„Ich gehöre zu den Leuten, die den Einsatz der Bomben für angemessen hielten“

„Ich gehöre zu den Leuten, die den Einsatz der Bomben für angemessen hielten“

Interview mit Dr. Frederick Seitz

von Dr. Frederick Seitz und Bernd W. Kubbig

Wir haben Prof. Seitz gebeten, als ehemaliger Mitautor von »One World or None« seine Haltung zu den Atombombenabwürfen darzulegen.

Ich war Ende Juli 1945 gerade von einem etwa dreimonatigen Aufenthalt in Europa zurückgekehrt, als die Bomben auf Japan fielen. Vor meiner Abreise nach Europa hatte ich beim Manhattan District gearbeitet, wurde jedoch vom Verteidigungsministerium zu einer Sondermission nach Europa geschickt. Während ich im Pentagon noch auf die letzten Vorkehrungen für meine Reise wartete, hatte ich reichlich Zeit, mit einigen Leuten (im April 1945) darüber zu sprechen, was im Hinblick auf die bevorstehende Invasion Japans als nächstes zu erwarten wäre. Da die Japaner – Zivilisten wie Militärangehörige gleichermaßen – bei der Invasion von Okinawa erbitterten Widerstand geleistet hatten, wurde selbstverständlich angenommen, daß dies auch für das Festland gelten würde. 15 % unserer Verluste während des Krieges waren allein bei der Invasion von Okinawa zu beklagen. Die günstigste Schätzung ging davon aus, daß eine direkte Invasion Japans mindestens ein Jahr dauern würde und unsere Armee dabei möglicherweise mit Verlusten im Bereich von einer Million rechnen müßte.

Vor diesem Hintergrund hielt ich es für richtig, die Wirkung der Bombe an einer japanischen Stadt zu demonstrieren, in der Hoffnung, daß dadurch der Kaiser zur sofortigen Beendigung des Krieges bewogen werden könnte. Dieser Meinung bin ich nach wie vor. Ich kenne kein ernstzunehmendes »offizielles« Dokument, in dem die zu erwartenden amerikanischen Verluste mit lediglich 40-50.000 Soldaten angegeben wären. Die mir aus den obengenannten Gesprächen im Pentagon bekannten Schätzungen lagen weitaus höher.

Auch wenn ich durchaus bereit gewesen wäre, mit dem Abwurf der zweiten Bombe, diesmal auf Nagasaki, noch etwas abzuwarten, hatte ich keinerlei Einwände gegen Präsident Trumans Entscheidung, zumal so viel auf dem Spiel stand. Er war im Grunde human gesinnt, hatte aber eine enorme Verantwortung zu tragen. Sicher wog er die Alternativen gegeneinander ab und kam zu dem Schluß, daß der baldige Einsatz der zweiten Bombe die Handlungsweise des Kaisers entscheidend beeinflussen würde, was dann ja auch der Fall war.

Da der Krieg in Europa beendet war, bevor wir in der Lage waren zu zeigen, ob die Bombe funktioniert, stand eines im Sommer des Jahres 1945 fest: Sollte die Bombe im Zweiten Weltkrieg überhaupt zum Einsatz kommen, dann gegen Japan. Aufgrund meiner Abneigung gegen Krieg in jeder Form glaubte ich, daß alles recht war, um dem Blutvergießen ein rasches Ende zu setzen. Die Ereignisse hatten keine besondere Auswirkung auf meine Einstellung zu meiner beruflichen Tätigkeit als Physiker.

Ich gehöre zu der Gruppe von Leuten, die den Einsatz der Bomben angesichts der Umstände, die im September 1945 auf unsere Regierung zukamen, für angemessen hielt.

Ich glaube, daß die Gründe, warum viele Wissenschaftler nicht bereit waren und sind, ihre Arbeit in den Dienst nationaler oder internationaler Verteidigung zu stellen, sehr komplex sind und über eine bloße Abneigung gegen die Anwendung der Bombe hinausgehen. Allgemeine sozialpolitische Einstellungen sind hierbei entscheidender. Eine vorurteilsfreie Betrachtung dieses Themas ist sicher sehr schwierig.

Über Frederick Seitz
Frederick Seitz, geb. 1911, ist President Emeritus der Rockefeller University in New York und war in den sechziger Jahren Präsident der National Academy of Sciences in Washington, D.C. 1973 erhielt er für seinen Beitrag zur Entwicklung der Quantentheorie die höchste wissenschaftliche Auszeichnung der USA, die National Medal of Science. Zusammen mit Hans Bethe prognostizierte Seitz in dem Aufsatz „How Close is the Danger?“, 1946, im programmatischen Sonderheft „One World or None“ der Federation of American Scientists erschien: in höchstens sechs Jahren seien in anderen Ländern A-Bomben verfügbar. Im Hinblick auf die UdSSR, die 1949 die erste Waffe dieser Art testete, war die Vorhersage recht präzise.
Im Gegensatz zu Bethe – und gemeinsam mit Edward Teller, mit dem ihn ein ausgeprägter Antisowjetismus und eine Ablehnung von Rüstungskontrollverträgen verbindet – wurde Seitz in den achtziger Jahren zu einem der stärksten SDI-Befürworter. Allerdings plädierte er für möglichst bald aufstellbare – aber damit militärisch wenig wirksame – Raketenabwehrwaffen. Diese Forderung machte ihn gleichzeitg zu einem Kritiker derjenigen Reaganschen SDI-Programme, die auf einen möglichst perfekten, aber erst in ferner Zukunft stationierbaren Abwehrschirm abzielten. Auch unter den heutigen veränderten Rahmenbedingungen hält Seitz – wie Teller – angesichts der aus seiner Sicht bestehenden Bedrohungen aus der Dritten Welt Raketenabwehrwaffen für notwendig.
Das schriftliche Interview mit Dr. Frederick Seitz führte Dr. Bernd W. Kubbig. (Übersetzung: Helga Wagner.)

„Die Bombe verschonte japanische Menschenleben“

„Die Bombe verschonte japanische Menschenleben“

Hans Bethe* und die Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki

von Mary Palevsky

„Die Japaner hätten jetzt ihre Hauptinseln zu verteidigen gehabt, und die Kämpfe wären wahrscheinlich noch erbitterter gewesen“

„Wir alle zogen in den Krieg gegen Nazi-Deutschland, das wir für eine Bedrohung der ganzen Welt hielten“

Bethe hielt den Einsatz der Bombe für eine ausgemachte Sache.

„Die Bombe ist ein schlimmes Ding und wir dürfen sie niemals wieder einsetzen.“

Dr. Hans Bethe

Der zu Beginn dieses Jahrhunderts in Deutschland geborene Bethe erlebte nach dem 1. Weltkrieg aus erster Hand die nationalistische Gegenreaktion auf die harten Bestimmungen des Versailler Vertrages. Dieser Nationalismus brachte die Nazis an die Macht.

Da Bethes Mutter Jüdin war, durfte der junge Physiker nach den ersten judenfeindlichen Gesetzen nicht mehr im Staatsdienst arbeiten. Da alle Universitäten in Deutschland staatliche waren, verlor der 27-jährige Bethe seine Assistenzprofessur in Tübingen. Wie so viele Wissenschaftler, Intellektuelle und Akademiker floh er vor dem sich ausbreitenden Faschismus aus Europa.

1933 erhielt Bethe eine zeitlich befristete Anstellung in England, und 1935 übernahm er die Stellvertretung einer Assistenzprofessur an der Cornell University im Bundesstaat New York. J. Robert Oppenheimer, der Leiter des Labors in Los Alamos, fragte ihn 1943, ob er die Abteilung für theoretische Physik des Bombenprojekts leiten wolle.

Nach dem Krieg war Bethe einer der Mitbegründer der »Federation of American Scientists« und ein führender Sprecher von über das Wettrüsten beunruhigten Naturwissenschaftlern. Er war gegen die Eile, mit der die USA die Entwicklung der Wasserstoffbombe betrieben, und unterstützte einen Atomteststopp und das »Nuclear Freeze Movement«. Vehement sprach er sich gegen die »Star Wars« genannte Strategische Verteidigungsinitiative aus.

Für seine Arbeit über Kernreaktionen und vor allem seine Entdeckung der Energie freisetzenden Kernprozesse in Sternen erhielt Bethe 1967 den Nobelpreis für Physik. Heute ist er Emeritus der Cornell University, wo er kürzlich für seine 60jährige Mitgliedschaft in der Fakultät für Physik geehrt wurde.

(…)

Für Bethe gab es drei Möglichkeiten, den Krieg im Pazifik zu beenden: Blockade, Invasion oder die Atombombe. Er glaubt nicht, daß es ohne eine dieser Optionen zu einer Kapitulation gekommen wäre. Vielmehr seien die japanischen Friedensannäherungen an Moskau von Anfang an durch Stalins expansionistische Ambitionen im Fernen Osten zum Scheitern verurteilt gewesen.

Bethe beginnt mit einer Diskussion der Option einer Blockade. „Auf dem Meer und in der Luft waren wir völlig überlegen. Die Japaner waren auf Ölimporte angewiesen; das wird auch wahrscheinlich der Hauptgrund gewesen sein, warum sie Pearl Harbor angegriffen haben. Und ohne Öl konnten sie den Krieg nicht fortsetzen.“ Eine längere Blockade hätte ein Aushungern des japanischen Volkes bedeutet.

Ein Argument gegen eine Blockade aus amerikanischer Sicht war, daß die Truppen ungeduldig nach Hause wollten. Nach der Kapitulation wäre eine noch größere Unterstützung Japans notwendig gewesen. Doch Bethes wichtigstes Argument gegen eine Blockade war die mögliche Wirkung auf die japanische Bevölkerung. „… zweifellos wäre eine Blockade erfolgreich gewesen, doch sie hätte in Japan zu starken Ressentiments geführt, ähnlich denen, die in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sind. Sie hätte wahrscheinlich für die gleichen negativen Gefühle gesorgt, die ich … Anfang der 20er Jahre erlebt habe. Der deutsche Slogan »Im Felde unbesiegt« war der Keim der Nazi-Bewegung. Ich glaube, Roosevelt und ebenso die Briten … hatten dies vor Augen, als sie die bedingungslose Kapitulation forderten. Sie wollten derlei Reden weder in Japan noch in Deutschland.“

Seine glanzvolle Karriere als amerikanischer Physiker hat Bethe weit von dem Deutschland seiner Jugend entfernt. Doch seine persönliche Erfahrung der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und des Nazi-Terrors, der aus ihr hervorgegangen ist, lassen ihn ernstlich die potentiellen Gefahren einer anhaltenden Blockade Japans in Betracht ziehen. Das gleiche Moment spielt in seinen Argumenten gegen eine Invasion der japanischen Hauptinseln (die zweite Alternative) eine wichtige Rolle. „Neuerdings wird viel darüber geschrieben, daß eine Invasion viel weniger teuer zu stehen gekommen wäre, als man früher behauptet hat. Truman und [sein Kriegsminister] Stimson haben die Zahl der möglichen Todesopfer auf eine halbe bis zu einer ganzen Million geschätzt. Ich denke, diese Aussagen sind wahrscheinlich richtig.“

Ich frage Bethe, wie er über die Diskrepanz dieser Zahlen zu den Opferschätzungen denkt, über die unlängst in der Presse geschrieben worden ist. Was er von der Behauptung mancher Historiker hält, die Schätzungen, die noch zu Kriegszeiten gemacht wurden, seien wesentlich niedriger gewesen.

Bethe antwortete: „Ich bin davon überzeugt, daß die Zahlen, die jetzt immer wieder genannt werden, der Phantasie entspringen. … Schließlich hatten wir die Erfahrung mit den Inseln [Iwo Jima und Okinawa]. Die Japaner hätten jetzt ihre Hauptinseln zu verteidigen gehabt, und die Kämpfe wären wahrscheinlich noch erbitterter gewesen.“

Obwohl ich nach den Todesopfern auf Seiten der Alliierten frage, antwortet Bethe mit einer Erörterung der möglichen japanischen Verluste. Er betont, daß im Fall einer Invasion die Zahl der gefallenen japanischen Soldaten höher gewesen wäre als die der Alliierten und daß die Opfer in der Zivilbevölkerung gewaltig gewesen wären.

Allein auf Okinawa starben 75.000 Zivilisten. Nur schattenhaft kann ich hinter dieser abstrakten Zahl das Bild der fürchterlichen Zerstörungen erkennen, das sie bedeutet. Doch als Bethe weiterspricht, erhellt sich blitzartig die grausame Realität des Krieges in meinem Bewußtsein.

„Bei einer Blockade oder einer Invasion wären die Brandbombardements fortgesetzt worden. Die Opfer [der Brandbomben] in Tokio kamen nahe an die von Nagasaki heran. Wir müssen uns vor Augen halten, daß diese Bombenangriffe Woche für Woche weitergegangen wären. Die Zahl der Toten und die Zerstörung wären um ein Vielfaches größer gewesen als die von Hiroshima und Nagasaki.“

„Und dann ist es wichtig“, fährt er fort, „über den sowjetischen Kriegseintritt zu sprechen. Wir haben die Sowjets im Februar 1945 in Jalta inständig gebeten, in den Krieg im Osten einzutreten. Das haben sie auch getan, aber erst nach Hiroshima. Ich denke, es war ein Fehler, sie darum zu bitten. Denn zu diesem Zeitpunkt, im Februar 1945, war es ja schon klar, daß wir eine Uran-235-Bombe haben würden. Es stand außer Frage, daß sie funktionieren würde. Es war nur eine Frage der Lieferung des nötigen Materials.“

„[Die Sowjets] wollten in den Krieg eintreten. Und natürlich haben sie sofort die Mandschurei erobert. Stalin wollte die nördliche Hälfte von Hokkaido erobern, das eine der Hauptinseln ist [… und] etwa ein Zehntel der [japanischen] Bevölkerung ausmacht. Wir hätten hier dieselben Schwierigkeiten gehabt wie mit der sowjetischen Besetzung in Deutschland. … Es wäre eine sehr schwierige Situation für die Japaner geworden.“

Angesichts der späteren Erfahrung, meint Bethe, seien die möglichen Probleme mit der Sowjetunion ein weiterer Beweis dafür, daß die Entscheidung für den Bombeneinsatz richtig gewesen sei. Dennoch kann er nicht der Behauptung zustimmen, die Bombardements seien Akte einer primär gegen die UdSSR gewandten »Nukleardiplomatie« gewesen. Die Bombe sei eingesetzt worden, um den Krieg schnell zu beenden und das Leben alliierter Soldaten zu retten.

Ich kenne viele in Europa geborene Wissenschaftler, die sich mit all ihrer Kraft für das Bombenprojekt eingesetzt haben, weil sie Angst davor hatten, das Dritte Reich könne dank einer Atomwaffe unbesiegbar werden.

Selbst der Pazifist Albert Einstein hatte 1939 sich mit einem Brief an Präsident Roosevelt gewandt, in dem er dafür warb, ein Atombombenprojekt ins Leben zu rufen. Später betrachtete er diesen Brief als den großen Fehler seines Lebens, dennoch meinte er, die deutsche Bedrohung hätte sein Handeln in gewisser Hinsicht gerechtfertigt.

Bethe erinnert sich: „Wir alle zogen in den Krieg gegen Nazi-Deutschland, das wir für eine Bedrohung der ganzen Welt hielten. Schließlich hatten die Nazis … Kontinentaleuropa erobert. Ich erinnere mich noch an ihren Slogan 'Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt!` Die Flüchtlinge aus Europa (und) die meisten führenden Wissenschaftler Amerikas beteiligten sich mit großer Begeisterung an einem Unternehmen, mit dem der Krieg gegen Deutschland gewonnen werden sollte.“

Auf meine Frage, ob der Sieg über Deutschland nicht die Voraussetzungen für die Entwicklung der Bombe geändert hätte, meint Bethe, er habe von Anfang an den Einsatz der Bombe für eine ausgemachte Sache gehalten. Das Ziel des Manhattan-Projektes sei der Bau einer Atombombe gewesen und der Krieg war lang und hart. Nach der Fertigstellung der Bombe würde man sie gegen Deutschland oder Japan einsetzen.

Hier befand sich Bethe im Widerspruch zu seinem Freund, dem ungarischen Physiker Leo Szilard. Szilard war die treibende Kraft hinter dem bekannten Brief an Einstein. Aber nachdem klar war, daß die Deutschen den Krieg verlieren, argumentierte Szilard, daß die Bombe, die als Verteidigung gegen die Nazis gedacht war, neu überdacht werden müsse. Er war einer von sieben Wissenschaftlern am Laboratorium, der den »Franck Report« (siehe S. 46ff.) unterschrieb. In diesem Bericht wird als Alternative zum Einsatz im Krieg gegen Japan eine Demonstration der Bombe über unbewohntem Gebiet gefordert, bei der Mitglieder der gerade gegründeten Vereinten Nationen anwesend sein sollten.

(…)

Obwohl der »Franck Report« von einigen Wissenschaftlern des Manhatten-Projektes unterstützt wurde, teilte Bethe mir mit, daß er dieses niemals in Erwägung gezogen hat.

„Eine Demonstration hätte keine Wirkung gezeigt. Sie wäre wahrscheinlich von einigen [japanischen] Militärs gesehen worden. Doch es war ziemlich unwahrscheinlich, daß sie den Kaiser unterrichtet hätten. Und der Kaiser war der Schlüssel für die Kapitulation. Ohne ihn hätte der Krieg noch viel länger gedauert.

Die japanischen Militärs waren Fanatiker. … Im Kabinett saßen drei Militärs und drei Zivilisten als Minister. Selbst nach Hiroshima, als [die] drei Zivilisten für die Kapitulation waren, wollten [die] drei Militärs noch immer weitermachen. Und dann entschied der Kaiser: 'Wir ergeben uns. Ich kann dieser Zerstörung von einer Stadt nach der anderen nicht weiter zusehen.` Für mich sieht es so aus, daß der Krieg mit einer Demonstration nicht hätte beendet werden können.“

Und so kommt Bethe auf die dritte Option zu sprechen: den Einsatz des Kernsprengsatzes und dies nicht zu Demonstrationszwecken, sondern, wie ursprünglich geplant, als Bombe, die in der Lage wäre, eine ganze Stadt zu zerstören.

Zu meinem Erstaunen kann Bethe dem Einsatz der Atombombe noch eine weitere Dimension abgewinnen. „Sie schien etwas Übernatürliches zu sein. Durch die Bombe wurde es für die Japaner möglich, sich in Ehren zu ergeben. Sie konnten noch sagen: 'Wir haben sehr gut gekämpft, aber da war etwas, dem wir nicht gewachsen gewesen sind – wir mußten uns ergeben.`“

(…)

Die Erleichterung der Kapitulationsentscheidung ist Bethes letztes Argument für die Bombe. Schrecklich und schnell sei der Krieg beendet worden – und zwar so, daß ein stabiler Frieden möglich blieb. „Als wir an Bord der [U.S.S.] Missouri [in der Bucht von Tokio] ankamen, hielt General MacArthur eine sehr bewegende Rede, die einige der anwesenden hochrangigen Japaner sehr beeindruckte – keine Rache, keine bösen Gefühle, jetzt werden wir in Frieden leben.“ Im Gegensatz zu der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg habe man also jedes Ressentiment vermieden, das zu einem Wiederauferstehen des Militarismus hätte führen können.

Bethe faßt schließlich zusammen: „Ich habe eine Menge Argumente dafür, daß es den Japanern mit den beiden Bomben besser ergangen ist, als es sonst – bei einer Blockade oder bei einer Invasion – der Fall gewesen wäre. Und das ganz unabhängig davon, daß im Fall einer Invasion die Russen wahrscheinlich einen Teil Japans erobert hätten.“

(…)

Die Vorstellung, daß es den Japanern durch die verheerenden Atombombenabwürfe besser ergangen sein soll, ist schwer für mich zu akzeptieren. Beunruhigende Fragen bleiben. Ich frage Bethe, was er mit „den beiden Bomben“ gemeint hätte, ob es für ihn klar gewesen sei, daß die Bombardierung von Nagasaki notwendig sein würde. „Vielleicht nicht“, meint er. „Einen halben Tag vor Nagasaki beschloß der Kaiser die Kapitulation. Doch diese Entscheidung war in Washington nicht bekannt. Erst nach Nagasaki wurde sie über Radio Tokio verkündet.“

Ich bemerke, daß die Japaner noch unter dem Schock von Hiroshima standen und vor Nagasaki nicht genügend Zeit gehabt hätten zu reagieren. Die zweite Bombe hätte nur dann nicht eingesetzt werden sollen, wenn Truman dies ausdrücklich anordnen würde. Der Befehl des Präsidenten sei also für den Abwurf der Bombe überhaupt nicht mehr relevant gewesen, sondern nur für dessen Verhinderung.

Er meint: „Sie haben vollkommen recht. Die zweite Bombe hätte vielleicht vermieden werden können. Leider lag die Entscheidung für diesen Einsatz nicht bei Truman. Es ist möglicherweise ein Fehler gewesen, die Order so zu erteilen, weshalb die Entscheidung dem Kommandierenden vor Ort überlassen blieb.“

(…)

Neben Hiroshima und Nagasaki ist der Atompilz zu einem Symbol unserer Fähigkeit geworden, uns gegenseitig mit einem Schlag zu töten.

Im Bild der Bombe ist die schreckliche Realität des Krieges eingeschlossen. Es erinnert uns daran, daß wir heute die Möglichkeiten besitzen, die Welt zu vernichten. Ich sage zu Bethe, daß Menschen meinen könnten, daß dies eigentlich kein Grund zum Feiern sei.

Ich hatte erwartet, er würde die Logik seiner Argumente verteidigen. So bin ich über seine Antwort überrascht: „Ich bin mit Ihnen völlig einer Meinung. Die Bombe ist ein schlimmes Ding, daran besteht kein Zweifel. Und meine erste Reaktion nach Hiroshima war: Wir dürfen sie niemals wieder einsetzen … . Gleich nach der Kapitulation habe ich mich völlig der Rüstungskontrolle gewidmet. Doch nachdem einmal die Kernspaltung entdeckt worden war und man sich im Krieg befand, stand es von vornherein fest, daß die Bombe gebaut würde.“

Mir kommt J. Robert Oppenheimers berühmte Äußerung in den Sinn, die Atomwissenschaftler hätten „die Sünde kennengelernt“. Ich frage Bethe, was sein Freund damit gemeint habe. „Ich denke, der Satz ist richtig. Und er [Oppenheimer] sagte im gleichen Zusammenhang, daß man eines Tages den Namen »Los Alamos« verfluchen werde. Das stimmt, weil dieses schlimme Ding auf die Welt gekommen ist und auch ohne die japanischen Städte noch immer da ist.“

Und er fügt hinzu: „Ich möchte noch eine weitere Äußerung erwähnen, die auf der anderen Seite steht. Anläßlich des 40. Jahrestags … sagte ein Wissenschaftler von Los Alamos: ,Wegen Pearl Harbor geschah es ihnen recht.` Dem kann ich nicht zustimmen. Ich denke, dieser Wissenschaftler ist noch nicht der Mentalität des Krieges und seiner blinden Brutalität entwachsen.“

Als ich bemerke, daß das nicht in die bequemen Kategorien passen will, mit denen wir dem Nachdenken über unangenehme Dinge aus dem Weg gehen, entgegnet Bethe: „Meine Frau hat von mir gesagt, ich sei eine Taube, aber eine mit Haaren auf den Zähnen.“

Ich frage Bethe, wie er als Wissenschaftler, der mitgeholfen hat, das Übel der Bombe auf die Welt zu bringen, seine eigene Verantwortung sieht. „Nun – ich habe da einen pragmatischen Standpunkt. Was hätte den Japanern am wenigsten Leid zugefügt? Sie [die Bombe] verschonte japanische Menschenleben. Ich denke, das ist mein wichtigstes Argument.“

Anmerkung

Der vollständige Artikel von Mary Palevsky erschien am 25.6.1995 unter dem Titel „Tough Dove. Hans Bethe and the Birth of the Bomb“ in der »Los Angeles Times«. Wir danken Herrn Bethe und Frau Palevsky sehr herzlich, daß wir die Abdruckrechte für die Auszüge aus diesem Artikel erhielten. Den Artikel schrieb die Autorin auf der Grundlage von zwei langen Interviews und einigen Telefongesprächen mit Herrn Bethe.

Über Hans Bethe

Hans Bethe, geb. 1906 in Straßburg, gehört weltweit zu den herausragenden Physikern dieses Jahrhunderts. „Ich fand heraus, warum die Sonne scheint, und dafür bekam ich (1966) den Nobelpreis“, erklärte er am 25. Oktober 1984. Bethe, Leiter der Theoretischen Abteilung im Manhattan-Projekt, war einer der wichtigsten Wissenschaftler des Atombombenprogramms der USA, in die er bereits 1933 emigrieren mußte.

Seit 1935 war Bethe bis zu seiner Emeritierung an der Cornell University, in seinem Arbeitszimmer im Newman Laboratory ist er auch heute noch tagtäglich anzutreffen. In einem im Herbst 1993 geführten Gespräch erklärte er, daß die Atombombenabwürfe neben der Flucht aus dem Dritten Reich für ihn eine der wichtigsten Ereignisse seines Lebens darstellten.

In seinen schriftlichen Äußerungen merkt man allerdings hiervon nichts. In der repräsentativen Aufsatzsammlung „The Road from Los Alamaos“ (New York u.a. 1991) kommt Hiroshima praktisch nicht vor. Als die Redaktion des »Bulletin of the Atomic Scientists« ihn 1985 bat, für das Hiroshima-Sonderheft einen Beitrag zum Thema »Rückblicke« zu verfassen, reichte Bethe den rüstungskontrolltheoretisch orientierten Aufsatz „The technological imperative“ ein. Im Vorwort zu Martin Sherwins Studie „A World Destroyed“ (New York 1975), geht er kurz auf die Abwürfe ein, wobei er das Bombardement von Nagasaki als „in any case unnecessary“ (S.xiv) bezeichnet. In dem langen Interview (das Transkript umfaßt 168 Seiten), das er im Herbst 1967 gab, kommt in der ersten Sequenz mit Charles Weiner und Jagdish Mehra das Thema »Hiroshima« nicht vor. Im zweiten Gesprächsabschnitt mit Weiner verweist Bethe (Transkript, S. 164) lediglich auf die 1965 erschienene Studie von Alice Kimball Smith „A Peril and A Hope“ (The University of Chicago 1965) hin. Seine Bemerkung ist knapp: er könne nichts hinzufügen. Bethes Gespräch mit Lillian Hoddeson vom Frühjahr 1981 widmet sich ausschließlich naturwissenschaftlichen Fragen.

Bethes Sprachlosigkeit macht umso deutlicher, wie sehr Hiroshima ihn innerlich nicht mehr losgelassen hat, auch wenn er in einem Telefongespräch im Frühsommer 1995 meinte, das Thema verfolge ihn nicht. Allerdings sprechen Hans Bethes zahlreiche und beständige Aktivitäten als Berater amerikanischer Präsidenten und Administrationen Bände. Bethe wird in allen großen Sicherheitsdebatten der USA – von der H-Bombe über den begrenzten Teststopp bis hin zu SDI – zu einem führenden Verfechter von Rüstungskontrolle und zu einem Leitbild für eine ganze Generation von rüstungsskeptischen Physikern.

„Zunächst waren wir glücklich“, antwortete er auf die Frage nach seiner ersten spontanen Reaktion auf die Abwürfe. Nachdem er jedoch die Bilder gesehen habe, war er darüber schockiert, was für ein „schreckliches Ding“ die Bombe sei. Ungeachtet, ob Bethes Aktivitäten und Positionen auf einen Schuldkomplex zurückzuführen sind (wie Teller meint) oder nicht (Oppenheimer hatte laut Bethe einen, der Cornell-Physiker ist sich aber nicht sicher, ob das auch für ihn gilt): das Plädoyer für Rüstungskontrolle ist Bethes sichtbarster Beleg für sein Lernen aus Hiroshima, dessen Bombardierung er nach wie vor rechtfertigt. Die Devise für seine Arbeit blieb, darauf hinzuwirken, daß A-Bomben nie wieder eingesetzt werden. „Heute kann ich nur sagen, daß Nuklearwaffen nicht eingesetzt werden dürfen“, sagte er in einem Telefoninterview im Frühsommer 1995.

An Hans Bethe und seine Position sind jedoch einige Fragen zu richten, die, wenn überhaupt, teilweise wohl nur ein sorgfältiger Biograph wird beantworten können, der Zugang zu den noch verschlossenen Los Alamos-Dokumenten im Bethe-Archiv hat: Sind dies seine Argumente damals auch schon gewesen (ist nicht die Betonung auf das

Menschenleben neueren Datums)? Wie intensiv sind alle jene Fragen in Los Alamos wirklich schon erörtert worden? Was ist spätere Reflexion – und möglicherweise Rechtfertigung? Zu beachten ist auch, daß in den Sitzungen des entscheidenden „Interim-Ausschusses“, der Truman den Einsatz der Bombe empfahl, nur einmal das Für und Wider einer Demonstration erörtert wurde – und das auch nur während eines Mittagessens am 31. Mai 1945. Zu fragen ist auch, ob Bethe jemals erwogen hat, das Los Alamos-Projekt zu verlassen, nachdem klar war, daß die Bomben nicht gegen Nazi-Deutschland, sondern gegen Japan eingesetzt würden?

Mary Palevsky (Kalifornien)

Soweit ersichtlich, hat sich Hans Bethe zum ersten Mal im Gespräch mit Mary Palevsky Granados von der »Los Angeles Times« mit diesen Fragen ausführlich für die Öffentlichkeit befaßt. Bernd W. Kubbig

Hiroshima, Nagasaki und die Rolle der Naturwissenschaftler

Hiroshima, Nagasaki und die Rolle der Naturwissenschaftler

Der gegenwärtige Forschungsstand im Spiegel neuerer Literatur

von Bernd W. Kubbig

Mit dem Bau der Atombombe und dem Abwurf der ersten beiden Exemplare »Little Boy« und »Fat Man« geriet plötzlich die Berufsgruppe der Naturwissenschaftler, vor allem die der Physiker, in das Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Ohne sie wäre diese Waffe, die die Möglichkeiten der Zerstörung revolutionierte, nicht zustande gekommen. Nur sie verfügten über die naturwissenschaftlichen Grundkenntnisse, nur sie besaßen die technischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, dieses Wissen anzuwenden. Physiker waren es, die das gewaltige Manhattan-Projekt durch Einsteins berühmten Brief vom 2. August 1939 an Präsident Roosevelt ins Rollen brachten.1

Roosevelt setzte Einsteins Forderung um, und fortan stand der Bau der Bombe unter dem Primat politisch-militärischer Imperative, denen sich die Naturwissenschaftler organisatorisch ein- und unterordneten, denen sie aber auch wieder neue Impulse und eine neue Dynamik verliehen. Denn Naturwissenschaftler waren an führender Stelle an der organisatorischen Durchführung des Manhattan-Projekts beteiligt, und sie saßen in den entscheidenden Zentren der Macht, die über den Abwurf der ersten beiden Bomben befanden.

Es ist nicht verwunderlich, daß die beispiellose Rolle und Bedeutung der Naturwissenschaftler bald zum Gegenstand der historiographischen, politikwissenschaftlichen und soziologischen Forschung wurde, die eine unübersehbare Literatur produziert hat. Die Flut von Büchern und Artikeln ist auch in den letzten fünf Jahren nicht zurückgegangen. Obwohl die frühere Forschung wichtige Fragen beantwortet hat, sind andere kontrovers geblieben und neue hinzugekommen. Viele Publikationen der letzten fünf Jahre wiederholen aber oftmals nur empirisch längst bekannte Sachverhalte.

Dieser Aufsatz konzentriert sich in den vorgestellten Publikationen zur Hiroshima/Nagasaki-Frage auf Aspekte, die die Rolle, das Selbstverständnis und die Aktivitäten der Naturwissenschaftler sowie ihren Umgang mit den Abwürfen betreffen. Die sowjetischen und deutschen Physiker berücksichtigt dieser Artikel mit. Diese Dimensionen werden zunächst in den breiteren Forschungszusammenhang eingebettet.

Wer sich einen Überblick über den – abnehmenden – Einfluß der US-Naturwissenschaftler bei »kardinalen Entscheidungen« im Bereich Sicherheit seit dem Bau der A-Bombe bis zu SDI verschaffen möchte, dem sei die Studie von Gregg Herken empfohlen (Herken 1992). Wie in seinen früheren Arbeiten erweist sich der US-Zeitgeschichtler in dieser nicht systematisch, sondern chronologisch angelegen Ansammlung von Fallstudien erneut als guter Sachkenner und Stilist. Den Gründen für den Einflußverlust der einst gefürchteten »scientific-technological elite« hätte der Autor allerdings mehr Aufmerksamkeit widmen können.

Seine untersuchten Entscheidungen lassen weitere systematische Schlußfolgerungen zu – beispielsweise, daß »trans-scientific decisions«, in denen nun einmal die politische Dimension die technischen Aspekte dominiert, unterschiedlichem Rat, divergierenden Deutungen und konträren Interessen Tür und Tor öffnen. Unverkennbar ist auch, daß viele Entscheidungssituationen und die angeforderte technische Expertise durch Ambivalenz und interpretationsbedürftige »Wenn-dann-Annahmen« gekennzeichnet sind. Das politische System in den USA – und anderswo – hat sich sehr bald gegen die heterogene »Wissenschaftlergemeinde« und ihre Pro- und Contra- Empfehlungen zu wehren gewußt. Politiker und Bürokraten verstanden es, Naturwissenschaftler für ihre Zwecke zu instrumentalisieren (»Pick-your-scientist-Syndrom«).

Der Forschungszusammenhang

Es hat auf das Jahr genau zwei Dekaden gedauert, bis die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki in den USA einen Historikerstreit auslösten. Dies geschah, als Alperovitz seine Studie »Atomic Diplomacy« veröffentlichte und mit einem Paukenschlag die »revisionistische Geschichtsschreibung« in der Hiroshima-Forschung einleitete. Kaum ein Werk über ein zeitgeschichtliches Thema hat ein so großes Echo gefunden, Forschungsaktivitäten in Gang gebracht und Widerspruch geerntet, vor allem in den eigenen Reihen der in sich heterogenen »revisionistischen Schule« der amerikanischen Geschichtsschreibung. 1985 brachte Alperovitz eine revidierte Fassung heraus2, und pünktlich zum 50. Jahrestag der atomaren Doppel-Katastrophe wird ein neuer umfangreicher Band erscheinen. Es bleibt abzuwarten, ob der Historiker sein Versprechen, mit neuen Dokumenten die alte These von 1965 zu untermauern, einlösen wird.3

Diese These lautet: Die Atombomben wurden in erster Linie aus politisch-diplomatischen Gründen abgeworfen, um die Sowjetunion zu beeindrucken und sie bei einer Aufteilung der Interessensphären zu Konzessionen zu bewegen. Deshalb habe die Truman-Administration andere Optionen nicht verfolgt: die japanischen Friedensgesten auszuloten; die Kapitulationsbedingungen für Tokio annehmbarer zu machen; auf den Kriegseintritt der Sowjetunion zu warten; die Macht der Atombombe über einem unbewohnten Gelände zu demonstrieren.

Die »orthodoxe Schule« der US-Geschichtswissenschaft hingegen vertrat bis dahin unisono die Auffassung, die Atombomben seien praktisch ausschließlich aus militärischen Gründen abgeworfen worden, um das Ende des Zweiten Weltkrieges in Asien zu beschleunigen, in jedem Falle aber herbeizuführen; dies habe den Vereinigten Staaten die geplante Invasion Japans erspart und damit vielen US-Soldaten das Leben gerettet.

Bis 1965 hatte sich die Forschung von dieser verengten Frage anleiten lassen. »Atomic Diplomacy« erweiterte die »Forschungslinse« beträchtlich und machte die Beantwortung anderer Fragen dringlich: Welche Faktoren bestimmten die schicksalsschwere Entscheidung Präsident Trumans und warum war der Einsatz der A-Bombe für die relevanten Politiker attraktiver als andere Alternativen? Die Öffnung neuer Archive zentraler Enscheidungsträger – unter ihnen die Tagebücher von Kriegsminister Stimson und Teile der Papiere von Roosevelt und Truman – eröffneten eine neue empirische Forschungslage.

Aus der Fülle der durch Alperovitz angeregten Publikationen, die sich konstruktiv an der »Atomic Diplomacy«-These abarbeiteten und neues Material mit verarbeiteten, ragen zwei 1975 erschienene, unterschiedlich angelegte Studien heraus. Martin Sherwins Monographie „A World Destroyed“ und Barton Bernsteins umfassender Literaturbericht.4 Sherwin erklärte in seinem Buch die Entscheidung damit, daß die wichtigen Politiker den Einsatz der A-Bombe als legitim ansahen und nicht grundsätzlich hinterfragten; Truman übernahm diese »Erbschaft« von seinem Vorgänger Roosevelt. Ansonsten bestätigte Sherwin die »orthodoxe Schule« insofern, als für die maßgebliche Elite das militärische Motiv der Kriegsbeendigung von vorrangiger Bedeutung gewesen sei.

Allerdings hätten politisch-diplomatische Interessen durchaus eine Rolle beim Abwurf der Bombe gespielt; Sherwin hielt sie jedoch für sekundär. Ohne der Truman-Administration »teuflische Motive« zu unterstellen, bedauerte der Historiker, daß die US-Regierung Alternativen nicht ernsthaft geprüft habe. Die Lockerung der »bedingungslosen Kapitulations«-Formel hätte möglicherweise die Bombardierung Hiroshimas nicht notwendig gemacht. In einem sechs Jahre später erschienenen Aufsatz bewertete Sherwin die Truman-Administration viel härter und bewegte sich stärker auf Alperovitz zu: Der Präsident habe sich gegenüber der Kapitulationsbedingung zum einen aus innenpolitischen Gründen nicht flexibel gezeigt; zum anderen zog Truman es vor, die neue Waffe zur Stärkung der US-Position gegenüber der UdSSR einzusetzen.5

Barton Bernstein, der differenzierteste und abwägendste Kenner der Materie, unterstreicht ebenfalls, daß a) die führenden Politiker und Bürokraten zu keinem Zeitpunkt auf den Einsatz der Bombe verzichten wollten; b) sie hauptsächlich die Absicht hatten, den Krieg zu beenden und Menschenleben zu retten; c) sich vor allem Truman, Außenminister Byrnes und Stimson einen »bonus« davon versprachen, die UdSSR mit der »atomaren Karte« einzuschüchtern – aber dieses Motiv sei von untergeordneter Bedeutung gewesen. Bernstein zufolge hätten die damaligen Entscheidungsträger – ungeachtet, ob das aus heutiger Sicht zu bedauern ist oder nicht – keinen Grund gesehen, Alternativen ernsthaft zu verfolgen.6

Alperovitz und Bernstein, die Protagonisten dieses permanenten amerikanischen Historikerstreits, haben seitdem ihr so abgestecktes Terrain verteidigt. Sie haben ihre Auffassungen in einer Vielzahl von Publikationen variiert und modifiziert, aber nicht korrigiert, sondern im Gegenteil zu erhärten versucht. Die Auseinandersetzungen haben in den letzten Jahren zum Teil bizarre Formen angenommen – etwa, wenn der Streitpunkt ein Komma ist.7 Dies spiegelt den Zustand der um sich selbst kreisenden amerikanischen Hiroshima-Forschung wider, in der die längst markierten großen Linien nur durch neue, revolutionäre Funde verschoben werden könnten, die die Forschung im Sinne der einen oder anderen Auffassung voranbringen und strittige Fragen klären. Bezeichnenderweise kommt die Rolle von Naturwissenschaftlern in diesen Kontroversen nicht vor.

Die Auseinandersetzungen zwischen beiden »Richtungen« konzentrieren sich derzeit auf methodische Fragen und Interpretationen – wie also Dokumente im Sinne der unterschiedlich gewichtenden »Lehrmeinungen« gedeutet werden können. Hierzu gehören beispielsweise die persönlichen Tagebücher Trumans oder Erklärungen führender Politiker und Militärs wie Eisenhower. Hier geht es aber nicht nur um akademische Eitelkeit und Rechthaberei. Die Tagebücher Trumans etwa lassen durchaus unterschiedliche Deutungen zu; nach Hiroshima und Nagasaki geäußerte Zweifel hoher Politiker an den Atombombenabwürfen beantworten nicht zwangsläufig die Frage, was sie vor dem 6. August 1945 dachten; die Einschätzung, wie wichtig die Bombe war, um das Kriegsende zu beschleunigen, enthält notwendigerweise spekulative Elemente, die sich teilweise auch in Zukunft allenfalls durch spektakuläre empirische Funde von großer Eindeutigkeit werden beantworten lassen.

In diesem Streit spricht mancher empirische Fund für die »Atomic Diplomacy«-These. Alperovitz muß sich jedoch zuweilen den Vorwurf des methodisch oft saubereren Bernstein gefallen lassen, daß er die prä- und post-Hiroshima-Perspektive undeutlich voneinander trennt. Bernstein hat auch kritisch angemerkt, daß Alperovitz' verständliches normatives Interesse ihn dazu verleitet, a) die Schicksals-Entscheidung vom Sommer 1945 aus ihrem historischen Kontext des Kriegszustandes und Japanhasses zu sehr zu lösen, und b) die beklagenswerten, aber dennoch politikmächtigen Traditionen vom legitimen Einsatz der Bombe zu unterschätzen. Der berechtigte Wunsch, es hätte anders kommen mögen und die Analyse der Gründe, die zur Bomben-Entscheidung führten, dürfen nicht vermischt werden.

Auch wenn unter den beiden Protagonisten Dissens darüber besteht, wie der gegenwärtige Konsens der US-Historikerzunft in der Hiroshima-Frage zu definieren sei (die Art, wie beide Seiten die Konsens-Beschreibung des als Autorität vielfach herbeigerufenen Samuel Walker unterschiedlich interpretieren, ist ebenfalls bizarr): Hier soll mit Walker8 der »consensus among scholars« festgehalten werden, wonach

  • „die Bombe nicht notwendig war, um eine Invasion in Japan zu vermeiden und den Krieg in verhältnismäßig kurzer Zeit zu beenden“ (was immer Walkers unpräzise Zeitangabe hier meint, die von Alperovitz im übrigen nicht mitzitiert wird);9
  • „es klar (sei), daß es Alternativen zur Bombe gab und daß Truman und seine Berater dies wußten“;
  • „kein Wissenschaftler Alperovitz' These, daß politische Erwägungen die Bomben-Entscheidung diktierten, in unveränderter Form übernommen hat“;
  • „der Konsens von Mitte der siebziger Jahre weiterhin vorherrscht, demzufolge die Bombe primär aus militärischen und sekundär aus politischen Gründen eingesetzt wurde“;
  • „es innerhalb dieses breiten Konsenses genügend Raum für Uneinigkeit und unterschiedliche Gewichtungen gibt“.

Auch andere Historiker gehen in ihrer Darstellung vom Kriegsende im Pazifik und der Beurteilung des fatalen US-Beschlusses von diesen unterschiedlichen Prämissen aus. In seiner großangelegten Studie, die hier nicht gewürdigt werden kann, läßt sich Gerhard L. Weinberg von der Auffassung leiten, daß für die Truman-Administration das Ziel der Kriegsbeendigung „zum damaligen Zeitpunkt das wichtigste Anliegen“ (S. 923) war (Weinberg 1995). Den Gegenakzent setzt auf mindestens so plausible Weise Wieland Wagner, der in seinem prägnanten Aufsatz „Das nukleare Inferno: Hiroshima und Nagasaki“ in einem von Michael Salewski herausgegebenen Band ebenfalls die wichtigste Literatur berücksichtigt (Salewski 1995, S. 72-94).

Der skizzierte Streit unter einigen wenigen US-Historikern hat sich in den letzten Jahrzehnten jenseits der breiten Öffentlichkeit vollzogen. Das hat sich im Zuge der in den Medien seit 1994 bitter ausgetragenen Kontroversen um die offizielle »Enola-Gay-Ausstellung« im National Air and Space Museum in Washington, D.C., abrupt geändert. Hier findet der Historikerstreit sein popularisiertes wie hochpolitisiertes Pendant, allerdings bar aller Differenzierungen und Nuancierungen. Zum 50. Jahrestag der Abwürfe ist aus jenen rituellen Auseinandersetzungen zwischen den Protagonisten ein erbitterter Kampf zwischen der Air Force Association, der American Legion und ihren Verbündeten gegen engagierte Rüstungskontroll- und Abrüstungsbefürworter geworden. Die Vergangenheit holt im Jahr 1995, dem Jahr des Rückblicks und der Erinnerungen, auch die USA ein, die bisher als einziges Land A-Bomben abgeworfen haben, und rüttelt an den Grundfesten des Selbstverständnisses und der Moralität. Die »Enola-Gay-Ausstellung« ist inzwischen entpolitisiert worden und hat mit dem ursprünglichen Konzept nichts mehr gemein.

Der Streit unter den Historikern wird indes auch in der Öffentlichkeit verstärkt weitergehen. Dafür dürfte allein das auf Provokation angelegte Buch von Robert P. Newman „Truman and the Hiroshima Cult“ sorgen, das termingerecht im August erscheinen wird (Newman 1995). Es ist auf den Kontext der öffentlichen Debatte hin geschrieben und liest sich wie ein Skript der Bomben-Befürworter. Aus politischen Gründen muß dieses Buch deshalb ernst genommen werden.

Warum warf Truman die Bombe? War Japan bereit, zu kapitulieren? War die Politik der bedingungslosen Kapitulation gerechtfertigt? Warum gab es keine Warnung oder Demonstration? War die zweite Bombe notwendig, um den Krieg zu beenden? War der Abwurf dieser Bomben moralisch gerechtfertigt?

Das sind Newmans Fragen. Wer hätte nicht gern eine eindeutige Antwort darauf! Newman hat sie. Das Buch ist griffig geschrieben, setzt sich durchaus mit Gegenargumenten auseinander und kommt an jedem Kapitelende zu einer klaren Aussage. So einfach ist das in einem Manifest, das sich weniger als „archive centered effort“ (S.XV) versteht, sondern als Buch einseitiger Deutungen angesehen werden muß.<>

Newman, emeritierter Kommunikationswissenschaftler an der Universität von Pittsburgh, hat das Buch gegen einen Historiker – Gar Alperovitz – und seine Mitstreiter geschrieben, die scheinbar homogene Gruppe der »Hiroshima cultists«. Newman versucht das Rad des historiographischen Diskurses zurückzudrehen und fällt hinter den erreichten Konsens zurück. Denn die von ihm angegriffene »Atomic Diplomacy«-These versucht er zu ignorieren. Anstatt sich mit ihr auseinanderzusetzen, ist er bestrebt, Alperovitz' Auffassung auszuhebeln, indem er erklärt, wie es zu ihr kam: Es war das »American terror bombing« in Vietnam, das viele auf den »Hiroshima guilt trip« brachte (S.183). Eine solche Vorgehensweise ist unseriös, wenn nicht infam. Newmans Buch ist – auch wenn man mit Alperovitz in vielem nicht übereinstimmt – eine neue Variante jener Literatur, die früher bereits seine Studie als ein Werk »kreativen Schreibens« abtun wollte.10

Hier soll das Kapitel im Mittelpunkt stehen, in dem sich Newman mit den folgenden Fragen befaßt: Hätte die Demonstration einer Bombe die Japaner zur Kapitulation gezwungen oder das Ende des Krieges beschleunigt? Hätte sie innerhalb des Kriegskabinetts in Tokio die Fraktion der Kompromißbereiten gegenüber den »hardlinern« gestärkt? Hierauf läßt sich keine endgültige Antwort geben, weil die Geschichte nun einmal ihren alternativen Verlauf nicht enthüllt. Newman hat aber auch hier eine klare Antwort: „Die Alternative einer Demonstration war bankrott.“ (S. 96)

Führende Wissenschaftler wie Conant und Compton sprachen sich als Mitglieder des hochrangigen »Interim Committee« (siehe unten) damals gegen eine solche Option aus, ähnlich Hans Bethe. Ihre Gründe, die nicht leicht von der Hand zu weisen sind, macht sich Newman zu eigen. Wenn man die Japaner warnte, bevor die Bombe demonstriert wurde, könnten sie das Flugzeug mit der Waffe an Bord abschießen; ihr Mechanismus könnte versagen; sie könnte ein Blindgänger sein, für die es keinen schnellen Ersatz gab, da in Los Alamos nur zwei Waffen relativ rasch fertiggestellt werden konnten, während es mehrere Wochen gedauert hätte, bis eine dritte einsatzbereit gewesen wäre.

Keinem Geringeren als Oppenheimer sind im Nachhinein Zweifel an seinem damaligen klaren Ja zum Abwurf der Bombe und zu seiner Skepsis gegenüber einer technischen Demonstration gekommen. Newman tut die oft zitierten Worte Oppenheimers, die Physiker „didn't know beans about the military situation in Japan“ (S. 92) mit der zynischen und durch nichts belegten Behauptung ab: Die Naturwissenschaftler seien noch „nicht infiziert gewesen“ (S. 93) von der Hypothese des Strategic Bombing Survey von 1946, derzufolge Japan bereit zur Kapitulation gewesen sei. Des weiteren führt er Leo Szilard als Kronzeugen gegen eine Demonstration an, aber er bricht das Zitat ab (S. 93f.) und wird der Argumentation des damals engagiertesten Befürworters einer Demonstration nicht gerecht – bei allen Zweifeln, die Szilard im Nachhinein an dieser Option gekommen sein mögen.11

Eingehend untersucht der streitbare Kommunikationswissenschaftler in diesem sprunghaften Kapitel den „heiligen Text der Anti-Atombewegung“ (S. 87), den Franck-Report (siehe S. 46<0><|><>ff. in diesem Heft). Er arbeitet durchaus schwache Punkte dieses dennoch wichtigsten Versuchs von sieben in Chicago arbeitenden Naturwissenschaftlern heraus, die Entscheidungsträger in Washington von einem Abwurf möglichst abzubringen. Dabei fällt Newman jedoch hinter die Autoren zurück, die sich bereits kritisch mit dem unter der Leitung von Chemie-Nobelpreisträger James Franck zustande gekommenen Report auseinandergesetzt haben – sei es, daß Newman nicht systematisch vorgeht wie sie12, die Bandbreite der möglichen Alternativen nicht diskutiert und auch entscheidende Schwächen der »scientists« nicht benennt13, sei es, daß er nicht differenziert genug ist und die Leistungen des Berichts nicht anerkennt14.

Zu spät in ihren Initiativen, zu unpräzise in ihren Empfehlungen und zu unkoordiniert in ihrer Kontaktaufnahme mit Politikern – so läßt sich aus meiner Sicht die Kritik an den Verfassern des Franck-Reports zusammenfassen. Sie haben es den Befürwortern eines Abwurfs sehr leicht gemacht. Newman kritisiert zu Recht, daß es unter den Gremien, die die Wissenschaftler in Chicago einrichteten, um die »atomare Frage« zu erörtern, keinen Ausschuß gab, der sich mit den Abwürfen auf Japan intensiv befaßte. Der Franck-Report war und ist ein bedeutendes rüstungskontrollpolitisches Manifest, ein detaillierter technischer Bericht über die Durchführung und die Vorzüge einer Demonstration aber ist er nicht. Ein solche gründliche Evaluierung, mit der die »scientists« ihre vielbeschworene einzigartige Expertise hätten einbringen können, blieb aus (Edward Teller hat dieses Versäumnis in seinem Frankfurter Vortrag besonders kritisiert). Er hätte die Entscheidungsträger in Washington wohl am ehesten unter Druck setzen können, ihrerseits Alternativen zum Abwurf der Bombe intensiv zu untersuchen.

Den Autoren des in einigen Tagen zusammengezimmerten Berichts ging es in erster Linie darum, die langfristigen Negativ-Auswirkungen der A-Bombe in Form des Rüstungswettlaufs zu vermeiden. Gleichzeitig forderten die Verfasser internationale Kontrollregelungen. Die kurzfristig anstehende Frage der Abwürfe auf Japan war von untergeordneter Bedeutung. Beide Dimensionen werden im Report verknüpft – am Morgen nach einer Demonstration gehe das Wettrüsten los, wenn es nicht zu einer internationalen Abmachung komme. Der Bericht vermischt die lang- und kurzfristigen Aspekte aber auch und präsentiert den Entscheidungsträgern schwer zu vergleichendende Folgen, die Newman – und mehrere Autoren vor ihm – zu recht kontrastiert: der Abwurf, so der Bericht einerseits, könnte kurzfristig Menschenleben retten und den Krieg verkürzen; der Verzicht auf ein atomares Bombardement könnte andererseits einen Rüstungswettlauf hinauszögern und langfristig amerikanische Menschenleben schonen.

Es fällt nicht schwer, zu erraten, wie sich die Politiker und Bürokraten in der damaligen Situation entschlossen hätten. Newman führt den Ansatz und die unterschiedlichen Gewichtungen des Franck-Reports auf den »Eurozentrismus« unter den Autoren zurück. Dies überzeugt aus zwei Gründen nicht. Erstens waren nur zwei der sieben Verfasser – Franck und Szilard – europäische Emigranten; zweitens ist es Szilard gewesen, der den Japan-Aspekt überhaupt in den Report – und in die damalige Diskussion – hineingebracht hat.15 Im Rückblick hat der Physiker es jedoch als größtes Versäumnis angesehen, daß die Niederlage Japans nicht genug erörtert worden sei, wobei er hinzufügte, daß der Krieg mit politischen Mitteln hätte beendet werden können und daß die Abwürfe nicht notwendig gewesen seien.

Aus heutiger Perspektive ist es leicht, den kritischen Naturwissenschaftlern von damals Versäumnisse anzulasten. In der früheren Literatur ist die – müßige – Frage gestellt (und tentativ bejaht) worden, ob die Physiker den Einsatz der Atomwaffen hätten verhindern können – etwa wenn Franck vor dem »Interim Committee« erschienen wäre, um eine Demonstration ausführlich zu erörtern.16 Skepsis ist angebracht. Denn in den entscheidenden Sitzungen des Ausschusses wurde diese Option nur einmal – am 31. Mai 1945 – und auch damals nur eilig und nebenbei – beim Mittagessen besprochen.17 Newman erweckt im übrigen durch seine Art der Darstellung (S. 85f.) den gegenteiligen Eindruck. Die führenden Entscheidungsträger interessierte nicht, ob die Bombe, sondern wie sie eingesetzt werden sollte. Was der Kommunikationswissenschaftler im übrigen geflissentlich übersieht, ist, daß die vier Physiker – Oppenheimer, Fermi, Lawrence und Compton – die das »Interim Committe« berieten, dem Franck-Report nicht die Aufmerksamkeit schenkten, die ihm gebührte.18

Für Newman war die neue Waffe der entscheidende Faktor, der zur Kapitulation führte. Den eindeutigen Beweis bleibt er schuldig. Von den 1946 befragten japanischen Politikern meinten acht, daß die Bombe und die Sowjetunion in etwa gleich ausschlaggebend für die Kapitulation waren, während acht weitere die Bedeutung der neuen Waffe hervorhoben. Einer von denen, Marquis Kido Koichi, wird später (S. 110) so zitiert, daß er eigentlich in die erste Kategorie der Befragten hineingehört. Auch die Einschätzungen der von Newman zitierten japanischen Historiker sind nicht so eindeutig, wie von ihm behauptet und gewünscht (S. 102). Die bis heute maßgebliche Studie von Robert Butow, von Newman ausführlich zitiert, führt den »großen Schock« ebenfalls auf Hiroshima, Nagasaki und den sowjetischen Einmarsch in die Mandschurei zurück (S. 103). Der Faktor Sowjetunion holt den Autor gegen seinen Willen auffallend häufig ein.

Leo Szilard oder der verzweifelte Wettlauf gegen den Abwurf der Bombe

Der bereits mehrfach erwähnte ungarische Emigrant Leo Szilard war der Physiker, der Einstein mit dazu bewegt hatte, jenen Brief an Präsident Truman zu schreiben, der das Manhattan-Projekt ins Rollen gebracht hatte; zusammen mit Enrico Fermi hatte er im Dezember 1942 die erste Kettenreaktion in einem Reaktor erzeugt und damit einen wesentlichen Beitrag zum Bau der Atombombe geleistet. Leo Szilard war es auch, der ab Frühjahr 1945 die stärksten Aktivitäten unter den Physikern und gegenüber der US-Regierung entfaltete, um den Abwurf der Bombe auf Japan wenn nicht zu verhindern, so doch hinauszuzögern. William Lanouette stellt in der ersten umfassenden Szilard-Biographie die verzweifelten und erfolglosen Versuche des Physikers anschaulich dar (Lanouette 1992): sein Memorandum an Roosevelt, das diesen aber nicht mehr erreichte, weil der Präsident überraschend starb; sein Treffen in Spartanburg mit dem zukünftigen Außenminister der Truman-Administration, Byrnes, das unglücklich verlief, da sich beide nicht mochten und von völlig unterschiedlichen Prämissen ausgingen; seine Mitarbeit am Franck-Report; und schließlich die von ihm entworfene und Anfang Juli 1945 an seine Kollegen verteilte Petition an den Präsidenten.

Lanouette präsentiert kaum neue Fakten, was angesichts einer systematischen Auswertung der Szilard-Archive überrascht. Aber er stellt die von vielen Autoren sowie von Szilard selbst beschriebenen Versuche zusammenfassend in den biographischen Kontext des plastisch porträtierten Exzentrikers und brillianten Theoretikers. Das Szilard-Memorandum an Truman, von fast 70 Naturwissenschaftlern unterzeichnet, ist schwächer formuliert als etwa der Franck-Report. Die Erklärung (S. 272f.) schließt die „Angriffe mit Atombomben“ als „wirksames Mittel der Kriegsführung“ keinesfalls aus. Allerdings seien solche Angriffe auf Japan nicht zu rechtfertigen, solange a) es keine Möglichkeit habe, sich zu ergeben und die Kapitulationsbedingungen nicht im Detail kenne; und b) die moralischen Aspekte nicht genügend bedacht seien. Es ist auffallend, daß die Petition ein bedingungsloses Sich-ergeben, das als Hauptbarriere der Japaner für eine Kapitulation angesehen wurde, nicht kritisch als Stolperstein erwähnt. Erst im Nachhinein hat Szilard geäußert, der den Japanern damals „tatsächlich gemachte Friedensvertrag“, in dem die USA auf die bedingungslose Kapitulation verzichteten, hätte zu einem „ausgehandelten Frieden“ führen können.19 Der abgeschwächte Wortlaut der Petition drückt aus, daß Szilard den Kampf für eine Demonstration der Bombe bereits als verloren ansah.

Lanouette verzichtet leider in der Regel darauf, die bündig dargestellten Argumente des Physikers und seiner Verbündeten zu analysieren und sich mit den Positionen der Gegenseite auseinanderzusetzen. Der Biograph schildert jedoch eindringlich, wie Szilard auf den Abwurf reagierte. Zuerst war ein „Gefühl der Erleichterung“ (S. 276) da, daß die Geheimhaltung vorbei sei und daß man den Menschen sagen könne, was sie in diesem Jahrhundert erwarte. Als er die ersten Berichte über das nukleare Grauen hört, packt ihn Entsetzen. Es sollte ihn nie wieder loslassen. Szilard hält den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima ohne Punkt und Fragezeichen für einen tragischen Fehler, die Bombardierung Nagasakis für eine Grausamkeit (S. 277). In den folgenden Monaten entwickelt er hektische Tätigkeiten. Sie offenbaren die hilflose Phantasie des genialen Physikers, etwa wenn er dazu auffordert, daß seine Kollegen am Met Lab in Chicago als Zeichen ihrer Tauer schwarze Armbinden tragen sollten (S. 277).

Hiroshima und Nagasaki werden zur wichtigsten Rahmenbedingung für Szilards Denken und Wirken bis zu seinem Tod im Jahre 1964. Ob man dem Physiker einen »Schuldkomplex« unterstellt oder nicht – er selbst stritt ihn rückblickend ab, meinte aber gleichzeitig: „It was we (die Amerikaner, B.W.K.) who used the bomb (…) Somewhere, below the level of the consciousness, we have a stake in the bomb (…).“ 20 Es ist ein Defizit dieser Biographie, daß sie nicht erörtert, warum der Physiker einen A-Bombenabwurf auf Deutschland befürwortete; die entsprechenden Quellen, die z.B. Bernstein ausgewertet hat, werden in der Biographie nicht berücksichtigt. Ihnen zufolge war Szilard 1944 für ein solches atomares Bombardement selbst für den Fall eingetreten, daß die Waffe militärisch nicht notwendig gewesen wäre. Ein solcher Einsatz – so sein Argument – würde die US-Bevölkerung gegen einen gefährlichen Rüstungswettlauf mit der Sowjetunion mobilisieren. Anfang 1945 setzte dann, offensichtlich ausgelöst durch die Flächenbombardements der USA auf japanische Städte, bei ihm und anderen Kollegen am Met Lab in Chicago ein Umdenken ein, das zu den dargestellten Aktivitäten führte.21

Szilard hat nie erklärt, warum er – anders als Joseph Rotblat (siehe S. 30) das Manhattan-Projekt nicht verlassen hat. Eine solche Entscheidung hätte allerdings vorausgesetzt, daß Szilard wußte, wie es um Deutschland stand und daß Japan längst als Ziel für eine A-Bombe auserkoren war. Rückblickend gab er zu verstehen, daß er weder von der Lage des Dritten Reichs noch von der militärischen Zielplanung Kenntnisse hatte – diese Position vertraten übrigens im Frühjahr 1995 Teilnehmer des Manhattan-Projekts wie Hans Bethe22 und Edward Teller (s. Teller-Interview S. 26ff.) Für die Zeit nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands überzeugt Szilards Argument nicht mehr.

Lanouette präsentiert geradezu spannend die gesamte Bandbreite von Initiativen des rastlosen Aktivisten und Visionärs Szilard. Sie sind, zunächst im internationalen, dann im US-sowjetischen Rahmen, darauf gerichtet, die Verbreitung der Atomwaffen sowie den bilateralen Rüstungswettlauf unter Kontrolle zu halten. Unverkennbar ist, daß die politischen – und nicht die militärtechnologischen Elemente – in den Aktivitäten des Physikers überwiegen. In der Regel sind seine Anregungen unkonventionell und phantasievoll, oft waren sie ihrer Zeit voraus (und sind jetzt noch zeitgemäß), meistens hatte er kein Durchhaltevermögen. Mitunter machte er Vorschläge, von denen man nicht wußte, ob sie ernst gemeint waren. Zur letzten Kategorie gehören im übrigen seine Anregungen, die Verwundbarkeit der USA gegenüber feindlichen Waffen nicht durch neue Rüstungsprojekte, sondern durch die Umsiedlung von 30 bis 60 Mio. Amerikanern aus den Ballungsräumen zu horrenden Kosten zu vermindern (später sah er scharfsichtig in der Raketenabwehr bereits ein Problem für die siebziger Jahre).

Szilards Einfluß als Wissenschaftler kann nicht nur im Hinblick auf sein Scheitern in der Hiroshima/Nagasaki-Frage gemessen werden. Insgesamt blieb sein Wirken alles andere als folgenlos – die Gründung des heute noch aktiven »Council for a Liveable World« und die Mitinitiierung der Pugwash-Bewegung sind nur zwei Beispiele.

James Conant oder das kühle Plädoyer für den Abwurf der Bomben

Verkörpert Leo Szilard den Physiker, der 1945 vom Rande des Manhattan-Projekts gegen die offizielle Bomben-Politik gegenüber Japan aufbegehrt, so repräsentiert der Chemiker James Conant den neuen Typus des Wissenschaftsadministrators im Zentrum der Macht. Höchst unterschiedlich sind die Persönlichkeitsprofile der beiden. Dem undisziplinierten Genie ungarischer Herkunft steht der unterkühlte »Yankee scientist« des Ostküsten-Establishments gegenüber. Dessen »Several Lives«, wie Conant seine Memoiren betitelte, hat James Hershberg in einer Biographie umfassend und aus anderem – kritischerem – Blickwinkel dargestellt.

Hershbergs Buch über den Harvard-Professor, späteren Harvard-Präsidenten und Botschafter in Deutschland ist ein Meilenstein in der biographischen Erschließung des Atomzeitalters. Denn Conant hat zusammen mit Vannavar Bush das US-Atomprogramm maßgeblich vorangetrieben und ihm seine Organisationsstruktur gegeben. Bereits im Zweiten Weltkrieg war er gleichzeitig ein herausragender Architekt der nuklearen US-Politik der Nachkriegszeit. Hershbergs Leistung besteht darin, das bisherige umfangreiche Material durch die detaillierte Auswertung neuer Quellen zu bereichern und in einer gut lesbaren Studie zu präsentieren. Sie besticht zudem dadurch, daß, anders als bei Lanouette, die großen politischen Zeitbezüge hergestellt und analysiert werden.

Die Erarbeitung der nuklearen Sicherheitsarchitektur der Nachkriegszeit war dem im Frühjahr 1945 geschaffenen »Interim Committee« übertragen worden. In die Geschichte eingegangen ist dieser bereits erwähnte Ausschuß, weil er Präsident Truman die folgenschwere Empfehlung unterbreitete, Japan atomar zu bombardieren. Beraten wurde das »Committee« hierbei von den vier führenden Physikern Robert Oppenheimer, Enrico Fermi, Arthur Compton und Ernest Lawrence. In diesem mächtigen Ausschuß saß Conant und mit ihm Vannevar Bush und MIT-Präsident Karl Compton, also zwei weitere Wissenschaftsorganisatoren. Kriegsminister Stimson leitete das »Interim Committee«, Außenminister Byrnes fungierte als Trumans Sonderberater, zwei weitere hochrangige Politiker waren Undersecretary of the Navy Ralph A. Bard (s. Auszug S. 78) sowie Assistant Secretary of State William L. Clayton.

Durch neue empirische Funde führt Hershberg die Forschung weiter. Besonders beeindruckend und erstaunlich sind die apokalyptischen Empfindungen des sonst so rationalen Conant beim ersten atomaren Test in der Wüste von Alamogordo: Viele anwesende Naturwissenschaftler dachten an das Ende der Welt, Conant glaubte für den Bruchteil einer Sekunde, daß er der letzte Mensch war (S. 234). Dieser Schrecken hat ihn nicht davon abgehalten, auch weiterhin für einen Abwurf der Bombe auf Japan zu plädieren. Vorrangig war aus seiner Sicht die einzigartige Schockwirkung, die auch er sich von einer einzigen gewaltigen und beispiellosen Explosion der Atombombe versprach: die japanische Führung würde kapitulieren.

Conant schloß sich der vorherrschenden Begründung an, daß der Abwurf ohne vorherige Warnung den Krieg am schnellsten beenden und viele amerikanische Menschenleben retten würde. Kriegsminister Stimson berichtete dem »Interim-Ausschuß« von Plänen einer Invasion Japans mit amerikanischen Bodentruppen. Befürworter der Abwürfe wie Truman und Churchill sprachen nach dem Krieg von einer halben bis zu einer Million von Toten, die die Alliierten im Falle eines Einmarsches hätten in Kauf nehmen müssen (die Forschung hat diese Kalkulationen in den achtziger Jahren als Mythos entlarvt). Als dann die Auffassung vertreten wurde, daß Japan auch ohne die Atombombe kapituliert hätte, verteidigte sich Conant. Die Anzeichen eines bevorstehenden japanischen Zusammenbruchs und die »Friedensfühler« Tokios gegenüber Moskau seien dem »Interim-Ausschuß« am 21. Juni 1945 nicht bekannt gewesen, als er seine frühere Empfehlung für den Abwurf wiederholte. Überhaupt habe Conant sein Wissen über die militärische Lage von Stimson erhalten, der dem »Committee« keine detaillierte militärische Analyse präsentiert habe.

Die von Hershberg herausgearbeitete Einstellung Conants zum Abwurf einer einsatzbereiten A-Bombe ist ebenfalls repräsentativ für die meisten amerikanischen Wissenschaftler und Politiker im Zentrum der Entscheidungsprozesse. Praktisch alle haben die neue Waffe als ein legitimes Mittel in einem Krieg angesehen. Unmißverständlich weist Hershberg auch auf den Druck hin, der von dem sich damals auf ca. 2 Mrd. Dollar belaufenden Manhattan-Projekt ausging. Wie viele vor ihm zitiert der Autor Außenminister Byrnes: „Wie bringt man den Kongreß dazu, Gelder für Atomenergie zu bewilligen, wenn sie keine Ergebnisse der bereits ausgegebenen Mittel vorweisen können?“ 23 Ohne eine spezifische Quelle anzugeben, schreibt Hershberg im unmittelbaren Anschluß auch von Conant, daß er ein „akutes Bedürfnis“ (S. 226) hatte, seine während des Krieges unternommenen Anstrengungen vor allem gegenüber zukünftigen Untersuchungsausschüssen des Kongresses zu rechtfertigen.

Wenn man davon ausgeht, daß Conant den Einsatz der Bombe von Anfang an immer grundsätzlich befürwortete, ist es folgerichtig, die sich teilweise ändernde Begründung für das gesamte Manhattan-Projekt als »subtile Transformation« zu deuten. Die Angst vor einer Nazi-Bombe stand am Anfang, ergänzt durch die Auffassung, daß die USA diese – funktionierende – Waffe wegen ihres revolutionären Potentials unbedingt besitzen sollten, und zwar unabhängig davon, ob sie andere Staaten entwickeln würden oder nicht.

Der Autor weist darauf hin, daß mit der möglichen »post-war control«-Funktion der neuartigen Waffe das kostenaufwendige Mammut-Projekt vor dem Kongreß und der US-Öffentlichkeit allein nicht zu rechtfertigen war. Nach der Niederlage Deutschlands mußte der ursprüngliche Feind durch einen anderen ersetzt werden. „Deuschland war besiegt. Japan hatte keine Möglichkeit, atomare Waffen zu bauen. Der Wettlauf war vorbei. Conant fand trotzdem andere Rechtfertigungen, um die Bombe so früh wie möglich einzusetzen.“ (S.227)

Leider bündelt der US-Historiker seinen empirischen Befund nicht, er präsentiert auch keine eindeutige Rangordnung von Conants Motiven für den Abwurf der Bombe. Der Autor macht aber indirekt deutlich, daß sich dieser wichtige Akteur keinesfalls ausschließlich dem einen oder anderen vorherrschenden Motiv- und Interessenmuster für das atomare Bombardement zuordnen läßt. Sie ergänzen sich vielmehr. Der Biograph macht für seine Deutungen Anleihen sowohl bei der durch Bernstein als auch bei der durch Alperovitz vertretenen Richtung.

Die von Hershberg beschriebene Kontroverse zwischen Conant und – ausgerechnet! – dem führenden »Realisten« unter den protestantischen Theologen, Reinhold Niebuhr, ist ebenfalls in Vielem repräsentativ für den Streit in der unmittelbaren Nachkriegszeit um die moralische Dimension der Bombardements. Der Angegriffene fragt zurück: „Wenn das amerikanische Volk den Einsatz der Atombombe tief bereuen soll, warum sollte es dann nicht gleichermaßen die ein paar Monate vorher durchgeführte Zerstörung Tokios durch (…) Brandbomben bereuen?“ (S. 284) Er glaubte zeitlebens, daß es keine glaubwürdige Alternative zu einem Abwurf gab, später bereute er lediglich, daß die Bombe nicht früher fertig gewesen sei (S.227). Schuldgefühle hat er auch in seinen privaten Gesprächen mit Familienangehörigen nie ausgedrückt, weil er keine gehabt hat. Seinem Großsohn Jim zufolge hat er später eingeräumt, daß die Bombardierung Nagasakis ein Fehler gewesen sein mag (S.228). Mit dieser Frage war er als Mitglied des »Interim-Ausschusses« jedoch konkret nicht befaßt gewesen.

Nur einmal scheint Conant die Angst befallen zu haben, in der Hiroshima-/Nagasaki-Frage auf der aus seiner Sicht falschen Seite der Geschichte zu enden. Das war 1946, nachdem John Herseys kritische Reportage »Hiroshima« erschienen war (leider ist die deutsche Ausgabe dieses Klassikers vergriffen). Conant befürchtete, daß die überwältigende Zustimmung in den USA für die Bombenabwürfe umschlagen könne. In erster Linie war er darum besorgt, daß eine kritische Einschätzung der Abwürfe die USA im sich anbahnenden Kalten Krieg mit Moskau lähmt und daß sie in einem »Heißen Krieg« den von Conant befürworteten Einsatz von Atombomben auf die UdSSR unmöglich macht.

Der spätere »Praeceptor Americae« wurde deshalb aktiv, um dies zu verhindern. Conants Manipulationen hat Hershberg im spannendsten Kapitel seiner Biographie erstmals und ausführlich beschrieben: Wie Conants über das »old boys' network« seine Fäden spann, um mit dem damaligen Kriegsminister Stimson die autoritativste Figur für ein solches Unterfangen zu bekommen; wie stark er stilistisch und inhaltlich in die Entwürfe des Aufsatzes „The Decision to Use the Atomic Bomb“ eingriff. Dieser Artikel – „das einflußreichste Statement, das jemals über die Atombombe abgegeben wurde“ (Hershberg, S. 298) – beeinflußte die »orthodoxe Geschichtsschreibung« unangefochten bis in die Mitte der sechziger Jahre, als Gar Alperovitz seine Studie veröffentlichte.

Neuerscheinungen mit wenig Neuem

Drei in Deutschland erschienene Naturwissenschaftler-Biographien können es, obwohl zwei von ihnen ebenfalls voluminös sind, im Hinblick auf die Dichte der Darstellung, die Einarbeitung der politischen Rahmenbedingungen und vor allem hinsichtlich neuer Informationen in keiner Weise mit Hershbergs monumentaler Biographie aufnehmen. Albrecht Fölsings dickleibiges Einstein-Buch (Fölsing 1993) ähnelt zumindest in dem hier ausschließlich zur Debatte stehenden Abschnitt „Der Pazifist und die Bombe“ (S. 741ff.) auffallend der bereits 1971 erschienenen Einstein-Biographie von Ronald W. Clark24, die leider verkürzt ins Deutsche übertragen wurde; über Einsteins Nachkriegsaktivitäten informiert Clark im übrigen detaillierter als Fölsing.

Über weite Teile geschwätzig ist Norman Macraes Beschreibung des aus Ungarn in die USA emigrierten Mathematikers John von Neumann (Macrae 1994). Dieser interessiert hier als wichtiges Mitglied des »Target Committee«, das die Ziele der tödlichen Last über Japan mitbestimmte. In diesem Punkt geht der Autor durchaus über die Doppelbiographie von Steve J. Heims25 hinaus (Heims' Darstellung ist für die Positionen des ultra-konservativen Mathematikers in der unmittelbaren Nachkriegszeit allerdings informativer). Wie Groves, dessen Vertrauen von Neumann besaß, hatte auch das Mathematik-Genie u.a. die Stadt Kyoto, ein für die Japaner heiliges religiöses Zentrum, für die Zerstörung ausgewählt. Der Journalist und Biograph Macrae bescheinigt dem Naturwissenschaftler im Dienste der Militärs hier lediglich „Mangel an psychologischem Fingerspitzengefühl“ (S.214). Die unverblümte Diktion in den entsprechenden Passagen von General Groves` Autobiographie „Now it Can be Told“ vermitteln einen weitaus besseren Eindruck von der Eiseskälte des »Target Committee«, das sich ausschließlich von militärischen Erwägungen leiten ließ.

Mit den Worten „Einige Leute bekennen sich schuldig, um den Lohn für die Sünde zu beanspruchen“ (S. 215), soll von Neumann Oppenheimers Schock-Reaktion auf den Trinity-Test kommentiert haben. James Gleick, der Biograph des Physikers Richard Feynman (Gleick 1993), fügt dessen Reaktion auf die Frage eines Journalisten neben ihm nach dem Knall in der Wüste von Alamogordo hinzu: „That's the thing!“ (in der deutschen Ausgabe unpräzise übersetzt mit „Das ist die Bombe!“ (S. 229). Der von Gleick auszugsweise zitierte Brief an seine Mutter vom 9. August (S. 231) bestätigt auf beeindruckende Weise den Freudentaumel, den der erst 27-jährige Physiker mit vielen Kollegen teilt; Richard Rhodes hat den allgemeinen Enthusiasmus der am Trinity-Test Beteiligten in seiner klassischen Studie, die leider im deutschen Buchhandel nicht zu haben ist, eindringlich beschrieben.26 An die Stelle der Ausgelassenheit tritt auch bei Feynman später Nüchternheit (S. 299), die bei ihm jedoch politisch folgenlos bleibt.

Informativ wie bündig hat Lawrence Wittner die wichtigsten Gruppierungen und ihre politischen Vorstellungen im Amerika der ersten Jahre nach Hiroshima bis 1953 dargestellt (Wittner 1993). Seine kenntnisreichen Ausführungen basieren sowohl auf der Verarbeitung von Sekundärliteratur als auch auf der beeindruckenden Auswertung vieler Archive (er ist meines Wissens der einzige Historiker, der unabhängig von Hershberg Conants pro-nukleare Manipulationen entdeckt hat). Neben vielem ausreichend Bekanntem führen die beiden Kapitel dort am ehesten weiter, wo Wittner die Reaktionen des linken Spektrums der USA auf Hiroshima (z.B. bei den Kirchen) beschreibt und wo er die zum Teil rüden Praktiken der US-Regierungen gegenüber Naturwissenschaftlern und Pazifisten darstellt.

Wer sich einen raschen Überblick über das Manhattan-Projekt verschaffen möchte, sei auf den Aufsatz von Stefan Fröhlich in dem von Michael Salewski edierten Band (Salewski 1995, S. 50-71) verwiesen. Leider brücksichtigt dieser Beitrag die neueste Literatur gerade über die Los-Alamos Jahre nicht. Auch seinem eigenen Anspruch, die „Erklärungsmuster der Zeitzeugen für ihre Entscheidungen heranzuziehen“ (S. 52), wird der Autor nur sehr begrenzt gerecht. Die Erinnerungen etwa von Peierls, Weisskopf, Wigner und Zacharias wertet er nicht aus, die relevanten Passagen in Conants Memoiren überprüft er nicht anhand der Hershberg-Biographie. Die am Ende des Aufsatzes von Fröhlich angestellten Spekulationen hätten sich durch eine Kenntnis des vorzüglich aufbereiteten Szilard-Materials empirisch verläßlich beantworten lassen. Die drei von Fröhlich für das Manhattan-Projekt herausgearbeiteten Hauptcharakterisierungen sind in der Tat zutreffend: Der Krieg als Stimulus für die wissenschafts-technologische Innovation; das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Politik; die Führung der Wissenschaft im Projekt und dessen gleichzeitige Kontrolle durch des Militär.

Aus techniksoziologischer Perspektive beschreibt einer der Vertreter dieser Ausrichtung, Thomas Hughes, das Manhattan-Projekt (Hughes 1991). Er sieht es in dieser ungewöhnlichen Sicht einerseits als Teil der „noch nicht abgeschlosssenen Entstehungsgeschichte großer technologischer Systeme“ (S. 387). Andererseits deutet er es als beispielloses Unternehmen, bei dem die Regierung die zentrale Koordinations- und Kontrollinstanz für die Herstellung eines einzigen »Produkts« wird, nachdem die Erfindungen gemacht und weiterentwickelt worden waren. Parallelen zu Industrieunternehmen stellt der Autor jedoch im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den Wissenschaftlern, Technikern und Managern (S. 387) fest. Der Primat des Militärischen bleibt allerdings einzigartig. Hughes' Arbeit hätte die Forschung dann weitergeführt, wenn er sich die Mühe gemacht hätte, die bisher kaum berücksichtigte industrielle Infrastruktur des Manhattan-Projekts zu analysieren; statt dessen wertet er vor allem die klassische Studie von Hewlett und Anderson aus.27 Glücklicherweise erliegt Hughes nicht der Versuchung seines Ansatzes, die Bomben-Entscheidung mit technologischen Zwängen zu erklären.

Hiroshima und die sowjetischen Naturwissenschaftler in der Stalin-Ära

David Holloways Studie „Stalin and the Bomb“ ist ein großer und solider Wurf. Der ausgewiesene Experte wartet in dieser historisch wie systematisch vorzüglich angelegten Arbeit mit vielen neuen Informationen auf, und zwar nicht nur über die Rolle der Naturwissenschaftler während der sowjetischen A- und H-Bombenprogramme. Vielmehr analysiert der Autor auch die Rahmenbedingungen und Imperative Stalinscher Politik, die industriell-wirtschaftliche Struktur der Projekte sowie die Einbettung der Wissenschaftler in die bürokratische Organisation der Atomprogramme. Holloways Buch beruht auf der Auswertung vieler Archive und geführter Interviews, entscheidende Dokumenten-Sammlungen blieben ihm allerdings verschlossen. Auch in dieser Studie Holloways erfährt der Leser etwa wichtige Aussagen Stalins nach wie vor aus den Aufzeichnungen amerikanischer Akteure und Politiker (dieses Werk »überholt« in Vielem auch das einführende Buch von Heinemann-Grüder 1992, das allerdings in seinen Kapiteln über die Rolle deutscher Wissenschaftler in Stalins Atombombenprogramm nach wie vor lesenswert bleibt). Eine abschließende Studie konnte Holloway zum derzeitigen Zeitpunkt nicht vorlegen. Das schmälert ihren Verdienst jedoch keineswegs.

Die Atombombenabwürfe der USA bedeuteten, wie der Autor eingehend darlegt, eine entscheidende Zäsur in der Atompolitik Stalins. Während des Zweiten Weltkrieges hatte der Diktator viele militärtechnologische Projekte, darunter auch das Nuklearprogramm, vernachlässigt. Das änderte sich schlagartig nach Hiroshima und Nagasaki. Bereits am 20. August setzte ein geheimes Dekret Stalins das sowjetische Projekt in Gang. Die (Kommando-)Struktur und die Organisation des Unternehmens, das nun höchste Priorität bekam, waren schnell etabliert. An die Spitze des Geheimprojekts berief Stalin keinen Militär, sondern Geheimdienstchef Berija, der das von Holloway kenntnisreich dargestellte »sowjetische Manhattan-Projekt« mit der ihm eigenen Mischung aus Effizienz und enormem Druck leitete (siehe Golovin S. 51ff.)

Holloway gibt Einblicke in die Arbeitsweise der Wissenschaftler, die vom Gebot der Geheimhaltung gekennzeichnet ist. Hier gibt es viele Parallelen zum Arbeitszusammenhang der amerikanischen Kollegen in Los Alamos. Der Historiker legt ferner überzeugend dar, wie sehr das sowjetische Atombombenprogramm von außen angeregt wurde, und er analysiert ebenso plausibel, daß Stalin die A-Bombe unter allen Umständen haben wollte. Das ist eines der wichtigsten Ergebnisse von Holloways Studie, auch wenn man sie nicht gern hören mag. „Hiroshima“, soll Stalin zu Kurchatov und Vannikov gesagt haben, „hat die ganze Welt erschüttert. Das Gleichgewicht ist zerstört“ (S. 132). Jetzt setzte der Diktator alles daran, um die Balance wiederherzustellen. Die Atombombe war aber aus Stalins Sicht nicht nur eine mächtige Waffe, sondern auch das mächtigste Symbol für die wirtschaftliche und technologische Stärke der USA. Holloway legt dar, daß die A-Bombe nicht das gegen Ende des Zweiten Weltkriegs entworfene Design sowjetischer Außenpolitik veränderte, das auf die Konsolidierung der territorialen Gewinne und auf die Etablierung einer Interessenzone in Osteuropa ausgerichtet war. Allerdings mußte die Führung die Bombe als neuen Faktor in dieses Konzept einpassen. Zu fragen ist, ob hier der Verfasser deren Bedeutung nicht unterschätzt.

„Aufholen und überholen“ hieß die Devise (S.133) für das sowjetische Atomprojekt. Stalin wollte das Monopol der USA brechen und in der Zwischenzeit die USA daran hindern, die »atomare Karte« erfolgreich gegen die UdSSR zu spielen. Seine Sorge war nicht, daß ein Atomkrieg unmittelbar bevorstand. Vielmehr galt es, sich durch den Bomben-Faktor nicht einschüchtern zu lassen. Die neue Waffe trug, wie Holloway herausarbeitet, auf diese Weise zur Verschlechterung der amerikanisch-sowjetischen Beziehung bei.

Stalins Politik ging, wie der Autor gut dokumentiert, im großen und ganzen auf. 1949 führte die UdSSR den ersten erfolgreichen Kernwaffenversuch vor. In der Zwischenzeit gelang es der Truman-Administration nicht, aufgrund ihres Monopols Stalin zu außenpolitischen Konzessionen zu bewegen – etwa in Osteuropa oder auf internationalem Parkett durch den Baruch-Plan, der die Vormachtstellung der USA verstetigt und der UdSSR die eigene atomare Option verweigert hätte. Am 30. Dezember 1946 stimmte der Atomenergieausschuß der UN mehrheitlich für den Plan. Fünf Tage vorher war dem »sowjetischen Oppenheimer« Igor Kurchatov – auf den Monat genau vier Jahre nach Fermis und Szilards erfolgreichem Versuch in Chicago – die (damals geheimgehaltene) Kettenreaktion erstmals in einem Experimentalreaktor gelungen.

Wie für die am Manhattan-Projekt beteiligten Physiker stellte das sowjetische Parallelunternehmen eine große intellektuelle Herausforderung für die sowjetischen Kollegen dar. Hinzu kam der Konkurrenzaspekt. Das Projekt brachte zudem Arbeit und Brot. Nachdem das Nuklearprogramm erste Priorität bekommen hatte, wurden die Atomphysiker zu einer privilegierten Kaste. Von den wissenschaftlichen Säuberungen des Jahres 1949 blieben sie verschont, weil die »westliche« und »idealistische« Quantenmechanik und Relativitätstheorie die theoretische Basis für den Bau der neuen Waffe darstellten. „Es war die Atombombe, die die sowjetische Physik 1949 rettete,“ resümiert Holloway (S. 211) in spannenden Passagen über die damaligen wissenschaftlich-idologischen Turbulenzen. Ungefährdet war und blieb auch diese Berufsgruppe nicht. In jenem Klima soll Stalin über die Physiker zu Berija gesagt haben: „Laß sie in Frieden. Wir können sie später immer noch erschießen.“ (S. 211)

Die sowjetischen Atomphysiker haben ihre Aktivitäten zum Teil anders begründet als ihre amerikanischen Kollegen. Sie reagierten ja »nur« auf den von den US-Naturwissenschaftlern mitinitiierten Rüstungswettlauf. Sie übernahmen Stalins Devise von der Wiederherstellung des Gleichgewichts oder waren davon überzeugt, daß die UdSSR eine eigene Bombe brauche, um sich gegen den Feind zu schützen oder ihn davon abzuhalten, sie gegen die UdSSR einzusetzen. Die Bombardierung Hiroshimas wurde als »zynischer Antihumanismus« bezeichnet. Vertraut ist die universal vorgebrachte Begründung, der Bau der – in diesem Fall sowjetischen – Bombe sei nicht dasselbe wie ihr Abwurf auf friedliche Städte, und: Nicht die Naturwissenschaftler, sondern die Politiker und Militärs würden diese Entscheidung treffen. Intensive moralische Diskussionen gab es wahrscheinlich gar nicht, sie wären sehr gefährlich gewesen (siehe Golovin-Interview S. 55). Ohnehin konnte man sich nur in den ersten Jahren weigern, am Atomprojekt teilzunehmen.

Für andere Wissenschaftler war der Bau der Bombe eine Fortsetzung des Krieges gegen Nazi-Deutschland. Der mächtige »Wissenschaftskommissar« Kurchatov unterschrieb oft mit »Soldat Kurchatov«. Er war es übrigens, der nach dem ersten Test der H-Bombe um die Entlassung aus dem Projekt bat. In die Entstehung und Entwicklung dieses Waffenprogramms gibt die grundlegende Studie Holloways ebenfalls erstaunlich viele neue Einblicke.

Deutsche Atomphysiker im Dritten Reich und danach

So verständlich es ist, daß sich hauptsächlich US-Historiker mit der Hiroshima/Nagasaki-Frage befassen, so unverständlich ist es, warum die bundesdeutsche Zunft der Historiker den amerikanischen Kollegen auch da das Feld überläßt, wo es um die Aufarbeitung der eigenen (Wissenschafts-)Geschichte geht. Ohne die Angst vor der Nazi-Bombe hätte es das Manhattan-Projekt in dieser Form nicht gegeben. Vor allem Mark Walker hat sich in einer wichtigen, auch hierzulande breit rezipierten Studie mit diesem Thema auf eine Weise befaßt, die die bis dahin jahrzehntelang dominierende Auffassung als Mythos entlarvte.28 Insbesondere Robert Jungk hatte nach Gesprächen mit Heisenberg, von Weizsäcker und anderen Kollegen die These kolportiert, daß sich die führenden Physiker aus moralischen Gründen der Mitarbeit am Bau einer Nazi-Bombe versagt hätten. In einer neuen Studie (Walker 1995) greift der Autor diesen Themenbereich wieder auf (siehe Artikel von M. Walker S. 59ff.)

Die monumentale Heisenberg-Biographie des amerikanischen Wissenschaftshistorikers David C. Cassidy zeichnet sich ebenfalls dadurch aus, daß sie zwischen den Mythen und den Realitäten gut zu trennen weiß (Cassidy 1995). Der Verfasser unterstreicht die These, daß Heisenberg und seine Kollegen der Nazi-Führung deshalb kein »crash program« abforderten, weil sie keine Chance sahen, ein solches Projekt während des Krieges fertigzustellen. Demgegenüber wartet die Publikation von Thomas Powers mit der spektakulären, aber nicht belegten und deshalb nicht ernst zu nehmenden Behauptung auf, die noch über den langjährigen Mythos hinausgeht (Powers 1993). Um den Bomben-Bau zu vereiteln, soll Heisenberg bewußt Informationen gegenüber den zuständigen Behörden und den eigenen Kollegen zurückgehalten haben. Powers' Buch taugt als Thriller, aber nicht als seriöse Studie.

Eine wissenschaftsgeschichtliche Quelle ersten Ranges für die Rolle und das Selbstverständnis der deutschen Atomphysiker im Dritten Reich stellen die von Dieter Hoffmann sorgfältig edierten Farm-Hall-Protokolle dar (Hoffmann 1993). Die Niederschrift der von den Alliierten abgehörten und aufgezeichneten Gespräche der führenden deutschen Atomphysiker, die im britischen Farm Hall im Sommer 1945 interniert waren, vermitteln einen weitgehend unverstellten Zugang zu den damaligen Auffassungen der Wissenschaftler. Deren Positionen hat der Herausgeber in seinem Vorwort kritisch wie kenntnisreich kommentiert.

Einer der Internierten war der heute noch lebende Physiker Erich Bagge, der in dem von Michael Salewski herausgegebenen Band (Salewski 1995, S. 27-49) mit dem Aufsatz „Keine Atombombe für Hitler“ vertreten ist. Der Herausgeber führt in seinem Vorwort Bagge als prominenten Zeitzeugen für die Stimmungsschwankungen der Physiker zwischen Himmel und Hölle an (S. 26). In Bagges Aufsatz ist nichts davon zu spüren. Zutreffender dürfte auch heute noch die Charakterisierung der Allierten aus den Farm-Hall-Protokollen sein, wenn man Bagges buchhalterischen Duktus bedenkt: „Er ist durch und durch deutsch (…) Seine Freundschaft mit Diebner macht ihn verdächtig.“ (Hoffmann 1993, S. 60) Bagges Beitrag vermittelt den Eindruck, als sollte die Bombe gar nicht gebaut werden: „Ich möchte feststellen, daß in der Rede von Herrn Basche das Wort 'Atombombe' mit Sicherheit überhaupt nicht vorkam. Ich achtete sehr darauf, weil es mir beim Empfang im HWS durch Diebner am 8. September so einprägsam aufgefallen war.“ (S. 33)

In Bagges abgehörter und nachlesenswerter Äußerung in Farm Hall (S. 164) stellt sich dieser Sachverhalt jedoch anders dar.

Der Umgang der bundesdeutschen Naturwissenschaftler mit der Bomben-Problematik in den fünfziger Jahren ist ein wichtiger Aspekt in der hervorragenden Arbeit von Ilona Stölken-Fitschen. Auf der Grundlage umfangreicher und vielfach unbekannter Materialien analysiert die Autorin die politische und kulturelle Verarbeitung der A-Bombe insbesondere in der bundesdeutschen Diskussion (Stölken-Fitschen 1995). Die Grundhaltung ist durch Ambivalenz gekennzeichnet. Sie schwankt zwischen Grauen und Faszination, Angst und Hoffnung vor den »Segnungen« der zivilen Kernenergienutzung, zwischen atomarem Schrecken und atomarer Abschreckung. Der Kalte Krieg als wesentliche Rahmenbedingung für dieses Perzeptionsmuster überlagerte das »Mahnmal Hiroshima« bald bei den diversen Akteuren in unterschiedlich starker Weise.

Diese gute geschriebene Studie ist einer der überzeugendsten zeitgeschichtlichen Beiträge zur aktuellen »Hiroshima-Diskussion«. Im Spektrum der bundesdeutschen Literatur geht diese Arbeit weit über die bisher in der Regel analysierten Gruppierungen (Parteien, Friedensbewegung) hinaus. Thematisch erweitert sie den Fokus der verfahrenen und repetitiven US-Diskussion um eine wichtige Dimension und stellt damit das deutsche Pendant zur wegweisenden Untersuchung von Paul Boyer dar.29

Forschungsdefizite und -desiderate

Anstatt auf weitere Nuancierungen der amerikanischen Kabinettspolitik fixiert zu sein, ist es an der Zeit, die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, Weltbilder und Traditionen zu untersuchen, die Hiroshima und Nagasaki möglich gemacht haben. Viel stärker als bisher müßte die Situation in Japan mit in die Untersuchungen einbezogen werden. Dies aber verlangt eine andere Organisation von Forschung. Anstatt daß die US-Historiker (und möglicherweise ihre Kollegen in Japan) nur zu sich selbst reden, wäre ein solches bilaterales Arrangement ein Zeichen gemeinsamen Lernens aus der Doppel-Katastrophe vom August 1945.

Die weitere Erforschung der Rolle der Naturwissenschaftler hätte dann einen festen Platz in einem solchen Design, wenn die technokulturellen und außenpolitischen Weltbilder der Physiker, ihre europäischen Traditionen und die Vermischungen mit dem »amerikanischen technologischen Enthusiasmus« (Hughes) untersucht würden. Ein derartiges Design, angemessen umgesetzt, enthält das Versprechen, daß Neuerscheinungen auch wirklich Neues vermitteln.

Rudolf Peierls: Gedanken über die Bombe

Ich werde oft gefragt: „Als Sie
daran arbeiteten, die Atombombe entwickeln zu helfen, haben Sie da nicht gewußt, welche
Schrecken sie bringen würde?
Anfangs war Ihr Motiv die Angst, Hitler könne es als
erster schaffen. Warum haben Sie die Arbeit nach der Niederschlagung Deutschlands
fortgesetzt?“

Auf diese Frage zu antworten, ist
schwer. Niemand konnte die Berichte und Bilder von Hiroshima und Nagasaki anders aufnehmen
als mit Schrecken, und es gab keinen, der in irgendeiner Weise Stolz darüber empfunden
hätte, daran mitgewirkt zu haben, daß es dazu kam. Aber es war Krieg, und im Krieg sind
Tod, Leid und Zerstörung unvermeidlich. Bei den Atombombenabwürfen sind nicht mehr
Menschen gestorben, als ein großer Feuerangriff auf Tokio gekostet hätte. Nicht das
Ausmaß der Zerstörung ist es, das dem Krieg mit dem Einsatz der Atombombe eine neue
Dimension verlieh; neu war die Mühelosigkeit, mit der die Waffe benutzt werden kann: Mit
einem einzigen Flugzeug kann eine solche Zerstörung bewirkt werden, wie sie zuvor nur
durch eine massive Militäroperation erreicht werden konnte. Wir kannten die
Zerstörungskräfte der Bombe ebenso wie ihre Strahlenwirkungen, und Frisch und ich haben
in unserem ersten Memorandum auch ausdrücklich darauf hingewiesen. Wir wußten, wie
mühelos die Bombe einsetzbar war, und deshalb wußten wir auch, welche ungeheuer große
Verantwortung damit den führenden Politikern und Militärs auferlegt wurde, die über das
Ob und Wann des Bombeneinsatzes würden entscheiden müssen.

Es war uns klar, wie wichtig es war
sicherzustellen, daß die Entscheidungsträger die neue Lage einschließlich sämtlicher
Folgen der Existenz dieser neuen Waffe begriffen. Wir dachten, daß über all dies
gesprochen worden wäre. Zu der Zeit, als ich in England war, lag die Fertigstellung der
Waffe noch in weiter Ferne. In Los Alamos hatten wir keinen direkten Kontakt mit den
maßgeblichen amerikanischen Verantwortlichen, aber wir wußten, daß Oppenheimer mit
ihnen in Verbindung stand, und wir hatten Vertrauen in dessen Fähigkeiten, die Sache
verständlich und deutlich darzulegen. Wir waren der Meinung, die Verantwortlichen seien
vernünftige und intelligente Leute und würden verantwortungsvoll entscheiden.

Rückblickend ist klar, daß wir mit
dieser unserer Meinung zu optimistisch waren. Ich will nicht sagen, daß es den
Entscheidungsträgern an gutem Willen gefehlt hätte, aber wir haben ihre
Vorstellungskraft und ihr Vermögen, sich auf eine völlig neue Situation einzustellen,
überschätzt. Meiner Ansicht nach wäre die naheliegende Reaktion gewesen, eine Bombe
über einem dünn besiedelten Gebiet abzuwerfen, um ihre Wirkungen vorzuführen, und
gleichzeitig die japanische Regierung ultimativ zu Friedensverhandlungen zu bewegen mit
dem Ziel, einen Atombombenangriff größeren Ausmaßes zu vermeiden. Das hätte bedeutet,
daß einige Menschen getötet und einige Gebäude zerstört worden wären, denn anders
wäre die Kraft der Bombe nicht augenfällig geworden: Nach dem Alamogordo-Test waren die
sichtbaren Wirkungen für den Experten zwar beängstigend, für den Laien aber nicht
beeindruckend. Natürlich hätte man mit einem solchen Ultimatum scheitern können, aber
es wäre doch wenigstens ein Versuch gewesen, unnötiges Sterben zu vermeiden. Offenbar
ist niemand auf den Gedanken gekommen, diese Möglichkeit zu prüfen; jedenfalls stand sie
in den führenden Politiker- und Militärkreisen nicht zur Diskussion. Was erörtert
wurde, war ein Test, der vorher angekündigt und zu dem Beobachter eingeladen werden
sollten (wie später bei einem Test auf dem Bikini-Atoll geschehen). Dieser Vorschlag
wurde abgelehnt, weil das zuverlässige Funktionieren des Zündmechanismus' nicht
gewährleistet war und ein Fehlschlag des Tests gegenteilige Wirkung gehabt hätte.

Auch wenn wir nun, viele Jahre später,
klüger sein mögen als damals – was hätten wir tun sollen? Hätten wir es von
Anfang an unterlassen sollen, an der Atombombe zu arbeiten, oder hätten wir nach der
Niederschlagung Deutschlands aufhören sollen, daran weiterzuarbeiten? Ersteres hätte ein
untragbares Risiko bedeutet, und nach dem Sieg über Deutschland war schließlich immer
noch ein blutiger und grausamer Krieg im Gange, der durch die neue Waffe verkürzt werden
konnte (und wurde). Im übrigen: Nachdem das Phänomen der Kernspaltung entdeckt war und
sich nicht wieder unentdeckt machen ließ, und nachdem man begriffen hatte, daß eine
Atombombe tatsächlich machbar war, ergab sich unweigerlich der Schluß, daß sie früher
oder später von jemandem entwickelt werden würde. Eine generelle Weigerung aller
Wissenschaftler, an Kernwaffen zu arbeiten, konnte nicht zustande kommen, es sei denn, es
hätte bei ihnen ein genereller Vertrauensmangel geherrscht in der Weise, daß sie ihrer
Regierung die Fähigkeit zum angemessenen Umgang mit der Situation abgesprochen hätten.
Deshalb halte ich den Gedanken eines solchen »Streiks« der Wissenschaftler für
wirklichkeitsfremd.

Oder: Hätten wir darauf bestehen
sollen, die Kontrolle darüber zu behalten, wie die Ergebnisse unserer Arbeit genutzt
werden? Das hätte bedeutet, daß wir von der anmaßenden Vermutung ausgegangen wären,
besser qualifiziert zu sein als andere, die richtigen politischen und militärischen
Entscheidungen zu fällen, und im übrigen wäre eine derartige Kontrolle auch niemals zu
verwirklichen gewesen. Ich bedaure, daß wir nicht darauf bestanden haben, mehr Gespräche
mit den führenden Militärs und Politikern zu führen, Gespräche, in denen die Folgen
und möglichen Handlungsverläufe auf der Grundlage des wissenschaftlichen Kenntnisstandes
ausführlich und in aller Deutlichkeit erörtert worden wären. Daß solche Gespräche am
Ende einen Unterschied gemacht hätten, ist freilich nicht gewiß.

Dies ist in Kurzform die Antwort auf
Fragen, die ein eigenes Buch verdient hätten.

Quelle: Rudolf Peierls, Bird of Passage.
Recollections of a Physicist, Princeton 1985, S. 203-205; (Übersetzung: Hedda Wagner.)

Vorgestellte Bücher

Cassidy, David C.: Werner Heisenberg. Leben und Werk, Frankfurt a. M. 1995 (Spektrum Akademischer Verlag), 600 S., 68 DM

Fölsing, Albrecht: Albert Einstein. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1993 (Suhrkamp), 959 S., 78 DM

Gleick, James: Richard Feynman. Leben und Werk des genialen Physikers, München 1993 (Droemer Knaur), 712 S., 56 DM

Heinemann-Grüder, Andreas: Die Sowjetische Atombombe, Münster 1992 (Westfälisches Dampfboot), 168 S., 26 DM

Herken, Gregg: Cardinal Choices. Presidential Science Advising from the Atomic Bomb to SDI, New York/Oxford 1992 (Oxford University Press), 317 S., $ 24.95

Hershberg, James: James B. Conant. Harvard to Hiroshima and the Making of the Nuclear Age, New York 1993 (Alfred Knopf), 948 S., $ 35

Hoffmann, Dieter (Hrsg.): Operation Epsilon. Die Farm-Hall-Protokolle oder die Angst der Alliierten vor der deutschen Atombombe, Berlin 1993 (Rowohlt), 381 S., 42 DM

Holloway, David: Stalin and the Bomb. The Soviet Union and Atomic Energy 1939-1956, New Haven/London (Yale University Press), 464 S., $ 30

Hughes, Thomas: Die Erfindung Amerikas. Der technologische Aufstieg der USA seit 1870, München 1991 (C.H. Beck), 528 S., 58 DM

Lanouette, William, with Bela Silard: Genius in the Shadows. A Biography of Leo Szilard, New York 1992 (Charles Scribner`s Sons), 588 S., $ 35

Macrae, Norman: John von Neumann. Mathematik und Computerforschung – Facetten eines Genies, Basel u.a. 1994 (Birkhäuser Verlag), 349 S., 78 DM

Newman, Robert P.: Truman and the Hiroshima Cult, East Lansing 1995 (Michigan State University Press), 272 S., $ 34.95

Powers, Thomas: Heisenbergs Krieg. Die Geheimgeschichte der deutschen Atombombe, Hamburg 1993 (Hoffmann und Campe), 768 S., 78 DM

Salewski, Michael (Hrsg.): Das Zeitalter der Bombe. Die Geschichte der atomaren Bedrohung von Hiroshima bis heute, München 1995 (Verlag C.H. Beck, Beck'sche Reihe), 334 S., 24 DM

Stölken-Fitschen, Ilona: Atombombe und Geistesgeschichte. Eine Studie der fünfziger Jahre aus deutscher Sicht, Baden-Baden 1995 (Nomos), 357 S., 78 DM

Walker, Mark: Nazi Science: Myth, Truth, and the German Atomic Bomb, New York 1995 (Plenum Press), 330 S., $ 28.95

Weinberg, Gerhard L.: Eine Welt in Waffen. Die globale Geschichte des Zweiten Weltkriegs, Stuttgart 1995 (Deutsche Verlags-Anstalt), 1174 S., 98 DM

Wittner, Lawrence S.: One World or None. A History of the World Nuclear Disarmament Movement Through 1953. Vol. 1: The Struggle Against the Bomb, Stanford 1993 (Stanford University Press), 456 S., $ 29.95

Anmerkungen

1) Der epochale Brief ist abgedruckt in: Verfuß, Klaus/Hartmann Wunderer (Bearbeiter): Hiroshima. Geschichte und Aktualität der atomaren Bedrohung, Wiesbaden 1995 (Hrsg.: Hessisches Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung/Hessisches Institut für Lehrerfortbildung, Außenstelle Wiesbaden, in Kooperation mit der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung), S. 13. Zurück

2) Alperovitz, Gar: Atomic Diplomacy: Hiroshima and Potsdam, Boulder/London 1985 (erw. und neu durchgesehene Ausgabe; ursprüngliche Edition: New York 1965, dt. 1966). Zurück

3) In den letzten Jahren – man könnte etwas überspitzt sagen: Jahrzehnten – haben sowohl Alperovitz als auch Bernstein in vielen Beiträgen immer das Gleiche gesagt, ohne wesentlich neue Dokumente zu präsentieren. Siehe z.B. den Briefwechsel zwischen Alperovitz, Gar/Robert L. Messer und Barton J. Bernstein, in: International Security, 16, 3 (Winter 1991/92), S.204-221. Eiligen Leser sei dieser Briefwechsel empfohlen, da er im Kern alle Argumente und Probleme zusammenfaßt, die sich auch im Laufe der letzten Jahre nicht geändert haben. Siehe ferner Alperovitz, Gar: Beyond the Smithonian Flap: Historians' New Consensus, in: The Washington Post, 16. 10. 1994, sowie ders., Enola Gay: A New Consensus, in: Washington Post, 4. 2. 1995. Diese Positionen finden sich ausführlicher in seinem Aufsatz »Hiroshima: Historians Reassess« wieder, den die »Blätter für deutsche und internationale Politik« in ihrem Juli-Heft 1995 abdrucken werden (leicht gekürzte Fassung des Beitrages aus der Sommer-Ausgabe von »Foreign Policy«). Zu Barton Bernstein siehe The Atomic Bombings Reconsidered, in: Foreign Affairs, 74, 1 (Frühjahr 1995), S. 135-152. Zurück

4) Sherwin, Martin J.: A World Destroyed. The Atomic Bomb and the Grand Alliance, New York 1975; Bernstein, Barton J.: Roosevelt, Truman, and the Atomic Bomb, 1941-1945: A Reinterpretation, in: Political Science Quarterly, 90, 1 (Frühjahr 1975), S. 23-69, sowie ders. (Hrsg.): The Atomic Bomb. The Critical Issues, Boston/Toronto 1975. Zurück

5) Sherwin, Martin J.: Hiroshima and Modern Memory, in: Nation, 10. 10. 1981, S. 349-353. Zurück

6) Briefwechsel (Anm. 3), S. 220. Zurück

7) Ebd., S. 215. Zurück

8) Walker, Samuel J.: The Decision to Use the Bomb: A Historiographical Update, in: Diplomatic History, 14, 1 (Winter 1990), S. 110f. Zurück

9) Siehe z.B. seinen Artikel in der Washington Post, 4.2.1995. Zurück

10) Maddox, Robert James: Atomic Diplomacy: A Study in Creative Writing, in: Journal of American History, 59, März 1973, S. 925-934. Zurück

11) Das von Newman abgebrochene Zitat findet sich vollständig in: Szilard, Leo: Recollections, in: Weart, Spencer R./Gertrud Weiss Szilard (Hrsg.), Leo Szilard: His Version of the Facts. Selected Recollections and Correspondence, Cambridge, Mass./London 1978, S. 186. Zurück

12) Villa, Brian L.: A Confusion of Signals: James Franck, the Chicago Scientists and Early Efforts to Stop the Bomb, in: Bulletin of the Atomic Sientists, 31, 10 (Dezember 1975), S. 36-42. Zurück

13) Frisch, David H.: Scientists and the Decision to Bomb Japan, in: Bulletin of the Atomic Scientists, 26, 6 (Juni 1970), S. 107-115. Zurück

14) Steiner, Arthur: Scientists, Statesmen, and Politicians: The Competing Influence on American Atomic Energy Policy 1945-46, in: Minerva, 12,4 (Oktober 1974), S. 469-509. Zurück

15) Szilard (Anm. 11), S. 186, Anm. 13. Zurück

16) Frisch (Anm. 13), S. 115. Zurück

17) Steiner (Anm. 14), S. 508ff. Zurück

18) Sherwin (Anm. 4), S. 207f. Zurück

19) Interview mit: U.S. News & World Report, 15. 8. 1960, S. 68. Zurück

20) Ebd., S. 71. Zurück

21) Bernstein, Barton J.: Introduction, in: Hawkins, Helen S. u.a. (Hrsg.): Toward a Livable World. Leo Szilard and the Crusade for Nuclear Arms Control, Cambridge, Mass./London 1987, S. xxxiiiff. Zurück

22) New York Times, 18. 4. 1995. Zurück

23) Zitiert von Szilard (Anm. 11), S. 184. Zurück

24) Clark, Ronald W.: Einstein. The Life and Times, New York 1971. Zurück

25) Heims, Steve J.: John von Neumann and Norbert Wiener. From Mathematics to the Technologies of Life and Death, Cambridge, Mass./London 1980. Zurück

26) Rhodes, Richard: Die Atombombe oder Die Geschichte des 8. Schöpfungstages, Nördlingen 1988. Zurück

27) Hewlett, Richard G./Oscar E. Anderson, Jr.: The New World, 1939/46, University Park/Pa., 1962. Zurück

28) Walker, Mark: Die Uranmaschine. Mythos und Wirklichkeit der deutschen Atombombe, Berlin 1990. Zurück

29) Boyer, Paul: By the Bomb's Early Light. American Thought and Culture at the Dawn of the Atomic Age, New York 1985. Zurück

Dr. Bernd W. Kubbig ist Projektleiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.

Waren die Atombombenabwürfe ein Fehler?

Waren die Atombombenabwürfe ein Fehler?

von Edward Teller

Meine Damen und Herren, ich bin hergekommen mit vielen Zweifeln und vielen Fragen. Ich möchte Sie bitten, das, was ich sage, immer in einem zweideutigen Sinne anzunehmen. Ich rede über schwierige Gegenstände, und ich finde, daß die meisten Leute darüber gewissenlos reden. Sie reden, als ob sie die Frage verstanden hätten, und sie geben klare Antworten. Ich werde auch klare Antworten geben, aber das tue ich nur der Kürze halber. Vor jeder Antwort sollte ich eigentlich »vielleicht«, »möglicherweise«, gelegentlich »wahrscheinlich« sagen. In diesen menschlichen und nationalen Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten. Und es ist sehr wichtig, daß man die Zukunft so gestaltet, daß man weiß: Man muß seinen Weg mit der größten Vorsicht wählen.

Zunächst will ich einen Glaubensartikel aufstellen, und zwar möchte ich etwas mehr positiv sein, vielleicht ungerechtfertigterweise. Ich habe den größten Teil des 20. Jahrhunderts miterlebt. Als Prinz Ferdinand und seine Frau in Sarajewo umgebracht worden sind, war ich sechs Jahre alt. Meine Eltern erzählten mir von dem Doppelmord und fügten hinzu: „Aber es wird keinen Krieg geben“. Ich erinnere mich noch an das Gespräch. Ich habe sofort gefragt: „Warum gibt es keinen Krieg?“ Die Antwort: „Warum sollte es einen Krieg geben? Es gibt keinen Grund!“„Ja, aber warum sagt Ihr mir dann, daß es keinen Krieg geben wird, wenn es sowieso keinen Grund gibt?“ – Die tiefen Zweifel darüber, warum dieser Unsinn vom Ersten Krieg überhaupt notwendig war, warum es überhaupt geschehen ist, diese Zweifel habe ich als 6-jähriger mit den naivsten Fragen miterlebt.

Ich will fortfahren mit ein wenig Optimismus. Im Moment gibt es Hoffnung. Der Zusammenbruch der Sowjetunion ging vonstatten, ohne daß Menschen dabei umgekommen sind; die Befreiung von mehr als 200 Millionen Menschen, wenn man die Satelliten einschließlich Ostdeutschlands mitrechnet, ist etwas Großartiges. Die Tatsache, daß das möglich war, hat zwei Bedeutungen: die Bedeutung der Hoffnung und die Bedeutung der Pflicht. Die Hoffnung, daß wir beginnen, die Anzahl der Kriege zu reduzieren und den Krieg abzuschaffen; die Pflicht, diese Möglichkeit vollständig auszunutzen.

Man kann Waffen nicht regulieren

Ich teile die allgemeine Meinung nicht, daß man den Krieg abschaffen wird, indem man Waffen unter Kontrolle bringt. Es ist nicht möglich, Waffen zu regulieren. Die Möglichkeit, Rüstungskontrollverträge zu verletzen, und die Schwierigkeit, solche Verträge in der Realität durchzusetzen, ist überwältigend. Meiner Meinung nach liegt die Antwort weniger im Regulieren von Waffen. Den Krieg kann man nur abschaffen, wenn man die Ursachen des Krieges ausmerzt. Man muß ein Zusammenwirken der Völker in der Praxis durchsetzen, so daß jedem bewußt wird: Wer einem anderen schadet, einem anderen Volk schadet, der schadet auch sich selbst. Von diesem Bewußtsein war aber unglaublich wenig da, sogar noch im letzten Jahrhundert. Aber trotz der Katastrophen des 20. Jahrhunderts glaube ich, daß das Bewußtsein der Notwendigkeit der internationalen Zusammenarbeit in diesem Jahrhundert bereits stärker vorhanden war als je zuvor und sich im Laufe des Jahrhunderts immer stärker ausprägte.

Ich sagte, ich kam her mit Zweifeln. Ich wollte aber kommen. Warum? Die Vereinigung Europas war, als ich jung war, ein unmöglicher Wunschtraum. Sie ist noch immer nicht da. Aber sie ist heute viel mehr als ein Wunschtraum. Zusammenarbeit findet statt, Probleme, wie das große Problem der Wiedervereinigung Deutschlands, werden gelöst – das sind die positiven Schritte. Man muß nicht den Krieg abschaffen, man muß den Frieden auf ein Niveau heben, auf dem die Zusammenarbeit und der Frieden unanfechtbar werden. Der Frieden an sich muß stark werden. Daß Amerika, die Heimat meiner Wahl, es fertiggebracht hat, die bitteren Erinnerungen des Zweiten Weltkrieges bezüglich Deutschlands und bezüglich Japans nicht auszumerzen, aber abzuschwächen, zu reduzieren, wenigstens einiges, was falsch war, wiedergutzumachen – dies sind Ereignisse in der Weltgeschichte, wie sie nie vorher zu beobachten waren. Auf diese Entwicklungen müssen wir bauen.

Meine Damen und Herren, ich könnte hier aufhören. Das ist das Wesentliche, das ich sagen will. Ich will aber doch ein, zwei Dinge konkret hinzufügen als Beispiele und weil Sie es erwarten.

Die Verantwortung war mir zu groß

Am Anfang des schicksalsreichen Sommers 1945 bekam ich einen Brief von meinem guten Freund Leo Szilard – einem Ungarn, er war 10 Jahre älter als ich, ein wunderbarer Mensch. Er hatte ein Prinzip, nie etwas zu sagen, was von ihm erwartet wurde. Wenn er jemanden verletzte, war ihm das gleichgültig. Aber er hat niemals jemanden gelangweilt. Er schrieb mir einen Brief: Atombomben. Neues Weltzeitalter. Atombomben nicht benutzen, wenigstens nicht sofort. Erst vorführen, erst zeigen, damit wir und die Japaner wissen, worum es sich handelt.

Mit diesem Brief zog ich zu dem Direktor von Los Alamos, Oppenheimer, der der einzige im Labor war, der Zutritt in Washington hatte und der etwas von Politik verstand; darüber hinaus war er sehr populär. Ich zeigte ihm den Brief. Er war wütend und machte mir klar, daß es überhaupt keine Frage sei, die Atombombe müsse benutzt werden. Wir Wissenschaftler würden die Japaner ja nicht verstehen. Seines Erachtens müßten wir die Entscheidung den Politikern überlassen.

Es tut mir leid, es gestehen zu müssen: Er hat mich überredet. Warum? Die Verantwortung, in dieser Lage zu versuchen, etwas zu tun, war mir zu groß. Ich wußte, ich glaubte – das glaube ich auch noch immer – wir mußten es wissen, was man mit der Atombombe anfangen kann. Wir haben die Atombombe nicht gemacht. Wir haben die Atombombe gefunden. Die Frage war nicht, ob es eine Atombombe geben wird; es ging darum, ob die Kenntnis der Atombombe zuerst in einer gemäßigten Regierung vorhanden sein wird. Wir mußten daran arbeiten, da hatte ich keinen Zweifel. Aber was tun, um den Krieg zu beenden? Die Antwort – zu schwer. In diesem Sinn hat mich Oppenheimer überredet.

Dann wußten wir, was wir getan haben. Es tat mir leid.

Nicht viel später lag ich da, 20 km vom Explosionspunkt, wo der erste Versuch in Alamogordo stattfinden sollte, mit einem dunklen Glas an mein Gesicht gepreßt. Da kam nun das erste Zeichen, ganz schwach. Im ersten Bruchteil einer Sekunde, daran erinnere ich mich noch sehr deutlich, dachte ich: Ist das alles? Und dann erinnerte ich mich, daß ich ja dieses äußerst schwere Glas hatte. Ich schob es etwas weg und sah von der Seite Licht, in keiner Weise direkt. Es war 6 Uhr morgens. Das war, als ob ein schwerer Vorhang aufging und die strahlende Sonne ins Zimmer kam. Da war ich beeindruckt, und in dem Moment wußte ich: In einer kurzen Zeit wird das alles andere sein als nur ein Versuch. – Und dann kamen die Bilder. Dann wußten wir, was wir getan haben. – Es tat mir leid.

Ich kann nicht sagen, was richtig gewesen wäre. Ich kann aber sagen, daß wir das Richtige nicht getan haben oder nicht genug. Wir haben es fertiggebracht, die Atombombe zu bauen. Wir haben aber unserem Präsidenten keine Wahl angeboten. Er konnte sie benutzen oder nicht. Einen anderen Weg gab es nicht, denn einen anderen Weg haben die Wissenschaftler nicht geschaffen. Nachher, als es zu spät war, habe ich darüber oft nachgedacht. Es gibt eine Möglichkeit, die wir hätten ausarbeiten sollen. Wir hätten sagen können: Die erste Bombe soll keinem Menschen schaden. Sie soll abgeworfen werden über der Bucht von Tokio, 10 km über der Erdoberfläche, bei gutem Wetter abends um 8 Uhr. Dann wird es hell für 3 Sekunden, so hell, wie ich es in Alamogordo gesehen habe. Und dann, nach weniger als einer Minute, kommt der Donner, wie es noch keiner gehört hat. Das wird gesehen und gehört von 10 Millionen Japanern. Und dann sollen wir sagen: Der Krieg muß beendet werden. Wenn ihr nicht aufhört, benutzen wir dieses, aber so, daß darunter Menschen wirklich leiden werden.

Wir Wissenschaftler müssen Wissenschaft betreiben

Wir müssen uns vergegenwärtigen, was damals geschehen ist. Wir haben Bomben gebraucht. Im japanischen Kabinett – da gibt es ein wunderbares Buch von John Toland1 – wurde nach dem Abwurf keine einzige Stimme geändert. Sie stimmten nicht für die Beendigung des Krieges oder wenigstens gab es keine Mehrheit. Aber der Kaiser Hirohito griff ein. Er hörte die Nachricht und er entschied, zum Volk zu reden und zu sagen: Wir müssen das Unmögliche leiden, wir müssen uns ergeben.

Meine Damen und Herren, die Frage, die sich stellt, ist: Wenn wir die 100.000 in Hiroshima nicht getötet hätten, sondern die Bombe bloß gezeigt hätten, hätte das nicht dasselbe Resultat ergeben können? Ich weiß es nicht. Ich will auch sogar nicht sagen, daß wir das hätten befürworten sollen. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir Wissenschaftler Wissenschaft treiben müssen. Wir müssen ausfindig machen, was geht und was nicht geht. Die Entscheidungen muß das Volk treffen und besonders die Politiker, die das Volk repräsentieren. Das ist der Sinn der Demokratie. Und wir müssen dem Volke und den Repräsentanten des Volkes, den Politikern, eine Wahl darbieten.

Meine Kritik ist nicht, daß wir die Atombombe abgeworfen haben, meine Kritik, mein Einwand ist, daß wir das als eine Möglichkeit erschaffen haben, ohne daran zu arbeiten, eine Alternative darzubieten, so daß die, wie unser Präsident Truman, die entscheiden mußten, es in der Hand gehabt hätten: dieses oder jenes. Es hätte sein können – die Möglichkeit war sehr groß, daß eine Demonstration keinen Effekt gehabt hätte. Aber selbst wenn wir Erfolg gehabt hätten, hätte es passieren können, daß dann ohne Hiroshima die Angst nicht groß genug gewesen wäre, um spätere Atomkonflikte zu verhindern. Ich kann argumentieren, es war richtig, die Bombe abzuwerfen, und ich kann argumentieren, es war falsch. Meine Gefühle sagen, es war falsch. Aber meine Gefühle können sich irren. Es ist nicht ein Gefühl, es ist eine feste Überzeugung, daß wir Wissenschaftler der Allgemeinheit und den Politikern schuldig waren, eine Wahl zu präsentieren, ihnen möglich zu machen, diese schwere Entscheidung so zu treffen, wie sie getroffen werden sollte in einer Demokratie.

Ich bin durchaus dafür, diese neuen Waffen auszuarbeiten

Meine Damen und Herren, ich sage all das im Sinne, wie es hier in der Einleitung gesagt worden ist: Die Entdeckungen sind nicht an ihrem Ende. Es gibt und es wird neue Waffen geben. Ich bin durchaus dafür, diese neuen Waffen auszuarbeiten. Ich bin nicht dafür, davon Abstand zu nehmen. Ich bin auch nicht dafür, daß wir Wissenschaftler Euch sagen sollen, was Ihr mit den Waffen anzufangen habt. Was wir wirklich haben tun müssen, ist, mit einer jeden neuen Waffenmöglichkeit die Konsequenzen darzustellen und die Alternativen der Benutzung oder Nichtbenutzung Euch darzulegen. Der Krieg wird nicht vermieden dadurch, daß wir nicht über die Waffen Bescheid wissen. Das Wissen kommt, ob wir es wollen oder nicht. Was wir anstreben müssen, ist ein klares und ein vollständiges Wissen, so vollständig, wie es menschenmöglich ist. Diese Möglichkeiten müssen wir Euch und den Politikern mitteilen, damit diese dann die Wahl treffen.

Und hier ein allerletztes Wort: Mit jeder neuen Möglichkeit, eine Waffe zu schaffen, gibt es auch Möglichkeiten, das, was wir schaffen, für das allgemeine Wohl zu verwenden. Wir gebrauchen Atomenergie viel zu wenig. Die Angst vor der Radioaktivität ist unnnötig groß. Wir haben heute einen Plan, uns gegen die Natur zu wehren. Wir wissen, daß von Zeit zu Zeit ein Meteorit ankommt, und der schlägt ein mit einer Kraft von Hiroshima oder mit einer noch größeren. Wir wissen heute, daß so große Explosionen wie in Hiroshima in der hohen Atmosphäre ungefähr einmal im Jahr vorkommen. Wir wissen, daß 1908 in Sibirien ein Meteorit eingeschlagen hat, der eine Explosionskraft von 10 Mio. Tonnen TNT hatte, der den Wald im Umkreis von 1.000 km2 vernichtet und zwei Menschen getötet hat. Glücklicherweise war es nicht über Frankfurt, sonst gäbe es Frankfurt nicht mehr. Das wissen wir heute. Wie verhindern? Wir wissen, daß ein ganz großes Objekt vor 65 Mio. Jahren eingeschlagen hat, und das war das Ende des historischen Mittelalters der Lebewesen, des Mesozoikums. Das war der Anfang der Neuzeit, und es war der Tod von allen großen Lebewesen. Die Gefahren, in denen wir leben, kommen von den Menschen und in noch viel stärkerem Maße von der Natur.

Ich behaupte, daß heute, sogar am Ende des 20. Jahrhunderts, das Leben besser ist als je zuvor. Wir haben kein Recht, Pessimisten zu sein. Wir haben die Pflicht, uns eine weiter verbesserte Zukunft vorzustellen und den Weg zu finden. Es ist in diesem Sinne, daß ich denke, und ich versuche, dieses Denken auf Euch zu übertragen. Dankeschön.

Anmerkungen

1) John Toland, The Rising Sun. The Decline and Fall of the Japanese Empire, New York, 1970. (Anm. d. Hg.) Zurück

Edward Teller.

Abschied vom Handelsstaat?

Abschied vom Handelsstaat?

Erfahrungen mit der japanischen Blauhelmpolitik

von Hartwig Hummel

Im folgenden Artikel sollen die Entwicklung der Blauhelmdebatte in Japan und ihre Hintergründe näher beleuchtet werden, die aufgrund der Parallelen für die deutsche Debatte von besonderem Interesse sein dürften. Dabei geht es um die Frage, ob die Handelsstaatslogik grundsätzlich weiter gilt oder der in Deutschland sich abzeichnende neue Interventionismus unvermeidlich ist.

Japan und Deutschland gelten als prototypische »Handelsstaaten«1, als Länder, die nicht mehr an den Sinn einer Außenpolitik mit militärischen Mitteln glauben, das Militär deshalb strikt auf Verteidigungsfunktionen beschränken und statt dessen auf den Sachzwang zur zivilisierten Kooperation angesichts weltwirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Problemverflechtungen und Interdependenzen bauen. In den 80er Jahren schien es noch, daß ein langwieriger und schmerzhafter geschichtlicher Lernprozeß – von der »späten« Industrialisierung über den Imperialismus bis zur Niederlage im Zweiten Weltkrieg – in beiden Ländern zur Durchsetzung der Handelsstaatslogik geführt hatte.

Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Proklamation einer »Neuen Weltordnung« stand nun plötzlich die militärische Eindämmung von Regionalkrisen und bedrohlichen »neuen Waffenstaaten« des Südens à la Irak auf der politischen Tagesordnung des Nordens. Beide Länder zwang der zweite Golfkrieg zu einer Grundsatzdebatte über die zukünftige Außen- und Militärpolitik. In beiden Ländern stand die weitere Gültigkeit der Handelsstaatsorientierung auf dem Spiel: sollen und können die bestehenden militärpolitischen Restriktionen weiter aufrechterhalten werden? Oder zeigt der Golfkrieg nicht vielmehr, daß (begrenzte) Kriege wieder gewinnbar und als politisches Instrument nützlich und damit legitimierbar geworden sind? Diese Grundsatzdebatte konkretisierte sich in beiden Ländern schnell auf die Frage nach einem Auslandseinsatz der Streitkräfte bei multinationalen Interventionen vorzugsweise unter dem Dach der Vereinten Nationen (»Blauhelme«).

Japan als Handelsstaat: Kapitulation als soziales Lernen2

Die japanische Politik basierte bis 1945 auf dem Slogan »fukoku kyohei« (reiches Land, starke Armee), also der Verknüpfung eines militärisch starken Staates – nach außen und nach innen – mit der erfolgreichen nachholenden Industrialisierung und Modernisierung Japans. Die Kapitulation Japans 1945 bedeutete das Ende des historischen japanischen Militarismus und die gesellschaftliche Diskreditierung der Militärlogik: Der Krieg hatte Japan international isoliert, eine militärische Eroberungspolitik erwies sich angesichts der Kosten und Opfer des Krieges als unsinnig und ein militärischer Schutz war im Zeitalter des Luftkrieges und der Atombomben unmöglich geworden.

Diese Einsicht prägte die neue Verfassung Japans von 1946. In der Präambel wird ein machtpolitisches Denken abgelehnt und auf die »Gemeinschaft der friedliebenden Völker« als Grundlage der japanischen Sicherheitspolitik verwiesen; damit wird eine Orientierung auf das System der Vereinten Nationen nahegelegt. Artikel 9 der Verfassung verbietet die Aufrechterhaltung von Streitkräften und Kriegspotential in Japan. Die Verfassung wurde ursprünglich auf starken Druck der US-Militärregierung gegen die widerstrebende bürokratische Elite Japans verabschiedet. Spätestens mit dem Beginn des Korea-Krieges verlor die US-Regierung aber das Interesse an der Demilitarisierung Japans und verlangte die Wiederbewaffnung, freilich unter ihrer Kontrolle im Rahmen des bilateralen Sicherheitsvertrags von 1951.

Die Yoshida-Doktrin

Die Wiederbewaffnung Japans wurde zwar von einigen rechten Politikern begrüßt, doch vom seit Ende der 40er Jahre bis 1993 allein regierenden, auf Bürokratie und Wirtschaft sich stützenden konservativ-liberalen Block nur sehr zögerlich umgesetzt und von den Sozialisten und den Gewerkschaften erbittert bekämpft. Praktisch maßgebend wurde die nach dem damaligen Ministerpräsidenten benannte »Yoshida-Doktrin«, d.h. die Konzentration auf die wirtschaftliche Entwicklung bei weitgehender außenpolitischer Zurückhaltung. Nach den Massenprotesten von 1960 gegen den Sicherheitsvertrag mit den USA und dem Rücktritt des nationalistischen Ministerpräsidenten Kishi (ehemaliges Mitglied im Kriegskabinett) setzte sich die Handelsstaatslogik endgültig durch.

Die folgenden Regierungen konzentrierten sich auf die Förderung der exportorientierten Wirtschaft. Außenpolitisch verhielt sich die japanische Diplomatie äußerst zurückhaltend und folgte im allgemeinen der Linie der USA. Dem Militär wurden jedoch enge Grenzen gesetzt:

  • strenge zivile (politische) Kontrolle des Militärs und Verzicht auf die Wehrpflicht
  • Verbot des Auslandseinsatzes der Streitkräfte und der Beteiligung an kollektiven Verteidigungsbündnissen
  • Beschränkung der Bewaffnung und Stärke der Streitkräfte auf Defensivkapazitäten (keine weitreichenden Waffen oder Transportmittel, keine militärische Nutzung des Weltraums, Begrenzung des Militärhaushalts auf 1<0> <>% des Bruttosozialprodukts)
  • Verbot von Stationierung, Besitz und Herstellung von Nuklearwaffen in Japan
  • Verbot des Rüstungsexports.

Je nach den politischen Kräfteverhältnissen zwischen rechten Falken und Rüstungslobby auf der einen Seite und den wirtschaftsliberalen Tauben und zivilen Großkonzernen auf der anderen Seite und je nach Druck der US-Regierung zu stärkerem militärischem Engagement Japans wurden diese Restriktionen verschärft oder gelockert. Versuche, die Restriktionen aufzugeben, stießen aber sofort auf den erbitterten Widerstand der parlamentarischen Linken und der öffentlichen Meinung, die mit großer Mehrheit hinter der Friedensverfassung stand, auf die Kritik der mißtrauischen Nachbarländer und die Zurückhaltung der Großkonzerne, die ihre Geschäfte nicht durch politische Streitereien stören lassen wollten. In den USA wurde diese japanische Außenpolitik zwar als »Trittbrettfahren« beschimpft, als Abwälzen der militärischen Kosten der Sicherung der japanischen Wirtschaftsexpansion auf die USA, doch letztlich im Rahmen der übergeordneten strategischen Interessen während des Ost-West-Konflikts geduldet.

Japan und das Ende des Kalten Kriegs

In den 80er Jahren wurde angesichts der wirtschaftlichen Probleme US-amerikanischer Unternehmen und des US-Staates die Handelspolitik der USA generell und besonders gegenüber Japan immer konfrontativer. Auch die strategisch motivierte Zurückhaltung gegenüber Japan entfiel mit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Zudem forderten einige Länder Ost- und Südostasiens, Japan solle nach dem teilweisen Rückzug der USA nun regionale Ordnungsfunktionen übernehmen. Die USA verlangten von Japan eine weltpolitische Lastenteilung (»burden sharing«). Daraufhin erhöhte Japan die finanzielle Unterstützung für Flüchtlingshilfe und Wiederaufbauprogramme, schaltete sich diplomatisch in die Beilegung der Konflikte in Afghanistan und zwischen dem Iran und dem Irak ein und entsandte dorthin auch einige zivile Waffenstillstandsbeobachter. Japanische Zivilisten beteiligten sich an den UN-Übergangsverwaltungen in Namibia (UNTAG) und Kambodscha (UNTAC).3

Auch innenpolitisch geriet der Handelsstaat Japan in eine Krise. Die korruptionsanfällige Monopolherrschaft der LDP und die lähmende Regulierung von Wirtschaft und Gesellschaft durch die Bürokratie wurden immer stärker kritisiert. 1989 verlor die LDP ihre parlamentarische Mehrheit im Oberhaus. Die Strukturen des politischen System erwiesen sich zudem als ungeeignet, auf die außenpolitischen Herausforderungen angemessen zu reagieren (schwache Position des Ministerpräsidenten, kleiner außenpolitischer Apparat, Rivalitäten zwischen Parteifraktionen der LDP und zwischen Ministerien, Obstruktionstaktik der Opposition).

Die Golfkrise und das PKO-Gesetz

Die Golfkrise 1990/91 zwang Japan schließlich zu einer Grundsatzdiskussion, insbesondere zur Auseinandersetzung mit der zukünftigen Rolle des Militärs. Die japanische Regierung wurde durch die USA massiv bedrängt, nicht nur indirekt, also finanziell und durch die Bereitstellung der US-Basen in Japan, sondern auch direkt und personell zur Golfkriegsallianz beizutragen. Zunächst wollte sich die Regierung vor einer klaren Entscheidung drücken: im Januar 1991 wurden durch juristische Tricks japanische Militärflugzeuge für die Evakuierung von Flüchtlingen aus der Golfregion bereitgestellt, die dann aber gar nicht mehr gebraucht wurden, und im Sommer 1991 beteiligte sich ein japanischer Minenräumverband von 500 Mann ohne klare rechtliche Grundlage an der Minenräumung im Golf. Erst im Juni 1992 billigte das japanische Parlament das Gesetz zur Beteiligung an friedenserhaltenden Maßnahmen der Vereinten Nationen (»PKO-Gesetz«). Die Regierung war damit zweimal Ende 1990 und Ende 1991 im Parlament gescheitert. Erst ein wesentlich restriktiverer Gesetzentwurf der LDP konnte mit Hilfe von zwei kleineren Oppositionsparteien gegen den erbitterten Widerstand der Sozialisten und Kommunisten verabschiedet werden.

Nach dem PKO-Gesetz darf die japanische Regierung bis zu 2000 Soldaten und Zivilisten zu UN-Einsätzen entsenden, allerdings nur zu friedenserhaltenden Maßnahmen, nicht aber zu Kampfeinsätzen. Bedingungen für die japanische Beteiligung sind ein Waffenstillstand und die Zustimmung aller Konfliktparteien. Sind diese Bedingungen nicht mehr gegeben, muß das japanische Kontingent abgezogen werden. Die japanischen Soldaten dürfen leichte Waffen tragen, die ausschließlich zur Selbstverteidigung bestimmt sind. Auf Drängen der Opposition sind Aufgaben mit militärischem Charakter (z.B. Trennung und Entwaffnung der Konfliktparteien) vorerst nicht erlaubt. Außerdem müßte das japanische Parlament jedem PKO-Einsatz mit militärischem Charakter zustimmen. Gegenwärtig können also japanische Soldaten nur im Logistikbereich (z.B. Kommunikationseinrichtungen, medizinische Versorgung, bestimmte Arten von Transporten) eingesetzt werden. Das PKO-Gesetz muß 1995 einer Überprüfung unterzogen werden.

Die Golfkrise löste ein außenpolitisches Umdenken aus. Die »Nationalisten« wollen nun eine Revision der Nachkriegsordnung (Verfassungsänderung, Aufhebung der Unterordnung unter die USA) und plädieren für eine militärische Selbständigkeit und unabhängige Aufrüstung der »Mittelmacht/Großmacht« Japan – zum Teil bis hin zur nuklearen Bewaffnung. Sie befürworten die Gleichrangigkeit der führenden westlichen Industrieländer und daher eine größere außenpolitische Selbständigkeit Japans auch gegenüber der niedergehenden Weltmacht USA. Der konservativ-liberale »mainstream« sieht Japan weiterhin als Handelsstaat. Die wirtschaftlichen Interessen Japans seien nur in einer kooperativen Beziehung mit den anderen westlichen Industrieländern, vor allem den USA, zu sichern, allerdings müsse Japan zukünftig mehr Aufgaben übernehmen. Die japanischen Streitkräfte werden weniger militärisch begründet, sondern eher als Preis betrachtet, um die Allianz mit den USA (und damit auch den Zugang zum US-Markt) zu erhalten. Im Sinne einer »umfassenden Sicherheit« soll sich die japanische Außenpolitik aber vor allem auf Wirtschaftshilfe stützen. Die »Antimilitaristen« sind sich einig in der Unterstützung der japanischen »Friedensverfassung« als Überwindung des japanischen Militarismus und als Versöhnungsgeste gegenüber den Nachbarländern. Noch bis zum Parteitag im September 1994 lehnten die Sozialisten eine nationale militärische Verteidigung und das Militärbündnis mit den USA ab. Während Nationalisten und »mainstream« eine Beteiligung an UN-Einsätzen befürworten, akzeptieren die Antimilitaristen wenn überhaupt nur eine zivile Beteiligung, möglichst durch ein von den Streitkräften getrenntes ziviles japanisches Friedenscorps.

Blauhelmeinsätze und Regierungswechsel

Im September 1992 schickte die japanische Regierung auf der Grundlage des »PKO-Gesetzes« ein japanisches Kontingent von etwa 600 Soldaten und 75 Zivilpolizisten zur UNTAC, der UN-Mission in Kambodscha, hauptsächlich für den Straßenbau und die Logistik. Gleichzeitig wurden drei Offiziere als Wahlbeobachter nach Angola geschickt, aber gegen den Protest der UNO aus Sicherheitsgründen nach kurzer Zeit wieder zurückberufen. Angesichts der wieder aufflammenden Kämpfe in Kambodscha forderten die Oppositionsparteien unter Berufung auf das PKO-Gesetz den Abzug der japanischen Blauhelme. Anfang April 1993 wurden ein japanischer Wahlhelfer, Anfang Mai ein japanischer Zivilpolizist getötet und acht weitere verletzt. Obwohl in Japan die vorzeitige Rückkehr der japanischen Blauhelme gefordert wurde, beendete die Regierung den Kambodscha-Einsatz planmäßig erst im September 1993. Bitten um Beteiligung an den UN-Einsätzen im ehemaligen Jugoslawien und in Somalia lehnte die japanische Regierung ab. Im Mai 1993 wurden dagegen 53 japanische Soldaten zur UN-Mission in Mosambik (ONUMOZ) geschickt und übernahmen dort logistische Aufgaben.

Bei den Unterhauswahlen am 18.7.93 verlor die LDP ihre bisherige parlamentarische Mehrheit. Die neuen konservativen Parteien, die sich von der LDP abgespaltet hatten, bildeten zusammen mit den bisherigen nichtkommunistischen Oppositionsparteien die Koalitionsregierung Hosokawa. Trotz tiefreichender politischer Meinungsunterschiede einigte der Wunsch nach überfälligen politischen Reformen die Koalitionsparteien. In der Militärpolitik reichten die Positionen vom Antimilitarismus der sozialistischen Linken bis zur Forderung konservativer Politiker (z.B. Ozawa), japanische Soldaten sollten sich an multinationalen Kampfeinsätzen zur Sicherung des Weltfriedens beteiligen. Die Koalition einigte sich auf die Beibehaltung des Status quo. Einige der bisherigen politischen Bremsen gegen eine Ausweitung militärischer Aktivitäten verloren jedoch an Wirkung. Die Kritik der Sozialisten an der PKO-Politik wurde leiser, nachdem sie bei den Wahlen empfindliche Einbussen hinnehmen mußten und wegen ihrer Teilnahme an der Regierungskoalition vor einer innerparteilichen Zerreißprobe standen. Die Anerkennung der japanischen Kriegsschuld durch Ministerpräsident Hosokawa half, den Widerstand in den asiatischen Nachbarländern gegen eine japanische PKO-Beteiligung abzubauen. Schließlich schwächte sich der kontrollierende Einfluß der US-Regierung auf die japanische Militärpolitik ab, den sie bisher über ihre Verbindungen zur LDP ausübte.

Ernsthafte Spannungen zwischen den Koalitionspartnern wurden im Zusammenhang mit der Krise um Nordkorea Anfang 1994 sichtbar. Die konservativen Parteien der Koalitionsregierung forderten eine Stärkung der Krisenmanagement-Kapazitäten und eine aktive Beteiligung der japanischen Marine bei der militärischen Durchsetzung etwaiger Sanktionen des UN-Sicherheitsrats gegen Nordkorea. Die Sozialisten lehnten dies strikt ab. Aus diesem und anderen Gründen verließen sie die Koalition, die unter Hata bis zum Sommer als Minderheitenkabinett weiterregierte.

Ende Juni 1994 trat die Hata-Regierung zurück. Überraschend bildeten Sozialisten und LDP zusammen mit der Sakigake-Partei eine Große Koalition. Die LDP verlangten von den Sozialisten als Bedingung für Koalition und Ministerpräsidentenamt u.a. die Akzeptanz des militärpolitischen Status quo, insbesondere die Anerkennung der Verfassungsmäßigkeit der Streitkräfte und des Sicherheitsvertrags mit den USA sowie die Akzeptanz japanischer Blauhelme. Auf ihrem Parteitag am 3.9.94 verabschiedeten die Sozialisten nach heftiger Debatte ein neues militärpolitisches Programm. Darin heißt es, daß Japan sich aktiv an solchen UN-Friedensmissionen beteiligen soll, die keine Gewaltanwendung beinhaltet. Befürwortet wurde eine Änderung der UN-Charta, um stehende, multinational zusammengesetzte UN-Friedenskräfte unter einheitlichem Kommando aufzustellen. Auch Japan solle einen Beitrag zu diesen Friedenskräfte leisten. Außerdem fordern die Sozialisten die gesetzliche Festschreibung der bestehenden militärpolitischen Restriktionen.

Nach anfänglicher Zurückhaltung griff die neue Regierung die Idee wieder auf, für Japan einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu fordern. Außenminister Kono meldete in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung am 27.9.94 offiziell diese Forderung an, machte aber den Vorbehalt, daß Japan sich nicht an militärischen Aktionen beteiligen werde, weil dies die japanische Verfassung verbiete. Japan werde sich jedoch weiterhin an nichtmilitärischen Aspekten von UN-Friedensmissionen nach dem Beispiel der Einsätze in Kambodscha oder Mosambik beteiligen.

Aufgeschreckt durch die Massenflucht aus Ruanda in die Nachbarländer schickte die japanische Regierung im September 1994 mit Billigung der Sozialisten 470 Soldaten, davon 100 Luftwaffenangehörige, zu einem humanitären Hilfseinsatz nach Zaire und Kenia. Eine japanische Beteiligung an der Militärintervention in Haiti lehnte die japanische Regierung dagegen ab. Für das Frühjahr 1995 ist ein Einsatz japanischer Waffenstillstandsbeobachter auf den Golan-Höhen geplant.

Die Zukunft Deutschlands und Japans als Handelsstaaten

Sowohl in Deutschland als auch in Japan scheint die Blauhelmpolitik auf den ersten Blick Tendenzen zu einer Militarisierung zu belegen. Erstmals werden bewaffnete Einheiten der Streitkräfte außerhalb der Landesgrenzen eingesetzt, nachdem die gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Schranken gefallen sind. Beide Länder halten sich in der Außenpolitik nicht mehr zurück, sondern streben einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat an und wollen damit letztlich über den Einsatz von UN-Blauhelmen mitbestimmen. Das Mißtrauen der Nachbarländer und der Widerstand der Öffentlichkeit gegen Auslandseinsätze ist geschwunden. Blauhelmeinsätze scheinen militärischen Maßnahmen in der Außenpolitik wieder einen Sinn zu geben.

Eine nähere Betrachtung zeigt aber keine Abkehr Japans von der Handelsstaatslogik. Unter den neuen Verhältnissen stellte sich der »Pazifismus in einem Land« der Yoshida-Doktrin oder des früheren Parteiprogramms der Sozialisten als hinderlicher Isolationismus heraus und machte einem Konsens zu einer aktiveren Außenpolitik Platz. Dabei wird die Militärlogik allerdings weiterhin als unsinnig angesehen, was das Unbehagen an den von den USA initiierten Militärinterventionen in Somalia und Haiti belegt, an denen sich Japan nicht beteiligt hat. Das PKO-Gesetz schließt folgerichtig die Anwendung militärischer Gewalt aus. Möglicherweise wird es 1995 revidiert werden, aber dann vor allem deshalb, weil einige Bestimmungen nicht zur Realität von Blauhelmeinsätzen passen. Die eher symbolischen Einsätze japanischer Blauhelme werden in Japan primär bündnispolitisch und damit letztlich wirtschaftspolitisch begründet: die Handelsstreitigkeiten mit den USA und anderen westlichen Industrieländern sollen nicht noch weiter angeheizt werden. Eine Beteiligung am Entscheidungsprozeß des UN-Sicherheitsrates macht daher einen ganz anderen Sinn als oben angedeutet: eine unsinnige Militarisierung der doch für die Weltordnung so wichtigen UNO soll gebremst und die innenpolitsch weiterhin umstrittenen Kosten und Opfer der japanischen Beteiligung sollen minimiert werden. Funktion und Image der Streitkräfte haben sich in Japan durch die Blauhelmeinsätze im Grunde nicht verändert: sie werden weiterhin sozusagen als technisches Hilfswerk beim Katastrophenschutz angesehen. Aus dem politischen Entscheidungsprozeß schließlich bleiben sie weiterhin ausgeklammert.

Japan erweist sich somit auch in der PKO-Frage als prototypischer Handelsstaat. Die deutsche Politik scheint sich dagegen zunehmend in Richtung auf eine gesamtdeutsche oder gesamteuropäische Weltpolizistenrolle zu entwickeln und sich dadurch immer mehr am »machtstaatlichen« und immer weniger am »handelsstaatlichen« Denken zu orientieren.

Handelsstaatslogik und strukturelle Gewalt

Über die Handelsstaat-Debatte hinaus sollte eine grundsätzliche friedenspolitische Bewertung der Blauhelmpolitik Deutschlands und Japans aber an einem ganz anderen Punkt ansetzen: Der Grund für eine verstärkte außenpolitische Rolle der Handelsstaaten liegt in deren Wirtschaftsexpansion. Diese ist auf die Aufrechterhaltung der »neuen Weltordnung« angewiesen, einer Weltordnung, die nach wie vor auf asymmetrischen Machtverhältnissen und Lebenschancen beruht und insofern durch strukturelle Gewalt im Sinne Galtungs4 geprägt ist. UN-Blauhelme sind nichts anderes als Teil des »residualen Militärpotential« der verbündeten Handelsstaaten zum Schutz vor den militärischen Machtstaaten im Sinne von Rosecrance und letztlich Teil dieser strukturellen Gewalt.

Anmerkungen

1) Klassisch: Rosecrance, Richard: Der Neue Handelsstaat. Frankfurt/M., 1987. Zurück

2) Ausführliche Literaturhinweise in: Hummel, Hartwig: Japanische Blauhelme. Von der Golfkriegsdebatte zum »PKO-Gesetz«, in: INEF-Report, Heft 3/1992, 2. aktualisierte und verbesserte Auflage, Duisburg, 1994; Hummel, Hartwig: Japan: Schleichende Militarisierung oder Friedensmodell?, in: Militärpolitik Dokumentation, Heft 88/89, Frankfurt/M., 1992. Zurück

3) Yasushi Akashi, ein japanischer UNO-Beamter, erhielt zudem die Leitung von UNTAC und danach von UNPROFOR. Zurück

4) Galtung, Johan, 1969: Violence, Peace and Peace Research, in: Journal of Peace Research 6 (1969), 167-191. Zurück

Dr. Hartwig Hummel war bis 1993 als Politikwissenschaftler am Zentralinstitut für Ostasienwissenschaften der Universität-GH-Duisburg tätig und arbeitet jetzt am Seminar für Politikwissenschaft und Soziologie der TU Braunschweig.

Japanische Wissenschaftlerbewegung gegen SDI und Militärforschung (II)

Japanische Wissenschaftlerbewegung gegen SDI und Militärforschung (II)

Kapitel 2: Nuklearwaffen und japanische Wissenschaftler

von Zenshiro Hara

1. Die Entwicklung der Atombombe in Japan

Die Entwicklung einer Atombombe wurde initiiert an der Universität von Kyoto durch Prof. B. Arakatu. Er wurde durch die Marine ab 1941 unterstützt. Zugleich begannen Arbeiten an dem Institut für Physikalische und Chemische Forschung durch Prof. Y. Nishina, unterstützt durch die Armee ab 1943. Prof. Nishina hatte fünf Jahre bei Niels Bohr studiert.

Es ist nicht klar, ob Prof. Nishina in einer aktiven Weise mit der Armee kooperierte oder ob er zusammenarbeitete, um seine jungen Wissenschaftler vor dem Militärdienst zu schützen. Im Mai 1949 wurde Prof. M. Taketani, der zu dieser Zeit Forscher an diesem Labor gewesen war, wegen gefährlicher Gedanken eingesperrt. Prof. S. Tomonaga ebenfalls Mitglied des Nishina-Labors komplettierte die Theorie über das Magnetron ausstrahlende VHF für Radar. Es ist eine bekannte Geschichte, daß Prof. Arakatu, nachdem er das Gerücht gehört hatte, Kyoto würde das nächste Ziel der Atombombe, sagte: „Es ist eine günstige Gelegenheit für Atomphysiker und wir müssen diesen Augenblick von der Spitze des Mt. Hiei beobachten.“ Er bereitete sich tatsächlich darauf vor.

Bevor es die Technologie der Urananreicherung vollständig beherrschte, war Japan geschlagen. Später, als der Wissenschaftsrat die früher erwähnte Erklärung abgab, sich nie mehr an der Wissenschaft für den Krieg zu beteiligen, war Prof. Nishina Vizepräsident des Rates.

Nach dem San-Francisco-Abkommen über einen Separatfrieden, das 1952 in Kraft trat, wurde die Atomenergiepolitik überall in Japan diskutiert. Der Wissenschaftsrat nahm eine Erklärung an, die drei Prinzipien bei der Erforschung, Entwicklung und Anwendung der Atomenergie forderte: Offenheit, Unabhängigkeit und Demokratie. Damit sollte eine militärische Nutzung der Atomenergie im Rahmen einer Wiederbewaffnung durch die Regierung verhindert werden. Später wurden diese Grundsätze in das Atomenergiegesetz eingeführt.

2. Die Bewegung gegen Atomwaffen

Der Test einer Wasserstoffbombe auf dem Bikini-Atoll 1954, die Leiden der Besatzungen japanischer Fischerboote und die Verseuchung der Fischfanggebiete im Pazifischen Ozean weckten Mitglieder der Vereinigung Demokratischer Wissenschaftler und viele andere Wissenschaftler auf. Sie engagierten sich für eine sozial verantwortliche Wissenschaft. Nationale Bewegungen gegen die Atombombe wuchsen an und der erste Weltkongreß gegen die A- und H-Bombe fand statt. Japanische Wissenschaftler trugen viel dazu bei.

Der Atomtest bewegte gleichfalls weltweit bekannte Wissenschaftler. 1955 appellierten Bertrand Russell, Albert Einstein, Hideki Yukawa, Joseph Rotblat und sieben andere Wissenschaftler gemeinsam an die Wissenschaftler der Welt. Mit einem Kongreß sollten die Regierungen dringend darauf aufmerksam gemacht werden, daß angesichts der Tatsache der drohenden Vernichtung der Menschheit durch Nuklearwaffen der Sache der Wissenschaften durch Krieg wahrlich nicht gedient werden könne.

Als Folge dieses Appells – bekannt als „Russell-Einstein-Manifest“ – startete die Pugwash-Konferenz 1957 und begann das Problem der Atomwaffen zu diskutieren. Die Professoren H. Yukawa, S. Tomonaga und 1. Ogawa nahmen an der ersten Pugwash-Konferenz teil. Der Pugwash-Bewegung entsprechend fanden nationale Wissenschaftlertagungen, Kyoto-Wissenschaftler-Konferenz genannt, einige Male seit 1962 statt.

Die Pugwash-Konferenzen scheinen eine bedeutende Rolle bei der Minderung der internationalen Spannung zwischen den zwei militärischen Blöcken, die gegeneinander rüsteten, gespielt zu haben. Jedoch konnten die Diskussionen über Atomwaffen und die Strategien die Axiome nuklearen Gleichgewichts und der atomaren Abschreckungstheorie nicht überwinden. So gerieten die Konferenzen zu einem anderen Verhandlungsplatz zwischen den Supermächten.

Damit unzufrieden, kamen die Professoren Yukawa und Tomonaga zu dem Gedanken, daß auf der Basis der nuklearen Abschreckung das atomare Wettrüsten nicht verhindert werden könne. Die dringendste Aufgabe sei vielmehr heute die Abschaffung aller atomaren Waffensysteme. 1975 legten sie eine gemeinsame Erklärung vor, die die Theorie nuklearer Abschreckung überwand. Viele japanische Wissenschaftler teilten diese Idee. Bedauerlicherweise starben die Autoren, bevor sie ihre neue Logik den Wissenschaftlern und Politikern der Welt begreiflich machen konnten.

1985 veranstaltete die Japanische Wissenschaftlervereinigung ein internationales Symposium über das vollständige Verbot und die Ausschaltung atomarer Waffen, zu dem Wissenschaftler aus fünf anderen Ländern eingeladen wurden. Das Symposium folgte dem von Yukawa und Tomonaga vorgezeichneten Weg.

In der gegenwärtigen Situation, wo selbst Wissenschaftler, die gegen SDI opponieren, nur zögerlich die drastische Reduzierung der Atomwaffen fordern, ist es eine besondere soziale Verantwortung der japanischen Wissenschaftler, ihre Auffassung von der Notwendigkeit und Möglichkeit der Abschaffung der Atomwaffen zu entwickeln. Japan war schließlich das erste und einzige Land, das mit A-Waffen angegriffen wurde.

Kapitel 3: SDI und die japanischen Wissenschaftler

1. SDI und die Vernichtung von Atomwaffen

Am 2. Januar 1985 sprach Premierminister Nakasone in seinen Gesprächen mit Präsident Ronald Reagan sein Verständnis für das SDI-Forschungsprogramm aus, und im Februar ließ er erkennen, daß er bereit sei, in der SDI-Forschung mit den USA zu kooperieren, solange es um Technologien ginge, die für ein breites Einsatzspektrum geeignet seien. Am Ende des Monats ging dann ein Brief des amerikanischen Verteidigungsministers Weinberger ein, der Japan offiziell zur Teilnahme an der SDI-Forschung aufforderte und eine entsprechende Antwort innerhalb von 60 Tagen verlangte. Damit wurde SDI zu einem Thema von nationalem Interesse. Auf der anderen Seite initiierte die Liberal-Demokratische Partei (LDP) eine sogenannte Nationale Bewegung, die ein Gesetz zur Verhinderung von Spionage forderte und dem Reichstag ein entsprechendes Gesetz vorlegte.

Die japanische Wissenschaftlervereinigung erhob zuerst ihre Stimme gegen SDI. Im Mai verabschiedete die Vereinigung in ihrer 20. Generalversammlung eine Resolution gegen jede Kooperation mit dem SDI-Forschungsprojekt sowie eine Stellungnahme gegen die Verfügung des Staatsgeheimnisgesetzes. Die Resolution drückte die Auffassung der Wissenschaftler aus, daß sowohl alle Arten der Kooperation mit SDI zurückzuweisen seien, die das nukleare Wettrüsten in den Weltraum ausdehnen, wie auch die, die die Entwicklung von Anti-Satelliten-Waffen vorsehen und die Menschheit dem Nuklearkrieg näherbrächten. Die Resolution sprach sich ebenfalls gegen die Abschreckungstheorie aus, die nach den Worten des US-Präsidenten angeblich überwunden werden sollte, und forderte dagegen, daß der Nuklearkrieg selbst durch die Vernichtung der für ihn benötigten Waffen verhindert werden sollte.

Danach begann im Frühling dieses Jahres in einigen Wissenschaftsbereichen, zum Beispiel in der Physikalischen Gesellschaft von Japan, eine Diskussion über SDI. In einem Workshop im Herbst wurde dann eine Stellungnahme von Physikern gegen SDI verfaßt und eine Unterschriftensammlung begonnen. Bis zum nächsten Jahr, wo ein Symposium über die soziale Verantwortung der Wissenschaft in der Frühjahrssession der Physikalischen Gesellschaft von Japan abgehalten wurde, konnten mehr als 1900 Unterschriften in mehr als 190 Universitäten und Forschungsinstituten gesammelt werden. Dies zeigte, daß der Geist der Physiker, die einst die militärisch-wissenschaftliche Kooperation verweigert hatten, noch immer lebendig war.

Auch den japanischen Mathematikern war die Erfahrung noch bewußt, die mit der Unterschriftenkampagne gegen den Vietnam-Krieg begonnen hatte, die auf der Internationalen Mathematiker-Konferenz 1966 in Gang gesetzt worden war. Im Juli 1985 gaben sie eine Stellungnahme zum Frieden heraus und verlangten die Vernichtung von nuklearen Waffen, und im Oktober veröffentlichten sie eine weitere Stellungnahme, die sich gegen das amerikanische SDI-Programm und die japanische Beteiligung daran wandte. 700 Mathematiker unterzeichneten die Stellungnahme. Dieses Mal war die Anzahl der Unterzeichner doppelt so hoch wie die auf dem bereits oben erwähnten Statement gegen den Vietnam-Krieg.

Im Mai 1986 präsentierte die Regierung dem Reichstag ein Gesetz zur Förderung des Forschungsaustauschs. Trotz der Beteuerungen der Regierung, daß das Gesetz beabsichtige, den beiderseitigen Austausch zwischen nationalen, privaten und ausländischen Forschungsinstituten zu unterstützen, war es offensichtlich, daß es darauf abzielte, die Kooperation zwischen Technischen und Entwicklungsforschungsinstituten, der Japanischen Verteidigungsagentur und anderen nationalen Forschungsinstituten voranzutreiben. Schließlich wurde gerade in dem Moment, in dem es dem Reichstag vorgelegt wurde, eine Geheimhaltungs-Schutzklausel eingefügt. Die Forscher der nationalen Forschungsinstitute fühlten intuitiv, daß das Gesetz aufgelegt worden war, um die Akzeptanz für das SDI-Programm zu erhöhen. Es passierte dann auch den Reichstag. Im August erklärten 3506 Forscher in nationalen Forschungsinstituten in der Wissenschafts-Stadt Tsukuba ihre Ablehnung des SDI-Programms. Sie bezeichneten es als ein ganz offensichtlich militärisches Forschungsprogramm. Sie seien nicht bereit, sich selbst in der SDI-Forschung oder in irgendeiner anderen Militärforschung zu beteiligen. Die bei dieser Gelegenheit verabschiedete Deklaration weist darauf hin, daß die zivile Anwendung der Resultate von Hochtechnologie-Forschung durch die Beteiligung an SDI verhindert würde und die Beteiligung auch die Remilitarisierung Japans befördern würde.

2. Verschiedene Aktivitäten gegen SDI

1986 breitete sich eine Welle von Aktivitäten gegen SDI in Japan aus. In dem Bezirk Aich begann im April eine Unterschriftensammlung, ausgehend von einem Aufruf von 52 Wissenschaftlern inclusive Professor S. Iijima, dem Präsidenten der Nagoya-Universität. Bis September waren 1250 Unterschriften gesammelt. Im Juni wurden in Hokkaido und im Juli in Nagana Statements gegen SDI nacheinander veröffentlicht, ermutigt durch den Aufruf der Wissenschaftler von Aich. Die Erklärung von Hokkaido weist darauf hin, daß sich in Japan, sollte es dem SDI-Programm beitreten, die militärischen Geheimhaltungsvorschriften verschärfen würden, die Publikation von Forschungsergebnissen restriktiver gehandhabt würde, die Freiheit der Forschung eingeschränkt und eine gesunde Entwicklung von Forschung und Wissenschaft unmöglich gemacht werden würde.

Am 9. September entschied die Regierung, sich am SDI-Forschungsprogramm zu beteiligen. Zunächst mußte dann die Rahmenvereinbarung der Beteiligung ausgehandelt werden, und später konnten dann private Firmen einzelne Verträge der US-Regierung abschließen. Im ersten Stadium können sich nur private Firmen beteiligen. In der Zukunft werden nationale Universitäten und Forschungsinstitute gedrängt, die allgemeine Politik der Regierung, die auf eine Unterstützung der wissenschaftlich-industriell-militärischen Kooperation hinausläuft, mitzutragen. Die Regierung verteidigt jedoch SDI weiter ernsthaft als eine nichtnukleare Verteidigungstechnologie zur Vernichtung von Atomwaffen und übergeht konstant die Tatsache, daß SDI eindeutig militärischen Zwecken dient.

Seit der Entscheidung der japanischen Regierung hat sich die Bewegung der japanischen Wissenschaftler gegen SDI zusammen mit der Bewegung, die die Abschaffung aller Atomwaffen und die Rücknahme des Staatsgeheimnisgesetzes fordert, mehr und mehr ausgeweitet.

Im November 1986 hielten fünf Organisationen von Wissenschaftlern und Ingenieuren (Japanische Wissenschaftlervereinigung, Universitätssektion der Lehrergewerkschaft, Private Schulsektion von JTU, Rat der Gewerkschaften in Wissenschaft und Industrie und Forschungsinstitute in Tsukuba) ein Symposium ab unter dem Titel „Wissenschaft und Technologie in Japan und SDI“. Hier wurde der Einfluß von SDI auf Wissenschaft und Technologie und die Bedeutung der Wissenschaftler- und Ingenieur -Bewegung gegen SDI diskutiert. Das Symposium unterstützte die Bewegung gegen SDI.

Inzwischen ist – ausgehend von einem Aufruf von 43 führenden Wissenschaftlern – eine Kampagne gestartet worden, die Wandzeitungen mit dem Aufruftext gegen SDI und das Staatsgeheimnisgesetz herstellt und vertreibt. Hier sind inzwischen 1535 Unterschriften von einzelnen Personen und von 70 Organisationen zusammengekommen. Das Poster wurde am 8. Januar 1987 in den Zeitungen veröffentlicht. Bis jetzt sind 15000 Bestellungen des Posters Sets im ganzen Land verschickt worden, darunter an Gewerkschaften, Frauenorganisationen, Studenten, Ladenbesitzer und andere.

Im November 1986 erreichte die japanischen Wissenschaftler ein Brief von den Professoren John Kogut und Michael Weissman von der Universität von Illinois-Urbana, von der seit dem Sommer 1985 eine Bewegung ausgegangen war, das SDI-Projekt in den USA selber zurückzuweisen.

Aus dem Brief ging hervor, daß 50 oder 35 mehr Prozent der dortigen Fakultät dafür plädiert hatten, nicht an der SDI-Forschung zu partizipieren. Dies sei ebenso in jeder von 110 physikalischen oder ingenieurwissenschaftlichen Abteilungen der US-Universitäten der Fall, in denen mehr als 3800 Wissenschaftler und Ingenieur-Professoren und mehr als 2900 Stipendiaten arbeiten. Kogut und Weissman baten die japanischen Wissenschaftler, in ihrer Bewegung mitzumachen. Im Februar 1987 erreichte die japanischen Wissenschaftler ein anderer Brief – diesmal aus Großbritannien -, der besagte, daß 774 Wissenschaftler und Stipendiaten von mehr als 30 Universitäten einen Appell unterschrieben hätten, nicht an der SDI-Forschung zu partizipieren.

In den Vereinigten Staaten kann ein Wissenschaftler, wenn er die SDI-Forschung verweigert, von anderen Forschungsunterstützungsleistungen ausgeschlossen werden. Besonders jüngere Wissenschaftler bekommen keine Jobs in den Firmen, die mit der Militärforschung verbunden sind. Trotz dieser Widrigkeiten verweigern viele amerikanische Wissenschaftler die Mitarbeit an SDI. Dies ist ein Zeichen dafür, daß der Wille, sich nicht an der Militärforschung zu beteiligen, kein spezifisch japanisches Phänomen ist, sondern eine universal sich ausbreitende Erscheinung. Sie ist auf die Tatsache zurückzuführen, daß die Vernichtung der Menschheit durch den Nuklearkrieg heute möglich ist.

3. Friedenserklärungen in Universitäten und Forschungsinstituten

Was wird nun an den Universitäten und Forschungsinstituten studiert, die militärische Forschung verweigern? An der Universität von Nagoya wurde am 5. Februar 1987 auf einem bewegenden Treffen in der Toyota-Halle der Hochschule eine Friedenserklärung verabschiedet und verkündet. Präsident Iijima wie auch der Generalsekretär der UNESCO, Mr. A. M. M'Bow gaben entsprechende Erklärungen ab. Die Charta stellte fest, daß die Mitglieder des Lehrkörpers und die Studenten der Universität niemals, egal aus welchen Gründen, eine Lehre oder Forschung verfolgen würden, die auf den Krieg abzielte. Stattdessen wollten sie sich für eine wissenschaftliche Untersuchung der Fragen von Frieden und Krieg einsetzen, die auf unabhängigen und kreativen wissenschaftlichen Normen basiert, um die Mittel herauszufinden, mit denen eine friedliche Zukunft hergestellt werden könne. Die Erklärung betont nachdrücklich die Bedeutung des Beitrages der Universitäten für die Gestaltung einer friedlichen, wohlhabenden Gesellschaft, die die menschliche Würde garantiert.

Den Angaben der Nagoya-Universität zufolge wurde auch an der Yamanshi-Universität im Juli eine Erklärung veröffentlicht. In ihr drücken die Fakultät und alle ihre Angehörigen ihre Überzeugung aus, sich niemals an militärischer Forschung zu beteiligen, insbesondere nicht an der Forschung, Herstellung und Entwicklung von Nuklearwaffen.

Die Bewegung der Wissenschaftler und Studenten für die Umwandlung ihrer Universitäten in einen Platz der Forschung und Lehre, der zum Frieden beiträgt, weitete sich auf die Forschungsinstitute aus. Am 15. April informierten die Zeitungen darüber, daß am Elektro-Technischen Labor 570 Forscher (85 % der Vollmitglieder) eine Friedenscharta des Labors unterzeichnet hätten. DoD hatte dieses Labor als eine Einrichtung mit hohem Standard in der Halbleiter-, Laser- und Computertechnologie eingestuft. So sorgten sich die Forscher außerordentlich über ihre mögliche Einspannung in militärische Forschung, z.B. durch SDI-Projekte. In der Friedenscharta erklärten sie, geheime Forschung zurückweisen und offene Forschung zum Wohle des Friedens und der menschlichen Wohlfahrt betreiben zu wollen. Eine Beteiligung an Forschung, die vom Militär oder mit ihm verbundenen Einrichtungen finanziert werde – ob von heimischen oder ausländischen Stellen -, wird abgelehnt.

In Tsukuby Science City breitet sich, diesem Beispiel folgend, eine Bewegung aus, eine solche Friedenscharta an anderen Instituten zu thematisieren. Ende Juli nahmen neun dem Ministerium für Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft eingegliederte Forschungsinstitute die Friedenscharta an; Anfang August taten dies drei Institute, die mit dem Transportministerium verknüpft sind, und eines, das dem Ministerium für das Bauwesen zugehört.

4. Beiträge der Wissenschaftler und Ingenieure zur FRIEDENSWELLE

Am 8. August, am Tag vor dem 42. Jahrestag des Atombombenabwurfs über Nagasaki, fand ein Wissenschaftlerforum in Nagasaki statt. 147 Wissenschaftler aus Japan, den USA und der UdSSR diskutierten die soziale Verantwortung der Wissenschaftler. In der Diskussion wurde festgestellt, daß noch viele Fragen zur Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki offen sind: humane und soziale Aspekte, Re-Evaluation von Strahlungsdosen, Folgen des „black rain“ etc.

Delegierte von verschiedenen Universitäts- und Forschungsinstituten sprachen über ihre erfolgreichen Bemühungen, eine Friedenscharta zu verankern. Die Bedeutung, sich mit den Aktivitäten der Bevölkerung für die Eliminierung der Atomwaffen zu verbünden, wurde hervorgehoben. Prof. Viktor Berezin, ein Repräsentant der Weltföderation der Wissenschaftler, betonte die Rolle der Wissenschaftler bei der Herausbildung einer internationalen Kooperationsgemeinschaft für dieses Ziel.

Vor diesem Forum hatte bereits vom 1.-3. August in Tokio die Weltkonferenz gegen die A- und H-Bombe getagt. „Friedensaktivisten“ aus 35 Ländern waren anwesend. Sie analysierten, daß nunmehr die Abschaffung aller Nuklearwaffen auf die Tagesordnung der Weltpolitik gesetzt ist, noch müßten jedoch die Basisbewegungen anwachsen, um die Befürworter der Atomwaffen zu isolieren. Sie riefen zu Aktionen überall in der Welt auf, insbesondere schlugen sie die weltweite Unterstützung der 10. UN-Abrüstungswoche im Oktober '87 mit einer FRIEDENSWELLE vor. Überall sollten Unterschriften für den „Appell von Hiroshima und Nagasaki“ gesammelt werden. Die Wissenschaftler und die Ingenieure, die die Atomwaffen erfunden und gemacht haben, haben nun die Pflicht, sie wieder abzuschaffen.

zu Teil 1

Dr. Zenshiro Hara ist Mitglied des Präsidialkomitees der Japanischen Wissenschaftlervereinigung. Kontaktadresse: 1-9-16 Yushima, Bunkyo-ku, Tokyo 113, Japan.

Japanische Wissenschaftlerbewegung gegen SDI und Militärforschung (I)

Japanische Wissenschaftlerbewegung gegen SDI und Militärforschung (I)

Militärforschung und die japanischen Wissenschaftler

von Zenshiro Hara

1. Wissenschaftler und Zweiter Weltkrieg

In Japan wurden zahlreiche akademische Gesellschaften in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften auf autonomer Grundlage seit den zwanziger Jahren gegründet und trugen zur Erreichung eines hohen Niveaus der Ausbildung in kurzer Zeit bei. Nach der Gründung des Forschungsinstituts für Nationalkultur durch das Erziehungsministerium 1929 jedoch wurden viele Richter, Wirtschaftswissenschaftler und Historiker von den Universitäten wegen ihrer wissenschaftlichen Methode vertrieben, und nicht wenige der führenden Wissenschaftler wurden unterdrückt, weil sie als Kommunisten angesehen wurden. Seit 1940 wurde der wissenschaftliche Charakter der Sozial- und Humanwissenschaften selber verneint. In solch politischem Klima mußten die vertriebenen Wissenschaftler ihre Arbeit im Untergrund fortsetzen.

In den Naturwissenschaften wurde andererseits der große Zuwachs der Finanzmittel von der Militärforschung und den großen Labors in den Universitäten und Forschungsinstituten verbraucht. Daneben hatte das Erziehungsministerium einen Forschungspool und eine Institution -„Wissenschaftlicher Forschungsrat“ genannt -, die ermächtigt war, Themen auszuwählen, die durch den Pool gefördert werden sollten. Die Mitglieder des Rates wurden nominiert durch den Erziehungsminister entsprechend den Empfehlungen des Rates selber. In den Dokumenten des Rates 1945 können wir folgende Namen für Spezialkommissionen des Rates finden: Tropenmedizin, akustische Waffen, Treibstoffe für die Luftfahrt, Waffen für die generelle Zivile Bewaffnung, magnetische Waffen, Röntgen etc. All diese Themen waren auf den Krieg bezogen. Sogar eine Studie über Atombomben wurde durchgeführt; davon später mehr.

Während eine große Mehrheit der Naturwissenschaftler in solcher Militärforschung engagiert war, begann eine kleine Gruppe von Physikern, wie Prof. Sakata bspw., auf dem Feld der Elementarteilchen-Physik, wo der internationale Austausch vor dem Krieg in Blüte stand, über die soziale Verantwortung der Wissenschaftler unter dem Einfluß der antifaschistischen Bewegung unter europäischen Wissenschaftlern nachzudenken. Mit der Niederlage des japanischen Militarismus, besonders durch die Aufhebung des Gesetzes über die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, erlangte das japanische Volk die Freiheit der Rede und des Geistes. Besonders durch die „Friedenskonstitution“ wurden die notwendigen Bedingungen für die freie wissenschaftliche Forschung geschaffen. 1946, direkt nach der Niederlage, wurde die Vereinigung Demokratischer Wissenschaftler gegründet, die einen Beitrag zur demokratischen Umwälzung Japans durch die Wissenschaftler leisten wollte. Sie trug sehr viel zur Wiederherstellung der Wissenschaften bei, die während des Krieges zerstört oder in Stagnation gehalten wurden, zur Demokratisierung der akademischen Gesellschaften und zur Gründung des Wissenschaftsrates.

Die Vereinigung schloß sich der Weltföderation der Wissenschaftler 1954 an und machte Anstrengungen, um die Idee der sozialen Verantwortung der Wissenschaftler unter den japanischen Wissenschaftlern und Ingenieuren auszubreiten. Währenddessen wandelte sich die US-Politik bezüglich Japans. Sie richtete sich darauf, Japan als untergeordneten militärischen Verbündeten wiederaufzubauen und Japan in eine konfrontative Rolle zu den sozialistischen Ländern zu bringen. Als ein Resultat davon, besonders nach 1950, wurden die Bewegungen für eine demokratische Revolution scharf unterdrückt. Dies war der Hauptgrund, weshalb die Vereinigung Demokratischer Wissenschaftler ihre Mitglieder rasch verlor und schließlich ihre Funktion als nationale Wissenschaftlerorganisation einbüßte.

2. Die Weigerung, an Militärforschung mitzuwirken

Der Wissenschaftsrat Japans wurde 1949 gegründet als eine halbstaatliche Einrichtung, so daß sich der Gesamtwille der japanischen Wissenschaftler in der Politik der Regierung widerspiegeln konnte. Die Art, in der insgesamt 210 Mitglieder des Rates durch das Votum der ausgewiesenen Wissenschaftler gewählt wurden, war wirklich demokratisch, möglicherweise ohne Vorläufer in der Weltgemeinschaft der Wissenschaftler.

Am dritten Tag seiner Gründungsversammlung (22.1.1949) wurde „was und wie Wissenschaft und Wissenschaftler sein sollten“ ernsthaft diskutiert. Nahezu alle Mitglieder stimmten darin überein, daß die japanischen Wissenschaftler die kriegerische Aggression nicht verhindern konnten, besonders weil sie an der Freiheit der Rede gehindert wurden. Auf der anderen Seite – was die Kooperation der Wissenschaftler im Kriege anbetrifft – hatten einige Mitglieder die Auffassung, daß im Falle eines Krieges es für die Wissenschaftler nur natürlich wäre, die Regierung in ihren Anstrengungen zu unterstützen. Möglicherweise deshalb wurde ein Statement bei der Mehrheit akzeptiert, das folgende Sätze enthielt: „Wir nutzen die Gelegenheit, nach eingehender Betrachtung der Verhaltensweisen unserer Wissenschaftler in der Vergangenheit, zu schwören, daß unsere zukünftigen Anstrengungen auf Beiträge zur friedlichen Rehabilitierung unseres Landes und zum Fortschritt der Wohlfahrt der Menschen gerichtet sein werden … Wir sind daher fest entschlossen, unser Äußerstes für die Verteidigung der Freiheit des Geistes und der Rede zu leisten (…)“ Eine Erklärung, die klarere Reflexionen über die Kooperation während des Krieges enthielt, wurde zurückgewiesen.

Seit seiner Gründung diskutierte der Wissenschaftsrat mehrfach über eine grundsätzliche Verhaltensmaxime der Wissenschaftler in der Frage des Krieges und des Friedens. Auf der 6. Generalversammlung im April 1950 wurde das Problem erneut beraten. Im Juni dieses Jahres brach der Korea-Krieg aus. Keiner der japanischen Wissenschaftler hatte diesen Ausbruch vorhergesehen. Tatsächlich hatten einige Eisenbahnunglücke, deren Gründe nebulös blieben, den nationalen Eisenbahngewerkschaften schwere Schläge versetzt; die Universitätsvorträge von Dr. Eeels ermutigten die staatlichen Autoritäten, kommunistische Professoren aus den Universitäten zu drängen. So fühlten einige Wissenschaftler die Rückkehr mächtiger Kräfte, die die Freiheit der Gedanken, der Erziehung und der Rede verletzten.

In solch einer Situation forderten die wissenschaftlich Arbeitenden und die Gewerkschaften von 21 nationalen und privaten Forschungsinstituten gemeinsam den Rat zu einer Friedenserklärung im Februar 1950 auf. Auf dieses Ansinnen reagierend, unterbreiteten zwei Mitglieder der 6. Generalversammlung den Entwurf einer Erklärung, die besagte, „daß japanische Wissenschaft sich niemals in Forschungen engagieren würden, die den Krieg zu begünstigen erscheinen und die dem Krieg nützen“. Ein Mitglied, das gegen den Vorschlag war, sagte, daß ein einseitiger Verzicht auf Krieg Suizid bedeuten würde, und regte die internationale Kontrolle der Militärforschung an. Die Worte Prof. Sakatas, daß „es nur natürlich für die Wissenschaftler Japans – eines Landes, mit einer Friedensverfassung, die Krieg verwirft – ist, vor der Weltgemeinschaft der Wissenschaftler zu erklären, daß sie Forschung für den Krieg ablehnen“, hinterließen tiefen Eindruck; das vorgeschlagene Statement, in dem japanische Wissenschaftler ihren Entschluß erklärten, sich nicht an wissenschaftlicher Forschung für den Krieg zu beteiligen, wurde mit einem kleinen Zusatz von einer überwältigenden Mehrheit angenommen.

Dies war eine deutliche Erklärung. Die Wendung „sich nicht zu beteiligen“, bedeutete, selbst im Falle einer Regierungsanweisung zur Durchführung von Militärforschung die Beteiligung abzulehnen, da die Order selbst die Verfassung verletzen würde. Die generelle Furcht vor einer Wiederbewaffnung Japans und die Initiative, die von den wissenschaftlich Arbeitenden in den Forschungsinstituten ergriffen worden war, schien die Ratsmitglieder ermutigt zu haben, die Linie der Erklärung der zurückliegenden Gründungsversammlung zu überschreiten.

Die Bedeutung und der Einfluß der Deklaration des Wissenschaftsrates waren bemerkenswert. Seither ist die Remilitarisierung Japans, die die Verfassung klar verletzt – insbesondere das Prinzip der Verneinung des Krieges -, vorangeschritten. Später wurde der Sicherheitsvertrag zwischen den USA und Japan vereinbart und die „Selbstverteidigungskräfte“ wurden ins Leben gerufen und expandierten. Dennoch wurde Militärforschung noch nicht offen und in großem Umfang in die Universitäten und die nationalen Forschungsinstitute des Landes eingeführt. Der Hauptgrund dafür ist die Entscheidung der japanischen Wissenschaftler, die in dem o.g. Statement der 6. Generalversammlung des Wissenschaftsrates zum Ausdruck kam.

3. Militärisch-akademische Zusammenarbeit während des Vietnam-Krieges

Es gab während der frühen Stadien des Vietnam-Krieges einige Versuche, militärische Forschung in die japanische Wissenschaftlergemeinschaft einzuführen. 1965 wurde die Japanische Wissenschaftler-Vereinigung gegründet als eine nationale Wissenschaftlerorganisation, um jene zu bekämpfen, die eine gesunde Entwicklung der Wissenschaften stören, und um die Verantwortlichkeit der Wissenschaftler zu praktizieren. Im Januarheft 1967 des „Journal of Japanese Scientists“, dem Organ der Vereinigung, enthüllte Prof. Kamiyama die Tatsache, daß einigen Universitäten und Forschungseinrichtungen Forschungsmittel der US-Army zugeflossen waren. Dies (370 Mio. Yen für 96 Aufträge) wurde im Mai durch das Erziehungsministerium bestätigt. Im selben Monat nahm die Generalversammlung der Japanischen Wissenschaftler-Vereinigung eine Resolution gegen die militärisch-akademische Zusammenarbeit an.

Diese brachte die Bewegung gegen die Rüstungsforschung voran. In einigen Universitäten wurde die Verbindung mit dem Militär untersucht; es wurde aufgedeckt, daß einige, im Dienst befindliche Offiziere der Streitkräfte, als Studenten der Universitäten Nagoya und Kyoto eingeschrieben waren. Es wuchs die Bewegung der Studenten und der Mitarbeiter, die forderte, daß Armeeoffiziere als Studenten nicht akzeptiert werden sollten. Unter dem Druck der Bewegung verkündete die Leitung der Universität von Kyoto daß es Offizieren künftig nicht mehr erlaubt sei, an die Universität zu gelangen.

Währenddessen bestätigte die Physikalische Gesellschaft, daß einer von ihr geförderten Konferenz über Halbleiter Geldbeträge der US-Army angeboten worden waren. Eine außerordentliche Generalversammlung im September nahm eine Resolution an, in der festgelegt wurde, daß die Gesellschaft zukünftig keinerlei Beziehungen zum Militär haben sollte.

Zusammen mit den anwachsenden Bewegungen gegen militärisch-akademische Kollaboration tat der Präsident des Nationalen Universitätsrates, der sich aus den Präsidenten aller Universitäten zusammensetzt, öffentlich die Ansicht kund, daß die staatlichen Universitäten sich an militärischer Forschung – einheimischer wie auswärtiger – nicht beteiligen sollten. Die Verfassung Japans müsse beachtet werden sowie die bitteren Erfahrungen der Universitäten während des 2. Weltkrieges. Auch der Wissenschaftsrat nahm eine Erklärung auf seiner 49. Generalversammlung (10. Okt. 1967) an, in der man sich verpflichtete, sich in der Rüstungsforschung nicht zu engagieren. Von Beginn des Jahres 1969 an waren nahezu alle Universitäten in die Debatte über die einseitige Professoren-Herrschaft im Namen der Universitätsautonomie involviert. Die Diskussionen waren bisweilen von gewalttätigen Aktionen begleitet. An der Universität Tokio wurde zwischen dem Präsidenten und der Gewerkschaft eine schriftliche Vereinbarung erzielt, in welcher die Universitätsleitung versprach, das bisherige Herangehen, weder Rüstungsforschung durchzuführen noch Forschungsgelder vom Militär anzunehmen, fortzusetzen. Es sollten keinerlei Kooperationsbeziehungen zum Militär unterhalten werden.

4. Die Unterdrückung des Wissenschaftsrates

In der zweiten Hälfte der 70er Jahre begannen die japanische Regierung und die Liberaldemokratische Partei mit ihrem Bemühen, das sogenannte umfassende System der nationalen Sicherheit zu bauen. Es sollte aus drei Elementen bestehen:

1) technologische Entwicklung, 2) Ausbau der Streitkräfte und 3) internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit, um die Strukturen der Subordination unter die USA zu konsolidieren und um sich den Anstrengungen der entwickelten kapitalistischen Staaten, zur Oberwindung der bei den alljährlichen Gipfelgesprächen erwähnten Krisen, anzuschließen.

Gegenwärtig (Sommer 1987 – d. Red.) ist Premierminister Nakasone eifrig bemüht, das „umfassende nationale Sicherheitssystem“ zu vervollständigen mit der Unterstützung der verschiedenen politischen Körperschaften, wie der Kommission zur Reform der Administration, der ad-hoc-Kommission zur Reform des Erziehungswesens. Gelegentlich wird dabei Demagogie benutzt.

Es ist nicht notwendig zu erklären, daß für Nakasone, der die technologische Entwicklung zusammen mit der Ausweitung des Militärapparats voranbringen will, die Erklärung des Wissenschaftsrates, sich nicht an militärischer Forschung zu beteiligen, ein großes Hindernis darstellt. Die LDP-Regierung hatte seit den 70er Jahren damit begonnen, die Mittel für den Rat einzufrieren. Seit 1981 kritisierte die Regierung den Rat in unfairer Weise, indem sie vorbrachte, der Rat sei in Angelegenheiten auswärtiger Politik unwissend. Der Rat wurde unter Druck gesetzt, den Wahlmodus seiner Mitglieder zu ändern – statt der Wahl durch die Wissenschaftler die Ernennung durch die akademischen Vereinigungen.

Der Rat widersetzte sich dem Druck der Regierung, veranstaltete wiederholt Generalversammlungen und wechselte seinen Präsidenten und Vizepräsidenten mehrere Male. Die Japanische Wissenschaftler-Vereinigung und eine Reihe akademischer Gesellschaften opponierten, indem sie Versammlungen und Unterschriftensammlungen organisierten. In der 98. Session des japanischen Parlaments im Mai 1983 wurde ein Gesetz zur Änderung des Wahlsystems des Wissenschaftsrates blockiert, aber in der 100. Sitzung (Sept.1983) passierte das Gesetz, einen Tag vor der Beendigung der Sitzungsperiode, mit der Zustimmung der Liberaldemokraten, der demokratischen Sozialisten und der Komei-(„saubere Regierung“-) Parteien. Sozialistische und kommunistische Parteien stimmten dagegen.

Es ist ein offenes Problem, welche Haltung zur Militärforschung ein neu organisierter Wissenschaftsrat einnehmen wird. Er ist aus Mitgliedern zusammengesetzt, die durch die akademischen Vereinigungen ernannt werden. Es ist unklar, wie sie über die soziale Verantwortung der Wissenschaftler denken und wie sie sie wahrnehmen wollen. Es ist notwendig für jeden Wissenschaftler, die Idee der sozialen Verantwortung unter den Kollegen/Kolleginnen in den akademischen Gesellschaften zu verbreiten und zu versuchen, verantwortungsbewußte Wissenschaftler in den Rat zu bekommen. Es kann auch wichtig für jeden Wissenschaftler oder jede Wissenschaftlergruppe sein, in den Rat alle Probleme, die mit der sozialen Verantwortung der Wissenschaftler zu tun haben, zu tragen.

5. Die Bemühungen, sich der Rüstungspolitik zu widersetzen

Infolge der oben erwähnten Oppositionsbewegungen gegen die Militärforschung während der 60er Jahre gingen die Fälle militärisch-akademischer Zusammenarbeit in den 70ern auffallend zurück. Zur gleichen Zeit begannen die Regierungen und die LDP diese Sache erneut zu propagieren als ein bedeutendes Element der „umfassenden nationalen Sicherheit“. Heute wehren sich Wissenschaftler und die in der Forschung Tätigen beharrlich dagegen und arbeiten, um einen wissenschaftlichen Beitrag zum Frieden und zur Wohlfahrt der Menschen zu leisten.

1972 wurde der Fakt enthüllt, daß das Institut für physikalische und Chemische Forschung elektromagnetische Strömungsmesser dem Verteidigungsministerium verkauft hatte. Dies stand im Widerspruch zu dem festen Prinzip des Instituts, sich nicht an Rüstungsforschung zu beteiligen. Die Gewerkschaft opponierte gegen die Geschäfte und verhandelte mit dem Direktor. Der Direktor erwiderte, daß er ggf. die Geschäfte stoppen würde. 1984, als Offiziere des Technikforschungs- und Entwicklungsinstituts der Verteidigungsagentur das Institut besuchten, erklärte die Gewerkschaft, daß die technologische Kooperation im Keim erstickt werden sollte, um der Ablehnung der Rüstungsforschung zu genügen.

In den siebziger Jahren wurden 44 Hochschulen und Forschungsinstitute in der Gegend südlich des Tsukuba-Gebirges zusammengeführt, um – einer gesetzlichen Anordnung entsprechend – Tsukuba Science City aufzubauen. Heute arbeiten dort 6000 Wissenschaftler. Am 8. Dezember 1982 erklärten Bürger und Forscher ihre Stadt zur Friedensstadt und verpflichteten sich, sich weder an Militärforschungen zu beteiligen noch den Bau von Militäreinrichtungen in der Stadt zuzulassen. Im gleichen Jahr bot das Verteidigungsministerium dem Ministerium für internationalen Handel und Industrie ein gemeinsames Forschungsprojekt für ein optisches Fiber-Autogyroskop an.

Aber die gewerkschaftliche Vertretung des zuständigen, dem Ministerium angeschlossenen Forschungsinstituts verhandelte mit dem Institutsdirektor und erreichte, daß das Institut das Forschungsprojekt mit dem Verteidigungsministerium nicht durchführte.

1983 verhandelte die gewerkschaftliche Vertretung der Ingenieur-Fakultät an der Universität von Tokio mit dem Rektor über ein gemeinsames Forschungsprojekt zwischen Fakultätsangehörigen und den Verteidigungskräften; im Ergebnis wurde der Inhalt der oben erwähnten schriftlichen Versicherung zwischen der Leitung und der gewerkschaftlichen Vertretung der Universität von 1969 bestätigt, der einschloß, daß die Universität keinerlei Zusammenarbeit mit dem Militär anstrebe.

Im gleichen Jahr wurde an der Universität von Kumamoto folgende Geschichte enthüllt: In einem Seminarplan für Doktoranden, der von einem Universitätsausschuß erarbeitet und dem Bildungsministerium vorgelegt worden war, wurde stolz berichtet, daß das Magister-Seminar der Universität Offiziere aufgenommen habe, die von anderen Universitäten zurückgewiesen worden seien, und daß das geplante Doktoranden-Seminar die militärisch-akademische Zusammenarbeit fördern wolle. Mitglieder der Japanischen Wissenschaftler Vereinigung an der Universität warnten inneruniversitär und öffentlich, daß die Förderung militärisch-akademischer Zusammenarbeit eine Gefahr für die Hochschulautonomie darstelle. In der Folge strich die Hochschulleitung die entsprechenden Passagen und entließ den verantwortlichen Ausschuß. Trotzdem nahm die Universität weiter Offiziere als Studenten auf. Im japanischen Parlament (Diet) wurde 1969 eine Resolution über die Entwicklung der Raumfahrt angenommen, die besagte, daß sie auf friedliche Zwecke begrenzt sein müsse. Im selben Jahr wurde die Nationale Weltraumbehörde mit der gesetzlichen Maßgabe gegründet, zur ausschließlich friedlichen Entwicklung und Nutzung des Weltraums beizutragen. 1983 warnte die Gewerkschaftsvertretung am Institut für Weltraum und der aeronautische Forschung, der Einsatz des Kommunikationssatelliten „Sakura 2a“ durch die Verteidigungsbehörde in Iojima und die US-Army und die geplante gemeinsame Erforschung bemannter Weltraumstationen durch die Raumfahrt-Kommission Japans und der NASA würden den oben erwähnten Prinzipien der friedlichen Nutzung des Alls widersprechen.

Im Februar 1985 veranstalteten die vier Organisationen der Forscher und Ingenieure an Universitäten und Forschungseinrichtungen (Japanische Wissenschaftler-Vereinigung, Japanische Lehrer-Union, Rat der Gewerkschaften in Wissenschaft und technologischer Industrie und der Rat der Gewerkschaften der Universitäten und Forschungsinstitute in „Tsukuba Science City“) ein Symposium mit dem Thema „Wissenschaft und Militärforschung in Japan“. Sie waren tief besorgt, daß der Tag, an dem ihnen Wissenschaft für den Krieg auferlegt würde, nicht mehr fern sei. Auf dem Symposium wurde über verschiedene Bewegungen gegen Rüstungsforschung berichtet. Einige von ihnen wurden oben angeführt. Zum Abschluß gelobten Die Teilnehmer, alle Anstrengungen zu unternehmen für die Einhaltung des Beschlusses der 6. Generalversammlung des Wissenschaftsrates von Japan aus dem Jahre 1950.

Sind japanische Wissenschaftler gegen Militärforschung allergisch?

Jede Macht – die USA wie die UdSSR gleichermaßen – gründet nationale Sicherheit auf Waffen, einschließlich nuklearer Waffen und militärischer Bündnisse. Sogar neutrale Länder, wie Schweden oder die Schweiz, vertrauen auf neutrale Politik und nationale Streitkräfte. In diesen Ländern ist Rüstungsforschung Forschung für die Bewahrung ihrer Sicherheit und erscheint somit obligatorisch. Besonders in den USA machen die Forschungsmittel des Department of Defense den größten Teil der Finanzen an den Universitäten aus. Die Themenliste enthält eine Reihe von Aufgaben der Grundlagenforschung, die keinen direkten Bezug zum Krieg haben. Deshalb scheinen Wissenschaftlervereinigungen vieler Länder bezüglich der Forschungskontrakte mit dem Militär bzw. der militärisch-akademischen Kooperation ziemlich tolerant zu sein – mit Ausnahme der japanischen. Japanische Nachwuchswissenschaftler, die in jenen Ländern sich aufgehalten haben, sind geneigt zu denken, diese Situation sei ziemlich normal und die japanischen Forscher seien zu nervös, was Militärforschung anbetrifft.

Ich möchte jedoch ihre Aufmerksamkeit auf die besondere Stellung Japans in der Weltgeschichte lenken. Japan ist das Land, das erstmalig in der Menschheitsgeschichte mit Atombomben attackiert wurde. Wir, das japanische Volk, haben unter der Atombombe gelitten und uns entschlossen, unsere Sicherheit nicht auf militärische Macht zu bauen, sondern auf Gerechtigkeit und auf das Vertrauen in die Friedensliebe der Menschen. Solange das atomare Wettrüsten andauert, können eines Tages Menschen die selbe Erfahrung eines nuklearen Angriffs machen; sie werden sich darüber klar werden, daß es falsch ist, von Atomaffen abhängig zu sein.

Aber es würde zu spät sein, heute bedeutet Atomkrieg das Ende der Menschheit. Heute ist die Vernichtung der nuklearen Waffen notwendig, nicht nur für die Sicherheit Japans, auch für die Sicherheit und das Überleben der gesamten Menschheit. Die Besonderheit Japans in der Geschichte erlegt uns – den japanischen Wissenschaftlern auf, strikt Stellung gegen Militärforschung zu beziehen. Ich glaube, wenn die Wissenschaftler der Welt sich ihres gemeinsamen Schicksals gewahr werden, würden sie unseren Standpunkt teilen. Die Anzeichen dafür scheinen in der gegenwärtigen Bewegung der Wissenschaftler gegen SDI auf wie ich in den nächsten Abschnitten zeigen werde.

    Der zweite Teil des Beitrags von Dr. Hara befaßt sich mit folgenden Themen:

  • die Entwicklung der Atombombe in Japan
  • die Bewegung gegen Nuklearwaffen
  • SDI und die japanischen Wissenschaftler.

Dr. Zenshiro Hara ist Mitglied des Präsidialkomitees der Japanischen Wissenschaftlervereinigung. Kontaktadresse: 1-9-16 Yushima, Bunkyo-ku, Tokyo 113, Japan.

Nach der Tragödie die Farce?

Japans Versuche, alte imperialistische Ziele unter den Rahmenbedingungen einer US-Vormundschaft zu verwirklichen

Nach der Tragödie die Farce?

von Eiichi Kido

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF e.V.)

Die englische Wochenzeitschrift »Economist« berichtete im Januar 2005, dass Japan mit dem Feuer spiele.1 Die Liberal-Demokratische Partei (LDP), die seit 1955 fast ununterbrochen das Land beherrscht, hatte eine baldige Änderung des Erziehungsrahmengesetzes auf die politische Agenda gesetzt, um den Schülerinnen und Schülern »Vaterlandsliebe« an zu erziehen. Das konservative Magazin mahnte, dass die LDP mit ihren ideologischen Spielen in den Nachbarländern Japans Antipathien schürt und tiefe innere Wunden wieder aufreißt.

Gefährliches Spiel

In der Tat betrachtet die LDP den Änderungsvorstoß als Vorstufe zur Verfassungsänderung. Das Erziehungsrahmengesetz vom 31. März 1947 sieht als Ziel der Erziehung an, Persönlichkeiten zu formen und eine sowohl körperlich als auch geistig gesunde Nation zu bilden, die als Gestalter eines friedlichen Staates bzw. einer friedlichen Gesellschaft Wahrheit und Gerechtigkeit liebt, den Wert des Individuums respektiert, auf Fleiß und Verantwortlichkeit Wert legt und den Geist von Selbständigkeit atmet. Für die LDP ist dies ein vaterlandsloses und unjapanisches Gesetz, ein Produkt der amerikanischen Besatzungspolitik, die vermeintlich auf die Zerrüttung der japanischen Seele zielte.

Die geistige Struktur der Liberaldemokraten von heute ist nicht sehr weit entfernt von der der damaligen Konservativen. Diese akzeptierten die angeblich von den Amerikanern aufgezwungene Verfassung vom 3. November 1946 mit ihren neuen Prinzipien wie Volkssouveränität, Menschenrechte, Friedens- und Wohlfahrtsstaat nur widerwillig, um eine Verfolgung des Kaisers Hirohito als Kriegsverbrecher und eine radikale politisch-gesellschaftliche Umwälzung zu verhindern.2 Die Chancen der LDP, ihr politisches Ziel einer »eigenständigen Verfassung«, für das sie seit ihrer Gründung 1955 eingetreten ist, endlich zu realisieren, sind recht hoch.

Denn nicht nur die LDP will das Erziehungsrahmengesetz und die Verfassung ändern. Die größte Oppositionspartei, die Demokratische Partei, zieht immer mehr rechte Kräfte an. Der Vorsitzende des Parlamentarierverbandes zur Förderung der Änderung des Erziehungsrahmengegesetzes, Shingo Nishimura, gehört denn auch zu dieser Partei. Bei der Gründungstagung des Verbandes am 25. Februar 2004 benannte er als Ziel der Gesetzesänderung ganz offen: „Japaner zu bilden, die willig das Leben für den Staat opfern.“3 Der ultranationalistische Politiker musste übrigens am 20. Oktober 1999 als parlamentarischer Staatssekretär für Verteidigung zurücktreten, weil er eine nukleare Streitkraft für Japan gefordert hatte.

Die Landschaft des japanischen Parlaments nähert sich amerikanischen Verhältnissen, wo es kaum noch eine echte Opposition gibt. Auch in der Verfassungsfrage hat sich gewissermaßen ein Parteienkartell herausgebildet. Das Hauptziel der Abgeordneten, die eine Verfassungsänderung befürworten, ist die Abschaffung des pazifistischen Artikels 9:

„(1) In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und die Androhung oder Ausübung von militärischer Gewalt als ein Mittel zur Regelung internationaler Streitigkeiten.

(2) Zur Erreichung des Zwecks von Absatz 1 werden Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie andere Kriegsmittel nicht unterhalten. Ein Kriegsführungsrecht des Staates wird nicht anerkannt.“4

Für eine Verfassungsänderung sind in Japan die jeweilige Zweidrittelmehrheit in den beiden Kammern und eine einfache Mehrheit bei einer Volksabstimmung notwendig. Lediglich die Kommunisten und Sozialdemokraten verteidigen im Parlament noch die so genannte »Friedensverfassung«. Sie halten jedoch insgesamt nur 15 Mandate im Unterhaus (von 480 ) bzw. im Oberhaus (von 242 ) und können somit die Verabschiedung einer Verfassungsänderung im Parlament kaum verhindern.

Diese Tendenz gilt auch für die Bevölkerung, allerdings nicht ganz so extrem wie im Parlament. Laut einer Zeitungsumfrage ist erstmals eine Mehrheit der Befragten für eine Verfassungsänderung.5 Aber interessanterweise will ebenfalls eine deutliche Mehrheit den pazifistischen Artikel 9 behalten (Tabelle 1).

Das Verhältnis der Japaner zur Verfassung
  April 01 April 04
Ich bin der Meinung, die Verfassung insgesamt zu ändern. 47% 53%
Ich bin der Meinung, die Verfassung nicht zu ändern. 36% 35%
Ich bin der Meinung, den Verfassungsartikel 9 zu ändern. 17% 31%
Ich bin der Meinung, den Verfassungsartikel 9 nicht zu ändern. 74% 60%

Das Jahr 2005 wird also höchstwahrscheinlich zu einem entscheidenden Jahr in der politischen Geschichte Japans. Im Folgenden werden die Hintergründe der heutigen Situation analysiert und die Aktivitäten der Friedensbewegung, die diesen Tendenzen entgegensteht, geschildert.6

Aushöhlung der Nachkriegswerte

Seit der totalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg sind Frieden und Gleichheit die zwei wichtigsten Grundwerte der japanischen Gesellschaft. 60 Jahre lang hat Japan keinen Krieg geführt. Für das Volk ist der Krieg mehr oder weniger das Böse schlechthin. Wenn das Militär großen Einfluss auf die Politik gehabt hätte, wäre der Rüstungsetat wesentlich größer gewesen, was das enorme wirtschaftliche Wachstum Japans gebremst hätte. In den 1960er und 1970er Jahren hätte Japan wie Südkorea seine Soldaten nach Vietnam schicken müssen, was die Einstellung gegenüber Japan in Asien weiter verschlechtert hätte.

Was die Gleichheit anbelangt, haben diejenigen konservativen Politiker, die vom Land stammen, eifrig versucht, den Unterschied des Lebensstandards zwischen Stadt und Land anzugleichen. Der Ausgangspunkt ihrer politischen Karrieren war die Armut in ihrer jeweiligen Heimat. Japan ist zwar, betrachtet man etwa Renten, Gesundheit, Pflege und Beschäftigung, kein Vorreiter in der Fürsorge, aber in den agrarischen Regionen wird die Beschäftigung immerhin durch »öffentliche Bauarbeiten« gesichert.

Dies hat aber auch eine negative Seite. Das Friedensbewusstsein der Japaner hat insoweit funktioniert, als sie sich ausschließlich als Kriegsopfer betrachtet haben. Die düstere Vergangenheit von Expansionspolitik und Angriffskrieg ist aber bisher nicht ernsthaft aufgearbeitet worden.

Der Militärpakt mit den USA hat natürlich die Authentizität des »Friedensstaates« in Frage gestellt.7 So war es nicht besonders überzeugend, als einzige Atombombenopfernation atomare Abrüstung zu fordern und gleichzeitig selber unter dem US-amerikanischen Atomschirm dahinzudämmern.

Die japanische Verfassung ist auch bestrebt, strukturelle Gewalt zu überwinden. In der Präambel heißt es: „Wir erkennen an, dass die Völker auf der ganzen Welt das Recht haben, ohne Unterschied frei von Furcht und Not in Frieden zu leben.“ Es ist aber sehr fragwürdig, ob Japan den Forderungen der Verfassung entsprochen hat, „dass keine Nation sich nur ihren eigenen Angelegenheiten widmen und die anderen Nationen unbeachtet lassen darf.“ Historisch gesehen hat Japan bei den Kriegen in Korea und Vietnam ökonomisch gewaltig profitiert. Der Widerspruch zwischen dem verfassungsrechtlichen Ideal und der Realität ist also sehr groß.

Die relative Gleichheit zwischen Großstadt und Land in Japan ist ein Produkt des Komplexes von Zentralismus und Plutokratie. Die Bürokraten haben Befugnisse und Einnahmequellen monopolisiert. Gleichzeitig konnten sie beliebige Interessen bedienen, da ihr Handeln kaum durch gesetzliche Regelungen eingeschränkt wird. Angesichts des intransparenten japanischen Verwaltungshandelns wiederum haben Politiker mit ihrer Vermittlerfunktion eine große Rolle gespielt. Die Unternehmer haben ihrerseits den Politikern viel Geld gespendet, um ihre Interessen durchzusetzen. Dadurch ist ein kaum mehr zu überschauendes Korruptionssystem entstanden.

Der kanadische Journalist Benjamin Fulford spricht denn auch von der japanischen Kleptokratie.8 Der Begriff bezeichnet eine staatliche Ordnung, bei der die Herrschenden willkürliche Verfügungsgewalt über Besitz und Einkünfte der Beherrschten haben und sich auf deren Kosten privat bereichern.9 Der Autor behauptet, dass über Japan eine Oligarchie der privilegierten Klasse herrsche. Diese Oligarchie bestehe aus Berufspolitikern, Bürokraten, Großunternehmern und Yakuza-Banden. Der Reichtum, den das Volk fleißig produziert habe, werde vom Staat mit allen möglichen Mitteln abgeschöpft.

Vertiefter Verbraucher-Konservatismus

Natürlich gibt es noch andere Elemente, die die Nachkriegsgrundwerte unterminiert haben. Das ungewöhnliche Hochwirtschaftswachstum hat das japanische Gemeinschaftsleben letztlich ruiniert. Ursprünglich war es die Handlungsnorm der Japaner, in einer Dorfgemeinschaft von jemandem gesehen werden zu können und sich deshalb anständig benehmen zu müssen. Durch die rasche Urbanisierung ist der Einzelmensch inzwischen aber atomisiert, ja sogar, so Zygmunt Bauman, regelrecht verflüssigt worden.10

Gleichzeitig hat sich ein extremer Konsumismus herausgebildet. Schon in der zweiten Hälfte der 70er Jahre war unter den japanischen Politikwissenschaftlern oft vom Verbraucher-Konservatismus der Bevölkerung die Rede.11 Der wirtschaftliche Erfolg Japans hat die Entwicklung selbstkritischer Positionen stark behindert. Es gibt nur vereinzelt kritische Kommentare zur Umweltverschmutzung, zur unbewältigten Vergangenheit und der Gefahr eines Atomkrieges.

Nach einer Untersuchung, die in den USA, den Niederlanden, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien und Japan durchgeführt wurde, haben die Japaner die am wenigsten ausgeprägte postmaterialistische Einstellung. Während der »postmaterialistische« Anteil der Bevölkerung z.B. in Deutschland 51% beträgt, liegt er in Japan bei nur 38%.12

Die 1990/1991 geplatzte Seifenblasenwirtschaft drückt die gesellschaftliche Stimmung. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Japans wird von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung heute negativ beurteilt, wie sich an folgenden Zahlen ablesen lässt.13 (Tabelle 2)

Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Japans ist
  sehr gut eher gut

eher schlecht

sehr schlecht
1973 25% 42% 19%

5%

1978 23% 43% 19% 5%
1988 42% 40% 10% 2%
1993 33% 46% 14%

3%

1998 4% 28% 42% 23%

Trotzdem sind die Japaner mit ihrem Lebensstandard zufrieden.14

Die Rolle von Sicherheit für die Japaner

Die überwiegende Mehrheit der Japaner (88%) empfindet zwar, dass die Sicherheit in der Welt zunehmend gefährdet ist. Werden sie aber nach eventuellen Gefahren und Bedrohungen gefragt, so haben sie mehr Angst vor einer Naturkatastrophe (24%) oder einem wirtschaftlichen Zusammenbruch (20%) als vor einem Atomkrieg (19%) oder vor Terrorismus (12%). Der Anteil der Bürger, die nachdrücklich befürworten, dass alle Länder einen Vertrag zum Verbot aller Atomwaffen unterschreiben, ist mit 77% geringer als bei Brasilianern (89%), Deutschen (88%), Kanadiern (83%) oder Russen (78%). Die Erwartung, dass Atomwaffen innerhalb des 21. Jahrhunderts von allen Ländern verboten werden, ist bei den Japanern (49%) gleichfalls deutlich niedriger als bei Russen (84%), Franzosen (73%), Deutschen (62%), Kanadiern und Engländern (je 61%).

Auch bei der Wahl zum Unterhaus vom November 2003 hat das Thema »Krieg und Frieden« kaum eine Rolle gespielt. Während die Wahlberechtigten die Konjunktur (45%) und die Rentenfrage (43%) als zentrales Wahlthema empfanden, war die Frage der Entsendung japanischer Truppen in den Irak nur für 4% von ihnen entscheidend.15

Die Wahl zum Oberhaus vom Juli 2004 verlief analog. Hier hat die Rentenreform eine zentrale Rolle gespielt.

Der Begriff »Frieden« ist in der japanischen Sprache eher auf die Seelenruhe orientiert.16 Diese Einstellung neigt dazu, Ungerechtigkeit auszublenden. Wenn die Japaner weiter auf den »Wohlstand« fixiert bleiben, ist es unvermeidbar, dass Japan zum Akteur direkter und struktureller Gewalt wird.

Je länger die ökonomische Flaute anhält, desto größer wird die Frustration und der Drang, sich mit einem starken Führer bzw. Staat identifizieren zu können. Nach dem Amtsantritt des Ministerpräsidenten Junichirô Koizumi im April 2001 ist diese Tendenz offensichtlich geworden.

Verzögerte Beteiligung an der Globalisierung

An dieser Stelle möchte ich aber zunächst die objektiven Daten und den historischen Hintergrund der heutigen Verhältnisse Japans analysieren.

Laut einer Statistik des japanischen Außenministeriums hat Japan mit 189 Staaten diplomatische Beziehungen (Stand: 1. März 2003).17 Unter den UN-Mitgliedstaaten hat Japan nur mit Nordkorea keine diplomatischen Beziehungen. Das Land hat 2001 mit 387.000 km2 nur 0,3% der Fläche und mit 127,5 Mill. Einwohnern 2,1% der Bevölkerung der Welt.18 Japan trägt 6,1% zum Welthandel bei. Beim Bruttonationaleinkommen (GNI = gross national income) liegt Japan nach den USA (9.901 Mrd. Dollar: 31,4%) mit 4.574 Mrd. Dollar auf Platz zwei (14,5%), gefolgt von Deutschland (1.948 Mrd. Dollar: 6,2%).19

Japan und die USA monopolisieren damit fast die Hälfte des Reichtums der ganzen Welt. Während die USA seit den 1920er Jahren die führende Industriemacht sind, hat sich die japanische Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg extrem schnell entwickelt. 1945 lag das Bruttosozialprodukt (BSP) Japans im Weltmaßstab noch bei weniger als 1%, aber schon Ende der 1970er Jahre erreichte es 10%.

Die Multinationalisierung der japanischen Unternehmen begann erst Mitte der 1980er Jahre. Bis dahin hatten die japanischen Unternehmer durch die als »Japanisches Management« bezeichneten Arbeitsbeziehungen über den internationalen Wettbewerb gesiegt. Die Arbeiter waren weitgehend rechtlos, zu militärischer Disziplin und Konkurrenzverhalten am Arbeitsplatz gezwungen und hatten lange Arbeitszeiten. Trotzdem oder gerade deshalb war ihre Anpassung an »meine Firma« stark. Die Gewerkschaften basierten auf dem Prinzip der Unternehmensgewerkschaft, nicht auf dem Industieverbandprinzip. Sie wirkten sozialpartnerschaftlich mit dem Kapital zusammen und schlossen »radikale« Arbeiter aus.

Seit den 1970er Jahren gibt es zwischen Japan und den Vereinigten Staaten immer wieder Handelskonflikte um Textil, Stahl, Fernseher, Autos und Halbleiter. 1982 erreichte das Handelsdefizit der USA gegenüber Japan 20 Mrd. Dollar. Wegen des enormen Handelsüberschusses haben die USA von Japan verlangt, den Markt zu öffnen. Ende der 1980er Jahre wurde die US-japanische Initiative zur Beseitigung der strukturellen Handelshemmnisse (US-Japan Structural Impediments Initiative) ins Leben gerufen.

Der so genannte Plaza-Akkord vom September 1985 führte zur Yen-Aufwertung.20 Der Yen wurde gegenüber dem Dollar von 280:1 (1985) auf ca. 110:1(1993) verteuert. Dadurch wurden japanische Exporte teuer. Obwohl der schwache Dollar amerikanische Exporte allgemein ankurbelte, blieben die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den USA und Japan weiter kritisch. Der japanische Überschuss lag 1993 bei 50 Mrd. Dollar. Nachdem der japanische Ministerpräsident Kiichi Miyazawa im April 1993 dem amerikanischen Präsidenten Bill Clinton ein neues US-japanisches Handelsgespräch vorgeschlagen hatte, begannen die Verhandlungen über Rahmenbedingungen des Handels (US-Japan framework talks).21

Auf die Yen-Verteuerung haben japanische Hersteller mit einer Verlagerung ihrer Produktion in die (süd-)ostasiatischen Länder reagiert. Indem Japan seine Kapitalexporte strategisch von Nordamerika in die asiatischen Nachbarländer umorientierte, haben die japanischen Direktinvestitionen in die ASEAN-Länder (einschließlich Vietnam) 33,1 Mrd. Dollar erreicht. Japanisches Kapital ist an 2.754 Joint Ventures in Südostasien beteiligt.22

Die Achillesferse der japanischen Wirtschaft ist der Rohstoffmangel. Die Energieversorgung hängt vom Import ab. 2000 hat Japan insgesamt 4.262.000 Barrel Rohöl pro Tag importiert, überwiegend aus dem Nahen Osten (aus den Golfstaaten 3.100.000, dem Iran 500.000 und dem Irak 105.000 Barrel). Es sind die USA, die den Japanern ihre Erdölversorgung garantieren.23

Wirtschafts- und Finanzkreise verlangten deshalb von der Politik zunehmend, die Stabilität in der Region zu sichern, die freie Handels- und Investitionstätigkeit der japanischen Unternehmen zu garantieren, und zwar am besten auf eigene Faust. Auch die politische Klasse Japans hält es inzwischen für erforderlich, dass Japan zur Absicherung der multinational operierenden Konzerne eine Mitverantwortung für die Sicherung der Weltordnung übernimmt.

Die japanischen Konservativen zwischen Antikommunismus und Antiamerikanismus

Das Credo der US-amerikanischen Japanpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg war ursprünglich die Demilitarisierung und die Demokratisierung des Landes. Aufgrund der Erfahrung der Besatzung in Deutschland wollten die USA den Einfluss anderer Länder auf ihre Besatzungspolitik ausschließen. Von vorneherein hatten sie die Absicht, zu diesem Zweck das japanische Kaisertum auszunutzen. Deshalb war es für die USA selbstverständlich, beim Kriegsverbrechertribunal in Tôkyô Kaiser Hirohito nicht anzuklagen.24

Die USA sorgten dafür, dass das besiegte Japan rasch eine neue Verfassung bekam, um sich komplizierte Verhandlungen mit anderen Alliierten zu diesem Thema zu ersparen. Die japanische Verfassung wurde am 3. November 1946 verkündet und ist am 3. Mai 1947 in Kraft getreten. Gleichsam im Austausch dafür, das Kaisertum in einer konstitutionellen Form überleben zu lassen, spricht sie Japan das Recht zur Kriegsführung ab und verbietet jegliche Kriegsmittel.

Obwohl der Kaiser nun als »Symbol« Japans und der Einheit des japanischen Volkes« eigentlich nur die in der Verfassung bestimmten Handlungen vornehmen darf, hat Hirohito mindestens zweimal eine für die Nachkriegspolitik entscheidende politische Rolle gespielt:

  • Im September 1947 schlug er dem Obersten Kommandanten der Alliierten, Douglas MacArthur, indirekt vor, durch einen Pachtvertrag über 25 oder 50 Jahre die Insel Okinawa in militärischen Besitz zu nehmen. Obwohl Okinawa nur 0,6 Prozent der Fläche Japans hat, liegen dort heute noch 75% aller US-Militärstützpunkte in Japan.
  • Im August 1950 schrieb er dem Berater des US-Außenministeriums John Foster Dulles persönlich Folgendes: Wenn erfahrene Japaner, die wegen der Kriegsschuld des Amtes enthoben worden sind, rehabilitiert würden, würden sie viel dazu beitragen, die Friedensfrage zu lösen, und zwar im dem Sinne, dass Japan freiwillig den Amerikanern Militärstützpunkte anbieten würde. Das führte zum Abschluss des US-japanischen Sicherheitsvertrags, der am 8. September 1951 gleichzeitig mit dem Friedensvertrag unterschrieben wurde.

Die »Überlebensstrategie« Hirohitos war, den amerikanischen Wunsch vorwegzunehmen und das wie einen freiwilligen Vorschlag japanischerseits gegenüber den Amerikanern aussehen zu lassen. Damit legte Hirohito den Grundstein zur Remilitarisierung Japans.

Nach der politischen Unruhe um die Revision des Sicherheitsvertrags 1960 bemühte sich die Regierung, das Interesse des Volkes auf das wirtschaftliche Wachstum zu konzentrieren. Unter dem amerikanischen »Atomschirm« konnte Japan die eigene Aufrüstung relativ beschränken. Im November 1971 hat das japanische Parlament die »Drei nicht-nuklearen Grundsätze« beschlossen: keine Nuklearwaffen zu produzieren, zu besitzen und einzuführen.25 Im Oktober 1976 beschloss das japanische Kabinett, die jährlichen Verteidigungsausgaben zu beschränken auf unter ein Prozent des Bruttosozialproduktes (BSP).26

Heute gibt es in Japan 39.691 amerikanische Offiziere und Soldaten (Stand: September 2003), insgesamt 134 US-Militäreinrichtungen auf einer Fläche von 1.010 km2. Die USA haben das Recht zur Errichtung von Militärbasen und zur unbeschränkten militärischen Nutzung. Außerdem zahlt Japan seit 1978 ungeheure Geldsummen als finanzielle Hilfe für die stationierten US-Truppen.27 Es finanziert nicht nur Personalkosten für Beschäftigte in US-Militärstützpunkten, Licht-, Heiz- und Baukosten innerhalb der US-Militärstützpunkte, sondern auch Pachtzinsen, Subventionen für die betroffenen Kommunen, Schallisolierungsarbeiten usw. Angesichts der Tatsache, dass Japan für die stationierten US-Soldaten mehr als 100.000 Euro pro Kopf bezahlt, kommentieren manche selbstironisch, das Land sei ein Gefangener, der die Gefängniswächter bezahlen müsste.

Laut eines Berichtes des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums aus dem Jahre 2003 brachte Japan 4,620 Mrd. Dollar für die im Lande stationierten US-Truppen auf. Das ist mehr, als die anderen 24 Länder, in denen US-Truppen stationiert sind, zusammen für die US-Truppen bezahlten (2,880 Mrd. US-Dollar). Darunter sind Deutschland mit 860 Mill. US-Dollar und Südkorea mit 850 Mill. US-Dollar.

Wegen der kritischen Wirtschaftsbeziehungen sind aber Missstimmung und Irritation sowohl auf der amerikanischen als auch auf der japanischen Seite gewachsen. In den USA wird immer wieder behauptet, dass Japan »Trittbrettfahrer« (free rider) des US-japanischen Sicherheitssystems ist. Aber es gibt auch Misstrauen gegenüber der japanischen Aufrüstung. Im März 1990 formulierte der Kommandierende General der 3. Marinedivision in Okinawa (1989-1991), Henry C. Stackpole, heutiger Präsident des amerikanischen Asia-Pacific Center for Security Studies (APCSS), die so genannte »Flaschenverschluss«-Theorie (»cap in the bottle« theory). Er sagte: „Wenn sich die amerikanischen Truppen aus Japan zurückziehen würden, würde Japan die schon starken Streitkräfte noch verstärken. Wir sind der Verschluss der Flasche.“ 1999 haben die Zeitung Asahi Shimbun und das Meinungsforschungsunternehmen Harris Poll eine aufschlussreiche US-japanische Umfrage zusammengestellt. Darin meinten fast die Hälfte der US-Amerikaner, dass US-Truppen in Japan stationiert seien, um eine Militärmacht Japan zu verhindern (Tabelle 3).28

Wozu sind die US-Truppen mit etwa 40.000 Mann in Japan stationiert?
 

Japan

USA
um Japan zu verteidigen 31% 12%
um der Globalstrategie der USA zu dienen 38% 34%
um zu verhindern, dass Japan zu einer Militärmacht wird 19% 49%

Es ist für die japanischen Konservativen ein großer Widerspruch, geschichtspolitisch antiamerikanisch zu bleiben und militär- und realpolitisch proamerikanisch sein zu müssen. Sie verteidigen zwar den Mythos, dass der Krieg gegen den Willen Hirohitos begonnen und geführt wurde. Aber zu jedem Anlass versuchen sie, die japanische Expansions- und Kriegspolitik zu rechtfertigen. Ihr Argument: Japan hatte keinen anderen Weg als Krieg zu führen, weil der amerikanische Druck so massiv war. Es ist natürlich nicht vergessen, dass die Amerikaner mit Brandbomben verschiedene japanische Städte total zerstört und mit Atombomben Hiroshima und Nagasaki vernichtet haben.29

Es ist das politische Ziel der japanischen Konservativen, die politische Ordnung, die die Amerikaner nach 1945 eingeführt haben, vor allem die »Friedensverfassung«, zu beseitigen. Sie wollen den Kaiser als Staatsoberhaupt und die »normalen« Militärkräfte wieder haben.

Seitdem Japan zwei Ölkrisen wirtschaftlich relativ stabil überstand und als »Nummer Eins« in den Himmel gehoben wurde,30 wird auch in Japan der ökonomische Nationalismus propagiert. Es war der Antikommunismus, der in der Zeit des Kalten Krieges den proamerikanischen und den antiamerikanisch-nationalistischen Flügel des japanischen Konservatismus verband. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und angesichts des unverblümten Hegemonialanspruchs der USA wird die Kluft zwischen den beiden Lagern potenziell größer.

Neonationalismus nach dem Ende des Kalten Krieges

Durch den Zusammenbruch des östlichen Lagers und den Wandel Chinas zum Kapitalismus hat sich der freie Markt buchstäblich global ausgedehnt. Um die Ordnung für die globale Marktwirtschaft aufrechtzuerhalten, verlangen die USA von Japan eine militärische Teilnahme. Beim Golfkrieg 1990/1991 zog sich Japan die Ungnade der USA zu, weil es aus verfassungsrechtlichen Gründen »nur« Kriegskosten von 9 Mrd. Dollar übernommen hatte. Auf der anderen Seite brauchen auch die japanischen Unternehmen eine Militärmacht Japan, um in der globalisierten Welt für sich Sicherheit und Privilegien zu garantieren. Eine Wirtschaftsorganisation, Keizai Dôyûkai (Japan Association of Corporate Executive), forderte deshalb nachdrücklich, Japan solle endlich den exklusiven »Ein-Land-Pazifismus« beenden.

Der Stolperstein für die Aufrüstungspolitik Japans ist die kritische Meinung in der asiatischen Öffentlichkeit. Die Stimmen der Kriegsopfer in Asien, die in der Zeit des Kalten Krieges unterdrückt waren, wurden in den 1990er Jahren hörbar. Der damals frisch gewählte Regierungschef der Nicht-LDP-Koalition, Morihiro Hosokawa, sagte im August 1993 deutlich, dass Japan im Zweiten Weltkrieg einen Angriffskrieg geführt hat. Er entschuldigte sich für den Krieg und die Kolonialherrschaft. Der sozialdemokratische Ministerpräsident, Tomiichi Murayama, äußerte am 15. August 1995, zum 50. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation, dass Japan in der nicht so fernen Vergangenheit durch Kolonialherrschaft und Angriffskriege den Menschen in Asien viel Leid angetan hat. Er sprach sich dafür aus, dass Japan sich selbstkritisch mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen und den selbstgefälligen Nationalismus überwinden müsse. Als verantwortungsbewusstes Mitglied der internationalen Gemeinschaft habe es die Völkerverständigung zu fördern und die Idee von Frieden und Demokratie zu verbreiten. Natürlich sei Japan als einzige »Atombombenopfernation« bereit, nach der Abschaffung aller Kernwaffen zu streben und die internationale Abrüstung voranzutreiben.

Die Nationalisten, die ohnehin die »Siegerjustiz« und die »aufgezwungene« Demokratie ablehnen, entwickelten angesichts dieser Ereignisse ein starkes Krisenbewusstsein. Sie versuchten mit allen Mitteln, die »Ehre des Vaterlandes« zu verteidigen. Ihr Angriffsobjekt war ein »selbstanklägerisches« Geschichtsbuch für den Schulunterricht. Das symbolische Ziel war neben dem Nanking-Massaker von 1937 die »Trostfrauen«-Problematik.

Dieses unbewältigte Vergangenheitsthema kam mit dem Ende des Kalten Krieges hoch. Vor und während des Zweiten Weltkrieges wurden unter der japanischen Kolonialherrschaft und Militärbesatzung bis zu 200.000 Frauen als Sexsklavinnen in japanische Militärbordelle gezwungen.31 Die meisten »Trostfrauen« kamen von der koreanischen Halbinsel. In der Regel wurde ihnen vorgelogen, dass sie einen guten Job bekämen. Unter dem Druck der Staatsgewalt bzw. der zwischenstaatlichen Beziehungen und aus Scham haben sie über ihre Erfahrungen den Mund gehalten. Erst im August 1991 hat Kim Hak Soon, eine 67-jährige Koreanerin, öffentlich gemacht, dass sie während des Zweiten Weltkrieges als Zwangsprostituierte festgehalten worden war. Danach wurde in Südkorea eine Hotline eingerichtet und es meldeten sich weitere betroffene Frauen. Seit 1991 gibt es in Japan insgesamt zehn Fälle, in denen ehemalige Opfer der sexuellen Gewalt von der japanischen Regierung Entschuldigung und Wiedergutmachung verlangen.

Die japanische Regierung verleugnete zuerst die staatliche Verantwortlichkeit. Am 13. Januar 1992 erkannte Regierungssprecher Kôichi Katô jedoch an, dass das japanische Militär die Zwangsprostitution damals mitorganisiert hat. Am 6. Juli 1992 gab er offiziell bekannt, dass die Regierung selbst durch die Werbung der »Trostfrauen« und die Verwaltung der Militärbordelle die Zwangsprostitution organisiert hat. Im Juli 1995 gründete der sozialdemokratische Ministerpräsident Tomiichi Murayama den »Asiatischen Friedens- und Freundschaftsfonds für Frauen« (Asian Women“s Fund), um die ehemaligen »Trostfrauen« zu entschädigen.

Der Fonds stieß in den betreffenden Ländern auf Kritik und Ablehnung, weil er nicht staatlich sondern privat organisiert wurde und die japanische Regierung keine eindeutige Haltung zur Verantwortung einnahm. Im September 2002 beendete der Fonds seine Tätigkeit, nachdem insgesamt nur 285 Frauen in den Philippinen, Südkorea und Taiwan Schadenersatz erhalten hatten.

Die »Trostfrauen«-Frage fand auch wiederholt internationale Resonanz. Am 6. Februar 1996 veröffentlichte die UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen, Radhika Coomaraswamy aus Sri Lanka, einen Bericht zu diesem Problem. In ihrem Report an die UN-Menschenrechtskommission forderte sie die japanischen Regierung auf, ihre rechtliche Verantwortung anzuerkennen, die Opfer zu entschädigen, Dokumente und Materialien zu dieser Frage an die Öffentlichkeit zu bringen, den Opfern offiziell eine schriftliche Entschuldigung zukommen zu lassen, durch verbesserten Geschichtsunterricht das Wissen um diese Problematik zu verbreitern sowie die Täter zu identifizieren und zu bestrafen.32

Im Gegenzug organisierten im Dezember 1996 japanische Nationalisten einen Verband, um ein geschichtsrevisionistisches Schulbuch zu publizieren und verbreiten. Im April 2001 erteilte das Erziehungsministerium diesem nationalistischen Schulbuch die Genehmigung.33 Nachdem im folgenden Schuljahr 2002/2003 weniger als ein Prozent der Schülerinnen und Schüler dieses problematische Schulbuch benutzt hatten, ordneten der Gouverneur von Ehime, Moriyuki Kato, im August 2002 und der Gouverneur von Tôkyô, Shintarô Ishihara, im August 2004 an, das Buch in ihren jeweiligen Präfekturen zu verwenden. Im November 2004 kommentierte Erziehungsminister Nariaki Nakayama öffentlich, es sei zu begrüßen, dass es in den Schulbüchern in letzter Zeit weniger Wörter wie Trostfrauen und Zwangsverschleppung gebe.

Erbpolitiker – der Krebs des japanischen Parlamentarismus

Als Koizumi im April 2001 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, gab es auch in Europa optimistische Bemerkungen, Japan habe endlich einen liberalen Reformpolitiker als Regierungschef. Koizumi ist zwar Anhänger des wirtschaftlichen Neoliberalismus, aber ideologisch ist er von erzkonservativer Gesinnung.34 Seine naive Begeisterung für »selbstlose« Kamikaze-Flieger zeigt deutlich, wie unkritisch er die japanische Vergangenheit betrachtet.

Koizumi hatte versprochen, er würde die LDP zerschlagen, wenn sie sich seiner Reformpolitik verweigern würde. Daher hofften viele Menschen, dass er das Land aus seiner Widersprüchlichkeit führen könne. Seine populistische »Politik der Phrasen« hatte viel Erfolg. Ende Mai 2001 sprachen 84% der Befragten ihre Unterstützung für die Regierung Koizumi aus, selbst 70% der Wählerschaft der Kommunistischen Partei Japans (KPJ).35

Erbpolitiker wie Koizumi – schon sein Großvater und Vater waren Minister – zeigen deutlich die personelle und ideologische Kontinuität des japanischen Konservatismus. Sie haben ihre Ressentiments gegen die staatliche Ordnung der Nachkriegszeit bewahrt, weil ihre Väter oder Großväter wegen ihrer Beteiligung an der Kriegsführung nach 1945 Schwierigkeiten hatten. Sie haben auch die expansionistisch-imperialistische Denkweisen der alten Generation übernommen.

Zum Beispiel Shinzô Abe. Sein Vater war Minister. Der Großvater, Nobusuke Kishi, war Kriegsverbrecher und nach seiner Freilassung Ministerpräsident. Trotz Massenprotesten hat Kishi 1960 die Revision des japanisch-amerikanischen Militärpaktes durchgesetzt.

Shinzô Abe übte als Vizesekretär des Kabinetts zusammen mit seinem politischen Freund Shôichi Nakagawa, seinerseits selbst Erbpolitiker, auf den Fernsehsender NHK starken Druck aus, als dieser im Januar 2001 eine kritische Sendung über das Volkstribunal zur Aufarbeitung der »Trostfrauen«-Problematik ausstrahlen wollte.36 Als Ergebnis dieses Drucks »neutralisierte« NHK die ursprünglich kritische Berichterstattung: Die Zeugenaussage eines ehemaligen japanischen Soldaten, der die Anklagen der »Trostfrauen« bestätigte, und der Kernteil des Urteils, der sich auf Kaiser Hirohito bezog, wurden gestrichen.

Im Mai 2002 erklärte Abe, dass es für Japan kein Problem sei, über Kernwaffen zu verfügen, wenn sie klein seien.37 Er wurde wegen des harten Kurses gegenüber Pjöngjang sehr populär und im September 2003 zum LDP-Generalsekretär ernannt.

Abes riskante Äußerung wurde von seinem Chef, Yasuo Fukuda, nicht dementiert. Dieser sagte sogar, dass sich das japanische Volk eventuell Atomwaffen wünschen könnte. Fukudas Vater, Takeo, versuchte 1977 als Ministerpräsident, Notstandgesetze durchzusetzen.

Der Staatsminister des Verteidigungsamtes des ersten Kabinetts von Koizumi hieß Shigeru Ishiba. Der Vater des Ultrafalken war auch schon Minister gewesen. Shigeru Ishiba macht aus dem Anspruch kein Hehl, dass Japan die Wehrpflicht wieder einführen soll. Seiner Meinung nach ist die Wehrpflicht verfassungsmäßig, weil sie keine sklavenähnliche Bindung sei, die die Verfassung verbietet. Mit dem Regierungschef teilt er überdies die Meinung, dass Japan das Recht habe, einen Präventivkrieg zu führen, weil die Verfassung nicht vom Volk verlangt, bei einer Bedrohung durch einen Feind schicksalsergeben auf den Tod zu warten.

Als das Kabinett Koizumi gebildet wurde, konnte fast niemand voraussehen, dass die Erbpolitiker in der Regierung eine wichtige Rolle dabei spielen würden, das Land hoch aufzurüsten. Das Interesse der Bevölkerung konzentrierte sich damals auf die Frage, ob Koizumi endlich seine Reformpolitik durchsetzen würde.

Der neoliberale und neonationalistische Grundton der Politik Koizumis

Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre hört man in Japan immer häufiger Reden über die Notwendigkeit einer »Strukturreform«. Nach dem Platzen der »Seifenblasenwirtschaft« lag die durchschnittliche Wachstumsrate in den 1990er Jahren nur knapp über 1%. Das Ziel der »Strukturreform«: durch Entlastung der Unternehmen und Deregulierung die Wettbewerbsfähigkeit der großen Unternehmen – die im globalen Wettbewerb (great competition) gesunken ist – wieder zu erhöhen.38

Koizumi versprach, eine radikale »Reformpolitik« durchzusetzen, die angesichts der Globalisierung angeblich unvermeidlich sei. Bereits zwischen Dezember 1992 und Juli 1993 hatte er als Postminister die Initiative ergriffen, um die Post zu privatisieren.

Koizumis »Strukturreform« hat aber verschiedene Probleme. Die Industrie verlegte immer mehr Produktionsstätten ins Ausland (vor allem nach China). Das führte zum Nachlassen der lokalen Wirtschaft und zu Massenarbeitslosigkeit. 2002 wurde mit 5,4% die höchste Arbeitslosigkeit registriert. Die Deregulierung hat die früher subventionierte bzw. geschützte Landwirtschaft und Kleinhändler geschwächt.

Demgegenüber konnten die Großunternehmen Rekordgewinne verzeichnen. Zum Beispiel Toyota. Der Autokonzern hat 2004 fast 10 Milliarden Euro Profit erwirtschaftet. Er hat seit drei Jahren die Erhöhung der Löhne abgelehnt und trotz des Riesenprofits fordert der Vorsitzende von Toyata, Hiroshi Okuda, jetzt sogar eine Lohnkürzung. Die Haltung trifft nicht nur ein einzelnes Unternehmens, Okuda ist gleichzeitig Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes Keidanren (Japan Business Federation).

Die »Reform« hat den gesellschaftlichen Zusammenhalt des japanischen Unternehmer-Staates beträchtlich beschädigt.39 Die Identifizierung der Bevölkerung mit »meiner Firma« wurde durch mangelnde Beschäftigungssicherheit und Lohnsenkungen fragwürdig. Im Zusammenhang damit haben sich die Unterschiede innerhalb der japanischen Gesellschaft, die ursprünglich (positiv oder negativ) ziemlich homogen war, drastisch vergrößert und gesellschaftliche Probleme wie Obdachlosigkeit, Jugendkriminalität, Selbstmord und Familienzerfall sind sehr ernst geworden.

Seit 1998 begingen in Japan mehr als 30.000 Menschen Selbstmord. Die Zahl der Selbstmörder ist vier bis fünf mal höher als die der Verkehrsunfalltoten. Mindestens 20% von ihnen sollen sich aus wirtschaftlichen Gründen das Leben genommen haben. Die mammonistische Denkweise hat sich so tief eingenistet, dass der Geist von gegenseitiger Hilfe und Solidarität verloren gegangen ist.

Nordkorea – der willkommene Erzfeind

Ein Teil der japanischen Öffentlichkeit hat den anglo-amerikanischen Angriffskrieg gegen den Irak unterstützt, akzeptiert oder geduldet. Die Befürworter konnten keine wesentlichen, sondern nur nebensächliche Begründungen nennen. 21% wiesen darauf hin, dass Japan im Fall Nordkorea die Zusammenarbeit mit den USA brauche. 12% begründeten ihre Unterstützung lediglich damit, dass die USA ein Bündnispartner Japans seien.40

Im September 2002 besuchte Ministerpräsident Koizumi Nordkorea. Der Pöngjang-Besuch gab Japan eigentlich die Chance, eigene Initiativen zur Friedenssicherung in Nordostasien zu entwickeln.

Diese Chance wurde aber durch eine hysterische Stimmung in Zusammenhang mit der »Entführungsfrage« vertan.41 Bei dem Gipfeltreffen gestand der nordkoreanische Diktator Kim Jong Il dem japanischen Regierungschef, dass nordkoreanische Agenten in den 1970er und 1980er Jahren mehrere Japaner entführt hätten. Das hat in Japan einen kämpferischen Nationalismus ausgelöst. Die Massenmedien verbreiteten zu jedem möglichen Anlass ein anti-nordkoreanisches Feindbild. Die Diplomaten, die das Gipfeltreffen vorbereitet hatten, wurden als »Staatsfeinde« diffamiert. Die Journalisten, die in Nordkorea die dort hinterbliebenen Familienangehörigen der am 15. Oktober 2002 nach Japan zurückgekehrten ehemaligen Entführten interviewt hatten, wurden als Pjöngjangs Helfershelfer beschimpft.

Die anti-nordkoreanische Stimmung in Japan eskalierte durch Pjöngjangs eigene Politik von »brinkmanship« (am Abgrund balancieren) weiter. Am 12. Dezember 2002 hob Nordkorea die Beschränkung der Entwicklung von Atomwaffen auf. Am 10. Januar 2003 kündigte es den Atomwaffensperrvertrag (Non-Proliferation Treaty = NPT).42 Am 24. April 2003 gab ein hoher Diplomat aus Pjöngjang bei einem amerikanisch-chinesisch-nordkoreanischen Treffen in Peking zu, dass das nordkoreanische Regime schon Atomwaffen besitze. Er deutete an, dass ein Atomwaffentest von der Einstellung Washingtons abhänge.

Der Fall Nordkorea liefert den japanischen Militaristen eine einmalige Rechtfertigung für die Militarisierungs- und Aufrüstungspolitik des Landes. Im November 2002 sagte der rechtspopulistische Gouverneur von Tôkyô, Ishihara, dass Japan wegen der Entführungsfrage einen Krieg gegen Nordkorea führen dürfe. Auch Politiker der jüngeren Generation, die selber keine Kriegserfahrung haben, betonen immer lauter das Recht auf Präventivkrieg und die Notwendigkeit einer atomaren Bewaffnung. Angeblich als Reaktion auf die Bedrohung durch Raketen aus Nordkorea entschied das Kabinett am 19. Dezember 2003, mit den USA ein Raketenschutzsystem (MD = Missile Defense) aufzubauen und dessen Entwicklung bis zum Haushaltsjahr 2007 anzustreben.

Die Bevölkerung hält es für denkbar, dass Nordkorea in einem Verzweiflungsakt Japan mit Atomwaffen attackieren könnte. Die relative Mehrheit glaubt, dass das Regime so gefährlich sei, dass Japan mit ihm keine diplomatischen Beziehungen aufnehmen sollte, und nicht umgekehrt, dass das Regime so gefährlich geworden sei, weil Japan mit ihm keine diplomatischen Beziehungen hat. Ein Jahr nach dem Pjöngjang-Besuch Koizumis sind 49% dagegen, mit Nordkorea diplomatische Beziehungen aufzunehmen (38% dafür).43

Auch 2004 sind die japanisch-nordkoreanischen Beziehungen recht frostig geblieben. Der zweite Pjöngjang-Besuch Koizumis vom 22. Mai 2004 führte nicht zu einer Normalisierung.

Am 8. Dezember 2004 erhob Tôkyô erneut Beschwerden gegen Pjöngjang. Es ging dabei um die sterblichen Überreste von Megumi Yokota. Megumi ist die Symbolfigur der von nordkoreanischen Agenten entführten Japaner. Sie wurde am 15. November 1977 als damals 13jähriges Mädchen verschleppt und soll sich nach nordkoreanischen Informationen im April 1994 in einem Krankenhaus das Leben genommen haben. Aber nach einer DNS-Analyse wurde deutlich, dass die Gebeine zu einem anderen Menschen gehören. Diese Täuschung hat die anti-nordkoreanische Stimmung in der japanischen Öffentlichkeit noch weiter verstärkt.

Ende 2004 unterstützen 63% der Japaner Wirtschaftssanktionen gegen Nordkorea (25% waren dagegen). 46% haben große und weitere 44% haben eine gewisse Angst vor einer atomaren Aufrüstung Nordkoreas.44 Das Thema Nordkorea ist in Japan inzwischen zu emotional geworden, um einen rationalen Dialog darüber zu führen.

Die USA nach den Terrorattentaten vom 11. September 2001 und Japan nach Koizumis Staatsbesuch in Nordkorea am 17. September 2002 weisen viele Gemeinsamkeiten auf. Beide Nationen betrachten sich einseitig als Opfer. Sie ergeben sich dem Selbstmitleid und vergessen darüber ihre Tätervergangenheit. Der engstirnige Ethnozentrismus wird so sublimiert, dass kein Raum für eine andere Meinung bleibt. Der naive Dualismus »Wir sind gut, die anderen sind böse« ist allgegenwärtig. Das Hass- und Rachegefühl wurde so massiv geschürt, dass die Emotion die Vernunft überwältigt. Die Massenmedien haben sich freiwillig gleichgeschaltet. Die starke Staatsgewalt wird verherrlicht. Die Obrigkeit nutzt die Gesamtsituation aus, rüstet das Militär auf, bereitet sich für den Krieg vor und baut das innere Überwachungssystem aus.

Die japanischen Massenmedien reagieren auf den Regierungskurs äußerst unkritisch. Entweder sie schüren das Ressentiment gegen Nordkorea oder lenken durch Manipulation das Interesse der Bevölkerung von wichtigen politischen Themen ab. Es ist schon absurd, dass die Medien noch nicht einmal auf einen Gesetzentwurf zur Medienregulierung besonders kritisch reagierten.45

Fortschreitende Kriegsvorbereitung

Die japanische Regierung unterstützte sofort nach dem 11. September 2001 die Politik der USA und ihre Militäraktionen. In diesem Land ist das »japanisch-amerikanische Bündnis« das Zauberwort, um Gedanken an eine andere Diplomatie zu verbieten und dem »Imperium« blindlings zu folgen.46 Obwohl die Bush-Doktrin vom September 2002 (The National Security Strategy of the United States of America) mit der Absicht von Präventivkrieg und Regimewechsel den Charakter der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik grundlegend änderte, fällt Tôkyô nichts anderes ein, als die Bündnistreue zu ritualisieren.

Nachdem Bush am 7. Oktober 2001 den Afghanistan-Krieg begann, verabschiedete das japanische Parlament 22 Tage später ein Sondergesetz mit Antiterror-Maßnahmen, um den »Kampf gegen den Terrorismus« logistisch zu unterstützen. Aufgrund dieses Gesetzes wurde im Dezember 2002 ein Aegis-Zerstörer der so genannten Selbstverteidigungsstreitkräfte (Self Defense Forces = SDF) in den Indischen Ozean entsandt. Für die anglo-amerikanische Kriegsführung in Afghanistan hat Japan tatsächlich eine wichtige Rolle gespielt, weil Japan 40% des Flugbenzins für die Bombenangriffe bereitgestellte.

Auch beim Irak-Krieg unterstützte die japanische Regierung den Krieg und die Militärbesatzung der US-Amerikaner vorbehaltlos. Schon drei Tage vor Kriegsbeginn erklärte Ministerpräsident Koizumi, dass Japan die amerikanische Gewaltanwendung gegen den Irak auch ohne UN-Mandat unterstützen würde.

Nach dem Irak-Krieg wurde das Sondergesetz zur Unterstützung des »Wiederaufbaus« des Iraks am 26. Juli 2003 im japanischen Oberhaus durch eine Mehrheitsentscheidung mit Unterstützung der LDP und ihrer beiden Koalitionspartner verabschiedet. Damit wurden zum ersten Mal japanische Soldaten in ein Krisengebiet unter Verwaltung einer Besatzungsmacht entsendet.

Auf der Geberkonferenz für den Irak, die am 23. und 24. Oktober 2003 in Madrid stattfand, erklärte Japan seine Bereitschaft, insgesamt 5 Mrd. US-Dollar für den »Wiederaufbau« zu zahlen.47 Japan ist damit nach den USA (20,3 Mrd. Dollar) der zweitgrößte Geber, gefolgt von der Weltbank (3-5 Mrd. Dollar für 2004-2008) und IWF (2,5-4,25 Mrd. Dollar für 2004-2007). Dieser Betrag entspricht fast 10 Prozent der für 2004-2007 als notwendig geschätzten 55 Mrd. Dollar. Es ist mehr als 20 mal so viel wie der EU-Beitrag in Höhe von 236 Mio. Dollar für 2004. Anders als die EU interessiert sich Tôkyô wenig dafür, ob das Geld u.U. dazu verwandt wird, die Stationierungskosten der Besatzungsmächte zu decken.

Die Mehrheit der japanischen Bevölkerung ist mit dieser Regierungspolitik nicht einverstanden. Der populistische Ministerpräsident wird als Schoßhund von Bush verspottet. Nach dem Afghanistan-Krieg waren 48% der Bevölkerung gegen die Entsendung des Aegis-Zerstörers (40% waren dafür).48 Gleich nach Beginn des Irak-Krieges lehnten 59% ihn ab. 31% befürworteten ihn. 10 Tage danach vergrößerte sich die Diskrepanz (65%: 27%).49 Auch eine Soldatenentsendung in den Irak lehnte die Mehrheit ab (Tabelle 4).50

Was meinen Sie zur japanischen Soldatenentsendung in den Irak?
  Mai 03

Aug. 03

Okt. 03 Dez. 03
Ich bin dafür 33% 31%

32%

34%
Ich bin dagegen 55% 58% 55%

55%

Die enorme Finanzhilfe haben nur 32% akzeptiert (56% nicht).51

Unbeindruckt von Bedenken und Kritik seitens der Mehrheit der Bevölkerung beschloss das Kabinett am 9. Dezember 2003 die Entsendung von japanischen Soldaten in den Irak. Am 26. Januar 2004 erteilte die Regierung den Marschbefehl an das Hauptkontingent der Bodenstreitkräfte der SDF zur Unterstützung des »Wiederaufbaus« des Iraks sowie an die Seestreitkräfte zum Transport von Personal und Ausrüstung der Bodentruppen. Nun rückten japanische Soldaten de facto zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg ins Feld.

Als das Geleitschiff Murasame im Februar 2004 aus Yokosuka nach Kuwait auslief, verabschiedete es Tokuichirô Tamazawa, von Juni 1994 bis August 1995 Staatsminister des Verteidigungsamtes, mit den Worten: „Es hängt von dieser Schlacht ab, ob das Kaiserreich aufsteigt oder untergeht.“ Diese Äußerung stammt ursprünglich vom Oberbefehlshaber der Vereinigten Flotte, Heihachirô Tôgô, der im Mai 1905 die russische Flotte in der Seeschlacht bei Tsushima vernichtete. Diese Worte widersprechen der durchsichtigen Äußerung Koizumis, dass sich die SDF-Truppen keineswegs am Krieg beteiligen.

Auch dass drei japanische Zivilisten, die als NGO-Aktivisten bzw. freier Journalist vor Ort arbeiteten, im April 2004 von irakischen Aufständischen als Geiseln genommen wurden, hatte keinen Einfluss auf die Regierungspolitik.52 Die Kidnapper hatten mit der Ermordung der drei Japaner gedroht, sollte Japan seine Truppen nicht innerhalb von drei Tage aus dem Irak abziehen. Tôkyô lehnte dies sofort ab. Ministerpräsident Koizumi stellte lautstark klar, dass sich Japan nicht den Forderung der Entführer beugen werde.

Die Geiselopfer wurden eine Woche später freigelassen. Als sie gegen ihren Willen kurz danach im Heimatland ankamen, machten sie einen verängstigten Eindruck. Von der Regierung und den regierungsfreundlichen Massenmedien wurden die Geiselopfer samt ihren Familienangehörigen als »Landesverräter« und »Nestbeschmutzer« verleumdet. Es wurde sogar behauptet, das Geiseldrama sei von ihnen selbst inszeniert worden.

Als wenige Wochen später, im Mai 2004, zwei japanische Journalisten von den irakischen Aufständischen ermordet und als im Oktober 2004 der 24-jährige Shôsê Kôda enthauptet wurde, zeigte der japanische Premier keinerlei Betroffenheit.

Auch nachdem offensichtlich wurde, dass der anglo-amerikanische Angriff gegen den Irak unbegründet war, betreibt Premier Koizumi eine unglaubliche Sophisterei, um ihn zu rechtfertigen. Besonders verblüffend war seine Äußerung im Parlament im November 2004, wonach das Gebiet, in dem die SDF-Truppen tätig sind, Nichtkampfgebiet sei, obwohl bereits Granaten im Lager der SDF in Samawa eingeschlagen waren.

Am 9. Dezember 2004 schließlich beschloss Kabinett, dass die im Irak stationierten SDF-Truppen vorerst bis zum 14. Dezember 2005 bleiben sollen. Premier Koizumi hat keinerlei Bedingungen für einen Rückzug genannt.

Die Mehrheit der Bevölkerung bleibt gegenüber der Verlängerung des SDF-Einsatzes im Irak sehr skeptisch.53 In dieser Frage ist Ministerpräsident Koizumi nach Ansicht von 76 % der von der Asahi Shimbun befragten Personen seiner »Erklärungspflicht« nicht nachgekommen.

Trotzdem oder deshalb gelang es dem Kabinett Koizumi, auch innenpolitisch wichtige Gesetze zur Kriegsvorbereitung, die früher völlig unmöglich schienen, rasch durch das Parlament zu bringen. Im 2003 bewilligte das Oberhaus ein Medienregulierungsgesetz. Im Namen von »Datenschutz« und »Schutz der Menschenrechte« ist die für die Staatsgewalt unangenehme Informationsbeschaffung deutlich schwieriger geworden.

Im Juni 2003 passierten die Notstandgesetze das Oberhaus. Sie ermöglichen bereits bei Annahme eines Eventualfalls die Aussetzung von Freiheits- und Menschenrechten sowie die Errichtung einer Militärregierung durch den Ministerpräsidenten. Widerstand gegen die Regierung wird hart bestraft.

Ministerpräsident Koizumi besucht weiterhin den Hort des japanischen Militarismus, den Yasukuni-Schrein. Dieser Schrein verherrlicht die Kriege Japans als heilig und die Gefallenen samt Kriegsverbrecher als »heilige Helden«. Obwohl er beim ersten Besuch vom August 2001 heftige Kritik und tiefes Misstrauen aus dem In- und Ausland erntete, besuchte er ihn im April 2002, im Januar 2003 und im Januar 2004 erneut. Es geht dabei nicht nur um die revisionistische Geschichtspolitik. Die japanische Obrigkeit pflegt ihre Ehrerbietung für die »für das Vaterland« gefallenen Soldaten, damit dieser Seelentrost auch künftigen Opfern winkt. Die Regierung rechnet schon damit, dass von künftigen Truppenentsendungen ins Ausland zahlreiche Soldaten als Gefallene rücktransportiert werden.54

Laut der Zeitung Asahi Shimbun vom 30. November 2004 sind die Lager der Befürworter und Gegner des Yasukuni-Besuches Koizumis zahlenmäßig ungefähr gleich groß (38%: 39%). Es ist bemerkenswert, dass von den 20-29-Jährigen und den über 70-Jährigen mehr als 40% die Handlung Koizumis unterstützen. Hieran sieht man den Erfolg der Geschichts- und Schulpolitik der Ewiggestrigen (Tabelle 5).55

Es ist offensichtlich, dass der Wissensstand der jungen Generation über die Geschichte ziemlich miserabel ist. Bei den 20-30-jährigen ist es einerseits eine Selbstverständlichkeit, in einer Wirtschaftsgroßmacht zu leben; andererseits aber empfinden sie die wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität nach dem Platzen der »Seifenblasenwirtschaft« als ziemlich frustrierend. Sie sind irritiert, dass Japan ihrer Meinung nach nicht richtig behandelt und von den »unterentwickelten« Asiaten herabgesetzt wird. Offensichtlich ist dabei die Gefahr, dass sie von der nationalistisch-chauvinistischen Propaganda leicht beeinflusst und für einen Krieg mobilisiert werden.

Drang nach Atomwaffen?

Japan baut unbeachtet der Verfassung seine Rüstung aus. Nach Angaben des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI liegt das Land, das nach dem Zweiten Weltkrieg als »Friedensstaat« seinen Neuanfang geschworen hatte, nun auf Rang 2 bezüglich der Militärausgaben; hinter den USA und vor Großbritannien, Frankreich und China.

Auch in den USA gibt es Stimmen, die sich für eine atomare Bewaffnung Japans aussprechen. So schrieb der neokonservative Publizist Charles Krauthammer im Januar 2003, Japan könne nicht lang ein atomar aufgerüstetes Nordkorea tolerieren. Wenn China nicht auf Pjöngjang Druck macht, den Marsch zur Atommacht zu stoppen, sollten die USA jeden japanischen Versuch unterstützen, ein eigenes atomares Abschreckungsarsenal zu schaffen. Wenn ein atomares Nordkorea für die USA ein Alpdruck wäre, sei ein atomares Japan für China ein Alpdruck. Es sei Zeit, die Alpdrücke zu teilen.57

Der Präsident der japanischen Wehrhochschule (Japan“s National Defense Academy), Masashi Nishihara, entwickelte ähnliche Gedanken.58 Würden die USA mit Nordkorea einen Nichtangriffsvertrag abschließen, so würde das dem US-japanischen Sicherheitsvertrag widersprechen, was eventuell eine atomare Aufrüstung Japans rechtfertigen könnte. Selbst wenn Pjöngjang auf Atomwaffen verzichte, bliebe dennoch die Gefahr eines Bio- und Chemiewaffenangriffs auf Japan weiter bestehen. Die USA wären auf Grund des Nichtangriffsvertrag mit Nordkorea nicht mehr in der Lage, Japan zu verteidigen, d.h. Japan könnte sich nicht mehr auf den Militärpakt mit den USA verlassen. Zur Abschreckung Nordkoreas müsste sich Japan also eventuell zur atomaren Aufrüstung entschließen.

Am 5. August 2003 billigte das Kabinett das »Verteidigungsweißbuch 2003«, das vom Staatsminister des Verteidigungsamtes, Shigeru Ishiba, vorgelegt worden war. In Bezug auf die künftige Wehrfähigkeit Japans betont das Weißbuch die Notwendigkeit, dass die Fähigkeiten, auf Terrorismus und Raketenangriffe antworten zu können, verbessert werden müssten. Das Weißbuch legt dar, dass Japan der Militärstrategie der einzigen Supermacht, der USA, weiter folgen solle und schlägt vor, sich an der amerikanischen Raketenabwehr zu beteiligen, aktiv Soldaten ins Ausland zu entsenden und ein ständiges Gesetz zu schaffen, das die Entsendung von SDF-Truppen ins Ausland erlaubt.

Im April 1967 hatte der Premier Eisaku Satô drei Prinzipien zum Waffenexport erklärt:

  • Japan exportiert keine Waffen an kommunistische Länder
  • Japan exportiert keine Waffen in Länder, in die Waffenlieferungen aufgrund der UN-Resolution verboten sind
  • Japan exportiert keine Waffen an (eventuelle) Parteien internationaler Konflikte.

Im Februar 1976 hatte Ministerpräsident Takeo Miki angeregt, den Waffenexport weiter zu drosseln. Am 10. Dezember 2004 hat die japanische Regierung beschlossen, diese Prinzipien zu lockern.

Um das Totalmobilisierungssystem durchzusetzen, steht ein neues Erziehungsrahmengesetz auf der Tagesordnung in der Hoffnung, dass junge Männer dann willig ihr Leben für den Staat opfern würden. Bei manchen Schulen wird im Zeugnis vermerkt, ob der/die SchülerIn patriotisch genug ist. Das Nachkriegscredo »Nie wieder Krieg!« hat in Japan offenbar keine Relevanz mehr.

Entwicklungshilfe im nationalen Interesse

Die staatliche Entwicklungshilfe Japans hat seit 1954 ihre eigene Geschichte: Sie war ursprünglich ein Ersatz für Kriegsreparationen.59

Der japanische Beitrag für Entwicklungshilfe belief sich 2001 auf 9,847 Mrd. US-Dollar. Das entsprach 19% der gesamten Beitragssumme aller Industriestaaten und 0,23% des japanischen Bruttosozialprodukts.60

Im selben Jahr stellte Japan für bilaterale Hilfe insgesamt 7,452 Mrd. Dollar bereit. Der größte Empfänger war Indonesien (860 Mio. Dollar), gefolgt von der Volksrepublik China (686 Mio. Dollar) und Indien (529 Mio. Dollar).61

Die japanische Entwicklungshilfe weist allerdings mehrere strukturelle Probleme auf. Erstens dient sie weniger zur Bekämpfung der Armut als der eigenen Exportoffensive.62 Sie wurde zweitens als Instrument benutzt, um die proamerikanisch-projapanischen Militärdiktaturen in Südkorea, den Philippinen, Indonesien und Birma zu unterstützen. Drittens werden manche Entwicklungshilfe-Projekte forciert, um japanischen und indonesischen Politikern und Bürokraten Bau- und Beratungsaufträge zugute kommen zu lassen, während die Existenzgrundlage der Einwohner dadurch gefährdet oder sogar vernichtet wird. Ein typisches Beispiel ist der Koto-Panjang-Damm in Indonesien, der 1996 auf der Insel Sumatra gebaut wurde.63

Um der Kritik entgegenzutreten, die japanische Entwicklungshilfe sei ideenarm und auf den eigenen Vorteil orientiert, erließ Tôkyô im Juni 1992 die »Richtlinien für öffentliche Entwicklungshilfe« (Official Development Assistance Charter). Sie verkündeten immerhin in ihrer Einleitung, dass die internationale Gemeinschaft nicht übersehen darf, dass in den Entwicklungsländern, die den größten Teil der Welt bilden, noch viele Menschen Hunger und Armut leiden.

Dieser humanitäre Gesichtspunkt ist inzwischen in den Hintergrund getreten. Im August 2003 beschloss das japanische Kabinett neue Richtlinien für die staatliche Entwicklungshilfe.64 Sie betonen unverkennbar den Nutzen der Entwicklungshilfe als ein dem »nationalen Interesse« dienendes Instrument. Erstes Ziel der Entwicklungshilfe ist es demnach, „zum Frieden und der Entwicklung der internationalen Gemeinschaft beizutragen und dadurch dem Erhalt der Sicherheit und des Wohlstandes unseres Landes zu dienen.“

Dieser Kurswechsel entspricht dem Wunsch der USA. Der amerikanische Botschafter, Howard H. Baker Jr., hatte schon zuvor appelliert, dass die USA und Japan bei der Entwicklungshilfe zusammenarbeiten sollten, um den Nährboden des Terrorismus auszutrocknen.65 Die beiden Länder seien verpflichtet, die Länder, die noch keine »gute Regierung« (good government) hätten, durch Entwicklungshilfe darauf hin zu orientieren.

Nun hat Japan offensichtlich die Absicht, Entwicklungshilfe als strategisch-machtpolitisches Mittel zu nutzen, um im Namen der »nationalen Interessen« dem globalen Kapital zu dienen. Das Stichwort ist »Friedensbildung« (Peace Building). Gemäß den neuen Richtlinien kann Entwicklungshilfe für aktive Interventionen in Konflikte eingesetzt werden. Das reicht von Maßnahmen zur Beendigung eines Konflikts über die Hilfe zur Friedensstabilisierung bis zum Wiederaufbau des Landes nach Beendigung eines Konflikts.

Die japanischen Steuergelder können folglich in der Konfliktregion dazu genutzt werden, durch Ausbau von Militär, Polizei und Spezialeinheiten sowie durch Einkauf von Waffen und Munitionen direkt die »Bekämpfung des Terrorismus« zu unterstützen. Als Beispiel werden Afghanistan, Aceh (Indonesien) und Mindanao (Philippinen) genannt.

Mit den neuen Richtlinien zielt die japanische Regierung darauf ab, auch in Zentralasien und im Kaukasus zu intervenieren. Die Öl- und Gasfelder in diesen Regionen sind sehr attraktiv. Immer mehr japanische Unternehmen beteiligen sich dort an der Erschließung der Energiequellen und am Bau der neuen Öl- und Gaspipelines. Das ist das »nationale Interesse«, das die neuen Richtlinien betonen.

Ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat?

Im September 2004 erklärte der japanische Ministerpräsident Koizumi vor der UN-Vollversammlung, dass sich Japan einen Ständigen Sitz im Sicherheitsrat wünscht. Am selben Nachmittag hatte er mit dem deutschen Außenminister Joschka Fischer, Brasiliens Präsident Luiz Inacio Lula da Silva und dem indischen Premier Manmohan Singhdem einen demonstrativen Händedruck vollzogen.

Japan scheint im wesentlichen vier Ziele zu verfolgen.

  • Die Streichung der Formulierungen von »Feindstaaten« aus der UN-Charta (Artikel 53 und 107). Es ist verständlich, dass Japan wie Deutschland es schon längst als ungerecht empfinden, als ehemalige Feindstaaten behandelt zu werden.
  • Finanzfairness. Japan ist der zweitgrößter Beitragzahler der UN. 2004 betrugt der UN-Haushalt etwa 1,5 Mrd. US-Dollar. Japan (19,5%) trägt wie Deutschland (8,7%) mehr zum Funktionieren der Weltorganisation bei als vier der fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats. Das uralte Verfassungsprinzip »Keine Steuer ohne Stimmrecht« muss aus Sicht Japans endlich auch für die Weltorganisation gelten.
  • Bruch des Informationsmonopols. Die Ständigen Mitglieder monopolisieren verschiedentlich Informationen. Japan fühlt sich hierdurch benachteiligt bei multinationalen Verhandlungen.
  • Mit dem Vetorecht eines Ständigen Mitgliedes will Japan seine Souveränität deutlicher zeigen.

Es fehlt aber eine Vision, was Japan als Ständiges Mitglied für die Weltgemeinschaft beitragen will. Hier ist es geboten, dies anhand der drei wichtigen Funktionen der UN zu überdenken. Erstens: Zusammenarbeit und Aktionen für den Erhalt von Frieden und Sicherheit; zweitens: einen Beitrag leisten zur Besserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage; und drittens: Verbreitung universeller Normen und Werte.

Selbstverständlich ist, dass Japan bei den beiden letztgenannten Aspekten Spielraum für einen eigenständigen Beitrag hat. Trotz der andauernden ökonomischen Flaute ist Japan immer noch eine Wirtschaftsgroßmacht. Seine Technologie ist Weltspitze. Japan kann seine Ressourcen vorzüglich zur Armutsbekämpfung, für Umweltschutz oder Gesundheitsfürsorge einsetzen. Trotz aller Vorbehalte ist Japan berechtigt, der nicht-okzidentalen Welt seine Errungenschaften bei universellen Normen wie Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte und Demokratie zu zeigen.

Es wäre auch nicht bedeutungslos, sollte die einzige »Atombombenopfernation« in der UN eine Führungsrolle übernehmen. Die Ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat besitzen heute ausnahmslos Atomwaffen. Will die UN die weitere Ausbreitung der Atomwaffen mit größerer Legitimität verhindern, sollten Nicht-Atomwaffen-Mächte unter den neuen ständigen Sicherheitsratsmitgliedern vertreten sein. Als diejenige Organisation, die für den Weltfrieden große Verantwortung trägt, ist der Sicherheitsrat heute unausgewogen. Japan ist nicht nur Nicht-Atommacht, sondern auch das einzige Land, auf das Atombomben abgeworfen wurden. Die japanische Anti-Atombewegung, die nach dem amerikanischen Wasserstoffbombenversuch im Bikini-Atoll 1954 aktiv wurde, hat weltweite Bedeutung.66 Seit 1945 hat Japan (zumindest offiziell) keine kriegerische Auseinandersetzung geführt. Es ist weiterhin bemerkenswert, dass das Land seine Position als Wirtschaftsmacht ausschließlich durch die Zivilindustrie erreicht hat. Japan hat sich Jahrzehnte lang untersagt, vom Waffenexport zu profitieren.

Es scheint aber trotz dieser Tatsachen unwahrscheinlich, dass die japanische Regierung dieses politisches Kapital nutzen will. Statt dessen hat Japan durch den Militärpakt mit den USA den Charakter eines »Friedensstaates«, den es nach der bedingungslosen Kapitulation 1945 der Weltöffentlichkeit geschworen hatte, systematisch unterminiert.

Japans Position in Nordostasien

Japans Außenpolitik nach 1945 zeichnet sich durch drei Charakteristika aus. Erstens: Japan hat immer noch keine Versöhnung mit seinen Nachbarstaaten und ehemaligen Kriegsgegnern erreicht. Zweitens: Die japanische Diplomatie orientiert sich ausschließlich auf Washington und hat wenig Interesse an regionaler Integration. Drittes: Japan ist dem »Imperium« gegenüber ein treuer Vasall. Deshalb kling es nicht sehr überzeugend, wenn Tôkyô von der Partnerschaft mit Asien spricht.

Beim Gipfeltreffen Japan-ASEAN (Association of South East Asian Nations) im Dezember 2003 in Tôkyô erklärte der japanische Premier seine Bereitschaft, einen Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit in Südostasien zu unterschreiben.67 China und Indien sind diesem schon beigetreten. Der Vertrag schreibt die friedliche Lösung von Konflikten und den Verzicht auf die Anwendung von militärischer Gewalt fest.

Um Vertrauen auf einer gleichberechtigten Grundlage aufzubauen, muss Japan verschiedene Probleme angehen.

  • Japan muss seine Vergangenheit aufarbeiten. Um Versöhnung mit den anderen asiatischen Völkern zu erreichen, muss es die Fehler der Expansionspolitik aufrichtig einräumen und die Kriegsschuld anerkennen.
  • Trotz aller Sophistereien Koizumis widerspricht die Truppenentsendung in den Irak ganz offensichtlich dem Grundsatz der friedlichen Lösung von Konflikten. Die Militarisierungsphänomene in Japan stiften Unsicherheit bei seinen Nachbarstaaten.
  • Japan sollte bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit anderen Ländern auf Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit Rücksicht nehmen. Es darf auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass seine Absicht doch nur darin besteht, seine hegemoniale Wirtschaftssphäre auszubauen.

Die Transformation der US-Streitkräfte und Japan

Im Oktober 2000 legte das Institute for National Strategic Studies bei der US-amerikanischen National Defense University den Bericht vor: »Die USA und Japan: Auf dem Weg zu einer reifen Partnerschaft« (The United States and Japan: Advancing Toward a Mature Partnership). Hier wird die anglo-amerikanische »special relationship« als Modell für die japanisch-amerikanische Allianz genannt. Richard L. Armitage, Vize-Außenminister der ersten Bush-Administration, war Hauptautor dieses Berichts.

Im August 2004 kündigte US-Präsident George W. Bush einen weitreichenden und weltweiten Umbau der US-Streitkräfte an. 60.000 bis 70.000 Soldaten, die heute noch in Europa oder in Südkorea stationiert sind, sollen in den kommenden Jahren in die USA verlegt werden. Mit ihnen werden rund 100.000 Familienangehörige und Zivilangestellte in die USA zurückkehren.

Das bedeutet aber nicht, dass auch Japan, vor allem Okinawa, durch die Transformation der US-Streitkräfte von US-Militärstützpunkten entlastet wird, ganz im Gegenteil. Dies ergibt sich aus den »Neuen Richtlinien zur nationalen Verteidigung« und dem »Mittelfristigen Verteidigungsprogramm“«, welche das japanische Kabinett im Dezember 2004 bestätigte. Sie setzen die Politik einer „multifunktionalen, flexiblen und effektiven Verteidigung“ fort, um auf neue Bedrohungen wie Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und ballistische Raketen reagieren zu können.

Als Ziel der Sicherheit Japans definieren die Neuen Richtlinien „die Bekämpfung direkter Bedrohungen für Japan und die Verbesserung des internationalen Sicherheitsumfelds.“ Sie heben hervor, dass „Japan dieses Ziel, basierend auf der grundlegenden Aussage des japanisch-amerikanischen Sicherheitsbündnisses, u.a. durch die weitere Vertiefung der engen Zusammenarbeit mit den USA und die Schaffung eines effizienten Verteidigungspotentials, erreichen wird.“

Das bedeutet praktisch, dass Japan die Strategie der USA vorbehaltlos übernimmt und mitträgt. Zur „Verbesserung des internationalen Sicherheitsumfelds“ sollen SDF-Truppen weltweit vorrücken können, wenn die USA dies verlangen. Die US-Streitkräfte und die SDF-Truppen werden sich de facto vereinen und ihre Militärbasen eventuell gemeinsam nutzen.

Das gewaltige Erdbeben vor der Küste der indonesischen Insel Sumatra und die anschließende Tsunami-Katastrophe nutzte Japan, um die bislang größte Truppenentsendung von fast 1.400 Mann zu realisieren. Damit sind zum ersten Mal Land-, Luft- und Seestreitkräfte gemeinsam im Ausland im Einsatz. Sie sind aber keine reine Rettungsmission. Ihr Kommando befindet sich in Utapao (Thailand), wo auch die USA ihr Kommando haben.

Japan hegte schon lange den Wunsch, Truppen nach Indonesien zu schicken, das als Teil des »Bogens der Instabilität« betrachtet wird. Indonesien ist das Land, das bislang die größte Entwicklungshilfe von Japan erhalten hat. Ein Drittel des Erdgases, das Japan importiert, kommt von dort. Die Tanker mit dem Erdöl, das Japan aus dem Nahen Osten einführt, fahren durch die Malakkastraße.

Durch diese Region führt für Japan somit ein wichtiger Seeweg. Der Arbeitgeberverband Keidanren hat im Januar 2005 diese »Sea Lane« als die Lebensader unseres Landes bezeichnet und im gleichen Atemzug vorgeschlagen, den Verfassungsartikel 9 zu ändern, um SDF-Truppen ins Ausland schicken zu können. Die gegenwärtige SDF-Entsendung nach Indonesien kann also durchaus als Vorstufe von häufigeren Überseeaktivitäten betrachtet werden.

Vorwärts in die Vergangenheit? – Verfassungsvorschläge der LDP

Wie zu Beginn erwähnt, zeigt die Mehrheit der japanischen Bevölkerung Verständnis für eine Verfassungsänderung. Als Grund nennen die meisten (26%), dass sie in der heutigen Verfassung neue Rechte wie Umweltschutz und Privatsphäre vermissen. 14% wünschen sich eine »eigenständige Verfassung«.

Was den Verfassungsartikel 9 anbelangt, wollen 67% der Frauen ihn beibehalten, während 40% der Männer ihn ändern wollen. Zwischen den Generationen gibt es keinen wesentlichen Unterschied: etwa 60% wollen den Artikel 9 beibehalten und etwa 30% ändern.

Es ist kaum verwunderlich, dass die LDP versucht, die herrschende politische Stimmung auszunutzen, um ihr lang gehegtes politisches Ziel einer Verfassungsänderung endlich zu erreichen. Im November 2004 veröffentlichte der innerparteiliche Ausschuss die »Vorschläge zum Grundriss des Entwurfs einer Verfassungsänderung«. Der Vorsitzende des Ausschusses ist Gen Nakatani. Er war vom April 2001 bis September 2002 Staatsminister des Verteidigungsamtes.

Diese LDP-Vorschläge zielen darauf ab, SDF-Truppen zu jeder Zeit ins Ausland schicken zu können und eine Militärmacht Japan zu etablieren. Die Vorschläge messen dem Staat nicht nur ein individuelles, sondern auch ein kollektives Verteidigungsrecht zu, das die Regierung bisher immer als verfassungswidrig erklärt hat. Das japanische Militär soll sich aktiv an internationalen Militäreinsätzen beteiligen können. Um Widerstand gegen diese Politik der Militarisierung zu verhindern sollen die Bürgerrechte eingeschränkt werden. Gleichzeitig soll der Staat insgesamt autoritärer ausgerichtet werden. Dazu gehört:

  • dass wesentliche Entscheidungsbefugnisse vom Kabinett auf den Ministerpräsidenten übertragen werden,
  • dass das Oberhaus durch ein Ernennungssystem de facto machtlos wird,
  • dass der Kaiser wieder im patriachalischen Sinne souveräner Monarch wir,
  • dass sich Familie und Erziehung stärker an den traditionellen Werten – wie z.B. Vaterlandsliebe – orientieren.

Früher sprach die LDP von »Umweltrecht«, »Recht auf Privatsphäre« oder »Direktwahl des Ministerpräsidenten«, um möglichst breite Schichten der Bevölkerung für die Verfassungsdebatte zu gewinnen. In diesen Vorschlägen für eine Verfassungsänderung wird allerdings ihre wahre reaktionäre Grundposition sichtbar.

Als öffentlich wurde, dass Nakatani bei seiner »Verfassungsarbeit« von einem SDF-Offizier beraten wurde, hat die LDP ihre Vorschläge vorerst zurückgenommen. Die Partei ist aber weiterhin bereit, in der Verfassungsfrage mit der Demokratischen Partei einen Kompromiss einzugehen. In der größten Oppositionspartei gibt es, wie bereits erwähnt, ebenfalls genügend rechte Kräfte, die an einer grundlegenden Änderung der gültigen Verfassung interessiert sind.

Für die englische »Financial Times« ist der japanische Nationalismus schrill genug, um die Nachbarn des Landes zu beunruhigen. Für sie nehmen heute mehr und mehr japanische Politiker patriotische Themen auf, die früher Spezialgebiete der exzentrischen Rechten waren. Die pazifische Macht, die bereit sei, die Augen vor der ekelhaften Seite des japanischen Nationalismus zu verschließen, seien ironischerweise die USA, diejenige Nation, die Japan im Krieg besiegte und Japan eine pazifistische Verfassung diktiert habe. Japan und die USA kooperierten in der Annahme, dass die unmittelbare Gefahr aus Nordkorea und die langfristige Bedrohung aus China komme.68

Neue Tendenzen in der japanischen Friedensbewegung

Einen Tag nach Beginn des anglo-amerikanischen Angriffs gegen den Irak haben sich in Japan 50.000 Menschen an der Protestdemonstration gegen den Angriff beteiligt. Die Friedensbewegung in Japan war plötzlich wieder da. Am 15. Februar 2003, dem internationalen Aktionstag gegen den Irakkrieg, hatten in diesem Land nur 7.000 demonstriert.

Es war neu für Japan, dass vor allem junge Leute, oft Ehepaare mit Kindern, demonstrierten, die versuchten, den Aktionen einen optimistischen Charakter zu geben. Statt von Antikriegsdemonstration war von »Peace Parade« oder »Peace Walk« die Rede. Aber gegen diese »harmlosen« Friedensdemonstranten gibt es inzwischen zahlreiche Provokationen und Gewaltakte von Seiten der Polizei. Auch erleben wir immer mehr Willkürmaßnahmen gegen Friedensaktivisten.

Neben den Friedensdemonstrationen gibt es auch verschiedene langfristig angelegte Friedenskampagnen, wie z. B. die »Unverteidigte Orte«-Bewegung. »Unverteidigte Orte« ist ein Begriff aus Artikel 59 des Zusatzprotokolls vom 8. Juni 1977 zum Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Zusatzprotokoll I).69 Die Initiatoren wollen den Frieden von unten erzielen.

Die erste Unterschriftenaktion zur Petition für eine »Erklärung zu einer atomfreien und unverteidigten Stadt« fand in der Stadt Ôsaka statt. 53.657 Bürger unterschrieben die Petition an das Stadtparlament, doch dieses lehnte die Petition mit großer Mehrheit ab (13: 75).

Die »Unverteidigte Orte«-Bewegung gibt es in zahlreichen japanischen Städten, obwohl es sehr unwahrscheinlich ist, dass solch eine Petition von einem Parlament angenommen wird.

Ein weiteres Beispiel ist der »Verein für den Verfassungsartikel 9«, der im Sommer 2004 gegründet wurde.70

Im Gründungsaufruf des »Vereins für den Verfassungsartikel 9« vom Juni 2004 heißt es: „Aufgrund der Lehre des 20. Jahrhunderts und angesichts der heutigen Zeit, in der der Kurs des 21. Jahrhunderts festgelegt wird, ist es wiederum offensichtlich, wie wichtig der Verfassungsartikel 9 als Grundlage der Diplomatie ist. Es wird gefordert, aufgrund des Verfassungsartikels 9 Freundschaft und Zusammenarbeit mit den anderen Völkern vor allem in Asien zu vertiefen, eine Diplomatie, die nur im Militärbündnis mit den USA seine Priorität sieht, umzustellen und im Strom der Geschichte mit eigener Initiative realistisch zu handeln. Gerade der Verfassungsartikel 9 ermöglicht für dieses Land (Japan) friedliche Diplomatie, welche die Position anderer Länder respektiert und wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit möglich macht.“ Die neun Gründungsmitglieder appellierten damit an die Öffentlichkeit und an jeden Einzelnen, für eine friedliche Zukunft von Japan und der Welt, in diesem einen Punkt die japanische Verfassung zu verteidigen.

Innerhalb eines halben Jahres nach der Gründung des »Vereins für den Verfassungsartikel 9« wurden 1.000 entsprechender Gruppierungen gegründet. Es gibt z.B. einen »Verein der Bibliothekare für den Verfassungsartikel 9«, einen »Verein der Bankangestellten für den Verfassungsartikel 9«, einen Verein der Filmmacher, der Frauen usw. usf.

Schlussbetrachtungen

Japan versucht offensichtlich, im Zeitalter der Globalisierung der Hegemonialmacht USA gehorsam zu folgen. Einer Globalisierung, die »Freiheit und Demokratie« propagiert und bei der es um »freien Handel und freie Märkte« geht, die vor allem im Interesse eines Teils der multinationalen Unternehmen liegt und in der die Kluft zwischen Arm und Reich größer wird. Die USA sind bereit in diesem Globalisierungsprozess zur Sicherung ihrer Interessen militärische Gewalt anzuwenden – auch ohne Rücksicht auf das Völkerrecht, wie der Irakkrieg zeigt. Und Japan steht im Prozess der wirtschaftlichen und militärischen Globalisierung eindeutig an der Seite des »Imperiums«.

Das führt zu Beunruhigungen in den Nachbarländern. So schreibt die südkoreanische Tageszeitung Han“gyòre in ihrem Leitartikel vom 11. Dezember 2004, Japan verfolgt seine alte imperialistische Militärstrategie jetzt unter den neuen Rahmenbedingungen des US-japanischen Militärpaktes. Die Südkoreaner sind mit Sicherheit nicht die einzige Nation, die vor einer »entfesselten Militärmacht Japan« Angst haben.

Wird Japan aber tatsächlich zu einem Kriegsstaat? Einer der neun Initiatoren des »Vereins für den Verfassungsartikel 9«, Shûichi Katô, schrieb schon 1958 selbstironisch: „Die Japaner sind eine Nation, die immer wieder unermüdlich die Frage stellt: Was sind die Japaner?«71 Der Autor wies darauf hin, dass die Japaner diese Fragestellung wiederholen, weil sie selber nicht klar wissen, was sie als Nation wollen. „Während sie sich den Frieden wünschen, tolerieren sie, dass eine politische Partei, die trotz der Verfassung die Wiederbewaffnung vorantreibt und offene Aufrüstung durch eine Verfassungsänderung beabsichtigt, bei jeder allgemeinen Wahl die Mehrheit gewinnt“

Die zweideutige Einstellung der Bevölkerung ermöglicht es, dass das pazifistische Prinzip der Verfassung Schritt für Schritt ausgehöhlt wird. Die Gefahr ist real, dass Japan in nächster Zukunft seine Verfassung ändert und dann auch zu einer militärischen Großmacht wird.

Okinawa – Spielball von Militärstrategen?

Eine Ausstellung des Deutsch-Japanischen Friedensforums

Die Ausstellung zeigt mittels Fotos und Videos die Geschichte Okinawas vom friedlichen, waffenlosen Königreich Ryukyu zu einem der bedeutendsten Militärstützpunkte der USA in der Gegenwart.

Das Königreich Ryukyu verzichtete im 15. Jahrhundert bewusst auf militärische Macht und entwickelte sich zum Zentrum eines weitgespannten Handelsnetzes in Südostasien. 1609 wurde es gegenüber den Fürsten von Satsuma in Südjapan tributpflichtig und schließlich 1879 zur japanischen Präfektur Okinawa. Nach der Besetzung durch die US-Streitkräfte und der Kapitulation Japans 1945 bauten die Amerikaner Okinawa zu einem Luftwaffenstützpunkt aus. Durch den Sicherheitsvertrag zwischen den USA und Japan wurde Okinawa 1972 wieder eine japanische Präfektur; an seinem militärischen Status änderte sich jedoch nichts. Bis heute dient Okinawa als Ausgangsbasis für US-Kriegseinsätze, wie z.B. in Korea, Vietnam und am Golf und für Aufklärungsflüge über China.

Seit Kriegsende gibt es Proteste der einheimischen Bevölkerung gegen die Militärstützpunkte. Die Ausstellung zeigt die Gründe dafür auf und verdeutlicht die Gefahren für die Menschen, die vor allem Opfer von Verbrechen und Umweltbelastungen werden. Die Gegner der Militärstützpunkte befürchten, dass die Okinawaner durch die Unterstützung von militärischen Aktionen der USA in Ostasien von Komplizen zu Opfern werden könnten.

Es werden ökonomische und ökologische Projekte für die alternative Nutzung der Stützpunkte vorgestellt, die die Ausstellungsbesucher anregen sollen, am Beispiel Okinawas über unterschiedliche gesellschaftliche und kulturelle Konzepte des Zusammenlebens nachzudenken.

  • Technische Angaben: 47 Tafeln 95 x 95 cm mit Ausstellungssystem, wetterfestes Banner mit Hinweis auf die Ausstellung, Okinawa-Löwe aus Ton, Videofilme, Musik-CDs, Plakat, Katalog mit fast allen Tafeln.
  • Die Ausstellung kann unter www.djf-ev.de betrachtet und im Original ausgeliehen werden. Kontakt: Hans-Peter Richter, E-Mail: A-HPR@t-online.de

Anmerkungen

1) Playing with fire. Japan´s ruling party wants to inject patriotism into schools, in: The Economist, January 22, 2005, S. 62.

2) Vgl. Eiichi Kido, Der »Friedensstaat« Japan auf dem Weg zur Kriegsbereitschaft. Über die widerspruchsvolle Koexistenz der japanischen Verfassung und der Sicherheitsallianz mit den USA, in: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft, Vol. 10, 2003, S. 191.

3) Dabei verwendete Nishimura für »Staat« nicht den neutralen Begriff kokka, sondern o-kuni, was man übersetzen könnte als »geheiligter Staat« oder »ehrenwerter Staat«. Und man sollte nicht außer Acht lassen, dass eine Änderung des Erziehungsrahmengesetzes auch auf die Leugnung eines universellen Rechts auf Erziehung und statt dessen auf eine neoliberal-sozialdarwinistisch elitenorientierte Schulerziehung zielt. Shumon Miura, von April 1985 bis August 1986 Staatsminister des Kulturamtes, sagte ganz offen, dass es ausreiche, wenn man weniger Begabte zu einem einfachen und simplen Geist erziehe.

4) Zum Wortlaut der japanischen Verfassung siehe Wilhelm Röhl, Die japanische Verfassung, Frankfurt a.M./Berlin 1963.

5) Asahi Shimbun, 1. Mai 2004.

6) In dieser Studie bleiben allerdings aus Platzmangel die Verhältnisse in Okinawa, wo sich die Probleme der Militarisierung konzentriert darstellen, kaum erwähnt.

7) Eiichi Kido, Der »Friedensstaat« Japan auf dem Weg zur Kriegsbereitschaft, a.a.O.

8) Benjamin Fulford, The Iron Kleptocracy. The Sun Never Rises Again, Tôkyô 2004.

9) http://de.wikipedia.org/wiki/Kleptokratie

10) Vgl. Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M. 2003.

11) Vgl. Tetsurô Katô, Der Neoetatismus im heutigen Japan, in: Prokla, Heft 66, März 1987, S.101f.

12) Kokuminsei Nanakakoku Hikaku (Sieben-Länder-Vergleich im Nationalcharakter), Tôkyô 1998, S.204.

13) The Institute of Statistical Mathematics, A Study of the Japanese National Character. The Tenth Nationwide Survey, March 1999, p.143.

14) Ebenda, S.144.

15) Asahi Shimbun, 2. November 2003

16) Vgl. Eiichi Kido, Der »Friedensstaat« Japan auf dem Weg zur Kriegsbereitschaft, a.a.O., S. 198-200.

17) Sekai no Kuni Ichiranhyô ( Liste der Länder der Welt), Tôkyô 2003, S. 9.

18) Ebenda, S. 38.

19) Die EU insgesamt 8.164 Mrd. Dollar (25,9%). Vgl. Le Monde diplomatique (Hrsg.), Atlas der Globalisierung, Berlin 2003, S. 46f.

20) Beim Wirtschaftsgipfel im September 1985 im New Yorker Plaza-Hotel haben sich die G5-Staaten (USA, Großbritannien, BR Deutschland, Frankreich und Japan) auf eine Aufwertung der übrigen Weltwährungen gegenüber dem Dollar geeinigt.

21) Vgl. Hans Jürgen Mayer, Die japanisch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen: Von der pazifischen Partnerschaft zur Rivalität, in: Manfred Pohl/Hans Jürgen Mayer (Hrsg.): Länderbericht Japan, 2., aktualisierte und erweiterte Auflage, Bonn 1998, S. 347-355.

22) Vgl. Wolfram Wallraf, Japan und Südostasion, in: Pohl/Mayer (Hrsg.), a.a.O., S. 392.

23) Vgl. Atlas der Globalisierung, a.a.O., S. 150-153.

24) Das Manko des Kriegsverbrechertribunals liegt nicht nur darin, die Kriegsschuld Hirohitos nicht in Frage zu stellen, sondern auch darin, sich nicht mit der Problematik der Kolonialherrschaft, der Zwangsarbeit, der »Trostfrauen«, des Einsatzes von Bio- und Chemiewaffen sowie Menschenversuchen zu beschäftigen.

25) Allerdings lies es die japanische Regierung von Anfang an zu, dass die USA Kernwaffen auf japanischem Boden lagerten. Vgl. Eiichi Kido, Die japanischen Nobelpreisträger und die Friedensfrage, in: Krieg und Literatur. Internationales Jahrbuch zur Kriegs- und Antikriegsliteraturforschung, Vol. VII, 2001, S. 36-38.

26) Der Premier Yasuhiro Nakasone hat für das Finanzjahr 1987/1988 diese Selbstbindung aufgegeben. Vgl. Tomohisa Sakanaka, Das japanische Verteidigungsbudget – ein politischer Zankapfel, in: Heinz Eberhard Maul (Hrsg.), Militärmacht Japan? Sicherheitspolitik und Streitkräfte, München 1991, S. 197-225.

27) Vgl. Eiichi Kido, Der »Friedensstaat« Japan auf dem Weg zur Kriegsbereitschaft, a.a.O., S. 200.

28) Asahi Shimbun, 13. April 1999.

29) Vgl. Ian Buruma, Erbschaft der Schuld. Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan, München/Wien 1994, S. 45-64.

30) Ezra F. Vogel, Japan as Number One. Lessons for America, Cambridge/London 1979. Kritische Bemerkung dazu: z.B. Kerr, op.cit., S. 140 und S. 167.

31) Mira Choi/Regina Mühlhäuser, »Wir wissen, dass es die Wahrheit ist…« Gewalt gegen Frauen im Krieg – Zwangsprostitution koreanischer Frauen 1936-1945, Berlin 1996.

32) Report of the Special Rapporteur on violence against women, Ms. Radhika Coomaraswamy, on the mission to the Democratic People“s Republic of Korea, the Republic of Korea and Japan on the issue of military sexual slavery in wartime, E/CN.4/1996/53/Add.1, 4.1.1996.

33) Vgl. Eiichi Kido, Die japanischen Nobelpreisträger und die Friedensfrage, a.a.O., S. 31.

34) Dies liegt weniger an seiner Persönlichkeit als am strukturellen Manko des japanischen »Liberalismus«. Unter »Freiheit« versteht er ausschließlich die Wirtschaftsfreiheit. Wenn man sich in die innere Freiheit vertiefte, müsste man dem Kaisertum widersprechen, weil der Kaiser nach der schintoistischen Lehre ein Abkömmling der Götter ist.

35) Asahi Shimbun, 29. Mai 2001.

36) Das Volkstribunal fand im Dezember 2000 in Tôkyô statt. Etwa 5.000 Menschen nahmen daran teil, darunter 64 ehemalige »Trostfrauen« aus acht Ländern. Zeitungsberichte über dieses Tribunal gibt es in Deutschland wesentlich mehr als in Japan. Vgl. z.B. Angela Köhler, »Trostfrauen« prangern Japans Kriegsverbrechen an. Frühere Zwangsprostituierte fordern Entschädigung, in: Berliner Zeitung, 8. Dezember 2000, S. 9.

37) Eiichi Kido, Japan: Auf dem Weg zur Atommacht? Anti-Kernwaffen-Prinzipien in Frage gestellt, in: Neues Deutschland, 28. Juni 2002.

38) Die OECD hat im Bericht vom 14. April 1999 festgestellt, dass die japanische Deregulierung nicht genügt. Vgl. Regulatory Reform in Japan, Paris 1999.

39) Vgl. Tetsurô Katô, Der Neoetatismus im heutigen Japan, in: Prokla, Heft 66, März 1987, S. 96.

40) Asahi Shimbun vom 31. März und 1. April 2003.

41) Vgl. Eiichi Kido, Angst und Hass geschürt. In Japan wächst die Kriegsstimmung gegen Nordkorea, in: Junge Welt, 10. Juni 2003.

42) Auf der anderen Seite darf man aber nicht vergessen, dass die offiziellen Atommächte, vor allem die USA, trotz des seit 1970 geltenden Atomwaffensperrvertrages ihrer Pflicht, nuklear vollständig abzurüsten, nicht nachgekommen sind.

43) Asahi Shimbun, 26. September 2003.

44) Asahi Shimbun, 21. Dezember 2004.

45) Die Situation erinnert an die Bemerkung der französischen Philosophin, Simone Weil: „Die niederen Beweggründe sind eine größere Energiequelle als die höheren. Problem: wie kann man die den niederen Beweggründen zugefallene Energie auf die höheren überleiten?« Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, München 1952, S. 11.

46) Vgl. Emmanuel Todd, Weltmacht USA. Ein Nachruf, München/Zürich 2003. Trotz der hervorragenden Analyse überschätzt der Autor die eigenständige Rolle Japans.

47) 1,5 Mrd. Dollar als Schenkung für 2004 und 3,5 Mrd. Dollar in Form von Darlehen für 2005-2007.

48) Asahi Shimbun vom 16. und 17. Dezember 2002.

49) Asahi Shimbun vom 22., 23. und 31. März und 1. April 2003.

50) Asahi Shimbun vom 22. und 23. Juli, 26. August, 24. Oktober und 12. und 13. Dezember 2003. Trotzdem ist die Bevölkerung im Grunde mit der Politik von Koizumi zufrieden. (im Juli: 42% dafür, 36% dagegen). Auch bei der Parlamentswahl vom 9. November 2004 wurde seine Amtsführung bestätigt.

51) Asahi Shimbun vom 24. Oktober 2003.

52) Vgl. Eiichi Kido, Treuer Handlanger des Imperiums. Japan: Als Alliierter der USA soll das Land in Asien eine Rolle wie Großbritannien in Europa spielen, in: Freitag, 7. Mai 2004, S. 2.

53) Asahi Shimbun, 30. November und 21. Dezember 2004.

54) Natürlich verspricht die Regierung den eventuellen Hinterbliebenen auch materielle Kompensation. Anfang November 2003 erhöhte die Regierung die Entschädigung für im Dienst getötete oder schwer behinderte Staatsbeamte (Offiziere, Soldaten, Diplomaten usw.) von 60 Mio. Yen auf 90 Mio. Yen (etwa 700.000 Euro).

55) Da spielen auch geschichtsrevisionistische Comics von Yoshinori Kobayashi eine große Rolle. Vgl. Eiichi Kido, Die japanischen Nobelpreisträger und die Friedensfrage, a.a.O., Anmerkung 1, und Ken Kurumisawa, Genocide Manga. Concerning the present relationship between »war and manga (comic book)«, in: Krieg und Literatur. Internationales Jahrbuch zur Kriegs- und Antikriegsliteraturforschung, Vol. VII, 2001, S. 45-64.

56) Asahi Shimbun Weekly AERA, 30. August 2004, S. 12-15.

57) Charles Krauthammer, The Japan Card, in: The Washington Post, 3. Januar 2003.

58) Masashi Nishihara, North Korea´s Trojan Horse, in: The Washington Post, 14. August 2003.

59) Offiziell hat Japan Kriegsreparationen nur an Birma, die Philippinen, Indonesien und Südvietnam bezahlt.

60) Es sei aber daran zu erinnern, dass die Vereinten Nationen vom September bis Dezember 1970 das Ziel formuliert haben, dass die Industrieländer 0,7% ihres Bruttosozialprodukts für öffentliche Entwicklungshilfe aufwenden sollten.

61) Sekai no Kuni Ichiranhyô, a.a.O., S. 38.

62) Vgl. Franz Nuscheler, Japans Entwicklungspolitik. Quantitative Superlative und qualitative Defizite, Hamburg 1990.

63) Im September 2002 brachten 3.861 Opfer in Tôkyô eine Klage zur Naturwiederherstellung (Abbau des 58m hohen und 258m langen Damms) und für Schadenersatz gegen die japanische Regierung und Unternehmen ein. Im März 2003 wurde von 4.535 Einwohnern und einer indonesischen Umweltschutzorganisation ein weiterer Prozess angestrengt.

64) Inoffizielle englische Übersetzung: http://www.mofa.go.jp/policy/oda/reform/revision0308.pdf.

65) Howard H. Baker, Jr., ODA is a vital diplomatic tool to fight terror, in: Asahi Shimbun, 7. Januar 2003; http://usembassy.state.gov/tokyo/wwwhamb20030108a1.html.

66) Vgl. Eiichi Kido, Die japanischen Nobelpreisträger und die Friedensfrage, a.a.O., S. 32f.

67) Den Vertrag unterschrieben 1976 zuerst Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur und Thailand. Dann schlossen sich Brunei (1984), Vietnam (1995), Burma und Laos (1997) und Kambodscha (1999) an.

68) Victor Mallet, There are dangers in Japan´s search for normality, in: Financial Times, 15. Februar 2005.

69) „Art. 59 Unverteidigte Orte 1. Unverteidigte Orte dürfen – gleichviel mit welchen Mitteln – von den am Konflikt beteiligten Parteien nicht angegriffen werden. 2. Die zuständigen Behörden einer am Konflikt beteiligten Partei können jeden der gegnerischen Partei zur Besetzung offen stehenden bewohnten Ort in der Nähe oder innerhalb einer Zone, in der Streitkräfte miteinander in Berührung gekommen sind, zum unverteidigten Ort erklären. Ein solcher Ort muss folgende Voraussetzungen erfüllen: a) Alle Kombattanten sowie die beweglichen Waffen und die bewegliche militärische Ausrüstung müssen verlegt worden sein, b) ortsfeste militärische Anlagen oder Einrichtungen dürfen nicht zu feindseligen Handlungen benutzt werden, c) Behörden und Bevölkerung dürfen keine feindseligen Handlungen begehen und d) es darf nichts zur Unterstützung von Kriegshandlungen unternommen werden…“

70) Gründungsmitglieder des Vereins waren neun Intellektuelle und Prominente: Mutsuko Miki (Jg.1917, Witwe des Ex-Premier Takeo Miki), Shûichi Katô (Jg.1919, Philosoph), Shunsuke Tsurumi (Jg.1922, Philosoph), Takeshi Umehara (Jg.1925, Philosoph), Yasuhiro Okudaira (Jg.1929, Verfassungsrechtler), Hisae Sawachi (Jg.1930, Schriftstellerin), Makoto Oda (Jg.1932, Schriftsteller), Hisashi Inoue (Jg.1934, Dramatiker) und Kenzaburô Ôe (Jg.1935, Schriftsteller/Nobelpreisträger).

71) Wieder aufgenommen in: Shûichi Katô, Nihonjin towa Nanika (Was sind die Japaner?), Tôkyô 1976.

Eiichi Kido ist seit 1994 Assistenzprofessor an der Osaka School of International Public Policy (OSSIP), Universität Osaka. Von 2000 bis 2001 war er DAAD-Lektor am Institut für Politikwissenschaften der Universität Leipzig