Kein Rückschritt und kein Meilenstein

Kein Rückschritt und kein Meilenstein

Die 4. Weltfrauenkonferenz zwischen Neuinterpretation und Erweiterung des Menschenrechtskonzepts

von Ruth Klingebiel

In der Charta der Vereinten Nationen von 1945 setzen sich die Vereinten Nationen das unmißverständliche Ziel, „ … die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen.“1. Fünfzig Jahre später verabschiedet die 4. Weltfrauenkonferenz ein Abschlußdokument und stellt in einem Paragraphen kurz und bündig fest: „Frauenrechte sind Menschenrechte.“2 Übersetzt in eine simple mathematische Gleichung ergibt sich die Formel FRAUEN + RECHTE=MENSCHEN + RECHTE. Dividieren und kürzen wir dann RECHTE auf beiden Seiten der Gleichung, bleibt FRAUEN=MENSCHEN.

Die Wahrheit dieser reduzierten Gleichung wird wohl auch nicht in Beijing von den Regierungsdelegierten ernsthaft bestritten und diskutiert worden sein. Gerade deshalb verwundert diese tautologisch anmutende Aussage um so mehr. Was hat die Delegierten dazu bewogen, eine solche Formel in ein UN-Dokument zu schreiben, das mit der Serie der Weltfrauenkonferenzen seit 1975 auf 20 Jahre Frauenförderpolitik der UN zurückblicken kann? Und was hat Frauen dazu bewogen, eine weltweite Mobilisierungskampagne unter dem Motto „Frauenrechte sind Menschenrechte“ zu organisieren, wenn doch bereits in der Charta die Menschenrechte ohne Unterscheidung durch das Geschlecht festgeschrieben wurden?

Um diese Fragen beantworten zu können, ist es notwendig, der Verankerung von Menschenrechten von Frauen in den Instrumenten der Vereinten Nationen zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen nachzuspüren. Wie wurden sie ausgestaltet und wo lag das Defizit, das offensichtlich die Kampagne beförderte?

UN-Politik zur Beseitigung von Frauendiskriminierung3

Die Frauenpolitik der Vereinten Nationen läßt sich anhand ihrer inhaltlichen Ausrichtung in unterschiedliche Phasen einteilen. Von 1945 bis zum Beginn der 60er Jahre stand die rechtliche und politische Gleichstellung der Frau im Vordergrund. Nachdem in der Charta die Gleichberechtigung der Frau festgehalten worden war (s. Artikel 1 der Charta), wurde 1946 mit der Menschenrechtskommission zugleich eine Unterkommission für die Rechtsstellung der Frau eingerichtet, die im selben Jahr noch den vollen Status einer Fachkommission (Commission on the Status of Women, kurz Frauenrechtskommission) des Wirtschafts- und Sozialrates (ECOSOC) erhielt. Die Frauenrechtskommission stellte sicher, daß die Gleichberechtigung der Frau in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verankert wurde und benutzte die Prinzipien der Menschenrechtserklärung gleichzeitig als Basis ihrer Arbeit. Die frühen Jahre waren geprägt von Maßnahmen zur rechtlichen Gleichstellung in den Bereichen der politischen Partizipation4, Arbeit5, Erziehung6, Nationalität7 und Ehe8.

Nach der Phase der rechtlichen »Grundsteinlegung« beginnt mit den Vorarbeiten zur Erklärung über die Beseitigung der Diskriminierung von Frauen eine Phase, in der zum einen das Rechtsinstrumentarium verfeinert werden soll und zum anderen Frauen für den Entwicklungsprozeß »entdeckt« werden. Nachdem die beiden Menschenrechtspakte von 1966 verabschiedet worden waren, nahm die Generalversammlung 1967 die Erklärung zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen an und erklärt darin, daß die vollständige Entwicklung eines Landes, die Wohlfahrt der Welt und die Herstellung von Frieden die größtmögliche Partizipation von Frauen und Männern gleichermaßen auf allen Gebieten erfordere.9 Zum Ende der ersten Entwicklungsdekade wurde die Schlüsselrolle von Frauen zum Thema in der Entwicklungspolitik und beeinflußte die Entwicklungsstrategien für die zweite Entwicklungsdekade. 1972 stellte die Frauenrechtskommission nach 25jähriger Tätigkeit einen akuten Handlungsbedarf zur Beseitigung der eklatanten Diskriminierung von Frauen weltweit fest. 1975, dem Internationalen Jahr der Frau, fand dann auch die erste Weltfrauenkonferenz (WFK) in Mexiko unter dem Motto Gleichberechtigung, Entwicklung, Frieden statt.

Diese erste WFK eröffnete eine dritte Phase. Das Abschlußdokument, der Weltaktionsplan von Mexiko10, enthielt umfassende Richtlinien zur Frauenförderung bis 1985. Die Frauendekade der Vereinten Nationen (1976-1985) konkretisierte vor allem das UN-Instrumentarium zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau. Ins Leben gerufen wurde ein Voluntary Fund for the UN Decade for Women (1976), der im Februar 1985 als United Nations Development Fund for Women (UNIFEM) in die UN-Familie aufgenommen wurde. Parallel wurde ein International Research and Training Institute for the Advancement of Women (INSTRAW) installiert. Damit wurde eine Dekade der Frauenförderpläne eingeleitet, die von einer Sichtweise von Frauen als menschlicher Ressource für Entwicklung geprägt waren. Zwölf Jahre nach der Erklärung zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen und nach unzähligen Verhandlungen und jahrelangen Diskussionen nahm die Generalversammlung am 18. Dezember 1979 endlich die Konvention zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen (kurz Frauenrechtskonvention genannt) an.

Die Frauenrechtskonvention ist das erste internationale Rechtsinstrument, das Diskriminierung von Frauen definiert: „In diesem Übereinkommen bezeichnet der Ausdruck »Diskriminierung der Frau« jede mit dem Geschlecht begründete Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung, die zur Folge oder zum Ziel hat, daß die auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau gegründete Anerkennung, Inanspruchnahme oder Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Frau – ungeachtet ihres Familienstandes – im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, staatsbürgerlichen oder jedem sonstigen Bereich beeinträchtigt oder vereitel wird.“ 11

Die Konvention trat als bisher einziges umfassendes frauenspezifisches Menschenrechtsinstrument der Vereinten Nationen am 3.9.1981 in Kraft, nachdem sie durch 20 Staaten ratifiziert worden war. Im Anschluß konnte das Committee on the Elimination of Discrimination against Women (CEDAW, kurz Frauenrechtskommission) damit beginnen, die Umsetzung der Konvention zu überwachen. Die Hauptaufgabe der Kommission besteht darin, die Länderberichte der Mitgliedsstaaten auf ihren Realitätsgehalt zu überprüfen, bei ihren jährlichen Tagungen die Regierungsdelegierten kritisch zu befragen und Informationen von NGOs einzuholen. Neben diesen neugeschaffenen Instrumenten wurde 1980 eine zweite WFK in Kopenhagen durchgeführt, deren Hauptaufgabe in der Zwischenbilanzierung der Frauendekade bestand. Beschlossen wurden gezielte Fördermaßnahmen in den Bereichen Beschäftigung, Bildung und Gesundheit, ohne die die Hauptziele von Entwicklung – Gleichberechtigung, Entwicklung und Frieden – nicht erreichbar seien.

Den Abschluß der Dekade, eine Trendwende in der Frauenpolitik der Vereinten Nationen und damit den Übergang in eine vierte Phase bildete die 3. WFK in Nairobi 1985. Ein neues Entwicklungsparadigma bildete sich heraus, das Frauen nicht länger als Objekt und menschliche Ressource betrachtete. Frauen wurden zu Handlungsträgerinnen, zu Individuen, die eine zentrale Rolle spielen sollten, „als Intellektuelle, Politikerin, Entscheidungsträgerin, Planerin sowie als Trägerin und Nutznießerin der Entwicklung12. Die in Nairobi gezogene Bilanz der Frauendekade zeigte, daß es gelungen war, Öffentlichkeit herzustellen und eine Vielzahl von rechtlichen Diskriminierungen abzubauen. Gleichzeitig wurde es offensichtlich, daß die Alltagssituation der meisten Frauen sich nicht nur nicht verbessert hatte, sondern daß die wirtschaftliche Misere vieler Länder des sogenannten Südens ihre Situation weiter verschlechterte. Die Zukunftsstrategien von Nairobi benannten ein ganzes Maßnahmenbündel zur Umsetzung von Gleichberechtigungsmaßnahmen in nationale Politik. Die Generalversammlung betraute die Frauenrechtskommission mit der Überwachung der Implementierung der beschlossenen Strategien und forderte gleichzeitig alle Organisationen der Vereinten Nationen dazu auf, spezielle Abteilungen für frauenrelevante Fragen einzurichten.

Trotz der greifbaren Ergebnisse, wie z.B. der völkerrechtlich bindenden Frauenrechtskonvention und der frauenspezifischen Entwicklungsorganisation (UNIFEM) ist die Verankerung von Frauenrechten im Menschenrechtssystem der UN unzureichend. „Instead of having high priority at the United Nations, women's human rights are given little attention; »women's issues« are marginalized into under-funded and ineffective machineries. As a result, women around the world are demanding an extensive transformation of the existing deficient human rights framework.“ (Kerr 1993: 6)13 Gründe für dieses Defizit liegen in der strukturellen Schwäche der Frauenrechtskonvention: CEDAW verfügt über keine Sanktionsinstrumente – das seit Jahren geforderte Fakultativprotokoll existiert nur im Entwurf.14 Kaum ein UN-Dokument wurde mit so vielen Vorbehalten gezeichnet (Tomasevski 1993: 116 ff.; Cook 1990). Darüber hinaus enthält die Konvention keine explizite Verurteilung von Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung.

Gegen die Unsichtbarkeit von Frauen

Die Frauenpolitik der Vereinten Nationen verbesserte vor allem die Datenlage zur Situation von Frauen und erfüllte damit ein selbstgestecktes Ziel, Frauen durch Daten sichtbar zu machen. 1985 erschien erstmals der World Survey on the Role of Women in Development, der seitdem alle fünf Jahre aktualisiert wird. 1990 erschien The World's Women: Trends and Statistics, 1970-199015. Geschlechtsspezifische Daten werden erst seit kurzem gezielt erhoben. Exemplarisch läßt sich die Datenlage an den Berichten zur menschlichen Entwicklung ablesen, die das UNDP (United Nations Development Programm) alljährlich herausgibt. Seit 1990 werden die Daten zunehmend desaggregiert. Der UNDP-Report für 1995 legt den Schwerpunkt des gesamten Berichtes auf die Lage der Frauen weltweit und stellt zwei neu- bzw. weiterentwickelte geschlechtsspezifische Entwicklungsindikatoren vor (UNDP 1995: 72 ff.). Desaggregierte Daten zeigen: Frauen partizipieren weniger an Entwicklungsprozessen als Männer, sie sind stärker von Strukturanpassungen betroffen und Armut ist »weiblich«. Desaggregierte Daten zeigen auch, daß die Partizipation von Frauen nicht notwendigerweise an den Reichtum eines Landes, sondern hauptsächlich an den politischen Willen der Regierungen gekoppelt ist (UNDP 1995: 3). Die Bilanz des UNDP-Berichtes 1995 für die letzten 20 Jahre sieht düster aus: Zwischen 1975 und 1995 stieg zwar die Einschulungsrate von Mädchen um zwei Drittel, stieg auch die Lebenserwartung von Frauen um neun Jahre und fiel die Geburtenrate um ein Drittel; die Rate der wirtschaftlichen Aktivität wuchs aber im selben Zeitraum lediglich um 3,9 Prozentpunkte, Frauen besetzen heute weltweit nur 10<0> <>% der Parlamentssitze und 6<0> <>% der Regierungsämter, rechtliche Diskriminierungen sind immer noch nicht vollständig abgebaut worden, 41 Staaten sind der Frauenrechtskonvention immer noch nicht beigetreten und die Vorbehalte nicht zurückgenommen worden.

Die Dekade der Frau hat aber nicht nur die Datenlage verbessert; sie hat zugleich einen blinden Fleck sichtbar gemacht. Gewalt an Frauen taucht in nationalen und internationalen Statistiken kaum auf, doch ein Umdenkprozeß hat begonnen.16 Geschlechtsspezifische Gewalt existiert in allen Ländern der Welt und ist keine kulturspezifische Eigenart. In den meisten Ländern gibt es keine gesetzliche Grundlage gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Sie wird als private Familienangelegenheit nicht nur ignoriert, sondern staatlich sanktioniert. Dabei kann die Privatsphäre ein geradezu mörderischer Ort für Frauen sein. Weltweit verschwinden schätzungsweise 100 Millionen Frauen, die aufgrund geschlechtspezifischer Diskriminierung sterben oder gar nicht erst geboren werden (Klasen 1993: 27). In Befragungen berichteten zwei Drittel aller Frauen über sexuelle Mißbrauchserfahrung in ihrer Kindheit und Jugend. In Chile, Mexiko, der Republik von Korea berichten über zwei Drittel der Frauen von Gewalt in der Ehe. In Deutschland wurde schätzungsweise jede siebte Frau in ihrer Ehe vergewaltigt. In Kanada, Neuseeland, Großbritannien und den USA wird eine von sechs Frauen in ihrem Leben Opfer einer Vergewaltigung. Die Hälfte aller Morde an Frauen wird von einem ehemaligen oder dem derzeitigen Partner begangen. Kulturübergreifende Untersuchungen weisen Gewalt in der Ehe als häufigste Ursache für Selbstmorde von Frauen aus. Gewalt durch Kriege etc. betrifft vor allem Frauen und Kinder: 80<0> <>% der weltweiten Flüchtlinge sind Frauen und Kinder. Frauen werden Opfer sogenannter Massenvergewaltigungen. Frauen erhalten selten politisches Asyl, da ihre geschlechtspezifischen Gewalterfahrungen nicht als politische Verfolgung eingestuft werden.

Die Beispiele zeigen die Spannbreite und das systemische Ausmaß der Gewalt gegen Frauen.

Menschenrechte – feministisch betrachten!

Die Kampagne Frauenrechte sind Menschenrechte setzt an der Alltäglichkeit und Bagatellisierung dieser Gewaltformen an. Charlotte Bunch vom Center for Women's Global Leadership, eine der Initiatorinnen der Kampagne, kritisiert die Ausgrenzung von Frauen aus dem herrschenden Menschenrechtsverständnis und benennt das Ziel der Menschenrechtskampagne für Frauen: „Wir glauben, daß es Frauen ohne weiteres klar ist, was ihre Menschenrechte sind, aber sie brauchen Konzepte, um das auszudrücken. … Wir sagen, daß die Weltgemeinschaft nicht nur die Frauen miteinbeziehen, sondern auch ihr Verständnis von Menschenrechten verändern muß. Mit anderen Worten, können wir das, was Frauen als Menschenrechtsthemen ansehen, nicht in die bestehende Form der Menschenrechte integrieren, ohne diese zu verändern.“ (Bunch 1993: 10, 11)

Das Konzept der allgemeinen Menschenrechte entstand vor rund 200 Jahren im Kampf um die individuellen Freiheitsrechte des bürgerlichen Individuums gegen einen übermächtigen Staat. Als zivilisatorische Errungenschaften gelten seitdem das Gewaltmonopol einerseits und die Schutzwürdigkeit der Privatsphäre andererseits. Das bürgerliche Individuum wurde aber als Mann gedacht. Frauen, als unpolitische Wesen gedacht, wurden der Privatsphäre zugerechnet. Diese Trennung von Politik und Privatsphäre wirkt bis heute und führte dazu, daß die Lebenswelt von Frauen nicht in den selbstdefinierten Zuständigkeitsbereich der Vereinten Nationen fielen. Die feministische Kritik daran ist recht jung. Für Charlesworth (1994: 63) drängt sich deshalb die Frage auf, warum die andozentrische Natur der Menschenrechte erst jetzt analysiert wird. Ihre Antwort beschreibt als simpelsten Grund den Ausschluß von Frauen aus der Normbildung, der Implementierung und dem Monitoring des Menschenrechtsbereichs. Ein zweiter Grund liegt im Anspruch des Menschenrechtsansatzes selbst, dessen vordergründige Eindeutigkeit und Radikalität Kritik sehr fragwürdig erscheinen läßt. Seit dem Beginn der 90er Jahre wagen sich verstärkt VölkerrechtlerInnen an eine bis dahin nahezu tabuisierte Kritik des Menschenrechtskonzeptes. Dabei sind unterschiedliche Richtungen auszumachen. Zum einen wird das Menschenrechtsinstrumentarium daraufhin untersucht, wie es für Frauen in der bestehenden Form nutzbar ist (Byrnes 1994; Tomasevski 1995; Ashworth 1992 etc.). Die Vorschläge stellen auf eine Neuinterpretation ab und sehen viele Möglichkeiten, Frauen Zugang zu internationalen Menschenrechtsverfahren zu verschaffen. So ließe sich z.B. Gewalt im Privatbereich unter den Tatbestand der Folter subsummieren; Frauenhandel und Zwangsprostitution fielen unter das Verbot der Sklaverei; geschlechtsspezifische Verfolgung ließe sich auch als politische Verfolgung interpretieren, so bald staatliche Duldung, mangelhafte gesetzliche Schutzvorschriften usw. nachgewiesen werden würden. Neben diesen Bemühungen, das Bestehende geschlechtsspezifisch anzuwenden, gibt es eine feministische Auseinandersetzung mit dem Nichtdiskriminierungs-Gebot der Konvention und der dahinter vermuteten Gleichheits-Differenz-Hypothese. Das Nichtdiskriminierungs-Gebot wird verdächtigt, ein weibliches Abziehbild des männlichen Vorbilds anzustreben mit dem Effekt, daß „… women are forced to argue either that they are the same as men and should be treated the same, that they are different but should be treated as if they are the same, or that they are different and should be accorded special treatment. The model does not allow for questioning the ways in which laws, cultures, or religious traditions have constructed and maintained the disadvantage of women, or the extent to which the institutions are male-defined and built on male conceptions of challenges and harms.“ (Cook 1993: 239).

Eine andere Richtung kritisiert das westlich-feministische Grundverständnis, das im Nichtdiskriminierungs-Gebot angelegt sei. Abgehoben würde auf die privilegierte, freie und unabhängige Frau. Außen vor bliebe der Kontext von Klassen, Kasten und ethnischen Zugehörigkeiten (Coomaraswamy 1994: 40f.). Die neuen und recht unterschiedlichen Ansätze zum Thema Frauenrechte im Völkerrecht stehen nicht konfrontativ gegeneinander, sondern sie suchen den Austausch miteinander.17

Die Kampagne sowie die völkerrechtliche Debatte blieben nicht ohne Einfluß auf die Politik der Vereinten Nationen. Deutlich wird dieser Einfluß an den Abschlußdokumenten der UN-Weltkonferenzen 1990-1995, dem Weltkindergipfel 1990 in New York, dem Umweltgipfel 1992 in Rio, der Menschenrechtsweltkonferenz 1993 in Wien, der Bevölkerungskonferenz 1994 in Kairo, dem Sozialgipfel 1995 in Kopenhagen und natürlich der 4. WFK in Beijing.18 Die Konferenzen sollten aufeinander aufbauen und in der Zusammenschau zu allen globalen Fragen Antworten suchen. Eine Antwort aller Konferenzen ist die Forderung nach mehr Partizipation für Frauen bei der Lösung globaler Krisen, was KritikerInnen auch als Abwälzung von Verantwortung werten. Einen besonderen Stellenwert nimmt die Menschenrechtsweltkonferenz ein, da sie das Menschenrechtskonzept geschlechtsspezifisch definierte. Es ist das erste UN-Dokument, das Gewalt auch im privaten Bereich als Menschenrechtsverletzung ächtet. Die Konferenz brachte auch konkrete Ergebnisse. Im Anschluß verabschiedete die Generalversammlung die Erklärung zu Gewalt an Frauen, die Gewalt in der Familie, in der Gesellschaft und vom Staat verübte oder staatlich geduldete Gewalt scharf verurteilt.19 Der Menschenrechtsausschuß setzte eine Sonderberichterstatterin zu Gewalt an Frauen ein, in deren Mandat alle in der Erklärung genannten Formen der Gewalt fallen.20 Damit war das Hauptanliegen der Frauen-Menschenrechtskampagne erreicht. Auf der Bevölkerungskonferenz kämpften Frauen erfolgreich für das Konzept der reproduktiven Gesundheit, während die sexuellen Rechte der Frau in Kairo nicht durchgesetzt werden konnten. Sowohl die Ergebnisse von Wien als auch von Kairo standen in Beijing wieder zur Disposition.

Das Abschlußdokument der 4. WFK – eine Bilanz

Zum Auftakt der Regierungskonferenz in Beijing verkündete Gertrude Mongella: „Die Vierte Weltfrauenkonferenz ist eine Revolution für Frauen!“ Das war sie sicherlich nicht, soweit sind sich die meisten KommentatorInnen der Konferenz einig. Verabschiedet wurde ein Dokument, das bestehende Sprachregelungen aus den vorausgegangenen UN-Konferenzen halten konnte und winzige Weiterentwicklungen brachte. Das hehre Ziel, nun konkrete Maßnahmen zur Umsetzung der seit Nairobi aufgestellten Anforderungen an eine effiziente Frauenpolitik zu verabreden, wurde verfehlt. Obwohl das Abschlußdokument eine Plattform für Aktionen enthält, ist erstaunlich wenig Aktion verabredet worden. Das Dokument ist mehr als mühsame 160 Seiten lang geraten; und viele Formulierungen sind so umständlich, daß die deutsche Übersetzung einiges Kopfzerbrechen bereitet.21 Nicht allein an den Formulierungen ist der zähe und konfrontative Verhandlungsverlauf ablesbar. Anders als in Nairobi 1985 werden kaum strukturelle Rahmenbedingungen genannt, d.h. eine Auseinandersetzung mit ungerechten Weltwirtschaftsstrukturen, einer Neuen Weltwirtschaftordnung etc. blieb in Beijing außen vor. Die Betonung des gesamten Dokumentes liegt in einem sehr individualistischen Ansatz, der ganz auf das persönliche »empowerment« von Frauen abhebt und eine Politik der kleinen Schritte praktiziert. Der alte Nord-Süd-Konflikt, der Nairobi beherrschte, war weniger entscheidend für den Konferenzverlauf als der offen ausgetragene Konflikt zwischen den säkularisierten und den religiös-traditionell bestimmten Delegationen. Islamisch und katholisch bestimmte Länder stellten die Gleichberchtigung der Geschlechter ganz offen in Frage, beklagten die Familienfeindlichkeit der emanzipierten Frau und beschrieben die Gefahren, die vom Feminismus generell ausgingen. Infrage gestellt wurde der Erfolg der Frauen-Menschenrechtskampagne. Erst am letzten Tag gelang noch ein »package-deal« (Stichwort Sexualität, s. Kasten), der einen Kompromiß zur kulturellen Relativierung einschloß.

Ergebnisse der 4. Weltfrauenkonferenz

Armut: Über 900 Millionen Frauen
leben in extremer Armut. Ihr Zugang zu Landbesitz und zu Krediten soll verbessert werden,
ihre Ausbildung gefördert werden. Da Frauen viel häufiger arbeitslos sind als Männer,
sollen Beschäftigungsprogramme auch in den Industrieländern Abhilfe schaffen. NEU:
Gefordert wird die Erfassung, Bewertung und Anerkennung unbezahlter Arbeit im Haushalt und
in der Gesellschaft. Unbezahlte Arbeit soll in sogenannten Nebenkonten zum BSP ausgewiesen
werden. (Laut UNDP-Bericht 95 sind 16 Billiarden der globalen Gesamtproduktion
»unsichtbar«, der Beitrag der Frauen erreicht 11 Billiarden Dollar.)

Gesundheit: Frauen und Mädchen sollen
einen besseren Zugang zu medizinischer Betreuung erhalten, die vor allem erschwinglich
sein muß. Weibliche Jugendliche haben das Recht auf Information und Aufklärung –
entsprechend ihrer Entwicklungsstufe – sowie ein Recht auf Privatsphäre und
Vertraulichkeit. Frauen und Mädchen sind in Aidsprogramme einzubeziehen. In diesem
Zusammenhang gab der Vatikan seinen Widerstand gegen die Erwähnung von Kondomen auf.

Abtreibung: Das Ergebnis der
Weltbevölkerungskonferenz in Kairo wurde bestätigt: Ein Schwangerschaftsabbruch darf
kein Mittel der Familienplanung sein, doch wo er erlaubt ist, soll er so sicher wie
möglich durchgeführt werden. Die Regierungen werden aufgefordert, ihre Bestimmungen
über die Strafbarkeit illegaler Schwangerschaftsabbrüche zu überdenken.

Sexualität: NEU: Das Konzept der
reproduktiven Rechte und reproduktiven Gesundheit von Kairo wird ergänzt durch das
Konzept der sexuellen Selbstbestimmung der Frau. „Die Menschenrechte von Frauen
schließen ihr Recht ein, über Fragen, die mit ihrer Sexualität zusammenhängen,
Kontrolle auszuüben und frei und verantwortlich zu entscheiden. Das umfaßt auch sexuelle
und reproduktive Gesundheit und beinhaltet die Freiheit von Zwang, Diskriminierung und
Gewalt.“
Die Aufnahme sexueller Orientierung und sexueller Rechte (Position
westlicher Staaten), d.h. ein ausdrückliches Diskriminierungsverbot für Lesben, wurde
gestrichen. Im Gegenzug wurde eine Fußnote gestrichen, die Menschenrechte für Frauen
kulturell relativierte (Position vor allem der islamischen Staaten).

Gewalt: Gewalt gegen Frauen wird als
Menschenrechtsverletzung gebrandmarkt, ob in der Familie, in der Gesellschaft oder ob
durch den Staat praktiziert bzw. geduldet. Damit wurden die seit der Wiener
Menschenrechtsweltkonferenz erzielten Definitionserfolge (s. UN-Erklärung zu Gewalt an
Frauen
von 1993) ausdrücklich bekräftigt. Vergewaltigungen im Krieg sollen als
Kriegsverbrechen geahndet werden. Das Mandat der 1994 eingesetzten
UN-Sonderberichterstatterin zu Gewalt an Frauen soll zwar über 1997 hinaus verlängert
werden, ihre mangelhafte Ausstattung mit Ressourcen wurde nicht diskutiert.

Menschenrechte: Die Menschenrechte von
Frauen und Mädchen sind ein unveräußerlicher, integraler und untrennbarer Teil der
allgemeinen Menschenrechte. Jedwede Relativierung konnte nach zähen Verhandlungen
zurückgewiesen und die vorangegangenen UN-Weltkonferenzen vollinhaltlich einbezogen
werden.

Gleichberechtigte Teilhabe: Nur ein
Teilen von Macht und Verantwortung zwischen den Geschlechtern, d.h. zu Hause, am
Arbeitsplatz und in allen Bereichen der Gesellschaft, ermöglicht Gleichberechtigung
zwischen Männern und Frauen, soziale Gerechtigkeit und eine dauerhafte menschliche
Entwicklung, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird. Weder
Quotenregelungen noch der Begriff »Parität« fanden Eingang in die Aktionsplattform.
Allerdings wurden die Ziele einer Quotenregelung umschrieben mit der Forderung nach
gleicher Repräsentanz von Frauen und Männern sowie der Gleichberechtigung der
Geschlechter.

Mädchen: Die gezielte Abtreibung
aufgrund des Geschlechts wird verurteilt. Die Diskriminierung von Mädchen bei der
Ernährung, Bildung, Gesundheitsbetreuung soll bekämpft werden. Scharf verurteilt wird
die genitale Verstümmelung von Mädchen. NEU: Die Erbrechte von Mädchen fanden
als Kompromiß doch noch Eingang ins Dokument: Die Ungerechtigkeiten und die Hindernisse
beim Erbrecht von Mädchen müssen beseitigt werden. Regierungen sollen dazu Gesetze
– soweit angemessen – erlassen und durchsetzen, die das gleichberechtigte Recht
auf Erben sicherstellt ohne Rücksicht auf das Geschlecht des Kindes. (Das gleiche
Erbrecht wurde nicht für Frauen formuliert, gefordert wurde lediglich ein Zugang zum
Erbrecht.)

Finanzen: Zur Finanzierung der
Aktionsplattform wurde kein Durchbruch erzielt. Die Entwicklungsländer hatten von den
reichen Geberländern gefordert, zusätzliche Finanzmittel für den Fortschritt der Frauen
zur Verfügung zu stellen. Die Industrieländer sind dazu nicht bereit. „Neue und
zusätzliche“
Mittel sollen durch Umschichtung aus allen verfügbaren
Finanzierungsquellen (einschließlich multilateraler, bilateraler und privater Quellen)
zugunsten der Aktionsplattform erreicht werden. Regierungen sollen zur Finanzierung
nationaler Aktionspläne ihre exzessiven Militäretats kürzen, wenn es angebracht ist und
die nationale Sicherheit nicht gefährdet wird.

Literatur

Ashworth, Georgina 1992: Women and Human Rights, Background Paper for the DAC Expert Group on Women in Development Organisation for Economic Co-operation and Develpoment, London.

Bunch, Charlotte 1993: Die Entstehung der Kampagne für Frauenrechte (Interview mit Charlotte Bunch), in: epd-Entwicklungspolitik, Materialien IV/ 93, S. 10-12.

Byrnes, Andrew 1994: Toward More Effective Enforcement of Women's Human Rights Through the Use of International Human Rights Law and Procedures, in: Cook 1994, pp. 189-227.

Charlesworth, Hilary 1994: What are »Women's International Human Rights«?, in: Cook 1994, pp. 59-84.

Cook, Rebecca J. 1990: Reservations to the Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women, in: Virginia Journal of International Law, Vol. 30 (1990), No.4, pp. 643-716.

Cook, Rebecca J. 1993: Women's International Human Rights Law: The Way Forward, in: Human Rights Quaterly 15 (1993), pp. 230-261.

Cook, Rebecca J. (Hrsg.) 1994: Human Rights of Women, National and International Perspectives, Philadelphia.

Coomaraswmy, Radhika 1994: To Bellow like a Cow: Women, Ethnicity, and the Discourse of Rights, in: Cook 1994, pp. 39-57.

Kerr, Joanna (Hrsg.) 1993: Ours by Right, Women's Rights as Human Rights, London.

Tomasevski, Katarina 1993: Women and Human Rights, London/ New Jersey.

Tomasevski, Katarina 1995: Women, in: A. Eide/ C. Krause/ A. Rosas (Eds.): Economic, Social and cultural Rights. A Textbook, Dordrecht/ London/ Boston, pp. 273-288.

UNDP 1995: Human Development Report 1995, New York/Oxford.

United Nations 1995: The United Nations and the Advancement of Women 1945 – 1995, New York.

Anmerkungen

1) Charta der Vereinten Nationen, in Kraft getreten am 24.10.1945, Artikel 1. Zurück

2) Beijing Declaration, § 14. Zurück

3) Zum 50. Geburtstag schenkten die Vereinten Nationen sich neben diversen Feiern und Laudatien auch eine Bilanz ihrer eigenen Frauenpolitik, die alle »frauenrelevanten« Konferenzen und Auszüge aus Dokumenten, bzw. komplette Dokumente von 1945 bis kurz vor der 4. WFK enthält (United Nations 1995). Zurück

4) Übereinkommen über die politischen Rechte der Frau, angenommen durch Resolution 640 (VII) der Generalversammlung vom 20.12.1952. Zurück

5) Übereinkommen Nr. 100 der ILO über die Gleichheit des Entgelds männlicher und weiblicher Arbeitskräft für gleichwertige Arbeit, 1951. Zurück

6) UNESCO-Report E/CN.6/146, 9. Mai 1950. Zurück

7) Übereinkommen über die Nationalität verheirateter Frauen, angenommen durch die Generalversammlung am 29.1.1957. Zurück

8) Übereinkommen über die Erklärung des Ehewillens, das Heiratsmindestalter und die Registrierung von Eheschließungen, angenommen durch Resolution 1763 (XVII) vom 7.11.1962. Zurück

9) A/RES/2263 (XXII), 7. November 1967. Zurück

10) Report of the World Conference of the International Women's Year, held in Mexico City from 19 June to 2 July 1975; including the Agenda, the World Plan of Action for the Implementation of the Objectives of the International Women's Year, the Declaration of Mexico on the Equality of Women and Their Contribution to Development and Peace, and resolutions and decisions adopted by the Conference; E/CONF.66/34 (76.IV.1), 1976. Zurück

11) Artikel 1 der Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, angenommen auf der Generalversammlung am 18. Dezember 1979, UN Treaty Series, vol. 1249, no. 20378, S. 13. Zurück

12) Report of the World Conference to Review and Appraise the Achievements of the United Nations Decade for Women: Equality, Development and Peace, held in Nairobi from 15 to 26 July 1985; including the Agenda and the Forward-looking Strategies for the Advancement of Women, A/CONF.116/28/Rev.1 (85.IV.10), 1986. Zurück

13) Das Defizit wird auch innerhalb der Vereinten Nationen gesehen und schlug sich in Resolution 1994/45 der Frauenrechtskommission nieder: „The question of integrating the rights of women into the human rights mechanisms of the United Nations and the elimination of violence against women.“ Zurück

14) Ein Fakultativprotokoll zur Konvention, dem die Staaten eigens beitreten müssen, würde ermöglichen, aufgrund einer schriftlichen, nicht anonymen Mitteilung einer Person über Menschenrechtsverletzungen nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges ein Individualbeschwerdeverfahren im UN-Menschenrechtsausschuß einzuleiten und dort Regierungen mit Beschwerden über frauenspezifische Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land zu konfrontieren. Zurück

15) Beide Datensammlungen werden von den Vereinten Nationen erstellt und herausgegeben. 1995 erschienen beide in aktualisierter Fassung und sollten als Datengrundlage für die 4. WFK dienen, doch wurden sie erst kurz vor Konferenzbeginn fertiggestellt. Zurück

16) Dieser Umdenkprozeß hat auch klassische Menschenrechtsorganisationen erreicht. 1995 erschien z.B. zum ersten Mal der Human Rights Watch Global Report on Women's Human Rights. Auch Amnesty International brachte 1995 ein Buch zum Thema heraus (ai 1995: Frauen in Aktion – Frauen in Gefahr, Bonn). Zurück

17) Obwohl erst 1994 erschienen, wurde der Sammelband von Rebecca J. Cook (Cook 1994) bereits zum »Klassiker« der Debatte. Er bietet in 23 Beiträgen Sichtweisen aus allen Regionen der Erde sowie die unterschiedlichen Richtungen des Menschenrechtsansatzes für Frauen. Zurück

18) Die zentralen Passagen aller genannten Konferenzen sind abgedruckt in: United Nations 1995. Zurück

19) A/RES/48/104, 20 December 1993. Zurück

20) Resolution 1994/45 des Menschenrechtsausschusses (ESCOR, 1994, Suppl. No.4, p.140), 11 March 1994. Zurück

21) Das Abschlußdokument besteht aus einer 38 Paragraphen umfassenden Beijing Declaration und der 362 Paragraphen umfassenden Platform for Action. § 47-258 der Aktionsplattform greifen die vorher im Dokument aufgelisteten 12 Aktionsfelder auf. Für jedes der „critical areas of concern“ folgen nach der Darstellung der Ist-Situation und der Benennung der Hindernisse die geforderten Handlungsansätze auf internationaler, regionaler und nationaler Ebene. Die 12 Aktionsfelder sind Armut, Bildung/Ausbildung, Gesundheit, Gewalt, Bewaffnete Konflikte, Wirtschaft, Macht-/Entscheidungsstrukturen, Mechanismen zur Frauenförderung, Menschenrechte, Medien, Umwelt und Mädchen. Zurück

Ruth Klingebiel (Politologin) arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Entwicklung und Frieden (Geibelstr. 41, 47057 Duisburg, Tel: 0203/ 3789-426, Fax: 0203/ 3789-425).

Präventive Diplomatie

Präventive Diplomatie

Neue Ansätze zur Konfliktbearbeitung und zum Menschenrechtsschutz

von Norbert Ropers

Einer der neuen Begriffe, die uns der weltpolitische Umbruch der 90er Jahre beschert hat, ist derjenige der »präventiven oder vorbeugenden Diplomatie«. Im Jahre 1992 war es der UN-Generalsekretär Boutros-Ghali, der in seinem Empfehlungskatalog »Agenda für den Frieden« schrieb: „Der Einsatz der Diplomatie ist dann besonders wünschenswert und effizient, wenn es darum geht, Spannungen zu vermindern, noch bevor ein Konflikt ausbricht – oder, im Konfliktfalle, rasch zu handeln, um den Konflikt einzudämmen und die ihm zugrundeliegenden Ursachen zu beseitigen.“

Dabei dachte er weniger an das klassische Instrumentarium der Diplomatie, an Verhandlungen, an Vermittlungen, an »gute Dienste«. Nach seiner Meinung sollte die Staatengemeinschaft jetzt vielmehr einen Schritt weitergehen und auch praktische Maßnahmen ins Auge fassen, um Spannungen frühzeitig entgegenzuwirken.

Ausdrücklich nannte er damals fünf Punkte:

  1. vertrauensbildende Maßnahmen zwischen den streitenden Parteien;
  2. Fact-Finding-Missionen, d.h. die Entsendung von Expertengruppen in ein Krisengebiet, um sich unabhängig von den streitenden Parteien ein Bild der Lage vor Ort zu machen;
  3. den Aufbau eines Systems der Frühwarnung (early warning) über die mögliche Eskalation von Konflikten;
  4. vorbeugende militärische Einsätze, um damit den Parteien die Gefahr einer Einmischung von außen vor Augen zu halten;
  5. schließlich auch die Einrichtung von entmilitarisierten Zonen.

Mittlerweile findet die Forderung „Vorbeugung ist die beste Strategie zur Verhinderung des Ausbruchs blutiger Konflikte“ überall Anerkennung. Sie findet sich in den Reden der Präsidenten Clinton und Jelzin, in den Beschlüssen des Europäischen Parlaments und ungezählter deutscher Parteitage. Sie hat auch Eingang gefunden in die Programmatik vieler Menschenrechtsorganisationen, z. B. von Amnesty International oder der Helsinki-Gruppen in Osteuropa. Sie alle stimmen dem UN-Generalsekretär darin zu, daß die meisten Menschenrechtsverletzungen dort geschehen, wo Konflikte gewaltsam ausgetragen werden. Also kommt es darauf an, diese Eskalation abzuwenden, vorbeugend tätig zu werden.

»Gerechte Kriege« statt »Humanitäre Interventionen«

Was ist jedoch in der Praxis geschehen? Was haben die Vereinten Nationen, die amerikanische, russische und deutsche Regierung, die europäischen Institutionen, die Menschenrechtsorganisationen getan, um dem Vorrang der Prävention Geltung zu verschaffen?

Was haben z.B. die Vereinten Nationen in Somalia unternommen, um nach dem Sturz des Diktators Barre im Januar 1991 den politischen Neubeginn zu unterstützen, dem Wunsch der Bevölkerung nach Frieden, Versöhnung zwischen den Clans und Wiederaufbau des Landes entgegenzukommen? Was haben die Vereinten Nationen getan, um 1992 ihren eigenen algerischen Sonderbeauftragten Mohamed Sahnoun zu unterstützen, dem es gelungen war, die meisten Kriegsparteien und Clanführer in ein Netz von Verhandlungen einzubeziehen? Die Chance vom Januar 1991 wurde verpaßt und der algerische Diplomat wurde von Boutros-Ghali abberufen, weil er den Vorbereitungen der militärischen Intervention in Somalia im Wege stand. Statt Prävention ist Somalia ein Beispiel einer sogenannten humanitären Intervention geworden, womit in der Praxis nichts anderes gemeint ist als ein »gerechter Krieg«. Dieser »gerechte Krieg« hat insgesamt einige tausend Menschenleben sowie gut 4 Mrd. US-Dollar gekostet und wird mittlerweile auch von der Bundesregierung als Fehlschlag beurteilt.

Was haben die Bundesregierung und ihre westlichen Verbündeten getan, als die bosnische Regierung in der 2. Jahreshälfte 1991 mehrfach darauf hinwies, daß eine Anerkennung Sloweniens und Kroatiens unweigerlich zu einem Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina führen werde? Was dann auch im 9. April 1992 geschah!

Was wird heute unternommen, um präventiv auf den manifesten Konflikt zwischen der albanischen Bevölkerungsmehrheit im Kosovo und der serbischen Regierung in Belgrad einzuwirken? Wie geht die Europäische Union mit der griechischen Politik gegenüber Mazedonien um, die diesem Land immense ökonomische Lasten aufbürdet, einem Land, das dringend ökonomische Entlastung braucht, um mit seinen internen ethnischen Spannungen fertig zu werden?

Was hat die Staatengemeinschaft unternommen, als eine »Fact-Finding«-Mission der auf die Konfliktprävention spezialisierten Nicht-Regierungsorganisation International Alert im Oktober 1992 darauf hinwies, daß sich in Tschetschenien ein außerordentlich brisanter Konflikt aufbauen würde? Was wird heute unternommen, wenn dieselbe Organisation und viele Medien darauf hinweisen, daß sich in Burundi gegenwärtig eine ähnliche Katastrophe vorbereiten könnte, wie sie 1994 in Ruanda stattgefunden hat?

Barrieren präventiver Diplomatie

Es ist allgemein bekannt, daß sich diese Liste beliebig verlängern läßt. So wünschenswert die Prävention von Gewalt und massenhaften Menschenrechtsverletzungen auch ist, offensichtlich gibt es im gegenwärtigen internationalen System erhebliche Barrieren, die der Realisierung eines wirksamen Programms präventiver Diplomatie entgegenstehen. Im folgenden werden fünf dieser Barrieren und Schwierigkeiten genauer vorgestellt. Erst in Kenntnis dieser Rahmenbedingungen ist meiner Ansicht nach eine realistische Einschätzung von Ansätzen und Möglichkeiten präventiver Diplomatie möglich.

(1) Die erste Barriere ist zumindest im Hinblick auf die Vereinten Nationen die massive Überforderung, die bereits die aktuelle Konfliktbearbeitung mit sich bringt. Derzeit hat die UNO in insgesamt 17 Krisenregionen Blauhelme bzw. zivile Beobachter stationiert. Zugleich ist sie jedoch überhaupt nur in einem Drittel der zur Zeit militärisch ausgefochtenen Konflikte präsent. Wenn Sie sich jetzt noch die Kritik vor Augen führen, die bereits an der gegenwärtigen Durchführung der Blauhelm-Einsätze geübt wird, wo sollen dann die Ressourcen und die organisatorischen Kapazitäten für die Ausweitung in Richtung auf Prävention herkommen?

(2) Die zweite Schwierigkeit hängt mit der ersten zusammen: Ressourcen und Kapazitäten werden dort bereitgestellt, wo sich Interessengruppen dafür stark machen, wo Druck erzeugt wird oder wo Spektakuläres stattfindet, das die Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit erregt. Die Mittel für eine bescheidene Fact-Finding- und Vermittlungsinititative für einen Konflikt aufzutreiben, über den der amerikanische Sender CNN noch nicht berichtet hat oder in dem es noch keine Toten gibt, ist meist sehr viel schwieriger, als wenig später ein Mehrfaches dieser Kosten für eine humanitäre Aktion der Opfer dieses Konfliktes zusammenzubekommen.

Ein passendes Bild ist vielleicht: So wie die Feuerwehr sicher sein kann, daß ihre Einsätze mehr Aufmerksamkeit finden als die Besuche des Brandschutzbeauftragten, so wird auch über militärische »out-of-area«-Einsätze wesentlich heftiger diskutiert als über Wege und Formen ziviler Konfliktprävention. Diese Neigung zum Feuerwehr-Modell ist freilich keine Besonderheit der internationalen Politik. Möglicherweise hält es sich hier aber auch deshalb so hartnäckig, weil das Denken in militärischen Kategorien immer noch im Mittelpunkt des Staatensystems steht.

(3) Eine andere Schlüsselkategorie des Staatensystems ist das Prinzip der nationalen Souveränität. Hier liegt eine weitere, die dritte Barriere für den Ansatz der präventiven Diplomatie. Die meisten gewaltträchtigen Konflikte, mit denen wir es heute zu tun haben, sind innerstaatlicher und nicht zwischenstaatlicher Art. Präventive Diplomatie läuft unter diesen Umständen oft zwangsläufig auf eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines oder mehrerer souveräner Staaten hinaus. Welche Möglichkeiten hatte denn die Staatengemeinschaft, die Sezessionsbestrebungen Tschetscheniens friedlich zu beeinflussen, wenn die Regierung Rußlands auf dem Standpunkt steht, dies sei eine ausschließlich innere Angelegenheit ihres Landes?

Dieses Beharren auf der Souveränität als Abwehrargument gegen präventive Maßnahmen ist übrigens keine Spezialität autoritär regierter Transformationsgesellschaften in Osteuropa oder in der Dritten Welt. Auch im Westen gibt es z.B. erhebliche Vorbehalte gegen die Ausweitung von Rechten zum Schutz ethnischer Minderheiten. Für alle Nationalstaaten mit einer ausgeprägt zentralstaatlichen Tradition und einem republikanischen Staatsbürgerverständnis, wie etwa Frankreich, ist die Verankerung von Autonomiebestimmungen auf der internationalen Ebene kaum akzeptabel. Die Bundesrepublik Deutschland wiederum tut sich sehr schwer, wie Sie alle wissen aufgrund unseres Staatsbürgerverständnisses, mit der Anerkennung nationaler Minderheiten jenseits der Dänen, Sorben und Friesen.

(4) Das Prinzip der nationalen Souveränität als Grundmerkmal der gegenwärtigen Staatenwelt erschwert Aktivitäten präventiver Diplomatie noch aus einem weiteren Grund und damit komme ich zur vierten Barriere: dem Dilemma aller internationaler Organisationen zwischen den Rollen des Richters und der neutralen Vermittlungsinstanz. Wenn die Vereinten Nationen sich als Staatengemeinschaft mit eigener Autorität in einem Konflikt engagieren, so stehen ihnen prinzipiell drei Möglichkeiten offen: Entweder sie ergreifen Partei für einen der streitenden Akteure, oder sie entscheiden als Quasi-Richter über die Einhaltung internationaler Standards, oder sie verstehen sich nur als Vermittler zwischen den Parteien und müssen sich dementsprechend auch an den Machtverhältnissen orientieren.

Als Vertreter einer Staatenorganisation sind die Vereinten Nationen gezwungen, prinzipiell auf Seiten der bestehenden Staaten und ihrer »territorialen Integrität« zu stehen. Sie können zwar einen Staat als Aggressor brandmarken, wie das der Sicherheitsrat mit Serbien getan hat. Wenn sie jedoch präventive Diplomatie und akutes Konfliktmanagement betreiben wollen, müssen sie auch mit jenen Parteien sprechen, die sie möglicherweise vorher »geächtet« haben. Dieses Dilemma prägt ganz besonders die Jugoslawienpolitik der UNO, die deshalb auch für Außenstehende einen so widersprüchlichen Charakter hat.

(5) Eine fünfte Schwierigkeit, präventive Diplomatie in die Praxis umzusetzen, sehe ich in dem eingeengten Verständnis dieses Ansatzes, das auch noch die Vorschläge von Generalsekretär Boutros-Ghali bestimmt. Die von ihm eingangs erwähnten fünf Punkte betreffen entweder nur die Verbesserung der Informationslage oder militärische Maßnahmen. Lediglich die »vertrauensbildenden Maßnahmen« gehen über diese konventionellen Methoden hinaus, bleiben bei ihm jedoch auch eher unbestimmt. Interessanterweise hat er in seiner »Agenda für den Frieden« in der sogenannten Konfliktfolgenzeit einen wesentlich breiteren Ansatz gewählt. In dieser Phase betont er auch die Notwendigkeit von umfassenden friedensstiftenden Maßnahmen, die die gesamte Gesellschaft einbeziehen sollten (post-conflict peace building).

Merkmale ethnopolitischer Konflikte

Ich bin der Auffassung, daß ein derart breiter Ansatz auch für die Realisierung von präventiver Diplomatie notwendig ist. Ich möchte das erläutern anhand des Charakters jener gewaltträchtigen Konflikte, mit denen wir es zur Zeit vor allem im internationalen System zu tun haben.

Ich erwähnte bereits, daß die weit überwiegende Zahl der gegenwärtig registrierten gewaltträchtigen Konflikte keine klassischen internationalen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Staaten sind, sondern Spannungen innerhalb von Staaten zwischen rivalisierenden Gruppen bzw. zwischen diesen Gruppen und dem jeweiligen Staat. Eine Schlüsselrolle bei der Beschreibung der streitenden Gruppen spielen ethnische Kriterien, so daß diese Konflikte meist als ethnische Konflikte charakterisiert werden. Die Bezeichnung als »ethnische« Konflikte sollte allerdings nicht als Erklärung mißverstanden werden, so als ob die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe automatisch zu Konflikten führen würde. In der Mehrzahl aller sogenannten ethnischen Konflikte geht es vielmehr um eine ganze Reihe von gesellschaftlichen und politischen Ursachen, die sich auf komplizierte Weise mit der Ethnizität vermischt haben.

Welches sind die Kriterien, die in der Regel als Grundmerkmale von »ethnischer Identität« genannt werden: gemeinsame historische Erfahrungen, Mythen, religiöse Überzeugungen, eine eigene Kultur, insbesondere eine eigene Sprache. Wichtig scheint mir zu sein, daß nicht diese Merkmale als solche die gemeinsame Ethnizität ausmachen, sondern die gemeinsame Wahrnehmung, daß diese Aspekte bedeutsam sind und ihre Angehörigen von denen anderer Gruppen unterscheiden. So heißt es zugespitzt in einer ironischen Definition: Ethnische und nationale Identitäten zeichnen sich dadurch aus, daß ihre Angehörigen den Irrtum einer gemeinsamen Herkunft miteinander teilen.

Wie kommt es nun zu dieser gemeinsamen Wahrnehmung? Ich glaube, die beiden wichtigsten Einflußfaktoren sind: zum einen die Erfahrung einer gemeinsamen negativen Diskriminierung (gelegentlich allerdings auch vor dem Hintergrund gemeinsamer Erfahrung von Privilegien, die plötzlich in Frage gestellt werden) und zum anderen die gezielte Politisierung der Ethnizität durch die jeweiligen Eliten.

Betrachtet man die gegenwärtige weltpolitische Landschaft unter diesem Blickwinkel ethnischer bzw. ethnisch-politisierter Konflikte, kommt man ungefähr auf eine Zahl von zwischen 70 und über 100 Spannungsfeldern, in denen wir es zur Zeit mit tatsächlicher oder drohender kollektiver Gewaltanwendung zu tun haben. Entgegen einer verbreiteten Meinung ist die Zunahme ethno-politischer Konflikte übrigens nicht erst in den letzten Jahren, seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, aufgetreten. Dieser Trend läßt sich vielmehr seit dem Ende der 60er Jahre beobachten, seitdem im Zuge der Dekolonisierung in der Dritten Welt viele künstliche Staatsgebilde geschaffen wurden, denen es nicht gelang, ihre multiethnische Bevölkerung miteinander zu versöhnen.

Was kann präventive Diplomatie in diesen Konfliktfällen unternehmen, um eine gewaltsame Eskalation zu verhindern bzw. um zur Deeskalation beizutragen? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich drei Aspekte hervorheben, die nach meiner Meinung wesentlich für diesen Konflikttypus sind und ihm in der angelsächsischen Fachsprache die Bezeichnung »protracted conflict«, schwer lösbar und tief verwurzelt, eingetragen haben.

(1) Das erste Merkmal ergibt sich aus der Tatsache, daß ethnische Gruppen sich in einem langen historischen Prozeß als »Schicksalsgemeinschaften« herausbilden, in dem sowohl subjektive als auch objektive Faktoren eine Rolle spielen und sich wechselseitig beeinflussen. In diesem Prozeß lassen sich zumindest analytisch zwei Ebenen unterscheiden: eine meist offen ausgesprochene Ebene politischer Forderungen und Interessen und eine eher verborgene, tiefer liegende Ebene kollektiver, häufig negativer und verletzender, kränkender Gemeinschaftserfahrungen.

Gerade diese zweite Ebene kollektiver Negativerfahrungen spielt bei ethnischen Konflikten eine wichtige Rolle. Dazu zählen insbesondere Ereignisse, bei denen eine große Zahl von Angehörigen der Gruppe zum Opfer von Willkürherrschaft und Vertreibung, einer militärischen Niederlage oder einer anderen Form von Gewalt wurde. Diese einschneidenden Erfahrungen haben oft eine traumatisierende, verletzende Wirkung über die unmittelbar betroffene Generation hinaus. Wie tiefe Verletzungen einzelner Personen als Schlüsselerfahrungen an die Kinder und Enkel übertragen werden können, so können auch schwerwiegende kollektive Verletzungen an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden und zu einem Bestandteil der kollektiven Identität der »ethnischen Schicksalsgemeinschaft« werden. Freilich kann dieser Prozeß auch von den Eliten mitbeeinflußt werden.

Nicht selten enthält das kollektive Bewußtsein »ethnischer Schicksalsgemeinschaften« eine Reihe solcher kollektiven Verletzungen. Ein Beispiel liefert die Geschichte des nordkaukasischen Volkes der Tschetschenen, die erst nach langen und verlustreichen Kämpfen Mitte des 19. Jahrhunderts dem zaristischen Rußland einverleibt worden sind. Ihr wichtigstes »chosen trauma« ist bis heute aber zweifellos die von Stalin angeordnete Vertreibung 1944 nach Zentralasien wegen ihrer angeblichen Kooperation mit Hitler-Deutschland. Sie führte zu einem immensen Verlust an Menschenleben und gipfelte in dem Versuch, die Erinnerung an dieses Volk in ihrer Heimatregion vollständig auszulöschen. Die nächste kollektive Verletzung dürfte die von Präsident Jelzin angeordnete militärische Intervention in Tschetschenien seit dem Dezember 1994 werden.

Die wichtigste Konsequenz dieser zwei Ebenen vieler ethnischer Spannungsfelder ist, daß präventive Diplomatie und akute Konfliktbearbeitung auf die Dauer nur erfolgreich sein können, wenn sie beide Ebenen berücksichtigen. In aller Regel beschränkt sich die Diplomatie aber, wie im klassischen Verständnis dieses Wortes angelegt, auf die politische Ebene, auf die Verhandlung und den Ausgleich von Interessen. Ohne die »Identitäten«, ohne die historische und psycho-soziale Tiefendimension zu berücksichtigen, ist das jedoch außerordentlich schwierig. Immer wieder wird von diplomatischen Interventionen und Verhandlungen in ethnischen Spannungsfeldern berichtet, die über weite Strecken sehr verheißungsvoll ablaufen. Aber plötzlich gibt es »Widerstände«, Abwehrreaktionen, die sich keiner der Beteiligten und der außenstehenden Beobachter erklären kann. Meine Vermutung ist, daß sich in diesen Widerständen die Tiefendimension des Konflikts zu Wort meldet, weil sie in der Konfliktbearbeitung zuwenig Gehör gefunden hat.

Praktisch bedeutet diese Einsicht, daß bei ethnischen Konflikten die sogenannte Beziehungsebene mindestens ebenso, wenn nicht noch wichtiger ist als die »Sachebene«. Deshalb ist es wohl auch kein Zufall, daß etliche professionelle Vermittler, in den USA als Mediatoren bezeichnet, die Auffassung vertreten, zwischen der Bereinigung von Ehekonflikten und derjenigen von ethnischen Auseinandersetzungen gäbe es nur wenig prinzipielle Unterschiede. Präventive Diplomatie kann sich daher nicht darauf beschränken, sachlich venünftige Vorschläge zu machen. Sie mögen noch so vernünftig sein, über sie kann aber meist erst dann auf konstruktive Weise verhandelt werden, wenn zuvor über die wechselseitigen Beziehungserfahrungen gesprochen wird.

(2) Ein zweites Merkmal ethnischer Konflikte ist ihr asymmetrischer Charakter. Das betrifft zunächst in der Regel schlicht den personellen Umfang der streitenden Gruppen. Die meisten Konflikte können deshalb auch als Mehrheiten-Minderheiten-Konflikte beschrieben werden. Die Konsequenz ist, daß die traditionellen Formen demokratischer Konfliktregulierung hier meist wenig brauchbar sind. In einem Land, in dem die Mehrheitsgruppe 60<0> <>% der Bevölkerung umfaßt und die Minderheitsgruppe 40<0> <>%, kann deshalb allein mit den Mechanismen der Mehrheitsdemokratie schwer befriedet werden. Wie auch immer das Wahlsystem und die politischen Vertretungen verfaßt sind, die Minderheit kann regelmäßig auf »demokratische« Weise überstimmt werden.

Die Asymmetrie trifft in vielen Fällen auch noch in einem zweiten, qualitativen Sinne zu. Während nämlich eine Partei im Namen eines bestimmten, staatlich legitimierten Status quo auftritt, fordert die andere mit Hinweis auf gesellschaftliche Ungerechtigkeiten die Änderung dieses Status quo zu ihren Gunsten. Dahinter steht ein grundsätzliches Problem unserer heutigen Staatenwelt. Die »Erfindung der Nation« hat nämlich dazu geführt, daß alle ethnischen Gruppen einem starken Druck ausgesetzt sind, sich selbst als »Nation« zu konstituieren, d.h. für sich den Anspruch auf politische Autonomie und Selbstbestimmung zu fordern. Wie kann das aber in einer Welt gelingen, in der die bewohnbare Fläche nahezu vollständig zwischen den gut 190 Nationalstaaten aufgeteilt ist, es daneben aber mindestens 170 weitere ethnische Gruppen ohne »eigenen« Staat, aber mit der Forderung nach Autonomie und Selbstbestimmung gibt (Minority Rights Group)?

Welche Konsequenz ergibt sich aus diesen Asymmetrien für die präventive Diplomatie? Hier steckt meines Erachtens eine Herausforderung, die zumindest das traditionelle Verständnis von Diplomatie, das sich ja vor allem im Rahmen symmetrischer Konflikte entwickelt hat, radikal in Frage stellt. Zu einer dauerhaften Befriedung zwischen der Status-quo-Staatenwelt und den in ihr benachteiligten ethnischen Gruppen wird es nämlich nur kommen können, wenn die Staaten zu umfassenden makropolitischen Reformen bereit sind. Die Stichworte lauten: Minderheitenrechte, Föderalismus, multiethnische Gewaltenteilung, vielleicht auch Verrechtlichung von Sezession.

(3) Bevor ich das im einzelnen erläutere, noch ein Hinweis auf das dritte Merkmal ethnopolitischer Konflikte: ihre ausgeprägte Neigung zur Eskalation. Dies hängt mit einer Reihe von Faktoren zusammen, insbesondere aber wohl damit, daß die vorsätzliche Eskalation, d.h. das systematische Vorantreiben des Konflikts auf eine höhere Intensitätsstufe, von den Konfliktparteien als eine Methode der Konfliktbearbeitung angesehen wird. Am bekanntesten ist diese Methode, wenn Gewalt angedroht wird. Durch diese Drohung hoffen beide Seiten, die andere zum Nachgeben zu bewegen. Tatsächlich wird jedoch meist das Gegenteil erreicht. Der österreichische Konfliktforscher Friedrich Glasl nennt das »Beschleunigung durch Bremsen«.

Andere Eskalationsmechanismen sind die Neigung zur Projektion eigener interner Auseinandersetzungen und Schwierigkeiten auf den Gegner; die ständige Ausweitung der Konfliktthemen, während gleichzeitig der Grundkonflikt immer mehr zu einem zwischen Gut und Böse wird; schließlich die Personifizierung: Wenn die anderen nur nicht so … und so wären, dann ließe sich der Konflikt doch leicht lösen. Die Folge ist, daß ethnopolitische Konflikte leicht in eine Spirale der wechselseitigen Abschottung und Verfeindung geraten, aus der die Beteiligten allein nur schwer einen Ausweg finden.

Die hohe Eskalationsgefahr ethnopolitischer Konflikte ist zweifellos ein wesentliches Argument für die Notwendigkeit von Prävention; denn je weiter der Konflikt eskaliert ist, desto stärker ist er in den gesellschaftlichen und politischen Strukturen und den kulturellen Einstellungen der streitenden Parteien verankert. Bei bereits weit eskalierten Konflikten ist es zudem oft notwendig, daß eine dritte Partei von außen interveniert, weil die Parteien selbst sich zu sehr auf ihre Positionen versteift haben.

Vor dem Hintergrund dieser drei Merkmale ethnopolitischer Konflikte möchte ich Ihnen jetzt fünf Handlungsfelder vorstellen, in denen es meiner Ansicht nach darauf ankommt, das Konzept der präventiven Diplomatie und der vorbeugenden Konfliktbearbeitung praktisch zu entfalten:

Entwicklungspolitik

Auf einer sehr allgemeinen Ebene läßt sich zunächst feststellen: Die beste Prävention wäre es, generell die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Konflikte in einer Gesellschaft überhaupt »zivilisiert«, d.h. ohne den Rückgriff auf Gewalt ausgetragen werden. Als praktische Handlungsanleitung ist diese These »Präventionsarbeit=Zivilisierung« zwar nicht besonders konkret, aber sie macht mit Recht darauf aufmerksam, daß es nicht nur darauf ankommt, einzelne Konflikte friedlich zu regeln, sondern auch darauf, die gesamte Art und Weise des Umgangs mit Konflikten zu zivilisieren. Zugespitzt könnte man auch sagen: zu kultivieren; denn es geht ja nicht darum, Konflikte zu unterdrücken, im Gegenteil, Konflikte sind ein notwendiger Bestandteil einer sich modernisierenden und ständig verändernden Welt. Worauf es ankommt, ist ihre Austragung gewaltfrei zu gestalten.

Was bedeutet das für die Präventionsarbeit in jenen Ländern des Ostens und Südens, die heute in besonderem Maße von gewaltsamen ethnopolitischen Konflikten heimgesucht bzw. bedroht werden? Ich meine, es bedeutet vor allem Entwicklungspolitik bzw. entwicklungspolitische Zusammenarbeit. Für besonders geeignet halte ich z.B. Hilfen bei der Gestaltung demokratischer politischer Strukturen, Hilfen für die Vorbereitung und faire Durchführung von Wahlen, Unterstützung für den Aufbau von Nicht-Regierungsorganisationen, die Förderung der Medienvielfalt, die Dezentralisierung der Verwaltung, insbesondere auf regionaler und kommunaler Ebene, Beratung und Hilfen für den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen, d.h. bei der Gesetzgebung wie der Rechtspflege, nicht zuletzt auch Unterstützung für die Reform der meist noch militärähnlich organisierten Polizei sowie des Strafvollzugs.

Auf diesem Gebiet vollzieht sich bereits ein allmählicher Bewußtseinswandel bei den verantwortlichen Entwicklungspolitikern und Entwicklungsverwaltern. Der Wandel findet jedoch angesichts der akuten Krisen viel zu langsam statt. Vor allem fehlt es an dem Mut, auf extreme Krisensymptome auch mit der Bereitschaft zu durchgreifenden und umfassenden entwicklungspolitischen Interventionen zu reagieren.

Ein Beispiel ist die von drei Bundestagsabgeordneten der SPD sowie von Bündnis 90/Die Grünen jüngst vorgeschlagene Burundi-Initiative (Jochen Tappe, Werner Schuster, Uschi Eid). Angesichts der dramatischen Zuspitzung der Gewaltbereitschaft in diesem Land und eingedenk des Völkermordes in Ruanda schlagen sie vor, ein umfassendes Arbeitsbeschaffungsprogramm für jene arbeitslosen jugendlichen Tutsis und Hutus zu entwickeln, die die Hauptadressaten der extremistischen Politiker sind. Mit bereits 500,- DM pro Person könnte ihnen geholfen werden, konkrete wirtschaftliche Alternativen zu finden, so daß sie nicht mehr so leicht zu verführen sind, als marodierende Banden die grauenhafte »ethnische Säuberung« zu praktizieren, die wir letztes Jahr in Ruanda erlebt haben. Bei gut einer Million männlicher Jugendlicher wären das zwar immerhin 500 Millionen DM, aber was bedeutet diese Summe im Vergleich zu dem befürchteten Verlust an Menschenleben – ganz zu schweigen von den Summen, die später als »humanitäre Hilfe« bereitzustellen offensichtlich keine Schwierigkeiten bereitet.

Ein anderer Vorschlag der Bundestagsabgeordneten lautet, den Aufbau eines Friedensrundfunks in diesem Land zu unterstützen, um den Propagandasendern entgegenzutreten, die auf beiden Seiten den Haß schüren. Vielleicht sollte man angesichts dieser berüchtigten »Haßsender« auch nicht davor zurückschrecken, ein Mittel zu benutzen, das wir aus dem Kalten Krieg zwar in sehr schlechter Erinnerung haben, für das es aber eben manchmal doch eine Rechtfertigung gibt: die Einrichtung von Störsendern nämlich.

Schließlich weisen die Politiker auch auf die Notwendigkeit hin, den ehemaligen Soldaten ein Angebot zur Integration in die zivile Gesellschaft zu machen, um ihr Gewaltpotential friedlich zu transformieren. Damit komme ich zum zweiten Punkt:

Präventive Abrüstung und Konversion

Meiner Ansicht nach ist nicht die Existenz von Waffen die Ursache von Konflikten, es sind vielmehr die Konflikte, die die Parteien nach den Waffen greifen lassen. Zweifellos haben aber die Existenz von Waffen und die Gewöhnung an die militärische Austragung von Konflikten die fatale Wirkung, daß schneller zur Gewalt gegriffen wird, als wenn es diese Mittel nicht oder weniger gäbe. Die zählebigen blutigen Konflikte in Afghanistan, in Mosambique, in Angola und in etlichen anderen Krisenregionen belegen das Tag für Tag.

Deshalb gehören auch die Abrüstung und die Konversion von Rüstungsmaterial und die Demobilisierung von Soldaten zur Prävention. In den letzten Jahren ist es infolge der Überwindung des Ost-West-Konflikts erfreulicherweise gelungen, die Abrüstung bei den Großwaffen voranzutreiben. Jetzt muß auch die Abrüstung bei den Kleinwaffen auf der Tagesordnung stehen. Denn gerade die Existenz dieser Waffen ist es, die in den vielen ethnischen Krisengebieten eine konfliktverschärfende Wirkung hat.

Um dieses Problem zu lösen, sollte man nicht davor zurückschrecken, auch unkonventionelle Ideen und Vorschläge in die Debatte einzubringen. Vor allem geht es um die Verantwortung der Produzenten und Händler dieser Waffen. Eine hervorragende Idee scheint mir diejenige einer internationalen Steuer zu sein, die auf den internationalen Waffentransfer erhoben wird und an die Vereinten Nationen abzuführen ist. Ein anderer Vorschlag, der es verdient, gründlich geprüft zu werden, ist, daß alle Länder, die Waffen in eine bestimmte Region geliefert haben, verpflichtet werden, diese Waffen zurückzukaufen, wenn in dieser Region eine Krise ausbricht. Das ist nur fair, schließlich sind diesen Ländern ja auch einmal die Gewinne aus dem Verkauf zugeflossen.

Minderheitenrechte, Föderalismus und Gewaltenteilung

Der Minderheitenschutz gehört historisch zu den ältesten Formen der Prävention von gewaltsamer Konfliktaustragung. Seine Wurzeln liegen zum einen in den Toleranzedikten des 16. und 17. Jahrhunderts, in denen die damaligen Feudalherrscher die Schutzrechte religiöser Minderheiten festlegten. Zum anderen gehen sie zurück auf die Regelungen, mit denen die Führungen des Osmanischen Reiches, des zaristischen Rußlands und der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie sich bemüht haben, ihre auseinanderstrebenden multiethnischen Staatsgebilde zusammenzuhalten. Heute sind die Debatten um den Ausbau von Minderheitenrechten wieder höchst aktuell. Kein Wunder angesichts der bereits erwähnten Zahl von mindestens 170 Minderheiten ohne eigenen Staat.

Versteht man Minderheitenrechte nicht nur als die individuelle Garantie einer nichtdiskriminierenden Behandlung, sondern auch als einen kollektiven Anspruch auf politische und kulturelle Selbstbestimmung, dann geht es bei der Prävention auch um Fragen der Gewährung von Autonomierechten, der Schaffung föderaler Staatsstrukturen und der Teilung der Macht im Staate durch Proporzregelungen und Vetorechte zugunsten der Minderheiten.

Meiner Ansicht nach belegen etliche Beispiele, daß die rechtzeitige Gewährung großzügiger individueller und kollektiver Minderheitenrechte eine der besten Strategien ist, um der Eskalation ethnopolitischer Konflikte entgegenzuwirken. Erwähnen möchte ich die schwedische Minderheit in Finnland, die Waliser im britischen Staatsverbund, die Lage der Südtiroler in Italien. An den konkreten Regelungen mag manches zu kritisieren sein, die Vereinbarungen für Südtirol sind auch nicht ganz ohne Eskalation zustande gekommen. Gleichwohl haben sie meiner Ansicht nach wesentlich dazu beigetragen, daß diese Konflikte heute nicht mehr als gewaltträchtig gelten.

Es ist deshalb schwer zu verstehen, warum von diesen Regelungen so wenig Gebrauch gemacht wird. Unter den gegenwärtig 190 Staaten können mindestens 170 als Staaten gelten, in denen es mindestens eine ethnische Minderheit gibt. Trotzdem gibt es nur in wenigen Staaten Ansätze von Selbstverwaltung für die Minderheiten. Offensichtlich fällt es den meisten Regierenden schwer, ihre Macht zu teilen. Viele riskieren lieber die Eskalation, als sich auf eine gemeinsame Lösung einzulassen.

Klassische Diplomatie

Angesichts des verbreiteten Widerstands gegen »makropolitische« Lösungen stehen die klassischen Mittel der Diplomatie im Vordergrund dessen, was heute als »präventive Diplomatie« im engeren Sinne beschrieben werden könnte. Aus dem Katalog von Boutros-Ghali habe ich bereits zwei wichtige Elemente genannt: Durch die Veröffentlichung von Tatsachen (das sog. Fact-Finding) aus dem Spannungsfeld soll eine Dämpfung des aggressiven Verhaltens der streitenden Parteien erreicht werden. Durch »Frühwarnung« soll es möglich gemacht werden, daß Außenstehende rechtzeitige Gegenmaßnahmen ergreifen können.

Auf dieser Basis soll dann das klassische Instrumentarium der Diplomatie zur Geltung kommen: die guten Dienste, um die Parteien überhaupt an einen gemeinsamen Verhandlungstisch zu bringen, sowie die diversen Formen der Einwirkung auf die einzelnen Parteien und der Vermittlung zwischen ihnen. Zweifellos hat auf diesem Gebiet die nicht-öffentliche Diplomatie des UN-Generalsekretärs, haben auch ähnliche Initiativen einzelner Staaten manche Krise bereinigt. Vermutlich sind uns durch diese Aktivitäten von hunderten von Diplomaten und Sonderbeauftragten manche negativen Schlagzeilen in der Presse erspart geblieben. Eine Geschichte erfolgreicher präventiver Diplomatie, die vermutlich niemals vollständig geschrieben werden kann.

Um so schmerzhafter nehmen wir die vielen Mißerfolge der klassischen Vermittlungsdiplomatie zur Kenntnis. Am dramatischsten wohl im Fall des früheren Jugoslawien, wo ich manchmal aus der Medienberichterstattung den Eindruck gewinne, als ob die Vermittler der Vereinten Nationen und der Europäischen Union, Vance, Callaghan, Stoltenberg und Owen, eigentlich die Hauptverantwortlichen dafür sind, daß die Konflikte auf dem Balkan sich derart zugespitzt haben.

Patentrezepte gibt es in diesem Feld nach allen Erfahrungen nicht. Meiner Meinung nach wären die Vereinten Nationen jedoch gut beraten, sich beim Ausbau der präventiven Diplomatie im engeren Sinne ein Beispiel an jener regionalen Organisation zu nehmen, die in dieser Hinsicht schon einen Schritt weiter ist: der Organisation über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Sie hat zwei Institutionen geschaffen, die sich bei der Behandlung von ethnopolitischen Konflikten, die noch nicht sehr weit eskaliert waren, sehr bewährt hat.

Die eine ist das Amt des Hochkommissars für nationale Minderheiten, das zur Zeit von dem ehemaligen niederländischen Außenminister Max van der Stoel ausgeübt wird. Die andere sind die sogenannten Langzeitmissionen der OSZE, die aus einer kleinen Gruppe von Konflikt- und Regionalexperten bestehen, die jeweils für längere Zeit in eine Krisenregion geschickt werden. Diese Institutionen haben sich sowohl bei der präventiven Bearbeitung der Staatsbürgerschaftskonflikte im Baltikum als auch der Sezessionskonflikte in Moldawien und in Georgien bewährt. Ihr bescheidener Erfolg ist vor allem darauf zurückzuführen, daß die beteiligten Personen längere Zeit vor Ort leben, die beteiligten Konfliktparteien sehr gut kennen, auf der Basis von Vertraulichkeit arbeiten und immer wieder betonen, daß sie dauerhaft tragfähige Lösungen für alle Beteiligten bevorzugen.

Allerdings müssen auch sie unter einer Einschränkung arbeiten: Sie arbeiten im Auftrag einer Staatenorganisation und können deshalb keine vollständig neutralen Vermittler sein. Das können nur die Vertreter der sogenannten Multi-track Diplomacy.

»Multi-track Diplomacy«

Mit diesem Begriff der »viel-gleisigen Diplomatie« wird zum Ausdruck gebracht, daß in der heutigen Welt nicht nur die offiziellen Diplomaten für die Gestaltung der internationalen Beziehungen verantwortlich sind. Die Welt hat sich geändert von einer reinen Staatenwelt zu einer Staaten- und Gesellschaftswelt. Wirtschafts- und Medienunternehmen, Religionsgemeinschaften, politische Interessengruppen, Menschenrechtsorganisationen, wissenschaftliche Einrichtungen und auch Privatpersonen, sie alle haben mittlerweile einen, wenn auch meist nur begrenzten Einfluß auf das internationale Geschehen.

Meine These ist, daß aufgrund der besonderen Merkmale ethnopolitischer Konflikte die offizielle Diplomatie zu ihrer Regelung nicht ausreicht. Auch die Akteure und die Interessen und die Möglichkeiten der »multi-track-Diplomatie« sollten für die präventive wie die aktuelle Bearbeitung ethnischer Konflikte mobilisiert werden.

Zwei Gründe sprechen dafür. Der erste lautet: Da viele der ethnischen Konflikte so tief in den Strukturen der Gesellschaften verankert sind, ist es notwendig, ebenso breite Allianzen zu ihrer Überwindung zu schaffen. Vor allem geht es darum, den Vorrang der zivilen Kräfte einer Gesellschaft bei der Konfliktbearbeitung zu sichern. Wenn ein Konflikt nämlich einmal auf die militärische Ebene eskaliert ist, ziehen sich die zivilen Akteure meist apathisch zurück und auch die wohlmeinenden außenstehenden Vermittler konzentrieren sich nur noch auf diejenigen, die die Waffen besitzen. Deshalb ist es so wichtig, in allen Krisenregionen Bündnisse zwischen allen zu fördern, die eine zivile Konfliktlösung wollen. Das sind z. B. die lokalen Führungsgruppen und Verwaltungen, die Geschäftswelt, ein großer Teil der Bildungseliten.

Den zweiten Grund habe ich bei der Beschreibung von Grundmerkmalen ethnischer Konflikte genannt: Viele von ihnen können nur dadurch erfolgreich bearbeitet werden, indem auch ihre historische und psycho-soziale Tiefendimension berücksichtigt wird. Sonst werden immer erneut Widerstände und Abwehrreaktionen erzeugt, die eine vernünftige Regelung blockieren. Mit einer solchen Aufgabe der Verständigung und Versöhnung an der Basis der Gesellschaft, aber auch bei vielen einflußreichen Führungspersonen der Parteien, sind jedoch die offiziellen Diplomaten überfordert. Hier gibt es ein wichtiges Betätigungsfeld für gesellschaftliche Träger, für Kirchen und Nichtregierungsorganisationen. Leider ist die Bedeutung dieser Arbeit noch wenig ins öffentliche Bewußtsein gedrungen.

Seit der Wende von 1990 wird in der Bundesrepublik Deutschland darüber diskutiert, wie unser Land seine neue, die gewachsene sogenannte weltpolitische Verantwortung wahrnehmen sollte. Im Mittelpunkt stand und steht dabei die Frage nach den »out-of-area«-Einsätzen der Bundeswehr und nach dem Aufbau von »Krisenreaktionsstreitkräften«. Die vielen Fragen zur Prävention von gewaltsam ausgetragenen Konflikten, von denen ich nur eine Auswahl präsentieren konnte, spielten demgegenüber nur eine völlig untergeordnete Rolle. Ich halte diese Gewichtung für fatal. Sie ist weder im Hinblick auf den Schutz von Menschenrechten, die weltweite Förderung der Demokratie noch unter Kostengesichtspunkten gerechtfertigt. Prävention ist die beste Friedenspolitik!

Dieser Artikel wird 1996 erscheinen in: Klaus Hüfner, Ulrich Albrecht (Hrg.): Die Zukunft der UN. Beltz-Verlag.

Dr. Norbert Ropers ist Leiter des Berghof Forschungszentrums für konstruktive Konfliktaustragung in Berlin.

Kriegsverbrechen Vergewaltigung

Kriegsverbrechen Vergewaltigung

Beispiel: Bosnien-Herzegowina

von Helga Wullweber

Im Krieg in Bosnien-Herzegowina sind von allen Konfliktparteien Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen an Frauen, Männern und Kindern, begangen worden. Die Frauen des Kriegsgegners wurden von allen kriegführenden Parteien vergewaltigt. Am umfangreichsten aber und systematisch wurden bosnische Frauen, das sind muslimische, kroatische und infolge Eheschließung mit Muslimen »unreine« serbische Frauen, von den Truppen der bosnischen Serben vergewaltigt. Die Vergewaltigungen bezweckten die psychische Zerstörung der bosnischen Frauen und Männer und ihrer Familien. Sie dienten der ethnischen Säuberung in von den Serben beanspruchten Gebiete, waren Kriegstaktik, um Terrain zu erobern. Das unterscheidet die von den Serben in den von ihnen besetzten Gebieten begangenen Vergewaltigungen von anderen Kriegsvergewaltigungen.

Obgleich viele Lager, in denen Frauen vergewaltigt wurden, bekannt waren, blieben das UN-Flüchtlingskommissariat und das Internationale Rote Kreuz lange Zeit untätig. Bei der Anhörung des Bundestagsausschusses für Frauen und Jugend zu den systematischen Vergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina beklagte Roman Wieruszewski, persönlicher Referent des jetzigen UN-Menschenrechtsbeauftragten für Jugoslawien Tadeus Mazowiecki, die Hilflosigkeit der UN und die Gleichgültigkeit Europas: „Wir haben keine Mittel, mit dieser Situation fertig zu werden.“ Selbst Lager, zu denen die Vertreter internationaler Organisationen Zutritt haben, könnten nicht aufgelöst werden, weil es nicht genug Angebote aus den europäischen Staaten gibt, die Kriegsopfer unterzubringen (FR v. 9.12.92). Erst die internationale Einmischung von Frauen hat ein Ende der Untätigkeit bewirkt.

Aus der Feststellung, daß die Serben besonders grausam und zielgerichtet mordeten, folterten und vergewaltigten, folgt nicht, daß damit die Serben als für den Bürgerkrieg verantwortlich dingfest gemacht wären. Die Verurteilung der Kriegführung ist von der Beurteilung der Kriegsursachen zu unterscheiden. Das Anprangern der Kriegsverbrechen, das Beharren auf der Einhaltung der für die Zivilbevölkerung existentiellen Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts darf nicht den Blick auf das vielschichtige Konfliktfeld trüben, das dem Bürgerkrieg zugrunde liegt. Handlungsräume, die sich durch das öffentliche Anprangern der Kriegsvergewaltigungen als Kriegsverbrechen eröffnen, könnten durch die Ineinssetzung von Kriegsführung und Kriegsursachen verschüttet werden.

Vergewaltigung – Vergessenes Kriegsverbrechen

Von Frauen, Bürgerinnen und Politikerinnen wurde, um die internationale Staatengemeinschaft aufzurütteln und zum Eingreifen zu veranlassen, gefordert, die Kriegsvergewaltigung völkerrechtlich als Kriegsverbrechen zu ächten. Das ist aber längst geschehen. Seit 1949 ist es geltendes Völkerrecht, daß Vergewaltigungen im Krieg Kriegsverbrechen sind. Es ist bemerkenswert und bezeichnend, daß die Ächtung von Vergewaltigungen im Krieg als Kriegsverbrechen öffentlich nicht bekannt war, obgleich mit dieser Ächtung nach 1945 die Konsequenz aus den den Frauen im Zweiten Weltkrieg angetanen Vergewaltigungen gezogen wurde. Die von den Deutschen und den Japanern begangenen Kriegsvergewaltigungen waren als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des den, den Kriegsverbrecherprozessen zugrundeliegenden Londoner Abkommens vom 8. August 1945 in den alliierten Kriegsverbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg und in Tokio angeklagt und Grundlage der Verurteilungen. Doch handelten die Kriegsverbrecherprozesse von solchen unsäglichen millionenfachen Greueltaten, daß sich viele sperrten, die Einzelheiten zur Kenntnis zu nehmen. Auch wurden die Kriegsverbrecherprozesse in Deutschland von vielen, erleichtert mit dem Leben davon gekommen zu sein, mit schuldbewußter Apathie als bloße Siegerjustiz wahrgenommen. So wie die tausendfachen Vergewaltigungen, die die deutschen Soldaten den Frauen ihrer Kriegsgegner antaten, und die massenhaften Vergewaltigungen deutscher Frauen insbesondere durch die russischen Soldaten nach Kriegsende öffentlich kein Thema waren, sondern verschwiegen wurden – erst Helke Sander durchbrach 1992 mit ihrem Film »BeFreier und Befreite« das Schweigen –, so war in Vergessenheit geraten, daß die Vereinten Nationen, die in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das humanitäre Völkerrecht mit Elan fortentwickelten, an das den Frauen angetane besondere Leid gedacht und mit der Ächtung von Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen reagierten und künftig zu verhindern hofften. Zwar wurden die amerikanischen GI`s, die nach dem Vietnamkrieg wegen des Massakers in My Lai vor amerikanischen Militärgerichten angeklagt waren, auch wegen ihrer Beteiligung an unzähligen Vergewaltigungen verurteilt. Jedoch beförderte die nur vereinzelte Verfolgung von im Vietnamkrieg durch amerikanische GI's begangenen Kriegsverbrechen durch nationale amerikanische Militärgerichte nicht die Erkenntnis,daß die angeklagten Vergewaltigungen und Massaker als Kriegsverbrechen international geächtet sind. Während des 1971/72 neun Monate währenden Bürgerkrieges in Bangladesch, das seine Unabhängigkeit von Pakistan erklärt hatte, verloren Millionen Menschen ihr Leben und wurden Hunderttausende, überwiegend moslemische Frauen von den Pakistanis vergewaltigt. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde von Frauen weltweit gegen die Vergewaltigungen im Krieg protestiert und Hilfen für die vergewaltigten und schwangeren Frauen organisiert. Aber Bangladesh zählte zum sozialistischen Lager, auch war der Vietnamkrieg noch nicht zuende – die Anprangerung der Vergewaltigungen als international geächtete Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen hatte keine FürsprecherInnen. Erst 1992 wagte eine Gruppe koreanischer Frauen von der japanischen Regierung Wiedergutmachung zu fordern für 100.000 Frauen, die während des Krieges zwischen Korea und Japan 1930-1940 auf die Pazifischen Inseln in eine lange sexuelle Sklaverei verschleppt wurden. Die Mehrheit der Frauen war zu dem Zeitpunkt zwischen 16 und 18 Jahren alt, sie wurden von ihren Familien gerissen, zu denen sie niemals zurückkehren konnten (zit. nach Lepa Mladjenovic, Universal Soldier, in Scheherezade, Newsletter No.4, Januar 1993). Die Koreanerinnen fordern damit mit Jahrzehnten Verspätung von Japan die Wiedergutmachung ein, zu der jede Kriegspartei verpflichtet ist, deren Soldaten Kriegsverbrechen begangen haben.

Da die Kriegsvergewaltigungen Kriegsverbrechen sind, befaßt sich die vom Weltsicherheitsrat eingesetzte Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien auch mit den Vergewaltigungen. Außerdem hat die diesjährige UN-Generalversammlung dem Völkerrechtsausschuß der Vereinten Nationen (erneut) das Mandat erteilt, die Statuten eines internationalen Strafgerichtshofes auszuarbeiten, damit gegen die Kriegsverbrecher Anklage erhoben werden kann. Keine Delegation wagte gegen den Resolutionsentwurf offen aufzutreten, obgleich es genügend Gewaltherrscher gibt, die damit rechnen müßten, selbst vor einem internationalen Tribunal zu enden (FR v. 15.12.92).

Der völkerrechtlich garantierte humanitäre Standard

Die Ächtung der den Frauen in Bosnien-Herzegowina angetanen Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen resultiert aus nachfolgenden, von allen bosnischen Konfliktparteien in einer Vereinbarung vom 22.5.1992 anerkannten Regeln des humanitären Völkerrechts.

„In der Erwägung, daß bei allem Bemühen, Mittel zu suchen, um den Frieden zu sichern und bewaffnete Streitigkeiten zwischen den Völkern zu verhüten, es doch von Wichtigkeit ist, auch den Fall ins Auge zu fassen, wo ein Ruf zu den Waffen durch Ereignisse herbeigeführt wird, die ihre Fürsorge nicht hat abwenden können, von dem Wunsche beseelt, selbst in diesem äußersten Falle den Interessen der Menschlichkeit und den sich immer steigernden Forderungen der Zivilisation zu dienen“, war im IV. Haager Abkommen vom 18.10.1907, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, die „meuchlerische Tötung oder Verwundung von Angehörigen des feindlichen Volkes oder Heeres“ verboten (Art.23 Abs.1 b der Anlage zum Abkommen) und der „militärischen Gewalt auf besetztem feindlichen Gebiet“ aufgegeben worden, „die Ehre und die Rechte der Familie, das Leben der Bürger und das Privateigentum sowie die religiösen Überzeugungen zu achten“ (Art.46 der Anlage zum Abkommen). Ein papierenes Versprechen, das in beiden Weltkriegen unbeachtet blieb.

Trotzdem wurde nach dem Zweiten Weltkrieg das völkerrechtliche Kriegsrecht mit den vier »Genfer-Rotkreuzabkommen« vom 12.8.1949 durch humanitäre Regelungen zum Schutz der Verwundeten, Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung im Falle eines bewaffneten Konflikts aktualisiert, bestimmter gefaßt und die Geltung auch auf Bürgerkriege erstreckt. Die Abkommen betreffen zwar in erster Linie bewaffnete internationale Konflikte. Jedoch wird durch den in allen vier Abkommen gleichlautenden Art.3 der Zivilbevölkerung auch im Falle von nicht-internationalen, d.h. Bürgerkriegen, der Kernbestand des humanitären Völkerrechts garantiert. Art.3 verlangt von den Konfliktparteien u.a., daß sie „die nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmenden Personen menschlich behandeln, ohne jede auf Rasse, Farbe, Religion oder Glauben, Geschlecht, Geburt oder Vermögen oder auf irgendeinem anderen ähnlichen Unterscheidungsmerkmal beruhende Benachteiligung“. Dies bedeutet insbesondere das Verbot von grausamer Behandlung, Folterung, Beeinträchtigung der persönlichen Würde und namentlich von erniedrigender und entwürdigender Behandlung. Im 4. Genfer-Rotkreuzabkommen zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten heißt es im Unterschied zum IV. Haager Abkommen zum Schutz der Frauen explizit: „Die Frauen werden besonders vor jedem Angriff auf ihre Ehre und namentlich vor Vergewaltigungen, Nötigung zur gewerbsmäßigen Unzucht und jeder unzüchtigen Handlung geschützt.“ (Art.27 4. Rotkreuzabkommen)

Mittels zweier Zusatzprotokolle vom 10.6.1977 wurde sodann das humanitäre Völkerrecht an die veränderte Kriegstechnik und an die veränderten Formen der Kriegführung im Guerillakrieg angepaßt und der humanitäre Mindeststandard, wie er in dem Art.3 der vier Genfer-Rotkreuzabkommen normiert ist, sowohl für internationale als auch für nicht-internationale Konflikte (d.h. für „interne Feindseligkeiten kollektiven Charakters, an denen organisierte und unter verantwortlichem Kommando stehende bewaffnete Einheiten beteiligt sind, die einen Teil des Staatsgebietes kontrollieren und fortlaufend militärische Operationen durchführen“, Art.1 Ziff.2 des 2. Zusatzprotokolls) fortentwickelt.

Für den Krieg im ehemaligen Jugoslawien sind beide Zusatzprotokolle von Belang, denn dieser Krieg ist beides: Krieg zwischen Staaten, soweit die jugoslawische Bundesarmee unter serbischem Oberkommando in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina kämpft, und Bürgerkrieg, soweit Milizen in Kroatien oder in Bosnien-Herzegowina ansässige Serben gegen bosnische oder kroatische Kampftruppen kämpfen.

In beiden Zusatzprotokollen wird zum Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte »grundlegend« garantiert, daß folgende Handlungen jederzeit überall verboten sind und bleiben, gleichviel ob sie durch zivile Bedienstete oder durch Militärpersonen begangen werden, gleichviel ob den geschützten Personen die Freiheit entzogen ist oder nicht: Folter jeder Art, gleichviel ob körperlich oder seelisch, Beeinträchtigungen der persönlichen Würde, insbesondere entwürdigende und erniedrigende Behandlung, Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und unzüchtige Handlungen jeder Art (Art.75, 76 des 1. Zusatzprotokolls, Art.4 des 2. Zusatzprotokolls).

Die den bosnischen Frauen angetanen Vergewaltigungen sind zugleich Foltermaßnahmen, denn unter Folter ist „jede Handlung zu verstehen, durch die jemand vorsätzlich starke körperliche oder geistig-seelische Schmerzen zugefügt werden, sofern dies u.a. in der Absicht, von ihm oder einem Dritten eine Auskunft oder ein Geständnis zu erzwingen, ihn für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihm oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, ihn oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder in irgendeiner auf Diskriminierung beruhenden Absicht geschieht und sofern solche Schmerzen oder Leiden von einem öffentlich Bediensteten oder von einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person bzw. auf deren Veranlassung mit deren Zustimmung oder mit deren stillschweigendem Einverständnis verursacht werden“ (Art.1 der „Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ vom 10.12.1984). Wenn auch diese „Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ noch nicht in Kraft getreten ist, weil noch nicht zwanzig Staaten die Konvention, die Folter auch außerhalb kriegerischer Konflikte verbietet, ratifizierten, so gibt doch diese Definition nur den allgemeingültigen Begriff von Folter wieder und bestätigt die internationale Gültigkeit des Folterbegriffs. Die Vergewaltigungen, die die serbischen Truppen und Milizen im ehemaligen Jugoslawien begingen, sind Foltermaßnahmen im Sinne dieser Definition. Frauen wurden sowohl vergewaltigt, um sie einzuschüchtern und zu diskriminieren, als auch um von ihnen Auskunft über bosnisch-muslimisch-kroatische Gefechtsstellungen zu erhalten.

Ächtung von Menschen als Kriegsverbrechen

Insbesondere die systematischen, gezielt als Kriegstaktik eingesetzten Vergewaltigungen sind Kriegsverbrechen. Kriegsverbrechen sind die schweren Verstöße gegen die Genfer Rotkreuz- und Zusatzabkommen. Als schwere Verletzung der Rotkreuzabkommen und der Zusatzabkommen gelten u.a.: die vorsätzliche Tötung, die Folterung oder unmenschliche Behandlung, die vorsätzliche Verursachung großer Leiden oder schwerer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit, die rechtswidrige Verschleppung oder Verschickung und die rechtswidrige Gefangenhaltung von Zivilpersonen (Art.147 des 4. Rotkreuzabkommens, Art.85 Ziff.3 und 5 und Art. 11 Ziff.4 des 1. Zusatzabkommens). Schwere Verstöße und folglich Kriegsverbrechen sind auch die durch Art.75 des 1. Zusatzprotokolls und Art.4 des 2. Zusatzprotokolls „jederzeit und überall verbotenen“ Vergewaltigungen und die Nötigung zur Prostitution.

Die systematischen Vergewaltigungen der bosnischen Frauen durch die serbischen Truppen sind strafbare Kriegsverbrechen auch aufgrund der »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords« vom 9.12.1948. In dieser Konvention wird „Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen“, als „Verbrechen gegen das internationale Recht“ qualifiziert, zu dessen Verhütung und Bestrafung sich die Vertragsstaaten verpflichten. Als Völkermord werden u.a. definiert die Tötung von Mitgliedern der Gruppe oder die Verursachung von schweren körperlichen oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe, wenn diese Handlungen in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Die zum Zwecke der ethnischen Säuberung begangenen massenhaften Vergewaltigungen zielten auf die psychische Vernichtung und Demoralisierung der bosnischen Frauen und Männer und Kinder. Die Vergewaltigungen wurden also begangen, um sie als Gruppe zu zerstören.

Strafbarkeit von Kriegsverbrechen

Ein völkerrechtliches Strafrecht, d.h. einen Verbrechenskodex, der Sanktionen für Straftaten normiert, gibt es allerdings noch nicht. Zur Bestrafung der Kriegsverbrecher des 2. Weltkrieges hatten die Siegermächte zwar das Londoner Abkommen vom 8. August 1945 geschlossen, das die wichtigsten Tatbestände des völkerrechtlichen Strafrechts aufzeichnete: 1. Verbrechen gegen den Frieden, 2. Kriegsverbrechen, 3. Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Kriegsverbrechen im engeren Sinn sind alle schweren Verletzungen des Kriegsrechts, z.B. Mißhandlungen oder Deportation von Zivilpersonen in besetzten Gebieten, Mord oder Mißhandlung von Kriegsgefangenen, mutwillige Zerstörungen nichtmilitärischer Anlagen, Plünderung usw.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind schwere Verletzungen der Menschenrechte aus Motiven, die mit der Zugehörigkeit des Opfers zu einem bestimmten Staat, einer Volksgruppe, einer Rasse, Religion oder politischen Überzeugung zusammenhängen. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen bestätigte in einer Resolution vom 11.12.1946 die »Nürnberger Prinzipien« und erteilte der Völkerrechtskommission den Auftrag, diese Prinzipien zu formulieren. Der Entwurf für einen Verbrechenskodex, den die Völkerrechtkommission 1954 vorlegte, fand jedoch nicht die Billigung der Generalversammlung.

Inzwischen wird die Notwendigkeit eines internationalen Verbrechenskodex in Frage gestellt und die Nürnberger Prinzipien als ausreichende völkergewohnheitsrechtliche Grundlage für die Aburteilung von Kriegsverbrechen angesehen, zumal in den Rotkreuzabkommen und in der Völkermordkonvention Verbrechenstatbestände normiert wurden, die die Nürnberger Prinzipien bekräftigten.

Auch die »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords« vom 9.12.1948, die zu verabschieden der UNO gelungen war, enthält keine eigene Strafnorm, sondern verpflichtet lediglich die Signatarstaaten, Handlungen, die als Völkermord definiert sind, unter Strafe zu stellen (Art.VI der Konvention). Die Bundesrepublik ist 1954 ihrer Verpflichtung aus der Konvention durch die Einfügung des § 220a in das Strafgesetzbuch nachgekommen.

So wie in der »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes« werden in allen vier Genfer Rotkreuzabkommen die „Maßnahmen gegen Verletzungen des Abkommens“ gleichlautend geregelt. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, „alle notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Festsetzung von angemessenen Strafbestimmungen für solche Personen zu treffen, die eine schwere Verletzung des Abkommens begehen oder zu solch einer Verletzung den Befehl erteilen“ (so z.B.: Art.146 Abs.1 des 4.<|>Rotkreuzabkommens). Dabei ist zu berücksichtigen, daß Art. 87 des 1.<|>Zusatzprotokolls die militärischen Kommandanten dafür verantwortlich macht, daß die ihrem Befehl unterstellten Soldaten oder sonstige Personen keine Verletzungen der Abkommen begehen.

Von der Option der Genfer Abkommen, Kriegsverbrechen unabhängig vom Tatort und der Nationalität des Täters nach nationalem Strafrecht zu ahnden, indem die dafür notwendigen Strafnormen in das nationale Recht aufgenommen werden, hat die Staatengemeinschaft nur vereinzelt und lückenhaft Gebrauch gemacht. Die Bundesrepublik ist auch dieser Verpflichtung nachgekommen. Gemäß § 6 Ziff.9 Strafgesetzbuch, der 1974 nach der Aufnahme der Bundesrepublik in die UNO in das Strafgesetzbuch eingefügt wurde, gilt das deutsche Strafrecht ohne Rücksicht auf den Tatort und unabhängig vom Recht des Tatortes und der Staatsangehörigkeit des Täters und des Opfers (Weltrechtsprinzip) für Taten, die aufgrund eines für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen zwischenstaatlichen Abkommens auch dann zu verfolgen sind, wenn sie im Ausland begangen werden. Durch diese Generalklausel wird der Bundesrepublik im Interesse internationaler Solidarität bei der Verbrechensbekämpfung eine umfassende Verfolgungszuständigkeit eröffnet. Die vier Genfer Rotkreuzabkommen und die beiden Zusatzabkommen sind zwischenstaatliche Abkommen im Sinne von § 6 Ziff.9 Strafgesetzbuch.

Verpflichtung zur Ermittlung, Verfolgung und Ahndung der Kriegsverbrechen durch nationale Gerichte

Die Völkermordkonvention sieht vor, daß Personen, denen Völkermord zur Last gelegt wird, entweder vor ein zuständiges Gericht des Staates, in dessen Gebiet die Handlung begangen worden ist, oder vor das internationale Strafgericht gestellt werden (Art.VI der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes).

Die vier Genfer Rotkreuzabkommen dagegen verpflichten gleichlautend jede Vertragspartei „zur Ermittlung der Personen, die der Begehung oder der Erteilung eines Befehls zur Begehung einer schweren Verletzung beschuldigt sind; sie stellt sie ungeachtet ihrer Nationalität vor ihre eigenen Gerichte; wenn sie es vorzieht, kann sie sie auch gemäß den in ihrem eigenen Recht vorgesehenen Bedingungen, einer anderen an der gerichtlichen Verfolgung interessierten Vertragspartei zur Aburteilung übergeben, sofern diese gegen die erwähnten Personen ein ausreichendes Belastungsmaterial vorbringt.“ (Art.146 des 4. Rotkreuzabkommens)

Das heißt: Jeder Vertragsstaat, auch die Bundesrepublik, ist zur Verfolgung der Personen verpflichtet, die wegen schwerer Verstöße gegen die Rotkreuzabkommen als Kriegsverbrecher beschuldigt werden.

Das Problem, das sich bei dieser Möglichkeit, vor den nationalen Strafgerichten der Vertragsstaaten die Kriegsverbrechen nach den Rotkreuzabkommen anzuklagen, stellt, ist, ob der einzelne Staat über die erforderliche moralische und politische Reputation verfügt, um die Kriegsverbrechen anzuklagen und zu ahnden. Ein Staat, der stellvertretend für die Völkergemeinschaft Kriegsverbrechen verfolgt, sollte nicht wegen eigener Verstöße gegen elementare Menschenrechte angreifbar oder durch seine Geschichte desavouiert sein.

Voraussetzung dafür, daß die des Kriegsverbrechens beschuldigte Person vor ein nationales (deutsches, französisches, schwedisches etc.) Strafgericht gestellt werden kann, ist zwar, daß sie sich in der Gewalt des betreffenden Staates befindet, entweder weil die beschuldigte Person auf dessen Hoheitsgebiet gestellt oder weil sie ihm ausgeliefert wurde. Jedoch haben sich die Vertragsstaaten bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen zur Zusammenarbeit und zur Rechtshilfe und zur Auslieferung beschuldigter Personen an einen Vertragsstaat, der willens ist, diese vor sein nationales Strafgericht zustellen, verpflichtet (Art.88, 89 des 1. Zusatzprotokolls).

Verfolgung und Ahndung durch ein internationales Strafgericht

Einen Internationalen Strafgerichtshof gibt es noch nicht. Obwohl dem Londoner Abkommen 19 Staaten beitraten, waren doch die aufgrund dieses Abkommens gebildeten »Internationalen Militärtribunale« interalliierte und nicht internationale Gerichte. 1949 hatte das Sekretariat der Vereinten Nationen den Entwurf für ein Statut für einen Internationalen Strafgerichtshof entworfen, mit dem sich 1951 und 1953 ein Sonderausschuß der Vereinten Nationen befaßte. Die Völkerrechtskommission aber, die den Auftrag erhalten hatte, die Nürnberger Prinzipien zu kodifizieren, erklärte, daß die Zeit für die Errichtung eines solchen Gerichtshofes noch nicht reif sei. Es müßte erst einmal ein Verbrechenskodex erarbeitet werden. Dieser Plan wurde 1978 aufgegriffen und beschäftigt seitdem die Generalversammlung und die Völkerrechtskommission – bis heute ohne Ergebnis. 1992 ist nun erneut der Auftrag erteilt worden, die Statuten eines Internationalen Strafgerichtshofes auszuarbeiten.

Wenn auch der Auftrag zur Erarbeitung eines Statuts für ein internationales Strafgericht ohne Gegenstimmen erteilt wurde, so ist die baldige Verabschiedung des Statuts keineswegs gesichert. Nach Auskunft des deutschen Vertreters in der International Law Commission, der Völkerrechtskommission der UNO, Prof. Tomuschat, liegt der Entwurf für das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs bereits vor. Jedoch wird wegen des großen Kreises der erforderlichen Signatarstaaten und der Vorbehalte vieler Staaten gegen einen internationalen Strafgerichtshof, weil sie Anklagen gegen sich befürchten, mit einer schnellen Verabschiedung nicht gerechnet. Weil die Meinung in der Weltöffentlichkeit zu solchen Gerichtsverfahren gespalten ist, bezweifelt auch der Vorsitzende der UN-Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, der niederländische Jurist Frits Kalshoven, daß die dort begangenen Morde und Vergewaltigungen jemals vor ein internationales Gericht kommen können (FR v. 28.1.93). Ähnlich skeptisch, so wird (a.a.O.) berichtet, äußerte sich der Sonderbeauftragte der UN-Menschenrechtskommission für das ehemalige Jugoslawien, Tadeusz Mazowiecki, zu dem Vorschlag, Kriegsverbrechertribunale einzurichten. Er sei zwar vom moralischen Nutzen eines Tribunals überzeugt. Es werde jedoch äußerst schwierig sein, den Gedanken einer gerichtlichen Ahndung auch wirklich umzusetzen: „Es ist sicher wünschenswert, daß die Täter bestraft und Gerechtigkeit geübt wird, aber wir leben im 20. und noch nicht im 21. Jahrhundert.“ Zwar hat inzwischen die amerikanische Regierung versprochen, sich für die Schaffung eines internationalen Strafgerichts der Vereinten Nationen einzusetzen. Jedoch ist damit keineswegs sichergestellt, daß die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Statut für das internationale Strafgericht billigt und den Beschluß über dessen Errichtung mehrheitlich verabschiedet.

Den Vorbehalten vieler Staaten gegen ein internationales Strafgericht wird nur durch den Druck der internationalen Öffentlichkeit abzuhelfen sein, die darüber aufklärt, welche Staaten solche Gerichtsverfahren ablehnen. Ein Forum für die nachdrückliche Forderung nach einem internationalen Strafgericht sollte auch die Menschenrechtskonferenz der UNO im Juli 1993 in Wien sein.

Der kodifizierte Menschenrechtsstandard ist inzwischen beträchtlich. Jedoch mangelt es an Handhaben zu dessen Verwirklichung und Durchsetzung. Der Internationale Strafgerichtshof wird deshalb gebraucht. Er ist erforderlich, um Völkermord zu ahnden. Er ist außerdem als international anerkannte Instanz von fragloser Reputation erforderlich, der für die Ahndung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zuständig ist.

Wo KlägerInnen sind, werden auch RichterInnen sein

Es besteht noch keine Veranlassung, sich mit einem europäischen Tribunal in der Art des Russell-Tribunals zu bescheiden.

Einen Ausweg versucht zur Zeit die aus 52 Staaten bestehende KSZE-Staatengemeinschaft zu gehen. Sie hat aus Anlaß der Ereignisse in Bosnien eine Kommission eingesetzt, um einen »ad-hoc-Strafgerichtshof« zur Verfolgung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien einzurichten. Vor diesem Strafgerichtshof, auf den die KSZE-Staaten ihre Befugnisse aus den Rotkreuzabkommen delegieren, könnten die Kriegsverbrechen darstellenden Verstöße gegen die Rotkreuzabkommen angeklagt werden.

Mehrere regionale und internationale Kommissionen, u.a. eine vom Sicherheitsrat eingesetzte Expertenkommission in Genf, leisten bereits Ermittlungsarbeit und sichern – auch für nationale Gerichte – Beweise für Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien. Die Sorge, daß es die Ermittler schwer haben werden, da Ex-Jugoslawien im Gegensatz zu Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht von internationalen Streitkräften besetzt ist, erscheint unbegründet.

Es besteht die Möglichkeit, Druck zur Errichtung eines »ad hoc-Strafgerichtshof« zur Verfolgung und Ahndung der Kriegsverbrechen dadurch auszuüben, daß in der Bundesrepublik Anzeige wegen der im Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien begangenen Kriegsverbrechen und Kriegsvergewaltigungen erstattet und die Staatsanwaltschaft zur Einleitung von Ermittlungsverfahren gezwungen wird. Als Beweismaterialien können z.B. der Untersuchungsbericht von Amnesty International oder Berichte anderer Kommissionen, die Menschenrechtsverletzungen ermittelt haben, vorgelegt werden. Die Berliner Kriminalpolizei ermittelt bereits gegen neun serbische Tschetniks, die von Opfern während einer Sat.1-Sendung »Einspruch« im Publikum erkannt wurden (TAZ vom 25.1.93). In dem am 12.2.1993 von Mazowiecki in seiner Eigenschaft als Sonderberichterstatter für die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen veröffentlichten Bericht über die Lage im ehemaligen Jugoslawien wird festgestellt, daß sich die aus den Konfliktgebieten in Kroatien und Bosnien-Herzegowina gemeldeten Kriegsverbrechen als wahr herausgestellt haben.

Außerdem kontrollieren nach Ansicht von Mazowiecki die Führer aller Konfliktparteien wirksam ihre zivilen und militärischen Strukturen. Sie könnten daher nicht ihre Hände in Unschuld waschen, was die von ihren Streitkräften begangenen Greueltaten betrifft, sondern seien mitverantwortlich für die Vergewaltigungen und die anderen Kriegsverbrechen (FR vom 13.2.93). Richtet sich der Anfangsverdacht noch nicht gegen eine bestimmte Person, so würde das Ermittlungsverfahren zunächst gegen Unbekannt geführt werden.

Zwar kann die Staatsanwaltschaft gemäß § 153 c Abs.1 Ziff.1 Strafprozeßordnung aus Gründen der politischen Opportunität von der Verfolgung von Taten, die im Ausland begangen worden sind, absehen. Die Genfer Rotkreuzabkommen zählen jedoch zu den wenigen völkerrechtlichen Verträgen, in denen das sogenannte »Weltrechtsprinzip« statuiert ist, das die Vertragsstaaten ohne Rücksicht auf den Ort des Verbrechens und auf das Recht am Tatort, unabhängig auch von der Nationalität des Opfers und des Täters berechtigt und verpflichtet, Personen, denen Verstöße gegen ein solches Abkommen vorgeworfen werden, zu verfolgen. Es ist daher davon auszugehen, daß der § 153 c Abs.1 Ziff.1 Strafprozeßordnung nicht gilt, weil die Rotkreuzabkommen völkerrechtliche Vereinbarungen im Sinne von Ziff.94 Abs.2 der »Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren« sind, die die Verpflichtung begründen, Verstöße gegen die Rotkreuzabkommen wie Inlandstaten zu behandeln und gemäß dem in § 152 Abs.2 Strafprozeßordnung verankerten Legalitätsprinzip dann zu verfolgen, wenn „zureichende Anhaltspunkte vorliegen“. Auch dann aber, wenn aus Gründen der politischen Opportunität von der Strafverfolgung abgesehen werden könnte, dürfte die Staatsanwaltschaft nicht untätig bleiben, sondern müßte prüfen, ob sie z.B. aus politischen Gründen von einer Verfolgung der Verstöße gegen die Rotkreuzabkommen absieht. Bliebe die Staatsanwaltschaft dennoch untätig, so würden deren BeamtInnen eine strafbare Strafvereitelung (§§ 258, 258 a Strafgesetzbuch) durch Unterlassen von Amtshandlungen begehen, zu deren Vornahme sie wegen des Legalitätsprinzips (§§ 152, 163 Strafprozeßordnung) verpflichtet sind. Innen- oder außenpolitische Gründe, die eine Verneinung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien durch die Bundesrepublik begründen könnten, sind nicht ersichtlich. Es dürfte deshalb schwer fallen, eine Ablehnung der Strafverfolgung zu rechtfertigen.

Da andererseits die Bundesrepublik aus historischen Gründen nicht daran interessiert sein kann, die Kriegsverbrecherprozesse durchzuführen, dürfte sie durch solche Ermittlungsverfahren veranlaßt werden, sich intensiv um die Errichtung eines »ad-hoc-Strafgerichts« der KSZE-Staatengemeinschaft zu bemühen. Ebenso könnte in anderen Vertragsstaaten, die wie die Bundesrepublik die rechtlichen Voraussetzungen für die Verfolgung der Kriegsverbrechen nach den Rotkreuzabkommen geschaffen haben, Anzeige erstattet und die Staatsanwaltschaften zur Einleitung von Ermittlungsverfahren veranlaßt werden. Es müßte hierdurch zumindest erreicht werden können, daß die KSZE-Staatengemeinschaft sich darüber verständigt, in welchem Staat die Kriegsverbrecherprozesse stattfinden sollten, um sodann diesen Staat, z.B. Schweden, mit der Durchführung der Prozesse zu beauftragen und die Verfahren gemäß Art.146 des 4. Rotkreuzabkommens an diesen abzugeben. Das beauftragte Strafgericht wäre zwar nach wie vor ein nationales, jedoch international mandatiertes Strafgericht.

<>Beendigung des Schweigens über die Kriegsvergewaltigungen

So manche, die sich über die Forderung mokieren, die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien vor einem internationalen Strafgericht anzuklagen und zu ahnden, und eine militärische Intervention fordern, um den verbrecherisch kämpfenden Serben das Handwerk zu legen, sind ignorant gegenüber den Erfahrungen, die gerade die Zeitgeschichte bietet, und gegenüber der Konfliktlage. Z.B. handelt die Geschichte des Niedergangs der DDR nicht zuletzt vom Nutzen, den es hat, die Dinge beim Namen zu nennen, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und nicht durch Schweigen zu tolerieren. Die Teilnahme der DDR an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), in deren Schlußakte sich die Teilnehmerstaaten zur Achtung der Menschenrechte ihrer BürgerInnen verpflichteten, hatte den oppositionellen BürgerInnen der DDR Sprachräume und, aus diesen resultierend, Handlungsräume eröffnet. Mit der KSZE-Schlußakte unter dem Arm klagten DDRlerInnen Menschenrechte ein, waren sie imstande, sich für Frieden und Menschenrechte einzusetzen und nicht mehr um des Friedens willen über Menschenrechtsverletzungen zu schweigen. Die DDR hat deshalb immer versucht, die innenpolitische Bedeutung der KSZE-Schlußakte herunterzuspielen. Zugleich markierte die KSZE-Schlußakte einen Einbruch in das von den sozialistischen Staaten propagierte Verständnis des in Art.2 Ziff.7 der Charta der Vereinten Nationen normierten Interventionsverbotes als Sprechverbot. Gemäß Art.7 Ziff.2 UN-Charta sind die Vereinten Nationen nicht befugt, in Angelegenheiten einzugreifen, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören. Die sozialistischen Staaten haben dieses Einmischungsverbot stets so interpretiert, daß schon Diskussionen über Menschenrechtsverletzungen eine unzulässige Einmischung darstellen.

Wenn auch diese Interpretation von den westlichen Staaten abgelehnt wurde, so folgte aus dem Dissens doch, daß über zahllose Menschenrechtsverletzungen nur verhalten öffentlich gesprochen wurde und schon gar nicht die Rede davon war, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die internationale Anprangerung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, die nicht länger ohnmachtsgläubige Hinnahme der Kriegsverbrechen und die Forderungen nach Sanktionen für die Verantwortlichen für diese Kriegsverbrechen, für die Ausführenden wie auch vor allem für die Befehlsgeber und Anführer, sind von neuer Qualität.

Das Anprangern und das Verantwortlichmachen wird von den Verantwortlichen als störende Einmischung in das Kriegsgeschehen erlebt. Sie fürchten die Wirkung, die von der Benennung der Schandtaten als Kriegsverbrechen und der Androhung ausgeht, daß die Täter und ihre Anführer, die sich bei ihrem verbrecherischen Tun im Kollektiv sicher wähnten, namhaft gemacht und individuell zur Rechenschaft gezogen werden. In Serbien darf über die Kriegsverbrechen nicht gesprochen werden. Auch Karadzic weiß aber, daß das Schweigen über die Kriegsverbrechen bei den Verhandlungen in Genf mit den Führern der Bürgerkriegsparteien über Waffenstillstände und Grenzverläufe, nicht die Tolerierung der Kriegsverbrechen bedeutet, für die er mitverantwortlich ist.

Die öffentliche Brandmarkung der schrecklichen Kriegsvergewaltigungen als Kriegsverbrechen hat Wirkungen gezeitigt. Seit die Verfolgung der Vergewaltiger und derjenigen, die die Vergewaltigungen anordneten oder zuließen, vehement gefordert wird, werden Hilfen finanziert und die Serben durch die Ermittlungsergebnisse der zur Untersuchung der Vorwürfe eingesetzten internationalen Kommissionen unter Druck gesetzt, die Unterkünfte, in denen Frauen vergewaltigt werden, aufzulösen. Vielleicht wenden die Serben inzwischen deshalb bei den von ihnen fortgesetzten Vertreibungen zum Zwecke der ethnischen Säuberung im Süden von Bosnien-Herzegowina »verfeinerte« Methoden an. Es gebe keine Berichte mehr über Gewalttaten, Todesfälle oder Verletzte, teilte der Sprecher des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) mit (Fr v. 3.2.1993). Die serbischen Militärs teilten mit, daß sie im Tal der Drina »humanitäre Korridore« für die moslemische Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete offenhalten, die es dieser ermöglicht über die Frontlinien in die von Moslems gehaltenen Gebiete Bosnien zu gelangen (a.a.O.).

Für die Opfer von Verbrechen kommt die Ahndung der Verbrechen zwar immer zu spät. Die genannten Auswirkungen bedeuten jedoch, daß die nachdrückliche Ankündigung, die Kriegsverbrecher vor einem internationalen Strafgericht zur Rechenschaft zu ziehen, durchaus von präventivem Nutzen und geeignet sein kann, die Frauen in den serbisch besetzten Gebieten Bosnien-Herzegowinas vor weiteren Vergewaltigungen zu bewahren.

Unterscheidung von verbrecherischer Kriegführung und Kriegsursachen

Die dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien zugrunde liegenden Probleme werden auf absehbare Zeit nicht gelöst werden können. Um zu verhindern, daß im ehemaligen Jugoslawien weiterhin Kinder, Frauen und Männer gefoltert und gemordet und vergewaltigt werden, ist deshalb die »Zivilisierung« der fortdauernden Auseinandersetzungen zum Schutz der Zivilbevölkerung unerläßlich.

Wer aus humanitären Gründen für eine militärische Intervention plädiert, verfehlt die Realität der verworrenen Konfliktlage im ehemaligen Jugoslawien und übersieht, daß die bisherige nicht-militärische Einmischung der Europäischen Gemeinschaft und der KSZE-Staatengemeinschaft der Illusion verhaftet war, die internationale Anerkennung der bestehenden innerjugoslawischen Grenzen als Staatsgrenzen könne Jugoslawien stabilisieren. Nach der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens war jedoch der status quo in Restjugoslawien nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Strikte Unparteilichkeit

Um die Sinnhaftigkeit und die Chancen von nicht-militärischer Einmischung, zu der das fact-finding zu Menschenrechtsverletzungen und die Vorbereitung von Prozessen gegen die für die Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen ebenso zählen wie weitere Verhandlungen, Embargos, aber auch die Inaussichtstellung von Wiederaufbaugeldern, einschätzen zu können, bedarf es der Vergegenwärtigung der dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien zugrunde liegenden Konfliktlage. Vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges in Jugoslawien wird die Bedeutung der fundamentalen Regel des humanitären Kriegsvölkerrechts, der strikten Unparteilichkeit, erhellt. Gleichlautend enthalten alle vier Genfer Rotkreuzabkommen die Berechtigung der Schutzmächte (das sind die von den am Konflikt beteiligten Parteien mit der Wahrnehmung ihrer Interessen betrauten Staaten und bzw. oder die UNO) und der Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes oder irgendeiner anderen unparteiischen humanitären Organisation, sich an alle Orte zu begeben, wo sich Kriegsgefangene oder hilfsbedürftige Zivilpersonen aufhalten, namentlich an alle Internierungs-, Gefangenhaltungs- und Arbeitsorte. Sie haben das Recht, Hilfssendungen zu verteilen und sich mit den Gefangenen und geschützten Personen ohne Zeugen zu unterhalten. Solche Besuche dürfen nur aus zwingenden militärischen Gründen und nur ausnahmsweise untersagt, Häufigkeit und Dauer der Besuche dürfen nicht begrenzt werden (z.B. Art.4, 8 bis 11 des 1. Rotkreuzabkommens; Art. 9 folgende, Art.142, 143 des 4.<|>Rotkreuzabkommens).

Der Berechtigung der Schutzmächte und humanitären Organisationen entspricht umgekehrt die Verpflichtung der am Konflikt beteiligten Parteien, die Schutz- und Hilfeleistungen zu ermöglichen. Diese (intensiver als bisher zu nutzenden) Möglichkeiten, helfend einzugreifen, etwa durch die Inspektion und Auflösung der Internierungslager oder zumindest deren Unterstellung unter internationale Kontrolle, werden durch militärische Interventionen aufs Spiel gesetzt, die das Konfliktknäuel, das in der Regel Bürgerkriegen zugrunde liegt, nur weiter verwirren.

Von den Vereinten Nationen ist unparteiisch darauf zu insistieren, daß alle Konfliktparteien den völkerrechtlichen Minderheitenschutz beachten und garantieren. Gemäß Art.27 des Internationalen Paktes der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte von 1966, durch den die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 rechtsverbindlich kodifiziert wurde, darf „in Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten… Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben und sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen.

Als Mittel zur Förderung der Identität wird in der Ziff.35 des KSZE-Konferenzdokuments die Einrichtung autonomer Verwaltungen erwähnt, die im Falle kompakter Siedlungsgebiete lokal autonom sind oder andernfalls über Personalautonomie verfügen, z.B. Selbstverwaltungsrechte für die Angehörigen der Minderheit haben. Dieser Minderheitenschutz muß von allen jugoslawischen Nachfolgerepubliken verlangt werden, um weiterer Verfeindung entgegenzuwirken.

Deeskalation

Dann besteht für die Verfolgung und Ahndung der Kriegsverbrechen auch die Chance, von den BürgerInnen im ehemaligen Jugoslawien unterstützt zu werden, indem sie sich von den, der Kriegsverbrechen beschuldigten Personen distanzieren und ihnen keinen Schutz zuteil werden lassen.

Zum Schutz der Frauen und Männer und Kinder in Bosnien-Herzegowina vor weiteren Vergewaltigungen, Folter und Mord kommt es darauf an, zu deeskalieren, indem von allen gleichermaßen der Schutz der Menschen- und Minderheitenrechte eingefordert wird; ferner indem Vertreibungen und Enteignungen nicht anerkannt, sondern Ansprüche auf Rückgabe oder Entschädigung vereinbart werden – um der Zukunftssicherung der Flüchtlinge willen und um der apokalytischen Stimmung, dem Nährboden für Nationalismus, entgegenzuwirken; und schließlich indem die Entpersönlichung der Soldaten und Milizionäre als Teil des militärischen Apparates nicht akzeptiert und Kriegsverbrechen nicht toleriert, sondern die einzelnen Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Helga Wullweber, Rechtsanwältin in Hamburg, Vorstandsmitglied des Republikanischen RechtsanwältInnenvereins.

Weltmenschenrechtskonferenz

Mit der Resolution 45/155 beschloß die UN-Vollversammlung die Einberufung einer Weltkonferenz über Menschenrechte (WCHR), die vom 14.-25 Juni 1993 in Wien abgehalten werden soll. Diese Konferenz findet in einem entscheidenden historischen Moment statt: Das Ende des Kalten Krieges führte zu bedeutenden Veränderungen; die UN übernimmt eine aktivere Rolle bei internationalen Beziehungen. Die UN-Generalversammlung hat entschieden, daß 25 Jahre nach der ersten WCHR (Teheran 1968) das UN-Menschenrechtsprogramm überarbeitet werden muß, damit eine größere Wirkung und Effektivität bei der Förderung und dem Schutz der Menschenrechte erzielt werden kann. Die Konferenz wird über die Ausrichtung der Menschenrechtsprogramms für das nächste Jahrhundet beschließen.

Parallel zur WCHR findet in Wien ein Forum der NGOs (Nichtregierungsorganisationen) statt, an dem sich möglichst viele Menschenrechtsgruppen beteiligen sollten.

Weitere Informationen und Anmeldung beim Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte, Möllwaldplatz 4, A – 1040 Wien, Tel.: 43-1-5044677, Fax:43-1-50446789

Menschenrechte sind keine Munition

Menschenrechte sind keine Munition

Golfkonflikt und Menschenrechte – Eine Dokumentation von amnesty international

von amnesty international

Am 17. Januar 1991 begann mit alliierten Luftangriffen auf irakische Stellungen der Golfkrieg. Keine zwei Tage zuvor war das Ultimatum abgelaufen, das der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen der Regierung Iraks gesetzt hatte, um sich aus dem völkerrechtswidrig besetzten Kuwait zurückzuziehen. amnesty international möchte aus Anlaß des Golfkrieges eine Dokumentation veröffentlichen, die belegt, daß sich kein Staat, der in den Konflikt verwickelt ist, zur Rechtfertigung eines militärischen Vorgehens auf die Menschenrechte berufen darf. Nicht nur im irakisch besetzten Kuwait, in der gesamten Region gehören Menschenrechtsverstöße zum Alltag, ohne daß dies in den vergangenen Jahren Anlaß zu einer Neuorientierung der Politik gewesen wäre.

Jeder, der im Nahen Osten am Krieg beteiligt ist, muß wissen, daß er Menschenrechte nicht als Legitimation benutzen darf. Wer etwas für die Menschenrechte in Nahost tun will, muß dies jederzeit und überall tun. Nach der Befreiung der Menschenrechte aus der Umklammerung des Ost-West-Konfliktes sieht die deutsche Sektion von amnesty international nun die Gefahr eines neuen Mißbrauchs: Menschenrechte dürfen nicht für Feindbilder in der sich verschärfenden Nord-Süd-Kontroverse funktionalisiert werden.

Menschenrechte sind keine Munition in Konflikten und Kriegen, ihre Einhaltung und ihr Schutz sind vielmehr der Weg zur Überwindung von Konflikten.

amnesty international nimmt zum eigentlichen Kriegsgeschehen keine Stellung, beklagt aber, daß mehrere Staaten den Einsatz für die Menschenrechte im Falle Iraks offenbar jeweils unterschiedlichen wirtschaftlichen, politischen oder strategischen Zielen unterordnen. Regierungen, die in der Vergangenheit beispielsweise öffentliche Kritik an menschenrechtsverletzenden und völkerrechtswidrig handelnden Regimes abgelehnt haben, schließen sich dieser nun an. Dies stellt kein konsequentes Menschenrechtsengagement dar.

Die völkerrechtswidrige Annexion Kuwaits durch den Irak verleitet zu einer einseitigen Sicht der Menschenrechtslage in der Region, die zwar die schweren Vergehen Iraks anprangert, aber die Menschenrechtsverstöße anderer Staaten außer acht läßt. Die folgende Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen in der Golfregion ist als Aufforderung zu verstehen, nicht die Augen vor den Vergehen der eigenen Verbündeten zu verschließen, sondern die Menschenrechtsverletzungen jederzeit dort wahrzunehmen und zu bekämpfen, wo sie auftreten.

Opfer der Unterdrückungsmethoden, die Irak gegenüber Kuwait jetzt zu Recht vorgeworfen werden, sind seit langem die Menschen in Irak. Jedem, der oppositionell tätig ist, sich regimekritisch äußert oder der kurdischen Minderheit angehört, droht Verfolgung. Wer jetzt auf Menschenrechtsverletzungen des Irak verweist, muß sich fragen lassen, was er vor der Annexion des Emirats getan hat, um die Menschenrechte im Irak zu schützen.

In allen Nahost-Staaten, die im folgenden dokumentiert sind, werden Menschenrechtsverletzungen begangen, die in der Verantwortung der jeweiligen Regierung geschehen. Der Hinweis auf die Menschenrechtsverletzungen des Irak sind somit kein Argument, um die »Gerechtigkeit« eines Krieges zu begründen. Keiner der aufgeführten Staaten hat eine reine Weste in Sachen Menschenrechte, auch die in Nahost engagierten Mächte außerhalb der Region müssen ich vorwerfen lassen, keine an den Menschenrechten orientierte Politik verfolgt zu haben.

Die folgende Auflistung beschriebt die Lage der Menschenrechte in einer Reihe von Ländern, die unmittelbar am Konflikt beteiligt sind und in der Nahost-Region liegen oder an sie angrenzen. Die Länder, die in die Dokumentation aufgenommen wurden, sind Irak, Iran, Saudi-Arabien, Syrien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien, die Türkei sowie Kuwait vor und nach der irakischen Besatzung.1 Die Auswahl dieser Länder erfolgte nicht nach deren politischer Orientierung.

Iran

Im Iran sind seit vielen Jahren – sowohl unter dem Schah-Regime als auch seit der Islamischen Revolution von 1979 – Menschenrechtsverstöße gravierendster Art zu beklagen. Die Methoden der Unterdrückung jedweder Opposition reichen von willkürlicher Haft und unfairen Gerichtsverfahren über Folter und Mißhandlung bis hin zu Massenhinrichtungen und staatlichem Mord.

Die Todesstrafe wird in einem kaum vorstellbaren Ausmaß angewandt: Allein in den vergangenen drei Jahren wurden ai über 5.000 Hinrichtungen bekannt; die tatsächliche Zahl könnte noch weitaus höher liegen. Seit Anfang der 80er Jahre überzieht eine regelrechte Hinrichtungswelle das Land, die meist mutmaßliche Oppositionelle trifft. Unter den Tausenden, die zwischen Juli 1988 und Januar 1989 hingerichtet wurden, waren über 2.000 politische Gefangene – viele von ihnen befanden sich bereits seit Jahren zu Unrecht in Haft, manche hatten die gegen sie verhängte Haftstrafe bereits verbüßt, wurden aber weiterhin in Haft gehalten und plötzlich, ohne daß ein Todesurteil verhängt worden wäre, exekutiert. Wahllos wurden Gefangene auf Veranlassung einer sogenannten Todeskommission an den Galgen gebracht, oft nach einer nur wenige Minuten andauernden Anhörung.

Im Jahre 1989 führte das harte Durchgreifen der Regierung gegen den Drogenhandel zu über tausend Hinrichtungen. Die Beschuldigten wurden meist wenige Tage nach ihrer Festnahme exekutiert, ohne daß sie einen Rechtsbeistand in Anspruch nehmen, Entlastungszeugen vorbringen oder Berufung einlegen durften. Exekutionen, grauenhafte Folterungen, Mißhandlungen durch Schläge, Auspeitschungen und Scheinhinrichtungen sind weiterhin an der Tagesordnung.

Erst im Juni 1990 wurden im Zuge einer weiteren Verschärfung der Verfolgung von Regimekritikern mehr als zwanzig prominente Oppositionelle, unter ihnen ehemalige Minister und Abgeordnete, festgenommen. Sie hatten lediglich von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung gebrauch gemacht und in einem Offenen Brief an Präsident Rafsandschani Kritik an der Situation in ihrem Land geübt. Es muß befürchtet werden, daß auch sie im Gefängnis mißhandelt und gefoltert werden, um ihnen ein Geständnis zu entringen. Einer der Festgenommenen wurde bereits dazu gebracht, im Abendprogramm des iranischen Fernsehens seine Verwicklung in konterrevolutionäre Aktivitäten zu »gestehen«.

Irak

Die Menschenrechte werden in Irak seit Jahren mit Füßen getreten. Tausende Menschen befinden sich aus politischen Gründen in Haft, darunter viele, die niemals Gewalt angewandt oder befürwortet haben. Die meisten Gefangenen befinden sich ohne Anklage und Gerichtsverfahren oder nach Prozessen hinter Gittern, die allen international anerkannten Standards Hohn sprechen.

Tausende, die als politisch Mißliebige festgenommen wurden, gelten heute als »verschwunden«, und niemand weiß, ob sie überhaupt noch leben. Zahlreiche Kinder sind unter den Betroffenen. Menschen werden willkürlich inhaftiert und im Gewahrsam der Sicherheitskräfte gefoltert und mißhandelt. Es finden Hinrichtungen und Massenexekutionen im Schnellverfahren statt. Die irakische Bevölkerung muß eine Politik der brutalen Unterdrückung jeglicher oppositioneller Regung erdulden.

Die meisten »Verschwundenen«-Fälle registrierte amnesty international während des achtjährigen Golfkrieges zwischen Irak und Iran. Aber auch Tausende irakischer Kurden »verschwanden« – beispielsweise rund 8.000 Angehörige des kurdischen Barzani-Clans, die 1983 von den Sicherheitskräften verschleppt wurden und nie wieder auftauchten. Viele inhaftierte Kurden wurden heimlich getötet, andere wiederum »regulär« hingerichtet, nachdem sie sich im Vertrauen auf erlassene Amnestien der Behörden gestellt hatten.

Zehntausende Kurden flohen im August 1988 aus Irak, um verheerenden Giftgas-Angriffen der irakischen Armee auf kurdische Dörfer im eigenen Land zu entkommen. Allein das Bombardement der Stadt Halabdscha kostete seinerzeit über 5.000 Menschenleben.

Nach wie vor leben schätzungsweise 27.500 Kurden in Flüchtlingslagern im Südosten der Türkei. Ihre rechtliche Situation ist völlig ungeklärt. Seit den nach dem Waffenstillstand zwischen Irak und Iran erlassenen Amnestien nimmt der Druck der türkischen Regierung auf die Flüchtlinge zu, nach Irak zurückzukehren.

Im März 1990 wurde der britische Journalist Farzad Bazoft trotz internationaler Proteste hingerichtet; er war von einem irakischen Revolutionsgericht der Spionage für schuldig befunden worden. Im gleichen Verfahren war die britische Krankenschwester Daphne Parish, ebenfalls unter der Anklage der Spionage, zu 15 Jahren Haft verurteilt worden; sie kam im Juli 1990 frei. Unter Spionage-Vorwurf erfolgte im Juli 1990 auch die Hinrichtung eines Irakers schwedischer Nationalität, trotz wiederholter Appelle Schwedens an Präsident Saddam Hussein, das Urteil umzuwandeln.

Israel und die besetzten Gebiete2

Seit nunmehr über drei Jahren äußert amnesty international Besorgnis über schwerwiegende und weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen in den von Israel besetzten Gebieten. Dazu gehören Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren in großem Ausmaß, die systematische Mißhandlung von Gefangenen und das Töten von Zivilpersonen durch Angehörige der israelischen Streitkräfte. amnesty international bedauert zutiefst, daß solche Menschenrechtsverletzungen, unter denen Tausende zu leiden haben, nach wie vor geschehen, und daß die israelische Regierung bisher nicht gewillt war, dringend notwendige Maßnahmen zu ihrer Unterbindung zu ergreifen.

Seit Dezember 1987 wurden ca. 14.000 Palästinenser ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in Verwaltungshaft gehalten, unter ihnen gewaltlose politische Gefangene. Über 4.000 Menschen sind im Jahre 1990 bis zu einem Jahr festgehalten worden, wobei kurzzeitige Haftanordnungen mehrfach verlängert wurden; die weitaus meisten Gefangenen befanden sich im Haftlager Ketziot in Israel, wo Besuche von Familienangehörigen nicht stattfinden können.

Tausende Palästinenser sind von Militärgerichten in den besetzten Gebieten verurteilt worden; den meisten wurde vorgeworfen, Steine oder Benzinbomben geworfen zu haben. Nach ihrer Festnahme können sie bis zu ihrer Vorführung vor einem Richter bis zu 18 Tage lang festgehalten werden. Vielen wird der Zugang zu Rechtsanwälten und Familienangehörigen indessen für viel längere Zeiträume verweigert. In der Zeit der Incomunicado-Haft (ohne Kontakt zur Außenwelt) abgelegte Geständnisse dienen häufig als ausschlaggebender Beweis. Diejenigen, die auf nicht schuldig plädieren, müssen mit Verzögerungen rechnen, was bedeutet, daß Verhandlungen erst Monate und manchmal Jahre später stattfinden. Wenn es zu einer Verurteilung kommt, erhalten sie höhere Strafen als diejenigen, die ein teilweises Schuldeingeständnis abgelegt haben. Nur selten werden Kautionsregelungen genehmigt. Viele Gefangene bekennen sich schuldig, um die Untersuchungshaft so zu verkürzen, daß sie nicht länger dauert als die zu erwartende Haftstrafe.

Mißhandlungen bei Verhören erfolgen weiterhin systematisch und sind weitverbreitet. Palästinenser sind auch gefoltert worden, um Geständnisse oder sonstige Informationen von ihnen zu erpressen. Zu den Methoden gehören Schläge mit Knüppeln und Gewehrkolben auf diverse Körperteile, das Überstülpen schmutziger Säcke, Schlafentzug durch langdauernde Fesselungen in unbequemen Körperstellungen, Haft in kleinen, dunklen Zellen, häufig als »Closets« bezeichnet, Verbrennen mit Zigaretten, Quetschen der Hoden und sexuelle Belästigungen.

Zumindest einige dieser Methoden entsprechen möglicherweise geheimen Richtlinien, die 1987 von einer Kommission zur Untersuchung von Verhörmethoden des Geheimdienstes herausgegeben wurden. Vielen Palästinensern wurden unmittelbar nach ihrer Festnahme durch Schläge bestraft. Seit Dezember 1987 sind Berichten zufolge mindestens 16 Menschen nach solchen Übergriffen gestorben.

Palästinenser kamen ums Leben, nachdem willkürlich Tränengas in geschlossenen Räumen (wo die Wirkung tödlich sein kann) gegen sie eingesetzt worden war. Seit Dezember 1987 sind Berichten zufolge ca. 80 Palästinenser – darunter viele ältere Menschen und Kinder – durch Tränengas getötet worden; ungefähr 40 dieser Todesfälle ereigneten sich, als Behälter mit Tränengas in ihre Häuser oder andere geschlossene Räume geworfen wurden.

Seit Dezember 1987 sind ca. 700 palästinensische Zivilisten, unter ihnen viele Kinder und junge Leute, von den israelischen Streitkräften erschossen worden; dabei wurden sowohl scharfe Munition als auch spezielle Arten von Plastik- oder anderen Geschossen verwandt. In einigen Fällen scheinen die Menschen vorsätzlich getötet worden zu sein, in anderen wurden sie Opfer der Anwendung tödlicher Gewalt unter Umständen, die eine solche Gewaltanwendung als nicht gerechtfertigt erscheinen ließen.

Die gültigen Richtlinien zur Anwendung von Gewalt, die daraus folgenden Übergriffe und die Tatsache der unzureichenden offiziellen Untersuchungen – all dies zusammengenommen führt amnesty international zu der Schlußfolgerung, daß die israelischen Behörden die Ausführung dieser Menschenrechtsverletzungen stillschweigend billigen, wenn nicht gar ermutigen.

amnesty international ist sich bewußt, daß zu den palästinensischen Methoden des Protests in den besetzten Gebieten auch die Gewalt gezählt hat, und daß dadurch eine Anzahl Soldaten und Zivilpersonen ums Leben gekommen sind. Zu den Opfern zählen ca. 300 Palästinenser, die offenbar von anderen Palästinensern getötet wurden, die überwiegende Mehrheit von ihnen unter dem Verdacht der Kollaboration mit den israelischen Behörden. Einige wurden umgebracht, nachdem man sie verhört und gefoltert hatte. amnesty international weist erneut ausdrücklich darauf hin, daß sie die Anwendung der Folter und das Töten von Gefangenen in jedem Fall verurteilt, unabhängig davon, wer solche Taten ausführt.

Kuwait (bis 2. August 1990)

Die Hauptsorge amnesty internationals in Kuwait vor der irakischen Invasion galt der Inhaftierung Oppositioneller, unter ihnen möglicherweise gewaltlose politische Gefangene. Die meisten waren nach unfairen Verfahren vor dem Staatssicherheitsgericht inhaftiert worden. Berichten zufolge kam es im Gewahrsam des Staatssicherheitsdienstes mehrfach zu Folterungen. In Kuwait gibt es eine Todesstrafengesetzgebung; im Jahre 1989 wurde eine Hinrichtung vollstreckt.

Ungefähr 40 Kuwaitis, unter ihnen mindestens 30 Shi'a Muslims, sind zwischen September 1989 und Mai 1990 inhaftiert worden, manche nur für wenige Tage, andere bis zu neun Monate lang. Man warf ihnen vor, die Regierung unterminiert und deren Sturz geplant zu haben. Berichten zufolge sind mehrere von ihnen gefoltert worden, um »Geständnisse« zu erpressen. Bis auf vier Personen wurden alle im März 1990 ohne Anklageerhebung freigelassen. Die vier Männer wurden vor Gericht gestellt, freigesprochen und im Juni 1990 aus der Haft entlassen.

Im Mai 1990 nahm man zehn Kuwaitis, unter ihnen frühere Minister und Parlamentsmitglieder, fest und hielt sie mehrere Tage lang in Haft. Acht wurden beschuldigt, illegale Treffen abgehalten zu haben, und zwei sollen ohne Genehmigung Flugblätter verteilt haben. Alle zehn wurden gegen Kaution freigelassen und später amnestiert.

Kuwait unter irakischer Besatzung

Seit dem 2. August 1990 – dem Einmarsch Iraks – sind die Einwohner Kuwaits Opfer jener Grausamkeit und Brutalität der irakischen Streitkräfte, unter der die Menschen in Irak bereits seit über einem Jahrzehnt leiden. amnesty international mußte eine Vielzahl von Greueltaten registrieren, die auf das Konto irakischer Soldaten gehen; tausende Kuwaitis wurden Opfer schwerster Menschenrechtsverletzungen. Über 300 frühgeborene Babys kamen beispielsweise qualvoll ums Leben, als plündernde Soldaten die Brutkästen aus Krankenhäusern stahlen.

Mehrere tausend Zivilisten und Angehörige des kuwaitischen Militärs wurden willkürlich festgenommen und ohne Verfahren inhaftiert. Gefangene wurden und werden brutal gefoltert. Von mehreren hundert Festgenommenen weiß man bis heute nicht, was mit ihnen geschah; sie gelten als »verschwunden«.

ai sind insgesamt 38 Foltermethoden bekannt, derer sich irakische Militärs in Kuwait bedienen: sie reichen vom Abschneiden diverser Gliedmaßen wie Zunge und Ohren über Elektroschocks und Schüsse in die Beine bis zu Schlägen und Vergewaltigung.

Wiederholt wurde amnesty international berichtet, daß mutmaßliche Oppositionelle und Soldaten zu ihren Häusern gebracht und dort mit einem Schuß in den Hinterkopf getötet wurden, nachdem Familienangehörige sie identifiziert hatten. Um inhaftiert, gefoltert oder getötet zu werden, reicht bereits der Besitz von Geldmünzen oder -scheinen der abgeschafften kuwaitischen Währung aus, was als Zeichen des Protests gegen die irakische Herrschaft über Kuwait gewertet wird.

Jordanien

50 Jahre lang – von 1939 bis 1989 – konnten die jordanischen Behörden vermeintliche oder tatsächliche Regierungsgegner ohne Anklage und Gerichtsverfahren oder nach Kriegsgerichtsprozessen in Haft halten, wobei die Kriegsgerichte die grundlegenden Rechtsgarantien für faire Gerichtsverfahren völlig außer acht lassen und sich beispielsweise nicht an die normale Strafprozeßordnung und Beweisregelung halten müssen.

Zu den mittlerweile freigelassenen Häftlingen gehören Mitglieder verschiedener Oppositionsgruppen wie der »Organisation der Volksfront« oder der »Jordanischen Kommunistischen Partei« sowie Schriftsteller, Journalisten, Ingenieure, Studenten, Anwälte, Ärzte und Gewerkschafter. Daneben waren aber auch immer wieder Angehörige palästinensischer Gruppierungen wie der al-Fatah, der »Palästinensischen Befreiungsorganisation« (PLO) und der »Volksfront zur Befreiung Palästinas« oder Sympathisanten schiitischer Gruppen wie der »Islamischen Befreiungspartei« verhaftet und im Hauptquartier des berüchtigten jordanischen Geheimdienstes inhaftiert worden.

Aus der Geheimdienstzentrale, aber auch aus dem gefürchteten Swaqa-Gefängnis sind amnesty international schon häufig Berichte über Folterungen zugegangen. Zu den gängigsten Methoden zählten Schläge auf die Fußsohlen, Peitschenhiebe und Schläge mit Kabelstücken. Aus diesen Folterungen resultierten in vielen Fällen schwere Verletzungen wie Lähmungen, Knochenbrüche, Quetschungen oder eine Beeinträchtigung des Nervensystems.

Trotz der vorläufigen Aussetzung der Notstandsbestimmungen, die in Jordanien ein halbes Jahrhundert lang in Kraft waren, haben die Behörden noch immer die Möglichkeit, gewaltlose politische Gefangene auf unbestimmte Zeit ohne Gerichtsverfahren in Haft zu halten. Auch wenn nach der Ankündigung rechtlicher Reformen im Dezember 1989 viele frühere gewaltlose politische Gefangene freigelassen wurden, sind weitere Maßnahmen nötig, um willkürliche Inhaftierungen, unfaire Prozesse sowie Folter und Mißhandlungen in der Haft zu verhindern.

Syrien

Die syrische Verfassung garantiert grundlegende Rechte wie Meinungsfreiheit, Redefreiheit und Religionsfreiheit, sie verbietet eindeutig die Folter. Die Realität indessen spricht diesen Garantien und Schutzrechten Hohn. Sie sind seit 1963 durch eine Notstandsgesetzgebung außer Kraft gesetzt.

Die Sicherheitskräfte haben aufgrund des Notstandes weitreichende Vollmachten. Sie dürfen alle jene, die verdächtigt werden, die „öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gefährden“, festnehmen und auf unbestimmte Dauer inhaftieren. Das Resultat sind Tausende willkürlicher Inhaftierungen, Tausende politischer Gefangener, darunter Hunderte, die niemals Gewalt angewandt haben. In den seltensten Fällen liegt eine rechtskräftige Verurteilung vor. Politische Gefangene bekommen in Syrien so gut wie nie die Chance, sich vor einem Gericht zu rechtfertigen, auch wenn sie – wie in einigen Fällen – bereits seit zwei Jahrzehnten oder länger hinter Gittern sitzen.

Jeder, der in den Verdacht gerät, einer verbotenen politischen Partei oder palästinensischen Gruppe anzugehören, läuft Gefahr, inhaftiert zu werden. 1978 begann sich in Syrien Protest zu regen: Juristen, Ärzte und Ingenieure waren es vorwiegend, die auf die Einhaltung der Menschenrechte pochten. Am 31. März 1980 kam es zu einem eintägigen Streik, bei dem die Achtung grundlegender Rechte wie Meinungs- und Gewissensfreiheit, die Verurteilung jeglicher Art von Gewalt, die Abschaffung der Sondergerichte und die Freilassung aller aufgrund der Notstandsgesetze inhaftierten Gefangenen bzw. faire Gerichtsverfahren für sie gefordert wurden.

Die syrischen Behörden reagierten auf diesen Streik mit einer Verhaftungswelle und der Auflösung sämtlicher beteiligter Berufsverbände. Von etwa 100 Beschäftigen des Gesundheitswesens beispielsweise, die wegen ihrer Beteiligung an dem Streik inhaftiert wurden, sind nach Kenntnis von ai nur sieben Personen freigelassen worden. Von vier weiß ai definitiv, daß sie sich seither in Haft befinden. Über die übrigen 86 ai bekannten Namen verweigert die Regierung jede Auskunft; es wird jedoch angenommen, daß die Mehrheit auch fast 11 Jahre nach ihrer Festnahme noch in Haft ist. Das gleiche Schicksal erlitten die an dem Streik beteiligten Ingenieure, von denen ai 68 namentlich bekannt sind.

Zum Vorwurf der Folter und Mißhandlung schweigt die Regierung, obwohl in Syrien weitverbreitet und systematisch unter körperlichen Qualen verhört wird. Die Gefangenen werden mit Elektroschocks, äußerst schmerzhaften Schlägen auf die Fußsohlen, Auspeitschungen und zahlreichen anderen Foltermethoden malträtiert.

Menschenrechtsverstöße wie Willkürhaft und staatlicher Mord sind allerdings nicht nur in Syrien, sondern auch in dem von syrischen Truppen kontrollierten Teil des Libanon zu beobachten. So haben Angehörige der syrischen Truppen Mitte Oktober 1990 schätzungsweise 200 Anhänger des christlichen Generals Aoun in Ost-Beirut festgenommen, wobei es sich bei den meisten Opfern um Militärangehörige handelte. Die meisten wurden offenbar nach Syrien gebracht, wo sie aller Wahrscheinlichkeit nach noch immer im Gefängnis sitzen. ai geht zudem davon aus, daß eine ganze Reihe von Personen jenseits des eigentlichen bewaffneten Konflikts am 13. und 14. Oktober aus politischen Gründen ermordet wurden. Auch hierzu haben sich die syrischen Behörden nicht geäußert.

Saudi-Arabien

Menschenrechte werden in Saudi-Arabien unter König Fahd nicht großgeschrieben. Wer in den Verdacht der politischen Gegnerschaft gerät, dem drohen Haft und Folter.

Von 1983 bis 1989 wurden amnesty international über 700 Fälle bekannt, in denen politische Gegner auf diese Weise behandelt wurden. Bei den Betroffenen handelt es sich überwiegend um Mitglieder oder Sympathisanten schiitischer Oppositionsgruppen. Politische Parteien und Gewerkschaften sind in Saudi-Arabien verboten.

In den ersten Tagen und Wochen nach der Festnahme werden Gefangene in Saudi-Arabien meist ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten; Zugang zu ihren Familienangehörigen und einem Rechtsbeistand wird ihnen verweigert. Gerade in diesen Tagen der Haft werden die Gefangenen fast routinemäßig mißhandelt oder gefoltert, was in einigen Fällen sogar mit dem Tod des Gefolterten endete.

Erschreckende Ausmaße hat diese Vorgehensweise seit Ausbruch der Golfkrise bei der Behandlung jemenitischer Staatsbürger in Saudi-Arabien angenommen. Seit dem 19. September 1990 werden sie systematisch aus dem Land getrieben; Hunderte von ihnen mußten in behelfsmäßig errichteten Haftzentren Mißhandlungen oder Folterungen erdulden, Tausende fielen willkürlichen Festnahmen zum Opfer, ausschließlich wegen ihrer Nationalität.

Auch die Anwendung der Todesstrafe hat in Saudi-Arabien erheblich zugenommen. Während 1988 »nur« 26 Hinrichtungen bekannt wurden, waren es 1989 bereits 111, davon 16 wegen politisch motivierter Straftaten.

Vereinigte Arabische Emirate

Seit Jahren erhält amnesty international immer wieder besorgniserregende Berichte über Menschenrechtsverletzungen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Haft ohne Gerichtsverfahren, Folter und Mißhandlung, die Anwendung der Prügelstrafe nach islamischem Recht, die Verhängung der Todesstrafe sowie die zwangsweise Rückführung von Flüchtlingen in deren Heimatländer, obwohl ihnen dort schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Todesstrafe drohen, waren für ai wiederholt Anlaß, bei den Behörden der Emirate vorstellig zu werden.

Gerade in den vergangenen Jahren sind der Organisation mehrfach Fälle von Jugendlichen – zum Teil von Ausländern – bekanntgeworden, die beispielsweise wegen Diebstahls zu mehreren hundert Peitschenhieben verurteilt wurden. Ein somalischer Junge im Alter von damals 14 Jahren war von 1987 bis Januar 1990 ohne Gerichtsverfahren in Haft, ohne daß er selbst eine Straftat begangen hätte. Seine Inhaftierung hing vermutlich mit der politischen Betätigung seines im Exil lebenden Vaters zusammen. Während der Haft soll der Junge mit 200 Peitschenhieben bestraft worden sein.

Mehrere Iraker, die seit 1987 vermutlich wegen ihrer politischen Sympathien für schiitische Oppositionsgruppen verhaftet worden waren, berichteten nach ihrer Freilassung von Folterungen durch Elektroschocks, Schlafentzug, Falaqa (Schläge auf die Fußsohlen), Androhung sexuellen Mißbrauchs und andere Zwangsmaßnahmen. Man drohte ihnen auch mit zeitlich unbegrenzter Haft und der Auslieferung nach Irak, wo sie harte Strafen erwartet hätten. Haftbefehle waren ihnen während der mehrere Monate andauernden Haft zu keinem Zeitpunkt vorgelegt worden.

Todesurteile können in den Vereinigten Arabischen Emiraten wegen einer Vielzahl von Delikten – darunter auch Ehebruch – verhängt werden. 1984 wurden beispielsweise ein Inder und eine schwangere Srilankerin wegen Ehebruchs zur Steinigung bis zum Tode verurteilt. Erst nach internationalen Protesten wurden die Todesurteile umgewandelt in Haftstrafen und Peitschenhiebe verbunden mit der Abschiebung.

Türkei

Mehrere tausend Menschen sitzen im NATO-Land Türkei aus politischen Gründen, darunter Hunderte von gewaltlosen politischen Gefangenen. Politische Verfahren vor türkischen Militär- und Staatssicherheitsgerichten entsprechen nicht im entferntesten den international anerkannten Standards für ein faires Gerichtsverfahren. Landesweit wird beim Verhör und in der Haft gefoltert, und dies so rückhaltlos, daß bereits mehrere Personen an den Folgen der körperlichen Tortur gestorben sind. amnesty international liegen zahlreiche Berichte Gefolterter vor, die von ärztlichen Attesten untermauert werden und beweisen, daß Folter in der Türkei systematisch angewandt wird.

Besonders gravierende Menschenrechtsverstöße registriert ai seit Jahrzehnten in den kurdischen Gebieten. In der Türkei, vornehmlich im Südosten des Landes, wo acht Provinzen unter Notstand stehen, lebt eine etwa zehn Millionen Menschen zählende kurdische Minderheit, die keine Anerkennung findet. Das Recht auf eine kulturelle Identität haben ihnen aufeinanderfolgende Regierungen versagt; in der Öffentlichkeit ist es verboten, Kurdisch zu sprechen. Immer wieder werden aus den kurdischen Gebieten Folterungen und Mißhandlungen in Haft gemeldet, die sich seit dem Militärputsch im Jahre 1980 gemehrt haben. Seit kurdische Untergrundkämpfer, Mitglieder der »Kurdischen Arbeiterpartei« (PKK), im August 1984 zum bewaffneten Kampf übergegangen sind, dringt aus den Provinzen im Osten und Südosten der Türkei eine alarmierende Zahl von Meldungen über die Mißhandlung von Gefangenen an die Öffentlichkeit. Verantwortlich für diese Menschenrechtsverletzungen sind die Sicherheitskräfte.

Ankara zog sich im August 1990 offiziell von den Artikeln 5,6,8,11 und 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention zurück, die den Bürgerinnen und Bürgern der Unterzeichnerstaaten ein Recht auf Freiheit und Sicherheit, einen Anspruch auf rechtliches Gehör, die Achtung von Familie, Heim und Briefverkehr sowie Versammlungsfreiheit garantieren. Die Türkei hat die Europäische Antifolterkonvention am 25. Februar 1988 ratifiziert. Am 2. August 1988 ratifizierte sie außerdem das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die Folter. Gegen beide Konventionen wird in der Türkei tagtäglich verstoßen.

Sorge bereitet ai auch die Todesstrafengesetzgebung in dem Land. Im November 1990 belief sich die Zahl der zum Tode verurteilten Personen, die alle Rechtsmittel ausgeschöpft haben, auf 315. Die Todesurteile liegen dem türkischen Parlament zur Bestätigung vor. Einige der Gefangenen befinden sich bereits seit über zehn Jahren in Haft. Die Mehrzahl von ihnen wurde wegen politisch motivierter Vergehen verurteilt. Seit 1984 wurde in der Türkei keine Hinrichtung mehr vollstreckt, doch wurden gerade in jüngster Zeit wieder Stimmen laut, die eine Diskussion über die Frage der Vollstreckung von Todesurteilen neu entfachten. Das Leben der Menschen, deren Todesurteile dem Parlament zur Annahme vorliegen, ist erst dann gesichert, wenn ihre Urteile in Haftstrafen umgewandelt werden.

Anmerkungen

1) Wir haben dieser Liste den Abschnitt über Israel hinzugefügt, dabei aber nur auf ai-Statements zurückgegriffen. s.u. Zurück

2) Mündliche Stellungnahme von amnesty international vor der 47. Sitzung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in Genf am 29. Januar 1991 Zurück

Das absolute Folterverbot

Das absolute Folterverbot

Grundlage für Sicherheit und Freiheit

von Susanne Baumann

„Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen werden“, lautet Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Und es gibt eine Reihe weiterer internationaler Übereinkommen, die vor Folter und Misshandlung schützen1. Das Folterverbot gilt dabei als eines der wenigen Rechte absolut und ohne Vorbehalt. Selbst in Kriegs- und Krisensituationen gibt es davon keine Ausnahme. Wie aber ist es tatsächlich um Folter und Misshandlung in der Welt bestellt? Zeigt die Vielzahl der rechtlichen Schutzinstrumente Wirkung? Haben sich die Fälle, in denen Menschen Opfer von Folter werden, verringert? Die Antwort fällt bedauerlicherweise negativ aus.

Geht man den aktuellen Jahresbericht von amnesty international von 2006 durch, stellt man fest, dass nach wie vor mindestens in 104 Staaten gefoltert oder misshandelt wird – auch in Staaten, die sich als Garanten der Menschenrechte verstehen.

Insbesondere der Kampf gegen den Terrorismus hat dazu geführt, dass die rechtlichen Standards, die dem Schutz vor Folter und Misshandlung dienen, aufgeweicht werden. Viele Länder haben in oft übereilten Verfahren Gesetze erlassen, die die Rechte der Menschen auf Versammlungsfreiheit, auf Meinungsfreiheit, auf faire Gerichtsverfahren und den Schutz vor willkürlichen Verhaftungen massiv einschränken. Fast jede Regierung hat ihre Machtbefugnisse ausgebaut, um unterhalb internationaler Standards zu ermitteln, Menschen zu verhaften und festzusetzen. Derartige Maßnahmen leisten Folter und Misshandlungen Vorschub. Einige Regierungen nutzen den so genannten Krieg gegen den Terror, um Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen, die sie schon seit vielen Jahren begehen. Zudem ist die öffentliche Kritik an Menschenrechtsverletzungen, die durch andere Staaten begangen werden, seltener geworden.

In besonders drastischer Weise verletzt und schwächt die US-Regierung das Verbot von Folter und erniedrigender Behandlung im Namen der Sicherheit.

Bei der Verfolgung der Täter der schrecklichen Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington verweigerte die US-Regierung Anfang 2002 den „Individuen der al-Qaida und der Taliban“ den Status als Kriegsgefangene und versagte ihnen damit elementare Schutzrechte. Noch im selben Jahr erarbeitete die US-Regierung eine neue Definition des Begriffs der Folter: Folter im strafrechtlichen Sinn sei nur bei einer Schmerzintensität gegeben, wie sie bei „Organversagen und Einschränkung körperlicher Funktionen bis hin zum Tod“ auftrete. In einem Memorandum von Anfang 2005 wird diese sehr weite Definition etwas eingeschränkt und auch das Zufügen von „schwerem körperlichen Leiden“ gilt als Folter, wenn dies von entsprechender Intensität und Dauer ist. Wegen Folter könne aber nur schuldig gesprochen werden, wer vorsätzlich starke Schmerzen verursacht habe. Nach beiden Definitionen sind Verhörmethoden erlaubt, die nach international vereinbarten Kriterien klar als Folter gelten.

Eine vom US-Verteidigungsminister eingesetzte Arbeitsgruppe stellte einen umfassenden Katalog von »widerstandsbrechenden« Verhörmethoden zusammen. Zum Teil verbergen sich hinter diesen »innovativen« Verhörmethoden alt bekannte Foltermaßnahmen: So steht die „Manipulation des Befragungsumfeldes“ für nichts anderes als einen Gefangenen extremer Hitze oder Kälte, permanentem gleißenden Licht oder Dunkelheit oder extremem Lärm auszusetzen und die „Anpassung der Schlafgewohnheiten“ ist eine beschönigende Bezeichnung für wiederholtes Wecken eines Gefangenen. Gezielt wurden solche Foltermethoden weiterentwickelt, die keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Ein Beispiel ist hier die »Individualisierung« der Folter. Die US-Behörden auf Guantánamo suchten gezielt nach Methoden, die besonders grausam auf die muslimischen Gefangenen wirken. Die aus Abu Ghraib bekannten Bilder zeigen, was sie dabei herausfanden: sexuelle Demütigungen und der Einsatz von Hunden verletzen Muslime in besonders schlimmer Weise.

Neben den für ihre massiven Menschenrechtsverletzungen bekannten und öffentlich kritisierten Haftlagern Guantánamo Bay auf Kuba, Bagram/Afghanistan und Abu Ghraib/Irak unterhielt der US-Geheimdienst CIA eine Reihe von geheimen Haftzentren, die sogenannten »black sites«. Berichten zufolge existierten bzw. existieren solche Gefangenenlager in Afghanistan, Irak, Jordanien, Pakistan, Thailand, Usbekistan und an weiteren nicht bekannten Orten, auch in Europa. Erschreckend ist auch das von der CIA entwickelte, aufwändige System, um »Terrorismusverdächtige« an diese unbekannten Haftorte zu entführen. Diese Verschleppungen wurden teilweise über Strohfirmen und private Unternehmen abgewickelt. Das Verschleppen und Inhaftieren von Personen an geheimen Orten erfüllt den Tatbestand des Verschwindenlassens und öffnet Folter und Misshandlung Tür und Tor, da eine unabhängige Kontrolle nicht möglich ist.

Zwar gab es einige hoffnungsvolle Entwicklungen, diese wurden jedoch immer wieder gedämpft: So hat die US-Regierung unter erheblichem Druck im Dezember 2005 verkündet, dass die UN-Antifolterkonvention „auch für US-Personal, wo immer es sich aufhält, in den USA oder im Ausland“ gelte. Diese Regelung, das sogenannte McCain Amendment, versah Bush allerdings mit einem »signing statement«. Dessen Interpretation legt nahe, dass Bush sich trotz dieser eindeutigen Regelung die Möglichkeit offen halten wollte, als Oberbefehlshaber ggf. Misshandlungstechniken anordnen zu können.

Am 17. Oktober 2006 setzte Präsident Bush mit seiner Unterschrift den »Military Commissions Act« in Kraft. Das Gesetz bildet die Grundlage für die Errichtung von Militärkommissionen. Dies sind Strafgerichte des US-Militärs zur Aburteilung von »illegalen feindlichen Kombattanten«, die sich in US-Gewahrsam befinden und nicht US-Bürger sind. Es nimmt diesen das Recht, ihre Haft von US-Gerichten überprüfen zu lassen. Darüber hinaus verhindert es, dass die Verantwortlichen für Misshandlungen an den Gefangenen wirksam verfolgt werden können und bildet damit die Grundlage für weitgehende Straflosigkeit.

Aber nicht nur in den USA wird das Folterverbot in Frage gestellt. Auch in Europa ist die Erosion dieses grundlegenden Verbots zu beobachten.

Insbesondere Großbritannien trägt durch seine Anti-Terror-Maßnahmen in erheblicher Weise zur Schwächung des Folterverbotes bei. So intervenierte die britische Regierung im Oktober 2005 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall »Ramzy gegen die Niederlande«. Während die niederländische Regierung die Auffassung vertritt, Ramzy könne nach Algerien abgeschoben werden, weil ihm dort nach ihrer Einschätzung tatsächlich keine Folter droht, möchte Großbritannien erreichen, dass der EGMR sich zu einer Rechtsprechung durchringt, die eine Abwägung zwischen Folterverbot und staatlichen Sicherheitsinteressen vornimmt. Auch auf nationaler Ebene hatte die britische Regierung den Rechtsweg beschritten, um die Zulässigkeit von »Foltergeständnissen« in Gerichtsverfahren durchzusetzen. Erst die obersten Richter (Law Lords) Großbritanniens entschieden im Dezember 2005, dass »Foltergeständnisse« in Gerichtsverfahren nicht zulässig sind und geboten so dem offenen Völkerrechtsbruch Einhalt.

Eine Reihe von europäischen Staaten verstößt gegen das non-refoulment-Gebot, das besagt, dass Flüchtlinge nicht in Staaten abgeschoben werden dürfen, in denen ihnen Folter droht. Die Staaten versuchen dies zu umgehen, indem sie so genannte diplomatischen Zusicherungen mit den Aufnahmestaaten abschließen. In diesen Vereinbarungen verpflichten sich die Zielstaaten, in Einzelfällen, in denen eine Abschiebung erfolgt, keine Folter und Misshandlungen an der Person vorzunehmen. Geschlossen wurden solche Vereinbarungen etwa von Großbritannien mit Jordanien, Libyen und Libanon; alles Staaten, in denen Folter und Misshandlung an der Tagesordnung sind. Allein die mündliche oder schriftliche Versicherung eines Staates kann jedoch Folter und Misshandlung nicht wirksam vorbeugen. Dies zeigt auch der Fall eines Ägypters, der Ende 2001 aufgrund einer Zusicherung von Schweden nach Ägypten abgeschoben und dort misshandelt wurde.

Auch in Deutschland ist das absolute Folterverbot nicht mehr über jeden Zweifel erhaben. Zwar bekennen sich Regierung und Parlament öffentlich dazu, und Deutschland engagiert sich international stets vorbildlich gegen Folter und Misshandlung. Doch gibt es Situationen und Konstellationen, in denen auch deutsche Regierungsmitglieder, Parlamentarier und Bürger die Anwendung von Folter in Ausnahmesituationen in Erwägung ziehen.

Anlass für die öffentliche Debatte in Deutschland war das Vorgehen des ehemaligen Polizeivizepräsidenten von Frankfurt/M., Wolfgang Daschner. Dieser ließ einem Kindesentführer Folter androhen, um das Leben des Kindes zu retten. Der Fall kam vor das Frankfurter Landgericht. In seinem Urteil vom Dezember 2004 stellte das Gericht unmissverständlich fest, dass es für den Staat keine Rechtfertigung geben kann, Menschen in seinem Gewahrsam zu foltern oder zu misshandeln.

Die Diskussion, ob Ausnahmen vom Folterverbot zulässig sein müssen, fand damit aber kein Ende. Insbesondere vor dem Hintergrund der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus mehren sich vor allem in der juristischen Fachliteratur, aber auch in der Politik die relativierenden Stimmen. Im extremen Einzelfall soll es möglich sein, Folter und Misshandlung anzuwenden, um Leben zu retten. Und von hochrangiger politischer Ebene wird wiederholt darauf hingewiesen, dass Informationen, die möglicherweise oder erwiesenermaßen unter Folter zustande gekommen sind, verwendbar sein sollen – zwar nicht im Strafverfahren, wohl aber als Grundlage weiterer Ermittlungen oder im Rahmen der Gefahrenabwehr.

Nicht mit dem Folterverbot vereinbar sind auch Vernehmungen von Personen, die im Ausland Folter und Misshandlung ausgesetzt sind und in dieser Situation von deutschen Beamten zwar nicht selbst gefoltert werden, aber unter dem Eindruck der Folterumstände von diesen vernommen werden. Bekannt sind hier die derzeit im Untersuchungsausschuss des Bundestages behandelten Fälle des Deutsch-Syrers Mohammed Haydar Zammar, der von deutschen Beamten in dem bekannten Foltergefängnis Far Falastin in Syrien vernommen wurde, sowie von Murat Kurnaz, den Beamte des Bundesnachrichtendienstes im September 2002 in Guantánamo vernahmen, obwohl die deutschen Behörden davon ausgingen, dass die Inhaftierung von Gefangenen auf Guantánamo völkerrechtswidrig ist. Die deutschen Beamten haben in den genannten Fällen zwar selbst keine Gefangenen gefoltert, aber von der Folter durch ausländische Behörden möglicherweise profitiert und so Menschenrechte verletzt. Zudem obliegt dem Staat eine Schutzpflicht für Personen, die in anderen Staaten der Folter ausgesetzt werden könnten.

Dieser Überblick zeigt: Der im Völkerrecht verbriefte Schutz vor Folter und Misshandlung allein reicht nicht aus. Entscheidend ist vielmehr der politische Wille der internationalen Gemeinschaft. Diese muss ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen ernst nehmen und sich in ihrem Handeln zu diesen Werten bekennen. Menschenrechtsstandards stellen das absolut notwendige Minimum dar, um die Sicherheit und die Integrität von Individuen vor Machtmissbrauch zu schützen. Dies gilt in besonderer Weise für das absolute Folterverbot, das die Menschenwürde und damit den Kern des Menschen schützt. Vieler schrecklicher Ereignisse und schmerzlicher Erfahrungen hat es bedurft, bis sich die Erkenntnis, dass Folter und Misshandlung dem Menschsein widersprechen, durchgesetzt und ihren Niederschlag im Völkerrecht gefunden hat. Diese historische Lehre gilt es zu bewahren. Die Verstöße gegen das Folterverbot und dessen Aufweichung im Kampf gegen den Terrorismus haben zu nichts geführt außer zu mehr Hass und Gewalt. Dies zeigt einmal mehr, nur eine Politik auf der Grundlage der Menschenrechte und der völkerrechtlichen Grundsätze kann gewährleisten, dass Menschen in Freiheit und Sicherheit zusammenleben. Wahre Sicherheit entsteht erst, wenn Menschenrechte respektiert und geachtet werden. Dies gilt auch und gerade für den Kampf gegen den Terrorismus.

Anmerkungen

1) U.a.: Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte; Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten; Amerikanische Menschenrechtskonvention; Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker; UN-Erklärung über den Schutz aller Personen vor Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe; UN-Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe und Zusatzprotokoll; Inter-Amerikanische Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Folter; Grundsatzkatalog für den Schutz aller irgendeiner Form von Haft oder Strafgefangenschaft unterworfenen Personen; UN-Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen.

Susanne Baumann ist Fachreferentin für Internationales im Generalsekretariat von amnesty international in Berlin.

Menschenrechtsbildung – eine gesellschaftspolitische Aufgabe

Menschenrechtsbildung – eine gesellschaftspolitische Aufgabe

von Gert Sommer und Jost Stellmacher

Menschenrechte sind zu einem zentralen Thema nationaler und internationaler Politik geworden. Menschenrechtsbildung ist daher eine bedeutsame Aufgabe. Dies ist nicht erst seit der Veröffentlichung jüngerer Studien deutlich, die erhebliche Defizite in der Menschenrechtsbildung in Deutschland aufgezeigt haben (u.a. Druba, 2006; Lohrenscheit & Rosemann, 2003; Mihr, 2005; Sommer u.a., 2005). Was bedeutet aber Menschenrechtsbildung? Der vorliegende Artikel gibt einen kurzen Überblick darüber, welchen Stellenwert Menschenrechtsbildung nach nationalen und internationalen Erklärungen haben sollte, welche Ziele sie verfolgt und wie gut sie bislang umgesetzt wurde. Dabei wird ein besonderer Schwerpunkt auf Deutschland liegen.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR; Vereinte Nationen, 1948; 2002) besteht aus 30 Artikeln mit etwa 100 unveräußerlichen Rechten. Zu diesen bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten gehören u.a. Recht auf Leben, Verbot von Diskriminierung, Folterverbot, Asylrecht, Rechtssicherheit, Meinungs- und Informationsfreiheit, Recht auf Arbeit, Schutz vor Arbeitslosigkeit, Recht auf Bildung sowie Anspruch auf ausreichende Lebenshaltung einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung und ärztliche Versorgung (dokumentiert sind die wichtigsten Menschenrechtsdokumente in Bundeszentrale, 2004, oder United Nations, 2002).

Der Stellenwert von Menschenrechtsbildung in der AEMR

Da die Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte folgenlos zu bleiben drohte, wenn die Menschenrechte nicht bekannt und anerkannt sind, wurde schon in der Präambel der AEMR ausdrücklich auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Menschenrechtsbildung hingewiesen (ähnlich Art. 26 der AEMR, Zwillingspakte und Rechte des Kindes): „… verkündet die Generalversammlung die vorliegende AEMR als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal, damit jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemühen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern und durch fortschreitende Maßnahmen im nationalen und internationalen Bereiche ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Verwirklichung bei der Bevölkerung … zu gewährleisten.“

Weitere Dokumente, die Menschenrechtsbildung fordern

Ausgehend von der AEMR ist die Forderung nach Menschenrechtsbildung in einer Vielzahl weiterer Dokumente erhoben worden (vgl. Sommer & Stellmacher, i.V.). Zwei Erklärungen, auf die wir im Folgenden kurz eingehen, sind konzeptionell von besonderer Bedeutung.

Empfehlung der Kultusminister (1980; 2000)

Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder verabschiedete 1980 eine »Empfehlung zur Förderung der Menschenrechtserziehung in der Schule«. Darin wurden drei Hauptziele formuliert:

  • „Kenntnisse und Einsichten“ zur Menschenrechtsthematik sollen vermittelt werden;
  • Die Verwirklichung von Menschenrechten soll ein wichtiger „Maßstab zur Beurteilung der politischen Verhältnisse im eigenen wie in anderen Ländern“ sein;
  • Bei den Schülern soll die „Bereitschaft“ geweckt und gestärkt werden, für ihre „Verwirklichung einzutreten und sich ihrer Missachtung und Verletzung zu widersetzen.“

Damit werden drei Ebenen von Menschenrechtsbildung deutlich: Wissen, Bewertung und Handlungsbereitschaft. Die Forderung, politische Verhältnisse hinsichtlich der Verwirklichung von Menschenrechten zu bewerten, war ursprünglich – zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes – wohl als Instrument zur Kritik des »real existierenden Sozialismus« gedacht; eine angemessene Umsetzung dieser Forderung führt aber zwangsläufig auch zu einer deutlichen Kritik an Deutschland und anderen westlichen Staaten (z.B. Heinz, 2005; Lochbihler, 2005; Sommer, Stellmacher & Wagner, 1999).

Die Kultusminister-Konferenz hat die Beschlüsse von 1980 im Jahr 2000 nochmals bekräftigt und Menschenrechtserziehung als „oberstes Bildungsziel“ bezeichnet. Explizit wird u.a. auf die Verletzung wirtschaftlicher Menschenrechte Bezug genommen, z.B. „die tägliche Bedrängnis durch Mangel und Not in vielen Ländern.“

UN-Dekade der Menschenrechtserziehung 1995-2004

International erhielt die Menschenrechtsbildung insbesondere dadurch einen hohen politischen Stellenwert, dass die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1994 eine Resolution sowie einen Aktionsplan zur »Dekade der Menschenrechtserziehung 1995-2004« verabschiedete1. In der Resolution (dokumentiert in Europäisches Universitätszentrum u.a., 1997, 138-141) wird daran erinnert, dass Menschenrechtsbildung „an sich schon ein Menschenrecht“ ist und dass sie „unabdingbar ist … für den Frieden.“ Staatliche und nichtstaatliche Einrichtungen werden aufgefordert, „nationale Pläne für Menschenrechtserziehung“ zu erstellen (6); an dieser Erziehung sollen sich auch nichtstaatliche Organisationen beteiligen, „insbesondere soweit sie sich mit Frauen-, Arbeits-, Entwicklungs- und Umweltfragen befassen.“ (12) Zur Relevanz von Menschenrechtsbildung ist die folgende Aussage zentral: „… jede Frau, jeder Mann und jedes Kind (müssen) in Kenntnis aller ihrer Menschenrechte – bürgerlicher, kultureller, wirtschaftlicher, politischer und sozialer Art – gesetzt werden…, um ihr volles menschliches Potential entwickeln zu können.“

Da die Dekade nicht zu den erwünschten Ergebnissen führte (s.u.), beschloss die UN-Generalversammlung 2004 (Res. A/59/113) ein »Weltprogramm für Menschenrechtsbildung 2005-2015«. In diesem wird nochmals betont, „dass die Menschenrechtsbildung eine wesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten bildet und einen bedeutsamen Beitrag zur Förderung der Gleichheit, zur Verhütung von Konflikten und Menschenrechtsverletzungen und zur Stärkung partizipativer und demokratischer Prozesse leistet…“

In der ersten Phase 2005-2007 des Weltprogramms liegt der Schwerpunkt auf der Grund- und Sekundarschulbildung (UN GA Res. A/59/525/Rev.1).

Ziele von Menschenrechtsbildung

Menschenrechtsbildung hat das Ziel, das Konzept der Menschenrechte bekannt zu machen und ihm zur Akzeptanz zu verhelfen (z.B. Benedek, 2006; Deutsches Institut für Menschenrechte, 2006). Im Einzelnen sollen 3 Komponenten vermittelt werden:

Wissen

Dazu gehören Grundkenntnisse über die Menschenrechts-Charta, insbesondere Grundkenntnisse über die AEMR, inkl. deren Strukturierung in 5 Gruppen: bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Damit sollen die 3 Dimensionen – bürgerliche Rechte, wirtschaftliche Rechte, Recht auf Entwicklung – bekannt gemacht werden und als Grundprinzipien: Universalität der Menschenrechte, Unteilbarkeit der einzelnen Rechtsgruppen und ihre Interdependenz. Zudem sollen Grundkenntnisse vermittelt werden über Mechanismen – vom Menschenrechtsrat bis zum Internationalen Strafgerichtshof – (Edinger, 2005) und Akteure – insbesondere Nichtregierungsorganisationen wie z.B. amnesty international, pro asyl oder fian (FoodFirst Informations- und Aktionsnetzwerk) (Sierck u.a., 2006).

Einstellungen und Bewertungen

Das Menschenrechtskonzept und damit die Menschenrechte in ihrer Gesamtheit sollen positiv und Menschenrechtsverletzungen negativ bewertet werden. Basierend auf den Konzepten der Universalität und der Nichtdiskriminierung gilt dies nicht nur für die eigenen Rechte, sondern ganz entschieden auch für die Rechte der anderen. Zudem ist ein Bewusstsein zu schaffen für die individuellen Möglichkeiten, einen Beitrag zu leisten für die Verwirklichung der Menschenrechte.

Handlungskompetenzen

Diese vermutlich schwierigste Komponente beinhaltet die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich – allein oder in einer Gruppe oder Organisation – für Menschenrechte und gegen Menschenrechtsverletzungen einzusetzen. Dazu sind vielfältige Kompetenzen Voraussetzung, z.B. Empathie, Problemlösen und Kooperation. Zu den möglichen Aktivitäten zählen u.a. die Hilfe für von Menschenrechtsverletzungen Betroffene (von Asylbewerbern in der eigenen Gemeinde bis hin zu Hungernden im In- oder Ausland), Unterschriften geben, an Demonstrationen teilnehmen, Leserbriefe schreiben, mit politisch Verantwortlichen reden, in einer Menschenrechtsorganisation mitarbeiten oder sie finanziell unterstützen.

Die genannten 3 Komponenten von Menschenrechtsbildung sind nicht unabhängig voneinander, es gibt fließende Übergänge. Bei der Menschenrechtsbildung soll auch deutlich werden, dass die Verantwortung für die Verwirklichung und Verletzung von Menschenrechten nicht nur bei staatlichen Organen, sondern auch bei gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen und nicht zuletzt bei Individuen liegt. Schließlich soll auch die grundlegende Bedeutung der Menschenrechte zum einen für die eigene Persönlichkeitsentwicklung und zum anderen für Frieden und Demokratie vermittelt werden. Zudem muss auch auf bestehende Konflikte – und die dahinter stehenden Interessen – eingegangen werden. Dies betrifft z.B. die Halbierung von Menschenrechten in Politik und Medien (d.h. die selektive Betonung von bürgerlichen und politischen Rechten bei Vernachlässigung von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten) oder auch den möglichen Missbrauch des Menschenrechtskonzeptes, u.a. durch militärische »Humanitäre Interventionen« (vgl. Haspel & Sommer, 2004).

Das Forum Menschenrechte hat »Standards der Menschenrechtsbildung in Schulen« (2006) erarbeitet. Für vier Schulniveaus (von Ende der 4. Grundschulklasse bis Ende der Sekundarstufe II) werden Konkretisierungen für (1) menschenrechtsbezogene Urteilsfähigkeit, (2) Handlungsfähigkeit und (3) methodische Fähigkeiten vorgenommen. Beispiele für menschenrechtsbezogene Urteilsfähigkeit am Ende der Sekundarstufe I sind: „haben Grundkenntnisse über die AEMR und ihre Kontroversen…; kennen Kategorien von Menschenrechten… und verstehen ihren universellen Gültigkeitsanspruch; …kennen exemplarisch weltweite soziale Problembereiche wie Armut, Hunger, Bildung und Entwicklung und können sie in Zusammenhang mit den Menschenrechten stellen…“ Damit werden für die schulische Menschenrechtsbildung (konkrete) Ziele vorgegeben, die wiederum eine Evaluation der Umsetzung von Menschenrechtsbildung erleichtern.

Zielgruppen und Adressaten der Menschenrechtsbildung

Jeder Mensch hat ein Recht auf Menschenrechtsbildung, daher sollte ein Kernwissen schon in Kindergarten und Schule vermittelt werden. Als (politische) Bürgerinnen und Bürger sind Menschen zudem – direkt oder indirekt, bewusst oder häufig auch nicht bewusst – ständig mit Menschenrechtsfragen befasst (Fritzsche, 2004), z.B. als Täter oder Opfer bei Menschenrechtsverletzungen oder als Bürger, die sich für die Verwirklichung von Menschenrechten einsetzen oder auch nicht.

Darüber hinaus wird im Aktionsplan zur Dekade auf die Unterrichtung u.a. folgender Berufsgruppen hingewiesen, da sie in besonderem Ausmaß mit menschenrechtsrelevanten Aufgaben befasst sind: Polizei und Strafvollzugsbedienstete; Juristen; Lehrerinnen; Entwicklungshelferinnen; Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen; Mitarbeiter von Medien; Parlamentarier; UNO-Mitarbeiter; Wissenschaftler.

Zur Durchführung von Menschenrechtsbildung sind neben staatlichen Organen (u.a. Kultusministerien, Lehreraus- und fortbildungsinstitutionen, Schulen) insbesondere – die bislang schon besonders aktiven – Nichtregierungsorganisationen aufgerufen, aber auch solche regionalen, nationalen und internationalen Organisationen, die sich mit »prekären« Gruppen wie Frauen und Kinder sowie mit Themen wie Arbeit, Entwicklung und Umwelt befassen (UN Res. A/59/525/Rev.1).

Materialien und Quellen

Es gibt inzwischen eine kaum mehr überschaubare Zahl an spezifischen Materialien zur Menschenrechtsbildung. So haben z.B. amnesty international, die Bundeszentrale für politische Bildung, die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen und die UNESCO schon seit vielen Jahren Materialien für Menschenrechtsbildung heraus gegeben (im Internet s. u.a. www.amnesty.de; www.dgvn.de; www.forum-menschenrechte.de; www.hrea.org; www.hri.ca; www.menschenrechtserziehung.de mit Online-Journal; www.ohchr.org; www.pdhre.org.)

Zwei neuere Bücher sind aus unserer Sicht besonders empfehlenswert. Dies ist zum Einen das vom Deutschen Institut für Menschenrechte herausgegebene Buch »Kompass« (2005). Es bearbeitet in 5 Kapiteln die Themen (1) Menschenrechtsbildung, (2) praktische Aktivitäten und Methoden der Menschenrechtsbildung, (3) Aktiv werden, (4) Informationen zu den Menschenrechten allgemein und (5) kurze Informationen zu 15 ausgewählten Themen, u.a. Armut, Bildung, Demokratie, Diskriminierung, Frieden, Gesundheit, Medien, Umwelt.

Zum Anderen ist das von W. Benedek (2003) herausgegebene Buch »Menschenrechte verstehen« hervor zu heben. Es besteht – neben Informationen über das Menschenrechtssystem – im Kern aus Modulen mit umfangreichen Informationen, positiven Beispielen und ausgewählten Aktivitäten zu 13 spezifischen Themen wie Folterverbot, Armut, Diskriminierung, Frieden und Gewalt, Gesundheit, Globalisierung, Frauen-, Kinderrechte, Bildung, bewaffnete Konflikte, Recht auf Arbeit, Medien.

Zum Stand der Menschenrechtsbildung

Wir haben aufgezeigt, dass es viele nationale und internationale Resolutionen gibt, die Menschenrechtsbildung fordern – wie aber sieht die Realität aus?

Bei einer umfangreichen Analyse der Menschenrechtsbildung in Deutschland – befragt wurden u.a. Ministerien, Polizeischulen, Bildungseinrichtungen des öffentlichen Dienstes, Lehreraus- und -fortbildungsinstitutionen, Nichtregierungsorganisationen – kommen Lohrenscheit und Rosemann (2003) zu dem Ergebnis, dass die Bundesrepublik „etwa zehn Jahre hinter den internationalen Entwicklungen zurück“ liege (S.14).

Auch am Ende der UN-Menschenrechtsdekade (und bis heute) fällt das Resümee kaum positiver aus (Mihr, 2005): Die Richtlinien der Kultusministerkonferenz sind in keinem Bundesland verpflichtende Erlasse; es gibt keinen Nationalen Aktionsplan für Menschenrechtsbildung; eine breite Menschenrechtsbildung für die Bevölkerung hat nicht statt gefunden; die wesentlichen Impulse zur Menschenrechtsbildung gehen von Nichtregierungsorganisationen aus.

Erhebliche Defizite in der Menschenrechtsbildung werden auch durch eine Schulbuchanalyse bestätigt. Obwohl die o.g. Empfehlungen der Kultusministerkonferenz hätten erwarten lassen, dass Schulbücher angemessen über Menschenrechte informieren, zeigt die Studie von Druba (2006), dass dem nicht so ist; bei der empirischen Analyse baden-württembergischer Lehrbücher unterschiedlicher Schulniveaus werden u.a. folgende Hauptprobleme aufgezeigt:

  • Die Bildungspläne (1990/1994) enthalten die Menschenrechtsthematik überwiegend als fakultativen, nicht als verpflichtenden Lerninhalt.
  • 30% der relevanten Schulbücher behandeln die Menschenrechtsthematik nicht.
  • Nur wenige Schulbücher erwähnen u.a. folgende wichtige Aspekte: Menschenrechte als Maßstab zur Beurteilung der politischen Verhältnisse; das Verhältnis von persönlichen Freiheitsrechten zu sozialen Grundrechten; Gründe für die unzureichende Verwirklichung von Menschenrechten; unterschiedliche Auffassungen von Menschenrechten in verschiedenen Kulturen.

Auch die bislang einzige empirische Studie mit einer repräsentativen Stichprobe kommt zum Ergebnis, dass Menschenrechte in Deutschland zwar als sehr wichtig angesehen werden, dass aber das Wissen über Menschenrechte und die Bereitschaft zum Engagement für Menschenrechte in der deutschen Bevölkerung gering sind (Sommer, Stellmacher & Brähler, 2005, 2006).

Trotz des hohen Stellenwerts, den Menschenrechtsbildung in offiziellen Dokumenten besitzt, fällt das Kapitel Menschenrechtsbildung im Bericht der Bundesregierung recht dürftig aus (Auswärtiges Amt, 2005). Auf den vier Seiten zu dem Thema wird neben wohlklingenden Absichtserklärungen – wie z.B. zu den Richtlinien der Kultusministerkonferenz – hauptsächlich auf die begrüßenswerte Förderung des Deutschen Instituts für Menschenrechte (gegründet 2001 auf Grundlage eines Bundestags-Beschlusses) und auf Menschenrechtsbildung bei der Polizei verwiesen.

Die internationale Bilanz sieht nicht wesentlich besser aus. Der Zwischenbericht des Hochkommissars für Menschenrechte (GA A/55/360) verweist positiv darauf, dass die AEMR inzwischen in über 300 Sprachen übersetzt worden und daher in das Guinnessbuch der Rekorde eingegangen sei, aber es bestehen nach wie vor gravierende Probleme: U.a. gebe es nur sehr wenige nationale Pläne für Menschenrechtsbildung; etliche Aktivitäten seien kurzfristig und einmalig (z.B. Tagungen), die Revision von Schulbüchern und Curricula sei unzureichend; die Öffentlichkeit scheine wenig interessiert an Menschenrechtsfragen; es stünden kaum (zusätzliche, z.B. finanzielle) Ressourcen zur Verfügung; es gebe kaum Forschung und so gut wie keine Evaluationen zur Wirksamkeit der Dekade. Der Endbericht brachte wenig neue Informationen. Zudem basieren beide Berichte des Hochkommissars auf einer völlig unzureichenden, zudem nicht überprüften Datenbasis.

Ausblick

Unser Artikel zeigt auf, dass Menschenrechtsbildung als eine zentrale gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden muss. Sie ist nicht nur für die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen wichtig, sondern auch für die Stärkung von Demokratie und Frieden. Mangelnde Menschenrechtsbildung erhöht die Gefahr, dass Menschenrechtsverletzungen hingenommen und Menschenrechte für bestimmte Interessen instrumentalisiert und missbraucht werden. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen Dokumenten und Absichtserklärungen zur Menschenrechtsbildung einerseits und der Realität andererseits ist vermutlich u.a. damit zu erklären, dass es vielen Mächtigen und Herrschenden nicht angenehm ist, wenn die Bevölkerung umfassend über ihre Rechte informiert ist und sich für deren Realisierung aktiv einsetzt. Man stelle sich einmal vor, die nationale und internationale Politik – u.a. die Wirtschaftspolitik – würde realistisch am Standard der Verwirklichung der Menschenrechte gemessen.

Um dem Ziel der Verwirklichung von Menschenrechten näher zu kommen, ist eine umfassende Menschenrechtsbildung eine unabdingbare gesellschaftspolitische Aufgabe: Es geht um eine Veränderung der Gesellschaften im Sinne einer (stärkeren) Verwirklichung der Menschenrechte auf nationaler und internationaler Ebene.

Literatur

Auswärtiges Amt (2005): Siebter Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen. Berlin: Auswärtiges Amt.

Benedek, W. (Ed.)(2006): Understanding Human Rights – Manual for Human Rights Education. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag. (Aktualisierte Fassungen, unterschiedliche Sprachen und didaktische Hilfen unter www.etc-graz.at).

Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.)(2004): Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen. Bonn: Bundeszentrale.

Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.)(2005): Kompass – Handbuch zu Menschenrechtsbildung für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit. Berlin: DIMR (engl. Orig. Europarat, 2002). (http://eycb.coe.int/compass/; http://kompass.humanrights.ch).

Druba, V. (2006): Menschenrechte in Schulbüchern. Frankfurt: Peter Lang.

Edinger, M. (2005): Institutionen und Verfahren des Menschenrechtsschutzes. In Frech & Haspel, S.41-74.

Europäisches Universitätszentrum für Friedensstudien, Deutsche UNESCO-Kommission, Österreichische UNESCO-Kommission (1997): Erziehung für Frieden, Menschenrechte und Demokratie im UNESCO-Kontext. Bonn: Dt. UNESCO-Kommission.

Forum Menschenrechte (Hrsg.)(2006): Standards der Menschenrechtsbildung in Schulen. (www.forum-menschenrechte.de/docs/fmr_standards_der_menschenrechtsbildung.pdf).

Fritzsche, K.P. (2004): Menschenrechte. Paderborn: Schöningh.

Haspel, M. (2005): Menschenrechte in Geschichte und Gegenwart. In Frech & Haspel, S.15-40.

Haspel, M. & Sommer, G. (2004): Menschenrechte und Friedensethik. In G. Sommer & A. Fuchs (Hrsg.): Krieg und Frieden – Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie (S.57-75). Weinheim: Beltz.

Heinz, W.S. (2005): Internationale Terrorismusbekämpfung und Menschenrechtsschutz. In Frech & Haspel, S.165-187.

Lochbihler, B. (2005): Die Menschenrechtspolitik der Europäischen Union. In Frech & Haspel, S.75-90.

Lohrenscheit, C. & Rosemann, N. (2003): Perspektiven entwickeln – Menschenrechtsbildung in Deutschland. (www.institut-fuer-menschenrechte.de).

Mihr, A. (2005): Die UN-Dekade für Menschenrechtsbildung – Eine Bilanz. In Frech & Haspel, S.189-209.

Sierck, G.M., Krennerich, M. & Häußler, P. (Hrsg.)(2006/07): Handbuch der Menschenrechtsarbeit (www.fes.de/handbuchmenschenrechte).

Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.)(1980): Empfehlung zur Förderung der Menschenrechtserziehung in der Schule. (KMK Erg.-Lfg.46, 2.6.1982).

Sommer, G. & Stellmacher, J. (i.V.): Menschenrechte.

Sommer, G., Stellmacher, J. & Wagner, U. (Hrsg.)(1999): Menschenrechte und Frieden. Marburg: Interdisziplinäre Arbeitsgruppe für Friedens- und Abrüstungsforschung.

Sommer, G., Stellmacher, J. & Brähler, E. (2005): Menschenrechte in Deutschland: Wissen, Einstellungen und Handlungsbereitschaft. In Frech & Haspel, S.211-230.

Sommer, G., Stellmacher, J. & Brähler,E. (2006): Menschenrechte – Paradoxien einer bahnbrechenden Idee. Wissenschaft & Frieden, 1/06, 40-43.

UNESCO (1998): All human beings … Manual for human rights education. UNESCO.

United Nations (2002): Human Rights – A compilation of international instruments. New York: UNO.

Anmerkungen

1) Vorangegangen waren als besonders wichtige Ereignisse u.a. die UNESCO-Empfehlung zur internationalen Erziehung (1974), die 2. Weltkonferenz über Menschenrechte (Wien, 1993) sowie UNESCO-Erklärung und Rahmenaktionsplan zur Erziehung für Frieden, Menschenrechte und Demokratie (1994) (dokumentiert in Europäisches Universitätszentrum für Friedensstudien u.a., 1997) – bei letzteren ist insbesondere die Interdependenz von Menschenrechten, Frieden und Demokratie beachtenswert.

Prof. i.R. Dr. Gert Sommer, bis 2006 am Fachbereich Psychologie der Universität Marburg, war viele Jahre Vorsitzender des Forum Friedenspsychologie und ist stellvertretender Vorsitzender von W&F. Forschungsschwerpunkte: Psychologische Analysen von Menschenrechten und Feindbildern. Dr. Jost Stellmacher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Sozialpsychologie am Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg. Tätigkeitsschwerpunkte sind Intergruppenprozesse, Fremdenfeindlichkeit, Aggression und Gewalt sowie Menschenrechte.

Menschenrechte kontra Völkerrecht?

Menschenrechte kontra Völkerrecht?

von Alexander Neu

„Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt und das Gesetz, das befreit.“ (Jean Jacques Rousseau; Du Contrat Social)

Diese Aussage Rousseaus’ beschreibt in Kürze Sinn und Zweck von Gesetzen im humanistischen Sinne: Die Aufhebung des freiheitlichen Naturzustandes zu Gunsten einer Rechtsordnung vermittelt und garantiert durch den Staat, um den Schwachen vor dem Starken in seiner Würde und Freiheit zu schützen. Im Zentrum eines humanistischen Rechtsverständnisses steht der Wert der menschlichen Würde. Diese Würde gilt es, durch unbedingt gültige Rechte, die Menschenrechte, zu schützen.

Der Titel dieser Ausgabe »Völkerrecht und Menschenrechte«, suggeriert eine Addition zweier völlig unterschiedlicher Rechtssysteme. Dabei handelt es sich in der Tat nicht um eine Addition, da die Menschenrechte ein Bestandteil – vielleicht sogar eine Quelle – des innerstaatlichen sowie des Völkerrechts darstellen, sofern man die Prämisse teilt, dass der Mensch und seine Würde im Zentrum des innerstaatlichen, aber auch des Völkerrechts stehen: Denn Krieg, den das moderne Völkerrecht verhindern soll, ist die größte Menschenrechtsverletzung überhaupt. Mit anderen Worten: Wer Menschenrechte schützen will, muss den Krieg ächten.

Leider ist seit geraumer Zeit ein politischer Prozess zu beobachten, der darauf abzielt, die Menschenrechte instrumentell gegen das Völkerrecht auszuspielen, um das seit 1945 geltende universelle Völkerrecht der Vereinten Nationen zu durchlöchern. Aus „nie wieder Ausschwitz, nie wieder Krieg“ wurde bekannterweise im Kontext des NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien, „um Auschwitz zu verhindern müssen wir Krieg führen“.

Forderungen nach einer »Weiterentwicklung des Völkerrechts«, das Konzept der »Responsibility to protect« etc., zielen darauf ab, die bereits im 19. Jahrhunderts durch Missbrauch diskreditierte »Humanitäre Intervention« wieder salonfähig zu machen und das auf Friedenspflicht angelegte universelle Völkerrecht sturmreif zu schießen.

Ist es glaubwürdig,

– wenn sich ausgerechnet Nationen, die als Kolonialmächte agierten, deren Folgen noch heute spürbar sind,

– oder Nationen, die dem Faschismus und Nationalsozialismus huldigten, dessen Folgen ebenfalls noch spürbar sind,

– wenn Nationen, die heute große Teile der Welt ökonomisch ausbeuten und zur Sicherheit ihres Wohlstandes auch bereit sind Militär einzusetzen,

sich so ganz »uneigennützig« als humanitäre Interventionisten – gleichsam als militärischer Arm von Amnesty International – empfehlen.

Ist die »Responsibility to Protect-Doktrin«, die laut Bundeswehr-Weißbuch „als Reaktion auf die Intervention im Kosovo“ entstanden ist, nicht bereits deshalb desavouiert, weil sie »als Reaktion« auf die unwahren Begründungen (angeblich drohender oder stattfindender Völkermord) für den NATO-Krieg 1999 entwickelt wurde. Kommt hinzu, dass die für diese Doktrin verantwortliche Kommission – die »International Commission on Intervention and State Sovereignty« – auf Veranlassung der kanadischen Regierung mit Unterstützung US-amerikanischer Stiftungen und Think Tanks (u.a. Carnegie Corporation und Rockefeller Foundation ) gegründet wurde.

Die Kommission ist zwar paritätisch aus westlichen und nicht-westlichen Vertretern zusammengesetzt, da sagt aber nichts über mögliche Abhängigkeitsverhältnisse oder ideologische Nähe. Auch ist es eine alte Weissheit, dass der Auftraggeber einer Studie in der Regel auch das Ergebnis vorgibt und die auszuarbeitende Kommission lediglich Methode und Argumente bereitzustellen hat. Mit Blick auf die Kommissionsmitglieder ist interessant, unter ihnen den zu Zeiten des NATO-Krieges gegen Jugoslawien amtierenden Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses Klaus Naumann zu finden – sicher ist sicher, wenn es um die Generierung einer neuen Interventionsideologie geht.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Es kann sehr wohl Situationen geben, in denen Nothilfe erforderlich ist, um einen Genozid zu verhindern bzw. zu stoppen (siehe Ruanda 1994). Die Verantwortung zum Schutz von Menschen muss im Zweifelsfall eine übernationale Verantwortung sein. Zugleich muss aber die Gefahr des Missbrauchs eines solchen Ansatzes minimiert werden. Die einzige und legitime Institution, die das gewährleisten kann, sind die Vereinten Nationen, auch wenn der jetzige Zustand der Weltorganisation sie dafür nur unzureichend legitimiert. Eine Demokratisierung der Vereinten Nationen und der Ausbau ihrer Befugnisse sind notwendig, damit nicht eine Hand voll mächtiger Staaten bestimmt, wann unter dem Vorwand »humanitär« militärisch interveniert wird.

Ein Ausbau der internationaler Institutionen und des internationalen Rechtssystems ist notwendig, um zu verhindern, dass Menschenrechte und Völkerrecht gegeneinander ausgespielt werden. Sie sind unter humanistischen Gesichtspunkten eine Einheit und müssen dies auch bleiben.

Ihr Alexander Neu

Das Völkerrecht und die Instrumentalisierung der Menschenrechte

Das Völkerrecht und die Instrumentalisierung der Menschenrechte

von Norman Paech

Schon ein flüchtiger Blick auf die gut sechzigjährige Geschichte der UNO zeigt, dass – trotz aller Niederlagen und Defizite dieser Organisation und ihrer Charta – in dieser Zeit das Völkerrecht einen nie zuvor in der Geschichte erlebten schnellen Wandel und eine unvergleichlich progressive Kodifizierung erfahren hat. Seit dem Ende des West-Ost-Konfliktes stehen aber traditionelle Pfeiler des Völkerrechts, wie die staatliche Souveränität, in der Diskussion. Der Autor geht der Frage nach, ob es sich hier um eine beabsichtigte konstruktive Weiterentwicklung des Völkerrechts handelt oder um eine Instrumentalisierung der Menschenrechte aus geostrategischen und machtpolitischen Interessen.

Zur progressiven Kodifizierung des Völkerrechts gehört die Entwicklung des Kriegsverbotes (Briand-Kellog-Pakt von 1928) zum Gewalt- und Interventionsverbot (Art. 2 Z. 4 der Charta der Vereinten Nationen). Dazu gehört die Durchsetzung des Rechts auf Selbstbestimmung in der Epoche der Dekolonisation. Dieses Recht, welches erstmals in den Deklarationen der französischen Revolution auftauchte, brauchte knapp zweihundert Jahre, bis es über die Stationen des Völkerbundes und der Vereinten Nationen erst in den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts als zwingendes Recht allgemein anerkannt wurde.

Zu diesem Fortschritt gehört auch die umfassende Kodifizierung der individuellen Menschenrechte, selbst wenn der rechtliche Status der ökonomischen und sozialen Rechte immer noch bestritten und auf bloße politische Programmatik abgewertet wird. Wenn auch darüber hinaus das Projekt der kollektiven Menschenrechte – es handelt sich um das Recht auf Frieden und auf Entwicklung – den Großmächten des Nordens noch abgerungen werden muss, der Fortschritt liegt bereits in der Formulierung derartiger Rechte durch die Menschenrechtskommission der UNO und der Übernahme dieser Konzepte durch die Generalversammlung. Die Einrichtung eines Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist überhaupt der erste Ansatz, das Individuum aus seiner völkerrechtlichen Nichtexistenz herauszuholen und ihm Schutz gegenüber dem eigenen Staat zu geben. Die verschiedenen Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Türkei sprechen z.B. eine deutlichere Sprache und sie verschaffen den Folteropfern mehr Rechte und Wiedergutmachung als die europäischen Regierungen bisher von der türkischen Regierung erreichen konnten.

Zu verweisen ist darüber hinaus auf eine eher konservative Funktion der Charta, die Bestrebungen der Großmächte, Prinzipien des Völkerrechts zu beseitigen, Widerstand entgegensetzt. Dies gilt z. B. für das Prinzip der nationalen Souveränität (Art. 2 Z. 1 UNO-Charta), dem vor allem vor dem Hintergrund der zunehmenden Integration der europäischen Staaten – in einer politischen Gemeinschaft mit weitgehender Souveränitätsverlagerung auf die Institution der Europäischen Union – die Zukunftsfähigkeit abgesprochen wurde. Selbst die Einschränkungen der Souveränität, die die UNO-Charta von den Staaten in der Weiterentwicklung der internationalen Gemeinschaft verlangt, werden gegen ihr eigenes Prinzip der Garantie staatlicher Souveränität verwandt und dieser schlicht Überholtheit bescheinigt.1

Bliebe es bei literarischen Angriffen auf die Souveränität, würden sich daraus für die betroffenen Staaten keine größeren Probleme ergeben. Die Kriege der letzten zehn Jahre – von der Bombardierung Jugoslawiens 1999 bis zu den Invasionen in Afghanistan und dem Irak – sowie die gegenwärtige Kriegsdrohung gegen den Iran, aber auch die vielfältigen politischen und ökonomischen Interventionen in die Staaten der Peripherie, zeichnen jedoch ein zunehmend gefährlicheres Szenario. Aus der Sicht dieser Staaten des Südens wird die Bedeutung der Souveränität für die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Staaten nach wie vor sehr viel deutlicher erkannt und betont. Walden Bello, Direktor des Bangkoker Forschungsinstituts »Focus on the Global South« und Professor an der Universität der Philippinen in Diliman, formuliert stellvertretend für viele Stimmen aus dem Süden die zentrale Bedeutung der Souveränität für die Staaten, die sich nach wie vor in den unteren Rängen der Weltpyramide befinden: „Nun mag für einige Leute im Norden, die zu Staaten gehören, die den Rest der Welt beherrschen, nationale Souveränität ein Kuriosum sein. Für uns im Süden dagegen ist die Verteidigung dieses Prinzips eine Angelegenheit von Leben und Tod, eine zwingende Bedingung für die Realisierung unserer kollektiven Bestimmung als Nationalstaat in einer Welt, in der die Mitgliedschaft in einem Nationalstaat eine grundlegende Bedingung für den ungehinderten Zugang zu den Menschenrechten, politischen Rechten und wirtschaftlichen Rechten ist. Ohne einen souveränen Staat als Rahmen sind unser Zugang und unsere Nutznießung dieser Rechte gefährdet.“2

Da die Nationalstaaten immer noch die entscheidenden gesellschaftlichen Organisationsformen der Menschen sind, plädieren diese Stimmen für eine offensive, ja »aggressive« Verteidigung ihrer staatlichen Souveränität, „denn der Imperialismus ist nun einmal so, dass er es als Präzedenzfall für andere, in der Zukunft liegende Fälle benützt, wenn man ihm einmal den kleinen Finger gibt.“3

Aber auch die von der Kanadischen Regierung eingerichtete International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) bestätigt in ihrem Bericht von 2001 diese Position. „In a dangerous world marked by overwhelming inequalities of power and resources, sovereignty is for many states their best – and sometimes seemingly their only – line of defence. But sovereignty is more than just a functional principle of international relations. For many states and peoples, it is also a recognition of their equal worth and dignity, a protection of their unique identities and their national freedom, and an affirmation of their right to shape and determine their own destiny. In recognition of this, the principle that all states are equally sovereign under international law was established as a cornerstone of the UN Charter (Art. 2.1).“4

Wichtig ist, dass ICISS auch bei schweren innerstaatlichen Konflikten wie Aufständen oder Bürgerkriegen, die staatliche Souveränität nicht der Intervention anderer Staaten preisgibt. Denn auch das in der UNO Charta (Art. 2.4) verankerte Verbot der Intervention zählt der Bericht zu den sog. basic principles: „State sovereignty implies responsibility, and the primary responsibility for the protection of its people lies with the state itself. Where a population is suffering serious harm, as a result of internal war, insurgency, repression or state failure, and the state in question is unwilling or unable to halt or avert it, the principle of non-intervention yields to the international responsibility to protect.“5

Doch zeigen die letzten Kriege, dass dieses Prinzip auf äußerste gefährdet ist, denn es bietet keinen wirksamen Schutz mehr gegenüber den Interventionen der großen Mächte. Sie bedienen sich zur Rechtfertigung ihrer interventionistischen Interessen vornehmlich drei moderner Gründe:

  • Kampf gegen den internationalen Terror,
  • Verhinderung des Erwerbs bzw. Beseitigung bereits bestehender Massenvernichtungsmittel und
  • Schutz der Menschenrechte.

Dabei fällt auf, dass in dem Maße, in dem der Terror oder die Massenvernichtungsmittel als Begründung zweifelhaft werden, die Menschenrechte als »Ausfallbegründung« in den Vordergrund treten. Die »humanitäre Intervention« ist seit ihrer Neuerfindung zur Rechtfertigung der Bombardierung Jugoslawiens im Frühjahr 1999 zur ständigen Reservelegitimation völkerrechtswidriger Interventionen geworden.

Der Sündenfall des ganz offensichtlich völkerrechtswidrigen Überfalls auf Jugoslawien (keine Selbstverteidigung gem. Art. 51, kein UNO-Mandat gem. Art. 39/42 UNO-Charta6) wird auch heute noch als klassischer Fall der »humanitären Intervention« gehandelt. Die humanitäre Sorge und Argumentation entsprach zweifellos der Motivation etlicher ihrer Befürworter. Der Schaden, den er jedoch für die Kultur der internationalen Beziehungen und die Geltung des internationalen Rechts anrichtete, geht weit über seine vermeintlichen Erfolge hinaus. Aus dem geschärften Blick eines unbeteiligten Beobachters wie Walden Bello lassen sich einige Konsequenzen sehr deutlich benennen.

  • Zunächst hat der Krieg dazu beigetragen, die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen zu unterminieren, die bewusst übergangen wurden, da die USA ihre Zustimmung nicht erlangen konnte. Dafür wurde die NATO vorgeschoben, die verdeckte, dass der Krieg zu 95% von der US-Army durchgeführt wurde.
  • Zusätzlich diente die NATO der Bundesregierung zum erstmaligen Auftritt auf einem internationalen Kriegsschauplatz nach dem Zweiten Weltkrieg. Damit wurde ein neues Kapitel deutscher Militärpolitik aufschlagen.
  • Sodann vergrößerte der Krieg der NATO – mit der Zerschlagung des noch verbliebenen Staatenzusammenhangs auf dem Balkan – das Sicherheitsvakuum Osteuropas. Damit war zugleich der institutionelle Rahmen für die US-Hegemonie auch im post-sowjetischen Europa gelegt.
  • Dass der Luftkrieg die Situation der Menschenrechte erheblich verschlechterte und mit der Bombardierung von zivilen Einrichtungen – wie Elektrizitätswerke, Brücken und Wasserversorgung – die Genfer Konventionen von 1949 und die Zusatzprotokolle von 1977 verletzte, wird zwar bisher der gerichtlichen Überprüfung entzogen, international aber nicht mehr ernsthaft angezweifelt.7
  • Schließlich, und das ist wohl das bedrohlichste Ergebnis dieses Krieges, diente er als »humanitäre Intervention« gleichsam als Türöffner für die künftigen Verstöße gegen das Prinzip der nationalen Souveränität und die damit verbundenen Kriege.

Bereits im zweiten Golf-Krieg war der UNO-Sicherheitsrat nach seiner Ermächtigung zur militärischen Intervention nach Art. 42 UN-Charta im November 1990 (UNSR-Res. 678) von dem weiteren Geschehen ausgeschlossen worden, was den damaligen Generalsekretär Perez de Cuellar bei Beginn der Raketenangriffe auf Bagdad zu dem bekannten Satz veranlasste: „Dies ist eine dunkle Stunde für die UNO.“ Die Einrichtung einer Schutzzone für die Kurden im Norden des Irak zur Sicherung ihrer Menschenrechte durch den UNO-Sicherheitsrat (UNSR-Res. 688 v. 5. 4. 1991) nutzten die USA und Großbritannien sofort, um ohne jegliche völkerrechtliche Legitimation die Souveränität des Irak durch die Einrichtung sog. Flugverbotszonen weiter einzuschränken und die selbstdefinierten Gebiete bis 2003 regelmäßig zu bombardieren. Ob es um die Bombardierung von Tripolis als Vergeltungsakt für das Attentat auf die Berliner Diskothek »La Belle« oder die Bombardierung ausgewählter Ziele im Sudan und Afghanistan zur Bestrafung des mutmaßlich verantwortlichen Bin Laden für die Attentate auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania ging, gemeinsam ist diesen Akten des Faustrechts die Missachtung der zuständigen Organe der UNO, des völkerrechtlichen Gewaltverbots, des Prinzips der territorialen Souveränität und des Gebots der friedlichen Streitbeilegung. Die Umgehung der UNO im Falle des Angriffs auf Jugoslawien konnte daraufhin zum Modellfall für den Umgang mit dieser Organisation werden. Die Unterstellung, dass zwei Veto-Inhaber den Maßnahmen der drei anderen nicht zustimmen würden – für diesen Fall hat die UNO nicht ohne Grund die Undurchführbarkeit der Maßnahmen bestimmt –, musste als Grund dafür herhalten, die UNO vollkommen zu übergehen. Erst für die Beseitigung der Schäden des illegalen Einsatzes der NATO wurde die UNO wieder herangezogen – eine groteske Umkehrung der UNO-Friedensfunktion.

Es ist schon erstaunlich, mit welcher Dreistigkeit in den öffentlichen Reden der kriegführenden Politiker die Bedeutung des Völkerrechts und der »rule of law« für die Internationalen Beziehungen angemahnt wird. Noch im Dezember 1998 beschwor Madeleine Albright in ihrer großen außenpolitischen Rede allein vier mal die Notwendigkeit der Beachtung der »rule of law« für die Beziehungen der Staaten untereinander,8 um ein Jahr später auf dem Balkan mit der NATO dem Völkerrecht den Rücken zuzukehren.9 Unter dem zunehmenden Legitimationsdruck der Öffentlichkeit entrollten die NATO-Minister ein Szenario der Menschenrechtsverletzungen als »humanitäre Katastrophe« im Kosovo, das die »humanitäre Intervention« sowohl als völkerrechtlichen Ausweg wie auch als moralisches Gebot der europäischen Wertegemeinschaft als zwingend erscheinen ließ. An dieser »Begründungsschlacht« beteiligten sich Philosophen, Soziologen, Theologen, Publizisten, Juristen und Moralisten, die auch die immer brüchiger werdende Faktenlage über die »serbischen Massenverbrechen« im Kosovo nicht zur Revision bzw. Einschränkung ihrer interventionistischen Moral- und Menschenrechtsrethorik bewegen konnte. Es kann kein Anstoß an der nachdrücklichen Betonung der Menschenrechte als Grundlage jeder Politik genommen werden. Wenn diese jedoch zum Hebel gegen Gewaltverbot und Selbstbestimmungsrecht eingesetzt werden, die mittlerweile als absolut zwingendes Völkerrecht (ius cogens) gelten, ist der Schaden für Frieden und Menschenrechte größer als der evtl. Nutzen für die Menschenrechte. Das Ausmaß der Zerstörungen in Jugoslawien wird durch keinen abstrakten Gewinn an Menschenrechten kompensiert, wo der konkrete Gewinn sowieso nicht mehr sichtbar ist.10

Die Invasion in Afghanistan 2001 wurde unter dem Schock der Ereignisse des 11. Septembers weitgehend akzeptiert und von der NATO mit der erstmaligen Ausrufung des Bündnisfalles gem. Art. 5 NATO-Vertrag gestützt. Die völkerrechtliche Grundlage war außerordentlich dünn, denn den USA gelang es nicht, ein Mandat durch den UNO-Sicherheitsrat für ihren Krieg zu bekommen. Es setzte sich allgemein die Rechtfertigung der Selbstverteidigung nach Art. 51 UNO-Charta durch, die auch von den nachfolgenden Resolutionen des UN-Sicherheitsrates nie in Zweifel gezogen wurde. Obwohl schon bald nichts eindeutig Identifizierbares mehr von dem eigentlichen Ziel der Angriffe, der Terrororganisation Al Qaida, in Afghanistan vorhanden war, dauert der »Selbstverteidigungskrieg« auch im sechsten Jahr noch an – eine völkerrechtliche Kuriosität, die mit Sinn und Wortlaut des Artikel 51 nichts mehr zu tun hat. Schon längst ist Al Quaida durch die Taliban ersetzt worden und damit der immer weiter ausufernde Krieg zur »humanitären Intervention« mutiert, um die Afghanen von den menschenrechtsverachtenden Taliban zu befreien.

Dies dient nicht nur den NATO-Staaten, sondern auch den unzähligen Nichtregierungsorganisationen als Legitimation ihres immer problematischeren Einsatzes. Allerdings sind auch bei diesem »humanitären Einsatz« – ähnlich wie 1999 in Jugoslawien – einige Konsequenzen deutlich geworden, die sich leider noch nicht in einem Umdenken der beteiligten Staaten niedergeschlagen haben.

Am Offensichtlichsten ist die Etablierung eines weiteren US-amerikanischen Protektorats in strategisch wichtiger Lage. Es soll die Dominanz der USA nach der Unterwerfung des Irak festigen und hat bereits zu einer neuen Front gegen den Iran geführt. Es spricht vieles für die Vermutung, dass der Sieg über den Iran und die Rekolonisierung des Mittleren Ostens das letztendliche Ziel des neuen US-Imperialismus ist. Dieser ganze Komplex Nah- und Mittelost – von den Ölquellen am Golf über die durch Israel besetzten Gebiete Palästinas bis zum türkischen Kurdistan – ist exemplarisch für die absolute Dominanz fremder nationaler Interessen über eine Friedensstruktur auf der Basis allgemein akzeptierter völkerrechtlicher Regeln. Dieses von kolonialen Interessen willkürlich in separate Staaten aufgeteilte Gebiet unterliegt heute ebenso gnadenlos den Öl- und Gasinteressen der industriellen Großmächte wie zur Zeit des Völkerbundes. Und keine der großen internationalen Rechtsordnungen hatte eine Chance, die nationalen Interessen der Großmächte in dieser Region zu zügeln. Wo von den westlichen Protagonisten Völker- und Menschenrecht derart vernachlässigt, ja bewusst mit Füßen getreten werden, muss man sich über Gestalten wie Saddam Hussein nicht wundern.

Zweitens wird in Afghanistan – wie in Jugoslawien – entgegen den Genfer Regeln kaum noch zwischen zivilen und militärischen Zielen unterschieden. Die Anzahl ziviler Opfer steigt ständig und kann schon lange nicht mehr als unvermeidbarer Kollateralschaden ausgegeben werden. Das hat drittens nicht nur zu einer politischen und humanitären Situation geführt, die in vielen Aspekten schlechter ist als zur Zeit der Talibanherrschaft (Sicherheit und Ordnung, Korruption, Drogenanbau und –handel), das hat auch zur Stärkung des neuen Gegners, der Taliban, selbst geführt. Unter dem humanitären Mantel des Menschenrechtsengagements kommt allzu deutlich der nackte Kampf um geopolitische Vorteile zum Vorschein.

Lieferte die »europäische Zivilisation« im 19. Jh. das ideologische Unterfutter für die Kolonisierung der Welt, so erfüllen heute die europäischen Menschenrechte den gleichen Zweck für die »humanitäre Globalisierung« der neuen Weltordnung. Sie sind der Kern der »Europäischen Wertegemeinschaft«. Würden sie zu einer Europäischen Grundrechtscharta verarbeitet und für Europas Bürgerinnen und Bürger auch mit einem Klagerecht versehen, so könnte das kaum Widerspruch provozieren. Wenn sie jedoch offensiv gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker gestellt und dessen Vertreter gleichzeitig als „Feinde der individuellen Menschenrechte“ denunziert werden11, so ist die Botschaft klar. Bot das Selbstbestimmungsrecht die Legitimation für die Dekolonisation, müssen die Menschenrechte nunmehr für die Rekolonisierung herhalten. In den Worten des EU-Kommissar für auswärtige Beziehungen Christopher Patten: „Wo Recht und Gesetz zusammenbrechen und die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, ist die Krise unausweichlich, und am Ende steht dann der militärische Eingriff.“12 Menschenrechtspolitik ist allemal Geopolitik. Es sollte uns nicht verblüffen, dass diese »humanitären Eingriffe« entgegen dem universalen Anspruch der Menschenrechte durchaus selektiv geschehen:

  • zwar auf dem Balkan, weil gleichsam im eigenen Haus, nicht aber in der Türkei, da von NATO-strategischer Bedeutung,
  • und auch nicht in Tschetschenien und Tibet, da Russland und China immer noch Nuklearmächte mit enormer ökonomischer Bedeutung für die NATO-Länder sind.

Um nicht missverstanden zu werden, ich plädiere nicht für eine militärische Intervention in der Türkei, Russland oder China, sondern für eine nichtmilitärische und nicht nach strategischen Interessen gestaffelte Menschenrechtspolitik.

Das tiefe Misstrauen und die tiefe Skepsis werden nicht durch Begriff und Inhalt der Menschenrechte hervorgerufen, sondern durch ihre Instrumentalisierung in der Rhetorik der neuen Werte-Ideologen und ihren militanten Einsatz zur Erweiterung der europäischen zu einer weltweiten Wertegemeinschaft.13 Denn wo die Ideologen schweigen oder naiv desinformieren,14 haben die Definitoren der Wertegemeinschaft bereits ausreichende Klarheit geschaffen. Die Menschenrechte spielen in der Werteideologie zwar eine propagandistische aber ansonsten nur eine Nebenrolle. Während ein Gremium von 62 eher unbekannten Parlamentariern noch über der Formulierung der Grundrechtscharta saß, haben bereits während des Jugoslawienkrieges die Staats- und Regierungschefs der 19 NATO-Staaten mit ihren Außen- und Verteidigungsministern in Washington am 24. April 1999 die harten materiellen Interessen der Wertegemeinschaft definiert. Wo im »euro-atlantischen Raum«, dessen Grenzen prinzipiell grenzenlos sind, ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von nationalen Staaten zu lokaler oder regionaler Instabilität führen, wo Terrorakte, Sabotage und organisiertes Verbrechen sowie die Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen die Wertegemeinschaft bedrohen, ist in Zukunft mit dem militärischen Eingriff der NATO zu rechnen.15 Hier haben die Menschenrechte erst ihre politische Heimat, die Wertegemeinschaft ihre volle Dimension und die humanitäre Globalisierung ihren definitiven Sinn gefunden.

Gelingt es uns nicht, die Menschenrechte aus diesem gefährlichen Verbund geostrategischer Interessen und humanitärer Intervention zu lösen, werden sie weiter für die nächsten Kriege benutzt. Die nächsten Kandidaten sind schon genannt: Iran und Venezuela. Aber gleichgültig, wer auf die Liste der »Achse des Bösen« gesetzt und mit Krieg bedroht wird, der Schaden ist bereits an dem Konzept der Menschenrechte entstanden. Seine Instrumentalisierung durch die Regierungen mächtiger Staaten zur Bedrohung der Souveränität von anderen, schwächeren Staaten diskreditiert es in seinem ursprünglichen Anspruch, die individuellen Rechte der Menschen gegen den Macht- und Willküranspruch des eigenen Staaten zu schützen. Die einzige Möglichkeit, die uns bleibt, ist, dieser Politik, die in den Krieg treibt, entschieden entgegen zu treten und der »humanitären Intervention« die Berufung auf die Menschenrechte zu versagen.

Anmerkungen

1) So z.B. J. H. Jackson: Sovereignty-Modern: A new Approach to an Outdated Concept, in American Journal of International Law 97 (2003), S.782 ff.

2) Walden Bello: Humanitäre Interventionen – Die Entwicklung einer gefährlichen Doktrin, in Znet Deutschland v. 14.01. 2006, http://www.zmag.de/artikel.php?print=true&id=1756.

3) Walden Bello: a.a.O.

4) ICISS: The responsibility to protect, Ottawa, Dezember 2001, Rdnr. 1.32

5) ICISS: a.a.O., Synopsis S. XI.

6) Vgl. Dieter Deiseroth: »Humanitäre Intervention« und Völkerrecht. In: Neue Juristische Wochenschrift, Heft 42 2000, S.3084; Norman Paech: »Humanitäre Intervention« und Völkerrecht. In Ulrich Albrecht, Paul Schäfer (Hrsg.): Der Kosovo-Krieg. Bonn 1999, 82 f.; N.Paech, Gerhard Stuby: Recht oder Gewalt?, in Ulrich Cremer, Dieter S. Lutz u.a.: Der NATO-Krieg, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Heft 5, Hamburg 1999, 36 ff.

7) Vgl. etwa Michael Mandelbaum: A Perfect Failure, in Foreign Affairs, Sept.-Okt. 1999, S.6.

8) Madeleine Albright: The Testing of American Foreign Policy, Foreign Affairs, Nov/Dec. 1998, 50ff.

9) Das Vorbereitungskomitee für ein Europäisches Tribunal über den NATO–Krieg gegen Jugoslawien hat in drei Bänden Materialien zum Nachweis der Völkerrechtswidrigkeit veröffentlicht. Herausgeber sind Wolfgang Richter, Elmar Schmähling, Eckart Spoo, Schkeuditzer Buchverlag 2000.

10) Harald Wohlrapp: Krieg für Menschenrechte? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft1, Berlin 2000, S.107 ff.

11) Richard Herzinger: Unheilsamer Wahnsinn/Hockt über grimmigen Waffen. Vom Versagen des Westens zum Krieg der Werte. In Thomas Schmid (Hg.): Krieg im Kosovo. Rheinbek 1999, S.253.

12) Christopher Patten: Europa muss seine Konflikte selbst lösen. In DIE ZEIT, Nr. 5, Hamburg 2000, 12).

13) Dieter Senghaas: Recht auf Nothilfe. Wenn die Intervention nicht nur erlaubt, sondern regelrecht geboten ist. In Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 158 v. 12. Juli 1999, S.12 .

14) Jürgen Habermas: Bestialität und Humanität. In DIE ZEIT, Nr. 18. Hamburg.

15) NATO: Neues Strategisches Konzept 1999, Nr. 20, 24.

Dr. Norman Paech, Professor i. R. für Öffentliches Recht an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP), wurde 2005 auf der Liste der »Linkspartei« als Parteiloser in den Bundestag gewählt.

Partizipation statt Diskriminierung!

Partizipation statt Diskriminierung!

Zum Integrationsalltag türkeistämmiger MigrantInnen

von Corinna Hauswedell, Stephan Sielschott, Aygül Özkan, Haci-Halil Uslucan, Petra Wlecklik, Tilmann Kammler, Miltiadis Oulios und Yasemin Karakasoglu

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 1/2011
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden

MigrantInnen im gleichen Boot mit den »Eingesessenen«?

Alltagserfahrungen blockierter und gelingender Teilhabe

von Corinna Hauswedell und Stephan Sielschott

Die öffentliche Debatte über Integration bewegte sich lange Zeit und in wiederkehrenden Wellen zwischen Ignoranz und Alarmismus und zeigte dabei gegenüber anderen Politikfeldern eine vergleichsweise hohe Reflexhaftigkeit und ein geringes Reflexionsniveau. »Brandsätze« materieller und verbaler Art waren meist schneller zur Hand als eine aufmerksame, die gleichberechtigte Teilhabe anvisierende Wahrnehmung und Begleitung der sich verändernden Lebenswirklichkeiten in »Einwanderungs-Deutschland«. Das Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahr 2000, das Zuwanderungsgesetz von 2005, die Integrationsgipfel und der Nationale Integrationsplan sowie die Islamkonferenzen ab 2006 kennzeichnen einen langen, holperigen Weg in neue politische Realitäten.

Immer noch sind Migration und Integration nicht nur hierzulande dankbare Themen für Populismus, für Feindbildproduktionen, Rassismus und für manifeste Gewalt. Das macht u.a. ihre Relevanz für eine friedenswissenschaftliche Zeitschrift aus und hat auch das vorliegende Dossier-Konzept inspiriert – Monate bevor Thilo Sarrazin uns die Kanäle füllte und im Überfluss Projektionsflächen bot für vorhandene Ängste und Irritationen auf Seiten der MigrantInnen und bei den »Alteingesessenen«.

Mindestens 20 Prozent der heute in Deutschland lebenden Menschen, rund 15,6 Millionen Kinder und Jugendliche, Eltern oder Großeltern haben Migrationserfahrungen. Zwar führt die Türkei die Liste der wichtigsten Herkunftsländer knapp vor den post-sowjetischen Ländern Osteuropas an, jedoch sind »nur« 2,9 Millionen Menschen bzw. weniger als 19 Prozent aller MigrantInnen türkischer Herkunft. Schon vor, jedoch erst recht »seit Sarrazin«, konzentrier(t)en sich die integrationspolitischen Debatten unverhältnismäßig stark auf Menschen türkischer bzw. arabischer Herkunft. Weitgehend unstrittig ist dabei, dass sich die Integration bzw. Partizipation vieler türkeistämmiger Menschen, auch im Vergleich zu anderen Herkunftsgruppen, bezüglich zentraler gesellschaftlicher Bereiche – Schule und Bildung, Erwerbstätigkeit, Politik, Medien etc. – defizitärer und problematischer gestaltet.

Weniger Einigkeit kennzeichnet jedoch die Auseinandersetzungen über Ursachen, Folgen und Problemlösungen. Der innerhalb der Mehrheitsgesellschaft hegemoniale Diskurs macht vorrangig die betroffenen MigrantInnen selbst für ihre Probleme verantwortlich, konfrontiert sie immer wieder mit dem Vorwurf, man schotte sich lieber in Parallelgesellschaften ab, anstatt sich zu integrieren, oder bestreitet gar ihre Integrationsfähigkeit. Kulturalistisch-religiöse Erklärungen, eine unsachgemäße Indienstnahme des Stigmas »muslimisch«, die Kontextualisierung von Terrorismusängsten prägen einen relevanten Ausschnitt dieser politischen und Medienagenda. Die als negativ gekennzeichneten Folgen gescheiterter Integration – Aggressionen und physische Gewalt, wirtschaftliche und finanzielle Belastungen, kulturelle Entfremdung und Degeneration usw. – werden vor allem mit Blick auf die Mehrheitsgesellschaft diskutiert, während die vorgeschlagenen Problemlösungen in der Regel bei den MigrantInnen ansetzen und vor allem auf Assimilation, Repression und Kontrolle fokussieren.

Dieser Diskurs übersieht oder verschleiert erstens, dass türkeistämmige MigrantInnen in zentralen gesellschaftlichen Feldern, in denen über die Verteilung ökonomischer, kultureller, sozialer und symbolischer Ressourcen und somit über Lebens- und Partizipationschancen entschieden wird, vielfach Opfer systematischer Diskriminierung oder struktureller Gewalt sind. Zweitens gerät häufig aus dem Blick, dass sich die Mehrheit der MigrantInnen trotz oder gerade wegen dieser Benachteiligungen um ein höheres Maß an Integration und Partizipation bemüht und in wichtigen Teilbereichen durchaus Erfolge zu verzeichnen sind. Zum Beispiel stellt das Jahresgutachten 2010 des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) fest, die Integration verlaufe im gesellschaftlichen Alltag weitgehend auf Erfolgskurs, und interessanterweise liegen die Einschätzungen von MigrantInnen und NichtmigrantInnen z.B. hinsichtlich der Integrationserwartungen an ZuwandererInnen oder der Zuschreibung von Verantwortlichkeiten für Integrationserfolge sehr nahe beieinander.1

Das vorliegende Dossier möchte diese blinden bzw. unterbelichteten Flecken der aktuellen integrationspolitischen Debatte beleuchten, indem es den Diskriminierungen gegenüber Menschen türkischer Herkunft auf der Mikroebene in drei zentralen Bereichen migrantischen Alltags – in der Arbeitswelt, in der Schule und in den Medien – nachspürt: Was behindert und blockiert Partizipation und wie sehen Mechanismen und Erfahrungen gelungener Integration aus? Wie wichtig sind Spracherwerb und frühe Bildungsangebote tatsächlich? Sind individuelle und institutionelle Formen der Anerkennung in der Schule probate Mittel gegen Identitätsbrüche und zur Gewaltprävention? Was behindert die Gleichstellungspolitik in Betrieben und Medien – Werte und Haltungen, falsche »Instrumente«? Was haben wir einem »entpolitisierten Multikulturalismus« entgegenzusetzen, wie stellen wir uns auf »Super-Diversity« ein?

Eine Grunderkenntnis scheint sich durch die vorliegenden Beiträge zu ziehen: Kulturelle bzw. ethnisch geprägte Identitäten werden im Zuge von zwei bis drei Einwanderer-Generationen zunehmend überlagert von den vorfindbaren sozioökonomischen Lebenswelten der Einwanderungsgesellschaft. Diese teilen die »Neudeutschen« mit den »Eingesessenen« der jeweiligen sozialen Schicht; das gilt sowohl und vor allem für die prekären Milieus der Unterschicht – denn MigrantInnen sind von der Umverteilung von unten nach oben besonders hart betroffen –, aber es gilt auch für die Lebenswelten der Mittelschicht bzw. für privilegiertere Kontexte. In keinem Land übrigens ist laut der neuesten PISA-Studie Bildungserfolg nach wie vor so abhängig von sozialer Herkunft wie in Deutschland. Entsprechend müssen auch Integrationskonzepte vor allem dort, also bei den sozioökonomischen Verhältnissen, ansetzen und nicht hauptsächlich bei der Behebung ethnisch skandalisierter Stigmata. „Niemand sollte der Vorstellung anhängen, eine Gesellschaft ohne MigrantInnen wäre bestens integriert“ (Miltiades Oulios).

Wir freuen uns, dass wir für dieses Dossier eine Reihe höchst qualifizierter Autorinnen und Autoren – Fachleute der Integrationsdebatte aus Politik und Wissenschaft – gewinnen konnten. Zu danken haben wir auch der Kollegin Lidwina Meyer von der Evangelischen Akademie Loccum für hilfreiche Anregungen bei der Beratung des Dossier-Konzeptes.

Anmerkungen

1) Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) (2010): Einwanderungsgesellschaft 2010. Jahresgutachten mit Integrationsbarometer.

Dr. Corinna Hauswedell ist Historikerin und leitet »Conflict Analysis and Dialogue« (CoAD) in Bonn; sie ist Mitherausgeberin des Friedensgutachtens und stellvertretende Vorsitzende von »Wissenschaft und Frieden«. Stephan Sielschott ist Diplom-Soziologe, M.A. Friedensforschung und Sicherheitspolitik, promoviert im DFG-Graduiertenkolleg »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« über das Framing medialer Stereotypisierungen und ist Redakteur der Zeitschrift »Wissenschaft und Frieden«.

„Unsere Gesellschaft ist schon lange nicht mehr homogen…“

Interview mit Aygül Özkan

Frau Ministerin, der Prozess der Integration und Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund kann als Zweibahnstraße beschrieben werden, auf der Aufnahmegesellschaft und MigrantInnen gleichermaßen aufeinander zu gehen müssen. Wie ist die diesbezügliche Realität aus Ihrer Sicht heute und was wäre künftig anzustreben, auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene? Welche Rolle sollten u.a. die Integrationsbeiräte spielen?

Integration ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, der – um im Bild zu bleiben – nicht nur auf einer »Zweibahnstraße«, sondern am besten auf dem Marktplatz stattfinden sollte. An einem Ort, der ausreichend Platz für Interaktion bietet. Integration erfordert Anstrengungen und Engagement von allen Seiten und auf allen Ebenen: von Bund, Ländern und Kommunen, von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen. Die deutsche Sprache ist der Schlüssel zur Integration. Kindergärten und Schulen sind die Orte, an denen unsere Gesellschaft zusammenwächst. Hier wird das Fundament für die Zusammengehörigkeit gelegt, hier werden die Weichen für den sozialen Aufstieg gestellt. Integration gelingt oder scheitert vielfach im Kleinen: im privaten Umfeld, im Verein, in der Elternversammlung, in der Nachbarschaft. Und da sind wir alle gefordert, jeder einzelne von uns. Wir brauchen Vertrauen ineinander, damit wir unsere Zukunft gemeinsam für unser Land gestalten können.

Erreicht ist die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund dann, wenn Menschen aus Zuwandererfamilien in allen Bereichen entsprechend ihrem Anteil in der Gesellschaft vertreten sind. Für eine Übergangszeit können auch die Integrationsbeiräte eine wichtige Rolle zur Vertretung von Zuwandererinteressen einnehmen. Langfristig gesehen setzen wir allerdings auf die Einbürgerung der Migrantinnen und Migranten. Die deutsche Staatsbürgerschaft ermöglicht ihnen die volle Teilhabe und die beste Voraussetzung zur Mitgestaltung.

Müssten neue politisch-normative Akzente eher auf Akzeptanz von Differenz (und ethnischer Vielfalt) oder auf Erreichung von (Chancen-) Gleichheit abzielen? Oder sehen Sie hier keinen Widerspruch? Sehen Sie einen neuen Bedarf für Initiativen zur erleichterten Migration (zirkuläre oder temporäre Migration, doppelte Staatsbürgerschaft etc.)?

Unsere Gesellschaft ist schon lange nicht mehr homogen – und war es bei genauer Betrachtung noch nie. Gesellschaftliche Vielfalt sollte in den Betrieben und Verwaltungen als Chance begriffen werden. So ist zum Beispiel die Mehrsprachigkeit, die die meisten Menschen mit Migrationshintergrund mitbringen, im Zeitalter der Globalisierung ein wertvolles Instrument, um neue Märkte oder Kundenkreise zu erschließen. Zudem sollte mit Blick auf den sich in vielen Bereichen abzeichnenden Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften das bisher oft brachliegende Fachkräftepotenzial bereits im Land lebender Zugewanderter gezielter erschlossen und für den Arbeitsmarkt verwertbar gemacht werden.

Wichtig ist, dass wir die Wirklichkeit anerkennen: Wir haben Einwanderer in unserem Land, ihre Kinder und Kindeskinder. Diese Menschen sind eine Chance für unser Land: Sie sind Kollegen und Wissenschaftler, sie sind Unternehmer und Künstler. Und wir werden angesichts des demografischen Wandels weitere Einwanderer brauchen.

Welche Instrumente in der Bildungspolitik haben sich bei gelungenen Integrationsbeispielen bewährt, welche nicht? Wo setzen Sie – zwischen frühkindlicher Erziehung und Hochschulzugang – die Hauptakzente und Prioritäten? Wie kann Schulung und Training der AusbilderInnen verbessert werden? Gibt es einen »niedersächsischen Weg«?

Bildung ist und bleibt der Schlüssel für eine erfolgreiche Integration. Damit einhergehend spielt das Beherrschen der deutschen Sprache die entscheidende Rolle. Wichtig ist es, frühzeitig anzusetzen. Sprachstandstest und Sprachförderung vor der Einschulung sind unverzichtbare Bausteine für den schulischen Erfolg aller Kinder. Ein bedeutsamer Ansatz in Niedersachsen ist darüber hinaus auch das beitragsfreie letzte Kindergartenjahr. Insbesondere Kinder, in deren Familien kein Deutsch gesprochen wird, sind auf die sprachliche Förderung in der Kita angewiesen. Wir müssen Eltern mit Migrationshintergrund davon überzeugen, wie wichtig ein möglichst früher Kindergartenbesuch für den Bildungserfolg ihrer Kinder ist. Die Fachkräfte in den Kitas werden – zum Beispiel durch das Niedersächsische Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung – durch spezifische Schulungen in interkultureller Kompetenz fortgebildet.

Des Weiteren müssen wir im Bildungsbereich den jeweiligen Übergängen, zum Beispiel von der Kita in die Schule oder von der Schule in die Ausbildung, unsere besondere Aufmerksamkeit widmen. In Niedersachsen haben wir verschiedene Projekte ins Leben gerufen, die an diesen Stellen ansetzen, zum Beispiel das so genannte »Brückenjahr« für den Übergang vom Kindergarten zur Grundschule und »Chancen nutzen – Perspektiven schaffen«, das durch gezielte Förderung die Ausbildungschancen von benachteiligten Jugendlichen mit Migrationshintergrund verbessern soll.

Welche Akzente würden Sie gern setzen beim Verzahnen von Bildungs- und Arbeitschancen? Was halten Sie von der These eines erstrebenswerten »Qualifikationsmix« von hoch- und niedrigqualifizierten MigrantInnen? Lassen sich etwa durch sozialpolitische Programme Ihres Hauses ressortübergreifende Förderstrukturen entwickeln (z.B. in Richtung beruflich spezifischer Sprachkompetenzen, Nachqualifizierung etc.)?

Bevor wir über weitere Förderstrukturen diskutieren, sollten wir die bereits bestehenden Förderansätze optimal einsetzen, um die angestrebten Ziele mit den Mitteln zu erreichen, die uns zur Verfügung stehen.

Die Diskussion über den Qualifikationsmix ist noch nicht abgeschlossen. Durch die Ausweitung von Aufgaben oder Qualifikationen, die Delegation von Verantwortung und die Einführung neuer Berufe werden sich die bestehenden Berufsbilder verändern. Sie sind die Antwort auf veränderte qualitative Ziele (mehr Qualität, berufliche Weiterentwicklung und besseres Arbeitsleben) und quantitativer Erfordernisse (Knappheit, Verteilungsprobleme und Kostenwirksamkeit). Die Nutzung dieser Option darf aber nicht dazu führen, dass Mitglieder der Aufnahmegesellschaft ihre Arbeit verlieren oder Einnahmeverluste erleiden. Bei den Einwanderern wiederum gilt es zu verhindern, dass sie nur die Lücken im Niedriglohnbereich füllen.

Für jede dieser Initiativen gilt, dass eine Unterstützung durch die betroffenen Fachorganisationen und die zuständigen staatlichen Stellen unverzichtbar ist. Initiativen für einen optimalen Qualifikationsmix müssen vom Bedarf geleitet sein und müssen überzeugend kommuniziert werden.

Aygül Özkan, geb.1971 in Hamburg; Studium der Rechtswissenschaften; seit 1998 Arbeit als Rechtsanwältin am Landgericht Hamburg; 1998-2010 Managerin bei der Deutschen Telekom AG und TNT Post Regioservice GmbH Hamburg; seit 2004 Mitglied der CDU; 2004-2008 Deputierte in der Behörde für Wirtschaft und Arbeit; seit 2008 Abgeordnete der Hamburgischen Bürgerschaft; bis 2010 Mitglied im Integrationsbeirat der Hansestadt. Seit dem 27. April 2010 Niedersächsische Ministerin für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration. Das Interview führte Corinna Hauswedell.

„Das Fremde hat ja immer zwei Aspekte…“

Interview mit Haci-Halil Uslucan

Herr Uslucan, hat Angela Merkel Recht: Ist Multikulti gescheitert?

Wenn man kulturelle Vielfalt als wünschenswert erachtet, macht es keinen Sinn, von Scheitern zu sprechen. Es geht hier um einen andauernden Prozess, der in den letzten 40, 50 Jahren immer stärker in Fahrt gekommen ist. Ich denke, Frau Merkel hat etwas aufgenommen, was vorher auch andere, zum Beispiel türkeistämmige Autorinnen gesagt haben. Denken Sie beispielsweise an Bücher wie etwa die von Seyran Ates,1 die einen sehr engen, sehr eingeschränkten Gesellschaftsbegriff haben und teilweise dazu neigen, eigene negative Erfahrungen, Momente des Scheiterns in den eigenen Lebens- und Umwelten als ein gesellschaftliches Scheitern zu betrachten.

Seit August 2010 sind Sie Leiter des Zentrums für Türkeistudien in Essen, das seinen Namen erweitert hat und jetzt »Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung« heißt. Was genau verstehen Sie unter »Integration«?

In der Tat ist der Begriff der Integration vieldeutig und es gibt viele Verständnisse, auch Missverständnisse. Ich glaube, es ist nicht sinnvoll, Integration so zu verstehen, dass sich ein kleiner Teil in ein Großes und Ganzes einfügt, einfügen muss. Ich meine, bei Integration sollte es viel mehr um Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen, um Partizipationsmöglichkeiten gehen, aber auch darum, welche Teilhabehindernisse es gibt, welche Teilhabewünsche und möglicherweise auch Ablehnungen existieren.

Die Debatte um Integration kreist zu häufig um den Gedanken, es seien nur MigrantInnen, die sich integrieren wollen und sollen. Wenn man es vom Gegenbegriff her versteht, wird dagegen klarer, dass nicht nur MigrantInnen »desintegriert« sein können. Auch andere Bevölkerungsgruppen partizipieren nicht in vollem Umfang an allen gesellschaftlichen Ressourcen.

Mit welchen Forschungsfragen rund um das Thema »Integration« beschäftigt sich Ihre Institution prioritär? Wo sehen Sie zukünftig erhöhten Forschungsbedarf?

Forschungsbedarf sehe ich vor allem bezüglich alltagsrelevanter Fragen. Wir müssen uns stärker darum kümmern, die Alltags- und Lebenswelt von MigrantInnen besser auszuleuchten. Auch Bildungsfragen finde ich sehr wichtig, Fragen von Erziehung und Gewalt, Gewaltprävention. Es muss darum gehen, elterliche Erziehungskompetenzen zu stärken. Zum einen gilt es, verschiedene MigrantInnen mit ihren Schwierigkeiten und Stärken zu erforschen, also nicht nur türkeistämmige, sondern bspw. auch arabischstämmige oder russischsprachige ZuwandererInnen.

Wenn man das Zusammenleben als einen Akt versteht, der von allen gesellschaftlichen Gruppen abhängt, dann reicht es jedoch nicht aus, nur MigrantInnen zu erforschen. Wir wollen unseren Blick auch auf die Mehrheitsgesellschaft richten und auf Wahrnehmungen so genannter Anderer, Fremder aufmerksam machen. Wir müssen uns die Frage stellen, wie das Bild von dem Anderen entsteht, um Wahrnehmungen auch ein Stück weit zu verändern.

Sie selbst forschen insbesondere auch zu psychosozialen Belastungen von Familien mit Migrationshintergrund sowie zu entwicklungspsychologischen Problemen von Kindern und Jugendlichen. Haben türkeistämmige Heranwachsende typischerweise andere Probleme als Kinder und Jugendliche aus deutschstämmigen Familien oder Familien anderer Herkunftsländer?

MigrantInnenkinder – und das gilt nicht nur für türkeistämmige Kinder – durchleben in der Regel eine intensivere Akkulturation als ihre Eltern. Schon die Unausweichlichkeit des schulischen Kontakts sorgt dafür, dass sie sich viel stärker verorten müssen, was bei ihren Eltern nicht zwangsläufig gegeben ist. Für viele Familien mit Migrationshintergrund gilt, dass die elterlichen Erwartungen einerseits und die öffentlichen Ansprüche andererseits nicht immer kompatibel sind.

Wenn die elterliche Erziehung beispielsweise eher auf die Vermittlung traditioneller Werte wie Gehorsam und Respekt abzielt, die Schule aber verstärkt Wert legt auf Selbstständigkeit und Kreativität, dann müssen Kinder vielmehr Balanceleistungen erbringen. Kinder aus MigrantInnenfamilien erfahren häufig so etwas wie eine Parentifizierung: Kinder werden Eltern ihrer Eltern, erbringen also Sozialisationsleistungen für ihre Eltern und übersetzen sowohl Sprache als auch Kultur. Hier entstehen tatsächlich spezifische Anforderungen und Belastungen für MigrantInnenkinder, die es in deutschstämmigen Familien so nicht gibt. Die deutsche Mutter muss ihr Kind nicht mit zum Arbeitsamt oder zum Frauenarzt nehmen, damit es dort übersetzt.

Thilo Sarrazin führt die seiner Meinung nach gescheiterte Integration türkeistämmiger Einwanderer in starkem Maße auf kulturelle und religiöse Ursachen zurück. Welche Bedeutung kommt dem Faktor Religion Ihren Erfahrungen nach zu, und welche anderen Variablen entscheiden über Integrationserfolg?

Sehr viele Studien belegen, dass es dem wirklichen Leben von MigrantInnen nicht gerecht wird, allein auf kulturelle oder religiöse Faktoren der Person selbst oder des Herkunftslandes zu fokussieren. Eine Expertise von Barbara Thiessen2 aus dem Jahr 2007 etwa zeigt, dass sich in Armut lebende muslimische Familien viel intensiver um ihre Kinder kümmern als Deutsche in ähnlichen Lebenslagen, nicht allerdings als die deutsche Mittelschicht. Man darf muslimische oder türkische Familien – die in der Regel ein deutlich geringeres Gehalt haben, deutlich häufiger in Armutsverhältnissen leben – nicht mit der typischen deutschen Mittelschichtfamilie vergleichen, denn abhängig von der Bildung und vom Einkommen können die Eltern zum Beispiel nachmittäglich kompensieren, was die Schule nicht leistet.

Generell wird dem Faktor Religion zu viel Bedeutung beigemessen, jedoch nur, wenn es um den Islam geht: Wenn ein deutscher Junge einen türkischen zusammenschlägt – was es ja auch gibt –, spricht man eher nicht davon, dass ein Christ einen Muslim zusammengeschlagen hat. Wenn aber ein arabischer Jugendlicher einen Deutschen verprügelt, dann ist häufig die Rede von einem muslimischen Gewalttäter.

Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die viel zitierte Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer,3 der bei Jugendlichen einen engen kausalen Zusammenhang zwi- schen muslimischem Glauben und Gewaltbereitschaft sieht?

Was die »Pfeiffer-Studie« angeht, so wurde in der öffentlichen Debatte aus einem bloß statistischen Befund ein politischer Befund gemacht. Innerhalb der Studie liegen die Korrelationswerte bei den Variablen für das Ausmaß muslimischen Glaubens einerseits und die Gewaltbereitschaft anderseits bei ungefähr 0.2. Weil bei großen Stichproben jedoch fast jeder Unterschied signifikant wird, sagen diese Ergebnisse fast nichts aus. Wenn man die Korrelationsstärken in Effektstärken umrechnet, fallen die Effekte der Variable Religionszugehörigkeit deutlich geringer aus und haben nicht mehr das Gewicht, das ihnen in der öffentlichen Debatte – auch von Christian Pfeiffer selbst – zugeschrieben wurde. Als Sozialwissenschaftler finde ich es – gerade angesichts des politischen Diskurses – unverantwortlich, nicht darauf hinzuweisen, was statistische Signifikanz eigentlich bedeutet. Für die Medien war das natürlich ein gefundenes Fressen. Man hat rechte Vorurteile bedient nach dem Motto, »das haben wir schon immer geahnt, und jetzt sagt es einer wissenschaftlich hieb- und stichfest«.

Auch die Daten der »Pfeiffer-Studie« zeigen jedoch, dass beispielsweise Geschlecht im Vergleich zu Religion eine viel stärker gewalterklärende Variable ist, sowohl in Bezug auf Deutsche als auch bei Nicht-Deutschen. Jugendgewalt ist meistens Jungengewalt und nicht Gewalt von Türkeistämmigen, denn bei türkeistämmigen Mädchen sind keine so hohen Gewaltraten zu verzeichnen. Es kommt also darauf an, mehrere Variablen gleichzeitig zu berücksichtigen.

Verschiedene Studien sehen Islamophobie als drängendes gesellschaftliches Problem. Woher kommen die Ängste und der Hass gegenüber dem Fremden?

Das Fremde hat ja immer zwei Aspekte, ist dialektisch zu betrachten: Es ist auf der einen Seite ein neugierig machendes Faszinosum und auf der anderen Seite bedrohlich. Gegenwärtig ist das Moment der Bedrohung ungleich größer.

Entscheidend scheint mir zu sein, dass die negative Berichterstattung der Medien über den Islam in den letzten Jahren zugenommen hat. Bestimmte, meist negative Bilder vom Anderen – gegenwärtig vor allem gegenüber dem islamischen Raum oder islamischen Kulturen – werden unter Zuhilfenahme der Kontexte Terrorismus, Fundamentalismus und Krieg medial konstruiert. Wir haben lange Zeit den IRA-Terror in Irland nicht als christlichen Terrorismus gesehen, während man immer geneigt ist, von islamischem Terrorismus, fundamentalistisch motiviertem Terrorismus usw. zu reden. Psychologisch betrachtet, handelt es sich hier durchweg um mortalitätssaliente Themen, die unangenehme Gefühle wecken, weil sie an die eigene Sterblichkeit erinnern. Es ist ein Klima entstanden, in dem unterschwellig eine Abwehrhaltung aktiviert wird, sobald es um den Islam geht.

Wie beurteilen Sie den von der Bundesregierung initiierten »Integrationsgipfel«, in dessen Rahmen verschiedene gesellschaftliche Gruppen mit dem Anspruch zusammenkommen, Probleme der Integration zu lösen? Reichen Selbstverpflichtungen aus, um die Partizipation von MigrantInnen voran zu bringen?

Selbstverpflichtungen können ein wichtiger Schritt sein, sofern sie effizient und effektiv umgesetzt werden und es nicht bei Symbolpolitik bleibt. Was wir nicht brauchen, ist eine Alibipolitik, die 300 neue Maßnahmen präsentiert und dann sofort wieder zum Tagesgeschäft übergeht und meint, das Problem wäre damit gelöst.

Worauf es mir aber besonders ankommt und welches Signal vom Integrationsgipfel und auch von der Islamkonferenz ausgehen müsste, das ist eine reflexive Haltung.

Wünschenswert wäre, dass politische und mediale Akteure stärker darauf achten, welche Stimmungen durch die Verwendung bestimmter Vokabeln, bestimmter Metaphoriken erzeugt werden. Dabei kann von Sprache auch eine entspannende und entkrampfende Wirkung ausgehen. Ich glaube, es muss viel bewusster werden, dass jede/r Einzelne schon durch die Wahrnehmung des so genannten Anderen, des Fremden, mit zum Gelingen oder Scheitern der Integration beiträgt und dass Integration keine Aufgabe ist, an der nur MigrantInnen zu arbeiten haben. Das würde ich mir wünschen, nicht nur weil ich selbst einen Migrationshintergrund habe, sondern eher als ein Sozialwissenschaftler, der auch verantwortlich ist für die Konstruktionen sozialer Tatsachen. Denn wir konstruieren durch unsere Sprache soziale Tatsachen.

Das Jahresgutachten 2010 des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration stellt zuallererst fest, die Integration verlaufe im gesellschaftlichen Alltag weitgehend auf Erfolgskurs. Warum vermitteln die öffentlichen Debatten den gegenteiligen Eindruck?

Erst einmal stimme ich diesem Befund des Sachverständigenrats völlig zu. Im Alltag sind die Dinge längst nicht so dramatisch, wie sie medial skizziert und aufbereitet werden. Dann meine ich, dass es schon auch gut ist, über Beispiele gelungener Integration zu sprechen: Cem Özdemir, Fatih Akin oder Vural Öger, um einige prominente Namen zu nennen. Das alleine reicht jedoch bei weitem nicht aus, da man dieses Argument immer neutralisieren kann, indem man sagt, es handele sich hier um prominente Ausnahmen oder wie Thilo Sarrazin es formulierte: Auch der Januar hat mal einen warmen Tag und trotzdem ist der Januar ein kalter Monat.

Viel wichtiger ist deshalb aus meiner Sicht, auf Beispiele der vielen völlig unauffällig lebenden MigrantInnen hinzuweisen, die es trotz schwieriger Ausgangsbedingungen irgendwie schaffen, ihren Alltag zu bewältigen. Gelingende Integration vollzieht sich meistens in aller Stille und bleibt unsichtbar, weil ihre ProtagonistInnen nicht auffallen, nicht durch Gewalttaten, aber auch nicht durch Höchstleistungen. Über die Normalität migrantischen Alltags zu sprechen, würde die Diskussion entkrampfen – auf allen Seiten.

Anmerkungen

1) Gemeint ist insbesondere das Buch »Der Multikulti-Irrtum: Wie wir in Deutschland besser zusammen leben können« von Seyran Ates aus dem Jahr 2008 (Anmerkung der Redaktion).

2) Gemeint ist die Studie »Muslimische Familien in Deutschland: Alltagserfahrungen, Konflikte, Ressourcen« von Barbara Thiessen aus dem Jahr 2007 (A.d.R.).

3) Gemeint ist die Studie »Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt« von Dirk Baier, Christian Pfeiffer, Julia Simonson und Susann Rabold aus dem Jahr 2009 (A.d.R.).

Haci-Halil Uslucan ist seit August 2010 wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen sowie Professor für Moderne Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen. Das Interview führte Stephan Sielschott.

Konsequente Gleichstellungspolitik

– ein Beitrag zu mehr Demokratie und Gerechtigkeit

von Petra Wlecklik

Anonyme Bewerbungen: NRW geht mit gutem Beispiel voran

Auch wenn Maßnahmen gegen Diskriminierung seit Jahren auf vielen Ebenen verschlafen wurden, das Arbeitsministerium in Nordrhein-Westfalen geht jetzt neue Wege: Es nimmt nur noch anonyme Bewerbungen an. Persönliche Angaben wie Name, Alter, Familienstand, Geschlecht oder auch Nationalität werden der Personalabteilung vorenthalten, und auch das klassische Bewerbungsfoto bekommt im ersten Schritt niemand auf den Tisch. Das Bundesfamilienministerium startete ein ähnliches Projekt, an dem vor allem privatwirtschaftliche Unternehmen teilnehmen. Es ist zunächst einmal auf ein Jahr angesetzt.

Initiiert wurde der Modellversuch von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Bei den Firmen handelt es sich um die Deutsche Post, die Deutsche Telekom, das Kosmetikunternehmen L’Oréal, den Geschenkdienstleister Mydays und den Konsumgüterkonzern Procter & Gamble. Endlich also ein Beispiel, das struktureller Diskriminierung vorzubeugen versucht. In der Vergangenheit gab es einige Initiativen. Diese sind jedoch meist auf der appellativen Ebene geblieben. Das heißt, bis heute lässt sich Ungleichbehandlung und Diskriminierung feststellen.

Dass bei gleicher Qualifikation der oder die deutsche BewerberIn dem oder der ausländischen vorgezogen wird, will allerdings niemand zugeben, ist jedoch immer häufiger der Fall. Eine Studie des Instituts zur Zukunft der Arbeit von 2010 zeigt, dass die Chance, zum Gespräch eingeladen zu werden, bei BewerberInnen mit nicht-deutschen Namen um 14 Prozent sinkt – bei kleineren Betrieben sogar um 24 Prozent. Es sind meist Klein- und Mittelbetriebe, die BewerberInnen mit einem nicht deutschen Namen zu Vorstellungsgesprächen erst gar nicht einladen. Jugendliche mit türkischen oder islamischen Namen waren von dieser Art struktureller Diskriminierung überdurchschnittlich häufig betroffen.

Diese Tatsachen sind jedoch nicht auf böse Absichten der Verantwortlichen zurückzuführen, sondern es liegt vielmehr ein System von struktureller Diskriminierung vor, das sich kontinuierlich entwickelt hat und bis zum heutigen Tage äußerst stabil ist. Es gibt Regeln, Normen, Routinen, Einstellungen und Verhaltensmuster in Institutionen, die teilweise sogar zunächst neutral erscheinen. Sie sind jedoch in gesellschaftliche und betriebliche Strukturen eingebettet, die zu einer ungleichen Behandlung von bestimmten Gruppen führen. Das wird gerne verschwiegen. Die daraus entstehende Aufteilung, die ethnische und geschlechtliche Spaltung der Arbeitsmärkte, wird stillschweigend zur Kenntnis genommen, die systematische Ausgrenzung akzeptiert.

Diese Schieflage in der Verteilung der Arbeit wird als Normalität hingenommen. Von Chancengleichheit kann nicht die Rede sein. Im Gegenteil, bestimmte Arbeitsverhältnisse und Beschäftigungsfelder bleiben für bestimmte Gruppen verschlossen. Nun gibt es eine Reihe von Erklärungen für diese Schieflage: historische, kulturelle, sprachliche, qualifikatorische. Wenn aber nach Jahrzehnten – trotz aller feststellbaren Veränderungen – nach wie vor eine systematisch zu nennende Ungleichbehandlung vorliegt, dann kann dies eindeutig nicht allein am Verhalten bzw. den (fehlenden) Voraussetzungen der diskriminierten Gruppe liegen.

„Wenn jahrzehntelang ein Ungleichheitszustand stillschweigend akzeptiert wird, wenn sich kaum jemand um die ungleichen Chancen beim Zugang zu Arbeit, in der Einstellungspraxis kümmert, dann ist eine strukturelle Schlussfolgerung berechtigt, die da lautet: In unserer Gesellschaft herrscht eine stillschweigende Anerkennung ungleicher Chancen und ungleicher Bedingungen vor. Ungleichheit dominiert als akzeptiertes gesellschaftliches Prinzip über Vorstellungen praktischer Solidarität, denn jegliche Ungleichheit geht auf Kosten einer Gruppe, während die andere profitiert.“ (Brüggemann/Riehle, 2000, S.12)

Selbst ein guter Schulabschluss führt nicht zum Ausbildungsplatz

Fatal wirken sich diese Haltungen vor allem für Jugendliche aus. Der überwiegende Teil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund absolviert die Hauptschule und hat so bereits einen schlechteren Start. Der Abbau von Ausbildungsplätzen (nicht nur in der Metallindustrie) verschärft die Konkurrenz unter Jugendlichen mit einem höheren Schulabschluss auf dem Ausbildungsmarkt und lässt die jungen Menschen mit Migrationshintergrund oft chancenlos zurück. So hatten von Jugendlichen mit Hauptschulabschluss 62 Prozent der SchülerInnen ohne Migrationshintergrund innerhalb eines Jahres einen Ausbildungsplatz. Bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund waren es dagegen nur 42 Prozent. Bei den SchülerInnen mit Realschulabschluss fanden 74 Prozent der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund einen Ausbildungsplatz innerhalb eines Jahres, aber nur 55 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund (Bundesinstitut für Berufsbildung, 2010).

Die Hürden für Jugendliche mit Migrationshintergrund an der ersten Schwelle zwischen Schule und Ausbildung haben zur Folge, dass sie häufig ohne Berufsabschluss bleiben. Jugendliche ohne Schulabschluss oder mit einem schlechten Hauptschulabschluss werden auf das Übergangssystem zwischen Schule und Beruf verwiesen, wo sie jedoch keine voll qualifizierende Ausbildung absolvieren können. So werden gesellschaftliche Zukunftschancen verschenkt und Ressourcen verschwendet. Individuelle Resignation, Perspektivlosigkeit und soziale Ausgrenzung werden gefördert.

Ohne Berufsabschluss keine existenzsichernde Arbeit

Jeder elfte Jugendliche ohne Migrationshintergrund hatte 2008 keinen beruflichen Abschluss. Bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund war fast jeder dritte ohne beruflichen Abschluss. So ist es nicht verwunderlich, dass Menschen mit Migrationshintergrund doppelt so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen sind wie Menschen ohne Migrationshintergrund. Sie sind deutlich seltener erwerbstätig als die Vergleichsgruppe (64,8 Prozent gegenüber 75,8 Prozent), wobei die Frauenerwerbsquote noch niedriger ist (52,3 Prozent gegenüber 68,8 Prozent). Die Erwerbsquoten bei der Gruppe mit türkischem Hintergrund sind besonders niedrig. Des Weiteren üben Menschen mit Migrationshintergrund doppelt so häufig gering qualifizierte Tätigkeiten aus wie Einheimische (46,6 Prozent gegenüber 24,9 Prozent) und sind häufig in fachfremden Arbeitsbereichen sowie in prekären Beschäftigungsverhältnissen anzutreffen (Dörre/Holst, 2010, S.38).

Ihre Beteiligung an beruflicher Weiterbildung ist im direkten Vergleich nicht einmal halb so hoch (Teilnahmequote bei Nicht-Deutschen von 13 Prozent und weniger; bei Deutschen ca. 26 Prozent, bei Personen mit ausländischem Lebenshintergrund: 19 Prozent).

In der Öffentlichkeit wird meist nur die »fehlende Ausbildungsfähigkeit durch schlechte Schulleistungen« oder die »mangelnde Qualifizierung« angeführt. Leistungen eignen sich aber besonders gut, um den betrieblichen Ausschluss nach außen zu legitimieren. Unternehmen und ihre Verbände machen von dieser Deutungsressource ausreichend Gebrauch. Vor diesem Hintergrund liegt jedoch das Integrationsproblem primär bei den Betrieben und Verwaltungen und nicht bei der fehlenden Integrationsfähigkeit. Auch wenn mit der anonymen Bewerbung nicht alle Defizite beseitigt werden, können die Chancen auf ein Vorstellungsgespräch durchaus gesteigert werden, was den BewerberInnen erst die Möglichkeit einräumt, ihre Sprachfähigkeiten und Fertigkeiten darzustellen (IG Metall Ressort Migration, 2010, S.1). Dieses strukturelle Defizit wurde bisher gar nicht oder nur halbherzig angegangen.

»Nationaler Integrationsplan« – ein erster Schritt zur nachholenden Integrationspolitik

2007 wurde unter Leitung der Bundesregierung der »Nationale Integrationsplan« (NIP) verabschiedet. Er beinhaltet zehn integrationsrelevante Themenfelder, u. a. frühkindliche Förderung, Bildung, Arbeitsmarkt, Medien, ehrenamtliches Engagement und Sport. Mehr als 376 Akteure und Organisationen aus Bund, Ländern, Kommunen, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Gewerkschaften und MigrantInnenselbstorganisationen engagierten sich in Arbeitsgruppen und verpflichteten sich zur Umsetzung.

Auch wenn die Grundstruktur des NIP nicht mehr als eine appellative Ideensammlung ist, bildet er eine nötige und hilfreiche Plattform für die weitere Arbeit. Das ist allerdings nach mehr als 40 Jahren »defensiver Erkenntnisverweigerung« und verfehlter Integrationspolitik mehr als notwendig. Das Bekenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und es demnach eine systematische Politik, die diese Realität anerkennt und gestaltet, geben muss, ist von großer Bedeutung. Vorbehalte und Vorurteile im Hinblick auf Ungleichbehandlung und Diskriminierung werden erwähnt. Jedoch sind in dem Plan keine verbindlichen und konkreten Lösungsansätze zur Beseitigung der strukturellen Ungleichbehandlung erkennbar. Die Maßnahmen richten sich mehr auf den Einzelnen als auf die Veränderung der strukturellen Bedingungen.

Wie bereits im »Integrationsbericht« (2009), vor allem aber auch auf dem 4. »Integrationsgipfel« (2010) deutlich wurde, sind kaum messbare Fortschritte erzielt worden. Vor allem in den Bereichen Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarkt gibt es einen dringenden Handlungsbedarf. So soll der NIP bis 2011 zu einem »Nationalen Aktionsplan« (NAP) mit konkreten, verbindlichen und überprüfbaren Zielvorgaben weiterentwickelt werden (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2010, S.2). Es bleibt abzuwarten, ob die bestehende strukturelle Diskriminierung wahrgenommen wird und ob die VertreterInnen der AG bereit sind, diese Verhältnisse zu ändern.

Betriebsfrieden contra Gleichstellung?

Die vielfältigen gewerkschaftlichen und betrieblichen Veranstaltungen, die im Zwischenbericht 2009 des Deutschen Gewerkschaftbundes veröffentlicht wurden, machen deutlich, dass der NIP auch für die Gewerkschaften neue und andere Türen aufgestoßen hat. Es ist allerdings auch hier festzustellen, dass die strukturelle Diskriminierung und Ungleichbehandlung in der betrieblichen Praxis konsequenter auf die Tagesordnung gesetzt werden muss. Die verantwortlichen Betriebsräte müssen beraten und geschult werden, um diese herausfordernde und nicht immer konfliktfreie Arbeit zu gestalten.

Obwohl es ausreichende Instrumentarien wie das Betriebsverfassungsgesetz, betriebliche und tarifvertragliche Vereinbarungen gibt, mit denen eine diskriminierungsfreie Personal- und Unternehmenspolitik und nachhaltige Integration entwickelt werden könnten, bleiben diese Instrumente häufig ungenutzt. Auch die ersten ansatzweise geführten Debatten zum Thema »Interkulturelle Gleichstellungspolitik« wurden aus unterschiedlichsten Gründen nicht weiterverfolgt (Proll, 2010). Die angebotenen zentralen und regionalen Seminare zur »Umsetzung des Allgemeines Gleichstellungsgesetzes« wurden kaum wahrgenommen.

Wie ist das möglich? Offenbar gibt es sehr unterschiedliche Begriffe von »Normalität«, hinter denen sich weitgehend anerkannte Muster von Ungleichbehandlung verbergen. Es ist wie ein Arrangement, „in dem die Elemente genau zusammen passen: Die einen halten die Verhältnisse für normal, weil sie keine Ungleichbehandlung erkennen (wollen), die anderen erkennen Ungleichbehandlung, halten sie aber (noch) nicht für veränderbar, sondern eher für normal. Diese Konstellation behindert Veränderungen, befördert auf allen Seiten ein Darüber-Hinwegsehen.“ (Brüggemann/Riehle, 2000, S.20 ff.). Dieses System ist äußerst stabil und lebendig. Die so geschaffene Stabilität entsteht zum einen aus einem »Bei uns machen wir das immer so!«, also einem informellen sozialen Kodex des betrieblichen Zusammenlebens, der den Beschäftigten Verhaltenssicherheit im betrieblichen Alltag bietet. Zum anderen basiert die Stabilität auf einer zentralen Regel, dem »Leistungsprinzip«. Mit dem Leistungsprinzip lassen sich Ungleichheiten im Betrieb objektiv und neutral begründen, sie werden legitim. Ausländische Beschäftigte leisten ihre Arbeit in den unteren Lohngruppen, weil sie eben über weniger sprachliche Fähigkeiten, Qualifikationen usw. verfügen.

So kann das Leistungsprinzip Diskriminierung sachlich begründen und zugleich das »Gleichheitsprinzip« verteidigen: Jedem werden schließlich dieselben Chancen zuerkannt; wer sie nicht realisiert, ist selber schuld. Diskriminierung wird unter diesen Umständen schwer nachweisbar. Dieses Arrangement sichert darüber hinaus auch den Betriebsfrieden, denn es verwandelt Ungleichbehandlung in normale und alltägliche Gegebenheiten. Betriebsräte versuchen bestimmte Konflikte zu vermeiden – aber wenn wir etwas verändern wollen, geht es nicht ohne Konflikte!

Nachahmenswerte Beispiele

Trotz der oben beschriebenen Tendenzen gibt es Akteure in den Betrieben, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, sich für Gleichbehandlung einzusetzen. Die IG Metall hat bereits 1996 eine Musterbetriebsvereinbarung für die Bekämpfung und Beseitigung von Diskriminierung vorgelegt. Einige Betriebe haben diese auch übernommen. Auf Grundlage einer solchen Betriebsvereinbarung werden bei ThyssenKrupp Steel in Duisburg-Hamborn seit 2001 »Kulturmittler« ausgebildet (ThyssenKrupp, 2008, S.44ff.): Gewerkschaftliche Vertrauensleute, Betriebsräte und andere Interessierte nutzen ihre erworbenen Kompetenzen, um betriebliche Konflikte zu erkennen und zu bearbeiten, für andere Kulturen zu sensibilisieren, aber auch um Aufklärung und Widerstand zu leisten gegen Gruppierungen wie Pro NRW und andere rechte Populisten.

In Seminaren zur betrieblichen Umsetzung des NIP, die wir seit 2008 als IG Metall Ressort Migration in Kooperation mit den Bezirken und Verwaltungsstellen durchführen, versuchen wir die o. g. Themen voranzutreiben. BetriebsrätInnen, Jugendausbildungsvertretungen und Schwerbehindertenvertretungen sollen für die strukturelle Diskriminierung und Ungleichbehandlung im Betrieb sensibilisiert werden. Sie sollen möglichst offen und ungezwungen über die betriebliche Praxis, die Befürchtungen und Konflikte sprechen. Bestehende Instrumente wie der »IG Metall Tarifvertrag zu Qualifizierung«, der »Tarifvertrag zur Förderung von Ausbildungsfähigkeit in NRW« (2008) und die Betriebsvereinbarung von Porsche bilden eine Grundlage in den Seminaren. Auch über rechtliche und finanzielle Möglichkeiten und Projekte wie »Deutsch am Arbeitsplatz« wird informiert.

Eine passgenaue Weiterbildung im Betrieb ist ein wesentlicher Beitrag zur Sicherung von Arbeitsplätzen. Aufgrund der arbeitsorganisatorischen Veränderungen im Betrieb wird das Thema Sprache, Kommunikation und Zertifizierung immer wichtiger. So wurde bei der HDW in Kiel in Zusammenarbeit mit dem Verein Passage e. V. ein fachbezogener Deutschkurs für Schweißer durchgeführt.

Die Gründung des paritätisch besetzten Ausschusses »Migration, Integration und Gleichstellung« der Hüttenwerke Krupp Mannesmann GmbH, Duisburg (2010) zur Förderung von Chancengleichheit bildet eine weitere konkrete Möglichkeit, das Thema diskriminierungsfreie Personalpolitik zu entwickeln.

Auch die Projektgruppe Integration bei Bosch in Feuerbach (2010) und der Integrationsbeauftragte des Betriebsrates (§ 80.3 BetrVG) setzen sich zum Ziel, die Potenziale zu wecken und zu nutzen, die Integration in der Ausbildung und im Erwerbsleben voranzutreiben und z. B. Hochqualifizierte mit Migrationshintergrund zu unterstützen. Ein wichtiges Thema dabei ist auch, die Entwicklungschancen im Hinblick auf die Qualifikation und Führungsaufgaben von MigrantInnen zu berücksichtigen und zu verbessern.

Auch wenn es noch viele ungeklärte Fragen gibt, sollten diese Beispiele ermutigen, der Ungleichbehandlung und Diskriminierung zu begegnen. Ein erster Schritt wäre es, die Verhältnisse und Strukturen so zu sehen, wie sie sind. Das erfordert Klarheit für Daten und Fakten. Eine systematische Bestandsaufnahme, ein betrieblicher Gleichstellungsbericht, der den Betriebsräten eine solide Grundlage bietet, wäre hilfreich. Denn solange Diskriminierung eine Glaubensfrage oder subjektive Meinung ist, solange werden wir in die Fallen der Vermutung und Zuschreibung treten. Es braucht aber auch Mut und einen langen Atem, um bestehende Bündnisse und betriebliche Arrangements aufzukündigen – vor allem auch dann, wenn man nicht der oder die Betroffene ist. Und es handelt sich nicht um Politik »für die anderen«, sondern um eine Politik der gemeinsamen Verantwortung. Es ist eine Politik im Sinne der Gerechtigkeit von allen hier lebenden Menschen und ein Beitrag zu mehr Demokratie.

Literatur

Antidiskriminierungsstelle des Bundes: www.antidiskriminierungsstelle.de.

Brüggemann, Beate / Riehle, Rainer (2000): Alltägliche Fremdenfeindlichkeit im Betrieb und gewerkschaftliche Politik, Berlin/Freiburg.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2010): Konzept zum Dialogforum: Arbeitsmarkt und Erwerbsleben, Berlin.

Bundesregierung (2007): Der nationale Integrationsplan, Berlin.

DGB Bundesvorstand (2008): Partizipation statt Ausgrenzung.1. Zwischenbericht zur Umsetzung des Nationalen Integrationsplans. Handlungsfelder und Aktivitäten gewerkschaftlicher Integrationspolitik.

Dörre, Klaus / Holst, Hajo (2010): Einschätzungen und Forschungsstand Prekarität, in: IG Metall Vorstand – Arbeitskreis Arbeitspolitik und Arbeitsforschung: Beiträge zur Arbeitspolitik und Arbeitsforschung. Frankfurt a. M.

Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen Abt. Bildung und Kultur (2001): Unterschiede wahrnehmen und Gemeinsamkeiten stärken, Düsseldorf.

IG Metall Ressort Migration (2007): Migrationspolitisches Positions- und Arbeitspapier. Frankfurt a. M.

IG Metall Ressort Migration (2010): Mehr Fairness und Chancengerechtigkeit. Frankfurt a. M.

IG Metall Vorstand (2008): Nationaler Integrationsplan, in: Zeitschrift IG Migration, 11. Ausgabe. Frankfurt a. M.

IG Metall Vorstand (2009): Zukünftige Migrationsarbeit in Betrieb und Gesellschaft, in: Zeitschrift IG Migration,14. Ausgabe. Frankfurt a. M.

Institut zur Zukunft der Arbeit (2010): Ethnische Diskriminierung am Arbeitsmarkt: Studie belegt Nachteile für Bewerber mit türkischen Namen, Bonn.

Passage GmbH. Koordinierungsstelle berufsbezogenes Deutsch (2009): »Jetzt habe ich verstanden!«, Hamburg.

Proll, Juan (2010): Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die Situation der MigrantInnen und Migranten in deutschen Betrieben, in: Website Migration-Integration-Diversity (MID) der Heinrich Böll Stiftung.

Siebenhüter, Sandra (2010): Neue Spaltungslinien am Arbeitsmarkt. MigrantInnen in Leiharbeit, Neuburg (Forschungsvorhaben der Otto Brenner Stiftung).

ThyssenKrupp Magazin (1/2008): Die Kulturdolmetscher, Duisburg.

Vorstand und Gesamtbetriebsrat der Thyssen Stahl AG (1996): Betriebsvereinbarung zur Förderung der Gleichbehandlung aller ausländischen und deutschen Belegschaftsmitglieder, Duisburg.

Wlecklik, Petra (2010): Migrantinnen in der Arbeitswelt, in: Schwitzer, Helga (Hrsg.): aktiv kompetent mittendrin. Frauenbilder in der Arbeitswelt, Hamburg.

Zentralstelle für die Weiterbildung im Handwerk e. V.(2010): Mit Recht zu Qualifizierung und Arbeit, Düsseldorf.

Petra Wlecklik, geboren 1960, gelernte Industriekauffrau, Politologin, Supervisorin, hauptamtlich Beschäftigte bei der IG Metall seit 1993, seit 4 Jahren im Ressort Migration, davor in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, arbeitet z. Zt. im Dialogforum 3 Arbeitsmarkt zur Weiterentwicklung des Nationalen Aktionsplans mit. Motto: „Unterschiede wahrnehmen und Gemeinsamkeiten stärken!“ Werte, die ihr Kraft geben: Gleichbehandlung und Gerechtigkeit.

Anerkennung durch Lebensweltbezug!

Eine Interventionsstudie gegen Gewalt an Schulen

von Tilmann Kammler

Der vorliegende Artikel präsentiert die zentralen Ergebnisse einer Studie, die zwischen 2008 und 2010 im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« der Universitäten Bielefeld und Marburg durchgeführt wurde. An einer hessischen Gesamtschule, die im Haupt- und Realschulzweig einen MigrantInnenanteil von 40 Prozent – darunter besonders viele türkeistämmige MigrantInnen – aufweist, wurde im Rahmen dieser Studie ein Hip-Hop-Projekt durchgeführt, das darauf abzielte, den SchülerInnen Anerkennung zukommen zu lassen, um damit eine Stärkung ihres Selbstkonzepts sowie ein Absinken der Gewaltrate zu erreichen.

Die Ausgangssituation: Anerkennungsdefizite und Gewalt

In den 1980er Jahren, so der Schulleiter, bezeichnete man die für diese Studie herangezogene Schule unter Alteingesessenen herabsetzend als »Türkenschule«. Ein Großteil der deutschen Eltern schickte seine Kinder auf andere Schulen. Um dieser Tendenz entgegen zu wirken, entwickelten die Schulleitung und das Kollegium nach und nach ein ausdrücklich multikulturelles Schulprofil. Ab 1986 wurde ein »Europaschulprogramm« eingeführt, 1990 gründete man den »Circle of International Partnerschools«, seit 1996 ist die Schule eine anerkannte »UNESCO-Projekt-Schule« und im Jahr 2006 führte man für den Haupt- und Realschulbereich die »gebundene Ganztagsschule« ein. Die SchülerInnenzahl ist von 500 im Jahr 1984 auf heute über 1.500 gestiegen. Gleichwohl ist auch diese Schule – trotz ihrer insgesamt positiven Entwicklung – weder konflikt- noch gewaltfrei.

Um den Einfluss institutioneller und sozioemotionaler Anerkennungsdefizite auf die Gewalttätigkeit der SchülerInnen an dieser Schule zu untersuchen, wurde zunächst mit 533 SchülerInnen eine Befragung durchgeführt. Hierdurch konnte ermittelt werden, welche von Eltern, LehrerInnen und MitschülerInnen gezeigten Verhaltensweisen SchülerInnen als Ausdruck verweigerter Anerkennung auffassen: Wenn SchülerInnen bspw. das Gefühl haben, herabsetzend oder gleichgültig behandelt zu werden, empfinden sie dies als Feindseligkeit ihnen gegenüber. Haben sie den Eindruck, das Lernen habe mit der Wirklichkeit wenig zu tun, so fühlen sie sich in ihren Weltzugängen negiert, während das Gefühl, über Regeln im Schulalltag nicht mitbestimmen zu können, Ohnmachtsgefühle und Aggressionen provoziert.

Gewalt innerhalb der Experimentalgruppe (Pre-Post)

Die Befragung zeigte außerdem, dass mangelnde institutionelle Anerkennung das Selbstkonzept der SchülerInnen schwächt. Die Betroffenen entwickeln etwa das Gefühl, unendlich viel lernen zu können, ohne den Ansprüchen der Schule gerecht zu werden, oder haben den Eindruck, weniger als alle anderen leisten zu können, und beteiligen sich aus Angst, etwas Falsches zu sagen, nicht mehr am Unterricht. Schließlich strahlt diese Unsicherheit im Schulalltag und darüber hinaus auf die ganze Persönlichkeit und das Selbstwertgefühl sowie die Sozialbeziehungen aus. Eindeutige statistische Belege fanden sich zudem dafür, dass SchülerInnen mit negativem Selbstkonzept relativ häufig gewalttätig werden und darüber hinaus ihr Interesse am Kontakt mit aggressiven Peer-Groups wächst. Auch das Klassenklima leidet nachweislich unter einer mangelnden institutionellen Anerkennung – Konkurrenz, Desintegration und mangelnder Zusammenhalt sind die Folge.

Mit Blick auf die untersuchte Schule ist jedoch zu beachten, dass mangelnde institutionelle Anerkennung und Desintegrationstendenzen hier – im Verhältnis etwa zur Vergleichsstichprobe der Forschungsgruppe Schulevaluation (N = 6.000) – noch relativ schwach ausgeprägt sind (vgl. Forschungsgruppe Schulevaluation, 1998). An anderen Schulen dürften die erwähnten Probleme also noch weitaus gravierender ausfallen.

Restriktive Interventionen und ihre negativen Folgen

Wenn die Ursachen für schulische Gewalt in der öffentlichen Diskussion thematisiert werden, geht es oftmals darum, Ursachen- und Verantwortungszuschreibungen an verschiedene Akteure und Umstände zu formulieren. Der Einfluss schwieriger familiärer Umstände auf eine problematische Sozialisation des Kindes ist wissenschaftlich gut belegt und unumstritten (vgl. etwa Mantell, 1972, S.46, u. Ettrich/Ettrich, 2006, S.66). Da die Schule auf diese schulexternen Bedingungen kaum Einfluss nehmen kann, stellt sich die Frage, welchen Spielraum sie überhaupt hat, um auf das Sozialverhalten der SchülerInnen positiv einzuwirken.

Zum Teil prägen Vorschläge die öffentliche Diskussion sowie die schulische Praxis, nach denen man insbesondere SchulverweigererInnen mit Härte und Konsequenz jede Anerkennung entziehen und sie durch Strafen maßregeln soll. Mit Hafeneger lässt sich sagen, dass die Debatte über abweichendes Verhalten von Jugendlichen von einem »neokonservativen Empörungsdiskurs« flankiert wird, in dessen Verlauf immer wieder empfohlen wird, auf angebliche Fehl- und Problementwicklungen der jungen Generation mit Missachtung, Verachtung und Nichtanerkennung zu reagieren (vgl. Hafeneger, 2009, S.40). Restriktive Interventionskonzepte befürworten in diesem Sinne tendenziell ein System der totalen Kontrolle auf Schulhöfen.

Ein in den USA durchgeführtes Interventionskonzept empfiehlt bspw. die Einrichtung eines Schulethos/Kodex im Rahmen einer »Null-Toleranz-Politik« gegenüber Abweichungen, vermehrte Überwachung und umfassende Beaufsichtigung der SchülerInnen durch LehrerInnen und Peer-MediatorInnen während der gesamtem Schulzeit sowie eine enge Zusammenarbeit mit den Strafbehörden und der Polizei (vgl. Scheithauer et al. 2003, S.172). Evaluationen mit 2.000 SchülerInnen ergaben jedoch, dass in Folge dieser restriktiven Maßnahmen zwar eine Minderung der offen ausgetragenen Gewalt, gleichzeitig aber ein Anstieg der Drangsalierungen, der Desintegration und der verbal rassistischen Viktimisierung einsetzte, die Konflikte letztlich also nicht reduziert, sondern verlagert und verschärft wurden (vgl. ebd., S.173).

Die Notwendigkeit der Anerkennung individueller Lebensweltbezüge

Viele LehrerInnen arbeiten tagtäglich daran, SchülerInnen mit Verhaltensauffälligkeiten und aus schwierigen sozialen Verhältnissen Wertschätzung und Anerkennung zuteil werden zu lassen, sie zu motivieren, ihnen Mut zuzusprechen und die Schule für sie zu einem Ort der Selbstentfaltung zu machen. Der Wert dieser Bemühungen kann mit Blick auf die Anerkennungstheorie von Axel Honneth plausibilisiert werden: Wenn SchülerInnen von ihren FreundInnen, LehrerInnen und Familien sozioemotionale und institutionelle Anerkennung entgegengebracht wird, bauen sie in der Folge Selbstvertrauen und Selbstwert auf und werden so dauerhaft befähigt, neue Herausforderungen anzugehen (vgl. Honneth, 1992, S.157). Fehlen ihnen diese alltäglichen Stabilisierungsmomente, so kann Gewalt in Stresssituationen zum Mittel werden, die verletzte Identität zu reparieren (vgl. Anhut/Heitmeyer, 2005, S.81).

Ein Problem ist dabei, dass der institutionelle Rahmen der Schule Ausgrenzungserfahrungen und Anerkennungsdefizite quasi vorprogrammiert, da Wertschätzung hier in der Regel nach verengten Maßstäben verteilt wird. Die besondere Anerkennung der leistungsstarken SchülerInnen und ihrer bildungsnahen habituellen Verhaltensweisen erzeugt eine Herabsetzung von SchülerInnen aus anderen Herkunftsmilieus und -schichten, die eigene feldspezifische Kapitalien im sozialen Vergleich als minderwertig empfinden. Dies hat zur Folge, dass SchülerInnen, deren primärer Habitus eine große Distanz zum schulisch geforderten und belohnten Habitus aufweist, besondere Anerkennung brauchen (vgl. Helsper et al., 2005, S.201).

Im Rahmen der eingangs erwähnten Befragung wurde deshalb erhoben, welche von Eltern, LehrerInnen und MitschülerInnen gezeigten Verhaltensweisen SchülerInnen als Ausdruck gezeigter Anerkennung empfinden: Wenn SchülerInnen bspw. das Gefühl haben, dass ihre LehrerInnen lernschwächere SchülerInnen fördern anstatt sie zu bestrafen, empfinden sie dies genauso als Zeichen der Anerkennung, wie wenn im Unterricht neben den Schulbüchern andere hilfreiche Lern- und Übungsmaterialien genutzt werden. Besonders wichtig ist es für SchülerInnen, eine Vertrauensbasis zu LehrerInnen zu haben und mit ihnen auch über persönliche Probleme sprechen zu können. Des Weiteren brauchen SchülerInnen das Gefühl, dass der Unterrichtsinhalt eine unmittelbare Bedeutung für ihr Leben außerhalb der Schule hat sowie Möglichkeiten der Mitbestimmung und der Interessenvertretung bietet.

Ein Hip-Hop-Projekt als Anerkennungsintervention

Konzeptionell war die auf den Ergebnissen der Befragung beruhende Interventionsstudie darauf ausgerichtet, 33 SchülerInnen einer Experimentalgruppe sechs Monate lang gezielt Anerkennung auf institutioneller Ebene zukommen zu lassen und damit eine Stärkung ihres Selbstkonzepts sowie ein Absinken der Gewaltrate zu erreichen. Die 33 TeilnehmerInnen des Projekts wurden zufällig aus einer Gruppe von 100 interessierten SchülerInnen ausgewählt. Dabei wurden der Experimental- und der Kontrollgruppe gleich viele gewalttätige SchülerInnen zugewiesen. Die Hälfte der SchülerInnen der Experimentalgruppe stammte aus Einwanderungsfamilien, wobei 30 Prozent der TeilnehmerInnen einen türkischen Migrationshintergrund hatten.

Aus den Ergebnissen der Befragung wurden konkrete Handlungsdirektiven abgeleitet, die den Umgang mit den 33 SchülerInnen des Interventionsprojekts anleiteten. Außerdem orientierte sich das Projekt an den Erfahrungen anderer Interventionsprojekte. Im Zuge einer Evaluation solcher Projekte fiel auf, dass insbesondere diejenigen Konzepte erfolgreich waren, welche auf einen stärkeren Lebensweltbezug des Schulalltags abzielten und implizite Belohnungssysteme – auch für leistungsschwächere SchülerInnen – etablierten. Angestrebt wurde im Rahmen des Interventionsprojekts deshalb, über implizite Belohnungssysteme Anerkennung zu generieren und darüber eine Integration in die Schulgemeinde zu fördern. Hierfür musste sichergestellt werden, dass die SchülerInnen während der Intervention Anerkennung und Bewunderung für eine Fähigkeit bekommen, mit der sie sich voll identifizieren können.

Zu Beginn des Projekts wurden die SchülerInnen zu ihren Musikpräferenzen befragt, um hieraus gezielt eine Maßnahme abzuleiten, welche die Interessen und Fähigkeiten der SchülerInnen anerkennt. Es stellte sich heraus, dass mit abnehmendem schulischen Erfolg die Vorliebe für Hip-Hop steigt. Dies kann damit erklärt werden, dass sich benachteiligt fühlende Jugendliche mit der Sprache des Hip-Hop häufig eine Möglichkeit finden, ihren Gefühlen sowohl des Ausgegrenztseins und der Verletztheit als auch des Wunsches nach Respekt und Anerkennung Ausdruck zu verleihen (vgl. Pape, 2001).

Im Rahmen des Schulprojekts arbeiteten im Anschluss 33 SchülerInnen sechs Monate lang gemeinsam daran, ein umfassendes Hip-Hop-Live-Programm auf die Beine zu stellen und ein Abschlusskonzert auszurichten, bei dem alle SchülerInnen einen funktionalen Beitrag leisten und über den Applaus der gesamten Schulgemeinde Anerkennung und Respekt ernten sollten. Dieses Angebot wurde den SchülerInnen im Rahmen des regulären Kunst- und Werken-Unterrichts gemacht, damit sie die Maßnahme als Ausdruck einer strukturellen Anerkennung durch die Schulleitung bzw. die Schule auffassen konnten. Für die Umsetzung ließen sich der Deutsche Beatbox-Vize-Champ von 2006, ein Hip-Hop-Tanztrainer und ein Musikproduzent gewinnen.

Während des Projekts entwarfen die SchülerInnen Graffiti und gestalteten damit einen 50m2 großen Bühnenhintergrund. Musikalisch interessierte SchülerInnen schrieben Reime für Hip-Hop-Songs und übten Beatbox-Techniken, technisch interessierte TeilnehmerInnen lernten, wie man mit Musiksoftware Beats programmiert, während andere eher sportlich interessierte SchülerInnen Tanzchoreographien für die von den RapperInnen entwickelten Lieder einübten. Auch die Planung und Organisation des Abschlusskonzerts wurde von den SchülerInnen selbst durchgeführt. Während des offen gestalteten Projektunterrichts konnten die TeilnehmerInnen selbst bestimmen, was sie zu welcher Zeit erarbeiteten. Zudem wurden die SchülerInnen über den Projektunterricht hinaus betreut, was sich in Form von Nachhilfe, Unterstützung bei familiären Schwierigkeiten und Vermittlung bzw. Interessenvertretung bei Konflikten mit LehrerInnen manifestierte.

Evaluation des Hip-Hop-Projekts

Im Ergebnis gelang es den musikalisch begeisterten SchülerInnen, zusammen mit dem Musikproduzenten 13 Songs zu komponieren, diese als CD in einem Tonstudio aufzunehmen und erfolgreich auf einem Abschlusskonzert zu präsentieren (vgl. das Photo auf der Titelseite dieses Dossiers). Das Konzert bot sowohl den LehrerInnen als auch den Eltern Anlass zu Freude und auch Stolz, da die Leistungen der SchülerInnen die in sie gesetzten Erwartungen weit übertrafen.

Auch die SchülerInnen waren von ihrem eigenen Erfolg überrascht. Eine türkeistämmige Schülerin fasste ihre Eindrücke wie folgt zusammen: „Aber, bei diesem Hip-Hop-Projekt, weil da alle unterschiedlichen Menschen dabei waren, verschiedene Nationalitäten – ich dachte, es wird nichts klappen. Ich so: Ach, können wir jetzt schon vergessen – die werden sich noch hier alle kaputt schlagen und so. Aber, jetzt haben wir uns alle kennengelernt. Wir haben gut zusammengehalten, obwohl es am Anfang ein bisschen stressig war, aber eigentlich hat es bis jetzt sehr gut geklappt. Ich bin immer noch geschockt, dass diese ganzen Leute auch zusammenhalten können, wenn die wollen.“

Durch standardisierte Befragungen vor, während und nach dem Projekt sowie ausführliche Interviews mit den SchülerInnen konnte dokumentiert werden, dass die angestrebte Umsetzung der Maßnahme erzielt wurde und welche Effekte die Intervention hatte. Nach Beendigung des Projekts wurden daher die Veränderungsraten der Experimental- und der Kontrollgruppe miteinander verglichen. Mit Blick auf die Experimentalgruppe stellte sich heraus, dass sich die Werte der institutionellen Anerkennung (SchülerInnenorientierung, emotionales Interesse, anti-autoritäres-Verhalten, Lebensweltbezug etc.), des akademischen und sozioemotionalen Selbstkonzepts (Sozialbeziehungen, Selbstwertgefühl, Leistungsattributierung, Schulangst) sowie der Anerkennung unter MitschülerInnen (Kohäsion, Solidarität) massiv erhöhten und die Bindung der SchülerInnen an aggressive Peer-Groups, das Ausmaß sozialer Etikettierungen und der Desintegrationstendenzen signifikant abnahmen, während in der Kontrollgruppe keine Veränderungen zu beobachten waren. Besonders auffällig waren die Veränderungen des Ausmaßes der Gewalttätigkeit innerhalb der Experimentalgruppe (vgl. Abb. 1, S.):

Sowohl weiche als auch mittlere und harte Formen der Gewalt wurden nicht nur signifikant weniger ausgeübt, sondern nahezu komplett eingedämmt. Als weiche Gewaltformen galten hier Klassenclownerien und Streiche spielen, bspw. das Ärgern und Hänseln von MitschülerInnen, Beleidigungen und Unterrichtsstörungen. Die Kategorie der mittleren Gewalt umfasste Sachbeschädigungen, Prügeleien und Mobbing, während unter harter Gewalt Raub, Erpressungen und schwere Körperverletzungen verstanden wurden.

In Folge der Intervention können somit drei elementare Feststellungen getroffen werden:

Erstens ist der Handlungsspielraum der Schule groß genug, um negative Einflüsse gesellschaftlichen Wandels zumindest stark abzumildern. Anstatt Gewalt allein durch schulexterne Faktoren zu erklären, muss vielmehr ein Zusammenhang zwischen den institutionellen Anerkennungsbilanzen und dem Gewaltverhalten der Schüler angenommen werden.

Zweitens sind Integrationsbemühungen von LehrerInnen, die mehr als reine Wissensvermittlung betreiben und auf die individuellen Lernvoraussetzungen und kulturellen Lebenswelten ihrer SchülerInnen respektvoll eingehen, eine zentrale Vorbedingung für einen konstruktiven Schulalltag und eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung der SchülerInnen.

Drittens ist davon auszugehen, dass eine Fokussierung auf soziale Zwangsmechanismen und die Negierung individueller Weltzugänge – als Gegenpol gezeigter Anerkennung – Probleme der Desintegration und Gewalt nicht behebt, sondern vielmehr mit verursacht. Hingegen ist die Öffnung der Institution Schule für die Lebenswelten der SchülerInnen ein notwendiges und geeignetes Mittel, um insbesondere SchülerInnen aus unterprivilegierten Schichten und Milieus zu stärken und das Schulklima insgesamt zu verbessern.

Literatur

Anhut, Reimund / Heitmeyer, Wilhelm (2005): Desintegration, Anerkennungsbilanzen und die Rolle sozialer Vergleichsprozesse, in: Heitmeyer, Wilhelm / Imbusch, Peter (Hrsg.): Integrationspotentiale einer modernen Gesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag, S.75-100.

Ettrich, Christine / Ettrich, Klaus U. (2006): Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche. Heidelberg: Springer.

Forschungsgruppe Schulevaluation (1998): Gewalt als soziales Problem in Schulen. Opladen: Leske & Budrich.

Hafeneger, Benno (2009): Aktuelle Situation der Kinder- und Jugendarbeit – ein Kommentar zur aktuellen Datenlage. In: Lindner, Werner (Hrsg.): Kinder und Jugendarbeit wirkt. Wiesbaden: VS Verlag, S.37-50.

Helsper, Werner / Sandring, Sabine / Wiezorek, Christine (2005): Anerkennung in pädagogischen Beziehungen – Ein Problemaufriss. In: Heitmeyer, Wilhelm / Imbusch, Peter (Hrsg.): Integrationspotentiale einer modernen Gesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag, S.179-206.

Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

Mantell, David (1972): Familie und Aggression. Zur Einübung von Gewalt und Gewaltlosigkeit. Eine empirische Untersuchung. Frankfurt a. M.: Fischer.

Pape, Winfried (2001): Jugend, Jugendkulturen, Jugendszenen und Musik – die Fortsetzung. In: Phleps, Thomas (Hrsg.): Populäre Musik im kulturwissenschaftlichen Diskurs II. Beiträge zur Popularmusikforschung. Bd. 27/28. Karben: Coda, S.233-252.

Scheithauer, Herbert / Hayer, Tobias / Petermann, Franz (2003): Bullying unter Schülern. Göttingen: Hogrefe.

Tilmann Kammler ist Stipendiat des DFG-Graduiertenkollegs »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« der Universitäten Bielefeld und Marburg.

Fallen der Vielfalt

MigrantInnen, Medien und ihre MacherInnen

von Miltiadis Oulios

Wir befinden uns im Jahre 2010 nach Christi Geburt. Ganz Deutschland befindet sich im Sarrazin-Fieber! Ganz Deutschland? Nein, ein von unbeugsamen Kosmopoliten bevölkertes Territorium im Reich der Medien leistet tapfer Widerstand. Die neuerliche Konjunktur des Salon-Rassismus kann ihm nichts anhaben. Die Rede ist von den Sendungen »Deutschland sucht den Superstar« und »Popstars«. Während in den Politmagazinen des deutschen TV unter der Überschrift „Özil hui, Ali Pfui“ nach dem Motto „Welche Zuwanderer brauchen wir?“ diskutiert wird, bewegt die Menschen im Paralleluniversum Casting-Show eine ganz andere, nicht minder weltbewegende Frage: „Schafft es Esra in die Band?“. Die Eltern der Kandidatinnen dürfen in die Kamera sagen, wie stolz sie auf ihre Mädchen sind und dabei ist egal, wie schlecht sie deutsch sprechen.

Der Erfolg solcher Formate liegt unter anti-rassistischen Gesichtspunkten darin begründet, dass die ins Auge springende »Vielfalt« nicht als solche thematisiert wird bzw. nicht mit einem pädagogisch anmutenden Auftrag daherkommt. Allzu nervtötend von »Vielfalt« zu sprechen, macht nämlich Menschen erst zu »Fremden«. Es gibt für uns nichts Zwiespältigeres als Situationen, in denen wir unser Gesicht, unseren Namen oder sonst etwas hinhalten sollen, um »Vielfalt« darzustellen, weil wir in diesem Moment zum »Anderen« werden, obwohl wir schon längst das »Normale« sind.

Selbst wenn man Casting-Shows albern oder langweilig findet – was sie richtig machen, hat die Autorin der Berliner tageszeitung (taz) Gabriele Dietze vor zwei Jahren mit dem schönen Wort von der »emotionalen Staatsbürgerschaft« beschrieben, welche diese Shows verleihen. Jugendlichen aus Einwanderungsfamilien werde diese zwar „auf der Ebene der Ausländergesetze, Fremdenfeindlichkeit und des Unterklassenstatus“ (Dietze, 2008) oft verweigert, in den Casting-Shows aber können sie sich ganz normal als ein Teil Deutschlands fühlen. Sehr viele der TeilnehmerInnen kommen aus Einwanderungsfamilien. Nicht nur, dass sich in diesem Kontext niemand darüber aufregt. Sie haben in diesen Shows das Gefühl, als Individuen aufgrund ihrer künstlerischen Fähigkeiten fair beurteilt zu werden und etwas schaffen zu können. Dass »Deutschlands Superstar« Merzad Marashi heißt, ist in einem Land, in dem in den 1990er Jahren noch Häuser von EinwandererInnen und Flüchtlingen angezündet wurden, ein Fortschritt. Gleichwohl ist auch dieses Phänomen problematisch, wenn wir fragen, zu welchen Metiers EinwandererInnen, schwarze Deutsche oder Flüchtlingskinder in Deutschland Zugang haben und zu welchen weniger.

Schreiben statt singen – mit der gefühlten Quote zur Gleichstellung?

Der Medienforscher Klaus Merten fand in einer Medienanalyse schon in den 1980er Jahren heraus, dass AusländerInnen in deutschen Medien am positivsten dargestellt wurden, wenn sie Gäste, SportlerInnen oder KünstlerInnen waren, ohne dass dies an der im Allgemeinen eher negativen Darstellung von AusländerInnen etwas änderte (vgl. Müller, 2005, S.93). Das Rollenmodell des migrantischen, deutschen Superstars vermittelt zudem ein falsches Bild davon, was den Erfolg in der Gesellschaft tatsächlich garantiert. Was in der Breite Erfolg verspricht, ist eben nicht Singen- und Tanzen-Können, sondern Bildung. Wenn MigrantInnen in den Medien im Unterhaltungsbereich immer weniger aufgrund ihrer Herkunft behindert werden, wie sieht es dann im Informationsbereich aus?

„Wir stellen aber niemanden ein, nur weil er Türke ist“, sagte die Redakteurin. Dies berichtete ein mir bekannter junger Deutsch-Türke von seinem Vorstellungsgespräch bei einer Berliner Tageszeitung. Da sei er erst mal sprachlos gewesen. Mittlerweile hat er ein Volontariat bei einer anderen Zeitung im Rheinland begonnen. Die beschriebene Situation ist symptomatisch. Normalerweise beklagen deutsche Tageszeitungen, sie hätten eben zu wenig migrantische BewerberInnen, wenn sie auf die geringe Repräsentanz von EinwandererInnen im deutschen Journalismus angesprochen werden. Andererseits tut sich etwas, und die Forderung nach mehr MigrantInnen in den Medien ist überall in der Branche wahrgenommen worden. Das führt zu dem am Anfang dieses Absatzes zitierten Ausspruch, der Vielerlei aussagt: Offensichtlich ist es noch nicht selbstverständlich, »TürkInnen« als JournalistInnen einzustellen. Zwar gehört Offenheit zum heutigen Selbstverständnis dazu, den Eindruck, man würde nun konsequenterweise »affirmative action» betreiben, sei dazu gar politisch angehalten, möchte man jedoch vermeiden. Wäre der Satz „Wir stellen aber niemanden ein, nur weil er eine Frau ist“ heute noch denkbar?

Dennoch ist heute vermehrt zu beobachten, dass kluge Redaktionen migrantische MitarbeiterInnen einstellen – wie etwa eine große Tageszeitung im Ruhrgebiet, die nun eine feste Stelle in der politischen Hauptredaktion mit einer türkeistämmigen Mitarbeiterin besetzte, welche sich zuvor auf befristeten Stellen im Lokalteil ihre Meriten verdiente. Der Unternehmenssprecher sah bei einer Nachfrage meinerseits zwei Jahre zuvor noch überhaupt keinen Handlungsbedarf bezüglich dieses Themas. Inzwischen sind also Zeichen des »Aufwachens« zu erkennen – wenn auch nicht an jedem Ort in gleichem Maße.

Im »Nationalen Integrationsplan« der Bundesregierung steht, es sei erforderlich, Maßnahmen und neue Wege zur Verstärkung der Ausbildung von JournalistInnen mit Migrationshintergrund zu schaffen (vgl. Bundesregierung, 2007, S.159ff., u. Bundesregierung, 2010, S.76ff.). Auch der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger saß am Tisch des Integrationsgipfels, hat aber keine Selbstverpflichtung unterschrieben – dazu wären die Zeitungsverlage nicht in der Lage. Deren Vertreter sollen relativ erbost aus der Konferenz gegangen sein, weil ihnen Druck gemacht wurde.

Auch drei Jahre danach steht das Thema, wie Zeitungen mehr Journalistennachwuchs mit Einwanderungshintergrund gewinnen können, nicht sehr weit oben auf ihrer Agenda.

Dabei belegen die Zahlen eindeutig, dass es in Deutschland zu wenig JournalistInnen mit Einwanderungsgeschichte gibt. Fast 20 Prozent der Bevölkerung besitzen einen Migrationshintergrund (vgl. Statistisches Bundesamt, 2006), während nur zwei bis drei Prozent der JournalistInnen in Deutschland MigrantInnen sind (vgl. MMB Institut für Medien- und Kompetenzforschung, 2008, S.5) und der MigrantInnenanteil bei den Zeitungen sogar nur 1,2 Prozent beträgt (vgl. Geißler et al., 2009, S.92). In etwa 80 Prozent der deutschen Zeitungsredaktionen bleiben die »Biodeutschen« unter sich.

Geht man davon aus, dass JournalistInnen nicht nur ein beliebiges Produkt herstellen, sondern für die Herstellung demokratischer Öffentlichkeit eine wichtige Funktion innehaben, handelt es sich bei der beschriebenen statistischen Diskrepanz unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten um ein alarmierendes Defizit. Diese Analyse kollidiert natürlich mit tradierten Vorstellungen einer national homogenen Gemeinschaft »weißer« Deutscher, als deren Repräsentation Medien zu fungieren hätten. Noch in den 1970er Jahren etwa gab es rechtliche Hürden, die der Festanstellung von AusländerInnen als RedakteurInnen in einer öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt entgegen standen.

Nicht zuletzt aus demokratietheoretischen und -praktischen Gründen müssen sich Medien in Deutschland also das Ziel setzen, ihren Anteil an JournalistInnen mit Einwanderungshintergrund zu erhöhen und dabei insbesondere BewerberInnen berücksichtigen, deren Eltern nicht der Mittelschicht entstammen und keine AkademikerInnen sind.

In qualitativen Interviews mit migrantischen Nachwuchs-JournalistInnen, aber auch mit deutsch-stämmigen EntscheiderInnen, kristallisierten sich fünf Gründe heraus, die als Hürden für Menschen mit Einwanderungsgeschichte beim Zugang zum Journalismus fungieren (vgl. Oulios, 2009, S.128ff.): soziale Exklusion (»closed-shop-Phänomen«), Zweifel an der Qualifikation, Begrenzung auf Nischen-Themen, Verteilungskämpfe um Privilegien und gute Jobs sowie Konfliktpotential bei einem kritischen Blick auf den deutschen Mainstream.

In vielen Bereichen findet ein Umdenken statt. Am bekanntesten sind die neuen Fernsehgesichter. Uns allen sind unter anderen die Moderatorinnen Dunja Hayali beim »heute journal« des ZDF oder Asli Sevindim in der »Aktuellen Stunde« des WDR aufgefallen. Der Bayerische Rundfunk hat kürzlich ein Casting organisiert, bei dem er eine/n türkeistämmige/n RedakteurIn für eine neue Kindersendung suchte, ebenso suchte die ZDF-Kindersendung »Logo» migrantische BewerberInnen. Der WDR organisiert seit einigen Jahren die Talentwerkstatt »grenzenlos«, wobei immer wieder TeilnehmerInnen Volontariate erhalten, das ZDF besetzt neuerdings Trainee-Stellen bewusst mit MigrantInnen, RTL bietet mit dem »Com.mit-Award« SchülerInnen die Möglichkeit, das Fernsehgeschäft kennen zu lernen, die Berliner tageszeitung hat für MigrantInnen in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung Volontariatsstellen geschaffen, und die Axel-Springer-Akademie betont neuerdings, dass BewerberInnen mit interkulturellen Kompetenzen erwünscht sind. In den letzten Jahren hätte sich dort der Anteil von Volontären mit doppelter Staatsbürgerschaft auf über zehn Prozent erhöht.

Nun haben wir aber im Herbst 2010 gesehen: Nur weil die irakisch-stämmige Dunja Hayali die Nachrichten spricht, heißt das nicht, dass sie nicht auch News ansagen muss, die rassistische Klischees bedienen. Auch im Jahr 2010 konnte eine konservative Medienkampagne mit rassistischen Untertönen à la Sarrazin und Co. prima landen. Umgekehrt finden keine breit angelegten Mediendebatten etwa über Diskriminierungserfahrungen junger MigrantInnen statt. Anlässe gibt es durchaus. Eine Untersuchung des Bundesinstituts für Berufsbildung in Bonn etwa kommt zu dem Ergebnis, dass junge Menschen mit Migrationshintergrund auch bei gleichen Schulabschlüssen und Schulnoten bis zu 20 Prozent geringere Chancen auf einen Ausbildungsplatz haben (vgl. Beicht/Granato, 2009). Die institutionelle Diskriminierung im deutschen Schulwesen ist weitgehend erforscht und wurde sogar von den Vereinten Nationen kritisiert, ohne dass sie medial entsprechend konzertiert und explizit skandalisiert würde.

Medien-Politik – Vielfalt oder Gegenmacht?

Es reicht also nicht aus, unausgesprochene Quoten zu erhöhen. Mithin müssen sich Staat und Unternehmen schon deshalb ein Stück weit öffnen, um EinwandererInnen und ihre Nachkommen besser als Zielgruppe zu binden. Wie aber auch der slowenische Philosoph Slavoj Zizek anmerkt: „Was, wenn der entpolitisierte Multikulturalismus die Ideologie des derzeitigen globalen Kapitalismus wäre?“ (2001, S.13). Die EinwandererInnen sind in der Bundesrepublik unterschichtet worden und die Arbeiterschicht ist damit ethnisiert worden. Es wäre fatal, so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre, wenn deutsche Institutionen nur etwas »bunter« würden. Das ist zwar dringend notwendig, sollte aber nicht davon ablenken, dass Haushalte mit Einwanderungshintergrund in Deutschland drei Mal so häufig von Armut betroffen sind wie andere Haushalte. Und wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) dieses Jahr mitteilte, wächst die Kluft zwischen Arm und Reich weiter (vgl. Goebel et al. 2010).

Die anfangs zitierten Casting-Shows bedienen daher auch einen Leistungsmythos und das neoliberale Dogma: „Du kannst die Nr. 1 werden, wenn Du dich nur anstrengst und deine KonkurrentInnen aus dem Feld schlägst.“ Diese Ideologie ist die Begleitmusik zu einer Umverteilung von unten nach oben, die in Deutschland in den vergangenen Jahren stattgefunden hat und von der MigrantInnen besonders betroffen sind – eine Politik, welche die Voraussetzungen für Chancengleichheit untergräbt, aber kein Problem damit hat, sich den Slogan »Offenheit für Vielfalt« an die Brust zu heften.

Um mit der journalistischen Praxis zu schließen: Dass mit einer neuen personellen »Vielfalt« automatisch ein »anderer Blick« in die Medien einzieht, ist nicht ausgemacht. In der Wissensgesellschaft, im »kognitiven Kapitalismus«, in dem das Leben selbst, die Erfahrungen und Wünsche der Menschen zu Geld gemacht werden, müssen auch die Subjektivitäten der »Anderen« mit ihrem Wissen in Wert gesetzt werden. Über die Definition des Ein- und Ausschlusses wird die Art ihrer Ausbeutung definiert (vgl. auch Negri, 2007, S.24).

Eine Politik, die dieser Macht entgegen zu setzen wäre, müsste beim Einbringen von migrantischem Wissen »übers Ziel hinaus schießen«. Wie könnte das praktisch aussehen? Ich habe 2001 mit anderen MitstreiterInnen das Video-Aktivismus-Projekt »Kanak TV« gestartet (vgl. www.kanak-attak.de/ka/kanaktv.html). Einer unserer Kurzfilme hieß »Weisses Ghetto«. Thema waren die Abschottungstendenzen der Alteingesessenen in einem Stadtteil mit unterdurchschnittlicher AusländerInnenquote – alles mit bissiger Ironie versehen, aber durchaus ernst gemeint. In der professionellen Medienpraxis würde »übers Ziel hinaus schießen« bspw. bedeuten, in der Berichterstattung über den Hamburger Schulstreit die Integrationsverweigerung der Hamburger Oberschicht als eben solche zu thematisieren. Wir befinden uns im Jahre 2010 nach Christi Geburt. Niemand sollte der Vorstellung anhängen, eine Gesellschaft ohne MigrantInnen wäre bestens integriert.

Literatur

Beicht, Ursula / Granato, Mona (2009): Übergänge in eine berufliche Ausbildung – Geringere Chancen und schwierige Wege für junge Menschen mit Migrationshintergrund. WISO-Diskurs, Friedrich-Ebert-Stiftung.

Bundesregierung (2007): Der Nationale Integrationsplan. Neue Wege – Neue Chancen. Berlin.

Bundesregierung (2010): Nationaler Integrationsplan. Erster Fortschrittsbericht. Berlin.

Dietze, Gabriele (2008): Eine Heimat für Migranten. die tageszeitung (taz) vom 18.3.2008.

Geißler, Rainer / Enders, Kristina / Reuter, Verena (2009): Wenig ethnische Diversität in deutschen Zeitungsredaktionen. In: Geißler, Rainer / Pöttker, Horst (Hrsg.): Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland. Bielefeld: transcript, S.79-117.

Goebel, Jan / Gornig, Martin / Häußermann, Hartmut (2010): Polarisierung der Einkommen: Die Mittelschicht verliert. In: DIW Wochenbericht 24/2010.

MMB Institut für Medien- und Kompetenzforschung (2008): Expertise »Ausbildung von Volontärinnen und Volontären in den Medien«.

Müller, Daniel (2005): Die Darstellung ethnischer Minderheiten in deutschen Massenmedien. In: Geißler, Rainer / Pöttker, Horst (Hrsg.): Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland. Bielefeld: transcript, S.83-126.

Negri, Antonio (2007): Zur gesellschaftlichen Ontologie. Materielle Arbeit, immaterielle Arbeit und Biopolitik. In Pieper, Marianne / Atzert, Thomas / Karakayali, Serhat / Tsianos, Vassilis (Hrsg.): Empire und die biopolitische Wende. Frankfurt a.M.: Campus, S.17-31.

Oulios, Miltiadis (2009): Weshalb gibt es so wenig Journalisten mit Einwanderungshintergrund in deutschen Massenmedien? Eine explorative Studie. In: Geißler, Rainer / Pöttker, Horst (Hrsg.): Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland. Bielefeld: transcript, S.119-144.

Statistisches Bundesamt (2006): Leben in Deutschland: Haushalte, Familien und Gesundheit – Ergebnisse des Mikrozensus 2005. Wiesbaden.

Zizek, Slavoj (2001): Ein Plädoyer für die Intoleranz. Wien, Passagen-Verlag.

Miltiadis Oulios ist freier Journalist und lebt in Düsseldorf. Er ist als Autor für den WDR-Hörfunk und Tageszeitungen tätig und moderiert das deutsch-griechische Magazin »Radiopolis« im Funkhaus Europa. Seit 2007 untersucht er die Repräsentanz migrantischer JournalistInnen in deutschen Medien.

Partizipation in einer Gesellschaft der „Super-Diversity“

Neue Ansätze der Integrationsforschung und Impulse für die Integrationspolitik

von Yasemin Karakasoglu

Das vorliegende Dossier der Zeitschrift »Wissenschaft und Frieden« widmet sich den türkeistämmigen MigrantInnen in Deutschland auf sehr vielfältige Weise. Zu Wort kommen türkeistämmige Personen aus Wissenschaft und Politik, ergänzt durch Berichte über Erfahrungen mit der Integration dieser Zielgruppe in den Medien, der Arbeitswelt und im Bildungsbereich. Damit versucht das Dossier, über ganz konkrete Beispiele pauschalisierender Darstellungen von »dem« Stand »der« Integration türkeistämmiger Personen, erfolgt etwa durch die bekannte Studie »Ungenutzte Potentiale« des Berlin-Instituts (vgl. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, 2009) oder aber auch durch Behauptungen Thilo Sarrazins in seinem Buch »Deutschland schafft sich ab«, kritisch zu hinterfragen.

Interessant ist zunächst, wie unterschiedlich die niedersächsische Ministerin Aygül Özkan und der Wissenschaftler Haci-Halil Uslucan den Begriff »Integration« interpretieren (vgl. auch die betreffenden Interviews in diesem Dossier). Auch wenn Frau Özkan zunächst darauf hinweist, dass es sich hier um einen gesamtgesellschaftlichen Prozess handle, der von allen Beteiligten – Personen mit wie ohne Migrationshintergrund – „Anstrengungen und Engagement“ erfordere, münden ihre Ausführungen doch in der Feststellung, Integration sei erreicht, wenn Menschen aus Zuwanderungsfamilien in allen Bereichen der Gesellschaft entsprechend ihrem Anteil an der Gesellschaft vertreten seien. Als Übergangsinstrument wird der Integrationsbeirat akzeptiert; langfristig sei eine vollständige Integration – gemeint als volle Teilhabe – jedoch nur über die Übernahme der Staatsangehörigkeit möglich.

Das Eingangspostulat, Integration sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, wird somit nicht für alle Akteure ausbuchstabiert, denn inwiefern sich Menschen ohne Migrationshintergrund in eine gesellschaftliche Wirklichkeit integrieren können oder sollen, in der etwa Großstadtkultur vor allem eine Kultur der »Super-Diversity« (vgl. Vertovec, 2007) bedeutet, an der alle Bürger der Stadt – mit und ohne Migrationshintergrund – in unterschiedlicher Verknüpfung zu Diversitätsdimensionen wie Geschlecht, Alter, Behinderung, soziale Schicht, sexuelle Orientierung teilhaben und in der sich keine originär deutschstämmige Mehrheitsgesellschaft mehr ausmachen lässt, wird nicht erläutert.

Anders Haci-Halil Uslucans Verständnis von »Integration«, das sich konsequent an alle Teile der Gesellschaft wendet, und der angesichts eines in Gesellschaft und Politik verbreiteten Integrationsverständnisses, das nur von MigrantInnen fordert, sich zu integrieren (und damit eigentlich Assimilation meint), irritierend fragt, ob im Umkehrschluss nur MigrantInnen »desintegriert« sein könnten. Die von Frau Özkan angesprochenen Anstrengungen und das Engagement aller Gesellschaftsmitglieder für Integration benennt Uslucan konkret mit der Forderung, dass politische und mediale Akteure auf ihre Diktion im Umgang mit dem Thema Integration besonders sensibel achten sollten, da damit Integration behindernde Stimmungen in der Bevölkerung befördert werden könnten. Er spricht hier davon, es sei ein Klima entstanden, das eine unterschwellige Abwehrhaltung aktiviere, sobald es um den Islam gehe. Der hier angesprochene aktuelle destruktive politische Diskurs über Integration von türkischen und arabischen Zugewanderten wird von Frau Özkan nicht angesprochen.

Während Uslucan fordert, die Normalität migrantischen Alltags in den Mittelpunkt des Bewusstseins zu rücken, ohne dabei auszublenden, dass spezifische Aspekte migrantischen Lebens – etwa die »Parentifizierung«1 der Kinder – aus entwicklungspsychologischer Sicht auch problematisch sein können, verweist Ministerin Özkan auf spezifische, marktwirtschaftlich nutzbare Ressourcen der MigrantInnen, ausgedrückt u.a. in ihren Herkunftssprachkenntnissen. Dem wäre entgegen zu halten, dass eine Förderung der durch Migration bedingten Mehrsprachigkeit nicht nur aus Nutzenerwägungen heraus von Bedeutung ist, sondern vor allem aufgrund des auch durch die EU verbrieften Rechtes auf den Erhalt lebensweltlicher Mehrsprachigkeit und als Teil einer neuen, mehrsprachigen Identität Deutschlands.

Mit Recht verweist die Ministerin auf die entscheidende Rolle von Sprachkenntnissen in der deutschen Sprache als Schlüssel für eine erfolgreiche Integration und die hervorgehobene Bedeutung des Elementarbereiches bei der Vermittlung derselben. Allerdings eignet sich ein beitragsfreies letztes Kindergartenjahr weder zur Steigerung der bereits nahe 100 Prozent liegenden Beteiligungsquoten von Menschen mit Migrationshintergrund bei der Nutzung dieser Einrichtung noch zur wirksamen Sprachförderung. Diese kann bei Kindern, die mit einer anderen Sprache als Deutsch als Erstsprache aufwachsen, erst nachhaltig wirksam werden, wenn alle drei Jahre der vorschulischen institutionellen Förderung genutzt werden. Insofern wäre Beitragsfreiheit für das erste Jahr (nach Möglichkeit für alle drei Jahre) ein noch deutlicheres Signal an die Eltern in die richtige Richtung.

Die in diesem Dossier enthaltenen Beiträge zu türkeistämmigen MedienmacherInnen, Auszubildenden und SchülerInnen machen zum einen deutlich, dass türkeistämmige MigrantInnen eine Zuwanderungsgruppe sind, die besonders stark im Fokus ethnischer, kultureller und religiöser Zuschreibungen und Identifikationen steht. Dabei kann an ihrem Beispiel andererseits sehr gut deutlich gemacht werden, was kulturelle Vielfalt bereits innerhalb einer als ethno-kulturelle Einheit betrachteten Gruppe konkret meint (vgl. Karakasoglu, 2007 u. 2011).

So sind etwa im Bereich der Religion nicht nur stärker oder weniger religiöse Personen zu unterscheiden, sondern innerhalb der muslimischen Gruppe auch Zugehörige zu verschiedenen Richtungen des Islam wie Aleviten oder Sunniten. Selbstverständlich gibt es auch agnostische Türkeistämmige oder Konvertiten zu anderen Religionen. Sprachlich findet sich unter ihnen das ganze Spektrum der ethnischen Gruppen aus der Türkei, darunter als größte Sprachgruppen neben dem Türkischen, Kurdischen, Lazischen oder Arabischen auch verschiedene Sprachen des Balkans und des Kaukasus. Das Wissen um diese Diversität ist von zentraler Bedeutung für die adäquate Gestaltung integrationspolitischer und pädagogischer Begleitprozesse in und außerhalb von Schule und für ein verändertes Verständnis von einem gesellschaftlichen »Wir« bei der Bevölkerung.

Alarmistischer Integrationsdiskurs

Die Beiträge widersprechen damit auch einem aktuellen, den Integrationsprozess der türkeistämmigen MigrantInnen nahezu ausschließlich negativ bewertenden Mediendiskurs. Dieser dürfte mit verantwortlich dafür sein, dass vor allem erfolgreiche junge Menschen mit türkischem Migrationshintergrund ihre berufliche Zukunft zunehmend im Herkunftsland ihrer Eltern oder Großeltern sehen (vgl. Sezer/Daglar, 2009, u. Griese/Sievers, 2010).

Dabei befindet sich Deutschland seit ca. zehn Jahren in einem politischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozess im Hinblick auf den Umgang mit Integration, dessen unmittelbare Auswirkungen auf das Zusammenleben in der durch Zuwanderung geprägten Gesellschaft widersprüchlich sind. Integrationspolitisch wurden wichtige Entscheidungen und Maßnahmen getroffen: Das neue Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahr 2000 brach mit der Vorstellung der Deutschen als ethnischer Einheit und ermöglicht seitdem auch in Deutschland geborenen Kindern türkeistämmiger Eltern, als deutsche Staatsbürger aufzuwachsen. 2005 trat das Zuwanderungsgesetz in Kraft, welches mit Integrations- und Sprachkursen für NeuzuwandererInnen eine proaktive Integrationspolitik verfolgt. 2007 folgten der Nationale Integrationsplan, Islamkonferenzen und schließlich 2010 das bundesweite Integrationsprogramm. Regionale und nationale Integrationskonferenzen, -gipfel und -wochen stehen im Zeichen eines konstruktiven Dialogs zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.

Das Credo dieser Veranstaltungen ist, nicht mehr »über sie«, sondern »mit ihnen« zu sprechen und dies auf allerhöchster politischer Ebene. Heraus gekommen sind Integrationsberichte und -programme, flächendeckende vorschulische Sprachstandstests und Sprachförderkonzepte sowie bundesweit einheitliche Standards für Integrationskurse. Monitoring-Systeme und Integrationsindikatoren werden auf Landes- und Bundesebene von den zuständigen Ministerien entwickelt, um den Erfolg der alten und neu implementierten Integrationsmaßnahmen messen zu können. Gesetze zur leichteren und schnelleren Anerkennung ausländischer Abschlüsse werden formuliert sowie Anreize für die Anwerbung ausländischer Fachkräfte diskutiert und entwickelt.

Quelle: SVR-Integrationsbarometer 2010

Auch die türkeistämmigen MigrantInnen selbst sind aktiver denn je im Sinne der Integrationsförderung. Ihre MigrantInnen-Selbstorganisationen wie die Türkische Gemeinde in Deutschland mischen sich in die Diskurse ein, liefern konstruktive Beiträge durch Selbstverpflichtungen und Teilnahme an zahlreichen Dialog- und Koordinierungskreisen mit zentralen staatlichen Institutionen – zuletzt mit der KultusministerInnenkonferenz, mit der man sich gemeinsam gegen eine Deutschpflicht auf Schulhöfen aussprach. Damit erweisen sich die MigrantInnen-Selbstorganisationen als kompetente AnsprechpartnerInnen für Integrationsfragen.

Darüber hinaus treten immer mehr Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund in zentralen Positionen in Politik, Kunst, Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft auf und mischen aktiv mit, in allen politischen Lagern und unterschiedlichsten Kunst- und Kultursparten. Sie werden in den Medien als Akteure präsenter, u. a. unterstützt durch Kampagnen, die sie zur Mitwirkung aufrufen und ihnen Chancen versprechen. Auch in den Schulen wird über das Projekt der Zeit-Stiftung »Schülercampus – Mehr MigrantInnen werden Lehrer« um zukünftige LehrerInnen mit Migrationshintergrund geworben.

Dies sind nur einige Beispiele für Aktivitäten in einem Land, das sich auf den Weg macht, seine kulturelle Vielfalt endlich als Chance der Entwicklung zu begreifen und eine sowohl nachholende wie vorausschauende Integrationspolitik (vgl. Bade, 2007) zu entwickeln – mit all ihren Anlaufschwierigkeiten. Deutschland hat also inzwischen im Bereich der Integrationsinstrumente gegenüber den klassischen Einwanderungsländern Kanada, USA oder Australien und auch gegenüber den bekennend multikulturellen Ländern der EU, wie den Niederlanden oder Großbritannien, deutlich aufgeholt.

Auch im Bewusstsein der Einwanderungsgesellschaft Deutschland bildet sich eine grundsätzlich verhalten positive Einschätzung des Miteinanders ab. Darauf verweist das Integrationsbarometer des Sachverständigenrates Deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR, 2010). Die auf einer Umfrage unter 5.600 Befragten aus Westdeutschland beruhende Auswertung ergab, dass die Erfahrungen mit dem Zusammenleben, die Erwartungen an die Integrationspolitik sowie an die Integrationsbereitschaft der Menschen mit und ohne Migrationshintergrund von diesen beiden Bevölkerungsgruppen sehr ähnlich beurteilt werden.

Quelle: SVR-Integrationsbarometer 2010

Das Jahresgutachten des SVR kommt daher mit Bezug auf das Integrationsbarometer zu dem Schluss: „Es zeigt sich: Befragte mit und ohne Migrationshintergrund teilen ein als »civic integration« bezeichnetes, wenig voraussetzungsreiches, prozedurales und pragmatisches Integrationsverständnis (Koopmans et al. 2005, Joppke 2007), das auf kulturelle Anpassungsleistungen weitgehend verzichtet. In der Einschätzung beider Seiten der Einwanderungsgesellschaft erscheint damit Kultur als Teil der Integrationspolitik weitgehend verzichtbar“ (SVR, 2010, S.45).

Umso mehr wird integrationspolitischer Nachbesserungsbedarf im Bereich der Bildung, bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse und bei der Integration auf dem Arbeitsmarkt gesehen. Die Daten verweisen auf beiden Seiten der Einwanderungsgesellschaft auf „ein relativ freundliches Integrationsklima. Die aggregierten Mittelwerte in den einzelnen Bereichen (Arbeitsmarkt, Nachbarschaft, Bildung, soziale Sicherung) liegen allesamt über dem Skalenmittelwert von 2. Im Bereich der sozialen Beziehungen positionieren sich Zuwanderer und Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft sogar beide übereinstimmend im Bereich von 3,3.“ (ebd., S.50f.).

Multikulturalismus und Multikulturalität

Prinzipiell scheinen also die Grundlagen vorhanden zu sein für die gesellschaftliche Anerkennung einer Alltäglichkeit der kulturellen Vielfalt ohne idealistische Überhöhung, aber auch ohne Kulturalisierung von sozialen Problemen. Doch diese Einstellungen scheinen fragil und anfällig zu sein für populistische Interventionen, durch welche die individuell durchaus positiven Erfahrungen durch breit publizierte pauschale Urteile über einzelne Zuwanderungsgruppen sowie Beschwörung einer Bedrohung der nationalen Identität Deutschlands durch fremde kulturelle Einflüsse in Frage gestellt werden können.

Offenbar wurde im Prozess des Wandels von einem »Nicht-Einwanderungsland« zu einem »Integrationsland« versäumt, die Mehrheitsbevölkerung als Adressaten und Akteure von Integration frühzeitig einzubeziehen und an einem neuen »Wir« für Deutschland zu arbeiten. Wenn Staatsministerin Maria Böhmer in einer Rede zur Integrationsdebatte im Bundestag betont, es sei Ziel des Integrationslandes Deutschland, „den 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in unserem Land eine Heimat zu geben und sie zu integrieren“ (Böhmer, 2008), dann wird Integration damit zu einem gnädigen Akt von »uns« gegenüber »ihnen«, den »Anderen«, nämlich den Menschen mit Migrationshintergrund, die damit außerhalb des »wir« verortet werden. Was für Anforderungen an »uns« jedoch konkret mit der Aufforderung verbunden sind, Zugewanderte zu integrieren, wird nicht erläutert.

Ein weiterer, wenig konstruktiver Impuls zur anhaltenden Diskussion um die Identität Deutschlands als »Integrationsland« sind Pauschalisierungen zur »Multikulturellen Gesellschaft«. Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel im Oktober 2010 auf dem Deutschlandtag der Jungen Union emphatisch ausruft „Multikulti ist gescheitert – total gescheitert!“, dann wird damit ein uneingeschränkt negatives Postulat verbreitet, das jede produktive Auseinandersetzung mit kultureller Vielfalt behindert. »Multikulturalität« und »multikulturelle Gesellschaft« scheinen in den Giftschrank der Politik verbannt, obwohl doch der eine wie der andere Begriff keinesfalls Ideologien beschreiben, sondern beide lediglich durchaus angemessene Zustandsbeschreibungen für eine Gesellschaft sind, die so stark durch kulturelle Vielfalt geprägt ist wie die unsere.

Kritik am Begriff der »Multikulturalität« äußert sich bereits seit einigen Jahren in so programmatischen Formulierungen von populären Bestseller-Titeln wie „Der Multikulti-Irrtum – Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können“ von Seyran Ates (vgl. 2007) oder „Abschied von Multikulti. Wege aus der Integrationskrise“ von Stephan Luft (vgl. 2007). Die wiederholte Verwendung von »Multikulti« als verniedlichende Abwertung der Ideen eines konstruktiven Umgangs mit kultureller Vielfalt ist Programm geworden und wird gerne von der Politik aufgenommen.2

Damit einher geht der Vorwurf an die „multikulturalistischen Intellektuellen“ (Formulierung des Althistorikers Egon Flaig in der FAZ vom 28. Dezember 2007), sich in schönfärberischen Fantastereien über das funktionierende Miteinander verschiedener Kulturen und die unkritische Achtung kultureller Vielfalt ergangen zu haben, dabei jedoch die konfliktreichen Aspekte (verbunden mit Schlagworten wie Parallelgesellschaft, Zwangsverheiratung und Ehrenmord) verschwiegen oder zumindest verharmlost und somit zu den heutigen Problemen unseres »Integrationslandes« beigetragen zu haben. Was hier unterstellt wird, ist – um mit Amartya Sen (vgl. 2007) zu sprechen – die Idee eines »pluralen Monokulturalismus«.

Sen jedoch zeigt einen Weg aus der Kulturalisierungsfalle unter Beibehaltung des Multikulturalismus-Begriffs: „Kulturelle Freiheit, die aus meiner Sicht für die Würde des Menschen unverzichtbar ist, darf nicht mit dem bloßen Eintreten für kulturelle Vielfalt verwechselt werden. Ebenso wenig besteht kulturelle Freiheit in der Feier kultureller Traditionen, an denen jeder Einzelne angeblich festzuhalten habe. Kulturelle Freiheit in multikulturellen Gesellschaften heißt zunächst also, dass man der reflexhaften Verteidigung des kulturellen Erbes erst einmal widerstehen muss. Was dann selbstverständlich die Möglichkeit einschließen muss, Traditionen nach wohlüberlegter Prüfung auch zu bejahen.“ (Sen, 2007) Dies setzt eine umfassende Reflexion über die eigenen kulturellen Wurzeln des Denkens und Handelns bei allen an der multikulturellen Gesellschaft Beteiligten, Einheimischen und Zugewanderten, voraus – kurz: »interkulturelle Kompetenz«.

»Akzeptanz von Multikulturalität« meint – anders als die »Ideologie des Multikulturalismus« – weder ein reines Nebeneinander von Kulturen, noch die Vielfalt der Kulturen als Selbstzweck, noch das unverrückbare Verhaftetsein gegenüber nationalen Kulturen. Sie findet sich vielmehr wieder in der auch von Amartya Sen präferierten Version des »freiheitlichen Multikulturalismus«, in der „Menschen sich frei entscheiden und innerhalb der Vielfalt der Kulturen frei wählen können, Neuansätze und Synthesen eingeschlossen“ (ebd.).

Wissenschaftlich fundierte Integrationsberichte, -gutachten und -analysen, darunter das bereits erwähnte Jahresgutachten des SVR, bieten heute eine Fülle an qualitativ hochwertigem Datenmaterial mit daraus abgeleiteten fachkundigen Interpretationen und Handlungsempfehlungen, um den Prozess der Integration nachvollziehen, abbilden und gestalten zu können. Doch dies trägt – so lässt der medial vermittelte Diskurs erahnen – bislang nicht nachhaltig zu einer Versachlichung der öffentlichen Debatte bei. Während die pittoreske und quirlige Multikulturalität solcher Metropolen wie New York oder London als im besten Sinne an- und aufregend erlebt wird, weckt die multikulturelle Vielfalt vor der eigenen Haustür Ängste von Heimatverlust und dem Untergang einer für viele kaum fassbaren deutschen Leitkultur. Angst ist zwar menschlich, aber ein schlechter Ratgeber für die Politik im Umgang mit Befremdlichem. Angst führt schließlich zur Aufgabe eines zentralen Werts, der ein produktives Miteinander von Verschiedenen überhaupt erst ermöglicht: dem der Toleranz, die nicht gleichzusetzen ist mit einer kritiklosen Akzeptanz bzw. mit einem naiven Kulturrelativismus.

Beschreibung der pluralen gesellschaftlichen Realität

Gleichzeitig wird deutlich, dass die neu erfundenen Begriffe zur Beschreibung der Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft schon jetzt nicht mehr greifen. Vor dem Hintergrund, dass kulturelle Pluralität das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen mehr und mehr bestimmt, werden Begriffe wie »Kinder mit Migrationshintergrund» als Gruppenkategorie unglaubwürdig. Sie fassen eine Gruppe von Kindern unter einem Label zusammen, das ihren je spezifischen Erfahrungen und Orientierungen keinesfalls gerecht wird, denn sie können unter diesem Label eigene Migrationserfahrungen gemacht haben, ein Elternteil oder beide kann bzw. können im frühen Kindes- oder Erwachsenenalter Migrationserfahrungen gemacht haben usw. Ihre identitäre Selbstverortung kann sich auf die deutsche Herkunft eines Elternteils beziehen, auf ihr Hineingeborensein in die deutsche Gesellschaft, auf die Migrationserfahrungen eines Elternteils oder beider Elternteile, auf deren Herkunftsland; oder ihr Bezugspunkt ist eher der aktuelle städtische Kontext, in dem sie leben und der es ihnen ermöglicht, nationale Kategorien der Identitätsbeschreibung hinter sich zu lassen.

Angesichts dessen schlägt Naika Foroutan neue Begrifflichkeiten vor, die diese Lebensrealitäten abbilden. Ihre Vorschläge reichen von den »Neuen Deutschen« über »Postmigranten« bis hin zu »Bindungs-Identitäten« (vgl. Foroutan, 2010). Ein Begriff wie »Neue Deutsche« als Ersatz für »Menschen mit Migrationshintergrund« birgt jedoch das gleiche Dilemma in sich, eine adäquate, inkludierende Bezeichnung sein zu wollen, jedoch eine neue Trennungslinie herzustellen, in diesem Fall zwischen den »alten« und den »neuen« Deutschen. Foroutan fordert daher „eine Bezeichnungspraxis zu etablieren, welche die hybride Alltagsrealität nicht nur von Menschen mit Migrationshintergrund, sondern auch eines immer größer werdenden Teils der globalisierten deutsch-deutschen Bevölkerung erfasst“ (ebd., S.12). In der Konsequenz verweist sie darauf, dass es sinnvoll sein könnte, Deutschsein zu definieren als „Chiffre für die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Land“ (ebd., S.15), da ethnische Zuschreibungen zum Deutschsein nicht mehr greifen.

Indem sprachliche, ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt die Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen in deutschen Großstädten bestimmt, sie damit zum Normalfall wird, kommt der Forderung nach einer interkulturellen Öffnung von Schule und außerschulischen Erziehungs- und Bildungsinstitutionen eine neue und besondere Relevanz zu. Während der Fokus interkultureller Öffnung in der Vergangenheit stark auf der Berücksichtigung kultureller Besonderheiten und zielgruppenspezifischer Maßnahmen für einzelne MigrantInnengruppen lag, geht es jetzt vor allem darum, Kinder und Jugendliche als individuelle Persönlichkeiten zu betrachten, die viele Eigenschaften und verschiedene Zugehörigkeiten haben und nicht über die Herkunft ihrer Eltern als ItalienerIn oder als Türke bzw. Türkin ethnisiert, sondern in ihrem je individuellen Selbstverständnis als Teil der deutschen Gesellschaft wahrgenommen werden. Vor diesem Hintergrund sind Lebenskonzepte und damit z.B. auch Konzepte von Geschlechterrollen, die durch junge MigrantInnen eingebracht werden, nicht einseitig auf kulturelle Prägungen zurückzuführen, sondern in einen Kontext ihrer sozio-ökonomischen und Bildungschancen einzuordnen, in denen kulturspezifische Orientierungen überlagert werden von sozio-ökonomischen Lebenslagen.

In einer durch globale Prozesse beeinflussten, sich in ihrer auch kulturellen Zusammensetzung stetig wandelnden Einwanderungsgesellschaft kann sich weder eine alt eingesessene noch eine neu hinzutretende Gruppe der Gesellschaft auf kulturelle Selbstverständlichkeiten zurückziehen. Wandel der Gesellschaft durch Globalisierung und Migration bedeutet, dass der gesellschaftliche Konsens angesichts stets neuer positiver und negativer Impulse durch die neuen und alten Mitglieder immer wieder neu ermittelt und verhandelt werden muss. Die »Super-Diversity« von Steven Vertovec (vgl. 2007) ist wie der alte Begriff der »multikulturellen Gesellschaft« lediglich eine Zustandsbeschreibung, kein gesellschaftspolitisches Konzept. Jedoch birgt die breite gesellschaftliche Akzeptanz dieses momentanen Zustandes das Potential zur Entwicklung eines dazu passenden gesellschaftspolitischen Konzepts.

Neue Forschungsdesigns für Integrationspolitik

Um ein gesellschaftspolitisches Konzept zu entwickeln, das dem Zustand der »Super-Diversity« gerecht wird, ist es notwendig, kulturelle Stereotype über einzelne MigrantInnengruppen mit Hilfe neuer Forschungsdesigns zu dekonstruieren.

Die Integration von TürkInnen in Deutschland, das zeigt eine Länder vergleichende Studie, die mit belastbaren empirischen Daten überzeugen kann, ist nicht in erster Linie eine Frage des Willens der Bevölkerungsgruppe oder ihrer kulturellen Orientierungen, wie die Rede von den »Integrationsverweigerern« glauben machen will, sondern vor allem eine Frage der integrationspolitischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf der »Ebene der Institutionen« und auf der» Ebene von rechtlicher Partizipation«.

Anhand eines mehrdimensionalen Vergleichs der Integration von türkeistämmigen MigrantInnen u. a. mit marokkostämmigen MigrantInnen sowie Jugendlichen ohne Migrationshintergrund, die in acht verschiedenen europäischen Ländern aufgewachsen sind, können Crul und Schneider (vgl. 2010) eindrucksvoll zeigen, wie unterschiedlich sich die strukturelle Integration von MigrantInnen, aber auch ihr Zugehörigkeitsgefühl zu den jeweiligen Ländern darstellt.

Die Ergebnisse der »TIES-Studie« (The Integration of the European Second Generation) münden in einem neuen theoretischen Zugang zu Integration, den Crul und Schneider »comparative integration context theory« nennen. Sie verweisen damit auf die Notwendigkeit, Integrations(miss)erfolge nicht mehr länger als Frage der Bereitschaft oder Verweigerung von Individuen zu diskutieren. Sie plädieren auf der Basis ihrer Daten dafür, »misslungene Integration« als Indikator für Hindernisse bei dem gleichberechtigten Zugang zur Gesellschaft und ihren Institutionen und der Partizipation an ihnen zu betrachten (vgl. Crul/Schneider, 2010, S.1259). Somit wäre nicht die Frage zu stellen, warum Individuen im Prozess der Integration scheitern, sondern warum Institutionen an dem Anspruch der Inklusivität scheitern (vgl. ebd.).

Für den Bildungskontext werden durch den Ländervergleich des Bildungserfolges der jungen Menschen mit türkeistämmigem Migrationshintergrund dieselben positiv beeinflussenden Faktoren identifiziert, die ähnlich auch im Jahresgutachten des SVR (vgl. 2010) auf der Basis international vergleichender Schulleistungsstudien benannt werden: frühes Eintrittsalter in die Schule, späte Selektion nach Schulformen, hohe Durchlässigkeit des Sekundarbereiches zu höherwertigen Abschlüssen und längerfristige, indirekte Wege zur Hochschulbildung auch über berufsbildende Zweige.

Crul und Schneider stellten zudem fest, dass auch der nationale politische Diskurs über Migration, Integration und Assimilation Aspekte der Integration der zweiten Generation beeinflusst, in diesem Fall das Wohlfühl- und Zugehörigkeitsgefühl zum Land, in dem die Personen aufgewachsen sind (vgl. Crul/Schneider, 2010, S.1262). Ein weiteres Ergebnis der Studie widerspricht der von Aygül Özkan betonten Bedeutung der Staatsbürgerschaft bzw. Einbürgerung: Angehörige der gleichen Herkunftsgruppe fühlen sich in unterschiedlichen europäischen Städten sowohl lokal (Bürger der Stadt) wie auch national (Bürger des Landes) in unterschiedlicher Weise zugehörig. Dabei gab es keine signifikanten Unterschiede nach Staatsangehörigkeiten (doppelt/nur Herkunftsland der Eltern/nur Land des Aufwachsens) (vgl. ebd.).

Mit dem europäische Länder vergleichenden Blick auf die zweite Generation von Personen mit und ohne Migrationshintergrund wird deutlich, dass sowohl nationale Kontextbedingungen (z.B. politische Strukturen, Bildungssystem, integrationspolitische Maßnahmen) wie auch Veränderungsprozesse im Lebens- und Generationenverlauf sowohl bei Personen mit wie auch ohne Migrationshintergrund in künftigen wissenschaftlichen Studien und politischen Analysen berücksichtigt werden müssen, wenn man das komplexe Phänomen und die Mechanismen gesellschaftlicher Integration verstehen will.

Literatur

Ates, Seyran (2007): Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können. Berlin: Ullstein.

Bade, Klaus J. (2007): Versäumte Integrationschancen und nachholende Integrationspolitik. In: Bade, Klaus J. / Hiesserich, Hans-Georg (Hrsg.): Nachholende Integrationspolitik und Gestaltungsperspektiven der Integrationspraxis. Göttingen: V&R unipress, S.21-96.

Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2009): Ungenutzte Potentiale. Zur Lage der Integration in Deutschland. Berlin.

Böhmer, Maria (2008): Rede zur Integrationsdebatte im Bundestag vom 22.2.2008.

Bundesjugendkuratorium (Hrsg.)(2008): Pluralität ist Normalität für Kinder und Jugendliche. Vernachlässigte Aspekte und problematische Verkürzungen im Integrationsdiskurs.

Crul, Marcel / Schneider, Jens (2010): Comparative integration context theory. Participation and belonging in new diverse European cities. In: Ethnic and Racial Studies. Vol. 33, No. 7, p. 1249-1268.

Foroutan, Naika (2010): Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 46-47/2010, S.9-15.

Griese, Hartmut / Sievers, Isabel (2010): Bildungs- und Berufsbiographien von Transmigranten. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 46-47/2010, S.22-28.

Hormel, Ulrike / Scherr, Alfred (2007): Bildung für die Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden: VS-Verlag.

Karakasoglu, Yasemin (2007): Türkische Arbeitswanderer in West-, Mittel- und Nordeuropa seit der Mitte der 1950er Jahre. In: Bade, Klaus J. / Emmer, Pieter C. / Lucassen, Leo / Oltmer, Jochen (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München: Fink, S.1054-1061.

Karakasoglu, Yasemin (2011): Diversität der Lebenswelten. In: Holzbrecher, Alfred (Hrsg.) (2011): Interkulturelle Kompetenz im Lehrberuf. Schwalbach: Wochenschau-Verlag (im Erscheinen).

Luft, Stephan (2007): Abschied von Multikulti. Wege aus der Integrationskrise. Gräfelfing: Resch Verlag.

Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) (2010): Einwanderungsgesellschaft 2010. Jahresgutachten mit Integrationsbarometer.

Sen, Amartya (2007): Der Freiheit eine Chance. Warum wir die Idee der multikulturellen Gesellschaft nicht aufgeben dürfen. In: DIE ZEIT, Ausgabe 50, 6.12.2007.

Sezer, Kamuran / Daglar, Nilgün (2009): Die Identifikation der TASD mit Deutschland – Abwanderungsphänomen der TASD beschreiben und verstehen. Krefeld/Dortmund.

Vertovec, Steven (2007): Super-diversity and its implications. In: Ethnic and Racial Studies. Vol. 30, No. 6, p. 1024-1054.

Anmerkungen

1) Uslucan meint mit dem Begriff »Parentifizierung», dass Kinder insofern Eltern ihrer Eltern werden, als sie Sozialisationsleistungen für ihre Eltern erbringen und bspw. sowohl Sprache als auch Kultur übersetzen.

2) Vgl. dazu auch die Aussagen von Angela Merkel „Multikulti ist tot“ in »Focus online« vom 30.11.2004 oder „Multikulti hat ausgedient, wir müssen zusammenwachsen“ in »Welt online« vom 21.09.2008; auch Maria Böhmer meint in der »Netzzeitung« vom 17.10.2006, Multikulti sei „vollkommen“ gescheitert, „und es hat uns für Jahre zurückgeworfen“.

Yasemin Karakasoglu ist Professorin für Interkulturelle Bildung an der Universität Bremen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Konzepte und Methoden Interkultureller Bildung, die Bildungs- und Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (insbesondere Mädchen), die Bedeutung des Islam in pädagogischen Bezügen und das Bildungssystem der Türkei. Yasemin Karakasoglu ist u.a. Mitglied des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR).

Kriegsvergewaltigung

Kriegsvergewaltigung

Eine Typologie

von Elvan Isikozlu

Kriegsvergewaltigung, so wird angenommen, ist so alt wie der Krieg selbst. Die systematischen1 und weit verbreiteten2 Vergewaltigungen in den Kriegen in Bosnien und Herzegowina (BiH) sowie in Ruanda haben dazu geführt, dass sie als »Kriegswaffe« eingestuft und aus diesem Grund international geächtet werden. Die UN-Resolution 1820 vom Juni 2008 fordert einen sofortigen Stopp jeglicher sexueller Gewalt als Methode der Kriegsführung. Das BICC (Internationales Konversionszentrum Bonn) hat dieses Thema wissenschaftlich aufgegriffen. Die Forschung im Bereich »Kriegsvergewaltigung durch bewaffnete Gruppen« hat gezeigt, dass es viele Arten, Gründe und Täter gibt. Verschiedene Kriegsparteien verfolgen damit unterschiedliche Ziele. Die verheerenden Konsequenzen von Kriegsvergewaltigung – sei es für die Überlebenden oder die betroffene Gesellschaft – werden eben davon beeinflusst. Das BICC hat die vielfältigen Ausprägungen dieser Gewalt im Krieg untersucht und will damit dazu beitragen, ihren negativen Folgen effektiv begegnen oder Vergewaltigung im Krieg sogar völlig verhindern zu können. Dieses Dossier fasst den Forschungsstand einer diesem Thema gewidmeten BICC-Typologie3 zusammen. Sie berücksichtigt viele verschiedene Aspekte, die die Ausübung sexueller Gewalt in Kriegen prägen.

Die Forschung des BICC gründet auf der Hypothese, dass die Folgen von Kriegsvergewaltigung stark variieren können und vom jeweiligen Vergewaltigungstyp4 abhängen. Nach Ende eines Konflikts gilt es um so mehr, adäquate Hilfs-, Rehabilitations- und Vorsorgemaßnahmen zu finden.

Die vorläufigen Forschungsergebnisse5 zeigen, dass ein Zusammenhang zwischen den Typen und den Folgen von Kriegsvergewaltigung besteht und dass je nach Vergewaltigungstyp manche Folgen wahrscheinlicher sind als andere. Mit ihrer Hilfe soll es sowohl Mittelgebern als auch Praktikern erleichtert werden, die notwendigen Informationen zu erhalten, um sachkundig und gezielt Interventionen zu entwickeln. Sie können aber auch dazu dienen, Hilfeleistungen daraufhin zu untersuchen, ob sie tatsächlich den Bedürfnissen von Individuen, Familien und Gemeinschaften, die unter dieser Form von Gewalt zu leiden haben, gerecht werden.

Hervorzuheben ist, dass diese veröffentlichten Forschungsergebnisse nur Vergewaltigungstypen betreffen, die von einer bewaffneten Gruppe an der Zivilbevölkerung begangen wurden. Ausdrücklich ausgenommen sind andere Arten der Vergewaltigung, bei denen die vergewaltigte Person kein Zivilist oder bei denen der Vergewaltiger nicht Teil einer bewaffneten Gruppe ist.6

Was ist Kriegsvergewaltigung?

Die BICC-Forschung definiert Vergewaltigung als einen Akt, der

ein Eindringen in den Mund, die Scheide oder den Anus durch ein Objekt oder einen Körperteil beinhaltet,

erzwungen oder uneinvernehmlich geschieht.7

Kriegsvergewaltigung beinhaltet zwei Komponenten:

die physische Vergewaltigung an sich (d.h. erzwungenes Eindringen) wie oben definiert, die von einem Mitglied einer bewaffneten Gruppe während eines Krieges begangen wird,

unzählige Kriegsdynamiken, in denen die Vergewaltigung geschieht und die sie beeinflussen.

Mit anderen Worten, Kriegsvergewaltigung ist mehr als der Akt des erzwungenen Eindringens. Es hängt maßgeblich von den verschiedenen Kriegsdynamiken ab, wer wen vergewaltigt, aus welchem Grund, auf welche Art, wo und wann. Diese Umstände bestimmen nicht nur den Kontext der Vergewaltigung, sondern wahrscheinlich auch ihre Folgen. Kriegsvergewaltigung nur als erzwungenen, uneinvernehmlichen sexuellen Akt zu verstehen, würde diese Unterscheidungen übersehen und zu dem Schluss führen, dass alle Vergewaltigungen im Krieg gleich sind. Ein solch eingeschränktes Verständnis scheint in der Literatur bisher vorzuherrschen. Auf diese Diskrepanz will die BICC-Forschung eingehen.

Gründe für eine Typologie von Kriegsvergewaltigung

Die Idee zur Entwicklung einer Typologie von Kriegsvergewaltigung entstand, als frühere Forschungen des BICC ergaben, dass bei Kriegsvergewaltigungen weder die individuelle Erfahrung noch ihre Gründe oder Folgen Verallgemeinerungen zulassen. Ganz im Gegenteil: Es gibt eine große Vielfalt an Umständen und Gründen für Vergewaltigung im Krieg und für die Folgen. Dennoch konnten Muster oder Trends identifiziert werden, die länderübergreifend gültig waren. Dies veranlasste die Autorinnen, dieses Phänomen systematischer zu analysieren. Auf Grundlage dieser Untersuchung entwickelten sie eine Typologie, die auf der Verschiedenheit (insbesondere auf Arten) des Verbrechens beruht und gleichzeitig sichtbare Muster, wie diese Verbrechen weltweit begangen wurden (d.h. Schlüsselcharakteristika), berücksichtigt.

Hat man die verschiedenen Typen von Kriegsvergewaltigung verstanden, kann auch ein besseres Verständnis ihrer Varianten, Folgen und Gründe entwickelt werden. Dies wiederum ermöglicht es, den Herausforderungen, die oft in der Zeit nach Ende des Krieges durch diese Art von Gewalt entstehen, zu begegnen und Möglichkeiten zu finden, wie dieses Verbrechen verhindert werden kann.8 Die während der Forschung untersuchte Literatur9 argumentiert folgendermaßen:

Kriegsvergewaltigungen werden aus vielen Gründen und zu vielen Zwecken begangen.

Es gibt mannigfaltige Varianten der Kriegsvergewaltigung, die u.a. von der Art der bewaffneten Gruppe, den Dynamiken innerhalb dieser Gruppe, dem einzelnen Täter und/oder der Art des Konflikts abhängen.

Individuen, die im Krieg vergewaltigt wurden, reagieren auf dieses Verbrechen sehr unterschiedlich und verarbeiten es verschieden. Abgesehen von idiosynkratischen und soziokulturellen Faktoren, so wird argumentiert, spielen möglicherweise auch eine Rolle, wie die Vergewaltigung begangen wird.

Es muss betont werden, dass die Autorinnen nicht beabsichtigen, bei der Entwicklung einer Typisierung von Kriegsvergewaltigung dieses Phänomen zu vereinfachen. Vielmehr ging es darum, die Komplexität dieses Verbrechens in leichter fassbaren Einzelaspekten darzustellen. Diese Typologisierung ermöglicht ein besseres Verständnis der Ereignisse. Kurz: Die eindimensionale Perspektive wird verlassen. Sie wirft auch neue Fragestellungen auf und verweist auf fehlende Informationen und Wissenslücken zur Untersuchung dieser Art von Kriegsgewalt. Letztliches Ziel einer solchen Typisierung ist es, ein größeres Verständnis für das Phänomen »Kriegsvergewaltigung« zu entwickeln, das dazu beitragen kann, vor Ort kohärentere Maßnahmen zu ergreifen. So kann sie ein erster Schritt zur Entwicklung eines gezielten Programms werden, das Maßnahmen für Einzelne, die im Krieg vergewaltigt wurden, ihre Familien und ihre Gemeinschaften umfasst.

Die Grundlage der Typologie

Die Typologie von Kriegsvergewaltigung beruht auf der oben beschriebenen Definition und entstand durch die Notwendigkeit, die sozioökonomischen Folgen der Kriegsvergewaltigung auf der Ebene des Individuums, seiner Familie und der Gemeinschaft zu identifizieren. Der Schwerpunkt liegt dabei überwiegend auf sozioökonomischen Folgen, da diese bis dato nur selten in Forschung und Literatur Eingang gefunden haben. Sie sind allerdings oft stark mit physischen und psychischen Folgen der Vergewaltigung im Krieg verknüpft. So kann z.B. eine Schwangerschaft oder HIV-Infektion eine physische Konsequenz sein, die jedoch nicht nur viele psychologische, sondern auch soziale und wirtschaftliche Auswirkungen auf die Betroffenen hat. Bei der Wahl des sozioökonomischen Fokus waren sich die Autorinnen durchaus bewusst, dass diese Verknüpfungen existieren. Dass alle Folgen von Kriegsvergewaltigung identifiziert und berücksichtigt werden müssen, um einen Genesungsprozess in Gang zu setzen, ist unbestritten, hätte aber den Rahmen dieses Forschungsprojektes gesprengt. Gleichwohl wäre es in Zukunft sicherlich hilfreich und sinnvoll, zu untersuchen, ob verschiedene physische und psychologische Folgen mit den in der Typologie identifizierten Arten von Kriegsvergewaltigung in Verbindung gebracht werden können.

Die Vergewaltigungstypen, die die BICC-Forschung identifiziert hat, beanspruchen keine Vollständigkeit, sondern basieren zunächst auf zwei Länderstudien zu Bosnien und Herzegowina sowie El Salvador, die in einer ersten Phase (November 2008 bis Mai 2009) sowohl durch Feldforschung wie auch Sekundärquellenanalyse (desk study) durchgeführt wurden. In der zweiten Forschungsphase (September 2009 bis Mai 2010) wurden sie durch eine Literaturauswertung über Kriegsvergewaltigung in zehn zusätzlichen Ländern (Demokratische Republik Kongo, Liberia, Ruanda, Sierra Leone, Kambodscha, Nepal, Kolumbien, Peru, Papua Neuguinea/Bougainville, Timor Leste) ergänzt.

Zunächst wurden die Kriegsdynamiken, die Täter und Folgen von Vergewaltigungen im Krieg beeinflussen, identifiziert und in Kategorien eingeteilt (siehe Tab. 1).

Tab. 1: Kriegsdynamiken, die Täter und Folgen von Vergewaltigungen im Krieg beeinflussen

Art des Konflikts Konflikte in Bosnien und Herzegowina und in El Salvador wurden intern ausgetragen. Somit entsprechen alle hier beschriebenen Arten internen Konfliktdynamiken. 10 (Kriegsvergewaltigung fand und findet auch in internationalen Konflikten statt. In welchem Ausmaß die Art des Konflikts die Folgen der Vergewaltigung bestimmt, ist ohne weiterführende Analyse nicht zu ermessen.)
Merkmale bewaffneter Gruppen, die Vergewaltigungen begehen Mit Hilfe dieser Kategorie sollen die Merkmale bewaffneter Gruppen identifiziert werden, die einen Vergewaltigungstyp wahrscheinlicher bzw. unwahrscheinlicher erscheinen lassen.Die Autorinnen untersuchten u.a. die Struktur der bewaffneten Gruppe (gibt es einen klare Hierarchie, Berichterstattungsstruktur und eine funktionierende Befehlskette?), die Gruppendynamik (sind die Soldaten diszipliniert?), Alkohol bzw. Drogenmissbrauch innerhalb der Gruppe und Vergewaltigungsdynamiken innerhalb der Gruppe (gibt es feste Regeln innerhalb der Gruppe, die Vergewaltigung betreffen, und wenn dies so ist, werden sie auch durchgesetzt?).
Motive für Kriegsvergewaltigung Was sind die Gründe dafür, dass sowohl auf individueller als auch auf Gruppenebene vergewaltigt wird? Vergewaltigen Einzelne durch Gruppenzwang, als Zeichen der Solidarität mit der Gruppe, aus persönlichen Gründen, so z.B. sexuellem oder Verlangen nach Machtausübung, oder weil ihnen dies befohlen wurde? Auf der Ebene der bewaffneten Gruppe werden auch die Gründe für Kriegsvergewaltigung und die Ziele des Krieges, in dem die Vergewaltigung geschieht, mit berücksichtigt.
Merkmale des Vergewaltigers11 In dieser Kategorie werden Informationen über den Vergewaltiger gesammelt. So wird z.B. der Hintergrund beleuchtet, der einen Menschen möglicherweise dazu veranlasst, im Krieg zu vergewaltigen. Hier wird nicht auf psychologische Faktoren eingegangen, sondern eher auf die Begleitumstände und Gründe, wegen derer eine Person einer bestimmten bewaffneten Gruppe beitritt, auf den Bildungsgrad, religiöse und/oder politische Überzeugungen, Familienstand sowie Drogen- oder Alkoholmissbrauch vor der Vergewaltigung.(Das Thema »Täter« war ursprünglich Teil der Forschung, ist jedoch aufgrund fehlender Daten bei der Typologie nicht berücksichtigt worden. Diese Kategorie wird hier angeführt, um die Wichtigkeit und Notwendigkeit eines besseren Verständnisses der Täter zu betonen, da letztendlich auch dies dazu beitragen kann, Kriegsvergewaltigung zu vermeiden bzw. zu beenden.)
Merkmale der vergewaltigten Person In dieser Kategorie werden Hintergrundinformationen über vergewaltigte Personen wie Geschlecht, Alter, Volkszugehörigkeit, religiöse Überzeugungen, Beruf, Bildungsgrad und die Merkmale ihrer Vergewaltigung (d.h. durch wen, wo, wie oft, auf welche Weise, Zeuge anderer Vergewaltigungen etc.) sowie die physischen Folgen der Vergewaltigung (körperliche Verletzungen, Schwangerschaft etc.) untersucht. Durch diese Variablen wird versucht, die Erfahrungen weiblicher wie auch männlicher Opfer von Vergewaltigungen einzubeziehen. Auf diese Weise sollen auch mögliche Faktoren herauskristallisiert werden, die mit der Fähigkeit des Einzelnen zusammenhängen, langfristig dieses Erlebnis zu verarbeiten.
Merkmale der Vergewaltigung In dieser Kategorie wird die Art und Weise, auf die eine Vergewaltigung begangen wird, und die Brutalität der Vergewaltigung abgebildet. Variablen wie Ort (öffentliche Plätze, Privatwohnungen/-häuser, bestimmte Räumlichkeiten etc.), Zeitpunkt der Vergewaltigung (vor, während oder nach einem militärischen Einsatz), Vergewaltigung durch Waffen oder Objekte, die Anzahl der Angreifer Häufigkeit und die Rolle anderer Arten von Gewalt während der Vergewaltigung werden berücksichtigt.

Typen der Kriegsvergewaltigung

Die Typologisierung ist auf drei allgemeinen Kategorien in der Beziehung von Vergewaltiger zu vergewaltigter Person aufgebaut, innerhalb derer viele Arten von Kriegsvergewaltigung vorkommen:

Kategorie A – Vergewaltigung eines Mitglieds einer bewaffneten Gruppe oder Armee durch Mitglieder der gleichen bewaffneten Gruppe oder Armee: Kategorie A ist zwar möglicherweise die am wenigsten bekannte, aber bei weitem nicht die am wenigsten verbreitete Kategorie von Kriegsvergewaltigung. Hauptmerkmal ist, dass sowohl der Vergewaltiger wie auch die vergewaltigte Person zur gleichen bewaffneten Gruppe oder Armee gehört. Im Allgemeinen scheint es Bestimmungen zu geben, die sexuelle Gewalt innerhalb einer bewaffneten Gruppe oder Armee regeln, aber in vielen Fällen helfen sie wenig, wenn es um Prävention oder Verurteilung eines solchen Geschehens geht.

Kategorie B – Vergewaltigung eines Mitglieds der Zivilbevölkerung durch eine bewaffnete Gruppe oder die Armee: Diese Kategorie ist die bekannteste und anerkannteste Kategorie von Kriegsvergewaltigung. Es existiert eine Reihe von Vergewaltigungsarten mit verschiedenen Vorgehensweisen.

Kategorie C – Vergewaltigung von Mitgliedern einer bewaffneten Gruppe durch Mitglieder einer anderen bewaffneten Gruppe: Im Gegensatz zu Kategorie A wird nicht ein Mitglied der gleichen bewaffneten Gruppe vergewaltigt, sondern ein Mitglied einer anderen oder gegnerischen bewaffneten Gruppe.

Auch wenn es überaus wichtig ist, alle drei Kategorien zu untersuchen, liegt der Schwerpunkt der Veröffentlichung der BICC-Forschungsergebnisse allein auf den Arten und Folgen der Kriegsvergewaltigung der Kategorie B. Insgesamt wurden hier acht verschiedene Typen der Kriegsvergewaltigung identifiziert (siehe Tab. 2).

Tab. 2: Vergewaltigungstyp und dafür dokumentierte Länder

Vergewaltigungstyp Untersuchte Länder,
in denen diese Art dokumentiert ist
Vergewaltigung durch einen Verbündeten El Salvador
Sexuelle Sklaverei BiH, Kolumbien, DR Kongo, Liberia, Peru, Papua Neuguinea/Bougainville, Ruanda, Sierra Leone, Timor Leste
Vergewaltigung als Militärstrategie BiH, Kolumbien, DR Kongo, El Salvador, Liberia, Peru, Papua Neuguinea/Bougainville, Ruanda, Sierra Leone
Vergewaltigung durch einen Nachbarn BiH, Ruanda
Vergewaltigungslager BiH, Ruanda, Timor Leste
Vergewaltigung in Gefangenschaft BiH, Kambodscha
Opportunistische Vergewaltigung Kolumbien, DR Kongo, Nepal, Peru, Papua Neuguinea/Bougainville, Sierra Leone
Gezielte Vergewaltigung Kolumbien, Nepal, Peru, Timor Leste

Der soziale Kontext:
ein wichtiger Faktor

Die Typologisierung von Kriegsvergewaltigungen erfolgte unabhängig von einem bestimmten sozialen bzw. regionalen Zusammenhang. Stattdessen wurde versucht, Faktoren und Konsequenzen zu identifizieren, die in vielen unterschiedlichen sozialen Kontexten anzutreffen sind. Der soziale Kontext umfasst u.a. rechtliche und kulturelle Normen, Handlungsweisen, Haltungen und Überzeugungen in Bezug auf Vergewaltigung, Sexualität, Maskulinität und Geschlechterrollen, die möglicherweise zu länder- und gemeinschaftspezifischen aber auch individuellen Folgen von Kriegsvergewaltigungen führen können. Um Kriegsvergewaltigung und ihre Folgen im Einzelfall verstehen zu können, kann die Typologie allerdings nicht allein verwendet werden. Hierfür müssen Kontextfaktoren einbezogen werden, um effektive Maßnahmen gegen diese Art der Gewalt zu entwickeln und zu ergreifen.

Typologie der Vergewaltigung von Zivilpersonen im Krieg

Vergewaltigung durch einen Verbündeten

Vergewaltigung durch Mitglieder einer bewaffneten Gruppe an der Zivilbevölkerung, die sie repräsentieren

Gründe

Es gibt Hinweise, die darauf schließen lassen, dass sich die Vergewaltigung einer Zivilperson durch eine bewaffnete Gruppe, die sie eigentlich verteidigen oder beschützen soll, von der Vergewaltigung einer »feindlichen« Zivilperson unterscheidet. So erfolgt sie meist aus individuellen Gründen und hat nichts mit der Erfüllung einer militärischen oder kriegsbedingten Aufgabe zu tun. Die Autorinnen gehen davon aus, dass sich auch die Folgen dieses Vergewaltigungstyps von anderen unterscheidet, in denen Zivilpersonen als »Feinde« vergewaltigt werden. Da die Bevölkerung dieser bewaffneten Gruppe besonders vertraut, sie unterstützt und ihr gegenüber loyal ist, weil sie ihre Ideale und Ziele teilt, erwartet sie nicht, dass sie von ihren Mitgliedern vergewaltigt wird.

Hauptmerkmale

Vergewaltigung scheint den Einzelinteressen der Täter zu dienen, obwohl sie den Interessen der bewaffneten Gruppe widerspricht.

Vergewaltigung wird nicht von anderen Arten körperlicher Gewalt begleitet und es werden keine Objekte zur Vergewaltigung verwendet.

Frauen werden zufällig ausgesucht; häufig sind sie jung.

Diese Vergewaltigung ist nicht weit verbreitet.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

El Salvador

Sozioökonomische Folgen

Die Hauptkonsequenz dieses Vergewaltigungstyps ist der Verlust der Unterstützung der bewaffneten Gruppe durch die Zivilbevölkerung. Er hat also direkte negative Folgen für die bewaffnete Gruppe selbst. Das Vertrauen der Gemeinschaft wie auch von Einzelpersonen in die salvadorianische Guerillaorganisation FMLN wurde durch Vergewaltigungen der ländlichen Bevölkerung gefährdet. Dies bedrohte die Existenz der Befreiungsfront, die auf Unterstützung und Versorgung durch die Bevölkerung angewiesen war. Da dieser Preis zu hoch war, wurde Vergewaltigung mit dem Tod bestraft und konsequent innerhalb aller Ebenen in der FMLN verfolgt. Dieser strenge Kurs war effektiv; er schreckte ab und führte dazu, dass diese Art der Vergewaltigung in den späteren Jahren des Konfliktes Berichten zufolge völlig aufhörte. Es ist möglich, dass diese Folge nur dann eintritt, wenn die Existenz einer bewaffneten Gruppe, wie die der FMLN, von einer verbündeten Zivilbevölkerung abhängt.

Sexuelle Sklaverei

Vergewaltigung von Mitgliedern der Zivilbevölkerung, die als »Feind« wahrgenommen und zum Zweck sexueller Dienste gefangen gehalten werden, durch Mitglieder einer bewaffneten Formation

Gründe

Zivilpersonen werden von einer bewaffneten Gruppe oder einzelnen Mitgliedern dieser Gruppe festgehalten, um sie für sexuelle und andere Dienste zu missbrauchen. Hierzu gehören etwa auch Kochen, Saubermachen und Munition und/oder Waffen tragen. Vergewaltigung ist daher ein wichtiger, aber nicht der einzige Zweck der Gefangenschaft. Erkenntnisse aus den Länderstudien zeigen, dass das Festhalten von Zivilpersonen als Sexsklavinnen besondere Merkmale aufweisen, die sich darauf auswirken, wie Personen mit ihrer Vergewaltigung umgehen und wie sich ihre Umgebung, ihre Familien und/oder Gemeinschaften ihnen gegenüber verhalten. Anders als bei anderen Arten der Kriegsvergewaltigung schämen sich Familie und Gemeinschaft oft für ehemalige Sexsklavinnen und unterstellen ihnen, dass sie sexuellen Handlungen zugestimmt haben.

Das »Römische Statut« definiert als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« u.a. folgende Handlungen, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen werden: „Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft, Zwangssterilisation oder jede andere Form sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere […]“.12

Laut Bericht des »Special Rapporteur on Systematic Rape» über sexuelle Sklaverei und Sklaverei ähnliche Praktiken während eines bewaffneten Konflikts umfasst sexuelle Sklaverei auch solche Fälle, in denen Frauen und Mädchen zu Hausknechtschaft, »Heirat« oder Zwangsarbeit genötigt werden, die „letztlich erzwungene sexuelle Aktivitäten wie auch die Vergewaltigung durch ihre Kidnapper mit einschließen“.13 Der BICC-Forschungsbericht definiert sexuelle Sklaverei als eine Gefangennahme von Frauen zum Zweck erzwungener sexueller Beziehungen, die aber auch Zwangsarbeit und Haushaltsdienste beinhaltet.

Hauptmerkmale

Bewaffnete Gruppen, die diese Art der Vergewaltigung begehen, verfügen im allgemeinen über eine funktionierende Befehlskette. Vergewaltigung ist weder verboten noch wird sie bestraft.

Frauen sind das Ziel der sexuellen Sklaverei, wobei insbesondere Mädchen und junge Frauen, die noch Jungfrauen sind, besonders gefährdet sind.

Sklavinnen werden oft unter Androhung von Gewalt oder Tod sowohl gegen sie wie auch ihre Angehörigen festgehalten.

In den Ländern, in denen sexuelle Sklaverei verbreitet praktiziert wurde, wusste die militärische Obrigkeit im Allgemeinen davon, duldete sie oder bestärkte die Täter dabei.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

Bosnien und Herzegowina

Kolumbien

Demokratische Republik Kongo

Liberia

Peru

Papua Neuguia/Bougainville

Ruanda

Sierra Leone

Timor Leste

Unterarten

Während der ersten Forschungsphase wurde dieser Kriegsvergewaltigungstyp auf der Grundlage der sehr einheitlichen Berichte einiger Frauen aus Bosnien und Herzegowina identifiziert. Aus der Sekundärquellenanalyse ging hervor, dass auch in anderen Ländern sexuelle Sklaverei mannigfaltige Formen aufweisen kann. Es ist möglich, dass die Motivationen jeder einzelner Form leicht voneinander abweichen und dass die Folgen je nach Umständen der Gefangenschaft der Einzelnen unterschiedlich sind. Dies bleibt jedoch im Dunkeln, da sexuelle Sklaverei in der Literatur generell als ein homogenes Verbrechen behandelt wird. Die Autorinnen haben deshalb sexuelle Sklaverei in folgende vier Untergruppen aufgeteilt, um ihre Formen zu unterscheiden und die Untersuchung der möglichen Folgen jedes Untertyps in Zukunft zu fördern:

Sexuelle Sklaverei an einem zentralen Ort: Frauen und Mädchen werden häufig zusammen an einem Ort, wie einer Militärbasis, ob statisch oder mobil, festgehalten und mehrfach durch verschiedene Täter vergewaltigt. Fälle gab es in:
– Bosnien und Herzegowina
– Demokratische Republik Kongo
– Liberia
– Papua Neuguia/Bougainville
– Ruanda
– Sierra Leone
– Timor Leste

Sexuelle Sklaverei in einem zentralen Ort, wobei Einzelpersonen einem Kämpfer »zugeordnet« werden: Manche festgehaltene Frauen und Mädchen werden gezwungen, zu »heiraten« und als »Ehefrau« einem bestimmten Kämpfer zur Verfügung zu stehen. Sie werden mehrfach von ihrem »Ehemann« vergewaltigt, jedoch weniger häufig, wenn überhaupt, von anderen Kämpfern. Fälle gab es in:

Demokratische Republik Kongo

Sierra Leone

Sexuelle Sklaverei »auf Bestellung«: Frauen und Mädchen werden nicht an einem zentralen Ort festgehalten, sondern auf Bestellung der Kämpfer, die die Gegend besetzen, mit Gewalt herangeschafft, um ihnen sexuell gefügig zu sein. Den Frauen und Mädchen wird danach erlaubt, wieder nach Hause zu gehen. Fälle gab es in:
– Kolumbien
– Peru
– Sierra Leone
– Timor Leste

Sexuelle Sklaverei in einem häuslichen Umfeld, in dem die Frauen als »Eigentum« eines Kämpfers betrachtet werden: Frauen und Mädchen werden nicht an einem zentralen Ort festgehalten, sondern werden dazu gezwungen, sich wie die »Ehefrau« eines bestimmten Kämpfers zu verhalten und in ihrem eigenen Haus sexuelle und häusliche Tätigkeiten für ihn zu verrichten. Der Kämpfer besucht dieses Haus, wann er will, und erwartet, dass ihm die Frau oder das Mädchen zu Diensten ist. Fälle gab es in:
– Bosnien und Herzegowina
– Liberia
– Ruanda
– Timor Leste

Sozioökonomische Folgen

Viele Frauen, die als sexuelle Sklavinnen gehalten wurden, gerieten in eine finanzielle und gesellschaftliche Abhängigkeit. Dies betraf insbesondere diejenigen, die als »Ehefrauen« galten und nicht fliehen konnten. Diese Frauen fügen sich oft in ihre Misshandlungen und Vergewaltigungen, die sie sich mit der wirtschaftlichen und/oder psychologische Lage während des Krieges erklären. Auch noch lange nach dem Krieg kann dies zu einer gewissen »Normalisierung« dieser Art der Gewalt führen. So merkt z.B. die Truth and Reconciliation Commission in Sierra Leone an, dass die meisten Opfer sexueller Sklaverei unter einer Art des Stockholm-Syndroms leiden – sie behaupteten, dass sie von ihren Geiselnehmern gut behandelt wurden, obwohl die Kommission viele ihrer Erlebnisse als Missbrauch einschätzte.14

Obwohl es üblich war, dass Kämpfer »ihre Frauen« anderen Kämpfern zu sexuellen Zwecken überließen, wurden hierfür keine Beispiele genannt.15 Es ist möglich, dass Vergewaltigung und andere Formen sexueller und körperlicher Gewalt von Frauen in intimen Partnerbeziehungen nach den Übergriffen »normalisiert« werden. Ebenso ist es wahrscheinlich, dass diese Gewalt für die vergewaltigenden Männer »normal« wird. Manche Täter in Sierra Leone, die selbst vergewaltigt haben oder Zeuge von Vergewaltigungen wurden, waren so jung, dass sie Vergewaltigung als typisches Sexualverhalten ansehen.16

Viele Frauen können aus verschiedenen Gründen nicht mehr nach Hause zurück kehren oder in ihren Gemeinden bleiben, nachdem sie als sexuelle Sklavinnen missbraucht worden sind. Soziale Ausgrenzung und Stigmatisierung ist einer der Gründe hierfür. Ohne Geld und Zukunftsperspektiven bleibt vielen Frauen, insbesondere jungen Mädchen, nur der Ausweg in die Prostitution und sexuelle Ausbeutung im Austausch für Waren und Dienstleistungen. Manchmal werden Frauen oder Mädchen wieder von ihrer Familie aufgenommen, aber ihr Stigma in der Gemeinde ist so groß, dass die gesamte Familie wegziehen muss – als Konsequenz gerät die gesamte Familie in wirtschaftliche Not.17

Schwangerschaft und die Geburt von Kindern, bei die bei einer Vergewaltigung gezeugt wurden, sind weit verbreitete Folgen sexueller Sklaverei. Frauen, die mit in der Gefangenschaft geborenen Kindern wieder nach Hause kommen, können die Vergewaltigung oft weder verstecken noch verleugnen und werden daher von ihrer eigenen Familie und Gemeinschaft stark stigmatisiert.

Dies trifft nicht nur auf sexuelle Sklaverei, sondern möglicherweise auch auf andere Vergewaltigungstypen zu, bei denen Frauen oder Mädchen festgehalten und mehrfach vergewaltigt werden. In einer Untersuchung von über 4.000 Aufzeichnungen sexueller Gewalt im Panzi-Hospital in Bukavu (Demokratische Republik Kongo) zwischen 2004 und 2008 fand Bartels heraus, dass viele Frauen, insbesondere sexuelle Sklavinnen, durch Vergewaltigung schwanger wurden.18 Sie stellte ebenfalls fest, dass Frauen, die schwanger wurden, sich anscheinend mehr schämten als diejenigen, die nicht schwanger wurden. Die Wahrscheinlichkeit, dass schwangere, verheiratete Frauen von ihren Männern verstoßen wurden, war hoch.19

Frauen, die als sexuelle Sklavinnen vergewaltigt wurden, sind oft Opfer sozialer Stigmatisierung, da sie das, was ihnen angetan wurde, weder verleugnen noch verstecken können – selbst wenn sie nicht durch die Vergewaltigung schwanger wurden. Eigene Reaktionen und die der Gesellschaft auf diese Art der Vergewaltigung beruhen oft auf einem völligen Fehlverständnis davon, ob die Frauen eine Wahl hatten, sexuelle Sklavin oder »Ehefrau« eines bestimmten Kommandanten zu werden. So unterschied die Gemeinschaft in Timor Leste nicht, ob Frauen, die als sexuelle Sklavinnen missbraucht wurden, dazu gezwungen wurden, außereheliche sexuelle Beziehungen einzugehen, oder nicht. Alle hatten den Ruf »billig« und »Huren« zu sein.20 Dieses Stigma brachte Schande über die ganze Familie der Frauen, einschließlich ihrer Kinder.

Soziale Stigmatisierung ist daher eine weitere Last, mit der vergewaltigte Frauen umgehen müssen, insbesondere wenn sie dazu führt, dass sie auch von ihren Familien verstoßen werden und ihre wirtschaftliche Basis verlieren.

Vergewaltigung als Militärstrategie

Vergewaltigung, die von Mitgliedern einer Armee an der von ihr als »Feind« wahrgenommenen Zivilbevölkerung begangen wird

Gründe

Vieles deutet darauf hin, dass eine Vergewaltigung von Zivilpersonen, die als »Feinde« identifiziert wurden, im Krieg aus unterschiedlichen Gründen geschieht und anders durchgeführt wird, als die übrigen Vergewaltigungstypen. Sie geht einher mit willkürlichen, systematischen und weit verbreiteten Angriffen auf die Zivilbevölkerung und wird oft angewendet, um bestimmte Kriegsziele zu erreichen. Die von den Autorinnen gesammelten Informationen deuten auch darauf hin, dass durch die Art und Weise, wie Zivilpersonen ausgewählt und als »Feinde« bekämpft werden, auch die Folgen dieser Art von Vergewaltigung anders sein können als bei anderen Typen.

Hauptmerkmale

Dieser Vergewaltigungstyp wird oft von einer gut organisierten bewaffneten Gruppe begangen, die den Befehl hat, Zivilistinnen und Zivilisten anzugreifen. Ob die Täter den Befehl haben zu vergewaltigen, ist in keinem der Fälle klar belegbar; nichtsdestotrotz wird während der Angriffe systematisch und weit verbreitet vergewaltigt.

Vergewaltigungen finden während eines militärischen Angriffs auf ländliche oder Stadtgebiete statt. Oft werden Menschen in ihren Häusern oder ihrem Dorf vergewaltigt. Manchmal wird dieser Typ Vergewaltigung als Kriegstaktik eingesetzt. Hauptziel dabei ist es, Zivilpersonen zu terrorisieren, damit sie sich unterwerfen, oder sie aus kriegstaktischen Gründen in die Flucht zu schlagen. Vergewaltigung ist auch eine Art der »Kommunikation mit dem Feind«, durch die ihm deutlich gemacht wird, dass er besiegt wurde und/oder nicht in der Lage war, seine Bevölkerung zu schützen.

Ziel dieser Art der Vergewaltigung sind überwiegend Frauen, wobei Frauen im Fertilitätsalter (zwischen 15 und 24 Jahren) besonders gefährdet sind.

Gruppenvergewaltigung ist besonders häufig.

Diese Art der Vergewaltigung wird häufig im Zusammenhang mit der Ermordung von Zivilpersonen, der Plünderung und dem Anzünden von Dörfern begangen, um die Zivilbevölkerung weiter zu terrorisieren und ihren Lebensunterhalt zu zerstören.

Diese Art der Vergewaltigung ist oft sehr brutal. Frauen werden häufig mit Objekten vergewaltigt, die sie verletzen sollen, wobei ihr Tod in Kauf genommen wird. Manchmal wurden vergewaltigte Frauen auch verstümmelt oder ihnen wurden Gliedmaßen amputiert.

Dieser Vergewaltigungstyp findet absichtlich vor Zeugen statt, insbesondere vor Familienmitgliedern. Häufig wird vor oder nach der Vergewaltigung anderen Familienmitgliedern Gewalt angetan. Oft geschieht es auf öffentlichen Plätzen, wo die Wahrscheinlichkeit von Zeugen hoch ist.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

Bosnien und Herzegowina

Kolumbien

Demokratische Republik Kongo

El Salvador

Liberia

Peru

Papua Neuguia/Bougainville

Ruanda

Sierra Leone

Unterarten

Im Rahmen der Vergewaltigung als Militärstrategie fand in drei Konflikten (?osnien und Herzegowina, Demokratische Republik Kongo, Sierra Leone) auch erzwungener Inzest statt. Täter zwingen Zivilisten, die sie als »Feind« identifiziert haben, unter Androhung des Todes, inzestuöse Vergewaltigungen zu begehen. Dies wurde als Unterart der Vergewaltigung als Militärstrategie identifiziert, da es scheint, dass die Motivationen der bewaffneten Gruppen, die feindliche Zivilisten zum Inzest zwingen, sich von den Gründen bewaffneter Gruppen, die selbst Zivilisten vergewaltigen, unterscheiden. Es ist auch möglich, dass die Folgen hiervon sich von denen anderer Vergewaltigungen unterscheiden, da erzwungener Inzest direkt die Familieneinheit betrifft. Im folgenden werden jedoch nur die Folgen von Vergewaltigungen, die von Mitgliedern einer Armee an der »feindlichen« Zivilbevölkerung begangen werden, untersucht.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

Bosnien und Herzegowina

Demokratische Republik Kongo

Sierra Leone

Sozioökonomische Folgen

Viele Jungen und Männer wurden gezwungen, die Vergewaltigung ihrer Schwestern, Frauen, Mütter und Töchter mit anzusehen. Ihre Scham- und Schuldgefühle darüber, dass sie nicht in der Lage waren, sie zu beschützen, und somit ihrer Rolle als starker, dominanter Beschützer nicht nachgekommen sind, führte dazu, dass die Familienstruktur und der soziale Zusammenhalt zusammenbrachen. Manchmal zogen sich Männer sogar vor ihrer Familie zurück oder verließen sie ganz. In anderen Fällen, etwa in Liberia, übten viele Männer sexuelle und physische Gewalt gegenüber Frauen aus, um ihre Dominanz und Macht wiederherzustellen.21 Viele Frauen in der Demokratische Republik Kongo, die vor Familienmitgliedern vergewaltigt wurden, erwähnten besonders die zusätzliche Schande, dass diese ihre Vergewaltigung mit ansehen mussten.22 Gleiches ist für Peru zu berichten, wo manche Vergewaltigungen vor den Augen des gesamten Dorfs stattfanden.23

Diese Art der Vergewaltigung geht oft einher mit der Zerstörung von Hab und Gut. Dadurch müssen die Bewohner, die sich dazu entscheiden, im Dorf zu bleiben, genauso wie die Flüchtlinge eine neue Existenz aufbauen. Wirtschaftlich gesehen sind beide Gruppen gefährdet.

Vergewaltigung durch einen Nachbarn

Vergewaltigung der Zivilbevölkerung, die als »Feind« definiert ist, durch Mitglieder einer bewaffneten Gruppe, wobei Vergewaltiger und die vergewaltigte Person oft aus dem gleichen Dorf stammen

Gründe

Die gesammelten Daten zeigen auf, dass die Folgen der Vergewaltigung, wenn die vergewaltigte Person und ihr Vergewaltiger aus der gleichen Gemeinschaft stammen, sich vor Beginn der Feindseligkeiten gekannt haben und nun auf verschiedenen Seiten stehen, überwiegend durch diese Bekanntschaft beeinflusst sind.

Hauptmerkmale

Dieser Vergewaltigungstyp taucht dann auf, wenn Feindseligkeiten zwischen Mitgliedern der gleichen Gemeinschaft ausbrechen, wodurch sich die vergewaltigte Person und ihr Vergewaltiger fast unvermeidlich kennen.

Manchmal wird sogar eine feindliche Person absichtlich ausgewählt, weil der Vergewaltiger sie kennt. In diesem Fall ist die Vergewaltigung sehr persönlich. Ihr Zweck ist es u.a., sich zu rächen, die Person zu bestrafen oder Genugtuung zu erhalten für ein Unrecht, das die Person in der Vergangenheit angeblich begangen hat. Diese Motivation des Täters kann tatsächlich zu einer brutaleren Vergewaltigung führen; d.h., es wird mehr körperliche Gewalt angewendet als wenn die Vergewaltigung nicht aus dem Gefühl der persönlichen Rache begangen wird.

Diese Art der Vergewaltigung kann sowohl im Rahmen der Kriegstaktik einer bewaffneten Gruppe wie auch aus opportunistischen Gründen begangen werden.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

Bosnien und Herzegowina

Ruanda

Sozioökonomische Folgen

Dieser Vergewaltigungstyp kann zu einem Zusammenbruch der sozialen Zusammenhänge führen. Vergewaltigte Personen kehren nach dem Krieg wieder in die gleichen Dörfer zurück wie ihre Vergewaltiger, so z.B. in Bosnien und Herzegowina. Aber die sozialen Interaktionen dieser Gemeinschaften können nicht wie früher fortgesetzt werden. Sie sind nun gespalten oder, wie es eine befragte Person formuliert, „durch Zäune getrennt“.24 Die Verhaltensmuster und das Vertrauen zwischen Mitgliedern dieser Gemeinschaften haben sich verändert, was dazu führt, dass die Gemeinschaft weitaus fragmentierter ist als vor dem Krieg und der Kriegsvergewaltigung.

Aus mangelnder Rechtssicherheit können sich Personen, die es nicht riskieren wollen, auf ihre Vergewaltiger zu treffen, nur eingeschränkt innerhalb der Gemeinschaft bewegen. So entgehen ihnen Gelegenheiten zur sozialen Interaktion und zur wirtschaftlichen Entwicklung. Ihr wirtschaftliches Vorankommen ist gefährdet. Manche Personen verlassen ihre Gemeinden, um sich mit der Vergewaltigung auseinandersetzen zu können und zu vermeiden, Tür an Tür mit ihrem Vergewaltiger leben müssen. Sie ziehen in ein anderes ländliches oder städtisches Zentrum oder in ein ganz anderes Land. Wahrscheinlich werden sie nicht in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt wie noch vor dem Krieg und vor der Vergewaltigung zu verdienen, und müssen sich an eine neue wirtschaftliche Landschaft anpassen, die ihnen möglicherweise andere Kenntnisse oder Fertigkeiten abverlangt. All diese Faktoren wirken sich auf die wirtschaftliche Sicherheit der betroffenen Person und ihrer Familie aus.

Vergewaltigungslager

Vergewaltigung einer feindlichen Zivilbevölkerung durch Mitglieder einer bewaffneten Gruppe, wobei die vergewaltigte Person oft an einem Platz festgehalten wird, der für die Vergewaltigung vorgesehen ist

Gründe

Forschungsergebnisse der Autorinnen weisen darauf hin, dass das Festhalten nur zum Zweck der Vergewaltigung durch verschiedene Faktoren beeinflusst wird und zu anderen Folgen führt als andere Arten der Vergewaltigung im Krieg. So fanden die Autorinnen Hinweise darauf, dass Personen, die in Lagern gefangen gehalten werden, häufiger vergewaltigt werden und dadurch mehr körperliche Verletzungen und andere Komplikationen davontragen als die, die anderen Arten der Kriegsvergewaltigung ausgesetzt waren.

Das Festhalten von Personen in Vergewaltigungslagern wird in der internationalen Gesetzgebung als eine Form sexueller Sklaverei angesehen, da es die Versklavung von Einzelnen für sexuelle Zwecke vorsieht. Die Autorinnen hingegen unterscheiden das Festhalten von Personen in Vergewaltigungslagern zum alleinigen Zweck erzwungener sexueller Beziehungen von sexueller Sklaverei, bei der Personen auch gewisse Hausarbeiten erledigen müssen. Ihrer Auffassung nach kann diese Unterscheidung bedeutend dafür sein, wie Einzelne, Familien und ganze Gemeinschaften diese Erfahrung interpretieren und ihr begegnen.

Hauptmerkmale

Frauen sind die Hauptziele dieser Vergewaltigungsart. Sie sind im Allgemeinen jung und im Fertilitätsalter. Frauen werden ausschließlich zum Zweck der Vergewaltigung eingesperrt und werden anders im Fall der sexuellen Sklaverei zu keinen anderen Tätigkeiten gezwungen.

In diesen Lagern werden die Frauen mehr als einmal vergewaltigt, manche täglich, und von mehr als einem Täter.

Die Gründe, warum Frauen in Vergewaltigungslagern festgehalten werden, sind von Fall zu Fall unterschiedlich.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

Bosnien und Herzegowina

Ruanda

Timor Leste

Sozioökonomische Folgen

Es liegen kaum Daten vor, die die Folgen belegen. Die einzige Folge, die direkt mit diesem Vergewaltigungstyp in Verbindung gebracht werden kann, sind Kinder, die nach der Vergewaltigung in dafür bestimmten Lagern geboren wurden. Viele Frauen in Vergewaltigungslagern in Bosnien und Herzegowina wurden aufgrund der Kriegsvergewaltigung schwanger. Unbekannt ist jedoch, ob Schwangerschaft auch in Ruanda oder Timor Leste häufig Ergebnis solch einer Vergewaltigung war. In der Literatur heißt es, dass Frauen, die durch die Vergewaltigung schwanger werden, es schwerer haben, die Vergewaltigung zu verarbeiten. So fand Folnegovic-Smalc heraus, dass bosnische Frauen, die infolge ihrer Kriegsvergewaltigung schwanger wurden, häufiger Selbstmordgedanken hatten als andere.25 Die Länge der Gefangenschaft in Vergewaltigungslagern machte es Frauen fast unmöglich, die Ursache ihrer Schwangerschaft gegenüber ihrer Familie und Freunden zu verheimlichen. Dies kann zu ihrer Ausgrenzung oder Ablehnung und/oder der Ablehnung ihres aus der Vergewaltigung geborenen Kindes führen.

Aufschlussreich ist eine Studie von Loncar et al. über bosnische Flüchtlingsfrauen, die im Krieg vergewaltigt wurden. Sie sagt, dass Frauen, die einmal vergewaltigt wurden, im Gegensatz zu Frauen, die mehrfach vergewaltigt wurden, ein siebenmal höheres Risiko hatten, schwanger zu werden.26 Dies impliziert, dass Frauen, die auf andere Art im Krieg vergewaltigt werden, ein genauso hohes, wenn nicht höheres, Schwangerschaftsrisiko haben wie Frauen, die zum Zweck der Vergewaltigung eingesperrt sind (ob in Vergewaltigungslagern oder als sexuelle Sklaven). Aus diesem Wissen heraus kann man tatsächlich die falsche Vorstellung widerlegen, dass eine Schwangerschaft nur Folge einer langfristiger Gefangenschaft ist, in der, wie allgemein angenommen, Frauen sexuellen Beziehungen mit einem bewaffneten Kämpfer zugestimmt haben (s. o.).

Vergewaltigung während der Gefangenschaft

Vergewaltigung von »feindlichen« Zivilpersonen durch Mitglieder einer bewaffneten Gruppe, bei der die vergewaltigten Personen an einer zentralen Stelle gefangen gehalten werden, die zwar nicht vorsätzlich für Vergewaltigungen vorgesehen war, in der aber Vergewaltigung stattgefunden hat

Gründe

Vergewaltigung während einer Gefangenschaft, ob im Gefängnis oder in Konzentrationslagern, unterliegt anderen Dynamiken als die Gefangenschaft zum Zweck der Vergewaltigung (wie sexuelle Sklaverei und Vergewaltigungslager). Die Autorinnen fanden Beweise, die die Vermutung unterstützen, dass in Gefängnissen vergewaltigte Personen vielfältigen traumatischen Ereignissen ausgesetzt sind, die neben dem sexuellen Missbrauch auch Hunger und/oder den Tod von Familienmitgliedern einschließen können. Diese Belastung kann sich auf mannigfaltige Weise äußern, darunter auch durch Verschweigen der Vergewaltigung. Die Autorinnen fanden ferner heraus, dass die Vergewaltigung in Lagern, in denen nicht alle Frauen vergewaltigt wurden, den betroffenen Frauen die Möglichkeit gab, die Vergewaltigung zu verschweigen oder, wenn gefragt, zu verneinen. Die Folgen einer Vergewaltigung in Gefangenschaft mögen deshalb andere sein als bei Vergewaltigungslagern, in denen alle Gefangenen vergewaltigt wurden und wo es unmöglich war, diese Erfahrung zu verbergen oder abzustreiten.

Hauptmerkmale

Vergewaltigung ist nicht notwendigerweise weit verbreitet, geschieht aber systematisch.

Die Vergewaltigung von männlichen und weiblichen Zivilpersonen in Gefangenschaft scheint aus unterschiedlichen Motiven zu erfolgen, obwohl es unklar ist, was abgesehen von Folter die Motivationen für die Vergewaltigung von Männern sind.

Die Gelegenheit und individuelle Gründe wie sexuelles Verlangen oder das Verlangen nach Macht bzw. Dominanz über andere scheinen die Hauptmotive für die Vergewaltigung von Frauen in Gefangenschaft zu sein.

Viele Gefangene, die vergewaltigt wurden, haben die Haft nicht überlebt oder wurden noch im Gefängnis hingerichtet.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

Bosnien und Herzegowina

Kambodscha

Sozioökonomische Folgen

Es liegen keine Daten vor.

Opportunistische Vergewaltigung

Vergewaltigung, die von Mitgliedern einer bewaffneten Gruppe an der Zivilbevölkerung begangen wird, die keiner Krieg führenden Partei zugeordnet werden kann

Gründe

Dieser Vergewaltigungstyp wurde aufgrund von Informationen identifiziert, dass Zivilpersonen oft aus opportunistischen und individuellen Gründen wie sexuelles Verlangen oder das Verlangen nach Macht und Dominanz, die wenig mit dem Kriegsziel gemein haben, vergewaltigt werden. Die Autorinnen fanden ebenfalls Hinweise darauf, dass diese Motivation Auswirkungen auf die Art und Weise der Vergewaltigung und ihre Folgen hat.

Hauptmerkmale

Bewaffnete Gruppen, die diese Art Vergewaltigung begehen, haben meist eine schwache oder schlecht funktionierende Kommandostruktur, in der Vergewaltigung durch die Gruppe weder verboten noch bestraft wird.

Frauen verschiedenen Alters sind Ziele dieses Vergewaltigungstyps.

Gruppenvergewaltigung ist üblich.

Sexuelles Verlangen des Täters scheint die Hauptmotivation zu sein.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

Kolumbien

Demokratische Republik Kongo

Nepal

Peru

Papua Neuguia/Bougainville

Sierra Leone

Sozioökonomische Folgen

Es liegen keine Daten vor.

Gezielte Vergewaltigung

Vergewaltigung von Zivilpersonen, die gezielt ausgewählt wurden, weil sie angeblich mit dem Feind in Verbindung stehen oder in Aktivitäten involviert sind, die als umstritten oder gefährlich für die bewaffnete Gruppe gelten, durch Mitglieder einer bewaffneten Gruppe

Gründe

Vergewaltigungen werden oft begangen, wenn Mitglieder einer bewaffneten Gruppe glauben, dass Zivilpersonen (z.B. Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler) mit feindlichen Truppen kollaborieren oder bei Aktionen mitmachen, die sie für umstritten oder bedrohlich halten. Eine solch gezielte Vergewaltigung hat laut Forschungsergebnis besondere Eigenschaften, die sowohl die Folgen beeinflussen wie auch dazu beitragen können, diese Vergewaltigung zu vermeiden.

Hauptmerkmale

Dieser Vergewaltigungstyp ist eine eindeutige Kriegstaktik, die dazu verwendet wird, aktive Einzelpersonen zu bestrafen und abzuschrecken. Getroffen werden sollen die feindlichen Truppen auch dadurch, dass ihre Angehörigen (Frauen, Schwestern, Mütter, Verwandte etc.) vergewaltigt werden.

Dieser Vergewaltigungstyp wird im allgemeinen von Regierungstruppen oder von durch die Regierung unterstützte Milizen begangen.

Männliche und weibliche Zivilpersonen sind Ziele dieses Vergewaltigungstyps. Manchmal werden sie in ihren Häusern vergewaltigt, manchmal aber auch zunächst gefangen genommen und dann als eine Art der Folter vergewaltigt.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

Kolumbien

Nepal

Peru

Timor Leste

Sozioökonomische Folgen

Es liegen keine Daten vor.

Zusammenfassung

Tab. 3: Zusammenfassung der Typen und sozioökonomischen Folgen von Kriegsvergewaltigungen

Typ Sozioökonomische Folgen
Vergewaltigung durch einen Verbündeten Verlust der Unterstützung einer bewaffneten Gruppe durch die Zivilbevölkerung während des Kriegs.
Sexuelle Sklaverei »Normalisierung« von Vergewaltigung und sexueller Gewalt in intimen Partnerbeziehungen während des Krieges und nach seinem Ende.Wirtschaftliche Vulnerabilität der Vergewaltigten und ihrer Familien.Kinder, die nach einer Vergewaltigung geboren ­werden.Soziale Stigmatisierung.
Vergewaltigung als Militärstrategie Zusammenbruch der Familie und des sozialen Zusammen­halts.Wirtschaftliche Vulnerabilität ganzer Familien.
Vergewaltigung durch einen Nachbarn Zusammenbruch des sozialen Zusammenhalts.Wirtschaftliche Vulnerabilität ganzer Familien.
Vergewaltigungslager Kinder, die nach einer Vergewaltigung geboren ­werden.
Vergewaltigung im Gefangenschaft Unbekannt.
Opportunistische Vergewaltigung Unbekannt.
Gezielte Vergewaltigung Unbekannt.

Dieses Dossier fasst die Ergebnisse des BICC-Forschungsprojekts zur Entwicklung einer Typologie von Kriegsvergewaltigungen zusammen. Diese Forschung zeigt, dass es acht unterschiedliche Formen gibt, die wiederum jeweils verschiedene Folgen in der Nachkriegszeit nach sich ziehen. Dies hat Auswirkungen auf die Effizienz von Interventionen und muss daher bei der Auswahl von Interventionen in Betracht gezogen werden.27 Die Autorinnen hinterfragen etabliertes Wissen und geben zu bedenken, dass die Durchführung und die Folgen dieses Gewaltakts nicht allein durch die Handlung des erzwungenen Eindringens definiert werden sollte. Vielmehr werden sie durch zahlreiche Kriegsdynamiken beeinflusst, die durch verschiedene »Themen« in der Typologie erfasst werden.

Bei der Entwicklung der Typologie wurde ersichtlich, dass die Folgen der Kriegsvergewaltigung nicht immer durch die gleichen Themen, z.B. durch die Motivation für die Vergewaltigung, beeinflusst werden. Im Gegenteil können sich verschiedene Themen auf die Folgen auswirken, einschließlich der individuellen Beziehung zwischen Vergewaltigern und Vergewaltigten sowie die Art und Weise der Vergewaltigung (im Gefängnis, durch sexuelle Sklaverei, im Vergewaltigungslager etc.). Obwohl es einige Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Typen und ihren Folgen gibt, sollten Informationen, auf denen Interventionen beruhen, so detailgenau wie möglich sein, damit nichts, was möglicherweise für ihren Erfolg bedeutsam sein kann, übersehen wird. Dies schließt die Berücksichtigung des sozialen Kontexts, in dem die Vergewaltigung begangen wird, ein – ein Faktor, der bei der Erstellung der Typologie allerdings nicht berücksichtigt werden konnte. Die bestehenden Wissenslücken sowie fehlende Daten über manche Folgen von Kriegsvergewaltigung machen deutlich, dass eine längerfristige Erforschung dieses Themas nötig ist.

Bislang konzentrierte sich die Forschung in Ländern, in denen Kriegsvergewaltigung stattgefunden hat, auf die einzelnen Personen, die vergewaltigt wurden. Dies ist jedoch nur eine Seite der Gleichung. Um die offenen Fragen zu beantworten, sollten auch die Täter sowie die Art und Weise, wie das Verbrechen begangen worden ist, berücksichtigt werden. So wird z.B. die Frage, warum im Krieg vergewaltigt wird, in der Literatur nur in Hinsicht auf die Folgen der Vergewaltigung (Zusammenbruch von Familien) oder die Eindrücke vergewaltigter Personen („der Täter wollte uns erniedrigen“) beantwortet. Auch wenn diese Motive zutreffen mögen – die Täter selbst werden selten gefragt. Dies ändert sich langsam. Mehr und mehr Forscher und selbst Dokumentarfilmer bemühen sich gemeinsam, Vergewaltiger oder männliche Kämpfer aus Gruppen, die im Krieg vergewaltigt haben, zu interviewen.28 Inwiefern Kämpfer freiwillig zu Tätern werden oder welche Folgen die Vergewaltigung von Zivilisten auf sie hat, ist ebenfalls unbekannt. Diese Aspekte und die »Kosten-Nutzen Kalkulation« der Vergewaltiger im Krieg wirklich zu verstehen, kann einen großen Einfluss darauf habe, diese Art der Gewalt in Zukunft zu stoppen und zu vermeiden.

BICC (Internationales Konversionszentrum Bonn)

Als unabhängige, gemeinnützige Organisation fördert das BICC Frieden, Sicherheit und Entwicklung. Auf Grundlage von anwendungsorientierter Forschung leistet das BICC Beratungstätigkeit, gibt politische Empfehlungen und bildet aus. Der internationale Mitarbeiterstab führt eigene und von Förderern und Auftraggebern finanzierte Projekte durch.

Zu den Forschungsschwerpunkten des BICC gehören globale Rüstungsentwicklungen und Abrüstung, Sicherheit, Migration, natürliche Ressourcen und Konflikte sowie Konversion. Das Zentrum sammelt und veröffentlicht Informationen, erstellt Gutachten und Publikationen und stellt diese Materialien NGOs, Regierungen und privaten Organisationen zur Verfügung.

Das BICC wurde 1994 mit Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) als gemeinnützige GmbH gegründet. Nach dem Global »Go-To Think Tanks«-Report der University of Pennsylvania 2010 gehört das BICC zu den führenden 50 Think Tanks weltweit (außer US-Einrichtungen).

Anmerkungen

1) Der Begriff »systematisch« bedeutet hier „die organisierte Art von Gewalttaten und die Unwahrscheinlichkeit, dass diese zufällig begangen werden. Muster von Verbrechen sind ein üblicher Ausdruck solch systematischen Auftretens“. Siehe United Nations Security Council: Report of the Secretary-General Pursuant to Security Council Resolution 1820 (2008). UN-Dokument S209/362 vom 20. August 2009, S.2, Fußnote 3.

2) Der Begriff »weit verbreitet« ist hier definiert durch eine große Anzahl an vergewaltigten Einzelpersonen sowie die geographische Verbreitung des Verbrechens.

3) Die folgende Publikation behandelt dieses Thema im Detail: Isikozlu, Elvan und Millard, Ananda S. (2010): Towards a Typology of Wartime Rape. Bonn: Bonn International Conversion Center. BICC brief 43.

4) »Typ« ist definiert durch das Zusammenspiel einer Reihe von Aspekten der Vergewaltigung, die in den folgenden Themen enthalten sind: Art des Konflikts, Merkmale der bewaffneten Gruppe, Motive für die Vergewaltigung, Merkmale des Vergewaltigers, Merkmale der vergewaltigten Person und Merkmale der Vergewaltigung.

5) Bei der Erforschung dieses Themas war nicht vorgesehen, ursächliche Zusammenhänge zwischen verschiedenen Arten der Kriegsvergewaltigung und ihren Folgen herzustellen, da Daten dazu nicht vorhanden sind.

6) Diese Vergewaltigungstypen sind auch Teil der Typologie der Kriegsvergewaltigung, wurden jedoch nicht veröffentlicht.

7) Diese Definition von Vergewaltigung beruht größtenteils auf der Definition des »Römischen Statuts«, das 1998 von dem Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court, ICC) in »Elements of Crimes, Article 7, Crimes Against Humanity, 7 (1-g), Crime against humanity of rape« definiert wurde. Der Text des »Römischen Statuts» wurde am 17. Juli 1998 in Rom verabschiedet und trat am 1. Juli 2002 in Kraft. Deutsche Übersetzung unter www.admin.ch/ch/d/sr/i3/0.312.1.de.pdf.

8) Der Schwerpunkt dieser BICC-Forschung lag darauf, die Erfahrung von Kriegsvergewaltigung und die Folgen dieser Form von Gewalt zu beschreiben. Einschränkend muss bemerkt werden, dass Kausalfaktoren für Kriegsvergewaltigung nur wenig erforscht sind.

9) Für eine Literaturübersicht siehe: Isikozlu, Elvan und Millard, Ananda S. (2010), op.cit.

10) Manche definieren den Konflikt in BiH als internationalen, manche als internen Konflikt. Die Autorinnen definieren »internationalen Konflikt« als einen Konflikt, an dem zwei oder mehr staatliche Armeen, die nationale Interessen repräsentieren, miteinander Krieg führen. Dies war in BiH nicht der Fall; daher wurde er hier als interner Konflikt aufgeführt.

11) Die maskuline Form ist aus rein sprachlichen Gründen gewählt; sie bezieht sich sowohl auf männliche wie auf weibliche Täter.

12) Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, Artikel 7(g); op.cit.

13) United Nations Economic and Social Council (ECOSOC), Commission on Human Rights: Contemporary Forms of Slavery. Systematic rape, sexual slavery and slavery-like practices during armed conflict. Final report submitted by Ms. Gay J. McDougall, Special Rapporteur (E/CN.4/Sub.2/1998/13), 22. Juni 1998, Absatz 30.

14) Sierra Leone Truth and Reconciliation Commission (2004): Witness to Truth: Report of the Sierra Leone Truth & Reconciliation Commission. Kapitel 3, Vol. 3b, S.174.

15) Ibid.

16) Integrated Regional Information Networks/IRIN (2008): Sierra Leone: Sex Crimes Continue in Peacetime, 20. Juni; www.irinnews.org/report.aspx?REportID=78853.

17) Interview der Autorinnen mit Nidzara Ahmetasevic, Sarajevo, Februar 2009.

18) Bartels, Susan (2010): Now, The World Is Without Me. An Investigation of Sexual Violence in Eastern Democratic Republic of Congo. Cambridge: Harvard Humanitarian Initiative und Oxfam International, April 2010; www.hhi.harvard.edu.

19) Ibid, S.27.

20) Commission for Reception, Truth and Reconciliation in Timor-Leste: Chapter 7.7, Sexual Violence. In: CAVR, Report of Commission for Reception, Truth and Reconciliation in Timor-Leste, Dili: CAVR, 2005. S.98–99.

21) Munala, June (2007): Challenging Liberian Attitudes Toward Violence Against Women: Forced Migration Review, Vol. 27, S.36-37.

22) Bartels, Susan (2010), op.cit, S.23.

23) Americas Watch: Untold Terror. Violence Against Women in Peru’s Armed Conflict. New York: Human Rights Watch, Dezember 1992.

24) Interview der Autorinnen mit Altaira Krvavac, Tuzla, Februar 2009.

25) Folnegovic-Smalc, Vera: Psychiatric Aspects of the Rapes in the War against the Republics of Croatia and Bosnia-Herzegovina. In: Stiglmayer, Alexandra (ed.) (1994): Mass Rape: The War against Women in Bosnia-Herzegovina. Lincoln and London: University of Nebraska Press, S.174-179.

26) Loncar, Mladen, Vesna Medved, Nikolina Jovanovic and Ljubomir Hotujac (2006): Psychological Consequences of Rape on Women in 1991-1995 War in Croatia and Bosnia and Herzegovina. Croat Med Journal, Vol. 47, No. 1, S.67-75.

27) Siehe Isikozlu und Millard (2010), op.cit., für eine Betrachtung dieser Implikationen.

28) So z.B. der Dokumentarfilm »Weapon of War« von Ilse und Femke van Velzen, der sich mit Vergewaltigern im Krieg in der Demokratische Republik Kongo auseinandersetzt; www.weaponofwar.nl.

Dieses Dossier beruht auf der BICC-Publikation »Towards a Typology of Wartime Rape«, BICC brief 43, aus dem Jahr 2010; Autorinnen: Elvan Isikozlu und Ananda S. Millard. Der brief ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts über Kriegsvergewaltigung, das durch das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert und nach einem doppelblinden Peer-Review-Prozess veröffentlicht wurde. In diesem Dossier werden die wichtigsten Punkte zusammengefasst. Die komplette Publikation ist unter www.bicc.de zu finden.