»No More Wars«

»No More Wars«

Friedenserziehung in Japan

von Jongsung Kim, Hiromi Kawaguchi und Kazuhiro Kusahara

In Japan spielte Friedensbildung eine zentrale Rolle darin, nach dem Zweiten Weltkrieg die Antikriegsstimmung in der Gesellschaft zu verbreiten. Jedoch fokussierte sie stark auf die Verletzungen der gewöhnlichen Menschen während des Krieges und verlagerte so die Kriegsmitverantwortung auf den »bösen Staat voller unschuldiger Bürger*innen«. Die Autor*innen problematisieren diese Tradition und betonen eine Friedensbildung, die Eigenständigkeit und Kommunikationsfähigkeit von Schüler*innen und Studierenden zentriert.

Antikriegsstimmung ist der japanischen Gesellschaft seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingeprägt (Berger 1993). Der Hass des japanischen Volkes auf den Krieg trug zur Schaffung der »Friedensklausel« bei, die 1947, als Japan unter der Besetzung der Alliierten stand, in die japanische Verfassung aufgenommen wurde: „Das japanische Volk strebt aufrichtig nach einem internationalen Frieden auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Ordnung und verzichtet für immer auf Krieg als souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten.“ (Artikel 9 der Verfassung des Staates Japan).

Seitdem ist Japan offiziell ein pazifischer Nationalstaat, der keine militärischen Fähigkeiten zur Beilegung internationaler Streitigkeiten nutzt. Der Regierung stehen zwar die japanischen Selbstverteidigungskräfte zur Verfügung, aber technisch gesehen besteht deren Rolle darin,
„eine ausschließlich verteidigungsorientierte Politik aufrechtzuerhalten und keine Militärmacht zu werden“ (Ministry of Defense Japan o.J.). Es gab immer wieder Versuche – vor allem von einigen Untergruppen in den konservativen Parteien – den Artikel zu überarbeiten und Japan zu einem Land zu machen, das militärische Macht ausüben kann (vgl. Liff 2015; Pence 2006). Allerdings haben die – innerhalb der japanischen Zivilgesellschaft fest verankerte – Antikriegsstimmung und die Feindseligkeit gegenüber Militarismus die Friedensklausel bis heute geschützt.

Seit jeher hat Friedenserziehung eine entscheidende Rolle bei der Förderung der Antikriegsstimmung in Japan gespielt (vgl. Ishikida 2005). Nach dem Zweiten Weltkrieg, im Japan der 1950er Jahre, bereuten viele Lehrer*innen bitterlich, ihre Schüler*innen auf das Schlachtfeld geschickt zu haben und riefen dementsprechend zahlreiche Friedensbewegungen gegen Totalitarismus und Militarismus ins Leben. Unter dem Motto »No More Wars« hat sich die japanische Friedenserziehung mit der Trauer und dem Leid der Menschen durch die Militärmacht während des Zweiten Weltkriegs beschäftigt, inklusive der Kriegs­erinnerungen an Orten der Tragödien, in Hiroshima, Nagasaki und Okinawa. Die Auswirkungen von Krieg auf das Leben der Menschen begreifbar zu machen und das Versprechen, Militarismus und Totalitarismus zu entsagen, sind in der Vergangenheit ein Weg gewesen, den Frieden in Japan zu verfolgen.

Die Tragödie und das Leid der Bürger*innen

„Chii-chan no Kageokuri“ (Chii-chan und das Schattenspiel), eine sehr bekannte Kindergeschichte, die in einem bekannten japanischen Lehrbuch für Drittklässler*innen (8–9 Jahre) veröffentlicht wurde, ist ein gutes Beispiel für den erwähnten Trend der japanischen Friedenserziehung. Die fiktive Geschichte entfaltet sich anhand der Erlebnisse des Mädchens Chii-chan während des Krieges. Sie erzählt aus der Perspektive des Mädchens – das im selben Alter wie die Schulkinder ist – ihre Erfahrungen und die ihrer Familie während des Zweiten Weltkriegs. Während des Unterrichts bitten die Lehrer*innen die Schüler*innen in der Regel, in Chiis Rolle zu schlüpfen und zu versuchen, ihre Erfahrungen nachzuempfinden. Die meisten japanischen Lehrbücher enthalten ähnliche Kriegsgeschichten, in denen japanische Familien beschrieben werden, die Freiheit, Wohlstand und sogar ihr Leben verloren haben. Aus Sicht der normalen Bürger*innen, insbesondere durch Kinderaugen, erhalten diese Geschichten die kollektive Erinnerung daran, dass Krieg das Leben der Menschen zerstört hat und dass dies niemals mehr passieren dürfe.

Ähnliche Beispiele, die das Leiden der einfachen Menschen betonen, finden sich sehr häufig in japanischen Geschichtslehrbüchern für die Grundschule. Im Gegensatz zu anderen Unterrichtseinheiten, die sich eher auf Machthaber wie Politiker, Kaiser oder Premierminister konzentrieren, nimmt die Einheit zum Zweiten Weltkrieg gewöhnliche Menschen in den Fokus, die für den Krieg geopfert wurden. Das Narrativ zum Ersten Weltkrieg konzentriert sich z. B. hauptsächlich auf die Außenminister, die die ursprünglich »ungleichen« Verträge korrigierten, und darauf, wie Japan anschließend die Macht erlangte, um den anderen Nationalstaaten auf Augenhöhe zu begegnen. Das Narrativ zum Zweiten Weltkrieg hingegen hebt die Tragödie der einfachen Leute hervor – mit Fokus auf ausgewählte historische Ereignisse, wie dem »Great Tokyo Air Raid«, dem Brandbombenanschlag auf Tokio am 10. März 1945, und den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki.

Das Bemühen, eine Welt ohne Krieg zu realisieren, könnte allerdings auch als Vernachlässigung bzw. Versäumnis interpretiert werden, sich der Kriegsverantwortung des eigenen Landes zu stellen. Wie die von Japan während des Zweiten Weltkriegs überfallenen Länder kritisierten, lässt eine Friedenserziehung, die sich auf die Brutalität des Krieges per se konzentriert, Japans eigene Kriegsverantwortung im Unklaren. Die Beschreibungen des Zweiten Weltkriegs in japanischen Geschichtslehrbüchern der Grund- und Mittelstufe sind Beispiele, die die Vagheit und Unschärfe im Umgang mit Japans Kriegsverantwortung verdeutlichen: Es findet sich keine eindeutige Darstellung davon, wer für die Ursachen des Zweiten Weltkriegs in Asien verantwortlich war. Die verheerenden Schäden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und der Luftangriffe auf Tokio sind ausführlich dargestellt, aber es gibt kaum Erklärungen dafür, warum die amerikanische Regierung beschloss, in Japan militärisch zu intervenieren.

Die kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg mit Betonung der Opferrolle (vgl. Orr 2001; Pyle 1992; Dierkes 2010) erzeugt den Eindruck von »schlechtem Staat, unschuldigen Menschen«. Dieses Bild ist von den meisten politischen Parteien trotz ihrer ideologischen Unterschiede akzeptiert und wurde gezielt zur Einigung des Landes im Chaos der Nachkriegszeit genutzt. Die Friedens­erziehung und -pädagogik ist von diesem Diskurs stark geprägt. Konkret trugen die beiden illustrierten Beispiele japanischer Friedenserziehungsrhetorik, (a) Betonung der Opferrolle und (b) vage Beschreibungen für die Ursachen des Zweiten Weltkriegs in Asien, dazu bei, dass die Japaner*innen zwischen gewöhnlichen Bürger*innen und der damaligen Militärregierung unterscheiden (vgl. Fujiwara 2001). Das Verständnis, dass der Staat allein und nicht die Bürger*innen den Krieg verursacht hätten, führt zu einer Entfernung der Bürger*innen von ihrer Kriegsmitverantwortung und verortet die Bürger*innen als Kriegsopfer und Prediger*innen des Friedens. Mit anderen Worten, die Friedenserziehung in Japan hat Japans Rolle als Aggressor im Zweiten Weltkrieg und die Kriegsverantwortung nicht nur des Staates, sondern auch seiner Bevölkerung vernachlässigt.

Erneuerungen der Friedenspädagogik seit den 1970er Jahren

Die erwähnte Kritik ernst nehmend, gibt es seit den 1970er Jahren unter japanischen Friedenspädagog*innen Versuche, ihre eigenen Unterrichtspraktiken im Lichte der Kriegsverantwortung zu reflektieren und über die Notwendigkeit zu sprechen, sich dem zu stellen, was Japan während des Zweiten Weltkriegs getan hat. Die »History Educationalist Conference of Japan« (Konferenz für Geschichtserziehung) geht hier mit praxisorientierten Ansätzen voran. Ein Beispiel dafür ist der Geschichtslehrer Mera (1992), der ausführt, dass er seit etwa 1970 Geschichtsunterricht gegeben habe, der auf Japans Invasionen anderer asiatischer Länder hinwies und Japans Verantwortungslosigkeit bei Kriegsverbrechen, wie Zwangsarbeit oder den sogenannten Trostfrauen in Korea, verurteilte. Ein weiteres Beispiel ist Yasuis (1977) Praxis namens »Der fünfzehnjährige Krieg mit den Eltern«. In den 1970er Jahren hatten die meisten Eltern Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Mit den Erinnerungen und Geschichten der Eltern als Anschauungsmaterial fragte Yasui die Schüler*innen, warum die Menschen damals den Krieg nicht stoppen konnten, und hinterfragte die Verantwortung der »unschuldigen Menschen«.

Obwohl einzelne Ansätze, die die Kriegsverantwortung Japans diskutieren, umgesetzt worden sind, sind sie dennoch nie Teil der allgemeinen japanischen Friedenserziehung geworden. Lehrende, die die Kriegsverantwortung diskutierten, wurden manchmal als politisch voreingenommene Pädagog*innen, Kommunist*innen oder Verräter*innen kritisiert. Obwohl der Druck auf Japan und in Japan selbst, Verantwortung für Kriegsereignisse wie Zwangsarbeit, Zwangsprostitution der sogenannten »Trostfrauen« und das Massaker von Nanking zu übernehmen, seit den 1980er Jahren zugenommen hat, hat die Friedenserziehung in Japan es versäumt, die Anforderungen an die Aufarbeitung im Bildungssystem umzusetzen (Takeuchi 2011).

Probleme der dominanten Friedenserziehung

Neben dem politischen Backlash haben Friedensbildungsangebote, die die Kriegsverantwortung betonen, aus Sicht der Autor*innen zwei weitere pädagogische Probleme.

  • Erstens werden die Lernenden als passive Wesen betrachtet, von denen erwartet wird, dass sie von Pädagog*innen entworfene Friedensbilder akzeptieren. Lehrkräfte konzipieren und implementieren friedenspädagogische Angebote basierend auf ihren idealen Friedensbildern, wie »No More War« oder »Taking War Responsibility«. Bis heute gibt es für die Schüler*innen im Rahmen der japanischen Friedenserziehung keinen Raum, den Frieden der Lehrenden zu dekonstruieren und ihr eigenes Verständnis von Frieden zu konstruieren. Letzteres ist jedoch eine Grundvoraussetzung für das Heranwachsen aktiver Friedensagenten.
  • Zweitens ist es der Friedenserziehung in Japan zwar gelungen, Schüler*innen auszubilden, die der Welt Frieden »schwören« können, allerdings bleibt dieser Schwur seltsam leer, indem er primär den Wert des Friedens betont. Die japanische Friedensbildung hat bislang nicht darauf abgezielt, diejenigen Fähigkeiten der Schüler*innen auszubilden, die für wirkliche Friedensmacher*innen notwendig wären – wie beispielsweise Kommunikation mit denen, die eine andere Perspektive auf Kriegsmitverantwortung haben. Laut Murakami (2009), der die Friedenswahrnehmung von Kindern untersuchte, hielten 70 % der Schüler*innen die Schaffung einer friedlichen Gesellschaft für wichtig; 60 % antworteten jedoch auch, dass sie nicht wüssten, was sie tun können, um dieses Ideal zu verwirklichen. Diese Daten zeigen, dass die Schüler*innen nicht genügend Möglichkeiten hatten, eigene Vorstellungen vom Aufbau einer friedlichen Gesellschaft mit anderen zu entwickeln.

Eine Gruppe von Forschenden des Educational Vision Research Institute (EVRI) der Universität Hiroshima hat es sich zur Aufgabe gemacht, öffentliche Räume durch authentische Kommunikation zu schaffen, die
„der eigentliche Dialog der Agenten des gegenseitigen Verstehens“ (Kim 2020, S. 44) ist, um den mangelnden Handlungsspielräumen der Schüler*innen und Studierenden in der japanischen Friedenserziehung zu begegnen, ihre Friedensverständnisse mit anderen selbstständig auszuhandeln. Innerhalb dieser öffentlichen Räume können die Schüler*innen und Studierenden über die Friedensbilder der anderen sprechen und auf diese Weise sowohl ihre eigenen als auch vorhandene Friedensbilder dekonstruieren und gemeinsam neue konstruieren. Darüber hinaus können die japanischen Schüler*innen und Studierenden hier echte, d.h. authentische Diskussionen mit »anderen« führen, die andere Diskurse als »wir« kennen. Indem sie dies tun, können sie sich die Eigenständigkeit über ihr Lernen von den Lehrenden zurückerobern und individuell als aktive Friedensagenten reifen.

Neue Praktiken der Friedenslehre

Im Folgenden stellen die Autor*innen zwei repräsentative friedenspädagogische Maßnahmen des EVRI vor. Das erste Beispiel ist das Projekt »Making a Better Hiroshima Textbook« (»Für ein besseres Lehrbuch zu Hiroshima«) – ein gemeinsames Projekt Studierender in Japan und den USA (vgl. EVRI 2021). In amerikanischen Lehrbüchern werden die Atombombenabwürfe über Japan als Trumpfkarte für die Beendigung des Zweiten Weltkriegs beschrieben. In japanischen Lehrbüchern hingegen wird der Einsatz der Atombomben als unmenschlicher Akt beschrieben, durch den eine enorme Zahl von Zivilist*innen getötet wurden. Diese Asymmetrie in den Hiroshima-Diskursen beider Länder war der Ausgangspunkt für eine Reihe von Lehrbuchvorschlägen. Während des Prozesses, Entwürfe für neue Lehrbücher zu entwickeln, entdeckten die Teilnehmenden weitere Diskurse und Narrative. Sie durchlebten Konflikte darüber, wie an Hiroshima erinnert werden sollte; aber mit dem gemeinsamen Ziel vor Augen, ein besseres Hiroshima-Lehrbuch entwickeln zu wollen, konnten die Studierenden die Unterschiede in den Vorstellungen akzeptieren und gemeinsam vorankommen. Als ein Resultat konnten die Teilnehmenden den einseitigen Hiroshima-Diskurs ihres eigenen Landes relativieren und ihren gemeinsamen Diskurs entwickeln, der über diese jeweiligen Diskurse hinausgeht. Die Teilnehmenden lernten den Austausch mit Dritten, die andere Debatten über die Ermöglichung einer friedlichen Welt führen, zu schätzen (Kim 2020).

Das zweite Beispiel ist das Projekt »Re-designing ‚The Last 10 Feet‘ of the Museum« (vgl. Kim und Kusahara 2020, »Die letzten 10 Meter des Museums neu entwerfen«). Jedes Museum möchte seinen Besucher*innen ein bestimmtes Leitbild vermitteln. Während das »Hiroshima Peace Memorial Museum« die physischen und psychischen Narben des Atombombenabwurfs betont, um über die Gefahr von Atomwaffen zu informieren, erzählt das »National Museum of the Pacific War« in Texas, USA, von den großen Taten der Soldaten und beschreibt die Technologien, die den Sieg für die Vereinigten Staaten und Freiheit für die Menschheit brachten. In einem Studierendenaustausch zwischen der Universität von Hiroshima und der Universität von Texas in Austin wurden Studierende gebeten, die jeweiligen Ausstellungen der beiden Museen und ihre Leitbilder zu dekonstruieren und gemeinsam ihre je eigenen »10 letzten Meter« der Museen neu zu gestalten, in denen das jeweilige Leitbild des Museums komprimiert dargestellt ist (vgl. EVRI 2020). Durch den Austausch von Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und daraus resultierender Friedensbilder konnten die Teilnehmenden ihr Verständnis von beidem verfeinern und lernen, wie man mit anderen eine friedliche Welt aufbaut.

Aufgaben für eine neue Friedenslehre

Als Mitglieder des EVRI verstehen die Autor*innen, dass die vorgestellten praktischen Beispiele, die maßgeblich auf authentischer Kommunikation basieren, grundsätzlich noch weiter gehen müssen. Eine Hauptaufgabe besteht darin, den Studierenden Gelegenheiten zu geben, über Kriegsverantwortung zu diskutieren. Authentische Kommunikation übergibt die Lerninitiative an die Studierenden – daher ist es nicht möglich, den Inhalt der Kommunikation zu kontrollieren. Pädagog*innen können jedoch den Kontext authentischer Kommunikation gestalten, der die Studierenden dazu anleitet, über die Rhetorik der japanischen Friedenserziehung nachzudenken (die exemplarisch durch die »Opferrolle« und die »unklare Kriegsverantwortung« zum Ausdruck kommt), und darüber, wie diese Rhetorik ihr Verständnis von Frieden beeinflusst hat. Mit dieser Art von Diskursdesign, das die Meta-Erkenntnis der Studierenden erleichtern soll, können die auf authentischer Kommunikation basierenden Praktiken der Friedenserziehung sicherstellen, dass die Studierenden über die Kriegsverantwortung nachdenken und ihre Rolle bei der Verwirklichung einer friedlichen Gesellschaft bedenken.

Die andere Aufgabe besteht darin, eine neue Friedenserziehung auszubauen, wie z. B. die Praxisübungen auf Grundlage authentischer Kommunikation, die die traditionellen Prämissen der japanischen Friedenserziehung aufheben. Die Dekonstruktion des Opferdiskurses und die Auseinandersetzung mit der Kriegsverantwortung sind in Japan noch immer äußerst umstritten. Doch trotz dieses sozialen Drucks entwerfen und implementieren einige Pädagog*innen ihre eigenen neuen Friedenserziehungspraktiken, um die japanische Friedenserziehung voranzubringen und die historische Aussöhnung in Asien zu verwirklichen. Bildungseinrichtungen wie das EVRI müssen ihre Praktiken offenlegen und sie als die neue Welle der Friedenserziehung kennzeichnen. Die Aufgabe der Bildungsinstitutionen sollte es nach Ansicht der Autor*innen auch sein, Lehrende auszubilden, die neue Konzepte der Friedenserziehung entwerfen und umsetzen und die in der Lage sind, die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer neuen Friedenserziehung zu überzeugen.

Literatur:

Berger, T. U. (1993): From sword to Chrysanthemum. Japan’s culture of anti-militarism. In: International Security 17(4), S. 119-150.

Dierkes, J. (2010): Postwar history education in Japan and the Germanys. Oxon: Routledge.

EVRI (2020): Lessons from the “Redesigning ‘The Last 10 Feet’ of the Museum” Project. URL: evri.hiroshima-u.ac.jp/7791.

EVRI (2021): EVRI-Hiroshima Global Academy collaboration. URL: project.evri.hiroshima-u.ac.jp/evri_higa

Fujiwara, K. (2001): Senso wo kiokusuru: Hiroshima, Holocaust to ima [Remembering war: Hiroshima, the Holocaust, and present]. Tokyo: Kodansha.

Ishikida, M. Y. (2005): Toward peace: War responsibility, postwar compensation, and peace movements and education in Japan. Lincoln: iUniverse.

Kim. J. (2020): Educating citizens who are open to the discourse of others: “The Last 10 Feet” Project and the “Making a Better Hiroshima Textbook” Project. In: E-Journal of Philosophy of Education: International Yearbook of the Philosophy of Education Society of Japan 5, S. 42-51.

Kim, J.; Kusahara, K. (2020): What is the lasting impact of the use of nuclear weapons during WWII in Japan? In: Maguth, B. M.;Wu, G. (Hrsg.): Global learning based on the C3 Framework in the K-12 social studies classroom. New York: Routledge, S. 139-154

Liff, A. P. (2015): Japan’s defense policy: Abe the evolutionary. In: The Washington Quarterly 38(2), S. 79-99.

Mera, S. (1992). Nihon kindai no juudaina ketten nozikakuto sonokokuhukuheno tenbouwo kodomotatitotomoni [Awareness of the severe shortcomings of Japanese modernity and the prospects for overcoming them with children]. In: Nishikawa, M. (Hrsg.): Jikokushi wo koeta rekishi kyoiku [History education that goes beyond national history]. Tokio: Sanseisha.

Ministry of Defense, Japan. (o.J.): Other basic policies. mod.go.jp/en/d_policy/basis/others/index.html.

Murakami, T. (2009): Ima heiwa toha nanika? [What is peace now?]. Tokio: Horitsu Bunkasha.

Orr, J. (2001): The victim as a hero: ideologies of peace and national identity in postwar Japan. Honolulu: University of Hawai’i Press.

Pence, C. (2006): Reform in the Rising Sun: Koizumi’s bid to revise Japan’s pacifist constitution. In: NCJ Int‘l L. & Com. Reg. 32, S. 335.

Pyle, K. (1992): The Japanese question: Power and purpose in a new era. Washington: AEI Press.

Takeuchi, H. (2011): Heiwa kyouiku o toinaosu: Zisedai eno hihanteki keisyo [Reconceptualizing peace education: Critical inheritance for next generation]. Tokio: Horitus Bunkasha.

Yasui, T. (1977): Kodomo to manabu rekishi nojugyo [History learning with children]. Tokio: Chirekisha.

Jongsung Kim ist Associate Professor an der Graduiertenschule für Sozialwissenschaften der Hiroshima Universität, Japan und Mitherausgeber des »Asian Pacific Journal of Education«.
Hiromi Kawaguchi ist Associate Professorin an der Graduiertenschule für Sozialwissenschaften der Universität Hiroshima.
Kazuhiro Kusahara ist Direktor des Forschungsinstituts EVRI und Professor an der Universität Hiroshima.

Aus dem Englischen übersetzt von Anne Harnack.

Umkämpfte Erinnerungen an Hiroshima


Umkämpfte Erinnerungen an Hiroshima

von Annette Ripper

Barack Obama war seit dem Atombombenabwurf auf das Zentrum von Hiroshima am 6. August 1945 der erste US-Präsident, der die Stadt besuchte. In seiner Rede verwies er auf die Bedeutsamkeit der Erinnerung an die verheerenden Folgen, da Erinnerung ein Umdenken ermögliche (Obama 2016). Erinnerungsarbeit ist jedoch ein komplexer Prozess, der eng an die Konstruktion von Identität gebunden ist, entweder die eines Einzelnen oder die eines Kollektivs. Dieser Beitrag beleuchtet anhand des Briefwechsels von Claude Eatherly, einem ehemaligen Major der US Army Air Force, mit dem österreichischen Philosophen Günther Anders und der daran anschließenden Debatte ein Stück dieser Erinnerungsarbeit, die an der Schnittstelle von Erinnerung und Gegen-Erinnerung, Identität und politischer Machtausübung angesiedelt ist.

Das philosophische Werk von Günther Anders bezieht sich in besonderer Weise auf die Ungeheuerlichkeit von Nuklearwaffen. Anders‘ Entsetzen über die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki haben sich tief in seine Arbeit und seine Aktivitäten eingeschrieben. Entwicklung und Einsatz der Atombombe markieren für ihn eine klare Zäsur im Beziehungsgefüge zwischen Mensch und Technik und zwar insofern, als der Mensch mit dem Einsatz der Technik potentiell in die Lage versetzt wird, seinen eigenen Untergang herbeizuführen. Anders stellt folgende Thesen auf, die für ihn in diesem Stadium der Technikentwicklung charakteristisch sind und die insgesamt die »Antiquiertheit des Menschen«, so der Titel seines zweibändigen Hauptwerks, ausmachen: „daß wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind; daß wir mehr herstellen als vorstellen und verantworten können; und daß wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen, nein: zu sollen, nein: zu müssen“ (Anders 1985, Vorwort zur 5. Auflage).

Die erste These ist gekoppelt an das, was Anders als „prometheische Scham“ (ebd., S. 23) bezeichnet und was sich auf das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt bezieht und dieses Verhältnis verändert. Das Subjekt als Natürliches, Menschliches, empfindet Scham gegenüber der kalkulierbaren, immer gleich bleibenden leistungsintensiven Kraft der technischen Apparate, Maschinen und Objekte. Das ungeheure Destruktionspotential, die berechenbare Exaktheit und die Reichweite technischer Produkte übersteigen die menschlichen Fähigkeiten um ein Vielfaches, weswegen der Mensch sich seiner Unterlegenheit schämt und daher, so Anders, „zum Hofzwerg seines eigenen Maschinenparks“ (ebd., S. 25) werde. Diese, auch als „prometheische[s] Gefälle“ (ebd., S. 25) bezeichnete Distanz zwischen dem Vermögen der technischen Produkte und dem der Menschen verändere sich und werde größer – und zwar nicht nur, weil die Technik immer mehr kann als der Mensch, sondern auch, weil damit eine Diskrepanz zwischen »Herstellen« und »Vorstellen« einhergeht: „Daß wir nämlich mehr herstellen können, als wir vorstellen können; daß die Effekte, die wir mit Hilfe unserer von uns selbst hergestellten Geräte anrichten, so groß sind, daß wir für deren Auffassung nicht mehr eingerichtet sind.“ (Jungk 1961, S. 19)

Anders sah seine These in der seelischen Verfassung und der Zustandsveränderung des am militärischen Einsatz der Hiroshima-Bombe beteiligten Majors Eatherly bestätigt. Dieser war Pilot der Flugzeugcrew, die vor dem Bombenabwurf die Wetterbedingungen über Hiroshima erkundete und die dafür benötigten guten Sichtverhältnisse meldete. In den Tagen nach der Explosion der Bombe war Eatherly sehr still und auffallend verschlossen. In den folgenden Jahren wurde er durch skurrile Vergehen mehrfach straffällig, aus der Armee entlassen und nach zweifach versuchtem Suizid wiederholt – angeblich freiwillig – in der psychiatrischen Abteilung eines Militärkrankenhauses in Texas untergebracht. Die biografische Entwicklung Eatherlys erregte Aufsehen und wurde medial bekannt. Anders wurde durch einen »Newsweek«-Artikel von 1957 auf Eatherly aufmerksam und beschloss, ihn zu kontaktieren. Er schrieb Eatherly im Juni 1959 einen Brief, in dem er ihm seine Überlegungen zur neuartigen moralischen Situation, in die die Nuklearwaffen die Menschheit versetzt hatten, darlegte.

Der Effekt der Nachträglichkeit – eine eindringliche Korrespondenz

Dieser Brief bildete den Auftakt einer eineinhalb Jahre andauernden und 71 Briefe umfassenden Korrespondenz, die 1961 von Robert Jungk herausgegeben und einer größeren Leserschaft zugänglich gemacht wurde (Jungk 1961). Für Anders war Eatherly „schuldlos schuldig“ (ebd., S. 17 und 66) geworden, er war ein kleiner Teil eines komplexen Ganzen, ein Rädchen im Getriebe, das diesen Wahnsinn möglich machte. Und gerade weil Eatherly verhaltensauffällig war und offenbar an der Verarbeitung des Unvorstellbaren scheiterte, war er Anders zufolge Täter und Opfer zugleich und damit ein „Symbol der Zukunft“ mit der Funktion eines „Kronbeispiels“ (ebd., S. 17) für die grausame Wirkung und Rückwirkung der Bombe, die nicht nur unmittelbar durch sie Betroffenen unvorstellbare physische und psychische Verletzungen zufügt, sondern auch denjenigen, die sie gegen andere einsetzen. Eatherlys sonderbares Verhalten war der Beleg für die Gewissenskonflikte, die durch die Beteiligung an der Ermordung mehrerer Hunderttausend Menschen ausgelöst werden, die sich durch eine Einzelperson nicht bewältigen lassen und sich in Schuldgefühlen äußern, die ein Ventil brauchen, welches entweder ihre Anerkennung oder ihre Substitution sein muss. Für Anders war dieser Umstand nicht zuletzt darin sinnfällig geworden, dass Eatherly versucht hatte, sich durch eine Reihe krimineller und pseudo-krimineller Aktivitäten schuldig zu machen.1 Das Verhalten Eatherlys erlaubte damit im Rückschluss auf seine Beteiligung an der »Hiroshima-Mission«, den Einsatz der Atombombe als „schuldhafte Tat“ (Coulmas 2005, S. 7) zu klassifizieren.

Im US-amerikanischen Erinnerungsdiskurs wird der Einsatz hingegen bis heute nicht als schuldhaft anerkannt, denn sonst hätte sich Präsident Obama bei seinem Besuch in Hiroshima im Mai 2016 entschuldigen können und müssen. Wenig verwunderlich also, dass Eatherly der Schuldspruch für seine kriminellen Handlungen verwehrt wurde und er von der Justiz nicht belangt, sondern für krank erklärt wurde. Vermutlich 1947, nach seiner Entlassung vom Militär, wurde er in ein Krankenhaus für ehemalige Armeeangehörige in Waco, Texas, eingewiesen (ebd., S. 65).2 Man attestierte dem ehemaligen Air-Force-Piloten einen manischen Zustand“, der Auslöser für einen „Schuldkomplex“ (ebd., S. 90 und 122) gewesen sei, und entkoppelte damit die Relation zwischen Krankheitsbild und Bombenabwurf.

Anders kritisiert diese Diagnose nicht nur im Hinblick auf die Trennung von Ursache und Wirkung, sondern verweist auch auf die Problematik des Terminus »Schuldkomplex«. Durch dessen Verwendung würde der an reale Ereignisse gekoppelten Erfahrung von Schuld die Grundlage entzogen und nahegelegt, das Schuldgefühl sei einzig das Ergebnis oder die Begleiterscheinung eines schon zuvor existenten krankhaften psychischen Zustandes (ebd., S. 122 f.). Ob Eatherly tatsächlich schon vor Hiroshima psychisch angegriffen war, wie einige Autoren – darunter Huie (1964) – behaupten, lässt sich hier nicht entscheiden. Dass aber die US-Regierung Interesse daran hatte, die Glaubwürdigkeit desjenigen Piloten zu untergraben, dessen Einsatz eine Voraussetzung für den Abwurf der Atombombe von Hiroshima war, darf als wahrscheinlich gelten.

Die mediale Aufmerksamkeit des Falls Eatherly war mit dem Briefwechsel zwischen dem Piloten und dem Philosophen stark angestiegen. Zudem war Anders schon früh mit der Veröffentlichung einzelner Briefe befasst, lange bevor die von Jungk herausgegebene gesamte Korrespondenz publiziert und in mehrere Sprachen übersetzt wurde (ebd., S. 25 f.).3 Und auch Eatherly war offenbar bereits vor seiner Einweisung an die Öffentlichkeit getreten, um sich für Frieden und gegen atomare Rüstung einzusetzen (ebd., S. 25). Während des Austauschs mit Anders waren Filmproduzenten an Eatherly herangetreten, die seinen Werdegang verfilmen wollten. Anders riet ihm ab, solche Angebote ernst zu nehmen: „Wir dürfen die Gefahr nicht unterschätzen, daß Sie, der wirkliche Mensch, in einen hübsch lächelnden Schauspieler verwandelt werden könnten, also in eine harmlose Figur, die nicht dem Ernst der Wirklichkeit zugehört, sondern der Welt des bloßen Scheins. Sie wissen genau so gut wie ich, daß es Machtgruppen gibt, die an einer solchen Verwandlung interessiert wären, und denen nichts willkommener wäre, als wenn sie Sie unter Ihrem glamour begraben könnten.“ (ebd., S. 40 f.)

Stattdessen riet er ihm, selbst als Schriftsteller tätig zu werden und seine Biographie als einen „Akt der Selbstheilung“ (ebd., S. 58) niederzuschreiben. Anders sorgte sich um den Zustand Eatherlys, der wiederholt behauptete, man wolle ihn ins Militär-Krankenhaus Walter Reed verlegen (ebd., S. 58). Möglicherweise war eine Verlegung eine Reaktion auf die wachsende Popularität Eatherlys, der Unmengen an Post erhielt, darunter „Berge von Briefen aus Japan“ (ebd., S. 56). Besonders hervorzuheben ist hier der Brief der »Hiroshima Girls«, die sich, selbst versehrt und für den Rest ihres Lebens durch Entstellungen und Narben gekennzeichnet, an ihn wandten, um ihm ihr tiefes Mitleid“ zu übermitteln und ihn wissen zu lassen, dass sie „in gar keinem Sinne Feindschaft empfinden“ und ihm wünschen, dass er „bald vollkommen gesunden“ möge (ebd., S. 38 f.). Dieses beeindruckende Dokument ist nur ein Beispiel für viele versöhnliche Briefe, die Eatherly aus Japan erreichten.

Erinnerungsdiskurse

Der offizielle Erinnerungsdiskurs in Hiroshima ist heute bestimmt durch Gedenken an die Opfer, obgleich es für sie ein langer und mühsamer Weg war, als solche anerkannt zu werden.4 Mit moralischen und politischen Anklagen zurückhaltend bleibt das Erinnern an die Massenvernichtung von etwa 140.000 Menschen eher auf die humanitäre Katastrophe bezogen. So haben die Atombombenabwürfe als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (ebd, S. 92) neben der Shoah Eingang in die Geschichtsbücher gefunden. Der japanische Historiker Hiroshi Hasegawa konnte aber anhand bislang unbekannter Dokumente den beabsichtigt experimentellen Charakter der »Mission« belegen und aufzeigen, dass aufgrund von Manövern des Trägerflugzeuges vor dem Abwurf die Opferzahl von Hiroshima um geschätzte 70.000 Menschen erhöht wurde (Knauß 2009).

Das verleiht der Frage nach dem »Warum«zusätzlich Brisanz. Japan hatte jahrzehntelang auf kriegsstrategische Gründe der USA und auf die militärische Lage im Zweiten Weltkrieg verwiesen. Der Japanologe Coulmas kommt zu der Einschätzung, dass sich aktuell ein Wandel im Erinnern an Hiroshima ankündigt. Die im kollektiven Gedächtnis Japans seit den 1960er Jahren verankerte Selbstbeschreibung als „einzig[e] vom Atomtod heimgesuchte Nation“ (Coulmas 2005, S. 28) scheint an Eindringlichkeit zu verlieren, ebenso wie die mediale Aufmerksamkeit für erinnerungskulturell geprägte Veranstaltungen. Das äußert sich nicht zuletzt darin, dass die lange durch die Bombardierung geprägte pazifistische Einstellung Japans aufzuweichen beginnt (siehe dazu den Artikel »Zivilklausel auf japanisch« von Hartwig Hummel in dieser W&F-Ausgabe) und vereinzelt sogar die Anschaffung eigener Atomwaffen angeregt wird (ebd., S. 110 und 114).

Was die USA betrifft, so wird die Frage des »Warum« kurze Zeit nach der Katastrophe mit der Rettung von Menschenleben sowie der schnellen Beendigung des Krieges begründet. Der damalige Präsident Truman sprach einmal von „500.000 geretteten US-Leben“ (Bernstein 1986), ein anderes Mal sogar von einer Million. Gemeint sind mit diesen Zahlen US-Soldaten, die bei einer konventionellen Eroberung Japans wohl ihr Leben verloren hätten. Für diese Zahlen gibt es aber keine Grundlage, und diese Begründung stieß von Beginn an auf Widerspruch.

Der US-amerikanische Historiker Gar Alperovitz trug andere Einschätzungen zusammen, etwa von General Eisenhower, damals Oberkommandierender der in Europa stationierten US-Truppen, vom damaligen Stabschef Admiral William Leahy und aktuelleren Datums auch von J. Samuel Walker, dem ehemaligen Historiker der U.S. Nuclear Regulatory Commission. Sie alle waren sich einig, dass die Bomben weder zur Rettung von Menschenleben beitrugen, noch in irgendeiner Weise kriegsstrategisch gerechtfertigt werden konnten. Im Gegenteil. Leahy bekannte:„Die Japaner waren bereits besiegt und bereit, sich zu ergeben […] Der Einsatz dieser barbarischen Waffe gegen Hiroshima und Nagasaki war keine substanzielle Unterstützung in unserem Krieg gegen Japan […] Da wir sie als Erste benutzt haben, […] haben wir einen ethischen Standard übernommen, der dem der Barbaren des finsteren Mittelalters gleicht. Mir wurde nicht beigebracht, auf diese Weise Krieg zu führen, und Kriege können nicht gewonnen werden, indem man Frauen und Kinder vernichtet.“ (zitiert nach Alperovitz 1990, S. 29)

Verhindert hat Leahy den Abwurf der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki dennoch nicht, obgleich er und andere, darunter namhafte Physiker wie Leo Szilard, vom Einsatz abrieten. Leahy wies Truman schon im Juni 1945 darauf hin, dass „eine Kapitulation von Japan unter Bedingungen herbeigeführt werden kann, die für Japan akzeptabel sind und gänzlich zufriedenstellende Regelungen für Amerikas Verteidigung gegen eine künftige transpazifische Aggression einschließen“ (ebd., S. 24).

Alperovitz zufolge waren machtstrategische Gründe gegenüber der Sowjetunion für den Einsatz der Bomben ausschlaggebend (ebd., S. 23). Nach der Kapitulation Japans wurde von den US-Besatzern eine Zensur über alle Hiroshima und Nagasaki betreffenden Aspekte verhängt, die nicht nur die Opferversorgung erschwerte, sondern auch die Auseinandersetzung und den Erinnerungsdiskurs behinderte. Etabliert wurde vielmehr eine Gegenerinnerung, in der sich die Erzählung von einem „gerechten Krieg“ (Coulmas 2005, S. 116), in dem die Atombomben zum sofortigen Kriegsende geführt und Leben gerettet hätten, bis heute verfestigt hat (ebd., S. 96).

In den USA besteht bis in die Gegenwart ein starkes Interesse, diese Erzählung zu stützen. Dies zeigte sich an der Debatte um den Besuch Obamas in Hiroshima, die von Republikanern und Veteranen angestoßen wurde (ebd., S. 32f), sowie exemplarisch im Streit um die von der Smithsonian Institution geplante Ausstellung zum 50-jährigen Kriegsende im Luft- und Raumfahrtmuseum in Washington D.C. in den 1990er Jahren. Die Kuratoren hatten Hiroshima und Nagasaki um Exponate für die Ausstellung gebeten, die diese bereitwillig zur Verfügung stellten und die der Anlass heftiger Kontroversen wurden. Veteranenverbände und konservative Politiker waren gegen die Ausstellung von Exponaten, die Anlass geben könnten, das oben gezeichnete US-amerikanische Erinnerungsbild in Frage zu stellen. In dieser schließlich im Kongress verhandelten Debatte setzte sich am Ende die konservative Meinung durch, und die Ausstellung wurde abgesagt (ebd., S 32 f.). Teil dieser Ausstellung sollte auch der vollständig restaurierte B29-Bomber »Enola Gay« sein, mit dem die »Little Boy« genannte Atombombe über Hiroshima abgeworfen wurde.

Tibbets vs. Eatherly

Die mit der Namensgebung vorgenommenen Verharmlosungen und Personifikationen dieser todbringenden Artefakte stützen die Gegenerinnerung in den USA, die längst Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses geworden ist. Enola Gay hieß die Mutter des Piloten Paul Tibbets, der das Trägerflugzeug der Hiroshima-Bombe flog. Anders als Eatherly, der die Wetterbedingungen auskundschaftete und das „go ahead“ (Jungk 1961, S. 44) an Tibbets Besatzung gab, versicherte Tibbets bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2007, dass er keine Gewissensbisse hatte und auch nicht habe. In einem Bericht des »Independent« schrieb der Journalist David McNeill: „Paul Tibbets, der Pilot der »Enola Gay«, sagte auch, dass die Bombe Leben gerettet habe. Auf die Frage, ob er es bereue, sagte er: ‚Ach was, auch nicht, wenn ich nochmals darüber nachdenke. Unter den selben Umständen, verdammt, ja, ich würde es wieder tun.’“ (McNeill 2005)

1960, zur Zeit des Briefwechsels zwischen Anders und Eatherly, erschienen etliche Dokumentationen über die Crew der »Enola Gay«, so etwa in »Coronet«.5 In der August-Ausgabe der Zeitschrift wird unter dem Titel »15 Years Later: The men who bombed Hiroshima«6 ein Portrait der Crew abgedruckt, dem ein großes Foto der Besatzung vorangestellt ist. Es zeigt zwölf junge Männer in Uniformen, die, in zwei Reihen hintereinander aufgestellt, lachend in die Kamera blicken. Alles „handverlesene Experten, ausgewählt für ihre Intelligenz, emotionale Stabilität und Disziplin“ (ebd., S. 79) – Charaktereigenschaften, die allen bei ihren erfolgreichen Nachkriegskarrieren geholfen hätten. Und für alle steht trotz unterschiedlicher Meinungen in Detailfragen eines fest: „sie sind sich in dem Punkt einig, ob sie das Gleiche wieder tun würden“ (ebd., S. 89). Danach folgen 14 Seiten Ausschnitte aus Interviews mit den einzelnen Crewmitgliedern, mit größer gedruckten Anmerkungen am Rand für diejenigen Leser*innen, die sich nicht die Mühe machen, den vollständigen Artikel zu lesen. Dort nimmt der ungenannte Autor der Zusammenfassung auch Bezug auf Gerüchte, die im Umlauf seien: „Es gingen Gerüchte um, dass Unglück, Gewissensbisse und sogar Wahnsinn die Männer, die die Bombe abwarfen, wie ein Fluch verfolgte. Diese Geschichten waren nicht wahr. Ein Mitglied einer Aufklärungsmission, die vor dem Angriff auf Nagasaki [sic!] im Einsatz war, ist zwar in einer Nervenheilanstalt, den Crewmitgliedern der »Enola Gay« geht es aber prächtig.“ (ebd., S. 89)

Der Bezug auf Eatherly ist deutlich. Die Leser*innen werden hier geschickt gelenkt. Der Gedanke, dass sich im „mental hospital“ ein Patient aufhält, der die »Hiroshima-Mission« als Ganzes in Frage stellt, scheint hier völlig abwegig. Dies wird verstärkt durch die folgende Äußerung Tibbets, des Bomberpiloten von Hiroshima, Ich habe absolut kein Schuldgefühl, ganz entgegen einiger Berichte, in denen behauptet wurde, dass ich im Irrenhaus sei, weil mich wegen dieser Sache Gewissensbisse plagten. Ich glaube nicht, dass irgendjemand kämpferische Aktivitäten im Gefecht persönlich nehmen sollte. Ich wurde angewiesen, es zu tun. Wenn ich angewiesen würde, so etwas heute zu tun, ich habe in den vielen Jahren Militärdienst gelernt, Befehle zu befolgen, also würde ich sie fraglos befolgen.“ (ebd. S. 90)

Immerhin eines der Besatzungsmitglieder spricht einen Wunsch aus, der hier nicht unerwähnt bleiben soll: „Ich hoffe, dass bald alle Nationen diese Bombe ächten werden, so, wie sie Giftgas geächtet haben.“ (ebd., S. 96) Es bleibt die einzige Aussage dieser Art in dem Text.

Vier Jahre nach dem »Coronet«-Text erschien »The Hiroshima Pilot« (1964) von William B. Huie, einem Journalisten, der ebenfalls auf den Fall Eatherly aufmerksam geworden war und ein beträchtliches Materialienkonvolut – bestehend aus Interviews, militärischen Führungszeugnissen, Tonbandaufnahmen von Freunden, Familie und Kollegen – zusammengetragen hatte, das belegen sollte, dass Eatherly keineswegs der von seinem Gewissen gepeinigte und zum Pazifisten geläuterte Bomberpilot sei. Vielmehr sei er ein anerkennungssüchtiger Betrüger, dessen Angststörung wohl eher daher rührte, dass er für den Angriff auf Nagasaki und später für den Abwurf der Testbombe auf den Bikini-Atoll nicht berücksichtigt worden sei. Günther Anders warf Huie vor, Eatherly zu einer Symbolfigur stilisiert zu haben, die eher einem Wunschbild entspreche als den Tatsachen. Anders wies das entschieden zurück und unterstellte seinerseits Huie, er habe sich kaufen lassen (Zimmer 1964).7 Huie wurde außerdem von anderen Journalisten vorgeworfen, die teilweise zweifelhaften und nur mündlich gegebenen Gegendarstellungen voreingenommen und zu unkritisch widergegeben zu haben (ebd.).

Ausblick

Was letztlich im Fall Eatherly Wahrheit ist und was nicht, lässt sich kaum beurteilen. Doch dass Geschichtsschreibung und Erinnerung konstruktive Prozesse sind, sollte mit den obigen Ausführungen belegt werden. Daher steht in diesem Zusammenhang weniger die Frage nach der ultimativen Wahrheit im Vordergrund, sondern vielmehr die nach den Schlussfolgerungen, die wir aus der Korrespondenz zwischen Anders und Eatherly für unser heutiges Denken und Handeln ziehen. Was diese Korrespondenz ermöglicht hat, war eine Reflexion über den ersten beabsichtigten Einsatz einer Massenvernichtungswaffe, die den Tod von mehreren Hunderttausend Menschen mit sich brachte,. Die genaue Zahl ist bis heute unbekannt (Althaus 2015). Schätzungen liegen bei 140.000 getöteten Menschen bis Ende des Jahres 1945. Fünfzig Jahre später werden Opferzahlen für Hiroshima in einigen Publikationen mit insgesamt über 200.000 angegeben (Schleusener 2004, S. 20), in anderen ist sogar von 350.000 Opfern die Rede, einschließlich derer, die teilweise ihr Leben lang mit den Folgen kämpf(t)en (Coulmas 2005, S. 18). Eine angemessene Aufarbeitung war zeitgenössisch durch Zensurmaßnahmen behindert worden, und zu schnell war die Weltgemeinschaft in der Nachkriegsgeschichte durch neue Bedrohungslagen und durch die Aufarbeitung anderer Gräueltaten abgelenkt.

Die Ausführungen wollten auch zeigen, dass das Erinnern ein umkämpfter Prozess ist, der von US-Seite bis heute entschieden geführt wird. Die Eatherly-Briefe ermöglichten einen trostspendenden Austausch mit den Opfern einer Katastrophe, denen lange die Anerkennung verweigert wurde und deren Leid durch die zensurbestimmte Informationspolitik der US-Besatzer lange Zeit im Verborgenen blieb. Und selbst wenn Anders mehr in Eatherly gesehen hat – ist dieser Umstand nicht Ausdruck für die Wünschbarkeit einer Vision, an die es damals wie heute zu glauben lohnt?

Anders‘ oft als kulturpessimistisch bezeichnete Philosophie steht im Zeichen der industriellen Produktion, des Holocaust und der Atombombe. Stilisierungen und Überspitzungen waren für ihn notwendige Mittel, um sich einer von ihm konstatierten Bagatellisierung der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung zu widersetzen und so zu deren Wahrheit zu gelangen (Anders 1985, S. 236). Die Aktualität seiner Überlegungen zeigt sich heute insbesondere im Hinblick auf die atomare Situation (Morat 2006; Dries 2009, S. 94).

Anmerkungen

1) Zu diesen gehörten etwa ein Banküberfall, ohne Geld stehlen zu wollen; vgl. Jungk 1961, S. 11.

2) Dem Briefwechsel ist eine genaue Datierung der Einweisung nicht zu entnehmen. Eatherly war 1959, als Anders ihn kennenlernte, bereits viele Jahre Patient in der psychiatrischen Abteilung des Veteranenkrankenhauses in Waco, Texas, wenn auch mit Unterbrechungen. In der Zeit seiner Korrespondenz mit Anders war er bis Oktober 1960 durchgängig interniert, ist dann aber geflohen. Allerdings griff man ihn zwei Monate später wieder auf und wies ihn unter verstärkten Sicherheitsvorkehrungen erneut ein (vgl. Coulmas 2005, S. 113 und 119).

3) Diese Briefe wurden nicht nur in Deutschland publiziert, sondern auch in bekannten Tageszeitungen in Japan (vgl. Coulmas 2005, S. 58).

4) Das gilt für alle Opfer von Hiroshima, inbesondere aber für koreanische Bombenopfer, die im August 1945 als Kriegsgefangene in Japan waren, und für »Hibakusha«, deren Verwundungen äußerlich nicht sichtbar waren (vgl. Coulmas 2005, S. 26f.).

5) »Coronet« war ein auflagenstarkes und ein breites Publikum ansprechendes Digest-Magazin, das in den Jahren 1936 bis 1971 monatlich erschien. Die Artikel reichten von kulturellen Themen und Starportraits bis hin zu Dossiers über Personen und Personengruppen aus verschiedenen Bereichen.

6) Der Artikel ist online verfügbar unter ­oldmagazinearticles.com/atomic_bomb_­opinions_held_by_Enola_Gay_Crew-pdf.

7) Was die Replik von Anders anbelangt, so bezieht sich Zimmer hier auf einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 15. Mai 1964.

Literatur

Alperovitz, G. (1990): Why the United States dropped the bomb. Technology Review, 93(6), S. 22-34. Von Alperovitz liegt eine deutsche Übersetzung seines Standardwerks zum Atomwaffeneinsatz auf Hiroshima vor: Hiroshima – Die Entscheidung für den Abwurf der Bombe. Hamburg: Hamburger Edition, 1995.

Anders, G. (1985 [1956]): Die Antiquiertheit des Menschen. Erster Band. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. Siebte Auflage. München: Beck.

Althaus, J. (2015): Atombomben 1945 – Niemand kennt die wirkliche Zahl der Opfer. welt.de, 10.8.2015.

Bernstein, B. J. (1986): A postwar myth: 500 000 U.S. lives saved. Bulletin of the Atomic Scientists, 42(6), S. 38-40.

Coulmas, F. (2005): Hiroshima – Geschichte und Nachgeschichte. München: Beck.

Dries, C. (2009): Günther Anders. Paderborn: Fink.

Fohler, S. (2003): Techniktheorien – Der Platz der Dinge in der Welt des Menschen. München: Fink.

Huie, W.B. (1964): The Hiroshima Pilot. New York: Putnam. Deutsch ebenfalls 1964 erschienen bei Zsolnay.

Jungk, R. (Hrsg.) (1961): Off limits für das Gewissen – Der Briefwechsel zwischen dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Knauß, F. (2009): Atombombe auf Hiroshima – Ein Experiment mit 70 000 Toten. Zeit Online, 20.8.2009.

McNeill, D. (2005): “My God what have we done?” – the commander of the »Enola Gay«. Independent, 4.8.2005.

Medick, V. und Wagner, W. (2016): Obamas heikle Hiroshima-Mission. Spiegel Online, 26.5.2016.

Morat, D. (2006): Die Aktualität der Antiquiertheit – Günther Anders‘ Anthropologie des industriellen Zeitalters. Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 2, S. 322-327.

Obama, B.H. (2016): Remarks by President Obama and Prime Minister Abe of Japan at Hiroshima Peace Memorial, Hiroshima Peace Memorial, Hiroshima, Japan, May 27. 2016; obamawhitehouse.archives.gov.

Schleusener, J. (2004): Tage, die die Welt veränderten. 6.8.1945 – Die Bombe auf Hiroshima. Augsburg: Weltbild.

Zimmer, D.E. (1964): Der Bomberpilot von Hiroshima – Claude Eatherly oder die Suche nach dem einen Gerechten. DIE ZEIT, 28.8.1964.

Annette Ripper, M.A. ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei IANUS, einer Einrichtung für naturwissenschaftliche Friedensforschung an der TU Darmstadt.

Zivilklausel auf japanisch


Zivilklausel auf japanisch

Japanische Universitäten ächten Militärforschung

von Hartwig Hummel

Mit einer Zivilklausel verpflichtet sich eine Einrichtung, nicht für Rüstungszwecke, sondern nur für wissenschaftliche und friedliche Zwecke zu forschen. Eine lange Tradition hat die Selbstverpflichtung, keine Militärforschung zu betreiben, in Japan. Bereits 1950 fasste der Japanische Wissenschaftsrat einen entsprechenden Beschluss, und japanische Universitäten griffen dies auf. Unter der neoliberalen Regierung von Ministerpräsident Shinzô Abe gerät diese Selbstbeschränkung jetzt zunehmend unter Druck.

Kern des japanischen Antimilitarismus ist die japanische »Friedensverfassung« von 1947, die nach wie vor von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird (The Asahi Shimbun 3.5. 2016). Artikel 9 der japanischen Verfassung enthält den Verzicht Japans auf das Recht zur Kriegführung und das Verbot, Streitkräfte zu unterhalten. Die Verfassung wurde bis heute noch nie geändert, aber bereits in den 1950er Jahren von konservativen Regierungen insofern uminterpretiert, als das naturgegebene Recht zur Selbstverteidigung die Aufstellung von Selbstverteidigungsstreitkräften (jieitai), die nationale Rüstungsproduktion und das Militärbündnis mit den USA erlaube, allerdings ausschließlich zur »Selbstverteidigung« Japans. Dementsprechend erklärte sich Japan in den 1960er und 1970er Jahren offiziell für nuklearwaffenfrei, stoppte den Rüstungsexport, begrenzte die Militärausgaben auf das für die »Selbstverteidigung« notwendige Maß, unterließ militärische Auslandseinsätze und versprach, den Weltraum ausschließlich für friedliche Zwecke zu nutzen.1

Akademische Selbstverpflichtung gegen Militärforschung

Der akademische Bereich in Japan galt bislang als Bollwerk des japanischen Antimilitarismus. 1950 beschloss der Japanische Wissenschaftsrat (Nihon gakujutsu kaigi), der die Wissenschaft auf nationaler Ebene repräsentiert, die bis heute gültige akademische Selbstverpflichtung, keine Militärforschung zu betreiben. Neben der klaren Distanzierung vom Militär ist an diesem Beschluss auch bemerkenswert, dass sich der Japanische Wissenschaftsrat nicht als Wissenschaft Japans definiert, sondern als Teil einer kosmopolitischen Wissenschaftsgemeinschaft, die dem Weltfrieden und dem Wohl der gesamten Menschheit verpflichtet ist.

Gelegentlich wurden Verstöße gegen die Selbstverpflichtung, keine militärische Forschung zu betreiben, bekannt. Beispielsweise gab es Kooperationen japanischer Universitäten mit US-Militärinstitutionen während des Vietnamkriegs (1960er Jahre) und im Zuge der »Strategic Defense Initiative« (SDI, 1980er Jahre) und des anschließenden Raketenabwehrprogramms der USA sowie vereinzelt auch Kooperationen ziviler Forschungsinstitute mit dem japanischen Verteidigungsamt. Jedoch führte die Skandalisierung solcher Fälle durch die japanische Wissenschafts-Community regelmäßig zu einer Bekräftigung des Banns gegen Militärforschung.

Als beispielsweise bekannt wurde, dass die im Jahr 1966 in Japan durchgeführte Internationale Halbleiter-Konferenz durch militärische Stellen in den USA mitfinanziert worden war, beschloss die Japanische Physikalische Gesellschaft (Nihon butsurigakkai) 1967 auf einer außerordentlichen Generalversammlung, weder Unterstützung von militärischen Stellen anzunehmen noch mit militärischen Stellen zusammenzuarbeiten. Im selben Jahr verabschiedete der Japanische Wissenschaftsrat eine Resolution, in der er an seine Selbstverpflichtung von 1950 erinnerte, auf keinen Fall Forschung für militärische Zwecke zu betreiben. Die Resolution wiederholte, dass Wissenschaft dem Frieden und der Wohlfahrt der Menschen dienen müsse, und bezeichnete Militärforschung als Hindernis für den wissenschaftlichen Fortschritt (Ihara 2016).

Im Zusammenhang mit den Protesten gegen SDI wurde die Nagoya University mit ihrer »Peace Charter« von 1987 zu einer Vorreiterin des akademischen Antimilitarismus in Japan. Die »Peace Charta« erinnert ausdrücklich an die Selbstverpflichtung des Wissenschaftsrats von 1950, keinerlei Militärforschung zu betreiben. Bezeichnenderweise wurde sie nicht von Universitätsgremien beschlossen, sondern entstand aus einer Unterschriftensammlung, der sich der Großteil des Universitätspersonals, einschließlich des Präsidenten und aller Dekane, anschloss. Ein »Peace Charta«-Komitee führt seitdem die Tradition dieser universitären Friedensbewegung fort (Wada 2016).

Militarisierung unter der Regierung Abe

Im Zuge der Nuklearkatastrophe in Fukushima 2011 stürzte die von der Demokratischen Partei geführte Koalitionsregierung. Sie wurde im Dezember 2012 abgelöst durch die rechtskonservative Regierung unter Ministerpräsident Shinzô Abe, die neoliberale Wirtschafts- und Sozialreformen mit einer dezidierten Aufrüstungs- und Militarisierungspolitik verbindet. Die Abe-Regierung stellt dabei den akademischen Antimilitarismus ganz offen in Frage. Sie beschloss in ihren neuen verteidigungs- und forschungspolitischen Richtlinien, dass die staatlich geförderte Grundlagenforschung an Universitäten und zivilen Forschungsinstituten zukünftig auch einen Beitrag zur nationalen Sicherheit zu leisten habe. In dieser Situation sieht sich die japanische Wissenschaft herausgefordert, ihre Haltung zu ihrer bisherigen kategorischen Ablehnung jeglicher Militärforschung zu überdenken.

In der militärischen Sicherheitspolitik stellte die Abe-Regierung die bisherige Verfassungsinterpretation, dass im Rahmen der »Friedensverfassung« ausschließlich die eigene militärische Selbstverteidigung erlaubt sei, zur Disposition. Sie proklamierte am 1. Juli 2014 durch Kabinettsbeschluss für Japan das Recht auf »kollektive Selbstverteidigung«, d.h. den Einsatz der japanischen »Selbstverteidigungs-Streitkräfte« (jieitai) nicht nur zur eigenen Verteidigung, sondern auch zur »Verteidigung« eines Bündnispartners oder von UN-Missionen weltweit (Nippon.com 1.7.2014). Zur Umsetzung dieser neuen Sicherheitspolitik setzte die Abe-Regierung 2015 im Parlament gegen den erbitterten Widerstand der Oppositionsparteien und ungeachtet massiver öffentlicher Proteste ein Gesetzespaket für die nationale Sicherheit durch.

Im selben Jahr 2015 stellte die Regierung Abe auch den akademischen Bann gegen Militärforschung massiv in Frage, indem das japanische Verteidigungsministerium erstmals ein Förderprogramm zur Erforschung von Technologien für die nationale Sicherheit (anzen hoshô gijutsu kenkyû suishin seido) auflegte und ausdrücklich auch zivile Universitäten, Forschungsinstitute und Privatunternehmen zur Bewerbung aufrief. Dieses Pilotprogramm war im Haushaltsjahr 2015 mit 300 Mio. Yen (ca. 2,3 Mio. Euro) ausgestattet. Das Programmvolumen wurde im Haushaltsjahr 2016 auf 600 Mio. Yen verdoppelt. Für das Haushaltsjahr 2017 ist eine massive Ausweitung auf 11 Mrd. Yen (90,8 Mio. Euro) vorgesehen (ausführlich dazu Tarao 2016a; Kawamura 2016; Takeishi/Mizusawa/Sugihara 2016). Förderanträge dazu gingen bislang von mehreren Dutzend japanischer Universitäten ein; neun Universitäten erhielten 2015 und 2016 Förderungszusagen. Hintergrund dieser Entwicklung ist u.a. die mit kontinuierlichen Kürzungen der finanziellen Grundausstattung verbundene Reform der staatlichen Universitäten; diese sollen »effizienter« werden, sich auf ihre »Stärken« konzentrieren und einem ständigen Evaluationsdruck unterworfen werden (Takeuchi 2016).

Kontroversen über Forschung für das Militär

Das Förderprogramm des Verteidigungsministeriums löste heftige Kontroversen unter den japanischen Wissenschaftler*innen aus. Strittig war zunächst, ob es sich dabei überhaupt um Militärforschung handelt. Erfolgreiche Antragsteller verteidigten sich mit dem Hinweis, beim Förderprogramm des Verteidigungsministeriums handle es sich um Grundlagenforschung ohne direkten Bezug zu militärischen Anwendungen. Sie verwiesen außerdem auf den Zwang zur Drittmittelakquise, um die eigene Forschung fortsetzen zu können (Kawamura 2016; Normille 2017). Tatsächlich schreibt das Verteidigungsministerium in den »Anmerkungen« (hairyo) zur Ausschreibung für das Förderprogramm, Ziel sei die Förderung exzellenter Grundlagenforschung in ausgewählten Bereichen (vgl. dazu und zum Folgenden Kawamura 2016). Es handle sich nicht um direkte militärische Rüstungsforschung, da die Forschungsergebnisse breite Anwendung in zivilen Bereichen finden könnten. Und wie bei Grundlagenforschung üblich, sollten die Forschungsergebnisse „grundsätzlich öffentlich“ sein.

Militärkritische Wissenschaftler*innen argumentieren dagegen, dass es sich auf jeden Fall um Militärforschung handle, wenn die Finanzierung von militärischen Stellen stamme, egal ob vom japanischen Verteidigungsministerium oder von den US-Streitkräften. Eine genauere Analyse des aktuellen Förderprogramms des Verteidigungsministeriums und der darin festgelegten Förderbedingungen liefert zusätzliche Argumente für den militärischen Charakter dieser Forschungsförderung. Bereits aus der »Defense Production and Technology Infrastructure Strategy« (Bôei seisan gijutsu kiban senryaku) des Verteidigungsministeriums vom Juni 2014 geht klar hervor, dass die Grundlagenforschung deswegen gefördert wird, weil sie für die Entwicklung von militärischer Rüstung genutzt werden soll. Dementsprechend gab das Verteidigungsministerium auch ganz genau die 28 Forschungsfelder vor, für die Anträge gestellt werden konnten. In den »Verpflichtungen« (shibari) für die Antragsteller des Förderprogramms steht außerdem, dass das Verteidigungsministerium beabsichtige, Folgeforschungen zur Nutzung der Forschungsergebnisse für zukünftige Rüstungsprojekte durchzuführen. Im Hinblick auf die Publikation der Forschungsergebnisse werden die Antragsteller nicht unter Hinweis auf militärische Geheimhaltung, sondern unter Hinweis auf geistige Eigentumsrechte zur Zurückhaltung ermahnt. Schließlich verpflichten sich die geförderten Projekte, dem Verteidigungsministerium im Rahmen des »Projektmanagements« jederzeit Zugang zu den Forschungseinrichtungen zu ermöglichen und auch nach Ende des Förderzeitraums weiter mit dem Verteidigungsministerium zusammenzuarbeiten, z.B. zum Zwecke der Darstellung der Forschungsergebnisse auf Fachtagungen.

Widerstand gegen militärisches Forschungsprogramm

Angesichts des offenkundig militärischen Charakters des Förderprogramms stellen einige Wissenschaftler die Selbstverpflichtung der japanischen Wissenschaft in Frage, keine Militärforschung zu betreiben. Der prominenteste Fürsprecher einer Revision des 1950 vom Japanischen Wissenschaftsrat proklamierten Banns gegen Militärforschung ist ausgerechnet sein aktueller Vorsitzender, Prof. Takashi Onishi. Onishi hat dieses Amt seit 2011 inne. Er war bis 2013 Professor für Stadtplanung an der University of Tokyo (Tôkyô Daigaku), der renommiertesten japanischen Eliteuniversität, und ist seit 2014 Präsident der Toyohashi University of Technology, die pikanterweise unter den erfolgreichen Antragstellern der ersten Runde des Förderprogramms war. Onishi tritt öffentlich dafür ein, den Bann gegen Militärforschung aufzuheben und Forschung für Zwecke der (kollektiven) »Selbstverteidigung« zuzulassen. Er argumentiert, die »jieitai« seien ja bereits im Hinblick auf das Selbstverteidigungsrecht akzeptiert, und forderte, „es müsse erlaubt werden, dass Forscher an Universitäten und anderen Institutionen für Selbstverteidigungszwecke geeignete Grundlagenforschung durchführen“ (Tôkyô Shimbun 26.5.2016). Damit stieß er im Wissenschaftsrat jedoch auf heftigen Widerspruch. Der Präsident der Universität Kyôto, Jûichi Yamazawa, bestritt, dass es einen nationalen Konsens über die Aktivitäten der »jieitai« gebe. Andere Mitglieder des Wissenschaftsrats erklärten, Onishi gebe nicht die seit Langem bestehende Position des Wissenschaftsrats wieder (Tôkyô Shimbun 26.5.2016).

An einzelnen Universitäten kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, oft organisiert von den Gewerkschaften der Universitätsangestellten. Als beispielsweise an der Okayama Universität bekannt wurde, dass es 2015 eine (erfolglose) Bewerbung auf die erste Ausschreibungsrunde des Förderprogramms gegeben hatte, starteten zehn Professorinnen und Professoren dieser Universität eine Unterschriftenaktion gegen die Militärforschung, bei der in kurzer Zeit 9.000 Unterschriften gesammelt wurden. Daraufhin verzichtete die Universitätsleitung auf eine nochmalige Bewerbung. Auch an der Universität Tokyo kämpft die Universitätsgewerkschaft gegen die von der Universitätsleitung beabsichtigte Aufweichung des grundsätzlichen Banns gegen Militärforschung durch eine Einzelfallprüfung. Nach der Veröffentlichung der Ausschreibung des Verteidigungsministeriums drängte sie das Rektorat, eine etwaige Bewerbung der Universität wieder zurückzuziehen (Endô 2016). Die University of the Ryukyus in Okinawa, die sich seit langem im Kampf gegen US-Militärbasen engagiert, sprach sich trotz erheblicher Kürzungen der Forschungsmittel gegen eine Teilnahme am Förderprogramm aus. Die Niigata University und die Shiga Prefectural University erweiterten nach internen Protesten eine temporäre bzw. bedingte Nichtteilnahme am Förderprogramm zu einem generellen Boykott dieses Programms (vgl. Ikeuchi/Kodera 2016, Kap. 8).

Eine Gruppe von Wissenschaftlern um Satoru Ikeuchi, ein emeritierter Astrophysiker der Universität Nagoya, gründete im September 2016 die Japanese Coalition Against Military Research in Academia, die 25 Universitätsgewerkschaften und Antikriegsgruppen sowie hunderte von Einzelpersonen umfasst. Mitglieder dieser Initiative besuchten die Universitäten, die sich um eine Förderung durch das Verteidigungsministerium beworben hatten, und erinnerten sie an die Selbstverpflichtung des Japanischen Wissenschaftsrats, keine Militärforschung zu betreiben (Kawamura 2016; Normille 2017). Die Initiative befürchtet eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit durch die Militärforschung und verweist auf den Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes in den USA auf die dortige Wissenschaft. Sie warnt besonders die jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zur Kollaboration mit dem Militär gezwungen würden, ohne sich über deren Tragweite im Klaren zu sein. (Tarao 2016b) Immer wieder wird von dieser Initiative übrigens auf die Zivilklauselbewegung in Deutschland verwiesen, um zu zeigen, dass Japan mit seinem akademischen Antimilitarismus kein Sonderfall ist (Akai 2016).

Selbstverpflichtung gegen Militärforschung erneuert

Die öffentliche Mobilisierung gegen die Militärforschung an zivilen Hochschulen zeigte schnell Wirkung. Hatten sich auf die erste Ausschreibungsrunde des Verteidigungsministeriums im Sommer 2015 noch 109 Institutionen, davon 58 Universitäten, beworben, waren es in der zweiten Runde 2016 nur noch 44, darunter nur noch 23 Universitäten (Tarao 2016a). Der Präsident des Japanischen Wissenschaftsrats setzte daraufhin einen Sonderausschuss ein, der für die Generalversammlung im Frühjahr 2017 eine gemeinsame Position zur Frage der Militärforschung erarbeiten sollte (Ikeuchi et al. 2016). Der Sonderausschuss führte an mehreren Universitäten öffentliche Diskussionen durch. Am 7.3. 2017 veröffentlichte er seine Beschlussempfehlung: Der Japanische Wissenschaftsrat solle sich zu seinem „Erbe“ der Selbstverpflichtungen von 1950 und 1967 gegen Militärforschung bekennen. Das Förderprogramm des Verteidigungsministeriums werfe „viele Probleme“ auf und bedeute einen erheblichen Eingriff des Staates in die Wissenschaftsautonomie. Die Beteiligung am Förderprogramm des Verteidigungsministeriums solle nicht den individuellen Forscherinnen und Forschern überlassen werden, sondern alle Universitäten sollten Institutionen einrichten, um eine solche Beteiligung sorgfältig auch im Hinblick auf ihre ethische Tragbarkeit zu prüfen (The Mainichi 7.3.2017; The Asahi Shimbun 8.3.2017; The Japan Times 9.3.2017). Die meisten japanischen Wissenschaftler*innen stehen also weiterhin zu ihrer antimilitaristischen Tradition. Ihr Bekenntnis gegen Militärforschung sollte auch für die in dieser Hinsicht so zaghafte deutsche Wissenschaft Vorbild und Herausforderung sein.

Anmerkung

1) Zu den politischen Restriktionen der japanischen Militärpolitik während des Kalten Kriegs vgl. ausführlich Hummel 1992.

Literatur

Akai, J. (2016): Doitsu ni okeru gungaku kyôdô hantai no undô [Die Bewegung gegen eine militärisch-akademische Zusammenarbeit in Deutschland]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 52-60.

Endô, M. (2016): Gungaku kyôdô o habamu tame ni. Tôdai shokuso no torikumi o chûshin ni [Zur Verhinderung der militärisch-akademischen Zusammenarbeit unter besonderer Beachtung der Initiativen an der University of Tokyo]. In: Ikeuchi et al. 2016, S. 18-28.

Hummel, H. (1992): Japan – Schleichende Militarisierung oder Friedensmodell? Frankfurt a.M.: Haag und Herchen (Militärpolitik Dokumentation, Heft 88/89).

Ihara, S. (2016): Sengo, kagaku-sha wa gunji kenkyû to dô mukiatte kita ka [Wie haben Wissenschaftler nach dem Krieg gegen Militärforschung opponiert]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 17-26.

Ikeuchi, S.; Kawamura, Y.; Endô, M.; Toyoshima, K.; Nishikawa, J.; Akai, J. (Hrsg.) (2016): Gungaku kyôdô no shin tenkai: mondaiten o araidasu [Neuere Entwicklungen der militärisch-akademischen Kollaboration: Wo liegen die Probleme?]. JSA e magajin (2016)19, 25. Nov. 2016.

Ikeuchi, S. und Kodera, T. (Hrsg.) (2016): Heiki to daigaku. Naze gunji kenkyû o shite wa naranai ka [Waffen und Universitäten: Warum sollte keine Militärforschung betrieben werden?]. Tôkyô: Iwanami Shoten.

Kawamura, Y. (2016): Hiromaru gungaku kyôdô to sono haigo ni aru mono – anzen hoshô gijutsu kenkyû suishin seido to dai 5-ki kagaku gijutsu kihon keikaku [Die Ausbreitung der militärisch-akademischen Zusammenarbeit und ihre Hintergründe – Das »System for the Promotion of Security Technology Research« und der Fünfte »Science and Technology Basic Plan«]. In: Ikeuchi et al. 2016, S. 7-18.

Nippon.com (1.7.2014): Shûdanteki jieiken kôshi o gentei yônin – kakugi kettei [Begrenzte Akzeptanz des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung – Kabinettsbeschluss].

Normille, D. (2017): Japanese military entices academics to break taboo. Sciencemag.org, 24.1.2017.

Takeishi, R.; Mizusawa, K.; Sugihara, S. (2016): Bôeisho no kenkyû joseihi, 6 oku en –> 110 oku en rainendo yosanan [Ausgaben für Forschungsbeihilfen des Verteidigungsministeriums sollen von 600 Mio. Yen auf 11 Mrd. Yen steigen laut Haushaltsentwurf für das nächste Haushaltsjahr]. Asahi Shimbun Digital, 28 Dec 2016.

Takeuchi, S. (2016): Daigaku kaikaku ni matowaritsuku gungaku kyôdô – kenkyûshaban keizaiteki chôheisei [Militärisch-akademische Zusammenarbeit im Gefolge der Universitätsreform – ein ökonomisches Wehrpflichtsystem für Forscher]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 37-46.

Tarao, M. (2016a): Bôei-shô no senryaku – »anzen hoshô gijutsu kenkyû suishin seido« [Die Strategie des Verteidigungsministeriums – »System for the promotion of research on security technologies«]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 27-36.

Tarao, M. (2016b): Gungaku kyôdô hantai apîru shomei no kai [Unterschriftenkampagne für den Appell gegen militärisch-akademische Zusammenarbeit]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 81-84.

The Asahi Shimbun (3.5.2016): ASAHI POLL: Majority of voters feel no need to revise Constitution.

The Asahi Shimbun (8.3.2017): Scientists to keep ban on military research at universities.

The Japan Times (9.3.2017): Taking a stand on defense research.

The Mainichi (7.3.2017): Japan Science Council panel draft statement upholds rejection of military research.

Tôkyô Shimbun (26.5.2016, chôkan [Morgenausgabe]): Gakujutsu kaigi kaichô “jiei mokuteki no kenkyû kyoyô o”. Gunji hitei kara tenkan no kanôsei [Präsident des Wissenschaftsrats: „Forschung für die Selbstverteidigung sollte erlaubt werden“. Abkehr vom Bann gegen Militär möglich].

Wada, H. (2016): Nagoya daigaku ni okeru gungaku kyôdô kenkyû/kyôiku ni tsuite [Über die Kollaboration zwischen Wissenschaft und Militär in Forschung und Lehre an der Nagoya University]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 77-80.

Prof. Dr. Hartwig Hummel ist Professor für Europapolitik und Internationale Beziehungen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und hat sich dort für eine Zivilklausel eingesetzt.

Vorwärts ins 19. Jahrhundert?

Vorwärts ins 19. Jahrhundert?

Japan soll interventionsfähig werden

von Eiichi Kido

Nach der Wahl zum Unterhaus im Dezember 2012 gewann die Liberal-Demokratische Partei in Japan im Juli 2013 auch die Wahl zum Oberhaus mit deutlichem Vorsprung. Ministerpräsident Shinzô Abe hat damit für die nächsten drei Jahre eine klare Mehrheit in beiden Häusern, und der Rechtsnationalist will diese nicht nur nutzen, um Sozialleistungen zu kürzen; ihm geht es vor allem um eine Verfassungsänderung, damit Japan auch offiziell weltweit militärisch operieren kann.

Die von Ministerpräsident Abe angekündigte Politik hat, wenn sie denn wie geplant durchgesetzt wird, weitgehende Folgen nicht nur für die japanische Bevölkerung, sondern auch für die gesamte Region:

  • Da geht es zum Ersten um die Wiederaufnahme des Betriebs von Atomkraftwerken im Land und um den Export japanischer AKW-Modelle ins Ausland. Und das, obwohl aus dem Kernkraftwerk Fukushima Daiichi noch immer hoch radioaktiv verseuchtes Wasser ins Meer läuft, die Ursache der Katastrophe weiterhin nicht vollständig geklärt ist und etwa 150.000 Menschen auf absehbare Zeit weit weg von ihrer Heimat leben müssen. Völlig unbeeindruckt davon macht Abe in anderen Ländern Reklame für japanische AKWs. Außerdem verständigte er sich am 7. Juni 2013 mit dem französischen Präsidenten François Hollande über eine nukleare Zusammenarbeit.
  • Die Regierung beabsichtigt einen bisher beispiellosen Sozialabbau. So sollen die Sozialhilfe drastisch gekürzt und weitere Sozialleistungen abgebaut werden. Der Arbeitsmarkt soll noch stärker dereguliert werden, mit der Folge, dass die prekäre Erwerbstätigkeit weiter anwachsen wird. Die Mehrwertsteuer soll erhöht werden, und Japan soll am TPP-Freihandelsabkommen (Trans-Pacific Strategic Economic Partnership Agreement) teilnehmen. Dabei weisen Kritiker des TPP darauf hin, dass dieses Abkommen ausschließlich den (ursprünglich US-amerikanischen) multinationalen Unternehmen dient. Mit dem »Investor-State Dispute Settlement« würden diese die Investitionsschiedsgerichtsbarkeit – die z.B. US-Konzernen Klagen gegen die japanische Regierung aufgrund der von ihr erlassenen sozialen und ökologischen Standards ermöglicht – in ihre Hände bekommen, die nationale Souveränität würde dadurch weitgehend eingeschränkt.
  • Größten Wert legt die Regierung Abe auf eine Verfassungsänderung, die die bisher festgeschriebene militärische Zurückhaltung beseitigt.

Abschied vom modernen Konstitutionalismus

Anders als in seiner ersten Regierungszeit von September 2006 bis September 2007 muss Abe sich nicht beeilen, sein Ziel, die Abschaffung des pazifistischen Verfassungsartikels 9, zu erreichen.1 Er plädiert dafür, man solle zuerst Artikel 96 ändern. Dieser bestimmt das Verfahren zu einer Verfassungsänderung. Eine Änderung der Verfassung bedarf nämlich bisher der Initiative des Parlaments mit Zustimmung von mindestens zwei Dritteln aller Mitglieder in jedem Haus. Die Änderung ist dann dem Volk vorzulegen und bedarf dessen Zustimmung. Abe hat die Absicht, die Zustimmung für die Parlamentsinitiative auf eine einfache Mehrheit abzusenken, um eine Verfassungsänderung wesentlich leichter durchsetzen zu können.

Das bedeutet praktisch den Abschied vom modernen Konstitutionalismus, der den Regierenden Willkür verbietet und sie bei der Ausübung der Staatsgewalt den Bindungen der Verfassung unterwirft. Seit den bürgerlichen Revolutionen im 18. Jahrhundert (Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg und Französische Revolution) ist das ein wesentliches Prinzip für die Verfassung eines hoch entwickelten Staates. In der japanischen Verfassung, die auf dem Konstitutionalismus basiert, sind Volkssouveränität, Menschenrechte und Gewaltenteilung entsprechend deutlich formuliert, um die Staatsmacht einzuschränken. Auch Artikel 99, der den Tennô oder Regenten, die Minister, die Parlamentsmitglieder, die Richter und die übrigen öffentlichen Bediensteten verpflichtet, diese Verfassung zu achten und zu schützen, zeugt von der Absicht, die Menschenrechte vor willkürlicher Herrschaft der Machthaber zu schützen.

Die Art und Weise, wie Abe & Co das Prinzip des Konstitutionalismus aushöhlen wollen, um eine Verfassungsänderung in ihrem Sinne zu erleichtern, erinnert an das NS-Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, das es möglich machte, dass die von der Regierung beschlossenen Gesetze von der Verfassung abweichen konnten.2

Laut Victor Klemperer soll Adolf Hitler im März 1936 gesagt haben: „Ich bin kein Diktator, ich habe die Demokratie nur vereinfacht.“ 3 Eine solche Vereinfachung der Demokratie fordert vor allem Tôru Hashimoto, einer der Ko-Vorsitzenden der Restaurationspartei Japans. Diese Partei wurde im September 2012 von der Regionalpartei »Verein zur Restauration Osakas« gegründet. Eine federführende Rolle spielte dabei Hashimoto, ehemaliger Gouverneur von Osaka und amtierender Oberbürgermeister der Stadt Osaka, der die Parteigründung zusammen mit Abgeordneten des nationalen Parlaments betrieb. Neben Hashimoto ist Shintarô Ishihara, ehemaliger Gouverneur von Tokio, Parteivorsitzender. Im Parteiprogramm vom 30. März 2013 wird die japanische Verfassung beschimpft als „Wurzel allen Übels, die Japan zur Isolation und zum Gegenstand der Geringschätzung verdammt und ihm die unrealistische Kollektivillusion des absoluten Friedens aufgezwungen hat“. Die ideologische Position der Restaurationspartei ist derjenigen von Abe damit sehr ähnlich. Für eine Verfassungsänderung hat der rechtsnationale Ministerpräsident also auch in der »Opposition« Verbündete.4

Menschenrechte als Gnade der Obrigkeit

Im April 2012 veröffentlichte die LDP ihren Verfassungsentwurf. Seit ihrer Gründung fordert die Partei, dass Japan von der durch die Alliierten »aufgezwungenen« Verfassung befreit werden und eine »eigene« bekommen muss. Wenig überrascht daher, dass im LDP-Entwurf eine international-universale Sichtweise gänzlich fehlt. In der Präambel der heutigen Verfassung steht z.B. „Wir erkennen an, dass die Völker auf der ganzen Welt das Recht haben, ohne Unterschied frei von Furcht und Not in Frieden zu leben“ und „Wir glauben, dass keine Nation sich nur ihren eigenen Angelegenheiten widmen und die anderen Nationen unbeachtet lassen darf“. Der LDP-Verfassungsentwurf widmet sich hingegen gerade nur den eigenen Angelegenheiten und definiert Japan narzisstisch als einen „Staat, der eine lange Geschichte und ganz eigene Kultur hat und dankenswerterweise den Tennô als Symbol des nationalen Zusammenhaltes“.

Der Fokus der Verfassungsänderung liegt natürlich auf Artikel 9, der auf die »Abschaffung des Krieges« abzielt. Die LDP hat die Absicht, die »Abschaffung des Krieges« abzuschaffen und stattdessen die »Sicherheit« in den Vordergrund zu stellen. Laut der heutigen Verfassung ist es dem japanischen Staat untersagt, Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie andere Kriegsmittel zu unterhalten. Die LDP will die faktische Existenz der Landesverteidigungstruppen (Kokubô-Gun) verfassungsrechtlich klar festschreiben.5

Der LDP-Verfassungsentwurf beinhaltet darüber hinaus eine grundlegende Einschränkung der modernen Volkssouveränität und der Menschenrechte. Symbolisch ist, dass der vorgeschlagene Text den heutigen Verfassungsartikel 97 („Die Grundrechte der Menschen, die diese Verfassung dem japanischen Volk gewährleistet, sind der Erfolg des jahrhundertelangen Kampfes der Menschheit um die Erlangung der Freiheit: Diese Rechte haben in der Vergangenheit vielfache Proben bestanden und sind dieser und künftigen Generationen des Volkes als unverletzliche ewige Rechte anvertraut.“) überhaupt nicht mehr enthält. Der Begriff »natürliche und unveräußerliche Menschenrechte« ist der LDP offensichtlich völlig fremd.

Stattdessen sind im LDP-Entwurf verschiedene Pflichten des Volks festgeschrieben, wie „Das japanische Volk verteidigt selber mit Stolz und Mut das Land und die Heimat“ (Präambel), „Das japanische Volk muss die Nationalflagge und die Nationalhymne achten“ (Art. 3), „Die Familienmitglieder müssen einander helfen“ (Art. 24), „Jeder muss bei einer Erklärung des Ausnahmezustands […] den Anweisungen des Staates und der anderen öffentlichen Einrichtungen folgen“ (Art. 99-3) und „Jeder Staatsbürger muss diese Verfassung achten“ (Art. 102).

Man muss die Aufmerksamkeit darauf richten, dass dabei auch das »Individuum« verschwindet. Artikel 13 der geltenden Verfassung lautet: „Jeder Bürger wird als Einzelpersönlichkeit geachtet.“ Jedes Individuum gilt als gleichwertig. Es hat das Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück. Das ist der Grundtenor der Verfassung. Deshalb muss die Staatsgewalt die Menschenrechte der Individuen möglichst weitgehend achten. Natürlich darf kein Bürger Freiheiten und Rechte missbrauchen; jeder ist ständig verpflichtet, sie zum allgemeinen Wohl zu nutzen (Art. 12). Aber das bedeutet nicht, dass der Staat wesentliche Vorrechte vor dem Individuum besitzt.

Im LDP-Verfassungsentwurf heißt es: „Jeder Bürger wird als Mensch geachtet.“ Die Bürger werden nicht mehr als Individuen mit all ihren Unterschieden, sondern als Ganzes behandelt. Es geht um die Homogenität der Menschen. Überdies wird das Recht des Bürgers auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück geachtet, „soweit es den öffentlichen Interessen und der öffentlichen Ordnung nicht entgegen steht“. Offensichtlich denkt die LDP, dass »die öffentlichen Interessen und die öffentliche Ordnung« über den Menschenrechten und der Staat über dem Individuum steht.

Wenn die Obrigkeit der Auffassung ist, dass Äußerungen »den öffentlichen Interessen und der öffentlichen Ordnung« entgegen stehen, wird die Äußerungs- und Meinungsfreiheit des Individuums nicht mehr erlaubt. So könnten die für die LDP unbequemen Bewegungen gegen AKWs und Militärstützpunkte mundtot gemacht werden.

Das erinnert an die Meiji-Verfassung von 1889. Damals konnten japanische Untertanen nur „im Rahmen des Gesetzes“ die Freiheit der Rede, der schriftlichen Äußerung, der Veröffentlichung, der Versammlung und der Vereinsbildung genießen. Unter dieser Verfassung wurden verschiedene Freiheiten eingeschränkt und unterdrückt. Für die geschichtsrevisionistische LDP, die den japanischen Angriffskrieg bis 1945 als „Selbstverteidigung“ und „Befreiung Asiens“ rechtfertigt, scheint es attraktiv zu sein, die Verfassung als Mittel zur Kontrolle des Volkes zu instrumentalisieren.

Diese Top-Down-Kommunikation gilt auch für die lokale Selbstverwaltung. Der LDP-Entwurf reduziert ihren Zweck auf die „bevölkerungsnahe Verwaltung“ (Art. 92). Es wäre einer lokalen Selbstverwaltung dann nicht mehr möglich, einen Beschluss zu fassen, der den Richtlinien der Regierung zuwider läuft. Sie müsste vielmehr brav Militärstützpunkte der US-Amerikaner oder der Landesverteidigungstruppen, AKW-Anlagen oder Atommülllager aufnehmen.

Die LDP will also drei Prinzipien der heutigen Verfassung widerrufen: Volkssouveränität, Menschenrechte und Pazifismus. Artikel 99 der heutigen Verfassung verbietet Politikern und öffentlichen Bediensteten, bei Gesetzgebung und Administration die Rechte des Bürgers zu verletzen. Die LDP sieht es genau umgekehrt: „Jeder Bürger muss diese Verfassung achten.“ Der Tennô soll nun als Staatsoberhaupt von der Pflicht, die Verfassung zu achten, befreit werden. Hat die LDP die Absicht, im Namen des Tennô willkürliche Machtdemonstration und Gewaltanwendung zu unternehmen?

Der Weg zum Kriegsstaat

Laut dem LDP-Verfassungsentwurf ist der Zweck der Erhaltung der Landesverteidigungstruppen nicht nur Selbstverteidigung, sondern auch „Sicherung des Friedens und der Sicherheit der internationalen Gesellschaft in internationaler Zusammenarbeit“ und „Erhalt der öffentlichen Ordnung bzw. Schutz des Lebens und der Freiheit des Volkes“. Das bedeutet praktisch, dass Japan in Zukunft selbst ohne UNO-Mandat an der Seite der USA ständig und global militärisch präsent sein könnte. Außerdem hat die LDP die Absicht, das Militär im Inland einzusetzen.

Für die LDP scheint die zivile Kontrolle über das Militär nicht besonders wichtig zu sein. Nach ihrem Verfassungsentwurf dürften der Ministerpräsident und die Minister nur „keine Militärs im aktiven Dienst“ sein, während die heutige Verfassung regelt, dass sie Zivilisten sein müssen. Theoretisch könnte man Minister werden, wenn man einen Tag vorher aus dem Militär entlassen worden ist.

Im LDP-Verfassungsentwurf ist die Idee des bedingungslosen Gehorsams gegenüber der Befehlsgewalt offensichtlich. Für die Landesverteidigungstruppen soll ein Militärgericht eingerichtet werden. Im Wahlkampf 2013 zum Oberhaus sagte der LDP-Generalsekretär, Shigeru Isawa, unmissverständlich, dass Befehlsverweigerer dann möglicherweise zum Tode verurteilt würden.

In Kapitel 9 hat die LDP den »Notstand« neu definiert. Der Ministerpräsident soll den Notstand erklären können bei „einem bewaffneten Angriff von außen gegen unser Land, Verwirrung der gesellschaftlichen Ordnung, wie Bürgerkrieg, und großen Naturkatastrophen, wie Erdbeben“. Gab es in Japan bei der dreifachen Katastrophe 2011 etwa einen Aufstand gegen die »öffentliche Ordnung«? Ein Bürgerkrieg oder eine bewaffnete Revolution ist in Japan ebenfalls undenkbar. Die Änderung des Pazifismus-Artikels 9 und die Einführung einer Notstandsregelung gemäß Kapitel 9 sollen es Japan ermöglichen, wieder Krieg zu führen.

Die Notstandsregelung bereitet nämlich die Generalmobilisierung vor. Wenn einmal der Notstand erklärt ist, bekommt das Kabinett außerordentlich große Macht. Es kann einen Regierungserlass anordnen, der die gleiche Wirksamkeit hat wie ein Gesetz. Die Obrigkeit kann dann ohne Zustimmung des Parlaments die Rechte der Bürger einschränken. Dabei muss jeder „den Anweisungen des Staates und der anderen öffentlichen Einrichtungen folgen“. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht ist dann keine grundlose Spekulation.

Fazit

Es ist wohl falsch, den LPD-Verfassungsentwurf nur als anachronistisch zu kritisieren. Die durch die Austeritätspolitik bedingte gesellschaftliche Diskrepanz ist inzwischen so groß geworden, dass die LDP versucht, die Gesellschaft durch den Ausbau der Staatsgewalt zusammen zu halten.

Mitte der 1990er Jahre wurde in Japan der Meilenstein gesetzt für einen neoliberal-neonationalistischen Weg. Die Arbeitgeber gaben damals die Grundsätze des japanischen Nachkriegskapitalismus wie Anstellung auf Lebenszeit und Bezahlung nach (Dienst-) Alter auf. Der Staat hat sich aus bestimmten Politikbereichen wie Sozialfürsorge und Bildung zurückgezogen. Es gab einen kulturellen Rückschlag, nachdem die Regierung, wenn auch zögerlich, versucht hatte, die historische Kriegsschuld anzuerkennen.

Als Folge der Deregulierung des Arbeitsmarkts waren in Japan laut einer Regierungsstatistik, die im Juli 2013 veröffentlicht wurde, im Jahre 2012 20,43 Millionen Menschen prekär beschäftigt. Das waren 38,2% aller Beschäftigten.

Angesichts der verschlechterten Arbeitsverhältnisse wächst die Kluft zwischen Arm und Reich; bittere Armut nimmt stark zu. Laut dem OECD-Bericht »Growing Unequal?« von 2008 lag Japan bei der Armutsquote auf Platz vier, d.h. 14,9% der Japaner lebten in Haushalten mit einem Einkommen unterhalb der Hälfte des Durchschnittseinkommens. Laut einer UNICEF-Studie zur Kinderarmut vom Mai 2012 hat diese ebenfalls auf 14,9% zugenommen – in Deutschland liegt sie bei 8,5%.

Japanische Kinder und Jugendliche sind ohnehin extrem konkurrenzbetonten Lebensumständen und den traditionellen Ansichten, die Kinder nicht als Menschen mit eigenen Rechten respektieren, ausgesetzt.6 Fast die Hälfte der jungen Generation befindet sich in prekären Verhältnissen. Die geringe Arbeitsplatzsicherheit und das niedrige Einkommensniveau macht ihnen eine langfristige Lebensperspektive unmöglich. Aber auch das Arbeitsleben der Vollzeitbeschäftigten ist sehr hart: lange Arbeitszeit, unbezahlte Überstunden usw.

Angesichts der tief greifenden Klassenspaltung in der japanischen Gesellschaft ist der Verlust des Gefühls, Menschen vertrauen zu können, immer spürbarer. Laut einer Umfrage, die 2002/2003 durchgeführt wurde,7 stimmten nur 31,5% der befragten StudentInnen in Japan der These „Die meisten Menschen sind im Grunde aufrichtig und freundlich“ zu (in Finnland waren es 82,6%). 79,7% von ihnen meinen „In dieser Gesellschaft wird man von jemandem ausgenutzt, wenn man nicht aufpasst“ (in Finnland 25,4%).

Die neoliberale Ideologie der Eigenverantwortung hat besonders junge JapanerInnen stark indoktriniert. Wenn bei ihnen etwas schief läuft, meinen sie, sie seien selbst daran schuld. Aber diese Selbstzüchtigung kann man nicht für immer ertragen. Irgendwann braucht man etwas, an dem man die Unzufriedenheit auslassen kann.

Die Feindbilder China und Nordkorea, die z.T. durch Aufrüstung (Chinas) und Raketenschlag-Drohungen (Nordkoreas) befördert werden, sind gut geeignet, um mit Hilfe eines Neonationalismus von den Widersprüchen des Neoliberalismus abzulenken. Auch ist eine wachsende Intoleranz zu verzeichnen, d.h. Versuche, Andersdenkende und Andersartige mit Gewalt zu unterwerfen und das Recht der Stärkeren durchzusetzen.8

Initiativen gegen die (Re-) Barbarisierung des Staates und der Gesellschaft Japans kann man vom Parlament nicht erwarten, die überwiegende Mehrheit seiner Mitglieder ist auf die Änderung der auf Krieg verzichtenden Verfassung fixiert. Für Friedenspolitik bedarf es eines Netzwerkes in der Zivilgesellschaft, und zwar nicht nur in der japanischen, sondern auch der globalen.

Nachdem die erste globale Artikel-9-Konferenz zur Abschaffung des Krieges mit TeilnehmerInnen aus 42 Ländern und Regionen im Mai 2008 stattfand,9, gibt es eine zweite Tagung im Oktober 2013 in Osaka.10

Am 13. Juni 2013 hat sich der UN-Menschenrechtsrat dafür ausgesprochen, das Recht auf Frieden als Menschenrecht anzuerkennen und ihm als internationale Norm Geltung zu verschaffen.11 Die japanische Verfassung hat dabei eine gewisse Rolle gespielt. In einer Welt, in der ein bewaffneter Konflikt nach dem anderen entsteht, Waffen massiv produziert werden und die Umweltzerstörung fortschreitet, ist die Idee des japanischen Verfassungsartikels 9, nämlich »Frieden schaffen ohne Waffen«, hoch aktuell.

Anmerkungen

1) Artikel 9 lautet in dt. Übersetzung laut der Website »Japanische Verfassungsgeschichte« von Prof. Dr. Andreas Kley, Lehrstuhl für Staatsrecht und Verfassungsgeschichte an der Universität Bern: (1) „In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten. (2) Um das Ziel des vorhergehenden Absatzes zu erreichen, werden keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder sonstige Kriegsmittel unterhalten. Ein Recht des Staates zur Kriegsführung wird nicht anerkannt.“

2) In der Tat lobte Vize-Regierungschef Tarô Asô (Vize-Premier und Finanzminister) acht Tage nach der Wahl zum Oberhaus die politische Taktik der Nationalsozialisten bei der Umsetzung der Verfassungsreformen, was natürlich zu internationaler Kritik geführt hat. Siehe: Simon Wiesenthal Center: Simon Wiesenthal Center to Japanese Vice Prime Minister: Which »Techniques« of the Nazis Can We »Learn From«? July 30, 2013.

3) Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945. 8 Bände. Eintrag vom 23. März 1936. Berlin: Aufbau.

4) Obwohl die Restaurationspartei bei der Wahl zum Unterhaus drittstärkste Partei wurde, hatte sie bei der Wahl 2013 keinen sensationellen Erfolg. Schuld daran waren die jüngsten Äußerungen von Hashimoto, der in Bezug auf die »Trostfrauen« im Zweiten Weltkrieg davon sprach, dass Prostitution notwendig gewesen sei, um die Disziplin in der Truppe aufrecht zu erhalten. In diesem Kontext schlug er sogar dem Befehlshaber der in Okinawa stationierten US-Truppen vor, die US-amerikanischen Soldaten auf die Möglichkeiten der Sexindustrie hinzuweisen, „um die sexuelle Energie der starken Marineinfanteristen zu kontrollieren“. Angesichts heftiger Kritik im In- und Ausland schob er anschließend die Schuld den Massenmedien zu, die seine „wahre Absicht“ nicht wiedergegeben hätten.

5) Die japanischen »Selbstverteidigungsstreitkräfte« (Self-Defence Forces), die im Juli 1954 gegründet wurden, verfügen heute über insgesamt 247.172 Mann (Stand 31. März 2013). Nach Angaben von SIPRI stellen sie mit 59,271 Mrd. Dollar etatmäßig die fünftgrößte Streitmacht der Welt dar. Von Januar 2004 bis Ende 2008 waren japanische Truppen ohne UN-Mandat in den Irak entsandt.

6) United Nations Committee on the Rights of the Child, fifty-fourth session: Consideration of reports submitted by States parties under article 44 of the Convention. Concluding observations: Japan. Dokument CRC/C/JPN/CO/3 vom 20. Juni 2010.

7) NIRA policy research, December 2005, S.31.

8) Vgl. Eiichi Kido: Neuer Graswurzel-Chauvinismus in Japan. In: Antifaschistisches Infoblatt, Nr. 94 (1/2012).

9) Article-9.org/whynot9/index_en.html.

10) 9jou-kansai.com/uttae02.html.

11) Dafür waren 30 Länder, dagegen waren neun (darunter die EU, die USA und Japan); acht Enthaltungen.

Eiichi Kido ist seit 1994 Assistenzprofessor an der Osaka School of International Public Policy (OSIPP), Universität Osaka. Von 2000 bis 2001 war er DAAD-Lektor am Institut für Politikwissenschaften der Universität Leipzig.

Hiroshima und Nagasaki

Hiroshima und Nagasaki

Die Zerstörung der Städte und die Formen der Erinnerung in Japan

von Wolfgang Schwentker

Am Morgen des 6. August 1945 warf eine B-29 der amerikanischen Luftwaffe die erste Atombombe über Hiroshima ab. In Bruchteilen von Sekunden verwandelten eine gewaltige Explosion etwa 500 Meter über dem Erdboden und die unmittelbar folgenden Hitzewellen die Stadt mit ihren 350.000 Einwohnern in ein Inferno.1

Augenzeugenberichte, die versuchen, das Unvorstellbare in Worte zu fassen, ja selbst später veröffentlichte Photographien geben uns heute ein nur unvollkommenes Bild des Grauens. Die genaue Zahl der Opfer am Tag des Abwurfs ist unbekannt. Bis heute wird darüber viel spekuliert. Sicher wissen wir nur, daß bis Ende 1945 ca. 140.000 Menschen an den Folgen der Atombombenexplosion starben; bis zum Jahre 1950 waren es etwa 200.000 Menschen. Die Stadt selbst wurde nahezu völlig verwüstet; 90<0> <>% aller Gebäude wurden im Umkreis von 13 Quadratkilometern infolge der Explosion zerrissen oder gingen in den folgenden Stunden in Flammen auf. Die Infrastruktur der Stadt war vollkommen zerstört. Wer in dieser atomaren Apokalypse die ersten Stunden überlebt hatte oder gar unverletzt geblieben war, versuchte aus der Stadt zu kommen. Jene, die sich in der Nähe des Epizentrums aufgehalten hatten, blieben zurück, die meisten tot oder schwer verletzt und hilflos, Opfer von Verbrennungen und Verstrahlungen.2

In Tokio machte man sich unterdessen Sorgen um die Stellung des Tenno und das japanische »Nationalwesen« (kokutai) für den Fall, daß Japan vor der Übermacht der alliierten Streitkräfte doch kapitulieren müßte.3 Der amerikanische Präsident Truman hatte es abgelehnt, der japanischen Regierung irgendwelche Garantien für den Fortbestand des Kaiserhauses zu geben, Kern und wichtigstes Symbol der nationalen Identität Japans. So mußten letzten Endes auch die Friedensangebote, die Tôkyo über die sowjetische Regierung lancieren wollte, wegen des Beharrens auf der Unantastbarkeit des Tenno erfolglos bleiben. Die Falken in der japanischen Regierung, allen voran die Spitzen von Flotte und Armee, wollten deshalb alles auf eine Karte setzen und glaubten, das Blatt doch noch wenden zu können.

Als die ersten Nachrichten über die Katastrophe aus Hiroshima eintrafen, wurden sie deshalb zunächst nur zögerlich und ungläubig aufgenommen. Man wußte noch zu wenig über die wirklichen Auswirkungen und einigte sich in der Öffentlichkeit auf die Sprachregelung, daß eine »neuartige Bombe« in Hiroshima beträchtlichen Schaden angerichtet habe. Die politischen Auswirkungen der Atombombe blieben also zunächst begrenzt; die japanische Regierung dachte zu diesem Zeitpunkt noch nicht daran, einzulenken und die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation anzunehmen. Immerhin entsandte man zwei Tage später Beobachter nach Hiroshima, um dem Verdacht nachzugehen, daß es sich bei der Bombe um eine Atombombe handeln könnte. Erst die Kriegserklärung der UdSSR an Japan am 8. August brachte Bewegung in die Verhandlungen, da nun das gefürchtete Schreckensgemälde einer möglichen kommunistischen Revolution und ein Sturz des Kaiserhauses konkretere Formen annahm.

In dieser Situation warf die amerikanische Luftwaffe am folgenden Tag, dem 9. August 1945, eine zweite Atombombe auf Nagasaki ab. Die Folgen für die Stadt und ihre Bewohner waren ähnlich verheerend.4 Von den etwa 270.000 Einwohnern kamen als Folge der ungeheuren Explosion und der Hitzewellen von mehreren tausend Grad ca. 70.000 Menschen um. In den nächsten fünf Jahren verdoppelte sich die Zahl der Opfer infolge der Strahlenerkrankungen. Die Überlebenden, die hibakusha, sollten wie ihre Leidensgenossen in Hiroshima noch auf Jahrzehnte von schweren Erkrankungen, genetischen Fehlentwicklungen bei ihren Nachkommen und seelischen Schmerzen gezeichnet sein. Wenn auch wegen der andersartigen geographischen Lage der Stadt mit ihren Hügelketten die Auswirkungen der Atombombe relativ begrenzter als in Hiroshima waren, so wurde aber auch hier die Infrastruktur der Stadt nahezu vollkommen zerstört. Auf einer Fläche von ca. 7 Quadratkilometern um das Epizentrum der Bombe wurde sämtliches Leben ausgelöscht und alle Gebäude wurden verwüstet.

Die Nachrichten vom Abwurf einer zweiten Atombombe auf Nagasaki haben auf die Beratungen der Regierung in Tokio am 9. August keinen sonderlich großen Einfluß gehabt. Von wesentlich größerer Bedeutung war, wie man dem Kriegseintritt der Sowjetunion begegnen könne und ob man eine Entscheidungsschlacht auf dem japanischen Festland suchen müsse. Nach stundenlangen, aber ergebnislosen Beratungen überließ man schließlich dem Tenno die letzte Entscheidung, wonach sich Japan am 10. August zu einer bedingten Annahme der Potsdamer Deklaration entschloß. Mit einer verklausulierten Garantie für den Fortbestand des japanischen Kaiserhauses kamen die Amerikaner dem Kriegsgegner dabei diplomatisch entgegen. Am 14. August war die Kapitulation beschlossene Sache. Sie war das Ergebnis eines diplomatischen Tauziehens zwischen den USA und Japan und eines „unübersichtlichen Palastspektakels“ (Wagner) in Tokio. Dahinter stand auf allen Seiten das Bemühen, die Sowjetunion aus Japan herauszuhalten. Der Abwurf der beiden Atombomben hat, entgegen den Erwartungen, die die amerikanische Administration mit dem militärischen Einsatz der Atombombe verband, im Entscheidungsprozeß der japanischen Regierung eine nur untergeordnete Rolle gespielt.5

Der Krieg war mit der Kapitulation Japans zu Ende gegangen. Am 15. August richtete sich der Tenno aus diesem Anlaß in einer Rundfunkansprache an die Bevölkerung, in der auch von den schrecklichen Auswirkungen der Atombombe die Rede war.6 Die Bewältigung der ungeheuer schwierigen Probleme, die sich aus der atomaren Zerstörung der Städte vor allem für die unmittelbar Betroffenen ergaben, nahm jetzt erst ihren Anfang. Damit eng verknüpft war die politische Behandlung der Atombombenfrage, im Innern wie nach außen. Sie ist bis heute in Japan höchst aktuell und umstritten. Dies zeigten in jüngster Zeit die scharfen Reaktionen auf die amerikanischen Planungen zur Herausgabe einer Briefmarke, mit der der Abwurf der Atombombe noch einmal gerechtfertigt werden sollte, oder die kühle Resonanz auf die amerikanische Diskussion über das Ausstellungsprojekt der »Smithonian Institution« in Washington. Wie läßt sich heute, 50 Jahre nach dem Abwurf der Atombomben, die sozial-psychologische Verarbeitung der Zerstörungen und Verletzungen nach 1945 beschreiben? Wie ist die Erinnerung an diese bislang einmaligen Vorgänge politisch organisiert, wie ist sie von verschiedenen Interessengruppen in Japan instrumentalisiert worden?7 Es gibt hier angesichts der Komplexität der zu erörternden Probleme keine griffigen Formeln, mit denen sich das Thema bündig ordnen ließe. Doch lassen sich in der Behandlung von Hiroshima und Nagasaki durch die Regierung und in der Öffentlichkeit drei Phasen unterscheiden, deren Zäsuren von äußeren Faktoren, insbesondere dem Verhältnis Japans zu den USA, und dem Wandel in der Bewertung des japanischen Verhaltens im Krieg vom Opfer (higaisha) zum Täter (kagaisha) bestimmt wurden.

Die erste Phase vom Kriegsende bis etwa Mitte der fünfziger Jahre umschließt den Wiederaufbau der zerstörten Städte unter den Bedingungen der amerikanischen Besatzung. Die zweite Periode reicht vom Widerstand der japanischen Friedensbewegung gegen die amerikanischen Atomtests im Pazifik nach 1955 bis in die siebziger Jahre, in denen sich in der Atomfrage Kritiker und politisches Establishment in zwei Lagern gegenüberstehen. In der dritten Phase ab etwa 1980 verschärft sich die Kritik an den damaligen Entscheidungen der USA für den Einsatz der Bombe vor dem Hintergrund eines neuen japanischen Nationalismus. Gleichzeitig kommt es auf Seiten der Linken zu einer stärkeren Thematisierung der Kriegsschuldfrage und angesichts der Würdigung der zahlreichen koreanischen Opfer zu einer Relativierung der These, daß Japan das „einzige und alleinige Opfer der Atombomben“ („Nihon wa yuiitsu no hibaku kuni“) sei.8

Das Schicksal der Überlebenden

Nur wenige Wochen blieben den Japanern Zeit, sich an die Tatsache zu gewöhnen, daß ihr Land bald von fremden Truppen besetzt werden würde. Die japanische Übergangsregierung protestierte zwar noch nach der Kapitulation über diplomatische Kanäle in der Schweiz gegen die Anwendung atomarer Waffen, doch fand ihre Note im Taumel des Zusammenbruchs selbst in Japan keinen Widerhall. Es waren ja nicht nur Hiroshima und Nagasaki im August 1945 vollkommen zerstört, auch andere japanische Großstädte waren seit dem Frühjahr Ziel strategischer Flächenbombardements amerikanischer Flugzeuge gewesen. Am 10. März 1945 hatten Angriffe auf die japanische Hauptstadt mehr als 80.000 Menschenleben gefordert. Anderen Städten mit ihren Bewohnern war es ähnlich ergangen. Die Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln und Strom war deshalb in weiten Teilen des Landes zusammengebrochen. Jeder kämpfte um das eigene Überleben und versuchte, sich und die eigene Familie in den ersten Monaten nach Kriegsende durchzubringen. An das besondere Schicksal der Atombombenopfer in Hiroshima und Nagasaki dachten in dieser Situation nur wenige. Für die beiden betroffenen Städte kam erschwerend hinzu, daß der »Supreme Commander of the Allied Powers« (SCAP) unmittelbar nach der Besetzung Japans am 10. September 1945 eine Verfügung erließ, die Presse und Radio unter die Zensur der Besatzungsbehörden stellte und ihnen auferlegte, sich jeder Kritik, die die Autorität der Besatzer untergraben könnte, zu enthalten.9 Dies betraf auch alle Berichte und Kommentare über die Folgen der atomaren Bombardierung.

Wie ernst es den Amerikanern mit diesem Erlaß war, bekamen auch westliche Journalisten zu spüren. Der australische Journalist Wilfried Burchett, der für den »London Daily Express« schrieb, hatte sich noch im August auf eigene Faust nach Westjapan durchgeschlagen und im September den ersten Bericht über die Verwüstungen in den Westen telegraphiert, zum Ärger der amerikanischen Behörden, die daraufhin allen westlichen Journalisten fürs erste den Zugang zu Hiroshima und Nagasaki verwehrten. Die Berichte der japanischen Journalisten wurden zensiert oder für mehrere Jahre zurückgehalten. Dies galt insbesondere für Berichte über die unzureichende medizinische und sozialpsychologische Betreuung der Überlebenden. Zwar wurde japanischen Wissenschaftlern gestattet, in beiden Städten Untersuchungen anzustellen. Die Ergebnisse der Kommissionen wurden jedoch konfisziert, ebenso das von den wissenschaftlichen Teams hergestellte Filmmaterial. Es wurde in die USA verbracht und blieb dort über 25 Jahre unter Verschluß.

Auch literarische Zeugnisse, wie der Bericht des Arztes Nagai Takashi aus Nagasaki, fielen unter die Zensur. Sein Buch „Die Glocken von Nagasaki“ konnte 1947 erst erscheinen, nachdem ihm auf Anordnung der Besatzer ein Bericht über japanische Kriegsgreuel auf den Philippinen angehängt wurde, – ein erstes Beispiel für die Verknüpfung von Atombombenproblematik und Kriegsschuldfrage. Es wäre aber wohl verfehlt, diese Beobachtungen zum Anlaß zu nehmen, um von einer totalen Nachrichtensperre zu sprechen und die Verhältnisse unter amerikanischer Besatzung mit der Zeit vor dem Kriege zu vergleichen, wie dies einige japanische Autoren in der Vergangenheit getan haben.10 Immerhin konnte die berühmte Sammlung von Augenzeugenberichten von John Hersey, die die amerikanische Öffentlichkeit aufgewühlt hatte, 1949 in japanischer Übersetzung erscheinen.11

Der mangelhafte Fluß an Nachrichten und Hintergrundinformationen über die Folgewirkungen der atomaren Verwüstung machte es den betroffenen Bewohnern von Hiroshima und Nagasaki zusätzlich schwer, von seiten der Bevölkerung und der Regierung Unterstützung zu erhalten. Die Überlebenden blieben mit ihren Sorgen und Leiden in den ersten Jahren nach der Katastrophe weitgehend allein. Unrühmlich war vor allem die dilatorische Behandlung der Probleme durch die japanische Regierung und ihre nur schleppend arbeitende Bürokratie. So blieb die Hilfe, als sie am dringendsten benötigt wurde, aus. Das Gesetz zur Linderung der Kriegsopfer von 1942 lief im Oktober 1945 aus und wurde nicht verlängert. Bis 1957 mußten die Überlebenden, die hibakusha, die medizinische und soziale Versorgung aus eigenen Mitteln bestreiten oder waren, wenn sie dazu nicht in der Lage waren, auf die Hilfe ihrer Familien angewiesen. Viele Opfer fühlten sich noch zusätzlich durch die Behandlung der von der amerikanischen Regierung 1947 eingesetzten »Atomic Bomb Casualty Commission« (ABCC) gedemütigt. Sie führte als wissenschaftliche Untersuchungskommission mit den betroffenen Opfern zahlreiche Tests durch, ohne gleichzeitig medizinische Hilfeleistungen anzubieten. Einzig und allein die städtischen Behörden traten für die Versorgung der hibakusha ein; ohne ihr Engagement hätten viele nicht überlebt. Sie organisierten in den ersten Nachkriegsjahren die medizinische Grundversorgung mit eigenen Mitteln und unter äußeren Bedingungen, die keine Beschreibung wirklich erfassen kann. Die dramatische, ja bisweilen aussichtslose Lage der beiden Städte verbesserte sich erst ab Mai 1949, als sich das japanische Parlament nach großem Zögern zu einem Wiederaufbauprogramm für Hiroshima und Nagasaki entschloß. Hiroshima wurde zur »Gedenkstadt für den Frieden« und Nagasaki zur »Internationalen Stadt der Kultur« erkoren. In beiden Städten wurde mit dem Bau von Erinnerungsstätten, Mahnmalen und Museen begonnen. An einem der regelmäßig stattfindenden Gedenktage, am 6. August 1952, wurde der Gedenkstein für die Opfer der ersten Atombombe eingeweiht. Die Inschrift ist absichtlich vage formuliert und unterstreicht die Absicht von Regierung und Stadtverwaltung, Hiroshima zu einem universalen Symbol der Anti-Atom- und Friedensbewegung zu machen: „Laßt die Seelen hier in Frieden ruhen, damit sich das Unheil nie wieder wiederholt.12

Auch in den fünfziger Jahren blieb die Lage der hibakusha unbefriedigend. Der Regierung lag nach 1950 eher an nationaler Friedenssymbolik. Außerdem war sie bestrebt, den wirtschaftlichen Aufbau mit einem Kernenergieprogramm zu betreiben, bei dem eine allzu kritische Haltung der Öffentlichkeit in der Atombombenfrage eher hinderlich gewesen wäre. Staatliche Hilfeleistungen kamen auch wegen der nur schwerfällig arbeitenden Bürokratie kaum voran. So lag die Last für den Wiederaufbau der zerstörten Städte weiterhin bei den lokalen Verwaltungen. Mit der Einrichtung spezieller Krankenhäuser und Rehabilitationszentren für die Atombombenopfer konnten die Leiden der Opfer zumindest gelindert werden. Private Hilfsorganisationen, Bürgergruppen und Ärzte wirkten an der Nachsorge mit. Doch auch sie konnten nicht verhindern, daß viele hibakusha bis weit in die sechziger Jahre in Baracken hausen mußten, in äußerst ärmlichen Verhältnissen lebten und manche wegen ihres Aussehens in die gesellschaftliche Isolierung getrieben wurden. Für viele Japaner galten sie, wie andere Behinderte auch, nach der shintoistischen Tradition als »unrein«. Man hielt sich lieber von ihnen fern und wirkte stattdessen am wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes mit. Darüber hinaus erinnerten die Atombombenopfer an die demütigende Niederlage von 1945. Dies war seit etwa 1960 dem neuen japanischen Selbstbewußtsein, das sich mit den wirtschaftlichen Erfolgen nach dem Korea-Krieg einstellte, eher abträglich. So gerieten die Opfer der Atombomben bei einem Großteil der Bevölkerung nahezu in Vergessenheit. Der Abschluß des Friedensvertrags von San Francisco, der Japan wieder in die Souveränität entließ – von den Kautelen der militärischen Geheimabmachungen abgesehen –, besiegelte die Hoffnung der hibakusha auf Entschädigungen von amerikanischer Seite. In Art. 19 des Vertrags verzichtete Japan ausdrücklich auf alle dahin gehenden Ansprüche, ohne zu diesem Zeitpunkt für die Betroffenen selbst Kompensationen in Aussicht zu stellen.

Aufarbeitung zwischen 1950 und 1980

Die Jahre 1952/54 bedeuteten bezüglich der Formen der Erinnerung in Japan an die atomare Katastrophe in zweifacher Hinsicht einen Wendepunkt. Mit Inkrafttreten des Friedensvertrags wurden auch die Zensurmaßnahmen hinfällig. Es kam in der Atombombenfrage in der Folge zu einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen wissenschaftlicher und literarischer Art. In der bekannten Kulturzeitschrift »Chûô Kôron« publizierte Ibuse Masuji 1951 die Hiroshima-Erzählung „Kakitsubata“ („Die Schwertlilie“; dt. 1985). Im Jahre 1965 erschien sein bedeutender Roman „Kuroi ame“ („Schwarzer Regen“; dt. 1974). Bekannt wurden auch die Reportagen über die hibakusha aus der Feder des japanischen Nobelpreisträgers Oe Kenzaburô, die seit 1963 in der Zeitschrift »Sekai« erschienen waren und später in Buchform unter dem Titel „Hiroshima nôto“ (Hiroshima-Notizen) berühmt wurden. Das Thema der Atombomben kehrte mit diesen und anderen Publikationen wieder in die öffentlichen Debatten zurück.13

Befördert wurde diese Entwicklung von äußeren Ereignissen. Die atomare Aufrüstung der Großmächte als Folge des sich verschärfenden Kalten Krieges, der Korea-Krieg und der japanisch-amerikanische Sicherheitspakt hielten die Erinnerung an die nukleare Bedrohung wach. Einen Proteststurm entfachten in Japan 1954 die amerikanischen Tests mit Wasserstoffbomben auf dem Bikini-Atoll. Es kam dabei zur radioaktiven Verseuchung der Besatzung eines japanischen Fischkutters. Die Affäre um die »Daigo Fukuryû Maru« weitete sich schnell aus. Wieder waren Japaner Opfer der atomaren Experimente geworden. Dies gab Anlaß für die zahlenmäßige und organisatorische Stärkung der japanischen Anti-Atombewegung. Sie vereinigte binnen weniger Monate mehrere hunderttausend Anhänger in ihren Organisationen. Davon profitierten auch die Vereinigungen und Hilfsorganisationen der hibakusha, die sich 1956 zu einem Dachverband, der »Nihon Gensuibaku Higaisha Dantai Kyôgikai«, zusammenschlossen. In dieser Situation war in den japanischen Medien immer öfter von „Japan als alleinigem und einzigem Atombombenopfer“ die Rede. Die Formel diente den konservativen Kräften schnell dazu, die für die japanische Politik gegenüber den asiatischen Nachbarn unangenehmere Kriegsschuldfrage in den Hintergrund zu drängen.14 Der anti-amerikanische Akzent der japanischen Friedensbewegung, die Hiroshima und Nagasaki in den sechziger Jahren zu einem ihrer wichtigsten Themen machten, verschärfte sich noch im Zuge des amerikanischen Engagements in Vietnam. Der Anti-Amerikanismus führte in Japan die Friedensbewegung und die politische Linke zusammen. Gleichwohl konnte eine parteipolitische Aufspaltung der Anti-Atombewegung, an der sich auch viele hibakusha beteiligten, nicht verhindert werden. Das Thema ließ sich dafür zu leicht politisch für unterschiedliche Zwecke instrumentalisieren. Im Jahre 1966 wurde noch einmal ein Versuch unternommen, mit einem einigenden Appell gegen die atomare Aufrüstung und für eine staatliche Unterstützung der Atombom<>benopfer die verschiedenen Strömungen zusammenzuführen. Doch blieben diese Bemühungen letzten Endes ergebnislos.15

Die japanische Regierung geriet gleichwohl seit den scharfen Auseinandersetzungen um die Verlängerung des Sicherheitsvertrags Anfang der 1960er Jahre auch in der Atombombenfrage unter Druck. Schon im Gefolge der Kritik an den Testversuchen im Bikini-Atoll hatte sich Tôkyô veranlaßt gesehen, im Jahre 1957 ein spezielles Gesetz für die gesundheitliche Betreuung der hibakusha zu verabschieden. Weitere Fonds zur Unterstützung der Atombombenopfer wurden per Gesetz im Jahre 1968 ins Leben gerufen, nachdem der Tôkyôter Gerichtshof einer Klage auf Entschädigung mit dem Argument stattgegeben hatte, daß die japanische Regierung wegen ihrer Verantwortung für den Ausbruch des Krieges auch für seine Opfer aufkommen müsse.16 Man war um 1970 mit Blick auf die Festigung des transpazifischen Bündnisses mit den USA offiziell bemüht, die anti-amerikanischen Wogen nicht zu hoch schlagen zu lassen. In Meinungsumfragen zu den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, die 1970 von der japanischen Zeitung »Mainichi Shimbun« durchgeführt wurden, zeigte sich, daß die ablehnende Haltung gegenüber den USA in der Atombombenfrage noch lange nicht abgebaut war. 40<0> <>% aller Befragten machten die amerikanische Regierung für den Abwurf der Bomben verantwortlich (in Hiroshima dagegen nur 21<0> <>%), für 19<0> <>% trug die japanische Militärregierung die Hauptverantwortung dafür, daß es zu dieser Katastrophe überhaupt kommen konnte.17 Die anti-amerikanischen Ressentiments wurden um 1970 noch zusätzlich dadurch verstärkt, daß bei entsprechenden Vergleichsumfragen in den USA 83<0> <>% der Befragten die Anwendung der Atombomben nicht bedauerten. Besonders scharf war die anti-amerikanische Grundstimmung in der jüngeren, erst nach dem Krieg geborenen Generation ausgeprägt. Mitte der siebziger Jahre hielt die Mehrzahl der japanischen Studenten von der sog. militärischen Rationalisierungsthese der Truman-Administration, wonach die Bomben dazu dienten, den Krieg möglichst schnell zu beenden, ganz wenig. Im Gegenteil, die meisten befragten Studenten erblickten in der Anwendung der Bomben ein gegen die Sowjetunion gerichtetes Instrument globaler Machtpolitik in der Anfangsphase des Kalten Krieges. Andere Gründe, die besonders von jüngeren Japanern in den Meinungsumfragen angegeben wurden, bezeichneten die Vermeidung von Verlusten auf amerikanischer Seite, die Beendigung des Krieges vor dem Kriegseintritt der UdSSR, die Rechtfertigung der immensen Kosten des Atomprogramms und schließlich die Revanche für den japanischen Überfall auf Pearl Harbor als Gründe für die atomare Bombardierung. Vorrangig wurde aber auch in den kommenden Jahren die »Atomic Diplomacy«-These des amerikanischen Historikers Gar Alperovitz genannt.18

Auch die japanischen Historiker sind dieser These, die vor Alperovitz in Japan schon durch die kritischen Publikationen des britischen Physikers P.M.S. Blackett verbreitet worden waren, weitgehend gefolgt. In einem bekannten Buch zur Geschichte der Shôwa-Zeit haben etwa Tôyama Shigeki und andere die These vertreten, daß der Abwurf der Atombomben nicht der letzte Akt des Zweiten Weltkriegs war, sondern die erste Operation im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion.19 Die Autoren der linksgerichteten »Rekishigaku Kenkyûkai« (Forschungsgesellschaft für Geschichtswissenschaft) gingen noch einen Schritt weiter und vertraten die Auffassung, daß 500.000 Menschen ohne Grund dem politischen Machtkalkül der USA geopfert wurden.20 Neuerdings fallen die Beurteilungen wieder etwas moderater aus, doch auch heute noch wird von führenden japanischen Historikern die These vertreten, daß die Entscheidung für den Abwurf der Atombomben in erster Linie aus den gegen die UdSSR gerichteten Planungen der Truman-Administration herausgewachsen sei.21

Diese Thesen der Fachwelt haben in den vergangenen Jahren über die Medien, die Schulbücher und die sehr einflußreichen Lehrerverbände eine starke Verbreitung erfahren und die japanische Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki wesentlich geprägt. Ein Kommentator der Asahi Shimbun konnte 1975 vermerken, daß nunmehr allseits anerkannt sei, daß der wahre Grund für den Abwurf der Atombomben nicht in einer schnellen Beendigung des Krieges gelegen habe, sondern in der Einschüchterung der Sowjetunion.22 Diese Einschätzung, wenngleich weit verbreitet, ist denn doch wohl zu einseitig. Die Auffassungen zu Hiroshima und Nagasaki hängen heute auch in starkem Maße von der politischen Orientierung des einzelnen ab. So favorisierten 1980 selbst in der Stadt Hiroshima die Anhänger der konservativen Liberal-Demokratischen Partei die sog. militärische Option. Als Grund für den Abwurf der Bomben nannten 48<0> <>% der Befragten die schnelle Kapitulation Japans, 28<0> <>% verwiesen auf die Minimalisierung der Verluste für die amerikanische Seite, und nur 18<0> <>% rekurrierten auf das Weltmachtstreben der USA. Dagegen votierten 30<0> <>% der Anhänger der Kommunistischen Partei Japans und 25<0> <>% der Sozialisten für die geostrategische »Atomic-Diplomacy«-These.23 Signifikant ist für die retrospektive Wahrnehmung der Atombombenproblematik in Japan bei allen politischen Gruppierungen und durch die Generationen hindurch das zählebige, aber historisch falsche Argument, wonach die atomare Bombardierung japanischer Städte auch wegen rassistischer Vorurteile möglich gewesen sei und für die USA die Anwendung atomarer Waffen gegenüber dem Dritten Reich niemals in Frage gekommen wäre.24

Die Rolle des »Opfers« wird durch Rolle des »Täters« ergänzt

Die Beurteilungskriterien in den Diskussionen über den Abwurf der Atombomben haben sich in den vergangenen fünfzehn Jahren verschoben und damit die Formen der Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki um neue Facetten bereichert. In den Jahren 1979/80 hatte sich die internationale Lage infolge des russischen Einmarschs in Afghanistan dramatisch zugespitzt. Die Phase relativer Entspannung schien plötzlich abgelaufen zu sein. Nach Auffassung westlicher und japanischer Sicherheitsexperten verschob sich das militärische Schwergewicht eindeutig zugunsten der Sowjetunion und ihrer Verbündeten. Die »Hardliner« in der regierenden konservativen LDP nahmen dies zum Anlaß, neu über eine militärische Aufrüstung der japanischen Streitkräfte nachzudenken. Von manchen Wortführern in der Debatte war dabei vereinzelt auch zu hören, daß dies eine Option auf Nuklearwaffen nicht mehr ausschließen dürfe. Nationalistische und militaristische Töne waren in diesen Diskussionen unüberhörbar. Shimizu Ikutarô, ein bekannter Sozialwissenschaftler und ehemals ein Wortführer der Pazifisten, votierte im Juli 1980 offen für eine »nukleare Option«. Autoren wie Etô Jun forderten eine Revision der japanischen Verfassung, die es Japan nach Art. 9 eigentlich verbat, eine reguläre Armee zu unterhalten und Krieg zu führen. Sie war 1947 das Produkt der Erfahrungen mit Imperialismus und Militarismus und schien nun nicht mehr angemessen für ein Land, daß mittlerweile zu einer wirtschaftlichen Macht erster Ordnung geworden war. Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der kommunistischen Staaten in Osteuropa ist es um die wenigen, aber unnachgiebigen Verfechter einer atomaren Aufrüstung Japans wieder stiller geworden. Schon die friedenserhaltenden Missionen des japanischen Militärs in Kambodscha wurden von der Öffentlichkeit angesichts der immer noch starken pazifistischen Grundströmung mit großem Mißtrauen beobachtet. Doch hat die traditionelle »Friedenserziehung« in Medien und schulischem Unterricht nicht mehr die Ausstrahlungskraft, die sie noch in den sechziger Jahren besessen hat. Damals wurden die Atombombenexplosionen in Hiroshima und Nagasaki in den Schulbüchern noch auf mehreren Seiten behandelt. Heute sind davon oft nur noch wenige Zeilen übriggeblieben.

Ein anderer, neuer Trend darf abschließend nicht unerwähnt bleiben. Seit dem Tode Shôwa Tennôs im Januar 1989 wird die Frage nach einer japanischen Kriegsschuld (sensô sekinin) wieder offener und intensiver diskutiert. Offizielle Vertreter der Städte Hiroshima und Nagasaki und Anhänger der Friedensbewegung versäumen in der Regel nicht, in ihren Appellen für den Weltfrieden auch die japanischen Kriegsgreuel einfließen zu lassen. Die Integration dieser Problematik in die kollektive Erinnerung an die atomare Katastrophe bleibt hingegen schwierig und umstritten. Angesichts der Tatsache, daß bei den Bombenangriffen auch mehrere zehntausend Koreaner ums Leben kamen, die während der japanischen Herrschaft in Korea von dort verschleppt wurden, läßt sich das Bild vom »einzigen und alleinigen Opfer Japan« nicht mehr aufrechterhalten. Die Rolle des »Opfers« Japan (higaisha) wird neuerdings auch in der Öffentlichkeit durch das Bild vom »Täter« (kagaisha) ergänzt.25 Die Problematik der Atombomben und die Kriegsschuldfrage sind damit verknüpft worden, wenngleich zurecht davor gewarnt wird, beides gegeneinander aufzurechnen. Dies gefällt nicht allen, wie die zum Teil unwürdigen Debatten zur Erklärung des japanischen Parlaments zum Ende des Krieges vor 50 Jahren erst kürzlich gezeigt haben. Eine systematische und offene Behandlung der Kriegsschuldproblematik steht in Japan immer noch aus. Sie wäre aus außenpolitischen Gründen dringend geboten. Die asiatischen Nachbarn werden sich jedenfalls mit der japanischen »Opferrolle« allein niemals zufriedengeben.

Japan sucht eine Gelegenheit zur Kapitulation

Einschätzungen aus dem Marineministerium im Mai/Juni 1945

Ein Memorandum, das ich am 7. Mai 1945 für
den Marineminister verfaßte, enthält zwar nicht die Auffassungen so hoher Instanzen,
gibt aber Aufschluß über die Meinungen im Marineministerium gegen Kriegsende:

„Lieber Jim!

… Es besteht die Möglichkeit, daß der
Sieg in Japan schneller auf den Sieg in Europa folgt, als es vom Standpunkt der
Kriegsanstrengung her anzunehmen ratsam ist. Ratsam wäre jedoch, sich auf ein recht
frühes Kriegsende einzustellen. Vielleicht wäre es deshalb ganz nützlich, von den
verschiedenen Abteilungen des Ministeriums Berichte darüber anzufordern, was für
Maßnahmen hinsichtlich (a) neu abzuschließender Lieferverträge, (b) laufender Aufträge
und (c) des Personalstandes unter der Voraussetzung zu ergreifen wären, daß der Krieg
mit Japan zum Beispiel am 1. August oder spätestens bis zum 31. Dezember dieses Jahres
beendet ist.“

Von diesen individuellen Beurteilungen der
Lage ganz abgesehen, besaßen die Vereinigten Staaten eine verläßliche
Informationsquelle über Japan in der Möglichkeit, praktisch den gesamten Funkverkehr
zwischen dem japanischen Außenministerium und den Botschaften in Übersee abzufangen und
schnell zu dechiffrieren. Daher wußten wir, daß die Japaner nicht nur von ihrer
Niederlage überzeugt waren, sondern auch so schnell wie möglich den Krieg beenden
wollten.

(…)

Staatssekretär Ralph Bard, der das
Marineministerium im interministeriellen Ausschuß für Atomenergie (dem Vertreter des
Verteidigungs-, Marine- und Außenministeriums angehörten) vertrat, brachte damals seine
Ansichten freimütig zu Papier:

„27. Juni 1945

Memorandum zum Einsatz der S-1-Bombe

Solange ich mich mit diesem Programm befaßt
habe, bin ich der Meinung, daß Japan beim Einsatz der Bombe etwa zwei oder drei Tage vor
ihrem Abwurf auf irgendeine Weise gewarnt werden sollte. Dafür sprechen in erster Linie
die Stellung der Vereinigten Staaten als Vorkämpfer der Humanität und der
Gerechtigkeitssinn unseres Volkes. In den letzten Wochen habe ich auch den sehr bestimmten
Eindruck gehabt, daß die japanische Regierung nach einer Gelegenheit zur Kapitulation
sucht. Nach der Dreimächtekonferenz könnten amerikanische Unterhändler an einem
geeigneten Ort an der chinesischen Küste mit Vertretern Japans zusammentreffen und sie
über die Haltung Rußlands sowie den geplanten Einsatz der Atombombe informieren. Daneben
könnten sie ihnen mitteilen, was der Präsident hinsichtlich des Kaisers von Japan und
der Behandlung des japanischen Volkes nach der bedingungslosen Kapitulation zuzusichern
bereit ist. Es erscheint mir sehr wohl möglich, daß dies die Gelegenheit darstellen
würde, nach der die Japaner suchen.

Ich wüßte nicht, was wir bei einem solchen
Vorgehen zu verlieren hätten. Es steht so ungeheuer viel auf dem Spiel, daß ein Plan
dieser Art meiner Überzeugung nach sehr ernsthaft erwogen werden sollte. Ich glaube
nicht, daß es in den Vereinigten Staaten unter den gegenwärtigen Umständen irgend
jemand gibt, dessen Beurteilung der Erfolgsaussichten eines solchen Vorhabens sehr
verläßlich wäre. Was dabei herauskommt, läßt sich nur durch den Versuch herausfinden.

(gez.) Ralph A. Bard“

Quelle: Lewis L. Strauss, Kette der
Entscheidungen. Amerikas Weg zur Atommacht, Droste Verlag, Düsseldorf 1964, S. 216 und
220.

Anmerkungen

1) Die Folgen der Atombomben sind umfassend dokumentiert in Iijima Sôichi u.a. (Hrsg.), Hiroshima-Nagasaki no genbaku saigai (Die Atombombenkatastrophen von Hiroshima und Nagasaki), Tôkyô 1979. Eine gekürzte englischsprachige Fassung erschien zwei Jahre später: The Committee for the Compilation of Materials on Damage Caused by the Atomic Bombs in Hiroshima and Nagasaki (ed.), Hiroshima and Nagasaki. The Physikal, Medical, and Social Effects of the Atomic Bombings, Tôkyô 1981. Für die Vorgeschichte und die unmittelbaren Folgewirkungen der Atombombenabwürfe vgl. neuerdings den konzisen Beitrag von Wieland Wagner, Das nukleare Inferno: Hiroshima und Nagasaki, in: Michael Salewski (Hrsg.), Das Zeitalter der Bombe. Die Geschichte der atomaren Bedrohung von Hiroshima bis heute, München 1995, S. 72-94. Bei der Nennung japanischer Eigennamen folge ich der Konvention, wonach der Familienname vorangestellt wird. Zurück

2)) Siehe Elke und Jannes K. Tashiro, Hiroshima. Menschen nach dem Atomkrieg. Zeugnisse, Berichte, Folgerungen, München 1982. Zurück

3)) Vgl. Robert J.C. Butow, Japan's Decision to Surrender, Stanford/Cal. 1954, S. 76ff; Alvin D. Coox, The Pacific War, in: Peter Duus (ed.), The Cambridge History of Japan, Vol. 6, Cambridge 1988, S. 372ff; Hattori Takushirô, Japans Weg aus dem Zweiten Weltkrieg, in: Andreas Hillgruber (Hrsg.), Probleme des Zweiten Weltkriegs, Köln/Berlin 1967, S. 389-435. Zurück

4)) Akiba Tadatoshi, Atomic Bomb, in: Kodansha Encyclopedia of Japan, Vol 1, Tôkyô 1983, S. 107ff. Zurück

5)) Vgl. Wagner, Inferno, S. 89. Zurück

6)) Vgl. den Abdruck der kaiserlichen Erklärung in Butow, Japan's Decision, S. 248. Zurück

7))Vgl. dazu das wichtige Buch von Ian Buruma, The Wages of Guilt. Memories of War in Germany and Japan, London 1994, S. 92ff (auch in deutscher Übersetzung im Hanser-Verlag erschienen). Zurück

8) Vgl. zur Frage der Atombombenfolgen in der öffentlichen Meinung Japans die Artikelserie Hibaku mondai to hôdô (Die Problematik der Atombombenopfer und die Presseberichterstattung), in: Asahi Shimbun vom 28.3., 29.3. und 30.3.1995. ) Zurück

9)) Vgl. dazu Monica Braw, The Atomic Bomb Suppressed. American Censorship in Occupied Japan, 2. Aufl., New York 1991, S. 89ff. Zurück

10)) Vgl. Etô Jun, Wasureta koto to wasuresaserareta koto (Was wir vergessen haben und was man uns vergessen ließ), Tôkyô 1979. Zurück

11)) Siehe John Hersey, Hiroshima, New York 1946, – ein bewegendes Buch, das die Kritik an den Atombombenabwürfen weltweit befördert hat. Für die amerikanische Resonanz vgl. Michael J. Yavenditti, John Hersey and the American Conscience: the Reaction of »Hiroshima«, in: Pacific Historical Review 43 (1974), S. 24-49. Zurück

12)) Vgl. Hiroshima Peace Culture Foundation (Hrsg.), Hiroshima Peace Reader, 10. Aufl., Hiroshima 1994, S. 49. Zurück

13))Für die literarischen Zeugnisse vgl. Itô Narihiko, Siegfried Schaarschmidt, Wolfgang Schamoni (Hrg.), Seit jenem Tag. Hiroshima und Nagasaki in der japanischen Literatur, Frankfurt 1984; sowie Jürgen Berndt (Hrg.), An jenem Tag. Literarische Zeugnisse über Hiroshima und Nagasaki, Berlin (DDR), 1985. Zurück

14)) Vgl. Wolfgang Schwentker, Die Last der Geschichte. Die historischen Grenzen einer japanischen Hegemonialpolitik, in: Hartwig Hummel, Reinhard Drifte (Hrsg.), Pax Nipponica? Die Japanisierung der Welt 50 Jahre nach dem Untergang des japanischen Reiches, Bad Boll 1995, S. 29-36. Zurück

15) Siehe dazu Committee (Hrsg.), Hiroshima-Nagasaki, S. 567ff. Zurück

16) Vgl. Akiba, Atomic Bomb, S. 110. Zurück

17) Siehe Asada Sadao, Japanese Perceptions of the A-Bomb-Decision, 1945-1980, in: Joe C. Dixon (Hrsg.), The American Military and the Far East, Washington 1980, S. 204. Zurück

18) Ebd., S. 207. Vgl. auch Gar Alperovitz, Atomic Diplomacy: Hiroshima and Potsdam. The Use of the Atomic Bomb and The American Confrontation with the Soviet Power, New York 1965. Das Buch erschien im selben Jahr in Auszügen auch auf japanisch in der Zeitschrift »Economisuto«. Zurück

19) Vgl. Tôyama Shigeki u.a., Shôwashi (Geschichte der Shôwa-Zeit), Tôkyô 1959, S. 366. Zurück

20) Rekishigaku Kenkyûkai (Hrsg.), Taiheiyô sensôshi (Geschichte des pazifischen Krieges), Bd. 5, Tôkyô 1973, S. 363 ff. Zurück

21) Vgl. Fujimura Michio, Nihon gendaishi (Neuere japanische Geschichte), Tôkyô 1981, S. 273f. Zurück

22) Vgl. Asada, Japanese Perceptions, S. 207. Zurück

23) Ebd., S. 208. Zurück

24) Ebd., S. 214. Zurück

25) Vgl. Asahi Shimbun vom 30. März 1995. Zurück

Dr. Wolfgang Schwentker ist Historiker und arbeitet am Historischen Seminar der Universität Düsseldorf. Dieser Aufsatz ist der erweiterte Kurzbeitrag des Autors für die HSFK-Podiumsdiskussion »Die Aufarbeitung der Vergangenheit in Japan und Deutschland«, die am 29.6.1995 in Frankfurt stattfand.

Japan sucht eine Gelegenheit zur Kapitulation

Japan sucht eine Gelegenheit zur Kapitulation

Einschätzungen aus dem Marineministerium im Mai/Juni 1945

von Lewis L. Strauss

Ein Memorandum, das ich am 7. Mai 1945 für den Marineminister verfaßte, enthält zwarnicht die Auffassungen so hoher Instanzen, gibt aber Aufschluß über die Meinungen imMarineministerium gegen Kriegsende:

„Lieber Jim!

… Es besteht die Möglichkeit, daß der Sieg in Japan schneller auf den Sieg inEuropa folgt, als es vom Standpunkt der Kriegsanstrengung her anzunehmen ratsam ist.Ratsam wäre jedoch, sich auf ein recht frühes Kriegsende einzustellen. Vielleicht wärees deshalb ganz nützlich, von den verschiedenen Abteilungen des Ministeriums Berichtedarüber anzufordern, was für Maßnahmen hinsichtlich (a) neu abzuschließenderLieferverträge, (b) laufender Aufträge und (c) des Personalstandes unter derVoraussetzung zu ergreifen wären, daß der Krieg mit Japan zum Beispiel am 1. August oderspätestens bis zum 31. Dezember dieses Jahres beendet ist.“

Von diesen individuellen Beurteilungen der Lage ganz abgesehen, besaßen dieVereinigten Staaten eine verläßliche Informationsquelle über Japan in der Möglichkeit,praktisch den gesamten Funkverkehr zwischen dem japanischen Außenministerium und denBotschaften in Übersee abzufangen und schnell zu dechiffrieren. Daher wußten wir, daßdie Japaner nicht nur von ihrer Niederlage überzeugt waren, sondern auch so schnell wiemöglich den Krieg beenden wollten.

(…)

Staatssekretär Ralph Bard, der das Marineministerium im interministeriellen Ausschußfür Atomenergie (dem Vertreter des Verteidigungs-, Marine- und Außenministeriumsangehörten) vertrat, brachte damals seine Ansichten freimütig zu Papier:

„27. Juni 1945

Memorandum zum Einsatz der S-1-Bombe

Solange ich mich mit diesem Programm befaßt habe, bin ich der Meinung, daß Japan beimEinsatz der Bombe etwa zwei oder drei Tage vor ihrem Abwurf auf irgendeine Weise gewarntwerden sollte. Dafür sprechen in erster Linie die Stellung der Vereinigten Staaten alsVorkämpfer der Humanität und der Gerechtigkeitssinn unseres Volkes. In den letztenWochen habe ich auch den sehr bestimmten Eindruck gehabt, daß die japanische Regierungnach einer Gelegenheit zur Kapitulation sucht. Nach der Dreimächtekonferenz könntenamerikanische Unterhändler an einem geeigneten Ort an der chinesischen Küste mitVertretern Japans zusammentreffen und sie über die Haltung Rußlands sowie den geplantenEinsatz der Atombombe informieren. Daneben könnten sie ihnen mitteilen, was derPräsident hinsichtlich des Kaisers von Japan und der Behandlung des japanischen Volkesnach der bedingungslosen Kapitulation zuzusichern bereit ist. Es erscheint mir sehr wohlmöglich, daß dies die Gelegenheit darstellen würde, nach der die Japaner suchen.

Ich wüßte nicht, was wir bei einem solchen Vorgehen zu verlieren hätten. Es steht soungeheuer viel auf dem Spiel, daß ein Plan dieser Art meiner Überzeugung nach sehrernsthaft erwogen werden sollte. Ich glaube nicht, daß es in den Vereinigten Staatenunter den gegenwärtigen Umständen irgend jemand gibt, dessen Beurteilung derErfolgsaussichten eines solchen Vorhabens sehr verläßlich wäre. Was dabei herauskommt,läßt sich nur durch den Versuch herausfinden.

(gez.) Ralph A. Bard“

Quelle: Lewis L. Strauss, Kette der Entscheidungen. Amerikas Weg zur Atommacht,Droste Verlag, Düsseldorf 1964, S. 216 und 220.

„Ein Japaner fühlt sich nicht als Individuum“

„Ein Japaner fühlt sich nicht als Individuum“

Interview mit Dr. Shuntaro Hida

von Dr. Shuntaro Hida und Bernd W. Kubbig

Kubbig: Vor uns liegt der Entwurf einer amerikanischen Briefmarke. Dort steht unter einem Atombombenpilz „Atomic bombs hasten war's end, August 1945 – Atombomben beschleunigen das Ende des Krieges, August 1945“. Wenn Sie, Herr Hida, einen solchen Atompilz sehen, mit dem die amerikanische Regierung bzw. das US-Postministerium dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den Atombombenabwürfen gedenken wollte, welche Gefühle überkommen Sie da?

Hida: Ja, das könnten Amerikaner tun. Es paßt zu den Amerikanern. Ich war nicht so erschrocken.

Ich kenne diesen Sachverhalt sehr gut. Die amerikanische Regierung und der amerikanische Präsident Clinton haben mehrmals öffentlich geäußert, daß es berechtigt gewesen sei, daß Amerikaner auf Nagasaki und Hiroshima Atombomben abgeworfen haben. Alle Japaner, nicht nur die Atombombenopfer, sondern ganz konservative Menschen, fanden, daß das Vorhaben des Postministeriums sehr unangebracht sei. Deshalb wurden verschiedene Delegationen in die USA und zur UNO gesandt; gegenüber der US-Regierung wurden Proteste erhoben.

Ich sollte eigentlich mit in die USA reisen, und zwar wegen der Kontroversen um die »Enola-Gay-Ausstellung« im National Air and Space Museum der Smithonian Institution in Washington, D.C., habe meiner Vortragstour durch Deutschland aber den Vorrang eingeräumt.

Kubbig: Dank der äußerst scharfen japanischen Proteste ist es nicht zu dieser Briefmarke gekommen. Die Auseinandersetzungen um die »Enola Gay Exhibition« haben dazu geführt, daß die jetzt geplante Ausstellung rein technischer Art ist und keine Interpretationen mehr enthält. Was erhoffen Sie sich von den Kontroversen?

Hida: Die Amerikaner haben sehr lange über die Frage geschwiegen, ob es Rechtens war, Atombomben abzuwerfen. Aber plötzlich begannen sie, darüber laut zu sprechen. Das war vor dem letzten Golf-Krieg. Wir in Japan dachten, daß die Amerikaner im Irak noch einmal Atombomben abwerfen könnten.

Jetzt reagiert nur ein Teil der amerikanischen Bevölkerung, und nur in einigen Fällen sind aus meiner Sicht die Reaktionen positiv. Die meisten Amerikaner sind gleichgültig. Vielleicht sind die meisten Amerikaner sogar für die Veröffentlichung einer solchen Briefmarke.

Wissen Sie, das größte Problem der USA liegt darin, daß die amerikanische Bevölkerung in Unwissenheit darüber gelassen wurde, daß 1,5 Millionen Amerikaner bei Kernwaffenversuchen Opfer der Asche, der tödlichen Asche, geworden sind. Radioaktiv geschädigte Patienten begannen, per Gerichtsverfahren gegenüber der amerikanischen Regierung Entschädigungen zu erwirken. Diese Menschen kamen zu mir und fragten, ob ihre Krankheit denen der Atombombenopfer ähnlich sei.

Kubbig: Haben Sie diese Menschen untersucht?

Hida: Ich habe sie untersucht und ihre Frage bejahen müssen. Und während der Prozesse haben mich Kläger aus dem Gerichtssaal in Japan angerufen, so daß ich als Zeuge fungieren konnte.

Kubbig: Im Jahr 1995 wird in Deutschland viel von Versöhnung und Aussöhnung gesprochen. Ihr großer Landsmann Kenzaburo Oe, Literatur-Nobelpreisträger von 1994, forderte wiederholt, daß auch Japaner auf die Amerikaner zugehen müßten. Wie soll der Versöhnungsprozeß zwischen der amerikanischen und der japanischen Regierung, zwischen den Völkern Japans und den USA laufen? Was erwarten Sie? Was möchten Sie selbst einbringen?

Hida: Meiner Meinung nach gibt es mindestens auf der Bevölkerungsebene das Bewußtsein, daß man durch den Beginn des Krieges gegenüber den Amerikanern in Pearl Harbor Schlechtes getan hat. Aber bevor man diese Sache angeht, muß man die Invasionen gegenüber den asiatischen Nachbarstaaten bedenken. Hier haben die Japaner noch viel schlimmere Leiden verursacht. Deshalb muß man als Japaner zuerst die asiatischen Länder um Vergebung bitten und sich mit ihnen versöhnen.

Aber um das zu machen, muß man fragen: Wer hat befohlen, diesen Krieg zu beginnen? Offiziell war das der japanische Tenno gewesen. Deshalb muß man sagen: Der japanische Tenno war verantwortlich. Es gibt in Japan einen sehr großen Widerstand, dies zuzugeben. Also, aufgrund der Mentalität kann man nicht allen Völkern in der Nachbarschaft sagen: Ja, bitte entschuldigen Sie, unser Tenno hat das befohlen. Das ist eine unerträgliche Situation, das so zu sagen. Das will man auf alle Fälle vermeiden.

Das ist die Hauptursache, daß die Versöhnung von Japanern mit den anderen Völkern bisher verzögert wurde. Japaner leben nicht als Individuen, wie es in Frankreich oder in Deutschland der Fall ist. Japaner leben in Japan, das ist eine lauwarme Gesellschaft, und man fühlt sich als ein Teil Japans. Also nicht als selbständiger Japaner oder als Individuum. Ein solches individuelles Bewußtsein ist noch sehr schwach ausgeprägt.

Kubbig: Ist es übertrieben, von den Amerikanern eine Entschuldigung für die Atombombenabwürfe zu erwarten?

Hida: Die japanische Bevölkerung sollte von den Amerikanern verlangen, sich für diese Tat zu entschuldigen. Ich habe versucht, ein Wort der Entschuldigung von hohen amerikanischen Stellen zu bekommen. Ich verlange kein Geld, aber ein Wort der Entschuldigung. Und ich verlange, daß Amerikaner nie wieder Atombomben abwerfen.

Diese zwei Antworten wollte ich bisher bekommen. Aber kein höherer Beamter oder Regierungspolitiker wollte das hören. Und kein amerikanischer Präsident wollte mich treffen. In diesem Sinne waren alle bisherigen Versuche vergebens. Deshalb kläre ich überall in der Welt, wenn ich eingeladen bin, darüber auf, welches Grauen die Atombombenabwürfe erzeugt haben. Vielleicht können die Bevölkerungen der ganzen Welt dazu beitragen, daß auch der amerikanische Präsident in Zukunft dazu gezwungen werden könnte, bei den japanischen Opfern um Entschuldigung zu bitten.

Kubbig: Wäre es nicht auch wichtig, die richtigen Bündnispartner für eine solche Zielsetzung zu gewinnen, und zwar bei Menschen, die ein ähnliches Schicksal haben, sprich, die »Atomic Veterans«, die atomaren Veteranen in den USA und anderswo?

Hida: Ja, wir haben bisher viele Gelegenheiten gehabt, mit den amerikanischen Atom-Versuchsopfern zu sprechen. Aber es gibt zwei Hindernisse für die weitere Arbeit. Erstens: Die japanischen Atombombenopfer haben zu wenig Kraft, um alles durchzusetzen. Man braucht viel Geld für derartige internationale Aktivitäten. Das zweite Hindernis liegt darin, daß die atomaren Veteranen in den USA eine sehr heterogene Gruppe sind. Die Soldaten sagen beispielsweise: Ja, wir sind auch Opfer geworden, aber uns genügt es, wenn wir Entschädigungsgelder bekommen. Denn wir sind eigentlich für Atomwaffen.

Es gibt weltweit sehr viele Menschen, z.B. in Korea oder in Rußland, die Opfer radioaktiver Strahlung geworden sind. Man sollte sie zusammenführen, um eine gemeinsame Anti-Atombewegung in Gang zu bringen. Aber es ist nicht einfach. Es gibt heute bereits solche Gruppen, die ein oder zweimal im Jahr in Japan oder in den USA gemeinsame Tätigkeiten veranstalten. Aber nur das ist bis jetzt dauerhaft geblieben. Alle anderen Aktivitäten wurden immer wieder unterbrochen, weil wir physisch und finanziell zu schwach sind.

Für mich kann ich sagen, daß ich bis an mein Lebensende alles dafür tun werde, daß die Atomwaffen aus der Welt veschwinden. Zu diesem Zweck bin auch auf meiner Vortragsreise durch Deutschland.

Kubbig: Danke für dieses Gespräch. Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Vortragsreise.

Das Interview mit Herrn Dr. Shuntaro Hida führte am 5.5.1995 Dr. Bernd W. Kubbig.

Der »Franck Report«

Der »Franck Report«

Ein Bericht an den Kriegsminister, Juni 1945

von J. Franck • E. Rabinowitch • D. Hughes • G. Seaborg • L. Szilard • J.J. Nickson • J. Stearns

Nicht alle Wissenschaftler, die von der Bombe wußten oder daran arbeiteten, befürworteten ihren Einsatz. Eine Gruppe von damals sehr anerkannten Wissenschaftlern an der Universität Chicago unter der Leitung von James Franck und unter Mitarbeit von Leo Szilard, die sich große Sorgen bezüglich eines Atomkrieges machten, verfaßten im Juni 1945 einen Bericht, der an den Kriegsminister der USA gerichtet war. In Ihrem engagierten Bericht fordern Sie ein internationales Abkommen zur Verhütung von Atomkriegen, welches die internationale Kontrolle der Atomwaffen einschloß, u.a. um ein atomares Wettrüsten, welches Sie bereits damals voraussahen, zu verhindern. Sie rieten von einem Einsatz in Japan ab und schlugen als Alternative als Abschreckungsmaßnahme für alle Völker der Welt eine Demonstration irgendwo über unbewohntem Gebiet vor, dem Vertreter aller Staaten beiwohnen sollten. Der Bericht, der im folgenden abgedruckt wird, blieb wirkungslos.

I. Einleitung

Der einzige Grund, weshalb die Kernenergie anders zu behandeln ist als die übrigen Sachgebiete der Physik, liegt in der Möglichkeit, daß sie im Frieden politischem Druck und im Kriege plötzlicher Zerstörung dienen kann. Alle gegenwärtigen Pläne zur Organisation der Forschung, der wissenschaftlichen und industriellen Entwicklung und der Publizierung auf dem Gebiet der Kernphysik sind bedingt durch das politische und militärische Klima, in dem diese Pläne verwirklicht werden sollen. Wenn man also Vorschläge für die nach dem Kriege zu schaffende Organisation der Kernphysik macht, so läßt sich eine Diskussion der politischen Probleme nicht vermeiden. Die auf diese Organisation hinarbeitenden Wissenschaftler geben nicht vor, in der nationalen und internationalen Politik sachverständig zu sein. Wir, eine kleine Gruppe von Staatsbürgern, haben jedoch in den letzten fünf Jahren unter dem Zwang der Ereignisse eine ernste Gefahr für die Sicherheit unseres Landes und für die Zukunft aller anderen Nationen erkannt, eine Gefahr, von der die übrige Menschheit noch nichts ahnt. Wir halten es daher für unsere Pflicht, darauf zu drängen, daß die politischen Probleme, die sich aus der Beherrschung der Kernenergie ergeben, in all ihrer Schwere begriffen und daß geeignete Schritte zu ihrer Untersuchung und zur Vorbereitung der nötigen Entschlüsse unternommen werden. Wir hoffen, daß das durch den Kriegsminister gegründete Komitee, welches die verschiedenen, aus der Kernphysik erwachsenden Fragen zu behandeln hat, ein Beweis dafür ist, daß diese einschneidenden Folgen von der Regierung erkannt worden sind. Wir glauben, daß unser Vertrautsein mit den wissenschaftlichen Voraussetzungen dieser Situation, der stetigen Weiterentwicklung und den daraus entstehenden weltumspannenden politischen Verwicklungen uns die Pflicht auferlegt, diesem Komitee etliche Vorschläge zu einer eventuellen Lösung dieser schwerwiegenden Frage zu unterbreiten.

Wiederholt hat man den Wissenschaftlern den Vorwurf gemacht, die Nationen mit neuen Waffen zu ihrer wechselseitigen Vernichtung versorgt zu haben, anstatt zu ihrem Wohlergehen beizutragen. Es stimmt zweifellos, daß zum Beispiel die Erfindung des Fliegens der Menschheit mehr Unglück als Freude und Gewinn gebracht hat. In der Vergangenheit jedoch konnten die Wissenschaftler jede unmittelbare Verantwortung für den Gebrauch, den die Menschheit von ihren uneigennützigen Entdeckungen machte, ablehnen. Jetzt aber sind wir gezwungen, einen aktiven Standpunkt einzunehmen, weil die Erfolge, die wir auf dem Gebiet der Kernenergie errungen haben, mit unendlich viel größeren Gefahren verbunden sind als bei den Erfindungen der Vergangenheit. Wir alle, die wir den augenblicklichen Stand der Kernphysik kennen, leben ständig mit der Vision einer jähen Zerstörung vor Augen, einer Zerstörung unseres eigenen Landes, einer Pearl-Harbor-Katastrophe, die sich in tausendfacher Vergrößerung in jeder Großstadt unseres Landes wiederholen könnte.

Überdies vermochte die Wissenschaft in der Vergangenheit häufig neue Methoden zum Schutze gegen die neuen Angriffswaffen zu entwickeln – Waffen, deren Vorhandensein sie erst ermöglicht hatte; doch gegen die zerstörende Kraft der Kernenergie kann sie keinen wirksamen Schutz versprechen. Dieser Schutz wird ausschließlich von einer weltumfassenden politischen Organisation geboten werden können. Unter allen Argumenten, die für eine leistungsfähige internationale Friedensorganisation sprechen, ist die Existenz der Kernwaffen die zwingendste. Da es bisher keine internationale Behörde gibt, die bei internationalen Konflikten jede Anwendung von Gewaltmitteln unmöglich zu machen hätte, könnten die Nationen doch noch immer von einem Weg abgebracht werden, der lediglich in die restlose gegenseitige Vernichtung führt – vorausgesetzt, es würde ein besonderes internationales Abkommen getroffen, das ein Kernwaffen-Wettrüsten verhinderte.

II. Aussichten eines Kernwaffenwettrüstens

Man könnte folgenden Vorschlag unterbreiten: Die Gefahr einer Zerstörung durch Kernwaffen – wenigstens soweit sie unser Land betrifft – ließe sich dadurch vermeiden, daß wir entweder unsere Entdeckungen für immer geheimhalten oder unsere Kernwaffen-Aufrüstung so weit vorantreiben, daß keine andere Nation auch nur daran dächte, uns anzugreifen – aus Furcht vor einer katastrophalen Vergeltung.

Die Antwort auf diesen Vorschlag lautet: Wenn wir auch im Augenblick in dieser Beziehung der Welt sicherlich voraus sein dürften, so sind doch die Grundlagen der Kernenergie allgemein bekannt. Die britischen Forscher wissen ebenso viel wie wir über die grundlegenden, im Krieg gemachten Fortschritte in der Kernphysik – womöglich sind sie sogar über bestimmte Ergebnisse unterrichtet, die im Verlauf unserer technischen Fortschritte erzielt wurden; und die Rolle, die französische Kernphysiker während der Vorkriegsentwicklung auf diesem Gebiet gespielt haben – ganz abgesehen von ihrer teilweisen Kenntnis unserer Arbeiten – wird es ihnen erlauben, schnellstens aufzuholen, wenigstens soweit es die grundlegenden wissenschaftlichen Entdeckungen betrifft. Die deutschen Wissenschaftler, auf deren Forschungsergebnisse die ganze Entwicklung der Kernphysik zurückgeht, bauten sie offenbar während des Krieges nicht in demselben Maße aus, wie dies in Amerika der Fall war; aber wir lebten doch bis zum letzten Tage des europäischen Krieges in ständiger Furcht, den Deutschen könnte die Herstellung einer Kernwaffe gelungen sein. Die Gewißheit, daß die deutschen Forscher an dieser Waffe arbeiteten und daß ihre Regierung höchstwahrscheinlich keine Skrupel kennen würde, sie bei Vorhandensein auch anzuwenden, war der vornehmliche Grund zu der von den amerikanischen Wissenschaftlern ergriffenen Initiative, die Kernenergie weiterzuentwickeln und sie zu militärischen Zwecken großen Umfangs für unser Land auszuwerten. Auch in Rußland waren bereits 1940 die grundlegenden Fakten und die Bedeutung der Kernenergie durchaus bekannt, und die Erfahrung der russischen Wissenschaftler in der Kernforschung ist immerhin so groß, daß sie uns in wenigen Jahren einholen könnten, selbst wenn wir alle Anstrengungen machten, unsere Versuche geheimzuhalten. Denn selbst wenn wir die Führung innerhalb der Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Kernphysik für einige Zeit nicht aus der Hand gäben, indem wir alle erworbenen Erkenntnisse und die damit verbundenen Projekte geheimhielten, wäre es töricht, zu glauben, dadurch für mehr als ein paar Jahre geschützt zu sein.

Es wäre zu überlegen, ob wir nicht die Entwicklung einer in anderen Ländern vom Militär ausgenutzten Kernphysik durch ein Monopol auf den Rohstoff der Kernenergie verhüten könnten. Die Antwort heißt: Obwohl die größten bis jetzt bekannten Uranerzlager von Staaten kontrolliert werden, die zu den Westmächten gehören (Kanada, Belgien und Britisch Indien), liegen doch die alten Lager der Tschechoslowakei außerhalb dieses Einflußbereiches. Es ist bekannt, daß Rußland in seinem eigenen Land Uran schürft; und wenn wir auch nichts von dem Umfang der bis heute in der UdSSR entdeckten Lager wissen, so ist doch die Wahrscheinlichkeit gering, daß in einem Land, welches ein Fünftel der Erde einnimmt (und dessen Einflußsphäre sich auch noch über zusätzliche Gebiete erstreckt), keine großen Uranvorräte gefunden werden sollten; ein Sicherheitsfaktor jedenfalls darf dies nicht sein. So können wir nicht hoffen, ein Kernwaffen-Wettrüsten zu verhindern, indem wir entweder die grundlegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse auf dem Feld der Kernenergie vor den konkurrierenden Nationen geheimhalten oder die für ein derartiges Wettrüsten nötigen Rohstoffe aufkaufen.

Untersuchen wir nun den zweiten Vorschlag, der zu Beginn dieses Absatzes gemacht wurde, und fragen wir uns, ob wir uns bei einem Kernwaffen-Wettrüsten nicht sicher fühlen können, weil wir über ein größeres Industriepotential, einschließlich einer größeren Verbreitung von wissenschaftlichen und technischen Kenntnissen, über größere Aufgebote an Fachkräften und eine erfahrenere Betriebsführung verfügen – lauter Faktoren also, deren Bedeutung einleuchtend demonstriert wurde, als sich unser Land während des Krieges in ein Arsenal der Alliierten verwandelte. Die Antwort lautet: Alles, was uns diese Vorteile verschaffen können, ist die Ansammlung einer größeren Zahl von gewaltigeren und besseren Atombomben.

Solch ein quantitativer Vorsprung an gestapelten Zerstörungswaffen sichert uns jedoch nicht vor einem plötzlichen Angriff. Gerade weil ein möglicher Feind befürchten könnte, an Zahl und Waffen ausgestochen zu werden, dürfte die Versuchung, einen unerwarteten und keinesfalls herausgeforderten Angriff zu wagen, besonders groß sein – vor allem dann, wenn er uns verdächtigte, aggressive Pläne gegen seine Sicherheit oder seine Einflußsphäre zu hegen. Bei keiner anderen Art der Kriegführung liegt der Vorteil so eindeutig beim Angreifer. Er kann seine »Höllenmaschine« als erster auf alle unsere Großstädte einsetzen und sie gleichzeitig explodieren lassen, womit er die Schwerpunkte unserer Industrie und außerdem einen großen Teil unserer Bevölkerung vernichten würde, die in den dichtbesiedelten Gebieten unserer Städte zusammengedrängt lebt. Unsere Vergeltungsmöglichkeiten – Vergeltung als adäquater Ausgleich für den Verlust von Millionen Menschenleben und für die Zerstörung unserer größten Städte verstanden – wären sehr gering, weil wir vom Lufttransport der Bomben abhängig wären, und weil wir es überdies mit einem Feind zu tun haben könnten, dessen Industrie und Bevölkerung über große Territorien zerstreut sind.

Wenn man das Kernwaffen-Wettrüsten zuläßt, dann gibt es nur einen Weg, unser Land vor der Vernichtung durch einen plötzlichen Angriff zu retten: Wir müssen unsere Kriegsindustrie sowie die Bevölkerung unserer größten Städte über weite Gebiete verteilen. Solange Kernwaffen rar sind (das heißt, solange Uran der einzige Rohstoff zu ihrer Herstellung bleibt), solange wird eine erfolgreiche Zerstreuung unserer Industrie und der Bevölkerung unserer größten Städte die Versuchung, uns mit Kernwaffen anzugreifen, zumindest sehr herabsetzen.

Gegenwärtig kommt die Wirkung einer Atombombe der Detonation von zwanzigtausend Tonnen TNT gleich. Also könnte eine solche Bombe etwa drei Quadratmeilen einer Stadt zerstören. Man darf erwarten, daß bis in etwa zehn Jahren Atombomben zur Verfügung stehen, die eine wesentlich höhere Radioaktivität besitzen und doch immer noch leichter als eine Tonne sein werden und die somit über zehn Quadratmeilen einer Stadt zerstören könnten. Eine Nation also, die es sich leisten kann, zehn Tonnen Atomsprengstoff zu einem heimtückischen Angriff auf unser Land aufzubringen, darf mit der Möglichkeit rechnen, die ganze Industrie und den größten Teil der Bevölkerung in einem Gebiet von fünfhundert Ouadratmeilen und mehr zu vernichten. Wenn nun aber fünfhundert Quadratmeilen amerikanischen Bodens kein rechtes Angriffsziel böten, weil auf dieser Fläche weniger Industrie und nur verhältnismäßig wenig Menschen angesiedelt wären und daher kein vernichtender Schlag gegen das Kriegspotential und die nationale Verteidigungskraft geführt werden könnte, dann würde sich der Angriff kaum lohnen und vielleicht gar nicht unternommen werden. Augenblicklich jedoch könnte man in unserem Land mühelos hundert Gebiete von je fünf Quadratmeilen finden, deren gleichzeitige Vernichtung sich für unsere Nation niederschmetternd auswirken würde. Da aber die Vereinigten Staaten ein Gebiet von drei Millionen Quadratmeilen umfassen, sollte es möglich sein, ihre Industrie und ihre Bevölkerung so zu verteilen, daß keine fünfhundert Quadratmeilen übrigbleiben, die einem Angriff mit Kernwaffen ein lohnendes Ziel bieten könnten.

Wir sind uns durchaus bewußt, daß eine solch radikale soziale und wirtschaftliche Veränderung in der Struktur unserer Nation außerordentliche Schwierigkeiten mit sich brächte. Wir sind jedoch der Ansicht, daß auf dieses Dilemma hingewiesen werden muß, weil nur so klar wird, für welche Art des Selbstschutzes man sich zu entscheiden hat – wiederum vorausgesetzt, daß keine erfolgreiche internationale Verständigung zu erreichen ist. Es muß dabei hervorgehoben werden, daß wir gegenüber den anderen Nationen im Nachteil sind; denn die anderen Länder sind entweder dünner besiedelt und ihre Industrien mehr verstreut, oder ihre Regierungen verfügen über eine uneingeschränkte Macht, wodurch es ihnen möglich ist, die Bevölkerung über das ganze Land zu verteilen und den Aufbau von Industrien zu überwachen.

Sollte kein wirkungsvolles internationales Abkommen erzielt werden, so wird bereits am Morgen nach unserer ersten Demonstration, daß wir Kernwaffen besitzen, das allgemeine Wettrüsten losgehen. Die anderen Nationen werden dann vielleicht drei oder vier Jahre brauchen, um uns einzuholen, und acht oder zehn Jahre, bis sie womöglich mit uns Schritt halten können – selbst wenn wir fortfahren, angestrengt auf diesem Gebiet zu arbeiten. Diese Spanne würde jedoch genügen, unsere Bevölkerung und Industrie zu verlagern. Jedenfalls sollte keine Zeit verloren werden, dieses Problem von Experten prüfen zu lassen.

III. Aussichten einer Verständigung

Die Folgen eines Atomkrieges und die Maßnahmen, die zum Schutze eines Landes vor seiner totalen Zerstörung durch Kernwaffen notwendig sind, dürften wohl auch den anderen Nationen genauso erschreckend erscheinen wie den Vereinigten Staaten. England, Frankreich und die kleineren dichtbesiedelten Staaten Europas mit ihren konzentriert gelagerten Industrien wären angesichts solcher Bedrohung in einer furchtbaren Lage. Rußland und China sind die einzigen großen Nationen, die im Augenblick einen Angriff mit Kernwaffen überstehen würden. Aber wenn auch diese Nationen das Leben eines Menschen nicht so hoch einschätzen mögen wie die Völker Westeuropas und Amerikas und wenn auch Rußland ein riesiger Raum zur Verfügung steht, über den es seine wichtigen Industrien verteilen kann, und außerdem eine Regierung hat, die eine solche Verlagerung an dem Tag zu befehlen vermag, da sie von der Notwendigkeit dieser Maßnahme überzeugt ist – so gibt es doch trotz alledem keinen Zweifel, daß auch Rußland vor der Möglichkeit einer plötzlichen Zerstörung Moskaus und Leningrads, die im gegenwärtigen Krieg wunderbarerweise fast erhalten geblieben sind, und seiner neuen Industriestädte im Ural und in Sibirien erschaudert. So kann es also nur der Mangel an gegenseitigem Vertrauensein, nicht aber der mangelnde Wunsch nach Verständigung, der einem wirkungsvollen Abkommen über die Verhütung eines Atomkrieges im Wege steht. Das Zustandekommen eines solchen Abkommens hängt daher im wesentlichen von der Rechtschaffenheit der Absichten und von der Bereitschaft aller Partner ab, ihre Souveränität zu einem gewissen Teil zu opfern.

Eine Möglichkeit, die Welt mit der Kernwaffe bekannt zu machen – einleuchtend vor allem für jene, die Atombomben vorwiegend als eine Geheimwaffe betrachten, die lediglich dazu entwickelt wurde, den gegenwärtigen Krieg zu gewinnen –, besteht darin, sie ohne Ankündigung gegen geeignete Ziele in Japan einzusetzen.

Wenn auch durch den unerwarteten Einsatz von Kernwaffen zweifellos wichtige taktische Ergebnisse errungen werden könnten, so glauben wir dennoch, daß die Anwendung der ersten verfügbaren Atombomben im japanischen Krieg sorgfältig erwogen werden sollte – nicht nur von militärischen Sachverständigen, sondern auch von den höchsten politischen Vertretern unseres Landes.

Rußland, aber auch die zu den Alliierten gehörenden Länder, die unseren Wegen und Plänen weniger mißtrauen, und schließlich die neutralen Länder, sie alle werden von diesem Schritt wahrscheinlich schwer erschüttert sein. Es dürfte sehr schwierig sein, die Welt davon zu überzeugen, daß man einer Nation, die eine neue Waffe insgeheim vorzubereiten und plötzlich anzuwenden in der Lage war – eine Waffe, die so diskriminierend ist wie die Raketenbombe, nur daß ihre vernichtende Wirkung tausendmal größer ist –, in ihrem Wunsch vertrauen soll, derartige Waffen auf Grund eines internationalen Abkommens abzuschaffen. Wir verfügen über große Mengen Giftgas, aber wir wenden es nicht an; vor kurzem erhobene Befragungen haben ergeben, daß die öffentliche Meinung in unserem Land dies mißbilligen würde, selbst wenn damit der siegreiche Ausgang des Krieges im Fernen Osten beschleunigt werden könnte. Es stimmt zwar, daß ein irrationales Element in der Massenpsychologie Gasvergiftungen schrecklicher erscheinen läßt als eine Vernichtung durch Sprengstoff, obwohl ein Gaskrieg in keiner Weise »unmenschlicher« wäre als ein Krieg mit Bomben und Kugeln. Dennoch ist es keinesfalls sicher, ob die amerikanische Öffentlichkeit, würde man ihr die Wirkung von Atombomben erklären, damit einverstanden wäre, daß unser Land als erstes eine solch verwerfliche Methode der restlosen Zerstörung jeglicher Zivilisation einführte.

Vom »optimistischen« Standpunkt aus (das heißt, wenn man dabei an ein internationales Abkommen zur Verhütung von Atomkriegen denkt) könnten also die militärischen Vorteile und die Ersparnis amerikanischer Menschenleben – Vorteile, die durch eine plötzliche Anwendung von Atombomben im Krieg gegen Japan errungen würden – aufgehoben werden durch den darauffolgenden Vertrauensverlust und eine Welle des Schreckens und Widerwillens, die sich über die übrige Welt ergösse und die vielleicht sogar die öffentliche Meinung in der Heimat spaltete.

Im Hinblick darauf wäre zu empfehlen, die neue Waffe in der Wüste oder auf einer unbewohnten Insel vor den Augen der Abgeordneten aller Vereinten Nationen vorzuführen. Die günstigste Atmosphäre für das Zustandekommen eines internationalen Abkommens ließe sich dadurch schaffen, daß Amerika der Welt erklären könnte: „Ihr seht, was für eine Waffe wir besaßen, aber wir haben sie nicht angewandt. Wir sind bereit, sie auch in Zukunft nicht anzuwenden, wenn sich die anderen Nationen uns darin anschließen und in die Gründung einer wirkungsvollen internationalen Kontrolle einwilligen.“

Nach dieser Vorführung könnte die Waffe eventuell gegen Japan angewandt werden – sofern dies von den Vereinten Nationen (und der öffentlichen Meinung in der Heimat) gebilligt würde; vielleicht erst nach einem Ultimatum an Japan, sich zu ergeben oder, als Alternative zu einer völligen Zerstörung, wenigstens gewisse Gebiete zu räumen. Dies mag phantastisch klingen, aber mit den Kernwaffen haben wir tatsächlich eine ganz neuartige gewaltige Zerstörungskraft gewonnen, und wenn wir ihren Besitz voll einsetzen wollen, dann müssen wir auch neue und neuartige Methoden ersinnen.

Es muß betont werden, daß vom pessimistischen Standpunkt aus und bei nur geringer Möglichkeit, eine wirkungsvolle internationale Kontrolle über die Kernwaffen zu schaffen, der baldige Einsatz von Atombomben gegen Japan bloß noch fragwürdiger wird – ganz abgesehen von irgendwelchen humanen Erwägungen. Wenn nicht gleich nach der ersten Demonstration ein internationales Abkommen zustande kommt, bedeutet dies einen fliegenden Start zu einem hemmungslosen Aufrüstungswettlauf. Wenn aber dieses Rennen nun einmal unvermeidlich ist, dann haben wir allen Grund, seinen Start so lange wie möglich hinauszuschieben, um unsere Vorrangstellung noch weiter voranzutreiben.

Der Vorteil für unsere Nation und die zukünftige Schonung amerikanischer Menschenleben, die wir uns dadurch erringen könnten, daß wir auf eine baldige Anwendung der Atombombe verzichten und die anderen Nationen nur zögernd ins Rennen kommen lassen – allein auf der Basis von Vermutungen und ohne sicheres Wissen, daß »das Ding funktioniert« –, dürfte die Vorteile, die durch eine sofortige Anwendung der ersten und verhältnismäßig schwachen Bomben im Krieg gegen Japan gewonnen würden, bei weitem aufwiegen. Andererseits mag entgegengehalten werden, daß es ohne eine solche baldige Demonstration schwierig sein dürfte, die nötige Unterstützung für die weitere Entwicklung der Kernphysik in unserem Lande zu erhalten; und wiederum könnte dadurch die Zeit bis zu dem verzögerten Start eines allgemeinen Aufrüstungswettlaufs nicht voll genutzt werden. Weiterhin darf man annehmen, daß die anderen Nationen jetzt oder zumindest sehr bald unsere augenblicklichen Errungenschaften nicht ganz übersehen können und daß somit die Verzögerung einer Vorführung nicht gerade nützlich wäre, sofern dabei an einen Aufrüstungswettlauf gedacht wird, ja daß unsere Verzögerungstaktik nur zusätzliches Mißtrauen schüfe und sich somit die Chancen, zu einer schließlichen Übereinstimmung in der internationalen Kontrolle von Kernsprengstoffen zu gelangen, eher verschlechterten.

Wenn man also die Aussichten für ein Abkommen in allernächster Zukunft für gering erachtet, dann müssen Pro und Contra einer baldigen, für die ganze Welt bestimmten Enthüllung unseres Kernwaffenbesitzes – nicht nur durch ihre tatsächliche Anwendung gegen Japan, sondern auch durch eine vorher eingeleitete Demonstration – von den höchsten politischen und militärischen Vertretern des Landes sorgfältig erwogen werden; jedenfalls sollte der Entschluß nicht allein vom taktischen Gesichtspunkt aus gefällt werden.

Man könnte erwidern, daß die Wissenschaftler ja selbst die Entwicklung dieser »Geheimwaffe« angeregt haben und daß es daher merkwürdig erscheint, wenn sie zögern, sie am Feind auszuprobieren, sobald sie zur Verfügung steht. Die Antwort auf diesen Einwand wurde bereits gegeben: Der zwingende Grund, diese Waffe mit solcher Eile zu schaffen, war unsere Furcht, Deutschland könne die nötigen technischen Kenntnisse zur Entwicklung einer solchen Waffe haben und die deutsche Regierung keine moralischen Bedenken hegen, sie einzusetzen.

Ein weiteres Argument, das zugunsten einer Anwendung der Atombombe, sobald sie erst einmal verfügbar ist, sprechen könnte, wäre folgendes: In diese Projekte haben die Steuerzahler so viel Geld hineingesteckt, daß der Kongreß und das amerikanische Volk nun endlich sehen wollen, wo ihr Geld geblieben ist. Die bereits erwähnte Haltung der amerikanischen öffentlichen Meinung hinsichtlich eines Gaskrieges gegen Japan beweist jedoch, daß man von den Amerikanern Verständnis dafür erwarten kann, wie wichtig es manchmal ist, eine Waffe nur für den äußersten Notfall bereitzuhalten; und sobald die Bedeutung der Kernwaffen dem amerikanischen Volk offenbart wird, darf man sicher sein, daß es alle Versuche unterstützt, die Anwendung solcher Waffen unmöglich zu machen.

Wenn dies erst einmal erreicht ist, dann sollen die großen Anlagen und Ansammlungen von Explosivstoffen, die augenblicklich zum eventuellen militärischen Einsatz bereitgehalten werden, ausschließlich für bedeutende Entwicklungen im Frieden zur Verfügung stehen – samt der Energiegewinnung, den großen Maschinenbauten und der Massenproduktion radioaktiven Materials. Auf diese Weise könnte das zu Kriegszwecken für die Entwicklung der Kernphysik ausgegebene Geld eine Spende für die Entwicklung der nationalen Wirtschaft im Frieden sein.

IV. Arbeitsweisen einer internationalen Kontrolle

Betrachten wir nun die Frage, wie eine wirkungsvolle internationale Kontrolle über die Aufrüstung mit Kernwaffen erreicht werden kann. Ein schwieriges Problem, aber wir halten es für lösbar. Es verlangt von den Staatsmännern und internationalen Rechtsgelehrten eine sorgsame Untersuchung, und wir können für diese lediglich einige einleitende Ratschläge bieten.

Vorausgesetzt, daß auf allen Seiten gegenseitiges Vertrauen und guter Wille vorhanden sind, einen gewissen Teil der Souveränität aufzugeben, d. h. eine internationale Kontrolle über bestimmte Zweige der Volkswirtschaft anzuerkennen, könnte die Kontrolle – alternativ oder simultan – auf zwei verschiedenen Ebenen durchgeführt werden.

Der erste und wohl einfachste Weg ist die Rationierung der Rohstoffe – vor allem des Uranerzes. Die Produktion von nuklearem Sprengstoff beginnt mit der Gewinnung großer Uranmengen in gewaltigen Isotopentrennungsgeräten oder riesigen Atommeilern. Die Erzmengen, die an den verschiedenen Orten gewonnen werden, ließen sich leicht von den dort ansässigen Mitgliedern des internationalen Kontrollausschusses überwachen; außerdem dürfte jede Nation nur eine begrenzte Menge erhalten, so daß eine im großen Stil durchgeführte Trennung von spaltbaren Isotopen von vornherein unmöglich wäre.

Solch eine Begrenzung hätte den Nachteil, daß dadurch die Gewinnung von Kernenergie auch für friedliche Zwecke unmöglich gemacht würde. Diese Begrenzung brauchte jedoch eine ausreichende Produktion von radioaktiven Spurenelementen nicht zu verhindern; durch diese Produktion ließen sich Industrie, Wissenschaft und Technik revolutionieren, und somit müßte nicht auf die Hauptvorteile, welche die Kernphysik der Menschheit bringen könnte, verzichtet werden.

Ein Abkommen auf höherer Ebene, das noch größeres gegenseitiges Vertrauen und Verständnis erforderte, würde eine unbeschränkte Produktion erlauben, vorausgesetzt, daß über die Verwendung jedes Pfundes geschürften Urans genau Buch geführt wird. Wenn auf diese Weise auch der Verwandlung von Uran- oder Thorium-Erz in reines radioaktives Material Einhalt geboten ist, so erhebt sich doch die Frage, wie man die Anhäufung von großen Mengen solchen Materials in Händen einer oder mehrerer Nationen verhüten soll. Denn wenn sich eine Nation der internationalen Kontrolle plötzlich entzöge, könnten derartige Anhäufungen sehr schnell zur Herstellung von Atombomben verwendet werden. Es ist vorgeschlagen worden, sich auf eine obligatorische Denaturierung reiner radioaktiver Isotope zu einigen; nach ihrer Gewinnung müßten sie lediglich mit den passenden Isotopen geschwächt und damit für militärische Zwecke wertlos gemacht werden; für den Antrieb von Maschinen dagegen blieben sie nach wie vor verwendbar.

Eines ist klar: Jedes internationale Abkommen zur Verhütung einer Kernwaffenaufrüstung muß durch wirksame und erfolgversprechende Kontrollen unterstützt werden. Ein lediglich auf dem Papier bestehendes Abkommen hat wenig Sinn, denn weder unsere noch eine andere Nation kann ihre Existenz auf dem Vertrauen zur Unterschrift einer anderen Nation aufbauen. Jeder Versuch, die internationalen Kontrollstellen zu behindern, müßte als ein Verrat an diesem Abkommen geahndet werden. Es braucht wohl kaum betont zu werden, daß wir als Wissenschaftler der Meinung sind, jedes ins Auge gefaßte Kontrollsystem zur friedlichen Entwicklung der Kernphysik müßte noch so viel Freiheit lassen, wie mit der Sicherheit der Welt zu vereinbaren ist.

V. Zusammenfassung

Die Entwicklung der Kernenergie bedeutet nicht nur eine Steigerung der technologischen und militärischen Kraft Amerikas, sondern schafft auch ernste politische und wirtschaftliche Probleme für die Zukunft unseres Landes.

Nukleare Bomben können keinesfalls länger als einige Jahre eine »Geheimwaffe« zum ausschließlichen Nutzen unseres Landes bleiben. Die wissenschaftlichen Voraussetzungen, auf denen ihre Konstruktion basiert, sind den Forschern anderer Länder wohlbekannt. Wenn nicht eine wirkungsvolle internationale Kontrolle über die nuklearen Sprengstoffe geschaffen wird, ist es gewiß, daß unmittelbar auf die für die ganze Welt erstmalige Enthüllung unseres Besitzes von Kernwaffen ein allgemeines Aufrüsten einsetzen wird. Bis in zehn Jahren können dann andere Länder ebenfalls Kernwaffen besitzen, von denen jede ein Stadtgebiet von mehr als zehn Quadratmeilen zerstören kann und dabei nicht einmal eine Tonne zu wiegen braucht. In dem Krieg, zu dem solch ein Wettrüsten wohl führen würde, wären die Vereinigten Staaten durch ihre Bevölkerungsansammlungen und Industrieanhäufungen in verhältnismäßig wenig Städten im Nachteil verglichen mit Nationen, deren Bevölkerung und Industrie über große Gebiete verteilt sind.

Wir glauben, daß diese Überlegungen nicht dafür sprechen, nukleare Bomben in einem baldigen, unvorhergesehenen Angriff gegen Japan einzusetzen. Wenn die Vereinigten Staaten das erste Land wären, welches diese neuen Mittel zur rücksichtslosen Zerstörung der Menschheit anwendete, würden sie auf die Unterstützung aller Welt verzichten, den Aufrüstungswettlauf beschleunigen und die Chancen für ein künftiges internationales Abkommen zur Kontrolle derartiger Waffen zunichte machen.

Wenn man jedoch diese Chancen für das Zustandekommen einer wirkungsvollen internationalen Kernwaffenkontrolle gegenwärtig als gering betrachtet, dann dürfte nicht nur die Anwendung solcher Waffen gegen Japan, sondern auch ihre baldige Anwendung den Interessen unseres Landes entgegenstehen. In solch einem Fall hätte eine Verzögerung den Vorteil, daß der Start zu einem Kernwaffen-Wettrüsten so weit wie möglich hinausgeschoben werden kann.

Sollte sich die Regierung zu einer baldigen Vorführung der Kernwaffen entscheiden, hätte sie die Möglichkeit, die öffentliche Meinung unseres Landes und anderer Nationen kennenzulernen und sie in Betracht zu ziehen, bevor sie sich entschlösse, diese Waffen gegen Japan einzusetzen. Auf diese Weise könnten die anderen Nationen einen Teil der Verantwortung für solch einen schicksalhaften Entschluß auf sich nehmen.

Verfaßt und unterschrieben von: J. Franck • E. Rabinowitch • D. Hughes G. Seaborg • L. Szilard • J.J. Nickson • J. Stearns

„Wahrscheinlich war es ein Fehler, aber sicher bin ich nicht“

„Wahrscheinlich war es ein Fehler, aber sicher bin ich nicht“

Interview mit Dr. Edward Teller

von Dr. Edward Teller und Bernd W. Kubbig

Kubbig: In der Beurteilung der Atombombenabwürfe sind diejenigen Naturwissenschaftler in den USA am kritischsten gewesen, die wie Leo Szilard und James Franck am Met Lab in Chicago in großer geografischer Distanz von Los Alamos, dem Zentrum des Manhattan-Projekts, arbeiteten. Sie selbst, Herr Teller, nehmen unter den amerikanischen Naturwissenschaftlern in dieser Frage bekanntlich eine gewisse Sonderrolle ein. Hängt dies auch damit zusammen, daß Sie in den Los Alamos-Jahren weniger an der A-Bombe als an der H-Bombe interessiert waren, daß, wenn ich das so sagen darf, die A-Bombe nicht Ihre Bombe war?

Teller: Unsinn. Total.

Kubbig: Totaler Unsinn?

Teller: Schauen Sie, meine Bombe, deine Bombe. Gar kein Unterschied. Einfach Unsinn. Nein.

Übrigens, manche der mir in den letzten Tagen gestellten Fragen waren gut, manche Fragen waren nicht gut. Ich glaube, daß mehr als die Hälfte der Fragen unwichtig war. Viele von ihnen beruhten auf Mißverständnissen oder der Verkennung der Sachlage. Das, muß ich sagen, gilt auch für Sie. Der Punkt, daß da irgendein Wettbewerb zwischen Oppenheimer und mir gewesen wäre, ist einfach fantastisch falsch.

Kubbig: Gut, es wird notiert. Sie haben …

Teller: Oppenheimer war ein Mensch, der in vieler Hinsicht hochbegabt war und den ich Grund hatte, mehrfachen Grund, zu bewundern. Ich hatte auch mehrfachen Grund für das Gegenteil, aber über das Gegenteil habe ich versucht, so wenig nachzudenken, es so wenig zur Kenntnis zu nehmen, wie nur möglich.

Kubbig: In Ihrem Buch „The Legacy of Hiroshima“, das 1963 auch auf Deutsch erschien, haben Sie geschrieben: „Der erste Akt des atomaren Dramas hat mich zu zwei Überzeugungen gebracht: Es war notwendig und richtig, die Atombombe zu entwickeln. Es war unnötig und falsch, Hiroshima ohne besondere Warnung zu zerstören.“ (Siehe Auszug S. 32) In Ihrem Frankfurter Vortrag vor drei Tagen jedoch …

Teller: Also jetzt bin ich einen Schritt weiter gegangen.

Kubbig: Warum also das für uns überraschende Fragezeichen („Waren die Atombombenabwürfe ein Fehler?“) am Ende Ihres Vortragstitels, wo ursprünglich ein schlichter Punkt stehen sollte? („Die Atombombenabwürfe waren ein Fehler.“)

Teller: Ja, das war einmal meine Meinung. Nach weiterem Nachdenken finde ich, fand ich, daß ich den ersten Teil meiner Meinung nicht zu ändern brauchte, den zweiten Teil zwar nicht schroff ändern, aber doch abschwächen sollte. Ich würde es so formulieren: Wahrscheinlich war es ein Fehler, aber sicher bin ich nicht. Daß aber die (Ver-)Nachlässigung von anderen Möglichkeiten ein Fehler war und ein eigener Fehler, das glaube ich.

Kubbig: Das haben Sie in Ihrem Frankfurter Vortrag auch sehr stark …

Teller: Also ich … ich behaupte weniger, aber dieses »Weniger« behaupte ich mit Überzeugung.

Kubbig: Sie sagten, Sie haben über diese Frage nachgedacht und sind nach dem Nachdenken zu der gewissen Änderung gekommen. Welche Gründe gab es hierfür?

Teller: Das ist eine schwierige Frage. Nehmen wir an, daß wir wirklich eine Atombombe demonstriert hätten, daß der Krieg zu Ende gegangen wäre. Das hätte große Vorteile gehabt, besonders, weil viele Leute nicht getötet worden wären. Amen. Vielleicht wäre dann die Warnung, die dann weitere Anwendungen ausgeschlossen hätte, nicht genügend stark gewesen. Genügend für die Japaner und nicht genügend in den nächsten fünfzig Jahren.

Kubbig: Hatten Sie von Oppenheimer, dem wissenschaftlichen Leiter des Projekts, erwartet, daß er der technischen Demonstration viel mehr Aufmerksamkeit hätte widmen sollen, als er es tatsächlich getan hat?

Teller: Er war in einer starken Lage, es zu tun, ob genügend ist die Frage, aber unvergleichlich stärker als irgendein anderer.

Kubbig: Ich möchte Sie auf ein ganz anders Thema ansprechen: die Bedeutung von Frauen im Manhattan-Projekt. Waren die Konzeption, das Design, das Bauen der Bombe reine Männersache? Haben Frauen überhaupt eine Rolle gespielt?

Teller: Ja, ja, ja. Aber schauen Sie, die Damen waren nicht in leitenden Stellungen. Die einzige, die praktisch etwas Unabhängiges und Wichtiges geleistet hat, war Maria Göppert-Mayer …

Kubbig: … Die spätere Nobelpreisträgerin …

Teller: … Sie war Deutsche. Sie kam aus Göttingen, aus einer Professorenfamilie. Sie hat bei Max Born ihren Doktor gemacht, dann einen Amerikaner geheiratet und eine Zeitlang die Physik aufgegeben, praktisch nichts getan.

Kubbig: War sie in der Arbeitsgruppe um James Franck, in der auch Sie in Göttingen arbeiteten …

Teller: Nein. Sie kannte James Franck sehr gut, aber sie arbeitete nicht. Sie erzog ihre Kinder. Ich kam 1931 nach Göttingen. Damals war sie schon weg. Ich kam 1935 nach Amerika, nach Washington, aber sie war in Baltimore, wie James Franck auch. Obwohl ich jünger war als sie, war ich zu einem gewissen Grade ihr zweiter Doktorvater. Ich habe sie in die Physik zurückgeholt, von der Mutterschaft. Damals waren ihre beiden Kinder so sechs, sieben Jahre alt. Als die anfingen, in die Schule zu gehen, da hatte sie wieder Zeit, da kam sie allmählich in die Physik zurück, und damit habe ich etwas zu tun.

Marias Arbeit betraf zunächst die Atombombe, ist dann aber ganz wichtig geworden in den weiteren Entwicklungen, und da hat sie, wie auch ihre beiden Schüler, erste gute Arbeit geleistet während des Krieges. Vielleicht gab es andere Beiträge, aber ich glaube, Marias Beitrag war besonders wichtig.

Kubbig: Welche anderen Kolleginnen sind Ihnen noch in Erinnerung? Caroline Herzenberg und Ruth Howes erwähnen in ihrem Artikel „Women of the Manhattan Project“ („Technology Review“, November/Dezember 1993) Mary F. Argo und Jane Roberg, die beide über Probleme der Kernfusion, also der H-Bombe, arbeiteten.

Teller: Mary Argo blieb auch nach dem Krieg in Los Alamos. Sie und ich haben einen langen Artikel über Atomkerne für die Encyclopaedia Britannica verfaßt. Sie hat in meiner Gruppe gearbeitet, aber nicht besonders. Jane Roberg, die war ebenfalls nicht besonders. Die war auch ganz krank. Und ich glaube, sie ist während des Krieges gestorben. Es war wichtig für sie, wegen ihrer Krankheit die Erlaubnis zu erhalten, von Los Alamos nach Albuquerque zu gehen, aber aus Sicherheitsgründen wurde das aufgehalten. Das fand ich eigentlich empörend.

Kubbig: Sie durfte also nicht nach Albuquerque?

Teller: Ich erinnere mich nicht an Details, aber da gab es Hindernisse.

Kubbig: Um bei den von Herzenberg und Howes erwähnten Namen fortzufahren. Kannten Sie Naomi Livesay, die sich mit der Druckwelle der Atombombe beschäftigte?

Teller: Nein, nur dem Namen nach.

Kubbig: Und E. Anderson, die sich u.a. mit der Frage befaßte, wieviele Neutronen pro Kernspaltung entstehen, und Elizabeth Graves, die …

Teller: … Ich glaube, Miss Anderson habe ich gekannt, aber ich erinnere mich nicht. Elizabeth Graves, die kannte ich gut. Sie und ihr Mann arbeiteten nach meiner Los Alamos-Zeit an den H-Bomben-Tests. Ich habe noch eine Geschichte im Zusammenhang mit dem ersten Test. – Könnte ich noch eine Tasse Kaffee haben?

Kubbig: Gern.

Teller: Die erste Versuchsserie fand im Frühjahr 1951 auf dem Militärgelände des Eniwetok-Atolls im Pazifik statt. Ich wußte bereits, daß der Test erfolgreich verlaufen war, aber die Leute in Los Alamos wußten es noch nicht und warteten auf die offizielle Mitteilung. Ich sollte meiner Erinnerung nach das Ergebnis einem Kollegen in Los Alamos mitteilen, aber ich durfte beim Telegrafieren natürlich keine Geheimnisse verraten. Ich habe die Frage gelöst, indem ich ein Telegramm an Elizabeth Graves schickte. Der Text lautete: „It's a boy!“ Das war die erste Bestätigung, die Los Alamos erhielt.

Kubbig: Sie sind tausendmal gefragt worden, ob Sie die Beteiligung am Manhattan-Projekt bereut haben. Ich möchte deshalb diese Frage jetzt nicht stellen.

Teller: Nein, nein.

Kubbig: Ich möchte die Frage nicht stellen.

Teller: Nein, das ist totaler Unsinn. Absolut totaler Unsinn. Und ich bin schon so oft gefragt worden, also …

Kubbig: Ich möchte eine andere Frage stellen, die Ihnen vielleicht nicht so oft gestellt worden ist, ja? In den »Recollections« Ihres Freundes Eugene Wigner (siehe Auszug S. 31) gibt es die folgende Überlegung: Was wäre eigentlich passiert, wenn die USA die Bombe ein Jahr früher gehabt hätten? Karl Cohen, Harold Ureys damaliger Assistent, hat die Meinung vertreten, daß die Bombe ein Jahr früher hätte fertig sein können – wenn der militärische Leiter des Manhattan-Projekts, General Groves, sich für die von Urey vorgeschlagene Methode entschieden hätte, Uran auf der Grundlage des Zentrifugenverfahrens anzureichern. Verdanken die Europäer General Groves die Tatsache, daß die Bombe später fertig war, weil die von ihm gewählte Methode der Urananreicherung auf der Basis der Diffusionstechnologie ein ganzes Jahr mehr in Anspruch nahm?

Teller: Nein, nein. Wir waren so früh fertig wie irgend möglich.

Kubbig: Wir haben gestern darüber gesprochen, daß …

Teller: … Es gab andere Urananreicherungsmöglichkeiten. Ich möchte sagen, das ist nicht total ausgeschlossen …

Kubbig: … daß die Bombe hätte früher fertig sein können, wenn man ein anderes Urananreicherungsverfahren gewählt hätte?

Teller: Ich glaube nicht, aber es ist nicht total ausgeschlossen.

Kubbig: Wir haben gestern darüber gesprochen, daß in Washington derzeit ein (wenn auch längst bekanntes) Dokument des Military Policy Committee vom 5. Mai 1943 Aufsehen erregt. In diesem von General Groves unterzeichneten Bericht über die Sitzung, an der die führenden Wissenschaftsadministratoren des Manhattan-Projekts, Vannevar Bush und James Conant, sowie General Styler teilnahmen, heißt es zum Schluß: „Das Ziel des Einsatzes (point of use) der ersten Bombe wurde diskutiert, und die allgemeine Auffassung schien zu sein, daß das beste Ziel des Einsatzes eine japanische Flottenkonzentration im Hafen von Truk sei. General Styler schlug Tokio vor, aber es wurde darauf hingewiesen, daß die Bombe dort eingesetzt werden sollte, wo, falls sie nicht explodiert, sie ins Wasser von ausreichender Tiefe fallen würde, um eine leichte Bergung zu verhindern. Die Japaner wurden ausgewählt, weil sie nicht so in der Lage seien, sich hiervon Wissen zu beschaffen wie die Deutschen.“

Teller: Also, darüber weiß ich gar nichts.

Kubbig: Meine Frage ist und vielleicht bestätigen Sie da andere Naturwissenschaftler wie Hans Bethe, die kürzlich sagten, sie hätten von diesem Dokument nichts gewußt: War Ihnen klar, daß sich die Atombombe anstatt gegen Nazi-Deutschland gegen Japan richten könnte? Und wenn ja, wann haben Sie davon erfahren?

Teller: Ich habe darüber nichts erfahren. Die Änderung kam schrittweise eben damit, daß wir sahen, daß Hitler besiegt war. Wenn der Krieg Deutschlands sich ein Jahr länger hingezogen hätte, dann hätten wir wahrscheinlich die Atombombe auf Deutschland geworfen.

Kubbig: Allerletzte Frage: 1945 und später geisterten Zahlen umher, daß die Atombombenabwürfe bis zu einer Million amerikanische Soldatenleben gerettet hätten, weil die bevorstehende Invasion Japans nach den nuklearen Bombardements nicht mehr notwendig war. Haben Sie diese Zahlen damals auch gehört?

Teller: Ich weiß nicht. Ich glaubte damals und glaubte jetzt, daß, wenn man eben nur diese Zahl ansieht, dann war unser Vorgehen gerechtfertigt. Aber Sie wissen genau, daß ich das nicht an sich für ein ausreichendes Argument ansehe.

Kubbig: Haben Sie ganz herzlichen Dank für Ihre große Auskunftsbereitschaft.

Mit Dr. Edward Teller sprach am 22.4.1995 Dr. Bernd W. Kubbig.

Die Faszination unserer Arbeit nahm uns gefangen

Die Faszination unserer Arbeit nahm uns gefangen

Auszüge aus den Memoiren von Victor Weisskopf

von Victor Weisskopf

„Für uns war es eine grandiose Periode, aber wir hatten auch das furchtbare Zerstörungspotential unseres Werks zu bedenken.“

„Bohr wich den problematischsten Aspekten unserer wissenschaftlichen Tätigkeit nicht aus – dem Einsatz der Wissenschaft bei Tod und Zerstörung.“

„Nach unserer Überzeugung durften Atomwaffen keines- falls nationaler Kontrolle überlassen werden.“

„Was auch immer in Europa geschah, wir wußten, daß unsere Arbeit vollendet werden mußten.“

„Dennoch habe ich rückblickend oft Enttäuschung darüber empfunden, daß mir damals der Gedanke an Aufhören gar nicht gekommen ist.“

Die spezifische Arbeit, mit der wir in Los Alamos beschäftigt waren, und die dabei dringend gebotene Eile verlangten von uns, auf eine den meisten ungewohnte Weise vorzugehen. Wir pflegten normalerweise allein oder in ganz kleinen Gruppen zu arbeiten. Jetzt aber wurde umfassende Teamarbeit erforderlich, auch unter den theoretischen Physikern. Zum Glück hatten wir uns noch nicht in starren Praktiken und Denkmustern festgefahren, die ältere Wissenschaftler vielleicht behindert hätten. Gruppen von etwa zwölf Personen mußten an einem spezifischen, klar definierten Thema eng zusammenarbeiten. In jedem dieser Teams gab es immer einen oder mehrere, die eine mehr tonangebende Rolle spielten. Sie steuerten die meisten Ideen bei, waren einfallsreicher bei der Umschiffung von Klippen, trieben an, wenn die Probleme unüberwindlich erschienen, und zeigten Führungsqualitäten.

Kooperation verlieh unserem Projekt einen bestimmten Charakter und erhöhte die Herausforderung und Spannung beträchtlich. In den auf Los Alamos folgenden Jahren wurde die Grundlagenforschung in der nicht angewandten Physik häufig in dieser Form betrieben. In den Nachkriegsjahren machten die komplizierten, riesigen neuen Geräte, wie die gewaltigen Beschleuniger, und die schwierige Datenverarbeitung häufig umfangreiche Teams unerläßlich. Unsere Erfahrung half, den Übergang zu erleichtern.

Oppenheimer, ein ungewöhnlich inspirierender Projektleiter, besaß eine außerordentliche Begabung, die Kernpunkte eines Problems zu erfassen, auch wenn es sich um ein ihm fremdes Spezialgebiet handelte. Seine Fähigkeit, die Antwort parat zu haben, bevor man die Frage vollends formuliert hatte, verhalf ihm zu einer umfassenden Kenntnis aller interessanten Vorkommnisse auf dem Hügel. Er war imstande, seine persönlichen Sympathien und Antipathien zu unterdrücken und seine allgemein bekannte Ungeduld zu zügeln bei Leuten, die Gedankengänge nicht so schnell erfaßten wie er.

Wann immer eine wichtige technische Diskussion über ein Problem stattfand, tauchte Oppie aus dem Nichts auf und half bei der Lösung. Wann immer ein Experiment ein entscheidendes Stadium erreichte, war Oppie zur Stelle, selbst um drei Uhr morgens. Jeder spürte seine aufmunternde Art, seine Hilfsbereitschaft und sein Interesse an jeder persönlichen Leistung. (In dieser Hinsicht wurde er für mich zum Modell für meine neue Rolle, als ich viele Jahre später zum Direktor von CERN in Genf ernannt wurde.)

Wir stimmten alle darin überein, daß wir an einer faszinierenden Aufgabe arbeiteten. Die Temperaturen, mit denen man im Zentrum der Explosion rechnete, lagen bei annähernd dreihundert Millionen Grad, etwa das Zehnfache der im Zentrum der Sonne herrschenden. Der Druck war um viele tausendmal größer als ein jemals in einem Labor erzeugter. Wie konnten wir voraussagen, was passieren würde, wie hoch die Expansionsgeschwindigkeit wäre oder wie sich Materie unter diesen Bedingungen verhalten würde? Wir konnten darauf keine Antwort bekommen, indem wir diese Bedingungen im Labor simulierten. Alles, was wir hatten, waren phantasievolle Mutmaßungen. Wenn wir unsere Kenntnisse aufs äußerste extrapolierten, konnten wir uns einigermaßen vorstellen, was geschehen würde. Zusätzlich bemühten wir uns, den Rat der sachkundigsten Spezialisten für Stoßwellen und für Hochdruck- und thermodynamische Erscheinungen einzuholen.

Sir Geoffrey Taylor kam aus London, um mit uns über Explosionen, Stoßwellen und Instabilitäten in der Bewegung von Materie zu reden. Aber kein Experte hatte jemals mit solchen Extremen von Druck und Temperatur zu tun gehabt. Es war die Stunde der theoretischen Physiker. Wir hatten das Verhalten von Materie unter äußerst ungewöhnlichen Bedingungen zu berechnen. Die verfügbare Kenntnis über die Struktur von Materialien aber stellt für die Vorhersage von Werkstoffeigenschaften nur dann eine verläßliche Richtschnur dar, wenn die Bedingungen nicht zu weit von der Norm abweichen.

Deshalb war die theoretische Abteilung in Los Alamos so wichtig. Wir versuchten, die besten Leute zu bekommen. Hans Bethe war Abteilungsleiter, ferner hatten wir Enrico Fermi, Robert Christy vom California Institute of Technology, Edward Teller, Philip Morrison aus Berkeley und später Rudolf Peierls aus England. Mein alter Freund Placzek kam, und Robert Marshak stieß aus Montreal zu uns, wo er an einem britisch-kanadischen Projekt arbeitete.

Richard Feynman war als junger Mann ebenfalls in Los Alamos. Später wurde er einer der ersten theoretischen Physiker unserer Zeit. Ungeachtet seiner Jugend, fiel er bereits durch raschen, kreativen Verstand auf; bei der Lösung schwieriger Probleme erwies er sich als überaus nützlich. Auch mit seinem Charme, seiner Heiterkeit und Warmherzigkeit war er ein Gewinn für unsere Gruppe. Er war äußerst witzig und als Erfinder lustiger Streiche unschlagbar. Zum Beispiel konnte er unsere Rechenmaschinen auf rhythmisches Klappern programmieren, das einen gerade populären Schlager simulierte. Er war auch Experte beim Öffnen von verschlossenen Safes, eine Fähigkeit, die das Militärpersonal gar nicht schätzte. Für unsere Kinder, die ihn anbeteten, war er der spaßigste Mensch der Welt und ihr liebster erwachsener Spielgefährte.

Feynmans spätere Beiträge zur Wissenschaft waren enorm. Die moderne Feldtheorie wäre ohne seine maßgebende Mitwirkung undenkbar. Er lieferte auf fast allen Gebieten der Physik fruchtbare Denkanstöße. Ich wüßte nur einen Theoretiker, der sich mit Feynman vergleichen ließe, nämlich Lew Landau. Was mich an Feynman beeindruckte, war sein intuitives Verständnis für Physik ebenso wie seine Sachkenntnis in mathematischem Formalismus. Nach dem Krieg fuhr ich häufig nach Pasadena, wo er als Professor am California Institute of Technology arbeitete, und bat ihn, mir dieses oder jenes physikalische Problem zu erklären. Er war stets bereit, über alles mit mir zu diskutieren, und schaffte es immer, dafür genau die richtige Sprache zu benutzen, unter Auslassung mathematischer Verschlingungen. Er wußte, was bei mir ankam. Bedauerlicherweise starb er zu früh, ebenso wie Landau. (Feynman starb 1988 im Alter von siebzig Jahren.) Es wird lange dauern, bis wir wieder einen so hochbegabten, schöpferischen Kopf in unseren Reihen haben werden. Über meine Bewunderung für seine wissenschaftlichen Fähigkeiten hinaus hatte ich ihn ins Herz geschlossen und vermisse ihn.

In Los Alamos gab es Schwierigkeiten mit Edward Teller, der hartnäckig verlangte, die Wasserstoffbombe (H-Bombe) gleichzeitig mit der Atombombe, an der wir arbeiteten, zu entwickeln. Oppenheimer mußte ihm schließlich eine Spezialabteilung mit ein paar Mitarbeitern zubilligen für sein Projekt der »Superbombe«, wie wir die H-Bombe damals nannten. Ich hatte einen persönlichen Konflikt mit Teller, als Bethe mich bat, als stellvertretender Abteilungsleiter zu fungieren. Edward behauptete, er sei der bessere Physiker und hätte die Stellung bekommen müssen. Ich versuchte nicht, das abzustreiten, wies ihn jedoch darauf hin, daß Hans vermutlich mich ausgewählt habe, weil ich besser mit Menschen umgehen konnte. Teller wurde politisch immer konservativer, so daß sich unsere Freundschaft auch in späteren Jahren nicht halten ließ.

Wir erwarteten die erste Sendung Plutonium aus Hanford irgendwann 1944. Es handelte sich um ein Körnchen von vielleicht einem Millimeter Durchmesser. Bis dahin waren die von Beschleunigern oder anderen Geräten erzeugten Plutoniummengen so gering, daß die physikalischen Eigenschaften nicht bestimmt werden konnten. Wir waren uns nur über eine Tatsache sicher: Das Plutoniumatom hat vierundneunzig Elektronen. Diese Zahl bestimmt praktisch die meisten Eigenschaften des Atoms. Auf der Grundlage der Quantenmechanik ist unsere Kenntnis der Atomstruktur so weitreichend, daß die Ordnungszahl es im Prinzip ermöglichen sollte zu berechnen, wie sich die Atome zu dem von uns Plutonium genannten Element verbinden, und einige seiner chemischen Eigenschaften abzuleiten. In diesem Sinne bestimmt Quantität die Qualität, doch das trifft nur im Prinzip zu. In Wirklichkeit sind solche Berechnungen äußerst kompliziert und in keiner Weise zuverlässig durchzuführen. Atomphysiker sagten voraus, daß Plutonium ein Metall sein müsse, mit einem spezifischen Gewicht von etwa achtzehn Gramm pro Kubikzentimeter, von bräunlicher Farbe, mit dieser bestimmten Elastizität sowie elektrischen und Wärmeleitfähigkeit usw.

Als das Plutonium eintraf, hielt ich das erste Körnchen, das wir je gesehen hatten, in der Hand. (Ich hätte das der Radioaktivität wegen wohl nicht tun dürfen, aber es war ein derart minimales Quantum, daß es keinerlei schädliche Wirkung hatte.) Es war tatsächlich ein schweres, bräunliches Metall und besaß die Eigenschaften, die meine Kollegen aus der Zahl vierundneunzig abgeleitet hatten. Das bestärkte uns in unserem Vertrauen in die Kraft wissenschaftlicher Erkenntnis.

(…)

Die Faszination unserer Arbeit nahm uns gefangen. Nie zuvor hatten meine Kollegen und ich eine Zeit erlebt, in der wir so viel lernten, so viele neue Erkenntnisse über die Struktur der Materie in all ihren Erscheinungsformen gewannen. Für uns war es eine grandiose Periode, aber wir hatten auch das furchtbare Zerstörungspotential unseres Werks zu bedenken. Wissenschaftliche Untersuchungen basierten auf der Erfahrung mit gewöhnlichen Bomben, so daß schwer vorauszusagen war, was geschehen würde, wenn die Sprengkraft mindestens tausendmal größer wäre.

Wir versuchten, das Ausmaß an Zerstörung zu bestimmen, die Anzahl der Opfer, falls die Bombe über einer Stadt detonierte, und die potentiellen Strahlungsschäden für Menschen, Tiere und Boden. All dies erforderte sorgfältige Untersuchungen in unseren Labors und an unseren Schreibtischen. Unter den gegebenen Umständen vermochten wir es nicht, den moralischen Problemen unserer Arbeit ins Auge zu sehen, auch wenn wir sie erkannten. Es läßt sich nicht leugnen, daß ständige Diskussionen über die durch Feuer und Strahlenkrankheit verursachten Schäden und über die Millionen von Toten eine zunehmende Abstumpfung gegenüber diesen grauenhaften Konsequenzen bewirkte.

Manchmal, vielleicht mitten in der Nacht, wurden sich einige von uns plötzlich des Horrors bewußt, der durch unsere Arbeit ausgelöst werden konnte, doch wir waren auch überzeugt, daß unser Tun wichtig war, um die Welt vor den Schrecken des Nazismus zu retten, und das hielt uns aufrecht. Ich habe mich oft gefragt, wie wir mit dem Problem umgegangen wären, wenn wir gewußt hätten, daß seitens der Nazis kein ernsthafter Wettlauf um die Bombe stattfand.

(…)

Eines Tages wurde ich gebeten, zur nächsten Bahnstation in Lamy, New Mexico, zu fahren und drei britische Wissenschaftler abzuholen. Man sagte mir nicht, um wen es sich dabei handelte, und ich hoffte, daß sie mein leichter österreichischer Akzent nicht stören würde. Als der Zug hielt, stiegen drei Personen aus, die ich auf der Stelle erkannte. Die »Engländer« entpuppten sich als Rudolf Peierls und Francis Simon, beide aus Deutschland stammend, und Egon Bretscher, gebürtiger Schweizer.

Die meisten von uns arbeiteten härter als je zuvor, doch wir hatten auch ein gewisses Maß an Geselligkeit und Unterhaltung. Das Leben in Los Alamos bot mehr als nur die Arbeit an dem Projekt und die Diskussionen über dessen Verästelungen. Ab und zu fuhren wir nach Santa Fe, um in den guten Buchhandlungen herumzustöbern oder im Restaurant La Placita unter dem Sternenhimmel köstlich zu speisen. Unsere Gemeinschaft, dieser internationale Kreis überaus kreativer Menschen, war ungewöhnlich, und auch unsere zwanglosen geselligen Zusammenkünfte gestalteten sich stets höchst anregend und interessant. Hauptthema unserer Gespräche blieb der Kriegsverlauf, aber daneben unterhielten wir uns ausgiebig über Musik, Theater und Sport.

Kinder wuchsen hier unter geradezu idealen Bedingungen auf. Auf den Straßen herrschte nicht viel Verkehr, und der Schutzzaun um das Gelände bewahrte sie davor, sich zu verlaufen. Sie hatten eine Menge gleichaltriger Spielgefährten und die herrlichsten Gelegenheiten zum Wandern, Skifahren und Herumtollen. Die Schule war ausgezeichnet, den Unterricht hatten fast ausschließlich die hochqualifizierten, erfahrenen Ehefrauen der Wissenschaftler übernommen.

(…)

Zu den lebenslustigeren geselligen Veranstaltungen zählten unsere berühmten Abende in den Wohnheimen. Bei diesen Tanz- und Kostümfesten entfalteten wir unsere vielfältigen künstlerischen Talente, von klassischen Musikdarbietungen bis zu ausgefeilten akrobatischen Nummern. Einmal traten Otto Frisch und ich als Diktatorenduo auf: er als Hitler, ich als Stalin. Ich lieh mir von Hans Staub eine echte Schweizer Militärmütze und klebte einen Sowjetstern darauf. In Zürich hätte das einen internationalen Zwischenfall provoziert.

Im Juni 1943 hatte sich Los Alamos zu einer Gemeinde mit spezifischen sozialen Problemen entwickelt, und so wurde ein Gemeinderat gebildet; dessen Mitglieder und der Vorsitzende wurden von den Bewohnern der Stadt gewählt. Er hatte eine rein beratende Funktion für die Militärverwaltung und keine Machtbefugnisse, außer in Bagatellfragen. In erster Linie diente er als öffentliches Diskussionsforum für Gemeindeprobleme und als Vertretung für Verhandlungen mit der Militärverwaltung von Los Alamos. Er war eine Schaltstelle für Diskussionen über Probleme des täglichen Lebens und bot Gelegenheit, Dampf abzulassen wegen mancher militärischer Einschränkungen, die uns sinnlos vorkamen. Die Wahlen zum Gemeinderat fanden zweimal im Jahr statt, und es gelang uns trotz des Mißtrauens gegenüber einem demokratischen Gremium innerhalb eines autoritären Regimes, daß ein Vertreter der Militärverwaltung bei jeder unserer Sitzungen anwesend war.

Unlängst aus Europa emigriert, sah ich es als besondere Auszeichnung an, als Vertrauensbeweis meiner Mitbewohner, für drei Sitzungsperioden in den Rat und für eine als Vorsitzender gewählt zu werden. Natürlich gab es neben mir noch weitere Ausländer in Los Alamos, aber dennoch bot meine Wahl ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie Immigranten in den Vereinigten Staaten als gleichberechtigt akzeptiert wurden (und werden), ganz im Gegensatz zu den vielen Vorurteilen, die Europäer Ausländern gegenüber an den Tag legen.

Unsere Gemeinderatssitzungen stellten ein interessantes Kontrastprogramm zu unseren wissenschaftlichen und technischen Aufgaben dar. (…)

Im Herbst 1944 wurde uns mitgeteilt, daß zwei berühmte europäische Physiker zu uns stoßen würden. Keiner hatte je etwas von Nicholas und Jim Baker gehört. Bei ihrer Ankunft stellte sich heraus, daß es sich um Niels Bohr und seinen Sohn Aage handelte, die aus Sicherheitsgründen Decknamen benutzten. Bohr und seine Familie waren während der deutschen Besetzung Dänemarks nach Schweden evakuiert worden. Zu Anfang der Okkupation betrachteten die Nazis Dänemark als Musterprotektorat und ließen die Juden in Ruhe. Doch als die Untergrundbewegung aktiv wurde und die Besatzer anzugreifen begann, gaben die Nazis den Befehl, die dänischen Juden in Konzentrationslager zu deportieren.

(…)

Seine Beiträge zu unserer Arbeit in Los Alamos hoben das intellektuelle Niveau in mehrfacher Hinsicht. Er beteiligte sich aktiv an der Lösung wissenschaftlicher und technischer Probleme, wozu er eine Anzahl wichtiger Ideen beisteuerte. Doch er schärfte unser Bewußtsein auch noch auf andere Weise. Wir waren uns völlig klar darüber, daß wir durch die Arbeit an diesem Projekt mit einigen der schwierigsten Fragen konfrontiert würden, die es für einen Wissenschaftler geben konnte. Über unsere geliebte Physik waren wir in die grausame Wirklichkeit gedrängt worden und mußten den uns zugefallenen Part durchstehen. Wie ich bereits erwähnte, waren die meisten von uns jung und menschlich noch etwas unreif.

Bohr verwickelte uns unverzüglich in private Diskussionen über die Bedeutung unserer Arbeit. Er wich den problematischsten Aspekten unserer wissenschaftlichen Tätigkeit nicht aus – dem Einsatz der Wissenschaft bei Tod und Zerstörung. Er sah die Notwendigkeit klar und deutlich, doch gleichzeitig half er uns mit seinem Idealismus, seiner Fürsorge und Hoffnung auf Frieden, in all dem Schrecklichen einen Sinn zu erkennen. Er inspirierte viele von uns, schon jetzt an die Zukunft zu denken und uns geistig auf die Aufgabe vorzubereiten, die der Frieden uns stellen würde.

Bohr glaubte, dem unvermeidlichen Blutbad und aller Verwüstung zum Trotz, daß dieser durch wissenschaftliche Erkenntnisse veränderten Welt eine positive Zukunft bevorstünde. Vielleicht würde die im Bau befindliche Superwaffe Weltkriege obsolet machen. (Heute, fünfundvierzig Jahre danach, scheint es, er könnte recht gehabt haben.) Diejenigen von uns, die in der Vergangenheit bei ihm als Schüler und Mitarbeiter waren, hatten von ihm gelernt, daß jede große, tiefgreifende Schwierigkeit ihre eigene Lösung in sich trägt. Bohrs Gespräche mit seinen alten und neuen Freunden warfen manche Fragen auf, die wir unter dem Arbeitsdruck verdrängt hatten. Er regte viele von uns an, über diese Probleme nachzudenken, und animierte uns, regelmäßige zwanglose Diskussionsrunden mit dieser Thematik einzuführen.

Bohrs Grundtendenz ging dahin, das entscheidende Dilemma aufzudecken. Er hatte die Gabe, ein Problem von allen Seiten zu sehen, und vermochte selbst in der vernichtendsten aller Waffen die positiven Möglichkeiten zu erkennen. Sein Denken brachte unseren Diskussionen ein Element der Hoffnung, weil er so oft darauf hinwies, daß die Existenz solch verheerender Waffen demonstrieren könnte, daß Kriege sinnlos und selbstmörderisch sind. Er sah die furchterregende Möglichkeit für einen zukünftigen atomaren Rüstungswettlauf voraus, erkannte aber in dieser drohenden Gefahr auch eine einzigartige Gelegenheit zu einer historischen Kursänderung.

Bohr hoffte, die einstweilige Überlegenheit der Vereinigten Staaten bei Atomwaffen könnte als Argument dienen, andere zu überzeugen, daß internationale Kontrolle über die Herstellung von Atomwaffen und Atomkraft für alle von Vorteil wäre. Dieses Ziel ließe sich seiner Meinung nach am besten durch baldige multilaterale Gespräche, insbesondere mit der Sowjetunion, erreichen, bevor die Waffe tatsächlich entwickelt wäre und eingesetzt würde. Obwohl die Sowjets im Krieg gegen die Nazis unsere Alliierten waren, rechnete man schon damals damit, daß die UdSSR in der Nachkriegswelt als Hauptkonkurrent und Gegenspieler der Vereinigten Staaten auf den Plan treten würde. Bohr war überzeugt, daß sich die zur Herstellung der Bombe erarbeiteten wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht geheimhalten ließen, und setzte sich nachdrücklich für eine Politik des freien Wissensaustauschs ein, und zwar so bald als möglich. Er vertrat stets die Ansicht, daß jede nach dem Krieg weiter bestehende nationale Geheimhaltung nur neue Spannungen heraufbeschwören würde.

Ich erinnere mich, in jener Zeit mit Will Higinbotham, Robert R. Wilson, Hans Bethe, David Hawkins, Philip Morrison, William Woodward und anderen verschiedentlich zusammengekommen zu sein. Der Krieg in Europa schien sich Ende 1944 endgültig zugunsten der Alliierten zu wenden, und das veranlaßte uns ebenso wie das stetige Fortschreiten unseres Projekts, uns mehr Gedanken über die Zukunft der Welt nach dem Krieg zu machen. Wir hofften, daß die Alliierten im Frieden auf jede Geheimniskrämerei verzichten und jede militärische und zivile Nutzung der Atomkraft unter internationale Verwaltung stellen würden. Nach unserer Überzeugung durften Atomwaffen keinesfalls nationaler Kontrolle überlassen werden. Bohr hatte in vielen von uns die Hoffnung geweckt, daß die Superwaffen Kriege in Zukunft unmöglich machen würden.

Die Möglichkeiten, Atomenergie in Friedenszeiten zur Stromerzeugung und zu medizinischen Zwecken zu nutzen, stimmten uns ebenfalls optimistisch. An die Gefahren radioaktiver Verseuchung durch Reaktorunfälle oder an die vielen anderen Probleme bei friedlicher Nutzung der Atomenergie dachten wir nicht. Wir prophezeiten, daß diese neue Technologie eine großartige Gelegenheit zu echter internationaler Kooperation bieten würde, in zweifacher Hinsicht – um internationale Konflikte zu verhüten und um den nutzbringenden Einsatz von Atomenergie auszubauen. Die in ihr enthaltenen vielfältigen Möglichkeiten würden, so meinten wir, als Katalysatoren fungieren für die Idee einer supranationalen Wissenschaft und Technologie, sobald der Krieg beendet wäre.

Bohr verbrachte nur einen Teil seiner Zeit in Los Alamos. Er fuhr häufig nach Washington und London und benutzte seinen Ruf und seine engen freundschaftlichen Beziehungen zu vielen einflußreichen Persönlichkeiten dazu, ihre Aufmerksamkeit auf die dringenden Fragen zu lenken, mit denen wir konfrontiert waren. Es war sehr schwierig für Bohr, mit Vertretern der Führungsschicht über diese Dinge zu reden, ohne gegen die Geheimhaltung zu verstoßen, doch er überzeugte eine Reihe von Spitzenpolitikern, daß seine Auffassung den einzigen Weg darstellen könnte, die Welt vor der atomaren Katastrophe zu bewahren. Selbst Roosevelt schienen seine Argumente beeindruckt zu haben. Churchill jedoch vermochte Bohr nicht zu überzeugen, ihre Begegnung war ein tragischer Fehlschlag. Bohr mit seiner ruhigen, etwas ungeordneten Weise zu diskutieren stand in derart krassem Gegensatz zu Churchills apodiktischer Haltung, daß sich die beiden überhaupt nicht verständigen konnten. Churchill verdächtigte ihn sogar, mit den Sowjets im Bunde zu sein.

Rückblickend mutet es unwahrscheinlich an, daß eine internationale Kooperation in atomaren Fragen mit Stalin hätte gelingen können. Überdies argumentierten nationalistische Zirkel in Amerika und England gegen eine Internationalisierung in der irrigen Annahme, die Monopolstellung des Westens würde noch viele Jahre unangefochten bestehen bleiben. Bohr erkannte 1950, daß seine Versuche, ein internationales Abkommen über Atomfragen zu erreichen, fehlgeschlagen waren. Er schrieb daraufhin einen offenen Brief an die Vereinten Nationen, in dem er voraussagte, daß eine solche fehlende Kooperation ein unaufhörlich eskalierendes atomares Wettrüsten erzeugen würde sowie vermehrte Spannungen und Konfrontationen zwischen Ost und West. Seine Voraussagen erwiesen sich als erschütternd richtig. Heute jedoch sieht es so aus, als ob Bohrs Vision von internationaler Zusammenarbeit und einem Ende des Wettrüstens sich verwirklichen könnte. Eine Welt, wie er sie sich erhofft hatte, scheint heute in den Bereich des Möglichen zu rücken, was man in den letzten Jahren kaum erwartet hätte. Ein neuerlicher Beweis für Bohrs tiefe Einsicht in historische Veränderungen, die unvermeidlich waren.

Im März 1945 kamen etwa vierzig von uns zusammen, um die Rolle der Atombombe in der Weltpolitik und der Erzeugung von Atomenergie sowie die Stellung der wissenschaftlichen Gemeinschaft nach dem Krieg zu untersuchen. Ich gehörte zu einem Ausschuß, der diese Beratungen fortsetzen sollte. Da wir bei der Vorbereitung des für Juli 1945 geplanten ersten Bombentests unter enormem Arbeitsdruck standen, fanden weitere Ausschußsitzungen erst nach dem Krieg statt.

Ab Mitte 1944 intensivierte sich unsere Arbeit an der Bombe beträchtlich. Viele neue Leute kamen nach Los Alamos, um die bis zum Abschluß anfallenden Spezialaufgaben zu erledigen. Neue eingebildete oder tatsächliche Schwierigkeiten tauchten auf, darunter so ernsthafte, daß wir bis Anfang 1945 nicht sicher waren, ob die Bombe mit einem einigermaßen hohen Wirkungsgrad detonieren würde. Zum Beispiel bestand die Möglichkeit, daß unkontrollierte Neutronen eine Detonation herbeiführen würden, bevor das Plutonium komplett verdichtet war, was eine relativ geringe Ausbeute zur Folge hätte.

Das waren einige der Probleme, mit denen wir uns herumschlugen, als Hitlerdeutschland am 9. Mai 1945 kapitulierte. Unsere Nachbarskinder, keines davon über fünf Jahre, liefen auf die Straße und veranstalteten eine Siegesparade. Sie schlugen mit Holzlöffeln auf Töpfe und Pfannen, um ihrer Freude lautstark Ausdruck zu geben. So klein sie auch waren, hatten sie doch das instinktive Gefühl, daß es ein großes Ereignis zu feiern galt.

Mit Hitlers Niederlage bestand auch keine Gefahr mehr, daß die Nazis ihre eigene Bombe entwickeln könnten, doch das drang nicht bis an die Oberfläche unseres Bewußtseins. Wir waren da zu sehr in die Arbeit verstrickt, zu intensiv an ihren Fortschritten interessiert und zu stark damit beschäftigt, die vielen Schwierigkeiten zu überwinden. Unsere Bindung an das Projekt beruhte nicht nur auf pragmatischen Gründen, sondern auf der rein wissenschaftlichen Suche nach Antworten. Was auch immer in Europa geschah, wir wußten, daß unsere Arbeit vollendet werden mußte. Nur zwei Kollegen, Volney C. Wilson und Joe Rotblat, sahen sich durch das Ende der Nazibedrohung zum Weggehen veranlaßt. Joe wollte zudem nach Polen fahren und versuchen, seine Familie ausfindig zu machen. Er mußte erfahren, daß die Nazis seine Frau und deren Eltern umgebracht hatten, während einige seiner eigenen Angehörigen den Holocaust überlebt hatten.

Die Reaktion der meisten von uns war teils interessant und zugleich auch etwas deprimierend. Sie zeigte, wie fest wir Wissenschaftler mit der vor uns liegenden Aufgabe und mit der Lösung der verbliebenen technischen Probleme verwachsen waren. Natürlich gab es für die Vollendung der Aufgabe auch einen dringenden politischen Grund. Den Krieg gegen Japan, mit welchen Mitteln auch immer, rasch zu beenden, konnte Millionen von Amerikanern und Japanern das Leben retten, das sie in einem noch länger andauernden Krieg oder bei der zu erwartenden Invasion der Amerikaner mit Sicherheit verlieren würden. Dennoch habe ich rückblickend oft Enttäuschung darüber empfunden, daß mir damals der Gedanke an Aufhören gar nicht gekommen ist.

Oppenheimer war selbstverständlich äußerst interessiert an all den Fragen über die Konsequenzen der Bombe auf die politische Zukunft der Welt und hatte viele Diskussionen mit Bohr. Wie dieser blieb er Versammlungen fern, in denen politische Probleme erörtert wurden. Seiner Meinung nach sollten wir uns nicht auf Fragen einlassen, die Sinn und Zweck der Bombe und der Atompolitik nach dem Krieg betrafen. Er glaubte, solche Entscheidungen müßten den verantwortlichen Politikern in Washington vorbehalten bleiben, und äußerte sein Vertrauen in ihr Urteil. Oppie war unser Held und Mentor. Er beeinflußte unser Denken so stark, daß wir für den Einsatz der Bombe keine anderen Alternativen erörterten als die Zerstörung japanischer Städte. Oppenheimer meinte, nur eine solch schreckliche Lektion über die reale Gewalt der neuen Waffe würde der Welt bewußtmachen, daß sich mit der Bombe ein grundlegender Wandel in der Kriegführung vollzogen habe.

Diskussionsgruppen wie die, an der wir teilnahmen, hatten sich in Chicago und Oak Ridge gebildet, doch vor Kriegsende war keinerlei Kommunikation zwischen uns gestattet. Tatsächlich hatten die meisten von uns, ich eingeschlossen, keine Ahnung, daß im Juni 1945 eine Gruppe unter Führung von Leo Szilard und James Franck dem Kriegsminister einen schriftlichen Antrag unterbreitet hatte, mit dem die Vereinigten Staaten dringend ersucht wurden, die Bombe nicht über bewohntem Gebiet zu zünden. Hätte ich von diesem Antrag gewußt, wäre ich bestimmt in der Gruppe zu finden gewesen, die ihn unterstützt hatte.

Anmerkung

Wir danken dem Scherz Verlag sehr herzlich, daß wir Auszüge aus dem Buch „Mein Leben“, Seite 156<6><|><>ff. abdrucken durften.

Über Victor Weisskopf
Victor Weisskopf, 1908 in Wien geboren, studierte und promovierte bei Max Born in Göttingen. Er arbeitete mit Heisenberg, Born, Schrödinger und Pauli zusammen. 1937 emigrierte er in die USA. Als Stellvertretender Leiter der Theoretischen Abteilung war er maßgeblich am Manhattan-Projekt beteiligt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Generaldirektor des Europäischen Kernforschungszentrums CERN in Genf. Ab 1965 lehrte er am Massachusetts Institute of Technology (MIT).
Weisskopf gehört zu den bedeutendsten US-Physikern dieses Jahrhunderts. Für seine grundlegenden Forschungen und Entdeckungen auf dem Feld der Elementarteilchen, der Quantenphysik und der Nuklearphysik erhielt der Physiker, der in seinem Fach als Integrationsfigur gilt, hohe Auszeichnungen, darunter 1956 die Max-Planck-Medaille. Daß ihm der Nobelpreis für Physik nicht zuerkannt wurde, ist vielen seiner Kollegen unverständlich. Was Weisskopf ebenfalls auszeichnet, ist, daß er zu den Physikern zählt, die früh vor den Folgen der Atomwaffen warnten. Seine auch auf deutsch erschienenen Memoiren »Mein Leben. Ein Physiker, Zeitzeuge und Humanist erinnert sich an unser Jahrhundert« (Bern/München/Wien 1991, Scherz Verlag) sind ein wahrer Lesegenuß.
(B.W.K.)