen vermeintliche Chines*innen zu Beginn der Pandemie haben gezeigt, wie schnell aus der Angst vor dem Virus gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit werden kann. Die Kriegsmetapher verstärkt das »Wir vs. Die Anderen«-Denken und damit potenziell auch Aggressionen und Vorbehalte gegen bestimmte Gruppen, wie sich beim Ausbruch von Covid-19 im Mai/Juni 2020 in Göttingen beobachten ließ (vgl. Heisterkamp und Sussebach 2020), anstatt Mitgefühl oder Hilfsbereitschaft auszulösen.

Der Sieg als oberstes Ziel

Es gibt Implikationen, die in einem militärischen Setting durchaus Sinn machen oder sogar überlebenswichtig sind: Gehorsam, Homogenität, Vertrauen in die Kommandostruktur. Militärische Logiken kommen jedoch in zivilen Situationen schnell an ihre Grenzen. Viele Stärken und Verhaltensweisen, die zur Bewältigung der aktuellen Krise und für eine auch zukünftig solidarische Gemeinschaft notwendig sind, finden keinen Platz in Kriegsmetaphern. Individuelle Bedürfnisse, kreative Lösungen, selbständiges In-Verantwortung-Gehen können nicht adäquat abgebildet werden. Die Kriegsmetapher verstärkt den Drang zu einem Sieg über den Feind, dem alles andere unterzuordnen sei. Dazu zählen auch Kritik, Zweifel und Skepsis. Gerade weil die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie extrem waren bzw. sind, sollten sie von einer kritischen Öffentlichkeit begleitet und immer wieder hinterfragt werden. Der Vereinigungsdruck, den eine Kriegsmetapher auslöst, führt leicht dazu, das Infragestellen oder den Widerstand gegen Maßnahmen als Verrat zu diffamieren. Dies ist umso gravierender, da Kriegssituationen den Einsatz extremer Gewalt rechtfertigen. In allen westlichen Gesellschaften erlaubt der Verteidigungsfall weitreichende Eingriffe der Exekutive in das Leben der Bewohner*innen. Selbst Grundrechte, sei es die Versammlungsfreiheit, die Reisefreiheit oder das Recht auf Eigentum, können temporär überschrieben werden.

Die Schwierigkeit, Kritik zu äußern, betrifft auch die Langzeitfolgen, welche Maßnahmen mit sich bringen. Die zahlreichen niemals aufgehobenen Anti-Terror-Gesetzgebungen, die als Antwort auf die Anschläge vom 11.9.2001 erlassen wurden, zeigen, wie wichtig eine kritische Begleitung von Krisenmaßnahmen ist. Maßnahmen, die in einer Krise beschlossen wurden, überdauern in der Regel die Krise, die sie hervorgebracht hat.

Gesundheitsbudget als »Verteidigungshaushalt«

Wird die Sicht auf Gesundheit militarisiert, besteht die Gefahr, dass das Gesundheitsbudget als »Verteidigungsbudget« angesehen wird, was Folgen für die Priorisierung innerhalb des Gesundheitswesens hat: „Man neigt dazu, der Gesundheitsfürsorge (insbesondere der medizinischen Versorgung) Vorrang vor anderen Gütern einzuräumen. Innerhalb der Gesundheitsfürsorge wird der Intensiv­pflege Vorrang vor der präventiven und Chroniker- Versorgung gegeben. Tödliche Krankheiten werden eher angegangen als Krankheiten, die Behinderungen hervorrufen; technologischen Interventionen wird Vorrang vor weniger technischen Eingriffen gegeben. Eher wird eine heroische Behandlung sterbender Patienten durchgeführt, anstatt sie in Frieden sterben zu lassen.“ (Childress 2001, S. 189)

Viele der von Childress vorgebrachten Punkte lassen sich auch heute im Gesundheitswesen beobachten, sei es die Marginalisierung von Prävention, die hohe Priorisierung technologischen Fortschritts im Vergleich zur Care-Arbeit oder das Aufblähen des Gesundheitssektors zu Lasten anderer sozialer Güter. Hier braucht es eine kritische Diskussion, ob diese Effekte gewünscht werden – eine Diskussion, die wiederum durch die Kriegsrhetorik eher erschwert als gefördert wird.

Das Krankenhaus als Front

Wer die Bemühungen rund um die Corona-Pandemie in ein Kriegssetting versetzt, kommt nicht umhin, Krankenhäuser als Front im Kampf gegen das Virus zu sehen. Dies macht das Personal zwangsläufig zu Frontkämpfer*innen. Diese Bezeichnung des Krankenhauspersonals ist sicherlich anerkennend gemeint, doch auch in diesem Fall zeigen sich Schattenseiten. Zwar werden Soldat*innen gerne als Hero*innen verehrt, die ihr Land verteidigen, fester Bestandteil von Kriegserzählungen ist allerdings das Opfer: Der Sieg im Krieg wird nicht ohne Opfer errungen, und Opfererzählungen dienen oft sogar der Motivation der noch Kämpfenden (»Das Opfer unserer Kameraden darf nicht umsonst gewesen sein!«). Die Versorgung von Patient*innen folgt jedoch der entgegengesetzten Logik. Ein funktionierendes Gesundheitswesen vermeidet gerade die Notwendigkeit, für ein höheres Ziel Menschen zu opfern. So ist die Anwendung der Triage sicheres Zeichen eines überforderten Systems. Darüber hinaus hat sich das Krankenhauspersonal nicht willentlich dazu verpflichtet, bei der Arbeit das eigene Leben zu riskieren. Der Einsatz in der Pandemie, sich oftmals mit mangelnder Schutzausrüstung um hoch ansteckende Patient*innen zu kümmern, geht weit über das Berufsprofil hinaus. Die Wahrnehmung als Soldat*innen kann den die Grenzen der Pflicht deutlich übersteigenden Charakter dieses Einsatzes sogar verschleiern und normalisieren.

Die Kriegsmetapher betrifft auch die Erkrankten. Der Kampf gegen das Virus macht den Körper zum Schlachtfeld. Wie problematisch es ist, Kriegsmetaphern auf Krankheiten anzuwenden, lässt sich eindrucksvoll bei Susan Sontag in »Krankheit als Metapher« (1978) nachlesen. Sie schildert darin, wie ihre eigene Krebsbehandlung von Kriegsrhetorik begleitet wurde: Ziel ist die Vernichtung der Krankheit; es müssen dafür Opfer (gesunde Zellen) gebracht werden; Aufgeben ist keine Alternative; gewisses Leid und extreme Maßnahmen sind notwendig (S. 74).

Es besteht die Gefahr, dass im Zuge dieses Kampfes vergessen wird, worum es in der Behandlung letztlich geht. Der Verzicht auf invasive Maßnahmen ist kein schmachvoller Rückzug, der Tod nicht in jedem Fall die möglichst lange herauszuzögernde, absolute Niederlage. „Es geht nicht um Tapferkeit, es geht um Würde.“ (Stöcker 2020) In einer Kriegslogik gehen Mahnungen leichter unter, wie die von Palliativmediziner*innen, wenn sie darauf dringen, der Möglichkeit eines würdevollen Sterbens an Covid-19 mehr Raum zu geben.

Fazit: Kriegsmetapher vermeiden

Die Corona-Pandemie ist eine Krise, die klare Vorgaben und Vorschriften braucht. Sie ist aber auch eine Krankheitswelle, die andere Bilder und Vergleiche als die mit Kriegshandlungen benötigt. Ein Fokus auf Kriegsmetaphern verhindert, dass wir den gesellschaftlichen Blick auf jene Werte legen, die zur Bewältigung der Krise unverzichtbar sind: Eigenverantwortung, Fürsorge, Empathie, Kritikfähigkeit. Die Corona-Krise, in all ihren Facetten, darf nicht militarisiert, sie muss, im Gegenteil, zivilisiert werden.

Literatur

Childress, J.F. (2001): The War Metaphor in Public Policy – Some Moral Reflections. In: Ficarrotta, J.C. (ed.): The Leader’s Imperative – Ethics, Integrity, and Responsibility. West Lafayette: Purdue University Press, S. 181-197.

Guterres, A. (2020): Wir müssen diesem Virus den Krieg erklären. Süddeutsche.de, 15.3.2020.

Heisterkamp, L.; Sussebach H. (2020): 18 Stockwerke Stigma. DIE ZEIT, No.25, 10.6.2020, S. 3.

Meiler, O. (2020): Premier Conte fordert „ganze Feuerkraft der EU“. Süddeutsche.de, 19.4.2020.

Sontag, S. (1978): Krankheit als Metapher. München, Wien: Hanser.

Stöcker, C. (2020): Das hier ist kein Krieg. SPIEGEL Online, 5.4.2020.

Wehling, E. (2020), Krieg gegen Corona – die Macht der Worte. After Corona Club, NDR Doku, 27.5.2020; https://youtu.be/xm-­uZpr4nkk.

Dr. Marcel Vondermaßen ist Akademischer Mitarbeiter am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen und Mitorganisator des Graduierten-Netzwerks »Zivile Sicherheit«.

Eine Kurzversion dieses Textes wurde am 2.4.2020 im Blog »Bedenkzeiten« veröffentlicht (uni-tuebingen.de/de/174903).

COVID-19 und Frieden

COVID-19 und Frieden

Wie sich die Pandemie auf den Frieden auswirkt

von Institute for Economics & Peace

Das in Sydney ansässige Institute for Economics & Peace (IEP) erstellt seit 2008 jährlich einen »Global Peace Index« und versucht darin, eine Bemessungsgrundlage für die Friedfertigkeit von Ländern auf der ganzen Welt aufzustellen. Außerdem wurde ein »Positive Peace Index« entwickelt, um Haltungen, Institutionen und Strukturen zu vermessen, die nötig sind, um friedliche Gesellschaften zu schaffen und zu bewahren. Außerdem werden Peace-­Indizes zur Verfügung gestellt für Mexiko, das Vereinigte Königreich und die USA und zum globalen
Terrorismus. Im Juni 2020 wurde zusätzlich ein Peace Index zusammengestellt, um die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf den globalen Frieden abzuschätzen.1 W&F dokumentiert aus diesem Bericht die Zusammenfassung (S. 2) sowie eine Übersichtstabelle (S. 4), um einen Eindruck zu vermitteln, wie friedensrelevante Bereiche von COVID-19 betroffen sind.

  • Der sozioökonomische Faktor, der am unmittelbarsten mit der Anzahl von COVID-19-Infektionen korreliert, ist das Ausmaß des Flugverkehrs. In Frankreich, Italien, Spanien, dem Vereinigten Königreich und den USA gibt es mit die höchsten Flugverkehrsraten weltweit.
  • Die Pandemie hat die Spannungen zwischen den USA und anderen Ländern, wie China, erhöht; dabei geht es um die Rolle der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Handelskonflikte und die Herkunft des Virus. Die Spannungen werden angesichts der anhaltenden Konjunkturschwäche wahrscheinlich weiter zunehmen.
  • Die meisten Indikatoren im Global Peace Index werden sich voraussichtlich verschlechtern. Der Bereich, der sich [unter Friedensgesichtspunkten; R.H.] positiv entwickeln könnte, sind die Militärausgaben, wenn die Länder Finanzmittel umlenken, um ihre Wirtschaft zu stützen.
  • Es steht zu erwarten, dass in Europa die politische Instabilität wächst, einschließlich Unruhen und Generalstreiks, die bereits im vergangenen Jahrzehnt zunahmen.
  • Kürzungen bei der Entwicklungs­hilfe werden fragile und von Konflikten betroffene Staaten zusätzlich belasten, z.B. Liberia, Afghanistan, Burundi und Südsudan, die in hohem Maße auf internationale Hilfsgelder angewiesen sind.
  • Länder mit schlechter Bonität, wie Brasilien, Pakistan, Argentinien und Venezuela, können möglicherweise nicht mehr genug Geld leihen, um die konjunkturelle Erholung zu unterstützen, was zu einem Anstieg von politischer Instabilität, Unruhen und Gewalt führt.
  • Bei schrumpfender Wirtschaft wird es den Ländern schwerer fallen, ihre vorhandenen Schulden zurückzuzahlen. Die Kombination von Verschuldung und schwacher Wirtschaft führt absehbar zu einem Anstieg von Armut, politischer Instabilität und gewalttätigen Demonstrationen. Libanon kann seine Anleihen nicht mehr bedienen, was zum Zusammenbruch der Wirtschaft und zu gewalttätigen Straßenkämpfen führt.
  • Der Welt fehlt ein glaubwürdiges Konzept für den Umgang mit dieser Krise. Die Folgen schärfen voraussichtlich den Blick auf andere sozioökonomische Faktoren, die schon länger gären, wie die wachsende Ungleichheit der Vermögensverteilung, schlechtere Arbeitsbedingungen in entwickelten Ländern und die zunehmende Entfremdung vom politischen System.
  • Der massive Sturz der Ölpreise wird sich auf politische Systeme im Nahen Osten auswirken, insbesondere in Saudi-Arabien, Irak und Iran, was zu einem Zusammenbruch der Schieferölindustrie in den USA führen kann, sofern die Ölpreise nicht zum vorherigen Niveau zurückkehren.
  • Die Pandemie könnte Iraks Fähigkeit beschränken, Aufstände des »Islamischen Staates« zu bekämpfen.
  • Viele Länder werden Schwierigkeiten haben, teure Interventionen zu finanziert. Beispiele sind Saudi-Arabiens Unterstützung der Regierung des benachbarten Jemen, die türkische und russische Unterstützung in Syrien oder Irans Unterstützung für Milizen, wie die Hisbollah.
  • Iran hat gewarnt, die Pandemie sei eine Bedrohung für seine innere Sicherheit, da sie die Folgen der von den USA angeführten Sanktionen verstärke.
  • Die Pandemie und der schwache Ölmarkt verschlimmern die humanitäre Krise und die innere Sicherheit in Venezuela. Pandemiebedingt schlossen außerdem Kolumbien, Brasilien und andere Länder ihre Grenzen zu Venezuela, was für schutzbedürftige Venezolaner*innen zusätzliche Härten mit sich bringt.
  • Mit schrumpfender Wirtschaft in den OECD-Ländern2 werden voraussichtlich mehr Regierungen ihre Beiträge für UN-Peacekeeping-Missionen kürzen.
  • Der Wirtschaftsabschwung wird sich negativ auf die Ernährungssicherheit auswirken. Schon vor Beginn der Pandemie waren 113 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht. In Ländern wie Venezuela, Burundi und Jemen wird die Nahrungsmittelknappheit zunehmen.
  • In den USA, Deutschland, Frankreich und Polen gibt es Proteste gegen die Lockdown-Regeln. Millionen Brasilianer*innen demonstrierten in Sao Paulo und Rio de Janeiro gegen den Umgang ihrer Regierung mit der Pandemie.
  • Gefängnisausbrüche wurden aus Venezuela, Brasilien und Italien berichtet, wo Häftlinge mit Gewalt auf die neuen Einschränkungen reagieren, die wegen COVID-19 verhängt wurden.
  • Drogenhandel und andere Formen von Kriminalität sanken vorübergehend aufgrund der Distanzregeln überall in der Welt. Dafür steigen die Fälle von häuslicher Gewalt, Selbstmord und psychischen Erkrankungen.
  • OECD-Länder, die aufgrund funktionierender Regierungen im »Positiver-Frieden-Index« weiter oben rangieren, sind in der Lage, einen höheren Anteil ihrer Bevölkerung auf COVID-19 zu testen.
Index Bereich Indikator Erwartete Auswirkung Anmerkung

Globaler Friedensindex

Sicherheit [Safety und Security]
Zugang zu Kleinwaffen Verschlechterung Waffenkäufe in den USA steigen während der Pandemie.
Politische Instabilität Verschlechterung Wachsende wirtschaftliche Unsicherheit führt zu Druck auf die Regierungen. In Europa ist ein Anstieg von Unruhen und Generalstreiks zu erwarten, die bereits im vergangenen Jahrzehnt erheblich zugenommen haben. In Libanon kam es zu gewalttätigen Demonstrationen aufgrund der Nahrungsmittelknappheit und der Unfähigkeit der Regierung, Anleihen zu bedienen.
Politischer Terror Voraussichtliche Verschlechterung Die politische Instabilität aufgrund der Wirtschaftskrise wird dazu führen, dass manche Regierungen die Repression verschärfen; andere werden die Lockdowns nutzen, um persönliche Freiheiten gesetzlich einzuschränken.
Gewalttätige Demonstrationen Verschlechterung Proteste gegen Lockdown-Maßnahmen gibt es bereits in der EU, in den USA, in Brasilien und im Nahen und Mittlere Osten.

Bestehender Konflikt
Intensität von internem Konflikt Unsicher Bei sinkender humanitärer Hilfe wird es wahrscheinlicher, dass das entstehende Machtvakuum zu Spannungen führt oder diese verstärkt.
Beziehungen zwischen Nachbarländern Unsicher Wachsende Spannungen zwischen den USA und China und Abhängigkeiten bei den Lieferketten werden andere Länder dazu veranlassen, ihre bisherigen internationalen Kooperationen zu überprüfen. Der Handel wird sinken.

Militarisierung
Finanzierung von UN-Peacekeeping-Missionen Deutliche Verschlechterung Mit schrumpfender Wirtschaft in den OECD-Ländern werden voraussichtlich mehr Länder ihre Beiträge für UN-Peacekeeping-Missionen kürzen.
Militärausgaben in Prozent des BIP Unsicher Der Anteil der Militärausgaben wird vermutlich sinken, wenn Regierungen, besonders in OECD-Ländern, Finanzmittel umlenken, um ihre Wirtschaft zu stützen.
Gute Beziehungen zu Nachbarländern Besucher pro 100.000 Einwohner*innen Deutliche Verschlechterung Es wird viele Jahre dauern, bis der globale Tourismus wieder das Niveau von 2019 erreicht.
Positive wirtschaftliche Rahmenbedingungen BIP pro Kopf Deutliche Verschlechterung Die globalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen werden bei schrumpfender Wirtschaft leiden. In einigen Ländern wird die Wirtschaft zusammenbrechen aufgrund von Kreditausfällen (Libanon), fehlenden Kreditmöglichkeiten (Brasilien) oder hoher Inflationsrate (Argentinien).

Positiver Friedensindex
Hohes Niveau an Humankapital Jugend nicht in Arbeit, Schule oder Ausbildung Deutliche Verschlechterung Unmittelbar wurden die Sektoren am stärksten von der schrumpfenden Wirtschaft getroffen, in denen junge Menschen arbeiten. Hohe Arbeitslosigkeit bei jungen Menschen erhöht die Wahrscheinlichkeit von Gewalt.
Gerechte Verteilung der Ressourcen Armutsquote bei 5,50 US$ pro Tag Deutliche Verschlechterung Die global sinkende Wirtschaft und die Unterbrechung der Handelsströme wird in den meisten entwickelten und Schwellenländern die Armutsquote erhöhen.
Akzeptanz der Rechte anderer Gruppenbezogene Beschwerden Deutliche Verschlechterung In vielen Ländern wächst die Feindseligkeit gegen Minderheiten, insbesondere gegen Menschen chinesischer Herkunft.

Tab. 1: Voraussichtliche Entwicklung beim Globalen Friedensindex und beim Friedensindex durch die COVID-19-Pandemie

Anmerkung

1) Die »Peace Index«-Berichte stehen auf ­visionofhumanity.org online.

2) OEDC = Organisation for Economic Co-oper­ation and Development; dt. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Übersetzt von Regina Hagen.

Ressourcenverteilung in der Pandemie


Ressourcenverteilung in der Pandemie

Eine Chance für menschliche Sicherheit?

von Kathrin Vogler

Wer kommt für die Milliardenkosten für die Bewältigung der Corona-Pandemie auf? Auch wenn es am Anfang hieß, Corona treffe alle gleich, zeigte sich bald, dass es sehr wohl große Unterschiede gibt, wie belastend der Lockdown war und wie gefährlich die Krankheit. Eine ähnliche Schieflage zeichnet sich bei der Frage ab, wer die Krisenkosten tragen soll. Einige sind offenbar von vornherein davon ausgenommen: So scheint ausgerechnet der Militär- und Rüstungsbereich sogar zu profitieren.

Am 20. April 2020, Deutschland diskutierte gerade über erste Lockerungen der strengen Corona-Massenquarantäneregeln, wurde der Vorschlag der Verteidigungsministerin öffentlich, 135 neue Kampfflugzeuge für die Bundeswehr zu beschaffen. Die Empörung gegen diese Ankündigung machte sich besonders daran fest, dass ein Teil der Flugzeuge für die so genannte nukleare Teilhabe vorgesehen ist (siehe dazu Nassauer 2020). Der Vorschlag machte aber zugleich deutlich, dass große Teile von Regierung und Parlament, trotz der durch die Corona-Krise offenbar gewordenen Schieflagen in den öffentlichen Haushalten, weiter an ihren wahnwitzigen Aufrüstungsplänen festhalten wollen. Die falsche Prioritätensetzung geht weiter, als hätte die Pandemie nicht gezeigt, dass es eben nicht dem Gemeinwohl dient, wenn die Bundeswehr unvorstellbar teures Kriegsgerät anhäuft, u.a. zulasten eines krisenfesten Gesundheitssystems. Der Mangel an medizinischer Ausstattung über Wochen – z.B. fehlte es an Atemschutzmasken für ein paar Cent das Stück – und die Auswirkungen der skandalösen Unterfinanzierung unseres Gesundheitswesens legen offen, wie wenig wir gegen tatsächliche Bedrohungen gewappnet sind.

Das zweite Krisenbewältigungspaket, das der Koalitionsausschuss von CDU, CSU und SPD Anfang Juni vorlegte und das Parlament einen Monat später verabschiedete, sieht dementsprechend keine Kürzungen im Rüstungshaushalt vor. Im Gegenteil: Unter der Überschrift „Die Konjunktur stärken und die Wirtschaftskraft Deutschlands entfesseln“ heißt es in dem Beschluss: „Der Bund wird in allen Bereichen prüfen, inwieweit geplante Aufträge und Investitionen jetzt vorgezogen werden können. Insbesondere sollen Digitalisierungsvorhaben in der Verwaltung, Sicherheitsprojekte sowie neue Rüstungsprojekte mit hohem deutschen Wertschöpfungsanteil, die noch in den Jahren 2020 und 2021 beginnen können, sofort umgesetzt werden. (Projektvolumen: 10 Mrd. Euro)“ (Bundesministerium der Finanzen 2020a)

Die krisensichere Rüstungsbranche

Welcher Anteil der zehn Milliarden tatsächlich an die Bundeswehr geht, bleibt abzuwarten. Viele Rüstungsprojekte haben einen langen Vorlauf und können nicht so einfach vorgezogen werden. Außerdem schränkt der „hohe deutsche Wertschöpfungsanteil“ die Kreativität der Beschaffer ein. Aber die Entscheidung macht deutlich, dass Einschränkungen im Rüstungshaushalt als Folge von Corona nicht zu erwarten sind.

Dabei wäre die Rüstungsindustrie der letzte Bereich, der bedacht werden sollte, wenn es darum geht, die Binnenkonjunktur anzukurbeln. 2019 war für Deutschlands Rüstungsbranche ein Rekordjahr, mit genehmigten Exporten im Wert von über acht Mrd. Euro (BMWi 2020). Auch aktuell wird gemeldet, dass das Geschäft mit Krieg und Sterben in den Konfliktregionen dieser Welt nicht unter Auswirkungen der Corona-Pandemie leidet. Schon im ersten Quartal 2020 wurden durch die Bundesregierung mehr Rüstungsexporte genehmigt, als im gleichen Zeitraum 2019. Der Wert dieser Lieferungen zwischen Januar und März 2020 lag bei 1,16 Mrd. Euro und damit 45 Mio. Euro höher als im ersten Quartal des vergangenen Jahres (tagesschau.de 2020). Ende März, auf dem Höhepunkt der ersten Pandemiewelle in Deutschland, rieten Börsenexperten sogar ausdrücklich zum Kauf von Rüstungsaktien. „Die Rüstungsbranche gilt als krisensicher, denn Verteidigungsbudgets sind auf Jahre hinaus fest eingeplant“, hieß es beim Branchendienst Börse-Online (Peter 2020). Vor allem aufgrund der massiven Aufrüstung in den westlichen Staaten sei die Rüstungsbranche in der Krise nicht gefährdet.

Zusätzlich zu den Milliarden für Rüstungsprojekte sieht die Vereinbarung der Koalitionsparteien 500 Mio. Euro für ein »Zentrum für Digitalisierungs- und Technologieforschung der Bundeswehr« vor, um, wie es im Beschluss heißt, „die nationale Verfügbarkeit digitaler und technologischer Innovationen für öffentliche und private Bereiche zu verbessern und innovative und interdisziplinäre Forschung in einem sicheren Umfeld zu betreiben“ (Bundesministerium der Finanzen 2020a). Völlig unklar bleibt, warum bestehende Forschungseinrichtungen diese Aufgaben nicht übernehmen dürfen und warum ausgerechnet die Bundeswehr die Defizite angehen muss.

Daneben geht die ohnehin vorgesehene Aufrüstung weiter. Der »Eckwertebeschluss« der Regierung zum Bundeshaushalts 2021, beschlossen am 16. März 2020, also mitten in der Corona-Pandemie, bekräftigt, dass an der Rekordaufrüstung festgehalten werden soll: „Es besteht Einvernehmen innerhalb der Bundesregierung, dass bestimmte wesentliche Großvorhaben zum Schließen von Fähigkeitslücken […] finanziert werden […].“ Genannt wird eine ganze Palette von Rüstungsgroßprojekten: „Dies gilt insbesondere für Vorhaben im Rahmen der deutsch-französischen und deutsch-norwegischen Rüstungskooperationen, den Ersatz der Luftfahrzeuge des Typs EUROFIGHTER – Tranche 1, die Schließung der Fähigkeitslücke zur luftgestützten, signalerfassenden Aufklärung (PEGASUS), die Nachfolge des Kampfflugzeuges TORNADO, die Beschaffung von Marinebordhubschraubern auf Basis des Typs NH90, den Ersatz der veralteten Flottendienstboote, die Beschaffung von Luftfahrzeugen zur U-Boot-Abwehr sowie eines Taktischen Luftverteidigungssystems.“ (Bundesministerium der Finanzen 2020b)

Dass man an diesen Plänen festzuhalten gedenkt, zeigt der Beschluss über die Beschaffung neuer Kriegsschiffe MKS 180, die noch im Juni vertraglich vereinbart wurde (BMVg 2020). Die reinen Baukosten der vier Schiffe belaufen sich auf mehr als vier Mrd. Euro. Insgesamt sieht der Haushalt vor, sechs Mrd. Euro für „Überlegenheit im Seekrieg“ (Bundeswehr 2020) zu verpulvern.

Offensichtlich ist jedoch, dass die aktuelle Krise eine Umschichtung in den öffentlichen Haushalten erfordert. Die durch die Pandemie notwendig gewordene Kreditaufnahme wird die öffentlichen Haushalte über Jahre belasten. Sollen sie nicht durch Kürzungen bei den Sozialleistungen ausgeglichen werden, dann bietet es sich an, auf Militärausgaben zu verzichten. Die Bundeswehr hat in der Krise ja bereits unter Beweis gestellt, dass ihre Unterstützungsmöglichkeiten in keinem Verhältnis zu den Ausgaben stehen, die sie verschlingt. (Siehe dazu » Bundeswehr als Katastrophenschutz?« von Martin Kirsch auf S. 24.)

Der Beirat der Bundesregierung »Zivile Krisenprävention und Friedensförderung« (2020) resümiert: „Nicht-traditionelle Sicherheitsrisiken, wie Pandemien oder auch der Klimawandel, sind im Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und Zukunft der Bundeswehr und den Leitlinien der Bundesregierung »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen und Frieden fördern« aus 2017 benannt. Allerdings wurde ihre zentrale Bedeutung für den Schutz der Bevölkerung nicht ausreichend reflektiert und politische Entscheidungen für gesellschaftliche Resilienz wurden nicht getroffen.“

Das profitbasierte Gesundheitssystem

Ein falsches Verständnis von Sicherheit und die neoliberale Privatisierungsideologie haben dazu geführt, dass wir in der Corona-Krise eine Krise der Staatlichkeit, wie wir sie kennen, erleben. Die für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger entscheidende soziale Sicherheit, zu der ein leistungsfähiges, für alle zugängliches Gesundheitssystem gehört, das auch auf Krisen vorbereitet ist, wurde in den letzten Jahrzehnten vernachlässigt. Der Staat hat seine Aufgaben in der Krisenvorsorge zugunsten der ökonomischen Verwertbarkeit des Gesundheitswesens aufgegeben. Er hat die Kommunen kaputtgespart, die daraufhin den öffentlichen Gesundheitsdienst herunterfuhren. Er hat Krankenhäuser zu profitorientierten Unternehmen gemacht, angebliche Überkapazitäten abgebaut und das Pflegepersonal, die technischen Dienste und die Hygiene vernachlässigt. Wenn die Situation in den vergangenen Monaten in Deutschland einigermaßen erträglich geblieben ist, dann ist das nicht nur dem schnellen Lockdown zuzuschreiben, sondern auch den wohnortnahen Krankenhausbetten in der Fläche, deren Fortbestand durch den Widerstand der Bevölkerung und der Beschäftigten vor der Abschaffung aus Kostengründen gerettet wurden. Es hat auch damit zu tun, dass die Gewerkschaften schon in den Anfängen der Bundesrepublik mit beharrlichen Streiks die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erkämpft und später verteidigt haben und die Menschen bei uns somit nicht gezwungen sind, krank zur Arbeit zu gehen, wo sie viele andere Menschen anstecken könnten.

Dieser Widerstand konnte allerdings nicht verhindern, dass das Gesundheitssystem in der Bundesrepublik schlechter für die Pandemiebekämpfung aufgestellt ist, als es sein könnte. In den 20 Jahren zwischen 1991 und 2011 hat sich der Anteil der privaten Klinikkonzerne an den Kliniken in Deutschland von 14,8 % auf 33,2 % mehr als verdoppelt. Dabei ist die Zahl der Kliniken insgesamt von 2.411 (1991) auf 1.925 (2018) gesunken, die der Krankenhausbetten sank im gleichen Zeitraum von 665.565 auf 498.192 (Statistisches Bundesamt 2020). Im Pandemiefall gibt es also in Deutschland ein Viertel weniger Krankenhausbetten als 1991. Auch beim Klinikpersonal ging es bergab: Die Gewinnerwartungen der Aktionäre realisieren die Klinikkonzerne durch Rationalisierung und Stellenstreichungen. Das heißt für das Personal höherer Arbeitsdruck und schlechtere Bedingungen. In Deutschland betreut ein Beschäftigter im Schnitt 21 Patient*innen, in Dänemark zehn, in Norwegen neun und selbst in den USA acht. Die Versorgungsqualität in der Bundesrepublik ist also nicht so gut, wie sie bei angemessener Personalausstattung sein könnte. Das bedeutet, dass im Pandemiefall die knappen Personalressourcen früher erschöpft sind. Es liegt auf der Hand, dass Krankenhäuser, die nun mal zur öffentlichen Daseinsvorsorge dazugehören, in ausreichendem Maße vorgehalten und finanziert werden müssen.

Die globale Dimension der Krise

Die globale Dimension der Krise ist damit allerdings noch gar nicht angesprochen. Die Weltgesundheitsorganisation warnte schon im April davor, die Subsahara-Region könnte zu einem Epizentrum der Corona-Pandemie werden. Sie rechnete dort mit 300.000 Toten und 30 Mio. Hungernden (Schwarte 2020). Die Bundesregierung stellt in den Jahren 2020 und 2021 zwar jeweils 1,5 Mrd. Euro zusätzlich für humanitäre Hilfe zur Verfügung, es ist jedoch zu bezweifeln, ob das ausreichen wird.

Allein für die UN-Arbeit innerhalb Syriens gehen die Leiter der UN-Agenturen für humanitäre, Entwicklungs- und Flüchtlingsangelegenheiten von einem Bedarf von 3,8 Mrd. US$ aus und von weiteren sechs Mrd. für die Nachbarländer. Auch wenn diese Bedarfe nicht allein auf Corona zurückzuführen sind, so hat die Pandemie die Situation für die Menschen in der Region massiv verschärft: „Die COVID-19-Krise hat unmittelbare und verheerende Auswirkungen auf den Lebensunterhalt von Millionen syrischer Flüchtlinge und ihrer Gastgeber in der Region, sagte der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi. „Die Schwächsten in der Gesellschaft – darunter Millionen Flüchtlinge – haben ihr ohnehin unregelmäßiges und dürftiges Einkommen verloren.“ (UNHCR 2020)

Syrien ist aber nur ein Schlaglicht. Nach Angaben der Weltbank haben 3,4 Milliarden Menschen, fast die Hälfte der Weltbevölkerung, Schwierigkeiten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen (World Bank 2018). Diese Menschen sind in besonderem Maß durch die Pandemie bedroht, weil sie sich weniger schützen können, im Erkrankungsfall schlechter oder gar nicht behandelt werden und durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ihrer ohnehin prekären Erwerbsmöglichkeiten beraubt werden. Nach Angaben des World Food Programme könnte sich die Zahl der vom Hungertod Bedrohten weltweit aufgrund des Coronavirus bis Ende 2020 auf 265 Millionen Menschen verdoppeln (WFP 2020). Laut den Vereinten Nationen ist der Finanzbedarf zur Bekämpfung der Corona-Krise von März bis Juli von zwei Mrd. auf 10,3 Mrd. US$ gestiegen. Gerade einmal 1,64 Milliarden davon waren zu diesem Zeitpunkt eingetroffen. Und bei diesen Summen geht es nur um Bedarfe im Zusammenhang mit Corona. Der gesamte Bedarf im humanitären Bereich liegt bei 40,2 Mrd. US$ (UN OCHA 2020).

Es gibt also gute Gründe, die Budgets im Lichte der Corona-Erfahrung zu überprüfen. „Rüstung bietet uns kaum Schutz vor Gesundheits- und Umweltgefahren. Eine weitere Stärkung unseres militärischen Arsenals wird der dringend benötigten internationalen Zusammenarbeit, der Vertrauensbildung und der Diplomatie nicht helfen, sondern eher Angst und Misstrauen nähren, mit anderen Worten, den Weg für mögliche Kriege ebnen, die aus ungelösten Herausforderungen resultieren“, sagt Jordi Calvo, Koordinator der Kampagne zu den weltweiten Militärausgaben des International Peace Bureau (IPB 2020).

Ein Aufruf von mehr als 200 Politikerinnen sowie zivilgesellschaftlich und kirchlich organisierten Frauen aus 40 Ländern rückt angesichts dieser Probleme die menschliche Sicherheit ins Zentrum: „Die COVID-19 Pandemie hat zweifellos bewiesen, dass Schlüsselbereiche der menschlichen Sicherheit nicht durch militärische Mittel oder im Alleingang von Nationen gelöst werden können, sondern weltweite Zusammenarbeit und gewaltfreie Konfliktlösung benötigen.“ (PNND 2020)

Es wäre zu begrüßen, wenn es in der Aufarbeitung der Corona-Pandemie gelänge, die Defizite eines militärisch verkürzten Sicherheitsverständnisses herauszuarbeiten. Die bestimmenden Krisen unserer Zeit, neben Pandemien der Klimawandel und die Armut, sind mit militärischen Mitteln nicht zu bearbeiten. Im Gegenteil, Militär und Kriege sind verantwortlich für gigantische Umweltschäden und sie tragen direkt oder indirekt zu Armut bei. Ein Verständnis von menschlicher Sicherheit würde helfen, sich auf die Bedürfnisse von Individuen zu konzentrieren.

In einer Welt, in der die Grundbedürfnisse von Milliarden Menschen nicht befriedigt werden und die Mittel für die angemessene Reaktion auf eine Virus­pandemie fehlen, sind die gigantischen Rüstungsausgaben eine obszöne Geld­verschwendung.

Literatur

Beirat der Bundesregierung Zivile Krisenprävention und Friedensförderung (2020): Die Covid-19-Pandemie und ihre Folgen – ­Herausforderung für Krisenprävention und Friedensförderung. Stellungnahme, 10.6.2020; konfliktbearbeitung.net.

Bundesministerium der Finanzen (2020a): Corona-Folgen bekämpfen, Wohlstand sichern, Zukunftsfähigkeit stärken – Ergebnis Koalitionsausschuss 3.Juni 2020.

Bundesministerium der Finanzen (2020b): Eckwertebeschluss der Bundesregierung zum Regierungsentwurf des Bundeshaushalts 2021 und zum Finanzplan 2020 bis 2024. März 2020.

Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) (2020): Vertrag zum Bau der MKS 180 unterzeichnet. bmvg.de, 19.6.2020.

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (2020): Rüstungsexportbericht 2019 – Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung im Jahr 2019. Pressemitteilung vom 17.6.2020.

Bundeswehr (2020): Erklärstück-Update – Das Mehrzweckkampfschiff 180. 19.6.2020; ­bundeswehr.de.

International Peace Bureau (IPB) (2020): Fund Peace, Not Arms Dealers. GCOMS/ENAAT Press Release, 8.5.2020.

Nassauer O. (2020): Weniger Sprengkraft, aber mehr Risiko – Kleine Atomsprengköpfe auf großen U-Boot-Raketen. W&F 2-2020, S. 43-46.

Parliamentarians for Nuclear Non-Proliferation and Disarmament et al. (PNND) (2020): Menschliche Sicherheit für das Gesundheitswesen, Frieden und nachhaltige Entwicklung – Ein weltweiter Appel von Frauen zur Feier des Internationalen Frauentags für Frieden und Abrüstung (24. Mai) und dem 75. Jahrestag der Vereinten Nationen. 12.5.2020.

Peter, D. (2020): Rüstung – Globale Ausgaben steigen, das sind die Profiteure. boerse-online.de, 25.3.2020.

Schwarte, G. (2020): Corona-Folgen in Afrika Müller warnt vor „Hunger-Pandemie“. 28.4.2020, tagesschau.de.

Statistisches Bundesamt (2020): Krankenhäuser – Einrichtungen, Betten und Patientenbewegung. 19.6.2020, destatis.de.

tagesschau.de (2020): Rüstungsexporte – Deutsche Waffen sind gefragt. 9.4.2020.

UN High Commissioner for Refugees/UNHCR (2020): UN chiefs urge sustained support to Syrians and the region ahead of fourth Brussels conference. Press Release, 29 June 2020.

United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UN OCHA) (2020): Global Humanitarian Response Plan – Covid-19. GHRP July Update, 16.7.2020.

World Bank (2018): Nearly Half the World Lives on Less than $5.50 a Day. Press Release, 17.10.2018.

World Food Programme (WFP) (2020): WFP-Chef warnt vor Hungerpandemie wegen COVID-19 (Erklärung vor dem UN-Sicherheitsrat). 21.4.2020.

Kathrin Vogler, MdB, ist friedenspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und Obfrau im Unterausschuss Zivile Krisenprävention.

Welt im Aufruhr


Welt im Aufruhr

Krankheitssymptome der Globalisierung

von Jürgen Scheffran

Die beschleunigte Globalisierung schafft Reichtum für eine wachsende Erdbevölkerung, stößt aber an planetare Grenzen, die zu Krisensymptomen in Natur und Gesellschaft führen. Durch das absehbare Ende des fossilen Kapitalismus, Machtverschiebungen im Nord-Süd-Verhältnis und den Einfluss von sozialen Netzwerken erfährt die neoliberale Weltordnung Aufruhr und Kontrollverlust. Anzeichen für den Umbruch sind Umweltzerstörungen und Krankheiten, zwischenstaatliche Machtkämpfe und Gewaltkonflikte, Terrorismus und Massenproteste. Das Überschreiten von Kipppunkten kann katastrophale Folgen mit sich bringen, aber auch Transformationsprozesse anstoßen, die Widerstandskräfte stärken und einen Übergang vom kranken Planeten zur planetaren Gesundheit ermöglichen.

Durch die expansive Globalisierung konnten die westlich geprägten Industriestaaten eine ökonomische Dominanz entwickeln und eine hohe Anziehungskraft ausüben, die durch allgemeine Werte (Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Wohlstand, Toleranz, Menschenrechte und Gewaltfreiheit) untermauert wird. Die Akkumulation von Reichtum durch wenige auf Kosten vieler, die daran kaum teilhaben oder die negativen Folgen tragen, steht gleichzeitig im Widerspruch zum propagierten Wertesystem und provoziert Widerstände und Konflikte (Scheffran 2015).

Eine Folge der Ausbeutung von Mensch und Natur in der Geschichte waren Krankheit und Tod. In Zeiten des Kolonialismus verbreiteten die Eroberer und Siedler in der »Neuen Welt« Seuchen, die mehr Menschen töteten als Waffengewalt. Sie schwächten dort die Gesellschaften und ermöglichten so die europäische Expansion (Zimmerer 2020a). In der Industriellen Revolution wurde das Elend der Armen von Thomas Malthus als Element der Bevölkerungsbegrenzung gerechtfertigt, um knappe Ressourcen zu schonen. Für angesehene Wissenschaftler, wie Robert Koch, war Afrika noch Anfang des 20. Jahrhunderts ein Experimentierfeld, um Erkenntnisse über die Bekämpfung von Krankheiten zu gewinnen, ohne Rücksicht auf seine menschlichen Versuchsobjekte (Zimmerer 2020b). Der Wohlstand Europas und des Westens ging auf Kosten des Rests der Welt, und in vieler Hinsicht gilt dies bis heute. Zwar trafen Krankheiten und Seuchen auch wohlhabende Schichten, doch hatten sie meist bessere Schutzmöglichkeiten als weniger wohlhabende. Dies gilt auch in der COVID-19-Pandemie, die zwar die Verwundbarkeit des Globalen Nordens demonstriert (Beispiel USA), aber die Schwächsten am stärksten trifft.

Liberale Weltordnung unter Druck

Konnten die Folgen der Expansion bislang weitgehend an die Peripherien verlagert werden, so wirken mit Erreichen ökologischer, wirtschaftlicher, sozialer und politischer Grenzen des Wachstums die Konsequenzen zunehmend auf die Zentren zurück. Dies zeigt sich an den seit der Jahrtausendwende zunehmenden Krisenerscheinungen, allen Versuchen zum Trotz, diese unter Kontrolle zu bekommen. Drei wesentliche Trends sind eine Herausforderung für die liberale Weltordnung:

1. Wurde die industrielle Revolution maßgeblich durch fossile Energieträger befeuert, so werden heute die Grenzen des fossilen Kapitalismus sichtbar. Während billiges Öl und Erdgas weitgehend aufgebraucht sind, werden zunehmend sekundäre Quellen (Offshore, Fracking, Ölsande) mit höheren Kosten und Risiken erschlossen. Aufgrund des Klimawandels steht die Atmosphäre als Kohlenstoff-Deponie nicht mehr zur Verfügung, Widerstände nehmen ebenso zu wie alternative Energieträger, die den fossilen Kapitalismus unter Druck setzen.

2. Demokratisierung und Einflussmöglichkeiten des Globalen Südens schränken dort die weitere Ausbeutung von Mensch und Ressourcen durch den Globalen Norden ein. Hinzu kommt die demographische Entwicklung, derzufolge bisherige Industriestaaten bald nur einen kleinen Teil der Weltbevölkerung ausmachen. Dies zeigt das bevölkerungsreiche China, das vom billigen Produktions­standort und Absatzmarkt zum größten Konkurrenten für den westlichen Kapitalismus avanciert und als strategischer Akteur im Nord-Süd-Verhältnis agiert. Dies macht es schwieriger, die Bevölkerung im Globalen Norden mittels Arbeitsplätzen und billigem Massenkonsum zufriedenzustellen, was sozialen Sprengstoff birgt.

3. Verbunden über soziale Netzwerke meldet sich die Zivilgesellschaft weltweit zu Wort und wird zu einem Faktor, der öffentliche Debatten und politische Entscheidungen beeinflusst. Die Demokratie wird um partizipative Elemente erweitert. Zahlreiche Bewegungen nutzen soziale Medien und Technologien für ihre Zwecke. Der Unmut bricht sich Bahn, gegen versagende Regime, Umweltzerstörung, Krieg, Rassismus und Ausbeutung, für und wider Nationalismus. Innere und äußere Konflikte schaukeln sich auf.

Hätte jeder dieser Trends das Potential zum Epochenwandel, so gilt dies umso mehr für ihre Kombination. In der Geschichte gab es ähnliche Konstel­lationen, die bestehende Ordnungen erschütterten und revolutionäre Umbrüche auslösten, nach der französischen Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts oder im Ersten Weltkrieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch heute erleben wir eine Welt im Aufruhr. Wie vor hundert Jahren werden die zwanziger Jahre zeigen, ob das alte System (dafür steht Donald Trump) die Welt in eine große Katastrophe stürzt oder ob sich intelligentere Alternativen durchsetzen. Dies hängt auch davon ab, ob es zu sprunghaften Katastrophen kommt: Wirtschafts-Crash, Klimakollaps, Atomkrieg oder verheerende Pandemien.

Zwischen planetaren Grenzen und Systemkollaps

Je mehr die Menschheit planetare Belastungsgrenzen überschreitet, desto mehr ähnelt die Erde einem Patienten auf der Intensivstation. Das Gesundheitswesen bietet Parallelen, aber durchaus auch Rezepte, wie dem kranken Planeten zu helfen ist.

Krankheiten beeinträchtigen die körperliche Leistungsfähigkeit durch Funktionsstörungen von Organen, der Psyche oder des gesamten Organismus. Kranksein wird gemeinhin mit Schwäche und Gebrechen gleich gesetzt und äußert sich durch Symptome, die zu Beschwerden führen. Ein Syndrom ist ein typisches Krankheitsbild, das mehrere Symptome kombiniert. Die Diagnose beurteilt eine Krankheit aufgrund der in einer Untersuchung erhobenen Befunde. Daraus wird die Therapie abgeleitet, um Beschwerden zu lindern und Krankheiten zu heilen.

Medizinische Begriffe fanden Eingang in die Umweltforschung. Ein Beispiel ist das in den 1990er Jahren vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU 1996) entwickelte Syndromkonzept, das typische planetare Krankheitsbilder und Kausalbeziehungen bestimmt und analysiert, um Fehlentwicklungen aufzeigen und bewältigen zu können. Etwa 80 Symptome werden in neun Sphären von Natur und Gesellschaft unterteilt, um daraus 16 Syndrome abzuleiten, benannt nach einem jeweils typischen Begriff: Sahel, ökologischer Raubbau, Landflucht, Dust-Bowl, Rohstoffausbeutung, Massentourismus, militärische Umweltschäden, Aralsee, Grüne Revolution, rasches Wirtschaftswachstum, geplante oder ungeregelte Urbanisierung sowie technische Havarien, Schadstoffemissionen, Müllkippen und Altlasten. Aus der Diagnose der Syndrome ergibt sich, wie katastrophale Entwicklungen durch geeignete Therapien eingedämmt werden können.

Das Leitplanken-Konzept untersucht die Einhaltung planetarer Grenzen, etwa des Temperaturziels der Klimapolitik. Grenzen engen ein, schützen aber auch. Ihre Überwindung bietet Chancen und Freiheiten, schafft aber auch Risiken und Überraschungen. Wenn ein Fahrzeug mit voller Geschwindigkeit in eine Mauer rast, können Fahrzeug und Mauer zerstört werden, aber auch das Leben der Insassen. Wer über eine Klippe springt und sich im freien Fall der Gravitationskraft aussetzt, riskiert sein Leben. Und wer in einer Pandemie die Wohnung verlässt und auf die Schutzmaske verzichtet, schafft ein erhöhtes Infektionsrisiko und trägt zur weltweiten Ausbreitung bei. Nationale Grenzen schränken unkontrol­lierte Grenzübertritte ein; Grenzwerte für Umweltgifte sollen Körper und Umwelt schützen.

Aufgrund von Unsicherheiten in komplexen Systemen sind Grenzwerte oft nicht exakt bestimmbar, sodass Sicherheitsabstände einzuhalten sind, die Raum zum Handeln lassen. Bei Überschreiten von Kipppunkten können abrupte und irreversible Kaskaden und Dominoeffekte ebenso ausgelöst werden wie exponentielles Wachstum, Chaos und Systemkollaps. Beim exponentiellen Wachstum kann eine kleine Abweichung zu explosivem Wachstum oder Zerfall führen, wie bei der Pandemie und anderen Erkrankungen, die ab einer Schwelle zum Tode führen (z.B. Krebs oder hohes Fieber), darunter aber eine Genesung erlauben, wenn das Immunsystem die Oberhand gewinnt. Die Menschheit konnte in ihrer Geschichte bei hoher Geburtenrate ihre Sterberate soweit verringern, dass eine exponentielle Bevölkerungszunahme erfolgte. Bei Erreichen planetarer Grenzen kann ein Gleichgewicht durch Begrenzung von Zuwachs oder durch Zerfall erreicht werden. Mehr Zerfallserscheinungen könnten die Lebensbedingungen auf der Erde weiter gefährden und gesellschaftliche Kippdynamiken auslösen, wie Kriege, Revolutionen oder den Zusammenbruch politischer Regime.

Natürliche Krisensymptome

Neun planetare Belastungsgrenzen wurden ausgemacht, in den Feldern Arten­sterben, Stickstoff/Phosphor-Kreislauf, Abholzung und Landnutzung, Ozeanversauerung, Klimakrise sowie Ozonloch, Süßwasserverbrauch, atmosphärische Verschmutzung und Freisetzung neuer Stoffe (Steffen et al. 2015). Im sechsten »Global Environment Outlook« unter dem Titel »Healthy Planet, Healthy People« wird 2019 konstatiert, dass Gesundheit und Wohlstand direkt mit der Umwelt verbunden sind. Global können jährlich etwa ein Viertel aller Todesfälle und wirtschaftliche Verluste von 4,6 Bio. US$ (6,2 % der Produktion) auf beeinflussbare Umweltfaktoren und -schäden zurückgeführt werden (UNEP 2019, S. 9/588). Die durch Einhaltung der Klimaziele eingesparten Gesundheitskosten lägen noch deutlich darüber. Bei einer Bevölkerung von zehn Mrd. Menschen bis 2100 nehmen die Umweltbelastungen zu, wenn Produktions- und Konsummuster nicht radikal geändert werden.

Die meisten Todesfälle und Krankheiten gibt es durch Luftverschmutzung, etwa neun Mio. oder 16 % aller 2015 Verstorbenen (UNEP 2019, S. 10). Wachsende CO2-Emissionen und Megastädte bringen vielfältige gesundheitliche Belastungen mit sich. Noch schlechter steht es um die Biodiversität. Je nach Lebensraum sind 25-42 % der Wirbellosen-Arten bedroht, darunter viele Insekten (UNEP 2019, S. 154). Wenn nichts geschieht, ist mit hohen Schäden zu rechnen, z.B. durch invasive Arten, Zoonosen zwischen Tieren und Menschen, Verlust von Ökosystemleistungen. Die fehlende Bienen-Bestäubung beeinträchtigt die Versorgung mit Nahrungsmitteln und pflanzlichen Medikamenten. Arme sind besonders stark betroffen.

Schäden an Land und Böden gefährden die Ernährungssicherheit zusätzlich. Weltweit werden degradierte Landflächen auf 29 % geschätzt, wodurch 3,2 Mrd. Menschen betroffen sind (UNEP 2019, S. 203). Das in Flüssen, Seen und Feuchtgebieten verfügbare Süßwasser und die zugehörigen Ökosysteme nehmen weltweit stark ab; fast die Hälfte aller Feuchtgebiete ist bereits verloren. Durch Wasserverschmutzung mit Plastik, Antibiotika, Pestiziden, Schwermetallen und anderen Chemikalien sinkt die Qualität von Süßwasser; etwa 1,4 Mio. Menschen sterben jährlich daran (UNEP 2019, S. 236). Antibiotika-Resistenzen verbreiten sich über Landwirtschaft, Aquakulturen und Abwasser. Besorgniserregend ist auch der Zustand der Ökosysteme in Ozeanen und an Küsten, u.a. durch Erderwärmung, Versauerung und Überfischung, Übernutzung und Verschmutzung. Weltweit benötigen 3,1 Mrd. Menschen Fisch für ihre Proteinversorgung, viele Bestände sind bereits überfischt. Die Korallenbleiche betrifft rund 70 % aller Korallenriffe weltweit und hat vermutlich einen Kipppunkt erreicht. Jährlich gelangen rund acht Mio. Tonnen Kunststoff in die Meere (UNEP 2019).

Eine Folge der Umweltzerstörung sind soziale Instabilitäten und Konflikte. Dies gilt besonders für den Klimawandel als Stressfaktor, der das Konfliktrisiko dort steigert, wo die Lebensbedingungen schlecht und institutionelle Strukturen fragil sind (Friedensgutachten 2020, S. 7). Entsprechendes lässt sich über Ressourcenkonflikte sagen, wobei Konflikte um das Artensterben noch wenig untersucht sind (Scheffran 2018). Das Jahr 2020 brachte destabilisierende Entwicklungen mit exponentieller Kaskadendynamik, wie die Busch- und Waldbrände in Australien, mit dem Tod von mehr als einer Milliarde Tieren, und die Heuschreckenschwärme in Ostafrika und Südasien, die Ernten gefährden.

Besonders schwerwiegend ist die aus einer Zoonose entstandene COVID-19-Pandemie, die ungeahnte Ressourcen verschlingt, politische Interventionen und sozioökonomische Verwerfungen auslöst, Gewaltkonflikte und humanitäre Notlagen verschärft (Friedensgutachten 2020, S. 5).

Gesellschaftliche Krisensymptome

Durch die Beschleunigung weltumspannender Ströme von Gütern, Kapital, Finanzen, Technologie und Kommunikation geraten soziale und politische Systeme aus den Fugen. Im Raubtier-Kapitalismus bestehen nur die Stärksten, während viele Menschen durch geringe Löhne und Arbeitsplatzangebote vom Wohlstand ausgeschlossen sind. Krisen verschärfen die gesellschaftliche Spaltung und schaffen ein Heer der Unzufriedenen, das durch populistische und autokratische Strömungen und Regierungen mobilisierbar ist. Die Überwindung sozialer Ungleichheit scheitert an den ökonomischen Machtverhältnissen, die durch demokratische Strukturen nicht hinreichend kontrolliert werden. Mit der Finanzkrise 2008 begann eine Kette von Krisen, die Bruchlinien im Internationalen System offenbarte. Die außer Kontrolle geratene Globalisierung verstärkt zwischenstaatliche Machtkämpfe und Konfliktpotentiale, terroristische Gewaltstrukturen und gesellschaftliche Widerstände.

Zwischenstaatliche Machtkämpfe und Gewaltkonflikte

Beim Übergang vom bipolaren Ost-West-Konflikt über eine unipolare in eine multipolare Welt entstanden neue Machtkämpfe und Gewaltkonflikte. Hierzu gehörten bewaffnete Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien und der zerfallenen Sowjetunion, die Kriege im Irak und in Afghanistan sowie die Gewaltereignisse und Terroranschläge in Nahost und in Nordafrika. Durch den Arabischen Frühling wurden Kaskaden ausgelöst, die im Mittelmeerraum Konflikte und Fluchtbewegungen zwischen Afrika, Asien und Europa miteinander verknüpften.

Dem Friedensgutachten 2020 zufolge dominieren Rivalitäten das Weltgeschehen und schwächen internationale Normen und Institutionen. Während die USA unter Trump mit »America First« weiter auf Hegemonie setzen und internationale Institutionen untergraben, versucht China, die internationale Ordnung zu seinen Gunsten umzugestalten und seinen weltpolitischen Einfluss auszuweiten. Mit der »Neuen Seidenstraße« zu Land und zur See entsteht ein Netzwerk von Infrastrukturen und Märkten von Ostasien bis nach Europa und Afrika. Bei Schlüsseltechnologien wird China zum wirtschaftlichen Herausforderer Europas und der USA. Militärisch bereitet sich China auf internationale Auseinandersetzungen vor, besonders im Südchinesischen Meer. Der von den USA forcierte Handelskrieg kann ebenso zum Brandbeschleuniger werden wie der Streit um Hongkong und Taiwan oder die Vorwürfe in der Corona-Krise. Russland forciert Großmachtansprüche, vom Ukraine- und Krim-Konflikt über Syrien, Libyen und Iran bis in die Arktis. In diesem Dreieckverhältnis eines neuen »Kalten Krieges« steht das durch den Brexit geschwächte Europa, das über die NATO in den Aufrüstungskurs hineingezogen wird.

Weltweit stiegen die Rüstungsausgaben 2019 auf einen neuen Höchststand von 1.600 Mrd. Euro, real fast 20 % über dem höchsten Niveau des Kalten Krieges. Die G20-Staaten sind für 82 % der weltweiten Militärausgaben verantwortlich. Während die russischen Militärausgaben von 2016 bis 2019 um mehr als 20 % zurückgingen, übersteigen die Militärausgaben der NATO die Russlands um fast das 16-fache. Die deutschen Militärausgaben stiegen 2019 um 12 % auf 47,9 Mrd. Euro. Der internationale Handel mit Großwaffen 2015-2019 wuchs gegenüber 2010-2014 um 5,5 %, deutsche Waffenexporte gar um 17 % (Friedensgutachten 2020, S. 98).

An der Spitze steht das nukleare Wettrüsten zwischen den USA und Russland, die neue Nuklearwaffen entwickeln und Rüstungskontrollabkommen beenden. Trump droht gar die Wiederaufnahme von Atomwaffentests an. Zudem schreitet die Militarisierung, ja Bewaffnung des Weltraums voran, nachdem Russland, China und die USA »Weltraumstreitkräfte« geschaffen haben und weitere Staaten, wie Indien, ebenfalls Raketen und Satelliten im All zerstören können. Auch hier ist die Rüstungskontrolle in der Sackgasse. Die Militarisierung erstreckt sich auf neue Bereiche, wie den Cyberraum, in dem eine zivil-militärische Abgrenzung schwer möglich ist. Kaum erkennbar ist die Grenze zwischen Krieg und Frieden in »hybriden Kriegen« mit Drohnen, Attacken über das Internet und auf zivile Infrastrukturen oder Fake News und Hate Speech in sozialen Medien. Die mit der Globalisierung verbreiteten Mittel und Technologien fallen auf ihre Urheber zurück.

Terrorismus und Rechtsextremismus

Internationale und transnationale Gewalt ist mit innergesellschaftlichen Gewaltdynamiken und Terrorismus verbunden. Während nach dem Arabischen Frühling die Zahl der Terroranschläge und ihrer Opfer deutlich anstiegen, nahmen jüngst die Zahlen ab. 2018 starben bei mehr als 9.600 Anschlägen weltweit 15.952 Menschen, 2017 waren es noch 17.284 (Friedensgutachten 2020, S. 142). Der weitaus größte Teil geht auf den islamistischen Terrorismus in instabilen Staaten oder Bürgerkriegsregionen zurück.

Parallel zur Rückkehr des Nationalismus hat in westlichen Demokratien Rechtsextremismus zugenommen. Über die strategische Nutzung sozialer Medien und internationale Vernetzung nehmen Rechtsextreme auf politische Entscheidungen Einfluss (Beispiel Trump-Wahl). Sie agieren gegen internationale Kooperation mit Verschwörungstheorien und Wissenschaftsfeindlichkeit. Durch rechtsterroristische Angriffe starben 2018 mindestens 26 Menschen; 2019 waren es bis zum Herbst schon 84, vor allem in Neuseeland (Friedensgutachten 2020). In Europa hat Deutschland die meisten Fälle rechtsextremer Gewalt, darunter Angriffe auf Minderheiten und Politiker*innen.

Soziale Bewegungen und Massenproteste

Das Jahr 2019 war weltweit durch Massenproteste geprägt und beendete ein Jahrzehnt zahlreicher Protestbewegungen. Schon 2011 breitete sich eine Welle von Anti-Regime-Protesten über die arabische Welt aus, ebenso von transnationalen Protesten, wie der Occupy-Bewegung. 2019 gab es in 45 Ländern 65 Fälle einer Massenmobilisierung mit mindestens 50.000 Menschen, davon 48 Proteste in Demokratien: „Beispiele sind die Massenproteste in Chile, Ecuador, Indonesien und Kolumbien, die 2018 entstandene Gelbwesten-Bewegung in Frankreich, die Proteste im Rahmen des Brexits in Großbritannien, Arbeiterproteste in Tunesien oder die Klimaproteste in zahlreichen Ländern.“ (Friedensgutachten 2020, S 74) Hinzu kamen Proteste in Russland, Sudan oder Iran. Die Protestziele betrafen grob sieben Kategorien: 21 gegen Regierungen, fünf gegen hohe Lebenshaltungskosten, fünf für Arbeitsrechte, acht für/gegen Nationalismus/Unabhängigkeit, sechs für Frauenrechte, 14 für Klimaschutz und sechs mit anderen spezifischen Zielen.

Proteste setzten sich auch im Jahr 2020 fort und kulminierten in der Massenbewegung gegen Rassismus und Diskriminierung »Black Lives Matter« in den USA, trotz oder wegen der Pandemie, die politische Aktionen auslösen, aber auch erschweren kann. Proteste gegen Probleme können ihrerseits Krisensymptome sein, wenn Betroffene und Unzufriedene sich zur Wehr setzen, so wie die Immunabwehr gegen Krankheitsursachen. Fraglich ist, ob sie zur Problemlösung beitragen oder zur Problemverschärfung.

Vom kranken Planeten zur planetaren Gesundheit

Die Krisensymptome der Globalisierung zeigen die Erschütterungen der neoliberalen Weltordnung. Eine geeignete Therapie erfordert eine Diagnose der Ursachen, wird jedoch von den Verantwortlichen kaum durchgeführt. Tabudenken bestärkt die Annahme, für die Krisen sei nicht der Westen verantwortlich, der 1989 den Sieg im Kalten Krieg errungen und damit angeblich das »Ende der Geschichte« erreicht hatte. Zu dieser Fehleinschätzung passt eine selbst zugewiesene Opferrolle, ohne die eigene Verantwortlichkeit anzuerkennen. Stattdessen werden die Symptome bekämpft – durch Abschottung, Abgrenzung und Interventionismus. Dabei ist die Rückkehr zur Kleinstaaterei ebenso wenig eine Alternative wie militärische Interventionen.

Während die Welt im Schüttelfrost gefangen scheint, wird fieberhaft nach Lösungen gesucht. Um einen Wandel zu einer nachhaltigen, friedlichen und gerechten Welt herbeizuführen, spielen Protestbewegungen eine Rolle, wie auch Wissenschaft, Technik und Medizin. Ausschlaggebend ist, ob Innovationen die Mühsal der menschlichen Existenz erleichtern und einen Ausgleich mit der Natur im gemeinsamen Haus der Erde ermöglichen.

Als Bezugsrahmen zur Bewahrung des Lebens auf der Erde können Konzepte einer Gesundheit dienen, die mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit (so wie Frieden nicht nur die Abwesenheit von Krieg ist). Im positiven Sinne geht es um das Wohlbefinden von Menschen und die Befriedigung von Grundbedürfnissen, im Einklang mit den eigenen Möglichkeiten, Zielen und Lebensbedingungen. Ein Maßstab ist die physische, psychische und soziale Funktions- und Leistungsfähigkeit. Um eine weitere Überschreitung ökologischer Belastungsgrenzen zu vermeiden, ist eine engere Verknüpfung von Umwelt und Gesundheit hilfreich, die eine Balance von Erhaltung und Entfaltung des Lebens gegen Wachstum, Macht und Gewalt ermöglicht (Scheffran 1996).

Dabei können Konzepte einer »Viable World« helfen, den Planeten innerhalb seiner Grenzen für alle Menschen lebensfähig und lebenswert zu gestalten. Dazu gehört die Immunisierung gegen globale Erkrankungen durch vier Therapien: ökologischer Fußabdruck in planetarischen Grenzen, erneuerbare Energien für alle, sauberer Wohlstand für alle und Kohabitation der Nationalstaaten (Knies 2017).

Literatur

Friedensgutachten (2020): Im Schatten der Pandemie – letzte Chance für Europa. Friedensgutachten 2020. Herausgegeben von Bonn International Center for Conversion (BICC), Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Bielefeld: transcript.

Knies G. (2017): COHAB-Zusammenarbeitsmodell der Nationalstaaten. In: Weizsäcker E.U., Wijkman A. (Hrsg.): Wir sind dran – Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt. Bericht an den Club of Rome. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 354 ff.

Scheffran J. (1996): Leben bewahren gegen Wachstum, Macht, Gewalt – Zur Verknüpfung von Frieden und nachhaltiger Entwicklung. W&F 3/1996, S. 5-9.

Scheffran J. (2015): Vom vernetzten Krieg zum vernetzten Frieden. FIfF-Kommunikation, Nr. 3/2015, S. 34-38.

Scheffran J. (2018): Biodiversity and Conflict. Supplementary Contribution to: IPBES, Global Assessment on Biodiversity and Ecosystem Services. March 5, 2018.

Steffen W. et al. (2015): Trajectories of the Earth System in the Anthropocene. PNAS (Proceed­ings of the National Academy of Sciences of the United States), Vol. 115, Nr. 33, S. 8252-8259.

United Nations Environment Programme/UNEP (2019): Global Environment Outlook (GEO-6) – Healthy Planet, Healthy People. Cambridge: Cambridge University Press. Deutsche Teilübersetzung durch das Umweltbundesamt.

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen/WBGU (1996): Welt im Wandel – Herausforderungen für die deutsche Wissenschaft. Jahresgutachten 1996. Berlin: Springer.

Zimmerer J. (2020a): Viren standen am Anfang der Globalisierung. Der Tagesspiegel, 31.3.2020.

Zimmerer J. (2020b): Robert Koch – Der berühmte Forscher und die Menschenexperimente. DER SPIEGEL, 27.5.2020.

Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-­Redaktion.

Wie ein Brennglas …


Wie ein Brennglas …

von Tim Bausch

Es gibt Sätze, die wiegen trotz aller inhaltlichen Leere besonders schwer. So urteilte im April 2020 Bundespräsident Frank Walter Steinmeier: „Die Welt danach wird eine andere sein.“ Er bezog sich dabei auf jene von SARS-CoV-2 ausgelöste Infektionswelle, die schon sehr bald eine weltweite Dimension annehmen sollte.

Auch im Feuilleton und in den Kommentarspalten diverser Tageszeitungen war dieser Satz in ähnlicher Form zu lesen. Herr Steinmeier räumte im weiteren Verlauf seiner Ansprache ein, es könne niemand sagen, wie denn diese veränderte Welt im »Danach« konkret aussehen werde. Schließlich liege die Welt nun in unserer Hand, wir alle seien in der Pflicht.

Zweifellos ist die Welt morgen schon eine andere als heute. Dieses Prinzip gilt immer. Was Herr Steinmeier und andere Beobachter mit diesem Satz ansprechen, sind natürlich nicht die kleinen, unvermeidlichen, tagtäglichen Veränderungen, die zwangsläufig mit jedem gesellschaftlichen Leben einhergehen. Vielmehr wird hier eine Weltwende adressiert, eine fundamentale Veränderung.

In diesem Sinne sind Krisen auch politisches Kapital, da mit krisenhaften Dynamiken Ermöglichungsräume für politische Ideen einhergehen. Doch für richtungsweisende »Weltreformen« braucht es auch ordentliche Analysen, schließlich muss das Krisen- und Konfliktmanagement der Sachlage angemessen sein. In Bezug auf COVID-19 ergibt sich dabei eine äußerst komplexe Gemengelage. In Krisen werden aus bestehenden Strohfeuern schnell große Buschbrände.

Die Pandemie sorgte auch in der W&F-Redaktion für Gesprächsbedarf. Es liegt in der Natur der Sache, dass Metaphern helfen, die Welt einzuordnen und greifbar zu machen (siehe Marcel Vondermaßen in dieser Ausgabe). Die Metapher des »Brennglases« tauchte bei den Diskussionen, die in der W&F-Redaktion geführt wurden, immer wieder auf. Das »Brennglas« hat uns so gut gefallen, weil damit eine gewisse Evidenz zusammenhängt. Die Pandemie verstärkt längst bestehende Krisen und bündelt diese – ob mangelnden Arbeitsschutz, Flucht und Migration oder ökologische Probleme. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der Titel dieser Ausgabe: »Der kranke Planet«. Mit dieser Betitelung verbindet sich unter anderem die Idee, Querverbindungen zwischen den Brandherden und Konfliktfeldern sichtbar zu machen. Darüber hinaus sollen Ursachen und weniger beachtete Begleiterscheinungen der COVID-19-Pandemie erkennbar werden. Welche Pfade führten zu der Pandemie? Welche vorgelagerten Krisen wirken katalysatorisch, und wo sind Interdependenzen zu beobachten?

Zunächst zeigt Jürgen Scheffran in seinem Beitrag auf, wie eine beschleunigte Globalisierung mit ihren klassischen Begleiterscheinungen, wie etwa der neoliberalen und kapitalistischen Grundierung unserer Zeit, zu verschiedenen Krisensymptomen führt(e), die wiederum die aktuelle Pandemie begünstigen und das Krisenmanagement erschweren. So wird die aktuelle Situation in einen breiteren Kontext eingeordnet. Der darauffolgende Beitrag dokumentiert einen Auszug aus dem »Global Peace Index«, der jährlich vom Institute for Economics & Peace herausgegeben wird. Die Auswirkungen der Pandemie auf den globalen Frieden werden hier herausgearbeitet. Der Beitrag von Stefan Peters und Emily Ritzel knüpft thematisch an diese Dokumentation an und stellt die Auswirkungen der Pandemie auf Krisengebiete im Globalen Süden in den Mittelpunkt. Stella Kneifel und ich öffnen in unserem Beitrag Fenster in den Libanon, auf die griechischen Inseln und nach Indien: Aktivist*innen berichten von ihren Erfahrungen vor Ort und den Problemen, die sich aktuell stellen. Katrin Vogler thematisiert den Aspekt der Ressourcenverteilung in der Pandemie und spricht dabei insbesondere die damit verbundenen Asymmetrien an. Wie die Bundewehr zum Akteur des Krisenmanagements wird und wie dabei zivile Akteure in den toten Winkel geraten, wird von Martin Kirch erörtert. Anna Holzscheiter widmet sich in ihrem Beitrag der Weltgesundheitsorganisation, greift dabei aktuelle gesellschaftspolitische Diskurse auf und untermauert argumentativ die Bedeutsamkeit dieser internationalen Organisation. Marcel Vondermaßen nimmt die Verwendung von Kriegsmetaphern und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Folgen in den Blick.

Die Ausgabe »Der kranke Planet« bündelt also ganz unterschiedliche Perspektiven. Und in der Tat, die Welt ist und war schon immer veränderlich. In Krisen wächst lediglich das Bewusstsein dafür, und es springen neue Möglichkeiten ins Auge. Bei der Lektüre der vorliegenden Ausgabe treten überdies verschiedene Stellschrauben zutage. Offensichtlich gibt es einiges zu tun. Zu diesem Urteil kommt auch Jürgen Scheffran in seinem Beitrag: „Dazu gehört die Immunisierung gegen globale Erkrankungen durch vier Therapien: ökologischer Fußabdruck in planetarischen Grenzen, erneuerbare Energien für alle, sauberer Wohlstand für alle und Kohabitation der Nationalstaaten (Knies 2017).“ Klar dürfte auch sein, dass bei dieser Therapierung ganz unterschiedliche Akteure gefragt sind. Wie treffend, dass sich die Leser*innenschaft von W&F sowohl aus der Wissenschaft und der Friedenspolitik als auch aus einer kritischen Öffentlichkeit speist.

Ihr Tim Bausch

Kollaps und Transformation


Kollaps und Transformation

Die Corona-Krise und die Grenzen des Anthropozäns

von Jürgen Scheffran

Wie ein Brennglas bündelt die ­Corona-Krise die Verwundbarkeiten, Unsicherheiten und Instabilitäten der vernetzten Welt. Hier zeigen sich die Macht der Natur und die Ohnmacht der Menschen, ungeachtet der Erfolge von Wissenschaft und Technik. Auch wenn die disruptive Krise Kettenreaktionen und Konflikte mit sich bringt, ist Sicherheitspolitik keine geeignete Antwort. Wichtiger als nachträgliches Katastrophenmanagement sind vorbeugende Maßnahmen, die das Gesundheitswesen stärken und ein friedliches, solidarisches und nachhaltiges Verhältnis zwischen Menschheit und Natur schaffen, das in gesellschaftliche und ökolo­gische Kreisläufe eingebettet ist.

Die Welt im Stillstand. Straßen, Kaufhäuser und Flughäfen, Fußballstadien und Touristik­attraktionen sind verwaist, Schulen, Kindergärten und Fabriken wochenlang geschlossen. Viele Regierungen verkünden den Ausnahmezustand und Ausgangssperren, schließen Grenzen zwischen Bundesländern und zu befreundeten Staaten, zwingen Menschen, ihre Wohnung nicht zu verlassen und Abstand zu wahren. Einige reden von Krieg und mobilisieren das Militär. Das öffentliche Leben und die Volkswirtschaft werden »runtergefahren« und wieder »raufgefahren«, mit nahezu unbegrenzten staatlichen Mitteln. Über Wochen und Monate sterben weltweit zehntausende Menschen, Krankenhäuser sind überfüllt, ihr Personal am Limit. Alle Medien übertreffen sich mit Katastrophenberichten. Vor wenigen Wochen hätte dies wie ein Science-fiction-Szenarium gewirkt.

Um die Menschheit in die Knie zu zwingen, könnte es kaum einen kleineren Grund geben. Nur Nanometer groß ist der Übeltäter, ein Virus der Corona-Familie (Sars-CoV-2), das menschliche Zellen zu seiner eigenen Vermehrung umprogrammiert, so wie ein Computer-Virus die Software eines Rechners, und die Krankheit Covid-19 hervorruft. Die Menschheit ist nunmehr den Naturgesetzen einer Pandemie unterworfen, von der privaten bis zur globalen Ebene. Der Versuch, die Kontrolle zu erlangen, bringt Politik und Gesellschaft an den Rand des Kontrollverlusts bis zum gesellschaftlichen Zusammenbruch und Konflikten. Immer wieder ist das Mantra zu hören, dass danach nichts mehr sei, wie es war. Stimmt das oder beschleunigt die Corona-Krise nur, was zuvor bereits erkennbar war? Werden die Menschen in eine »neue Normalität« finden oder in ihr »altes Leben« zurückfallen?

Die Anfänge der Pandemie

Die Krise ist ohne den Anfang nicht zu verstehen. Die ersten Covid-19-Erkrankungen wurden zum Jahreswechsel 2019/2020 gemeldet, ausgehend von Wuhan in Zentralchina. Bald darauf kontaktierte ich einen Kollegen in Wuhan, mit dem ich seit fünf Jahren zusammenarbeite. Nachdem ich ihm im Januar besorgte E-Mails geschrieben hatte, schickte er mir im März besorgte E-Mails zurück, mit Empfehlungen wegen der rasanten Ausbreitung in Europa. Es war frühzeitig erkennbar, welche drakonischen Maßnahmen China ergriff, um die Ausbreitung unter Kontrolle zu halten, auf Kosten wirtschaftlicher Einbußen, die sich über globale Lieferketten weltweit auswirkten.

Im Januar schon war die globale Ausbreitung des Virus erkennbar, aufgrund von Medienberichten über Fälle in anderen Ländern durch Flugpassagiere. Angesichts der berichteten Fallzahlen ließ sich auf eine Verdopplung in wenigen Tagen schließen. Als die Eigenschaften des Corona-Virus bekannt wurden (lange Inkubationszeit, hohe Infektions- und Sterberate), war absehbar, dass sich die Seuche in der global vernetzten Welt nicht einfach eindämmen lässt und über viele Kontakt- und Transportwege rasch ausbreitet. Mitte April waren nach Daten der Johns Hopkins University weltweit von allen bestätigten und nicht mehr akuten Fällen am Ende etwa ein Fünftel gestorben, der Rest war genesen. Die Expertenangaben von unter einem Prozent Verstorbener basieren auf einer bislang vermuteten hohen Dunkelziffer nicht entdeckter Fälle. Selbst dann könnten bei einer Infektion großer Teile der Weltbevölkerung einige Millionen Menschen sterben, wobei die Folgen im Globalen Süden kaum abschätzbar und messbar wären.

Trotz der frühen Beobachtungen wurde die Epidemie in Europa und den USA noch bis Mitte Februar kaum ernst genommen, wodurch wertvolle Zeit verloren ging (etwa für die Produktion von Schutzmasken und Beatmungsgeräten). Das Pflege- und Gesundheitssystem war in den Jahrzehnten davor in vielen Ländern durch Privatisierung und Profitorientierung krank gespart worden. Die Einstellung änderte sich erst Anfang März, als die Infektionen auch in Europa und in den USA stark zunahmen und die Gesundheitssysteme zu überlasten drohten. Überstürzt wurden immer drastischere Maßnahmen ergriffen. Mit der Reduzierung zwischenmenschlicher Kontakte (social distancing) sollte die Ausbreitung abgeschwächt werden, ohne die Ausbreitung ganz einzudämmen. Der Preis war eine massive Reduzierung (Lockdown) des öffentlichen Lebens, mit der Gefahr eines gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kollapses. Die Hoffnungen ruhten nun auf einer aus Not geborenen Allianz von Staat und Wissenschaft.

Kipppunkte und Kettenreaktionen

Corona ist nur die jüngste in einer Kette sich zuspitzender Krisen. Seit Jahren beobachten wir neue Konflikt-, Gewalt- und Fluchtdynamiken sowie nationalistische, fundamentalistische und rechtsextreme Strömungen. Dabei spielten miteinander verbundene Ereignisse eine Rolle, u.a. Arabischer Frühling, Syrienkrieg, Flüchtlingskrise, Terroranschläge, Brexit und Trump-Wahl. Da die Welt zunehmend in den Krisenmodus rutschte, war mit einer weiteren Zuspitzung in den 2020er Jahren zu rechnen. Manches erinnert an die Situation vor hundert Jahren, als sich die Destabilisierung der kolonialen Weltordnung im Ersten Weltkrieg in einer Spirale der Gewalt entlud, gefolgt von weiteren Krisen, wie der Spanischen Grippe, der Weltwirtschaftskrise und dem Aufleben des Faschismus, der zum Zweiten Weltkrieg führte (Scheffran 2014; Menzel 2020). Daraus lässt sich für die heutigen Krisen der fossilen und neoliberalen Variante des globalisierten Kapitalismus vieles lernen.

Die Corona-Krise wird zum Krisenmultiplikator und expandiert durch ihre exponentielle Wachstumsdynamik wie in einer Kettenreaktion. Wenn eine Person mehr als eine andere ansteckt (gemessen durch die Reproduktionszahl), ist die Grenze der Kritikalität überschritten, wie bei einer nuklearen Kettenreaktion, bei Krebs oder beim Bevölkerungswachstum (Scheffran 2016). Während eine Nukle­ar­explosion in Bruchteilen von Sekunden endet, sobald die kritische Dichte unterschritten ist, verläuft die Pandemie über Monate oder gar Jahre. Die globalen Infektionsketten »infizieren« überdies globale Produktions-, Konsum- und Lieferketten, die den Wohlstand unserer Gesellschaft ausmachen.

Seit die Kettenreaktion außer Kon­trolle geraten ist, versuchen Wissenschaft und Politik, sie durch Verringerung der sozialen Kontakte unter die kritische Schwelle zu drücken. Damit werden soziale Netzwerke entkoppelt und wirtschaftliche Wachstumsprozesse unterkritisch, was zu Verlusten in Produktion und Konsum führt, Existenzen gefährdet, Bindungen, Organisationen und politische Einflussmöglichkeiten beeinträchtigt. Die Politik laviert auf dem schmalen Grat zwischen Extremen. Das Überschreiten von Kipppunkten droht in sich selbst verstärkende Risikokaskaden und Dominoeffekte abzudriften, die das System in den Zusammenbruch treiben.

Die Pandemie zeigt, wie eine kleine Ursache planetare Folgen haben kann, wenn Kipppunkte überschritten werden. Dies ist das Credo der Chaostheorie, symbolisiert durch den Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Sturm auslösen kann. Dies gilt im Grenzbereich zur Kritikalität, in dem dann selbst der berühmte kippende Sack Reis in China kein unbedeutendes Ereignis mehr darstellt. Entscheidend ist, was die Welt zuvor in diesen kritischen Zustand getrieben hat, in dem scheinbar kleine Ereignisse einen großen Unterschied machen. Vor hundert Jahren machten der Erste Weltkrieg und die weiteren Dynamiken die Spanische Grippe zur Katastrophe mit 25 bis 50 Millionen Toten, heute ist es die ungehemmte Globalisierung.

Es gilt also die Faktoren zu verstehen, die die Welt verwundbar machen. Hierzu gehören u.a. die Zahl und Dichte von Menschen und ihren Vernetzungen, die Beschleunigung der Prozesse, das auf Ausbeutung gebaute Mensch-Natur-Verhältnis, repräsentiert durch Klimawandel, Verluste von Arten, Ökosystemen, systemrelevanten Infrastrukturen für Wasser, Nahrung, Energie, Gesundheit, etc. durch Privatisierung und Rückzug des Staates (von Weizsäcker et al. 2005). Durch die systemische Corona-Krise werden im Zeitraffer Fehler zumindest temporär sichtbar: Menschen sterben, der Staat springt ein, es wird entschleunigt, entkoppelt und de-globalisiert, um Druck aus dem System zu nehmen – wie bei einem Reaktor kurz vor der Explosion (Scheffran 2016). Um Infektionsketten zu beenden, werden Lieferketten unterbrochen und Apps zur Verfolgung von Kontaktketten entwickelt.

Die Digitalisierung gilt als eine erzwungene Reaktion der Entkörperlichung, aber sie ist selbst ambivalent und erzeugt Effekte, die zu neuen Problemen führen. In digitalen Welten können exponentielle Kettenreaktionen schneller ablaufen und die Cyberwelt zum Einsturz bringen, durch Unfälle und Systemfehler, Schadprogramme und Viren, Herrschaft über digitale Medien oder autonome KI-Systeme, die sich gegen die Menschheit richten. Dann wäre nicht mehr die Flucht in digitale Welten eine Rettung, sondern die Flucht aus ihnen. Die Frage ist nur, ob die analoge materielle Um-Welt dann noch hinreichend bewohnbar ist.

Die Rache der Natur und die Grenzen des Anthropozäns

Die Ausbreitung des Virus basiert auf dem gleichen Prinzip exponentiellen Wachstums, das die Menschheit groß gemacht hat. Schon im 18. und 19. Jahrhundert gab es eine intensive Debatte über die Grenzen des Wachstums, angestoßen durch die Industrielle Revolution. Während für Adam Smith, den Apologeten des Kapitalismus, Natur- und Ressourcengrenzen durch den Markt reguliert wurden, erwartete Thomas Malthus aufgrund des exponentiellen Wachstums der Bevölkerung und begrenzter Naturressourcen (vor allem Nahrung) Hungersnöte, Armut, Kriege und andere Katastrophen. James Anderson hoffte auf die Verbesserung der Gesellschaft durch Innovationen, und Karl Marx kritisierte die Thesen von Malthus als reaktionäre Rechtfertigung von Armut, um sich den Ansichten von Anderson anzuschließen. Wie Marx war sich auch Friedrich Engels in seiner »Dialektik der Natur« (1896) bewusst, dass Sozialutopien respektvoll mit der Natur umgehen müssen: „Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unseren menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solcher Siege rächt sie sich an uns. […] Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn.

Für Charles Darwin war der Mensch ein aus der Natur kommendes Lebewesen, den biologischen Gesetzen von Selektion und Wachstum unterworfen. Knapp hundert Jahre später zeigte der Club of Rome die Grenzen des Wachstums auf, und die Brundtland-Kommission formulierte Prinzipen einer nachhaltigen Entwicklung. Diese Debatten hängen unmittelbar zusammen mit den heutigen Krisenerscheinungen und Wachstumsgrenzen im Anthro­pozän, dem menschgemachten Erdzeitalter. In diesem Sinne wäre die Corona-Krise eine »Rache der Natur« für die Naturvergessenheit der Gesellschaft in einer technisch konstruierten Zivilisation. Die Ausbreitung von Pandemien steigt mit der Zerstörung von Arten und Ökosystemen, wodurch es geringere genetische Vielfalt, natürliche Anpassung und Resilienz gegenüber schädlichen (Mikro-) Organismen gibt (Krumenacker und Schwägerl 2020). Durch das Eindringen des Menschen in Naturräume und den Kontakt mit Wildtieren bestehen mehr Möglichkeiten, dass Krankheitserreger von Tieren auf Menschen überspringen. Im Corona-Fall erfolgte die erste Übertragung vermutlich von einem Wildtier auf einem Markt in Wuhan, sei es nun die Fledermaus oder das vom Aussterben bedrohte Schuppentier. Es war nur eine Frage der Zeit, bis dies geschah, und wurde in wissenschaftlichen Studien zuvor durchgespielt, so durch das Robert Koch-Institut 2013, ohne entsprechende Konsequenzen. Dauerte es bei der Pest im Mittelalter knapp drei Jahrzehnte, bis sie sich von Wuhan nach Europa ausgebreitet hatte, so schaffte Covid-19 dies in knapp zwei Monaten (Menzel 2020).

Sicherheit vs. Freiheit

Galten die Gefahren bei uns zunächst als gering, schaltete eine Allianz aus Wissenschaft und Politik unter dem Druck exponentiell wachsender Infektionszahlen ab Mitte März in den Krisenmodus und betrieb Katastrophenmanagement, um ganze Städte und Länder lahmzulegen. Ein Gesundheitsproblem wurde zum alles bestimmenden Sicherheitsproblem, in dem verschiedene Dimensionen zum Tragen kommen: menschliche, nationale, internationale und planetare Sicherheit. Angesichts dieser Versicherheitlichung war die Opferung der Grund- und Freiheitsrechte nicht weit. Kam die Autorisierung zunächst noch einstimmig durch das Parlament, erfolgten weitere Notstandsbestimmungen durch die Exekutive. In der Krise zeigen sich Dilemmata aufgrund von Sachzwängen durch spätes Handeln:

  • Soll die Gesundheit von Millionen aufs Spiel gesetzt werden oder ihre berufliche Existenz?
  • Sollen jüngere und gesündere Menschen auf Freiheiten verzichten, um das Leben älterer und schwächerer Menschen zu schützen?
  • Sollen nationale Alleingänge gewählt werden oder eine multilaterale Abstimmung?
  • Soll der Zusammenbruch des Gesundheitssystems vermieden werden auf Kosten eines Wirtschafts-Crashs oder des Abbaus demokratischer Strukturen?
  • Sollen Beschäftigte im Gesundheitswesen sich für die Allgemeinheit opfern?
  • Sollen Risikogruppen zu ihrem »Schutz« isoliert werden, unter Beschränkung ihrer Freiheitsrechte?
  • Sollen Kritiker auf Kritik am Ausnahmezustand verzichten oder zu Protesten aufrufen?
  • Wie werden Bürger- und Freiheitsrechte nach der Erfahrung der Krise gesichert?

Neben einer abstrakten Güterabwägung zwischen Gesundheit und Wirtschaft, Sicherheit und Freiheit stellt sich die Frage, wem eine Entscheidung nützt und wem sie schadet. Die Vernachlässigung von Interessen führt zu Ungerechtigkeiten, wenn eine Maßnahme Akteuren Vorteile bringt, aber anderen Nachteile, z.B. wenn nur bestimmte Geschäfte offen bleiben oder Veranstaltungen stattfinden dürfen. Es ist auch ein Unterschied, ob Beschäftigte um ihre Jobs fürchten oder Unternehmer und Aktionäre um erwartete Gewinne.

Krise, Krieg und Frieden

Verbindungen zwischen Corona und Krieg wurden vielfach hergestellt. Kanzlerin Angela Merkel verglich die Situation mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, sprach von einem Marshallplan nach der Krise. In den USA gab es Vergleiche mit Pearl Harbor und 9/11. Obwohl ein Virus eher eine diffuse Gefahr als ein bewusst handelnder Akteur ist, wird Sars-CoV-2 als bedrohlicher Feind der Menschheit angesehen, der mit allen Mitteln bekämpft werden muss. So wurde vom »Krieg gegen Corona« geredet, in dem alles an die »Front« geworfen werden muss, von der Wissenschaft über Geld bis zum Militär. In einigen Fällen wurden Notstandsgesetze aktiviert wie sonst nur im Krieg. Finanzminister Olaf Scholz sprach von seiner staatlichen Notfallhilfe als »Bazooka«, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer rief die Bundeswehr zur Hilfe und US-Präsident Trump die Nationalgarde.

Die Kriegserklärungen gegen Corona gehen am Problem vorbei und blieben bislang weitgehend Rhetorik, so wie Kanonen gegen Spatzen. Krieg und Militär sind eher Teil des Problems als der Lösung, denn Rüstung verbraucht enorme Ressourcen, die für ­präventiven Gesundheits- oder Umweltschutz nicht zur Verfügung stehen und für die Beschaffung benötigter Schutzmasken, Beatmungsgeräte und Medikamente ­fehlen. Dies gilt insbesondere für die Länder im Globalen Süden.

In der Vergangenheit brachen Seuchen nach Kriegen aus und wurden dadurch verschärft. Auch heute trifft die Corona-Ausbreitung am stärksten Menschen in Kriegsgebieten, wie in Nahost und Afrika, wo die Bevölkerung ihr hilflos ausgeliefert ist, oder in Flüchtlingslagern, wie im griechisch-türkischen Grenzgebiet. Ein Nebeneffekt der Corona-Krise waren Absagen militär- und sicherheitspolitischer Aktivitäten. Dies betraf u.a. das Frühjahrsmanöver Defender-Europe 20 oder die Konferenz zur Überprüfung des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages. Auch friedenspolitische Aktivitäten sind betroffen; die Ostermärsche fielen aufgrund der Kontaktsperren nahezu völlig aus bzw. wurden in virtuellen Foren abgehalten. Im Rahmen der Corona-Bekämpfung rief UN-Generalsekretär António Guterres zu einer weltweiten Waffenruhe auf, was der Ausgangspunkt für eine friedlichere Welt werden könnte.

Es kommt aber auch zu mehr Spannungen durch Corona. Angesichts nationaler Abschottung bleiben gemeinsame Aktionen der Europäischen Union auf der Strecke. Trump strich die Mittel für die Weltgesundheitsorganisation. Es entbrannte ein weltweiter Kampf um knappe Schutzmittel im Gesundheitswesen. In geopolitischen Machtkämpfen zwischen den USA und China wird auch die Corona-Krise instrumentalisiert, etwa durch Vorwürfe, den Virus absichtlich oder unabsichtlich freigesetzt zu haben. Viele Staaten im Globalen Süden haben wenig Resilienz, mit der Krise umzugehen, allein aufgrund der Bevölkerungsdichte und der schlechten Gesundheitsversorgung in Armenvierteln und auf dem Land.

Klima, Transformation und Solidarität

Damit die Corona-Krise nicht zur Vorlage für »normale Katastrophen« wird, sind Erfahrungen im Umgang mit komplexen System zu berücksichtigen. Hierzu gehören die Schaffung von Resilienz, Nachhaltigkeit und Solidarität, eine Entkopplung von Risikoverstärkern, der Ausbau regionaler Produktions- und Lebensweisen, die Entschleunigung der Dynamiken, die Bewahrung kritischer Infrastrukturen. Wissenschaft und Politik können Governance-Maßnahmen und Institutionen entwickeln, um die Früherkennung und Steuerungsfähigkeit gegen Herausforderungen der komplexen Welt zu stärken und Eskalation zu vermeiden. In diesem Sinne wäre die Krise eine Chance zur Transformation des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft, die frühere Fehler vermeidet, aus der Krise lernt und weitere Katastrophen vermeidet. Dabei können auch positive Kipppunkte genutzt werden, um Problemlösungen in Gang zu setzen, im Sinne von Bewegungen wie »Fridays for Future«.

Auch wenn der Klimawandel durch die Corona-Krise zunächst in den Hintergrund gedrängt wird, können die Erfahrungen für die Klimakrise relevant sein. Diese hat einen längeren Zeithorizont, kann den Planeten tiefgreifend verändern und ebenfalls als Risikoverstärker Kettenreaktionen in Gang setzen. Dazu gehören auch Seuchen: „Schwerwiegend wäre auch die Ausbreitung der Seuchen in nördlichere Regionen der USA, was die Gesundheit oder gar das Leben von Millionen von US-Amerikanern bedrohen könnte. (Scheffran 2004, S. 187).

Zur Bekämpfung von Corona wurden Maßnahmen ergriffen, die als Nebeneffekt CO2-Emissionen senken, z.B. im Verkehr. Die Politik legte in der Corona-Krise ungeahnte Fähigkeiten im Krisenmanagement und Beschränkungen an den Tag, die in der Klimakrise verweigert wurden (z.B. Tempo 130, Flugbeschränkungen). Die jetzt eingesetzten enormen Finanzmittel fehlen später zur Bewältigung der Klimakrise. In beiden Fällen geht es um ein solidarisches Generationenverhältnis zwischen Alt und Jung, mit umgekehrten Vorzeichen (Schellnhuber 2020). Es wäre fatal, wenn die Bekämpfung von Corona auf Kosten des »Green New Deal« der EU ginge. Dabei könnten jetzt problemlos Synergien und Investitionen in die klimafreundliche und nachhaltige Transformation gehen. Anstatt in Rüstung sollten beträchtliche Mittel in Gesundheit und Umwelt fließen, auch weil eine Gefahrenvermeidung billiger und effizienter ist als die Gefahrenabwehr. Scheinbar lernen Politik und Gesellschaft erst aus Katastrophen. Nur wenn die Menschheit aus den Erfahrungen Konsequenzen zieht und Regeln für das Zusammenleben im gemeinsamen Haus der Erde findet, bieten sich Chancen für eine friedliche, solidarische und nachhaltige Welt.

Literatur

Krumenacker, T.; Schwägerl, C. (2020): „Mit der Vernichtung von Ökosystemen sind Pandemien wahrscheinlicher“ – Interview mit J. Settele und J. Spangenberg. Spektrum.de, 25.3.2020.

Menzel, U. (2020): Der Corona-Schock – Die Entzauberung der Globalisierung. Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 4/2020, S. 37-44.

Scheffran, J. (2004): Energiekonflikte und Klimakatastrophe – Die neue Bedrohung? PROKLA – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Bd. 34, Nr. 2, S. 173-197.

Scheffran, J. (2014): Der unmögliche Krieg – Jan Bloch und die Mechanik des Ersten Weltkriegs. W&F 2/2014, S. 38-42.

Scheffran, J. (2016): Kettenreaktion außer Kontrolle – Vernetzte Technik und das Klima der Komplexität. Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 3/2016, S. 101-110.

Schellnhuber, H.J. (2020): „Niemand kann sich jetzt über einen positiven Klimaeffekt freuen“. Frankfurter Rundschau, 26.3.2020.

von Weizsäcker, E.U.; Young, O.R.; Finger, M.; Beisheim, M. (eds.) (2005): Limits To Privat­ization – How to Avoid Too Much of a Good Thing. A Report to the Club of Rome. London: Earthscan.

Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.

Dieser Artikel wurde am 19. April fertig gestellt.