Jugend und Veränderung

Jugend und Veränderung

von Fabian Virchow

Erst die Aufklärung als besondere Epoche westlicher Philosophie schuf »Jugend« als eigene Wirklichkeit und besondere Lebensphase. Lange hatte dann zunächst, wer von »der Jugend« sprach, vor allem junge Männer der Mittel- und Oberschicht im Blick. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass »Jugend« ein historisch gewachsener Begriff ist. Dieser ist angesichts seiner regelmäßigen Instrumentalisierung durch politische Bewegungen nicht nur hinsichtlich seiner je spezifischen ideologischen Funktion kritisch zu befragen, sondern auch nach den Spezifika seines historischen Auftretens entlang gesellschaftlicher Strukturmerkmale wie Klasse und Geschlecht zu untersuchen und zu würdigen. Allgemeine Etiketten, die »die Jugend« angemessen zu charakterisieren beanspruchen, sind fehl am Platze. Trotz Globalisierung: Die Lebenssituationen der Mehrheit der jungen Menschen im »globalen Süden« sind mit denen ihrer AltersgenossInnen im »globalen Norden« kaum zu vergleichen.

In vielen Gesellschaften ist die soziale Lage großer Teile der jungen Menschen nur als trostlos und skandalös zu bezeichnen. In einigen Ländern der Europäischen Union – Griechenland, Spanien, Kroatien – hat die saisonbereinigte Jugendarbeitslosenquote im Mai 2013 die 50%-Marke überschritten. Wirksame Handlungskonzepte, die dies in absehbarer Zeit ändern könnten, werden von den Regierungen bisher nicht formuliert, geschweige denn in Angriff genommen. In anderen Teilen der Welt müssen Kinder und Jugendliche unter lebensgefährlichen Bedingungen zum kargen Familieneinkommen beitragen – die mit Presslufthämmern in indischen Steinbrüchen arbeitenden Kinder oder die ohne die Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen nicht denkbaren Billigtextilien seien als lediglich zwei aktuelle Beispiele genannt, die damit einhergehen, dass die Möglichkeit einer qualifizierten Schulausbildung verwehrt bleibt.

Wo Jugendliche angesichts solcher Konstellationen in der Ausübung von Gewalt und in kriminellem Handeln subjektiven Sinn herstellen, werden sie regelmäßig als Problem des Kontroll- und Strafsystems adressiert. Tragischer Weise reproduzieren sie dabei häufig zugleich auch die Gewaltförmigkeit gesellschaftlicher Strukturen und der spezifischen Gewaltkultur der jeweiligen Gesellschaften. Ohne eine grundlegende Veränderung der gewaltproduzierenden Strukturen werden die Bemühungen um einen Abbau gewaltförmigen Verhaltens aber weitgehend wirkungslos bleiben.

Jugendliche reagieren auf die Einschränkung ihrer Entwicklungs-und Entfaltungsmöglichkeiten, auf die Erfahrung von personeller und staatlicher Gewalt sehr unterschiedlich. Sie wenden sich beispielsweise Religionen, Heilslehren und gegenaufklärerischen Weltanschauungen zu, um Orientierung und Handlungssicherheit zu finden, aber auch um Teil eines sozialen Zusammenhanges zu werden, der sie trägt und unterstützt.

Der Glaube an eine substantielle Veränderung der Situation ist gering, entsprechende Ankündigungen der etablierten politischen Klasse klingen für junge Menschen, von denen erwartet wird, dass sie ihre Lebensplanung zielstrebig verfolgen, hohl. So beteiligen sich auch viele Jugendliche und junge Menschen – etwa im so genannten Arabischen Frühling oder jüngst in der Türkei – an den sozialen und politischen Kämpfen, nicht selten unter Inkaufnahme persönlicher Risiken, die sich von denen der Mehrheit ihrer AltersgenossInnen in den so genannten etablierten Demokratien des Westens häufig beträchtlich unterscheiden.

Freilich existieren in den Artikulationen der Unzufriedenheit und des Protestes gegen die Regierenden – und gelegentlich auch gegen die wirklichen Machthaber – zahllose Widersprüche, die die Realisierbarkeit der Vielfalt der Lebensentwürfe der Beteiligten betreffen. Wo sich etwa Frauen gegen sexualisierte Gewalt und Übergriffe im Alltag, aber auch während öffentlicher Protestversammlungen wehren, geht es neben der unmittelbaren Zurückweisung des Angriffs und der damit verbundenen gesellschaftlichen Platzzuweisung auch um das Recht auf Selbstbestimmung und die angstarme Möglichkeit zu politischer Partizipation.

Auch die Entscheidung zur Migration bleibt für viele junge Menschen angesichts der ökonomischen Krise und fehlender Perspektive angemessener Einkommensgenerierung und der Realisierung des persönlichen Lebensentwurfes eine nachvollziehbare Option. Den Gesellschaften, die sie verlassen, gehen dabei häufig für gesellschaftliche Aufgaben qualifizierte Menschen verloren. Dass es sie in Länder zieht, die hinsichtlich der Kennziffern des durchschnittlichen Wohlstandsniveaus besser gestellt sind, ist ihnen nicht zu verdenken. Der politische Kampf und das Eintreten gegen autokratische Herrscher und konfessionsgebundene gewaltförmig ausgetragene Konflikte wird weitergehen – unter großer Teilnahme junger Menschen.

Fabian Virchow

(Kein) Grundrecht auf Asyl

(Kein) Grundrecht auf Asyl

von Günter Burkhardt

Bis vor zwanzig Jahren hieß es im deutschen Grundgesetz noch knapp und dennoch klar: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Das war 1949 die Antwort des Parlamentarischen Rates auf die Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Das Grundrecht auf Asyl entzog sich damit der Steuerbarkeit durch die Politik. Es war als subjektives Recht ausgestaltet – einklagbar vor Gericht.

Stimmungsmache in Wahlkämpfen

Als die Flüchtlingszahlen in den 1980ern und Anfang der 1990er Jahre infolge der Balkankriege deutlich anstiegen, wurde politisch Stimmung gemacht. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl sprach vom „drohenden Staatsnotstand“. Jahrelang trommelten CDU/CSU gegen das Asylrecht. Die zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende in Rostock wurde systematisch überbelegt. Neonazis und »brave Bürger« griffen Flüchtlinge und die nebenan wohnenden vietnamesischen Vertragsarbeiter an. Anstatt dem tagelang tobenden Mob entgegenzutreten, denunzierte der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters die Asylsuchenden: „Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts, der dazu geführt hat, dass wir einen unkontrollierten Zustrom in unser Land bekommen haben.“ Es folgten Brandanschläge. Die Opfer der rassistischen Attacken wurden nicht in Schutz genommen, sondern instrumentalisiert. Der Vorwurf des »Asylmissbrauchs« verschwieg, dass Krieg kein Asylgrund war (und ist), dass Menschen aus zerfallenden Staaten, die vor einer so genannten nichtstaatlichen Verfolgung fliehen, keine Chance auf Asyl hatten.

Der politische Sündenfall

Am 6. Dezember 1992 kapitulierte die SPD. Mit CDU/CSU und FDP verabredeten sie die Änderung des Grundrechts auf Asyl. PRO ASYL kommentierte damals: „Dies ist ein Sieg der Straße und eine Niederlage des Rechtsstaates.“

Die zentrale Einschränkung im »Asylkompromiss« lautete wie folgt: Wer über einen EU-Staat oder einen anderen sicheren Drittstaat einreist, muss seinen Asylantrag dort stellen. Eine praktische Regel, da Deutschland von sicheren Drittstaaten umgeben ist.

Die Drittstaatenregelung führte seither jedes Jahr zur tausendfachen Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze. Das Grundrecht auf Asyl ging für die Flüchtlinge verloren. Unter Bezugnahme auf den seit 1990 explizit (wenn auch noch viel zu schwach) im Ausländerrecht verankerten Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) konnte ein Teil von ihnen trotzdem einen befristeten Aufenthaltsstatus erhalten. Unsere hartnäckigen Kämpfe führten später sowohl zu einer Ausweitung dieses Schutzbereiches der GFK, insbesondere zur Anerkennung nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung, wie auch zu einer rechtlichen Gleichstellung der GFK-Flüchtlinge mit den wenigen überhaupt noch nach dem Grundgesetz anerkannten Flüchtlingen.

Der zentrale politische Sündenfall des Asylkompromisses war aber, dass Deutschland die Zuständigkeit für Asylsuchende an andere Staaten weiterreichte, ohne sich um die Garantie von Menschen- und Flüchtlingsrechten zu scheren. Das Ergebnis sind bis heute ungeschützte, unversorgte, obdachlose, inhaftierte oder misshandelte Schutzsuchende.

Das leere Versprechen eines europäischen Asylrechts

Der Deutsche Bundestag begründete die Änderung des Grundrechts auf Asyl vom 26. Mai 1993 auch mit der Notwendigkeit, das deutsche Asylrecht europafähig zu machen „Wir […] haben immer gesagt, dass mit der Abschaffung der Binnengrenzen in Europa eine Harmonisierung des Asylrechts zwingend notwendig wird“, so der damalige Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Wolfgang Schäuble. Ein gemeinsames europäisches Asylsystem ist jedoch immer noch in weiter Ferne. Es gilt die Regel, dass derjenige Staat für einen Flüchtling zuständig ist, in dem der Flüchtling in die Europäische Union eingereist ist. Der Mangel an Solidarität unter den EU-Staaten bedingt somit einen Mangel an Solidarität gegenüber Schutzsuchenden. Europa schützt seine Grenzen – nicht jedoch die Flüchtlinge.

Abschottung um jeden Preis

In ihrer Verzweiflung begeben sich Flüchtlinge in immer unsichereren und kleineren Booten auf immer längere und gefährlichere Fluchtwege über das Mittelmeer. Gleichzeitig wird die Abschottung perfektioniert. So soll das Überwachungssystem EUROSUR die Außengrenzen mit Drohnen und Satelliten überwachen, die europäische Grenzagentur FRONTEX wird stetig ausgebaut, und die Überwachung des Grenzbereichs wird nach Nordafrika und in die Türkei vorverlagert. Die Proteste gegen diese Politik sind bei uns inzwischen fast versiegt.

Günter Burkhardt ist Geschäftsführer von PRO ASYL.

Dokumentation: Gezielte Tötungen

Dokumentation: Gezielte Tötungen

von Philip Alston, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen

Als »Sonderberichterstatter über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen« hat Philip Alston dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eine »Studie über gezielte Tötungen« vorgelegt. In seiner Zusammenfassung hält Alston fest, dass sich in den letzten Jahren einige Staaten eine Politik zu eigen gemacht haben, die gezielte Tötungen auch im Hoheitsgebiet anderen Staaten zulässt. Diese Politik werde als notwendige und legitime Antwort auf »Terrorismus« und »asymmetrische Kriegsführung « gerechtfertigt, habe sich jedoch insofern als problematisch erwiesen, als sie die Grenzen des jeweils anzuwendenden Rechts verschwimmen lasse und ausdehne. Sein Bericht befasst sich mit den verschiedenen Formen dieser Politik gezielter Tötungen und mit den dadurch aufgeworfenen Rechtsfragen. Wir dokumentieren vor allem die Passagen des Berichts, die die Politik gezielter Tötung dokumentieren und die die neue Technik – den Einsatz von Drohnen – betreffen.

In […] den letzten Jahren haben einige Staaten den Einsatz gezielter Tötungen, auch im Hoheitsgebiet anderer Staaten, entweder offen oder implizit zur Politik gemacht. […]

All dies führte zu dem höchst problematischen Ergebnis, dass die Grenzen des jeweils anzuwendenden Rechts – des Rechts der Menschenrechte, des Kriegsvölkerrechts und der für die Anwendung von Gewalt zwischen Staaten geltenden Regeln – verwischt und ausgeweitet wurden. Selbst wenn eindeutig das Kriegsvölkerrecht anwendbar ist, besteht die Tendenz, den Kreis der Personen, die zulässige Ziele sind, und die zu erfüllenden Kriterien zu erweitern. Darüber hinaus haben die betreffenden Staaten es oft unterlassen, eine rechtliche Begründung für ihre Politik zu geben, die bestehenden Sicherungsvorkehrungen offenzulegen, die gewährleisten sollen, dass gezielte Tötungen tatsächlich rechtmäßig und zielgenau sind, oder Rechenschaftsmechanismen für Verstöße vorzusehen. Am beunruhigendsten ist jedoch die Tatsache, dass sie sich geweigert haben offenzulegen, wer getötet wurde, aus welchem Grund dies geschah und zu welchen Nebenfolgen es gekommen ist. Als Ergebnis dieser Entwicklungen wurden klare Rechtsnormen durch eine vage umschriebene »Lizenz zum Töten« ersetzt und ein enormes Rechenschaftsvakuum geschaffen.

Was das maßgebende Recht betrifft, so verstoßen viele dieser Praktiken gegen klare anwendbare Vorschriften. Wird zur Rechtfertigung einer bestimmten Auslegung einer völkerrechtlichen Norm das Gewohnheitsrecht geltend gemacht, sind die Politik und die Praxis der großen Mehrzahl der Staaten zugrunde zu legen, nicht die der Handvoll von Staaten, die geflissentlich bemüht waren, sich ihren eigenen, individuellen normativen Rahmen zu schaffen. Im Übrigen würde der eine oder andere dieser Staaten viele der Rechtfertigungsgründe für gezielte Tötungen, die er heute in bestimmten Zusammenhängen selbst ins Treffen führt, wohl kaum gelten lassen, wenn sie in Zukunft von einem anderen Staat angeführt würden. […]

Der Begriff der »gezielten Tötung«

Obwohl der Begriff der »gezielten Tötung« so häufig gebraucht wird, ist er im Völkerrecht nicht festgeschrieben und lässt sich auch nicht ohne weiteres einem bestimmten normativen Rahmen zuordnen. In den allgemeinen Sprachgebrauch hat der Begriff im Jahr 2000 Eingang gefunden, als Israel seine Politik »gezielter Tötungen« von mutmaßlichen Terroristen in den besetzten palästinensischen Gebieten öffentlich bekannt gab. Seither wurde er auch auf andere Situationen angewandt, beispielsweise

die Tötung des »Rebellenführers« Omar Ibn al Khattab in Tschetschenien im April 2002, angeblich durch russische Soldaten,

die Tötung des mutmaßlichen Al-Qaida-Führers Ali Qaed Senyan al-Harithi und fünf weiterer Männer im November 2002 in Jemen, Berichten zufolge durch einen »Hellfire«-Flugkörper einer vom CIA […] eingesetzten »Predator«-Drohne.

die zwischen 2005 und 2008 von sri-lankischen Regierungstruppen und von der Oppositionsgruppe LTTE durchgeführten Tötungen von Personen, die von der jeweils anderen Seite als Kollaborateure benannt worden waren, und

die mutmaßlich von 18 Angehörigen des israelischen Nachrichtendienstes »Mossad« durchgeführte Tötung von Mahmoud al-Mahbouh, einem Führer der Hamas, im Januar 2010 in einem Hotel in Dubai. […]

Gezielte Tötungen finden somit in unterschiedlichsten Zusammenhängen statt und können von Staaten und Bediensteten des Staates in Friedenszeiten wie auch in Zeiten bewaffneten Konflikts oder von organisierten bewaffneten Gruppen in bewaffneten Konflikten begangen werden. Die Mittel und Methoden, die zur Anwendung kommen, sind vielfältig: Heckenschützen, Schüsse aus nächster Nähe, das Abfeuern von Flugkörpern von Hubschraubern, Kampfhubschraubern oder Drohnen, Autobomben, Vergiftung.

Das gemeinsame Element in all diesen Fällen ist, dass tödliche Gewalt absichtlich und bewusst, mit einem bestimmten Grad des Vorsatzes, gegen eine oder mehrere von dem Täter im Voraus genau bestimmte Personen angewendet wird. […]

Eine neue Politik gezielter Tötungen

Das Phänomen gezielter Tötung durchzieht die gesamte Geschichte. In der neueren Zeit fanden gezielte Tötungen durch Staaten nur sehr eingeschränkt statt beziehungsweise, wenn es eine entsprechende De-Facto-Politik gab, war diese inoffiziell und wurde gewöhnlich dementiert […]

Seit einiger Zeit jedoch verfolgen einige Staaten entweder offen eine Politik, die gezielte Tötungen zulässt, oder sie verfolgen eine solche Politik der Form nach, während sie gleichzeitig ihre Existenz in Abrede stellen.

Israel

In den 1990er Jahren weigerte sich Israel kategorisch, gezielte Tötungen zuzugeben, und erklärte angesichts derartiger Anschuldigungen, dass die Israelischen Verteidigungskräfte diese uneingeschränkt zurückwiesen. Weder gebe es eine Politik der vorsätzlichen Tötung von Verdächtigen, noch werde es eine solche Politik oder eine solche Realität jemals geben. Der Grundsatz der Unverletzlichkeit des Lebens sei ein Grundprinzip der Israelischen Verteidigungskräfte. Im November 2000 jedoch bestätigte die israelische Regierung das Bestehen einer Politik, wonach sie gezielte Tötungen zur Selbstverteidigung und nach dem humanitären Völkerrecht als gerechtfertigt erachtete, da die Palästinensische Behörde Terrorismus und insbesondere gegen Israel gerichtete Selbstmordanschläge weder verhindern, noch untersuchen und strafrechtlich verfolgen würde. Bestärkt wurde dies durch ein 2002 ergangenes, nur in Teilen veröffentlichtes Rechtsgutachten des Leiters der Rechtsabteilung der Israelischen Verteidigungskräfte über die Voraussetzungen, unter denen Israel gezielte Tötungen für rechtmäßig erachtet.

Die von Israel durchgeführten gezielten Tötungen fanden Berichten zufolge zumeist in der »Zone A« statt, einem unter der Kontrolle der Palästinensischen Behörde stehenden Teil des Westjordanlands. Sie waren gegen Mitglieder verschiedener Gruppen gerichtet, darunter Fatah, Hamas und der Islamische Dschihad, die nach Angaben israelischer Behörden an der Planung und Durchführung von Anschlägen auf israelische Zivilpersonen beteiligt waren. Bei den gezielten Tötungen kamen unter anderem Drohnen, Heckenschützen, aus Hubschraubern abgefeuerte Flugkörper, Tötungen aus nächster Nähe sowie Artillerie zum Einsatz. Eine von einer Menschenrechtsgruppe durchgeführte Studie ergab, dass zwischen 2002 und Mai 2008 mindestens 387 Palästinenser infolge gezielter Tötungseinsätze ums Leben kamen. 234 von ihnen waren Ziele dieser Operationen; die restlichen waren Kollateralopfer.

Die rechtlichen Grundlagen dieser Politik waren später Gegenstand eines Urteils des israelischen Obersten Gerichtshofs vom Dezember 2006. Der Gerichtshof sprach weder ein allgemeines Verbot gezielter Tötungen durch israelische Soldaten aus, noch erklärte er sie für generell zulässig, sondern befand stattdessen, dass über die Rechtmäßigkeit jeder Tötung im Einzelfall zu entscheiden sei. Ohne ins Einzelne zu gehen, stellte er fest, dass das anwendbare Recht das Gewohnheitsrecht der internationalen bewaffneten Konflikte sei, und zog weder die Anwendbarkeit der Menschenrechtsnormen noch des humanitären Rechts der nicht internationalen bewaffneten Konflikte in Erwägung. Er verwarf das Vorbringen der Regierung, Terroristen seien »unrechtmäßige Kombattanten«, die jederzeit angegriffen werden könnten. Stattdessen befand er, dass das anwendbare Recht die gezielte Tötung von Zivilpersonen zulasse, solange diese „unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen“, sofern vier kumulative Voraussetzungen erfüllt seien:

Die mit der Tötungsoperation beauftragten Kräfte tragen die Verantwortung dafür, die Identität der Zielpersonen und das Bestehen einer Tatsachengrundlage zu verifizieren, die das Kriterium der „unmittelbaren Teilnahme“ erfüllt;

selbst wenn die Regierung eine Person aufgrund der rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen als rechtmäßiges Ziel benennt, ist die Tötung dieser Person durch staatliche Kräfte nur dann zulässig, wenn keine nichttödlichen Mittel verfügbar sind;

nach jeder gezielten Tötung hat eine nachträgliche, unabhängige Untersuchung der „Identifizierung der Zielperson und der Umstände des Angriffs“ stattzufinden; und

für Kollateralschäden an Zivilpersonen gilt das Gebot der Verhältnismäßigkeit nach dem humanitären Völkerrecht.

Es hat danach Berichte gegeben, wonach israelische Kräfte gezielte Tötungen durchführten, die gegen die vom Obersten Gerichtshof festgelegten Anforderungen verstießen. Diese von amtlichen israelischen Stellen zurückgewiesenen Berichte beruhten angeblich auf Verschlusssachen, die eine Soldatin der Israelischen Verteidigungskräfte während ihres Militärdienstes entwendet hatte; die Soldatin wurde der Spionage angeklagt.

Israel hat weder die Grundlagen für seine rechtlichen Schlussfolgerungen offenbart noch Einzelheiten über die seinen Entscheidungen über gezielte Tötungen zugrunde liegenden Richtlinien, die erforderlichen Beweise oder sonstigen nachrichtendienstlichen Erkenntnisse, die eine Tötung rechtfertigen würden, oder die Ergebnisse von Einsatzauswertungen in Bezug auf die Gesetzmäßigkeit dieser Aktionen offen gelegt.

Vereinigte Staaten von Amerika

Die USA setzen weiter Drohnen und Luftangriffe für gezielte Tötungen in den bewaffneten Konflikten in Afghanistan und Irak ein, wo diese Einsätze, soweit öffentlich bekannt, von den Streitkräften durchgeführt werden. Sie sollen darüber hinaus bald nach den Anschlägen vom 11. September 2001 mit der Verfolgung einer geheimen Politik gezielter Tötungen begonnen haben, in deren Rahmen die Regierung glaubwürdigen Behauptungen zufolge gezielte Tötungen im Hoheitsgebiet anderer Staaten durchgeführt hat. Dieses geheime Programm wird Berichten zufolge vom Auslandsnachrichtendienst CIA mittels »Predator«- oder »Reaper«-Drohnen durchgeführt, doch waren angeblich auch Spezialeinsatzkräfte an der Durchführung des Programms beteiligt und zivile Auftragnehmer dabei behilflich.

Der erste Einsatz einer CIA-Drohne für eine Tötung fand nach glaubwürdigen Berichten am 3. November 2002 statt, als der mutmaßlich für den Bombenanschlag auf den Zerstörer USS Cole verantwortliche Al-Qaida-Führer Qaed Senyan al-Harithi in Jemen durch einen von einer »Predator«-Drohne abgefeuerten Flugkörper in seinem Auto getötet wurde. Seither ereigneten sich Berichten zufolge mehr als 120 Drohnenangriffe, doch ist diese Zahl unmöglich zu verifizieren. Die Treffgenauigkeit von Drohnenangriffen ist stark umstritten und für Außenstehende ebenfalls nicht zu verifizieren. Meldungen über die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung in Pakistan reichen von etwa 20 (nach in den Medien zitierten Angaben anonymer Vertreter der US-Regierung) bis zu vielen Hunderten.

Der CIA lenkt seine Drohnenflotte angeblich von seiner Zentrale in Langley (Virginia) aus, in Koordinierung mit Drohnensteuerern, die die Starts und Landungen aus der Nähe verborgener Flugplätze in Afghanistan und Pakistan durchführen. Die CIA-Flotte wird Berichten zufolge von Zivilisten gesteuert, zu denen sowohl Beamte des Nachrichtendiensts als auch private Auftragnehmer (oft Militärpersonal im Ruhestand) gehören. Laut Medienberichten wird die endgültige Genehmigung für einen Angriff in der Regel vom Leiter der geheimen Operationen des CIA oder seinem Stellvertreter erteilt. Angeblich besteht eine von hochrangigen Regierungsmitarbeitern gebilligte Liste von Zielpersonen, wobei die Kriterien für die Aufnahme in die Liste sowie alle weiteren Aspekte des Programms jedoch unbekannt sind. Der CIA ist nicht verpflichtet, Zielpersonen namentlich zu identifizieren; die Entscheidung darüber, ob eine Person zum Ziel wird, kann vielmehr auf Überwachungsergebnissen und Bewertungen von »Lebensmustern« beruhen.

Das Militär führt ebenfalls eine Liste von Zielpersonen in Afghanistan. Aus einem am 10. August 2009 veröffentlichten Bericht des Außenpolitischen Ausschusses des US-Senats geht hervor, dass auf der Liste des Militärs Drogenbarone verzeichnet sind, die im Verdacht stehen, die Taliban finanziell zu unterstützen. In dem Bericht heißt es, dass das Militär der Anwendung von Gewalt gegen diese ausgewählten Zielpersonen keine Einschränkungen auferlege; dies bedeute, dass sie auf dem Gefechtsfeld getötet oder gefangen genommen werden könnten. Voraussetzung für die Aufnahme in die Liste seien zwei verifizierbare menschliche Quellen sowie zusätzliche hinreichende Beweise.

Der Rechtsberater des Außenministeriums umriss kürzlich die von der Regierung angeführte juristische Rechtfertigung für gezielte Tötungen. Sie beruhe auf ihrem erklärten Selbstverteidigungsrecht sowie auf dem humanitären Völkerrecht, da sich die USA „in einem bewaffneten Konflikt mit der Al-Qaida, den Taliban und verbündeten Kräften“ befänden. Diese Erklärung ist ein wichtiger Ausgangspunkt, geht indessen nicht auf einige der entscheidensten rechtlichen Fragen ein, wie die Reichweite des bewaffneten Konflikts, in dem sich die Vereinigten Staaten erklärtermaßen befinden, die Kriterien dafür, welche Personen zum Ziel gemacht und getötet werden dürfen, das Bestehen materieller oder verfahrensrechtlicher Schutzvorschriften zur Gewährleistung der Rechtmäßigkeit und der Treffgenauigkeit der Tötungen sowie das Bestehen von Rechenschaftsmechanismen.

Russland

Russland hat seine 1999 aufgenommenen Militäreinsätze in Tschetschenien als eine Operation zur Terrorismusbekämpfung beschrieben. Im Laufe des Konflikts soll Russland Kommandotrupps der Armee eingesetzt haben, um Gruppen von Aufständischen aufzuspüren und zu vernichten, und auf entsprechende Meldungen hin rechtfertigte Russland gezielte Tötungen in Tschetschenien damit, dass sie durch den Kampf gegen den Terrorismus notwendig seien. Diese Rechtfertigung ist insbesondere deswegen problematisch, weil große Teile der Bevölkerung als Terroristen bezeichnet wurden. Obwohl es glaubwürdige Berichte über gezielte Tötungen außerhalb Tschetscheniens gibt, hat sich Russland geweigert, die Verantwortung dafür zu übernehmen oder anderweitig eine Rechtfertigung für die Tötung anzugeben, und hat darüber hinaus bei jeder Untersuchung oder Strafverfolgung die Kooperation verweigert.

Im Sommer 2006 erließ das russische Parlament ein Gesetz, das es den russischen Sicherheitsdiensten gestattet, mutmaßliche Terroristen im Ausland zu töten, wenn der Präsident eine diesbezügliche Ermächtigung erteilt. Das Gesetz bedient sich einer äußerst weiten Definition des Terrorismus und terroristischer Aktivitäten; darunter fallen „Praktiken der Beeinflussung der Entscheidungen von Regierungen, Kommunalverwaltungen oder internationalen Organisationen durch die Terrorisierung der Bevölkerung oder durch andere Formen illegaler Gewaltaktionen“, sowie jede „Ideologie der Gewalt“.

Das Gesetz scheint keine Beschränkung des Einsatzes militärischer Gewalt „zur Unterdrückung internationaler terroristischer Aktivitäten außerhalb der Russischen Föderation“ vorzusehen. Der Präsident muss sich der Unterstützung des Föderationsrats versichern, um reguläre Soldaten außerhalb Russlands einsetzen zu können, während er Sicherheitskräfte des Föderalen Sicherheitsdiensts (FSB) nach seinem Ermessen einsetzen kann. Als das Gesetz erlassen wurde, betonten russische Parlamentarier laut Pressemeldungen, dass sich das Gesetz gegen Terroristen richte, die sich in gescheiterten Staaten verbergen, und dass die Sicherheitsdienste in anderen Situationen bei der Verfolgung ihrer Ziele mit ausländischen Nachrichtendiensten zusammenarbeiten würden. Die Parlamentarier unterstrichen außerdem, dass sie beim Erlass eines Gesetzes, das den Einsatz von Militär- und Spezialkräften außerhalb der Landesgrenzen zur Abwehr von Bedrohungen von außen gestattet, dem Beispiel Israels und der Vereinigten Staaten folgten.

Es gibt keine öffentlich verfügbaren Informationen über Verfahrensvorkehrungen, die gewährleisten sollen, dass die von Russland durchgeführten gezielten Tötungen rechtmäßig sind, über die Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit eine Person zum Ziel gemacht werden kann, oder über Rechenschaftsmechanismen für die Überprüfung derartiger gezielter Einsätze.

Eine neue Technologie

Drohnen wurden ursprünglich entwickelt, um nachrichtendienstliche Informationen zu sammeln und um Überwachungs- und Aufklärungsflüge durchzuführen. Heute verfügen mehr als 40 Länder über diese Technologie. Einige von ihnen, darunter Israel, Russland, die Türkei, China, Indien, Iran, das Vereinigte Königreich und Frankreich, besitzen oder streben nach dem Besitz von Drohnen mit der zusätzlichen Fähigkeit, lasergelenkte Flugkörper mit einem Gewicht zwischen 15 und mehr als 45 Kilogramm abzufeuern. Die Vorteile bewaffneter Drohnen sind verlockend: Sie erlauben vor allem im feindlichen Gelände gezielte Tötungen ohne oder mit geringem Risiko für das Personal des durchführenden Staates und sie können vom Heimatstaat aus ferngesteuert werden. Es ist auch denkbar, dass nichtstaatliche bewaffnete Gruppen diese Technologie erlangen könnten.

(Anmerkung der W&F-Redaktion: In einem umfassenden Mittelblock untersucht Alston rechtliche Fragen. Für ihn ist nicht jede gezielte Tötung rechtswidrig. Ob eine gezielte Tötung rechtmäßig ist, hängt bei Alston von dem Kontext ab, in dem sie durchgeführt wird – in einem bewaffneten Konflikt, außerhalb eines bewaffneten Konflikts oder im Zusammenhang mit zwischenstaatlicher Gewaltanwendung. Er plädiert für die Einhaltung der Regelung im humanitären Völkerrecht, nach der gezielte Tötungen nur dann rechtmäßig sind, „wenn die zu tötenden Personen »Kombattanten« oder »Kämpfer« sind oder, wenn es sich um Zivilpersonen handelt, nur solange, wie sie »unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen«. Darüber hinaus muss die Tötung militärisch notwendig sein, die Anwendung von Gewalt muss verhältnismäßig sein, so dass jeder erwartete militärische Vorteil im Lichte der zu erwartenden Schäden für sich in der Nähe befindende Zivilpersonen betrachtet wird, und es ist alles praktisch Mögliche zu tun, um Fehler zu vermeiden und den Schaden für die Zivilbevölkerung auf ein Mindestmaß zu beschränken.“)

Der Einsatz von Drohnen für gezielte Tötungen

Der Einsatz von Drohnen für gezielte Tötungen hat beträchtliche Kontroversen ausgelöst. Nach Ansicht einiger sind Drohnen als solche nach dem humanitären Völkerrecht verbotene Waffen, da sie Zivilpersonen zwangsläufig unterschiedslos töten oder ihre unterschiedslose Tötung zur Folge haben, wenn sie sich beispielsweise in der Nähe einer Zielperson befinden. Es ist richtig, dass das humanitäre Völkerrecht Einschränkungen der Waffen vorsieht, die die Staaten einsetzen können, und Waffen, die beispielsweise ihrer Natur nach unterschiedslos wirken (wie biologische Waffen), verbietet. Dennoch unterscheidet sich ein Flugkörper, der von einer Drohne aus abgefeuert wird, durch nichts von jeder anderen gebräuchlichen Waffe, wie von einer Schusswaffe, die ein Soldat betätigt, oder von einem Flugkörper abfeuernden Hubschrauber oder Kampfhubschrauber. Die entscheidende Rechtsfrage ist bei jeder Waffe dieselbe: Ist ihr konkreter Einsatz mit dem humanitären Völkerrecht vereinbar oder nicht?

Bedenklicher ist der Einsatz von Drohnen deshalb, weil sie es den Kräften des Staates leichter machen, ohne Risiko zu töten, und politische Entscheidungsträger und militärische Befehlshaber daher versucht sein werden, die rechtlichen Beschränkungen in Bezug darauf, wer unter welchen Umständen getötet werden kann, zu weit auszulegen. Die Staaten müssen gewährleisten, dass die von ihnen angelegten Kriterien bei der Entscheidung darüber, wer zum Ziel gemacht und getötet werden darf – das heißt wer ein rechtmäßiger Kombattant ist oder was eine »unmittelbare Teilnahme an Feindseligkeiten« darstellt, die Zivilpersonen einem direkten Angriff aussetzt –, sich nicht danach unterscheiden, welche Waffe sie wählen.

Die Befürworter von Drohnen argumentieren, dass Drohnen im Vergleich zu anderen Waffen über bessere Überwachungsfähigkeiten verfügen, höhere Präzision ermöglichen und daher besser geeignet seien, Kollateralschäden in Form von Opfern und Verletzungen unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden. Bis zu einem bestimmten Maß mag das zutreffen, doch ist das Bild unvollständig. Die Präzision, Genauigkeit und Rechtmäßigkeit eines Drohnenangriffs hängen von Erkenntnissen aus der Nachrichtengewinnung durch Personen ab, die zur Grundlage der Entscheidung über das Angriffsziel gemacht werden.

Drohnen können eine Überwachung aus der Luft und die Gewinnung von Informationen über »Lebensmuster« ermöglichen, die es dem Bedienungspersonal gestatten, zwischen friedlichen Zivilpersonen und den an unmittelbaren Feindseligkeiten teilnehmenden Personen zu unterscheiden. Dank dieser fortgeschrittenen Überwachungsfähigkeiten sind die Kräfte eines Staates tatsächlich besser in der Lage, während eines Angriffs Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Diese optimalen Bedingungen sind jedoch möglicherweise nicht in jedem Fall gegeben. Vor allem aber kann das Bedienungspersonal einer Drohne, das Tausende von Kilometern von der Umgebung eines potenziellen Ziels entfernt ist, hinsichtlich der Nachrichtengewinnung durchaus noch stärker benachteiligt sein als Bodentruppen, die selbst häufig nicht in der Lage sind, verlässliche Erkenntnisse zu gewinnen.

Während meiner Mission nach Afghanistan zeigte sich deutlich, wie schwer es selbst für die Truppen vor Ort ist, genaue Informationen zu erlangen. Aus Aussagen von Zeugen und Familienangehörigen ging hervor, dass die internationalen Kräfte oft zu schlecht über lokale Praktiken informiert waren oder Informationen zu leichtgläubig interpretierten, um sich ein verlässliches Bild der Lage verschaffen zu können. Allzu oft gingen die von den internationalen Kräften durchgeführten bemannten Luftangriffe, bei denen Menschen ums Leben kamen, auf fehlerhafte nachrichtendienstliche Erkenntnisse zurück. Zahlreiche weitere Beispiele lassen erkennen, dass die Rechtmäßigkeit einer gezielten Tötungsoperation stark davon abhängt, wie zuverlässig die ihr zugrunde liegenden Erkenntnisse sind. Die Staaten müssen daher für das Vorhandensein der notwendigen Verfahrensvorkehrungen sorgen, um zu gewährleisten, dass die Erkenntnisse, auf denen die Entscheidungen über die Angriffsziele beruhen, genau und nachprüfbar sind.

Aufgrund der Tatsache, dass das Bedienungspersonal Tausende von Kilometern vom Gefechtsfeld entfernt ist und die Operationen ausschließlich über Computerbildschirme und Audioleitungen ausführt, entsteht noch das zusätzliche Risiko, dass sich eine »Playstation«-Mentalität des Tötens herausbildet. […]

Außerhalb eines bewaffneten Konflikts ist der Einsatz von Drohnen für gezielte Tötungen wahrscheinlich nie rechtmäßig. Eine mit Drohnen durchgeführte gezielte Tötung im Hoheitsgebiet eines Staates, über das dieser die Kontrolle ausübt, würde mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die Anforderungen erfüllen, die die Menschenrechtsnormen für die Anwendung tödlicher Gewalt vorsehen.

Außerhalb seines Hoheitsgebiets (oder in einem Gebiet, über das er keine Kontrolle ausübt) und dort, wo die Lage am Boden nicht die Intensität eines bewaffneten Konflikts erreicht hat, in dem das humanitäre Völkerrecht gelten würde, könnte ein Staat theoretisch versuchen, den Einsatz von Drohnen zu rechtfertigen, indem er sich auf das Recht zur antizipatorischen Selbstverteidigung gegen einen nichtstaatlichen Akteur beruft. Er könnte theoretisch auch behaupten, dass die menschenrechtliche Anforderung, zuerst nichtletale Mittel einzusetzen, nicht erfüllt werden könne, wenn der Staat keine Mittel habe, die Zielperson gefangen zu nehmen oder den anderen Staat dazu zu veranlassen, dies zu tun. Praktisch gesehen gibt es sehr wenige Situationen außerhalb aktiver Feindseligkeiten, in denen das Kriterium für antizipatorische Selbstverteidigung – eine Notwendigkeit, die „gegenwärtig und überwältigend ist und keine Wahl der Mittel und keinen Augenblick zur Überlegung lässt“ – erfüllt wäre. Diese Hypothese birgt dieselbe Gefahr wie das Szenario der »tickenden Zeitbombe« im Zusammenhang mit der Anwendung von Folter und Zwang bei Verhören: Ein gedankliches Experiment, das eine seltene notfallbedingte Ausnahme von einem absoluten Verbot postuliert, kann diese Ausnahme effektiv institutionalisieren. Die Anwendung eines solchen Szenarios auf gezielte Tötungen droht das menschenrechtliche Verbot der willkürlichen Tötung eines Menschen bedeutungslos zu machen. Darüber hinaus würde die mit Hilfe einer Drohne durchgeführte Tötung anderer Personen als der Zielperson (etwa von Familienangehörigen oder anderen, die sich in der Nähe aufhalten) nach den Menschenrechtsnormen eine willkürliche Tötung darstellen, was Staatenverantwortlichkeit und individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit auslösen könnte.

Die Erfordernisse der Transparenz und der Rechenschaft

Es ist höchst besorgniserregend, dass die Staaten ihren nach den Menschenrechtsnormen und dem humanitären Völkerrecht bestehenden Verpflichtungen zu Transparenz und Rechenschaft in Bezug auf gezielte Tötungen nicht nachkommen. Bislang hat kein Staat die Rechtsgrundlage für gezielte Tötungen, einschließlich seiner Interpretation der hier erörterten Rechtsfragen, umfassend öffentlich dargelegt. Ebenso hat kein Staat offen gelegt, welche Verfahrensvorkehrungen und sonstigen Sicherungsmaßnahmen von ihm eingerichtet wurden, um zu gewährleisten, dass die Tötungen rechtmäßig und berechtigt sind, und mit welchen Rechenschaftsmechanismen sichergestellt wird, dass rechtswidrige Tötungen untersucht, strafrechtlich verfolgt und bestraft werden. Mit ihrer Weigerung, ihre Politik transparent zu gestalten, verstoßen die Staaten, die gezielte Tötungen durchführen, gegen die völkerrechtlichen Regelungen, die der rechtswidrigen Anwendung von tödlicher Gewalt gegen Personen Schranken setzen.

Die Verpflichtung zur Transparenz besteht sowohl nach dem humanitären Völkerrecht als auch nach dem Recht der Menschenrechte. Die Nichtoffenlegung gibt den Staaten praktisch eine unzulässige »Lizenz zum Töten«. […]

Die vom Deutsche Übersetzungsdienst (www.un.org/depts/german/) der Vereinten Nationen angefertigte Übersetzung des gesamten, mit zahlreichen ausführlichen Fußnoten versehenenen Berichts über gezielte Tötungen, der auf den 28. Mai 2010 datiert ist, finden Sie unter www.un.org/depts/german/menschenrechte/ a-hrc14-24add6-deu.pdf.

Foltern ohne Spuren

Foltern ohne Spuren

Psychologie im Dienste des »Kampfes gegen den Terrorismus«

von Rainer Mausfeld

Verschleppung und Folter an Terroraktionen Verdächtigter ist – der Empörung in westlichen Medien zum Trotz – fester Bestandteil des »Krieges gegen den Terror«. Wer Folter als etwas westlichen Demokratien Jenseitiges ansieht, übersieht leicht, dass es eine Kontinuität der Nutzung der Folter als Instrument politischer Machtausübung gibt. An ihr hat auch die Psychologie als wissenschaftliche Disziplin unrühmlichen Anteil.

Guantánamo ist, wie immer wieder bekundet wird, ein Schandfleck für den Westen in seinem »Kampf gegen den Terrorismus«. Eine derartige Formulierung drückt unsere natürliche Abscheu vor Folter aus und unser Erschrecken über die unmenschliche Behandlung, die den Insassen von Guantanamo widerfahren ist. Eine solche Reaktion, die auf unserer natürlichen Befähigung zur Empathie beruht, hat zur Voraussetzung, dass diese Vorgänge überhaupt in den Fokus unserer Aufmerksamkeit gelangen. Was uns nicht im Gedächtnis oder in der Aufmerksamkeit präsent ist, ist uns auch nicht moralisch präsent. Daher gilt auch für die Bewertung politischen Handelns: »aus den Augen, aus dem Sinn«. Dies eröffnet in medial gelenkten Demokratien die Möglichkeit, die Ziele moralischer Empörung nicht dem Zufall zu überlassen, sondern sie je nach politischen Interessen in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu bringen oder sie daraus auch wieder verschwinden zu lassen.

Die »Terroristen« wechseln, die Folter bleibt

Es lohnt sich daher ein zweiter Blick auf die Formulierung, dass Guantánamo ein Schandfleck im Kampf gegen den Terrorismus sei. Zur Natur eines Flecks gehört, dass er sich von etwas abhebt, das nicht befleckt ist, also von etwas, das erst befleckt wurde. Was hier befleckt wurde, sind – unserer Selbstwahrnehmung zufolge – die eigentlich hehren Ideale und edelmütigen Absichten, die uns moralisch verpflichten, für den Erhalt zivilisatorischer Werte und die Verbreitung von Demokratie zu kämpfen, also den Kampf gegen den Terrorismus aufzunehmen. In diesem guten und gerechten Krieg für humanitäre Werte ist es – im Großen durch eine Handvoll ideologisch verblendeter und fanatischer Politiker, wie Bush, Cheney, oder Rumsfeld, und im Kleinen durch eine Handvoll schwarzer Schafe, wie in Abu Ghraib Charles Graner oder Lynndie England – zu einigen schwerwiegenden Verletzungen unserer eigentlich untadeligen Absichten gekommen. Dies gilt es, getreu unseren Werten, entschlossen zu korrigieren und den »Kampf gegen den Terrorismus« wieder von seinen hässlichen Seiten zu befreien. In diesem Sinne symbolisiert ein Schandfleck einen historischen Ausrutscher und markiert zudem etwas, das wir als einen Extrempunkt des Versagens ansehen. Indem wir ihn bemerken und benennen, haben wir zugleich unsere moralische Empfindsamkeit bezeugt und damit einen ersten Schritt zur Bewältigung dieser – am nahezu undenkbaren Rand der Möglichkeiten liegenden – Verletzung unserer Ideale geleistet. Mit Guantánamo beginnt und mit Guantánamo endet zugleich eine Phase in der »wir«, also westliche Demokratien, in systematischer und geplanter Weise Folter zu einem Instrument der politischen Machtausübung gemacht haben.

Diese Selbstwahrnehmung steht jedoch ganz im Gegensatz zu den Fakten. Mehr noch: Die geschichtlichen Fakten widersprechen ihr in einem derart erdrückenden und erschütternden Ausmaß, dass wir mit der tiefer liegenden Frage konfrontiert sind, durch welche politischen und psychischen Mechanismen es zu einer derartig monströsen Fehleinschätzung kommen kann. Denn auch nach dem Zweiten Weltkrieg stellt die Folter ein Instrument der politischen Machtausübung dar, auf das auch demokratische Staaten immer noch ungern verzichten. Frankreich sah seine Massenfolterungen im Algerienkrieg als notwendige Maßnahmen im Kampf gegen den »Terrorismus« der algerischen FLN an. Großbritannien verwendete im Nordirlandkonflikt »neuartige Verhörmethoden«, die Vorläufer der in Guantánamo eingesetzten Techniken sind. Entsprechende Methoden werden auch von Israel bei der systematischen Folterung palästinensischer Gefangener eingesetzt.1 Amerikanische Regierungen haben in den 1970er und 1980er Jahren für die »Bekämpfung kommunistischer subversiver Kräfte« systematisch Foltertechniken für befreundete Regime bereitgestellt und insbesondere in Lateinamerika die 1975 gegründete Terrororganisation »Operation Condor« wesentlich unterstützt.2 Diese Kontinuität einer Nutzung der Folter als Instrument politischer Machtausübung durchzieht die US-Außenpolitik und erreichte in der Reagan-Regierung ihren Höhepunkt. Gegenüber dieser Tradition war die Neuerung der Bush-Regierung, dass sie sich offen zur systematischen Anwendung folterartiger Verhörtechniken im Bereich ihrer Hoheitsgewalt bekannt hat und versucht hat, der Folter eine juristische Legitimationsbasis zu verschaffen.

Mit der Einengung des Blicks auf den »Schandfleck Guantánamo« läuft man zwangsläufig Gefahr, die strukturelle Beschaffenheit des Hintergrundes, auf dem etwas als Schandfleck wahrgenommen wird, zu übersehen. Auch die jetzige amerikanische Regierung wird auf das Instrument der Folter nicht vollständig verzichten. Zwar hat Obama einige der von der Bush-Regierung praktizierten »innovativen Verhörmethoden« als Folter eingestuft – will jedoch ausdrücklich von juristischen Folgen für die Verantwortlichen absehen – und ihre Anwendung auf amerikanischem Boden und in der Militärbasis Guantanamo Bay untersagt. Zugleich setzt er das CIA-Programm zur Überstellung von Gefangenen an andere Staaten ohne juristische Grundlage fort, also ein »Outsourcing« der Folter in Staaten, in denen öffentliche Reaktionen kaum zu befürchten sind. Auch will er auf »Amerikas Folterkammer« Bagram nicht verzichten. Zudem erklärte er, die unbefristete Inhaftierung von Terrorverdächtigen auch ohne Gerichtsverhandlung beibehalten zu wollen.

Auch die politische Praxis der jetzigen Bundesregierung und ihrer Vorgängerin lässt hinter der Menschenrechtsrhetorik die üblichen Doppelstandards zur Folter erkennen, wie sich u.a. in der engen Zusammenarbeit von BND und Bundeswehr mit Folterregimen zeigt. Besonders eklatant ist dies im Fall Usbekistans, ein Land, in dem »Human Rights Watch« zufolge „Folter tief im Strafjustizsystem verwurzelt“ ist, zu dessen autokratischem Folterregime Deutschland jedoch freundschaftliche Beziehungen pflegt und in dem es einen Luftwaffenstützpunkt unterhält; der BND unterhält enge Beziehungen zu Usbekistan und hat, nach Angaben des ehemaligen englischen Botschafters Craig Murray, Informationen aus Foltergeständnissen genutzt. Auch das Bundeskriminalamt (BKA) arbeitet sehr »pragmatisch« mit Folterregimen zusammen.3

Trotz der Eindeutigkeit des absoluten Folterverbotes ist eine pragmatische und utilitaristische Haltung zur Folter weit verbreitet und bildet erst die Voraussetzung dafür, dass sich entsprechende zivilisatorische Regressionen immer wieder ereignen. Mit dem absoluten Folterverbot wird die Folter – ebenso wie die Sklaverei – einer abwägenden Bewertung von Pro und Contra entzogen. Gleichwohl finden sich unter dem Mäntelchen einer »rationalen« und »vernünftigen« Herangehensweise immer wieder Versuche, das absolute Folterverbot einer Abwägungshaltung zugänglich zu machen. Der ZEIT-Herausgeber Josef Joffe bringt im »Tagesspiegel« vom 27.04.2009 eine solche Haltung so zum Ausdruck: „Nützlicher wäre eine systematische Untersuchung, ob denn Erschöpfung, Erniedrigung und simuliertes Ertrinken überhaupt den gewünschten Effekt gehabt haben.“ Was wäre nun, wenn diese Foltermethoden den gewünschten Effekt hätten? Müssten wir dann zu einer »vernünftigen« Neubewertung der Folter kommen? Interessanterweise würde, bislang zumindest, niemand eine gleichermaßen »vernünftige« Haltung zum absoluten Verbot der Sklaverei vertreten und deren Bewertung von der Evaluation der »gewünschten Effekte«, etwa wirtschaftlicher Art, abhängig machen. Auch Psychologen sind dieser Art von affirmativer Scheinrationalität erlegen, wenn sie etwa untersuchen, ob Folter überhaupt zur Gewinnung brauchbarer Informationen taugt. So kommt eine kürzlich veröffentlichte Studie nach einer Auswertung neurophysiologischer Literatur insbesondere zu Gedächtnisfunktionen zu dem Schluss, dass auf der Basis der verfügbaren Befunde extremer Stress zu einer Beeinträchtigung der Gedächtnisfunktionen führt und daher mit dem Ziel einer Gewinnung brauchbarer Informationen nicht vereinbar ist.4 Was aber wäre, wenn dies nicht der Fall wäre und wenn Stress und Schmerzen vielleicht sogar die Bereitschaft erhöhten, freiwillig nicht geäußerte Gedächtnisinhalte preiszugeben? Müsste dann nicht Folter als die Methode der Wahl angesehen werden? Dies ist genau die Haltung, mit der man unter dem Vorwand eines »rationalen Diskurses« letztlich wieder die Folterlogik staatlicher Interessen übernimmt. Zudem verdeckt diese Art einer »nüchternen wissenschaftlichen Herangehensweise«, dass es sich bei dem Ziel einer vorgeblichen Informationsbeschaffung nur um eine Rechtfertigungsrhetorik handelt und dass Folter vorrangig auf die Disziplinierung, Demütigung und Erniedrigung bestimmter – zumeist ethnisch definierter – Gruppen zielt, deren soziale oder kulturelle Identität sie zu zerstören sucht. Die vorgebliche oder tatsächliche Aufklärungsintention derartiger psychologisch-wissenschaftlicher Studien trägt letztlich nur dazu bei, das absolute Folterverbot zu erodieren und einer Abwägungshaltung zugänglich zu machen.

Da das absolute Folterverbot aus den geschichtlichen Erfahrungen erwachsen ist, kann es uns nur in dem Maße vor einer Wiederholung dieser Erfahrungen schützen, wie diese im kollektiven Gedächtnis präsent bleiben. In dem Maße, in dem Regierungen Folter als unverzichtbares Instrument ihrer Machtpolitik ansehen, haben sie, besonders in Demokratien, ein Interesse daran, dass die öffentliche Bewertung entsprechender Vorgänge geschichtslos und damit jeder Fall ein Einzelfall bleibt. Auf diese Weise lassen sich unsere natürlichen moralischen Reaktionen im Einklang mit politischen Machtinteressen kanalisieren, und hinter der berechtigten Empörung über Guantanamo verschwindet die lange Kontinuität der Folter in der kollektiven geschichtlichen Amnesie. Auch die »innovativen Verhörmethoden« beginnen weder mit Guantánamo noch werden sie damit enden. Zur Entwicklung dieser Methoden hat die Psychologie seit den 1950er Jahren beigetragen.

Psychologie und weiße Folter: Das neue Gesicht der Folter

Wenn von »Psychologie und Folter« die Rede ist5, wird man zuerst an therapeutische Aufgaben denken. Psychologen spielen eine wichtige Rolle bei der Betreuung von Folteropfern. Der Versuch, sie zu lindern, erfordert profundes Wissen über die Auswirkungen, die solche »Verwüstungen der Seele« haben.

Die Psychologie trägt aber auch dazu bei, die Bedingungen besser zu verstehen, unter denen es zu Folter kommt; sie betreibt Ursachenforschung. So wäre Folter kaum denkbar ohne die Annahme, dass bestimmte Personen- und Kulturgruppen minderwertig seien und man ihnen jene Rechte absprechen könne, die wir ansonsten für selbstverständlich halten. Aus geschichtlichen Erfahrungen ebenso wie aus Untersuchungen der Sozialpsychologie wissen wir, dass der Mensch eine einzigartige Flexibilität darin hat, auf der Basis nahezu x-beliebiger Merkmale, sei es Hautfarbe, Religion, Herkunft, Geschlecht oder sexuelle Orientierung, andere aus der Kategorie »Meinesgleichen« auszugrenzen und ihnen das zu verwehren, was er als elementare Menschenwürde für die als »Seinesgleichen« Empfundenen beansprucht. Dies macht ihn unempfänglich für das Leid derjenigen, die er als »Nicht-Seinesgleichen» ansieht. Die Psychologie kann die Mechanismen solcher Kategorisierungen aufklären helfen. Die Voraussetzungen sowie die Auswirkungen von Folter gehören folglich in ihren Untersuchungsbereich. Wenn von »Psychologie und Folter« die Rede ist, denkt jedoch kaum jemand daran, dass Psychologen auch zur Entwicklung und Verfeinerung von Foltertechniken beigetragen haben. In den letzten Jahren kamen mehr und mehr Details darüber ans Licht, wie sehr Vertreter des Fachs an der Entwicklung und Durchführung von Methoden psychologischer Folter beteiligt waren.

Mit der Etablierung demokratischer Rechtsstaaten und ihrer weit gehenden Kontrolle durch die Öffentlichkeit veränderte sich auch das Gesicht der Folter. Um sie gleichsam unsichtbar zu machen, wurden neue Techniken entwickelt, die man als »Clean Torture«, »White Torture« oder »Psychological Torture« bezeichnet. Mit diesen Methoden lässt sich der Wille eines Gefangenen ebenso effizient brechen wie durch körperliche Misshandlungen. Jedoch hinterlassen sie keine sichtbaren Spuren, was diese neuen Techniken gerade für Regierungen demokratischer Staaten attraktiv macht. Diese neuen Foltertechniken breiten sich, Menschenrechtsorganisationen zufolge, epidemieartig aus.

An den »innovativen Verhörmethoden«, wie sie in Guantánamo, Bagram oder Abu Ghraib zum Einsatz kamen, haben Psychologen entscheidend mitgewirkt. In den Fokus der Weltöffentlichkeit geriet dies im Jahr 2007: Damals bekundete die größte psychologische Berufsvereinigung, die American Psychological Association (APA), dass Psychologen, die »innovative Verhörtechniken« entwickeln oder Verhörexperten darin ausbilden, »einen wertvollen Beitrag« leisten, um »Schaden von unserer Nation, anderen Nationen und unschuldigen Zivilisten abzuwenden«. Um die Tragweite eines solchen Legitimierungsversuchs der weißen Folter zu verstehen, muss man die Hintergründe näher betrachten.

Nach internationalen Rechtsnormen stellt Folter einen Angriff auf ein Rechtsgut dar, das absolut schützenswert ist. Das Folterverbot gestattet keine Ausnahmen – auch nicht im Fall eines politischen oder gesellschaftlichen Notstands. Es gegen andere Rechtsgüter abzuwägen, gilt grundsätzlich als nicht statthaft. Auf diese Weise soll dem Macht- und Sicherheitsanspruch des Staates eine absolute rechtsstaatliche Grenze gesetzt werden.

Eine Frage des »Ausgeliefertseins«

Ob etwas als Folter anzusehen ist oder nicht, lässt sich freilich nicht allein am Grad des verursachten körperlichen oder seelischen Schmerzes messen. Das bestimmende Merkmal ist vielmehr die besondere Art der interpersonalen Situation, in der sich der Gefolterte in seiner gesamten Existenz dem Willen des Folterers ausgeliefert fühlt. In einer solchen Situation stellen bestimmte Techniken, wenn man sie in geeigneter Kombination anwendet, ein äußerst effektives Mittel dar, den Willen eines Menschen zu brechen. Hierzu zählen vor allem: räumliche und zeitliche Desorientierung, soziale Isolation, Reiz und Schlafentzug, sensorischer Schmerz durch Lärm und grelles Licht, Erzwingen körperlicher Stresspositionen sowie sexuelle und kulturelle Erniedrigung.

An den ersten Untersuchungen zu den Folgen sensorischer Deprivation in den 1950er Jahren war einer der damals bedeutendsten Psychologen, der Kanadier Donald O. Hebb, entscheidend beteiligt. Hebb berichtete, dass sich „die Identität von Versuchspersonen aufzulösen begann“, nachdem diese zwei bis drei Tage lang schalldichte Kopfhörer, eine Augenbinde und besondere, das Tastempfinden reduzierende Kleidung trugen. Wie viele andere Forscher suchte Hebb nach Mitteln und Wegen, die psychische Widerstandskraft und den Willen einer Person zu schwächen.

1959 fasste Albert Biderman die damals bekannte Forschung über »Improved Interrogation Techniques« zusammen: Psychologische Folter sei „der ideale Weg, einen Gefangenen zu brechen“, da sich „Isolation auf die Hirnfunktion des Gefangenen ebenso auswirkt, wie wenn man ihn schlägt, hungern lässt oder ihm Schlaf entzieht“. Dafür genüge es, den Betreffenden aller sozialen Kontakte zu berauben, ihn zu desorientieren, seinen Schlaf-wach-Rhythmus zu stören und ihn massiv unter Stress zu setzen. Nach und nach komme es so zur Regression auf eine infantile Stufe.

Auch ein Verhörhandbuch der CIA, das berüchtigte »KUBARK«6 von 1963, beschreibt bereits ausführlich, wie sich die emotionale Verletzbarkeit des Einzelnen zu diesem Zweck ausnutzen lässt. Das Handbuch erklärt den Auszubildenden sogar, dass die betreffenden Techniken dank der psychologischen Forschung leicht erlernbar seien: „Es hört sich schwieriger an als es ist, den Willen einer Person durch psychologische Manipulation und ohne Anwendung von äußerlichen Methoden zu brechen.“ Das KUBARK-Handbuch empfiehlt etwa die ständige Manipulation der Zeit durch Vor- und Zurückdrehen der Uhr, was den Gefangenen „immer tiefer in sich selbst verstrickt“. Ist die zeitliche Orientierung einmal zerstört, sollten weitere Methoden hinzutreten. Letztlich komme es darauf an, die Erfahrungswelt des Betreffenden völlig unberechenbar und chaotisch zu gestalten – ein Vorgehen, das als »Alice-in-Wonderland-Technik« bezeichnet wird.

Nach dem 11. September 2001 wurde die psychologische Forschung auf diesem Gebiet wieder verstärkt. Eine Verhörtechnik galt als optimal, wenn sich durch sie der Wille selbst der stärksten Persönlichkeit brechen ließ und ihre Folgen zugleich für die Öffentlich unsichtbar blieben. Im Jargon der Guantánamo-Verhörprotokolle tragen die von Psychologen entwickelten Maßnahmen Namen wie »Pride and Ego down«, »Fear up Harsh« oder »Invasion of Space by a Female«. Hinter »Pride and Ego down« verbirgt sich beispielsweise, muslimische Gefangene nackt vor weiblichen Aufsehern zu verhören oder in Frauenunterwäsche posieren zu lassen. Auch erzwungenes Masturbieren oder das Vorführen von »Kunststücken« wie ein dressierter Hund gehören dazu. Verbunden mit mehrtägigem Schlafentzug, sensorischer Deprivation und Desorientierung sowie stundenlangem Verharren in starren Körperhaltungen destabilisiert dies die Gefangenen psychisch derart, dass es schließlich zu willfähriger Unterwerfung kommt.

Die in Guantánamo angewandten Verhörtechniken haben Psychologen entworfen – insbesondere die Firma »Mitchell, Jessen & Associates«, die sich auf die Ausbildung von Verhörexperten spezialisiert hatte. James Mitchell und Bruce Jessen nahmen im Mai 2002 an einem vom Pentagon und der CIA organisierten Symposium teil, bei dem anlässlich der Festnahme eines al-Qaida-Führungsmitglieds »innovative Verhörtechniken« vorgestellt und diskutiert wurden. Auf dieser Veranstaltung hielt der renommierte Psychologe Martin Seligman einen Vortrag, in dem er über das Konzept der erlernten Hilflosigkeit referierte. Die von Mitchell und Jessen entwickelte Methode zielt vornehmlich darauf ab, den Verhörten in einen solchen Zustand erlernter Hilflosigkeit zu versetzen. Auch die Verhöre in Guantánamo selbst fanden häufig unter Aufsicht von Psychologen statt.

Müssten diese Vorgänge unter Psychologen nicht für Empörung sorgen? Sollte man der American Psychological Association (APA) nicht ihre eigenen ethischen Richtlinien in Erinnerung rufen? Tatsächlich verlangten nur wenige der rund 150 000 APA-Mitglieder das wahre Ausmaß der Beteiligung von Psychologen an Menschenrechtsverletzungen aufzudecken. Nachdem bekannt wurde, wie sehr das Prinzip der »innovativen Verhörmethoden« auf der Expertise von Psychologen beruhte, geriet die APA dennoch zunehmend unter Druck. Zwar stellte der Verband in einer Stellungnahme fest, dass er jede Art von Folter ablehne. Bei den angewandten Methoden handle es sich jedoch zum einen gar nicht um Folter. Zum anderen gebe es nicht nur eine ethische Verpflichtung, das Individuum zu schützen, sondern auch die, Schaden von der Nation abzuwenden. Im Konfliktfall gelte es, beides gegeneinander abwägen – etwa um sicherheitsrelevante Informationen zu beschaffen. (Die Argumentation klingt erschreckend vertraut: Auch NS-Ärzte hatten seinerzeit einen Konflikt geltend gemacht zwischen der Verpflichtung, dem Wohl des Einzelnen zu dienen, sowie der, den »Volkskörper« gesund zu erhalten.)

Unter dem wachsenden öffentlichen Druck vollzog die APA im Oktober 2008 – rechtzeitig zum erwarteten politischen Machtwechsel in den USA – eine späte Kehrtwende. Sie kündigte eine »deutliche Änderung« ihrer Haltung an: Psychologen dürften sich ab sofort nicht mehr an Menschenrechtsverletzungen von Gefangenen beteiligen. Dennoch vermittelt die APA bis heute den Eindruck, dass sie die Diskussion um die Entwicklung und Durchführung von Techniken der weißen Folter nicht unmittelbar betreffe und dass es nur um Verfehlungen einzelner »schwarzer Schafe« gehe. Zugleich hat sie erkennen lassen, dass sie die verabschiedeten Resolutionen gegen eine Beteiligung von Psychologen an folterähnlichen Verhören nicht als verbindlichen Teil ihrer ethischen Richtlinien ansieht.

Wie sicher können wir vor dem Hintergrund solcher geschichtlichen Erfahrungen sein, dass der Schutz und die Menschenwürde des Einzelnen nicht bei nächster Gelegenheit wieder dem vermeintlich übergeordneten Interesse des Staates zum Opfer fallen?

Anmerkungen

1) Nach Schätzungen der israelischen Bürgerrechtsorganisation B'Tselem werden 85% aller palästinensischen Gefangenen gefoltert (vgl. B'Tselem (2007): Absolute Prohibition. The Torture and Ill-Treatment of Palestinian Detainees. Jerusalem). Nach Schätzungen des »Public Committee Against Torture« in Israel wurden allein zwischen 1987 und 1994 über 23.000 Palästinenser gefoltert (s.a. Public Committee against Torture in Israel (2008): 'Family Matters'. Using Family Members to Pressure Detainees Under GSS interrogation. Jerusalem).

2) Vgl. Dana Priest (1996): US instructed Latins on Executions, Torture; Manuals used 1982-1991, Pentagon Reveals, Washington Post, Sept. 21; Amnesty International (2001): Stopping the Torture Trade; Amnesty International (2002): Unmatched Power, Unmet Principles: The Human Rights Dimensions of US Training of Foreign Military and Police Forces; J.K. Harbury (2005): Truth, Torture, and the American Way: The History and Consequences of U.S. Involvement in Torture. Boston: Beacon Press; F.H. Gareau (2004): State Terrorism and the United States. From Counterinsurgency to the War on Terrorism. London: Zed Books; A. George (ed.) (2004): Western State Terrorism. Cambridge: Polity. Für eine Chronik siehe W. Blum (2004): Killing Hope. US Military and CIA Interventions since World War II. Monroe: Common Courage Press.

3) Schenk, D. (2008): BKA – Polizeihilfe für Folterregime. Bonn: Dietz.

4) S. O'Mara (2009): Torturing the brain: On the folk psychology and folk neurobiology motivating 'enhanced and coercive interrogation techniques', Trends in Cognitive Sciences, 13, 497-500.

5) Für weitere Details und Quellennachweise siehe R. Mausfeld (2009): Psychologie, »weiße Folter« und die Verantwortlichkeit von Wissenschaftlern. Psychologische Rundschau, 60, 229-240.

6) CIA (1963). KUBARK Counterintelligence lnterrogatioll. [http://www.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB122/index.htm#kubark] McCoy, A.W. (2005). Foltern und Foltern lassen. 50 Jahre Folterforschung und -Praxis von CIA und US-Mililär. Frankfurt: Zweitausendeins.

Rainer Mausfeld ist Professor für Allgemeine Psychologie an der Christian-Albrechts-Universität Kiel.

Kollektive Gewalt als Herausforderung

Kollektive Gewalt als Herausforderung

Überlegungen zur transdisziplinären Genozidforschung

von Mihran Dabag

Nicht alleine der Massenmord an den europäischen Juden, sondern auch zahlreiche andere Verbrechen des 20. Jahrhunderts haben die Diskussion um Genozide und die Notwendigkeit zur Erforschung genozidalen Handelns aufgeworfen.

1.

Wenn wir heute von der Aktualität der Forschung über Prozesse staatlicher Gewalt und Völkermord sprechen müssen, heißt dies dann nicht, dass wir bei einer entscheidenden Aufgabe, die uns der Nationalsozialismus hinterließ, versagt haben: nämlich bei der Verpflichtung an das »Nie wieder«?

Dass aus der Beschäftigung mit der Ermordung der europäischen Juden wichtige Orientierungen für eine Demokratisierung der gesellschaftlichen Strukturen gewonnen werden können, dies war einer der wichtigen Ausgangsgedanken nicht nur der deutschen Politik nach 1945. Doch erst aufgrund der Veränderungen in der internationalen Politik nach 1990, insbesondere durch die neue Nähe gewaltvoller Auseinandersetzungen, ist deutlicher bewusst geworden, dass man kollektive Gewaltphänomene nicht als historische Irrtümer behandeln kann. Auch reicht es nicht aus, die Gewalt auf dem Balkan, den Völkermord in Rwanda oder die Gewaltpolitik der sudanesischen Regierung gegenüber der Bevölkerung der Region Darfur als eskalierte Reaktionen oder als aggressive, durch Hass motivierte Ausbrüche zu beschreiben.

Können ähnliche oder sogar identische Ursachen für die einzelnen historischen Gewaltereignisse ausgemacht werden? Welche Unterschiede lassen sich für verschiedene Gewaltpolitiken feststellen? Inwiefern lassen sich aber für die jeweiligen Gewaltpolitiken vergleichbare, wiederholbare Strukturelemente typisieren? Unter anderem diesen Fragen widmet sich die seit den 1970er Jahren zunächst in anglo-amerikanischen Forschungszusammenhängen entstandene interdisziplinäre Genozidforschung. Denn, und so versteht die heutige Genozidforschung ihre Aufgabe, um Genozide zu verstehen reicht es nicht, einzelne Täter oder Tätergruppen zu untersuchen, sie in einen historischen Kontext einzuordnen oder ihre möglichen Motivationen zu charakterisieren, weil Genozide als gesamtgesellschaftliche Prozesse begriffen werden müssen.

Dies bedeutet zunächst (a), dass es notwendig ist, die Ursachen von Genozid generationenübergreifend nachzuzeichnen. Genozide sind Ereignisse, deren Beginn und Ende mittels Daten eigentlich nur symbolisch definiert werden können, so, wenn man einen Völkermord über den Antritt oder das Ende einer Regierung historisch zu verorten sucht. Zu berücksichtigen ist vielmehr die Entstehung des ideologisch-legitimatorischen Rahmens, die Entstehung des Verwaltungsapparats und die ersten veräußerlichten Gewaltformen. Ähnliches gilt auch für das Ende: denn Genozide haben generationenübergreifende Nachfolgen – dies nicht allein für die Opfer, sondern auch in bezug auf die Strukturen der Tätergesellschaft.

Es bedeutet ferner (b), dass die Einzelprozesse moderner Genozide nicht aus den Strukturen und Charakteristika moderner Gesellschaften herauszulösen sind. Zwar sind Planung und Durchführung der unterschiedlichen Prozesse, auf denen ein Völkermord aufbaut, nur als national spezifische Prozesse zu verstehen. Doch werden Verfolgungen und Gewalt mit Argumenten legitimiert, die zu allgemeinen Normen der modernen Wirklichkeit gehören: Stabilität, Gleichgewicht, die Wiederherstellung oder der Schutz von Identität, die Rede vom inneren Feind. Die Erwägung eines Genozids wird dabei insbesondere eingebunden in die gestaltende Planung der Zukunft der eigenen Gesellschaft – legitimiert als »Sicherung« oder »Rettung«, legitimiert mit allgemeinen Mustern von Fortschritt und Zivilisation.

Es bedeutet schließlich (c), dass Genozide nicht allein Ergebnis multifaktorieller Ursachen sind, sondern auch von multifaktorieller Gewalt bestimmt werden. Wir können Genozide nicht auf eine – letzte – Form der Ermordung, etwa in der Form eines Vernichtungsmassakers oder des Vernichtungslagers reduzieren. Genozid wird über Stufen verwirklicht: Stufen der Ausgrenzung, Stigmatisierung, Entrechtung; Stufen unterschiedlicher Gewalt. Aus diesen drei Charakteristika folgt ein weiteres Kennzeichen der Genozidforschung: Sie muss davon ausgehen, dass kein generell gültiges, allgemeines Verlaufsmodell von Genozid definiert werden kann.

2.

Vor diesem Hintergrund besteht das Ziel der Genozidforschung nicht darin, auf die zahlreichen Fälle staatlicher Gewalt aufmerksam zu machen, sondern auf die Vielfalt der Gewaltpolitiken zu verweisen, auf ihre Strategien und Mechanismen. Genozidforschung zeigt, dass Differenzierungen notwendig sind; Differenzierungen, die verweigern, so unterschiedliche Gewaltformen wie Bürgerkrieg und Krieg, Folter, Diskriminierung, Vertreibung oder Genozid unter einer einzigen geschichtlichen oder anthropologischen Ursache von Gewalt zu vereinheitlichen. Ansätze strukturvergleichender Untersuchungen widmen sich daher zunächst der definitorischen Unterscheidung des Genozids von anderen Formen kollektiver Gewalt: Massaker und »ethnischer Säuberung« im besonderen.1

So könnte man zunächst das Massaker als jene Gewalt eingrenzen, die einem kurzfristigen Ausbruch gleichkommt. Die Gruppe der Mordenden im Massaker weist nicht notwendig eine systematische Struktur der Schulung und Disziplinierung auf, es handelt sich zudem meist um eine einzelne und geschlossene Gruppe, in der nicht notwendig eine deutliche Funktionstrennung zwischen planenden und ausführenden Personen besteht. Die Verwirklichung und die angewendeten Mittel werden dabei häufig den Ausführenden selbst überlassen. Die Gruppe der Mordenden hegt darüber hinaus zunächst keinen längerfristigen, das heißt generationenübergreifenden Exterminationsplan, es geht vorrangig um eine situationale Eliminierung, eine »Bestrafungs-« oder »Racheaktion«. Die ideologischen ebenso wie die technischen Bedingungen des Massakers sind als gering einzuschätzen. Die Opfer des Massakers sind Angehörige einer als solcher klar erkennbaren Gruppe. Die Gruppe selbst ist, trotz des Massakers, in ihrer Existenz nicht gefährdet: das Massaker löscht Einzelpersonen oder auch Familien aus, nicht Generationen. Ein Massaker unterbricht somit nicht die Generationenfolge der Opfergruppe.

»Ethnische Säuberung« wäre der Versuch einer dominanten ethnischen Gruppe die Mitglieder einer anderen, nicht-dominanten ethnischen Gruppe, die innerhalb eines Staates oder eines Staatenbundes leben, aus einer bestimmten Region zu vertreiben oder zu ermorden (Massaker), mit der Absicht, durch die ethnische Homogenisierung der Bevölkerung die Herrschaft über diese Region zu erlangen oder zu sichern. Ethnische Gewalt wird demnach im Kontext eines Konfliktes bezüglich der Herrschaft über eine bestimmte geographische Region ausgeübt und richtet sich zunächst nicht gegen die Mitglieder einer ethnischen Gruppe im gesamten Staatsgebiet, sondern ausschließlich gegen jene, die innerhalb der beanspruchten Region leben. Ethnische Gewalt setzt nicht notwendig eine ideologische Legitimierung voraus.

Genozid schließlich wäre die mit dem ausgesprochenen Ziel der Extermination geplante, ideologisch begründete und systematisch durchgeführte Auslöschung einer spezifischen Bevölkerungsgruppe als solcher aus der Mitte einer Gesellschaft mit der Absicht den visionären Selbstentwurf einer homogenen Gesellschaft in Identität von Volk, Kultur, Territorium und Herrschaft durch die Vernichtung des als nicht-integrierbar definierten »Anderen« in kürzester Frist zu verwirklichen. Genozid ist somit ein nationales, gesamtgesellschaftliches, jeweils singulares Verbrechen, das sich in national spezifischen Transformationsprozessen vollzieht.

Diese Differenzierung entlang von Strukturaspekten ist der Beobachtung gezollt, dass sich eine Unterscheidung zwischen Genozid und anderen Gewaltpolitiken nicht anhand der jeweils ausgeübten Gewalt vornehmen lässt. So können Massaker oder Deportationen – als Todesmärsche – Methoden eines Genozids sein, ebenso wie die logistisch durchdachte, industrielle Vernichtung. Krieg und Bürgerkrieg können mit Massakern einhergehen, ebenso wie mit »ethnischen Säuberungen«. Festzustellen bleibt, dass es die eine, für einen Genozid typische Gewalt nicht gibt. So war die Gewalt der nationalsozialistischen Täter nicht nur modern, technisiert und entfremdet, sie war zugleich auch direkt, hasserfüllt, traditionell und »barbarisch«.

Und auch die ausgeübte Gewalt während des Genozids in Rwanda war nicht nur unmittelbar, wild, rauschhaft und somit gewissermaßen vormodern – wie es die zur Metapher für diesen Genozid avancierten Bilder der Macheten suggerieren -, sondern sie war zugleich geplant, in gesellschaftlichen Diskursen vorbereitet, medial propagiert und institutionell organisiert. Signifikanter als die ausgeübte Gewalt sind für eine Charakterisierung von Genoziden – wie bereits in der Genozidkonvention aus dem Jahr 1948 festgestellt wurde – die Intention der Täter, das Ziel der Vernichtung einer Bevölkerungsgruppe als solcher sowie, dies möchte ich erweiternd hinzufügen, die gesamtgesellschaftliche Verwirklichung der Vernichtungspolitik.

3.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf zwei Gefahren hinweisen: Die eine wäre der Versuch, Parameter aus den Struktureigenschaften der Shoah zu abstrahieren, um sie als generalisierte Muster über andere Formen kollektiver Gewalt zu stülpen – dies im übrigen nicht selten mit relativistischen Motiven.

Die andere wäre die Konzentration auf eine Fallsammlung, auf ein additive Reihung von verschiedenen kollektiven Gewaltverbrechen. Denn solche additiven Verfahren gehen doch häufig mit dem Versuch einher, über wilde und inflationäre Begriffsbildungen und ihre Hierarchisierungen eine Ordnung zu suchen. Hier denke ich an Begriffe wie »genozidales Massaker«, »Ethnozid«, »Politizid«, »Demozid«, »Ökozid« oder an den Begriff »Gendercide«.

Die Entstehung solcher Begrifflichkeiten sowie die Herleitung des Genozidbegriffs aus dem Völkerrecht2 hat in jüngerer Zeit dazu geführt, dass seine Tauglichkeit im Kontext insbesondere historischer Forschung problematisiert worden ist, da die Überführung einer politisch aufgeladenen juristischen Kategorie in die historische Analyse in eine Sackgasse von Typologien und Kategorien zu führen drohe, in ein Ranking von Gewalterfahrungen, in eine Hierarchisierung von Leid. Aus diesen Gründen ist wiederholt angemahnt worden, den Begriff als wissenschaftliche Kategorie aufzugeben. Alternativ wurden Begriffe wie »Massenmord« oder »Massaker« vorgeschlagen.3

Genozid aber ist kein solcher Begriff, der die besondere Schrecklichkeit einer Gewalt benennt, fast könnte man sagen: auszeichnet. Folglich besteht das Ziel der Genozidforschung auch nicht darin, Opferzahlen zu quantifizieren und über historische Analysen die Schwere einer Tat festzustellen, um dies schließlich mit dem Begriff »Genozid« zu etikettieren. Im Gegenteil wurde der Begriff geschaffen, um die Struktur einer Gewaltpolitik zu charakterisieren, wobei im Zentrum des Interesses eben das Politische der Gewalt steht. Anliegen der Genozidforschung ist es einerseits auf die differenten Strukturen von Gewaltpolitiken aufmerksam zu machen sowie Genozidpolitik in einem erweiterten gesellschaftlichen Rahmen zu betrachten und andererseits detaillierte Einzelstudien zu weniger erforschten Akten kollektiver Gewalt durchzuführen.

So umfasst das Arbeitsgebiet der Genozidforschung heute drei Aufgabenbereiche: 1. die historische Einzelfallanalyse; 2. interdisziplinäre, komparative Untersuchungen zu einzelnen Strukturen, Institutionen, Prozessen, Ideologemen oder Motivationen im Genozid und 3. Analysen zu den Wissensmustern, Identitätsbildern und Identitätsentwürfen moderner Gesellschaften. Gerade mit den beiden zuletzt genannten Aspekten erweitert die Perspektive der Genozidforschung die bisherigen historischen Analysen über Gewaltprozesse um ein komplexes Analysefeld. Es sind die sozialpsychologischen Aspekte der Intention der Täter, ferner die Verwicklung des Einzelnen in die Gewaltpolitik, die Rückbindung der Gewaltpolitik an verbindliches Wissen und gültige Diskurse, sowie die verursachten Nachfolgen, die – in Einzelaspekten – sowohl für die Einzelfallforschung, als auch für komparative Analysen zugänglich gemacht werden.

4.

Im Zeitalter der immer noch von kollektiver Gewalt gezeichneten globalisierten Weltgesellschaft, die allerdings weitgehend (national)staatlich verfasst und deren Ringen um regionale Stabilität weiterhin am Gedanken homogener Staatlichkeit orientiert ist, sind wir dabei besonders davon herausgefordert, dass wir zwar von einer historischen Verpflichtung an ein »Nie wieder« gesprochen haben, doch zugleich keine Regungen erkennen lassen, den Genozid in Darfur als Problem wahrzunehmen. Zu leicht willigen wir ein in eine allgemeine Rede über Weltrisiken, Konfliktrisiken, Politikrisiken, Gewaltrisiken, Umweltrisiken; zu leicht akzeptieren wir auch heute noch, unter dem hohen Ziel regionaler Stabilität und der Verlässlichkeit politischer Ansprechpartner und Absprachen, homogenisierende, ja gewaltvoll homogenisierende Staatenbildungen. Es ist daher auch eine Forschungsaufgabe der strukturvergleichenden Genozidforschung, die aktuelle Konzentration auf eher enthistorisierte Konfliktbetrachtungen zu prüfen und die Problematik einer Fokussierung von Dynamiken der Gewalt selbst zu erörtern und darauf aufmerksam zu machen, eben nicht nur das Risikopotential zu analysieren, das letztlich die Opfergruppen als Minderheiten womöglich in sich tragen, sondern die Motivationen der Täter wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Nicht zuletzt macht die Genozidforschung somit auch auf Fehlstellen in öffentlichen und politischen Diskursen aufmerksam.

Ihr hier nur kurz skizziertes Forschungsfeld ist ebenso transdisziplinär wie spezifisch. Es wirft aber auch sehr grundsätzliche Fragen für die Grundlagenforschung der einzelnen Disziplinen auf, um sich dem komplexen Geflecht von Wissen, Diskurs und politischem Handeln anzunähern, die Ursachen kollektiver und staatlicher Gewalt nicht zu schnell in zwangsläufigen Kausalzusammenhängen von Ethnizität und Konflikt, Ausgrenzung und Gewalt zu typisieren, sondern auch Absichten und Strategien zu berücksichtigen – und damit auch zu sehen, dass wir uns mit den Wissensgrundlagen moderner Gesellschaften beschäftigen müssen. Nicht zuletzt – und dies ist eine besonders schwer zu akzeptierende Herausforderung – weist die Genozidforschung darauf hin, dass viele der Wissensgrundlagen in den Legitimationen von Genozid auch heute noch gültig sind. Die Aktualität der Genozidforschung ist darin begründet, dass es auch heute noch möglich ist, Völkermord zu denken.

Anmerkungen

1) Vgl. zu den folgenden definitorischen Eingrenzungen ausf.: Dabag, Mihran (2005): Modern Societies and Collective Violence: The Framework of Interdisciplinary Genocide Studies, in: Graham C. Kinloch/Raj P. Mohan (Hrsg.): Genocide: Approaches, Case Studies and Responses. New York, S.37-62, hier S.41ff. Dort finden sich auch weitere, sicherlich notwendige definitorische Eingrenzungen, etwa gegenüber Krieg und Bürgerkrieg.

2) Geprägt wurde der Neologismus »Genozid« von dem Völkerrechtler Raphael Lemkin in seinem 1944 veröffentlichten Bericht Axis Rule in Occupied Europe (Washington D.C. 1944) über die nationalsozialistische Besatzungspolitik im Osten Europas. Lemkin war dann auch zentral an der Formulierung der »Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord« beteiligt, die am 9. Dezember 1948 verabschiedet wurde. In der Konvention wird »Genozid« explizit als strafrechtlicher Tatbestand definiert, nämlich als eine Handlung, »die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.«

3) Vgl. etwa Sémelin, Jacques (2007): Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden, Hamburg.

Prof. Dr. Mihran Dabag ist Leiter des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum

Genozid endet nie

Genozid endet nie

Gefangen im kollektiven Gedächtnis

von Andréa Vermeer

Dieser Beitrag beschreibt den Genozid an den irakischen Kurden und die bis heute währenden Nachwirkungen auf kurdische Familien. Eine der ersten Voraussetzungen für eine nachhaltige Friedensarbeit im Irak ist das grundlegende Verständnis für komplexe Gesellschaftsstrukturen und die Beziehungen verschiedener Gruppen zueinander. Im Irak sind diese Beziehungen auch geprägt von der früheren Gewalt der Baathdiktatur. Von Versöhnung unter den Irakern kann noch lange keine Rede sein.

Die Allmacht der Vergangenheit

Im Irak ist für alle beteiligten Interessengruppen der Aufbau verlässlicher politischer Institutionen und die Neuformierung einer zivilen Gesellschaft ein Drahtseilakt. Ein unüberschaubares Geflecht von Konfliktlinien, mit Konsequenzen wie beispielsweise der ethnischen Säuberung in einigen Stadtvierteln von Bagdad, zwingt zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit den Konsequenzen einer jahrzehntelangen Diktatur.

Unter der Herrschaft des Baathregimes wurden Minderheiten im Irak systematisch verfolgt, unterdrückt und getötet. Der Giftgasangriff auf den kurdischen Ort Halabja im März 1988 steht international symbolisch für den Genozid an den irakischen Kurden.1 Unter der Führung von Ali Hassan al-Majid, international bekannter unter dem Namen »Chemical Ali«, tötete das Baathregime in rund sechs sogenannten »Anfal Operationen« Kurden mit dem Ziel sie zu vernichten. Der militärische Codename »Anfal« stammt aus dem Koran und bedeutet im Zusammenhang mit Krieg »Beutezug«. Anfal Operationen beschreiben eine militärische Strategie des Baathregimes, die darauf zielt, die Kurden zu vernichten und die Region Kurdistan zu arabisieren. Saddam Hussein verfolgte ebenfalls die Schiiten im Süden des Iraks rund um die Stadt Basra. 1991 richtete die UN zwei Flugverbotszonen im Norden und Süden des Iraks zum Schutz der Bevölkerung ein, die vom Baathregime verfolgt wurde. Entsprechend den Genozid Konventionen (Artikel II) wird der Begriff Genozid hier in Bezug auf die »Anfal Operationen« im Jahre 1988 verwendet, da die Kurden aufgrund ihrer Ethnie als Minderheit im Irak verfolgt und getötet wurden.

Die massive Verfolgung der Kurden begann bereits in den Jahren 1986 bis 1988. Nach einem Bericht von Human Rights Watch (Human Rights Watch Report 1993) wurden Hunderttausende Kurden verschleppt und getötet. Nach dem Fall des Diktators Saddam Hussein im Jahr 2003 kam für kurze Zeit bei den Überlebenden und Angehörigen Hoffnung auf, dass ihre verschwundenen Söhne, Ehemänner und Väter endlich in ihre Heimat zurückkehren könnten. Doch bis heute ist keiner zurückgekehrt. Stattdessen wird ein Massengrab nach dem anderen gefunden. Die kurdischen Familien sind hilflos gefangen im kollektiven Gedächtnis des Geschehenen. Dies gilt besonders für die Witwen und ihre Kinder, da sie ohne Zukunft leben in einer Gesellschaft, in der sich alles um die Figur des Vaters, des Mannes dreht.

Schleichende Vorbereitungen eines Völkermords

In einem Artikel beschreibt Ronald Ofteringer den politischen Bezug zwischen der Ideologie der Baathpartei und dem später verübten Völkermord an den Kurden. Der Gründer der Baathpartei, Michel Aflaq, erklärte 1959 das Dogma seiner nationalistischen Partei in Beirut. Ziel war demnach, die Arabische Union, die nach der Kolonialisierung zersplittert worden war, wieder zu vereinigen. Er setzte diese Mission der Wiedervereinigung mit der Rettung eines lebenden Körpers und dessen Gliedmaßen gleich. Beschneide man diesen Körper, so sei dies eine tödliche Bedrohung für den gesamten Körper – entsprechend sei die Zersplitterung der Arabischen Nation als Gefahr zu verstehen. Zwei Feinde wurden definiert: zum einen der fremde und ausländische Widersacher, zum anderen der sogenannte innere Feind. Letzteres galt für die Kurden. Artikel 15 des Baathstatuts deklamiert den Kampf gegen die »Feinde der Arabischen Nation«, seien es andere Konfessionen, Lehren, Stämme, Rassen und Regionen. Interessanterweise lehnte das Baathregime die Entstehung einer Nation Kurdistan nie ab, betonte aber, daß dies lediglich auf den Territorien des Iran oder der Türkei geschehen könnte. Denn das Land der kurdischen Region im Norden Iraks gehöre dem Irak. Der jahrelange folgende Konflikt zwischen den Baathisten und Kurden war früh vorgezeichnet und die Eskalation bis hin zu den »Anfal Operationen« 1988 absehbar.

Genese des Genozids im Irak

Genozide geschehen nie in einem kurzfristigen Zeitraum. Völkermorde erfordern eine lange Vorbereitung – ohne Kompromisse und mit einem klaren rassistischen Dogma. Dieses wiederum muss fest in einer Diktatur oder einer dominierenden Gruppe verankert sein, gepaart mit einer vollkommenen Negierung der Menschenrechte. Es gibt unterschiedliche Theorien, um das Phänomen Völkermord, eine Form von Gruppengewalt, zu erklären. Ervin Staub illustriert in seinem Beitrag »Genocide and Mass killing«, welche sozialen Bedingungen förderlich für Gruppengewalt sein können: Wirtschaftskrisen, politische Konflikte, aber auch schnell stattfindende substantielle gesellschaftliche Veränderungen. Der spätere Genozid im Irak begann mit politischen Konflikten und der Ideologie des Baathregimes. Die Kurden stellten für die Baathisten eine Feindgruppe dar, die eine Bedrohung für die Wiedervereinigung der Arabischen Nation war.

Halabja ein Symbol für den Genozid

Eine Reise nach Halabja bedeutet ein Zusammentreffen mit kurdischen Familien.* Als Ausländerin wird man schnell umringt und bekommt viele Fotos zu sehen. Menschenhaufen, vergiftete Frauen und Kinder und entstellte Gesichter verdeutlichen die grausame Sprache des Genozids. Ein Kurde zeigt auf den abgebildeten Menschenhaufen und sagt: „Dies ist meine Mutter und dort mein Vater.“ Die Überlebenden zeigen ihre Wunden, tief vernarbte Glieder, Augen die langsam erblinden; eine Frau schlägt sich auf die Brust, jeder Atemzug ist eine Qual für sie, ihre Lungen sind verätzt vom Giftgas, zugeliefert von deutschen und niederländischen Chemiefirmen.

Die militärische Offensive des Baathregimes gegen die Kurden, die »Anfal Operationen«, wurden vom 23. Februar bis zum 6. September 1988 ausgeführt. Während dieser Angriffe in der kurdischen Region im Norden des Irak wurde die kurdische Bevölkerung von arabischen Truppen umzingelt, dann in Sammellager verschleppt und getötet. Die Anzahl der Toten wird auf 150.000-200.000 geschätzt.

Der Ort Halabja steht heute auf nationaler Ebene sinnbildlich ebenso für Widerstand und Kritik an der Kurdischen Regionalregierung. So weigerten sich die Bewohner von Halabja jedes Jahr aufs Neue eine Gedenkfeier anläßlich des Giftgasangriffs auszurichten, weil die Opfer und Betroffenen ihrer Meinung nach nicht ausreichend finanziell unterstützt werden. Sie bildeten ein Komitee in der Hoffnung, die internationalen Medien auf ihr Dilemma aufmerksam zu machen. Sie brannten Denkmäler ab und bezeichneten sie als Augenwischerei.

Bisher hatten sie wenig Erfolg. Fast jeder nimmt daher die Gelegenheit wahr, mit ausländischen Besuchern zu sprechen, ihnen seine Probleme und Sorgen zu erklären. Konkrete Forderungen sind häufig Geld, vielleicht auch mangels einer Vision für den Ort und seine Bewohner. Ein künstlich angelegter Friedhof soll symbolisch als Trauerplatz für die Angehörigen dienen. Doch gemäß der landesüblichen Tradition gehen nur Männer auf den Friedhof. Frauen trauern zu Hause. Am Eingang des Friedhofs steht ein unmissverständliches Schild: „It is not allowed for Baathist to enter.“ Von Versöhnung sprechen die wenigsten Dorfbewohner und der Hass auf die Baathisten ist noch deutlich zu spüren.

Von Traumatherapie darf offiziell nicht die Rede sein, da gerade in Halabja viele Islamisten leben, die eine psychologische Betreuung der Bewohner ablehnen. Für sie ist Therapie etwas Schamvolles, aiba. Menschen, die so etwas nötig haben, seien verrückt, so die geläufige Meinung. Einige Nichtregierungsorganisationen versuchen die psychologische Betreuung geschickt mit der gesundheitlichen Vorsorge zu verknüpfen, doch dies gelingt nicht umfassend genug, um den Menschen ausreichend zu helfen. So bleiben sie sich allein überlassen mit ihren traumatischen Erinnerungen. Ende 2007 eröffnete die Nichtregierungsorganisation »wadi e.V.« ein Frauen-Café in Halabja in der Hoffnung, dass Frauen sich durch offene Gespräche untereinander Kraft geben können, um gemeinsam ihre Zukunft zu meistern. In der kurdischen Hauptstadt Hawler, der arabische Name ist Erbil, gibt es ein Ministerium für die Anfal-Opfer und -Märtyrer. Wenige in der Bevölkerung wissen, welche Aufgaben es konkret erfüllt. Das Ministerium gibt auf Anfrage nur dürftige und vage Informationen.

Kollektives Gedächtnis des Genozids

Um den Zustand der Menschen in Halabja und der anderen Anfal Opfer nachzuvollziehen, ist es sinnvoll, auf den Begriff des kollektiven Gedächtnisses einzugehen. Viele Gelehrte haben über die Folgen eines Genozids geforscht und darauf verwiesen, dass jeder Überlebende eine Sozialisierung des Todes erfährt. Es entsteht ein Leitmotiv des Todes, da die Überlebenden den Tod unmittelbar wahrgenommen haben und daher das Gefühl entwickeln, den Tod selbst erlebt zu haben. Maurice Halbwachs beschreibt in seinem Buch »Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen« (1985) die Beziehung der individuellen Erinnerung zu einem kollektiven Gedächtnis. Jede Erinnerung beruht in der Regel auf eigenen Erfahrungen und deren individueller Rekonstruktion eines Teils der Realität.

Aber das Individuum, in diesem Falle die kurdischen Opfer der »Anfal Operationen«, teilt seine Erinnerungen an den Völkermord mit vielen anderen Personen, die am gleichen Ort waren, zur selben Zeit und die nun dieselben Wörter und Sinngebungen formulieren. Einzelne Ereignisse, die nur eine individuelle Person als Zeuge erlebt hat, bleiben nicht länger eine individuelle Erinnerung, sondern fließen ein in das Gedächtnis anderer Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Die Überlebenden von Massakern und Deportationen entwickeln ein Trauma, welches sie miteinander verbindet. Konsequenterweise wird ein Individuum ein Teil der Opfergruppe und somit seine persönliche Erinnerung ein Teil des kollektiven Gedächtnis.

Die Menschen in Halabja und den anderen kurdischen Gegenden, wo die »Anfal Operationen« wüteten, müssen mit diesem kollektiven Gedächtnis und ihrem Trauma leben. Ein wesentlicher gesellschaftlicher Faktor kommt erschwerend für die weiblichen Überlebenden hinzu, weil der Status einer Familie von den männlichen Familienmitgliedern bestimmt wird. Der Mann ist Familienoberhaupt und ohne seine Entscheidungsgewalt wird weder geheiratet noch gereist. Für die Trauer und die Verarbeitung des Geschehenen ist es besonders für die größtenteils gläubigen Sunniten unter den Kurden lebenswichtig, dass die Leichname der Toten gefunden und bestattet werden. Kann der Tod des Angehörigen nicht in Form eines Körpers nachgewiesen werden, gilt der Mann offiziell als verschwunden. Dieses wiederum bedeutet, daß die Witwen trauern müssen und nicht wieder heiraten dürfen bis ihre Männer offiziell seitens der Regierung für tot erklärt werden. Auch aus wirtschaftlicher Perspektive betrachtet ist es ein Desaster für die Frauen, die überwiegend in Abhängigkeit eines Mannes leben. So endet der Genozid für die Hinterbliebenen nie. Sie warten oft vergeblich auf die Rückkehr ihrer Männer und Söhne. Familien verbringen Jahre damit, verzweifelt nach den Überresten ihrer Angehörigen zu suchen. Deshalb kommt der Öffnung eines jeden Massengrabes im Irak eine besondere Bedeutung zu. Nur wenn darin der Leichnam gefunden wird, darf sich die Frau wieder gemeinsam mit ihren Kindern in die Gesellschaft einordnen und offiziell ihre Trauer beenden.

Friedensmaßnahmen mit dem Erbe des Misstrauens

Betrachtet man den Genozid an den Kurden, zeigt sich, wie gefährlich die internationale Ignoranz im Hinblick auf die jahrelangen Entwicklungen von Arabisierung bis hin zu den »Anfal Operationen« des Baathregimes war. Ebenfalls ignorant ist es so zu tun, als sei dies alles schon lange her und habe keine Relevanz mehr für zukünftige friedensbildende Maßnahmen. Die Schlagwörter Demokratie und Versöhnung schallen von überall her. Viele NGOs haben sie sich pflichtbewußt auf ihre Fahne geschrieben. Doch ihre Umsetzung in der Gesellschaft nach einer jahrelangen Diktatur, nach jahrelangem Morden und Hassen, lässt verständlicherweise auf sich warten. Selbst untereinander haben Familienmitglieder nicht unbedingt Vertrauen – geschweige denn zu Freunden oder Nachbarn.

Bis heute gibt es keine wirkungsvolle Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Gerichtsprozesse waren vor allem ein mediales Ereignis. So finden sich heute Personen an Universitäten, in Krankenhäusern und in wichtigen politischen Positionen, die das Baath Regime unterstützt haben und an der Tötung von Kurden beteiligt waren. Dies ist keinesfalls ein Zeichen für eine gelungene Versöhnungspolitik, vielmehr verändern und verwischen sich die Grenzen der Rollen, wer Opfer und wer Täter ist und war. Die Zeiten ändern sich und bringen neue Allianzen hervor. Wer früher als Kurde mit dem Baathregime kooperierte, seine eigenen Landsleute verriet, musste bisher keine Angst haben, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ehemalige Baathisten fliehen aus Bagdad nach Kurdistan und unterrichten hier, arbeiten als Ärzte. Dies ist für viele Kurden nicht mehr nachvollziehbar und löst Unfrieden aus.

Der Genozid an den Kurden ist ein entscheidendes Argument für eine kurdische Abgrenzung zum anderen Teil des Iraks. Das kollektive Gedächtnis zieht sich durch die gesamte kurdische Gesellschaft, denn jedes Kind lernt, was es bedeutet, Kurde oder Kurdin zu sein. So beschreibt ein Arzt das, was Schulkinder lernen: „Sie lernen, dass wir als kurdisches Volk immer das Ziel derjenigen waren, die unsere Nation zerstören und uns zu ihrem Vorteil auslöschen wollten. Sie lernen auch, dass wir ein Recht auf ein eigenes Land haben.“

Die Tatsache, daß die beiden kurdischen Führer – Barzani von der Kurdischen Demokratischen Partei KDP und sein Konkurrent Talabani von der Patriotischen Union Kurdistan PUK – sich gegenüber ihrer kurdischen Bevölkerung illoyal zeigten, um ihre eigenen Herrschaftsansprüche zu sichern, beschreibt einen zusätzlichen tiefen inneren Konflikt in der irakisch-kurdischen Gesellschaft. Ein NGO Mitarbeiter erzählt: „Die Menschen vergessen schlechtes und verräterisches Verhalten ihrer eigenen Führer nicht; und sie fühlen sich immer noch verraten.“

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie kompliziert es ist, über Versöhnung und Frieden im Irak zu sprechen. Allein die internen lokalen Konflikte liegen auf vielschichtigen Ebenen in allen Teilen des Landes auch dort, wo eine scheinbare homogene Gesellschaft lebt.

Frieden aufbauen bedeutet in die Zukunft zu blicken, jedoch auch die Vergangenheit zu reflektieren. Es bedarf einer Vision, einer konkreten Mediation auf mehreren Ebenen, um konsequent erste Schritte in Richtung Frieden zu gehen. Für einen Friedensprozess im Irak wird es schwer sein, neutrale Vermittler zu finden, die von allen Konfliktparteien akzeptiert werden. Iraker aus der Diaspora sind nicht immer gut angesehen bei ihren Landsleuten, weil ihnen Arroganz und Besserwisserei vorgeworfen wird. Viele Rückkehrer haben einen sehr guten wirtschaftlichen Status aber dafür keinen politischen, so dass sie kaum Einfluss nehmen können auf die politische oder gesellschaftliche Entwicklungen. Für die meisten Menschen im Irak, die dort geblieben sind, ist es lebensnotwendig zu begreifen, wie sie mit ihrem kollektiven Gedächtnis umgehen können. Nur dann wird es gelingen, dass die Menschen sich gegenseitig vertrauen und Hoffnung für eine gemeinsame Zukunft schöpfen.

Literatur:

Heinz Abels (1995): Zeugnis der Vernichtung. Über strukturelle Erinnerungen und Erinnerung als Leitmotiv des Überlebens. In: Platt, Kristin/Dabag, Mihran (Hrsg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Opladen: Leske+Budrich, S.305-337.

Cristina Karrer (1998): »Sie haben unsere Männer verschleppt…« Frauen und Krieg in Irakisch Kurdistan, eFeF-Verlag Bern, 1. Ausgabe.

Michiel Leezenberg (1999): Violence and Modernity: The Baath's Ambiguous Heritage in Iraqi Kurdistan. In: Irakisch-Kurdistan, Status und Perspektiven, Awadani e.V. Berlin, S.159-166.

Ronald Ofteringer (1999): Die Baath-Partei und die Kurden. In: Irakisch-Kurdistan, Status und Perspektiven, Awadani e.V. Berlin, S.147-157.

Ervin Staub (2000): Genocide and Mass Killing: Their Roots and Prevention. In: Chritre, Daniel J./Wagner, Richard/Winter DuNann, Deborah: Peace, Conflict and Violence, Prentice Hall, S.76-86.

Martin Strohmeier/Lale Yalcin-Heckmann (2000): Die Kurden. Geschichte, Politik, Kultur. München: C.H.Beck.

http://hrw.org/reports/1993/iraqanfal/

Anmerkungen

Die Autorin lebte während ihrer Feldforschungen für rund neun Monate im Nordirak und besuchte Halabja zuletzt am 25. Mai 2007. Im Januar 2008 nahm sie an der ersten Genozid- Konferenz in Irak-Kurdistan teil.

1) Der Begriff Genozid wurde während eines Prozesses in Den Haag 2003 verwendet, als es um die Verurteilung eines Niederländers ging, der Saddam Hussein mit Chemikalien versorgt hatte, die nachweislich beim Giftgasangriff auf Halabja verwendet wurden. Der Genozid Begriff ist nicht unumstritten. Barbara Harff, schreibt in: Genocide, commissioned by the Human Security Center, 17. Juli 2003, S.5, dass die Ideologie der Baathpartei keine politische Opposition und keine ethnische Separation zugelassen habe. Sie folgert daher, dass die »Anfal Operationen« der Unterdrückung von separatistischen Tendenzen dienten und kein Genozid an den Kurden.

Andréa Vermeer ist Mitglied am Zentrum für Konfliktforschung in Marburg und forscht für ihre Doktorarbeit über zivile Friedensprozesse im Irak. Sie arbeitet freiberuflich seit 15 Jahren als Fernseh- und Hörfunk-Journalistin und übernimmt regelmäßig fachliche Beratungen zu Entwicklungen im Irak.

Flüchtlingslager als Dauereinrichtungen

Flüchtlingslager als Dauereinrichtungen

Wenn der Schutzraum zum Konfliktraum wird

von Leila Mousa

Flüchtlingslager entstehen, wo Flüchtlinge in größerer Zahl aus Angst vor Unterdrückung, Folter, systematischer Diskriminierung oder vor kriegerischen Auseinandersetzungen ihre Herkunftsländer verlassen und auf der Suche nach einer sicheren Zuflucht eine internationale Grenze überschreiten. Der Artikel geht der Frage nach, welche Konflikte auftreten, wenn Flüchtlingslager zu dauerhaften Einrichtungen werden. Dazu werden verschiedene Flüchtlingssituationen weltweit vergleichend betrachtet. Im Ergebnis zeigt sich, dass für Flüchtlinge unter Lagerbedingungen Sicherheit, Menschenwürde und Entwicklung häufig nicht gewährleistet sind.

Flüchtlingslager sind Schutzräume höchst widersprüchlichen Charakters: Obgleich mit dem Label »temporär« versehen, werden 70% aller Flüchtlingssituationen zu einem permanenten Zustand, in dem Flüchtlingsgemeinschaften teilweise über Jahrzehnte in ihrem vermeintlichen Übergangsstatus verharren (Loescher & Milner, 2005). Der UNHCR schätzte Ende 2003 ihre Zahl – den Fall der Palästinenser ausgenommen – auf 38, mit einer betroffenen Flüchtlingsbevölkerung von etwa 6.2 Mio. (UNHCR, 2004). Nicht nur wird der »humanitäre« Raum der Lager von zahlreichen internationalen Organisationen versorgt, er ist auch einer Vielzahl von Akteuren und deren politischen und ökonomischen Interessen ausgesetzt. Da er für das Rückkehrrecht seiner Bewohner steht und eine direkte Verbindung zum Herkunftsland und -konflikt darstellt, verfügt er zudem über eine wichtige politische Dimension.

Die Handlungsorientierte Geographische Konfliktforschung bezweckt, verschiedene Akteure herauszuarbeiten, ihre Interessen und Strategien, die den Schutzraumcharakter bestimmen, aber auch gefährden, zu rekonstruieren und die geographischen Implikationen zu klären. Der Ansatz ermöglicht es, die Interessen innerhalb eines konfliktrelevanten Netzwerks zu veranschaulichen. Dabei rücken Akteure und ihr Handeln als die „zentralen Elemente der Interaktion im Konflikt“ (Reuber, 1999, S.4) in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Die Integration sozial- und politikwissenschaftlicher Teiltheorien in einen handlungstheoretischen Untersuchungsrahmen erlaubt es, Machtpotentiale der Akteure (Ressourcen, Strategien) sowie gesellschaftliche Rahmenbedingungen (Institutionen, »Spielregeln«) zu beleuchten. In einer konstruktivistischen Perspektive gelten dabei räumliche Bezüge oder Raumbilder als Ressourcen, die für politische oder andere Interessen strategisch eingesetzt werden können.

Methodisch basieren die Erkenntnisse dieses Ansatzes der Konfliktforschung im Wesentlichen auf Projektberichten und Problemanalysen von sowie Interviews mit Vertretern internationaler Nichtregierungsorganisationen (z.B. Human Rights Watch, Médecins Sans Frontières, International Crisis Group) und des UNHCR, die hinsichtlich globaler Flüchtlingserfahrungen in vergleichender Perspektive ausgewertet werden. Zudem wurden zur spezifischen Situation der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon Feldforschungen durchgeführt. Im Folgenden werden einige mit diesem Ansatz gewonnene Hauptergebnisse dargestellt.

Vom Schutzraum zum Konfliktraum

Seit einigen Jahren sind Flüchtlingslager stark in eine Kritik geraten, die sich zu großen Teilen auf selbst produzierte Probleme bezieht. Das Image der Lager als Schutzraum konkurriert mit zahlreichen Negativimages: Schlachtfeld, Angriffsfläche, rechtsfreier Raum, Rückzugsraum, militärisches Trainingscamp, Nachschubzentrum, »Müllhalde des Krieges« …

Mit Lagern können zahlreiche Probleme auftreten, die den zivilen und humanitären Charakter konterkarieren und eine Gewährleistung der Schutzfunktionen in Frage stellen oder unmöglich machen: Angriffe von Seiten des Herkunftslandes, Militarisierung der Lager von innen, Rekrutierung und militärische Ausbildung von Flüchtlingen usw. Erfahrungen aus Ruanda, Kongo und Burundi in den 1990er Jahren, aber auch aus Südost- und Südasien haben gezeigt, dass Lager bereits nach kurzer Zeit destabilisierende Wirkung auf das Aufnahmeland oder die gesamte Region haben können.

Nach nur kurzer Zeit entwickelt sich in Flüchtlingslagern eine differenzierte gesellschaftliche Dynamik. Soziale und wirtschaftliche Aktivitäten entfalten sich, aber v.a. wird die kulturelle und politische Identität der Flüchtlinge zu einem tragenden Faktor. Räumliche Referenzen zum Herkunftsland bzw. der Herkunftsregion sind dabei häufig zu finden: Die Flüchtlinge halten nicht nur an alten räumlichen und gesellschaftlichen Strukturen fest, sondern neigen zudem zur Bildung von ethnischen oder politischen Zusammenschlüssen (vgl. Brett & McCallin, 2001, S.68) und tragen ihre ethnische, religiöse oder politische Zugehörigkeit entsprechend nach außen. So sind Flüchtlingslager „einerseits materieller Ausdruck des internationalen Flüchtlingsregimes und andererseits segregierte Räume eines kulturell und politisch Anderen“ (Hyndman, 2000, S.88), und neben historischen und Zeitaspekten sind diese Faktoren bestimmend für die Beziehung zwischen den Flüchtlingen und ihrem jeweiligen Aufnahmeland.

Eine weitere Ursache dafür, dass Lager zu Konflikträumen werden, liegt in ihrem strategischen Potential. Hilfsorganisationen sowie Ressourcen sind dank einer veränderten Geberpolitik seit dem Ende des Kalten Krieges heute umfangreicher denn je. Die Staaten als wichtigste Gebergruppe setzen ihre Mittel verstärkt im Bereich der humanitären Hilfe ein. Gleichzeitig hat auch die Zahl der Akteure in den Lagern zugenommen. Zahlreiche Akteure versuchen, sich diese enormen Ressourcen, das daran gebundene Versorgungssystem, aber auch den Schutzstatus der Lager zunutze zu machen.

Akteure – Interessen – Impact

Militarisierung: Mit seinen »hilflosen Flüchtlingsmassen« und aufgrund seines zivilen Charakters bietet ein Lager das ideale Versteck (Rekrutierungsraum, Versorgungslager) für politisch-militärische Gruppierungen, die sich aus der Flüchtlingsgemeinschaft konstitutieren und dort von dem Schutzcharakter des Lagers und meist auch von der Unterstützung der Flüchtlingsbevölkerung profitieren. Laut Stedman und Tanner (2003) kommt es in etwa 15% der Flüchtlingskrisen zu einer Militarisierung der Flüchtlinge, „sei es mit dem Ziel der Rückkehr in das Herkunftsland, eines Regimewechsels oder des Aufbaus eines eigenen Staates“ (ebd., 2003, S.3, 6). In den 1970er und 1980er Jahren haben Flüchtlinge in Zentral- und Südafrika, am Horn von Afrika, in Südasien, Südostasien sowie in Zentralamerika gegen die Regierungen ihrer Herkunftsländer gekämpft (ebd., S.5). Die salvadorianischen Lager in Honduras und die palästinensischen Lager im Libanon zeigen, dass Flüchtlingslager selbst in einer feindlich gesonnenen Umgebung eine Zufluchtsstätte für militärische Gruppierungen bieten können (vgl. Terry, 2002, S.9).

Besonders anfällig für Rekrutierungsmechanismen sind permanente Flüchtlingssituationen, in denen Grundrechte nicht gewährleistet sind und wo aufgrund fehlenden politischen Willens keine Perspektiven für eine Verbesserung der Situation bestehen. Für die Flüchtlinge kann die Rekrutierung eine Option zur Verbesserung ihrer Lage darstellen. Oft bedeutet sie einen besseren Zugang zu Statussymbolen, zu Ressourcen und Dienstleistungen, aber auch Prestige oder die Erfüllung einer religiösen Pflicht. Im Unterschied dazu basiert der unfreiwillige Anschluss an eine militärische Gruppierung auf Einschüchterung, Schikane oder physischer Gewalt, in wenigen Fällen sogar auf der Entführung von Flüchtlingen (vgl. Mousa, 2005, S.61-62). Brett & McCallin (2001) stellen allerdings fest, dass die „Scheidelinie zwischen freiwilliger und erzwungener Teilnahme an Kampfhandlungen sehr ungenau und zweideutig“ ist (ebd., S.52), da die Flüchtlinge aufgrund ihrer ökonomischen, kulturellen oder sozialen Umstände indirekten Zwangsmechanismen unterliegen.

Patronage: Für das Aufnahmeland und die Geberländer sind die Versorgungsstrukturen ein ideales Mittel, in Form verdeckter politischer Patronage ihre eigenen Interessen zu verfolgen: In den afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan spielten die pakistanischen Behörden eine wichtige Rolle in der gezielten Versorgung der politisch-militärischen Gruppierungen im Lager. Das gesamte Verteilungssystem wurde so strukturiert, dass es den Widerstand unterstützte (Terry, 2002). Auch die Vereinigten Staaten und Saudi Arabien sahen in den 1980er Jahren ihre Interessen in den Lagern vertreten; ihre Gelder flossen über die Flüchtlingslager indirekt zu den Gruppierungen, die die Lager als Operationsbasen gegen die Sowjetunion nutzten (Stedman & Tanner, 2003, S.5).

Machtstrukturen: Die Beteiligung politisch-militärischer Gruppierungen an der Versorgung und Verwaltung der Lager bietet ihnen Mittel und Wege zur Machtergreifung und -ausübung über die Bevölkerung. Dabei sind solche Gruppierungen entweder in einer Mittlerrolle zwischen humanitären Organisationen und Flüchtlingsbevölkerung aktiv oder aber stellen eigene Dienstleistungen zur Verfügung. Diese Position bringt ihnen einen massiven Machtgewinn über die abhängige Flüchtlingsbevölkerung und nicht selten etablieren sich klientelistische Strukturen und selektive Vergabemechanismen.

Humanitäre Organisationen greifen gerne zur Vereinfachung der Lagerverwaltung auf traditionelle Machtstrukturen wie z.B. Bürgermeister oder Ältestenräte zurück. Diese erhalten durch ihre Mittlerstellung offizielle Legitimation und Schlüsselpositionen in der Abwicklung der Hilfe. In den afhganischen Lagern in Pakistan profitierte vor allem die islamische Partei Hizb al islami von ihren Beziehungen zum pakistanischen Flüchtlingskommissar Sheikh Abdallah Khan. Klientelistische Vergabestrukturen, d.h. die Vergabe von Versorgungsgütern im Tausch gegen politische oder ideologische Unterstützung, konnten sich in diesem Kontext ausbreiten. In Ruanda führte die Übernahme der bestehenden Strukturen zur Ermächtigung einer Elite, von der man heute weiß, dass dieselbe Führung für den Genozid in Ruanda verantwortlich war.

Während sich in Ruanda daraufhin zahlreiche Helfer zurückzogen, versuchte der UNHCR in Pakistan den Einfluss alter Eliten einzudämmen, indem er Rationen direkt an Familienoberhäupter vergab. In den palästinensischen Lagern im Libanon stellen politische und religiöse Gruppierungen, die über eigene Ressourcen verfügen, bis heute hinsichtlich der Versorgung der Bevölkerung eine wichtige Konkurrenz zu den humanitären lokalen und internationalen Organisationen dar.

Übergriffe: Die Instrumentalisierung von Flüchtlingslagern, die Unterwanderung ihres humanitären und zivilen Charakters, provoziert vielfach grenzüberschreitende militärische Übergriffe von Gegnern aus dem Herkunftsland. Gleichermaßen können sie Ziel von Übergriffen der Armee oder bewaffneter Gruppen aus dem Aufnahmeland werden (vgl. Mtango, 1989, S.90). Angriffe aus dem Herkunftsland sind meist gegen die bewaffneten Oppositions- oder Rebellengruppen in den Lagern gerichtet, so z.B. die Angriffe Südafrikas in den 1970er und 1980er Jahren auf Flüchtlinge und Exilgruppen in den Anrainerstaaten oder israelische Übergriffe auf Lager in den Anrainerstaaten, allen voran im Libanon. Diese Grenzüberschreitung führt gewissermaßen zu einer Transnationalisierung des Konflikts; er wird dann „zwischen zwei Parteien eines Landes auf dem Boden eines anderen Landes ausgetragen“ (Mousa, 2005, S.67). Nicht selten ist dies Ursache einer aktiven Beteiligung des Aufnahmelandes an den kriegerischen Auseinandersetzungen.

Darüber hinaus stellt das Versorgungssystem einen offenen Markt mit regelmäßigem Zufluss an Ressourcen zur Verfügung. Dies führt zur Ermächtigung einiger Akteure und provoziert immer wieder Übergriffe auf die Lager (z.B. bei den ugandischen Lagern im Südsudan, den zairischen Lagern in Angola) oder auf Transportwege. In Zaire kam es zu Spannungen mit der lokalen Bevölkerung, weil die Flüchtlinge besser versorgt waren als die lokale Bevölkerung. Auch der dortige Staatschef Mobutu fand einen Weg, aus dem Hilfssystem Profit zu schlagen. Er drohte dem UNHCR, die humanitären Helfer zurückzuschicken, wenn er kein Geld mehr bekommen würde.

Und schließlich kommt es in den Lagern zwischen Angehörigen einer Flüchtlingspopulation oder unterschiedlicher Flüchtlingspopulationen immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen, bei denen es entweder um die Verteilung von Macht geht oder aber Konflikte aus dem Herkunftsland sich wiederspiegeln. In Kakuma (Kenia) brachte das Zusammenleben von Flüchtlingspopulationen aus zehn Ländern und 20 verschiedenen ethnischen Gruppierungen (u.a. ruandische Hutu und Tutsi, Amharas, Eritreer, Oromos; sudanesische Christen und somalische Muslime) regelmäßig Konflikte mit sich (vgl. Crisp, 2000, S.629). Auch im Libanon hat die Spaltung innerhalb der politischen Führung 1982 zu wiederholt auftretenden Phasen intensiver Machtkämpfe in den Lagern geführt. Auch heute kommt es regelmäßig zu Auseinandersetzungen, welche die interne Spaltung in den besetzten Gebiete wiederspiegeln. Die Eskalation der gewaltsamen Auseinandersetzungen führte mehrfach zur Flucht von Flüchtlingen aus den Lagern.

Restriktion und Repression: Viele Länder greifen zu Restriktions- bzw. Repressionsmaßnahmen wie Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt (Libanon) oder der Bewegungsfreiheit (Kenia), um die Probleme einzudämmen oder die Flüchtlinge langfristig aus dem Land zu vertreiben. Dies geschieht auch, wenn die finanzielle Belastung für das Aufnahmeland zu groß wird oder die Flüchtlingslager wegen ihrer internen Sicherheits- oder Rechtsprobleme (Gewalt, Kriminalität, Prostitution) als rechtsfreie Räume wahrgenommen werden.

Abschließende Überlegungen

Die palästinensischen Flüchtlingslager »feiern« dieses Jahr ihr 60-jähriges Bestehen. Über diesen Zeitraum haben zu unterschiedlichen Zeiten sehr unterschiedliche Formen der Instrumentalisierung des Schutzraums Lager für verschiedene Akteursinteressen stattgefunden: Bewaffnete Konflikte, wiederholte Vertreibung, innerpalästinensische Spaltungen, harsche Restriktionen des libanesischen Staates und ausgeprägte Armut haben diese Flüchtlingsgemeinschaft geprägt und tun dies noch immer. In welchem Grad welche Formen von Konflikten in und um die Lager herum auftreten, unterliegt jedoch zeit-räumlichen Veränderungen, d.h. jede Flüchtlingssituation bringt ihre eigenen Probleme mit sich.

Wie auch immer die Situation aussieht, letztlich leidet in der Regel die Flüchtlingsgemeinschaft selbst am meisten unter den Auswirkungen und ist nicht nur in humanitärer Hinsicht, sondern auch hinsichtlich ihrer Menschenrechte sowie der sozioökonomischen Entwicklung depriviert. Die Lager sind somit nicht nur ein Ort der Zuflucht, sondern auch ein Ort der Armut. Unter diesen Bedingungen stellen Versuche illegaler Migration, eine starke Informalisierung der Organisations- und Versorgungsstrukturen, eine eigene (billigere) Ökonomie im Lager, aber auch die Bildung klientelistischer Strukturen und militärische Rekrutierung wichtige Überlebensstrategien dar. Eine enorme Außenabhängigkeit bedeutet zudem nicht nur eine extreme Belastung für die Flüchtlinge, sondern gleichermaßen für die internationale Gemeinschaft, die Jahr für Jahr Resourcen zur Verfügung stellt, um das Überleben dieser verwundbaren Gruppe zu garantieren. Unter solchen Umständen gibt es für Flüchtlinge weder Sicherheit noch Menschenwürde noch Entwicklung.

Literatur

Brett, Rachel/McCallin, Margaret (2001): Kinder – Die unsichtbaren Soldaten. Save the Children Sweden [Book on Demand].

Crisp, Jeff (2000): A State of insecurity: The political economy of violence in Kenya's refugee camp. African Affairs, 99, S.601-632.

Hyndman, Jennifer (2000): Managing displacement: The politics of humanitarianism. Minneapolis.

Loescher, Gil/Milner, James (2005): Protracted refugee situations: Domestic and international security implications. Oxford.

Mousa, Leila (2005): Flüchtlingslager als Spielball politischer Interessen. Eine Geographische Konfliktforschung am Beispiel der palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon. Heidelberg.

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Leila Mousa ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin im DFG-Projekt »Urban Governance in humanitären Schutzräumen – die palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon« am Geographischen Institut der Universität Heidelberg.

Die Unerwünschten

Die Unerwünschten

Verwaltung der Migration: Überwachung, Kontrolle und repressive Exklusion

von Dirk Vogelskamp

Das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene »Zuwanderungsgesetz« trägt den deutsch-bürokratischen, weniger zur Selbsttäuschung einladenden Titel »Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern«. Das Artikelgesetz ist unmissverständlich: Es will die Zuwanderung hochqualifizierter Arbeitsimmigrant/inn/en regeln, wobei die Vorsilbe »Zu« bereits signalisiert, dass politisch keine dauerhafte Einwanderung beabsichtigt wird, und den Ausschluss derer sicherstellen, die die vorausgesetzten arbeitsmarkt- und aufnahmepolitischen Kriterien nicht erfüllen. Man könnte die letzteren »die Unerwünschten« nennen, die das Land rasch wieder zu verlassen haben.

Demnach entscheidet wesentlich der ökonomisch erwartete Nutzen, den ein Einwanderer oder eine Einwanderin mit- und in die Gesellschaft einbringt, ob ihm oder ihr Zuwanderung und zeitweilige Niederlassung, ein Aufenthalt staatlicherseits gewährt wird. Diese aus einem ökonomischen Nutzenkalkül geschaffene, staatlich mit dem zu schützenden allgemeinen Sicherheits- und Wohlstandsinteresse legitimierte Spaltungslinie zwischen wirtschaftlich erwünschten und unerwünschten Immigrant/inn/en strukturiert das Alltagsbewusstsein derer, die in Behörden mit ihnen zu tun haben, und leitet ihr Handeln an. Die daraus erwachsende Abwehrhaltung prägt und festigt wiederum das institutionelle Selbstbewusstsein der Ausländerverwaltung, das in einer langen Tradition der Gefahrenabwehr wurzelt. Thomas Groß stellt im Migrationsreport 2006 zum Zuwanderungsgesetz ernüchternd fest, es werde immer deutlicher, „dass große Veränderungen ausgeblieben sind und den Behörden keine grundlegenden Abweichungen von den alten Verhaltensroutinen abverlangt werden“.1 Da der politische Bereich Asyl, Einwanderung, Visa sowie Sicherung der Außengrenzen seit dem Vertrag von Amsterdam (1999) als europäische Gemeinschaftsaufgabe bestimmt wird, greift die Europäische Union über EU-Richtlinien und Verordnungen in die deutschen »Zuwanderungsregelungen« ein und beschneidet somit die nationale Rechtsetzungskompetenz. Es zeichnet sich jedoch ab, dass in dem europäischen »Gesamtansatz zur Migrationsfrage« divergierende nationale Interessen angenähert werden können. Denn sowohl die europäische als auch die nationale Migrationssteuerung orientieren strategisch darauf, die internationalen Wanderungsbewegungen zu kontrollieren, die »illegale« Einwanderung zu bekämpfen und die Arbeitsmigration für die europäischen Arbeitsmärkte bedarfsgerecht zu steuern. Im Bereich der Arbeitsmigration behalten sich die nationalen Regierungen das Recht vor, das Niveau der Arbeitszuwanderung selbst zu bestimmen.

Michael Bommes zeichnet in der Einleitung des erwähnten Migrationsreports die konzeptionelle Gemengelage der herrschenden Migrations- und Integrationsentwürfe nach: „In der einen Perspektive erscheint Migration als unvermeidliches, aber kalkulierbares Risiko, das es durch Entscheidung zu gestalten gilt, und in der anderen als durch Einwanderungspolitik ausgelöste Gefahr, der die Betroffenen ausgesetzt sind und die sich manifestiert in Kosten, Konkurrenz, kultureller Überfremdung und Kulturkampf …“.2 Während Bommes den gesellschaftlichen Umgang mit Migration in Analogie zum Umgang mit Umweltproblemen (!) aus der Perspektive der Mehrheitsbevölkerung und ihrer politischen Klasse zu fassen versucht, werde ich eine menschenrechtliche Perspektive wählen, eine, die zumindest die Auswirkungen dieses Migrationsregimes auf die Menschen in den Mittelpunkt rückt, die nach Deutschland geflohen oder eingewandert sind.

Die alltägliche, unauffällige Gewalt der Immigrationsverwaltung

Das zuwanderungsgesetzliche Instrumentarium, Migration zu kontrollieren und zu begrenzen, spaltet die Zuwanderung in weitere verwaltungstechnische abstrakte Kategorien. Eine politisch bewusst enggeführte Flüchtlingsdefinition, die sich zwar an der Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahre 1951 orientiert, in der aber weder politisch produzierte Armut noch existenzielle Perspektivlosigkeit legitime Fluchtgründe darstellen, und die rechtstaatlich verkürzten Asylverfahren, in denen die »Flüchtlingseigenschaft« festgestellt werden soll, unterscheiden zwischen schutzwürdigen und nicht schutzwürdigen Flüchtlingen. Aus dieser politisch fest- sowie administrativ und gerichtlich umgesetzten Flüchtlingsdefinition folgt: nur sehr wenige Menschen können überhaupt einen Anspruch auf staatlichen Schutz geltend machen. Seit dem Jahr 1993 sorgt zudem ein wachsender Kranz gesetzlicher Bestimmungen dafür, den Zugang für Flüchtlinge zum Asylverfahren zu versperren. Dazu gehören u.a.: die Regelungen über sichere Dritt- und Herkunftsstaaten, das Flughafenverfahren, das Dubliner Übereinkommen, diverse zwischenstaatliche Rückübernahmeabkommen, Visumspflicht und so genannte »carrier sanctions«. Dass „politisch Verfolgte Asylrecht genießen“ (Art. 16a Abs. 1 GG) oder anderweitig Schutz erhalten, ist in der BRD und europaweit seit Jahren eher die Ausnahme. Das ist menschenrechtlich ebenso inakzeptabel wie die Tatsache, dass über den engen Kreis der nach der Genfer Flüchtlingskonvention definierten politisch Verfolgten hinaus Menschen in existenzieller Not keinen angemessenen Schutz erhalten und dass sie obendrein als Armuts- und Wirtschaftsflüchtlinge diskriminiert und mit großer Wahrscheinlichkeit in die Depressionszonen der Globalisierung und in die Herkunftsregionen, denen sie entflohen sind, zurückgeschafft werden. Die staatliche Abspaltung eines überwiegenden Teils vermeintlich nicht schutzwürdiger Flüchtlinge prägt den behördlichen Umgang ausländerfeindlich. Ihre Anwesenheit gilt pauschal als unberechtigt, als illegitim. Ihr wie auch immer geartetes Vorbringen gilt in der Regel als unglaubwürdig. Sie erscheinen nicht berechtigt, überhaupt soziale oder politische Ansprüche zu stellen. An dieser rechtsstaatlich erst produzierten Tatsache geringer Anerkennungsquoten konnten und können die populistisch rassistischen Kampagnen vom Missbrauch des Asyl- und Sozialrechts mühelos anknüpfen.

Die inzwischen wenigen Flüchtlinge, die notgedrungen versuchen, ihren Aufenthalt über das rechtsstaatliche Nadelöhr »Flüchtlingsschutz« zu legalisieren, werden von der Ausländerverwaltung erst einmal kontrolltechnisch vollständig erfasst, indem ihnen z.B. von allen Fingern Abdrücke für die europäische Fingerabdruck Datenbank (EORODAC) abgenommen werden; danach werden sie wie Stückgut »untergebracht« oder »verlagert« und mit Lebensmittelgutscheinen oder »Essenspaketen« »verpflegt«. Sie werden über Jahre in einem Zustand bürokratischer Abhängigkeit und rechtstaatlicher Willkür gehalten, in denen ihnen bewusst Lebensumstände zugemutet werden, die noch das Niveau hilfebedürftiger deutscher Staatsbürger unterschreiten. Zudem werden sie in verwaisten Gegenden in Massenquartieren und Sammellagern eingepfercht und an den gesellschaftlichen Rand abgeschoben. Damit wird den privilegierten Staatsbürgern unmissverständlich signalisiert, diese nur notdürftig behausten und staatlich verpflegten Menschen sind unerwünscht. In den inzwischen geschaffenen Abschiebelagern werden sie darüber hinaus staatlich zur »freiwilligen Ausreise« genötigt. Inzwischen haben wir uns an die in den Gesetzen verobjektivierende, abwertende Sprache und an die Praxis der Ausländerverwaltung ebenso gewöhnt wie an die Wiederkehr der Lager. Die gesetzlich eingezogenen Trennungslinien zwischen der Mehrheitsbevölkerung und ihrer Minderheit nehmen Gestalt an in den Lagern, im Arbeitsverbot, in der Abhängigkeit von staatlicher »Fürsorge«, in den polizeilichen Kontrollen, in der überwiegend materiellen Armut der Flüchtlinge und ihren minderen Rechten. In der Verwaltungspraxis werden sie zu Objekten staatlicher Migrationspolitik erniedrigt, in der ihre Individualität und Lebensgeschichte hinter einem starren System ausländerrechtlicher Bestimmungen verschwinden.

Der defizitäre »Ausländer«

Diese aus den aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen erfolgte Stigmatisierung, die negative Hervor- und Heraushebung eines Teils der nicht-deutschen Minderheit aus der Mehrheitsgesellschaft wird zugleich seit einigen Jahren von einer repressiven öffentlichen Integrationsdebatte begleitet, in der diese gesellschaftliche Minderheit durchweg als politisch und kulturell defizitär dargestellt wird – gleich, ob sie in der dritten oder vierten Generation in Deutschland lebt. Einem Teil der Einwanderer/innen wird gar unterstellt, sie verweigerten sich der »Integration« oder seien gänzlich integrationsunfähig. Es finden sich in der öffentlichen Debatte fast keine positiven Eigenschaften, die mit den Einwanderern verbunden werden, es sei denn, sie sind der deutschen Wirtschaft als Saison- und Wissensarbeiter/innen von Nutzen.

Rassismus und Migrationssteuerung

Diese legale ausländerrechtliche Praxis der Entrechtung, der Herabsetzung sowie der Ab- und Aussonderung von Flüchtlingen und Einwanderern wirkt machtstrukturierend auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ein, beeinflusst soziale Beziehungen zwischen Bevölkerungsmehrheit und ihrer »ausländischen« Minderheit, formt individuelles und kollektives Bewusstsein. An diese Praxis können sich rassistische, fremdenfeindliche und vorurteilsbeladene Deutungsmuster problemlos anheften. Rassistische Einstellungen und xenophobe Ängste in der Bevölkerung scheinen mit der staatlichen Praxis sozialen Ausschlusses und Diskriminierung allein aufgrund ausländerrechtlicher Kategorien in Einklang zu stehen, machen ihr diese Praxis plausibel und annehmbar. Sie erscheint ebenso gerechtfertigt, wie die eigene fremdenfeindliche Haltung bestätigt wird. Sie erfährt Zuspruch. Rassismus und Ausländerfeindlichkeit werden insofern selbst zu einem Steuerungselement der Migration, das bis in die Mitte der Gesellschaft anschlussfähig ist und das immer wieder aufgerufen werden kann, um staatliche Maßnahmen politisch durchzusetzen und zu rechtfertigen.

Die politische Produktion »illegaler Migration«

Zwei grundlegende soziale Verhältnisse moderner Nationalstaaten gewinnen eine wichtige Bedeutung in diesem Kontext. Zum einen das über die Staatsbürgerschaft geregelte Zuordnungsverhältnis von Person und Staat. Wer als Staatsangehöriger anzusehen ist oder wer die Staatsangehörigkeit erwerben kann, wird seitens des Staates gesetzlich festgelegt. Daraus erfolg zwangsläufig die Abgrenzung zu Nicht-Staatsangehörigen, zu Fremden oder »Ausländern«, die eine andere Staatsangehörigkeit besitzen oder staatenlos sind. Von den staatsbürgerlichen Grundrechten bleiben sie ausgeschlossen. Sie können sich lediglich auf die unverbindlichen und stets prekären Menschenrechte berufen, die im gesetzgeberischen Regelfall der staatlichen Flüchtlingsabwehrpolitik untergeordnet werden. Die fremde Staatszugehörigkeit schließt insofern schon eine soziale und rechtliche Ausgrenzung ein, die alle weiteren Machtverhältnisse zwischen Immigrant/inn/en und Ausländerverwaltung asymmetrisch bestimmen. Die »Fremden« sind rechtsschwach. Sie werden von vornherein staatlich in der Entfaltung ihrer individuellen Möglichkeiten eingeschränkt (Bildung, Beruf, politische Teilnahme …). In dieser Ungleichheit nistet die strukturell fremdenfeindliche Gewalt der Ausländerverwaltung.

Zum anderen können alle souveränen, durch Grenzen festgelegten Nationalstaaten das Recht beanspruchen, die Zuwanderung auf ihr Territorium zu kontrollieren und festzulegen, wer sich zu welchem Zweck in demselben aufhalten darf und wer nicht. Mit der staatlichen Inanspruchnahme dieses Rechts gehen bestimmte Einschließungs- und Ausschließungspraktiken einher. Dies wird mit dem Aufenthaltsgesetz geregelt. Werden die legalen Zugangsmöglichkeiten rechtlich verstopft (s.o.), nehmen irreguläre Wanderungsbewegungen zu. »Illegale Migration« wird derart rechtlich und sozial erst hergestellt. Die politisch intendierte Migrationssteuerung und -kontrolle konstruiert ausländerrechtlich die unerlaubte Einreise und den unerlaubten Aufenthalt und macht sie zugleich strafbewehrt. Damit werden wiederum politisch die extensiven staatlichen Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen legitimiert.

Die Aussonderung der Unerwünschten

Durch ein weitgespanntes und engmaschiges Kontrollnetz der Bundespolizei und der Länderpolizeien konnten im Jahr 2006 insgesamt 64.605 Personen aufgegriffen und registriert werden, die sich »illegal« im Bundesgebiet aufhielten.3 Diese anlass- und verdachtsunabhängigen Kontrollen, sogenannte Schleierfahndungen, haben die Schleusen für diskriminierende polizeiliche Arbeitsroutinen weit geöffnet. Ihnen liegt immer schon ein Verdachtskonstrukt zu Grunde. Im Kontext der »Bekämpfung der illegalen Migration« werden die Kriterien für die Kontrollmaßnahmen anhand äußerlicher Merkmale (Hautfarbe, Aussehen), Sprache oder Religionszugehörigkeit vorgenommen (racial profiling). Da nicht einmal ein »begründeter Anfangsverdacht« für diese Kontrollen vorliegen muss, lässt sich von einem institutionellen Rassismus sprechen, der dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes (Art. 3, Abs. 3) radikal widerspricht.

In den o.a. Zahlen sind die von Polizei- und Zollbehörden im grenznahen Raum aufgegriffenen »illegal« Eingereisten (26.679) enthalten. Viele von ihnen werden entweder nach dem Dubliner Abkommen zwangsweise an einen Nachbarstaat überstellt, in dem sie sich zuerst aufgehalten hatten und dort über EURODAC erfasst wurden. Oder sie werden, um ihre Abschiebung sicherzustellen, wie es im Amtsdeutsch heißt, in Abschiebehaft genommen. Abschiebehaft ist eine reine Verwaltungshaft im Gegensatz zur Strafhaft und kann für sechs Monate angeordnet und maximal um 12 Monate verlängert werden. Nach Angaben der Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative Berlin (ARI) starben zwischen 1993 und 2006 allein 50 Menschen in Abschiebehaft durch Suizid. Nach den sehr sorgfältig jährlich erstellten Dokumentationen der ARI kamen in Folge „staatlicher Maßnahmen“ (ARI) in dem angegeben Zeitraum 351 Menschen ums Leben: an den deutschen Außengrenzen, auf der Flucht vor staatlichen Organen, in den Abschiebeknästen, bei Abschiebungen.4 Wieder andere Illegalisierte werden ausgewiesen oder zwangsweise abgeschoben. Allein im Jahr 2006 wurden 13.894 Immigrant/inn/en gegen ihren Willen außer Landes geschafft, d.h. zumindest unter Anwendung physischen Drucks. 4.729 Personen wurden laut Statistik an den Außengrenzen einschließlich der EU-Binnengrenzen „zwangsweise“ zurückgeschoben. Diese Erfolgsbilanz staatlicher Migrationsverwaltung unterschlägt, dass bei allen diesen gewaltförmigen Verwaltungs- und Polizeimaßnahmen die Grund- und Menschenechte regelmäßig verletzt werden (körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person, Diskriminierungsverbot, informationelle Selbstbestimmung). Die Sprache der Verwaltung unterschlägt systematisch die Leiden, die seelischen Verletzungen und Ängste derjenigen Menschen, die den »Maßnahmen« der Einwanderungskontrolle ausgesetzt sind.

Die staatliche Illegalisierung von Flüchtlingen, Migranten und Migrantinnen ist ein zentraler Mechanismus der Immigrationskontrolle, um die Aussonderung der Unerwünschten betreiben zu können – wohlwissend, dass das nie vollständig gelingt und ein nützlicher Anteil an Illegalisierten für die untersten Segmente des Arbeitsmarktes verbleibt.

Informationelle Sonderbehandlung

Zur Bekämpfung der »illegalen Migration« steht den deutschen Behörden ein informationstechnisch hochgerüsteter Apparat zur Verfügung. Im Ausländerzentralregister (AZR) werden die personenbezogenen, aufenthaltsrechtlichen und statusbezogenen Daten aller Ausländer erfasst, auf das nicht nur Polizeien, Nachrichtendienste und Ausländerbehörden, sondern auch Gerichte, Staatsanwaltschaften und andere öffentliche Stellen wie Arbeits- und Sozialverwaltung Zugriff haben. Im Mai 2006 wurde darüber hinaus das Gemeinsame Analyse- und Strategiezentrum illegale Migration (GASIM) eingerichtet, das auf Grundlage institutioneller Kooperation der mit der Verwaltung der Immigration beauftragten Behörden und Stellen die »Bekämpfung der illegalen Migration« bündeln soll. Die Kontrolle, Festsetzung und Aussonderung des unerwünschten Fremden setzt ihre informationelle Sonderbehandlung voraus. »Illegalität« ist inzwischen ein alltägliches Feld polizeilicher und administrativer Intervention sowie sozialarbeiterischer Dienste geworden. Auch die Wahrnehmung der Öffentlichkeit hat sich unaufgeregt dieser Praxis aus Gewalt, informationellem und fürsorglichem Zugriff angepasst. Die Verwaltung der Migration und der Ausschluss der Unerwünschten gehen mit einem hohen Maß an legalem Zwang, legalen Eingriffen in die persönliche Freiheit und legaler Gewalt einher: bei den Deportationen, Überstellungen und polizeilichen Kontrollen, in den Lagern und Abschiebegefängnissen.

Die politische Produktion des »gefährlichen Ausländers«

Nach dem 11. September 2001 wurde der Krieg gegen »den Terrorismus« im Inneren der Gesellschaften präventiv und repressiv vorangetrieben. Eine Reihe von Maßnahmen wurde gesetzlich erlassen, die die polizeilichen Eingriffsschwellen weiter heruntersetzten und nachrichtendienstliche Befugnisse ausweiteten. Die Sicherheitsapparate wurden massiv aufgerüstet. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass diese neuen Eingriffsmöglichkeiten vor allem selektiv gegen Einwanderer/innen eingesetzt wurden – von der Rasterfahndung bis zu den anlassunabhängigen Kontrollen. »Ausländer« stehen seitdem unter generellem Verdacht und werden »polizeipflichtig«. Sie werden ohne konkreten Anlass in die nachrichtendienstlichen und polizeilichen Ermittlungen einbezogen (biometrische Daten in Ausweisen und Visa; die Fingerabdrücke werden für den Spurenabgleich im BKA gespeichert; raschere Abschiebemöglichkeiten; präventive Datenerhebung; …). Die Sicherheitskonzepte fußen auf präventiver Logik. Die vermeintlichen Gefahren und Straftaten müssen vorbeugend erkannt und verhindert werden. Damit wird der Verdacht, die Vermutung, die Wahrscheinlichkeit aufgrund von Datenhäufungen grundlegend für die Arbeit der Sicherheitsapparate. Sie setzt deshalb weit im Vorfeld konkreter Anhaltspunkte für Straftaten ein. Auch hier stehen die Aktivitäten von Immigrant/inn/en im Focus der sicherheitspolitischen Aufmerksamkeit, Kontrolle und Überwachung.

Mit dem Sammelbegriff »Ausländerkriminalität« wird schon seit vielen Jahren – besonders zu Wahlkampfzeiten – das Vorurteil des kriminellen »Ausländers« geschürt. In Verbindung mit den aktuellen antiterroristischen Maßnahmen wird der Begriff des »Ausländers«, der lediglich einen Bezug zu seinem Aufenthaltsstatus und seiner Staatszugehörigkeit zulässt, zu einer beinahe ausschließlich kriminalpolitischen Kategorie.

Die politischen entgrenzten Sicherheitskonzeptionen lassen die Trennung zwischen innerer und äußere Sicherheit verschwimmen. Diese werden durchlässig. »Sicherheit« wird zu einer Querschnittsaufgabe der Politik. Seit den Attentaten des 11. September 2001 werden die Themen Migration und »Sicherheit« fest miteinander verwoben. In allen relevanten militärischen Strategiekonzeptionen werden die globalen Sicherheitsrisiken neben anderen Bedrohungswahrnehmungen in der »illegalen Einwanderung« ausgemacht, die mit grenzüberschreitender Kriminalität einherginge. Dementsprechend werden die »europäischen Schutzinteressen« bestimmt, die die Staatengemeinschaft, die sich über die Produktion innerer und äußerer Sicherheit und der Aufrechterhaltung von Ordnung legitimiert, zu verfolgen habe. Deshalb wurde das feierliche Bekenntnis, „die illegale Einwanderung“ zu bekämpfen, noch in letzter Minute in den Erklärungsentwurf der EU anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge im März 2007 aufgenommen.5 „Terrorismus, organisierte Kriminalität und illegale Einwanderung“ werden in diesem Text gleichwertig zu Sicherheitsrisiken Europas erkoren. In ihrer Unbestimmtheit eignen sich die Phänomene trefflich dazu, in den Bevölkerungen fortwährend latente Bedrohungsängste und Verunsicherung zu erzeugen. Sie sind Konstrukte einer innen- und außenpolitischen Feinderklärung. Mit den Phänomenen »Terrorismus« und »Organisierte Kriminalität« werden allgemein schwerste Verbrechen assoziiert. Nun wird seit ein paar Jahren die »illegale Migration« in dieses grobe Feindbildraster aufgenommen, die die Sicherheit der Menschen und ihre Bürgerrechte in der EU angeblich gefährdet.

Mit der gesellschaftlichen Produktion des »gefährlichen Ausländers« wird versucht, die repressive Immigrationskontrolle und die technische Hochrüstung der Überwachungsapparate zu legitimieren, mit denen die »Weltüberflüssigen« von den Zitadellen des Reichtums ferngehalten und die Bedingungen globaler Ungleichheit aufrecht gehalten werden, in denen zugleich selbstbestimmte Formen von Migration immer erneut ihren Ausgang nehmen werden. Der Brennpunkt der Konflikte mit den Migrationsbewegungen und dem in ihnen verkörperten Anspruch auf Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit wird sich zwar weiter an die europäischen Außengrenzen und in die Schutzzonen und Schutzlager in Afrika und anderswo verschieben, sein Widerschein jedoch wird auch die Metropolen erhellen.

Anmerkungen

1) Vgl. Thomas Groß (2006): Die Verwaltung der Migration nach der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes, in: Migrationsreport 2006, Für den Rat für Migration herausgegeben von Michael Bommes und Werner Schiffauer. Frankfurt/New York, S.31-61 (31).

2) Vgl. Michael Bommes (2006): Einleitung: Migration- und Integrationspolitik in Deutschland zwischen institutioneller Anpassung und Abwehr, in: Migrationsreport 2006, a.a.O., S.9-29 (19).

3) Alle angeführten statistischen Daten sind dem Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung (Migrationsbericht 2006) entnommen (S.153-171).

4) Vgl. Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative Berlin (2007): Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen (2 Bände), 14. aktualisierte Auflage. Berlin.

5) Vgl. Dirk Vogelskamp (2007): Gewaltsame Zonierung und Wege der Migration, in: WeltTrends 57 (Winter), 15. Jg. 2007/2008, S.116-122.

Dirk Vogelskamp ist Mitarbeiter des Komitees für Grundrechte und Demokratie

Sterben für eine Tasse Kaffee?

Sterben für eine Tasse Kaffee?

Der Tod von Migranten an der US-mexikanischen Grenze im Zeitalter des Neoliberalismus

von Joseph Nevins

Die Zahl der Toten, die mit dem unerlaubten Überqueren der Grenzen zwischen den USA und Mexiko zusammenhängt, ist seit 1994 beträchtlich gestiegen, als die Clinton-Administration eine erhebliche Verstärkung des Systems der Grenz- und Einwanderungskontrolle initiierte. Nach konservativen Schätzungen haben mehr als 4.000 »illegale« MigrantInnen ihr Leben zwischen dem 1. Oktober 1994 und dem 30. September 2007 verloren, als sie ohne Erlaubnis versuchten, von Mexiko aus in die USA einzureisen.1

Einer der bekanntesten Fälle ist der Tod der sogeannten »Yuma 14« – vierzehn MigrantInnen, die im Mai 2001 in der Wüste im Süden Arizons beim Grenzübertritt starben. Die meisten von ihnen waren aus dem mexikanischen Bundesstaat Veracruz und lebten vom Kaffee – ein Sektor, der zum Zeitpunkt ihrer Migration wegen der niedrigen Preise, die die ProduzentInnen und ErntearbeiterInnenin für die Kaffeebohnen erhielten, in einer Krise steckte. Von dieser waren sie als Bauern, ArbeiterInnen oder als Familienangehörige von Kaffeeproduzenten betroffen.2

Mehrere Berichte über die Tragödie der »Yuma 14« haben deutlich gemacht, dass viele der toten MigrantInnen im Kaffeesektor gearbeitet haben und dass die niedrigen Kaffeepreise ein zentraler Faktor war, der sie zur Auswanderung in die USA veranlasst hatte.3 Insgesamt betrachtet haben viele journalistische Reportagen der letzten Jahre angeführt, dass die niedrigen Kaffeepreise signifikant zum Anstieg der Auswanderung aus Mexiko und Zentralamerika beigetragen haben und dass dieses Bestreben manchmal im zunehmend scharfen Kontrollregime im US-mexikanischen Grenzgebiet mit dem Tod endet. Aber mit wenigen Ausnahmen findet in den Berichten die Kaffeekrise keine Erwähnung und wenn dies der Fall ist, dann wird der Fall der Kaffeepreise als ein naturhafter Vorgang dargestellt und auf das Überangebot von Kaffee hingewiesen, ohne jedoch dessen Ursache zu erklären.

Es bleibt die ungeklärte Frage, in welchem Umfang der Fall der Kaffeepreise die Migration beeinflusst – insbesondere die Migration derjenigen, die in Mexiko und Zentralamerika vom Kaffeeanbau abhängig sind. Und was sie womöglich mit dem Land zu tun hat, das die meisten dieser MigrantInnen zu erreichen versuchen: die USA. Insgesamt gibt es starke Anhaltspunkte dafür, dass es eine kausale Verbindung zwischen der US-Politik, der Kaffeekrise4 und der Auswanderung aus »neoliberalisierten« Agrargebieten gibt. Deren Ergebnis führt zusammen mit der Verstärkung des Systems der US-Grenz- und Einwanderungskontrolle zum Tod von MigrantInnen, die die sozio-ökonomisch verwüsteten Kaffeeregionen in Richtung USA verlassen. In diesem Sinne sind die Tode von MigrantInnen – wie der der »Yuma 14« – alles andere als Unfälle. Vielmehr sind sie das logische Ergebnis einer neoliberalen Ära, die durch die gleichzeitige »Öffnung« von Landesgrenzen für ökonomische Aktivitäten und die »Schließung« für »unerwünschte« MigrantInnen gekennzeichnet ist.

Die internationalen Ursachen und Auswirkungen der Kaffeekrise

Während Entwicklungen auf der lokalen und der nationalstaatlichen Ebene wichtige Einflussfaktoren für die Preise sind, die den Kaffeebauern (hier: den Kleinbauern) und den PlantagenarbeiterInnen gezahlt werden, findet die Preisfestsetzung für Kaffeebohnen zunehmend auf der internationalen Ebene durch transnationale Konzerne und auf internationalen Warenmärkten statt. Diese Verlagerung von der nationalen zur transnationalen Ebene ist untrennbar mit der abnehmenden Fähigkeit von einzelnen Anbau- und Produktionsländern verbunden, die Kaffeepreise oder gar die gesamte Handelskette zu beeinflussen. Dies ist auch ein Ergebnis miteinander verbundener Veränderungen in der Struktur der internationalen Produktkette von Kaffee, die zwischen der Mitte der 1970er und Mitte der 1990er Jahre stattgefunden hat und eine Ursache in einem langem Kampf um die Verteilung der Einkünfte aus den Ernten hatte.5

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Länder der »Dritten Welt« verschiedene Ansätze ausprobiert, um den ausbeuterischen Charakter des internationalen Kaffeeregimes zu begrenzen und größere Kontrolle auszuüben sowie sich einen größeren Anteil an den Profite zu sichern.6 Dieser Prozess führte 1962 zur Unterzeichnung des International Coffee Accord (ICA), dessen offizieller Zweck es war „eine angemessene Balance zwischen Angebot und Nachfrage zu erreichen“ und „faire Preise“ 7 zu sichern. Zu den Unterzeichnenden gehörten nicht nur die meisten Kaffee-produzierenden Länder, sondern auch die meisten der Verbraucherländer. Der ICA, der aus verschiedenen Vereinbarungen bestand, die im Laufe der Jahre abgeschlossen wurden, führte zur Etablierung eines Regelungssystems, das einen Zielpreis für Kaffee festsetzte und den Produktionsländern Exportquoten zuwies. Obwohl es mit diesem System Probleme gab, waren sich die Meisten – einschließlich der Weltbank – darin einig, dass es zu stabilen Preisen und höheren Einkommen für Kaffeebauern führte, als es ohne dieses System der Fall gewesen wäre.8

Die USA spielten eine wichtige Rolle bei der Entstehung des ICA. Die Unterstützung Washingtons ergab sich aus einer umfassenden antikommunistischen Geopolitik und aus dem Bestreben, das Erstarken links-orientierter Regierungen in der sogenannten Dritten Welt zu verhindern, insbesondere in Lateinamerika, aus dem zu jener Zeit etwa 70% der weltweiten Kaffeeexporte stammten. Aus der Perspektive Washingtons trugen höhere Kaffeepreise und damit eine Zunahme politischer Stabilität in Lateinamerika ganz zentral zu einer Erreichung des genannten Ziels bei.

Aus verschiedenen Gründen zerfiel der ICA 1989.9 Zu den wichtigsten Faktoren zählte eine veränderte Sichtweise Washingtons auf den ICA – verursacht durch die Zunahme marktfundamentalistischer Ansichten in der politischen Elite der USA – und Veränderungen in der US-Politik gegenüber Lateinamerika in den 1980er Jahren. Zu der Veränderung trug maßgeblich bei, dass es den USA – und dem Westen insgesamt – gelungen war, progressive Regierungen in verschiedenen Ländern zu schwächen und die Solidarität innerhalb der »Dritten Welt«, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hatte, zu untergraben. Mittels verschiedener Methoden, darunter auch die Unterstützung oder die Entfaltung entsetzlicher Gewalt, gelang es den USA und ihren westlichen Alliierten, einige Länder so unter Druck zu setzen, dass sie ihre Ökonomien liberalisierten, deregulierten und für ausländische Investitionen »öffneten« – eine Entwicklung, die durch die Schuldenkrise, Strukturanpassungen und internationale Finanzinstitutionen befördert wurde. Darüber hinaus wurde – insbesondere in Mexiko10 – technokratisches, neoliberales Führungspersonal ausgebildet und wurden – im Falle der USA – Allianzen aus der Zeit des Kalten Krieges mit den regierenden Eliten Zentralamerikas gebildet, um im Land entstandene Aufstände zu bekämpfen, die sich gegen ungerechte soziale Verhältnisse richteten. Ein Ergebnis war, dass Länder wie Mexiko, Honduras und Guatemala 1989 mit den USA (diese als einziger der größeren Kaffeeimporteure) einer Resolution zustimmten, die das ICA-Quotensystem beendete.11

Auf der globalen Ebene führte der Zusammenbruch des ICA-Systems in Kombination mit der zunehmenden Macht der transnationalen Kaffeekonzerne12 zu negativen Auswirkungen auf die Kaffeebauern und Herstellerländer. Die Preise wurden sehr viel sprunghafter und die Erträge verschoben sich signifikant von den Bauern und Erzeugerländern auf die Händler.13 Absolut gesehen fielen die internationalen Kaffeepreise zwischen 1998 und 2001 um 50%.14 Inflationsbereinigt waren die Preise in den Jahren 2000 und 2001 die niedrigsten der letzten hundert Jahre.15 Während die Kaffeepreise in den letzten Jahren wieder angezogen sind, hat die hohe Verschuldung, die sich bei vielen Bauern in den Jahren zuvor angehäuft hat, zusammen mit der ständigen Unsicherheit durch die zunehmenden Preisschwankungen (und damit deren Unvorhersehbarkeit) dazu geführt, dass die Bauern entweder nicht in der Lage oder nicht willens sind, in die Anbaupflanzen zu investieren. Zugleich sind die höheren Preise, die am Weltmarkt erzielt werden, nicht zu den Kleinbauern, die häufig an Zwischenhändler verkaufen, oder zu den Arbeitern durchgesickert.16

Auswanderung im Kontext der Krise und befestigter Grenzen

Innerhalb Mexikos ist die Migration derjenigen, die im Kaffeesektor arbeiten, immer mit der Kaffeeproduktion assoziiert worden. Bis vor kurzem handelte es sich jedoch um saisonale und binnenländische Migration. Seit etwa 1990 ist die Migration derjenigen, die zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts auf den Kaffeeanbau angewiesen sind, zunehmend dauerhaft und international geworden – in signifikantem Ausmaß aufgrund der sinkenden Kaffeepreise, die große Belastungen in den Kaffee-produzierenden Gebieten Mexikos und andernorts in der sogenannten Dritten Welt hervorgerufen haben. Im Jahr 2002 kostete beispielsweise das Pfund Kaffee etwa 50 US Cent bei durchschnittlichen Produktionskosten von etwa 80 US Cent pro Pfund.17

Aufgrund der Erlöse für die Kaffeebauern Mexikos und des Verlustes des Marktwertes und der Brauchbarkeit anderer ländlicher Erzeugnisse, der ungenügenden Wachstumsraten der Ökonomie und der niedrigen Löhne in den Städten hat die internationale Auswanderung aus den Kaffeeregionen deutlich zugenommen.18 Im mexikanischen Bundesstaat Veracruz beispielsweise hat diese Migration zwischen 1990 und 1995 um 50% zugenommen, d.h. dass etwa 800.000 Menschen den Staat verlassen haben.19 In einigen Kaffee-produzierenden Gebieten von Veracruz haben über 20% der örtlichen Bevölkerung das Gebiet verlassen; ein großer Teil dieser Migration war international.20 Im Jahr 1992 war Veracruz auf Platz 30 der mexikanischen Bundesstaaten, aus denen MigrantInnen in die USA gingen; im Jahr 2002 lag er auf Platz 4.21

Angesichts dieser Fakten wäre es falsch, die Krise in Mexiko und andernorts auf diese relativ kurz zurückliegende Preisverschiebung auf den internationalen Märkten zu reduzieren. Dennoch legt das globale Ausmaß der Krise nahe, bei der Erklärung der Misere der Kleinbauern und ArbeiterInnen des Kaffee-Sektors die Entwicklungen auf der internationalen Ebene hervorzuheben. Der Stand der Dinge und die damit verknüpften Veränderungen des internationalen Kaffeeregimes sind ein Ausdruck des Neoliberalismus und der mit ihm verbundenen Politik der Privatisierung, Deregulation und Liberalisierung der Volkswirtschaften, womit eine wesentliche Schwächung der sozialstaatlichen Aspekte des Staates einhergeht. Im Falle des ländlichen Mexikos haben diese Änderungen in der ersten Hälfte der 1980er begonnen und umfassten für Kleinbauern den schrittweisen Rückzug des Staates. Die neue Situation hat generell zu einem Absinken des Lebensstandards derjenigen geführt, die besonders vom Kaffeesektor des Landes abhängig sind.22

Die Neoliberalisierung des weltweiten Kaffeeregimes ist ein wesentlicher Bestandteil umfassenderer neoliberaler Anstrengungen, die nachhaltige Auswirkungen auf das Leben in den ländlichen Räumen Mexikos gehabt haben. Bezüglich der Landarbeit beispielsweise hat ein mit der NAFTA (North American Free Trade Agreement) zusammenhängendes, die USA begünstigendes Handelsdefizit zwischen 1994 und 2002 zum Verlust von etwa 1,3 Millionen Arbeitsplätzen in Mexikos Agrarsektor geführt.23 Während eine komplexe Ordnung von Faktoren die Entscheidung zur Auswanderung und den damit verbundenen Belastungen beeinflusst24, scheint es nicht von der Hand zu weisen zu sein, dass die Schäden, die den ländlichen Regionen Mexikos durch die neoliberale Politik entstanden sind und die im Zuge der Umsetzung der NAFTA-Regelungen 1994 verstärkt wurden, dazu beitrugen, die Auswanderung in die USA anzuheizen.

Sowohl Vertreter Mexikos als auch der USA hatten in den frühen 1990er Jahren öffentlich gegenüber skeptischen BürgerInnen mit dem Argument für das Handelsabkommen geworben, dass es zu einem Rückgang »illegaler« Migration führen werde. Allerdings deuten verschiedene Studien darauf hin, dass die Umsetzung der NAFTA-Regelungen und die damit verbundene verstärkte Liberalisierung der mexikanischen Ökonomie die Migrationsprozesse verstärken und zu einer Zunahme der Migration aus Mexiko in die USA führen würden25 – eine Entwicklung, der sich die Clinton-Administration sehr wohl bewusst war. Das NAFTA gehörte jedoch nicht zu den wichtigsten Faktoren, die die US-Regierung zum massiven Aufbau der Grenzkontrollen entlang der Grenze zu Mexiko veranlasste. Es gab andere Gesichtspunkte und Entwicklungen für diese Stärkung, deren Ursache sich nicht durch einzelne kurzfristige Faktoren erklären lässt.26

Da NAFTA allerdings ein zentraler Bestandteil eines umfassenderen neoliberalen Prozesses ist, der die Beziehungen zwischen den USA und Mexiko (bzw. darüber hinaus) vermehrt und auf diesem Wege Unterschiede zwischen den beiden Staatsgebieten untergraben hat, hat das Handelsabkommen ohne Zweifel zu der nationalistischen Reaktion in den USA beigetragen, aus der die Forderung nach einer Stärkung der Staatsgrenzen entsteht, welche zum Teil durch die NAFTA-typischen Entwicklungen geschwächt werden. Gleichzeitig und unabhängig von der Stärke (oder Schwäche) der kausalen Beziehungen zwischen der Neoliberalisierung und der Stärkung des Grenzkontrollapparats entlang der US-mexikanischen Grenze sind diese Reaktionen zeitlich und räumlich damit verbunden, dass die Liberalisierung der ländlichen Ökonomie zu einem Strom unbefugter MigrantInnen über die internationale Grenze beigetragen hat. Stellt man deren zunehmend »harten« Charakter in Rechnung – seit 1994 hat sich beispielsweise die Zahl des US-Grenzkontrollpersonals fast vervierfacht -, führt das zu der wachsenden Zahl MigrantInnen, die bei nicht genehmigten Grenzübertritten den Tod finden.

In einem solchen politisch-geographischen Kontext hat der Preis von Kaffee – und die Aktivitäten und Orte, durch die der Preis zustandekommt – fatale Implikationen.

Anmerkungen

Eine ausführliche Fassung dieses Beitrages erschien in der Zeitschrift Geopolitics 12/2 (April 2007), S.228-247.

1) Nevins, J. (2008): Dying to live: A Story of U.S. Immigration in an Age of Global Apartheid. San Francisco.

2) Urrea, L.A. (2004): The Devil's Highway: A True Story. New York.

3) Vgl. etwa Wallengren, M.: Coffee Crisis Sends Mexico Producers to Death in Mexico, Dow Jones Newswire (May 29, 2001); (http://www.globalexchange.org/campaigns/fairtrade/coffee/dowjones052901.html)

4) Vgl. Talbot, J.M. (2004): Grounds for Agreement: The Political Economy of the Coffee Commodity Chain. Lanham.

5) Ebd. Kapitel 5. Einen historischen Überblick über die langfristigen Verschiebungen bei der Kontrolle des Kaffeehandels gibt Topik, S. (2003): The Integration of the World Coffee Market, in: S. Topik/W.G. Clarence-Smith (Hrsg.): The Global Coffee Economy in Africa, Asia, and Latin America, 1500-1989. Cambridge, S.21-49.

6 Ein Überblick hierzu findet sich bei Talbot (Fußnote 4), Kapitel 3.

7) Zit. nach Talbot (Fußnote 4), S.58.

8) Ayikama, T. (2001): Coffee Market Liberalization Since 1990, in: T. Ayikama et al. (Hrsg.): Commodity Market Reforms: Lessons of Two Decades. Washington, D.C., S.83; Bates, R.H. (1997): Open-Economy Politics: The Political Economy of the World Coffee Trade. Princeton.

9) Vgl. Talbot (Fußnote 4).

10) Vgl. Babb, S. (2001): Managing Mexico: Economists from Nationalism to Neoliberalism. Princeton.

11) Talbot (Fußnote 4), S.85, 91-97.

12) Vgl. Talbot (Fußnote 4).

13) Charveriat, C. (2001): Bitter Coffee: How the Poor are Paying for the Slump in Coffee Prices. Oxford; Oxfam America (2005): The Coffee Crisis Continues: Situation Assessment and Policy Recommendations for Reducing Poverty in the Coffee Sector, S.24 (http://www.oxfamamerica.org/newsandpublications/publications/research_reports/crisis_continues); vgl. auch Talbot (Fußnote 4).

14) Charveriat (Fußnote 13).

15) Varengis, P. et al. (2003): Dealing with the Coffee Crisis in Central America: Impacts and Strategies, Policy Research Working Paper 2993. Washington, D.C., S.3.

16) Oxfam America (Fußnote 13).

17) Homes, S./Smith, G. (2002): For Coffee Growers, Not Even a Whiff of Profits, Business Week (Sept. 9, 2002).

18) Navarro, L. Hernández (2004): To Die a Little: Migration and Coffee in Mexico and Central America, published online by the Americas Program, Interhemispheric Resource Center, Dec. 13, 2004; (http://www.americaspolicy.org/reports/2004/0412coffee.html).

19) Monterosas, M. Perez (2003): Las Redes Sociales de la Migración Emergente de Veracruz a los Estados Unidos, Migraciones Internacionales 2/1 (January-June 2003), S.106-136.

20) Benquet, F. Mestries (2003): Crisis Cafetalera y Migración Internacional en Veracruz, Migraciones Internacionales 2/2 (July-Dec. 2003), S.121-148.

21) Monterosas, Perez (Fußnote 19). Vgl. auch Lewis, J.M. (2005): Strategies for Survival: Migration and Fair-Trade Organic Coffee Production in Oaxaca, Mexico (Working Paper 118). San Diego: Center for Comparative Immigration Studies, University of California (http://www.ccis-ucsd.org/PUBLICATIONS/wrkg118.pdf).

22) Vgl. Torres, M. E. Martínez (2004): Survival Strategies in Neoliberal Markets: Peasant Organizations and Organic Coffee in Chiapas, in: Otero, G. (Hrsg.): Mexico in Transition: Neoliberal Globalism, the State and Civil Society. Nova Scotia, S.169-185.

23) Polaski, S. (2003): Jobs, Wages, and Household Income, in: Papademetriou, D. et al. (Hrsg.): NAFTA's Promise and Reality: Lessons from Mexico for the Hemisphere. Washington, D.C., S.17-19 (http://www.carnegieendowment.org/files/nafta1.pdf).

24) Vgl.Massey, D.S./Durand, J./Malone, N.J. (2002): Beyond Smoke and Mirrors: Mexican Immigration in an Era of Economic Integration. New York.

25) Vgl. Andreas, P. (1998): The Escalation of U.S. Immigration Control in the Post-NAFTA Era, Political Science Quarterly 113/4 (1998-99), S.591-615.

26) Vgl. hierzu im Detail Nevins (Fußnote 1).

Dr. Joseph Nevins forscht und lehrt am Department of Earth Science and Geography am Vassar College in Poughkeepsie (NY). Übersetzung: Fabian Virchow

Folterknechte

Folterknechte

von Jürgen Nieth

Nachdem von den Kriegsbegründungen der USA gegen den Irak
nichts mehr übriggeblieben war, spielte die Beseitigung des Diktators und
Folterknechts Saddam in der US-Propaganda eine Hauptrolle. Doch dann die Bilder
aus Abu Ghraib: Folternde US-Soldaten und -Söldner. Einzeltäter oder System?

Versprechen und Wirklichkeit

„Die Vereinigten Staaten fühlen sich dem Ziel
verpflichtet, die Folter weltweit abzuschaffen, und wir gehen in diesem Kampf
mit gutem Beispiel voran. Ich rufe alle Regierungen auf, gemeinsam mit den
Vereinigten Staaten und allen dem Recht verpflichteten Staaten sämtliche
Folterhandlungen zu verbieten, zu ermitteln und zu verfolgen und alles zu tun,
um andere grausame und anormale Bestrafungsmethoden zu unterbinden.“
(George W. Bush, The Washington
Post, 27. Juni 2003)

Zu diesem Zeitpunkt wurden über 600 Häftlinge in Guantánamo
unter menschenunwürdigen Bedingungen von den USA gefangen gehalten.

Die Glacéhandschuhe abgelegt

In Guantánamo wurden die Techniken getestet, die im
besetzten Irak angewandt wurden, schreibt Le Monde diplomatic (11.06.04). Die
Zeitschrift zitiert u. a. einen Wachoffizier aus Guantánamo mit den
Worten:“Wenn du nicht ab und zu die Menschenrechte verletzt, machst du deinen
Job nicht richtig,“ und den Leiter des CIA-Zentrums für Terrorbekämpfung, Cofer
Black: „Es gibt ein Vor und ein Nach-dem-11.-September. Nach dem 11.
September haben wir (bei der Behandlung der Gefangenen) die Glacéhandschuhe
abgelegt.“

Chronologie des Folterskandals in Abu Ghraib

Die Folterungen in Abu Ghraib waren den Regierenden längst
bekannt und sie waren kein »Zufall«. Das unterstreicht die in der Frankfurter
Rundschau (12.05.04) veröffentlichte Chronologie:

„04.Aug. 2003: Die ersten Iraker kommen in das renovierte
Gefängnis Abu Ghraib, das zuvor Saddam Hussein als Folterzentrum diente …
31. Aug.: Generalmajor Geoffrey D. Miller, Leiter des Gefängnisses Guantánamo,
kommt nach Irak, um zu prüfen, auf welchem Wege schneller verwertbare Resultate
bei Verhören erlangt werden können. Miller fordert ein spezielles Training für
eine »Bewachungstruppe«, die die »Bedingungen für erfolgreiche Befragungen der
Häftlinge/Internierten« schaffen soll …
Zwischen September und Oktober, sagen der Folter beschuldigte
Militärpolizisten, hätten sie mündliche Anweisungen vom Militärischen
Geheimdienst erhalten, Gefangene so »vorzubereiten«, dass sie in den folgenden
Verhören reden.
17. Okt.: Das erste der bisher bekannten Folterbilder wird gemacht …
19. Nov.: Der Militärische Geheimdienst übernimmt die Leitung des Gefängnisses.
13. Jan. 2004: Ein Militärpolizist berichtet dem kriminalpolizeilichen Dienst
der Armee anonym von den Misshandlungen. Dieser beginnt am nächsten Tag seine
Ermittlungen. Am selben Tag soll Verteidigungsminister Donald Rumsfeld nach
Medienberichten erstmals informiert worden sein, der Ende des Monats oder
Anfang Februar auch den Präsidenten unterrichtet.
16. Jan.: Das US-Zentralkommando kündigt die Untersuchung der Vorwürfe an …
3. März: (Generalmajor) Taguba übergibt seinen geheimen Bericht über Fälle von
Folter und ungesetzliche Verhörmethoden …
28. April: CBS sendet erstmals Bilder von den Misshandlungen. Der Beitrag war
auf Bitten der US-Militärs zwei Wochen verschoben worden …
30.: Die Streitkräfte teilen mit, dass Guantánamo-Kommandant Miller die
Gefängnisse im Irak leitet.“

Nach Veröffentlichung der
Folter-Fotos wurde versucht die Schuld Einzelnen zuzuweisen. Eine These, die
von Anfang an wenig glaubwürdig war. Jetzt belegen Dokumente, dass Folter angeordnet wurde.

US-Oberbefehlshaber billigte »extreme« Verhöre

Die US-Zeitung Washington Post berichtete am 13. Juni, der
Oberbefehlshaber der US-Besatzungstruppen im Irak, Ricardo Sanchez, habe
persönlich Verhörmethoden gebilligt, wie die Bedrohung der Häftlinge mit
Hunden, Schlafentzug und Langzeitisolation. Die Zeitung beruft sich auf ihr
vorliegende Dokumente. Danach habe Sanchez im September 2003 insgesamt 32
Methoden ausgewählt, die zuvor in Guantánamo angewendet worden seien. Einige
davon seien im Oktober – nachdem sie von Offizieren im US-Zentralkommando
abgelehnt worden seien – gestrichen worden. Erlaubt blieben der Zeitung
zufolge, Isolationshaft bis zu 30 Tagen, nur Wasser und Brot zur Ernährung,
Hunde zur Einschüchterung, Gefangene extremen Temperaturen auszusetzen,
Gefangene bis zu 45 Minuten in äußerst unbequeme Positionen zu zwingen. Sanchez
habe diese Methoden erst untersagt, als die Folterbilder um die Welt gingen
(zitiert nach Frankfurter Rundschau 14.06.04).

Folter-Aufarbeitung

Die schlichteste Idee präsentierte der US-Präsident selbst,
als der Skandal nicht mehr zu vertuschen war. Nach dem Moto, wenn es den Tatort
nicht mehr gibt, erinnert auch nichts mehr an die Taten, wollte er das
Gefängnis Abu Ghraib abreißen lassen. Doch das geht selbst dem mit den
Folterprozessen befassten US-Militärrichter, Oberst James Pohl, zu weit. Er „erklärte
die Haftanstalt Abu Ghraib zu einem Tatort und untersagte damit den Abriss.“

(FR 22.06.04)

Etwas geschickter ist da schon der Versuch, die Rechtslage
zu beugen. Die FAZ (09.06.04) schreibt dazu: „In einem internen
Rechtsgutachten für das Weiße Haus und das Pentagon vom März 2003 wird die
Ansicht vertreten, Präsident George W. Bush werde im Krieg gegen den
Terrorismus weder durch internationale Verträge noch durch amerikanische
Gesetze davon abgehalten, bei Verhören von mutmaßlichen Terroristen die
Anwendung von Folter zu erlauben … Die Verfassungsrechte des Präsidenten im
Krieg gegen den Terrorismus seien im Vergleich zum Folterverbot das höhere
Rechtsgut.“

Folgt nach der Blockade zahlreicher internationaler
Verträge, der Nichtakzeptanz des Internationalen Strafgerichtshofs usw. jetzt
die offene Missachtung der Menschenrechte?

Folterverbot ist zwingend

Die Antifolter-Konvention der UN von 1984 ist eindeutig: „Außergewöhnliche
Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg … oder ein sonstiger öffentlicher
Notstand dürfen nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden.“