Folgen der Atomkatastrophe für Mensch und Natur


Folgen der Atomkatastrophe für Mensch und Natur

Symposium »10 Jahre Leben mit Fukushima«, IPPNW, Berlin, 27. Februar 2021

von Dr. med. Alex Rosen

Am 11. März 2021 jährte sich die Atomkatastrophe von Fukushima zum 10. Mal. Anlässlich des Jahrestages stellte die Organisation »Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges« (IPPNW) auf ihrem Symposium »10 Jahre Leben mit Fukushima« die wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Folgen dieser Katastrophe für Mensch und Natur vor. Der Fokus lag insbesondere auf den physischen gesundheitlichen Auswirkungen, wie steigenden Krebsraten und genetischen Effekten, aber auch psychosoziale Aspekte wurden eingehend beleuchtet. Fachvorträge über Flora und Fauna der Region rundeten das Bild ab. Die Mediziner*innen der IPPNW sandten mit Ihrer Fachtagung ein klares Signal an die japanische Regierung: Unabhängige, wissenschaftliche Forschung darf nicht länger unterbunden werden, sondern muss im Sinne der Gesundheit der Bevölkerung und der Umwelt in der Region effektiv gefördert werden.

Die Auswirkungen der Atomkatastrophe auf die menschliche Gesundheit werden in Japan, aber auch weltweit, heruntergespielt. Institutionen wie die »Internationale Atomenergie Organisation« (IAEO) oder der vielzitierte »Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung« (UNSCEAR) behaupten regelmäßig, es gäbe keine nachweisbaren gesundheitlichen Folgen des Super-GAUs von 2011 – eine grobe Falschauslegung der Studien, wie das Symposium unter Beweis stellte. Als Hintergrund ist zu vermuten: Beide Organisationen werden von den Regierungen Atomenergie produzierender Staaten personell besetzt – hauptsächlich mit ehemaligen Beschäftigten nationaler Atomunternehmen oder Mitgliedern industrienaher Aufsichtsbehörden.

Insbesondere Schilddrüsenkrebsstudien werden von diesen Institutionen bewusst verzerrt dargestellt, wie ich in meinem Fachvortrag »Krebserkrankungen in Fukushima am Beispiel von Schilddrüsenkrebs« verdeutlichen konnte. Die atomfreundliche Regierung Japans spielt die Folgen der Katastrophe für Mensch und Umwelt herunter. Das zeigt auch die von mir analysierte Studie der Fukushima Medical University (FMU) zur Entstehung von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen in Fukushima.

Eine der meistgefürchteten Spätfolgen von radioaktiver Exposition ist die Entstehung von Krebserkrankungen durch Mutation der DNA. Schilddrüsenkrebs bei Kindern ist zwar nicht die gefährlichste, wohl aber die am einfachsten nachzuweisende Form der strahlenbedingten Krebserkrankung. Zum einen sind die Latenzzeiten bis zur Entstehung eines Krebsgeschwürs mit wenigen Jahren vergleichsweise kurz. Zum anderen ist Schilddrüsenkrebs bei Kindern eine extrem seltene Krankheit, so dass auch ein geringfügiger Anstieg statistisch signifikant nachzuweisen ist. Entsprechend groß war 2011 der Druck auf die japanischen Behörden, Schilddrüsenkrebszahlen in Fukushima zu untersuchen.

Seit knapp zehn Jahren untersucht die FMU nun in regelmäßigen Abständen die Schilddrüsen von Menschen, die zum Zeitpunkt des Super-GAUs in der Präfektur Fukushima lebten und unter 18 Jahre alt waren. Seit 2011 wurden drei Untersuchungsreihen durchgeführt, die vierte läuft seit 2018.

In der Erstuntersuchung in Fukushima fanden die Forscher*innen 101 bestätigte Krebsfälle, die so aggressiv waren, dass sie operiert werden mussten. Diese unerwartet hohe Zahl ist von der FMU damals mit einem Screening-Effekt erklärt worden: Bei groß angelegten Reihenuntersuchungen würden mehr Krankheitsfälle identifiziert werden, als in derselben Bevölkerung und im selben Zeitraum durch symptomatisch werdende Erkrankungen zu erwarten seien. Das genaue Ausmaß des Screening-Effekts ist unbekannt. In den Folgestudien lässt sich jedoch ausschließen, dass es sich bei den erhöhten Krebsraten um Folgen eines Screening-Effekts handelt, da alle Kinder im Vorfeld untersucht und für krebsfrei befunden wurden. Sie müssen die Krebserkrankung also zwischen den Screening-Untersuchungen entwickelt haben. Die Behauptung, die stark erhöhte Anzahl von Krebsfällen liege daran, dass man mehr Untersuchungen durchgeführt habe, ist damit hinfällig.

Da zudem Teilnehmer*innen der Studie ab dem 25. Geburtstag in eine neu geschaffene Untersuchungskohorte der Über-25-Jährigen übertragen werden und von diesen gerade einmal 8 % an der Studie teilnehmen, dürfte die Dunkelziffer von Schilddrüsenkrebs in der ursprünglichen Untersuchungskohorte deutlich höher liegen. Darüber hinaus wurden elf Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern diagnostiziert, die ebenfalls Teil der Untersuchungskohorte waren. Allerdings fielen ihre Erkrankungen nicht im Rahmen der regulären Screening-Untersuchungen auf, sondern bei Nachuntersuchungen. Diese elf Fälle sind nicht zu den offiziellen Ergebnissen hinzugerechnet worden, obwohl sie identische Tumore zeigten wie die anderen Kinder. Diese offensichtliche Datenmanipulation wurde im Juni 2017 bekannt. Wie viele weitere Fälle seitdem hinzugekommen sind, ist unbekannt.

Fakt ist: allein die Zahl an offiziell bekannten Schilddrüsenkrebsfällen in Fukushima liegt aktuell bei 213 (198 offizielle Fälle aus den Reihenuntersuchungen, 4 Fälle aus der Ü25-Kohorte und 11 Fälle aus Nachuntersuchungen). Interessant wird es aber erst bei einem Vergleich dieser Zahlen mit der japanweiten Neuerkrankungsrate. Die offizielle Neuerkrankungsrate an Schilddrüsenkrebs bei Kindern unter 25 Jahren in Japan beträgt pro Jahr rund 0,59 auf 100.000. Das bedeutet, dass in der letzten Kohorte von rund 218.000 Kindern circa 1,3 neue Schilddrüsenkrebsfälle pro Jahr zu erwarten wären. Zehn Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe wären es demnach insgesamt knapp 13 Schilddrüsenkrebsfälle. Die tatsächliche Zahl liegt aber mit 213 fast 16fach so hoch.

Erfahrungen aus der Atomkatastrophe von Tschernobyl zeigen zudem: Neben Schilddrüsenkrebs muss auch mit einem Anstieg weiterer Krebsarten und anderer Erkrankungen gerechnet werden, die durch ionisierende Strahlung ausgelöst oder negativ beeinflusst werden. Die Ergebnisse der Studien aus Fukushima zeigen dabei ein deutliches Bild: Relativ gesehen treten die meisten Schilddrüsenkrebsfälle in den am schwersten verstrahlten Gebieten auf und zeigen so den Zusammenhang zwischen ionisierender Strahlung durch den Super-GAU und der Entwicklung von Tumorerkrankungen überdeutlich auf. Besonders betroffen sind in Fukushima Kinder, die sich im Jahr der Kernschmelzen noch im Mutterleib befanden.

Die Auswirkungen einer Atomkatastrophe auf die menschliche Gesundheit kurz vor der Geburt ist ein wenig bearbeitetes Thema. Auf dem Symposium thematisierte Dr. rer. nat. Dipl.-Math. Hagen Scherb die perinatalen Folgen ionisierender Strahlung.

Die Zeit der Perinatalität von der 22. Schwangerschaftswoche bis zum siebten Tag nach der Geburt ist nach der Embryonalzeit die vulnerabelste Phase eines menschlichen Lebens. Das ungeborene Kind sei dabei der Radioaktivität, die über die Nabelschnur in seinen Körper gelangt, viel ungeschützter ausgeliefert als ältere Kinder oder gar Erwachsene. Ähnlich wie in der Region um Tschernobyl, seien auch in Fukushima infolge der Atomkatastrophe Effekte in Bezug auf Statistiken über perinatale Krankheitsbilder und Sterblichkeitsraten beobachtet worden. Dabei seien ein mangelndes Geburtsgewicht oder die Frühgeburtlichkeit sowie eine erhöhte Zahl an Totgeburten und ein Ungleichgewicht zwischen den geborenen Geschlechtern besonders auffällig, so Scherb.

Neben den Auswirkungen auf die physische Gesundheit ging es auf dem Symposium auch um die weitreichenden psychosozialen Folgen der Atomkatastrophe. So sei die Rate an Depressionen, Suizidalität und Posttraumatischen Belastungsstörungen in den verstrahlten Gebieten weiterhin erhöht, berichtete Dr. med. Angelika Claußen, Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und IPPNW-Europavorsitzende. Mehrere japanische Studien belegten: Es gibt eine direkte Korrelation zwischen dem Ausmaß der radioaktiven Belastung am jeweiligen Wohnort in der Präfektur Fukushima und dem psychosozialen Stress, dem die Bevölkerung ausgesetzt war.

Laut Claußen fehle allen Studien jedoch die notwendige Einbettung in eine ganzheitliche Perspektive: Körperliche und psychische Befunde gehörten zusammen betrachtet, Diagnostik und Behandlung müssten Teil ein- und desselben Versorgungsprozesses sein. Fallvignetten, die die schwierige Situation der evakuierten Bevölkerung und der betroffenen Aufräumarbeiter*innen illustrierten, wären sowohl für das medizinische und psychologische Personal als auch für die internationale Fachöffentlichkeit wichtig. Klinische Studien hätten über die psychosozialen Bewältigungsmechanismen einer durch kollektive Strahlenexposition geprägten Gesellschaft Aufschluss geben können. Dies wurde jedoch versäumt, so Dr. Claußen.

Auf der Fachtagung vorgestellte biologische Studien zeigten außerdem, dass die erhöhte Radioaktivität bei Bäumen, Insekten und Vögeln bereits zu Mutationen und verminderten Populationen geführt hat. Auch in wilden Affen und Rindern fanden Forscher*innen erhöhte Strahlenwerte und zahlreiche schwere Krankheiten. Untersuchungen des Meeresbodens wiesen eine anhaltende Verstrahlung von bodennahen Meeresbewohnern nach, während Flüsse kontinuierlich Radioaktivität aus höher gelegenen Regionen in Seen, Buchten und ins Meer beförderten und sich so vor allem an Stränden und entlang der Flussmündungen erhöhte Strahlenwerte nachweisen ließen.

Insgesamt machte das Symposium vor allem eines deutlich: Die Atomkatastrophe von Fukushima ist noch lange nicht verjährt. Die havarierten Reaktoren sind noch immer nicht unter Kontrolle, täglich tritt weiter Radioaktivität aus. Millionen Tonnen radioaktiven Wassers und abgetragener Erde lagern in der Präfektur von Fukushima. Dabei sind die Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen und auf die Natur schon jetzt enorm. Die japanische Atomindustrie und ihre Unterstützer*innen in Regierung und Verwaltung waren bislang erfolgreich darin, unabhängige Forschung über die Folgen der atomaren Strahlung, wie im Fall der Schilddrüsenkrebsstudien, zu unterdrücken und Fördergelder durch eine gezielte Platzierung im eigenen Interesse zu nutzen. Dabei wurden sie von den internationalen Atomorganisationen IAEO und UNSCEAR unterstützt. Zu vielen wichtigen Fragestellungen gibt es deshalb bis heute keine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die letzten zehn Jahre sind somit auch eine vergebene Chance für die Wissenschaft. Mit ihrem Symposium setzte die IPPNW dem nun etwas entgegen.

Wissenschaftliche Hintergrundinformationen zu allen Themen der Fachtagung sowie die Mitschnitte der Vorträge zum Ansehen finden Sie hier: fukushima-disaster.de/

Dr. med. Alex Rosen

Antidiskriminierung umfassend denken


Antidiskriminierung umfassend denken

Eine globale Bewegung für Diversität, Inklusion und Gleichberechtigung

von Claude Cahn

Eine wachsende Zahl von Menschenrechtsorganen der Vereinten Nationen empfiehlt die Verabschiedung eines umfassenden Antidiskriminierungsgesetzes, um den Schutz der Menschenrechte auf nationaler Ebene zu verbessern. Viele Staaten haben in der Tat umfassende Antidiskriminierungsgesetze erlassen, andere befinden sich in verschiedenen Stadien der Vorbereitung solcher Gesetze. Es besteht jedoch Bedarf an einer globalen Bewegung für den umfassenden Schutz der Rechte von Minderheiten und anderen stigmatisierten oder marginalisierten Gruppen vor allen Formen der Diskriminierung. Der Artikel veranschaulicht die Entwicklungen der letzten Jahre und gibt einen Ausblick auf die Zukunft.

Um die Jahrtausendwende hatte nur eine handvoll Staaten auf der ganzen Welt umfassende Antidiskriminierungsgesetze verabschiedet. Mittlerweile sind es einige mehr. Das hat mit der Arbeit einer Reihe von Menschenrechtsmechanismen der UN zu tun. Hier formiert sich seit einigen Jahren eine Bewegung zur Schaffung globaler Maßstäbe zum umfassenden Schutz vor Diskriminierung.

Das »Verbot der Diskriminierung« ist das einzige Recht, das sich in allen neun zentralen internationalen Menschenrechtsabkommen findet. Artikel 2 sowohl des »Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte« als auch des »Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte« verpflichtet jeden Vertragsstaat, die dort anerkannten Rechte für alle Personen in seinem Hoheitsgebiet und unter seiner Gerichtsbarkeit zu achten und zu gewährleisten. Dies soll geschehen, ohne einen Unterschied, etwa nach rassistischen Kriterien1, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Weltanschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Status zu ziehen. Das Menschenrechtssystem der Vereinten Nationen hat zudem spezifische Verträge in Bezug auf rassistische Diskriminierung, der Diskriminierung von Frauen und von Menschen mit Behinderungen geschaffen. Zudem hat es die oben erwähnte Bedeutung des »sonstigen Status« noch detaillierter ausgearbeitet, um einen umfassenden Schutz vor Diskriminierung basierend auf Gründen wie beispielsweise sexueller Orientierung und der Geschlechtsidentität zu gewährleisten.

Hierauf berufen sich die Akteure der Bewegung für ein umfassendes Antidiskriminierungsrecht2, die derzeit eine zügige und dynamische Verbreitung findet. Dabei hilft: Grundsätzlich haben alle Staaten der Welt international gültige, rechtliche Voraussetzungen akzeptiert, die sie auf die Notwendigkeit der Schaffung umfassender Antidiskriminierungsgesetze zur Unterstützung eines wirksamen Rechtsschutzes von Betroffenen hinweisen. Alle relevanten UN-Vertragsorgane3 haben zudem die Verabschiedung eines umfassenden Antidiskriminierungsrechts empfohlen. Staaten aus allen Regionen der Welt empfehlen mittlerweile regelmäßig und systematisch die Verabschiedung und Umsetzung umfassender Antidiskriminierungsgesetze an weitere Staaten, sowohl an Staaten aus ihrer eigenen Region als auch an Staaten aus anderen Regionen.

In den abschließenden Beobachtungen ihrer Überprüfungen von Staaten haben die UN-Vertragsorgane mehrfach anerkannt und betont, dass die Einhaltung der Nichtdiskriminierungsverpflichtungen der Staaten unter anderem die Etablierung spezifischer, umfassender Antidiskriminierungsgesetze erfordert.4

Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung zu empfehlen hat und hatte zudem eine hohe Priorität im »Universal Periodic Review« (UPR, »Allgemeiner regelmäßiger Überprüfungsprozess«), einem Prozess des UN-Menschenrechtsrats, bei dem Staaten anderen Staaten Menschenrechtsempfehlungen geben. Länder aus allen Regionen der Welt haben Empfehlungen erhalten, Antidiskriminierungsgesetze zu erlassen. Einige Beispiele seien an dieser Stelle zu nennen: Bei der Überprüfung der Republik Moldau im Jahr 2011 forderten Algerien, Brasilien, Kanada, Estland, Frankreich, Israel, Nepal, Norwegen, die Russische Föderation, die Slowakei, Spanien, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung und/oder zur Stärkung der Toleranz, während Argentinien, Mexiko, Polen, Rumänien und Schweden ausdrücklich ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz forderten. Bei der jüngsten UPR-Überprüfung von Burkina Faso empfahlen Chile, Honduras und Serbien, dass Burkina Faso ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz verabschieden solle. Im Rahmen der 35. Sitzung der allgemeinen regelmäßigen Überprüfung des UPR erhielt Kirgisistan Empfehlungen von sieben Staaten, während Armenien Empfehlungen von zehn Staaten erhielt, umfassende Gleichstellungsgesetze zu verabschieden. Im Ergebnisdokument der jüngsten UPR-Überprüfung Japans taucht der Begriff »Diskriminierung« nicht weniger als 75 Mal auf. In ähnlicher Weise enthält die jüngste UPR-Überprüfung der Republik Korea 80 Verweise auf den Begriff »Diskriminierung«.5 Es scheint also eine gewisse »Kultur« der Anerkennung umfassender Antidiskriminierung zu geben.

Nationale Entwicklungen 2000-2021

In den vergangenen zwei Jahrzehnten gab es jedoch in Bezug auf die Entwicklung nationaler Antidiskriminierungsgesetze erhebliche Fortschritte. Im Jahr 2009 war Tschechien der letzte EU-Mitgliedstaat, der ein spezifisches Antidiskriminierungsgesetz verabschiedete (vgl. ERT 2009). Deutschland hat ein solches natio­nales Gesetz (vgl. Antidiskriminierungsstelle o.J.), auch wenn es bei einer Reihe von Diskriminierungsgründen, wie etwa der Bildung, nur begrenzt anwendbar ist. Zudem ist Deutschland eine von zwei EU-Regierungen, gemeinsam mit Polen, die im letzten Jahrzehnt weitere Entwicklungen in diesem Bereich auf europäischer Ebene blockiert haben.

Zusätzlich zu allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben zwischen 2009 und 2013 acht Staaten auf dem europäischen Kontinent (zuerst Kroatien, danach Bosnien und Herzegowina, Serbien, Albanien, Montenegro, Nordmazedonien, die Ukraine und Moldau) umfassende (oder nahezu umfassende) Antidiskriminierungsgesetze erlassen. In Ländern wie dem Vereinigten Königreich, Kanada, Neuseeland und Australien wurde ein umfassender Rahmen von Antidiskriminierungsgesetzen geschaffen, der eine Reihe spezifischer oder umfassender Rechtsvorschriften beinhaltet.6

In der Zwischenzeit hat sich das Tempo der Veränderungen außerhalb Europas stetig erhöht, angetrieben durch die Zivilgesellschaft sowie durch besser aufeinander abgestimmte Maßnahmen der Vereinten Nationen. Das hat zum Entwurf und der Verabschiedung von entsprechenden Gesetzen auf jedem Kontinent geführt, die – obwohl noch unvollkommen – vordergründig darauf abzielen, ein umfassendes Schutzniveau zu schaffen. Beispielsweise wurde im Jahr 2010 in Kenia eine neue Verfassung verabschiedet, die direkte und indirekte Diskriminierung aus einer offenen Liste von Gründen verbietet, die Chancengleichheit von Männern und Frauen vorsieht und schädliche Ausnahmen vom Recht auf Nichtdiskriminierung beseitigte, die in der vorherigen Verfassung enthalten waren. Letztere hatten unter anderem dazu geführt, dass Ungleichheiten gegenüber Frauen in Bezug auf ihre Rechte auf Heirat, Scheidung und Erbschaft verfestigt wurden.7

In Lateinamerika haben Argentinien, Mexiko, Chile, Bolivien und Guyana kürzlich solche Gesetze verabschiedet. Am 2. Mai 2014 hat Georgien das Gesetz zur Beseitigung aller Formen von Diskriminierung verabschiedet.

In einigen Ländern befinden sich umfassende Gleichstellungsgesetze in der Entwicklung. Auf den Philippinen, in Armenien, Kirgisistan und Tadschikistan gibt es laufende Diskussionen über die Entwicklung umfassender Antidiskriminierungsgesetze.

In einigen Staaten wurde eine Reihe spezifischer Rechtsvorschriften erlassen, die in der Gesamtschau einen nahezu umfassenden Schutz für Überlebende von Diskriminierung bieten. In Hongkong beispielsweise wurde eine Reihe von Antidiskriminierungsverordnungen verabschiedet, darunter die Verordnung gegen die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (SDO) und die Verordnung gegen die Diskriminierung von Behinderten (DDO) im Jahr 1995, die Verordnung gegen die Diskriminierung aufgrund des Familienstands (FSDO) im Jahr 1997 und die Verordnung gegen rassistische Diskriminierung (RDO) im Jahr 2008.

Erfahrungen und Erfolge

Die Erfahrungen der Länder, die bereits umfassende Antidiskriminierungsgesetze verabschiedet haben, bestätigen den Ansatz: Gesellschaften erleben eine bereicherte Diskussion über die Komplexität und Diversität der Menschheit und damit neue Grundlagen für Toleranz und gegenseitiges Verständnis; Regierungsbeamt*innen fällt es leichter, bisher »schwierige« oder »sensible« Themen anzugehen. Antidiskriminierungsgesetze unterstützen also den gesellschaftlichen Fortschritt und den positiven sozialen Wandel.

Der zentrale Grund für ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz ist jedoch, den Opfern einen wirksamen Schutz zu bieten. Die Staaten sind demnach verpflichtet, echten Schutz vor Diskriminierung zu bieten und praktikable, zugängliche und sichere Rechtsmittel zu schaffen, wenn Menschen diskriminiert wurden. In allen Gesellschaften der Welt wird es jährlich viele solcher Menschen geben. Ohne wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung lassen Regierungen die Menschen im Stich, denen sie dienen.

Menschen aus extrem ausgegrenzten Gruppen – oft unzufrieden und entfremdet von der breiteren Gesellschaft – können so plötzlich erfahren, dass auch sie Rechte haben. Um ein Beispiel zu nennen: Der erste Fall, der Anfang der 2000er Jahre unter dem umfassenden bulgarischen Antidiskriminierungsgesetz verhandelt wurde, betraf eine Roma-Frau, der in einem Kurzwarenladen die Bedienung verweigert worden war. Die bulgarische Antidiskriminierungsbehörde erkannte an, dass die Handlung diskriminierend war und ordnete an, dass sich das Geschäft entschuldigen und Schadenersatz zahlen muss. Die Summe des Schadenersatzes war nicht groß, aber die Auswirkungen der Entscheidung waren in sozialer Hinsicht weltverändernd. „Die Menschenrechte werden in den unbedeutenden Orten [»small places«] ausgehandelt“, wie Eleanor Roosevelt es ausdrückte (1958).

Wie weiter?

In den Jahren 2020 und 2021 entwickelten die Abteilung für Indigene Menschen und Minderheiten des Menschenrechtsbüros der Vereinten Nationen (IPMS, OHCHR) und der im Vereinigten Königreich ansässige Equal Rights Trust (ERT) ein Handbuch mit dem Titel »Die Rechte der Minderheiten schützen: Ein Handbuch für die Schaffung umfassender Antidiskriminierungsgesetze«. Die Publikation füllt eine Lücke, da es Bedarf für ein solches Handbuch für OHCHR-Mitarbeitende, Regierungen, Parlamente, nationale Menschenrechtsinstitutionen (NHRIs), Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsaktivist*innen gab. In diesem Handbuch werden die wichtigsten konzeptionellen und inhaltlichen Elemente des Antidiskriminierungsrechts dargestellt, so wie sie in den internationalen Menschenrechtsverträgen und in der Rechtsprechung festgelegt sind. Zusätzlich zur Zusammenfassung der normativen Inhalte wird die Publikation konkrete länderbezogene Praktiken und praktische Anleitungen bieten.8

Die Covid-19-Pandemie und insbesondere die drastischen Ungleichheiten hinsichtlich der Auswirkungen auf Minderheiten, über die weltweit berichtet wird, haben die Dringlichkeit zur Erstellung eines solchen Leitfadens nochmal verdeutlicht. Denn es ist wahrscheinlich, dass es in der Zeit nach der Pandemie zu einer dramatischen Verschärfung der Ausgrenzung sowie zu langfristigen sozio­ökonomischen Auswirkungen kommt, da vielen Menschen der Verlust der Lebensgrundlage, der Krankenversicherung und anderer Dimensionen sozialer Schutzsysteme droht. Es bleibt zu hoffen, dass der Beitrag der Antidiskriminierungsgesetzgebungen dazu führt, dass Gesellschaften auf einer starken Menschenrechtsbasis zukünftig noch stärker ihre Resilienz entwickeln.

Anmerkungen

1) Anm. d. Übersetzung: Im englischen Original »race«. Forscher*innen fordern, diese Kategorie im deutschen Fachgebrauch durch die alternative Formulierung »rassistische Diskriminierung« oder »rassistische Kriterien« zu ersetzen.

2) Englisches Äquivalent: »Comprehensive Anti-Diskrimination Law«. Anmerkung d. Übersetzung: Ein wissenschaftlicher Diskurs zu einem umfassenden Antidiskriminierungsrecht hat sich in Deutschland bis dato nicht etabliert. Im Rahmen der Übersetzung steht der Begriff »umfassendes Antidiskriminierungsrecht« als Pendant zum englischen Begriff, der einen holistischen Ansatz verfolgt.

3) Anmerkung d. Übersetzung: Spezifisch in diesem Sinne gemeint, die »UN Treaty Bodies« des Hochkommissariats für Menschenrechte (OHCHR).

4) Beispielsweise: Human Rights Committee, ­Concluding Observations: Korea, UN Doc. CCPR/C/KOR/CO/4, 3 December 2015, Paras 12-13. Anmerkung d. Übersetzung: Das aufgeführte Dokument ist über die OHCHR Datenbank Online abrufbar und frei zugänglich.

5) vgl. unter anderem A/HRC/WG.6/12/L.16, A/HRC/39/4 sowie /HRC/37/11.

6) vgl. hierzu Equality Act (2010), Canadian Human Rights Act (1985) und New Zealand Human Rights Act (1993).

7) vgl. Constitution of Kenya (2010, Article 27 (3) und (4)), sowie Fitzgerald (2010, S. 60).

8) Der Leitfaden erscheint im Jahr 2022, pünktlich zum 30. Jahrestag der »Erklärung über die Rechte von Personen, die nationalen oder ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten angehören« (1992).

Literatur

Antidiskriminierungsstelle (o.J.): Homepage. antidiskriminierungsstelle.de

Equal Rights Trust (ERT) (2009): Czech Republic becomes last EU state to adopt anti-discrimi­nation law. 25 June 2009.

Fitzgerald, J. (2010): The road to equality? The right to equality. Equal Rights Review, Vol. 5, S. 55-69.

Roosevelt, E. (1958): “The Great Question,” remarks delivered at the United Nations in New York. 27.03.1958.

Claude Cahn ist Human Rights Officer beim Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen (OHCHR) in der Abteilung für Indigenen- und Minderheitenrechte.

Aus dem Englischen übersetzt von Franziska Benz und David Scheuing.

Te Awa Tupua – Der Ahne Fluss


Te Awa Tupua – Der Ahne Fluss

Die Revolution der neuen Rechtssubjekte

von Daniela Triml-Chifflard

Bisher deklarierte das moderne Rechtssystem die Natur vor allem als Eigentum, als Objekt, das an seiner Nützlichkeit für den Menschen bemessen und gehandelt wird. Diese Konzeption basiert auf der westlichen Auffassung von Natur, die Menschen als von dieser getrennt und über ihr stehend ansieht. In einigen Staaten verändert sich allerdings in den letzten Jahren das rechtliche Verhältnis zur Natur – nicht zuletzt ein Erfolg vieler indigener Bewegungen. Dieser Artikel nähert sich der Anerkennung der Rechte der Natur am Beispiel des Whanganui-Flusses in Aotearoa (Neuseeland) und wirft einen Blick auf die möglichen globalen Chancen solcher Gesetzgebung für Umweltrecht, kulturelle Menschenrechte und ein verändertes Subjektverständnis im Recht.

Am 15. März 2017 nahmen mehr als 400 Whanganui Maori an der dritten Lesung des »Te Awa Tupua«-Gesetzesentwurfs (wörtlich: »Fluss als Ahne«) im Repräsentantenhaus in Wellington, Aotearoa (Neuseeland), teil. Die Maori wollten den historischen Moment persönlich miterleben, in dem der Whanganui-Fluss nach mehr als 140 Jahren andauerndernder Rechtsstreitigkeiten mit der britischen Krone offiziell als ihr Ahne anerkannt werden würde. Kurz nach Mittag erhielt der Gesetzes­entwurf, nach fünf Jahren intensiver Diskussionen im Parlament, endlich die langersehnte königliche Zustimmung.

Mit seiner parlamentarischen Verabschiedung wurde das »Te Awa Tupua«-Gesetz der erste rechtliche Rahmen der Welt, der einen Wasserlauf als „ein unteilbares und lebendiges Ganzes“ mit all „seinen physischen und metaphysischen Elementen“ und „intrinsischem Wert“ anerkannte und ihn als Persönlichkeit mit allen „Rechten, Befugnissen, Pflichten und Verbindlichkeiten einer juristischen Person“ ausstattete (Te Awa Tupua Act 2017).

Ein neues Naturverständnis im Recht

Vor diesem revolutionären Beispiel neuer Rechtssetzung in Aotearoa (Neuseeland) waren die eigenständigen Rechte der Natur weltweit kaum irgendwo umfassender in einen rechtlichen Rahmen eingebunden. Aufsehen erregte davor deren gesetzliche Verankerung in der Verfassung von Ecuador im Jahr 2008 und in der »Allgemeinen Erklärung der Rechte von Mutter Erde« (»Universal Declaration of the Rights of Mother Earth«), verabschiedet von der Konferenz indigener Gruppen zum Klimawandel im Jahr 2010 in Cochabamba, Bolivien (vgl. Earth Law Center 2021; siehe Tabelle).

In der ecuadorianischen Verfassung heißt es seither in Kapitel 7, Artikel 71: „Die Natur oder Pachamama, in der sich das Leben reproduziert und existiert, hat das Recht, zu existieren, zu bestehen, ihre Lebenszyklen, ihre Struktur, ihre Funktionen und ihre Prozesse in der Evolution zu erhalten und zu regenerieren. Jede Person, jedes Volk, jede Gemeinschaft oder Nationalität kann die Anerkennung der Rechte der Natur vor den öffentlichen Organen einfordern.“ Es war dieser Verfassungsartikel, der 2011 die Rechtsgrundlage für die erste erfolgreiche Klage gegen die Provinzregierung von Loja, Ecuador, für die Wiedergutmachung wegen der Beschädigung des Vilcabamba-Flusses lieferte (Earth Law Center 2021).

Umweltaktivist*innen weltweit und Organisationen wie »Nature’s Rights« und das »Earth Law Center« begrüßen die rechtliche Verankerung dieser Rechte der Natur und ihrer Wandlung von einem nutzbaren Objekt für Menschen zu einem Subjekt mit Eigenwert und Recht auf Leben. Diese revolutionären Gesetzesänderungen ermöglichen es nun Umweltorganisationen, Gemeinschaften sowie einzelnen Privatpersonen, das »Recht auf Leben« der Natur vor Gericht einzufordern.

Die durch Kolonialismus und Imperialismus geprägte, weltweit dominante Interpretation von Natur als vom Menschen dominierter Ressource kontrastiert stark zu vielen indigenen Weltverständnissen, die oftmals Menschen als Teil der Natur ansehen, die Natur als belebte Einheit wahrnehmen und sie als Teil der sozialen Gesellschaft definieren. Derartige indigene Verständnisse von Natur sind auch die Grundlage für die neuen Gesetzesentwürfe. Denn auch wenn Umweltschützer*innen und Organisationen wie »Nature’s Rights« und das »Earth Law Center« darin die Verwirklichung ihrer Forderungen sehen, den Eigenwert der Natur anzuerkennen und ihr das Recht zuzusprechen, „zu existieren, zu gedeihen und sich zu entwickeln“, so sind diese Gesetze nicht allein kreiert worden, um der Natur mehr Rechte zu verleihen, sondern vor allem um die Menschenrechte indigener Gruppen besser durchsetzen bzw. aufrechterhalten zu können.

Rolle der internationalen Menschenrechte

Seit dem »Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern« der Internationalen Arbeitsorganisation von 1989 (ILO-Übereinkommen 169), das von Regierungen weltweit forderte, die besondere Beziehung der indigenen Völker zu ihrem Land und ihren Territorien zu respektieren und die traditionellen Rechte auf Eigentum und Besitz von Land durch die betroffenen Völker anzuerkennen, sind Regierungen angehalten, sich den völkerrechtlichen Normen der Selbstverwaltung von Minderheiten und Indigenen anzupassen.

Es lässt sich beobachten, dass durch die Verpflichtung, indigene soziale und kulturelle Rechte und die damit verbundenen religiösen und spirituellen Werte und Praktiken, die für die jeweilige indigene Identität wesentlich sind, anzuerkennen und zu schützen, weltweit schrittweise konstitutionelle Neuordnungen zur gesetzlichen Gleichstellung indigener Gruppen mit anderen Bevölkerungsgruppen unternommen werden. Beschleunigt wurde dieses Bestreben durch die im Jahr 2007 von den Vereinten Nationen verabschiedete »Deklaration der Rechte indigener Völker« (UNDRIP), die für ein Überleben indigener Gruppen in Nationalstaaten entsprechende sozioökonomische, politische und kulturelle Zielsetzungen formulierte.

Te Awa Tupua – Ein Fluss als Ahne

Auch in Aotearoa (Neuseeland) tragen das ILO-Übereinkommen und die UNDRIP zu einer Transformation der Beziehungen zwischen der neuseeländischen Regierung und der Maori-Minderheit bei. Sie beeinflussen stark, wie seitdem mit den Anspruchsforderungen der indigenen Maori vor staatlichen Gerichten umgegangen wird. Seit diesen Abkommen ist die neuseeländische Regierung sichtbar bestrebt, die besondere Beziehung der Maori zu ihrem Land und ihren Territorien zu respektieren und die traditionellen Eigentumsrechte und den Besitz von Land anzuerkennen. Doch es bedurfte auch der Formierung einer organisierten Maori-­Protestbewegung und kontinuierlicher Prozessführung durch Maori, um der Forderung nach Anerkennung Nachdruck zu verleihen. Als Reaktion auf die mannigfaltigen Proteste richtete die Regierung von Aotearoa (Neuseeland) das sogenannte »Waitangi-Tribunal« ein, das den Weg für die revolutionäre »Te Awa Tupua«-Gesetzgebung und die Verankerung einer indigenen Kosmologie im modernen Staatsrecht ebnete. Der historische Moment der Implementation dieses Gesetzes markierte auch das Ende des am längsten andauernden Rechtsstreits in der Geschichte Aotearoas (Neuseelands). Rechtsstreitigkeiten, die auf die Unterzeichnung des Vertrags von Waitangi im Jahr 1840 folgten.

Der Vertrag von Waitangi: Konzeptionelle Missverständnisse

Der Vertrag von Waitangi ist ein Abkommen, das zwischen der Kolonialmacht Großbritannien und den Maori-Chiefs geschlossen wurde, um die steigende Zahl europäischer Siedler*innen in Aotearoa (Neuseeland) und die indigene Maori-Bevölkerung unter einer Regierung zu vereinen. Die darin festgehaltenen Versprechen der britischen Krone wurden von dem Missionar Henry Williams und seinem Sohn Edward ins Maori übersetzt. Nur etwa 40 Maori-Häuptlinge unterzeichneten die englische Version am 6. Februar 1840. Bis September desselben Jahres unterzeichneten weitere 500 Maori-Häuptlinge »Te Tiriti«, die Maori-Version des Vertrags, die im ganzen Land verschickt wurde.1 Kurz nach der Unterzeichnung des Vertrages begannen Streitigkeiten über seinen Inhalt und die Eigentumsrechte an Land. Diese Streitigkeiten, die bis heute andauern, beruhten nicht nur auf der falschen Übersetzung der englischen Originalfassung ins Maori, sondern auch auf konzeptionellen Missverständnissen, da die Vorstellungen der Briten von Land und Besitz nicht mit den Vorstellungen der Maori übereinstimmten und umgekehrt (vgl. Ministry for Culture and ­Heritage 2017). Um 1840 war das britische Konzept des privaten Landbesitzes ein fremdes Konzept für die Maori, die ihren Anspruch auf Land durch gewohnheitsmäßige Nutzungen geltend machten. Land und andere natürliche Ressourcen konnten nicht besessen, sondern nur kontrolliert werden. Diese Autorität über Land, seine natürliche Umwelt und das Recht seiner Nutzung werden nach Ordnung der Maori bis heute durch Abstammung vererbt. Das System der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit bei der Kultivierung und der gemeinsamen Nutzung der natürlichen Ressourcen hemmt jeden Trend zum Individualismus und zum individuellen Besitz von Land, wie im westlichen Verständnis von Natur.

Entwicklungen der Verankerung autonomer Rechte der Natur weltweit

Jahr

Staat/Gremium

Gesetz bzw. Entscheidung

2008

Ecuador

Ecuadorianische Verfassung Kapitel 7, Artikel 71: „Die Natur oder Pachamama (…) hat das Recht, zu existieren, zu bestehen, ihre Lebenszyklen, ihre Struktur, ihre Funktionen und ihre Prozesse in der Evolution zu erhalten und zu regenerieren. Jede Person, jedes Volk, jede Gemeinschaft oder Nationalität kann die Anerkennung der Rechte der Natur vor den öffentlichen Organen einfordern.“

2010

Bolivien

Bolivianische Verfassung Gesetz der Rechte von Mutter Erde No.71 Artikel 3:

„Mutter Erde ist das dynamische lebende System, das aus der unteilbaren Gemeinschaft aller Lebenssysteme und Lebewesen besteht, die miteinander in Beziehung stehen, voneinander abhängig sind und sich gegenseitig ergänzen und ein gemeinsames Schicksal teilen.“

2010

Konferenz indigener Gruppen

»Allgemeine Erklärung der Rechte von Mutter Erde«, Cochabamba, Bolivien anerkennt »Mutter Erde« als Lebewesen, das unveräußerliche Rechte besitzt.

2014

Aotearoa (Neuseeland)

»Te Urewera Act« – Der Te Urewera Nationalpark wird als juristische Persönlichkeit anerkannt.

2016

Kolumbien

Verfassungsgericht verleiht dem »Atrato-Fluss« den Status einer juristischen Person mit Rechten auf Schutz, Erhaltung, Pflege und Erneuerung.

2017

Aotearoa (Neuseeland)

»Te Awa Tupua Act« – Der Whanganui Fluss wird als Lebewesen mit intrinsischem Eigenwert (all seine physikalischen und metaphysischen Elemente) anerkannt und als juristische Persönlichkeit ­tituliert.

2018

Kolumbien

Der kolumbianische Teil des amazonischen Regenwaldes wird als juristische Persönlichkeit anerkannt.

März 2017
bis
Juli 2017

Indien

Das Oberste Gericht von Uttarakhand spricht den Flüssen »Ganga« und »Yamuna« sowie den Gletschern von »Gangotri« und »Yamunotri« im Himalaya den Status von juristischen Personen für ihr Überleben, ihre Sicherheit, ihren Erhalt und ihr Wiederaufleben zu. Auf Einspruch der Regierung setzt der Oberste Gerichtshof im Juli 2017 die Verfügungen des High Court of Uttarakhand im Ganges- und Yamuna-Fall jedoch wieder aus.

2019

El Salvador

Anerkennung der staatlichen Wälder als lebende Entitäten.

2019

Bangladesch

»High Court Division Declaration in Writ Petition Nr.13989«: Der »Turag-Fluss« und alle Flüsse Bangladeschs werden als lebende Entitäten anerkannt.

Kulturelles Menschenrecht auf Te Ao Maori (Die Maori Welt)

Die Maori verstehen sich als Hüter*innen ihres Landes, das sie von ihren Vorfahren vererbt bekommen haben. Dieses Land wird wiederum von ihnen für zukünftige Generationen geschützt. Abstammung und Verwandtschaft definieren so die traditionellen Nutzungsrechte am Territorium. Dabei bezieht sich Verwandtschaft gemäß der Kosmologie der Maori nicht nur auf Familienbande zwischen lebenden Menschen, sondern auf ein breiteres Netz von Beziehungen zwischen Menschen, Land, Wasser, Flora, Fauna und die spirituelle Welt der Götter, da diese durch eine gemeinsame Lebensessenz miteinander verbunden sind. Dieses Verständnis geht auf den Ursprungsmythos der Maori zurück, die sich, ebenso wie alle natürlichen Elemente (Wind, Regen, Vögel, Wälder, Flüsse, Pflanzen…), als direkte Nachkommen von Ranginui (dem Himmels-Vater) und Papatuanuku (der Erd-Mutter) verstehen. Aufgrund dieser gemeinsamen Abstammung sind alle diese Elemente miteinander verwandtschaftlich verbunden und haben auf sich gegenseitig mit Respekt zu achten.

Speziell die Menschen einer Maori Gruppe, ihre »rangatira« (Häuptling/Stammesoberster), ihre »tipuna« (Ahnen) und ihr Land teilen alle das »hau« (den Wind des Lebens) der gemeinsamen Vorfahren. In Maori sprechen die Menschen von sich selbst als ahau (ich selbst), und rangatira sprechen von einem Vorfahren in der ersten Person, weil sie das »kanohi ora«, sein »lebendiges Gesicht« sind. Entsprechend werden sie auch als Elemente einer gemeinsamen Identität verstanden. So erwähnen die Maori, wenn sie nach ihrer Identität gefragt werden, nicht sich selbst, sondern beziehen sich auf ihren geschätzten Vorfahren, ihren Berg, ihren Fluss und andere natürliche Orientierungspunkte.

Maori der Gruppe Te Atihaunui-a-Paparangi (auch Atihaunui oder Ngati Hau genannt), die entlang des Whanganui-Flusses wohnen, sind eine relativ homogene Abstammungsgruppe. Sie sind durch den Whanganui-Fluss, der durch ihr Ahnenterritorium fließt, miteinander verbunden. Sie sehen den Fluss als ihren gemeinsamen Vorfahren, mit dem sie gemeinsames hau teilen und nennen ihn »tipuna awa« (Ahne Fluss).

Entsprechend ihres Verständnisses gemeinsamer Identität zitieren Whanganui-Maori den Spruch „Ko au te Awa, ko te Awa ko au“ („Ich bin der Fluß und der Fluß bin ich“), wenn sie nach ihrer Herkunft gefragt werden (Salmond 2017, Waitangi Tribunal 1999). Seit Ankunft der europäischen Siedler*innen wurde dieses alternative Weltverständnis von der Kolonialmacht in der steten Aneignung von traditionell genutztem Maori-Territorium fortlaufend ignoriert und trotz unzähliger gerichtlicher Einsprüche nicht angehört und beachtet. Auf diesem Weg wurden den Maori nicht nur Land und Ressourcen entzogen, sondern auch ein wichtiger Teil ihrer Identität entrissen. Mit der Implementierung der »Te Awa Tupua«-Gesetz­gebung wurde der Whanganui River nun endlich als „eine spirituelle und physische Einheit, die sowohl das Leben und die natürlichen Ressourcen innerhalb des Whanganui-Flusses als auch die Gesundheit und das Wohlergehen der Maori-­Gemeinschaften am Fluss unterstützt und aufrechterhält“, anerkannt (Te Awa Tupua Act 2017). Dadurch wurde nach 140 Jahren kontinuierlicher Unterdrückung die Maori-Kosmologie erstmals rechtlich verankert und zu einem anerkannten Teil neuseeländischer Realität, geleitet von der Überzeugung, Gerechtigkeit für (post)koloniale Ungleichheiten und damit einhergehendes Leid zu üben, um Maori für erlittene Diskriminierungen zu entschädigen.

Das Waitangi-Tribunal

Doch diese Gesetzgebung wäre nicht ohne den unermüdlichen landesweiten Protest der Maori zustande gekommen. Die kontinuierlichen Landenteignungen aktivierten großen Widerstand aufseiten der Maori. Neben zahlreichen Klagen vor Gericht wurde die steigende Unzufriedenheit auch in der Formierung einer aktiven Maori-Protestbewegung zum Ausdruck gebracht. Der bemerkenswerteste Protest war der große »Maori hikoi« (Landmarsch) von 5.000 Maori von Te Hapua nach Wellington im Jahr 1975. Die Demonstrant*innen überreichten Premierminister Bill Rowling eine Petition mit 60.000 Unterschriften, um gegen die fortlaufende Landenteignung der Maori zu protestieren. Dieser Marsch lenkte landesweit die Aufmerksamkeit auf den Vertrag von Waitangi und damit einhergehende Klagen von Maori. Als Reaktion darauf richtete die neuseeländische Regierung noch am 10. Oktober des gleichen Jahres das »Waitangi-Tribunal« unter dem »Treaty of Waitangi Act Nr. 114« ein.

Das Waitangi-Tribunal ist eine Untersuchungskommission, die von Maori vorgebrachte Verletzungen des Vertrages von Waitangi durch die Britische Krone prüft und auf Basis ihrer Ergebnisse Empfehlungen an das neuseeländische Parlament ausspricht, wie mit den einzelnen Fällen zu verfahren ist. Die Errichtung des Tribunals war die erste institutionelle Veränderung nach mehr als 130 Jahren andauernder Proteste der Maori gegen die Verletzungen des Vertrages von Waitangi. Damit gestand die neuseeländische Regierung offiziell ein, dass der Vertrag von Waitangi in englischer Sprache von der Maori-Version abweicht und stellte mit dem Tribunal ein juristisches Verfahren bereit, durch das Maori Ansprüche an die Krone geltend machen konnten.

Zu Beginn löste das Tribunal die langjährigen Maori-Forderungen relativ ineffektiv und nicht zufriedenstellend ein, aufgrund seiner beschränkten Zuständigkeit auf Klagen, die nach dem 10. Juli 1975 eingereicht wurden. Dadurch hielt die Diskriminierung der Maori-Bevölkerung an. Als Reaktion auf anhaltende Proteste wurden 1985 die Befugnisse des Tribunals auf ausstehende Klagen ausgeweitet, die bis zum Jahr 1840 zurückreichende Vertragsbrüche anzeigten. Bis heute wurden mehr als 2.000 Klagen vor das Waitangi-Tribunal gebracht. Einer davon war der am 14. Oktober 1990 eingereichte Whanganui River Claim der Whanganui Maori.

Nach Prüfung der Klage veröffentlichte das Waitangi-Tribunal 1999 seine Untersuchungsergebnisse im Whanganui River Report (WAI 167): Es entschied zu Gunsten der Whanganui Maori und deklarierte den Whanganui-Fluss als ein unteilbares und metaphysisches Ganzes, das für die Whanganui Maori eine besondere Bedeutung als Ahne habe. Die Whanganui Maori besitzen demnach weiterhin die Verwaltungshoheit über den Whanganui Fluss und haben diese Interessen nie verkauft. Eingriffe in den Fluss durch die Krone, ohne Konsultation oder Entschädigung der Whanganui Maori, stehen nach den Ergebnissen des Tribunals im Widerspruch zu den Prinzipien des Vertrages von Waitangi und müssen adäquat entschädigt werden.

Auf Basis dieses Urteils erarbeitete das neuseeländische Parlament gemeinsam mit den Whanganui Maori in konflikt­reichen Verhandlungen, die sich über einen Zeitraum von 13 Jahren erstreckten, das revolutionäre »Te Awa Tupua«-Gesetz (Hayward und Wheen 2004; Keane 2012).

Ein revolutionäres Umweltrecht

Die Maori-Umweltjuristen James Morris und Jacinta Ruru waren die ersten, die vorschlugen, neuseeländische Flüsse als juristische Personen anzuerkennen. Sie bezogen sich in ihrer Argumentation auf Christopher Stones rechtliche Konzeption für natürliche Entitäten. Stone, Professor am University of Southern California Law Center, hatte bereits 1972 seinen revolutionären, aber auch heftig diskutierten Aufsatz »Should trees have standing? Law, Morality and the Environment« (Stone 2010 [1972]) veröffentlicht. Seine Überlegungen basierten auf der Beobachtung, dass die juristischen Begriffe des Eigentums und der juristischen Person im modernen Staatsrecht im Laufe der Geschichte ständig verändert und angepasst wurden. Für Stone gab es eine kontinuierliche Entwicklung in der Überlegung, welche Dinge als »besitzbar« anerkannt wurden (z. B. Land, bewegliche Sachen, Ideen, andere Personen wie Sklav*innen), wer als besitzfähig galt (z. B. Individuen, verheiratete Frauen) und welche Befugnisse und Privilegien dieses Eigentum beinhaltete. In seiner Überlegung dazu, welche undenkbaren Entitäten in Zukunft zu juristischen Personen werden könnten, schlug Stone das Konzept der juristischen Persönlichkeit für natürliche Objekte vor.

Während Bryant (1975, S. 319) Stones Buch als „philosophisch gut durchdachter Vorschlag für neue rechtliche, ökonomische, politische und soziale Ansätze für die Probleme der Harmonisierung einer industrialisierten Gesellschaft mit einer sich rapide verschlechternden Umwelt“ bezeichnete und Huffman (1974) meinte, „Das vorgeschlagene System ist wahrscheinlich praktikabel und hätte den positiven Effekt, uns zu zwingen, die tatsächliche Schädigung der Umwelt zu betrachten. Es ist klar, dass Stone den ersten großen Schritt gemacht hat: Er hat das Undenkbare vorgeschlagen“, kritisierte Elder (1984) den Vorschlag mit der Begründung, „Menschen und Pflanzen sind nicht in der gleichen Kategorie, die notwendig wäre, um eine solche Schlussfolgerung zu rechtfertigen. Selbst wenn das Gras und die Pflanzen Wasser ‘brauchen‘, in dem Sinne, dass sie ohne Wasser sterben werden, warum folgt daraus, dass wir die Pflicht haben, sie zu gießen? Haben sie irgendeine moralische Wichtigkeit?“, und Keeler (1975) meinte sogar, es sei „sehr schwierig, die Konsequenzen dieser These zu bedenken, ohne in Parodie zu verfallen.“

Trotz dieser Kontroversen wurde der Aufsatz schon kurz nach seinem Erscheinen von Umweltschützer*innen aufgegriffen, um ihre Bewegung und ihr politisches Engagement zu untermauern. Auch Morris und Ruru argumentierten, dass das Konzept der Rechtspersönlichkeit perfekt mit der Rolle der Flüsse im relationalen Universum der Maori Kosmologie übereinstimmt. „Sicher, Stones Idee ist radikal. Was er vorschlug, war ein neuartiger Ansatz zum besseren Schutz der Umwelt und der Ressourcen, die den Menschen erhalten. In gewisser Weise beabsichtigt seine Idee, die Lücke zwischen natürlichen Ressourcen und Menschen zu schließen und ihre Nähe zueinander zu betonen, die zwischen uns herrschen sollte. Aus der Perspektive der Maori (und vielleicht auch anderer indigener Gruppen) ist die Idee weniger radikal, da sie mit einer Weltanschauung übereinstimmt, in der es eine genealogische Verbindung zwischen allen Lebewesen gibt, einschließlich Flüssen und Menschen.“ (Morris und Ruru 2010, S. 58)

Soziale Gerechtigkeit in postkolonialen Nationalstaaten

Das tägliche Leben der Maori in Aotearoa (Neuseeland) ist in vielerlei Hinsicht noch immer von (post)kolonialen Strukturen und ungleichen Machtverhältnissen durchdrungen. Doch in dem Bestreben, Gerechtigkeit für vergangenes Unrecht zu erreichen, konnten (post)koloniale Rechtsstrukturen aufgebrochen und ein neues, gerechteres Recht entwickelt werden. Solche Veränderungen im Recht und in der politischen Praxis sind unerlässlich, um eine echte Gleichstellung zu erreichen und Machtverhältnisse dauerhaft verschieben zu können. Das Recht hat daher das Potenzial, in postkolonialen Staaten soziale Gerechtigkeit herzustellen und als »Brücke zwischen den Welten« zu dienen, um unterschiedliche Kosmologien und die damit verbundenen spezifischen Werte und Praktiken im nationalen staatlichen Recht zu vereinen (vgl. Geddis und Ruru 2019). Seit der Implementierung des »Te Awa Tupua Acts« in Aotearoa (Neuseeland) haben weitere Staaten wie Kolumbien, El Salvador oder die USA das Potential dieses juristischen Konzepts erkannt und angewandt (vgl. Earth Law Center 2021; vgl. Tabelle).

Die neuen Rechtssubjekte und ihre Transformation der Beziehungen

Eine Welt, in der indigene Konzepte und Praktiken zu einer anerkannten und realen Alternative zu den modernistischen Annahmen des Seins werden, könnte davon sogar transformiert werden: Gesetzesneuerungen wie der »Te Awa Tupua Act« werden die Art und Weise verändern, wie natürliche Entitäten in Zukunft konzipiert und wie mit ihnen interagiert werden wird. Indem sie als Lebewesen definiert werden, sind sie nicht mehr instrumentelle Dinge zum Nutzen der Menschen, sondern Personen, mit denen eine ständige Beziehung besteht (vgl. Geddis und Ruru 2019, S. 270f). Dieses neue Verständnis von belebter, dem Menschen nahestehender Natur kann in letzter Konsequenz auch zu einer nachhaltigeren Lebensweise führen, von der alle Lebewesen auf diesem Planeten profitieren.

Mit einem solchen Verständnis ist auch eine Diskussion darüber obsolet, ob dieses Recht eher den Eigenwert der Natur anerkennt oder die kulturellen Rechte der Menschen durchsetzt. Denn diese Diskussion basiert wiederum auf der modernen Trennung von Natur und Kultur und einer darauf begründeten Unterscheidung zwischen Umweltrecht und Menschenrecht. Sobald der Mensch als Teil seiner Umwelt verstanden wird, können die neuen Gesetze als ein gemeinsames planetares Recht für alle Lebewesen verstanden werden, in dem das Recht auf Leben für alle Entitäten des ganzen Planeten gesichert ist.

Anmerkung

1) Während einige Häuptlinge sich weigerten, den Vertrag zu unterzeichnen, hatten andere nicht die Möglichkeit, ihn zu unterzeichnen.

Literatur

Bryant P. (1975): Should trees have standing? Toward legal rights for natural objects by ­Christopher D. Stone (review). Western ­American Literature 9 (4), S. 319-320.

Earth Law Center (o.J.): Timeline. earthlawcenter.org

Elder, P. P. (1984): Legal rights for nature. The wrong answer to the right(s) question. Osgoode Hall Law Journal 22(2), S. 285-296.

Geddis, A.; Ruru, J. (2019): Places as persons: creating a new framework for Maori-Crown relations. In: Varuhas, J.; Stark, S.W. (Hsg.): The frontiers of public law. Oxford: Hart Publishing, S. 255–274.

Hayward, J.; Wheen, N. R. (2004): The Waitangi Tribunal. Te Roopu Whakamana i te Tiriti o Waitangi. Wellington: Bridget Williams Books.

Huffman, J. (1974): Trees as a minority. Environmental Law 5 (1), S. 199-202.

International Labour Organisation (ILO) (1989): Indigenous and Tribal Peoples Convention. No. 169.

Keane, B. (2012): Nga ropu tautohetohe – Maori protest movements. Te Ara – the Encyclopedia of New Zealand. Homepage.

Keeler, D. (1975): Should trees have standing? In: Reason, November 1975.

Ministry for Culture and Heritage New Zealand (2017): The Treaty in brief. Homepage.

Morris, J.; Ruru. J. (2010): Giving voice to rivers: legal personality as a vehicle for recognising indigenous peoples’ relationships to water? Australian Indigenous Law Review 14(2), S. 49-62.

New Zealand Government (2017): Te Awa Tupua (Whanganui River Claims Settlement) Act. Wellington.

Salmond, A. (2017): Tears of Rangi. Experiments across worlds. University of Auckland: Auckland University Press.

Stone, Ch. (2010 [1972]): Should trees have standing? Law, Morality and the Environment. 3. Edition. New York: Oxford University Press.

Waitangi Tribunal (1999): The Whanganui River Report. Wai167. Wellington: GP Publications.

Daniela Triml-Chifflard ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Fach Sozial-und Kulturanthropologie der Philipps-Universität Marburg. Sie arbeitet im Bereich der Umweltanthropologie zu sozialen Klimawandelfolgen und zur Politischen Ontologie des Wassers.

Seenotrettung – und dann?


Seenotrettung – und dann?

von Jürgen Nieth

Am 12. Juni 2019 rettete die »Sea-Watch 3« vor der libyschen Küste 53 Menschen aus Seenot. Auf die Bitte, ihr einen sicheren Hafen zuzuweisen, wurde sie von den italienischen Behörden an Libyen verwiesen. Das lehnte die Kapitänin Carola Rackete angesichts der Zustände in den libyschen Gefangenenlagern ab und nahm stattdessen Kurs auf Italien.

Nach 17 Tagen vor Lampedusa, in denen sich kein europäischer Hafen bereit erklärt hatte, das Schiff einlaufen zu lassen, entschied die Führung der »Sea-Watch 3« – trotz Verbot der italienischen Behörden – anzulanden. Die Kapitänin reklamierte eine Notsituation.

Notsituation

13 Migranten mussten während dieser über zwei Wochen vor Lampedusa als medizinische Notfälle ausgeschifft werden. Zu den Migrant*innen sagte die Kapitänin im taz-Interview (27.6.19, S. 11):Viele bringen traumatische Erfahrungen mit: Die Geschichten reichen von Versklavung, über sexuelle Gewalt, Entführung und Zwangsarbeit. Es besteht die Gefahr der Retraumatisierung. Donatelle di Cesare schreibt in der ZEIT (4.7.19, S. 38): Die Kapitänin hatte Grund zu der Annahme, Gerettete „würden es an Bord nicht länger aushalten. Sie befürchtete, dass einige von ihnen, mitten in der Nacht, die schwarzen Gewässer um sie herum nutzen könnten, um sich das Leben zu nehmen.

Rettung ohne Hafen

Verschiedene Medien verweisen auf eine Lücke im Seerecht. „Es gibt zwar eine Rettungspflicht auf See, aber es gibt keine Aufnahmepflicht der Küstenstaaten“, so Nele Matz-Lück im Interview der taz (3.7.19, S. 4).

In einer Stellungnahme des Verbands Deutscher Kapitäne und Schiffsoffiziere heißt es dazu: „Es sei »unstrittig, dass Seeleute immer verpflichtet waren und sein werden, Menschen aus Seenot zu retten« […] Inzwischen aber werde von Seeleuten erwartet, die »Schiffbrüchigen im Mittelmeer in solche erster und zweiter Klasse einzuteilen […] Es ist kein Fall bekannt und es wäre unvorstellbar, dass ein unbekannter Segler, der nach dem Untergang seiner Yacht ohne Ausweispapiere geborgen würde, nicht an Land gebracht werden dürfte.«“ (Tagesspiegel 3.7.19, S. 3)

Sichere Häfen

„»Sicher«, das ist gemäß einer Entschließung des Schiffssicherheitsausschusses der Internationalen Schifffahrtsorganisation IMO ein Hafen, »an dem das Leben der Überlebenden nicht mehr weiter in Gefahr ist und an dem ihre menschlichen Bedürfnisse (wie zum Beispiel Nahrung, Unterkunft und medizinische Bedürfnisse) gedeckt werden«“, schreibt Martin Klingst in der ZEIT (4.7.19, S. 6). Und die italienische Richterin, die den Hausarrest Racketes aufhob, stellte fest: Die »Sea-Watch 3« „hätte keinen Hafen in Libyen oder Tunesien ansteuern können, weil in diesen Ländern Menschenrechtsverletzungen drohten“ Tagesspiegel (4.7.19, S. 4).

Die BILD-Lösung

„16 TAGE ODYSSEE! Dabei hätte es möglicherweise auch andere Möglichkeiten gegeben. Die Stadt Kiel z.B. hatte von Anfang an signalisiert, Flüchtlinge der »Sea-Watch« aufzunehmen. Für die Strecke Lampedusa-Kiel würde ein Schiff wie die »Sea-Watch 3« vermutlich 10-12 Tage brauchen – abhängig von Wind und Wetter.(Bild 2.7.19, S. 2)

BILD will tatsächlich traumatisierten, erschöpften, kranken Menschen tausende Kilometer auf offener See zumuten (siehe oben: Notsituation). Eine kaum zu überbietende Menschenverachtung, und dann ist die Idee auch noch geklaut. Der rechtsextreme italienische Innenminister hatte bereits Tage vorher getönt: „Holländisches Schiff, deutsche Hilfsorganisation – also die Hälfte der Migranten nach Amsterdam, die andere Hälfte nach Berlin. Und dann Beschlagnahmung des Piratenschiffs. Punkt.(SZ 29.6.19, S. 4)

Festung Europa

Für Günter Burkhardt von pro asyl will „Italiens Innenminister Salvini […] ein Exempel statuieren. Sein Ziel ist es, generell Schiffe davon abzuhalten, Menschen aus Seenot zu retten. (Interview mit der taz, 1.7.19, S. 3).

Die Bundesregierung hat auch diesmal wieder die Geretteten auf See alleine gelassen und eine »Europäische Lösung« als Voraussetzung der Aufnahme gefordert. „Aus italienischer Sicht sitzen die Berliner Mahner deshalb auf einem ziemlich hohen Ross. Weil es bis heute keine funktionierende gemeinsame europäische Lösung gibt und auch in absehbarer Zeit nicht geben wird.(Matthias Rüb in FAZ, 5.7.19, S. 1) Und Regina Kerner stellt in der BZ (3.7.19, S. 5) fest: „Im letzten Jahr sind nicht einmal 25.000 Menschen über das zentrale Mittelmeer gekommen. Davon hat Deutschland nur 157 aufgenommen.

Fabian Hillebrand kritisiert die Bundesregierung noch deutlicher: „»Menschenleben zu retten ist eine humanitäre Verpflichtung«, twitterte Heiko Maas nun. In Wirklichkeit steht er einer Behörde vor, die mit Deals mit libyschen Milizen alles dafür getan hat, das Sterben auf dem Mittelmeer so leise wie möglich vonstatten gehen zu lassen. (ND 1.7.19, S. 1)

Hoffnung

„Die große Aufmerksamkeit für Sea-Watch und die »Capitana« hat […] dazu geführt, dass andere NGOs, die zwischenzeitlich weg gewesen waren, ihre Schiffe wieder ins zentrale Mittelmeer verschieben und sich neu koordinieren.(Oliver Meiler, SZ 4.7.19, S. 7) Es mehren sich die Stimmen, die den erneuten Einsatz staatlicher Rettungsschiffe fordern, und die Pariser Stadtverwaltung will die beiden deutschen Kapitäninnen Rackete und Klemp mit einer Ehrenmedaille auszeichnen.

„Caroline Rackete gegen Matteo Salvini. Der vulgäre Rambo in Rom gegen die Kapitänin auf See, eine heutige Antigone, die wie die antike Heldin ohne Rücksicht auf persönliche Verluste für die Menschlichkeit kämpft gegen einen ungerechten Mächtigen […] Das könnte das Bild sein, von dem man eines Tages sagen wird, es war der Anfang vom Ende der bisherigen Strategie, die Festung Europas zu verteidigen. (Andrea Dernbach in Tagesspiegel, 28.6.19, S. 6)

Redaktionsschluss dieser Seite 15. Juli 2019.

Zitierte Presseorgane: BZ – Berliner Zeitung, BILD, nd – Neues Deutschland, FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, Stern, SZ – Süddeutsche Zeitung, [Der] Tagesspiegel, taz – die tageszeitung, ZEIT – DIE ZEIT.

„Wer betrügt, der fliegt“

„Wer betrügt, der fliegt“

von Jürgen Nieth

Seit Franz-Josef Strauß ist das Dreikönigstreffen der CSU in Wildbad Kreuth bekannt für markige, oft nationalistische, die Stammtischdebatten befeuernde Sprüche. So auch in diesem Jahr: Es geht gegen die »uneingeschränkte Freizügigkeit« bei der Arbeitsplatzwahl für Bulgaren und Rumänen seit dem 1. Januar. „Wer betrügt, der fliegt“, heißt es schon vor dem Kreuther Treffen, von einem drohenden fortgesetzten „Missbrauch der europäischen Freizügigkeit durch Armutseinwanderung“ wird gesprochen (Zeit, 02.01.14). In der Bild-Zeitung (03.01.14) ergänzt der Chef des Auswärtigen Ausschusses des EU-Parlaments, der CDU-Abgeordnete Elmar Brock: „Zuwanderer, die nur wegen Hartz IV, Kindergeld und Krankenversicherung nach Deutschland kommen, müssen schnell zurück in ihre Heimatländer geschickt werden. Um Mehrfacheinreisen zu verhindern, sollte man darüber nachdenken, Fingerabdrücke zu nehmen.“ Und FDP-Chef Lindner sekundiert, man müsse „ergänzend zur Integration diejenigen abschieben, die weder integrationswillig noch -fähig“ seien (Die Welt 12.0114).

Begleitet wird die Kampagne durch eine Berichterstattung über Städte, wie Duisburg, Dortmund und Berlin, in denen sich »unqualifizierte« Zuwanderer konzentrieren. Dazu Heinz Buschkowsky, SPD-Bürgermeister in Berlin-Neukölln in der Bild-Zeitung (07.01.14): „Bei uns leben inzwischen rund 10.000 Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien – überwiegend Menschen aus der Volksgruppe der Roma. Leider sind sie oft ohne berufliche Qualifikation und bildungsfern bis zum Analphabetismus. Sie haben so gut wie keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Deswegen ist eine Hartz-IV-Quote von knapp unter 40 Prozent bei den offiziell Gemeldeten nicht verwunderlich.“

Angst vor »Armutsflüchtlingen«

Die Angstkampagne vor so genannten Armutsflüchtlingen zeigt Wirkung. Bild am Sonntag berichtet über eine von ihr in Auftrag gegebene Umfrage des Kölner Meinungsforschungsinstituts YouGov. Danach „sprechen sich 80 Prozent der Befragten dagegen aus, dass Zuwanderer bei sozialen und familienpolitischen Leistungen sofort mit Deutschen gleichgestellt werden […] 71 Prozent unterstützen die Forderung, dass Leistungen wie das Kindergeld an Zuwanderer erst nach einer Wartezeit von mindestens einem halben Jahr gezahlt werden […] jeder zweite Deutsche [ist] besorgt über Zuwanderer aus Osteuropa.“ (BAMS 05.01.14)

Gegenwind

Angesichts solcher Umfragen mag es überraschen, dass alle (durchgesehenen) Tageszeitungen die CSU-Kampagne kritisieren. Einige der Überschriften: „Wider den Populismus“ (Handelsblatt 06.01.14), „Armutszuwanderung klingt pervers“ (BAMS 05.01.14), „Einwanderer? Ein Segen“ (Welt am Sonntag 05.01.14), „Unwürdiger Debattenstil“ (Stuttgarter Zeitung 04.01.14).

Weniger überraschend ist die Argumentation. Einerseits wird registriert, dass die ganz große Mehrheit zu uns kommt, um zu arbeiten, dementsprechend niedrig sind die Arbeitslosenzahlen. „Im November waren in Deutschland 15.000 Rumänen und Bulgaren arbeitslos […] Für die beiden Nationalitäten beträgt die Quote nur 7,4 Prozent, […] niedriger als jene der Gesamtbevölkerung (7,7 Prozent).“ (Süddeutsche Zeitung 04.01.14)

Häufig wird darauf hingewiesen, dass wir Fachkräfte brauchen. „Viele deutsche Krankenhäuser und Altersheime […] wären ohne Ärzte und Pfleger aus Osteuropa und dem Rest der Welt schon jetzt längst zusammengebrochen.“ (taz 03.01.14) Es geht „uns erstaunlich gut, nicht zuletzt dank Hunderttausender qualifizierter Einwanderer aus EU-Mitgliedsländern, die mehr als manch eingeborene Bundesbürger täglich damit befasst sind, das Bruttosozialprodukt zu steigern“ (Welt am Sonntag 12.01.14). Der Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Rainer Lindner, im Handelsblatt (06.01.14): „[…] ein Zugang von qualifizierten Fachkräften in allen Bereichen des Wirtschaftslebens, nicht zuletzt in der Bauwirtschaft oder im Dienstleistungsgewerbe, [wird] Vorteile mit sich bringen“.

Die Zuwanderer „finanzieren unter anderem das teure deutsche Rentensystem mit, haben aber selbst […] wenig von der Alterssicherung zu erwarten […] Gesamtwirtschaftlich sind die Zuwanderer so ein Zugewinn. Auch weil ihre Ausbildung – 65 Prozent von ihnen haben mindestens eine Berufsausbildung absolviert – nicht von den deutschen, sondern rumänischen und bulgarischen Steuerzahlern finanziert wurde.“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 05.01.14)

Feindbild Roma

Der alltägliche Rassismus, den die CSU mit dieser Kampagne befördert, wird dagegen seltener aufgegriffen. Wer „prophezeit, mit der vollen Freizügigkeit […] drohe ‚fortgesetzter Missbrauch […] durch Armutseinwanderung’, will in Wirklichkeit sagen: Roma wollen wir hier nicht. Das ist der in unsichtbarer Tinte geschriebene Untertitel der Debatte.“ (Die Zeit 02.01.14) Der Freitag (09.01.14) zitiert den Ex-Vorsitzenden des Sachverständigenrates der Stiftung für Integration und Migration, Klaus Bade: Mit der „Schmähformel […] ‚Wer betrügt, fliegt’ […] versucht die CSU die NPD rechts zu überholen, die mit Wahlslogans wie ‚Geld für die Oma, nicht für Sinti und Roma’ wirbt. Beides ist Kulturrassismus pur […] und ]stellt] die denunziativen ‚Ausländerdiskussionen’ zu Wahlkampfzeiten in früheren Jahrzehnten in den Schatten.“

Die FAZ (03.01.14) stellt den Zusammenhang zwischen den Wahlen zum EU-Parlament sowie den Kommunalwahlen in Bayern und der Kampagne her. Angesichts der AfD gehöre es zum Selbstverständnis der CSU, „rechts von sich keine Konkurrenz entstehen lassen“ zu wollen.

Wie weiter?

„Deutschland […] ist angewiesen auf den Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte, soll seine Wirtschaft weiterhin eine führende Rolle in der Welt spielen […] Deshalb birgt die Debatte über ‚Armutszuwanderung’ erhebliche Gefahr“, warnt die FAZ (04.01.14) Doch die Debatte ist nicht vom Tisch. Die große Koalition hat einen Staatssekretärsausschuss eingesetzt, der sich des Themas annehmen soll. Dazu der Vorsitzende des Innenausschusses, Wolfgang Bosbach (CDU): „Die Arbeitsgruppe sollte praxistaugliche Vorschläge erarbeiten, die sicherstellen, dass aus der Freizügigkeit für Arbeitnehmer der EU keine Freizügigkeit bei der Zuwanderung in unsere Sozialsysteme wird.“ (Freitag 09.01.14)

Das erinnert an die Debatte um die Maut: Ja zum EU-Recht – aber nur so lange, wie es uns nutzt. Die CSU wird’s freuen.

Jürgen Nieth

Konflikt um Homoehe

Konflikt um Homoehe

Eine reaktionäre Massenbewegung in Frankreich

von Bernard Schmid

Im Frühjahr 2013 kam es in Frankreich zu einer Welle von Demonstrationen gegen ein Gesetz für gleichgeschlechtliche Ehen. Wochenlang hielt diese Auseinandersetzung die französische Gesellschaft in Atem.

Als der Sommer des Jahres 2013 kam, hätte man zunächst glauben können, dieses Kapitel sei nun wirklich abgeschlossen: Am 17. Mai des Jahres hatte das französische Verfassungsgericht das zuvor vom Parlament verabschiedete Gesetz zur Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare für verfassungskonform erklärt. Am 18. Mai wurde es durch die Unterschrift von Staatspräsident François Hollande in Kraft gesetzt. Die letzte große Protestdemonstration gegen das Gesetz wurde unter Beteiligung von Hunderttausenden am 26. Mai in Paris abgehalten. Am 29. Mai 2013 fand die erste Eheschließung zwischen zwei Männern im südfranzösischen Montpellier statt, wo das Rathaus durch fast 300 Beamte der Polizei und Gendarmerie gegen eventuelle Störungen abgeschirmt wurde. Am 27. August 2013 meldete »Radio France Inter« die Zahl von 596 Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Partner, weitere 1.000 Hochzeitstermine waren angemeldet worden. Und was kommen musste, kam dann auch: Am 29. Oktober wurde die erste gleichgeschlechtliche Scheidung von zwei Frauen angekündigt, die vier Monate zuvor in Toulouse eine Ehe eingegangen waren.

Die Annahme, nunmehr sei in dieser Frage in jeglicher Hinsicht »Normalität« eingetreten, erwies sich allerdings als verfrüht. Der seit November 2012 anhaltende, von religiösen, konservativen und faschistischen Kräften getragene Protest setzte sich fort. Die Führung der stärksten Oppositionspartei in Frankreich, der »Union pour un mouvement populaire« (UMP), die bereits vor dem letzten breiten Protest vom 26. Mai über ihre Teilnahme an der Demonstration gespalten war, zog sich nach diesem Termin aus den Massenprotesten ganz zurück – mit dem Argument, dass ein einmal in Kraft getretenes »Gesetz der Republik« respektiert werden müsse, da sonst die Untergrabung der Staatsautorität drohe. Doch nicht alle ihre AnhängerInnen hörten darauf und schon gar nicht die ganze Palette aus religiösen Fanatikern, das Vergnügen der (Pseudo-) Revolte frisch entdeckenden Jungrechten und jungen Bourgeois aus den »besseren Vierteln« sowie den faschistischen Aktivisten.

Ein »Märtyrer«

Ihr Protest erhielt neue Nahrung, als im Juni 2013 der damals 23-jährige Student Nicolas Bernard-Busse zu zwei Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt wurde, um ein Exempel zu statuieren. Er war zum zweiten Mal in Folge bei einer illegalen Demonstration gegen die Homo-Ehe aufgegriffen worden, hatte bei der Polizei eine Fantasieidentität angegeben und die Abgabe einer Speichelprobe für einen DNA-Test verweigert.

Dass überhaupt aufgrund solcher Delikte »wider die öffentliche Ordnung« Haft- und nicht nur Geldstrafen verhängt werden können, liegt an der »Sicherheits«gesetzgebung, die durch die damals regierende Rechte – zunächst mit Nicolas Sarkozy als Innenminister, später als Präsident – in den Jahren 2002 bis 2012 eingeführt und ausgebaut wurde. Dieselbe konservative Rechte gab sich jetzt auf heuchlerische, aber öffentlichkeitswirksame Weise empört. Der auf dem rechten Flügel der UMP angesiedelte Abgeordnete Hervé Mariton besuchte Bernard-Busse in den letzten Junitagen zusammen mit weiteren Mandatsträgern in der Haftanstalt. Mariton hatte bereits vor mehreren Jahren offen mit der extremen Rechten zusammengearbeitet und amtierte 1998/99 als Vize des mit den Stimmen der Konservativen und des Front National gewählten damaligen Regionalpräsidenten von Lyon, Charles Millon.

Die Affäre um den inhaftierten Studenten goss Benzin ins Feuer des rechten Protests. Am 30. Juni 2013 etwa zogen dessen Unterstützer in einem Autokorso mit mindestens 200 Fahrzeugen hupend und Fahnen schwenkend durch die Pariser Innenstadt. Bernard-Busse wurde einige Tage später in zweiter Instanz zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und nach knapp drei Wochen vorzeitig aus der Haft entlassen. In der am 8. August 2013 erschienenen Ausgabe des rechtskonservativen bis rechtsextremen Wochenmagazins »Valeurs actuelles« schilderte er ausgiebig, wie er als ordentlicher Bürgersohn die Wochen in Haft mit gar schrecklichen Gestalten habe zubringen müssen.

Sinnfälliges Symbol des auch danach noch anhaltenden rechten Protests war die »Tour de France« im Juli 2013, bei der das Fernsehen Etappe um Etappe die GegnerInnen der Homo-Ehe mit ihren rosaroten und blauen Fahnen zeigte.

Die extreme Rechte

Auf politischer Ebene kündigte am 26. August 2013 eine Bürgermeisterin öffentlich ihre Absicht an, sich dem neuen Gesetz zu widersetzen und die Eheschließung zwischen zwei Frauen in »ihrem« Rathaus standhaft zu verweigern. Es handelte sich um Marie-Claude Bompard, Rathauschefin im südfranzösischen Bollène, die bei der letzten Kommunalwahl im März 2008 über eine vermeintlich unpolitisch-konservative Einheitsliste gewählt wurde. Ihre politische Zuordnung zur extremen Rechten fällt jedoch nicht schwer: Ihr Ehemann Jacques Bompard ist seit 1995 Bürgermeister der Nachbarstadt Orange und gehörte von Anfang der 1970er Jahre bis zum Herbst 2005 dem Front National an; danach war er Mitglied mehrerer rechten Kleinparteien und steht heute der (zusammen mit den »Identitären« betriebenen) rechtsextremen Regionalpartei »Ligue du Sud« vor.

Als Madame Bompard für ihren offenen Gesetzesbruch ein Strafverfahren angedroht wurden, knickte sie wenige Tage später jedoch ein und ließ ihre Beisitzerin die Eheschließung vornehmen. Selbst der Vizepräsident des Front National, Florian Philippot – in Fragen der Homo-Ehe vertritt er den vergleichsweise moderaten Flügel innerhalb seiner Partei –, hatte ihr Verhalten kritisiert. Er postulierte, wenn das Gesetz nun einmal beschlossen sei, müsse man sich als Stadtoberhaupt auch daran halten. Das sehen aber beileibe nicht alle Anhänger und Parteifunktionäre des Front National so.

Tatsächlich war die mit Abstand stärkste Partei der extremen Rechten in Frankreich, der Front National, über die Demonstrationen gespalten. Die 44-jährige Parteichefin Marine Le Pen war persönlich reserviert, was eine Teilnahme betraf: Zum einen war sie überzeugt, dass es in Wirklichkeit eher „die wirtschaftlichen und sozialen Themen“ seien, die die französische Gesellschaft im Allgemeinen und die Wählerschaft ihrer Partei im Besonderen berührten. Mit so genannte weichen oder postmateriellen Themen wie der Debatte um die Homo-Ehe lenkten die etablierten Parteien die Aufmerksamkeit lediglich von der wirtschaftlichen Misere weg. Zum anderen wollte Marine Le Pen anfänglich aber auch vermeiden, dass ihre Partei in der öffentlichen Wahrnehmung in der erzreaktionären Miefecke steht. Da sie sich seit ihrem Antritt als Parteivorsitzende im Januar 2011 verstärkt um neue WählerInnenschichten – Frauen, jüngere Generationen, Personen mit höherem Bildungsgrad – bemüht, die bislang dem Front National eher fern standen, und zunächst nicht vom Erfolg der Demonstrationen überzeugt war, blieb sie auf Abstand.

Diese Haltung war in ihrer Partei allerdings stark umstritten. Ihr Vater, Jean-Marie Le Pen, erklärte seine Unterstützung für die Proteste, ohne freilich selbst teilzunehmen, was mit seinem hohen Alter (85) zusammenhängen könnte. Und ihre Nichte, Marion-Maréchal Le Pen, 23 Jahre junge Abgeordnete in der Nationalversammlung, sowie deren parteiloser, aber für den Fronat National gewählter Parlamentskollege Gilbert Collard nahmen persönlich an den Demonstrationen teil.

Neben dem Front National und der UMP, die um Einfluss in der rechten Protestbewegung konkurrierten und dabei jeweils in den eigenen Reihen auf Widersprüche stießen, gingen auch zahlreiche kleinere rechtsextreme Organisationen gestärkt aus dem monatelangen konservativ-reaktionären Massenprotest hervor. Dies gilt etwa für die katholisch-nationalistische, militante Gruppierung »Renouveau français«, die Reste der monarchistisch-nationalistischen »Action française«, aber auch den eher neuheidnisch als christlich orientierten »Bloc identitaire«. Sie alle hatten versucht, sich an die Spitze des Protests zu setzen und sich im April und Mai im Anschluss an die regelmäßig stattfindenden Demonstrationen fast allabendlich gewaltförmige Auseinandersetzungen mit der Polizei geliefert. Auf politischer Ebene versuchte ferner das katholisch-fundamentalistische »Institut Civitas«, angeführt vom ehemaligen Vorsitzenden des belgischen »Front national belge« (FNB), Alain Escada, die Proteste zu radikalisieren. Das »Institut Civitas«, das gegen die »freimaurerische Republik« wettert, demonstrierte bei den größeren Protestzügen, so am 13. Januar und am 26. Mai 13, auf getrennter Route mit eigenen Parolen.

Gesellschaftlicher Hintergrund

Warum aber konnte die Bewegung über organisierte Rechtsextreme einerseits und in ihrer Weltanschauung gefestigte Kirchenkreise andererseits hinausgehen und eine derartige Dynamik auslösen? Dafür gibt es unterschiedliche Gründe, die sowohl aktueller wie struktureller Natur sind.

Auf der ersten Ebene ist die schmähliche Bilanz der Regierungskoalition aus Sozialdemokraten und Grünen angesiedelt: Außer dem tatsächlich eingelösten Versprechen, die Homo-Ehe einzuführen, hat sie keine sonstigen Erfolge vorzuweisen. Insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik zeigt sie keinerlei Gestaltungswillen, sondern beruft sich auf kapitalistische »Sach-« und europäische »Sparzwänge«, exekutiert den Willen »der Wirtschaft« und verfolgt kaum eine andere Politik als ihrer Vorgängerregierung. Die Unterschiede zwischen den großen politischen Lagern haben sich infolgedessen sehr weitgehend verwischt – bis auf die symbolpolitischen Themen, bei denen von beiden Seiten Wertvorstellungen mobilisiert werden, ohne an den Fragen der Verteilung zwischen Kapital und Arbeit rühren zu müssen.

Hinzu kommt als strukturelles Element das historische Erbe aus der französischen Geschichte, das in einem Teil der Gesellschaft weiter wirkt. In einem Milieu, das sich durch die Bindungswirkung »katholischer Werte« und konservativer Einstellungen auszeichnet, würde in anderen Ländern vielleicht eher eine unpolitische Haltung oder die Einrichtung im Bestehenden vorherrschen. In Frankreich aber ist ein Teil gerade dieses Milieus durch die Erinnerung an den Epochenbruch von 1789 geprägt: Modernisierung und Abkehr vom Überkommenen wird hier dauerhaft mit einem vermeintlich traumatischen Erlebnis – dem Zusammenbruch einer als »natürlich« vorgestellten Ordnung – assoziiert. Deswegen besteht in einem Teil des konservativen bis reaktionären gesellschaftlichen Milieus stets eine auf den ersten Blick erstaunlich wirkende Bereitschaft, sich »notfalls« auch aktiv der Politik der Regierenden zu widersetzen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Regierenden einem als »feindlich« wahrgenommenen politischen Lager angehören, dem seit der Enthauptung des Königs im Januar 1793 und der Trennung von Kirche und Staat im Dezember 1905 alle möglichen »Schandtaten« zugetraut werden. Ein solcher aktivistischer Konservativismus ist etwa in Deutschland eher unbekannt.

Die meiste Zeit bleibt diese Mobilisierungsbereitschaft konservativer Kreise im Latenzzustand. Wenn aber ein Thema, wie die als bedrohlich wahrgenommene Reform der staatlichen Finanzierung für die katholischen Privatschulen im Frühjahr 19841 oder aktuell die Homo-Ehe, als besonderer Stachel wahrgenommen wird, dann schlägt die Situation um. Dies gilt insbesondere, wenn die Straße dem rechten Protest überlassen bleibt, weil die Basis der Linksparteien und ein Gutteil der Gewerkschaften desorientiert, frustriert und perspektivlos vor sich hin starren.

Ausblick

Die GegnerInnen der Homo-Ehe meldeten sich auch im Laufe des Herbstes 2013 ungebrochen zu Wort, etwa mit den Störaktionen und Pfiffen gegen einen Auftritt von Präsident François Hollande auf den Pariser Champs-Elysées am 11. November, einem gesetzlichen Feiertag in Frankreich, der auf das Datum des Kriegsendes im November 1918 verweist. Es kam dabei zu insgesamt 73 vorübergehenden Festnahmen. Zwei Tage zuvor wurden drei bekannte Aktivisten der Bewegung gegen die Homo-Ehe erwischt, als sie auf der Pariser Ringautobahn eine Mautstelle für LKWs zerstörten. Diese sollte der Erhebung der zunächst zum 1. Januar 2014 geplanten und infolge eines aus diffusen Motiven gespeisten Protests inzwischen auf frühestens 2015 verschobenen Ökosteuer dienen. Dabei versuchten die GegnerInnen der Homo-Ehe, aktiv an den gegen die Maut-Einführung gerichteten, überwiegend steuerfeindlich-mittelständisch geprägten und ressentimentbehafteten („gegen Ökokram“) Protest anzudocken.

Einige Ausdrücke ihres Protests glitten zur selben Zeit in offenen Rassismus ab. Dies gilt insbesondere für mehrere Aktionen und »Empfänge« gegen Auftritte der Justizministerin Christiane Taubira, die bei der Ausarbeitung des Gesetzentwurfs zur Homo-Ehe und seiner Vorstellung im Parlament eine wichtige Rolle spielte und den Homophoben deswegen besonders verhasst ist. Die schwarze Karibikfranzösin wurde wiederholt explizit aufgrund ihrer Hautfarbe ins Visier genommen. Am 25. Oktober wurde Taubira im westfranzösischen Angers erstmals von GegnerInnen der Homo-Ehe in aller Öffentlichkeit mit Bananen »begrüßt«. Kinder, die offensichtlich von ihren Eltern gesteuert wurden, bezeichneten sie gleichzeitig als „Affenweibchen“. Hinter dieser Inszenierung wurde zunächst die extreme Rechte vermutet. Eine Studierendengruppe des Front National konterte den gegen sie gerichteten Verdacht, indem sie eine sehr aktive Lokalpolitikerin der UMP als Teilnehmerin der rassistischen Aktion outete. Ein Video, das die rechtsextremen Studenten der Tageszeitung »Le Figaro« zuspielten und das dort am 6. November publiziert wurde, ließ wenig Zweifel an der Rolle der fanatisiert auftretenden Konservativen.

Zu den Kommunalwahlen, die in ganz Frankreich am 23. und 30. März 2014 stattfinden, werden prominente Mitglieder der Bewegung gegen die Homo-Ehe auf Listen der Parteien der politischen Rechten – sowohl der UMP als auch der extremen Rechten sowie zwischen ihnen stehenden, rechtsbürgerlichen Kräften – kandidieren. Im südwestfranzösischen Rodez bildeten lokale Aktivisten der Bewegung mit dem örtlichen Front National eine gemeinsame Bündnisliste. Zur Europaparlamentswahl am 25. Mai 2014 will die rechtskatholische Politikerin und Ex-Ministerin Christine Boutin eine eigene Liste von Abtreibungs- und Homo-Ehen-GegnerInnen antreten lassen. Diese stellte sie im Oktober 2013 u.a. unter Mitwirkung des früheren führenden Front-National-Politikers Jean-Claude Martinez bei einer Pressekonferenz vor. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass diese Liste ein zu schmales politisches Segment anspricht, denn es wird auch auf der sonstigen Rechten an Konkurrenz mit ähnlichen thematischen Positionen nicht mangeln.

Die Demonstrationen rissen unterdessen nicht ab. Am 15. Dezember 2013 konnte die rechte Protestbewegung zwischen 6.000 (Polizeiangaben) und 30.000 (Angabe der Veranstaltenden) TeilnehmerInnen nach Versailles mobilisieren. Gleichzeitig demonstrierten zwischen 1.600 und 3.000 Personen im zentralfranzösischen Blois sowie mehrere Hundert in Montpellier. Offizielles Thema war die „Familienphobie der Regierung“, eine soeben durch die Gegner der Homo-Ehe erfundene Wortschöpfung, mit der der Vorwurf der Homophobie gekontert werden soll. Für den 2. Februar 2014 sind weitere Protestzüge in Paris geplant, zu denen landesweit mobilisiert wird.

Anmerkung

1) Die damaligen Millionenproteste fielen zeitlich mit dem Durchbruch des Front National als Wahlpartei mit Massenanhang zusammen.

Dr. Bernard Schmid lebt seit zwanzig Jahren in Paris, wo er als Jurist für eine Nichtregierungsorganisation zur Rassismus- und Diskriminierungsbekämpfung arbeitet. Er hat zahlreiche Bücher zur extremen Rechten geschrieben.

Menschenrechte bei Softwareexport

Menschenrechte bei Softwareexport

von Barbara Lochbihler

Immer häufiger wird bekannt, dass autoritäre Regime bei der Verfolgung oppositioneller Kräfte auf Erkenntnisse aus der Überwachung von Telefon- und Internetkommunikation setzen. Mit der Lieferung der dafür benötigten Technologien und Softwareprodukte steigern auch deutsche Firmen ihre Gewinnmargen. Auf politischer Ebene regt sich dagegen Widerstand.

Woher hatten sie die Informationen? Woher konnten sie wissen, was er seinen Freunden per Handy mitgeteilt hatte? Erst als die Vernehmungsbeamten Abdul Ghani al Khanjar die Abschriften seiner SMS-Mitteilungen zeigten, begann der Regimekritiker aus Bahrain zu verstehen: Die staatlichen Schnüffler hatten seine gesamte Mobilfunk-Kommunikation abgefangen und säuberlich aufgezeichnet. Als er sich dann in den Fängen der Sicherheitskräfte befand, nutzten seine Peiniger die Informationen bei der Folterung des 39-jährigen Lehrers. Sie schlugen mit Gummischläuchen auf ihn ein, und weil er sich weigerte, über die Nachrichten zu sprechen, prügelten sie immer weiter.

Wie die Folterer genau an seine SMS kamen, erfuhr al Khanjar erst später: Die Behörden hatten den Oppositionellen mit Hilfe eines »Monitoring Center« ausgespäht. Hinter diesem Begriff verbirgt sich ein Beobachtungszentrum, dessen Software der Siemens-Konzern in alle Welt verkaufte und das später vom Nachfolgeunternehmen Nokia Siemens gewartet wurde. Nach Informationen des US-Magazins »Bloomberg Market« soll die Betreuung der Anlage inzwischen die Trovicor GmbH übernommen haben. Demnach sorgt das in München ansässige Unternehmen nun also dafür, dass die Überwachung der Internet-, Handy- und Telefonkommunikation im autoritären Staat Bahrain reibungslos funktioniert. Die von den deutschen Experten gewarteten Programme zeichnen Unterhaltungen auf, orten Personen und installieren Spy-Software auf fremden Computern.

Nokia Siemens will sich nach eigenen Angaben aus dem fragwürdigen Geschäft zurückgezogen haben. Monitoring Center seien problematisch, informierte der Konzernmanager Barry French die Europaabgeordneten im Jahr 2011. „Hier besteht das Risiko, dass Menschenrechtsfragen auftauchen, mit denen wir uns nicht auseinandersetzen können“, erklärte er. Ob sein Unternehmen trotzdem in den Verkauf oder die Wartung dieser Technik verstrickt ist, lässt sich angesichts der undurchsichtigen Strukturen auf dem Markt schwer sagen. Jedenfalls war der deutsch-finnische Betrieb jahrelang am lukrativen Export der Spionagesysteme beteiligt. 2008 räumte der Konzern ein, relevante Bauteile für die Überwachung des iranischen Internet- und Telefonnetzes an das Regime in Teheran geliefert zu haben. Vorher soll Siemens die syrische Mobilfunkgesellschaft Syriatel mit Spyware versorgt haben.

Deutsche Spionagesoftware für autoritäre Regime

Außer Frage steht, dass zahlreiche deutsche Unternehmen weiterhin ihr Geld damit verdienen, autoritäre Regime mit Spionagesoftware zu versorgen. Mit Trojanern helfen sie, Computer auszuhorchen, oder sie stellen Technik zur Verfügung, die praktisch jede digitale Kommunikation abhören und durch Stimmerkennung zuordnen kann. So lieferte die Firma Gamma Deutschland die Software »Finisher« an ägyptische Sicherheitskräfte, als diese noch im Sold von Hosni Mubarak standen. Mithilfe der digitalen Technik wurden Oppositionelle identifiziert und verhaftet. Die Beamten hatten u.a. Gespräche des Internet-Telefondienstes Skype verfolgt und aufgrund der abgehörten Gespräche Aktivisten gefoltert. Gamma Deutschland hat nach Informationen des ARD-Magazins »Fakt« allein an diesem Exportgeschäft etwa 400.000 Euro verdient.

Spuren von »Finisher« wurde zudem auf Servern in Brunei, Turkmenistan, Äthiopien, Lettland, Estland, den Niederlanden, Australien, der Tschechischen Republik, Indonesien, der Mongolei, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten gefunden. Entweder die Regierungen dieser Länder nutzen die Technologie aus Obersendlich bei München selbst oder Geheimdienste eines anderen Staates tarnten auf diese Weise die Überwachung einer Zielperson. Das Unternehmen Utimaco Safeware AG („Lawful Interception & Monitoring Solutions“) soll IT-Produkte über Italien nach Syrien geliefert haben, die eine Echtzeitüberwachung und ein grafisches Mapping von Netzwerken möglich machen.

Auch Trovicor war in Syrien aktiv. Die Münchner Firma hat wahrscheinlich noch zu Beginn der gewalttätigen Auseinandersetzungen die einst von Siemens gelieferte Spy-Software im Syriatel-Netz gewartet. „Die Welt zu einem sicheren Ort machen“, wirbt die Firma auf ihrer Webseite und erklärt: „In der heutigen Welt erfordern Bedrohungen der persönlichen und nationalen Sicherheit schnelles Handeln.“ Für syrische Oppositionelle oder Aktivisten wie al Kanjhar müssen diese Sätze mehr als zynisch klingen. Zumal diese Exporte völlig legal vollzogen werden. Während jeder nach Saudi-Arabien verschickte Leopard-Kampfpanzer ausführliche Diskussionen hervorruft, verkaufen Firmen wie Trovicor, Gamma oder Utimaco Safeware ungestört ihr Know-how in alle Welt. Kein Gesetz zwingt sie dazu, diese tödlichen Geschäfte zu unterlassen. Still und leise können die Unternehmen ihre Spy-Software zur Verfügung stellen.

Gesetzliche Regelung fehlt

Genau hierin besteht das Problem. Der Handel mit Spionagesoftware und anderen digitalen Überwachungsanlagen unterliegt anderen gesetzlichen Regeln und Kontrollen als ein konventioneller internationaler Rüstungsdeal. Der Grund: Die Technologien gelten als so genannte Dual-use-Waren, also Güter, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke genutzt werden können. Überwachungs- und Zensursoftware ist folglich beim Bundesausfuhramt meistens nur melde-, nicht aber genehmigungspflichtig. Ist keine Genehmigung erforderlich, muss die Behörde auch nicht, wie das (wenngleich erst im Folgejahr) beim Export von Panzern oder Gewehren der Fall ist, den Bundestag und damit die Öffentlichkeit informieren. Die Bundesregierung unterstützt solche Ausfuhren sogar noch, indem sie Hermes-Kredite vergibt, und das Bundeskriminalamt kauft zu »Testzwecken« »Finisher«-Software von Gamma International, die zuvor in Ägypten erprobt wurde. Einzig in Staaten, die mit entsprechenden Sanktionen belegt sind, darf nicht exportiert werden. Es fällt schwer, diese Praxis mit den Äußerungen des Außenministers Guido Westerwelle zusammen zu bringen, der auf einer Internetkonferenz in Berlin im September 2012 erklärte: „Man darf diesen Regimes nicht die technischen Mittel geben, ihre Bevölkerung zu überwachen.“

Vor allem aber muss die Regierung von Angela Merkel einen anderen Widerspruch auflösen: In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage, die der Grünen-Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz in Zusammenarbeit mit mir 2013 gestellt hat, erklärt die Bundesregierung, in den letzten fünf Jahren seien keine Ausfuhren von Technologien zur Störung von Telekommunikationsdiensten oder zur Überwachung und Unterbrechung des Internets gemeldet worden. Angesichts der vielen Anhaltspunkte für die Existenz der Technologie lässt diese Aussage nur zwei Schlüsse zu: Entweder man hat mal wieder beide Augen zugedrückt oder die IT-Unternehmen haben ihre Produkte oder Dienstleistungen illegal an Syrien, Ägypten und andere Länder verkauft.

Die Gesetzgebungskompetenz im Dual-use-Bereich liegt bei der Europäischen Union, denn im Jahr 2000 trat eine EU-Verordnung für Güter mit doppelter Verwendung in Kraft. Betroffen waren zahlreiche Kategorien: von nuklearem Material bis zu Hochleistungscomputern und eben Produkte der Telekommunikation. Das Ziel war natürlich nicht, eine gute Kontrolle zu garantieren. Im Gegenteil: Man wollte für einen möglichst ungehinderten Handel sorgen. Entsprechend lasch waren die ersten Vorgaben. Zudem fallen Spy-Software und andere Überwachungstechnologien aus dieser Verordnung häufig heraus. Dies ist etwa der Fall, wenn die Produkte bei Polizei und Geheimdiensten zum Einsatz kommen, also nicht zur militärischen Verwendung bestimmt sind. Zudem gelten sie nur für Programme, die Verschlüsselungskomponenten enthalten. Dies ist aber regelmäßig nicht der Fall, da die Exporteure ihre Software bewusst so konstruieren, dass sie nicht unter die Bestimmung fällt. Erst 2008 befasste sich die EU-Kommission noch einmal mit Dual-use-Lieferungen und schlug eine Ausweitung der bislang nur für Länder wie Australien, Japan oder Kanada geltenden Regelung vor. Doch obwohl von nun an Regimes wie China, Russland und die Vereinigten Arabischen Emirate aufgenommen wurden, sah der Entwurf keine Menschenrechts- oder Demokratieklauseln vor.

Frieden 2.0: strikte Menschenrechtsbindung

Die überwiegende Mehrheit der Europaabgeordneten kritisierte deshalb die Vorlage und schloss sich einem von uns Grünen eingebrachten Vorschlag an, in dem wir den Export strikt an die Einhaltung von Menschenrechten binden wollten. Doch nicht zuletzt die massive Intervention des damaligen deutschen Wirtschaftsministers Rainer Brüderle sorgte dafür, dass sich in einer späteren, endgültigen Abstimmung des Parlaments ein wesentlich abgeschwächter Entwurf durchsetzte. Vorabkontrollen, wie sie in unserer Fassung vorgesehen waren, würden die deutsche Exportwirtschaft weiter schwächen und seien „für Exporteure und die Verwaltung mit erheblichen bürokratischen Belastungen verbunden“, monierte der FDP-Politiker. In der Folge einigten sich auch Kommission und Rat auf Bestimmungen, die kaum zur Kontrolle der gefährlichen Ausfuhren taugen. Die darin enthaltenen Menschenrechtsklauseln bleiben damit zahnlos. Im September 2011 nahm das Parlament den Vorschlag an. „Einmal mehr siegten so Handelsinteressen gegenüber demokratischer Solidarität und außenpolitischer Vorsicht“, resümierte später mein Grünen-Kollege Reinhard Bütikofer zu Recht.

Doch der Einsatz für eine effektive Exportkontrolle von Überwachungstechnologie geht weiter. Anfang des Jahres haben das Menschenrechtszentrum ECCHR, Reporter ohne Grenzen und andere Nichtregierungsorganisationen bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Beschwerde gegen Trovicor und Gamma International eingelegt. Das Ziel: Die Verträge mit Bahrain sollen geprüft und in alle künftigen Liefervereinbarungen dieser Art Menschenrechtsklauseln eingefügt werden. Mit ähnlichen Forderungen haben mein Grünen-Kollege von Notz und ich die Unterschriftenkampagne Frieden2.0 (frieden2punkt0.de) gestartet. Auf eine unternehmerische Gesellschaftsverantwortung auf freiwilliger Basis wollen wir uns nicht verlassen.

Wir müssen darauf drängen, dass die Dual-use-Verordnungen auf alle Überwachungstechnologien ausgeweitet werden und eine Genehmigungspflicht eingeführt wird. Vorabkontrollen sind unabdingbar. In regelmäßigen Berichten muss die EU-Kommission das Europäische Parlament sowie nationale Parlamente und die Öffentlichkeit über die Ausfuhren informieren. Nicht zuletzt müssen die Exportbedingungen verschärft werden. Wenn die Gefahr besteht, dass Empfänger die Technologie zur Zensur oder Kontrolle oppositioneller Bewegungen benutzen, darf nicht ausgeführt werden. Mindestens das sind wir Menschen schuldig, die wie Abdul Ghani al Khanjar in ihrer Heimat für Menschenrechte und Demokratie kämpfen.

Barbara Lochbihler ist Abgeordnete für die Grünen im Europäischen Parlament, seit Oktober 2011 Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses. 1992-1999 war sie Generalsekretärin der Women’s International League for Peace and Freedom in Genf und 1999-2009 Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International.

Einheit in Dualität?

Einheit in Dualität?

Crown-Mâori Beziehungen in Aotearoa Neuseeland

von Tanja Rother

Auf der Auckland Harbour Bridge, wo an allen anderen Tagen des Jahres zwei Neuseelandflaggen wehen, war an diesem »Waitangi Day«, dem neuseeländischen Nationalfeiertag, statt der zweiten Nationalflagge eine andere zu sehen: Neben der Neuseelandfahne mit dem »Union Jack« und dem Kreuz des Südens war die »tino rangatiratanga«, die Mâoriflagge, gehisst. Sind die Flaggen Ausdruck bikultureller Normalität in Neuseeland? Was sagen sie über Aotearoa1 Neuseeland und die Beziehungen von Staat und Mâori aus? Der folgende Beitrag soll einen Einblick in den historischen Kontext und die bis heute bestehende Problematik geben.

2010, als nach Jahren der Kontroversen die Mâoriflagge zum ersten Mal offiziell am »Waitangi Day« auf der Auckland Harbour Bridge gehisst wurde, war dies oberflächlich betrachtet der Verdienst der damaligen Regierungskoalition aus National Party und Mâori Party. Ein symbolischer Akt für eine Entwicklung, die noch keineswegs ein Ende gefunden hat.

Im Mittelpunkt der anhaltenden Auseinandersetzungen um die Verortung von Neuseeland und Aotearoa steht der »Treaty of Waitangi«, (Vertrag von Waitangi). »Waitangi«, wörtlich »Wasser der Klagen«, ist ein Ort in der Bay of Islands, einer Region nördlich von Auckland, die, nachdem James Cook Ende des 18. Jahrhunderts Neuseeland auf die Landkarte der westlichen Entdecker gesetzt hatte, Wal- und Robbenfängern, später auch Missionaren, erste Lande- und Siedlungsplätze bot. »Tangata whenua« – (die Menschen des Landes)2 – hießen die Neuankömmlinge zunächst willkommen, und es entwickelte sich ein reger Austausch von zumeist Werkzeug und Waffen gegen lokales Wissen und Produkte. Wenige Jahrzehnte später, ab 1830, erreichte jede Woche ein voll besetztes Schiff mit Siedlern neuseeländische Häfen; Spekulanten, vor allem aber die New Zealand Company hatten das lukrative Geschäft mit Land entdeckt. Es kam zu teilweise unter zweifelhaften Umständen abgeschlossenen Landtransaktionen, von deren Implikationen Käufer und »Verkäufer« sehr unterschiedliche Vorstellungen hatten.

Der »Treaty von Waitangi«

Angesichts der Bestrebungen der Crown,3 der britischen Krone, Neuseeland zu annektieren, und im Lichte der erwähnten Landgeschäfte, die außerhalb der Kontrolle der Krone getätigt wurden, bereitete Hobson, der erste von der britischen Krone eingesetzte Gouverneur, 1840 in Waitangi den gleichnamigen Vertrag vor. Er sollte die Beziehungen zu Mâori formalisieren und regulieren und damit die britische Kolonisation konsolidieren. Ob es an Hast oder anderem lag, jedenfalls sind die englische Version und die Mâoriübersetzung des Vertrages in mehreren Aspekten nicht kongruent. Vor allem in den ersten beiden des nur aus drei Artikeln bestehenden Vertrages finden sich signifikante Bedeutungsunterschiede. Mâori berufen sich vor allem auf Artikel 2 des Mâoritextes, den Artikel, der ihnen „rangatiratanga“ versprach, ein Begriff, der im Allgemeinen eine Form von Autonomie beschreibt, die zur Selbstbestimmung der eigenen Angelegenheiten befähigt. In der englischen Version ist dies mit dem „vollen und ungestörten Besitz an Land und anderen wertgeschätzten Gütern“ formuliert worden. Der neuseeländische Staat bezieht sich hauptsächlich auf den ersten Vertragsartikel, in dem Mâori „ohne Einschränkung alle Souveränitätsrechte“ – im Mâoritext allerdings mit „kawanatanga“ (Regierungsführung) übersetzt – der Queen abtreten.4 Man kann den Eindruck gewinnen, es handele sich um zwei unterschiedliche Verträge, die nie zusammengeführt wurden, also gelten beide, und ihre Interpretation und Verhandlung bestimmt die Mâori-Crown-Beziehungen bis heute maßgeblich.

Um unrechtmäßige Handelsabschlüsse und das spekulative Verhalten der New Zealand Company zu vermeiden, regelte der Vertrag, dass Mâori Land nur noch an die Regierung verkaufen durften. Der Vertrag von Waitangi besagte jedoch auch, dass die Mâoristämme uneingeschränkte Kontrolle über Land, Wälder, Fischgründe und andere »taonga« (Ressourcen), beibehalten sollten. Unter dem Druck von Siedlern begann die Kolonialregierung, diese Regelungen zu unterlaufen, und erlaubte Siedlern, sich auf Land niederzulassen, dessen Eigentumsverhältnisse nicht sicher geklärt waren.

Mâori begannen dagegen Widerstand zu leisten. Die brutale Niederschlagung dieses Widerstandes führte von 1845 bis 1872 zu den »Neuseelandkriegen«. Die Überlegenheit der Kolonialmacht mit mehr und mehr aus England kommenden Truppen ging einher mit einer zunehmenden Institutionalisierung der Kolonialisierung.

Der »Native Land Court« wurde eingerichtet als das primäre Instrument des »Zivilisierungsprojekts« der Kolonialregierung. Ziel dieses Gerichts war es, das europäische Landbesitzsystem im Sinne von absolutem Eigentum einzuführen und das diesbezügliche Gewohnheitsrecht der Mâori abzuschaffen. Im Gewohnheitsrecht der Mâori bildeten Land, Gewässer und Menschen eine Gesamtheit, und die Identität einer Stammesgruppe definierte sich in erster Linie über die Zugehörigkeit zu Land oder Gewässern. Zwischen Mensch und Umwelt bestand eine zweiseitige Beziehung, wie in diesem viel zitierten Aphorismus deutlich wird: „Te whenua ko te tangata, te tangata ko te Whenua: Te moana ko te tangata, te tangata ko te moana.“ (Das Land ist Mensch, Mensch ist das Land: Das Meer ist Mensch, Mensch ist das Meer.) Hierbei geht es nicht um eine romantische Vorstellung, sondern um den Ausdruck grundlegender sozialer Handlungsanweisungen, auch wenn diese ohne Zweifel häufig gebrochen wurden. Sinnsprüche wie dieser wurden mit der oralen Kultur weitergegeben und haben seit Neuseelands radikaler Zuwendung zum Neoliberalismus erneut an Bedeutung gewonnen.

Das Ringen um Anerkennung von »rangatiratanga«

Es ist wenig erstaunlich, dass neuseeländische Richter den Vertrag von Waitangi 1877 „als schlicht bedeutungslos“ bezeichneten – ein Statement, das die neuseeländische Politik fast hundert Jahre lang bestimmen sollte. Während die meisten »Pâkehâ«, (britischen Siedler und ihre Nachkommen) Ende des 19. Jahrhunderts keine Vorstellung von der Existenz des Vertrages von Waitangi hatten, blieb dieser bei den sich zunehmend organisierenden Mâori im Bewusstsein. Zwischen 1882 und 1924 reisten beispielsweise vier Mâoriabordnungen nach England, um die britische Monarchin um die Einhaltung der im Treaty festgeschriebenen Rechte zu bitten. Es wurde hier und später deutlich, dass sich das Verhältnis Mâori-Crown vor allem über das Ringen um Anerkennung von »rangatiratanga« definiert.5

Mâori waren Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer Minderheit geworden, und weiße Politiker und Wissenschaftler gingen davon, dass ihr Aussterben nur eine Frage der Zeit war. Die Mâoribevölkerung wuchs jedoch insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg wieder an. Durch eine rasche Urbanisierung veränderte sich die Mâorigesellschaft: 1966 lebten 62% der Mâoribevölkerung in den Städten, nur wenig später waren es 80%. Diese massive Migration in die Städte ging allerdings nicht, wie vom Staat erhofft und bis in die 1970er Jahre strategisch verfolgt, mit einer vollständigen Assimilierung einher.6 Während die Loslösung von den ländlichen Strukturen und die verstärkte Interaktion mit Pâkehâ sowie der offene Rassismus für viele den Verlust ihrer kulturellen Identität bedeutete, boten die Städte dennoch die Chance, neue soziale und politische Organisationsformen zu entwickeln.

In den späten 1960iger Jahren waren die Forderungen nach historischer Gerechtigkeit, gesetzlicher und sozialer Gleichberechtigung, kultureller Wiederbelebung insbesondere auch der Sprache nicht mehr zu überhören. Zentrales Thema dieser neuen Phase des Aktivismus war, den weiteren Verlust an Land zu verhindern. Der Anspruch gegenüber dem Staat, den Vertrag von Waitangi zu achten, vereinte die verschiedenen Strömungen der »Mâori-Renaissance«. Dabei war man sich einig, dass die gesellschaftlichen Umstände sich seit 1840 dramatisch verändert hatten – es ging radikalen wie konservativen Aktivisten deshalb um die Bestätigung und Anerkennung des Geistes, unter dem der Vertrag unterzeichnet worden war. In der Folge war zunehmend von den „Prinzipien des Vertrages“ die Rede. Die Proteste kulminierten 1975 in einem landesweiten Mâori-Marsch zum Parlament in Wellington, dem sich unter der Führung der Ältesten Whina Cooper 30.000 Menschen anschlossen. Der Protestmarsch und ähnliche Aktionen schufen erstmals eine breite Öffentlichkeit für den Vertrag von Waitangi als Basis der Crown-Mâori-Beziehungen.

Das »Waitangi Tribunal«

In diesem sich verändernden politischen Klima wurde 1975 das »Waitangi Tribunal« als eine permanente Untersuchungskommission eingerichtet. Als ab 1985 auch retrospektive Klagen zugelassen wurden, entwickelte sich das Tribunal zum wichtigsten Forum Neuseelands, in dem Mâori historische und zeitgenössische Verletzungen des »Treaty of Waitangi« durch die Crown einklagen können. Das Tribunal setzt sich aus sieben ernannten Mitgliedern zusammen, von denen vier Mâori sein müssen.

Bei den Anhörungen, die oft an den für die Kläger relevanten Orten stattfinden, sind Crown und Klägerseite mit Anwälten und Fachwissenschaftlern vertreten. Die häufig mehrere Tage umfassenden Anhörungen geben den Klägern die Gelegenheit zur ausführlichen Darstellung der Ereignisse. Es handelt sich um detailreiche Verhandlungen lokaler Geschichte; zunehmend geht es in jüngster Zeit auch um die Auslegung des Vertrages in Bezug auf aktuelle politische Fragen. Anders als bei den südafrikanischen Versöhnungskommissionen bleibt die Öffentlichkeit jedoch weitgehend fern. Das populäre Wissen um diesen Versöhnungsprozess beschränkt sich so häufig auf die überwiegend materiellen Kompensationspakete. Durch das erste so genannte »Treaty Settlement« (1991) erhielt zum Beispiel Ngâi Tahu, der Mâoristamm der Südinsel, 170 Mio. neuseeländische Dollar Entschädigung sowie Eigentum und Kontrolle über den in ihrem Territorium vorkommenden »Pounamu« (Jade) zurück und bekam außerdem eine Rolle im Management von Naturschutzgebieten zugebilligt. Ngâi Tahu hat sich seitdem zu einem global agierenden kapitalistischen Wirtschaftsunternehmen entwickelt. Vor allem für die Stammesältesten ist aber die offizielle Entschuldigung seitens der Crown für das von ihr beigefügte Unrecht, die Bestandteil jedes Settlement-Pakets ist, von hoher symbolischer Bedeutung.

Der »Treaty Settlement«-Prozess soll nach der Vorstellung der jetzigen Regierung im kommenden Jahr abgeschlossen werden, was allerdings allein angesichts der Komplexität der noch ausstehenden Verhandlungen fraglich erscheint. Kritiker sehen den Vertrag von Waitangi noch lange nicht erfüllt. Vielfach wird darauf hingewiesen, dass die Reparationen nicht ausreichen, um die Wunden der Vergangenheit zu heilen und Mâori und Nicht-Mâori zu versöhnen – aus dem »Treaty Settlement«-Prozess ist noch lange keine »Treaty-Partnerschaft« erwachsen.

Der folgende Kommentar des Rechtsanwalts und Mâoriintellektuellen Moana Jackson illustriert dies sehr deutlich: „Jede Vereinbarung, in der »rangatiratanga« mit Finanzrendite gleichgesetzt wird oder die als Wertebasis den Glauben toleriert, dass Profit das gleiche ist wie Entschädigung für Kolonisierung, wird nicht umfassend und endgültig sein – und sie wird betrüblicherweise zu Spaltung und Unzufriedenheit führen.“ 7

Während Regierungskreise nach den teilweise jahrzehntelangen Verhandlungsprozessen ihre praktische Arbeit mit den Mâoristämmen eher als abgeschlossen ansehen, bedeutet der Abschluss eines »Treaty Settlement« für Mâori oft gerade erst den Beginn einer neuen Beziehung mit der Crown. 1989 wurden aus der Arbeit des »Waitangi Tribunal« und anderen Gerichten sowie aus Regierungsdokumenten und -prozessen fünf Prinzipien abgeleitet. Sie sollen die Beziehungen zwischen Mâori und Crown zeitlos anleiten. Dazu gehört das Prinzip einer angemessener Kooperation und »rangatiratanga« (Selbstbestimmung) als Grundsatz der Beziehungen. Die praktischen Bedeutungen dieser Prinzipien bleiben allerdings Gegenstand der politischen und gesellschaftlichen Debatte.

Modellfall Te Urewera

An den in diesem Jahr zum Abschluss gekommenen Treaty-Verhandlungen mit dem Stamm der Tuhoe lässt sich die Möglichkeit der Umsetzung der Prinzipien illustrieren. Zentraler Streitpunkt der jahrzehntelangen und mehrmals aufgegebenen Verhandlungen zwischen Tuhoe und Crown waren die Eigentumsrechte an Te Urewera, einem großen Waldgebiet und angestammten Territorium der Tuhoe. Jahrelang kam keine Bewegung in die Verhandlungen, da die Regierung den Nationalpark, der unter Kontrolle der Umweltbehörde steht, unter keinen Umständen aufgeben und Tuhoe nicht von ihrer Forderung nach Ausübung von »rangatiratanga«, ihrer Eigentumsrechte an dem Park, abweichen wollten. Mit einer radikalen Wendung gelang nun der Durchbruch: Te Urewera wurde zu einem eigenen Rechtssubjekt erklärt. Das Waldgebiet gehört demnach niemanden, nur sich selbst. Da der Wald jedoch nicht für sich selbst sprechen kann, wird ein gemeinsames Management-Gremium bestehend aus Tuhoe- und Regierungsvertretern eingerichtet. In Aussicht gestellt wurde, dass sich die Regierungsvertreter sukzessive aus dem Management zurückziehen und Te Urewera zunehmend ganz den Tuhoe unterstellt wird.

Dieses Beispiel soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die gesamtgesellschaftliche Debatte um die Grundsätze dieser Partnerschaft häufig polarisiert fortbesteht. Die multikulturelle Realität Neuseelands mit hohen Einwanderungszahlen aus Asien und dem Pazifik, die Abwanderung vieler, vor allem Mâori, nach Australien, Kontroversen, wie diejenige um die Eigentumsfrage an Wasser aufgrund der Teilprivatisierung von Wasserkraftwerken, stellen Anforderungen nicht nur an die interkulturellen Beziehungen, sondern auch an politisch-rechtliche Prozesse. Indigene Rechtsvorstellungen sind hierbei mit zu bedenken. Wie schwer sich Neuseeland trotz seiner semioffiziellen Bikulturalität mit diesen Fragen tut, lässt sich auch daran ablesen, dass es erst seit 2010 die ILO-Konvention 169 (1989) über die Rechte indigener Völker der Vereinten Nationen unterstützt.

Die Frage um die Bedeutung der beiden nebeneinander wehenden Flaggen auf der Auckland Harbour Bridge bleibt also weiter offen.

Literatur

Hill, Richard S.und Boenisch-Brednich, Brigitte (2009): Fitting Aotearoa into New Zealand. Politico-Cultural Change in a Modern Bicultural Nation. In: M.S. Berg, Bernd (Hrsg.): Historical Justice in International Perspective. How societies are trying to right the wrongs of the past. Publications of the German Historical Institute edition. Washington, D.C.: Cambridge University Press, S.239-264..

International Labor Organization (ILO): Konvention Nr. 169 (1989) über die Rechte indigener Völker.

Manatû Taonga Ministry for Culture and Heritage: Te Ara – The Encyclopedia of New Zealand; teara.govt.nz/en.

Waitangi Tribunal; waitangi-tribunal.govt.nz.

Anmerkungen

1) »Aotearoa« ist in der Sprache der indigenen Bevölkerung der Mâori die Bezeichnung der beiden Inseln im Südpazifik und bedeutet »Land der langen weißen Wolke«.

2) Der Begriff »Mâori« setzte sich erst später als umfassende Bezeichnung der indigenen Bevölkerung durch. Mâori sind bis heute in Stammesgruppen organisiert.

3) Die »Crown« ist eine in Neuseeland bis heute gängige Bezeichnung für den Staat bzw. die Regierung. Neuseeland ist zwar seit 1852 faktisch unabhängig vom Vereinigten Königreich, ist allerdings bis heute keine eigenständige Republik und weiterhin Teil des Commonwealth.

4) Hill, Richard S. (2009): Maori and the State. Crown-Maori relations in New Zealand/Aotearoa 1950-2000.Wellington: Victoria University Press, S. xi.

5) Siehe Hill, op.cit., S.15.

6) Siehe Hill, op.cit., S.1.

7) Moana Jackson zit. in Bargh, Maria (Hrsg.) (2007): Resistance. An indigenous response to neoliberalism. Wellington: Huia, S.33.

Tanja Rother, Ethnologin, Trainerin mit Schwerpunkt interkulturelle Beziehungen, forscht seit Juli 2012 im Rahmen ihres PhD-Projekts an der Victoria University of Wellington zur Zusammenarbeit von Mâorigruppen und Lokalverwaltungen sowie der weiteren Öffentlichkeit im Management von Gewässern. Das Projekt beschäftigt sich mit der Bedeutung und Verhandlung von Eigentumsbegriffen in Bezug auf natürliche Gemeingüter aus rechtspluralistischer Perspektive.

Kinderrechtskonvention

Kinderrechtskonvention

von Jürgen Nieth

1989 wurde das »Übereinkommen über die Rechte des Kindes« (kurz als »UN-Kinderrechtskonvention« bezeichnet) verabschiedet. Von Deutschland wurde sie 1990 unterzeichnet und 1992 ratifiziert. Die Kinderrechtskonvention hat 54 Artikel und gilt nach Artikel 1 für jeden Menschen, „der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat“. Familienministerin Ursula von der Leyen macht in der von ihrem Ministerium herausgegebenen über 90 Seiten starken Broschüre darauf aufmerksam, dass „an vielen Stellen der Welt“ Kinderrechte missachtet werden. „Man denke an die Entwicklungsländer, in denen Kinder hungern. Oder an die Kindersoldaten.“ Sie verweist darauf, „Kinderarbeit gehört in manchen Ländern ebenfalls zum täglichen Bild.“ Selbstkritisch merkt sie an, „auch in Deutschland leiden manche Kinder unter Armut und Gewalt“. Wir drucken nachfolgend einige Artikel der »UN-Kinderrechtskonvention« auszugsweise ab und bitten Sie, den Blick nicht nur auf die Entwicklungsländer zu richten, sondern zuerst einmal auf unser Land und die EU. Wie ist das mit den Kindern, die unter den Bedingungen von Harz IV bei uns aufwachsen, welchen Anteil hat unsere Industrie an der Kinderarbeit in den Billiglohnländern Asiens (Artikel 32) oder wie verträgt sich der deutsche Einsatz für die »Festung Europa« mit Artikel 22 »Flüchtlingskinder«. Sollten die Drohnen-Pläne des Verteidigungsministers verwirklicht werden, dürften den toten Kindern von Kundus weitere »Kollateralschäden« folgen (Artikel 38). Ein Blick in den Süden der EU verdeutlicht die große Kluft zwischen Anspruch (Kinderrechtskonvention) und Wirklichkeit auch in Europa. 5,6 Millionen junge Menschen unter 25 Jahren waren Ende April in der EU arbeitslos. Das waren 59,1% der jungen Menschen in Griechenland, 55,9% in Spanien, 38,4% in Italien und 38,3% in Portugal (Guardian, 07.05.13). Viele dieser jungen Arbeitslosen haben auch keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung mehr. Und keiner sage, das hat aber doch nichts mit uns zu tun. Für die Sparpolitik, die diesen jungen Menschen die Perspektive nimmt, war und ist die Bundesregierung federführend verantwortlich.

Artikel 19: Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung

Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut.

Artikel 22: Flüchtlingskinder

Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, dass ein Kind, das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt oder nach Maßgabe der anzuwendenden Regeln und Verfahren des Völkerrechts oder des innerstaatlichen Rechts als Flüchtling angesehen wird, angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, die in diesem Übereinkommen oder in anderen internationalen Übereinkünften über Menschenrechte oder über humanitäre Fragen, denen die genannten Staaten als Vertragsparteien angehören, festgelegt sind, und zwar unabhängig davon, ob es sich in Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person befindet oder nicht.

Artikel 24: Gesundheit

Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit an sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit. Die Vertragsstaaten bemühen sich sicherzustellen, dass keinem Kind das Recht auf Zugang zu derartigen Gesundheitsdiensten vorenthalten wird.

Artikel 30: Minderheitenschutz

In Staaten, in denen es ethnische, religiöse oder sprachliche Minderheiten oder Ureinwohner gibt, darf einem Kind, das einer solchen Minderheit angehört oder Ureinwohner ist, nicht das Recht vorenthalten werden, in Gemeinschaft mit anderen Angehörigen seiner Gruppe seine eigene Kultur zu pflegen, sich zu seiner eigenen Religion zu bekennen und sie auszuüben oder seine eigene Sprache zu verwenden.

Artikel 32: Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung

Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes an, vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt und nicht zu einer Arbeit herangezogen zu werden, die Gefahren mit sich bringen, die Erziehung des Kindes behindern oder die Gesundheit des Kindes oder seine körperliche, geistige, seelische, sittliche oder soziale Entwicklung schädigen könnte.

Artikel 38: Schutz bei bewaffneten Konflikten; Einziehung zu den Streitkräften

(1) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die für sie verbindlichen Regeln des in bewaffneten Konflikten anwendbaren humanitären Völkerrechts, die für das Kind Bedeutung haben, zu beachten und für deren Beachtung zu sorgen.

(2) Die Vertragsstaaten treffen alle durchführbaren Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Personen, die das fünfzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen.

(3) Die Vertragsstaaten nehmen davon Abstand, Personen, die das fünfzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, zu ihren Streitkräften einzuziehen. Werden Personen zu den Streitkräften eingezogen, die zwar das fünfzehnte, nicht aber das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben, so bemühen sich die Vertragsstaaten, vorrangig die jeweils ältesten einzuziehen.

(4) Im Einklang mit ihren Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht, die Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten zu schützen, treffen die Vertragsstaaten alle durchführbaren Maßnahmen, um sicherzustellen, dass von einem bewaffneten Konflikt betroffene Kinder geschützt und betreut werden.

Zusammengestellt von Jürgen Nieth

Jugendliche und Homophobie

Jugendliche und Homophobie

Hassgewalt in Südafrika

von Rita Schäfer

Hassgewalt gegen Homosexuelle in Südafrika, die in (Gruppen-) Vergewaltigungen und der Ermordung von Lesben durch jugendliche Täter gipfelt, ist Ausdruck verbreiteter homophober Einstellungen, Besitz ergreifender Sexualitätskonzepte, martialischer Männlichkeit und vielschichtiger Gewaltstrukturen. Diese Gewaltmuster wurden vor und während der Apartheid etabliert; trotz Gesetzesreformen wurden sie bis heute nicht revidiert.

Südafrika wird von westeuropäischen und US-amerikanischen Friedens- und Konfliktforscher/-innen gern als Erfolgsmodell gepriesen. Das bezieht sich auf den Übergang vom repressiven Apartheidregime (1948-1994) zur Demokratie mit staatsbürgerlichen Rechten für alle Menschen unabhängig von ihrer Hautfarbe und Herkunft. Das gilt auch für die Wahrheits- und Versöhnungskommission, die politisch motivierte Gewaltverbrechen aus der Zeit zwischen 1960 und 1994 aufdecken sollte und als Vorbild für die Einrichtung ähnlicher Kommissionen nicht nur auf dem afrikanischen Kontinent galt.

Diese reduktionistische Idealisierung der Transformationsansätze kritisieren etliche südafrikanische Wissenschaftler/-innen, denn sie verstellt den Blick auf grundlegende und geschlechtsspezifische Gewaltmuster. So nehmen außen stehende Forschende (Gruppen-) Vergewaltigungen und die anschließende Ermordung von Lesben – zwischen 1998 und 2008 mindestens 33 Morde, 2012 erneut 15 Morde – kaum wahr bzw. kategorisieren sie als verstörende Einzelfälle pathologischer Täter.

Angesichts der Fokussierung auf »wichtigere« Themen wie Terrorismus und religiöse, ethnische oder politisch motivierte Gewalt herrscht von Seiten deutscher Friedens- und Konfliktforscher/-innen auch weitgehend Ignoranz gegenüber anderen Gewaltformen in Südafrika, wo jährlich zwischen 64.000 und 70.000 Sexualstraftaten polizeilich registriert werden; in den meisten Jahren war über die Hälfte der Opfer minderjährig.1 Über 20% der Bevölkerung sind HIV-positiv, in manchen verarmten und von Gewalt geprägten Provinzen beträgt die HIV-Rate junger Frauen und Mädchen 34-38%. Viele wurden gewaltsam infiziert, denn sogar bei Partnerschaften zwischen Jugendlichen sind die ersten sexuellen Kontakte der Mädchen häufig unfreiwillig. Auch die dokumentierten 15.000 Morde pro Jahr, deren Opfer oft junge Männer in Bandenkriegen sind, über 200.000 schwere Körperverletzungen und zahlreiche tödliche xenophobe Gewaltübergriffe auf Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Ländern rütteln nicht am hiesigen Konstrukt des Erfolgsmodells Südafrika.2

Mangelnde Aufarbeitung geschlechtsspezifischer Gewalt

Um so wichtiger ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Hintergründen der homophoben Gewalt. In ihr bündeln sich wie in einem Brennglas etablierte Gewaltstrukturen, die während der öffentlichen Anhörungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission ausgeblendet wurden, zumal diese medial und religiös inszenierten Gegenüberstellungen individueller Opfer und Täter vorrangig auf das »nation building« ausgerichtet waren. Der Systemcharakter der Apartheid sowie die Auswirkungen der Rassentrennungs- und Homelandpolitik, der Landenteignungen und Zwangsumsiedlungen von mindestens 3,5 Millionen Menschen, der Passgesetze, der umfassenden Reglementierungen des Arbeitens und Wohnens sowie des Ehe- und Familienlebens fielen nicht unter das Mandat der Kommission (Marx 2007).

Dennoch hatten namhafte Politologinnen und Juristinnen wie Sheila Meintjes und Beth Goldblatt bereits während der Planung der öffentlichen Anhörungen gefordert, zumindest die geschlechtsspezifischen Strukturen der politisch motivierten Gewalt aufzuarbeiten, um die Fortsetzung der Gewaltmuster zu verhindern (Meintjes 2009). Der anglikanische Erzbischof Desmond Tutu als Kommissionsvorsitzender beschränkte sich jedoch darauf, in drei Großstädten je eine Anhörung für Frauen anzuberaumen. Während dieser Veranstaltungen fielen einzelne Kommissionsmitglieder dadurch negativ auf, dass sie mit Suggestivfragen verbreitete Geschlechterstereotypen bestätigten. Gleichzeitig ignorierten sie politisch motivierte sexualisierte Gewalt an Männern und Jungen sowie homophobe Gewalt. Dabei hatten Folterungen an den Genitalien verhafteter politischer Aktivisten/-innen sowie die Androhung von Vergewaltigungen zu den verbreiteten Ermittlungsmethoden der zumeist sexistischen und rassistischen Polizisten gezählt (Schäfer 2008).

Zwischen 1960 und 1990 wurden 100.000 Menschen inhaftiert – viele ohne Anklage; mindestens 20.000 wurden gefoltert. Zahllose Opfer wagten es nicht, nach ihrer Entlassung über die erlittenen Qualen zu sprechen. Sie fürchteten, als Verräter/-innen verdächtigt zu werden, die nur überlebt hatten, weil sie Nachbarn oder Verwandte denunziert hätten. Sogar bei Inhaftierungen aufgrund von Passvergehen, denen etwa 500.000 Menschen pro Jahr zum Opfer fielen, und der Inhaftierung mehrerer tausend Kinder und Jugendlicher kam sexuelle Folter zum Einsatz. Auch im Zivilrecht waren Körperstrafen an jungen schwarzen Männern verbreitet. In manchen Jahren wurden bis zu 40.000 Auspeitschungen als Strafe etwa für Ungehorsam gegenüber Weißen angeordnet. Diese oftmals sadistische und sexistische Strafmethode ging auf die zwischen 1658 und 1834 praktizierte Sklaverei und darauf aufbauende koloniale Gesetze zurück. Unter anderen Vorzeichen bestätigte sie gewaltsam die Hierarchien zwischen älteren weißen und jungen schwarzen Männern (Marx 2012). Ergänzt wurden diese durch Besitz ergreifendes Sexualverhalten weißer Farmer gegenüber jungen schwarzen Arbeiterinnen, was wiederum deren Ehemänner demütigte.

Das Kolonial- und Apartheidsystem basierte auf Gewalt. Sie war im weit verzweigten staatlichen Kontrollapparat institutionalisiert, was die Militarisierung der gesamten Gesellschaft zur Folge hatte. So kooperierte die Sicherheitspolizei mit kriminellen Banden: Seit dem Schüleraufstand 1976 in Soweto gegen die rassistische Bildungspolitik, als die Polizei mindestens 575 Kinder und Jugendliche erschoss, belästigten Jugendbanden politisch aktive Schüler sowie deren Schwestern und Freundinnen (Marx 2002). Sie erhielten von der Polizei Unterstützung, um den Kampfgeist der jungen Regimegegner/-innen durch sexualisierte Gewalt als Einschüchterungsstrategie zu brechen.

Geschlechtsspezifische Gewalt diente auch in der weißen Gesellschaft als Machtmittel, beispielsweise in Form ehelicher und familiärer Gewalt, sowie zur Demütigung junger Männer, etwa bei Initiationsriten an privaten Jungenschulen, die zahlreiche Weiße besuchten. Im Militärdienst, der für junge Weiße verpflichtend war, sorgte sexualisierte Gewalt an Rekruten für den Erhalt institutionalisierter Hierarchien zwischen Männern. Viele nahmen die traumatischen Übergriffe, bei denen sie wie untergebene Frauen behandelt wurden, als homosexuelle Gewalt wahr und reagierten mit verstärkter Homophobie. Gleichzeitig galten homosexuelle Rekruten als Bedrohung der martialischen Männlichkeit im Militär und wurden mit Elektroschocks und Hormonen traktiert, um ihre sexuelle Orientierung zu ändern. Einige wurden unfreiwilligen Geschlechtsumwandlungen unterzogen.

Während der Apartheid war Homosexualität auf Druck christlicher Missionare offiziell verboten. Dennoch duldeten Betreiber von Gold- und Kohleminen sexuelle Kontakte zwischen schwarzen Männern, so genannte »mine marriages«, um die Arbeiter von Prostituierten fernzuhalten, die als Verbreiterinnen von Syphilis galten. Junge Wanderarbeiter mussten sich in die Rolle unterwürfiger Frauen begeben, für ältere Arbeiter kochen, waschen und sexuell zu Diensten sein. Dafür wurden sie von den Älteren vor der Auspeitschung durch weiße Vorarbeiter geschützt und erhielten etwas Geld. Das konnten sie für die Brautpreiszahlung sparen, die bei der späteren Eheschließung vom jeweiligen Brautvater verlangt wurde (Range/Schäfer 2013). Folglich mussten junge Minenarbeiter zwei gegensätzliche sexuelle Sozialisationen bewältigen: eine öffentlich tabuisierte, unfreiwillige als »junge Ehefrau« in einer »mine marriage«und eine kulturell geforderte als Bräutigam in einer heterosexuellen Ehe.

Innerhalb des politischen Widerstands, wie im African National Congress (ANC), wurden diese Strukturen nicht diskutiert, vielmehr herrschten homophobe Einstellungen vor. Gleichzeitig grenzten sich weiße Homosexuelle von der Problemsituation schwarzer Menschen ab, obwohl sie ungeachtet der Strafgesetze teilweise junge schwarze Partner hatten. Erst die internationale Kritik an der mangelnden Solidarität weißer Homosexueller mit den mehrfach diskriminierten und oftmals inhaftierten schwarzen Schwulen setzte Diskussionen in Gang. Regimekritische Homosexuelle, die ins Exil geflohen waren, verlangten vom ANC, die Rechte von Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität in die neue südafrikanische Verfassung aufzunehmen. Auf juristischem Wege erreichten sie 2006 die Legalisierung homosexueller Partnerschaften und Ehen. Diesen rechtlichen Veränderungen folgten jedoch keine politische Reformen oder staatliche Informationsprogramme mit dem Ziel eines Einstellungswandels in der Gesellschaft, etwa an Schulen. Vielmehr wird hier bis heute entgegen der auf Geschlechtergleichheit abzielenden Bildungsvorgaben Sexismus erlernt und verbreitet, der den Nährboden für geschlechtsspezifische Gewalt bietet.

Opfer und Täter

Am 4.2.2006 wurden Zoliswa Nkonyana, am 7.7.2007 Sizakele Sigasa und Salome Masooa und am 28.4.2008 Eudy Simelane, Mittelfeldspielerin in der südafrikanischen Frauenfußballnationalmannschaft Bafana-Bafana, ermordet. Einige jugendliche Täter wurden nach jahrlangen Prozessen zu vergleichsweise milden Strafen verurteilt, andere entkamen mit Hilfe des korrupten Gefängnispersonals aus der Untersuchungshaft. Nur im Mordfall von Zoliswa Nkonyana ging der Richter von homophober Hassgewalt als Tatmotiv aus. Der Lobbyarbeit von Homosexuellenorganisationen war es zu verdanken, dass den Beschuldigten überhaupt der Prozess gemacht wurde. Mitarbeiterinnen dieser Organisationen schätzen, dass landesweit jährlich etwa 500 junge lesbische Frauen und Mädchen vergewaltigt werden. Dennoch sehen Politiker/-innen weiterhin keinen Handlungsbedarf und schrecken nicht vor homophoben Äußerungen zurück.

Diese politischen Signale bewerten etliche Täter als Bestätigung; wie ihre Opfer wohnen sie in verarmten, infrastrukturell desaströsen und von kriminellen Banden beherrschten Townships. Zur Legitimation ihrer häufig kollektiven Gewaltakte geben diese vor, im Sinne patriarchaler Geschlechterhierarchien Ordnung wiederherzustellen, Lesben von ihrer Homosexualität zu »heilen« und sie davon abzuhalten, andere junge Frauen und Mädchen »zu verführen«. Dabei beziehen sie sich auf verbreitete Besitz ergreifende Sexualitäts- und Maskulinitätsvorstellungen. Gleichzeitig verurteilen sie die staatliche Frauenförderpolitik als Verrat und fühlen sich mit hoher Arbeitslosigkeit, Drogenproblemen und familiärer Gewalt perspektivlos allein gelassen.

Die Polizei registriert bei Vergewaltigungsfällen nicht die Geschlechtsidentität/-orientierung, offizielle Statistiken dokumentieren also keine homophobe Hassgewalt. Viele Polizisten unterstellen Vergewaltigten, für die Übergriffe selbst verantwortlich zu sein. Zudem beschuldigen die Staatsdiener deren Familien, bei der Erziehung versagt zu haben. Vielerorts werden trotz anders lautender Vorschriften Ermittlungen mit der Begründung abgelehnt, dass man wichtigere Fälle wie Raubmord aufzuklären habe. Diese Straflosigkeit leistet weiteren Gewaltakten Vorschub (HRW 2011; Anguita 2012).

Eigentlich sollten die neue Verfassung von 1996 und umfassende Gesetzesreformen zum Schutz von Frauen-, Kinder- und Homosexuellenrechten einen Neubeginn markieren. Darauf bauen politische Leitlinien zur Geschlechtergleichheit auf. Allerdings wurde bei diesen Reformen die Problemlage junger Männer ignoriert, die zuvor das rassistische Apartheidregime bekämpft hatten und in einer auf martialischer Männlichkeit basierenden Gewaltkultur sozialisiert worden waren. Bildung und berufliche Perspektiven wurden ihnen vorenthalten, und viele mussten unter gewalttätigen Vätern leiden – Probleme, die aus der repressiven Apartheidpolitik resultierten. Die aus dem Anti-Apartheidkampf hervorgegangene ANC-Regierung setzte ab 1999 auf eine einseitige neo-liberale Wirtschaftspolitik und vernachlässigte den Bildungs- und Gesundheitssektor sowie den Infrastrukturausbau und die Jugendförderung.

Seit der politischen Wende 1994 wachsen sozial marginalisierte Jugendliche damit auf, dass Lehrer und andere Staatsdiener homophobe Einstellungen verbreiten und dass sexuelle Gewalt ein Machtmittel ist, um den eigenen Status zu erhöhen. Tagtäglich erleben Schüler, dass Lehrer, die häufig HIV-positiv sind, Schülerinnen mit Drohungen und Geld zu sexuellen Kontakten zwingen. Dieses erpresserische Sexualverhalten, das zumeist nicht strafrechtlich und nur in Ausnahmefällen disziplinarisch verfolgt wird, hat Vorbildfunktion: Es schlägt sich in sexualisierter Gewalt durch Schüler nieder. Währenddessen sehen Jugendliche, die oft wegen fehlender finanzieller Mittel keine Sekundarschule besuchen, wie kriminelle Banden sich mit Waffengewalt Geld, Macht und die Kontrolle über Mädchen verschaffen. Selbst Jungen, die eine staatliche Sekundarschule besuchen, müssen damit rechnen, wegen ihrer miserablen Ausbildung keinen Arbeitsplatz zu finden. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt etwa 50%, 2012 bestanden 25% aller Sekundarschüler/-innen nicht das Abschlussexamen.

Um so wichtiger ist die Informationsarbeit von Homosexuellenorganisationen an Schulen, Jugendzentren und über Radiosender, die Jugendliche erreichen. Im Idealfall können sie zur Überwindung homophober Meinungen und Gewalt sowie zur Toleranz gegenüber Homosexuellen beitragen.

Literatur:

Anguita, Luis Abolafia (2012): Tackling corrective rape in South Africa: The engagement between the LGBT CSOs and the NHRIs (CGE and SAHRC) and its role. The International Journal of Human Rights, 16:3, S.489-516.

Human Rights Watch (2011): »We’ll show you you’re a woman«. Violence and discrimination against black lesbians and transgender men in South Africa. New York: Human Rights Watch Publications.

Marx, Christoph (Hrsg.) (2003): Jugend und Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika. Münster: Lit-Verlag, Periplus – Jahrbuch für außereuropäische Geschichte, Band 12.

Marx, Christoph (Hrsg.) (2007): Bilder nach dem Sturm. Wahrheitskommissionen und historische Identitätsstiftung zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Münster: LIT Verlag.

Marx, Christoph (2012): Südafrika – Geschichte und Gegenwart. Stuttgart: Kohlhammer Verlag.

Meintjes, Sheila (2009): »Gendered truth?« Legacies of the South African Truth and Reconciliation Commission. African Journal on Conflict Resolution, vol. 9, no. 2, S.101-112.

Range, Eva und Schäfer, Rita (2013): Wie mit Homophobie Politik gemacht wird. Menschenrechte und Verfolgung von LSBTI-Aktivist_innen in Afrika. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Schäfer, Rita (2008): Im Schatten der Apartheid. Münster: Lit-Verlag.

Anmerkungen

1) David Smith: South Africa – Teenage lesbian is latest victim of »corrective rape« in South Africa. The Guardian, 9 May 2011.

2) South African Police Service – Crime Research and Statistics: Total sexual offences in RSA for April to March 2004/2005 to 2011/2012. www.saps.gov.za.

Dr. Rita Schäfer ist freiberufliche Wissenschaftlerin und Autorin des Buches »Frauen und Kriege in Afrika« (2008); frauen-und-kriege-afrika.de.