Bundeswehr als Katastrophenschutz?


Bundeswehr als Katastrophenschutz?

Corona-Pandemie verdeutlicht Missstände

von Martin Kirsch

Die Bundeswehr geriert sich in der Corona-Pandemie als besserer Katastrophenschutz und nutzt ihre Aktivitäten für eine Propaganda­offensive. Währenddessen geraten die ohnehin unterfinanzierten Institutionen der zivilen Krisenvorsorge nicht nur medial ins Hintertreffen. Das Vordringen der Bundeswehr in den zivilen Katastrophenschutz ist kein neues Phänomen in der Corona-Pandemie, wird aber wie diverse andere gesellschaftliche Schieflagen in der aktuellen Krise besonders deutlich.

Nach einer kurzen Phase, in der sich auch die Bundeswehr auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie in ihren Reihen einstellen musste, fuhren die Streitkräfte ihre Aktivitäten im Inland ab Ende März 2020 massiv hoch. Zusätzlich zu den fünf Bundeswehrkrankenhäusern, die ohnehin in die zivile Krankenversorgung in Deutschland eingebunden sind, stehen fast 32.000 Soldat*innen für Hilfsaufgaben in Bereitschaft: knapp 17.000 Sanitätssoldat*innen und 15.000 Angehörige der sonstigen Waffengattungen (BMG u. BMI 2020, S. 12). Damit handelt es sich um das größte Einsatzkontingent, dass die Bundeswehr je für Einsätze im Inland aufgestellt hat. Erst zum zweiten Mal, nach dem Hochwassereinsatz 2013, wurden Soldat*innen für Hilfeleistungen im Inland in großer Zahl präventiv in Bereitschaft versetzt. Dabei handelt es sich um die Vorbereitung für ein Worst-case-Szenario, dies zeigt sich am tatsächlich eingesetzten Personal: Die Zahl der gleichzeitig eingesetzten Soldat*innen blieb im Verlauf des gesamten Mai deutlich unter 1.000. Dennoch soll das überdimensionierte Kontingent der Streitkräftebasis bis zum Herbst aufrecht erhalten werden.

Koordiniert werden die Einsatzkontingente von den bereits etablierten Strukturen der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit und einem Führungsstab des Sanitätsdienstes sowie von vier Regionalen Führungsstäben, die kurzerhand bei den Truppenkommandos von Marine, Luftwaffe und den beiden Panzerdivisionen des Heeres eingerichtet wurden. Auch diese ab April ad hoc eingerichteten Führungsstrukturen sollen bis zum Herbst bestehen bleiben (Wiegold 2020). Bis dahin plant der für Inlandseinsätze zuständige Generalleutnant Martin Schelleis, die Erfahrungen zum Aufbau neuer Koordinations- und Führungsstrukturen zu nutzen. Diese Umstrukturierung, die ohne Corona-Pandemie vermutlich Jahre gedauert hätte, soll nicht nur zur Steuerung von möglichen Corona-Einsätzen der Bundeswehr bis ins nächste Jahr genutzt werden, sondern zur Basis dauerhafter neuer Strukturen werden.

Über 600 Amtshilfeanträge

Bis Anfang Juni 2020 reagierte die Bundeswehr auf über 600 Anträge auf Amtshilfe von zivilen Behörden und Ministerien (Wiegold 2020). Knapp die Hälfte, rund 280 Anträge, wurden von der Bundeswehr wegen fehlendem Personal und Material oder wegen fehlender Rechtsgrundlage abgelehnt oder von den Antragssteller*innen zurückgezogen. Darunter waren rechtswidrige Anfragen der grün-schwarzen Landesregierung in Baden-Württemberg, die für die Soldat*innen hoheitliche Aufgaben als Ordnungskräfte in unter Quarantäne stehenden Geflüchtetenunterkünften sowie die Unterstützung der Landespolizei bei der Durchsetzung der Corona-Maßnahmen vorsahen.

Im gesamten Jahr 2019 reagierte die Bundeswehr insgesamt auf 250 Amtshilfeersuchen, was die Dimension der aktuellen Maßnahmen verdeutlicht. Die Bandbreite der durchgeführten Amtshilfemaßnahmen überschreitet den Rahmen des hier Darstellbaren. Daher werden im Folgenden einige Aufgaben-Cluster aufgeführt, die die Bundeswehr im Rahmen der Corona-Pandemie übernahm, und an einigen Beispielen erläutert (Kirsch 2020).

  • Zu Beginn des unkontrollierten Ausbruchs der Corona-Pandemie in Deutschland im März 2020 wurde die Versorgung von Krankenhäusern und weiteren medizinischen und pflegenden Einrichtungen mit Schutzausrüstung und Medizinprodukten zu einem zentralen politischen Thema. Schnell begann die Beschaffungsbehörde der Bundeswehr für das Bundesgesundheitsministerium entsprechende Kaufaufträge im dreistelligen Millionenbereich abzuwickeln. Für den Lufttransport der bestellten Produkte aus China nutzten die Streitkräfte für sie unter Vertrag stehende Großraumtransportflugzeuge des zivilen Firmenkonsortiums SALIS. Zudem wurden Soldat*innen, beispielsweise in Hessen, in die Planung – vom Einkauf über die Verteilung bis hin zur tatsächlichen Verteilung der Schutzausrüstung – eingebunden. Ende März waren Logistikeinheiten der Bundeswehr damit betraut, die gesamte Schutzausrüstung für Sachsen-Anhalt von Flughäfen abzuholen, zu rationieren und umzuverpacken sowie an zivile Stellen, wie die Gesundheitsämter, zu verteilen.
  • Ab Mitte April wurden in Brandenburg die ersten Soldat*innen in Gesundheitsämtern eingesetzt, um das Stammpersonal bei der telefonischen Kontaktverfolgung von Infizierten und an der allgemeinen Telefonhotline zu unterstützen. Im Gesundheitsamt Potsdam wurden die 25 regulären Mitarbeiter*innen um 15 weitere Soldat*innen aufgestockt. Obgleich ihnen hoheitliche Aufgaben, wie das Verhängen verpflichtender Quarantänemaßnahmen, rechtlich verboten sind, werden hier Bundeswehrangehörige in sensiblen Bereichen der Gesundheitsüberwachung eingesetzt. Anfang Juni waren knapp 200 Soldat*innen in 30 Gesundheitsämtern in acht Bundesländern im Einsatz.
  • Einen weiteren Arbeitsschwerpunkt bildet der Einsatz von Soldat*innen in Alten- und Pflegeheimen. In einem Altenheim im Kreis Bamberg, in dem es zu einem Corona-Ausbruch gekommen war, wurden vorübergehend 35 Panzersoldat*innen eingesetzt. In vier Bundesländern waren Anfang Juni knapp 100 Soldat*innen in rund 20 Heimen tätig. Neben wenigen Sanitätssoldat*innen mit medizinischer Ausbildung, die auch im pflegerischen Bereich tätig werden dürfen, besteht der Großteil der Aufgaben in der Essensausgabe und weiteren nicht-pflegerischen Tätigkeiten.
  • Ebenfalls in Heimeinrichtungen werden in Deutschland, häufig zwangsweise, geflüchtete Menschen im Asylverfahren untergebracht. Dort kam es in oft überbelegten Heimen aufgrund der beengten Lebensverhältnisse und der teils katastrophalen hygienischen Bedingungen bereits gehäuft zu Corona-Ausbrüchen. Mehrfach wurden hunderte Bewohner*innen solcher Einrichtungen kollektiv unter Quarantäne gestellt. Die Bundeswehr lehnte zwar rechtswidrige Anträge aus Thüringen und Baden-Württemberg ab, Soldat*innen als Wachmannschaften für solche Einrichtungen zur Verfügung zu stellen, für Hilfstätigkeiten, wie Essenszubereitung und -ausgabe, sowie medizinische Überwachung und Betreuung werden jedoch Bundeswehrangehörige eingesetzt.
  • Darüber hinaus sind Soldat*innen mit und ohne medizinische Ausbildung an Aufbau und Betrieb von Teststationen, Notkliniken und medizinischen Versorgungsstationen beteiligt. Seltener stellt die Bundeswehr zivilen Krankenhäusern Sanitätspersonal sowie mobile Beatmungsgeräte, Röntgen- und CT-Container zur Verfügung.

Unabhängig von Amtshilfeanträgen sind die fünf Bundeswehrkrankenhäuser sowie Labore der Bundeswehr, darunter ein Speziallabor für die Erkennung biologischer Waffen, in die Versorgung und Testung der Bevölkerung eingebunden.

Zivile Alternativen

Für alle Aufgaben, die die Bundeswehr im Rahmen der Corona-Pandemie bisher übernimmt, bestehen zivile Alternativen. In der medialen Berichterstattung zumeist unerwähnt, wickelt das Technische Hilfswerk (THW) die gesamte Logistik rund um Schutzausrüstungen und Medizinprodukte in Bayern ab und betreibt Logistikeinrichtungen in diversen weiteren Bundesländern. Zudem blieben Transport- und Logistikkapazitäten von zivilen Speditions- und Luftfahrtunternehmen, die aufgrund des Lockdown nicht ausgelastet waren, ungenutzt.

Für die Unterstützung der Gesundheitsämter wurde im März ein Programm des Bundesgesundheitsministeriums aufgelegt. Vermittelt über das Robert-Koch-Institut (RKI), wurden Stellen für 500 Studierende ausgeschrieben. Sie werden als »Containment Scouts« in der telefonischen Kontaktverfolgung eingesetzt. Trotz mehr als 10.000 Bewerbungen wurden bis Mitte Juni allerdings nur 380 Stellen besetzt (Fuchs 2020). Die Option, das Programm aufzustocken, wurde gar nicht erst diskutiert.

Ein Arbeitsschwerpunkt der Containment Scouts ist Nordrhein-Westfalen, wo auf den Einsatz von Soldat*innen in Gesundheitsämtern verzichtet wurde. Ein Grund für die auch unabhängig von der aktuellen Pandemie angespannte Situation in den Gesundheitsämtern ist häufig der Personalmangel. In vielen Kreisen und Städten werden Stellen für Ärzt*innen in den Ämtern aufgrund der miserablen Bezahlung nur mit Interimslösungen besetzt.

Für die medizinische, pflegerische und allgemeine Betreuung in Alten- und Pflegeheimen sowie Geflüchtetenunterkünften müssten Kapazitäten der zivilen Katastrophenschutzeinrichtungen zur Verfügung stehen. So sind bei Evakuierungen aufgrund von Bombenentschärfungen Rotes Kreuz, Johanniter, Malteser und Arbeiter-Samariter-Bund in der Lage, Tausende Menschen, darunter auch Alte und Kranke, in Turnhallen und sonstigen Notunterkünften zu betreuen. Zudem ist die Personalsituation in der Pflege, ob in Heimen oder Krankenhäusern, nicht nur, aber vor allem aufgrund der schlechten Bezahlung bereits im Normalbetrieb an der Belastungsgrenze.

Für Aufbau und Betrieb von Teststationen, Notkliniken und medizinischen Versorgungseinrichtungen ähnelt das Bild der Situation in Pflegeeinrichtungen. Diese Aufgaben fallen in den Kernbereich der zivilen Katastrophenschutzeinrichtungen für die medizinische Versorgung der Bevölkerung in Ausnahmesituationen.

Zivil-Militärische-Zusammenarbeit

Der bisher größte Wendepunkt in der Geschichte der Bundeswehr war das Ende des Kalten Krieges 1989/90. Bis dahin schien der Auftrag der Streitkräfte der Bundesrepublik klar: Landes- und Bündnisverteidigung, d.h. ein potenzieller Krieg auf deutschem Territorium gegen den Warschauer Pakt im Rahmen der NATO-Bündnisverteidigung. Alle weiteren Aufgaben der Bundeswehr mussten sich dieser Kernaufgabe unterordnen. So existieren zwar bereits seit den 1960er Jahren Strukturen der Bundeswehr für die Zivil-Militärische-Zusammenarbeit innerhalb des so genannten Territorialheeres. Sie waren allerdings für die Unterstützung der Bundeswehr durch zivile Organisationen im Kriegsfall ausgelegt.

Seit der Umstrukturierung der Bundeswehr in der ersten Hälfte der 2000er Jahre wurde dieser Auftrag um 180 Grad gewendet. Die Möglichkeit eines Krieges in der Heimat schien in weite Ferne gerückt, und die Kampftruppen der Bundeswehr wurden zunehmend in Interventionskriege und Auslandsmissionen geschickt. Der Ansatz der »Vernetzten Sicherheit« wurde mit dem »Weißbuch 2006« erstmals in einem zentralen Regierungsdokument festgeschrieben. Im In- und Ausland sollte die Bundeswehr dazu befähigt werden, im engen Verbund mit zivilen Institutionen auf gesellschaftlich, ökonomisch, ökologisch und kulturell bedingte Krisen zu reagieren. Diesem neuen Paradigma entsprechend war der Kernauftrag der neu aufgestellten Strukturen der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit ab 2006, die Fähigkeiten der Bundeswehr als Teil der gesamtstaatlichen Krisenvorsoge aktiv zur Unterstützung ziviler Institutionen, zuvorderst des Katastrophenschutzes, anzubieten. Verfestigt wurden diese Strukturen bei den regelmäßig stattfindenden Länder- und Ressortübergreifenden Krisenmanagementübungen (LÜKEX), in denen die Bundeswehr als fester und dauerhafter Bestandteil des staatlichen Katastrophenschutzes etabliert wurde (BBK o.D.). Als Übungsszenarien für LÜKEX dienen u.a. extreme Schneefälle, Sturmfluten und Terroranschläge sowie Stromausfälle und Cyberattacken. Im Rahmen von LÜKEX 2007 wurden die Reaktionen auf eine weltweite Influenza-Pandemie geübt (ebenda).

Falsche Prioritätensetzung – oder: Wer bezahlt die Rechnung?

Warum werden die Institutionen des zivilen Katastrophenschutzes in der Corona-Pandemie und bei Naturkatastrophen eigentlich nicht in vollem Umfang einbezogen? Und kann der zivile Katastrophenschutz diese Aufgaben aktuell überhaupt übernehmen?

Offengelegt werden bei dieser Fragestellung zentrale Missstände finanzieller, personeller und politischer Natur, die bereits vor der Corona-Pandemie existierten, jetzt aber besonders deutlich zu Tage treten. Die Menschen, auf die der zivile Katastrophenschutz zurückgreifen kann – über zwei Millionen –, sind Mitglieder der jeweiligen Organisationen und leisten ihren Dienst größtenteils freiwillig und ehrenamtlich. Ein Extrembeispiel ist das THW: Dort stehen den rund 64.000 ehrenamtlichen Einsatzkräften nur 1.800 hauptamtliche THW-Angehörige gegenüber, die ausschließlich mit Führungs-, Verwaltungs- und Organisationsaufgaben sowie der Materialwirtschaft betraut sind (THW 2020a, S. 8-9; THW 2020b). Wie in vielen Bereichen der Zivilgesellschaft haben auch diese Organisationen in den letzten Jahren mit einem Mitgliederrückgang und Mangel an Freiwilligen zu kämpfen.

Zudem wurden auch dem zivilen Katastrophenschutz nach 1990 massiv die finanziellen Mittel gekürzt. Einrichtungen wie Notkrankenhäuser wurden geschlossen, und die Lagerhaltung von Medikamenten und Material wurde abgewickelt. Um diesem Trend entgegenzusteuern, plant das Rote Kreuz aktuell wieder Materiallager anzulegen und zehn neue Behandlungseinrichtungen für bis zu 50.000 Patient*innen aufzubauen. Dafür wird mit Kosten von rund einer Viertel Milliarde Euro gerechnet. Während der Rüstungshaushalt in den letzten Jahren kontinuierlich stieg und weiter steigen soll, ist die Finanzierung dieses Vorhaben bisher nicht gesichert.

In die bestehenden Lücken im zivilen Katastrophenschutz dringt die Bundeswehr seit rund 15 Jahren massiv vor. Dabei wird sie keineswegs bloß als vermeintlich notwendiger Lückenfüller gesehen. Als um 2006 die neuen Strukturen der Zivil-Militärischen-Zusammenarbeit der Bundeswehr aufgebaut wurden, gab es aktive Bestrebungen in der Bundespolitik, für die Streitkräfte neue Aufgabenfelder im Inland zu erschließen. Abgesehen von grundsätzlichen Kritikpunkten an diesem gezielten Vordringen der Armee in die Sphäre der Innenpolitik, entstanden durch dieses Vorgehen auch ganz konkrete, praktische Probleme. Einerseits ist die Bundeswehr für Teile dieser Aufgaben gar nicht entsprechend ausgebildet und ausgerüstet. Andererseits bleibt die Priorität der Bundeswehr die Fähigkeit, von der Ostflanke der NATO bis nach Mali und Afghanistan Krieg führen zu können. Sind Personal und Material also in Manövern, Eingreiftruppen und Kriegseinsätzen gebunden, stehen sie für Katastrophenschutzaufgaben in Deutschland nicht oder nur stark eingeschränkt zur Verfügung.

Ein weiterer Faktor kommt dazu: Für die Bewältigung von Naturkatastrophen, Großunfällen und Pandemien sind in Friedenszeiten die föderalen Strukturen der Bundesländer und Kommunen zuständig. Ministerpräsident*innen und Landrät*innen, die für die Hilfsanträge an die Bundeswehr verantwortlich sind, versuchen in solchen Ausnahmesituationen häufig Handlungsfähigkeit und Stärke zu beweisen. Der Ruf nach der Bundeswehr und die Mobilisierung von Soldat*innen wird auch medial als Signal der Stärke transportiert, weil martialische Bilder erzeugt werden können. Übersehen wird dabei zumeist, dass sich so zwar kurzfristig praktische und politische Erfolge erzielen lassen. Das Bild von zupackenden Soldat*innen wirkt im jeweiligen Moment stark. Mit einer alltäglichen und dauerhaften Unterstützung und Ausfinanzierung des Katastrophenschutzes hingegen – die dauerhaft Kosten erzeugt, auch wenn akut keine Katastrophe vorliegt – lassen sich kaum Sympathiewerte und Wähler*innenstimmen gewinnen. Viele Landes- und Kommunalpolitiker*innen unterliegen daher dem Reiz des militärischen, auch wenn sie damit dem zivilen, föderalen System des Katastrophenschutzes die Grundlagen entziehen.

Verstärkt wird die finanzielle Schieflage zwischen Zentralstaat und föderalen Strukturen zudem in der konkreten Krisen- oder Katastrophensituation. Die Kosten für die Einsätze des Katastrophenschutzes müssen die Kommunen und Länder tragen, die die Katastrophenschutzkräfte mobilisieren. Ein Großteil der anfallenden Kosten ergibt sich aus der Kompensation der Verdienstausfälle der ehrenamtlichen Helfer*innen, und das kann teuer werden. Die Bundeswehr hingegen stellt ihre Katastrophenschutz- und Hilfseinsätze nicht in Rechnung. Denn auch das Verteidigungsministerium, das die Kosten übernimmt, profitiert von diesen Einsätzen. In der aktuellen Corona-Pandemie sogar von einer privaten PR-Agentur mit Sonderwebsite und YouTube-Doku-Serie in Szene gesetzt, kann sich die Bundeswehr als Hilfsorganisation präsentieren, um Rekrut*innen werben, die Akzeptanz in der Bevölkerung steigern und mit diesen positiven Bildern weiter steigende Rüstungsausgaben rechtfertigen.

Mit der Übernahme der Kosten für Einsätze der Bundeswehr wird damit ein weiterer Anreiz geschaffen, nicht auf einen verlässlich finanzierten und funktionierenden zivilen Katastrophenschutz, sondern selbst bei kleineren Ereignissen auf die vermeintlich kostengünstigere Akuthilfe der Bundeswehr zu setzen.

Konsequenzen

Um die aktuell vorherrschende Bevorzugung der Bundeswehr und das damit einhergehende Ausbluten des zivilen Katastrophenschutzes zu beenden, wäre es dringend nötig, Gelder aus dem Rüstungshaushalt des Bundes in die Länder- und Kommunen umzuleiten. Nur so ließe sich eine funktionsfähige Alternative zur faktischen Militarisierung der zivilen Katastrophenvorsorge sichern bzw. wieder herstellen. Im Gegensatz zu einer zentralstaatlichen und häufig militärischen Krisenreaktion würden so lokale und regionale Strukturen der Zivilgesellschaft gestärkt.

Zudem wären die Ausfinanzierung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtung sowie eine angemessene Bezahlung der dort arbeitenden Menschen und damit ein Ende der marktförmigen Organisation der medizinischen Versorgung der Bevölkerung bitter nötig. Von einem solchen Sinneswandel würde die Bevölkerung auch im Alltag, ganz unabhängig von Naturkatastrophen oder einer Pandemie, erkennbar profitieren.

Wachsamkeit ist allerdings bei Vorstößen des Bundesinnenministeriums aus den letzten Jahren gefragt, die auf den ersten Blick wie eine Stärkung des zivilen Katastrophenschutzes aussehen. Mit der 2016 veröffentlichten »Konzeption Zivile Verteidigung« (KZV) wird erstmals seit den 1990er Jahren der Kriegsfall in Deutschland wieder zur festen Planungsgröße (BMI 2016). Hinter dem Begriff der »Zivilen Verteidigung« verbirgt sich eine Art Katastrophenschutz für den Kriegsfall. Damit reiht sich die Vorbereitung ziviler Infrastruktur für die Arbeitsfähigkeit unter Kriegsbedingungen in die allgemeine Aufrüstung von NATO und EU gegen Russland ein.

Mehr als deutlich wird angesichts der aktuellen Pandemie allerdings, dass weder machtpolitische und militärische Strategien noch zentralstaatliche Führungsstrukturen und Bunker, sondern funktionsfähige lokale und zivile Strukturen des Katastrophenschutzes und ein stabiles, ausfinanziertes Gesundheitswesen tatsächliche Verbesserung bringen würden.

Literatur

Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe/BBK (o.D.): LÜKEX-Historie – von Terror bis Stromausfall. Online auf bbk.bund.de

Bundesministerium der Verteidigung/BMVg (2006): Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin.

Bundesministerium des Inneren/BMI (2016): Konzeption Zivile Verteidigung (KZV). Berlin, 24.8.2016.

Bundesministerium für Gesundheit/BMG und Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat/BMI (2020): Lagebild Gemeinsamer Krisenstab BMI-BMG COVID-19 – Stand: 16.04.2020, 09:00 Uhr. VS – Nur für den Dienstgebrauch. Abrufbar über: Semsrott, A. (2020): Corona-Krise – Wir veröffentlichen aktuelles Lagebild des Krisenstabs. fragdenstaat.de, 18.4.2020.

Fuchs, T. (2020): Corona und die Detektive. Redaktionsnetzwerk Deutschland, 14.5.2020.

Kirsch, M. (2020): Die Bundeswehr und das Virus – Teil II: Mitte März bis Mitte Mai – Amtshilfe und Eiserne Reserve. Ausdruck – Magazin der Informationsstelle Militarisierung e.V., Vol. 18, Nr. 2, S. 34-40.

Koytek, O.; Boje, M.; Schulze, J. (2020): Kata­strophenschutz am Limit – Wie gut ist Deutschland aufgestellt? ZDF zoom, Erstausstrahlung 1.4.2020.

Technisches Hilfswerk/THW (2020a): Jahrsbericht 2019. Bonn, Mai 2020.

Technisches Hilfswerk/THW (2020b): Die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk im Überblick. Bonn: Juli 2020.

Wiegold, T. (2020): Coronavirus – Bundeswehr fährt Bereitschaftszeiten zurück, bleibt aber in Reserve. augengeradeaus.net, 4.6.2020.

Martin Kirsch ist Sozialwissenschaftler und Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

Im Auge des Sturms


Im Auge des Sturms

Die WHO in der COVID-19-Pandemie

von Anna Holzscheiter

Who is WHO? Zweifelsohne hat sich innerhalb von nur wenigen Monaten die Zahl der Menschen vervielfacht, die wissen, was sich hinter dem Akronym WHO verbirgt. Wie schon bei anderen Gesundheitskrisen vor und nach dem Ende des Kalten Krieges blicken große Teile der Weltbevölkerung und selbst der Mitgliedsstaaten mit gemischten Gefühlen auf die Weltgesundheitsorganisation. Die Autorin geht den aktuellen Diskussionen um die WHO nach und erklärt am Ende, warum eine handlungsfähige und finanziell ausreichend ausgestattete WHO unverzichtbar ist.

Welchen Beitrag kann die Weltgesundheitsorganisation leisten, um „allen Völkern zur Erreichung des bestmöglichen Gesundheitszustand[s] zu verhelfen“ (Artikel 1 der WHO-Verfassung von 1946) und Gesundheitssicherheit selbst in Zeiten einer vielerorts schwer kontrollierbaren globalen Pandemie herzustellen? Wie sehr hängen unser persönliches Wohlbefinden und der Schutz unserer individuellen und öffentlichen Gesundheit von den Handlungsmöglichkeiten, der Autorität und möglicherweise auch der Intransparenz und Ineffektivität der WHO ab? Wie stark wird die WHO von unterschiedlichen staatlichen und gesellschaftlichen, unternehmensnahen und profitorientierten Akteuren vereinnahmt? Und wie beeinflussen ihre mächtigsten Geldgeber die Handlungsfähigkeit der WHO in Zeiten eines globalen Gesundheitsnotstands und darüber hinaus?

All diesen wichtigen Fragen zum Trotz verfolgte in den vergangenen Monaten die Öffentlichkeit vor allem den sich zuspitzenden Konflikt zwischen den USA und China innerhalb der WHO. Die Ankündigung des US-Präsidenten Donald Trump im April 2020, die Zahlungen an die WHO einzustellen, weil diese aufgrund ihrer zu engen Beziehungen zu China die Welt nicht rechtzeitig vor der drohenden COVID-19-Pandemie gewarnt habe, seine Ankündigung Ende Mai, die USA würden ihre Zusammenarbeit mit der WHO beenden, und schließlich Anfang Juli seine Kündigung der WHO-Mitgliedschaft binnen Jahresfrist werfen ein grelles mediales Scheinwerferlicht auf die WHO und ihre Rolle in der Pandemie.

Die Kritik am zögerlichen Handeln der WHO teilen viele Beobachter*innen. Ähnlich wie bei der Ebola-Epidemie ab 2014 wird der WHO vorgeworfen, sie habe zu spät einen internationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen. Während das zögerliche Handeln bei Ebola vor allem auf die dysfunktionale Arbeitsweise der WHO und deren mangelnde Führung zurückgeführt wurde, fokussiert die Kritik an den Fehlern der WHO gegenwärtig darauf, dass sie einer Verschleierungstaktik der chinesischen Regierung nichts entgegengesetzt habe. Der WHO-Nothilfekoordinator Mike Ryan hatte nach dem Besuch einer WHO-Delegation in China Ende Januar 2020 die chinesische Regierung für ihren Umgang mit der Corona-Epidemie ausdrücklich gelobt. Ihre Anstrengungen seien vorbildlich gewesen. Andere Politiker*innen und Wissenschaftler*innen äußern sich allerdings ähnlich kritisch über die Schwäche und Vereinnahmung der WHO wie Trump.

Jenseits der Frage, ob und wieviel Schuld die chinesische Regierung und die WHO an der COVID-19-Pandemie tragen, wird im öffentlichen Diskurs immer wieder die allgemeinere Frage erörtert, warum Staaten die WHO als politische Plattform nutzen – eine Frage, die verdeutlicht, wie stark doch das Bild von der WHO als technokratischer Gesundheitsbehörde und politikfreier Zone die öffentliche Wahrnehmung dominiert. Gesundheitsfragen sollen bitte jenseits von Politik gelöst werden, daheim wie auf dem internationalen Parkett, und ganz besonders in Zeiten eines internationalen Gesundheitsnotstands.

Die ideale Weltgesundheitsorganisation stellen wir uns vor als Hort von Expert*innen, die Richtlinien und Standards formulieren, für Gesundheitskrisen genauso wie für eine lange Liste anderer Gesundheitsthemen und -probleme, die Länder beim Aufbau robuster und für alle zugänglicher Gesundheitssysteme beraten, die für die Koordination der Maßnahmen ihrer Mitgliedsstaaten und die Einbindung gesellschaftlicher Akteure zuständig sind. Wir wünschen uns die WHO frei vom Tauziehen um Einfluss, frei von Interessenpolitik und Lobbyismus, frei von Wettbewerb und Streit um Expertise, Wissen, Fakten und Daten. Die Vorstellung behagt uns gar nicht, dass im politischen Alltagsgeschäft von Regierungen, Ministerien und eben auch der WHO, in Zeiten großer Unsicherheit und trotz täglich sich wandelnder Fakten und Erkenntnisse weitreichende Entscheidungen fallen und Krisenstrategien beschlossen werden müssen. Genauso wenig wünschen sich viele innerhalb der WHO eine »Politisierung« der COVID-19-Pandemie, eine Infragestellung der Relevanz und Integrität der WHO und ihrer Führungspersonen, allen voran ihres Generaldirektors, und eine Kritik an ihrem Krisenmanagement zu einem Zeitpunkt, an dem in vielen Ländern und Regionen der Welt die Krise in vollem Gange ist.

Und doch kam – scheinbar aus heiterem Himmel – schon kurze Zeit nach dem Ausrufen einer »public health emergency of international concern« (PHEIC; gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite) durch die WHO die große Weltordnungspolitik ins Spiel, und viele, die sich sonst kaum mit internationalen Organisationen und internationaler Politik befassen, zeigten sich entsetzt. Ich möchte behaupten, dass die öffentliche Debatte über die Rolle der WHO in der Pandemie von einer seltsam ahistorischen und weltfremden Vorstellung von internationaler Politik und internationalen Organisationen geprägt ist.

Internationale Organisationen, und das schließt die WHO genauso ein wie das Welternährungsprogramm, das UN-Kinderhilfswerk oder die internationale Arbeitsorganisation, sind selbstverständlich immer auch politische Institutionen, selbst dann, wenn wir annehmen, dass sie vorwiegend technische, logistische oder humanitäre Aufgaben vor Ort erfüllen sollen. Einflussreiche Akteure der globalen Gesundheitspolitik, allen voran die großen Stiftungen und öffentlich-privaten Partnerschaften, die sich in diesem Feld tummeln, umschreiben globale Gesundheit gerne als ein Feld evidenz-basierter Strategien und Programme, deren vorrangiges Ziel es ist, Leben zu retten und Gesundheit und Wohlergehen weltweit sicherzustellen. Dass dabei natürlich auch Prioritäten gesetzt werden, dass um die Agenda der globalen Gesundheit, um Strategien, Therapien und Wissen ein fortwährender Konflikt ausgetragen wird – dieser Aspekt von Gesundheitspolitik als politischer Kampf um Einfluss, legitimes Wissen, Prioritäten und »value for money« soll lieber im Verborgenen bleiben.

Im Auge des Sturms

Internationale Gesundheitspolitik ist immer auch Ausdruck einer größeren und längerfristigen Weltordnungspolitik sowie von Auseinandersetzungen um Einflusssphären innerhalb und außerhalb von internationalen Organisationen. Und sie zeigt momentan auch, wie die Verachtung, die populistische Präsidenten, wie Trump oder Jair Bolsonaro, für multilaterale Organisationen hegen, sich für deren Zwecke als nützlich erweist. Indem sie nahelegen, auf der einen Seite stünden die WHO, auf der anderen einzelne Staaten der Welt, negieren sie die lange Geschichte und den Einfluss ihrer eigenen Länder als Mitgliedsstaaten und tragende Säulen der Politik, die internationale Organisationen wie die WHO machen. Eine solche Darstellung erlaubt es, die Schuld für die verheerende Lage im eigenen Land und das eigene klägliche Krisenmanagement auf die WHO abzuwälzen.

Jetzt, da die WHO wie keine andere Institution im Rampenlicht der internationalen Politik steht, ist das Interesse daran, die Politik hinter der globalen Gesundheit zu verstehen, größer denn je. Die Vorwürfe Donald Trumps gegen die WHO sind ungeachtet ihrer Verdrehung und Instrumentalisierung in Verschwörungstheorien offenbar auf fruchtbaren Boden gefallen. Befürworter*innen und Kritiker*innen der WHO finden sich in Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Die Serie an Interviews, Medienbeiträgen und Kommentaren, beispielsweise in »Foreign Policy« (Lynch 2020), »Foreign Affairs« (Bollyky und Fidler 2020) oder »The Lancet« (Durrheim et al. 2020), reißt nicht ab. Immer wieder steht dabei die Frage im Raum, wie sehr sich die WHO von Interessen, Staaten und privaten Geldgebern abhängig machen darf, welche Macht sie über starke Mitgliedsstaaten, wie China, hat und welches Handeln wir in Zeiten einer globalen Gesundheitskrise von ihr erwarten.

Einmal mehr zeigt sich in der COVID-19-Pandemie, wie sehr internationale Gesundheitsnotstände ein diplomatischer Drahtseilakt für die WHO sind. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn Regierungen, die ein ungewöhnliches Infektionsgeschehen im eigenen Land beobachten, dies zu vertuschen versuchen (wie schon bei der SARS-Epidemie 2002/2003), obwohl sie gemäß den Internationalen Gesundheitsvorschriften der WHO die Verpflichtung haben, die Staatengemeinschaft zu alarmieren. Bei der Ebola-Epidemie 2014 brauchte die WHO viereinhalb Monate, um endlich von ihrem Recht Gebrauch zu machen, die höchste Alarmstufe, einen internationalen Gesundheitsnotstand, auszurufen. Die berechtigte Kritik an der Schwerfälligkeit der Organisation und die verheerenden »lessons learned« aus der Ebola-Krise führten zu weitreichenden Reformen im WHO-Krisenmanagement, allen voran die Einrichtung eines Gesundheitsnotstandsprogramms und einer unabhängigen Aufsichts- und Beratungskommission, die die Notstandsmaßnahmen der WHO engmaschig evaluieren soll.

In der COVID-19-Pandemie hat die WHO vier Wochen gebraucht, um einen internationalen Gesundheitsnotstand auszurufen. Kritiker urteilen, die WHO habe auch hier zu spät auf den Alarmknopf gedrückt. Die unabhängige Aufsichtskommission wiederum weist in ihrem ersten Bericht von Mitte Mai daraufhin, trotz der Ausrufung eines Gesundheitsnotstandes Ende Januar 2020 hätten viele Länder nur sehr zögerlich auf die Warnung der WHO reagiert. Auch in Deutschland stufte das Robert Koch-Institut erst am 17. März 2020 das Infektionsrisiko der Bevölkerung als »hoch« ein.

Ungeachtet des »shitstorm« aus den USA und des machtpolitischen Strudels, in dem die WHO sich seit Mitte April befindet, zeigte die online abgehaltene Jahresversammlung der WHO-Mitgliedsstaaten Mitte Mai, dass die internationale Gemeinschaft, und zwar nicht nur die Staaten, sondern auch die wissenschaftlichen und nicht-staatlichen Akteur*innen und Organisationen, mehr denn je auf die WHO angewiesen ist. Überraschend wenig Raum nahm während des Gipfels die Auseinandersetzung zwischen den USA und China ein. Stattdessen bewirkten die Besonnenheit einiger Staatschef*innen, einschließlich Kanzlerin Merkel, und die vermittelnde Rolle der Europäischen Union, dass eine Resolution mit einem umfangreichen Maßnahmenkatalog verabschiedet werden konnte (WHO 2020).

Diese Resolution stärkt der WHO einerseits den Rücken, verlangt aber zugleich eine „unparteiische, unabhängige und umfassende“ wissenschaftliche Untersuchung des Ursprungs des Coronavirus. Statt die WHO noch stärker in ihrer Autonomie und Autorität einzuschränken – und damit möglicherweise noch anfälliger für die Vereinnahmung durch starke Mitgliedsstaaten zu machen –, bestätigen die Mitgliedsstaaten die Rolle der WHO als Koordinationsinstanz des internationalen Gesundheitsmanagements. Die Resolution unterstreicht auch die beispiellose Relevanz der WHO für den Austausch zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden. Die Forderungen nach einem gerechten Zugang zu Diagnostik, Therapie und Impfstoffen für SARS-CoV-2, nach einem freiwilligen Pool für Patente und generell nach internationaler Solidarität und Zusammenarbeit offenbaren, wie wichtig diese Institution für eine wahrhaft »globale Perspektive« ist in einer Zeit, in der Grenzen geschlossen, Medizinprodukte gehortet und bereits egoistische Ansprüche auf den Impfstoff »in spe« erhoben werden.

Die Untätigkeit des UN-Sicherheitsrats

Während die WHO momentan extrem belastet ist und mit einer nie dagewesenen Präsenz zugleich an ihrem Image und an der Bewältigung der Krise arbeitet, war das mächtigste Organ der Vereinten Nationen, der UN-Sicherheitsrat, in den vergangenen Monaten aus einem anderem Grund massiver Kritik ausgesetzt. In der Ebola-Krise 2014/15 hatte sich der Sicherheitsrat zum ersten Mal in seiner Geschichte zu einer Dringlichkeitssitzung aufgrund einer Gesundheitskrise getroffen und die Ebola-Epidemie als Gefahr für Frieden und Sicherheit weltweit eingestuft (Resolution S/RES/2177 vom 18. September 2014). Er forderte unter anderem, die UN-Mitgliedsstaaten sollten die Reise- und Grenzbeschränkungen aufheben (!), die während des Ebola-Ausbruchs verhängt worden waren.

In der aktuelle Pandemie gelang es dem UN-Sicherheitsrat nach monatelangen Verhandlungen erst Anfang Juli, eine dringend notwendige Resolution zu verabschieden. Am 23. März 2020 hatte UN-Generalsekretär António Guterres verkündet, es sei Zeit „bewaffnete Konflikte zu beenden und sich gemeinsam auf den wahren Kampf unseres Lebens zu konzentrieren”, und rief zu einem „sofortigen globalen Waffenstillstand in allen Teilen der Welt“ auf (Guterres 2020). Daraufhin drängte insbesondere Frankreich zum Handeln, um dem UN-Generalsekretär den Rücken zu stärken. Die USA versuchten, die 15 Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, dem China als ständiges Mitglied mit Vetorecht angehört, dazu zu überreden, in der Resolution China als Ursprungsland zu nennen, ja gar das Virus als »Wuhan-Virus« zu bezeichnen. Überdies, so die Forderung der USA, solle die WHO in einer solchen Resolution auf keinen Fall erwähnt werden. Russland wiederum stellte sich bei Formfragen quer und unterstellte, das Votum des Sicherheitsrates sei nur bei körperlicher Anwesenheit gültig, nicht per Videokonferenz. Nachdem der überarbeitete Resolutionstext, von Deutschland und Estland als nicht-ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates eingereicht, die Nennung der WHO nicht mehr vorsah, bestand nun die chinesische Delegation darauf, es müsse zumindest die UN Health Group erwähnt werden. Erst als am 1. Juli 2020 Deutschland als nicht-ständiges Mitglied des Sicherheitsrates für einen Monat den Vorsitz übernahm, gelang endlich der Durchbruch, und der Sicherheitsrat sprach sich einstimmig für Resolution 2532 aus, die eine globale Waffenruhe fordert, aber zugleich die WHO nicht namentlich benennt – stattdessen wird dort nur von „allen relevanten Teilen des UN-Systems“ gesprochen (Resolution S/RES/2532(2020)).

Die sicherheitspolitischen Risiken der COVID-19-Pandemie sind offensichtlich und groß, die Konflikte im Sicherheitsrat werfen daher ein verheerendes Licht auf den Mangel an Vertrauen und Kooperationsbemühungen unter den UN-Mitgliedsstaaten. Gerade weil die COVID-19-Pandemie ungleich dramatischere Ausmaße angenommen hat als die Ebola-Pandemie 2014/15, ist ein koordiniertes Handeln von UN-Sicherheitsrat, UN-Generalsekretär und den anderen Organisationen im UN-System notwendiger denn je. Vergangene Gesundheitsnotstände und Resolutionen des Sicherheitsrates hatten gezeigt, wie stark globale Gesundheit und sicherheitspolitische Fragen miteinander verknüpft sind. Das Gezerre um die COVID-19-Resolution verdeutlicht, dass nicht alle Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates sich eine solche Ausweitung des Mandats wünschen. Auch der chinesische UN-Botschafter Zhang Jun wollte das Thema lieber bei den UN-Organisationen sehen, die sich explizit mit Gesundheit befassen, und nicht beim Sicherheitsrat.

Who pays WHO?

Die Aufregung über den Rückzug der USA aus der wichtigsten internationalen Organisation für Gesundheitsfragen ist groß. Die WHO mitten in der Pandemie in Frage zu stellen, „wäre wie während eines Flugs den Piloten aus dem Flugzeug zu werfen“, twitterte der deutsche Außenminister Heiko Maas Mitte April. Zugleich warnte er die USA vor einem internationalen Bedeutungsverlust, sollten sie sich aus der WHO zurückziehen.

Welche Auswirkungen wird die US-amerikanische Abkehr von der WHO aber tatsächlich haben? Was passiert, wenn der größte Beitragszahler den Geldhahn zudreht? Geht dann der WHO tatsächlich das Geld aus? Natürlich nicht. Im Nu stehen andere bereit, um nicht nur die finanzielle Lücke zu schließen, die die USA hinterlassen, sondern auch die Machtlücke in der WHO. Die 2019 von Deutschland und Frankreich gegründete »Allianz der Multilateralisten«, die aus gut 20 Staaten besteht, sprach sich am Tag nach der Hiobsbotschaft aus den USA für eine Stärkung der WHO aus. Angela Merkel räumte zwar ein, die WHO habe zu Beginn nicht ausreichend über die Gefahr des COVID-19-Ausbruchs in der chinesischen Provinz Wuhan informiert, sicherte der Organisation aber dennoch ihre volle Unterstützung zu. Auch Bill Gates kritisierte den US-Präsidenten scharf für seine Abkehr von der WHO und machte unmissverständlich klar, dass auch er, der mit seiner Stiftung wie kein anderer privater Akteur globale Gesundheitspolitik beeinflusst, gerne für die fehlenden Beiträge der USA aufkommen wird. Der chinesische Präsident Xi kündigt bei der Jahresversammlung der WHO an, China wolle die Arbeit der Organisation in der COVID-19-Pandemie mit zwei Milliarden Dollar unterstützen, um vor allem Entwicklungsländern den Zugang zu einem Impfstoff zu ermöglichen.

Die WHO hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges, aber vor allem seit der Jahrtausendwende, stark verändert. Der Siegeszug des Liberalismus nach 1990, der sprunghafte Anstieg zivilgesellschaftlicher Akteure und Organisationen, die sich transnational vernetzten und organisierten, und das steigende Interesse multinationaler Unternehmen, über philanthropische Stiftungen und öffentlich-private Partnerschaften soziale Verantwortung zu übernehmen – all dies vergrößerte in den 1990er Jahren auch in der globalen Gesundheitspolitik den Einfluss privater Akteure immens. Vor allem die damalige WHO-Generaldirektorin Gro Harlem Brundlandt förderte die Zusammenarbeit zwischen der WHO und gemeinnützen sowie profitorientierten Akteuren. Damit sollte sichergestellt werden, dass die WHO sich als zentraler Akteur in einer stetig länger werden Liste von Gesundheitsproblemen einbringen konnte: HIV/AIDS, Malaria, Tuberkulose, vernachlässigte Tropenkrankheiten, Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten …

Zugleich schlossen sich jedoch auch viele Mitgliedsstaaten der WHO alternativen, öffentlich-privaten Gesundheits­initiativen an, allen voran dem »Globalen Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Malaria und Tuberkulose« oder der globalen Impfallianz GAVI. Diese neuen, als flexible, unbürokratische und auf einzelne Gesundheitsprobleme zugeschnitten konzipierte Institutionen sollten der WHO Konkurrenz machen. Das schwindende Vertrauen der Mitgliedsstaaten in »ihre« WHO drückt sich auch darin aus, dass der WHO-Generalsekretär und die Mitarbeiter*innen seiner Behörde über ein immer kleiner werdendes reguläres Budget verfügen. In den 1970er Jahren betrug das Verhältnis zwischen den Pflichtbeiträgen der Mitgliedsstaaten und den freiwilligen, mit einem speziellen Verwendungszweck versehenen Beiträgen 80:20. Inzwischen liegt es bei 20:80. Wer sich eine WHO wünscht, die weder von großen privaten Stiftungen noch von autokratischen oder populistischen Regierungschef*innen überrollt wird, muss zwangsläufig fordern, dass die Mitgliedsstaaten mehr Beiträge in das reguläre Budget der WHO einzahlen – das ist der dringendste Reformbedarf für die WHO.

Ein Appell für eine starke WHO

Eine Organisation, die weltweit tätig ist, die sich mittlerweile nicht nur um Impfstandards, die Eindämmung von Infektionskrankheiten oder Medikamentenkontrolle kümmert, sondern auch um eHealth, Homöopathie, Gesundheit in Gefängnissen oder mentale Gesundheit, und die vor allem der Verständigung und demokratischen Willensbildung zwischen 194 Mitgliedsstaaten und einer Vielzahl nichtstaatlicher Akteure dient – eine solche Organisation ist zwangsläufig schwerfälliger und bürokratischer als kleine, hierarchisch organisierte und oft hochgradig intransparente »public-private partnerships«, die sich für einzelne Gesundheitsprobleme zuständig erklären. Für schwächere Länder, insbesondere Länder des Globalen Südens, genauso wie für die vielen NGOs, Berufsverbände, Betroffenengruppen, Stiftungen, Unternehmen und Wissenschaftler*innen, die in der WHO zusammentreffen, ist es von immensem Wert, über die grundlegenden Werte, Themen und Strategien globaler Gesundheitspolitik mitbestimmen zu können, eine Stimme zu haben, wenn über Agenden, Budgets und die Validität und Folgen wissenschaftlicher Erkenntnisse entschieden wird.

Die Botschaften der WHO und ihres Generaldirektors in den vergangenen vier Monaten haben unmissverständlich die internationale Solidarität mit ärmeren Ländern des Globalen Südens und die globale Gerechtigkeit thematisiert und darauf hingewiesen, wie sehr die Pandemie auch eine Pandemie der Armut und Ungleichheit ist – und wie groß die Verantwortung mächtiger und wohlhabender Staaten, durch internationale Kooperation und Solidarität globale Gesundheitssicherheit möglich zu machen.

Literatur

Bollyky T.J.; Fidler, D.P. (2020): It’s Time for an Independent Coronavirus Review. Foreign Affairs, 24.4.2020.

Durrheim, D.N.; Gostin, L.O.; Moodley, K. (2020): When does a major outbreak become a Public Health Emergency of International Concern? The Lancet, 19.5.2020.

Guterres, A. (2020): Aufruf zu einem globalen Waffenstillstand. Regionales Informationszentrum der Vereinten Nationen (UNRIC), 23.3.2020.

Lynch, C. (2020): Can the United Nations Survive the Coronavirus? Foreign Policy, 8.4.2020.

WHO (2020): Seventy-Third World Health ­Assembly, Agenda item 3 – COVID-19 re­sponse. Dokument WHA73.1 vom 19. Mai 2020.

Prof. Dr. Anna Holzscheiter ist Leiterin der Forschungsgruppe »Governance for Global Health« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Professorin für Internationale Politik an der Technischen Universität Dresden.

Ressourcenverteilung in der Pandemie


Ressourcenverteilung in der Pandemie

Eine Chance für menschliche Sicherheit?

von Kathrin Vogler

Wer kommt für die Milliardenkosten für die Bewältigung der Corona-Pandemie auf? Auch wenn es am Anfang hieß, Corona treffe alle gleich, zeigte sich bald, dass es sehr wohl große Unterschiede gibt, wie belastend der Lockdown war und wie gefährlich die Krankheit. Eine ähnliche Schieflage zeichnet sich bei der Frage ab, wer die Krisenkosten tragen soll. Einige sind offenbar von vornherein davon ausgenommen: So scheint ausgerechnet der Militär- und Rüstungsbereich sogar zu profitieren.

Am 20. April 2020, Deutschland diskutierte gerade über erste Lockerungen der strengen Corona-Massenquarantäneregeln, wurde der Vorschlag der Verteidigungsministerin öffentlich, 135 neue Kampfflugzeuge für die Bundeswehr zu beschaffen. Die Empörung gegen diese Ankündigung machte sich besonders daran fest, dass ein Teil der Flugzeuge für die so genannte nukleare Teilhabe vorgesehen ist (siehe dazu Nassauer 2020). Der Vorschlag machte aber zugleich deutlich, dass große Teile von Regierung und Parlament, trotz der durch die Corona-Krise offenbar gewordenen Schieflagen in den öffentlichen Haushalten, weiter an ihren wahnwitzigen Aufrüstungsplänen festhalten wollen. Die falsche Prioritätensetzung geht weiter, als hätte die Pandemie nicht gezeigt, dass es eben nicht dem Gemeinwohl dient, wenn die Bundeswehr unvorstellbar teures Kriegsgerät anhäuft, u.a. zulasten eines krisenfesten Gesundheitssystems. Der Mangel an medizinischer Ausstattung über Wochen – z.B. fehlte es an Atemschutzmasken für ein paar Cent das Stück – und die Auswirkungen der skandalösen Unterfinanzierung unseres Gesundheitswesens legen offen, wie wenig wir gegen tatsächliche Bedrohungen gewappnet sind.

Das zweite Krisenbewältigungspaket, das der Koalitionsausschuss von CDU, CSU und SPD Anfang Juni vorlegte und das Parlament einen Monat später verabschiedete, sieht dementsprechend keine Kürzungen im Rüstungshaushalt vor. Im Gegenteil: Unter der Überschrift „Die Konjunktur stärken und die Wirtschaftskraft Deutschlands entfesseln“ heißt es in dem Beschluss: „Der Bund wird in allen Bereichen prüfen, inwieweit geplante Aufträge und Investitionen jetzt vorgezogen werden können. Insbesondere sollen Digitalisierungsvorhaben in der Verwaltung, Sicherheitsprojekte sowie neue Rüstungsprojekte mit hohem deutschen Wertschöpfungsanteil, die noch in den Jahren 2020 und 2021 beginnen können, sofort umgesetzt werden. (Projektvolumen: 10 Mrd. Euro)“ (Bundesministerium der Finanzen 2020a)

Die krisensichere Rüstungsbranche

Welcher Anteil der zehn Milliarden tatsächlich an die Bundeswehr geht, bleibt abzuwarten. Viele Rüstungsprojekte haben einen langen Vorlauf und können nicht so einfach vorgezogen werden. Außerdem schränkt der „hohe deutsche Wertschöpfungsanteil“ die Kreativität der Beschaffer ein. Aber die Entscheidung macht deutlich, dass Einschränkungen im Rüstungshaushalt als Folge von Corona nicht zu erwarten sind.

Dabei wäre die Rüstungsindustrie der letzte Bereich, der bedacht werden sollte, wenn es darum geht, die Binnenkonjunktur anzukurbeln. 2019 war für Deutschlands Rüstungsbranche ein Rekordjahr, mit genehmigten Exporten im Wert von über acht Mrd. Euro (BMWi 2020). Auch aktuell wird gemeldet, dass das Geschäft mit Krieg und Sterben in den Konfliktregionen dieser Welt nicht unter Auswirkungen der Corona-Pandemie leidet. Schon im ersten Quartal 2020 wurden durch die Bundesregierung mehr Rüstungsexporte genehmigt, als im gleichen Zeitraum 2019. Der Wert dieser Lieferungen zwischen Januar und März 2020 lag bei 1,16 Mrd. Euro und damit 45 Mio. Euro höher als im ersten Quartal des vergangenen Jahres (tagesschau.de 2020). Ende März, auf dem Höhepunkt der ersten Pandemiewelle in Deutschland, rieten Börsenexperten sogar ausdrücklich zum Kauf von Rüstungsaktien. „Die Rüstungsbranche gilt als krisensicher, denn Verteidigungsbudgets sind auf Jahre hinaus fest eingeplant“, hieß es beim Branchendienst Börse-Online (Peter 2020). Vor allem aufgrund der massiven Aufrüstung in den westlichen Staaten sei die Rüstungsbranche in der Krise nicht gefährdet.

Zusätzlich zu den Milliarden für Rüstungsprojekte sieht die Vereinbarung der Koalitionsparteien 500 Mio. Euro für ein »Zentrum für Digitalisierungs- und Technologieforschung der Bundeswehr« vor, um, wie es im Beschluss heißt, „die nationale Verfügbarkeit digitaler und technologischer Innovationen für öffentliche und private Bereiche zu verbessern und innovative und interdisziplinäre Forschung in einem sicheren Umfeld zu betreiben“ (Bundesministerium der Finanzen 2020a). Völlig unklar bleibt, warum bestehende Forschungseinrichtungen diese Aufgaben nicht übernehmen dürfen und warum ausgerechnet die Bundeswehr die Defizite angehen muss.

Daneben geht die ohnehin vorgesehene Aufrüstung weiter. Der »Eckwertebeschluss« der Regierung zum Bundeshaushalts 2021, beschlossen am 16. März 2020, also mitten in der Corona-Pandemie, bekräftigt, dass an der Rekordaufrüstung festgehalten werden soll: „Es besteht Einvernehmen innerhalb der Bundesregierung, dass bestimmte wesentliche Großvorhaben zum Schließen von Fähigkeitslücken […] finanziert werden […].“ Genannt wird eine ganze Palette von Rüstungsgroßprojekten: „Dies gilt insbesondere für Vorhaben im Rahmen der deutsch-französischen und deutsch-norwegischen Rüstungskooperationen, den Ersatz der Luftfahrzeuge des Typs EUROFIGHTER – Tranche 1, die Schließung der Fähigkeitslücke zur luftgestützten, signalerfassenden Aufklärung (PEGASUS), die Nachfolge des Kampfflugzeuges TORNADO, die Beschaffung von Marinebordhubschraubern auf Basis des Typs NH90, den Ersatz der veralteten Flottendienstboote, die Beschaffung von Luftfahrzeugen zur U-Boot-Abwehr sowie eines Taktischen Luftverteidigungssystems.“ (Bundesministerium der Finanzen 2020b)

Dass man an diesen Plänen festzuhalten gedenkt, zeigt der Beschluss über die Beschaffung neuer Kriegsschiffe MKS 180, die noch im Juni vertraglich vereinbart wurde (BMVg 2020). Die reinen Baukosten der vier Schiffe belaufen sich auf mehr als vier Mrd. Euro. Insgesamt sieht der Haushalt vor, sechs Mrd. Euro für „Überlegenheit im Seekrieg“ (Bundeswehr 2020) zu verpulvern.

Offensichtlich ist jedoch, dass die aktuelle Krise eine Umschichtung in den öffentlichen Haushalten erfordert. Die durch die Pandemie notwendig gewordene Kreditaufnahme wird die öffentlichen Haushalte über Jahre belasten. Sollen sie nicht durch Kürzungen bei den Sozialleistungen ausgeglichen werden, dann bietet es sich an, auf Militärausgaben zu verzichten. Die Bundeswehr hat in der Krise ja bereits unter Beweis gestellt, dass ihre Unterstützungsmöglichkeiten in keinem Verhältnis zu den Ausgaben stehen, die sie verschlingt. (Siehe dazu » Bundeswehr als Katastrophenschutz?« von Martin Kirsch auf S. 24.)

Der Beirat der Bundesregierung »Zivile Krisenprävention und Friedensförderung« (2020) resümiert: „Nicht-traditionelle Sicherheitsrisiken, wie Pandemien oder auch der Klimawandel, sind im Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und Zukunft der Bundeswehr und den Leitlinien der Bundesregierung »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen und Frieden fördern« aus 2017 benannt. Allerdings wurde ihre zentrale Bedeutung für den Schutz der Bevölkerung nicht ausreichend reflektiert und politische Entscheidungen für gesellschaftliche Resilienz wurden nicht getroffen.“

Das profitbasierte Gesundheitssystem

Ein falsches Verständnis von Sicherheit und die neoliberale Privatisierungsideologie haben dazu geführt, dass wir in der Corona-Krise eine Krise der Staatlichkeit, wie wir sie kennen, erleben. Die für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger entscheidende soziale Sicherheit, zu der ein leistungsfähiges, für alle zugängliches Gesundheitssystem gehört, das auch auf Krisen vorbereitet ist, wurde in den letzten Jahrzehnten vernachlässigt. Der Staat hat seine Aufgaben in der Krisenvorsorge zugunsten der ökonomischen Verwertbarkeit des Gesundheitswesens aufgegeben. Er hat die Kommunen kaputtgespart, die daraufhin den öffentlichen Gesundheitsdienst herunterfuhren. Er hat Krankenhäuser zu profitorientierten Unternehmen gemacht, angebliche Überkapazitäten abgebaut und das Pflegepersonal, die technischen Dienste und die Hygiene vernachlässigt. Wenn die Situation in den vergangenen Monaten in Deutschland einigermaßen erträglich geblieben ist, dann ist das nicht nur dem schnellen Lockdown zuzuschreiben, sondern auch den wohnortnahen Krankenhausbetten in der Fläche, deren Fortbestand durch den Widerstand der Bevölkerung und der Beschäftigten vor der Abschaffung aus Kostengründen gerettet wurden. Es hat auch damit zu tun, dass die Gewerkschaften schon in den Anfängen der Bundesrepublik mit beharrlichen Streiks die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erkämpft und später verteidigt haben und die Menschen bei uns somit nicht gezwungen sind, krank zur Arbeit zu gehen, wo sie viele andere Menschen anstecken könnten.

Dieser Widerstand konnte allerdings nicht verhindern, dass das Gesundheitssystem in der Bundesrepublik schlechter für die Pandemiebekämpfung aufgestellt ist, als es sein könnte. In den 20 Jahren zwischen 1991 und 2011 hat sich der Anteil der privaten Klinikkonzerne an den Kliniken in Deutschland von 14,8 % auf 33,2 % mehr als verdoppelt. Dabei ist die Zahl der Kliniken insgesamt von 2.411 (1991) auf 1.925 (2018) gesunken, die der Krankenhausbetten sank im gleichen Zeitraum von 665.565 auf 498.192 (Statistisches Bundesamt 2020). Im Pandemiefall gibt es also in Deutschland ein Viertel weniger Krankenhausbetten als 1991. Auch beim Klinikpersonal ging es bergab: Die Gewinnerwartungen der Aktionäre realisieren die Klinikkonzerne durch Rationalisierung und Stellenstreichungen. Das heißt für das Personal höherer Arbeitsdruck und schlechtere Bedingungen. In Deutschland betreut ein Beschäftigter im Schnitt 21 Patient*innen, in Dänemark zehn, in Norwegen neun und selbst in den USA acht. Die Versorgungsqualität in der Bundesrepublik ist also nicht so gut, wie sie bei angemessener Personalausstattung sein könnte. Das bedeutet, dass im Pandemiefall die knappen Personalressourcen früher erschöpft sind. Es liegt auf der Hand, dass Krankenhäuser, die nun mal zur öffentlichen Daseinsvorsorge dazugehören, in ausreichendem Maße vorgehalten und finanziert werden müssen.

Die globale Dimension der Krise

Die globale Dimension der Krise ist damit allerdings noch gar nicht angesprochen. Die Weltgesundheitsorganisation warnte schon im April davor, die Subsahara-Region könnte zu einem Epizentrum der Corona-Pandemie werden. Sie rechnete dort mit 300.000 Toten und 30 Mio. Hungernden (Schwarte 2020). Die Bundesregierung stellt in den Jahren 2020 und 2021 zwar jeweils 1,5 Mrd. Euro zusätzlich für humanitäre Hilfe zur Verfügung, es ist jedoch zu bezweifeln, ob das ausreichen wird.

Allein für die UN-Arbeit innerhalb Syriens gehen die Leiter der UN-Agenturen für humanitäre, Entwicklungs- und Flüchtlingsangelegenheiten von einem Bedarf von 3,8 Mrd. US$ aus und von weiteren sechs Mrd. für die Nachbarländer. Auch wenn diese Bedarfe nicht allein auf Corona zurückzuführen sind, so hat die Pandemie die Situation für die Menschen in der Region massiv verschärft: „Die COVID-19-Krise hat unmittelbare und verheerende Auswirkungen auf den Lebensunterhalt von Millionen syrischer Flüchtlinge und ihrer Gastgeber in der Region, sagte der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi. „Die Schwächsten in der Gesellschaft – darunter Millionen Flüchtlinge – haben ihr ohnehin unregelmäßiges und dürftiges Einkommen verloren.“ (UNHCR 2020)

Syrien ist aber nur ein Schlaglicht. Nach Angaben der Weltbank haben 3,4 Milliarden Menschen, fast die Hälfte der Weltbevölkerung, Schwierigkeiten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen (World Bank 2018). Diese Menschen sind in besonderem Maß durch die Pandemie bedroht, weil sie sich weniger schützen können, im Erkrankungsfall schlechter oder gar nicht behandelt werden und durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ihrer ohnehin prekären Erwerbsmöglichkeiten beraubt werden. Nach Angaben des World Food Programme könnte sich die Zahl der vom Hungertod Bedrohten weltweit aufgrund des Coronavirus bis Ende 2020 auf 265 Millionen Menschen verdoppeln (WFP 2020). Laut den Vereinten Nationen ist der Finanzbedarf zur Bekämpfung der Corona-Krise von März bis Juli von zwei Mrd. auf 10,3 Mrd. US$ gestiegen. Gerade einmal 1,64 Milliarden davon waren zu diesem Zeitpunkt eingetroffen. Und bei diesen Summen geht es nur um Bedarfe im Zusammenhang mit Corona. Der gesamte Bedarf im humanitären Bereich liegt bei 40,2 Mrd. US$ (UN OCHA 2020).

Es gibt also gute Gründe, die Budgets im Lichte der Corona-Erfahrung zu überprüfen. „Rüstung bietet uns kaum Schutz vor Gesundheits- und Umweltgefahren. Eine weitere Stärkung unseres militärischen Arsenals wird der dringend benötigten internationalen Zusammenarbeit, der Vertrauensbildung und der Diplomatie nicht helfen, sondern eher Angst und Misstrauen nähren, mit anderen Worten, den Weg für mögliche Kriege ebnen, die aus ungelösten Herausforderungen resultieren“, sagt Jordi Calvo, Koordinator der Kampagne zu den weltweiten Militärausgaben des International Peace Bureau (IPB 2020).

Ein Aufruf von mehr als 200 Politikerinnen sowie zivilgesellschaftlich und kirchlich organisierten Frauen aus 40 Ländern rückt angesichts dieser Probleme die menschliche Sicherheit ins Zentrum: „Die COVID-19 Pandemie hat zweifellos bewiesen, dass Schlüsselbereiche der menschlichen Sicherheit nicht durch militärische Mittel oder im Alleingang von Nationen gelöst werden können, sondern weltweite Zusammenarbeit und gewaltfreie Konfliktlösung benötigen.“ (PNND 2020)

Es wäre zu begrüßen, wenn es in der Aufarbeitung der Corona-Pandemie gelänge, die Defizite eines militärisch verkürzten Sicherheitsverständnisses herauszuarbeiten. Die bestimmenden Krisen unserer Zeit, neben Pandemien der Klimawandel und die Armut, sind mit militärischen Mitteln nicht zu bearbeiten. Im Gegenteil, Militär und Kriege sind verantwortlich für gigantische Umweltschäden und sie tragen direkt oder indirekt zu Armut bei. Ein Verständnis von menschlicher Sicherheit würde helfen, sich auf die Bedürfnisse von Individuen zu konzentrieren.

In einer Welt, in der die Grundbedürfnisse von Milliarden Menschen nicht befriedigt werden und die Mittel für die angemessene Reaktion auf eine Virus­pandemie fehlen, sind die gigantischen Rüstungsausgaben eine obszöne Geld­verschwendung.

Literatur

Beirat der Bundesregierung Zivile Krisenprävention und Friedensförderung (2020): Die Covid-19-Pandemie und ihre Folgen – ­Herausforderung für Krisenprävention und Friedensförderung. Stellungnahme, 10.6.2020; konfliktbearbeitung.net.

Bundesministerium der Finanzen (2020a): Corona-Folgen bekämpfen, Wohlstand sichern, Zukunftsfähigkeit stärken – Ergebnis Koalitionsausschuss 3.Juni 2020.

Bundesministerium der Finanzen (2020b): Eckwertebeschluss der Bundesregierung zum Regierungsentwurf des Bundeshaushalts 2021 und zum Finanzplan 2020 bis 2024. März 2020.

Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) (2020): Vertrag zum Bau der MKS 180 unterzeichnet. bmvg.de, 19.6.2020.

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (2020): Rüstungsexportbericht 2019 – Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung im Jahr 2019. Pressemitteilung vom 17.6.2020.

Bundeswehr (2020): Erklärstück-Update – Das Mehrzweckkampfschiff 180. 19.6.2020; ­bundeswehr.de.

International Peace Bureau (IPB) (2020): Fund Peace, Not Arms Dealers. GCOMS/ENAAT Press Release, 8.5.2020.

Nassauer O. (2020): Weniger Sprengkraft, aber mehr Risiko – Kleine Atomsprengköpfe auf großen U-Boot-Raketen. W&F 2-2020, S. 43-46.

Parliamentarians for Nuclear Non-Proliferation and Disarmament et al. (PNND) (2020): Menschliche Sicherheit für das Gesundheitswesen, Frieden und nachhaltige Entwicklung – Ein weltweiter Appel von Frauen zur Feier des Internationalen Frauentags für Frieden und Abrüstung (24. Mai) und dem 75. Jahrestag der Vereinten Nationen. 12.5.2020.

Peter, D. (2020): Rüstung – Globale Ausgaben steigen, das sind die Profiteure. boerse-online.de, 25.3.2020.

Schwarte, G. (2020): Corona-Folgen in Afrika Müller warnt vor „Hunger-Pandemie“. 28.4.2020, tagesschau.de.

Statistisches Bundesamt (2020): Krankenhäuser – Einrichtungen, Betten und Patientenbewegung. 19.6.2020, destatis.de.

tagesschau.de (2020): Rüstungsexporte – Deutsche Waffen sind gefragt. 9.4.2020.

UN High Commissioner for Refugees/UNHCR (2020): UN chiefs urge sustained support to Syrians and the region ahead of fourth Brussels conference. Press Release, 29 June 2020.

United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UN OCHA) (2020): Global Humanitarian Response Plan – Covid-19. GHRP July Update, 16.7.2020.

World Bank (2018): Nearly Half the World Lives on Less than $5.50 a Day. Press Release, 17.10.2018.

World Food Programme (WFP) (2020): WFP-Chef warnt vor Hungerpandemie wegen COVID-19 (Erklärung vor dem UN-Sicherheitsrat). 21.4.2020.

Kathrin Vogler, MdB, ist friedenspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und Obfrau im Unterausschuss Zivile Krisenprävention.

The Responsibility to be Responsible

The Responsibility to be Responsible

Über Außenpolitik und Verantwortung

von Hanna Pfeifer und Kilian Spandler

„Im Jahr 2014 scheint unsere Welt aus den Fugen geraten“, resümierte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (2014c) jüngst die globalen Konflikte und Krisen, mit denen sich die Weltgemeinschaft konfrontiert sieht. Angesichts der sich wandelnden Herausforderungen, so argumentieren derzeit viele Spitzenpolitikerinnen,1 müsse die deutsche Außenpolitik ihre Rolle in der Welt überdenken. Spätestens seit der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2014 ist das Thema aus der öffentlichen Debatte nicht mehr wegzudenken. Die Bundesregierung scheint dabei mit der Tradition brechen zu wollen, Außenpolitik als Elitenprojekt zu begreifen: Zu Beginn des Jahres stieß das Auswärtige Amt die Initiative »Review 2014 – Außenpolitik Weiter Denken« an. Hier sollen deutsche und internationale Vertreter aus Diplomatie, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu Wort kommen, um ihre Visionen für Ziele und Mittel der deutschen Außenpolitik zu diskutieren und in den Willensbildungsprozess einzubringen. Der nachfolgende Beitrag basiert auf einer kritischen Auseinandersetzung mit den Forderungen nach einer neuen deutschen Rolle, die im Rahmen dieses Projektes veröffentlicht wurde (Spandler/Pfeifer 2014).

Als Fluchtpunkt der aktuellen Debatte um die deutsche Außenpolitik kristallisiert sich immer stärker der Begriff der Verantwortung heraus. Das gilt für die Beiträge des Review-Projekts (Review 2014) ebenso wie für die Spitzenvertreterinnen aus der Politik. „Ich habe das Gefühl, dass unser Land eine Zurückhaltung, die in vergangenen Jahrzehnten geboten war, vielleicht ablegen sollte zugunsten einer größeren Wahrnehmung von Verantwortung“, schrieb etwa Bundespräsident Joachim Gauck der Bundesregierung ins Stammbuch (Gauck 2014). Auch der Außenminister gab zu bedenken, Deutschland trage „Verantwortung für [sein] Nicht-Handeln genauso wie für [sein] Handeln“ (Steinmeier 2014d) und müsse daher „bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller einzubringen“ (Steinmeier 2014a). Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen schließlich gab zu Protokoll: „Wenn wir über die Mittel und Fähigkeiten verfügen, dann haben wir auch eine Verantwortung, uns zu engagieren.“ (von der Leyen 2014a)

Die Proliferation des Verantwortungsbegriffs im Kontext der deutschen Außenpolitik lässt aufhorchen, sind doch klassische Kategorien dieses Diskurses eher Interessen und deren Durchsetzung oder Werte und deren Erhalt. Auffällig ist zudem, dass der neue Verantwortungsbegriff merkwürdig inhaltsleer bleibt, weshalb es gerechtfertigt erscheint, ihn als „Nebelkerze“ zu bezeichnen, wie es einer der Review-Kommentatoren tat. Arvid Bell (2014) wies zu Recht darauf hin, dass Verantwortung je nach Kontext „von mehr Engagement zur friedlichen Lösung internationaler Konflikte über mehr Einsatz für ein vereintes Europa bis hin zu mehr Bereitschaft zu Militäreinsätzen“ nahezu alles bedeuten könne. Der Begriff der Verantwortung suggeriert damit Eindeutigkeit, wo es eigentlich kontrovers zugehen sollte. Was also bleibt, wenn der Nebel sich lichtet?

Die Logik der neuen deutschen Verantwortung

Die momentane Debatte um die neue deutsche Verantwortung lässt sich als Reaktion auf ein bereits seit einigen Jahren spürbares Spannungsfeld deutscher Außenpolitik deuten. Die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Zeit unmittelbar nach Ende des Kalten Krieges standen noch relativ deutlich unter dem Diktum deutscher Zurückhaltung, das auch im Rollenmodell der so genannten Zivilmacht2 seinen Ausdruck fand. Schon seit einigen Jahren werden aber Stimmen lauter, die ein gesteigertes Engagements fordern. In diesem Kontext drängen neue – oder vielmehr: neu bemühte – Logiken in den politischen Diskurs: Es findet eine Geopolitisierung und eine Moralisierung der deutschen Außenpolitik statt.

Geopolitisierung

Der geopolitische Aspekt der Debatte zeigt sich vor allem in der Begründung, warum gerade Deutschland mehr Verantwortung übernehmen solle. Diese Argumente werden einerseits von den westlichen Partnern an die deutsche Außenpolitik herangetragen, tauchen andererseits aber auch im innerdeutschen Diskurs immer wieder auf. Verwiesen wird hier auf die Position Deutschlands als größter Staat in der Mitte Europas und auf seine wirtschaftliche Stärke. Beides mache ein gesteigertes Engagement unentbehrlich. So argumentierte Außenminister Steinmeier zum Auftakt des Review-Prozesses: „Deutschland ist ein bisschen zu groß und wirtschaftlich zu stark, als dass wir die Weltpolitik nur von der Seitenlinie kommentieren könnten.“ (2014b; ähnlich Gauck 2014 und von der Leyen 2014a)

Diesen Äußerungen liegt die implizite Annahme zugrunde, dass sich die internationale Rolle und damit die außenpolitischen Leitlinien eines Staates aus scheinbar objektiven Faktoren wie seiner geographischen Verortung, der Bevölkerungszahl und der Wirtschaftskraft ableiten lassen. Je gewichtiger diese Determinanten, desto mehr liege das Auftreten als Ordnungs- und Gestaltungsmacht im natürlichen Interesse des Landes – sei es um ein Machtvakuum zu verhindern oder um den Zugang zu Märkten und Ressourcen zu sichern. Aus dieser Perspektive konstituiert sich internationale Politik in erster Linie als Konkurrenz um Einflusssphären.

Dass dieses Paradigma nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa an Bedeutung gewinnt, zeigt sich im Ukrainekonflikt. Was als innerstaatlicher, soziopolitischer Konflikt begann, eskalierte auf Grundlage der geopolitischen Logik in ein Tauziehen um die Hegemonie über ein strategisch zentrales Territorium zwischen Ost und West. Beide Parteien werfen sich dabei vor, sie operierten unter den Vorzeichen eines neuen Kalten Krieges. Auch die europäischen Staaten trifft dieser Vorwurf nicht zu unrecht. Russland sieht sich durch die Osterweiterung der NATO und die Östliche Partnerschaft der EU mit expansiven Ordnungsbestrebungen des Westens konfrontiert. Die Ukraine-Krise ist nicht so sehr Ursache als vielmehr Folge des neuerlichen Aufkeimens des geopolitischen Denkens in Europa. Die Verantwortungsrhetorik verschleiert jedoch den Blick auf solche Zusammenhänge, indem sie das Denken in Einflusssphären zunehmend als Bestandteil einer »normalisierten« deutschen Außenpolitik begreift.

Moralisierung

Die moralisierende Dimension der Debatte wird bei der Frage unverkennbar, für wen und für was die deutsche Außenpolitik Verantwortung trage. Hier wird mit dem Argument moralischer Notwendigkeit operiert, was sich exemplarisch an den Waffenlieferungen an die Peschmerga im Irak zeigt. Mit dieser Entscheidung brach die deutsche Außenpolitik mit einem Jahrzehnte währenden Prinzip: dem selbst auferlegten Verbot, Waffen in Krisengebiete zu liefern.

Unabhängig von der Frage, ob es gute Gründe für die Waffenlieferungen gibt, ist dieser Schritt bemerkenswert. Zwar gab es auch zuvor umstrittene Entscheidungen in diesem Feld – man denke etwa an Waffenlieferungen in Länder der arabischen Halbinsel und des Nahen Ostens. Eine Waffenlieferung mit dem dezidierten Ziel, eine Konfliktpartei offener Kampfhandlungen zu unterstützen, ist allerdings ein Novum. Legitimiert wurde die grundlegende Kehrtwende, indem die Waffenlieferungen an die Kurden als alternativloses moralisches Gebot konstruiert wurden. Die Verteidigungsministerin formulierte dies in einem hypothetischen Imperativ: „Wenn sich ein Völkermord nur mit deutschen Waffen verhindern lässt, dann müssen wir helfen.“ (von der Leyen 2014b) Kanzlerin Angela Merkel gar stellte alle Kritiker der Entscheidung auf die falsche Seite der Geschichte, als sie erklärte: „[Wir] haben ja nur zwei Möglichkeiten: Wir liefern jetzt etwas und tragen dazu bei, dass diesem Treiben dieser Terrormilizen ein Ende gesetzt wird und verhindern damit einen Genozid oder mehrere Genozide; oder aber wir sagen, das Risiko ist uns zu groß. […] Und sich da einfach abseits zu stellen, das war für uns […] keine Option.“ (Merkel 2014)

Wer sich den Forderungen nach einem deutschen Eingreifen widersetzt, macht sich aus dieser Sicht mitschuldig am Völkermord.

Kritik der neuen deutschen Verantwortung

Diese -alten -neuen Gedanken lösen das etablierte außenpolitische Leitbild Deutschlands nicht grundsätzlich ab. Das wird deutlich, wenn mit Hanns W. Maull einer der Väter des Zivilmachtskonzepts schreibt: „[M]ilitärische Instrumente der Außenpolitik [werden] wohl auch in Zukunft immer wieder durch Friedenseinsätze, militärische Beiträge zum Staatsaufbau oder durch militärische Erzwingungsmaßnahmen Beiträge zu einer Zivilisierung der internationalen Beziehungen leisten müssen. Deutschland kann und darf sich seiner Verantwortung in diesem Zusammenhang nicht entziehen.“ (Maull 2014)

Im Diskurs der neuen deutschen Verantwortung wird der Zivilmachtidentität also ein Konzept zur Seite gestellt, das alternative Legitimationsmuster für außenpolitisches Handeln ermöglicht und damit dessen Handlungsspielraum erweitert. Nun ist die Bereitschaft der Entscheidungsträgerinnen, ihr Handeln im öffentlichen Diskurs anhand bestimmter Leitprinzipien zu begründen und zu rechtfertigen, an sich begrüßenswert. Problematisch sind allerdings zwei Effekte des verantwortungszentrierten Diskurses.

Entpolitisierung

Zum einen leistet der Diskurs einer Entpolitisierung der außenpolitischen Debatte Vorschub. Der rhetorische Bezug auf quasi-objektive Determinanten und moralische Notwendigkeiten erzeugt eine äußerst wirksame Metaphorik der Unausweichlichkeit, die nur schwer hinterfragt werden kann (man denke an die vermeintliche Alternativlosigkeit der Krisenpolitik in der Eurozone): Deutschland habe angesichts der Realitäten keine Wahl, als in den Krisenregionen dieser Welt Verantwortung für die großen liberalen Errungenschaften wie Menschenrechte, Freiheit oder Demokratie zu übernehmen. Bisweilen mischt sich hier das nationale Narrativ der Befreiung, Befriedung und Läuterung Deutschlands mit dem pastoral-moralischen Imperativ, diese Werte mit allen Mitteln zu verteidigen. So fordert Bundespräsident Gauck:

„Für mich, für uns, für alle Nachgeborenen in Deutschland, erwächst aus der Schuld von gestern eine ganz besondere Verantwortung für heute und morgen. […] Lassen Sie uns also nicht die Augen verschließen, vor Bedrohungen nicht fliehen, sondern standhalten, universelle Werte weder vergessen noch verlassen oder gar verraten, sondern gemeinsam mit Freunden und Partnern zu ihnen stehen, sie glaubwürdig vorleben und sie verteidigen.“ (Gauck 2014)

Wie schon der US-amerikanische Neokonservatismus basiert dieser „Gauckismus“ (Spandler/Pfeifer 2014) auf der mehr oder weniger stark religiös eingefärbten Annahme einer »mission civilisatrice«, die den aufgeklärten und fähigen Staaten eine Pflicht zur Ordnung einer chaotischen Welt auferlegt – auch wenn sich der konkrete Auftrag dieser Mission in der deutschen Variante gemäßigter ausnimmt als die maximalinvasiven Regime-Change-Phantasien der Neocons. Wer in dieser Argumentationsatmosphäre angesichts der Exzesse anderer westlicher Länder im Namen der Sicherheitspolitik vor bedingungsloser Unterstützung des liberalen Interventionismus warnt, wird schnell als Trittbrettfahrer der ordnungspolitischen Anstrengungen der Partnerländer oder als amoralische Zynikerin diffamiert.

Der Gauckismus verortet den Entscheidungshorizont der Außenpolitik in einem vorpolitischen Raum reiner Moral, sodass jedem Widerspruch der Ruch der Amoralität anhaftet. Entsprechend kann Widerspruch nur unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck erfolgen, denn wer möchte schon als verantwortungslos erscheinen, weil er ein verstärktes internationales Engagement der Bundesrepublik ablehnt? Konsequent wird in diesem Zusammenhang überdies ausgeblendet, dass die Forderungen anderer westlicher Staaten nach mehr »burden sharing« nicht etwa Appelle der Weltgemeinschaft als höchster moralischer Instanz an das deutsche Gewissen, sondern Formulierungen nationaler, überwiegend geopolitisch definierter Interessen sind.

Ganz konkret zeigt sich die entpolitisierende Wirkung eines solchen Außenpolitikverständnisses in der schleichenden Einflussverschiebung weg von der Legislative hin zur Exekutive. Die Waffenlieferungen an die Kurden etwa durften vom Bundestag nur noch abgenickt werden. Besonders alarmierend sind Forderungen nach einer „Flexibilisierung“ des Parlamentsvorbehalts bei Militäreinsätzen, wie sie die Stiftung Wissenschaft und Politik und der German Marshall Fund im Papier »Neue Macht – neue Verantwortung« vorschlagen, an dem auch der Planungsstab des Auswärtigen Amtes beteiligt war (SWP/GMF 2013, S.44). Dass die Außen- und Sicherheitspolitik kein Elitengeschäft sein darf, sondern in der Mitte der Gesellschaft ankommen müsse (siehe z.B. Gauck 2014), erscheint vor diesem Hintergrund wie ein Lippenbekenntnis oder ein Versuch zur Ex-post-Legitimierung bereits gefasster Beschlüsse.

Simplifizierung

Die Entpolitisierung ist nicht nur demokratietheoretisch beunruhigend, sie verschärft gleichzeitig einen zweiten bedenklichen Zug der Debatte, nämlich ihre Tendenz, die Orientierung deutscher Außenpolitik auf simple Dichotomien wie »Ordnung« versus »Bedrohung« zu verengen. Verantwortung gilt in diesem Sinne immer der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. Die Politik gibt dadurch den Anspruch auf, die Bedingungen und Folgen jener Ordnung zu reflektieren und zumindest gedanklich zu transzendieren. Insofern überrascht es nicht, dass die deutsche Außenpolitik zunehmend wie eine Getriebene immer neuer Krisen wirkt. Dass die Grundlagen der bestehenden internationalen Ordnung möglicherweise die Bedingungen für ihre Destabilisierung schaffen – etwa durch ökonomische Ungleichheit, ökologischen Raubbau und die Aushöhlung lokaler soziopolitischer Strukturen durch fehlgeleiteten Interventionismus -, diese Überlegung ist zu viel der Dialektik für das Weltbild der neuen deutschen Verantwortung.

Vielmehr sehen dessen Verfechter Deutschland auf der Seite des Guten im Kampf gegen das Böse. Wie schnell eine solche Zweiteilung an ihre Grenzen stößt, zeigen die Krisenherde des Nahen Ostens. Ohne Zweifel fordern die Gräueltaten des Islamischen Staates (IS) das moralische Gewissen der Menschheit heraus. Doch zugleich zeigt sich schon bei oberflächlicher Betrachtung, dass die Bedingungen für den Aufstieg der Fundamentalisten auch in der kurzsichtigen Strategie des Westens liegen, der sich in der Region je nach politischer Großwetterlage stets mit neuen Feinden und Partnern konfrontiert sieht. In seinem Vormarsch profitiert der IS von den schwachen staatlichen Strukturen und der sektiererischen Politik, die deutsche Bündnispartner nach ihrer Intervention im Irak hinterließen, ebenso wie von mutmaßlichen Spenden aus den autokratischen Ölstaaten der arabischen Halbinsel, mit denen der Westen strategische Beziehungen unterhält. Dass die Antiterror-Koalition in dieser Situation auf die Duldung von Luftschlägen durch das Assad-Regime angewiesen ist, dass die Möglichkeit einer westlichen Kooperation mit dem ehemals zur Achse des Bösen zählenden Iran im Raum steht, dass die türkische Regierung einerseits die Operationen des Westens unterstützt, andererseits deren Hauptpartner im Irak, die kurdischen Peschmerga, als Bedrohung für die eigene territoriale Integrität empfindet und klein zu halten versucht – das alles verdeutlicht nur einmal mehr, wie wenig hilfreich ein Schwarz-Weiß-Denken in der globalen Politik ist. Wo auch immer die politische Komplexität sich der simplen Ordnung des Verantwortungsdiskurses entzieht, droht nicht nur eine kurzsichtige Politik, sondern diese wird aufgrund der Widersprüche zu ihren normativen Prinzipien auch auf ernsthafte Legitimationsprobleme zu Hause und in der Welt stoßen.

Alternativen zur neuen deutschen Verantwortung

Wie lassen sich diese negativen Diskurseffekte verhindern? Von zentraler Bedeutung muss das Bestreben sein, den Diskurs um die deutsche Rolle in der Welt zu repolitisieren und zu pluralisieren. Außenpolitik muss (wieder) als Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen Identitäten, normativen Vorstellungen und Interessen verstanden werden, nicht als von geopolitischen Realitäten vorgezeichnetes Schachbrett. Politik machen bedeutet streiten, argumentieren und Widersprüche aushalten. Dies bewusst zu machen ist freilich eine Mammutaufgabe, sodass an dieser Stelle nur drei Ansätze zu ihrer Umsetzung aufgezeigt werden können.

Erstens ist es notwendig, die blinden Flecken der derzeitigen Debatte offenzulegen. Die Förderung eines über den krisenhaften Moment hinausgehenden historischen Bewusstseins kann helfen, die Risiken und Paradoxien einer geopolitischen Doktrin hervorzuheben. So rückt im Hinblick auf die Krisenherde des Nahen Ostens der Verweis auf die lange Geschichte westlicher Verstrickungen das Eskalationspotential von Waffenlieferungen ins rechte Licht. Und in Bezug auf den Ukraine-Konflikt lässt sich anhand des KSZE-Prozesses das deeskalierende Potential eines institutionellen Rahmens aufzeigen, der Sicherheit nicht als Nullsummenspiel, sondern als Kollektivgut begreift (Hauswedell 2014).

Zweitens müssen die Verfechterinnen der Verantwortungsrhetorik dazu gedrängt werden, implizite Annahmen über deutsche Interessen offenzulegen und sich klar über ihre langfristigen Ordnungsvorstellungen und deren normative Implikationen zu äußern. Für was für eine Welt soll sich deutsche Politik einsetzen? Wer soll daran wie teilhaben können? Wie soll der fundamentale Zielkonflikt zwischen Ordnung und Gerechtigkeit vermittelt werden? Gerade die Tatsache, dass solche Annahmen und Ziele in der derzeitigen Debatte meist unausgesprochen bleiben, konfligierende Verpflichtungen und Visionen als konsistent dargestellt und Widersprüche in den eigenen Interessen und Werten verschleiert werden, erschwert derzeit eine fundierte politische Auseinandersetzung.

Schließlich müssen drittens alternative Ordnungs- und Rollenkonzepte aufgezeigt und beworben werden. Eine kritische Revitalisierung des Zivilmachtskonzepts wäre eine Möglichkeit, wobei insbesondere Fragen nach der Tragfähigkeit bestehender multilateraler Institutionen, der Demokratisierung der internationalen Ordnung und der Ausrichtung auf Prinzipien der Nachhaltigkeit zu klären wäre. Darüber hinaus bietet die Wissenschaft eine Vielzahl an weiteren analytischen Blickwinkeln und normativen Leitbildern, die den Diskurs über die deutsche Außenpolitik bereichern könnten.

Eine solche Öffnung des Diskurses für unterschiedlichste Verständnisse von der und Visionen für die Weltordnung ist dringend notwendig, um Außenpolitik zu betreiben. Andernfalls drohen die wohlklingenden Bekenntnisse zu einer neuen deutschen Verantwortung in monologischer Selbstreferenzialität zu versinken.

Anmerkungen

1) In diesem Beitrag verwenden wir aus Platzgründen jeweils entweder die männliche oder die weibliche Form; die jeweils andere ist dabei mitgemeint.

2) Für ein Überblicksmodell der Zivilmacht siehe Pfeifer (2012, S.23),orientiert v.a. an Maull (1999, S.4; 2007, S.75-77).

Literatur

Arvid Bell (2014): Die Nebelkerze der »internationalen Verantwortung«. Ein Schlagwort, drei Lesarten. review2014.de, 4.6.2014 .

Joachim Gauck (2014): Deutschlands Rolle in der Welt: Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen – Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz. 31.1.2014.

Corinna Hauswedell (2014): Reflektierte Verantwortung für Friedensentwicklung! Gegen eine reflexhafte Sicherheitslogik. review2014.de, 23.6.2014.

Hanns W. Maull (1999): Germany and the Use of Force. Still a »Civilian Power«? Paper prepared for the Workshop on Force, Order and Global Governance – An Assessment of the U.S., German and Japanese Approaches. Universität Trier, Trierer Arbeitspapiere zur Internationalen Politik No. 2, S.1-35.

Hanns W. Maull (2007): Deutschland als Zivilmacht. In: Siegmar Schmidt, Gunther Hellmann, Reinhard Wolf (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Außenpolitik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.73-84.

Hanns W. Maull (2014): Deutschlands außenpolitische Kontinuität ist richtig. Die Außenpolitik fliegt auf Autopilot, die Piloten bewältigen Turbulenzen. review2014.de, 2.7.2014.

Angela Merkel (2014): „Man muss miteinander sprechen“. Interview in der ARD, 24.8.2014.

Hanna Pfeifer (2012): Dilemmata wertegebundener Außenpolitik am Beispiel der deutsch-israelischen Beziehungen. Eine Betrachtung des Gazakrieges. Ludwig-Maximilan-Universität München, Münchner Beiträge zur Politikwissenschaft No. 11, S.1-150.

Review 2014: Außenpolitik Weiter Denken. review2014.de.

Kilian Spandler und Hanna Pfeifer (2014): Komplexität aufbauen statt abbauen. Wider eine Politik der neuen deutschen Verantwortung. Beitrag zum »Review 2014«-Essaywettbewerb. review2014.de, 7.10.2014.

Frank-Walter Steinmeier (2014a): Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich der 50. Münchner Sicherheitskonferenz. 1.2.2014.

Frank-Walter Steinmeier (2014b): Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Eröffnung der Konferenz »Review 2014 – Außenpolitik Weiter Denken« am 20. Mai 2014 in Berlin.

Frank-Walter Steinmeier (2014c): Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei der 69. Generalversammlung der Vereinten Nationen. 27.9.2014.

Frank-Walter Steinmeier (2014d): Schlussrede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Konferenz »Review 2014 – Außenpolitik Weiter Denken«, 20.5.2014.

Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und German Marshall Fund of the United States (GMF) (2013): Neue Macht, neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch.

Ursula von der Leyen (2014a): Rede der Bundesministerin der Verteidigung, Dr. Ursula von der Leyen anlässlich der 50. Münchner Sicherheitskonferenz München. 31.1.2014.

Ursula von der Leyen (2014b): „Weltgemeinschaft muss Flüchtlingen helfen“. Interview in der Bildzeitung, 15.8.2014.

Hanna Pfeifer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Universität Magdeburg sowie Vorstandsmitglied und Regionalleiterin Nahost und Nordafrika bei IFAIR – Young Initiative on Foreign Affairs and International Relations e.V. Kilian Spandler ist Lehrbeauftragter und Doktorand an der Universität Tübingen sowie Stellvertretender Regionalleiter Süd- und Ostasien bei IFAIR – Young Initiative on Foreign Affairs and International Relations e.V.

In wessen Namen?

In wessen Namen?

Ein kritischer Blick auf die »Schutzverantwortung«

von Lou Pingeot und Wolfgang Obenland

Alleine während der vergangenen zwölf Monate kam es zu vielfachem Eingreifen auswärtiger Mächte in Konflikte in formal souveränen Ländern: im Südsudan, in Zentralafrika, in Mali, in der Ukraine und anderswo. Diese sehr unterschiedlichen Eingriffe in sehr unterschiedliche Konfliktsituationen werden naturgemäß sehr unterschiedlich bewertet: als Unterstützung in einer Krisensituation, als Prävention in einem sich abzeichnenden Völkermord oder als aggressive Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates. Wann und wie aber internationales Eingreifen gerechtfertigt oder gar geboten erscheint, darüber findet spätestens seit dem Ende der 1990er Jahre eine kontroverse Diskussion unter dem Schlagwort »Schutzverantwortung« statt.

In den 1990er Jahren war die Welt mit einer Reihe bewaffneter und sehr gewalttätiger Konflikte konfrontiert, die sich nicht in das herkömmliche Schema zwischenstaatlicher Kriege einordnen ließen. Aus den unterschiedlichsten Gründen und in sehr verschiedenen geographischen Zusammenhängen eskalierten Konflikte innerhalb von Staaten und riefen Reaktionen der »internationalen Gemeinschaft« hervor – aber in sehr unterschiedlichem Ausmaß.

Die bewaffneten Auseinandersetzungen in Somalia, Ruanda, Bosnien oder dem Kosovo führten zu hitzigen Debatten darüber, wie die internationale Gemeinschaft auf interne Konflikte in formal souveränen Staaten reagieren sollte. In den genannten Beispielen hatte sie mit Mandaten des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (United Nations, UN) mit wechselnden Resultaten interveniert, ohne ein solches Mandat eingegriffen oder gar nicht reagiert. Angesichts dieser gemischten Bilanz begann eine Reihe von Wissenschaftler_innen und Politiker_innen, sich für eine neue Doktrin internationaler Verantwortung einzusetzen, die Interventionen in souveräne Staaten durch die UN oder andere Staatengruppen rechtfertigen und kodifizieren sollte. In einer Rede argumentierte UN-Generalsekretär Kofi Annan 1998, das Prinzip der Souveränität könne übergangen werden, wo es der Pflicht des Sicherheitsrats entgegenstünde, Frieden und Sicherheit zu bewahren. Die Charta der UN sei nie dafür gedacht gewesen, Menschenrechte und menschliche Würde mit Füßen zu treten. Das Souveränitätsprinzip beinhalte Verantwortung, nicht nur Macht.1

Viele Regierungen aus dem globalen Süden standen dieser Idee misstrauisch gegenüber; sie drückten Bedenken aus, solche Begründungen könnten dazu führen, dass interne Auseinandersetzungen zur Rechtfertigung für interessengeleitete Eingriffe anderer Mächte dienen. Sie erinnerten daran, wie westliche Staaten unter dem Vorwand humanitärer Interventionen in der Vergangenheit ihre Kolonialreiche ausgebaut hatten.

Kofi Annan war sich dieser Bedenken bewusst und drängte die Regierungen zu einem Konsens darüber, wann und wie Interventionen autorisiert werden sollten. Als Antwort auf dieses Drängen richtete die Regierung Kanadas mit Unterstützung einiger finanzkräftiger US-Stiftungen im Jahr 2000 die »Internationale Kommission zu Intervention und staatlicher Souveränität« (International Commission on Intervention and State Sovereignty, ICISS) ein.

Die Kommission war prominent besetzt mit Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Militär und Zivilgesellschaft: Vorsitzende waren Gareth Evans, ehemaliger Außenminister Australiens, und Mohamed Sahnoun, Sonderberater des UN-Generalsekretärs und ehemaliger Sonderbeauftragter für Somalia und die Region der Großen Seen in Afrika. Das umstrittene Konzept »humanitärer Intervention« umgehend, führte die ICISS das Konzept der »Schutzverantwortung« (Responsibility to Protect, R2P) ein. Es beinhaltet im Wesentlichen drei Elemente:

1. einen Wandel im Verständnis von Souveränität als Recht von Staaten auf territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit hin zu einer Verpflichtung, die eigene Bevölkerung vor schwersten Menschenrechtsverletzungen zu schützen;

2. die Verantwortung der Staatengemeinschaft, dort zu intervenieren, wo Regierungen nicht willens oder in der Lage sind, diesen Schutz bereitzustellen; damit wird das Unterlassen, nicht die Durchführung von Interventionen begründungspflichtig;

3. die Betonung der multilateralen Natur dieser Pflicht: nicht einzelne Staaten, sondern nur Bündnisse sollten diese Verantwortung wahrnehmen können.

Diese Aspekte wurden im Bericht der ICISS in drei Konzepte heruntergebrochen: die Verantwortung zur Vorsorge (Responsibility to Prevent), die Verantwortung zur Reaktion (Responsibility to React) sowie die Verantwortung zum Wiederaufbau (Responsibility to Rebuild). Diese Konzepte wurden als Antwort auf die Frage formuliert, „wann, falls überhaupt es für Staaten angemessen ist, gegenüber einem anderen Staat Zwangsmittel – und zwar militärische – einzusetzen, um gefährdete Menschen in diesem anderen Staat zu schützen“.2

Obwohl die ICISS also betonte, dass die Schutzverantwortung auch eine Verantwortung zur Prävention und zum Wiederaufbau beinhaltet, liegt der sehr deutliche Fokus auf der »Reaktionskomponente« – oder genauer, auf deren militärischer Ausgestaltung. Es werden insgesamt sechs Kriterien vorgeschlagen, die erfüllt sein sollen, um militärische Interventionen legitim durchführen zu können:

  • die richtige Autorisierung,
  • ein gerechtfertigter Grund,
  • die rechte Absicht,
  • militärische Intervention als Ultima Ratio,
  • die Proportionalität des Vorgehens und
  • vernünftige Erfolgsaussichten.

Obwohl die ICISS den UN-Sicherheitsrat als höchste Legitimität spendende Autorität für solche Interventionen ansieht, schließt sie die Möglichkeit einer Autorisierung durch regionale Organisationen oder willige Mächte ausdrücklich nicht aus. Als Fälle, in denen die Verantwortung der Staatengemeinschaft greifen soll, werden solche bezeichnet, die »das Gewissen erschüttern«. Im Einzelnen werden darunter schwerste Verbrechen, wie Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, gefasst, aber auch Fälle, in denen Regierungen bei Naturkatastrophen nicht willens oder in der Lage sind, zu helfen.

Bei der Bewertung der Vorschläge der ICISS ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass die ihrer Arbeit zu Grunde liegende Frage nicht war, wie humanitäre Katastrophen zu vermeiden oder wie Konflikte zu lösen seien. Vielmehr stellte sich die Kommission explizit die Frage: „Welche Bedingungen müssen gegeben sein, um militärische Interventionen im Fall grober Menschenrechtsverletzungen zu legitimieren?“ Wie wir zeigen werden, hat diese Fragestellung die Diskussionen über die »Schutzverantwortung« für Jahre bestimmt.

Nach der Veröffentlichung des ICISS-Berichts 2001 und umfangreichen Bemühungen seiner Unterstützer_innen nahm R2P schnell seinen Weg durch die Instanzen der UN. Das Abschlussdokument des Weltgipfels von 2005 beinhaltet in drei knappen Paragraphen das Konzept, allerdings in stark eingeschränkter und modifizierter Form. So wurde die Verpflichtung zur Intervention hier nur noch zur »Bereitschaft«, die uneingeschränkte Autorität des Sicherheitsrats wurde nicht angetastet und Fälle, in denen Interventionen gerechtfertigt werden, wurden auf die völkerrechtlich klarer gefassten Fälle von Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begrenzt.3

Seither nimmt R2P einen wichtigen Platz in den Diskussionen bei den UN und darüber hinaus ein, u.a. durch regelmäßige Berichte des Generalsekretärs und in Resolutionen des Sicherheitsrats. Diverse Akteure beriefen sich auf R2P während der Darfur-Krise, im Zusammenhang mit den Konflikten in der Demokratischen Republik Kongo, in Mali, Libyen und Syrien. Die Anwendung des Konzepts auf diese sehr realen Krisen deckte die Kernfragen zu R2P sehr schnell auf: Bietet es wirklich neue und effektive Antworten auf massenhaftes Töten? Kann es missbraucht werden, um die Interessen der Intervenierenden durchzusetzen anstatt Menschenrechte zu schützen? Im Zuge des NATO-Bombardements in Libyen, das unter expliziter Berufung auf R2P durchgeführt wurde, argumentierten Beobachter_innen, die Intervention habe gegen Sicherheitsratsresolutionen verstoßen, weil sie anstelle des eigentlichen Ziels, dem Schutz der Zivilbevölkerung, den Sturz Gaddafis und die Einsetzung einer neuen Regierung bezweckte.4 Der Schluss lag nahe, dass die Kampagne in Libyen dem Konzept der Schutzverantwortung einen schweren Schlag versetzt habe und dass es in Zukunft schwieriger sein würde, sich auf R2P zu beziehen oder Konsens über militärische Interventionen herzustellen.

Wir möchten hier der Frage nachgehen, ob das Konzept einer Schutzverantwortung vor Missbrauch geschützt werden kann oder ob es grundsätzlichere Schwächen beinhaltet. Dazu werden wir Argumente für und gegen R2P beleuchten und untersuchen, wer hinter diesen Argumenten steht. Diese Analyse, so hoffen wir, kann dazu beitragen, sich ein umfassendes Urteil über dieses Konzept und seine rasante Karriere zu verschaffen.

Die positiven Seiten von R2P

Das Konzept der Schutzverantwortung soll der Beantwortung einer keinesfalls trivialen Frage dienen: Kann die Staatengemeinschaft sich allgemeingültige Regeln geben für Fälle, in denen das Leben vieler unmittelbar in Gefahr ist, die eigentlich zuständige Regierung aber entweder nicht in der Lage oder willens ist, diese Situation zu beheben? R2P bietet eine Reihe mehr oder weniger innovativer Antworten und erinnert an bestehende Pflichten auf internationaler und nationaler Ebene. Allerdings bleibt das eigentliche Novum des Konzepts die Einführung militärischer Intervention als legitimes Mittel, auch wenn ihm bestimmte konzeptionelle Hürden in den Weg gestellt werden.

So widersetzt sich R2P richtigerweise dem in sich widersprüchlichen Begriffspaar »humanitäre Intervention« und gibt damit denjenigen recht, die die Gefahr begründet sehen, dass humanitäre Aktivitäten militarisiert werden. Obwohl sich R2P nicht völlig von dem Konzept der humanitären Intervention freimachen kann, stellt es doch seine politischen Implikationen in Frage. Die ICISS bemerkt dazu in ihrem Bericht, schon die Verwendung des positiv konnotierten Begriffs »humanitär« verschleiere die eigentlich Frage, ob bzw. wann eine Intervention gerechtfertigt sei.

Indem das Konzept der Schutzverantwortung argumentiert, Souveränität sei eine Verpflichtung, werden wichtige Prinzipien des Menschenrechtssystems aufgegriffen, und es wird betont, dass Staaten Verpflichtungen gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern haben. Mit R2P wird außerdem hervorgehoben, dass der internationalen Gemeinschaft eine Rolle dabei zukommt, einzelne Staaten bei der Erfüllung dieser Verpflichtungen zu unterstützen, insbesondere durch ökonomische, soziale und politische Maßnahmen. Das Abschlussdokument des Weltgipfels von 2005 sagt entsprechend, die Staatengemeinschaft habe die Pflicht, „den Staaten beim Aufbau von Kapazitäten zum Schutz ihrer Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit behilflich zu sein und besonders belasteten Staaten beizustehen, bevor Krisen und Konflikte ausbrechen“ (§139).

Im Bewusstsein der Wankelmütigkeit der internationalen Reaktionen auf die humanitären und politischen Krisen der 1990er Jahre wird im Rahmen des Konzepts R2P versucht, mehr Konsistenz herzustellen. Es soll ein Rahmen geschaffen werden, der klarstellt, wer wann wie unter welchen Umständen intervenieren soll. Indem die Umstände definiert werden, unter denen die internationale Gemeinschaft im Falle humanitärer Notlagen Verantwortung übernehmen soll, zielte die ICISS darauf ab, es den Mitgliedern der UN schwerer zu machen, sich aus der Verantwortung zu stehlen.

Die Fallstricke von R2P

Diesen Zielen und Ansätzen wird das Konzept der Schutzverantwortung allerdings nicht gerecht. Das Konzept, das sich für viele mittlerweile – je nach Standpunkt – zu einer Norm bzw. einer Doktrin gewandelt hat, hilft nicht dabei, Konflikte zu verstehen oder zu lösen, sondern kann sogar kontraproduktiv wirken. Es legt den Fokus auf die falschen Instrumente – und es öffnet politischer Manipulation Tür und Tor.

R2P hat Abgrenzungsprobleme

Über die genaue Ausrichtung von R2P, über die Rolle militärischer Intervention, darüber, in welchen konkreten Fällen R2P bislang überhaupt angewandt worden sei, gibt es sehr viel Disput, auch unter Verfechter_innen des Konzepts. Viele behaupten von sich, die eigentliche Bedeutung der Doktrin zu verteidigen und sie gegen »Feinde« und »falsche Freunde« zu schützen. Gareth Evans zum Beispiel, einer der Autor_innen des ICISS-Reports, versucht diejenigen zu korrigieren, „die von sich behaupten, Freunde von R2P zu sein“, aber „den ideologischen Kritikern in die Hände spielen […] indem sie an R2P nur in militärischen Zusammenhängen denken“.5

Meinungsverschiedenheiten zwischen Unterstützern von R2P sowie die inhaltliche Nähe zum Konzept humanitärer Intervention unterstreichen die Unklarheiten des Konzepts. Während einige R2P und »humanitäre Intervention« synonym gebrauchen und ersteres nur für eine neue Art halten, über letzteres zu sprechen, behaupten andere, beides habe nichts miteinander zu tun.

Die zwiespältige Rolle des ICISS-Reports im breiteren Diskurs um R2P trägt zu dieser Konfusion bei. Im Gegensatz zum Abschlussdokument des Weltgipfels von 2005 wurde der ICISS-Report nie von Regierungen ratifiziert oder auch nur begrüßt, und er ist auch nicht Teil des offiziellen Verständnisses der UN von R2P. Die Konzepte und Definitionen der ICISS durchdringen aber die Diskurse rund um R2P. Selbst anerkannte Wissenschaftler_innen verwischen die klaren Unterschiede zwischen dem Verständnis der ICISS und den UN. Genau so geht es vielen Unterstützer_innen aus der Zivilgesellschaft: „Es ist schwer zu sagen, ob die Zunahme [der zivilgesellschaftlichen Unterstützung für R2P] einen menschenrechtlichen Konsens über militärische Interventionen als letztes Mittel im Namen des Schutzes der »Menschenrechte« widerspiegelt oder lediglich Unterstützung für die unumstrittene Idee, dass Staaten, ob allein oder gemeinsam mit anderen, immer darum bemüht sein sollten, Zivilisten zu schützen.“ 6

Diese fehlende Klarheit macht es den R2P-Verfechter_innen einfach, Kritik an der Doktrin mit dem Verweis auf Missverständnisse zurückzuweisen. In Fällen, in denen (vielfach unpopuläre) militärische Interventionen mit R2P gerechtfertigt wurden, wird das von den R2P-Befürworter_innen als Fehlinterpretation oder Missbrauch bezeichnet. In Fällen, in denen Vermittlungsbemühungen erfolgreich waren, wie zum Beispiel Kofi Annans diplomatischer Einsatz in Kenia 2008, wird das als ein Beispiel von R2P verkauft, obgleich Annans Initiative ohne R2P ebenso denkbar war und keinerlei Einschränkung der kenianischen Souveränität beinhaltete. Dieses elastische Verständnis von R2P erlaubt die Assoziierung von R2P mit Erfolgen und die Abgrenzung zu Misserfolgen gerade so, wie es für die Verfechter_innen am bequemsten ist.

R2P rechtfertigt den Einsatz von Gewalt

Die Konfusion rund um R2P lässt sich am besten anhand der Auseinandersetzung um die Rolle militärischer Intervention in der Doktrin illustrieren. Einige Verfechter_innen von R2P argumentieren, militärische Gewalt sei lediglich eine von mehreren Komponenten und habe nie im Mittelpunkt gestanden, andere sehen sie sehr wohl als den Kern von R2P.7

Ein genauerer Blick auf die Entstehungsgeschichte von R2P unterstützt die Meinung letzterer. Der Aufbau des ICISS-Reports zeigt eine eindeutige Unausgewogenheit zwischen militärischen Optionen und anderen Instrumenten. Unter der Überschrift »Verantwortung zur Reaktion« gehen gerade einmal zwei Seiten Text auf nicht-militärische Möglichkeiten ein, während sich ganze sieben Seiten deutlich differenzierter mit militärischen Szenarien befassen.

Anstatt sich auch damit zu befassen, welche Effekte durch militärische Abenteuer verursacht werden können, vertreten R2P-Befürworter_innen die Ansicht, die eigentliche Gefahr gehe von zu wenigen militärischen Interventionen aus.8 Dieser nicht problemorientierte Umgang mit militärischen Mitteln übergeht das Eskalationspotential, das mit vielen Interventionen verbunden ist, sowie die Wahrscheinlichkeit ziviler Opfer, Schäden an Infrastruktur und viele weitere negative Auswirkungen militärischen Eingreifens. Dieser blinde Fleck im R2P-Diskurs ist hoch problematisch, bedenkt man den mehr als zweifelhaften Erfolg bisheriger »humanitärer Interventionen«. So bezeugt ein Grundlagenpapier für die ICISS die zivilen Opfer der Interventionen in Somalia und im Kosovo sowie die dadurch ausgelösten Flüchtlingsbewegungen und das Missverhältnis von militärischen zu wirklich humanitären Bemühungen.9

Die zentrale Rolle militärischer Intervention wird noch offensichtlicher, berücksichtigt man, dass fast alle nicht-militärischen Elemente der Doktrin bereits in Form anderer Instrumente existieren. Es gibt bedeutende Überschneidungen zwischen den unter R2P diskutierten Präventionsinstrumenten und den eher traditionellen Mechanismen der Friedenssicherung. Selbst R2P-Unterstützer_innen geben zu, dass der Abschnitt zu Prävention des ICISS-Berichts „kurz, konfus und wenig originell“ sei.10 R2P bietet also wenig Neues im Vergleich zu bestehenden Instrumenten – außer eben der Schaffung vermeintlicher Legitimation für bewaffnete Interventionen.

Aber selbst wenn militärische Interventionen nicht im Zentrum von R2P stehen sollten, bedeutet die Bereitstellung dieses Instruments als eines unter vielen eine relevante Gewichtung. Militärische Intervention neben anderen Möglichkeiten der Konfliktprävention und der Unterstützung friedenschaffender Maßnahmen einzubeziehen, verschiebt den Fokus der Doktrin hin zu der Option gewaltsamer Interventionen. In einem System, in dem die Anwendung militärischen Zwangs die einzige funktionelle Kapazität darstellt, wird sie zur einzigen Option: „Der militärische Aspekt bleibt das brauchbarste Element der Doktrin, weil es das einzige ist, das sowohl kohärent als auch praktikabel ist.“ 11

R2P setzt Klarheit voraus, wo es die nicht geben kann

R2P basiert auf einer Reihe von Kernannahmen, die nähere Betrachtung erfordern, obwohl sie selbstverständlich klingen. R2P beruft sich beispielsweise auf ein Konzept der »internationalen Gemeinschaft«, das nicht wirklich gut zu umreißen ist und Fragen zum Verständnis von und Umgang mit der Wirklichkeit aufwirft. Teilweise wirkt das Verständnis globaler Politik und der Mechanismen hinter Konflikten im R2P-Diskurs naiv oder sogar weltfremd.

Die Doktrin insinuiert beispielsweise, dass in Fällen eines »massenhaften Verlusts von Menschenleben« (large scale loss of life) oder »das Gewissen erschütternden Situationen« (conscience-shocking situations) Fakten klar auf dem Tisch liegen und Täter klar zu identifizieren seien. Nur dann könnte militärische Gewalt eingesetzt werden, um Opfer zu schützen und Täter aufzuhalten. Gerade in umkämpften und oftmals chaotischen Situationen ist es aber sehr schwierig festzustellen, wer eigentlich was tut und in welchem Ausmaß für welche Taten verantwortlich gemacht werden kann. Diese Komplexität zeigt sich beispielsweise im syrischen Bürgerkrieg. Der Einsatz chemischer Kampfstoffe stand zwar fest, wer diese eingesetzt hat, ist in der »internationalen Gemeinschaft« aber bis heute umstritten.12

Angesichts solcher Streitfälle, die in praktisch jeder Krisensituation vorkommen dürften, stellt sich die Frage, wer die »internationale Gemeinschaft« eigentlich ist. Im R2P-Diskurs wird der Begriff schnell zum Synonym für die »guten Mitglieder der internationalen Gemeinschaft« oder noch enger für die westliche Welt, vor allem die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich.

R2P öffnet die Tore für subjektive Interpretationen und selektive Anwendungen

Die Diskussionen rund um R2P sind hochgradig moralisch aufgeladen, wodurch die Diskussion objektiverer Konzepte, wie Legalität, zu Fragen von »richtig« und »falsch« verschoben wird.13 Illustriert wird dieser Wandel durch die Verschiebung im R2P-Diskurs von ansatzweise definierten und umrissenen Tatbeständen, wie Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zu »massenhaften Gräueltaten« (mass atrocities). Dieser Begriff ist aber weder rechtlich etabliert noch klar definiert. Der Moralismus spiegelt sich auch in dem immer wieder verwendeten Begriff der »das Gewissen erschütternden Situationen« (conscience-shocking situations), der im Bericht der ICISS und von R2P-Vertreter_innen immer wieder gebraucht wird.

Diese Moralisierung der Debatte über die Begrifflichkeiten schafft ein Umfeld, in dem die Infragestellung einer militärischen Intervention schnell dazu führen kann, R2P-Kritiker_innen in eine Ecke mit Massenmördern zu rücken. R2P-Vertreter_innen nehmen für sich allzu oft moralische Überlegenheit in Anspruch und nutzen diesen Anspruch dazu, Kritiker_innen als gewissenlos und in überkommenen Denkmustern verhaftet zu brandmarken, denen ein legalistisches Verständnis von Souveränität wichtiger sei, als das Wohlergehen von Menschen. Dass oft von den »Feinden« von R2P die Rede ist, ist unter diesem Gesichtspunkt nicht unbedeutend.

Die begriffliche Verschiebung von mehr oder weniger klar definierten Konzepten zu moralisch aufgeladenen erlaubt auch das Ausweichen auf Argumentationen jenseits des Völkerrechts. So wird von vielen R2P-Verfechter_innen unterschieden zwischen legal und legitim mit Argumenten wie „was gesetzlich verboten ist, mag doch das Gewissen verlangen“ und „was legal ist, ist noch lange nicht legitim“.14 Ohne solide Kriterien aber wird Legitimität zu einer Frage subjektiver Bewertung.

Die Theorie vom »gerechten Krieg«, die im ICISS-Bericht in Form der sechs Kriterien für den legitimen Einsatz militärischer Gewalt aufgegriffen wird (s.o.), setzt diese Moralisierung fort. Die sechs genannten Kriterien scheinen unabhängig vom internationalen Recht zu existieren und sind nur schwer objektiv zu belegen. Wie soll zum Beispiel sichergestellt sein, dass die Absichten, die hinter einer Intervention stehen, die »rechten« sind, dass damit menschliches Leid beendet oder abgewendet werden könne? Zwar wird im ICISS-Bericht eingestanden, dass es naiv sei, zu glauben, dass „das humanitäre Motiv das einzige ist, das intervenierende Staaten antreibt“.15 Dass diese Einschränkung das Kriterium der »rechten Absicht« aber Makulatur werden lässt, wird nicht erkannt. Auch die anderen Kriterien lassen sich auf diese Art hinterfragen.

R2P ist kontraproduktiv

Die Betonung moralischer Wertungen verschleiert ein klares Verständnis von Konflikten und Gewalt. Während ständig Bezug genommen wird auf den Holocaust oder den Völkermord in Ruanda, um den eigenen Behauptungen Gewicht zu verleihen, hilft der Bezug auf diese sicherlich wichtigen historischen Beispiele nicht zwingend dabei, gegenwärtige und sehr spezifische Fälle von Gewaltausbrüchen zu verstehen oder zu verhindern. Die Betonung dieser sehr extremen Fälle verstellt ein Verständnis von Gewalt, indem es „die volle Komplexität von Konflikten und inter-ethnischen Beziehungen einhegt in ein eindimensionales Modell, das unausweichlich auf Völkermord schließt und die verschiedenen instrumentellen politischen Logiken der Gewalt allein auf böse Motive reduziert“.16

Obwohl im R2P-Diskurs die Täter von Menschenrechtsverletzungen und Tötungen als unersättlich und irrational gebrandmarkt werden, trifft das nicht unbedingt auf alle Fälle zu. Individuen dürften tatsächlich oft von politischen oder anderen Motiven angetrieben sein. Wird die Anwendung von Gewalt als Instrument zur Durchsetzung eigener Interessen wahrgenommen, schafft das den nötigen Spielraum für Verhandlungen, für Friedensgespräche und den Einsatz diplomatischer Mittel, wie z.B. finanzielle Anreize oder Wirtschaftssanktionen. Fasst man einen Konflikt dagegen in Kategorien von »gut« und »böse«, versteht man Täter als psychopatische Massenmörder, die nicht ruhen werden, bevor die gegnerische Seite ausgelöscht ist, werden diese Optionen hinfällig. Wird ein diskursiver Kontext geschaffen, in dem Täter_innen nur als Nachfolger_innen der Nazis oder der Hutu-Milizen begriffen werden, kommen Kompromissmöglichkeiten oftmals gar nicht mehr zur Sprache – und es besteht die Möglichkeit, dass Konflikte weiter eskalieren.17

Auch die ständige Wiederholung des Satzes von militärischer Intervention als letztes Mittel kann kontraproduktive Resultate erzeugen. Allein die Möglichkeit des Eingreifens einer fremden Macht kann zur präventiven Aufrüstung gegen als technologisch weit überlegen wahrgenommene Interventionskräfte beitragen oder im Konfliktfall zur Eskalation führen. Mahmoud Mamdani und andere warnen vor scheinbar einfachen Lösungen, die langfristige, auf Kompromissen basierende und damit stabile Konfliktlösungen verhindern und vor allem eindeutige Verlierer_innen hervorbringen, die sich dazu gezwungen sehen können, so lange wie möglich Gewalt auszuüben.18 Die Möglichkeit militärischer Intervention kann außerdem den perversen Effekt haben, dass Gruppen geradezu animiert werden, Konflikte zu eskalieren, wenn sie sich von einer Intervention Vorteile versprechen.19

Die fehlende Universalität von R2P

Auch wenn R2P das Potential hat, zu einer universellen Doktrin zu werden, ist sie doch nicht universell anwendbar. Selbst im ICISS-Bericht wird anerkannt, dass militärische Interventionen gegen den Willen einer der Vetomächte im UN Sicherheitsrat oder gegen andere Mächte kaum aussichtsreich ist. Optimistisch schränken die Autor_innen aber ein: „[D]ie Tatsache aber, dass es nicht in allen Fällen, in denen dies gerechtfertigt wäre, zu Interventionen kommen kann, ist kein Grund dafür, niemals zu intervenieren.“ 20 Solche Vorbehalte unterminieren den beanspruchten Status von R2P als einer entstehenden Norm internationalen Rechts.

Es wird praktisch niemals im Einflussgebiet der Großmächte zu Interventionen unter dem Banner von R2P kommen, und doch sind es genau diese Großmächte, die über die Fähigkeiten verfügen, solche Interventionen glaubhaft vorzutragen. Auch das wird im ICISS-Bericht anerkannt: „Die UN haben keine eigenen Militär- oder Polizeikräfte, […] in Zukunft werden Partnerschaften der Fähigen, der Willigen und Wohlmeinenden – und der ausreichend Autorisierten – in zunehmendem Maße gebraucht.“ 21

Mit R2P wird folglich eine Situation geschaffen, in der nur diejenigen Mächte dazu in der Lage sind, den militärischen Teil der Doktrin umzusetzen, die sich niemals davor fürchten müssten, dass er gegen sie selbst zur Anwendung käme. David Rieff formuliert das so: „Eine Doktrin der Intervention, die gleichzeitig moralische Superiorität und Universalität für sich beansprucht, derzufolge aber die Intervenierenden immer aus dem Globalen Norden und die Intervenierten immer aus dem Globalen Süden kommen, bringt keinen moralischen Fortschritt; sie ist der geopolitische Status quo.“ 22

R2P ist politisch bequem

Von den R2P-Befürworter_innen wird kaum jemals die Tatsache angesprochen, dass Großmächte für Verstöße gegen die Vorgaben von R2P nicht zur Verantwortung gezogen werden können. Hingegen werden kleinere Staaten schnell für Kritik an oder Widerstand gegen R2P angeprangert, und es werden ihnen dunkle Motive unterstellt. In einer Rede im Jahr 2007 kritisierte Gareth Evans diejenigen scharf, die er als »Feinde« von R2P bezeichnet. Er unterstellte, die Angriffe gegen die Norm „stammen aus Ländern, die weiterhin etwas zu verbergen haben oder sich ihres Benehmens im Inland schämen sollten; deshalb sind sie so überaus zurückhaltend dabei, die Grenzen ihrer Souveränität anzuerkennen“.23

Wichtige Staaten (v.a. Frankreich, das Vereinigte Königreich und die USA) und verschiedene Nichtregierungsorganisationen (NRO) haben die Unterstützung von R2P zum Maßstab für Verantwortlichkeit und Führungskraft erhoben. In diesem Zusammenhang wird die Opposition aufstrebender Mächte dazu missbraucht, ihre Ansprüche zu diskreditieren. In einer Kolumne für die Huffington Post argumentierte der Geschäftsführer der »Global Coalition for the Responsibility to Protect«, einem Netzwerk von Unterstützer_innen der Norm, in Bezug auf ein mögliches Eingreifen in Libyen, „die IBSA-Länder [Indien, Brasilien und Südafrika, zu der Zeit Mitglieder des UN Sicherheitsrats] möchten ihre Fähigkeit beweisen, als permanente Mitglieder in einem reformierten und erweiterten UN-Sicherheitsrat bereit zu stehen. Ihre Bilanz bezüglich R2P ist bisher allerdings eher unausgewogen.“ 24 UN-Botschafter der westlichen Mitglieder im Sicherheitsrat verwendeten ähnliche Formulierungen, um die IBSA-Länder als irrelevant oder unerfahren zu kennzeichnen und sie damit als ungeeignet für den Sicherheitsrat abzuqualifizieren.

R2P zu einem Maßstab für Relevanz oder Verantwortung zu machen, ist ein beliebtes Instrument der (westlichen) Großmächte, um aufsässige Widersacher auf Linie zu bringen und gleichzeitig wichtige Fragen auszublenden, zum Beispiel nach der Legitimität oder Repräsentativität des UN-Sicherheitsrats oder nach der Funktion des Vetos. Außerdem dient diese Haltung dazu, die eigenen politischen Interessen zu verwischen.

R2P ist elastisch und undurchsichtig

Verfechter_innen von R2P argumentieren immer wieder, das in der Norm vertretene Verständnis von »Verantwortung« führe dazu, dass die Problembeschreibung von einem »Recht zu intervenieren« zu einem »Recht auf Schutz« für die Bevölkerung verschoben wird. R2P umgeht allerdings die Frage, wer diejenigen rechenschaftspflichtig machen soll, die mit diesem Schutz beauftragt werden. Mächte aus dem Ausland müssen nicht mit Konsequenzen rechnen, wenn sie nicht intervenieren, oder für die Art und Weise, in der sie intervenieren. Während beispielsweise die Menschenrechtsmechanismen zumindest ansatzweise dazu in der Lage sind, Staaten zur Erfüllung ihrer »Schutzverantwortung« anzuhalten, gibt es für die unter R2P vorgeschlagenen Schritte keine vergleichbaren Institutionen. Auch wenn manchmal anderes behauptet wird: Durch R2P wird kein einklagbares Recht auf Schutz durch die internationale Gemeinschaft geschaffen.

Die Betonung von Konzepten wie »Legitimität« anstatt harter, legal definierter Kriterien zur Rechtfertigung von Interventionen macht Rechenschaftspflichten unter R2P schwer greifbar. Wie können Regierungen dafür verantwortlich gemacht werden, wenn sie sich nicht an solchen Kriterien orientieren? In einem Hintergrunddokument für den ICISS-Bericht heißt es zu der Frage, wann militärische Optionen berücksichtigt werden sollten: „[E]s ist sicher nicht so, dass alle verfügbaren Möglichkeiten tatsächlich ausgeschöpft und gescheitert sein müssen, sondern vielmehr so, dass alle anderen Möglichkeiten ernsthaft in Erwägung gezogen wurden.“ 25 Wie aber wissen wir, dass andere Optionen tatsächlich »ernsthaft« erwogen wurden? Wird es Sanktionen gegen Akteure geben, die dieser Sorgfaltspflicht nicht nachkommen? Während der Krise in Libyen wurden Friedensangebote von Seiten Gaddafis von den drei westlichen Vetomächten im Sicherheitsrat zurückgewiesen, ohne ihnen ernsthaft nachzugehen, vielmehr wurden militärische Optionen bevorzugt. Für dieses Verhalten wurde aber bis heute niemand zur Verantwortung gezogen. Solange es kein rechtliches Verfahren zu Prüfung von Sicherheitsratsbeschlüssen gibt, ist es unwahrscheinlich, dass die Großmächte für eventuelles Fehlverhalten zur Verantwortung gezogen werden.

R2P verbreitet ein problematisches Geschichtsverständnis

Trotz des Anspruchs an R2P, eine universelle Norm zu bieten, wird von den Verfechter_innen oftmals ein eher eklektisches Geschichtsverständnis vertreten. Zur argumentativen Untermauerung der Doktrin werden in der Regel der Holocaust und der Massenmord in Kambodscha, Ruanda und Srebrenica angeführt. Während diese Beispiele sicher wichtig und dramatisch sind, ist die Beschränkung auf sie doch tendenziös und führt zu Missverständnissen in der Analyse von R2P.

Warum wird in der Debatte zum Beispiel nie über den Völkermord in Guatemala gesprochen, obwohl dieser Fall – neben den oben genannten – offiziell und in Gerichtsurteilen als Völkermord bezeichnet wird? Untersuchungen ergaben, dass während des Bürgerkriegs (1960-1996) hunderttausende Maya den Strafmaßnahmen des guatemaltekischen Militärs zum Opfer gefallen waren26 – die Unterstützung der US-Regierung für das guatemaltekische Militär ist übrigens gut dokumentiert.27

Auch der Timor-Leste-Konflikt spielt in den Diskussionen um R2P nur eine untergeordnete Rolle. Nach Angaben der timoresischen »Empfangs-, Wahrheits- und Versöhnungskommission« kamen während der indonesischen Besatzung (1974-1999) wenigstens 100.000 Menschen durch Unterernährung oder Gewalt ums Leben. Um sich das Ausmaß dieser Zahlen klarzumachen, muss man bedenken, dass in Timor-Leste 1974 gerade einmal 660.000 Personen lebten. Trotzdem wurde die indonesische Regierung während ihrer Besatzung von den USA, von Australien und dem Vereinigten Königreich unterstützt. Dabei hätte die Besetzung von Timor-Leste einfach verhindert werden können, vor allem durch die USA. Der Abbruch wirtschaftlicher und militärischer Kooperationsprojekte durch internationale Investoren oder Institutionen hätte die Regierung Suharto schwer getroffen und wahrscheinlich zu einem Rückzug der indonesischen Truppen geführt.28

Diese Beispiele werden von R2P-Befürworter_innen selten angeführt, weil sie nicht in das Freund-Feind-Schema von R2P passen. Obwohl manchmal auf Beispiele verwiesen wird, in denen Großmächte sich auf die Seite mordender Regime geschlagen haben – sei es aus politischen oder aus ökonomischen Gründen –, wird der Fokus doch auf den »unmoralischen« Beobachter gelenkt, der es unterlässt, zu handeln oder Verbrechen anderer zu verhindern. Samantha Powers einflussreiches Buch »A Problem from hell: America in the Age of Genocide«, in dem es in erster Linie um das Versagen der USA geht, Völkermorde zu verhindern (anstatt sie aktiv zu unterstützen), illustriert dieses Phänomen sehr plastisch. Diese Geschichtsinterpretation erlaubt es Gareth Evans zu behaupten, der Westen habe bei den größten Verbrechen Saddam Husseins weggesehen.29 In Guatemala und Timor-Leste haben die Großmächte aber mitnichten weggesehen, sondern im Gegenteil Gewalttaten sogar noch unterstützt.

Es ist abwegig, davon auszugehen, dass Großmächte im Angesicht schwerer Menschenrechtsverletzungen nichts täten – das ist aber eines der zentralen Argumentationsmuster der Krisen- und Konfliktanalysen, denen R2P zugrunde liegt. Nach der ICISS-Version von R2P spielen Großmächte zwar gelegentlich auch eine Rolle bei den Konfliktursachen, im Wesentlichen scheinen diese aber eher »da draußen« zu liegen, in armen Ländern mit ethnischen oder religiösen Konflikten, ererbten Feindseligkeiten und diktatorischen Regimen. Die vielfachen Querverbindungen dieser Regierungen zu westlichen Staaten werden dabei konsequent ignoriert.

R2P stellt die falschen Fragen

Die historischen Beispiele implizieren, dass R2P als Konzept keine Antworten für das Verständnis scheinbarer Inaktivität von Regierungen bei massiven Menschenrechtsverletzungen liefert. Die Doktrin kennt nur die Optionen, nichts zu tun oder (militärisch oder nicht-militärisch) zu intervenieren. In Wirklichkeit halten sich die Großmächte kaum jemals komplett heraus. Anstatt sich über die Rolle der Großmächte Gedanken zu machen, fragt der ICISS-Bericht nach »ethischen Ansätzen« bei Interventionen und nach der Debatte zwischen Interventionist_innen und Anti-Interventionist_innen, was die Sache in eine theoretisch konfuse Richtung lenkt.

R2P postuliert ein Entweder-Oder von Souveränität und (militärischer oder nicht-militärischer) Intervention und ignoriert dabei, dass Souveränität noch nie Interventionen verhindert hat, wenn diese im Interesse der Großmächte lagen. Obwohl der ICISS-Bericht zugibt, dass die Norm der Nichtintervention im 20. Jahrhundert viele Male gebrochen wurde, wird kein Widerspruch darin gesehen, dass R2P Souveränität als Haupthindernis beim Schutz von Menschenrechten versteht.

Die Reduktion der Souveränität auf ein Hindernis für den Schutz von Leben führt in der R2P-Diskussion zu oft zu den falschen Fragestellungen. Die fehlende Bereitschaft zur Intervention in der Vergangenheit hat ihre Ursache im mangelnden Interesse der Großmächte – bzw. im Interesse, Krisen bewusst fortbestehen zu lassen –, nicht im überbordenden Respekt vor der Souveränität eines Landes. Für dieses Problem hat R2P keine Lösung parat. Wie kann ein internationales System geschaffen werden, das auf gewaltsame Konflikte reagiert, solange die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats kein Interesse daran haben, Gewalt zu beenden, oder gewaltsame Konflikte sogar gezielt befördern?

Ein Hintergrundbericht für die ICISS gesteht ein, dass hier eine Diskrepanz besteht: „Das fehlende Glied in der Präventionskette ist der politische Wille. Die allermeisten Studien führen das Ausbleiben von Interventionen auf den fehlenden politischen Willen zurück.“ 30 Weil R2P keine Rechenschaftspflichten für die Großmächte vorsieht – auch nicht für mangelnde Interventionsbereitschaft –, kann die Doktrin auch keinen politischen Willen generieren. Stattdessen macht sie es einfacher, ohnehin geplante und gewollte Interventionen zu rechtfertigen.

Anstatt sich darauf zu konzentrieren, wie man das internationale System so reformieren könnte, dass der Schutz von Menschenleben möglich ist, wird versucht, mit R2P eine extreme Option zu etablieren (militärische Interventionen), wo das bestehende System versagt. Dabei ist dieses »letzte Mittel« automatisch auch das einzige, solange das System so dysfunktional bleibt wie bisher.

Die »Politische Ökonomie« von R2P

Ein Blick auf die wichtigsten Architekt_innen und Unterstützer_innen von R2P hilft zu verstehen, wo das Konzept seinen Ausgangspunkt hatte, was die dahinterliegenden Absichten waren und wie es sich weiterentwickelt hat. Die Unterstützer_innen hatten oft ein und denselben politischen und ideologischen Hintergrund, was sich in dem Konzept niederschlug. Und der Rekurs auf historische Fälle, in denen Regierungen das »humanitäre Gewissen« zur Rechtfertigung von Krieg, Besatzung und Kolonialismus nutzten, sollten misstrauisch machen, ob R2P heute nicht in ähnlicher Weise manipulativ eingesetzt wird.

Auf staatlicher Ebene wurde R2P zuerst von Mitte-links-Regierungen unterstützt, z.B. von der liberalen Regierung Kanadas unter Jean Chrétien und der britischen Labour-Regierung unter Tony Blair. Tatsächlich hing die Unterstützung für R2P auf einzelstaatlicher und internationaler Ebene von der politischen Ausrichtung der jeweiligen Regierung ab. In Kanada nahm die Unterstützung für R2P schnell und dramatisch ab, nachdem mit Stephen Harper 2006 ein konservativer Premier das Ruder übernommen hatte. Auch die US-Regierung unter Bush stand dem Konzept ablehnend gegenüber, weil sie Bedenken hatte, R2P könne den Einsatz von Gewalt durch die USA reglementieren und die außenpolitische Souveränität einschränken. Unter Präsident Obama hingegen wird das Konzept entschieden befürwortet. 2012 setzte die US-Regierung einen Ausschuss zur Verhinderung von Gräueltaten (Atrocities Prevention Board) ein, um sicherzustellen, dass der Prävention von Völkermord und massenhaften Gräueltaten in der US-Regierung höchste Priorität zukommt.

Die Orientierung an Positionen der linken Mitte zeigt sich auch bei den NRO, die eine wichtige Rolle dabei spielten, das Konzept R2P auf internationaler und nationaler Ebene zu verbreiten und zu bewerben. Diese Organisationen verwandten viel Zeit und Mühe darauf, R2P in offiziellen UN-Dokumenten zu verankern und Mitgliedsstaaten dazu zu bringen, R2P in ihren Resolutionen zu berücksichtigen. Das »Institut für Globale Politik der Bewegung der Weltföderalisten« (World Federalist Movement-Institute for Global Policy, WFM-IGP) war eine der treibenden Kräfte hinter der Verbreitung von R2P bei den UN und darüber hinaus. 2009 war das Institut an der Gründung der »Internationalen Koalition für die Schutzverantwortung« (International Coalition for the Responsibility to Protect) beteiligt. Diese Koalition will den vermeintlichen normativen Konsens für R2P stärken, das Verständnis der Norm verbessern, sich für eine Stärkung der Kapazitäten zur Konfliktprävention und für die Beendigung von Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einsetzen und NRO dazu mobilisieren, sich auf Staatsebene für Aktionen zum Schutz von Menschenleben einzusetzen. Mit dem »Globalen Zentrum für die Schutzverantwortung« (Global Centre for the Responsibility to Protect) wurde 2008 erstmalig eine Organisation gegründet, die sich speziell dafür einsetzt, dass R2P umgesetzt und operationalisiert wird. Auch unter NRO, die sich in humanitären Krisen engagieren, fand R2P ein positives Echo, zum Beispiel bei Oxfam, Human Rights Watch, Refugees International, International Save the Children Alliance und Care. Sie setzen sich in ihrer politischen und Menschenrechtsarbeit für R2P ein. Man kann dennoch nicht davon sprechen, dass R2P unter NRO universelle Unterstützung erfährt.

Auch Akademiker_innen spielten eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und Verbreitung von R2P. Viele hochkarätige Unterstützer_innen kamen von den Eliteuniversitäten an der US-Ostküste. Vor allem an der Universität Harvard konzentrierten sich Schlüsselpersonen für das Konzept der R2P, z.B. der kanadische Forscher und ehemaligen Politiker Michael Ignatieff (eines der Mitglieder der ICISS und meinungsstarker Unterstützer von R2P), Samantha Power, die gegenwärtige Botschafterin der US-Regierung bei den Vereinten Nationen, und Anne-Marie Slaughter, Professorin in Harvard und Princeton. Weitere wichtige Wissenschaftler waren Gareth Evans, ehem. Außenminister Australiens und nun Präsident der Australischen Nationaluniversität in Canberra, und Thomas Weiss, Geschäftsführer des Ralph-Bunche-Instituts für Internationale Studien an der City University New York, wo auch das »Global Zentrum für Schutzverantwortung« untergebracht ist.

Ein Regierungsprojekt

Auch wenn heute viele zivilgesellschaftliche Organisationen R2P unterstützen und verbreiten, war das Projekt zu Beginn eine Initiative von Regierungen. Anfangs schlug dem Bericht der ICISS großes Misstrauen entgegen, weil NRO befürchteten, das Konzept könnte zur Legitimierung von militärischer Gewalt missbraucht werden. Die kanadische Regierung spielte eine Schlüsselrolle dabei, das zu ändern. Sie trat an WFM-IGP heran und brachte das Institut dazu, eine Reihe von Konsultationen mit anderen NRO durchzuführen, um herauszufinden, was diese über das Konzept dachten.31 Daraufhin initiierte WFM-IGP das Projekt »Responsibility to Protect – Engaging Civil Society« (etwa: Ein Dialog mit der Zivilgesellschaft über R2P), um andere Organisationen in die Verbreitung von R2P mit einzubeziehen. Ein Bericht von WFM-IGP über das Projekt unterstreicht die enge Einbindung der kanadischen Regierung während des gesamten Prozesses. Er besagt, dass „Vertreter der kanadischen Regierung […] an mehreren der von WFM-IGP organisierten Runden Tische teilnahmen und sich während des Konsultationsprozesses auch bei mehreren Anlässen individuell mit WFM-IGP trafen“.32

Dieses Beispiel zeigt, dass Geld von Regierungen eine wichtige Komponente bei der Verbreitung von R2P innerhalb der Zivilgesellschaft war. Manche Regierungen zeigten sich besonders großzügig: 2009 stellte die australische Regierung für einen Vierjahreszeitraum insgesamt 4,5 Millionen AU$ bereit, um das Konzept R2P regional und global weiter zu verbreiten.33

Die Architekt_innen von R2P waren sich stets bewusst, dass Unterstützung aus der Zivilgesellschaft für die Legitimierung des Konzepts unerlässlich war, vor allem, wenn es um die militärische Option ging. Schon der ICISS-Bericht bezeichnet NRO als die „internationalen Akteure, denen“ neben den Medien und regionalen Akteuren „beim Thema Intervention eine immense Rolle zukommt“. Der Bericht nennt auch die wichtige Funktion der Zivilgesellschaft bei der Rechtfertigung des Einsatzes von Gewalt. Es wird erwähnt, NRO seien manchmal zurückhaltend, Zwangsmaßnahmen öffentlich zu befürworten. Dabei sei es für Regierungen und internationale Organisationen schwierig, diese anzuwenden, wenn die öffentliche Unterstützung dafür fehle.34

Während der »humanitären Interventionen« der 1990er Jahre und der Ausarbeitung von R2P zeigten sich einige NRO offen für eine interventionistische Politik. Seit den 1990er Jahren wurden militärische Interventionen vermehrt unter Bezug auf die Menschenrechte gerechtfertigt, meist ohne wesentlichen Widerstand von Menschenrechtsorganisationen. Durch die Begründung militärischer Interventionen im Duktus der Menschenrechte und der Morallehre wurden einige NRO offener für die Möglichkeit, Gewalt einzusetzen. Auch gibt es nun eine größere Übereinstimmung zwischen solchen Staaten, die R2P unterstützen und entsprechende Interventionen durchführen könnten, und Teilen der Zivilgesellschaft.

Widerstand gegen R2P

R2P-Unterstützer_innen weisen Kritik an dem Konzept gewöhnlich zurück, indem sie auf angebliche Missverständnisse oder ein antiquiertes Verständnis von »Souveränität« verweisen. So wird oft behauptet, die Opposition gegen R2P komme nur von einer kleinen Minderheit von Regierungen, die verdächtige Motive für ihre Ablehnung hätten. Thomas Weiss zum Beispiel schreibt, dass „die allgemeine Debatte über die Schutzverantwortung bei den Vereinten Nationen oft vom diplomatischen Geschick einiger weniger Dritte-Welt-Länder verzerrt wird“.35

So verlaufen die Frontlinien in der internationalen Diskussion natürlich nicht. Aber tatsächlich gibt es keine einhellige Unterstützung für R2P, auch wenn die »Schutzverantwortung« z.B. Eingang in das Abschlussdokument des Weltgipfels von 2005 fand. Die Formulierungen dort unterscheiden sich beträchtlich von denen im ICISS-Bericht, sind knapp gehalten und können sogar als Untermauerung des Status quo verstanden werden. Selbst R2P-Verfechter_innen können nicht bestreiten, dass bei dem Gipfel „weit weniger erreicht wurde, als erhofft“.36 Einige, darunter Gareth Evans, geben zu, dass verschiedene UN-Mitgliedstaaten ihre Zustimmung zum Abschlussdokument trotz der abgeschwächten Inhalte inzwischen bereuen. Besonders die Ambiguitäten des Konzepts und die Frage des Einsatzes von Gewalt werden hinterfragt.

Einwände vonseiten Chinas, Russlands, Pakistans, Indiens, Bangladeschs, Indonesiens, Malaysias, Ägyptens, Boliviens, Venezuelas oder Ecuadors (um nur einige der Staaten zu nennen, die Vorbehalte gegen R2P vorgebracht haben) werden häufig als reflexhafte Reaktionen wenig demokratischer Regime abqualifiziert. Seltener wird erwähnt, dass auch hoch angesehene Menschenrechtsorganisation, wie Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF), gewichtige Kritik an R2P üben. 2010 veröffentlichte »CRASH«, das Forschungszentrum von MSF, einen langen Artikel, der erklärt, warum MSF R2P ablehnt. Der Artikel bringt die Befürchtung zum Ausdruck, dass sich hinter R2P lediglich die Doktrin des »gerechten Krieges« verberge und das Konzept letztendlich zu einer Legalisierung einer neuen Form des Imperialismus führe. Der Artikel führt aus, dass der Einsatz bewaffneter Gewalt, auch als letztes Mittel, praktisch immer menschliches Leid hervorrufe. „Wenn es der Zweck humanitärer Aktionen ist, die Verwüstungen des Krieges einzugrenzen, dann taugen sie nicht dazu, neue Kriege zu rechtfertigen“.37 MSF ist nicht die einzige Organisation, die sich von R2P abgrenzen möchte. Gerade humanitäre Organisationen, die in Krisengebieten arbeiten, sind sich des Risikos bewusst, das entsteht, wenn ihre Arbeit mit einem solchen politischen, höchst umstrittenen Konzept in Verbindung gebracht wird.

Widerstand hat sich auch dort formiert, wo man das vielleicht am wenigsten erwartet hätte: Bürger_innen einiger Länder, deren Regierungen die Doktrin am stärksten unterstützen, sind gegenüber dem Konzept sehr misstrauisch und zurückhaltend. Die »Legitimitätskrise« von R2P wurde besonders deutlich, als im syrischen Bürgerkrieg eine militärische Intervention kurz bevorzustehen schien: Das britische Parlament stimmte gegen eine Intervention, und auch der US-Kongress lehnte sie ab. Solche Zweifel an R2P werden oft als Isolationismus abgetan, selbst R2P-Unterstützer_innen müssen aber zugeben, dass sich Bürger_innen manipuliert fühlen, wenn zu hartnäckig auf »moralische Pflichten« verwiesen wird.

R2P im historischen Kontext

R2P wird gerne als großer Fortschritt in den internationalen Beziehungen präsentiert, das Konzept hat aber viele historische Vorbilder. Wenn zum Beispiel Gareth Evans behauptet, eine instinktiv kritische Haltung zum Einsatz militärischer Gewalt sei traditionell ein Charakteristikum der politischen Linken,38 dann übersieht er die lange Geschichte der links-liberalen Unterstützung für Kolonialismus und militärische Interventionen.

Es gibt einige historische Beispiele dafür, dass »humanitäre« Gründe von progressiven, im liberalen Milieu zu verortenden Gruppen herangezogen wurden, um die koloniale Besatzung von Territorien zu rechtfertigen. Viele Völkerrechtler des 19. und 20. Jahrhunderts sahen den Kolonialismus nicht nur als historische Notwendigkeit, dessen schrecklichste Folgen gemildert werden sollten, sie postulierten auch eine moralische Pflicht, eine weltweite Föderation souveräner Staaten zu bilden, die von humanitären Gesetzen geleitet sein sollte.39 Viele Humanitarist_innen und Philantropist_innen argumentierten dafür, »die Wilden« müssten auf den Status zivilisierter Völker gehoben werden, bevor sie vom Schutz durch das Völkerrecht profitieren könnten. Diese Geschichte wird im Diskurs um R2P oft ignoriert. Es wird unterschlagen, dass fortschrittliche Gruppen im Sinne kolonialer Interessen mobilisiert wurden und dass diese die Idee unterstützten, der Kolonialismus würde Menschen aus Ignoranz, Rückständigkeit und Elend befreien.

Der Schatten dieser Geschichte hängt tief über R2P. Selbst die Sprache der Kolonisator_innen der vorigen Jahrhunderte scheint in den Diskussionen um R2P Widerhall zu finden. Im ICISS-Bericht zum Beispiel findet sich das Verständnis von militärischer Besatzung als Prozess der Zivilisierung wieder: „Neben der, hoffentlich stattfindenden, Beseitigung oder zumindest weitgehenden Minderung der Hauptursachen des ursprünglichen Konflikts und der Wiederherstellung eines Maßes an guter Regierungsführung und wirtschaftlicher Stabilität, kann eine solche [Besatzungs-] Periode die Bevölkerung auch an demokratische Institutionen und Prozesse heranführen, falls es diese in ihrem Land zuvor nicht gegeben hat.“ 40 In Kenntnis dessen, was in Irak nach der US-geführten Invasion vor sich ging, kann man diese Vorhersage nur für bitter ironisch halten.

Im Gegensatz zu liberalen und mitte-links zu verortenden Gruppen und Akteuren wiesen konservative Politiker_innen R2P zwar überwiegend zurück. Aber es gibt eine Überschneidung zwischen den Hoffnungen der Links-Liberalen und der Konservativen. Der Diskurs um R2P hat viele Parallelen zum Diskurs um Terrorismusbekämpfung. Das Konzept der zerfallenden Staaten, die Gefahren für die internationale Ordnung, die angeblich von ihnen ausgehen, und das Konzept der präemptiven Intervention sind zentral sowohl im Diskurs um R2P als auch im »Krieg gegen den Terror«. Beide machen Anleihen bei der Doktrin des »gerechten Krieges«.

Mit R2P hat eine Moralisierung militärischer Interventionen stattgefunden. Indem liberale und links der Mitte zu verortende Intellektuelle R2P weiter verbreiten und verfechten, tragen sie zu einer gefährlichen Remilitarisierung der internationalen Beziehungen bei. Dies ist keine Fehlinterpretation von R2P, es ist vielmehr in der Formulierung des Konzepts von Anfang an angelegt.

Schlusswort

Mit R2P wird keine Antwort auf die eigentlich zentrale Frage gegeben: Wie lassen sich massive Menschenrechtsverletzungen und massenhaftes Morden vermeiden, und wie kann man angemessen darauf reagieren? Das Konzept bleibt zu vage, es basiert auf ungeprüften und unrealistischen Grundannahmen, stellt nicht die richtigen Fragen, dreht sich am Ende doch nur um die als letztes Mittel ausgegebene militärische Intervention. R2P ist vor allem deswegen so gefährlich, weil das Konzept Argumente und Vorschläge vermischt und weil es unumstrittene Vorstellungen (dass Staaten eine Verantwortung gegenüber ihren Bürger_innen haben) mit höchst umstrittenen verwebt (dass militärische Intervention ein geeignetes und angemessenes Mittel sei, um Bürger_innen zu schützen). R2P ist nicht nur offen für Missbrauch, sondern öffnet dem Missbrauch Tür und Tor.

Bestenfalls ist R2P ein Werkzeug, um die Aufmerksamkeit auf entstehende Krisen und ihre möglichen Folgen zu lenken. Schlechtestenfalls lenkt R2P von der schwierige Frage nach der eigenen Rolle in Konflikten und nach der Mitverantwortung für Konfliktursachen ab. R2P könnte zu einer moralintriefenden Haltung führen, die die Tür für komplizierte und mühsame Verhandlungslösungen verschließt, während sie Protagonist_innen vermeintlich einfacher, martialischer Lösungen eine Bühne bietet und Applaus sichert.

Anstatt ein Prinzip der internationalen Beziehungen gegen ein anderes auszuspielen – Souveränität und Nicht-Intervention gegen Menschenrechte – und anstatt militärische Interventionen als (wenn auch letztes) Mittel der Politik zu stärken, ist es dringend notwendig, mehr Aufmerksamkeit und Kapazitäten darauf zu verwenden, dass Situationen, in denen diese zum Einsatz kommen könnten, gar nicht erst entstehen. Anstatt darüber zu schwadronieren, dass eine militärische Intervention als letztes Mittel nicht von vornherein verworfen werden dürfe, sollte daran gearbeitet werden, vielversprechende Ansätze zur Verhütung von Krisen im internationalen System zu stärken. Diese erfüllen alle der von R2P postulierten Funktionen, ohne die Prinzipien der friedlichen Konfliktbeilegung und der gleichrangigen Souveränität der Staaten zu verletzen.

Jede_r würde zustimmen, dass dabei der Fokus eindeutig auf der Verhinderung und Prävention von gewaltsamen Konflikten und Katastrophen liegen muss. Um diesen Fokus zu gewährleisten, darf aber nicht gleichzeitig über Reaktionen (vor allem gewaltsame) auf Konflikte diskutiert werden. So wird lediglich Konfusion geschaffen, und es werden Kompromissmöglichkeiten verbaut. Weiterhin schließen sich angesichts knapper Ressourcen im internationalen System (man denke nur an die Finanzsituation der Vereinten Nationen) die Fähigkeiten zum Aufbau sowohl von Präventions- als auch von militärischen Reaktionsfähigkeiten wechselseitig aus. Zuletzt wird mit der Formulierung einer Verantwortung der internationalen Gemeinschaft (was internationale Organisationen mit einschließt) dazu beigetragen, dass Institutionen und Akteure, die zuvor als Vermittler und neutrale Instanzen bereitstanden, in die Rolle von Konfliktparteien gedrängt werden. Auch das wird kaum zu Deeskalation beitragen.

Mit R2P wird eine sehr begrenztes Set von Mechanismen der Konfliktprävention verbreitet, das in der Praxis auf militärische Eskalation hinauszulaufen droht. Obwohl beispielsweise der ICISS-Bericht akzeptiert, dass Präventionsbemühungen komplex sind, und obwohl viele wichtige Aspekte (z.B. die Bedeutung der Partizipation der Zivilbevölkerung) angesprochen werden, bleibt es doch bei der reinen Nennung – es werden praktisch keine Vorschläge gemacht, wie diese Aspekte verwirklicht werden könnten. Anstatt aber dafür nur vage Hinweise zu liefern, die Möglichkeiten von und Bedingungen für militärische Interventionen hingegen detailliert auszuarbeiten, ist es unbedingt notwendig, mehr Kapazitäten für strukturelle Veränderungen bereitzustellen, die die Ursachen von Konflikten beseitigen könnten. Bereiche, in denen wenigstens Reformen, wenn nicht gar grundlegender Wandel dringend angezeigt sind, sind beispielsweise: die verbindliche Regulierung transnationaler Konzerne (in Bezug auf ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten, aber auch was ihre menschenrechtlichen Pflichten angeht); die extraterritorialen Pflichten von Staaten in Bezug auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte; internationale Kooperation, die die strukturellen Ursachen von Armut tatsächlich beseitigt; die krisenanfälligen und strukturelle Ungleichheit befördernden Finanz- und Handelssysteme; die Beseitigung illegaler und illegitimer Finanzflüsse (zum Beispiel aus Steuervermeidung und -hinterziehung); Ernährungssouveränität; Klima- und Umweltpolitik; Kontrolle des Waffenhandels; und eine Reform hin zu einem tatsächlich multilateralen und funktionalen internationalen System unter dem Dach der UN.

Um es noch einmal in wenigen Worten zusammenzufassen: Mit R2P wird die falsche Antwort auf falsche Fragen gegeben, die auf einer verkürzten Problemanalyse aufbauen. Es ist darum nicht zielführend – und wir hoffen, dafür die Argumente geliefert zu haben –, sich der einzelnen Mängel des Konzepts und seiner praktischen Anwendung Stück für Stück anzunehmen, zum Beispiel indem höhere Hürden für militärische Interventionen formuliert werden. Stattdessen sollten die vorhandenen, knappen Ressourcen darauf verwendet werden, zivile Mittel der Konfliktprävention und -lösung auszubauen. Dieser Weg hat sicher nicht die bestechende Einfachheit und scheinbare Stringenz von R2P. Bestehende und noch zu schaffende Alternativen werden aber mit höherer Wahrscheinlichkeit zu einer friedlichen Welt beitragen als jedes noch so weiterentwickelte oder reformierte Konzept der Schutzverantwortung.

Anmerkungen

1) Kofi Annan (1998): Ditchley Foundation Lecture XXXV. 26.06.1998.

2) ICISS (2001): The Responsibility to Protect – Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty. Ottawa. S. VII.

3) Eine Zusammenfassung der Unterschiede der R2P-Definitionen nach ICISS und dem Abschlussdokument des Weltgipfels von 2005 enthält Hugh Breakey (2012): The Responsibility to Protect: Game Change and Regime Change. In: Charles Sampford et al. (eds): Norms of Protection: Responsibility to Protect, Protection of Civilians and Their Interaction. Geneva: United Nations University Press, S.11-39.

4) Eine Umfassende Bewertung der Libyen-Intervention bietet Reinhard Merkel (2011): Die Intervention der NATO in Libyen – Völkerrechtliche und rechtsphilosophische Anmerkungen zu einem weltpolitischen Trauerspiel. Zeitschrift für Strafrechtsdogmatik, 10/2011, S.771-783.

5) Gareth Evans (2007a): Responsibility to Protect in 2007: Five Thoughts for Policy Makers. Presentation to Panel Discussion on The Responsibility to Protect: Ensuring Effective Protection of Populations under Threat of Genocide and Crimes Against Humanity, Program to Commemorate 1994 Rwandan Genocide. 14.04.2007. New York: United Nations.

6) Christine Bell (2012): Who Let the Dogs Out? R, R2P. Human Rights and Human Welfare – an online journal of academic literature review. Roundtable.

7) Gareth Evans (2007b): Delivering on the Responsibility to Protect: Four Misunderstandings, Three Challenges and How To Overcome Them. Address to SEF Symposium 2007, The Responsibility to Protect (R2P): Progress, Empty Promise or a License for »Humanitarian Intervention«. 30.11.2007. Bonn: Stiftung Entwicklung und Frieden. Thomas Weiss (2007): Humanitarian intervention: ideas in action. Cambridge: Polity, S.106.

8) Vgl. z.B. Thomas Weiss (2006): R2P after 9/11 and the World Summit. Wisconsin International Law Journal, 24:3. S.741-760.

9) Thomas Weiss/Don Hubert (2001): The responsibility to protect: research, bibliography, background. Ottawa: International Development Research Centre. S.97, 113.

10) Alex Bellamy (2009): Responsibility to Protect: The Global Effort to End Mass Atrocities. London: Wiley. S.52.

11) David Rieff (2011a): Saints Go Marching In. National Interest, 21.06.2011.

12) Einen Eindruck von der Komplexität der Situation geben die Artikel von Seymour Hersh: Whose Sarin? London Review of Books, 35:24, S.9-12 und The Red Line and the Rat Line. London Review of Books, 36:8, S.21-24.

13) Zu dem hier diskutierten Aspekt siehe für eine umfassendere Darstellung und Diskussion Peter Rudolf (2013): Schutzverantwortung und humanitäre Intervention: Eine ethische Bewertung der »Responsibility to Protect« im Lichte des Libyen-Einsatzes. SWP-Studie. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik.

14) Michael Ignatieff (2013): How to Save the Syrians. New York Review of Books Blog, 13.9.2013.

15) ICISS, a.a.O., S.35.

16) Alex de Waal et al. (2012): How Mass Atrocities End: An Evidence-Based Counter-Narrative. Fletcher Forum of World Affairs, 36:15, S.15-31.

17) Ebd.

18) Mahmood Mamdani (2013): The Logic of Nuremberg. London Review of Books, 35:21, S.33-24.

19) de Waal (2012), a.a.O.

20) ICISS, a.a.O. S.37.

21) Ebd., S.52.

22) David Rieff (2011b): R2P, R.I.P. New York Times, 7.11.2011.

23) Evans (2007a), a.a.O.

24) Simon Adams (2012): Emergent Powers: India, Brazil, South Africa and the Responsibility to Protect. Huffington Post, 20.09.2012.

25) Weiss/Hubert (2001), a.a.O., S.150.

26) Suzanne Jonas (2009): Guatemala: Acts of Genocide and Scorched-Earth Counterinsurgency War. In: Samuel Totten/William Parsons (eds.): Century of Genocide. New York/London: Routledge, S.355-394, hier 381.

27) Elizabeth Malkin (2013): Trial on Guatemalan Civil War Carnage Leaves Out U.S. Role. New York Times, 16.05.2013.

28) Brad Simpson (2005): „Illegally and Beautifully“: The United States, the Indonesian Invasion of East Timor and the International Community, 1974-76. Cold War History, 5:3, S.281-315.

29) Gareth Evans (2003): The Responsibility to Protect: When It’s Right to Fight. Progressive Politics, 31.7.2003.

30) Weiss/Hubert (2001), a.a.O., S.42.

31) Doris Mpoumou (2010): Role of Civil Society in Advancing the Responsibility to Protect. Opening remarks. Early Warning for Protection: Technologies and Practices for the Prevention of Mass Atrocity Crimes, November 3-4, 2010. Phnom Penh: Oxfam.

32) Word Federal Movement – Institute for Global Policy (2003): Civil Society Perspectives on the Responsibility to Protect. New York:WFM – IGP, S.8.

33) Australian Minister for Foreign Affairs and Trade: Media Release – Attachment. Australian Responsibility to Protect Fund – Final Results of R2P Fund Selection Committee. 25 September 2009.

34) ICISS (2001), a.a.O., S.73.

35) Thomas Weiss (2011): Thinking about global governance: why people and ideas matter. London.

36) Bellamy (2009): a.a.O., S.91.

37) Fabrice Weissman (2010): Not In Our Name: Why Médecins Sans Frontières Does Not Support the Responsibility to Protect. In: Criminal Justice Ethics, 29:2, S.194-207.

38) Evans (2003), a.a.O.

39) Martti Koskenniemi (2002): The Gentle Civilizer of Nations: The Rise and Fall of International Law, 1870-1960. Cambridge: Cambridge University Press..

40) ICISS (2001), a.a.O., S.44.

Lou Pingeot ist Politikwissenschaftlerin und war von 2010 bis 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin von Global Policy Forum in New York. Seit 2014 ist sie freie Mitarbeiterin von Global Policy Forum und Doktorandin an der McGill University in Montreal.
Wolfgang Obenland ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Programmkoordinator beim Global Policy Forum in Bonn.

Kritische Anmerkungen zum Konzept der »Human Security«

Kritische Anmerkungen zum Konzept der »Human Security«

von Iris Smidoda

In W&F 2-2003 berichtete Dieter Bricke über einen Kongress der Petra-Kelly-Stiftung (6. und 7. Februar 2003 in München) zum UN-Konzept der menschlichen Sicherheit. Die Veranstalter gingen davon aus, dass es – angesichts der Rechtfertigung von Präventivkriegen durch Sicherheitspolitiker – erstrebenswert sei, den für den Normalbürger zentralen Begriff der Sicherheit mit neuen Impulsen zu füllen. Unsere Autorin hat sich auf dem Kongress mit einer kritischen Position in diese Debatte eingemischt. Wir dokumentieren hier ihren Beitrag.
Was tun wir eigentlich, wenn wir grundlegende und völlig verschiedene Aspekte menschlichen Lebens wie Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung, Armut oder Verletzung von Menschenrechten in einen Sicherheitszusammenhang stellen? Was tun wir, wenn wir das Wort Sicherheit benutzen? Wer oder was macht einen Sachverhalt zu einer Sicherheitsfrage? Welche Konsequenzen sind damit verbunden, wenn ganz unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche in einen Sicherheitskontext gestellt werden? Welche Absichten sind damit verbunden? Und welche politische Wirkung entfaltet ein solchermaßen erweiterter Sicherheitsbegriff? Der Beantwortung dieser Fragen werde ich mich in vier Thesen nähern:

Sachverhalte, die in einen Sicherheitszusammenhang gestellt werden, entfalten einen Bedrohungscharakter und können so dramatisiert werden

Im Konzept der »Human Security« wird Sicherheit definiert als Abwesenheit von Bedrohung und als Schutz vor plötzlichen und schmerzlichen Störungen im Ablauf des alltäglichen Lebens. Anstatt anzunehmen, dass Sicherheit eine objektive Realität ist, können wir Sicherheit als eine soziale Konstruktion verstehen: Erst indem Sachverhalte als »Sicherheitsfragen« bezeichnen werden, entfalten sie einen bestimmten Charakter – nicht jedoch, weil sie aus sich selbst heraus Sicherheitsfragen sind (Waever 1996,45). Die Ausbreitung der Krankheit Aids, der Drogenkonsum einer Gesellschaft oder eine mangelhafte Ernährung sind nicht aus sich heraus Sicherheitsprobleme.

Die Verwendung des Begriffes »Sicherheit« ist eine spezifische Herangehensweise, um die oben genannten Sachverhalte einzugrenzen. Wenn wir einen Sachverhalt in einen Sicherheitszusammenhang stellen, wird er dramatisiert. Es wird nahegelegt, dass ihm eine absolute Priorität zukommen muss. So kann ein beliebiger Sachverhalt als existenzielle Bedrohung dargestellt werden. Es wird suggeriert: „Wenn wir dieses Problem nicht meistern, wird alles Übrige irrelevant; wir werden nicht mehr in der Lage sein, zukünftige Herausforderungen zu meistern, weil wir dann nicht existent sein werden oder nicht mehr frei sein werden.“ (Waever 1996,48). Dabei ist es unerheblich, ob von den Sachverhalten tatsächlich eine Gefährdung ausgeht. Es geht nicht mehr um ein Abwägen der Ernsthaftigkeit verschiedenartiger Bedrohungen. Allein dadurch, dass der Sachverhalt eine Frage der Sicherheit wird, wird er zur Bedrohung. Nehmen wir das Beispiel Immigration: Wird sie in einen Sicherheitsbezug gestellt, werden Immigranten und Immigrantinnen zur Bedrohung, der Umgang mit ihnen wird zur Bedrohungsabwehr.

Die Möglichkeit der Dramatisierung von Sachverhalten mithilfe des Sicherheitsbegriffs macht das Konzept der »Human Security« politisch attraktiv. Werden Hunger, Flucht, Umweltzerstörung, Unterdrückung von Frauen oder Armut mit dem Begriff »Sicherheit« in Zusammenhang gebracht, ist damit sicherlich auch die Hoffnung verbunden, den politischen Stellenwert der Politikfelder zu erhöhen, die sich mit diesen Problemen befassen – Umweltpolitik, Flüchtlingspolitik, Entwicklungspolitik, Frauenpolitik etc. – und damit natürlich auch den Ressourcenfluss in diese Politikbereiche (Brock 2001, 3). Ich denke, dass diese Hoffnung enttäuscht werden wird und eine Aufwertung der Politikfelder aus dem Bereich der »low politics« ausbleibt. Wahrscheinlicher ist, dass die Erweiterung des Sicherheitsbegriffes dazu führt, dass sich die Außen- und Sicherheitspolitik nun auf den erweiterten Sicherheitsbegriff bezieht. Damit komme ich zur zweiten These.

Versuche den Sicherheitsbegriff durch Erweiterung zu entmilitarisieren und so positiv zu besetzen, dass er für die eigenen Belange nutzbar wird, waren in der Vergangenheit wenig erfolgreich und werden auch in der Zukunft nicht erfolgreich sein.

Auch das Konzept der »Human Security« verfolgt das aus friedenspolitischer Sicht durchaus nachvollziehbare Ziel, die Bedeutung des Militärs zu relativieren. Dies geschieht durch den Verweis auf vermeintliche Gefahren für die Sicherheit, die mit den traditionellen sicherheitspolitischen Instrumenten nicht zu beheben sind. Umweltzerstörung, Bevölkerungswachstum, Flüchtlingsbewegungen, Entwicklungsunterschiede. Der Sicherheitsbegriff soll »entmilitarisiert« werden. Die Frage ist, funktioniert das?

Öko-Aktivisten haben zu Beginn der 90er Jahre Umweltprobleme in einen Sicherheitskontext gestellt. Die Menschheit sei mit irreparablen Umweltschäden konfrontiert und wenn diesen Fragen nicht absolute Priorität eingeräumt würde, würde es bald zu spät sein, die Schäden in begrenztem Rahmen zu halten. Umweltzerstörung wurde als existentielle Bedrohung wahrgenommen. Was ist aus der Diskussion um ökologische Sicherheit geworden? Die Erweiterung des Sicherheitsbegriffes hat lediglich dazu geführt hat, dass sich die Sicherheitspolitik selbst nun auf den erweiterten Sicherheitsbegriff bezieht – aber nicht in seiner entmilitarisierten Form, sondern in der Weise, dass die aus dem erweiterten Sicherheitsbegriff ableitbaren Konfliktpotentiale neue Aufgaben für militärisches Eingreifen mit sich bringen. Dem Militär sind jenseits der Verteidigungsaufgaben Interventionsaufgaben zugewachsen (Brock 2001,4). Heute sind nicht nur Umweltgefährdung und die Steuerung von Fluchtbewegungen (Kosovo), sondern auch Terrorbekämpfung (Irak) und die Durchsetzung von Frauenrechten (Afghanistan) in der Öffentlichkeit weitgehend akzeptierte Legitimationsfiguren für militärisches Eingreifen. Wie kam es zu dieser Entwicklung?

Zum einen ist es eben ein Irrtum anzunehmen, dass der Begriff »Sicherheit« an sich schon eine bestimmte Bedeutung besitzt, die an alle erdenklichen Spezifikationen angeknüpft werden kann wie z.B. »nationale Sicherheit«, »individuelle Sicherheit«, »ökologische Sicherheit«, »Gender Security«. Auch im Konzept der »Human Security« wird angenommen, dass Sicherheit eine zunächst unproblematische Bedeutung hat, die auf alle beliebigen Bereiche übertragbar ist. Tatsächlich aber ist es so, dass die Bedeutung von Sicherheit, die in all den erweiterten Sicherheitsbegriffen mitschwingt, die der »nationalen Sicherheit« ist. Die Bedeutung von Sicherheit als den führenden Leitprinzip der internationalen Politik – wird immer analog verstanden, wenn ein gesellschaftlicher Bereich mit dem Begriff »Sicherheit« in Verbindung gebracht wird

Zum andern darf natürlich nicht außer Acht gelassen werden, wer in einer Gesellschaft die Definitionsmacht über Begriffe hat.

Die Erweiterung des Sicherheits- begriffes führt zu einem Verlust an analytischer Schärfe

Die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs wie sie im Konzept der »Human Security« vorgenommen wird, kann zu unhaltbaren Verallgemeinerungen führen, indem ganz verschiedene Sachverhalte unter den Begriff der Sicherheit subsummiert werden. Brock (1997 und 2001) weist darauf hin, dass die Subsumption dieser unterschiedlichen Sachverhalte unter den Begriff der Sicherheit dazu verführt, die Aufmerksamkeit auf das Herausarbeiten von Typologien zu richten, statt auf die Herausarbeitung von Zusammenhängen. Statt der Frage nachzugehen, in welcher Form soziale Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung, Gesundheitsgefährdung etc. denn mit Sicherheit zusammenhängen, begnügt man sich damit, ihr Vorhandensein als eine Form der Unsicherheit zu definieren. Der dargestellte Zusammenhang zwischen Sicherheit und den oben genannten Problembereichen ist recht diffizil, wird aber in dem Konzept nicht ausreichend analysiert. Vieles bleibt im Nebel, selbst so elementare Fragen, was denn nun abhängige, was unabhängige Variable ist. Ein Beispiel ist der im Bericht hergestellte Zusammenhang von Sicherheit und Entwicklung. Einerseits wird argumentiert, menschliche Sicherheit bestehe darin, die von Entwicklung hergestellten Optionen wahrnehmen zu können, andererseits wird konstatiert, Sicherheit sei durch nachhaltige Entwicklung erst zu erreichen (v. Braunmühl 2002, 45).

Der Diskurs über die Erweiterung des Sicherheitsbegriffes entfaltet seine eigene Dynamik, die einem friedlichen Miteinander nicht unbedingt förderlich ist.

Ein Sicherheitsdiskurs argumentiert und empfindet von Bedrohungen und Gefahrenabwehr her. Ich zitiere Claudia von Braunmühl (2002, 46): „Der Begriff Sicherheit… denkt sich als »Sicherheit gegen« oder »Sicherheit vor«.“ Sie führt weiter aus, dass „wenig darauf hinweist, dass durch die Formulierung von Sicherheitsinteressen Solidarität und Umverteilungsbereitschaft mobilisiert werden.“ Wenn wir unterstellen, dass die größte Gefährdung des Friedens von den immer infamer werdenden Verteilungsstrukturen auf der Erde ausgeht, ist das natürlich ein gravierender Mangel! „Sicherheitsdenken hat vor allem die Gewährleistung der eigenen Sicherheit im Auge und verlässt schwerlich die eingefahrenen Gleise von Interessen- und Machtpolitik. Angesichts der globalen Fülle an Mangel, Katastrophen- und Chaospotential ist schwerlich daran zu glauben, dass hier je ein Zustand der Entspannung und des friedlichen Miteinanders erreichbar sein könnte“ Weiter führt sie aus: „Es macht einen großen Unterschied, ob Politik im globalen Entwurf sich mit einer Argumentationsfigur darstellt, die auf Angst, Bedrohungsgefühl und Abwehr setzt… oder ob dem Denken und Fühlen eine Konfiguration angeboten wird, in dem Zuwendung, Mitmenschlichkeit und essentielle Verbundenheit tragende Säulen sind. Es macht auch einen Unterschied, ob Sicherheitspolitik in menschenrechtlichen Erwägungen begründet oder Menschenrechtspolitik sich in einem Sicherheitsdiskurs ansiedelt“ (v. Braunmühl 2001,49).

Eine Alternative zum Sicherheitsgedanken sieht von v. Braunmühl darin, weiterhin auf den Rechtsgedanken zu setzen: „Der Rechtsgedanke ist ermächtigender im Sinne von empowerment als der Sicherheitsgedanke mit seinen unweigerlichen Dilemmata von Schutz und deren Preis… und nicht zuletzt den unheiligen und machtvollen Weggefährten, die er auf den Plan ruft. Der Sicherheitsgedanke ist voller Schließungen und verbaut eher das globale Transformationspotential, das dem Gedanken nachhaltiger menschlicher Entwicklung als Menschrecht innewohnt.“ (v. Braunmühl 2001, 49)

Ich plädiere daher für einen möglichst eingeschränkten Sicherheitsbegriff und für Vorsicht im Umgang mit dem machtvollen Begriff »Sicherheit«.

Literatur

Braunmühl, v. Claudia: Sicherheit für wen und wovor? Kritische Anfragen zum Sicherheitskonzept der Vereinten Nationen, in: epd-Entwicklungspolitik 1/2002, 44-49.

Brock, Lothar: Gewalt in den internationalen Beziehungen, in: Berthold Meyer (Hrsg.), Formen der Konfliktregelung, Opladen 1997, 108-123.

Brock Lothar: Von der ökologischen Sicherheit zum nachhaltigen Frieden, in: Politik und Zeitgeschichte 12/2001, 3- 5.

Müller, Harald: Das Leben selbst ist lebensgefährlich. Kritische Anmerkungen zum erweiterten Sicherheitsbegriff, in: Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (Hrsg.) HSFK Standpunkte 4/1997.

Waever, Ole: Sicherheit und Frieden. Erweiterte Konzepte – engere Freiräume für Politik, in: antimilitarismus information 11/1996, 45-57.

Iris Smidoda ist Referentin bei »Ohne Rüstung Leben – ökumenische Aktion für Frieden und Gerechtigkeit«

Intelligenter Kolonialismus

Intelligenter Kolonialismus

Die Human Security Doctrine for Europe

von Christoph Marischka

Das Konzept der Menschlichen Sicherheit wurde von Friedensbewegten mit der Intention entwickelt und propagiert, die Freiheit der Menschen von Furcht und Mangel, die individuelle Sicherheit, in den Mittelpunkt zu stellen; dem Schutz des Individuums gezielt höhere Bedeutung zu geben als dem Schutz der territorialen Integrität der Nationalstaaten. Doch der Begriff war von Anfang an umstritten. Für die einen war der Begriff Sicherheit zu stark staatlich besetzt, andere befürchteten den Missbrauch. So wies Claudia von Braunmühl auf einem Kongress der Petra-Kelly-Stiftung im Februar 2003 auf die Gefahr hin, „dass jeder Sicherheitsbegriff ein soziales Konstrukt darstellt und daher stets durch »unheilige Weggefährten«, beispielsweise durch den militärisch industriellen Komplex, manipulierbar bleibe.“1 Wie Recht sie damals hatte, zeigt eine Studie, die im Auftrage des EU-Repräsentanten für die Außenpolitik, Javier Solana, erstellt wurde, und in der der Begriff Menschliche Sicherheit zur Legitimation eines »intelligenten Kolonialismus« eingesetzt wird.

Etwa zeitgleich mit der Ausarbeitung der UN-Reformpläne durch das High Panel on Threats, Challenges and Change arbeitete eine 13-köpfige Studiengruppe an der London School of Economics and Political Sciences (LSE) im Auftrag des EU-Repräsentanten für Außenpolitik, Javier Solana, an einer Studie zu den Fähigkeiten der EU im Sicherheitssektor. Sie war zusammengesetzt aus WissenschaftlerInnen wie Mary Kaldor, einer der HauptprotagonistInnen der Theorie der »Neuen Kriege«, Militärs, wie dem deutschen Ex-KFOR-Kommandanten Klaus Reinhardt, PolitikerInnen und RechtsexpertInnen. Das Ergebnis ihrer Arbeit präsentierte die Studiengruppe im September 2004 unter dem Titel: Eine menschliche Sicherheitsdoktrin für Europa (A Human Security Doctrin for Europe, HSD). Deren erklärtes Ziel ist es, die EU-Außenpolitik für die Ziele, wie sie in der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) Solanas vorgeschlagen wurden, fähiger und effektiver zu gestalten. Ausgehend von den fünf in der ESS genannten Hauptbedrohungen – Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte, gescheiterte Staaten und organisiertes Verbrechen – wird in der HSD zunächst festgestellt, dass keiner dieser Bedrohungen rein militärisch zu begegnen sei und dass die bisherigen Konzepte, solchen Gefahren zu begegnen, weitgehend wirkungslos (geworden) sind. Eindämmung solcher Bedrohungen habe in den letzten Jahrzehnten oft die Unterstützung und Aufrechterhaltung autoritärer Regimes bedeutet, doch genau diese Regime kollabieren irgendwann (in den letzten Jahren verstärkt) und ihre Territorien werden zu eben solchen Regionen der Unsicherheit, die laut Studiengruppe auch die EU bedrohen. Klassische Invasionskriege hingegen haben nicht nur den Nachteil, dass sie aufgrund der vielen zivilen Opfer Widerstand im eigenen Land (bzw. innerhalb der EU) hervorrufen, sondern auch international polarisierend wirken. Die Zerstörung der Infrastruktur im angegriffenen Land fördert zudem das Entstehen einer informellen Wirtschaft und provoziert bewaffneten Widerstand.

Zukünftig werde es darum gehen, in Staaten oder ganzen Regionen, deren Souveränität nicht mehr anerkannt wird oder deren Regierungen zur Aufrechterhaltung der Ordnung – also ihrer Herrschaft – um Hilfe ersuchen, mit zivil-militärischen Spezialkräften »intelligent« einzugreifen und nicht nur die militärische oder polizeiliche Kontrolle zu übernehmen oder zu festigen, sondern umfassende Institutionen der politischen Herrschaft aufzubauen. Dafür empfiehlt die Studiengruppe einen vereinheitlichten, klaren rechtlichen Rahmen für EU-Interventionen und die Aufstellung einer Human Security Response Force (HSRF), der neben 10.000 SoldatInnen auch 5.000 SpezialistInnen für den zivilen Aufbau angehören sollen. Genauer werden benannt: Polizei, Steuer-, Zoll- und Verwaltungsbeamte, Richter, humanitäre Helfer und Menschenrechtsspezialisten.

Neben Vorschlägen zur Effektivierung zukünftiger Interventionen propagiert die HSD eine Vorstellung der Welt, die ein hemmungsloses Eingreifen hochgerüsteter Staatenverbände in die politische Organisation ganzer Regionen nicht nur nahe legt, sondern auch moralisch zur Verpflichtung erhebt.

Menschliche Sicherheit und die Verantwortung zum Schutz

Was haben diese kolonialen Vorschläge mit »Menschlicher Sicherheit« zu tun, die der Doktrin immerhin ihren Namen gegeben hat? Die Erweiterung des klassischen, staatszentrierten Sicherheitsbegriffs durch den Begriff Menschliche Sicherheit dient zunächst dazu das völkerrechtliche Interventionsverbot auszuhebeln. Mit der Reform der UN setzt sich immer mehr die Vorstellung durch, die mächtigen Staaten oder die Staatengemeinschaft hätten eine Verantwortung zum Schutz der Individuen weltweit. Wenn ein Staat die Sicherheit seiner Bevölkerung nicht mehr gewährleisten könne oder gar bedrohe, so verliere er seine Souveränität und es wäre dann Aufgabe anderer Staaten oder Staatengemeinschaften zu intervenieren und die Sicherheit der Individuen wiederherzustellen. Als Regionen, in denen solche Interventionen erforderlich sein könnten, werden genannt: Afrika, Balkan, Zentral- und Südostasien sowie der Kaukasus.

In dieser Argumentation wird die Sicherheit der Bevölkerung mit der Souveränität »ihres« Staates, also der Existenz eines zentralisierten Gewaltapparates gleichgesetzt. Nachdem sich der Staat in den letzten Jahrzehnten stark über seine »Wohlfahrts«-Funktion legitimiert hatte, ist dies ein Rückfall in hobbessche Erklärungsmuster, die davon ausgehen, dass ohne die Monopolisierung der Gewalt in den Händen des Staates automatisch ein Krieg Aller gegen Alle ausbrechen würde. Menschliche Unsicherheit resultiert in dieser Argumentation zwangsläufig und in erster Linie aus dem Aufbrechen des staatlichen Gewaltmonopols. Andere Ursachen für Elend, wie die massenhafte Produktion von und der Handel mit Kleinwaffen, ein globales Konglomerat militärisch-industrieller Komplexe, eine teilweise militärisch und polizeilich durchgesetzte Wirtschaftsordnung, die massenhaft marginalisierte Menschen produziert, werden ausgeblendet und der gewaltsame Konflikt zum menschlichen Urzustand erhoben. Durch den Fingerzeig auf so genannte scheiternde Staaten in der »Dritten Welt« wird kaschiert, dass auch die Staaten, welche auf Interventionen drängen, die Sicherheit ihrer eigenen Bevölkerungen oder einzelner Bevölkerungsteile bedrohen und auch in ihrem Inneren menschenunwürdige Zustände herrschen.

Die vermeintliche Einheit von Moral und Interessen

Dass Armut heute als Sicherheitsproblem wahrgenommen wird, mag einigen als Erfolg erscheinen – Armutsbekämpfung gewinnt so einen höheren Stellenwert in der internationalen Politik – doch leider wird sie zunehmend auch mit Instrumenten der Sicherheitspolitik bekämpft. Seit einige Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit auf eine »Terrordividende« (Erhöhung der staatlichen Etats für Entwicklungszusammenarbeit als Teil der Strategie gegen den internationalen Terrorismus) hoffen, ist zunehmend festzustellen, dass zivile Budgets für militärische Maßnahmen verwendet werden.

Die Autoren der HSD nennen drei Argumente für ein verstärktes internationales Engagement. Neben legalen Verpflichtungen, die sich aus Artikel 55 und 56 der UN-Charta ergäben, wird einerseits anhand einer moralischen Verantwortung, andererseits mit »aufgeklärtem Eigeninteresse« argumentiert. Da Armut und Unsicherheit in »Schwarzen Löchern« durch die zunehmende globale Vernetzung als Bedrohung europäischer Sicherheit interpretiert werden und nach Ansicht der Studiengruppe nur mit zivilmilitärischen Mitteln bekämpft werden können, legen beide Argumente die selben Handlungen nahe. Mary Kaldor und Marlies Glasius (ebenfalls Mitglied der Studiengruppe) wollen in der so hergeleiteten Einheit von Moral und Interessen die Perspektiven einer im kantschen Sinne »vernünftigen« Weltinnenpolitik erkennen und stilisieren die EU zum Projekt des »ewigen Friedens«, da sich ihre Außenpolitik auf die universale Moral der Humanität und die Herrschaft des daraus in Europa abgeleiteten Rechts gründet.2

Um diese Anmaßung zu widerlegen genügt es, Bereiche zu betrachten, in denen sich Moral und Interesse offenkundig widersprechen. Eine moralische Verantwortung zum Schutz der Individuen in Konfliktgebieten müsste in erster Linie das Recht auf Asyl beinhalten. Die Interessen der EU widersprechen dem eklatant und manifestieren sich im Ausbau der »Festung Europa« und eines globalen Lagersystems. Die EU-weite Demontage des Asylrechts wird jedoch in der HSD nicht einmal erwähnt. Stattdessen ist von Migration in die EU nur im Kontext von Terrorismus und organisierter Kriminalität als Bedrohung die Rede. Durch die Gleichsetzung von Moral und Eigeninteresse verliert die Moral an eigenständiger Bedeutung, als alleiniger Handlungsgrund wird sie unzureichend, in der Abwägung gegen Interessen unterliegt sie.

Tatsächlich sollen die moralische Argumentation und der Begriff der Menschlichen Sicherheit Zustimmung in der internationalen Gemeinschaft und der EU-Öffentlichkeit herstellen. Die HSD erwähnt an mehreren Stellen, dass diese Zustimmung notwendig, aber in den EU-Öffentlichkeiten nicht problemlos herstellbar ist. Sie ist einfacher für zivilmilitärische Einsätze unter dem Deckmantel der Humanität zu erzeugen als für Angriffskriege. Dies gilt besonders für die Träger nicht-staatlicher Entwicklungszusammenarbeit, humanitärer Hilfe und Konfliktlösung, deren Beteiligung nicht nur für die weitere Legitimation der Einsätze, sondern auch strategisch für deren Erfolg notwendig ist, wie es die HSD als Lehre aus den Problemen bei der Besetzung und Befriedung Afghanistans und Iraks formuliert.

Der Kampf um die Souveränität

»Schwarze Löcher« werden in der HSD Regionen genannt, die es neu zu strukturieren gilt. Dieser Begriff zeigt die Ignoranz gegenüber den tatsächlichen Ursachen und Hintergründen bewaffneter Konflikte oder Krisen. Ohne eine solche Analyse aber verkommt der in der HSD gestellte Anspruch, Konflikte in allen ihren Phasen zu begleiten, zum Freibrief für koloniale Interventionen. Prävention heißt in diesem Falle lediglich, Militär zu entsenden, bevor ein Konflikt ausbricht. Ob überhaupt eingegriffen wird, soll von verschiedenen Faktoren abhängig gemacht werden, von denen die tatsächliche Schwere der Menschenrechtsverletzungen nur einer ist. Kriterien wie Praktikabilität und Erfolgsaussichten, geographische und kulturelle Nähe, koloniale Verantwortung und Druck durch »die Öffentlichkeit« bieten ausreichend Spielraum, diese Entscheidung von ökonomischen oder geostrategischen Interessen abhängig zu machen. Wenn eingegriffen wird, soll dies aber dauerhaft, mit einem kohärenten und umfassenden Konzept geschehen, welches durch ein einheitliches Handeln der EU-Staaten und durch eine Abstimmung militärischer, ökonomischer und humanitärer Instrumente erreicht werden soll. Die HSD fordert in diesem Fall einen regionalen Fokus, also ein Engagement auch der Truppen im Feld über abgegrenzte, nationalstaatliche Territorien hinaus, da auch Flüchtlinge und Milizen regelmäßig über diese Grenzen hinweg agieren. Spätestens an diesem Punkt wird auch nach dem neuen Verständnis von Souveränität die Frage der Legitimität problematisch. Wenn ein Staat ausländische Truppen angefordert hat oder deren Einsatz vom Sicherheitsrat mandatiert wurde, die Milizen aber über dessen Grenzen hinweg bekämpft werden sollen, so ist abzusehen, dass EU-Truppen in einem Staat stehen, welcher diese nicht angefordert hat und von mächtigen globalen Akteuren weiterhin als souverän anerkannt wird. Die Alternative dazu wäre, ganze Regionen im Kanon der großen Mächte zum legitimen Interventionsgebiet zu ernennen. Aber auch dann sind Komplikationen zwischen verschiedenen globalen Akteuren absehbar, denn dass sich mit solchen Interventionen Interessen realisieren lassen, liegt auf der Hand. In strategisch wichtigen Regionen drohen damit Interventionswettläufe.

Bottom-Up?

Die HSD nimmt für sich in Anspruch, entsprechend der Fokussierung auf die Individuen in Konflikten, dem in der internationalen Politik tief verwurzelten Top-down Ansatz, einen praktikablen Bottom-up Ansatz entgegen zu setzen. Ein solcher sei für umfassende zivil-militärische Interventionen effektiver. Dabei konzentriert sie sich auf Einsätze im Rahmen der Petersberg-Aufgaben3, fordert aber keineswegs, dass sich die Sicherheitspolitik der EU auf diese beschränken solle.

Zunächst werden die Fortschritte bei der Vereinheitlichung der Außenpolitik der EU-Staaten, die Einrichtung der zivilmilitärischen Planungszelle in Brüssel und die im EU-Verfassungsentwurf vorgesehene Schaffung eines koordinierenden EU-Außenministeriums in der HSD begrüßt. Es werden aber auch weitere Schritte hin zu einer kohärenten Außenpolitik angemahnt.

Da die Einsatzkräfte als Vertreter von Recht und Ordnung auftreten sollen, müsse die notwendige Kohärenz durch eine Rahmengesetzgebung geschaffen werden, die regelt, wann eingegriffen wird. Gleichzeitig müssten klare politische Verantwortungen für die umfassenden Einsätze festgelegt werden. Weiter soll geklärt werden, welchem Recht die Einsatzkräfte unterstehen und wie die Kontrolle zwischen nationalen Parlamenten und den EU-Institutionen aufgeteilt wird.

Die erwünschte Kohärenz lässt sich nur durch eine weitgehende Kompetenzbündelung beim EU-Außenminister, dem die HSRF unterstehen soll, herstellen, die entsprechend in der HSD gefordert wird. Allein die Forderung nach der Zentralisierung der Entscheidungsfindung und einer einheitlichen Außenpolitik eines politischen Gebildes, das 380 Mio Menschen umfasst, widerspricht jedoch jedem ernst gemeinten bottom-up Ansatz. Dieser wird in der HSD eher auf die Region angewandt, in der interveniert wird oder werden soll, denn: „Menschen im Einsatzgebiet sind die beste Quelle für Aufklärung/Informationen“ (HSD, S.14)4. Um eine Krise in allen ihren Phasen zu begleiten, sei es notwendig, zivile Experten frühzeitig zu entsenden, die mit der lokalen Bevölkerung in Kontakt treten um sich über deren Situation und Bedürfnisse zu informieren. Als Bedingung für ein militärisches Eingreifen kommen dann verschiedene Szenarien in Betracht. Entweder bittet eine als legitim erachtete Regierung die EU um Unterstützung oder eine lokale Miliz provoziert Menschenrechtsverletzungen, woraufhin die UN einen EU-Einsatz mandatiert. Die EU könne aber auch ohne UN-Mandat intervenieren, dafür müssten aber enge und eindeutige Regelungen formuliert werden.

Die HSRF selbst soll in drei »Rängen« organisiert sein:

  • Der erste besteht aus strategischen Planern, die im zivilmilitärischen Planungszentrum eng mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst zusammenarbeiten, Informationen von Beobachtern aus den unsicheren Regionen sammeln und auswerten sowie Einsatzpläne ausarbeiten.
  • Der zweite »Rang« besteht aus 5.000 permanent einsatzbereiten zivilen und militärischen Kräften und einem mobilen Hauptquartier.
  • Der dritte umfasst 10.000 Menschen, die regelmäßig miteinander trainieren sollen und nicht innerhalb weniger Tage mobilisierbar sein müssen.

Die militärischen Kräfte könnten aus der schnellen Eingreiftruppe sowie Einheiten der Gendarmerie, der Guardia Civil und der Carabinieri entnommen, die zivilen Kräfte müssten von den Mitgliedsstaaten gestellt werden. Beide sollen gemeinsam trainieren und einen neuen Ethos entwickeln, der »soldatische Tugenden« wie Opferbereitschaft und Disziplin mit Menschlichkeit und Rechtskenntnis verbindet und die Vorbehalte zwischen militärischen und zivilen Akteuren aufhebt.

Im Einsatz soll sich diese Vermengung fortsetzen. Vorbild für die tägliche Arbeit soll – entsprechend dem Gedanken der Weltinnenpolitik – Polizeiarbeit sein. Die Herstellung menschlicher Sicherheit soll oberste Priorität haben, das Individuum über der Nation stehen und niemand getötet werden, der auch verhaftet werden kann. Jedem Soldat wird allerdings das Recht auf Selbstverteidigung zugesprochen. Die HSD übersieht dabei leider, dass sich Warlords in militarisierten Gebieten selten kampflos verhaften lassen und dass es dabei zu Schießereien kommen wird, bei denen Unschuldige getötet werden.

Hätten sich die VerfasserInnen der »Studie zu den Fähigkeiten der EU im Sicherheitssektor« etwas gründlicher – und vielleicht etwas weniger mit eurozentrierten Blick – in den Krisenregionen umgesehen, dann wüssten sie,

  • dass z. B. im Irak die menschliche Sicherheit durch die bewaffnete Intervention und den versuchten Aufbau eines neuen staatlichen Gewaltapparates nicht größer geworden ist;
  • dass in zahlreichen Krisengebieten die Gefahr für die zivilen Helfer eher zunimmt, wenn diese mit intervenierenden Soldaten kooperieren;
  • dass die Erfahrungen in Mogadischu und aktuell in Haiti5 zeigen, dass die Gewalt eskaliert, wenn ausländische Soldaten polizeiliche Funktionen übernehmen;
  • dass sowohl im Irak wie in Afghanistan, bewaffnete Soldaten aus einem anderen Land, auch wenn sie zivile Kräfte unterstützen, immer wieder als Besatzer oder Bedrohung wahrgenommen und angegriffen werden, vor allem wenn sie am Aufbau einer neuen politischen Ordnung beteiligt sind.

Menschliche Sicherheit lässt sich nun mal nicht militärisch erzwingen, sie braucht ein ziviles Konzept.

Anmerkungen

1) Dieter Bricke: Das Human Security-Konzept, in: W&F 2/2003.

2) Marlies Glasius, Mary Kaldor: Die menschliche Sicherheit- Überlegungen für eine neue Interventionspolitik der Europäischen Union, in: Frankfurter Rundschau 16.12.2004

3) Die Petersberg-Aufgaben umfassen »humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen«.

4) Es ist den Eigenheiten der englischen Sprache (in der die HSD verfasst ist) geschuldet, dass hier unklar bleibt ob und inwieweit hierbei geheimdienstliche Arbeit (Intelligence) gemeint oder eingeschlossen ist.

5) Christoph Marischka: Haitis Realität in den neuen Kriegen, in: AUSDRUCK – das IMI-Magazin August 2004

Christoph Marischka ist Beirat der Informationsstelle Militarisierung

Human Security und Smart Sanctions

Human Security und Smart Sanctions

Ausgangspunkte für eine Krisenpräventions- und Deeskaltionspolitik?

von Sascha Werthes und David Bosold

Im Laufe der 1990er haben sowohl das Human Security-Paradigma als auch der Smart Sanctions-Ansatz politische und politikwissenschaftliche Diskussionen provoziert. Während der Smart Sanctions-Ansatz als Reaktion auf die katastrophalen nicht-intendierten humanitären Nebenfolgen der UN-Sanktionspolitik gegenüber dem Irak entstand, entwickelte sich das Human Security-Paradigma in Form einer von ideologischen Restriktionen befreiten innovativen Reaktion auf die »neuen« Herausforderungen der inter- und transnationalen Beziehungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und deren Konflikt- und Problemlagen. In vorliegendem Beitrag untersuchen die Autoren, inwieweit der Smart Sanctions-Ansatz und das Human Security-Paradigma handlungsrelevantes Potenzial für krisenpräventive und deeskalierende Politik besitzen.

Sowohl das Human Security-Paradigma als auch der Smart Sanctions-Ansatz betraten die politischen Bühnen (und die akademischen Podien) nicht als fertige und ausgereifte anwendungsorientierte Politikkonzepte, sondern zunächst als Begriffe der Politik, also als Schlagwörter bzw. Catchwords. Ihr wissenschaftlich-analytischer Wert ist vielleicht gerade deswegen auch heute noch weitgehend umstritten. So verwundert es nicht, dass beide Konzepte erst durch das nachhaltige Interesse verschiedener staatlicher und nicht-staatlicher politischer Akteure an Relevanz gewannen.

So bemühte sich zunächst die schweizerische Regierung mit den Interlaken Prozessen I und II (im Hinblick auf gezielte Finanzsanktionen) um eine Weiterentwicklung und Ausformulierung des Smart Sanctions-Ansatzes. Die deutsche Regierung folgte diesem Beispiel (Bonn-Berlin Prozess: gezielte/selektive Waffenembargos, Verbesserung von gezielten Reise- und Flugverboten) genauso wie die schwedische Regierung (Stockholm-Prozess: Verbesserung der Durchsetzung und Überwachung von Smart Sanctions).

Ähnlich erging es dem Human Security-Paradigma, welches vor allem durch das nachhaltige Interesse der kanadischen und japanischen Regierung vorangetrieben wurde (Bosold/Werthes 2005). Dieses nachhaltige Interesse verschiedenster politischer Akteure (eben auch der sich immer stärker herausbildenden transnationalen Zivilgesellschaft) belebten beide Ansätze mit konkreten politischen Inhalten und konkreten (Umsetzungs-)Vorschlägen. Erste Ergebnisse dieser Entwicklung sind u.a. die Ottawa-Konvention (Verbot von Landminen, genauer: Antipersonenminen) als auch eine veränderte Sanktionspolitik der UN (Konzentration auf selektive, gezielte auch asymmetrische Sanktionsmaßnahmen).

Das nachhaltige politische Interesse an beiden Konzepten lässt sich vielleicht am ehesten dadurch begründen, dass beide Begriffe etwas Altbekanntes mit einem neuen innovativ-kreativen Element verbinden. So wird auf der einen Seite der klassisch-traditionell staatszentriert verstandene Begriff Sicherheit um eine »menschliche« Dimension erweitert und vertieft. Auf der anderen Seite beschreibt das Attribut »smart« (was sich am besten mit intelligent übersetzen lässt) eine Sanktionspolitik, welche sich um eine Minimierung der nicht-intendierten Nebenfolgen bemüht. Die attributiven Erweiterungen befriedigen somit das Bedürfnis der Politik nach Konzepten, die sich normativ und politisch leichter legitimieren lassen, und trotzdem eine handlungspolitische Alternative einschließlich klarer Politikziele anbieten. Insofern handelt es sich bei den vorliegenden Konzepten weder um alten Wein in neuen Schläuchen noch um revolutionär Neues, vielmehr um eine innovative Mischung aus Alt und Neu.

Es ist jedoch für eine Beurteilung der Stärken und Schwächen im Kontext von Konfliktdynamiken sinnvoll, die beiden Konzepte detaillierter kritisch zu beleuchten. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht hierbei vor allem die Frage, inwieweit der Smart Sanctions-Ansatz und das Human Security-Paradigma handlungsrelevantes Potenzial für krisenpräventive oder deeskalative Politik besitzen. Hierzu ist es notwendig, sich zunächst noch einmal kurz einige der aktuellen Herausforderungen in Krisen- und Konfliktregionen zu vergegenwärtigen.

Die »neue« Unsicherheit nach dem Ost-West-Konflikt

Auch wenn sich bei genauerem Hinsehen nicht vieles so radikal nach dem Ende des Ost-West-Konflikt geändert hat, wie es oft geschrieben wurde, so ist doch zumindest der Blick auf »neue« Unsicherheiten heute deutlich klarer geworden. Innerstaatliche Konflikte, oft erweitert um Zusätze wie ethnisch oder separatistisch, der Zerfall staatlicher Strukturen und die Folgen der (wirtschaftlichen) Globalisierung, etwa im Zuge der Asienkrise Ende der 90er Jahre, stellen für zahlreiche Menschen Bedrohungssituationen dar, mit denen sie im Alltag konfrontiert sind. Für einen Großteil dieser Menschen ist dabei durchaus auch ihre körperliche Unversehrtheit bedroht. Trotz zahlreicher humanitärer Aktionen, vor allem der sogenannten westlichen Welt, ist es nicht gelungen, die Ursachen der Unsicherheit signifikant und nachhaltig zu reduzieren. Dies bezieht sich sowohl auf die »sanften« Formen der Intervention wie Lebensmittellieferungen, Blauhelmmissionen alter Prägung (z.B. Überwachung von Waffenstillstandsabkommen), wie auf die Versuche des erweiterten Peace- oder Nationbuilding durch die UN und regionale Organisationen in international verwalteten Gebieten wie Ost-Timor oder dem Kosovo. Hieran kann man ablesen, dass es für eine nachhaltige Politik unabdingbar ist, das Verhältnis von staatlicher Souveränität und dem Schutzanspruch der im Staat lebenden Bevölkerung neu zu kalibrieren sowie politische Instrumente für diesen Prozess zu entwickeln bzw. weiter zu entwickeln. Dem Human Security-Paradigma mag hierbei vielleicht eine wichtige politische Orientierungsfunktion zu kommen.

Ausgangspunkt für eine strukturelle Krisenpräventionspolitik?

Im weitesten Sinne kann das Human Security-Paradigma als eine inhaltliche Ausformulierung des klassischen UN-Sicherheitskonzeptes verstanden werden (Bricke 2003). So greift denn auch der UNDP-Report von 1994 Human Security als politischen Schlüsselbegriff auf. Der Report thematisiert Sicherheit eben nicht nur im Bezug auf Staaten, sondern auch als Sicherheit des einzelnen Menschen vor existentiellen Bedrohungen wie Hunger, Krankheit und Unterdrückung und in Kontexten eines fehlenden bzw. mangelhaften Schutzes von Menschenrechten, und er geht letztlich mit Bezug auf die Grundsätze der menschlichen Entwicklung (ebd.: 70) sogar noch einen Schritt weiter. Ausgehend von der Prämisse, dass die Stärke des Human Security-Paradigmas – zur Zeit eher – in seiner Rolle als politisches Leitbild einer pro-aktiven multilateral und kollaborativ verstandenen Außenpolitik (Orientierungsfunktion) gesehen werden kann, stellt sich die Frage nach der Handlungsrelevanz im Hinblick auf die Gestaltung von Präventions- und Deeskalationspolitik.

Das Grundkonzept von Prävention (s. hierzu u. zum Folgenden Matthies 2000: 143) umfasst Maßnahmen, die Eskalationsprozesse verhindern (operative Prävention) und Maßnahmen, die Ursachen von potenziell gewaltträchtigen Krisen bearbeiten (strukturelle Prävention). Maßnahmen operativer Prävention sind häufig auf spezifische Konflikte/Krisen bzw. Konflikt-/Krisenregionen ausgerichtet. Sie orientieren sich an Überlegungen zu Frühwarnung und Frühem Handeln, Präventiver Diplomatie oder auch Erzwingungsmaßnahmen. Strukturelle Präventionsmaßnahmen beziehen sich auf die Sicherheit, sowohl zwischen als auch innerhalb von Staaten, auf »Well-Being« (u.a. soziale Gerechtigkeit, politische Partizipation u. Nachhaltige Entwicklung innerhalb von Staaten u. weltweit), sowie Recht und Gerechtigkeit (zwischen und innerhalb von Staaten).

Schon diese kurze Aufzählung verdeutlich wie weit die Ziele einer am Human Security-Paradigma ausgerichteten Politik mit den Zielen einer strukturellen Präventionspolitik übereinstimmen können. Am deutlichsten lässt sich dies an den drei Dimensionen von Human Security, die Hampson identifiziert, ablesen:

  • Befriedigung/Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse und soziale Gerechtigkeit,
  • Abwesenheit von Furcht und der Schutz vor physischer Gewalt
  • Freiheits- und Bürgerrechte und rechtsstaatliche Bedingungen.

Das heißt, man kann von einer an Grundbedürfnissen orientierten, einer humanitären sowie einer legalistischen Dimension sprechen. Diese lassen sich durchaus als leitmotivische Ausgangspunkte einer strukturellen Prävention beschreiben. Hierbei gilt es zu beachten, dass zwischen der ersten und den beiden anderen Dimensionen ein signifikanter Perzeptionsunterschied hinsichtlich der Konfliktursachen und -bearbeitungsmöglichkeiten existiert. Während die letzten beiden Dimensionen das Hauptaugenmerk auf das Spektrum organisierter, physischer Gewalt legen (z.B. »ethnische Säuberungen«, Rekrutierung von Kindersoldaten), sowie auf deren strukturelle Begleiterscheinungen (Kleinwaffenhandel, Antipersonenminen) und deren Eindämmung das Ziel von Präventionsmaßnahmen darstellt, sind die politischen Implikationen im Rahmen der ersten Dimension weitreichender. So werden im Mangel wirtschaftlicher Entfaltungsmöglichkeiten, der fehlenden Gesundheitsvorsorge und -versorgung (u.a. Medikamente gg. HIV/AIDS, Malaria, oder vorbeugende Impfungen), den lokalen Auswirkungen des Klimawandels (Überschwemmungen, bzw. Dürre, Unfruchtbarkeit des Bodens), in unzureichender Bildung (insb. Analphabetismus und gender-bezogene soziale Ungerechtigkeit) als auch in der fehlenden Kontrolle und Steuerung von Migrationsbewegungen konfliktverschärfende Faktoren bzw. »root causes« gesehen. Die Bearbeitung dieser »root causes« ist mittels der oben genannten Präventionsmaßnahmen alleine nicht nachhaltig bearbeitbar (CHS 2003: 130ff., Chen et al. 2004).

Die Fragen, die sich aus diesen Überlegungen für mögliche Präventionsmaßnahmen ergeben, sind aktueller denn je und hinsichtlich der möglichen politischen Bedeutung schwer zu bewerten. Auch wenn sich viele Gründe für eine holistische Human Security-Politik finden, die versucht alle konfliktrelevanten Dimensionen zu erfassen und sie in eine konzertierte Politikantwort einzubetten, so bleibt die von Paris geäußerte Kritik dennoch wichtig: „[…] if human security is all these things, what is it not?“ (Paris 2001: 92).

Insofern scheint eine an der Eindämmung von Konflikten und an zunehmender internationaler Verrechtlichung orientierte Politik, die sich »nur« mit den Auswirkungen und Ausprägungen der physischen Gewalt in weltweiten Konflikten beschäftigt (sich also letztlich auf Gewalt- und Krisenprävention konzentriert) – im positiven und nicht im theorieschulischen Sinne – realistischer und vor allem erfolgversprechender (Krause 2004, Mack 2004). Deshalb ist es sinnvoller, Human Security als Leitmotiv einer strukturellen Präventionspolitik bzw. als politische Strategie zur Unterstützung nachhaltiger Deeskalationsprozesse oder eines Wiederaufbaus von Nachkriegsgesellschaften zu betrachten. Denn: die spezifischen Aufgaben die im Rahmen einer Präventionspolitik, der Unterstützung von Deeskalationsprozessen oder des Wiederaufbaus von Nachkriegsgesellschaften bewältigt werden müssen, konvergieren letztlich in den Bereichen wo sie sich auf die strukturellen Ursachen von (potenziell gewaltträchtigen) Krisen oder Konflikten beziehen. Das Human Security-Paradigma kann hier durch seine Fokussierung auf menschliche Unsicherheit als Ursache von Gewalt eine wichtige Orientierungsfunktion übernehmen.

Smart Sanctions als operative Krisenprävention?

Das Human Security-Paradigma bietet allerdings auch genügend Potenzial, konkrete politische Instrumente und Maßnahmen etwa im Kontext operativer Prävention zu prägen. Dies zeigt eine weitere Facette auf, die über die breite politische Orientierungsfunktion und das Leitmotiv einer strukturellen Präventionspolitik hinausgeht. Am besten lässt sich dies am Beispiel von Sanktionen verdeutlichen, welche beinahe in jedem Katalog bzw. in jeder Aufzählung operativer Präventionsmaßnahmen auftauchen. Zunächst entwickelte sich der Smart Sanctions-Ansatz aus der Erkenntnis heraus, dass die umfangreiche und allzu oft unreflektierte Verhängung von Sanktionen als selektives Bestrafungs- und Zwangsinstrument ungeahnt dramatische humanitäre Auswirkungen und Nebenfolgen, vor allem für die Zivilbevölkerung, haben kann. Augenscheinlichstes und bekanntestes Beispiel sind die UN-Sanktionen gegenüber dem Irak (Werthes 2003). Das Beispiel Irak verdeutlicht, dass sich (UN-) Sanktionen in einigen Fällen selbst zu einer direkten Bedrohung »menschlicher Sicherheit« für breite Bevölkerungsschichten entwickeln können. Auch hier könnten die normativen Implikationen des Human Security-Paradigma einen neuen Zugang herstellen. Etwa, indem es Bewertungskriterien und Orientierungspunkte für die Folgen und Konsequenzen als auch für die Durchsetzung politischer Entscheidungen bereit stellt. Die Berücksichtigung des Human Security-Paradigmas im Kontext der Verhängung von Sanktionen im Rahmen einer reaktiv-operativen UN-Präventionspolitik beim Umgang mit massiven Normverstößen aggressiver bzw. repressiver Regime oder neuerdings auch (nichtstaatlicher) Konfliktparteien (z.B. gegen die UNITA in Angola oder die RUF in Sierra Leone) müsste somit auch dem Kriterium genügen, menschliche Sicherheit mehr zu fördern als diese zu gefährden (hierzu auch Debiel/ Werthes 2005). Dies wäre gleichbedeutend mit der Orientierung auf den Smart Sanctions-Ansatz.

Anders ausgedrückt würde die Berücksichtigung des Human Security-Paradigmas im Rahmen seiner Orientierungsfunktion bedeuten, dass Sanktionen sich im Kontext ihrer Folgen für die Zivilbevölkerung einer »Do No Harm«-Norm (s. Anderson 1999) unterwerfen würden. Im Hinblick auf die politische Wirksamkeit müssten Smart Sanctions so gestaltet werden, dass ihr erwarteter Nutzen (eine Politikänderung der politisch verantwortlichen [Konflikt-]Akteure, bzw. die Verhinderung einer weiteren Eskalation) in einer vertretbaren Relation zum verursachten Leid der von den Sanktionen Betroffenen stehen (Harm-Benifit-Analyse). Dies hätte zur Folge, dass Sanktionen zum einen auf die politisch Verantwortlichen zielgerichtet werden (also die menschliche Sicherheit Unbeteiligter schonen) und, zum anderen, nur selektive Sanktionsmaßnahmen in Frage kommen (z.B. Waffenembargos, Reiseverbote, Finanzsanktionen). Unstrittig ist hierbei, dass die Gestaltung, Implementierung und Überwachung eines Smart Sanctions-Regimes wesentlich aufwendiger und logistisch herausfordernder als ein umfassendes Sanktionsregime ohne Einschränkungen ist.

Zusammengefasst: Das Beispiel Smart Sanctions zeigt auf, wie das Human Security-Paradigma im Kontext seiner Orientierungsfunktion für eine Bewertung und, hiermit einhergehend, kreativen Gestaltung konkreter Maßnahmen und Instrumente, welche typischer Weise in Kontexten operativer Prävention und im Rahmen von Deeskalationsmaßnahmen ergriffen werden, genutzt werden kann.

Zusammenfassung und Ausblick

Der anfängliche Optimismus, der in den ersten Jahren nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes das Denken und perspektivische Forschen prägte, ist heute eher einer weitgehenden Ernüchterung gewichen. Die Anfang der neunziger Jahre proklamierte »neue Weltordnung« stellte sich spätestens nach dem 11. September 2001 als eine Illusion dar, da »neuen« Problem- und Konfliktlagen mit »alten« Problem- und Konfliktlösungsstrategien begegnet wurde. Nichtsdestotrotz haben sich in dieser Zeit neue Ansätze und Politikkonzepte in den wissenschaftlichen Diskursen entwickelt. Neben einem breiteren und vertieften Verständnis von Krisenprävention (operativer und struktureller Art), Konzepten zu Nation-/Statebuilding, Überlegungen zu nachhaltigen Deeskalationsprozessen, prägen zur Zeit auch das Human Security-Paradigma und der Smart Sanctions-Ansatz vielfältige Debatten. Diese beziehen sich in der Hauptsache auf das im Wandel befindliche Verständnis von staatlicher Souveränität. Die damit verbundene Norm der Nichteinmischung weicht einem weiter gefassten Verständnis dessen, was als genuine Aufgabe eines Staates angesehen werden kann: den Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger. Ja, man kann sogar weiter gehen: einer Verpflichtung zum Schutz, einer »Responsibility to Protect«. Die beiden hier diskutierten Konzepte, können im Hinblick auf dieses erweiterte Verständnis einer »Responsibility to Protect« als erste konzeptionelle Überlegungen gedeutet werden, wie dieser Anspruch im Einklang mit der wahrgenommenen Perforation staatlicher Souveränität eingelöst werden kann. Die Stärke des Human Security-Paradigmas liegt hier zum einen in der Betrachtung von Human Security als politischem Leitmotiv (politische Orientierungsfunktion). Etwa im Rahmen konzertierter Projekte struktureller Prävention oder im Hinblick auf Projekte zur Förderung nachhaltiger Deeskalationsprozesse.

Hingegen liegt die Stärke des Smart Sanctions-Ansatzes eher im Bereich der (intendierten) Verhinderung weiterer Eskalationsdynamiken bzw. im Bereich der operativen Prävention. Der Exkurs über den Smart Sanctions-Ansatz deutet darüber hinaus an, inwieweit die politische Orientierungsfunktion, die das Human Security-Paradigma zweifellos bietet, auch auf konkrete Maßnahmen und Instrumente übertragen werden kann. Beide Konzepte sind letztlich Ausdruck eines durch Vertiefung und Erweiterung gewandelten Sicherheitsverständnisses. Die Schutzverantwortung des Staates wird verstärkt wahrgenommen sowie eingefordert und bezieht nun explizit Individuen und die Zivilgesellschaft als auch eine größere Variation an Bedrohungsfaktoren mit ein. Diese wird perspektivisch zudem immer mehr auch auf die Ursachen von gewaltträchtigen Konflikten und Krisen orientiert. Zentral bleibt zunächst der Staat. Bei seinem Versagen wird aber zunehmend die Internationale Gemeinschaft als verantwortlich gesehen.

Literatur

Anderson, Mary B. (1999): Do No Harm. How Aid Can Support Peace – Or War. Boulder/ London, Lynne Rienner Publishers.

Bricke, Dieter (2003): Das Human Security-Konzept. In: Wissenschaft & Frieden, 2/2003, 70-72.

Commission on Human Security (CHS) (2003): Human Security Now. New York, Commission on Human Security. Erhältlich unter >http://www.humansecurity-chs.org/finalreport/<, Zugriff 15.11.2004.

Bosold, David / Werthes (2004): Human Security and Smart Sanctions – Two Means to a Common End? Paper presented at the 5th Pan-European International Relation Conference in Den Haag, 9-11 September 2004. Erhältlich unter >http://www.sgir.org/conference2004/<, Zugriff 15.09.2004.

Bosold, David / Werthes (2005): Human Security in Practice: Canadian and Japanese Experiences. In: Internationale Politik und Gesellschaft / International Politics and Society, 1/2005, 84-101

Chen, Lincoln et al. (eds.) (2004): Global Health Challenges for Human Security. Cambridge, MA: Harvard University Press.

Debiel, Tobias / Werthes, Sascha (2005): Human Security – Vom politischen Leitbild zum integralen Baustein eines neuen Sicherheitskonzepts? In: Sicherheit und Frieden, 23 (1), i.E.

Hampson, Fen Osler (2002): Madness in the Multitude. Human Security and World Disorder. Don Mills, et al., Oxford University Press.

Krause, Keith (2004): The Key to a Powerful Agenda, if Properly Delimited. In: Security Dialogue, 35 (3), 367-368.

Mack, Andrew (2004): A Signifier of Shared Values. In: Security Dialogue, 35 (3), 366-367.

Matthies, Volker (2000): Krisenprävention. Vorbeugen ist besser als Heilen. Opladen, Leske + Budrich.

Paris, Roland (2001): Human Security: Paradigm Shift or Hot Air? In: International Security, 26 (2), 87-102.

Werthes, Sascha (2003): Probleme und Perspektiven von Sanktionen als politisches Instrument der Vereinten Nationen. Münster, LIT Verlag.

Sascha Werthes, Dipl.-Soz.-Wiss. ist Stipendiat der Deutschen Stiftung Friedensforschung an der Philipps-Universität Marburg. David Bosold, Dipl.-Pol. ist wiss. Mitarbeiter an der Philipps-Universität Marburg. Zusammen haben sie 2003 die AG Human Security im Kontext neuer internationaler Herausforderung gegründet.

Das Human Security-Konzept

Das Human Security-Konzept

von Dieter Bricke

Die Petra-Kelly-Stiftung führte am 6. und 7. Februar 2003 einen Kongress mit 250 Teilnehmern aus Zivilgesellschaft und Friedensforschung als Gegenveranstaltung zur traditionellen »Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik« (früher Wehrkunde-Tagung) durch.1 Im Mittelpunkt stand das UN-Konzept menschliche Sicherheit. Anlass war die Überzeugung der Veranstalter, dass angesichts der Rechtfertigung von Präventivkriegen durch traditionelle Sicherheitspolitiker der Staatenwelt die Zeit gekommen sei, den für Normalbürger zentralen Begriff »Sicherheit« durch Vertreter der Gesellschaftswelt mit neuen Inhalten zu füllen.
Die Protagonisten des Konzepts »Menschliche Sicherheit« bezogen sich auf die wissenschaftlichen Zuarbeiten zur UN-Human Security Commission unter Vorsitz von Sadako Ogata und Amartya Sen. Der Bericht dieser Kommission wurde vom Generalsekretariat für Herbst 2003 angekündigt. Ein weiterer Bezugspunkt war das bereits vorliegende Hintergrundpapier »The Human Security Report Project« von Andrew Mack.2

Menschliche Sicherheit

Der Stand der bisherigen Forschungsergebnisse zum Human Security-Komplex wird nachfolgend auf der Grundlage des umfassenden deutschen Beitrags aus der Feder von Birgit Mahnkopf vorgestellt.3 Sie weist in ihrem Beitrag zum Konzept menschlicher Sicherheit, einleitend auf das globale Defizit an Existenz-, Identitäts- und Umweltsicherheit hin, das im Alltag der Post-Moderne jeder Einzelmensch mehr oder minder deutlich verspürt. Das UN-Sicherheitskonzept, das bereits in der Charta von 1945 angelegt war und in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948), den Genfer Menschenrechts-Konventionen (1966) und der Agenda für den Frieden (1992) von den Vereinten Nationen inhaltlich weiter entwickelt wurde, gipfelte schließlich im Begriff der »Human Security«, wie er erstmals von dem United Nations Development Program (UNDP) definiert wurde.4

Dieses Konzept thematisiert gleichzeitig die Sicherheit des einzelnen Menschen vor existentiellen Bedrohungen durch Hunger, Krankheit und Unterdrückung, wie auch Fragen des fehlenden bzw. mangelhaften Schutzes von Menschenrechten. Es umschließt also sowohl die Menschenrechte als auch die Grundsätze der menschlichen Entwicklung.

Entscheidend ist, dass der Schutz des Individuums (aber auch von Gemeinschaften) im Begriff der »Human Security« gezielt höhere Bedeutung erhält als der Schutz territorialer Integrität der Nationalstaaten. Damit entfällt der psychologisch-politische Zwang zur Abgrenzung von Nicht-Staatsangehörigen bzw. zur Schaffung von Feindbildern und Kriegs-Allianzen. Menschliche Sicherheit ist also nicht partikularistisch, sondern universalistisch am Weltbürger orientiert. Ihr Thema ist die Sicherung der sozialen und kulturellen Bedürfnisse aller Menschen auf dem Globus auf der Grundlage der Normen sozialer Gerechtigkeit und des Völkerrechts. Menschliche Sicherheit ist zuerst einmal eine normative Zielsetzung, die konkret alters-, geschlechts- und kulturspezifisch, vor allem aber dynamisch umgesetzt werden muss.

Wer menschliche Sicherheit garantiert, beseitigt vermeidbare Unsicherheiten, welche Menschen daran hindern, ein selbstbestimmtes Leben in frei gewählten Gemeinschaften zu führen. Das heißt allerdings nicht, dass der Begriff die Vorstellung einschließt, dass eine absolute Sicherheit vor Lebensrisiken und extremen Bedrohungen möglich wäre.

Wie kann nun das Konzept der menschlichen Sicherheit politisch realisiert werden? Nach Auffassung des Verfassers kann der Bürger im Rahmen einer kosmopolitisch orientierten Zivilgesellschaft weitreichende Initiativen und Strukturen menschlicher Sicherheit entwickeln, sofern der Staat dafür angemessene Rahmenbedingungen schafft. Zu nennen wären hier z. B. Verfassungsgarantien und Institutionen, die die Realisierung oben genannter Normen erzwingbar machen. Eine an weltweiter Solidarität orientierte Zivilgesellschaft kann dann z. B. Initiativen für eine massive Umwidmung von öffentlichen Gütern für die Schaffung menschlicher Sicherheit, insbesondere für die »most vulnerables« in aller Welt ergreifen.

Zur politischen Umsetzung menschlicher Sicherheit gehört auch die Zurückdrängung der männlichen, militärischen und wirtschaftlichen Dominanz durch Staat und Zivilgesellschaft gemeinsam. Diese Zurückdrängung ist unbedingt erforderlich, da die Dominanz tendenziell die menschliche Sicherheit unterminiert. Ebenfalls eine Gemeinschaftsaufgabe für Staat und Gesellschaft ist es, mehr Partizipation, Dialog und Nachhaltigkeit in Erziehung, Bildung und Medienwelt zu fördern.

Die hier dargelegte Vision menschlicher Sicherheit kann letztlich nur durch das konkrete Engagement möglichst vieler Einzelner bei der Einhegung politischer Macht, der Reduzierung von Gewalt, rechtzeitiger Krisenprävention, ziviler Konfliktbearbeitung und der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit weltweit in vielen mühseligen Umsetzungsschritten erreicht werden. Die in jahrzehntelangem Widerstand gegen Ungerechtigkeit und Unrecht erprobte Fähigkeit der sozialen Bewegungen, ideologisch begründete »Sachzwänge« kompetent zu hinterfragen, erlaubt es ihnen durch ansteigenden Druck von unten, das Konzept menschlicher Sicherheit schließlich Schritt für Schritt in die Realität umzusetzen.

Erweiterte Sicherheit

Auf der Grundlage der Untersuchung von Birgit Mahnkopf wurde auch das Konzept der »Erweiterten Sicherheit« während des Kongresses kritisch beleuchtet. Unter anderem stellt Mahnkopf fest, dass das Versagen der traditionellen Sicherheitspolitik, das Leerlaufen militärischer Stärke, die sog. Entstaatlichung von Kriegen, die zunehmende Instabilität von Staatenbündnissen inzwischen auch die Mitgliedsstaaten der NATO dazu veranlasst hat, in einem sog. erweiterten Sicherheitsbegriff das alte Sicherheits-Paradigma zu modernisieren. Diesen »erweiterten Sicherheitsbegriff« übernahm jüngst auch die Bundesregierung in ihrem Regierungsprogramm. Die Bundesakademie für Sicherheitspolitik hat den Auftrag erhalten, dieses Konzept in sogenannten Studienkonferenzen zu propagieren.

Der modifizierte neo-realistische Sicherheitsbegriff thematisiert exklusiv die Bedrohung der OECD-Wohlstandsinseln durch globale Sicherheitsprobleme (Nord-Süd-Konflikt/Terrorismus) und schürt auf diese Weise nationale Ängste vor Machtverlust, Wohlstandsminderung und Arbeitsrebellionen. Mit neuen Begriffen wie Entwicklungs-Sicherheits-Komplex, Governance-Networks und Wohlverstandenem Eigeninteresse, aber auch der politischen Ausgrenzung bzw. dem Aufbau repressiver Apparate wird versucht, die Zivilgesellschaft in eine Art Angstgemeinschaft umzuschmieden. Militärische Maßnahmen bleiben in diesem Sicherheitsbegriff »prima ratio«. Insgesamt leistet die Modernisierung des traditionellen Sicherheitsbegriffs der schleichenden Entwicklung eines neuen Autoritarismus und Militarismus Vorschub.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass auch dem »erweiterten Sicherheitsbegriff« das neorealistische Sicherheitsparadigma unverändert zugrunde liegt, das die Staatsnation ins Zentrum der Außenpolitik stellt. In dieser Sicht steht das Eigene gegen das Andere bzw. das Fremde. Die eigene Sicherheit hat absoluten Vorrang und wird gegen äußere und innere »Feinde« definiert. Sicherheit für alle wird so ex definitione unmöglich.

Kritische Fragen

Der frühere UNDP-Direktor Manfred Kulessa bewertete auf dem Kongress das vorgestellte UN-Konzept »Menschliche Sicherheit« auf der Grundlage seiner Erfahrungen insgesamt positiv, verwies aber auch auf die Widersprüche zwischen den Vorschlägen Ogata/Sen, die insbesondere von Japan favorisiert werden, und den aus pragmatischen Gründen auf das Gewaltproblem reduzierten Ansatz von Andrew Mack. Dessen Konzept wird unter Führung Kanadas von Forschungsinstituten und Universitäten aus 12 vorwiegend europäischen Staaten unterstützt.

Iris Smidoda von »Ohne Rüstung leben« sowie weitere Konferenzteilnehmer brachten die Positionen von Claudia von Braunmühl und Hans-Peter Dürr zu Gehör.5

Während Dürr einerseits der politischen Substanz von menschlicher Sicherheit volle Berechtigung zuerkennt, verweist er andererseits darauf, dass wegen des prinzipiellen Spannungsverhältnisses von Sicherheit und Lebendigkeit »human security« nicht statisch verstanden werden dürfe. Sie müsse vielmehr als »lebendige Sicherheit« im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext auf der Basis von Vertrautheit und Geborgenheit dynamisch interpretiert werden. Letztlich könne es jenseits der für eine Subsistenz notwendigen Voraussetzungen des Lebens keine ausreichende äußere Sicherheit geben, welche die existentielle Angst vertreibe. Es sei denn, »human security« beschreibe die ausreichende Öffnung von Lebens- und Gestaltungsräumen, in denen berechtigtes Vertrauen entstehen könne, mit den anstehenden Problemen selbst fertig zu werden.

In der Interpretation von Iris Smidoda geht Claudia von Braunmühl davon aus, dass jeder Sicherheitsbegriff ein soziales Konstrukt darstellt und daher stets durch »unheilige Weggefährten«, beispielsweise durch den militärisch-industriellen Komplex, manipulierbar bleibe. Jedenfalls sei Sicherheit für alle ein Versprechen, das von der Politik nicht eingelöst werden könne. Letzte Gewissheiten dieser Art könnten im Sinne der Unverfügbarkeit des Menschen nur die Religionen anbieten. Daher sei es zur Fundierung des Friedens in der Welt zweckmäßiger, sich politisch auf die Verwirklichung der Menschenrechte zu beschränken.

Martina Fischer vom Berghof-Zentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung bezweifelte zwar die Eignung des Konzepts für politische Analysen bzw. als Leitbild für die Entwicklung einer globalen Ordnungspolitik, sah andererseits in ihm aber ein taugliches Kampagnen-Instrument.

Friedenspolitische Real-Utopie »Menschliche Sicherheit«

Im Mittelalter war die säkulare Wende von der Scholastik zur Moderne gegen den Widerstand der damaligen Profiteure des Systems (Inquisitoren, Ablassprediger, Fürstbischöfe usf.) nur möglich, weil die Reformatoren das neue Denken in Realutopien zu beschreiben vermochten. Diese veranlassten dann auch die Gläubigen in Scharen den Kirchen davon zu laufen.

Beim Übergang von der Moderne zur Postmoderne wird ein paradigmatischer Wandel in der Sicherheitspolitik ganz ähnlich nur möglich sein, wenn es im politischen Raum gelingt, die Mobilisierungsfähigkeit der sozialen Bewegungen inklusive der Friedensbewegung zu erhöhen und die betroffenen Bürger zu ermutigen, in die Gestaltung des Friedens selbst einzugreifen. Nur so kann auch in unserer Zeit dem unseligen Treiben des »Old Boys’ Network« ein Ende bereitet werden.

Voraussetzung dafür ist die Schaffung konzeptioneller Klarheit durch den Entwurf einer Realutopie, die sich den bereits laufenden Leitbildwandel zu Nutze macht.

Dies mag an einem Beispiel erläutert werden: Vor 10 Jahren hat der Verfasser dieser Zeilen als Koordinator einer Arbeitsgruppe mitgewirkt, die in der Bundestagsfraktion Der Grünen ein »Konzept für eine ökologisch-solidarische Weltwirtschaft« erarbeitete.6 Das Papier wurde europaweit verbreitet. Diese globale Realutopie hat Ökologie, Welthandel, Währungs- und Finanzbeziehungen in den Rahmen einer solidarischen Weltwirtschaftsordnung gestellt und auf diese Weise ein glaubwürdiges alternatives Weltwirtschaftskonzept präsentiert, das nach der Einschätzung des Verfassers den heutigen Erfolg von Attac mit ermöglicht hat.Im Attac-Rundbrief 1/03 verweist denn auch Horst-Eberhard Richter darauf, dass die Voraussetzung für jegliche erfolgreiche Mobilisierung von Mehrheiten der Zivilgesellschaft das Pro konstruktiver Reformprogramme sei.7

So wie Attac Zehntausende gegen die Freihandels-Ideologie der OECD-Staaten bzw. für eine gerechte Weltwirtschafts-Ordnung zu mobilisieren vermag, weil es, aufbauend auf dem zitierten alternativen Weltwirtschafts-Konzept eine glaubwürdige Realutopie und entsprechende Kampagnen-Slogans entwickelte, könnte nach Meinung des Verfassers, auf der Grundlage des UN-Konzepts menschliche Sicherheit auch die traditionelle Außen- und Sicherheitspolitik europaweit politisch aufgebrochen werden.

Wenn die großen deutschen Friedensorganisationen unter dem Eindruck des drohenden Irak-Krieges jetzt eine gemeinsame organisatorische »Kooperation für den Frieden« beschlossen haben, die von ihren Vertretern auf dem oben genannten Kongress verkündet wurde, so sollten sie doch auch in der Lage sein, ein gemeinsames Konzept einer alternativen Außen- und Sicherheitspolitik für Europa im Zeichen der menschlichen Sicherheit zu entwickeln.

Natürlich gibt sich der Verfasser keinen Illusionen darüber hin, dass selbst bei einer Adoption des Leitbildes menschlicher Sicherheit durch Mehrheiten in der Zivilgesellschaft die Phalanx der Vertreter alten Denkens in Staatsverwaltung, Wissenschaft, Presse und Wirtschaft noch keineswegs ihr stereotypes »weiter so!« aufgeben würde. Zu sehr sind die Eliten durch Corpsgeist, Gewöhnung an die Droge Macht, materielle Vorteile, aber auch durch die ganz normalen Beharrungskräfte in der erlernten Systemlogik in den Status Quo eingebunden. Möglich erscheint hier jedoch durch vernetzten Druck von unten zumindest Breschen zu schlagen und Zweifelnde für neues Denken zu gewinnen.

Auch hier ist wieder die Voraussetzung, dass auch die Antagonisten, insbesondere die Friedensbewegung, sich von altem Denken lösen. Auch ihre Vertreter müssen das »weiter so !«, z. B. durch Verkündung absoluter Wahrheiten, Durchführung von Anti-Kampagnen und Ein-Punkt-Aktionen, zugunsten eines „komplexen Dialogs der Differenzen“ (Galtung) in europaweiten Netzwerken auf der Basis des ganzheitlichen Konzepts menschlicher Sicherheit aufgeben. »Citizen based diplomacy« verlangt grundsätzlich neues Denken, ganz gleich, ob die Diplomaten in der Staaten- oder der Gesellschaftswelt zu Hause sind.

In dem Maß, in dem die Realutopie in den Nationalstaaten Europas in reale Politik umgesetzt wird, könnte dann auch die kooperative Sicherheitspolitik der Europäischen Union konkrete Gestalt annehmen, z. B. durch die Überwindung der unseligen rationalistischen Spartentrennung in Außen-, Sicherheits-, Kultur- und Wirtschaftspolitik oder durch die dringend notwendige Revolutionierung der Diplomaten-Ausbildung und –auswahl.8Zum Abschluss sei die Anmerkung erlaubt, dass der Kongress eine Fülle von konkreten Anregungen zur Ausgestaltung des Konzepts menschlicher Sicherheit erarbeitete, die in einer Tagungs-Dokumentation wiedergegeben werden. In diesem Zusammenhang wurde auch positiv auf pragmatische Reformschritte im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik durch die gegenwärtige Bundesregierung Bezug genommen.9 Allerdings kam das Schlussplenum der Konferenz »Zivilmacht Europa – Wie schaffen wir menschliche Sicherheit?« zu dem Ergebnis, dass es notwendig sei, angesichts des unerträglichen Missverhältnisses der Haushaltsausgaben für militärische Rüstung und Friedensaufgaben von 1000: 1 massiven Druck auf die Regierung auszuüben, endlich eine ehrliche Entscheidung zu treffen, Krieg als Mittel der Politik zu delegitimieren und Friedensforschung, ziviler Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Zivilen Friedensdiensten in der Außen- und Sicherheitspolitik Priorität zu verschaffen.

Anmerkungen

1) vgl. Tagungs-Dokumentation (in Vorbereitung) Kongress »Zivil Macht Europa – Wie schaffen wir menschliche Sicherheit?« veranstaltet von Petra-Kelly-Stiftung in Zusammenarbeit mit Arbeitsgemeinschaft Friedenspädagogik, Evangelische Stadtakademie, Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit in der Hochschule für Philosophie, München. Zu beziehen über Petra-Kelly-Stiftung, Reichenbachstr. 3 a, 80469 München.

2) vgl. The Human Security Report Project, Background Paper von Andrew Mack, Director Human Security Centre, Vancouver, Canada, 2003.

3) Birgit Mahnkopf (Hrsg.): Globale öffentliche Güter für menschliche Sicherheit und Frieden, Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2003.

4) Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (Hrsg.): Bericht über die Menschliche Entwicklung, Bonn 1994. Dieter Bricke: Ansatzpunkte für eine präventivorientierte Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Gutachten erstellt im Auftrag der Bundestagsgruppe Bündnis 90/Die Grünen, veröffentlicht in Loccumer Protokolle 24/95, Herausgeber: Evangelische Akademie Loccum, Peaceful Settlement of Conflicts, Volume II, S. 611 ff.

5) vgl. Globale öffentliche Güter – für menschliche Sicherheit und Frieden, a.a.O. S. 59 ff. Claudia von Braunmühl: Sicherheit für wen und wovor? Kritische Anfragen zum Sicherheitskonzept der UN. S. 75 ff. Hans-Peter Dürr: Sicherheit und dynamische Stabilität.

6) vgl. Die Grünen im Bundestag: Auf dem Weg zu einer ökologisch-solidarischen Weltwirtschaft, Bonn 1990, sowie The Group of Green Economists: Ecological Economics, A Practical Programme for Global Reform, London 1992.

7) Attac-Rundbrief 1/03, S. 6 ff.

8) Dieter Bricke: Auf dem Weg zu einer europäischen Friedensordnung, in Wissenschaft und Frieden 3/98, S. 28 ff.

9) vgl. z. B. Winfried Nachtwei: Deutschland in Europa und der Welt. Zum außen- und sicherheitspolitischen Teil der neuen Koalitionsvereinbarungen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, 16.10.02, sowie Memorandumsgruppe 2002: Entwicklungspolitik als Teil einer Weltfriedenspolitik, Germanwatch, Bonn 2002.

Dr. Dieter Bricke, ehemaliger Diplomat und Entwicklungshelfer, Vorstandsmitglied der Petra Kelly Stiftung