Begrenzte Menschenrechts(ver)suche in Osttimor

Begrenzte Menschenrechts(ver)suche in Osttimor

Die nächsten Wochen sind entscheidend

von Rainer Werning

Läge das unwirtliche und gebeutelte Osttimor irgendwo in Europa, hätte es durchaus Chancen gehabt, von bombengelaunten »humanitären Interventionisten« zumindest ins Visier genommen zu werden. So aber hatte es das historische Pech, jahrelang nicht einmal mehr zur Kenntnis genommen zu werden. Das soll sich jetzt ändern.

Die »Nelkenrevolution« in Portugal vor 25 Jahren war für seine Kolonien das Fanal zum letzten Gefecht eines verlustreichen Unabhängigkeitskrieges. Was in Afrika Angola, Mozambik und Guinea-Bissao glücken sollte – zumindest die Eigenständigkeit und staatliche Souveränität zu erlangen –, blieb in Lissabons südostasiatischer Kolonie Osttimor ein bis heute andauernder Alptraum. Nachdem auch dort die letzten portugiesischen Kontingente abgezogen worden waren, genoss Osttimor gerade mal eine neuntägige Unabhängigkeit: Am 7. Dezember 1975 besetzten indonesische Truppen die Region, die sich Jakarta ein Jahr später als 27. Provinz Indonesiens einverleibte.

Genozid im Quadrat der Heimlichkeit

Bis heute betrachten die Vereinten Nationen diese Annexion als völkerrechtswidrig. Doch Menschenrechte sind teilbar, wenn und solange sich die Interessen der »westlichen Wertegemeinschaft« auf Wichtigeres konzentrieren. Was lag da näher, als sich mit der Regierung des bevölkerungsreichsten Landes Südostasiens und bedeutsamsten Verbündeten in der Region ins Benehmen zu setzen. Schließlich war in Jakarta mit Präsident Suharto ein Mann am Ruder, der seinen Aufstieg (1965/66) zur Macht buchstäblich auf Leichenbergen ermordeter »Kommunisten«, »Aufrührer« und »Separatisten« erklommen hatte. Mit Jakarta ließen sich vorzüglich Geschäfte machen. Groß war der indonesische Markt und größer noch waren die Begehrlichkeiten westlichen Kapitals, dort kräftig zu hecken und Suhartos angepeiltes Aufrücken in den Club der sogenannten Tigerstaaten zu unterstützen. Für alle Beteiligten ein lukratives Geschäft bis sich die Wirtschafts- und Finanzkrise mit einer politischen und Legitimitätskrise verband und den Despoten im Mai vergangenen Jahres zum Rückzug zwang.

Bis dahin war Osttimor kein Thema. Fernab medialen Interesses konnte es tief in den Morast systematischer Militarisierung und Pauperisierung sinken, ohne dass sich wirksamer Protest politischer MenschenrechtsapologetInnen erhob. Amnesty international und andere Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen gehen davon aus, dass über 200.000 der annähernd 850.000 EinwohnerInnen zählenden Bevölkerung Osttimors infolge der indonesischen Besatzung ums Leben kamen. „In Prozentzahlen ausgedrückt“, so der Anthropolge Shepard Forman, „handelt es sich hier um die wohl schrecklichste Verletzung von Menschenrechten in diesem Jahrhundert. Neben der Zerstörung menschlichen Lebens ist ein ganzer »Way of Life« vernichtet worden.“ Heute weist Osttimor die weltweit höchste Kindersterblichkeitsrate auf, mindestens 70 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind unterernährt. Bereits im Juli 1994, als das Wort Wirtschaftskrise in Indonesien und der gesamten Region Südostasien noch ein Fremdwort war, konstatierte ein UN-Bericht: „Etwa 82 Prozent der Bevölkerung (Osttimors – R.W.) leben in Armut und über 70 Prozent der Bevölkerung unter 30 Jahren sind arbeitslos.“

Nun war es ausgerechnet der langjährige Suharto-Intimus und dessen Nachfolger, Präsident Bacharuddin Jusuf Habibie, der Anfang des Jahres in die Offensive ging. Die Regierung, so Habibie in seiner verblüffenden Botschaft, sei sich bewusst, dass ihr internationales Ansehen unter dem Osttimor-Konflikt leidet. Überdies belaste dieser Konflikt den Staatshaushalt, schließlich gäbe es in den anderen 26 Provinzen ohnehin genügend soziale und wirtschaftliche Probleme. Dann fragte sich Habibie, was Osttimor eigentlich Indonesien anzubieten habe und lieferte die Antwort gleich mit: „Reichtum an natürlichen Rohstoffen? Nein. Menschliche Ressourcen?. Nein. Technologie? Nein. Steine? Ja.“ Um nicht länger ein Stein im indonesischen Schuh zu sein, solle Osttimor noch vor der Jahrtausendwende selbst darüber entscheiden, ob es Autonomie, Unabhängigkeit oder den Verbleib im indonesischen Staatsverband wünsche. Da hatte ein Mann der Suhartos Politik bis zum bitteren Ende mitgestaltet hatte die Chuzpe, eine Kehrtwende um 180 Grad zu verkünden und auf einmal kampflos preiszugeben, was seinem Vorgänger und der Militärkaste so lange ein Herzensanliegen war. Das macht stutzig.

Herausgefordert durch diese unerwartete Bewegung in der Osttimor-Politik waren über Nacht zwei Akteurinnen: Die osttimoresische Widerstandsbewegung Fretilin und die UN. Jahrelang und besonders in Zeiten bröckelnder internationaler Solidarität hatte die Fretilin politisch, diplomatisch und militärisch alles daran gesetzt, sich Gehör und Hilfe zu verschaffen. Erst die Verleihung des Friedensnobelpreises an José Ramos Horta und den osttimoresischen Bischof Carlos Belo im Jahre 1996 rückte den gottverlassenen Zipfel und die zermürbte Fretilin mit ihrer Falintil-Guerilla ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Mit der Habibie-Erklärung geriet sie aber auch in Zugzwang; die Fretilin muss beweisen, dass sie als Garantin eines friedlichen Wandels in Osttimor fungieren kann. Das ist schwer, solange die andere Seite ihrerseits alles daran setzt, den Friedenspfad mit Stolperdrähten zu versehen. Dennoch bietet sich jetzt für die Fretilin und den Nationalen Widerstandsrat für Osttimor (CNRT) unter seinem (noch in Jakarta unter Hausarrest stehenden) Präsidenten Xanana Gusmao die historische Chance, ihr Ziel, die Unabhängigkeit Osttimors, zu verwirklichen.

Dornenreiche Friedenssuche

Bereits im April entstand in Jakarta eine Kommission für Frieden und Stabilität, in der GegnerInnen und BefürworterInnen der Unabhängigkeit Osttimors im Beisein von VertreterInnen der Nationalen Menschenrechtskommission und indonesischer Sicherheitskräfte über die Modalitäten des von den UN zunächst auf den 8. August angesetzten, dann um zwei Wochen verschobenen Referendums beraten. Flankiert werden diese Verhandlungen von Treffen im Rahmen des Dialog- und Versöhnungsprogramms, das auf Initiative der katholischen Kirche Osttimors zurückgeht. Einen politisch-diplomatischen Punktsieg konnte die Fretilin Ende Juni verbuchen, als José Ramos Horta erstmalig seit der Annexion Osttimors nach Jakarta reisen und dort seinen Genossen Gusmao wiedersehen konnte. Indonesiens Außenminister Ali Alatas hatte wenige Tage vorher noch erklärt, Horta die Einreise zu verweigern. Einen weiteren Erfolg konnten die BefürworterInnen der Unabhängigkeitsbewegung verbuchen: Seit letzten Monat haben immerhin internationale Beobachter der UN Assistance Mission to East Timor (UNAMET) in der Hauptstadt Dili Quartier bezogen.

Mehrere Faktoren erschweren allerdings eine tatsächlich friedliche Krisenlösung in Osttimor. Die bis zum Referendum verbleibende Zeit ist zu kurz um solche heiklen Fragen wie einen Waffenstillstand und die Entwaffnung der Protagonisten, das Wahlprozedere und die Perspektiven der unterliegenden Seite umfassend zu klären. Je näher der Tag der Abstimmung rückt, umso mehr Waffen kommen in Umlauf, mit denen sogenannte »integrationistische« – sprich: pro-indonesische – Milizen, die binnen weniger Wochen von knapp 20.000 auf mittlerweile etwa 50.000 Mitglieder angewachsen sind, Front gegen ihre Widersacher machen. Bereits die ersten Wochen des UN-Personals in Osttimor haben den dortigen UN-Chef Ian Martin gelehrt, wie dornenreich der Weg zum Frieden ist. Sein Team wurde selbst mehrfach drangsaliert, gar tätlich angegriffen und Zeuge, wie im Auftrag – zumindest mit Billigung – indonesischer Sicherheitskräfte diese marodierenden Milizen systematisch gegen alle vorgehen, die für Unabhängigkeit optieren. Plünderungen, das Niederbrennen von Häusern und Vergewaltigungen sind vor allem im Landesinneren an der Tagesordnung. Schon jetzt ist absehbar, dass etliche WählerInnen aus Furcht vor Repressalien gegen ihr Gewissen und ihre Überzeugung stimmen bzw. sich an den Wahlurnen kurzerhand für die »Integrationisten« entscheiden werden. Makaber ist überdies die Vorstellung, dass ausgerechnet indonesische Sicherheitskräfte mit der ordnungsgemäßen Überwachung des Referendums betraut sind und die vergleichsweise kleine – dazu unbewaffnete – Schar ausländischer BeobachterInnen und UNAMET-VertreterInnen schier überfordert ist, ihre Mission zu erfüllen.

Darüber hinaus bleibt die Widerstands- und Unabhängigkeitsbewegung mit dem Dilemma konfrontiert, einen mit osttimoresischen Kadern besetzten Verwaltungsapparat aufbauen zu müssen. Als langjähriges Objekt externer Kolonialisierung und interner Kolonisierung ist heute nahezu der gesamte Wirtschafts- und Handelssektor Osttimors von indonesischen Geschäftsleuten aus Sulawesi, Java und anderen Inseln dominiert, die ihrerseits ein Interesse daran haben, dass mit dem Status quo auch ihre Pfründe erhalten bleiben. Und erst ein den Namen verdienendes Bildungs- und Ausbildungssystem gestattet es der Fretilin und dem CNRT einer staatlichen Unabhängigkeit auch eine Eigenständigkeit im sozialpolitischen und wirtschaftlichen Bereich folgen zu lassen. Auf jeden Fall wären sie auf dauerhaft entspannte und gute Beziehungen mit Jakarta und Canberra angewiesen. Erst in den vergangenen Monaten hat der australische Außenminister Alexander Downer durchblicken lassen, dass man seine frühere Osttimor-Politik revidieren werde. Um an noch unerschlossene Erdölquellen heranzukommen, hat auch Canberra Jakarta jahrelang ungeniert hofiert und alles getan, um dieses gute bilaterale Verhältnis nicht von Osttimor überschatten zu lassen.

Instrumentalisierungsversuche

Schließlich laufen die Friedensbemühungen Gefahr, politisch instrumentalisiert zu werden. Sollte die Gewinnerin der Parlamentswahlen vom 7. Juni, die Indonesische Demokratische Partei-Kampf (PDI-P), im Herbst die Präsidentin stellen, wird man sich seitens der Fretilin und des CNRT auf einiges gefasst machen müssen. Megawati Sukarnoputris hat mehrfach erklärt, dass sie gegen eine Eigenständigkeit Osttimors ist. Da steht sie übrigens ganz in der Tradition ihres ebenso charismatischen wie schillernden Vaters und Staatsgründers Sukarno, der sich in seiner Außenpolitik als gewichtige Stimme in der gerade entstehenden Bewegung der blockfreien Staaten antikolonialistisch und antiimperialistisch gebärdete, doch innenpolitisch tunlichst darauf bedacht war, keine wie auch immer gearteten zentrifugalen Kräfte zu dulden. Als vehementer Verfechter des javanisch gelenkten Einheitsstaates ging er hart gegen sezessionistische Bestrebungen in Aceh (Nordsumatra) vor und legte den Grundstein dafür, dass auch Irian Jaya (Westpapua) in den indonesischen Staatsverband integriert wurde.

In Aceh hatte sich bereits 1950 organisierter Widerstand gegen Jakarta formiert, wobei es damals um die Schaffung eines islamischen Staates ging. Später dann übernahm das sogenannte Free Aceh Movement die Forderung nach Unabhängigkeit, der jedoch von den Streitkräften Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre durch großangelegte Aufstandsbekämpfungs-Programme begegnet, allerdings bis heute nicht endgültig der Riegel vorgeschoben wurde. In Irian Jaya war die Zentralregierung in Jakarta seit 1963 bestrebt, durch manipulierte Wahlen eines etwa 1.000-köpfigen Papua-Ältestenrates die schrittweise Anbindung der Region an Indonesien zu betreiben. Später dann entsandte der Sukarno-Nachfolger Suharto seine Soldateska zur »Befriedung« der zwischenzeitlich entstandenen Organisation Freies Papua (OPM) nach Irian Jaya, eine Politik, gegen die auch Megawati nie kritische Einwände erhoben hatte.

Bis zu ihrem Zerwürfnis und offenen Bruch mit Suharto im Jahre 1996 (dieser hatte sie unzeremoniell ihres Postens als Vorsitzende der PDI entheben lassen) war sie Abgeordnete des domestizierten Parlaments und nie durch regimekritische Äußerungen aufgefallen. In all diesen Jahren hat Megawati von Suharto zumindest die Lektion gelernt, dass ohne, gar gegen die Militärs kein Staat zu machen ist. Auffällig war denn auch der militärfreundliche Tenor der Sukarno-Tochter während des gesamten Wahlkampfs in den vergangenen Wochen: Mehrfach lobte sie namentlich den mächtigsten Mann im Lande, den Verteidigungsminister und Oberkommandierenden der Streitkräfte General Wiranto, der es verstanden habe, das Militär aus der Politik herauszuhalten (sic!) und Stabilität zu garantieren. Im Gegenzug haben Wiranto und andere (Ex-)Generäle der nunmehrigen Präsidentschaftsanwärtin souffliert, ein unabhängiges Osttimor könnte den Unabhängigkeitsbestrebungen in Aceh und Irian Jaya Auftrieb geben und den Bestand Indonesiens gefährden.

Es bedarf keiner Fügung des Herrn um dem Bischof von Dili Carlos Belo zu folgen, der kürzlich erklärte: „Unabhängigkeit ist kein Bett aus Rosen. Die Bevölkerung muss sich gründlich darauf vorbereiten und sich über die Risiken im klaren sein“.

Postscript

Angesichts der jüngsten Entwicklungen wurde erst vor wenigen Tagen bekannt, dass die USA, Australien und einige europäische Staaten eine bewaffnete UNO-Friedenstruppe für Osttimor aufzustellen gedenken. Allerdings soll diese dort erst nach dem nunmehr für 30. August geplanten Referendum einrücken um im Falle einer Ablehnung der von Jakarta vorgeschlagenen Autonomie und eine Abzugs der Besatzungstruppen Unruhen zu verhindern. „Sollten die Osttimoresen sich für die Unabhängigkeit entscheiden, wird die UNO Zug um Zug die Verantwortung für das Gebiet übernehmen, und dazu gehört auch irgendein Sicherheitsarrangement“, erklärte Australiens Außenminister nach Gesprächen mit seinen AmtskollegInnen Madeleine Albright und Jaime Gama (Portugal). Mit der Friedenstruppe, über deren Entsendung der UN-Sicherheitsrat entscheiden muss, reagieren Australien als Nachbar, der Indonesiens Besatzungspolitik stets gebilligt hatte, die USA, ohne deren Billigung Indonesien Osttimor nie hätte besetzen können, und die ehemalige Kolonialmacht, die sich nach wie vor zuständig fühlt, mit erheblicher Verspätung auf die eskalierten Gewalttätigkeiten proindonesischer Milizen. Die osttimoresische Unabhängigkeitsbewegung fordert seit Wochen, bereits die jetzige zivile UNO-Mission militärisch zu verstärken. Das jedoch wird seitens des Westens abgelehnt – mit dem erstaunlichen Argument, jetzt schon Truppen zu stationieren oder auch nur allzu laut über eine künftige Friedenstruppe zu sinnieren, könnte die proindonesischen Milizen provozieren, müssten diese doch den Eindruck bekommen, die UNO gehe von deren Niederlage im Referendum aus. Glücklich, wer da wenigstens in Europas südöstlichen Fransen nistet und als UCK-Freiheitskämpfer von einer selektiven Menschenrechtspolitik profitiert …

Dr. Rainer Werning ist Vizepräsident des International Forum for Child Welfare (IFCW) und Geschäftsführer der schwerpunktmäßig in den Südphilippinen engagierten Freiburger Stiftung für Kinder.

Im Namen der Menschenrechte

Im Namen der Menschenrechte

Zur psychologischen Kriegsführung

von Bernd Röhrle

Angesichts der verheerenden humanitären, wirtschaftlichen und politischen Folgen des Kosovokonfliktes stellt sich die Frage, warum sich die Öffentlichkeit so zurückhaltend während des offen und jetzt noch verdeckt geführten Krieges verhält. Demonstrationen gab es ansatzweise, sie sind aber gemessen an frühen Tagen der Friedensbewegung fast unbedeutend. Meinungsumfragen zeugten in den alten Bundesländern sogar von einer mehrheitlichen Akzeptanz des Krieges. Nach der weitgehenden Beendigung der Kampfhandlungen ist von einer öffentlichen Kritik an der bisherigen und derzeitigen Politik insbesondere der am Konflikt beteiligten NATO-Mächte nichts mehr zu spüren. Vielmehr verbreitet sich eine Atmosphäre der nachträglichen Rechtfertigung. Selbst KritikerInnen des Krieges drängen sich angesichts der in den Medien transportierten Greueltaten Zweifel an der eigenen Haltung auf.

Die Gründe für die mangelnde öffentliche Kritik während und nach dem (noch nicht beendeten) Krieg im Kosovo sind zweifelsohne vielfältig. Die veränderten historischen Bedingungen einer Partizipation ehemaliger VertreterInnen der Friedensbewegung an der Macht ist mit Sicherheit genauso ursächlich wie der Mangel an Kenntnissen zu den komplizierten politisch-historischen und auch soziologisch-ethnologischen Hintergründen des Konfliktes. Aus Sicht der Psychologie aber sind es auch einige zentrale Mechanismen der psychologischen Kriegsführung, denen die Öffentlichkeit auch nach Beendigung der Kampfhandlungen ausgesetzt ist und die zu dieser eher zögerlichen kritischen Haltung der Öffentlichkeit führt. Im Ergebnis ist es den politischen MachthaberInnen gelungen, diesen Krieg moralisch, rational und politisch zu rechtfertigen, obgleich nicht in Zweifel gezogen werden kann, dass er völkerrechts- und aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland auch grundgesetzwidrig ist. Um diese Akzeptanz zu erreichen, hat man sich im Wesentlichen folgende psychologisch wirksamen Rechtfertigungsmuster zu Nutzen gemacht:

  • Krieg als Deus ex Machina für einen komplizierten Konflikt,
  • Personalisierung eines Krieges auf dem Hintergrund einer mehrheitlich bestimmten Wahrheit,
  • entlastende Interpunktion eines Konfliktes,
  • Moralisierung der Unmoral.

Krieg als Deus ex Machina für einen komplizierten Konflikt

Mit der bekannten Waffenschau aus dem Krieg der Sterne wurde vorgegaukelt, dass eine technisch und quantitativ übermächtige Allianz den Konflikt in Kürze lösen würde. Die gesetzten politischen und humanitären Ziele sollten durch einen hochmodernen Angriffskrieg und eine logistisch einwandfreie Versorgung der Flüchtlinge relativ reibungslos erreicht werden. Diese sattsam bekannte Strategie knüpft am Wunsch von Menschen an, auch politische und soziale Probleme auf einfache Weise mit technischen und organisatorischen Hilfsmitteln ohne größere Nebenfolgen (»Kollateralschäden«) zu lösen.

Gleichzeitig wird man entlastet, da eine persönliche Verantwortung für die Kriegsführung allenfalls in den Händen der vielleicht sogar nicht einmal gewählten PolitikerInnen und im Ermessen der Militärs liegt. Beide sind mit dem notwendigen Sachverstand ausgerüstet, den man selbst nie erbringen könnte. Man verfügt über technische Mittel, welche die „bizarre Idee auftauchen“ lassen, „man könne Krieg führen, ohne dass Tote zu beklagen wären“ (Enzensberger, 1999, S. 28). Nach den Kampfhandlungen wird im gleichen Tenor der technisch einwandfrei funktionierende Wiederaufbau zerstörter Landesteile vorgeführt: Das Technische Hilfswerk baut Häuser in kürzester Zeit auf, die zerstörten Wasserwerke sind durch modernste mobile Wasseraufbereitungsanlagen kompensierbar usw.. Es mögen also neben der Verführung zum Glauben an einen Deus ex Machina zur Lösung eines komplizierten Konfliktes auch noch autoritäre Einstellungen durch eine solche Propaganda berührt worden sein.

Personalisierung eines Krieges auf dem Hintergrund einer mehrheitlich bestimmten Wahrheit

Der Öffentlichkeit wurde erklärt, es handele sich um einen Krieg zwischen einer »Staatengemeinschaft« (NATO) und einer einzelnen Person (Milosevic). Auch die Lösung der Folgeprobleme wurde mit dem Verhalten, nämlich dem Rücktritt, dieses einen Mannes in Verbindung gebracht. Damit wurde zweierlei nahegelegt: Zunächst wurde vermittelt, dass sich so viele Staaten nicht irren konnten und können. Nicht auf der Grundlage eines klaren Werturteils, dem alle folgen können, wurde Wahrheit gesucht, sondern im Konsens von Gruppen, die sich selbst den Stempel der moralischen Größe geben. Diese Haltung wurde zusätzlich durch öffentliche Verlautbarungen von zahlreichen, vor allem eher links-liberal orientierten MeinungsführerInnen verstärkt. Sie intensivierten über Mechanismen der Autoritätsgläubigkeit solche konsensualen Wahrheitsauffassungen. Zum Zweiten führt man bei einer Konfrontation mit einem Mann auch keinen Krieg gegen die SerbInnen, sondern nur gegen einen bösen Diktator, den manche sogar (völlig unsachgemäß) mit Hitler verglichen, andere psychologisierend als psychisch deformierten Sohn suizidierter Eltern. Man kennt dies in der Sozialpsychologie als „negative Punkte sammeln“, um sich selbst aufzuwerten und mögliche negative Handlungen entschuldbarer zu machen oder gar von gemachten Fehlern abzulenken; ein Mechanismus, den nicht nur Mailer (1999) im Zusammenhang mit dem Impeachmentverfahren von Clinton entsprechend beschrieben hat. Damit wurden die Ursachen dieses Konfliktes auf die moralische Verfassung eines einzigen Mannes verkürzt. Man ist damit zugleich auch vor dem Vorwurf geschützt, man habe antiserbische Vorurteile. Gleichsam einem Erzieher, der zu einem letzten und probaten Mittel greift, treten die Verantwortlichen auf, nach dem Motto: Wer nicht hören will, muss fühlen. In neuerer Zeit wird so die Doppelstrategie von Krieg bzw. Entzug von Nachkriegshilfen und politischen Verhandlungsbemühungen der öffentlichen Meinung angeboten. Dies nährt ein besonderes Bedürfnis nach Einfachheit, das man auch schon bei bekannten Formen der Vergangenheitsbewältigung hinreichend gestillt hat. Personen sind vorstellbar und man kann sie für alles verantwortlich machen, auch für unterlassene wirtschaftliche Hilfeleistungen und unterschlagenen kulturellen Austausch; ein typischer Fall von Sündenbockdynamik.

Eine andere Art der Personalisierung des Konfliktes ist darin zu erkennen, dass das ganze Volk der SerbInnen, wenn nicht für den Krieg, so doch für seine Ursachen verantwortlich gemacht wird und wie ein ungehöriges Kind zur Räson gebracht werden soll. Eine solche Haltung zeigt sich z.B., wenn der Lyriker Durs Grünbein (Spiegel 1999, 12. April) schreibt: „Man muss keine Idealist sein, um einzusehen, dass die Bombe ein Erziehungsmittel sein kann, wie wir aus Deutschland wissen. Dort wurde einer sagenhaft starrsinnigen Bevölkerung vor einem halben Jahrhundert der Nationalismus wie ein fauler Zahn gezogen.“ Oder wenn z.B. in einem regionalen Blatt die Frage gestellt wird: „Die Serben umerziehen?“ und die Antwort lautet: „Die Serben müssen Abschied nehmen von ihren nationalen Legenden, ihren Kosovo-Mythen und ihrem aus Unterdrückungsängsten entstandenen Größenwahn“ (Schwäbisches Tagblatt 1999, 115, S. 2), so zeigt sich deutlich eine Personalisierung des Konflikts auf einen Volkskörper, die von einer ethnischen Vorurteilshaltung zeugt, die andere peinlichst zu vermeiden trachten. Diese nährt sich aus der gut untersuchten Tendenz zur Herstellung sozialer Identität: Wir sind die nicht Größenwahnsinnigen, wir haben keine Legenden, die sich gegen Außenfeinde richten, wir sind nicht nationalistisch, wir sind demokratisch usw. Dabei ist immer mit der Möglichkeit zu rechnen, dass Innen-Außendifferenzierungen vorgenommen werden, die zu vereinfachten Kontrasten und auch zu einer Verzerrung der Wahrnehmung in Hinsicht auf eigene negative Eigenschaften führen können (als gäbe es z.B. keine eigenen Nationalismen).

Interpunktion eines Konflikts

Wie in der schlechten Geschichte eines Ehekrieges wird die Interpunktion des Kosovokonfliktes so gestaltet, dass nicht der Blick auf die Komplexität der Interaktionszusammenhänge zwischen vielen Nationen, Völkern, Interessengruppen, auch in einer historischen Dimension, gelenkt wird. Vielmehr richtet sich der Blick auf Ursachen wie die Vertreibung, Unterdrückung und gar Tötung von Kosovo-AlbanerInnen, für die es zu Zeiten der kriegerischen Auseinandersetzungen keine klaren Beweise gab. Diese Strategie knüpft ebenfalls an einem menschlichen Bedürfnis an, nämlich möglichst einfache und zugleich schuldmindernde Attributionen für komplexe Abläufe zu suchen. Solche Abläufe haben die Eigenschaft, dass die daran Beteiligten die Interpunktionen für die Entstehung möglicher Konflikte relativ willkürlich setzen können und dies in der Regel immer zu Ungunsten des Gegners tun. Wir kennen dies aus der Analyse von Ehekonflikten, bei denen meist in unfruchtbarer Weise die jeweiligen Schuldzuweisungen zu einer Konfliktverschärfung und zu einer Abnahme von Kompromissbereitschaft führen. Es kommt noch ein besonderes Moment hinzu, wie es ebenfalls im Kontext von Beziehungskonflikten beobachtbar ist: Die Bezugspersonen von KonfliktpartnerInnen teilen sich in Lager und verschärfen in der Regel die schon vorhandene Konfliktdynamik. Dies hat damit zu tun, dass Unsicherheiten in Hinsicht auf mögliche Interpunktionen wiederum durch konsensualen Druck gemindert werden.

Moralisierung der Unmoral

Außenminister Fischer hat versucht das moralische Dilemma dieses Krieges auf den Punkt zu bringen: Wer was tut wird schuldig; wer nichts tut wird möglicherweise noch schuldiger. Mit humanitären Begründungen wird Inhumanität gerechtfertigt und dies scheinbar sogar auf einem nach der Psychologie Kohlbergs (1996) benannten postkonventionellen Niveau: Es wird Leben gerettet, obgleich es gegen gesellschaftlich normative Beschlüsse verstößt (Völkerrecht, Grundgesetz). Man handelt also nicht nur moralisch im Sinne der Menschenrechte, sondern sogar auf einer besonders hohen humanistischen bzw. moralphilosophischen Ebene, die Václav Havel in einem Essay mit dem Titel »Das Kosovo und das Ende des Nationalstaates« als ein „höheres Recht“ bezeichnet, das seine „tiefsten Wurzeln außerhalb der wahrnehmbaren Welt“ besäße. Dafür sei Verantwortung und auch das Risiko eigener Verluste zu tragen, so die Ansicht von Kommunitaristen wie Michael Walzer. Spaemann (1999) beschreibt diesen Krieg im Namen der Menschenrechte mit dem Satz: „Nicht Menschen, Werte sollen verteidigt werden“ (S. 153). Dieses Angebot ist sicher das am meisten entlastende, das sich sogar MeinungsführerInnen zu eigen gemacht haben, denen man dies nie zugetraut hätte. Unabhängig von der Frage, ob dieses Angebot eine bewusste oder auch nicht beabsichtigte Täuschung darstellt – in jedem Fall hilft es die Gewissensprobleme sowohl bei den TäterInnen als auch bei jenen abzumildern, die sich zu keinen Protesten hinreißen ließen. Im Effekt ist dies vielleicht das was Ross (DIE ZEIT 25/99, S.13) als die Maßlosigkeit eines aus moralischen Gründen geführten Krieges bezeichnet und was andere als die Entpolitisierung eines Konflikts interpretiert haben.

Bei genauer Betrachtung war die Entscheidung, einen auch Menschenleben fordernden Angriffskrieg zu führen, sowohl konventionell als auch postkonventionell unmoralisch. Postkonventionelle moralische Urteile im Sinne von Kohlberg (1996) wollen Menschenleben um jeden Preis erhalten. Diese Motivation war und ist nicht erkennbar und zwar aus mehreren Gründen: Es liegt zunächst eine »Unangemessenheit« der Mittel vor. Nehmen wir im Sinne einer Metapher an, die Leserin/der Leser würde Zeuge eines Amoklaufes in einer sehr belebten Gegend, einige Menschen seien schon zum Opfer gefallen. Nun wären die Leserin/der Leser und andere bewaffnet und würden versuchen, den Amokläufer durch Menschenleben gefährdende Gewalttaten an weiteren Bluttaten zu hindern. Der Täter aber verschanzt sich und ist für Sie unerreichbar. Er kann darüber hinaus ungehindert weitere Menschen töten. Die Leserin/der Leser versucht ihre/seine Deckung zu zerstören und gefährdet dabei weitere Menschenleben (ähnliche Beispiele bringt Reinhard Merkel; ZEIT Nr. 20/99, S. 10). Akzeptiert man den Vergleich dieses Beispiels mit dem Kosovo-Krieg, so muss man zum Schluss kommen, dass die Intervention bei unterstellter guter Absicht (es gibt viele mögliche schlechte Absichten), an den Folgen gemessen, nicht rational und vorteilhaft war. Die gewählte Metapher geht dabei von der Prämisse aus, dass tatsächlich Menschenleben von diesem vermeintlichen Amokläufer genommen werden und keine anderen Mittel zu Verfügung stehen, ihn daran zu hindern (z.B. ihn zu umstellen, ihn zu bedrohen, wenn er weitere Untaten begeht und ihn aus sicherem Abstand auszuhungern). Falls es sich nur um einen Verdacht handelt und eigentlich der besagte Täter die Persönlichkeitsrechte der Menschen bedroht, also z.B. ihre Freiheit beraubt (nehmen wir an, dies entspräche den Tatsachen), dann sind die eingesetzten Mittel in jedem Fall unverhältnismäßig.

Nun kann eine Handlung aber unangemessen und doch von hoher moralischer Qualität sein, wenn sie die Bewahrung des Lebens als einem Wert an sich im Auge hat. Gilt dies für den Militäreinsatz im Kosovo-Krieg? Die Antwort bei Kohlberg würde lauten: Nein, denn sie retten kein einziges Menschenleben und nehmen weiteren, ja Unbeteiligten, das höchste Gut. Selbst wenn der Konflikt so angelegt gewesen wäre, dass mehr Menschenleben gerettet geworden wären als »kollateral« genommen wurden – ein Konflikt, der so nicht bestand – ist der Wert einer solchen Nothilfe höchst zweifelhaft. Die extremste (pazifistische) Position gegen eine solche »Nothilfe« besteht in der Auffassung, wonach es den Wert des Lebens an sich in einem nicht quantifizierbaren Sinne zu schützen gilt. Weniger radikal ist das Argument, dass es keine Gewissheit zur Frage geben haben kann, ob im Falle eines »Nothilfekrieges« entsprechende Kosten-Nutzen-Erwägungen überhaupt herzustellen gewesen sind. Sowohl technisch als auch durch die Unvorhersehbarkeit der gegnerischen Aktionen bedingt, war ein entsprechend günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis nicht planbar. Die Notwendigkeit der genauen Vorhersage eines solchen Kosten-Nutzen-Effektes gilt nicht für Situationen ohne Planungsmöglichkeiten, also etwa auch für Situationen, die Notwehrcharakter auch für Dritte haben. Eine solche Situation war und ist aber im Kosovokrieg nicht auszumachen. Allein schon die militärische Logistik belegt den Planungscharakter der Intervention. Wenn die Planung einer Nothilfe sogar die Möglichkeit einer Verschärfung der Notlagen derjenigen bedeutet, denen man helfen möchte, so ist unabhängig von der Interpunktion möglicher Schuldzuweisungen die Zerstörung jedes einzelnen Lebens in der Verantwortung der sog. HelferInnen (vgl. hierzu auch Reinhard Merkel: ZEIT Nr. 20/99, S. 10). Völlig eindeutig ist die Verwerflichkeit der Angreifenden, wenn sie scheinbar das Leben als schützenswertes Gut nutzen, um solche Dinge wie die Glaubwürdigkeit zu behalten oder Besitzstandswahrungen zu pflegen. In Nachrichtensendungen wurde sogar vom wirtschaftlichen Niedergang Serbiens berichtet, der im Anschluss an den Krieg Wirtschaftswachstum und neue Absatzmärkte versprechen würde. Hier wird der Krieg als eine notwendige Operation verkauft, die sich für die Gesundung der Wirtschaft als notwendig und nützlich erweist (eine weitere, gleichsam medikalisierte Form der Personalisierung des Konflikts). Bei einem Konflikt zwischen Menschenleben und anderen Werten, wie Wohlstand oder auch Freiheit (die man möglicherweise den Kosovo-AlbanerInnen nimmt), ist das moralische Urteil eindeutig: Menschenleben vor allem. Und: Es zählt jedes einzelne Leben.

Bleibt noch das Argument der Einmaligkeit oder, was noch schlimmer wäre, der Erstmaligkeit der Handlung, die für die Zukunft eine moralische Weltordnung im Zuge der Globalisierung herzustellen vermag, die solche Konflikte wie im Kosovo nicht mehr zulässt. Als grundsätzliches Gegenargument hierzu kann man die Auffassung der Moralpsychologin Gilligan (1984) anführen, wonach ein (friedliches) Zusammenleben grundsätzlich nicht durch Gewalt hergestellt werden kann. Diese moralische Orientierung der Interdependenz nährt sich aus den sozialpsychologischen Einsichten und Erkenntnissen zu den Regeln sozialer Interaktionen. Weniger radikal aber ist das Argument, dass diese Rechtfertigung nicht glaubwürdig ist. Die Frage, warum gerade in Serbien diese Intervention stattfindet und nicht in der Türkei, ist oft gestellt worden. Die Frage, warum man dann nicht gleichzeitig in anderen Gebieten der Welt entsprechend eingreift, ist bislang nicht beantwortet worden. Vieles spricht dafür, dass moralische Argumente instrumentell genutzt werden. Dies ist die verwerflichste Form der Amoralität. Wer schützt uns vor solchen Mechanismen, wenn zukünftig die Souveränität von Staaten keinen sicheren Raum mehr bietet?

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die NATO im Kosovokrieg zutiefst unmoralisch gehandelt hat. Umgekehrt haben alle, die sich gegen diesen Krieg gewehrt haben, moralisch gehandelt, weil sie nur Schaden abwehren wollten und dabei keinen verursacht haben, selbst wenn Milosevic und die Mitverantwortlichen Menschenleben nahmen. Die letzte Phase des Krieges, die über die wirtschaftlichen Versprechungen gelenkte Erpressung des serbischen Volkes, ihre Führung zum Rücktritt zu zwingen, ist auch nicht unbedingt ein Beleg überzeugender moralischer Standards oder gar eines durch hohe Werte bestimmten Demokratieverständnisses, auf das die beteiligten NATO-Staaten so stolz sind. Vor allem aber können solche Interventionen völlig kontraproduktiv sein. Bei Kindern sagt man, sie würden sich unter vergleichbaren Bedingungen nur scheinbar anpassen, die gewünschten Werthaltungen aber keineswegs internalisieren und vielmehr das erpresserische Verhalten der ErzieherInnen modellhaft erlernen. Es ist ein Glück, dass das serbische Volk kein schwer erziehbares Kind ist.

Es kann nicht Anliegen einer friedenspsychologischen Interpretation des Kosovo-Krieges sein, ihn auf psychologische Kategorien zu reduzieren. Jedoch wäre es auch unangemessen, die Beteiligung der geschilderten psychologischen Prozesse und Mechanismen auszuschließen. Vielleicht sind sie bedeutsamer als man annimmt, unabhängig von der Frage, ob sie aus propagandistischen Zwecken heraus bewusst hergestellt wurden oder auf schrecklichen Irrtümern beruhen. BürgerInnen, die sich wie auch immer in ihrem Denken zu Vereinfachungen und falschem moralischem Denken haben verleiten lassen, sollten schleunigst umdenken. PolitikerInnen und Militärs noch schneller.

Literatur:

Gilligan, C. (1984): Die andere Stimme, München,. Piper.

Kohlberg, L. (1996): Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt a.M., Suhrkamp.

Enzensberger, H. M. (1999): Ein seltsamer Krieg. zehn Auffälligkeiten, in F. Schirrmacher (Hrsg.): Der westliche Kreuzzug. 41 Positionen zum Kosovo-Krieg, S. 28-33, Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt.

Mailer, N. (1999): Das kalte, weite Herz, in F. Schirrmacher (Hrsg.), a.a.O., S. 234-239

Spaemann, R. (1999): Werte oder Menschen? Wie der Krieg die Begriffe verwirrt, in F. Schirrmacher (Hrsg.), a.a.O., S. 150-155

Dr. Bernd Röhrle ist Professor am Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg

Über die Freisetzung krimineller Energien im Krieg

Über die Freisetzung krimineller Energien im Krieg

Erfahrungen der »Lobby für Menschenrechte« im Kosovo

von Monika Gerstendörfer

Massenvertreibungen, Vergewaltigungen, Mord. Kriegsbilder, die um die Welt gehen, eingesetzt als Mahnung oder als Propaganda, je nach Standort. Ist die sexualisierte Gewalt eine Folge der Freisetzung krimineller Energien Einzelner oder von Gruppen, handelt es sich um eine Verrohung im Krieg oder sind Vergewaltigungen und Folter Teil militärischer Strategie? Zeigt die Gewaltspirale im Kosovo-Krieg eine für Europa neue Dimension der Folter von Frauen und Kindern: Verschleppung und Zwangsprostitution?

Ausgangspunkt 1

Es ist Krieg in Europa. Die NATO bombardiert Serbien, um das Regime Milosevic und die Vertreibung der Kosovo-Bevölkerung zu stoppen.

Im März 1999 werden zwei US-Soldaten von den Serben gefangen genommen. Für Medien und Regierungsvertreter sind es »Die Kriegsopfer«. Die Lobby für Menschenrechte reagiert auf die ersten gefangenen westlichen Soldaten mit einer Pressemitteilung. Das öffentliche Schweigen über den Krieg gegen Frauen soll damit gebrochen werden, denn die tatsächlichen Kriegsopfer sind in der Zivilbevölkerung zu finden; auf beiden Seiten. Dies ist ein längst bekanntes Phänomen. Seit dem 2. Weltkrieg hat sich das Verhältnis der getöteten ZivilistInnen zu den getöteten Soldaten umgekehrt. Im Koreakrieg betrug es fünf zu eins und im Vietnamkrieg bereits dreizehn zu eins. Die Tendenz ist weiter steigend (vgl. Gerstendörfer 1995), aber das ist weder in Politik noch Medien jemals zum wirklichen Thema geworden. Auch dieses Mal nicht.

Fakten

In der Welt der High Tech-Kriegsführung sind Vergewaltigungen und andere Formen der Folter zu einer Kriegsstrategie geworden. Frauen beider(!) Seiten und zunehmend auch Kinder sind betroffen. Die Zivilbevölkerung erfüllt im modernen Krieg eine Funktion, sie ist die Zielscheibe der Aggression. Der Preis für sie ist hoch, aber wie für Nullsummenspiele (vgl. Watzlawick 1991) charakteristisch: Der Gewinn für die Strategen ist ebenfalls entsprechend hoch. Nicht nur die Börsenkurse stiegen…

Das klassische Nullsummenspiel der Menschheit, der Krieg, bekommt und bekam so noch mehr »Stoff« und Einsatzbereitschaft; noch mehr Eskalationsmöglichkeiten: Je mehr Angehörige der Soldaten auf der einen Seite gemartert und gemordet werden, desto höher die Wut und die Motivation der Soldaten, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, auf der anderen Seite. Die Bilder und Kommentare in der Mediengesellschaft forcieren und unterfüttern das. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, und es ist ein »Beweisstück« von hoher Effektivität, verknüpft es doch Kognitionen mit Emotionen, Tatsachen (stattgefundene Greuel) mit unmittelbaren Gefühlen (Angst, Wut, Trauer), es schafft Verwirrungen und Verirrungen, die mit Sicherheit keine guten Ratgeber für die Lösung des Problems sind.

Auf diese Weise beschleunigt man sehr konkret nicht nur die Gewaltspirale im unmittelbar stattfindenden Krieg, man schafft durch Bilder auch Ein-Drücke, die sich in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaften geradezu einbrennen. Die Tatsache, dass der Status des Soldaten zunehmend sicherer für das Überleben im Krieg geworden ist, wird jedoch verschleiert und verleugnet. Die Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Kindern im Krieg erfüllen eine bloße Funktion, indem sie als Beweismittel für die Grausamkeiten der jeweiligen Gegenseite via Bild, Text und Ton weltweit dargestellt und als solche völlig einseitig angeführt werden. Es ist vor diesem Hintergrund nicht von ungefähr, dass die Sendezentralen von Radio und Fernsehen wichtige »Zielobjekte« im Krieg sind. Beide Seiten wollen jeweils Recht behalten und ihre Sicht auf die Lage als die einzig zulässige Wahrheit senden. Auch dieser Kampf zwischen den Medien und der Politik ist ein Nullsummenspiel, das nichts anderes bewirkt als weitere Eskalation. Wer die meisten intakten Mediensender besitzt, besitzt die »Wahrheit«.

Sprache als Waffe

Die bloße Funktion der zivilen Kriegsopfer zeigte sich im Kosovo-Krieg besonders eindrücklich durch die verwendete Sprache: »Kollateralschäden« waren das. Die Zerbombung von Gebäuden wie Krankenhäusern und anderen lebenswichtigen Einrichtungen und der Tod von Menschen waren ein Preis, der angeblich gezahlt werden musste. Diese kollateralen Schäden wurden von den Verantwortlichen mit Bedauern (zumindest in den Medien) zur Kenntnis genommen. Wo gehobelt wird, fallen Späne… Aber die unpolitische und/oder entpolitisierte Bevölkerung sollte nicht einmal kollateral über solches nachdenken. Das Versprechen und Beteuern, noch zielsicherere und bessere Waffen zu entwickeln, steht! Es beruhigt(e) viele. Leider! Die WeltbürgerInnen in ihrer Funktion als SteuerzahlerInnen dürfen sicher sein, dass sie hierzu auch in Zukunft ihren Beitrag leisten werden, denn das erklärte Ziel ist, den Krieg als »humanitären« zu führen. (So zynisch kann Sprache sein!)

Ausgangspunkt 2

Im April erreicht die »Lobby« via e-mail die Nachricht einer/s Informanten/in vor Ort. Sie/er spricht die Gefahr von Frauenhandel und Zwangsprostitution an. »Gestrandete« Frauen und Mädchen, die ohne Perspektive in Makedonien säßen, seien akut gefährdet. Außerdem erreicht uns die Information, dass Pädokriminelle ihre »Hilfe« über e-mail und andere Kanäle anböten (z.B. Postings wie „würde drei stramme Jungs aufnehmen“ etc.) und dass HelferInnen vor Ort vollkommen schockiert über solche Angebote seien. Die »Lobby« stellt eine Anfrage an die verantwortlichen Ministerien und einige Bundestagsabgeordnete. Die Information wird auch im e-mail-Netz verteilt und auf die Homepage gestellt. Aus den Antworten der Ministerien ergibt sich, dass sie darüber nicht Bescheid wissen; manche teilen jedoch mit, dass sie sich der Sache annehmen möchten. Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Petra Bläss, stellt eine Anfrage an die Bundesregierung (schriftliche Fragen für den Monat April). Die UN-Hochkommissarin für Flüchtlinge, Sadako Ogata, bestätigt die Befürchtungen der Lobby zur drohenden Sklaverei:

„Mr President, I also wish to share with the Council my deep concerns with respect to the protection and security of refugees. Human traffickers are a serious threat, especially in Albania. They have already started smuggling refugees across the Adriatic into Italy and the European Union. Young women, often forced into prostitution, and children are frequent victims, particularly when they are hosted in families, and are thus more vulnerable to these threats. This phenomenon will increase if it is not adressed more forcefully and immediately. There is also a very real risk of forced recruitment of refugees by the Kosovo Liberation Army. I strongly urge governments to discourage this practise.“ (United Nations, New York, 5/5/99, Briefing by Mrs. Sadako Ogata, United Nations High Commissioner for Refugees, to the Security Council)

Im Mai bestätigt auch das Auswärtige Amt die Verschleppungen; sogar die von Kindern. Bestätigung auch durch Recherchen vor Ort der Welt am Sonntag, u.a. durch die Befragungen von Klosterfrauen (vgl. Welt am Sonntag 2.5.99). Szenen wie im Film sind danach vor Ort abgelaufen. Schwarze Limousinen standen sogar vor den Klosterpforten, um nach jungen Frauen Ausschau zu halten, die dort Zuflucht gesucht hatten.

Fakten

Aus der Folterforschung ist bekannt, dass es kaum eine perfektere Methode gibt, einen Menschen zu demütigen, zutiefst zu verletzen und sogar zu vernichten, als die Anwendung von sexualisierter Gewalt (vgl. u.a. Millet 1993, Oelemann 1999).

Dies gilt jedoch nicht nur für einzelne Menschen auf der individuellen Ebene. Die sogenannte Schändung von Frauen und/oder Kindern ist schon im antiken Griechenland als wirkungsvolle Strategie zur Demütigung des Gegners bekannt (vgl. Doblhofer 1994). Die tiefe Verletzung und Vernichtung eines Volkes durch die »ethnischen Säuberungen«, durch die Vergewaltigungen und Zwangsschwängerungen der Frauen des Gegners ist während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien das erste Mal in das Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit gelangt.

Aber die Entwicklung in diesem Bereich ging und geht sehr schnell weiter. Die modernen Formen der Sklaverei wie »Frauenhandel«, »Zwangsprostitution«, Herstellung und Verbreitung von »Live-Hardcore-Pornos« u.v.m. werden nicht nur im Frieden, sondern bevorzugt im Kriegs- oder Nachkriegsgebiet initiiert. Dort kommt man am leichtesten an »Frischfleisch« heran. Dabei kann es sich um elternlose Kinder handeln oder um junge Frauen, die alle eines gemeinsam haben: Sie sind in einer katastrophalen Situation ohne jede Aussicht auf Schutz, Erfüllung von Grundbedürfnissen oder gar eine Zukunftsperspektive. Dieses Phänomen ist den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bekannt. Sie versuchen seit Jahren darauf aufmerksam zu machen. Aber die Politik und andere Verantwortliche reagieren darauf nicht und lassen den Dingen ihren Lauf. Dies führt dazu, dass die Folterbranche (Frauenhändler, Kinderpornoproduzenten etc.) sowohl im Cyberspace als auch im »real life« weiter boomt. Die Wechselwirkungen zwischen informationstechnologischen Möglichkeiten, Tatenlosigkeit der Politik angesichts zunehmender Menschenrechtsverletzungen (u.a. durch eklatante Gesetzeslücken und weltweite Unkoordiniertheit bei der Ermittlung), Entwicklungsstand des organisierten Verbrechens und wirtschaftlicher Möglichkeiten sind fatal: Die Ismen, die Ungleichheiten zwischen Menschen (Rass-Ismus, Sex-Ismus, Adult-Ismus) werden so noch krasser und erhalten vor allem neue und destruktive Qualitäten. Dies gilt für Friedenszeiten: So ist es durchaus nicht von ungefähr, dass NormalbürgerInnen schon bei der Nennung bestimmter Länder oder Nationalitäten vor allem an »Sextourismus« (Philippinen, Thailand usw.) oder an Kriegsverbrecher (Serbien) denken und nicht an die Kultur, die Landschaft oder die Menschen dieses Landes. Dies gilt aber auch für die Zeiten des Krieges, hier in verschärfter Form: Denn wenn die Profiteure der modernen Sklaverei ungestraft Überlebende eines Krieges für ihre verbrecherischen Absichten in Kriegsgebieten suchen können und dürfen und die Protagonisten des »humanitären« Krieges dem nichts entgegenzusetzen haben, dann ist das nicht nur eine unterlassene Hilfeleistung, es stellt die propagierte Absicht, Völkermord stoppen zu wollen, in massiver Weise in Frage.

»Beweise« statt Handeln

Das Wissen um voraussichtliche Menschenrechtsverletzungen – wie z.B. Sklaverei und Verschleppung – in einem Kriegsgebiet und die Informationen aus Kanälen, die nicht genannt werden sollen oder dürfen, führte nicht nur im Kosovo-Krieg zu einem Phänomen, das auch aus zivilen Gerichtssälen im Bereich der sexualisierten Gewalt bekannt ist: In dubio pro reo, die Opfer müssen beweisen oder als Beweismittel fungieren. Im Falle der Informationen über die drohende Versklavung von Frauen und Minderjährigen während des Kosovo-Krieges waren es die HelferInnen bzw. die NGOs, die in Beweislastnöte gebracht wurden. Beispielsweise fragten JournalistInnen immer wieder nach der Sicherheit der Informationsquellen oder deren Enttarnung. Es war und ist schwierig, klarzumachen, dass es bei der oder nach Vorlage von solchen »Beweisen« zu spät ist und deshalb darum geht, vorab zu handeln. Sicherlich sind gefolterte Leichen und nachweislich verschleppte Frauen und Kinder »Beweise«. Aus menschenrechtlicher Sicht muss jedoch vorher gehandelt werden. Erfahrungen im zunehmend verkommerzialisierten Gewaltbereich und das Wissen, dass das, was lukrativ und machbar ist, auch gemacht werden wird, erfordern präventive Maßnahmen und nicht die Jagd auf Bilder von Leichen, Interviews mit vergewaltigten Frauen o.Ä.

Mit anderen Worten: Die Wahrheit liegt nicht irgendwo zwischen dem Bild eines gefangenen US-Soldaten und dem Wissen von NGOs um die mit Sicherheit stattfindenden Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Kindern. Vielmehr liegen die Fakten, was die tatsächlichen Kriegsopfer angeht, jenseits der traditionellen Wahrheitsforschung und Kriegsphilosophie und das Wichtigste dabei ist, rechtzeitig zu handeln anstatt abzuwarten bis das Geschehene in Bild oder Ton für die Opfer Vergangenheit ist.

Ausgangspunkt 3

Am 25. Mai erreicht die »Lobby« frühmorgens eine dpa-Meldung aus New York: „Alarmierende Berichte über Sexualverbrechen serbischer Soldaten“. Die UNFPA, das Bevölkerungsprogramm der Vereinten Nationen, hat eine Untersuchung veröffentlicht und bezeichnet die Lage als alarmierend. Die schlimmsten Befürchtungen bestätigen sich. Sie sind nun gewissermaßen bewiesen. Für die betroffenen Opfer ist es jedoch zu spät. Selbst von drohenden Verbrennungen am lebendigen Leib wird hier berichtet. Wieder einmal muss festgestellt werden, dass die relativ frühzeitigen Warnungen nicht ernst genommen wurden, dass die Chance auf eine minimale Prävention verspielt wurde indem die Forderungen der NGOs nach verstärkter Präventivdiplomatie genauso ignoriert wurden wie die Forderungen nach Stärkung der UN.

Da von Anfang an von einem »humanitären Krieg« gesprochen worden war, geht nun die Angst vor Umkehr der Logik um: Was macht eine Menschenrechtsorganisation, wenn sich Verantwortliche vor die Kamera stellen und behaupten, dass weiter gebombt werden muss, damit Frauen nicht vergewaltigt werden? Bekämen Menschenrechtsorganisationen eine Chance der Aufklärung in den Medien, Aufklärung über den Zusammenhang zwischen Krieg und Entmenschlichung und der Notwendigkeit einer präventiven Politik? Sicher nicht! Dafür beginnt jetzt die Arbeit von Organisationen wie Medica Mondiale. Deren Ärztinnen und Psychologinnen dürfen ab nun die Traumata der Kriegsopfer aufarbeiten helfen; mit geringem Spendenvolumen, da sie keine Spenden-Abos haben wie die großen, traditionellen Hilfsorganisationen.

Fakten

Zu den traumatisierten Frauen gehören keineswegs nur die Frauen aus dem Kosovo, dazu gehören auch Frauen, deren Männer im Krieg sexualisierte Gewalt ausgeübt haben und die in nicht wenigen Fällen später gegen ihre eigenen Partnerinnen gewalttätig werden. Das sind Erkenntnisse von NGOs, die aus vergangenen Kriegen gewonnen wurden. Damit wird deutlich, dass der Krieg für die Frauen noch lange nicht vorbei ist und man nicht so einfach in »Gute« und »Böse«, in Angegriffene und Angreifende einteilen kann. Außerdem wird deutlich, dass es eine Kontinuität zwischen Krieg und Frieden gibt. Es sind nicht zwei so grundsätzlich verschiedene Welten; jedenfalls nicht für die weibliche und minderjährige Zivilbevölkerung.

Die Verhaltensmuster, die stattgefundene Entmenschlichung, die kriminellen Energien sind nicht »vom Himmel gefallen«. Der Krieg zeigt lediglich mit brutaler Deutlichkeit, wohin lebensfeindliche Einstellungen und Verhaltensweisen, wie sie im Frieden gelebt und erlebt werden, führen können. Es gibt einen roten Faden zwischen der alltäglichen Männergewalt gegen Frauen und dem Handeln im Krieg, zwischen den neuen Möglichkeiten von Informationstechnologie, modernen Formen der Sklaverei und Erscheinungen wie Frauen- und Kinderhandel mitten im Krieg.

No future oder politische Lobby-Arbeit

Wie sieht es mit der Zukunft politischer Lobby-Arbeit und der Arbeit der Hilfsorganisationen aus? Macht sie überhaupt Sinn und welchen Erfolg kann sie haben? Sicherlich hat es Fortschritte gegeben. Das frühere Motto »Es ist halt Krieg und da müssen die Frauen mit Vergewaltigungen rechnen« gilt nicht mehr so unbedingt und mit seinem ganzen lakonisch formulierten Zynismus. Immerhin spricht man nicht mehr von »Schändungen«, sondern von Vergewaltigungen und diese sind mittlerweile auch eindeutig zu Verbrechen erklärt worden. Vergewaltigende Männer gelten nun als Verbrecher, denen zumindest potenziell das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag droht. Aber dieser Wandel des Männerbildes (vom kriegerischen, triebgesteuerten Tier zum Vergewaltiger und verantwortlichen Verbrecher), des Frauenbildes (von der Geschändeten zum traumatisierten Verbrechensopfer) und der Tat selbst (von der Schändung zur Menschenrechtsverletzung) haben Politik und Öffentlichkeit, die Kriege unter bestimmten Bedingungen für notwendig und humanitär halten, nicht in ihren Grundfesten erschüttern können.

Vor diesem Hintergrund bleibt die Arbeit von Hilfsorganisationen während und nach dem Krieg nichts anderes als eine Art »Sicherheitsgurtpolitik« (vgl. Hagemann-White 1992). Auch dieser Begriff mit den dahinterstehenden Gedanken stammt aus dem Frieden. Da „niemand vor einer Karambolage sicher sein kann“ (ebd.), muss halt ein Gurt angelegt werden. Da es nun einmal Männer gibt, die ihre Partnerinnen misshandeln, muss es eben Frauenhäuser und Notrufe geben. Die berechtigte Frage hierzu lautet, ob wir es uns mit der Gewalt eigentlich einrichten wollen, denn die Ursache und die Bedingungen, unter denen solches zustande kommt, werden hierdurch keineswegs bekämpft (ebd.); vielmehr kann dieses »Spiel« immer so weiter gehen.

Diese berechtigte und wichtige Frage lässt sich übertragen, denn in den Kriegen des späteren 20. Jahrhunderts ist es selbstverständlich geworden, dass Hilfsorganisationen der UN und NGOs vor Ort den Opfern helfen. Das darf auch nicht aufhören, sondern muss weit besser finanziert werden. Aber eine Lösung ist es nicht. Man versucht Schäden zu begrenzen oder fängt das Schlimmste auf. Es ist eben ein Sicherheitsgurt; dessen muss man sich bewusst sein oder werden.

Kriminelle Energien im Krieg?

»Rape is a war crime«, so hieß der Titel einer im Juni schnell einberufenen, internationalen Konferenz des International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) in Wien, zu der u.a. auch die EU-Kommissarin Anita Gradin eingeladen war, die sich große Verdienste bei der Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen erworben hat. Zu einer solchen Konferenz erscheinen Militärs, VerteidigungsministerInnen und andere Verantwortliche nie. Das ist aus psychologischer und menschenrechtlicher Sicht bezeichnend und interessant. In Fernseh-Talkshows, Nachrichten und anderen wichtigen Medien-Ereignissen, in denen es um weitere Kriegsstrategien, Einschätzungen der gegenwärtigen Lage o.ä. geht, sieht man dafür keine Frauen. Das ist auch bezeichnend, ja, selbstverständlich und ebenso interessant. Vor dem entwickelten Hintergrund stellen sich jedoch die konkreteren Fragen: Sind Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Folter lediglich (Kriegs-)Verbrechen? Wenn ja, wem nützt diese Sicht und wem nicht?

Wenn nämlich Vergewaltigungen nicht nur Verbrechen, sondern vor allem eine bewusst geplante und vorsätzliche Kriegsstrategie sind, dann ist die potenzielle Strafbarkeit einzelner, krimineller Akte im Krieg kurzsichtig, wenn nicht sogar sinnlos (i.S.v. reiner Symptom-Behandlung), da das nächste Mal, im nächsten Krieg, genau dasselbe geschehen wird. Dann ist auch die Entwicklung von der »Schändung« zum Kriegsverbrechen (rape is a war crime) nicht nur reduktionistisch, sondern ein Akt von gefährlicher Augenwischerei. Dann wird das Nullsummenspiel auch beim nächsten Mal nach dem gleichen Muster anlaufen: Der Gurt wird angelegt, UN-Organisationen und NGOs werden vor Ort sein und helfen, es wird sich aber nichts Grundlegendes ändern. Das ist der Punkt. Die Gewaltspirale wird so nicht unterbrochen. Das Einzige, was sich dann geändert hat, sind die Vokabeln und Bezeichnungen.

Nicht im System einrichten

Hier haben Menschenrechtsorganisationen und andere NGOs eigentlich eine zentrale Aufgabe. Sie müssen dieses Spiel und seine Mechanismen offen benennen und zur Diskussion stellen. Sie müssen der Stachel im Fleisch der Politik sein, die erfahrungsgemäß sonst immer so weitermachen wird. Sie müssen das System und seine Mechanismen entlarven. Sie dürfen sich nicht in dem System einrichten, sondern sie müssen ihre Rolle, ihre Funktionen, ihre Ziele immer wieder neu überdenken. Um dies am Beispiel zu konkretisieren: das oberste Ziel jedweder Organisation, die sich mit der Abschaffung von Ismen, den Ungleichheiten zwischen Menschen, beschäftigt, müsste eigentlich die Selbstauflösung sein.

Noch konkreter: Das Ziel eines Frauenministeriums muss die Abschaffung dieses Ministeriums sein. Denn wenn das Ziel – hier die Abschaffung des Sex-Ismus – erreicht ist, benötigt man es nicht mehr. Das oberste Ziel der Lobby für Menschenrechte ist die Selbstauflösung. Die Bekämpfung und Abschaffung der Ungleichheiten zwischen den Menschen ist lediglich der Weg. Wenn die Lobby nicht mehr notwendig ist, ist der Weg zu Ende und das Ziel erreicht. Es darf durchaus bezweifelt werden, ob alle NGOs diese Sicht haben.

Damit ist nun nicht nur die Politik im Kreuzfeuer der Diskussion, alle sind gefragt und zur Verantwortung zu ziehen.

Literatur:

Doblhofer, G. (1994): Vergewaltigung in der Antike, Teubner, Stuttgart.

Gerstendörfer, M. (1995): Menschenrechtsverletzungen an Frauen im Krieg: Frauen als militärisches Kalkül, in: Fraueninhaftierung und Gewalt, Loccumer Protokolle 62/93, Rehburg-Loccum, S. 97-127.

Hagemann-White, C.(1992): Strategien gegen Gewalt im Geschlechterverhältnis, Centaurus, Pfaffenweiler.

Millet, K.(1993): Entmenschlicht – Versuch über die Folter, Junius, Hamburg.

Oelemann, B. (1999): Präventionsrat Basel, 17.6.99 »Gewaltprävention und Jugendarbeit«, Vortrag.

Watzlawick, P.(1991): Vom Schlechten des Guten oder Hekates Lösungen, Piper, München, 5. Aufl.

Monika Gerstendörfer, Diplom-Psychologin, Lobby für Menschenrechte e.V.

Eine Demokratie braucht Menschenrechte

Eine Demokratie braucht Menschenrechte

von Harald Gesterkamp

Die Türkei, strategisch bedeutendes Bindeglied zwischen Europa und dem Nahen Osten, ist für schwere Menschenrechtsverletzungen bekannt – obwohl das Land über alle Institutionen eines demokratischen Rechtsstaates verfügt. Den Versprechen jeder neu gewählten Regierung, die Situation zu verbessern, folgen jedoch seit Jahren keine Taten.

Wie viele andere Menschen hatte sich auch der Fotograf Metin Göktepe am 8. Januar 1996 auf dem Friedhof eingefunden, um über die Beisetzung von Gefangenen zu berichten, die vier Tage zuvor in der Haftanstalt Ümraniye in Istanbul zu Tode geprügelt worden waren. Doch die Menschen wurden von der Polizei daran gehindert, an der Beerdigung teilzunehmen. Außer dem für die Tageszeitung »Evrensel« tätigen Göktepe wurden noch mehrere hundert Trauergäste festgenommen.

Die Polizei brachte die Festgenommenen zur Sportanlage von Eyüp. Dort wurde Göktepe noch am selben Abend gegen 20.30 Uhr tot aufgefunden. Über die Vorgänge in dem Sportzentrum existiert ein heimlich aufgenommenes Videoband, auf dem zu sehen ist, wie Häftlinge mißhandelt werden. Göktepes Tod, so der Autopsiebericht der Istanbuler Universität, ist durch Schläge herbeigeführt worden.

Die türkischen Behörden versuchten die wahre Todesursache tagelang zu vertuschen. Der Polizeipräsident von Istanbul erklärte, der Journalist sei bei einem Fluchtversuch gestürzt und gestorben. Letztlich aber konnte sich das Innenministerium dem Druck der Öffentlichkeit nicht widersetzen und ordnete eine Untersuchung an. Im Februar 1996 wurde ein Gerichtsverfahrens gegen elf Polizisten wegen Mordes eingeleitet. Drei Jahre später wurden fünf Beamte wegen „unbeabsichtigter Tötung“ zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt. Trotz des vergleichsweise milden Urteils – eine vorzeitige Haftentlassung nach drei Jahren ist wahrscheinlich – ist es einer der wenigen Fälle, in denen Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen wurden.

Nicht nur bei Metin Göktepe, auch gegenüber anderen einheimischen Journalisten greifen die türkischen Behörden mitunter zu illegalen Methoden, um sie mundtot zu machen. Anfang der 80er Jahre wurden regierungskritische Journalisten zumeist dadurch zum Schweigen gebracht, daß man sie zu langen Haftstrafen verurteilte. Heute müssen sie eher befürchten, getötet zu werden. Für Journalisten ist die Türkei inzwischen zu einem gefährlichen Land geworden. Seit 1992 sind 14 Journalisten, die über die Menschenrechtssituation in den kurdischen Gebieten berichtet hatten, getötet worden, im Gewahrsam der Sicherheitskräfte »verschwunden« oder in der Haft ums Leben gekommen. Bei den Getöteten handelte es sich mehrheitlich um Mitarbeiter der in kurdischem Besitz befindlichen Tageszeitungen »Yeni Ülke«, »Özgür Gündem«, »Özgür Ülke« und »Yeni Politika«, die inzwischen sämtlich ihr Erscheinen einstellen mußten. Alle vier Zeitungen galten bei den Sicherheitskräften als „legale Organe der PKK“. Acht Korrespondenten und weitere elf Personen, die die genannten Zeitungen lediglich ausgetragen oder verkauft hatten, wurden unter Umständen ermordet, die eine Täterschaft des Staates nahelegen. Zwei Redakteure »verschwanden«, zahlreiche andere Mitarbeiter wurden festgenommen und gefoltert. Einige befinden sich bis heute im Gefängnis.

Als 1992 nahezu jeden Monat ein türkischer Journalist ermordet wurde, reagierte die Regierung darauf mit ungetrübter Selbstgerechtigkeit. So erklärte der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Süleyman Demirel am 11. August: „Bei denjenigen, die getötet wurden, handelte es sich nicht wirklich um Journalisten. Es waren Militante, die sich als Journalisten getarnt haben. Sie bringen sich gegenseitig um.“ Bei amnesty international ist nicht bekannt, daß offizielle Stellen in der Türkei die Morde an Journalisten jemals verurteilt hätten. Statt dessen hieß es in einem vertraulichen Rundschreiben der damaligen Ministerpräsidentin Tansu Çiller vom 30. November 1994 an ihre Kabinettskollegen: „Die Aktivitäten bestimmter Publikationsorgane, insbesondere die von Özgür Ülke bedeuten einen eindeutigen Angriff auf die bleibenden und geistigen Werte des Staates. Um eine solch massive Bedrohung der unteilbaren Einheit des Vaterlandes abzuwenden, ersuche ich das Justizministerium, die entsprechenden Publikationsorgane zu ermitteln und gegen sie vorzugehen.“ Vier Tage später explodierten in den Redaktionsräumen von Özgür Ülke in Istanbul und Ankara Sprengsätze, die beide Büros weitgehend zerstörten. Ein Mitarbeiter von Özgür Ülke wurde getötet und 19 verletzt. Die Regierung reagierte auf den Vorfall mit einer Erklärung, in der sie jeglichen Zusammenhang zwischen dem Rundschreiben von Ministerpräsidentin Çiller und den Sprengstoffanschlägen bestritt und Özgür Ülke erneut des „Separatismus“ bezichtigte.

Paradoxe Entwicklung zur Meinungsfreiheit

An der Frage der freien Meinungsäußerung wird ersichtlich, wie paradox die Entwicklungen in der Türkei verlaufen. Denn es gibt auch positive Tendenzen: So lag die Zahl der amnesty international namentlich bekannten gewaltlosen politischen Gefangenen Ende der 80er Jahre noch bei mehreren hundert, Mitte der 90er Jahre nur noch bei knapp über zehn. In den vergangenen Monaten hat die Zahl derjenigen, die ausschließlich wegen der Äußerung ihrer Meinung inhaftiert wurden, jedoch wieder zugenommen.

Es ist das Verdienst der türkischen Zivilgesellschaft, daß sich nach dem Ende der Militärherrschaft 1984 die Meinungsfreiheit wieder durchgesetzt hat. Unter den Generälen waren alle politischen Parteien wie auch die meisten Gewerkschaften verboten. Hunderte wurden inhaftiert und gefoltert, nur weil sie ihre Überzeugungen gewaltfrei geäußert hatten. Die Propagierung des Kommunismus, des kurdischen »Separatismus« oder einer auf religiösen Prinzipien basierenden Regierungsform wurde mit langjährigen Freiheitsstrafen bedroht.

Proteste von politischen Parteien, Gewerkschaftsverbänden und anderen Organisationen verhallten nicht ungehört: Im April 1991 wurden mehrere politische Paragraphen des Strafgesetzbuches abgeschafft und 29.000 Inhaftierte freigelassen, darunter alle amnesty bekannten gewaltlosen politischen Gefangenen. Die Mutterlandspartei (ANAP) hob Anfang der 90er Jahre das staatliche Rundfunkmonopol auf. Inzwischen existieren in der Türkei Hunderte von unabhängigen Radiostationen und unzählige örtliche oder per Satellit zu empfangende Fernsehsender. In Zeitungen und im Rundfunk werden politische Fragen in einer Offenheit diskutiert, die vor einem Jahrzehnt noch undenkbar gewesen wäre. Die türkischen Medien legen keine Zurückhaltung an den Tag, öffentliche Skandale aufzudecken. Sie nutzen ihre neu gewonnene Freiheit mit scharfzüngiger Kritik an der Politik der türkischen Machthaber.

Bei diesem Bild einer Gesellschaft, in der lebhaft und offen diskutiert wird, mutet es absurd an, daß nach wie vor Menschen rigidesten Beschränkungen in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung unterworfen werden, wenn der Staat sich in seiner Integrität gefährdet fühlt. Sobald Ehre und Würde der Sicherheitskräfte bedroht erscheinen oder der Kampf gegen den kurdischen »Separatismus« in Frage gestellt wird, nimmt der Staat für sich das Recht in Anspruch, einzuschreiten. Dabei ist die Türkei bereits 1954 der Europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten, in dem in Artikel 10 das Recht auf freie Meinungsäußerung garantiert wird. Doch das Land wird bis heute seinen Verpflichtungen aus der Konvention nicht gerecht.

Ein wichtiges Mittel, um Meinungsfreiheit zu unterdrücken, ist der Artikel 8 des Anti-Terror-Gesetzes. Der Paragraph stellt „separatistische“ Äußerungen unter Strafe. Seitdem im Juli 1993 die türkische Ministerpräsidentin und der Generalstabschef der Streitkräfte angesichts der Zuspitzung des Konflikts im Südosten der Türkei die Medien zur Unterstützung in einem „totalen Krieg“ gegen den „Separatismus“ aufriefen, hat Artikel 8 Hochkonjunktur. Artikel 28 der Verfassung, in dem es heißt: „Die Presse ist frei und unterliegt keiner Zensur“, hat seitdem faktisch keine Gültigkeit mehr. Wer gegen das Vorgehen der Regierung im Südosten der Türkei protestiert, riskiert Verfolgung und Inhaftierung.

Zu den nach Artikel 8 oder ähnlich lautenden Artikeln des Türkischen Strafgesetzbuches Inhaftierten zählen Rechtsanwälte und Gewerkschafter, Akademiker und Schriftsteller, Verleger und Journalisten. Die zunehmende Verfolgung hat nicht nur die türkischen Medien in Unruhe versetzt, sondern auch bei führenden Politikern und selbst Regierungsmitgliedern Besorgnis ausgelöst. Der ehemalige Kulturminister Fikri Saglar ging sogar so weit, den inhaftierten Haluk Gerger – ehemals Generalsekretär der Türkischen Gesellschaft für die Vereinten Nationen – und den Hochschuldozenten Fikret Baskaya im September 1994 im Gefängnis zu besuchen: „Mir ist bewußt, wie entwürdigend und beschämend die Situation für Sie sein muß. Ich bitte Sie um Verzeihung„.

Weiterhin systematische Folter

Ende Oktober 1995 wurde – im Vorfeld der Diskussion, ob die Türkei in die Zollunion der Europäischen Union aufgenommen wird – Artikel 8 etwas abgeschwächt. Doch auch in seiner neuen Fassung definiert er „separatistische Propaganda“ als Straftatbestand, selbst wenn der Angeklagte zu keinem Zeitpunkt Gewalt befürwortet hat. Lediglich der Passus „ungeachtet der Mittel, Absichten und Ideen“ wurde gestrichen. Außerdem wurde die Höchststrafe von fünf auf drei Jahre Freiheitsentzug herabgesetzt und den Gerichten ein Ermessensspielraum eingeräumt, gegen erstmals Verurteilte Geldstrafen oder zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafen zu verhängen. Die Mehrzahl der nach Artikel 8 inhaftierten Personen kam mit Inkrafttreten der Gesetzesänderungen vorläufig frei. Doch die meisten der Urteile wurden inzwischen bestätigt. In der Regel wurden bei den Wiederaufnahmeverfahren die Strafen um die Hälfte reduziert oder zur Bewährung ausgesetzt. Die betreffenden Personen bleiben bis zum Abschluß der Berufung in Freiheit.

Auch Yasar Kemal, der bekannteste lebende Schriftsteller der Türkei, mußte sich 1995 unter der Anklage des Verstoßes gegen Artikel 8 vor dem Staatssicherheitsgericht in Istanbul verantworten, weil er für das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« einen Artikel verfaßt hatte. Der Prozeß endete mit einem Freispruch. Aus Protest gegen die strafrechtliche Verfolgung des prominenten Autors trugen 1.080 Intellektuelle, Schriftsteller, Verleger und Künstler ihren Namen in ein Buch »Gedankenfreiheit in der Türkei« ein, ein Band mit Beiträgen von Personen, die wegen ihrer Schriften inhaftiert oder angeklagt sind. Die türkischen Behörden klagten 185 der Unterzeichner nach Artikel 8 an. Ihre Verfahren ruhen zur Zeit für drei Jahre. Danach werden die Akten geschlossen, wenn es keine neuen Vorwürfe gibt. Yasar Kemal jedoch wurde am 7. März 1996 zu einer Bewährungsstrafe von 20 Monaten Haft verurteilt, weil er unter dem Titel »Dunkle Wolken über der Türkei« einen Beitrag für den Sammelband verfaßt hatte. Damit habe er sich gemäß Paragraph 312 des Strafgesetzbuches der „Aufwiegelung zum Haß“ schuldig gemacht, urteilte das Gericht.

Menschenrechtler im Fadenkreuz

Zielscheibe sind auch die Menschenrechtler. Der Türkische Menschenrechtsverein IHD mit inzwischen knapp 16.000 Mitgliedern hat seit seiner Gründung 1986 Menschenrechtsverletzungen konsequent und öffentlich angeprangert. Er hat sich damit in den Reihen von Regierung und Sicherheitskräften erbitterte Feinde gemacht. Zahlreiche Mitglieder sind wegen ihres couragierten Eintretens inhaftiert und gefoltert worden. Zehn IHD-Menschenrechtler sind in den vergangenen sieben Jahren ermordet worden. Auf den IHD-Vorsitzenden Akin Birdal wurde im Mai dieses Jahres ein Attentat verübt. Birdal wurde von sechs Kugeln getroffen, als unbekannte Männer sein Büro in Ankara stürmten und ohne Vorwarnung schossen. Er überlebte schwerverletzt. Wenige Monate später bestätigte ein Berufungsgericht eine über einjährige Haftstrafe gegen den 50jährigen. Birdal ist gerade dabei, bei der medizinischen Rehabilitation Fortschritte zu machen. Sollte er ins Gefängnis müssen, könnte seine medizinische Behandlung nicht fortgesetzt werden. Nach dem jüngsten Urteil darf er bis ans Lebensende keine Funktion mehr in irgendeinem Verein ausüben. Birdal hatte mehrfach die Kurdenpolitik und die schweren Menschenrechtsverletzungen der türkischen Behörden öffentlich kritisiert.

Damit in der Türkei begangene Menschenrechtsverletzungen nicht nach außen dringen, verweigern die türkischen Behörden manchen Kritikern aus dem Ausland die Einreise. Ausländische Journalisten und Mitglieder von Untersuchungsdelegationen wurden gezwungen, die Türkei zu verlassen. Auch Mitarbeiter von amnesty international, die Menschenrechtsverletzungen recherchieren wollten, erhielten ein Einreiseverbot. Ein Vertreter der Organisation wurde in der Türkei einmal sogar festgenommen, 48 Stunden lang in Gewahrsam gehalten und anschließend des Landes verwiesen.

Daß amnesty international in der Türkei nicht gern gesehen ist, überrascht nicht: Seit mehr als zwei Jahrzehnten kritisiert die Organisation die Folter. Weder innerstaatliche noch internationale Rechtsvorschriften haben verhindern können, daß Folter auf türkischen Polizeistationen weiterhin systematisch angewendet wird. Nicht nur amnesty international, auch andere Organisationen sind zu diesem Ergebnis gekommen.

Mitglieder des Europäischen Ausschusses gegen Folter inspizierten im Dezember 1992 unangekündigt das Polizeipräsidium von Ankara und fanden Gegenstände, die eindeutig Folterzwecken dienen. Sie stießen unter anderem auf „ein Bett, ähnlich einer Bahre, an dem acht Gurte befestigt waren. Es entsprach exakt der Beschreibung, die Personen von einem Möbelstück gegeben hatten, an das sie angeschnallt gewesen waren, während man ihnen Stromstöße versetzte. Uns konnte keine plausible Erklärung für das Vorhandensein dieses Bettes in einem Raum, der ersichtlich als »Verhörraum« diente, geliefert werden.“ Auch im Polizeipräsidium von Diyarbakir sahen Ausschuß-Mitglieder Folterwerkzeuge. In Istanbul wurden sie 1996 ebenfalls fündig.

Jeder, der in der Türkei in Polizeihaft genommen wird, ist von Folter bedroht. Eine Vielzahl der amnesty international zur Kenntnis gelangten und glaubwürdig belegten Vorwürfe über Folterungen und Mißhandlungen stammen von Menschen jeden Alters und Geschlechts, von Angehörigen gesellschaftlicher Randgruppen – etwa Transvestiten oder Behinderte –, von religiösen Minderheiten wie den Alewiten, von Rechtsanwälten, Ärzten, Oppositionellen, Flüchtlingen oder auch von Parlamentariern. In der Türkei sind auch Menschen gefoltert worden, deren Verhaftung mit rein kriminellen Delikten in Zusammenhang stand, die lediglich ihren Ausweis nicht vorweisen konnten oder die sich geringfügiger Verkehrsdelikte schuldig gemacht hatten.

Der für das türkische Innenministerium tätige Haldun Hasmet Aysan, der 1992 in Ankara wegen Übertretung der Straßenverkehrsvorschriften festgenommen und im Gewahrsam der Polizei geschlagen worden war, sagte der Tageszeitung »Hürriyet«: „Wenn so etwas schon Menschen wie mir passiert, wird mir angst und bange um den einfachen Bürger.“ Sadik Örsoglu, Mitglied der Mutterlandspartei von Ministerpräsident Mesut Yilmaz, suchte im Dezember 1995 die Polizeistation von Yedikule in Istanbul auf, um sich nach zwei seiner Familienangehörigen zu erkundigen, die unter dem Verdacht der Beteiligung an einer Straftat festgenommen worden waren. Kaum hatte er die Wache betreten, wurde Örsoglu verhört und dabei mit Fußtritten gegen die Genitalien so schwer mißhandelt, daß er anfing zu bluten. Man brachte ihn daraufhin in ein Krankenhaus, wo er operiert werden mußte. Als amnesty international im März 1996 ein Gespräch mit ihm führen konnte, mußte er noch immer einen Katheter tragen. Der betreffende Beamte ist inzwischen vom Dienst suspendiert worden.

Gefoltert wird vor allem, wenn sich die Häftlinge von der Außenwelt isoliert in Polizeigewahrsam befinden. Ziel der Folterungen ist es, Geständnisse zu erpressen oder die Opfer dazu zu zwingen, für die Polizei als Informanten tätig zu werden. Oftmals dienen Folterungen auch der willkürlichen Bestrafung von Kleinkriminellen oder vermeintlichen Anhängern verbotener Organisationen. Zu den häufigsten Foltermethoden zählen neben Schlägen und Tritten das Aufhängen an auf dem Rücken gefesselten oder an Stangen festgebundenen Armen, das Abspritzen mit eiskaltem Wasser aus Hochdruckstrahlern, sexuelle Übergriffe gegen Frauen und gegen Männer, Elektroschocks an Fingern, Zehen, im Mund- und Genitalbereich sowie Schläge auf die Fußsohlen.

Auch Kinder und Jugendliche werden von der Folter nicht verschont. In dem jüngsten ai-Bericht werden zahlreiche Beispiele geschildert, in denen Kinder von staatlichen Beamten mißhandelt wurden. Bei systematischer Folter darf es nicht überraschen, daß mancher Festgenommene zu Tode kommt: Seit 1990 dürften mehr als hundert Menschen an den Folgen der Folter gestorben sein.

Das Problem der Straflosigkeit

Die Folterer kommen fast immer ungeschoren davon. Das System der Straflosigkeit hat den Nährboden für immer neue Folterungen sowie für weitere Menschenrechtsverletzungen geschaffen: So ist in den vergangenen sieben Jahren die Zahl der »Verschwundenen« in der Türkei genauso sprunghaft gestiegen wie die Zahl derjenigen, die politischen Morden zum Opfer gefallen sind.

Seit 1991 haben die Sicherheitskräfte damit begonnen, einen regelrechten Krieg gegen vermeintliche Staatsfeinde zu führen. Im kurdischen Südosten setzte eine bislang nicht gekannte Welle politischer Morde ein, die schließlich auch Ankara und Istanbul erreichte. Viele der Morde im Südosten tragen die Handschrift von »Todesschwadronen«. Schon bald gab es Beweise dafür, daß Armeeangehörige in die Tötungen verwickelt waren. So konnten die Täter unbehelligt Kontrollposten des Militärs passieren und benutzen mitunter Militärfahrzeuge oder Hubschrauber.

Viele der bereits mehr als tausend Mordopfer in den kurdischen Gebieten galten bei den Sicherheitskräften als Staatsfeinde, viele waren Mitglieder der HADEP, einer legalen und im Parlament vertretenden pro-kurdischen Partei.

Die kurdischen Dorfbewohner geraten bei dem Konflikt zwischen die Fronten: „Wenn wir in unser Dorf zurückkehren, können wir wenigstens unser Vieh versorgen und nach unseren Familien schauen. Die Regierung erlaubt uns die Rückkehr, aber nur unter der Bedingung, daß wir als Dorfschützer für sie arbeiten. Lassen wir uns darauf ein, so werden wir von den PKK-Terroristen angegriffen. Lehnen wir es ab, so greifen uns die Sicherheitskräfte an,“ klagt ein kurdischer Dorfbewohner, der aus seinem Heimatort vertrieben worden ist.

Im Südosten gibt es etwa 55.000 paramilitärische Dorfschützer. Teilweise sind sie sogar an Einsätzen gegen Ziele im Nordirak beteiligt. Die Teilnahme am System der Dorfschützer ist freiwillig – auf dem Papier. Mehr als 2.000 Dörfer, deren Bewohner sich weigerten, wurden im Zuge von Strafmaßnahmen der Militärs dem Erdboden gleichgemacht. Zwei Millionen Kurden sind Schätzungen zufolge aus den Dörfern geflüchtet. Die Regierung hat mehrfach versucht, die Dorfbewohner selbst oder die PKK dafür verantwortlich zu machen. Bezeichnend ist die Aussage von Ex-Premier Tansu Çiller: „Selbst wenn ich mit eigenen Augen gesehen hätte, daß staatliche Kräfte ein Dorf zerstören, glauben könnte ich es immer noch nicht.“ Den Krieg im Südosten begründet das Militär immer mit dem Argument der Sicherheit. „Wir werden den Terrorismus besiegen, aber Demokratie und Menschenrechte behindern uns dabei„, beklagte General Ahmet Çörekçi im Juli 1995 gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.

Auf der anderen Seite sind seit 1993 mehrere hundert Zivilisten und Gefangene von der PKK getötet worden. Die meisten hatten sich den Dorfschützern angeschlossen. amnesty international hat zahlreiche Übergriffe der PKK dokumentiert und die PKK mehrfach – unter anderem bei einem Gespräch mit Vertretern der Organisation im August 1994 in London – aufgefordert, sich an das humanitäre Völkerrecht zu halten. Die PKK hat mehrfach in der Vergangenheit die Gefährdung von Zivilisten in Kauf genommen oder vorsätzlich gemordet, unter anderem 90 Lehrer. Diese werden von der PKK als Vertreter des türkischen Staates angesehen. Die Dorfbevölkerung ist zum Spielball ihrer militärischen Interessen gemacht worden. Es ist bittere Ironie des Konfliktes im Südosten, daß die Mehrzahl der von der PKK getöteten Menschen Kurden waren.

Reformen sind möglich

Bei ernsthaftem politischen Willen könnte die türkische Regierung durchaus Menschenrechtsreformen auf den Weg bringen. Die wirtschaftlichen, sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen sind geeignet, die Idee der Menschenrechte dauerhaft zu tragen. Seit 1996 wurden auch einige Gruppen von amnesty international in der Türkei gegründet. Die ai-Sektion war 1980 nach dem Militärputsch zwangsweise geschlossen worden.

Die Türkei blickt auf nahezu ein halbes Jahrhundert Mehrparteiendemokratie zurück. Trotz wiederholter Machtergreifung durch das Militär – 1960, 1971 und 1980 – scheinen die parlamentarischen Strukturen fest verankert zu sein. Einige Abgeordnete scheuen nicht länger davor zurück, Regierung und Militär in Menschenrechtsfragen scharf zu kritisieren.

Als die Regierung Demirel nach den Parlamentswahlen vom Oktober 1991 versprach, Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte zu ergreifen, die Polizeistationen mit „Wänden aus Glas“ zu versehen und eine Versöhnung anzustreben, wurde das Land von einer Welle des Optimismus erfaßt. Auf die Einlösung des Versprechens warten die Türken noch heute.

Dennoch sind auch Fortschritte zu verzeichnen. Besonders bei der Todesstrafe: Die letzte Hinrichtung in der Türkei hat im Oktober 1984 stattgefunden, so daß das Land inzwischen zu den Staaten zu zählen ist, die die Todesstrafe zwar nicht per Gesetz, aber de facto abgeschafft haben. Das türkische Parlament hat schon seit geraumer Zeit keine Bestätigung von Todesurteilen mehr ausgesprochen und sämtliche Todesurteile umgewandelt, die für vor April 1991 begangene Straftaten verhängt worden waren. In diesem Jahr hat die Regierung die Abschaffung der Todesstrafe in absehbarer Zeit versprochen.

In anderen Bereichen stehen längst überfällige Reformen aber weiterhin aus. So wären mehrere zu Tode geprügelte Gefangene wahrscheinlich noch am Leben, wenn die Regierung es nicht bis heute unterlassen hätte, sicherzustellen, daß Polizeibeamte niemals Zugang zu Untersuchungshäftlingen und Strafgefangenen erhalten. Zwar hat es nicht den Anschein, als würde in den türkischen Gefängnissen, anders als auf den Polizeistationen, systematisch gefoltert. Gleichwohl hat amnesty international zahlreiche Berichte erhalten, denen zufolge politische Gefangene bei Fahrten von und zu Gerichtsverhandlungen oder ins Krankenhaus von der Gendarmerie mißhandelt worden sind.

amnesty international hat den türkischen Regierungen in den zurückliegenden Jahren immer wieder Reformvorschläge unterbreitet, deren Umsetzung leicht zu realisieren wäre und die dennoch eine grundlegende Verbesserung der Menschenrechtssituation zur Folge haben würden. Die türkische Staatsführung hat alle Möglichkeiten, Veränderungen herbeizuführen. Sie kann sich dabei des Rückhalts weiter Kreise des zivilen Teils der türkischen Gesellschaft sicher sein. Warum also bleiben selbst einfachste, aber dennoch erfolgversprechende Reformen aus?

Die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf Forderungen einiger maßgeblicher gesellschaftlicher Gruppen in der Türkei nach Reformen ist widersprüchlich. Regierungen, die über den meisten Einfluß auf die türkische Staatsführung verfügen – die Mitglieder der NATO und insbesondere der Europäischen Union – nutzen nicht einmal die von ihnen selbst zur Unterbindung von Menschenrechtsverletzungen geschaffenen Mechanismen, wie sie über den Europarat, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und die Vereinten Nationen gegeben sind. Die Türkei gilt als geschätzter Verbündeter und als strategisches Bollwerk gegenüber der Instabilität in Teilen des Nahen Ostens und Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Darüber hinaus ist die Türkei ein bedeutender Handelspartner und bietet einen lukrativen Markt für den Absatz militärischer Güter.

Eine entscheidende und nach wie vor ungelöste Frage ist, in welchem Maße der Sicherheitsapparat ziviler Kontrolle untersteht. Die Sicherheitskräfte, die sich aus Polizei, Gendarmerie, Militär und Nachrichtendiensten zusammensetzen, bilden faktisch einen Staat im Staate. Für alle Fragen der inneren wie äußeren Sicherheit sind bis heute allein die Streitkräfte zuständig.

Mesut Yilmaz, amtierender Ministerpräsident der Türkei, hat im August 1995, als er noch der parlamentarischen Opposition angehörte, das Problem der Machtverteilung offen angesprochen. Im Oktober 1994 wollte er an einer Untersuchungsdelegation nach Tunceli teilnehmen. Die Militärbehörden hinderten die Parlamentarier aber daran, niedergebrannte Siedlungen aufzusuchen. Gegenüber der Tageszeitung »Cumhuriyet« erklärte Yilmaz im August 1995: „Wenn in einem Land nicht einmal der stellvertretende Ministerpräsident zu evakuierten Dörfern vorgelassen wird, überlasse ich es Ihrer Vorstellungskraft, sich auszumalen, welche Art von Einfluß Oppositionsparteien ausüben können. Zuerst muß die Souveränität der Zivilbehörden hergestellt werden.“

Die türkische Regierung sollte endlich damit beginnen, Armee, Gendarmerie und Polizei ihrer Aufsicht und Kontrolle zu unterstellen. Die Zeit bloßer Absichtserklärungen muß ein Ende haben. Anfang 1995 übermittelte die damalige Ministerpräsidentin Tansu Çiller dem Innenminister ein vertrauliches Schreiben, in dem es hieß: „Verdächtige, gleich welcher Straftat beschuldigt, dürfen nicht mißhandelt werden. Polizeistationen sollten inspiziert und Werkzeuge, die sich für Mißhandlungen eignen, entfernt werden.“ Im April 1995 wurde Sahabettin Özaslaner festgenommen und in Ankaras Polizeipräsidium von Beamten der Anti-Terrorismus-Abteilung verhört. In einem späteren Gespräch, das amnesty international mit ihm führen konnte, berichtete er, an eine Vorrichtung, von seinen Befragern als Foltertisch bezeichnet, angeschnallt und gefoltert worden zu sein. Es handelte sich dabei um dieselbe Vorrichtung, die der Europäische Ausschuß gegen Folter 1993 im Polizeipräsidium von Ankara entdeckt hatte. Vermutlich steht sie noch heute da.

Harald Gesterkamp ist Redakteur des »ai- JOURNALs«, dem von amnesty international herausgegebenen monatlichen »Magazin für die Menschenrechte«.

Hinrichtungen in den USA

Hinrichtungen in den USA

Zum Verhältnis von Gewalt und Zivilisierung

von Norbert Spangenberg

Es ist nicht unproblematisch, als Deutscher über die barbarischen Züge der USA zu schreiben, weil dieses Land – zumal bei linken Intellektuellen – eine höchst zwiespältige Rolle bei der eigenen Identitätsfindung gespielt hat bzw. noch spielt. Unsere kritische Perspektive auf die Verhältnisse in den USA ist durch diesen archimedischen Punkt der neueren deutschen Geschichte geprägt: das kollektive Schuldtrauma über den während der Nazizeit begangenen Massenmord. Die schuldentlastenden Entstellungen der eigenen Vergangenheit ebenso wie die offizielle Vergangenheitspolitik legt sich wie ein Schleier der Täuschung auf unser Verständnis von Inhumanität und Gewalt in den USA.

Die Ablehnung der Todesstrafe gleicht in den meisten zivilisierten Ländern einem dünnen Firnis. So plädierten die Deutschen zum Zeitpunkt der Schleyerentführung in Umfragen zu 2/3 für die Einführung der Todesstrafe. Ein endgültiger Fortschritt der Zivilisation ist bisher nur in den Verfassungen fortschrittlicher Demokratien verankert, nicht in den Herzen der jeweiligen Mehrheiten. Sind die USA in der Einschätzung der condition humaine nicht einfach realistischer, indem sie die »Humanitätsheuchelei« ablehnen? Müssen wir die Hoffnung, daß der Mord als Mittel zur Integration durch zivilere Techniken ersetzt werden kann, letztlich aufgeben?

Enzensberger glaubt, daß die deutsche Nachkriegsrepublik ihre moralische Erneuerung auf einer von oben lancierten Lebenslüge aufgebaut hat. Diese hieß: Wir sind alle Demokraten. Aber diese Überzeugung war eine von den USA geliehene. Wir wollten als ein Mosaikstein der westlichen freien Welt noch amerikanischer als die Amerikaner sein: demokratisch, freiheitsdurstig und automobil, den Feind fest im Visier, der im Osten diesmal nicht die jüdisch-bolschwistische, sondern die kommunistische Weltherrschaft anstrebte. Das damit verbundene Beschweigen der eigenen Vergangenheit verführt speziell uns Deutsche zu einer Verkennung der Tatsache, daß Zivilisation auf der Zivilisierung von Gewalt aufbaut und – so die hier vorgebrachte Vermutung – diese Zivilisierung langfristig zu einer Steigerung der Gewaltverhältnisse führt, die erneut zivilisatorisch gebändigt werden müssen. Wenn wir über die USA urteilen wollen, müssen wir in uns selbst erst verstehen, warum wir den Wildwestfilm, den Serienkrimi, den Ghetto-Rap aufregend finden, aber die private Bewaffnung, den Rassismus, die Todestrafe, den Vietnamkrieg, den Krieg der Sterne, den exzessiven Hamburger-Rindfleischkonsum als Zeichen von fundamentalistischer Militanz oder von unerträglicher Unkultiviertheit erleben.

Die USA bedienen uns mit den neuesten idealisierten Produkten des Fortschritts und zugleich mit der antizipierten eigenen Dekadenz. Lifton und Marcusen (1990) glauben, daß die von den Nazis massenhaft erzeugte genozidale Mentalität und deren psychologische Mechanismen der Dissoziation und Abstumpfung sich fortpflanzen in der Idee der atomaren Abschreckung durch die Gemeinde der Nuklearwissenschaftler und -politiker, deren quasireligöses Gründungsverbrechen Hiroshima ist. Auch demokratische Gesellschaften sind nicht gegen die Gefahr gefeit, sich in den Dienst einer Ideologie totaler Vernichtung zu stellen.

Die Gründe der Kulturgründung

Die psychoanalytische Kulturtheorie zeichnet sich durch besonders »düstere Annahmen« über die Stiftung von Sozialität aus. Es sei – so Freud (1912-13) – ein gemeinsam begangenes mörderisches Verbrechen sowie das dadurch begründete Verhältnis der Komplizenschaft und der gemeinsam verleugneten Schuld, die ein Verhältnis der Gleichheit und zugleich ein Zusammengehörigkeitsgefühl stiften würde. Und nicht nur das: Die durch das Verbrechen geeinigte Masse benehme sich hinsichtlich der Fähigkeit zur Unbewußtmachung solcher Kollektivverbrechen wie ein Individuum mit schier unbegrenzter Lebenszeit. Der von den Blutspuren des Verbrechens gereinigte Gründungsmythos konstituiert zugleich so etwas wie ein kollektives Unbewußtes, dessen Verdrängungsschranken häufig durch Tabubruch, weniger durch Einsicht überwunden werden.

Der Anthropologe Girard (1972) hat diese These wesentlich verallgemeinert zugunsten der Theorie von an sozialen Minderheiten oder Außenseitern begangenen Gründungsverbrechen, die eine einigende Funktion haben, indem sie den angesammelten Haß der Gemeinschaft auf sich konzentrieren und damit die Gemeinschaft von unerträglicher Spannung »reinigen«. Die Urform der Einigung großer Kollektive liegt in der Konzentration des Hasses auf einen bzw. wenige, die im Mord ausgestoßen und entfernt werden. Durch diese Stellvertreterrolle werden die ermordeten Opfer zum einigenden Symbol der Gesamtheit, ihnen wird eine magische Machtvollkommenheit zugeschrieben, die sich aus der des Kollektivs speist. Denn dieses einigende Symbol ist zugleich Zeugnis des Verbrechens als auch Zeugnis der Schuld. Wegen dieser Macht, die empfundene Schuld zu erhöhen schon bevor eine verbrecherische Tat erfolgte, wird es gehaßt, so als ob das tote Opfer noch lebte und einen negativen Einfluß geltend machen könnte. Die Neigung zur Wiederholung der Transgression kann nur gebannt werden durch rituelles Gedenken an jenes Gründungsverbrechen. Die Todesstrafe ist ein in diesem Sinne »staatstragendes« Ritual der amerikanischen civil religion.

Der Mord an der indianischen Urbevölkerung, der Menschenraub und die Versklavung der schwarzen, ursprünglich afrikanischen Bevölkerung ist das bis heute im amerikanischen Rassismus fortwirkende Gründungsverbrechen, das identitätsstiftende Bedeutung hat. Das kollektive Komplizenbewußtsein läßt sich an den schuldentlastenden Fälschungen der Plots in den Wildwest- oder Detektivfilmen beobachten.

Die klassische bürgerliche Vertragstheorie etwa von Hobbes oder Rousseau beruht auf der Annahme, daß die durch einen Gesellschaftsvertrag geeinte Mehrheit der Schwachen die tyrannische Neigung der Überlegenen bändigen kann. Sie ist ein Gründungsmythos der sozialen Vernunft, der die Spuren der Gewaltausübung verschleiert, die zur Errichtung eines staatlichen Gewaltmonopols geführt hat. Dieser Blutzoll – so Sofsky (1996, S. 15) – sei unermeßlich. „Sie ist eine Geschichte fortschreitender Zerstörungsmacht. Raubzüge, Kriege, Verfolgungen unter dem Banner gesellschaftlicher Einheit und Gleichheit, das ist der Preis für den inneren Waffenstillstand.“ Und wer schützt den Untertanen vor einem Mißbrauch der monopolisierten und durch Gesetze gebändigten Gewalt? Sofsky meint: „ Das Projekt Ordnung führte die Menschen mitten in einen unendlichen Fortschritt der Gewalt hinein.“ Und sie erzeugt einen pazifistischen Gegenmythos einer ursprünglich »unschuldigen«, pazifistischen Gesellschaft. Freud (1933, S. 283) ist da skeptisch: „Es soll in glücklichen Gegenden der Erde … Völkerstämme geben, deren Leben in Sanftmut verläuft, bei denen Zwang und Aggression unbekannt sind. Ich kann es kaum glauben, möchte gern mehr über diese Glücklichen erfahren.“

Es scheint, daß die janusgesichtige Moderne die Gewaltbereitschaft als auch die Bereitschaft zur Gewaltzügelung gesteigert hat, vor allem durch die neu hinzugekommenen »Vergrößerungstechniken« feindseliger Absichten, d. h. durch die rasante Entwicklung der Militärtechnologie. Diese Entwicklung mündet sowohl in einer pazifistischen als auch in einer genozidalen Mentalität. Die Suche nach immer wieder neuen Einsatzfeldern genozidaler Modernisierung bringt die Sehnsucht nach Demokratie, Mitbestimmung, Pazifismus erst hervor. Das archaische Erbe im Menschen kann offensichtlich nicht durch den Zivilisationsprozeß endgültig veredelt werden. Auch nach Auschwitz und Hiroshima hinterläßt er Schädelstätten von unschuldigen Opfern.

Das Zeitalter des Narzißmus

Jede Gesellschaft, auch jene, die üblicherweise als säkularisiert gelten, bildet eine Form von Religiosität aus, aus der sie ein Gefühl der Gemeinschaft, der Sinnhaftigkeit kultureller Symbole, der Wandlungskraft und der Kreativität bezieht. Man könnte hier viel heranziehen, etwa das Ideal ewiger Jugendlichkeit und Fitness, hinter dem sich zweifellos eine Abkehr vom theistischen Glauben zugunsten einer unter dem Etikett der Gesundheitsfürsorge kamouflierten Selbstvergottung verbirgt, die Idealisierung grenzenloser technischer und militärischer Macht, von grenzenlosem Reichtum usw. Das erste grundlegende Problem einer solchen Narzissierung des Einzelnen durch Allmachtsphantasien besteht darin, daß sie nicht virtualisierbar, sondern leibgebunden und damit Krankheit, Leiden und Verfall preisgegeben sind. Der zweite Schwachpunkt ist die Angewiesenheit auf den Anderen, den Mitmenschen als Arbeitspartner im Rahmen der Arbeitsteilung, als Helfer, als Geschlechtspartner usw. Das narzissierte Ich ist argwöhnisch gegenüber dem Anderen, es sieht in ihm einen Gegenspieler und trachtet ihn zu beseitigen. Eine Gesellschaft aus hochgradig narzißtischen Individuen hat bestimmte Merkmale:

  • Sie ist hochgradig explosiv durch die chronische Asymmetrie zwischen Ansprüchen und erbrachten Gegenleistungen. Hier liegt ein zentrales Motiv für die gewaltigen Einkommensunterschiede, die den Reichen die Anspruchshaltung ermöglicht und den Armen eine egalitäre Gesellschaft nur vortäuscht und die Schuld an ihrer Verarmung einem Mangel an Fleiß, Charakterstärke u.ä. zuschreibt.
  • Sie tendiert, indem sich jeder Einzelne für einzigartig hält, paradoxerweise zu charakterologischer Uniformität.
  • Aufgrund der abgeschwächten libidinösen Bindungen schwankt sie zwischen dem Aggregatzustand extremer Vermassung und dem Aggregatzustand extremer Vereinzelung. Da die Gesellschaft im Zustand der Vereinzelung zu zerfallen droht, bietet sich aufgrund der charakterologischen Uniformität lediglich die Flucht in den Aggregatzustand der Vermassung an. Die im einzelnen Individuum angelegten Archive des verborgenen Grolls und des heimlichen Neids, die eine zwangsläufige Folge der Narzissierung des Ichs sind, führen zu frei flottierenden kollektiven Aggressionspotentialen, die der Kanalisierung durch einen außerhalb der Uniformität stehenden Einzelnen bedürfen.

Die USA ist eine von hohem Sozialneid gekennzeichnete autoritätsaverse »Brüdermasse«, die zur Selbstautorisierung, zum self made man auffordert. Die für die USA typische Lösung, um eine Explosion der narzißtischen Ansprüche zu neutralisieren, sind »vordemokratische« rassistische Verbrechen von der Art des Ku Klux Klan und, bei zumindest formaler Anerkennung der Demokratie, der stellvertretend ausgeführte Präsidentenmord als einzige Möglichkeit zur Revolution vieler vermasster Einzelner. Im Gegenzug ist die Hinrichtung die rituelle Bekräftigung des bedrohten staatlichen Gewaltmonopols, das dennoch tendenziell Spuren des vordemokratischen, unverhüllten Rassismus in sich trägt.

Der erschreckende Archaismus, daß die amerikanische Gesellschaft im Namen des Gesetzes einen Teil ihrer Angehörigen ermorden läßt. stellt eine ritualisierte und verrechtlichte Form des spontanen Lynchmordes dar. „Die öffentliche Hinrichtung ist das sichtbarste Insignium jeder Herrschaft. Was die Folter im geheimen, leistet die Exekution vor aller Augen: die Begründung und Erhaltung politischer und sozialer Ordnung … Hinter dem Gesetz steht der Wegweiser zur Schädelstätte“ (S. 121).

Gewalt und Bedrohungsangst

Die Hinrichtung ist Prototyp einer ausstoßenden Reaktion auf soziale Abweichung, der Täter ist eine Inkarnation des Bösen. Die Krankenbehandlung ist Prototyp einer einschließenden, assimilierenden Reaktion der Gesellschaft, der Kranke ist dann Inkarnation von Schwäche und Verlust. Der strafende Staat, der zunehmend soziale Konflikte durch Kriminalisierung löst, benötigt ein »militantes Menschenbild«, das auf zero tolerance basiert. Dazu muß er Schwäche in Bosheit umwandeln. Es richtet sich gegen Frauen, Kinder, Greise, Schwule, Arme, Bedürftige, gegen Liberalismus, gegen Einfühlung und Emotionalität, gegen alles, was als Anzeichen von Schwäche verstanden werden könnte. Die militante Gesellschaft hat aber das Problem, daß sie Feuer mit Öl zu löschen versucht. Gewalt erzeugt Bedrohungsangst und Bedrohungsangst erzeugt Gewalt. Eine immer rascher sich hochschraubende Eskalation von Bedrohungsangst und Gewaltausbruch in kollektivem Ausmaß führt zu einer Reduktion der vormals zivilen Persönlichkeit auf roheste Seelenregungen. Durch Dissoziation von Angst und Ohnmacht auf den (vermeintlichen) Gegner, indem dieser gewalttätig eingeschüchtert wird, soll das eigene Ich angstfrei gehalten werden. Solche massenpsychologischen »negativen Symbiosen« können durch stellvertretende Morde »kultiviert«, auf ein geringeres Maß an kollektiver Grausamkeit eingeschränkt werden. Die bei Hinrichtungen begangenen Stellvertretermorde sind rituelle Schauspiele, die die eigene Unversehrbarkeit trotz großer Bedrohungsangst feiern. Je größer diese Angst, desto größer ist die Grausamkeit, der erlebte sadistische Triumph und der Jubel der Zuschauer.

Irgendwann ist nur das Opfer noch ein Mensch. Irgendwann könnte ein armer schwarzer Homosexueller durch einen weißen, schwarzeneggerartigen Cowboyroboter virtuell gehenkt werden.

Wenn wir mit Bauman (1994, S. 12) davon ausgehen, daß Kultur nach jener Dauer und Beständigkeit strebt, die dem Leben auf schmerzliche Weise abgeht und daher Tod und Destruktivität auch entscheidende Bedingungen für die kulturelle Schöpferkraft sind, lassen sich verschiedene Unsterblichkeitsillusionen der amerikanischen Gesellschaft skizzieren wie der erwähnte Jugendlichkeitskult. Hierzu gehört die Ausbildung eines kollektiven Verfolgungsparanoids, da sie der Leugnung eigener Gebrochenheit und Leibgebundenheit dient. Das Gegenmittel ist lauernde Wachsamkeit, Verteufelung und möglichste Vernichtung des konstruierten Feindes. Als Weiße sind die Amerikaner in der Rolle von rassistischen Verfolgern, als Auswanderer waren sie ehemals religiös Verfolgte. Als schöpferisches Zentrum eines calvinistisch geprägten Kapitalismus, in dessen Verfassung das Streben nach Glückseligkeit ein Grundrecht ist, verfolgen die Menschen sich wechselseitig aufgrund von Ängsten, nicht reich und erfolgreich, d. h. von den säkularen Heilsgütern ausgeschlossen zu sein. Diese paranoide Grundstimmung findet im ausgeführten Mord Entlastung und Befriedigung. Die Hinrichtung entlastet besonders von Schuldgefühlen, weil sie einem von der Öffentlichkeit gerechtfertigten Strafimpuls entspricht.

Literatur

Bauman, Z. (1994): Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien. (Fischer) Frankfurt.

Canetti, E. (1976): Masse und Macht. 2 Bde. (Hanser).

Diner, D. (1995): Kreisläufe. (Berlin Verlag) Berlin.

Freud, S. (1912-13): Totem und Tabu. Studienausgabe.

Freud, S. (1933): Warum Krieg? Studienausgabe.

Girard, R. (1972): La violence et le sacre. (Grasset) Paris; dt. Das Heilige und die Gewalt. (Fischer) Frankfurt 1992.

Lifton, R. J./Marcusen, E. (1990): The Genocidal Mentality. Nazi Holocaust and Nuclear Threat. (Basic Books) New York; dt. Die Psychologie des Völkermordes. Atomkrieg und Holocaust. (Klett-Cotta) Stuttgart 1992.

Sofsky, W. (1996): Traktat über die Gewalt. (Fischer) Frankfurt.

PD Dr. Dr. Norbert Spangenberg ist Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Dozent am Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt.

Noch knistert es unter der Oberfläche

Noch knistert es unter der Oberfläche

(Über-) Lebensbedingungen palästinensischer Flüchtlinge im Libanon

von Monika Kaddur

Der Wiederaufbau im Libanon kommt langsam in Gang. Für die palästinensischen Flüchtlinge jedoch sind die Folgen vielfach negative. Arbeits-, Wohn-, Gesundheits- und Bildungsbedingungen in den Lagern verschlechtern sich und die internationale Hilfe – politisch und materiell – geht zurück. Doch:

Gewalt provoziert Gewalt
Jeden Tag ums Überleben kämpfen zu müssen,
ist erlebte Gewalt.
Aus der Vergangenheit und für die Zukunft
nicht zu wissen, wo man seine Kinder bettet,
ist erfahrene Gewalt.

Der Libanon – 16 Jahre geschüttelt vom Bürgerkrieg (1975 – 1991), tagtäglich Gewalt und Greueltaten im ganzen Land. Mit dem Abkommen von Ta'if vom 30. September 1989 findet auch der Konfessionalismus1 ein Ende, und es kommt 1991 zum definitven Friedensschluß. Die massive Anbindung an Syrien und die weitere Stationierung syrischer Truppen ist der Preis für den Frieden.2 In der Folgezeit kommen langsam wieder staatliche Strukturen (Einleitung eines Wiederaufbauprogramms, Wiederaufnahme des Justizwesens, Aufbau einer einheitlichen Armee etc.) in Gang. Die Wiederaufbaumaßnahmen, die sich besonders stark auf die Hauptstadt Beirut konzentrieren, sind inzwischen zu einem wahren Bauboom mutiert, der maßgeblich von einem finanziell potenten Bauherrn, dem jetzigen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri, vorangetrieben wird, der 1982 nach dem Rückzug der Israelis aus Beirut in den Libanon zurückkehrte und das Unternehmen »Ogé Lubnan« gründete, um seinerzeit bereits Wiederaufbauarbeiten durchzuführen. Mit seiner öffentlichkeitswirksam vorbereiteten Rückkehr als seriöser und reicher Geschäftsmann aus Saudi Arbabien begann damals auch seine politische Karriere.

Von all diesen Maßnahmen sind die palästinensischen Flüchtlinge, von denen über 350.000 im Libanon leben, nur im negativen Sinne betroffen. Denn sie müssen befürchten, im Zuge der Sanierungsarbeiten der Hauptstadt abermals obdachlos zu werden. Der Bestand der drei Beiruter Flüchtlingslager Burj al Barajnah, Mar Elias und Shatila sowie anderer Stadtviertel ist seit dem Beginn der Wiederaufbauarbeiten von Großbauprojekten wie »Beirut 2000«, dem geplanten Bau einer Autobahn durch das Flüchtlingslager Burj al Barajnah, der Erweiterung des Flughafens und des Sportstadions vom kompletten oder teilweisen Abriß bedroht.

Im Falle der Umsiedlung von libanesischen Familien gewähren staatliche Stellen eine Entschädigung zwischen 5.000 – 8.000 US$; palästinensische Flüchtlinge hingegen erhalten keinen finanziellen Ausgleich (Heilig-Kreuz-Gemeinde 1998).

Der Versuch der palästinensischen Flüchtlinge, sich gegen diese Maßnahmen zu wehren, fand weder im Land noch auf internationaler Ebene Unterstützung – ungehört verhallten ihre Proteste. Mit ihnen werden in der Hauptstadt zahlreiche durch den Krieg verarmte libanesische Familien und Kriegswitwen mit Kindern im schulfähigen Alter zu Obdachlosen. Schutz suchten die ersten Betroffenen bisher in den noch verbliebenen Ruinen Beiruts, ohne Fenster, ohne Tür, ohne Strom, ohne Wasser – so »vegetieren« sie notdürftig vor sich hin und versuchen, dennoch irgendwie ihr Überleben zu organisieren.

Position der libanesischen Regierung

Der libanenesische Staat betrachtet die palästinensischen Flüchtlinge in der Regel (Ausnahme: eine geringe Anzahl von Einbürgerungen) als Ausländer mit einem vorübergehenden Aufenthaltsstatus. Er enthält ihnen die wesentlichen Bürgerrechte auf Arbeit, Leistungen aus dem Erziehungs- und Gesundheitswesen sowie der Sozialversicherung vor. Die Regierung hat mehrfach nach Beendigung des Bürgerkriegs verdeutlicht, daß sie die Palästinenser nicht dauerhaft im Libanon ansiedeln will und ihre Umverteilung auf andere Länder in der Region anstrebt. Ihre Position, jedwede Verbesserung der Lebenssituation für die Flüchtlinge in den Lagern zu verweigern und damit den Auswanderungsdruck zu erhöhen, entspricht nur ihrem Veto gegen das definitive Niederlassungsrecht.

Internationale Ebene

Mit der Konferenz von Madrid im Oktober 1991, basierend auf den Resolutionen 242 und 338 des UN-Sicherheitsrats, begann der Friedensprozeß im Nahen Osten. Ohne Berücksichtigung blieb die Resolution 194 (III) der UN-Generalversammlung, die den Palästina-Flüchtlingen das Recht auf Rückkehr und/oder Entschädigung zusichert. Als Teil der multilateralen Verhandlungen wurde in Madrid auch das »Multilateral Refugee Committee« (MRC) gegründet. Kanada übernahm den Vorsitz in dem 35 Mitglieder umfassenden Gremium, dem u. a. die PLO, Jordanien, Israel, Ägypten, die USA und die Europäische Union sowie Japan angehören. Der Libanon und Syrien verweigerten ihre Teilnahme, da in den bilateralen Verhandlungen mit Israel bisher keine wesentlichen Fortschritte erzielt wurden. Auf der ersten Sitzung des MRC im Januar 1992 wurde die Refugee Working Group (RWG) gegründet, die in den drei Bereichen »Definition und Lösung des Flüchtlingsproblems« (Beschaffung von Informationen, Erhebung von Studien und Analysen), »Kontakt zu Flüchtlingsgemeinschaften und Administrationen« (Schaffung einer Vertrauensbasis unter den Beteiligten) und »Verbesserung der Lebensbedingungen palästinensischer Flüchtlinge und Vertriebener« (Projektfinanzierung) tätig ist. Die RWG bezifferte die Zahl der kriegsvertriebenen palästinensischen Familien im Libanon mit 6.000 und empfahl seinerzeit als dringendste Maßnahme die Bildung eines speziellen Wiederaufbaufonds. Die libanesische Regierung blockierte dieses Projekt und ließ nur minimalste Wiederaufbauarbeiten zu. Weitere RWG-Projekte konzentrierten sich auf die Gebiete Gaza, Westbank und Jordanien. Von den danach in Angriff genommenen 142 Projekten entfielen bis Mitte 1996 nur 12 Vorhaben auf den Libanon. Auch die UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East) läßt inzwischen den größten Teil ihres Budgets in die Autonomiegebiete fließen.

Im Osloer Friedensabkommen vom September 1993 wird die Klärung der Flüchtlingsfrage ebenfalls in die ferne Zukunft verschoben. Dies wird durch die große Gemeinschaft der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon massiv mißbilligt. Sie fühlen sich auch von der Führung der PLO bzw. der Palästinensischen Autonomiegebiete, Yassir Arafat, im Stich gelassen.

Anzahl der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon

Offizielle Angaben zu Ein- oder Abwanderung palästinensischer Flüchtlinge existieren im Libanon nicht. Palästinensischen Quellen zufolge befinden sich mindestens 400.000 Palästinenserflüchtlinge im Libanon, von denen in den vergangenen 10 Jahren mehr als 75.000 nach Europa und Übersee abgewandert seien. Die UNRWA beziffert die Zahl der bei ihr registrierten palästinensischen Flüchtlinge mit 356.000 Personen. Dabei handelt es sich in der Regel um die 1948 geflohenen bzw. vertriebenen Palästinenser. Nicht eingetragen sind bei der UNRWA die Palästinenserflüchtlinge, die 1967 nach dem 6-Tage-Krieg geflüchtet sind, als Israel den Gaza-Streifen und die Westbank besetzt hat, und auch jene sind nicht registriert, deren Residenzrechte in Jerusalem, Gaza und der Westbank durch die israelische Militärverwaltung ohne Rückkehrmöglichkeit entzogen wurden (schätzungsweise 100.000 Personen). Ebenfalls nicht von UNRWA erfaßt sind die nach dem 2. Golfkrieg in den Libanon gekommenen Palästinenser. Die drei letztgenannten Flüchtlingsgruppen haben somit keinen Anspruch auf Unterstützungsleistungen der UNO-Hilfsorganisation.

Nur eine geringe Zahl der seit 1948 im Libanon lebenden Palästinenser hat die Einbürgerung erhalten. Mehrheitlich handelte es sich dabei um christliche Palästinenser oder um solche mit Kapital. Dennoch scheint die Mehrheit der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon einer Einbürgerung positiv gegenüberzustehen. Die Fraktion der absoluten Gegner einer Einbürgerung ist relativ klein (Heilig-Kreuz-Gemeinde 1998).

Überleben in den Flüchtlingslagern

Die Flüchtlingslager werden heutzutage nicht mehr im Alleinvertretungsanspruch einer oder mehrerer Palästinenserorganisationen kontrolliert. Die zahlreichen politischen Organisationen der Palästinenser aus den Zeiten des Bürgerkriegs sind inzwischen in der Mehrheit zu kleinen und Kleinstgrüppchen zusammengeschmolzen, die kaum noch über eine nennbare Zahl von Anhängern verfügen.

Im Gegensatz zur Bürgerkriegsphase gibt es jetzt Lagerkomitees, in die jede im Lager vertretene palästinensische Organisation ihre Vertreter entsendet und die die organisatorischen und administrativen Alltagsaufgaben für die Lagerbevölkerung übernehmen. Die Repräsentanten der Lagerkomitees stellen sozusagen die »politische Außenvertretung« der Lagerbewohner dar, die z. B. Regierungsverantwortliche trifft, Behördenangelegenheiten regelt und in Krisenzeiten Appelle und Proteste lanciert (Ev. Gemeinde Beirut 1997).

Die verschiedenen palästinensischen Hilfsorganisationen, die in den Lagern tätig sind, haben ebenfalls ein Koordinationskomitee gebildet. Sie arbeiten vorwiegend im Bereich medizinische Versorgung, Vorschulerziehung und Kindergartenbetreuung. Die Versorgung mit Lebensmitteln durch UNRWA geschieht in unregelmäßigen Abständen und enthält nur sehr spärliche und teilweise einseitige Rationen. Die speziell nur für Palästinaflüchtlinge zuständige UNO-Hilfsorganisation UNRWA hat seit 1988 ihre Unterstützungszahlungen für palästinensische Flüchtlinge im Libanon ständig gekürzt. Beispielsweise wurden Basisrationen für Härtefälle reduziert, Zusatznahrung für Kinder und schwangere Frauen gestrichen, Lernmittelfreiheit und Ausbildungsstipendien abgesenkt. Hilfsleistungen für eine Krankenhausbehandlung unterliegen seit kurzem drastischen Kürzungen (Palestinians in Lebanon, 1994).

Seit 1991 – als die internationale Gemeinschaft glaubte, das Palästinenserproblem gelöst zu haben – ist ein stetiger Rückgang der Zuwendungen für die Palästina-Flüchtlinge im Libanon zu verzeichnen. Angesichts der alarmierenden Situation, in der sich die Palästinenser im Libanon befinden, appellierte der dänische UNRWA-Kommissar Peter Hansen im Juli vergangenen Jahres in Genf an die internationale Staatengemeinschaft, für die 356.000 palästinensischen Flüchtlinge im Libanon, die sich am Rande der Verzweiflung befinden und in der Tat zur Zeit einen wahren Alptraum durchleben, zusätzliche 11 Mio. US$ für die Jahre 1997 und 1998 zur Verfügung zu stellen (6,9 Mio. US$ im Krankenhauswesen, 2,7 Mio. US$ zur Deckung des dringendsten Bedarfs im Bildungs- und Erziehungsbereich, 1,4 Mio. US$ Nothilfe für völlig Mittellose). Da im Libanon die meisten Palästinenser sozial und ökonomisch ausgegrenzt sind, benötigen sie dringend die Unterstützung von UNRWA (Le Monde 13./14.07.97/ NZZ 11.07.97). Hansen ruft dazu auf, die Palästinenser im Libanon im Rahmen des Friedensprozesses nicht zu vergessen und sagt „Au tournant crucial du processus de paix, il est important d'assurer aux Palestiniens du Liban que la communauté internationale, par le soutien qu'elle porte à l'UNRWA, ne les a pas abandonnés“(Le Monde 13./14.07.97).

Das Verhindern des tatsächlichen Ausbruchs von Hunger geschieht gegenwärtig nur im Zusammenwirken von UNRWA, den palästinensischen NGOs (Non-Governmental Organizations), die nur über sehr begrenzte finanzielle Mittel verfügen und dem Sozialangebot der Schiitenorganisation Hizb Allah (Partei Gottes) (Heilig-Kreuz-Gemeinde 1998).

Verbot des Wiederaufbaus zerstörter Häuser

Es besteht schon seit Anfang der 80er Jahre die Planung, die Palästinenserlager in Beirut abzureißen. Auch ist die Idee, die Palästinenserlager aus dem Südlibanon in den äußersten Norden des Landes nach Aakkar zu verlegen, nicht neu. Anlaß zu diesen Überlegungen gaben seinerzeit die immer wieder aufflammenden bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Israel und einzelnen palästinensischen Gruppen im Süden des Landes.

Das Faktum, daß zerstörte Häuser in den palästinensischen Flüchtlingslagern nicht wieder aufgebaut werden dürfen und den Palästinensern auch nicht das Bauen außerhalb der Flüchtlingslager gestattet ist, sowie die Tatsache, daß durch die völlige Neuorganisation der städtischen Infrastruktur nunmehr das Verbleiben der Palästinenserlager in Beirut konkret gefährdet ist, geben vielen Palästinensern erneut berechtigten Anlaß zu der Befürchtung, daß die bestehenden Lager im Libanon sukzessive aufgelöst werden sollen. Aber auch in den anderen Flüchtlingslagern (Region Tyros: al Rashidiyya, Burj al Shemali, al Bass – Region Saida: Ain al Hilweh, Miyah Miyah – Region Tripoli: Nahr al Bared, al Baddawi – Region Baalbek: Wavell) ist die Situation nicht viel anders. Zum Beispiel ist es für die Lagerbewohner im Lager Rashidiyya (Tyros) verboten, Baumaterialien zum Zwecke des Wiederaufbaus von Häusern ins Lager zu bringen und in Ain Al Hilweh (Saida)) wurde der UNRWA im Sommer 1995 von der libanesischen Regierung untersagt, eine Schule zu bauen. Die libanesischen Behörden kontrollieren ständig, ob es Wiederaufbaumaßnahmen an den Lagergrenzen gibt. Nur kleinere Reparaturarbeiten sind erlaubt und vereinzelt werden auch Aufstockungsmaßnahmen bis zum zweiten Stockwerk gestattet (Ev. Gemeinde Beirut 1997).

Durch das Bauverbot ist es UNRWA teilweise auch nicht möglich, zerstörte Trinkwasseranlagen oder die Stromversorgung ordnungsgemäß wiederherzustellen. Hinzu kommt, daß die UNO-Hilfsorganisation aus chronischem Geldmangel für ihre Zuständigkeitsbereiche der Trinkwasserversorgung und Müllbeseitigung nur noch mangelhaft oder sporadisch aufkommt.

Arbeitsmarktsituation und Arbeitslosigkeit

Von Beginn ihres Aufenthaltes an wurde den Palästinensern die Tätigkeit in einer relativ großen Anzahl von Berufen (52) im Libanon gesetzlich nicht gestattet. Diese gesetzliche Regelung wurde am 18. Dezember 1995 erneut durch das Dekret 621/1 (Berufliche Tätigkeiten nur für Libanesen) festgeschrieben (Report 1996). So ist es z. B. palästinensischen Ärzten, Ingenieuren, Rechtsanwälten und Apothekern nicht erlaubt, ihren Beruf auszuüben. Zusätzlich benötigen die Palästinenser eine Arbeitserlaubnis, die nur sehr schwer von den libanesischen Behörden zu erlangen ist.

Über die Hälfte aller palästinensischen Flüchtlinge im Libanon ist arbeitslos. Nur 30% der erwerbsfähigen Flüchtlinge sind berufstätig. Sie arbeiten überwiegend im Baugewerbe und in der Landwirtschaft. Von den 200.000 arbeitsfähigen palästinensischen Flüchtlingen waren 1994 nur 250 Personen im Besitz einer Arbeitserlaubnis. Zum Vergleich die Zahl der 1994 offiziell erteilten Arbeitserlaubnisse (AE) an andere ausländische Arbeitnehmer (Report 1996):

Obwohl Palästinenser, die einer genehmigten Berufstätigkeit nachgehen, ebenso wie libanesische Bürger Sozialversicherungsbeiträge zahlen müssen, können sie im Falle von Arbeitslosigkeit oder im Rentenalter davon nicht profitieren, denn derartige Leistungen werden ihnen vom libanesischen Staat nicht gewährt.

Ein weiterer Faktor für die Armut der Palästinenser im Libanon sind die Folgewirkungen nach dem zweiten Golfkrieg (Yassir Arafat ergriff damals Partei für den Irak), als viele palästinensische Arbeitskräfte und Geschäftsleute in den Golfstaaten – voran in Kuwait – ihren Aufenthaltsstatus, ihren Arbeitsplatz und/oder ihr Eigentum verloren. Die dort Tätigen unterstützten ihre Familien im Libanon mit bedeutenden Geldbeträgen und das Versiegen dieser Einkommensquellen bedeutete für ihre Angehörigen im Libanon einen massiven finanziellen Einbruch.

Durch die Massenabschiebungen aus Libyen im Herbst 1995 wurden zusätzlich viele palästinensische Flüchtlingsfamilien im Libanon ins ökonomische Chaos gestoßen. Häufig verlor damit der einzige im Ausland arbeitende Ernährer einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie im Libanon seine Erwerbsmöglichkeit. Auch mit der Einstellung von PLO-Zahlungen gehen Einkommensverluste, Arbeitslosigkeit und Verarmung der Palästinenser einher; dies bedeutet Arbeitsplatzverlust, Wegfall von Kriegsentschädigungen, Stipendien und kostengünstigen Dienstleistungen. Die PLO wendete große Beträge für Unterstützungszahlungen an palästinensische Flüchtlingsfamilien im Libanon auf. Nach dem Ende des 2. Golfkriegs begann sie ihre Zahlungen im Libanon zu reduzieren, dies setzte sich nach der Madrider Konferenz im Herbst 1991 fort und gegenwärtig ist das finanzielle Engagement der PLO im Libanon gleich Null.

Die einzige Zuflucht der Lagerbevölkerung ist UNRWA mit ebenfalls immer geringeren Hilfsleistungen seit dem zweiten Golfkrieg. Die Geldmittel der UNRWA-Programmfinanzierung für Palästinenser fließen in den letzten Jahren vorwiegend nach Gaza, Jordanien, West Bank, Syrien und der Libanon bildet mit einem ganz geringfügigen Etat das Schlußlicht der Zuwendungen.

Die UNRWA bedeutete für die Palästinenser im Libanon bisher auch Lohn und Brot, weil sie der größte Arbeitgeber für die Menschen in den Flüchtlingslagern war. Palästinenser, die derzeit noch bei der UNRWA angestellt sind, sind nur noch im Besitz befristeter Arbeitsverträge bis zum Jahr 1999.

Schul- und Ausbildungskrise

Für die palästinensischen Flüchtlinge scheint bei einer steigenden Analphabetenrate langsam der Niedergang des Bildungssystems eingeleitet zu sein. Sie haben keinen Zugang zum staatlichen Erziehungs- und Bildungssystem. In den 12 Flüchtlingslagern werden 94% der Kinder in speziellen UNRWA-Schulen unterrichtet. UNRWA unterhält im Libanon 76 Schulen, davon sind 41 Grundschulen und 35 Vorbereitungsschulen.

Das einzige professionelle technische Ausbildungsinstitut (Vocational and Technical Center Siblin) kann bei weitem nicht den Bedarf der Jugendlichen nach berufsbildenden Lehrgängen decken. Im Jahr 1994/95 schlossen 664 Studenten einen Lehrgang am Institut ab.

Auch UNRWA hat im Ausbildungsbereich Kürzungen vorgenommen. Zu den negativen Auswirkungen gehören der Unterricht im Doppelschichtsystem, Klassengrößen zwischen 40 und 50 Schülern und zu wenig Lehrkräfte. Viele Kinder verlassen die Schule bereits vor Beendigung des Lernprogramms ohne irgendeinen Abschluß. Vorwiegend aus finanziellen Gründen (Kinder fungieren als Zusatzverdiener für ihre Familien, Geld für Schulkleidung kann nicht aufgebracht werden), wegen familiärer Probleme oder der Züchtigung durch Lehrkräfte besucht jedes zweite palästinensische Kind im Libanon keine Schule mehr. Die Vergabe von UNRWA-Stipendien an palästinensische Studenten im Libanon unterscheidet sich erheblich von der Zuteilung in anderen Aufnahmeländern. Stipendienvergabe 1994/95: Libanon (54), West Bank (150), Syrien (208), Gaza (220) und Jordanien (231) (Report 1996). Zwei Drittel des UNRWA-Etats für das Bildungswesen werden für Löhne und Gehälter ausgegeben.

Krise im Gesundheitswesen

Die Flüchtlinge im Libanon haben keinen Zugang zum öffentlichen Gesundheitswesen und sind deshalb bei der medizinischen Grundversorgung auf die Unterstützung durch Hilfsorganisationen angewiesen. Für geistig behinderte Kinder gibt es zum Beispiel keine Unterstützung. UNRWA hat ab 1991 seine Unterstützungsleistungen im Gesundheitsbereich wegen Finanzmangels reduziert. Seit Herbst 1997 verfügt die UNO-Organisation nur noch über ein paar Dutzend Krankenhausbetten in der 3. Klasse und kann nicht mehr als 2/3 der Kosten eines Krankenhausbettes bezahlen, für den Rest sowie für die Arztkosten müssen die Flüchtlinge selbst aufkommen. Für die 356.000 UNRWA-registrierten Palästinenser entfällt damit ein Bett auf 4.945 Personen. Die Flüchtlinge können beim Lagerkomitee einen geringfügigen Zuschuß beantragen – doch meist kommt dennoch die Krankenhausbehandlung wegen Geldnot auf Seiten der Flüchtlinge nicht zustande. Die Reduzierung der Krankenhausbetten hat in den palästinensischen Flüchtlingslagern zu Protesten geführt.

Der Palästinensische Rote Halbmond hat gleichfalls seine Aufwendungen für das Gesundheitswesen im Libanon auf ein Minimum herabgeschraubt und fast ein Drittel seiner ehemals 350 Angestellten entlassen (Al Nahar 24.02.96). Dies produziert tagtäglich neue Tragödien in palästinensischen Familien, da die Behandlungskosten in dem überwiegend privat strukturierten libanesischen Gesundheitssystem exorbitant sind. Die Gebühren für eine einfache Operation bei einem Chirurgen variieren von 1.000 – 2.000 US$ bis hin zu 8.000 US$ für die Herzchirurgie.

Bewegungsfreiheit für palästinensische Flüchtlinge

Das Gesetz 1188 Abschnitt 22 vom 28. Juli 1962 sieht für die Palästinenser nach Erhalt eines Reisepasses Bewegungsfreiheit zwischen dem Libanon und dem Ausland vor und gewährt ihnen das Recht der Verlängerung ihres Reisepasses bei Aufenthalt im Ausland (Report 1996).

In den vergangenen 10 Jahren wurde es für Palästinenser immer schwieriger, Reisedokumente von den libanesischen Behörden zu erhalten. Auch die Erneuerung im Ausland wurde immer häufiger abgelehnt mit der Folge, daß die Betroffenen nicht mehr in den Libanon zurückkehren konnten. Seit 1994 streicht die libanesische Regierung Palästinenser aus dem Register der Aufenthaltsberechtigten, die im Ausland einen zweiten Paß erhalten haben. Schätzungen zufolge haben auf diese Weise etwa 25.000 Palästinenser ihr Aufenthaltsrecht im Libanon verloren.

Die Massenabschiebungen von Palästinensern (ca. 30.000 – davon 10.000 aus dem Libanon) aus Libyen Anfang September 1995 wurden von der libanesischen Regierung mit Abschottungsmaßnahmen und dem Erlaß des Dekrets 478 vom 22. 09. 95 beantwortet. Nunmehr müssen palästinensische Flüchtlinge, die seit 1948 im Libanon leben, für die Aus- und Wiedereinreise ins Land ein Visum beantragen; gleiches gilt für die Einreise von Palästinensern, die sich im Ausland aufhalten.

Gewalt provoziert Gewalt

Trotz der katastrophalen Lebensbedingungen ist die Situation derzeit in den palästinensischen Flüchtlingslagern noch relativ ruhig. Die Stimmung ist gegenwärtig eher mit Begriffen wie Frustation, Depression, Apathie und einem »stillen Zorn« zu charakterisieren. Hinzu kommt eine Zunahme des Drogenkonsums bei Jugendlichen und eine ansteigende Kriminalitätsrate. Und es knistert unter der Oberfläche, jedwede größere, bedrohlichere oder negativere Veränderung bzw. Restriktion seitens des libanesischen Staates oder der UNO-Hilfsorganisation könnte eine Explosion auslösen. UNRWA beabsichtigte beispielsweise Ende 1997, ein Schulgeld von 100 US $ einzuführen. Diese Ankündigung führte sofort zu einem Aufschrei und zu Protestaktionen der palästinensischen Flüchtlinge.

Die Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und die ansteigende Verarmung einer ganzen Volksgruppe im ökonomischen, bildungspolitischen und residenzrechtlichen Bereich und jeglicher Mangel an Lebensperspektive sowie die kommentarlose Hinnahme dieses »modernen Pauperismus« durch die internationale Gemeinschaft können den Nährboden für eine Radikalisierung bilden und Männer, Frauen und besonders Jugendliche empfänglicher für lautstarke Töne und Aktionen extremer Gruppierungen machen.

In unseren Breitengraden wird dabei meist auf die syrien- und iran-orientierte Schiitenorganisation Hizb Allah Bezug genommen, die vom Westen als extremistische islamistische Gruppe bezeichnet wird, aber bei vielen Palästinensern und Libanesen landesweit als Speerspitze des Nationalen Widerstands gegen die israelische Besatzung gilt und die als einzige Miliz nach Beendigung des Bürgerkriegs durch die libanesische Regierung nicht entwaffnet wurde (SZ 17.09.97). Die Mitglieder der Hizb Allah betrachten sich selbst als islamische Befreiungskämpfer. Hinzu kommt, daß sich die Schiitenorganisation in den letzten Jahren zunehmend im sozialpolitischen Bereich engagiert und dort ansetzt, wo das Versagen des Staates deutlich zu erkennen ist. Hizb Allah ist in der Waisen- und Witwenbetreuung tätig, bietet kostenlos oder zu einem geringen Obolus medizinische Versorgung an, besitzt eigene Krankenhäuser und Schulen und nimmt Kämpfer in ihre Miliz auf, die dadurch ein Einkommen haben (FR 13.10.97).

Erwähnt sei in diesem Zusammenhang nur die 17-tägige israelische Offensive (Operation »Früchte des Zorns«) vom April 1996, bei der israelische Artillerie-, Luft- und Seestreitkräfte kontinuierlich Gebiete im Südlibanon beschossen und mehr als 300.000 Menschen gezwungen waren, ihre Häuser zu verlassen und die Hunderte von Toten und Verletzten (z. B. Beschießung eines UN-Gebäudes, in dem geflüchtete Menschen Schutz gesucht hatten) forderte (ai 1997). Insbesondere nach dieser letzten großen Fluchtwelle hat Hizb Allah im Südlibanon vielen Menschen Unterstützung beim Wiederaufbau ihrer zerstörten Häuser gewährt.

Die Situation, daß täglich israelische Tiefflieger zwecks Einschüchterung der Zivilbevölkerung inner- und außerhalb der palästinensischen Flüchtlingslager südlibanesisches Territorium überfliegen, hält an (Heilig-Kreuz-Gemeinde 1998).

Die Gruppe der palästinensischen Frauen und Männer, die in der Hizb Allah organisiert sind, ist relativ klein. Sie bildet allerdings eine eigene Palästinenserfraktion in der Organisation.

Es bleiben Fragen

Was passiert, wenn tatsächlich die Situation des Hungers – des Verhungerns – eintritt?

Was geschieht, wenn Ende 1999 die UNRWA-Verträge für die Ländereien ablaufen, auf denen die palästinensischen Flüchtlingslager angesiedelt sind – Vertreibung?

Angesichts des zuvor beschriebenen Szenarios spricht die Tatsache, daß die deutsche Bundesregierung vorhat, Tausende von palästinensischen und anderen Flüchtlingen aus dem Libanon, die bereits seit Jahren in Deutschland leben, im Rahmen eines Rückübernahmeabkommens dorthin abzuschieben, jeder Moral, jedem Verantwortungsbewußtsein und jedem menschlichen Handeln Hohn (Appell 1997).

Literatur

ai / amnesty international (1992): Gutachten an das Schleswig Holsteinische Verwaltungsgericht vom 09.12.92.

ai / amnesty international (1997): Jahresbericht (Libanon).

ai / amnesty international Report (1997): Lebanon Human Rights Developments and Violations, October 1997, London.

Appell gegen die Abschiebung palästinensischer und anderer Flüchtlinge aus Deutschland in den Libanon (1997): Unterzeichner: Pro Asyl, FFM, INAMO, Internationale Liga für Menschenrechte, Komitee für Grundrechte und Demokratie, medico international.

Ev. Gemeinde Beirut (1997): Augenzeugenbericht einer Mitarbeiterin

Heilig-Kreuz-Gemeinde Berlin (1998): Augenzeugenbericht einer Mitarbeiterin – Januar 1998

Ofteringer, Ronald (Hrsg.) (1997): Palästinensische Flüchtlinge und der Friedensprozeß – Palästinenser um Libanon, INAMO-Buch.

Palestinians in Lebanon: Harsh Present, Uncertain Future – Lecture of Rosemary Sayigh, December 1994. Tokyo.

Report (1996): Coordination Forum of the NGO's Working among the Palestinian Community.

Scheffler, Thomas (1996): Abschied vom Konfessionalismus? Die Parlamentswahlen im Libanon. INAMO-Heft 8.

Sirhan, Bassem (1996): Education and the Palestinians in Lebanon. Centre for Lebanese Studies. Oxford.

Anmerkungen

1) Öffentliche Ämter wurden nach einem regional differenzierten Konfessionsproporz vergeben. Der Konfessionalismus wurde auch als eine der Hauptursachen für den Bürgerkrieg verantwortlich gemacht. Um nach der Abschaffung des Konfessionalismus den parlamentarischen Proporz zwischen Christen und Muslimen herstellen zu können, werden die Abgeordnetensitze im Parlament von 99 auf 108 erhöht. Zurück

2) Abschluß des »Treaty of Brotherhood, Cooperation and Coordination« zwischen dem Libanon und Syrien im Mai 1991, in dem die Zusammenarbeit in Fragen der Außen-, Militär-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik vorgesehen ist. Weitere Unterabkommen, wie z. B. das Sicherheits- und Verteidigungsabkommen vom 01. 09. 91, zementieren diesen Zustand. Zusätzlich bleiben auf libanesischem Territorium 35.000 syrische Soldaten stationiert. Zurück

Monika Kaddur arbeitet seit Jahren in der Nahost- und Menschenrechtsbewegung. Sie war bis Ende 1997 Assistentin für politische Flüchtlinge bei amnesty international und ist Libanon-Gutachterin bei ai.

Asylrechtsdemontage verletzt Menschenrechte

Asylrechtsdemontage verletzt Menschenrechte

von Bettina Höfling-Semnar

Während öffentlich diskutiert und praktiziert wird, wie mit Gesetzes- und Verfahrensänderungen der angeblich die Sicherheit bedrohende Asylstrom nach Europa eingedämmt werden kann, wird die eigentliche Krise des Asylrechts nicht zur Kenntnis genommen: die immer größer werdende Diskrepanz zwischen Flüchtlingsbegriff und den realen Fluchtursachen.

Prävention wird auf diesem Hintergrund zum Mittel des Zwecks: Begrenzung des Zustroms. Völlig außer Acht gelassen wird dabei, daß mit der Beschädigung des Asylrechts gleichzeitig die wichtigsten die Völkergemeinschaft tragenden Prinzipien verletzt werden: die Gleichheit und die Würde des Menschen.

Die vielzitierte Krise des Asylrechts offenbart sich zu Beginn des neuen Jahres 1998 in mittlerweile altbekannter Härte, jedoch wie immer auf dem Kopfe stehend: Da kommen Flüchtlinge par excellence, die Kurden nämlich, deren Verfolgungs- und Bedrohungssituation durch jahrelange eindeutige Berichterstattung drastisch bekannt und durch eine überdurchschnittlich hohe Asylanerkennungsquote in Deutschland darüber hinaus richterlich abgesegnet ist, und dennoch sind es einfach »Illegale«, deren Eindringen ins Schengenland verhindert werden muß. Die Italiener, die das Loch in der Schengener Mauer diesmal zu verantworten haben, werden von den Vertragsstaaten, allen voran von Deutschlands Innenminister (!), zur Räson gebracht. Der Verdacht drängt sich auf, daß das Versenken eines Bootes mit Flüchtlingen, so geschehen 1997 mit albanischen Flüchtlingen vor der italienischen Küste, den Schengenern eher liegt, als die zumindest zeitweilige Aufnahme der Flüchtenden. Denn was sollen die Italiener auf dem Wasser eigentlich unternehmen: Am 9. Januar meldet die Tagesschau, italienische Schnellboote hätten Schlauchboote mit einigen hundert Menschen abgedrängt, dabei seien Schüsse gefallen. Schießbefehl an der Schengener Mauer? Auch an der deutschen Ostgrenze wird im übrigen auf der Flucht gestorben.

Die Kurden verursachen nicht die Krise des Asylrechts; sie sind Opfer einer mehreren Staaten zurechenbaren Unterdrückungs- und Verfolgungspolitik (die bekanntermaßen auch mit deutschen Waffen exekutiert wird) und sollten im besten schlechten Falle als Flüchtlinge das Asylrecht zur Anwendung bringen können.

In den kurdisch besiedelten Gebieten im Osten und Südosten der Türkei haben die Menschenrechtsverletzungen an Kurden in den letzten Jahren an Intensität und Systematik zugenommen, direkte Kampfhandlungen, Zerstörungen von Siedlungen und zwangsweise Evakuierungen von ganzen kurdischen Dörfern durch die türkische Armee haben zu einer Fluchtbewegung in die großen Städte geführt. Doch weder in Istanbul, Ankara und Izmir, noch in den mittelgroßen Städten, die Flüchtlinge aufnehmen, ist die Situation heute ungefährlich: Auch hier kommt es zunehmend zu Übergriffen der Sicherheitskräfte (ai 1996: 53-57).

Eine inländische Fluchtalternative, wie sie von deutschen Gerichten oft beschrieben wird, existiert demnach nicht. Kurdische Flüchtlinge, die es in der Vergangenheit bis zu einer Asylantragstellung in Deutschland schafften, berichteten über weitgehendes Desinteresse der Anhörer an Berichten von Folter und an Folterspuren; Zeugen wurden selten gehört.1

ai beklagt, daß bei „zahlreichen Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge die Menschenrechtssituation in der Türkei verharmlost wird und ein erschreckendes Menschenrechtsverständnis deutlich wird“ (ai 1996: 55).

Dennoch liegt die Anerkennungsquote der Kurden (diese werden zwar nicht separat aufgeführt, die meisten türkischen Asylbewerber sind jedoch Kurden) bei über 20 %, zusammen mit Personen, die nach den 51 und 53 AuslG Abschiebungsschutz erhalten, sind bereits knapp 30 % der asylsuchenden Kurden allein durch die Entscheidung des Bundesamtes vor Abschiebung geschützt. Und dies, obwohl das deutsche Asylrecht nur nachweislich staatlich verfolgten politischen Flüchtlingen zusteht, nicht aber solchen, denen etwa das Dorf zerstört und der Vater erschossen oder die Mutter vergewaltigt wurden, weil das türkische Militär in diesem Dorf PKK-Anhänger vermutete.

Die Krise des Asylrechts liegt nicht im quantitativen Ansteigen der Flüchtlingszahlen. Die Krise des Asylrechts liegt vielmehr in der qualitativen Veränderung von Fluchtursachen, die jedoch weder im deutschen noch im europäischen Asyl- und Flüchtlingsrecht reflektiert werden. Dies hat zur Folge, daß es keinen problemadäquaten Flüchtlingsbegriff gibt, das heißt, es kommt zu einem Auseinanderfallen von Asyl- und Flüchtlingsschutz auf der einen Seite und von realen Fluchtursachen auf der anderen Seite.

Sowohl auf der rechtlichen als auch auf der politischen Ebene erleichtert die Diskrepanz zwischen dem üblichen Flüchtlingsbegriff und den realen Fluchtursachen die Ausblendung konkreter Verfolgungs- und Bedrohungstatbestände und die Verdrängung menschen- und asylrechtlicher Standards aus der deutschen und der europäischen Politik. Zu Befürchten stehen die faktische Demontage der Institution Asyl und die Abkehr von Prinzipien des internationalen Flüchtlingsrechts.

Das Auseinanderfallen von Asylrecht und Fluchtursachen

Das 20. Jahrhundert, schon in seiner Mitte zu Recht als »Jahrhundert der Flüchtlinge« apostrophiert, brachte einen grundlegenden Wandel der Person des typischen Flüchtlings mit sich. Während im 19. Jahrhundert der individuell verfolgte politische Flüchtling die Regel bestimmte, brachten schon die 20er Jahre des neuen Jahrhunderts ganz neue Gruppen von Vertriebenen und Flüchtlingen hervor. Otto Kirchheimer betont die neuartige Situation: „Die Überlebenden der türkischen Armeniermassaker, die russischen »Bourgeois« der zwanziger Jahre, die europäischen Juden im Hitlerschen Europa, die spanischen Militärdienstpflichtigen, die im Bürgerkrieg auf seiten der rechtmäßigen republikanischen Regierung gefochten hatten, Angehörige der während des Zweiten Weltkrieges in der Sowjetunion auf die Proskriptionsliste gesetzten nationalen Minderheiten: alle diese Exilierten neuer Prägung entflohen der drohenden Bestrafung für was sie waren, nicht für was sie getan hatten oder künftighin zu tun vor hatten. Ihr Auftauchen gab dem Asyl eine neue Sinnbedeutung und veranlaßte die Aufnahmeländer, nach neuen Begriffsbestimmungen Ausschau zu halten.“ (Kirchheimer 1985: 515f)

Auch Hannah Arendt charakterisiert die Flüchtlinge der Zwischenkriegszeit, vor allem aber nach dem Zweiten Weltkrieg treffend: „Die modernen Flüchtlinge sind nicht verfolgt, weil sie dies oder jenes getan oder gedacht hätten, sondern aufgrund dessen, was sie unabänderlich von Geburt sind – hineingeboren in die falsche Rasse oder die falsche Klasse oder von der falschen Regierung zu den Fahnen geholt (wie im Falle der spanischen republikanischen Armee). Der moderne Flüchtling ist das, was ein Flüchtling seinem Wesen nach nie sein darf: er ist unschuldig selbst im Sinne der ihn verfolgenden Mächte.“ (Arendt 1986: 459)

Neben dem politisch Verfolgten wie er für das 19. Jahrhundert typisch ist und wie er auch heute in nicht geringer Zahl um Asyl nachsucht, tauchen in immer größerer Zahl ganze Gruppen von Flüchtlingen auf, die zwar vor keiner staatlichen und keiner individuellen Verfolgung fliehen, deren Gefährdung aber der des traditionellen politisch Verfolgten in nichts nachsteht. Eine Vielzahl struktureller Gewaltverhältnisse politischer, wirtschaftlicher und sozialer Provenienz zwingen heute Menschengruppen zur Flucht. Neben die politische Verfolgung tritt die ethnische, die religiöse oder die geschlechtsspezifische. Allgemeine Menschenrechtsverletzungen und mangelnder Schutz vor Übergriffen nichtstaatlicher Mächte, die Vernichtung der Lebensgrundlagen durch ökonomische oder zunehmend auch ökologische Krisen und nicht zuletzt Kriege und Bürgerkriege treiben Menschen zur Flucht.

Bis heute ist in der Formulierung des internationalen Flüchtlingsbegriffs, der sich im wesentlichen auf den Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 bezieht, und des deutschen Begriffs des politisch Verfolgten diese Realität nicht reflektiert und nicht anerkannt worden:

Der Verfolgungsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention ist nicht genau definiert. Menschenrechtlich orientierte Positionen betonen, daß der Verfolgungsbegriff durch die Schöpfer der GFK ursprünglich im liberalen Sinne entwickelt wurde und die Funktion hat, „ernsthafte Eingriffe wie Gefangenschaft und körperliche Mißhandlung von Maßnahmen mit ausschließlichem Diskriminierungscharakter, wie z. B. unterschiedliche Behandlung bei der staatlichen Daseinsvorsorge, zu unterscheiden.“ (Marx 1991b: 550)Aus Art. 33 GFK, der das Verbot der Ausweisung und Zurückweisung eines Flüchtlings in ein Land festschreibt, in dem „sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde“ (;Marx 1991a: 222) gehe hervor, daß es sich bei einer asylrelevanten Verfolgung um eine Bedrohung des Lebens oder der Freiheit des Betreffenden handeln müsse, „was sicher einen Teil von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen umfaßt.“ (Köfner/Nicolaus 1986: 161)Das Erleiden von Menschenrechtsverletzungen verschafft jedoch noch kein Anrecht auf die Gewährung von Asyl.

Neben der Definition der Verfolgung spielt auch die Bestimmung des Verfolgers zur Begründung einer Flüchtlingseigenschaft im Sinne der GFK eine wichtige Rolle. Aus dem Art. 1 A Absatz 2 GFK wird abgeleitet, daß der Verursacher der Verfolgung der Staat sein muß. Die Genfer Flüchtlingsdefinition stellt demnach ausschließlich auf den Verlust staatlichen Schutzes ab, d.h., Verfolgungsmaßnahmen müssen entweder vom Heimatstaat ausgehen oder ihm zumindest zurechenbar sein. Flüchtlinge jedoch, die das Land ihrer Staatsbürgerschaft aufgrund von Bürgerkriegen, Kriegen, schweren inneren Unruhen, ausländischen Interventionen oder schwerwiegenden Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlassen, können nicht die Flüchtlingseigenschaft der GFK beanspruchen (vgl. Hailbronner 1989: 37).

In der Praxis hat sich diese enge Definition jedoch nicht bewährt. Der United Nations High Commisioner for Refugees (UNHCR), der 1950 als unpolitische, humanitäre und nicht-operative Organisation für die Unterstützung und Anleitung der rechtlichen Integration der vermeintlichen »restlichen« europäischen Flüchtlinge gegründet wurde und dem eine der GFK fast identische Flüchtlingsdefinition zugrunde liegt, mußte früh schon über seine Tätigkeitsbegrenzung und seine Flüchtlingsdefinition hinausgehen: Mit dem Konzept der guten Dienste (»good offices«) wurde UNHCR nach Beschluß der Generalversammlung der Vereinten Nationen erstmals 1957 für chinesische Flüchtlinge in Hongkong aktiv, später dann vor allem für Flüchtlingsgruppen aus afrikanischen Staaten. Dem Konzept der guten Dienste lag die Schwierigkeit zugrunde, im Falle von Massenfluchtbewegungen nicht die individuelle Flüchtlingseigenschaft eines jeden überprüfen zu können. Deshalb lag es nahe, eine ganze Gruppe als Flüchtlingsgruppe zu betrachten. Darüber hinaus wurde akzeptiert, daß es neben den Mandatsflüchtlingen auch Menschen gibt, die sich in »flüchtlingsähnlichen« Situationen befinden, auch wenn nicht Furcht vor Verfolgung die Flucht motivierte (vgl. Jackson 1982).

Anläßlich des Flüchtlingsproblems in und aus dem Sudan erwähnte 1972 eine Resolution der UN-Generalversammlung erstmalig Flüchtlinge und displaced persons zusammen, 1976 wurden diese in einer anderen Resolution quasi dem Mandat des UNHCR unterstellt: „ The eminently humanitarian charakter of the activities of the High Commissioner for the benefit of refugees and displaced persons…“ (Resolution 3454, 1975)

Mitte der 90er Jahre nimmt UNHCR ausdrücklich Abstand von Unterscheidungen zwischen Flüchtlingen, Rückkehrern, Binnenvertriebenen und einheimischer Bevölkerung: In den Grenzregionen beispielsweise von Liberia und Sierra Leone oder Äthiopien und Somalia unterscheidet sich die Situation dieser vier Gruppen nicht. „Aufgrund dieser Entwicklungen läßt sich mittlerweile sowohl bei externen Mitarbeitern als auch bei den humanitären Helfern die Tendenz feststellen, nicht mehr so stark auf die Flüchtlingsdefinition nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge aus dem Jahre 1951 zu pochen, sondern allgemeiner von Vertriebenen, entwurzelten Bevölkerungen und unfreiwilligen Migranten zu sprechen.“ (UHNCR 1995: 177)

Eine ähnliche Diskrepanz, wie sie sich zwischen dem unveränderten Rechtsschutzmandat des UNHCR und den jeweiligen pragmatischen Lösungen, die letztlich zu einer Mandatserweiterung führten, abbildet, läßt sich auch im Verhältnis zwischen dem Asylrecht und der bundesdeutschen Asylpraxis der 70er und 80er Jahre nachweisen. Auf der einen Seite steht ein zwar ursprünglich als Grundrecht formuliertes und liberal ausgelegtes Asylrecht, das in der Zeit seiner Beanspruchung durch Flüchtlinge jedoch immer restriktiver ausgelegt wurde, auf der anderen Seite aber eine Praxis, die Flüchtlingen trotz Asylablehnung temporären Schutz gewähren mußte, weil diese aus verschiedenen Gründen, die oftmals Bedrohungs- und Verfolgungstatbestände enthielten, einfach nicht abschiebbar waren (vgl. Höfling-Semnar 1995: 96-139). Neben den politisch begründeten Restriktionen und Maßnahmen zur Desintegration der Flüchtlinge in Deutschland ist vor allem die Zielrichtung des Art. 16 Absatz 2 Satz 2 GG ausschließlich auf den politisch, daß heißt staatlich und individuell und nachweisbar Verfolgten die Ursache dafür, daß viele tatsächlich an Leib und Leben bedrohte Flüchtlinge außerhalb des Asylrechts zu stehen kommen.

Im April 1988 etwa wurden 60% aller abgelehnten Asylbewerber aus politischen, rechtlichen und humanitären Gründen nicht abgeschoben – die Hälfte wegen Gefahr für Leib und Leben und schweren Menschenrechtsverletzungen (Grenz 1992). Die Problematik ist auf europäischer Ebene ähnlich: Hier wurden 1993 von 553.000 Asylbewerbern in Westeuropa nur 49.000 Personen als Asylberechtigte anerkannt, 30% der Asylantragsteller bekamen jedoch legitime Gründe zuerkannt, im Land zu verbleiben (UHNCR 1995: 216).

Diese offensichtlich problematische Situation wird öffentlich als »Krise des Asylrechts« bezeichnet und von interessierter Seite als innenpolitischer Schlagstock genutzt. Mit der deutschen Grundgesetzänderung, die das Asylgrundrecht vor allem durch die Drittstaatenregelung und durch das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten bis zur Unkenntlichkeit einschränkt, wird eine Neurorientierung in der Flüchtlingspolitik versprochen, die vor allem an dem Kern des Problems, nämlich den Fluchtursachen ansetzen will.

Das Kernproblem des Asylrechts aber, nämlich der Sachverhalt, daß im Flüchtlingsbegriff bzw. im Begriff des politisch Verfolgten die Fluchtursachen nicht reflektiert werden, wird eher verschärft.

Flüchtlingspolitik leitet den Ausstieg aus der Asylpolitik ein

Die Neuorientierung der Flüchtlingspolitik, die ein Hauptaugenmerk nun auf die Herkunftsländer und auf das Ziel eines Verbleibs der Flüchtlinge – allerdings in einer befriedeten Umgebung – im Land ihrer Staatsangehörigkeit legt, ist nicht eine Erfindung deutscher Politik, sondern ist Thema des internationalen Flüchtlingsschutzes.

Die Eskalation der Flüchtlingssituationen in Afrika, in Südostasien und in Pakistan 1979/80 geben sowohl dem UNHCR als auch den mit den Flüchtlingen konfrontierten Aufnahmeländern Veranlassung, über präventive Maßnahmen zur Verhinderung der Entstehung von Flüchtlingsströmen nachzudenken. Obwohl die 35.Generalversammlung der Vereinten Nationen schon 1980, übrigens auf eine deutsche Initiative reagierend, über »Internationale Zusammenarbeit zur Vermeidung neuer Flüchtlingsströme« diskutierte, dauerte es noch bis 1987, bis der Generalsekretär der UN als ersten Schritt einer neuen, präventiven Flüchtlingspolitik ein »Forschungs- und Informationsbüro« (Office of Research and the Collection for Informations, OCRI) einrichtete.

Das Problem liegt auf der Hand: Präventive Flüchtlingspolitik kann nicht »nur« humanitäre Politik sein, sondern fordert auf zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten, zur Zusammenarbeit und zu selbstkritischer Analyse wirtschaftlicher, politischer und sozialer Verflechtungen. Schon nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden vom Völkerbund und von den Regierungen präventive Lösungen der Flüchtlingsproblematik diskutiert und gesucht.

Die Auflösung der bipolaren Weltordnung hat der internationalen Gemeinschaft schließlich mehr Möglichkeiten an die Hand gegeben, alternative Lösungsstrategien für Flüchtlingsprobleme zu entwickeln; viele Gedanken aus der Zwischenkriegszeit wurden wieder aufgegriffen. Während UNHCR früher auf eingetretene Krisen nur reagieren und auch nur im Aufnahmeland aktiv werden konnte, veränderte sich das Vorgehen vor allem dahingehend, daß die Verantwortung des Herkunftslandes der Flüchtlinge ins Blickfeld rückte. Ein Konzept zur Prävention bündelt verschiedene Maßnahmen wie Beobachtung und Frühwarnung, diplomatische Intervention, wirtschaftliche und soziale Entwicklung, Konfliktlösung, Bereitstellung von Informationen und Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten, die alle ohne eine Mitarbeit der fluchtverursachenden Länder nicht durchführbar sind.

Die notwendige Verlagerung der Verantwortlichkeit für Flüchtlinge in die Herkunftsländer birgt jedoch Gefahren, die UNHCR angesichts der restriktiven Asylgewährungspraxis verschiedener Flüchtlingsaufnahmeländer in den 90er Jahren deutlich formuliert. UNHCR befürchtet, daß „sich die Übernahme präventiver und auf das Herkunftsland konzentrierter Strategien auf die Bereitschaft der Staaten auswirken wird, die Institution des Asyls und die Prinzipien des internationalen Flüchtlingsrechts aufrechtzuerhalten.“ (UHNCR 1995: 59) Viele Regierungen hätten in den letzten Jahren deutlich gemacht, daß sie des Flüchtlingsproblems überdrüssig seien, und als einfachste Lösung den Verbleib der Flüchtlinge in den Grenzen des eigenen Landes anstrebten.

Mit dem neuen Paradigma eröffnen sich für flüchtlingsabwehrende Staaten ungeahnte Möglichkeiten der Legitimation: „Leider können einige der zentralen Elemente des neuen Ansatzes zu Flüchtlingsproblemen dazu benutzt werden, diese restriktiven Strategien zu legitimieren. (…) Wie UNHCR und andere humanitäre Organisationen verweisen auch Regierungen zunehmend auf die Notwendigkeit, Flüchtlingsbewegungen zu verhindern, Vertreibungen zu begrenzen und das Recht von Menschen auf das Leben in ihrer Heimat anzuerkennen. Es besteht jedoch die Gefahr, daß Interpretation und Umsetzung solcher Konzepte stark differieren.

In konstruktiver Form kann Prävention beispielsweise dazu benutzt werden, die Ursachen erzwungener Migration zu beseitigen. Sie kann jedoch auch einfach nur darin bestehen, Barrieren zu errichten, um die Opfer von Verfolgung an der Einreise in ein anderes Land zu hindern. (…) Auch das Recht zu bleiben kann fehlinterpretiert werden. Wenn es sich durchsetzen soll, muß es als Recht eines Menschen verstanden werden, in Frieden und Sicherheit in seinem eigenen Land oder in seiner Gemeinschaft zu leben. Es darf nicht zu einer Vorschrift umfunktioniert werden, die Menschen zum Ausharren in Situationen zwingt, in denen sie nicht ausreichend geschützt werden können und es keine Lösung gibt.“ (UHNCR 1995: 60)

UNHCR beschreibt damit in einer für seine Verhältnisse wenig diplomatischen Form die triste Realität internationaler Flüchtlingspolitik am Ende des 20. Jahrhunderts: viel Rhetorik bei sinkender Bereitschaft zur Flüchtlingshilfe, geschweige denn zur Flüchtlingsaufnahme.

Die Entwicklung der bundesdeutschen Asylpolitik läßt sich dabei als Negativbeispiel heranziehen: Der Verweis auf die Fluchtursachen dient der Legitimation einer anvisierten Zugangsverhinderungspolitik.

Solange bis Ende der 70er Jahre überwiegend Kommunismusflüchtlinge aus Osteuropa um Asyl in der Bundesrepublik nachsuchten, beschränkte sich die Wahrnehmung von Fluchtursachen auf die Kenntnis der Systemgrenzen zwischen Ost und West und auf die selbstverständliche Annahme, daß der Westen Gegenpol der politischen Verfolger sei. Mit dem Auftauchen von Flüchtlingen aus anderen Kontinenten, vor allem aus Asien, an denen sich die sprichwörtliche Asyldebatte entzündete, reduzierte sich die in parlamentarischen Asyldebatten formulierte Kenntnis der Fluchtursachen auf den Topos der massenhaften Wirtschaftsflucht. Die bis heute gültige Problemsicht, daß „90 % aller Asylbewerber nicht aus politischen Gründen Asyl beantragen“ (Spranger 1980), wurde ins öffentliche Meinungsbild zementiert.

Seit 1988 läßt sich eine Umorientierung in der asylpolitischen Thematisierung erkennen: Ausführliche und mitunter problemadäquate Beschreibungen von Fluchtursachen leiten parlamentarische Beiträge, Gesetzesinitiativen und Memoranden ein (vgl. Höfling-Semnar 1995: 153-175).

Beispielhaft betont 1989 das »Memorandum zur Flüchtlingsproblematik«, veröffentlicht vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Dringlichkeit eines verstärkten politischen Handlungsbedarfs angesichts wachsender Flüchtlings- und Migrationsbewegungen und gleichzeitig abnehmender Aufnahmebereitschaft von Industrie- und Entwicklungsländern. Das in der Folgezeit wenig beachtete Memorandum räumt der Beschreibung von Fluchtursachen großen Raum ein und verweist neben den konventionellen Flüchtlingen, die auch vom UNHCR anerkannt werden, auch auf die Existenz eines „neuen Typus von Flüchtlingen“: Menschen, die beispielsweise vor einem „Klima allgemeiner Gewalt und Repression, vor lebensbedrohenden Bürgerkriegen, vor der Zerstörung des traditionellen Lebensraumes aufgrund schwerer ökologischer Belastungen oder vor unerträglich gewordenen Lebensbedingungen aufgrund von Überbevölkerung, Armut und Arbeitslosigkeit (…)“ (Wissenschaftlicher Beirat 1989: 2)fliehen. Nicht zu leugnen sei die Tatsache, daß die „gängige Unterscheidung zwischen »politischen« Flüchtlingen, »Armutsflüchtlingen«, »Umweltflüchtlingen« und »Wirtschaftsflüchtlingen« problematisch ist, zumal gerade die Dialektik von politischer Gewalt und Mißachtung von Menschenrechten einerseits und ökonomisch-sozialen Problemen andererseits nur allzu bekannt ist.“ (Wissenschaftlicher Beirat 1989: 3)

In entwicklungpolitischen Debatten gewinnt die Beschreibung von Fluchtursachen und die Betonung der Notwendigkeit einer faktischen Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs eine zunehmende Bedeutung. 2 Aber auch im asylpolitischen Kontext läßt sich eine, wenn auch zaghafte, Differenzierung bei der Beschreibung der Fluchtursachen nachweisen; Begriffe wie »Asylmißbrauch« und »Wirtschaftsflüchtling« werden vorsichtig hinterfragt.3

Zu Beginn der neunziger Jahre ist es in asylpolitischen parlamentarischen Debatten üblich, sich über Fluchtursachen und die Dimension der Weltflüchtlingsproblematik zu verständigen; überwiegend dient solch eine Beschreibung allerdings zur Begründung, warum das Asylrecht kein Instrument der Problembewältigung darstellt. 4

Deutlich wird diese Haltung am Beispiel der Flüchtlingskonzeption der Bundesrepublik Deutschland von 1990, in der Ansätze für eine zukünftige ressortübergreifende Flüchtlingspolitik versammelt sind, wobei das Ziel einer Bekämpfung der Fluchtursachen erste Priorität gewinnt. Neben allgemeinen Aussagen über flüchtlingsrelevante Aufgaben der Außenpolitik, der Entwicklungszusammenarbeit und der Wirtschaftshilfe stehen verschiedene Rückführungsprogramme im Mittelpunkt der formulierten Aufgaben. Auch für eine zukünftige Asylpolitik werden Rückführungsprogramme entwickelt: Neben Maßnahmen zur Anreizverminderung sei ein wichtiges Ziel die freiwillige Rückkehr oder die Weiterwanderung von Flüchtlingen. Neben viel Rhetorik – so etwa die Formulierung, der von der UN empfohlene Satz von 0,7 % des BSP als Entwicklungshilfe sei zu bekräftigen, dies vor dem Hintergrund, daß ihn Deutschland heute gerade wenig mehr als zur Hälfte erfüllt – fällt vor allem das völlige Fehlen von Vorschlägen über die zukünftige Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern auf. Fluchtursachenverhinderung heißt auf deutsch: Das „Problem (der Asylpolitik) spitzt sich auf die Frage zu, wie verhindert werden kann, daß das Asylrecht zum Mittel der Einwanderung von Hunderttausenden wird, die nicht politisch verfolgt sind.“ (Bundesminister des Inneren 1990: 9)

Die Asylgrundrechtsänderung vom Mai 1993 schließlich bestätigte den anvisierten Ausstieg aus dem politisch gewollten und rechtlich adäquat umgesetzten Asylrecht: Obwohl die Formulierung des alten Art. 16 II 2 GG, „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ im neuen Art.16 GG beibehalten wurde, wird diese durch die neuen Sätze 2 – 4 bis zur Verkehrung ins Gegenteil eingeschränkt. Darüber hinaus werden Bleiberechtsregelungen, die beispielsweise Bürgerkriegsflüchtlingen zumindest temporär Aufenthalt gewährten, bis auf Ausnahmen generell abgeschafft.

Die Neuregelung des verfassungs- und verfahrensrechtlichen Asylrechts bedeutet damit eine weitgehende Präzisierung und Perfektionierung bisheriger asylpolitischer Konzeptionen: umfassende Zugangsverhinderung in Form der Drittstaatenregelung als Kernstück der Asylgrundrechtsänderung, Verfahrensbeschleunigung auf Kosten des Rechtsschutzes und soziale Degradierung und Kriminalisierung von Flüchtlingen, die in Abschiebegefängnissen den bisherigen bundesdeutschen Tiefstand bürokratischer Menschenbehandlung erleiden müssen.

Menschenrechte und Demokratie

Eine Asylpolitik, deren formuliertes Ziel die Abwehr und Rückkehr von Flüchtlingen ist und die sich durch Desintegration und Kriminalisierung von Flüchtlingen ideologische Legitimation besorgt, beschädigt nicht nur das Asylrecht, sondern den Flüchtlingsschutz allgemein.

Dem Asylrecht kommt im normativen und theoretischen System der Vereinten Nationen eine sensible Indikatorfunktion zu. Zum einen ist das Asylrecht selbst ein Teil der auf die Wahrung des Friedens und die Gewährung der Menschenrechte beruhenden Prinzipien, auf die die UN sich beruft, zum anderen aber quasi ein Provisorium zugunsten der Opfer der Mißachtung dieser Prinzipien.

Wer das Asylrecht in Zeiten seiner Beanspruchung beschränkt oder quasi abschafft bis auf Reste eines staatlichen Gnadenrechtes, der verzichtet, wie die deutsche Politik, nicht nur darauf, die umfassende Herausforderung bundesdeutscher, europäischer und völkerrechtlicher Menschenrechtsschutzregelungen, verursacht durch neue Fluchtursachen und moderne Massenfluchtbewegungen, überhaupt erst zu formulieren, sondern der zerstört einen der empfindlichsten und gefährdeten Indikatoren über den Zustand grundlegender Prinzipien der Staatengemeinschaft.

Zur Disposition steht nichts weniger als das Verhältnis von Demokratie und Menschenrechten. Denn es wird nicht nur der Zugang zum Asyl erschwert und die soziale Lage der Flüchtlinge verschlechtert, sondern es werden die Vorstellungen über die Gleichheit aller Menschen, auf denen die deutsche Verfassung genau wie die Charta der Vereinten Nationen beruhen, diskreditiert zugunsten des vorgeblichen Kampfes um Selbstverteidigung. Die westlichen Demokratien, von denen diese menschenrechtswidrige Tendenz ausgeht, werden konstruiert als erlesener Menschengarten von Privilegierten:

„Die Restriktionen des Asylrechts und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Gleichheit und die Menschenwürde bergen die Gefahr, daß sich die kollektive Vorstellung von Demokratie verändert. Denn sie verfälschen ihr authentisches Projekt und präsentieren die Demokratie nicht als universellen Wert, sondern als Privileg von bestimmten Gruppen, und innerhalb dieser Gruppen als Diktatur der Mehrheit, die sich von der Achtung grundlegender Rechte lossagt.“ (Sernese 1995)

Die rituelle Kampagne gegen die Kurden, die diese ohne Ansehen ihrer Fluchtgründe und Lebensumstände, quasi prophylaktisch, vor Grenzübertritt als Illegale stigmatisiert, ist ein Mosaiksteinchen auf dem Weg der Abschwächung des Gleichheitsgrundsatzes.

Literatur

ai (1996): Zwei Jahre neues Asylrecht. Auswirkungen des geänderten Asylrechts auf den Rechtsschutz von Flüchtlingen. Bonn.

Arendt, Hannah(1986): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 1986.

Basso-Sekretariat, Hrsg. (1995): Festung Europa auf der Anklagebank. Dokumentation des Basso-Tribunals zum Asylrecht in Europa. Münster

Bundesminister des Innern (1990): Flüchtlingskonzeption für die Bundesrepublik Deutschland. Ansätze für eine ressortübergreifende Politik, Bonn.

Grenz, Wolfgang (1992): Verschärfungen des Asylrechts treffen auch die politisch Verfolgten, in: Ludwig, Ralf / Ness, Klaus / Perik, Muzaffer (Hg.), Fluchtpunkt Deutschland, Marburg, S. 26.

Hailbronner, Kay (1989): Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Koordinierung des Einreise- und Asylrechts. Baden-Baden.

Höfling-Semnar, Bettina (1995): Flucht und deutsche Asylpolitik. Von der Krise des Asylrechts zur Perfektionierung der Zugangsverhinderung. Münster.

Jackson, Ivor C. (1982): Flüchtlinge – Ausländer mit besonderem Schicksal, in: Otto Benecke Stiftung (Hg.), Ausländische Mitbürger – In der Fremde daheim? Chancen der Massenmedien. Baden-Baden, S. 35-46.

Kirchheimer, Otto (1985): Politische Justiz. Frankfurt.

Köfner, Gottfried / Nicolaus, Peter (1986): Grundlagen des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland. 2 Bde., Mainz/München.

Marx, Reinhard (1991a): Asylrecht Bd. 1. Baden-Baden.

Marx, Reinhard (1991b): Asylrecht Bd. 2. Baden-Baden.

Resolution 3454 (XXX) vom 9. 12. 1975, zitiert nach Köfner/Nicolaus (1986: 177).

Senese, Salvatore (1995): Völkerrecht, Demokratie und Asylrecht, in: Basso-Sekretariat (1995), S. 149.

Spranger, CDU/CSU (1980): BT PlPr 8/205 vom 6.3.1980, S. 16471.

UNHCR (1995): Zur Lage der Flüchtlinge in der Welt. UNHCR-Report 1995/96. Bonn.

Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit (1989).

Anmerkungen

1) Dies berichtet Herbert Leuninger, Europareferent von PRO ASYL, auf dem Basso-Tribunal zum Asylrecht in Europa, in: Basso-Sekretariat (1995:75f). Zurück

2) Vgl. etwa den Antrag der Regierungskoalition vom März 1988 über den entwicklungspolitische(n) Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlingsproblemen“, BT Drs 11/1954 vom 7. 3. 1988, oder die entwicklungspolitische Debatte“ des Bundestages, BT PlPr 12/94 vom 3. 6. 1992. Zurück

3) Vgl. etwa Entschließungsantrag des Landes Hessen, BR Drs 113/89 vom 2. 3. 1989; Ausschußempfehlungen zum hessischen Entschließungsantrag, BR Drs 113/1/89 vom 10. 4. 1989. Ministerpräsident Späth in BR PlPr 597/89, vom 10. 2. 1989, S. 9. Hirsch in BT PlPr 11/195 vom 9. 2. 1990, S. 15032. Zurück

4) Vgl. etwa Bundesinnenminister Schäuble in: BT PlPr 11/195 vom 9. 2. 1990, S. 15025/15026. Ders. in BT PlPr 12/51 vom 18.10. 1991, S. 4214 / 4215. Ministerpräsident Späth in: BR PlPr 597/89 vom 10. 2. 1989, S. 9. Zurück

Dr. Bettina Höfling-Semnar arbeitet als freie Journalistin in Frankfurt/Main

Zur Integration ethnischer Minderheiten

Zur Integration ethnischer Minderheiten

Staatstheoretische Fragen

von Klaus Dicke

Die bereits von Platon aufgeworfene Frage nach der besten Verfassung hat mit den weltweiten Minderheitenkonflikten des ausgehenden 20. Jahrhunderts erneut an Aktualität gewonnen. Die Frage eines adäquaten Minderheitenschutzes war und ist eine der zentralen Fragen der Verfassungsdiskussionen in den neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas ebenso wie internationaler Regelungsansätze auf bilateraler, regionaler und globaler Ebene (Dicke 1993). Sie stellt zugleich einen der Brennpunkte jüngerer Theoriediskussionen der politischen Philosophie wie insbesondere der sog. Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte dar (Oberndörfer 1997). Jenseits der eher rechtstechnischen Fragen nach möglichst wirksamen innerstaatlichen und internationalen Mechanismen des Minderheitenschutzes geht es dabei grundsätzlich um die Frage, ob der auf republikanischen und menschenrechtlichen Prinzipien beruhende freiheitliche Verfassungsstaat eine auch für multiethnische Gesellschaften angemessene politische Verfassung darstellt oder aber zumindest der Ergänzung durch gruppenrechtliche, dem Schutz und der Förderung ethnischer und kultureller »Identitäten« gewidmete Vorkehrungen bedarf.

Dieser Verfassungsfrage kommt deshalb eine weit über den Minderheitenschutz hinausweisende grundsätzliche Bedeutung zu, weil mit ihr zugleich eine Antwort auf die Integrationsprobleme politischer Gemeinschaften im ausgehenden 20. Jahrhundert gegeben werden muß, die aus drei weltweit zu beobachtenden Entwicklungen resultieren: erstens aus dem irreversiblen Prozeß der Regionalisierung und Internationalisierung von Hoheitsaufgaben, welche »nationalstaatliche« Konzepte politischer Integration als zumindest nicht mehr zureichend erscheinen lassen; zweitens aus der Krise des Sozial- und Wohlfahrtsstaates, die einen der Stabiltätspfeiler des freiheitlichen Verfassungsstaates in Europa – und besonders in Deutschland – in Frage stellt, und drittens aus dem Wertewandel insbesondere »westlicher« Gesellschaften, in dessen Zuge individuelle Selbstentfaltung gesellschaftliche Bindungswerte in den Hintergrund zu drängen scheint. Gemeinsam ist diesen drei Entwicklungen, für die die »Euro-Debatte«, die Debatten um Steuer- und Rentenreform und die Diskussion um Aufnahme von Grundpflichten ins Grundgesetz in Deutschland als typisch gelten können, daß sie Anlaß geben, die verfassungsrechtliche Festlegung und staatliche Förderung identitätsstiftender Gemeinschaftswerte – Sprache, nationale Kultur i. S. einer »kulturellen Identität« u.a. – als therapeutische Antwort auf zeitgenössische Krisendiagnosen zu empfehlen. Verfassungsfragen des Minderheitenschutzes sind daher nur ein Aspekt der übergreifenden Frage, ob der freiheitliche Verfassungsstaat traditioneller Prägung angesichts vielfältiger Integrationsprobleme noch als »beste Verfassung« gelten und wie er eine herausforderungsreiche Zukunft bewältigen kann. Im Blick auf diese Grundsatzfrage soll im folgenden dem minderheitenpolitischen Aspekt des Problems nachgegangen werden.

Das Problem politischer Integration von Minderheiten im freiheitlichen Verfassungsstaat

Als »neuen Tribalismus« oder als »Rückkehr der Stämme« hat der amerikanische Theoretiker Michael Walzer zusammenfassend die minderheitenpolitischen Integrationsprobleme (1996: 115 ff.) beschrieben, welche nach dem Ende des Ost-West-Konflikts weltweit sichtbar geworden sind. Insgesamt lassen sich mindestens drei Problemlagen unterscheiden, vor die sich Staaten und Verfassungsdiskussionen in dieser Hinsicht heute gestellt sehen:

  • Der Übergang von imperialer zu demokratischer Integration vor allem in den Staaten Mittel- und Ost-Europas und die dabei sichtbar werdende Gefahr wiederkehrender Nationalismen werfen die Frage auf, durch welche Ausgestaltung des Staatsbürgerschaftsrechts und des Minderheitenschutzes einerseits und der politischen Kultur andererseits ein Zusammenleben multiethnischer Gesellschaften auf Dauer gesichert werden kann.
  • Zum Teil erhebliche Zuwanderungsbewegungen in »westliche« Demokratien, insbesondere auch nach Deutschland, haben dort eine »multikulturelle« Gesellschaft entstehen lassen, in der herkömmliche Regelungen staatlicher Integration wie vor allem der Zugang zur Staatsbürgerschaft mit dem faktischen Gesellschaftsbild nicht mehr kongruieren und der Staat sich entsprechenden Reformforderungen ausgesetzt sieht.
  • Ethnisch bestimmte Konfliktlagen in nahezu allen Teilen der Welt vom Gesetzgebungskonflikt – z.B. über den Schutz der französischen Sprache in Quebec – über Verfassungskonflikte bis hin zu Separationsbestrebungen und Bürgerkriegen werfen die Frage auf, durch welche Reformen oder Vorkehrungen Staatsverfassungen ihre friedensstiftende und in diesem Sinne integrative Funktion künftig erfüllen können.

Nun hat der freiheitliche Verfassungsstaat, der in seiner Entwicklungsgeschichte immer wieder vor der Herausforderung der Integration von Minderheiten gestanden hat, eine Reihe von Elementen hervorgebracht, die heute als unverzichtbare und historisch bewährte Intrumente der Integration von Minderheiten in eine politische Gemeinschaft gelten können: rechtsstaatliche Verfahren, den Gruppenpluralismus und repräsentativ-demokratische Regierungsart.

Um den Schrecken des Bürgerkrieges zu entrinnen und zugleich einen den Zynismus des »cuius regio, eius religio« überwindenden Verfassungsentwurf vorzulegen, hatte Thomas Hobbes die Notwendigkeit dargetan, die Geltung staatlicher Gesetze nicht auf die Wahrheit einer bestimmten Weltanschauung, sondern auf die durch Vereinbarung der Gesellschaftsglieder künstliche geschaffene Rechtssicherungsmacht des Staates zu gründen. Hobbes hat damit den rechtsstaatlichen Grundsatz begründet, daß ein Staat in Ansehung der Geltung seiner Gesetze keine Ausnahmen und also auch keine Minderheiten dulden dürfe, sondern von der Gleichheit aller Bürger als dem Gesetz Unterworfene auszugehen habe. Sinn der Verfassung sei einzig, dem Bürger die Sicherheit zu bieten, seinen eigenen Lebensplänen nachgehen zu können. Der Staat der von Hobbes begründeten liberalen Vertragslehre ist formal; er verzichtet darauf, den Bürgern Vorschriften über ihre konkrete Lebensgestaltung zu machen mit der einzigen Ausnahme, daß die Grenze gesellschaftlicher Verträglichkeit nicht überschritten werden dürfe. Die liberale Vertragslehre hat damit den Raum der gesellschaftlichen Autonomie des Bürgers abgesteckt und die für den freiheitlichen Verfassungsstaat unverzichtbare, weil Pluralität ermöglichende Unterscheidung von Staat und Gesellschaft vorgedacht.

Eines der Probleme, die Hobbes übersehen hatte, war die Tatsache, daß der liberale, auf Vereinbarung gegründete Staat ein Minderheitenproblem neuer Art schuf. Mit der amerikanischen und Französischen Revolution hatte sich das Prinzip der Selbstbestimmung des Volkes Geltung verschafft und war neben der gesellschaftlichen auch die politisch-öffentliche Autonomie etabliert worden. Maßstab für die Geltung von Gesetzen war seither nicht mehr allein deren Funktion, öffentliche Sicherheit zu gewährleisten, sondern auch ihre Rückführbarkeit auf die Zustimmung der Bürger. Dazu erwies sich das Mehrheitsprinzip als unerläßliches Instrument. Mehrheitsentscheidungen aber schaffen per definitionem Minderheiten. Um deren Schutz gegen die nunmehr sichtbar werdende Gefahr einer »Tyrannei der Mehrheit« zu gewährleisten, wurden unterschiedliche Schutzvorkehrungen eingefügt: erstens wurde durch großräumige politische Organisation die Entstehung eines Interessen- und Gruppenpluralismus begünstigt. Diese in No. 10 der »Federalist Papers« dargelegte Lösung versprach sich minderheitenschützende Effekte von der gegenseitigen Machtkonkurrenz und -kontrolle unterschiedlicher Interessengruppen, die zur Erreichung eigener Ziele auf Kompromisse und damit auf »Mäßigung« angewiesen sind. Zweitens wurden spezielle Regeln zum Schutz von im demokratischen Prozeß unterlegenen Minderheiten eingeführt. Die wichtigsten sind die verwaltungsgerichtliche Überprüfung administrativer Entscheidungen, die wahl- und parteienrechtlichen Regelungen zur Ablösung regierender Mehrheiten und zur Rechtswahrung von Minderheitenpositionen sowie das Institut der Verfassungsbeschwerde. Drittens schließlich kann auch das Institut der repräsentativen Demokratie insofern als Instrument des Minderheitenschutzes angesehen werden, als in seinem Rahmen politische Entscheidungen nur dann als legitim gelten, wenn sie die Belange des ganzen Volkes, also nicht nur der Wahlbürger oder gar deren Mehrheit, berücksichtigen.

Daraus ist zunächst einmal die nicht unwichtige, weil in aktuellen Diskussionen gelegentlich übergangene Zwischenbilanz zu ziehen, daß der freiheitliche Verfassungsstaat in seiner Geschichte eine Fülle von Vorkehrungen und Institutionen hervorgebracht hat, die der Rechtswahrung und Integration von Minderheitenpositionen dienen. Das aktuelle Problem der Integration ethnischer Minderheiten ist dadurch jedoch insofern noch nicht gelöst, als die »Wiederkehr der Stämme« ein Integrationsproblem radikaler Art, nämlich die Frage nach dem Bestand des Staates überhaupt aufwirft.

Das Problem staatlicher Einheit

Diese Frage ist ein Erbe der höchst unterschiedlichen Entwicklung staatlicher Einheit auf der Welt. Der weltweite Siegeszug des Staates als politische Organisationsform schien spätestens mit der sog. »Entkolonialisierung« in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgeschlossen; doch hatte der Staat die Rechnung ohne die Völker gemacht. Wie die zahlreichen seit 1990 zu beobachtenden Sezessionsbewegungen und insbesondere die Bürgerkriege im zerfallenden Jugoslawien und in Ruanda zeigen, steht überall da, wo Staatsgebilde als Instrumente hegemonialer Integration empfunden wurden und werden, der Bestand des betreffenden Staates auf dem Spiel. Hier stellt sich in aller Schärfe die Frage, welche Faktoren eine Gesellschaft zu einem Staat formen und in einem Staat zusammenhalten können.

Auch dabei ist zunächst ein Blick in die politische Ideengeschichte nützlich. Die wichtigsten Antworten auf die Frage, was eine Gesellschaft zu einem politischen Staat formt, geben die Begriffe »Volk« und »Nation«. Beide sind jedoch in der Geschichte in sehr unterschiedlicher Weise gedeutet worden. Schon Cicero sah sich im Zusammenhang seiner Definition der Republik als »Sache des Volkes« veranlaßt, darauf hinzuweisen, daß ein Volk nicht eine irgendwie zusammengesetzte Herde („non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus“), sondern eine durch gemeinsame Rechtsüberzeugung und Nutzenübereinstimmung geformte Gemeinschaft sei. In der Folge der Französischen Revolution hat der Abbé de Sieyès als Grundlage der nunmehr demokratisch verfaßten französischen Nation das Bekenntnis der Bürger zur Republik und ihre Mitwirkung am allgemeinen Wohlergehen formuliert (Euchner in Renan 1996: 60). Und das Selbstverständnis der Einwanderungsnation par excellence, der Vereinigten Staaten von Amerika, versteht die Republik als politische Struktur, in der eine Nation politisch erst geformt wird: „e pluribus unum“.

Diesem offenen, auf den Willen zur Teilnahme abzielenden Begriffen von Volk und Nation sind jedoch im 18. und 19. Jahrhundert geschlossene Konzeptionen der Nation und des Volkes entgegengesetzt worden, in denen objektive Bestimmungsgründe im Vordergrund stehen. Die Gemeinschaft der Sprache und der aus Mythen, Sagen und Traditionen historisch erschließbare Humus, auf dem eine individuelle Kultur wachse, wurden unter dem Einfluß Herders und der Romantik als das einigende Band einer Nation und Kennzeichen ihrer nach außen abgrenzbaren Identität gesehen. Und die Individualität eines Volkes wurde in biologischen Kriterien wie homogener Abstammung oder gar der Reinheit der Rasse zu begründen gesucht. Funktion dieser objektiven Bestimmungen von Volk und Nation war jeweils die Stabilisierung einer orientierungslosen Gesellschaft oder die Unterstützung der Herbeiführung nationaler Einheit.

Für eine politische Kultur der Republik

Der alleweil zu Nationalismen und in multiethnischen Staaten zum Kampf kultureller Identitäten, wenn nicht zu Bürgerkrieg führende Rückgriff auf geschlossene, auf objektiven Kriterien beruhende Integrationsmuster kann nur durch die bewußte Gestaltung einer politischen Kultur der »offenen Republik« (Oberndörfer 1991) verhindert werden. Dazu sind in Bezug auf multiethnische Gesellschaften mindestens folgende Schritte erforderlich: erstens eine Verfassung, die auf der Basis der »Gleichursprünglichkeit« politischer und privater – besser: gesellschaftlicher – Autonomie (Habermas, in: Taylor 1992: 153 ff.) jedem Staatsbürger und damit auch Minderheiten politische Mitwirkungsmöglichkeiten einräumt. Dazu können im Einzelfall auch privilegierende Autonomierechte wie im Fall der dänischen Minderheit in Südschleswig im Rahmen föderaler Lösungen gehören. Diese müssen jedoch auf dem Teilhabewillen und auf einer politischen Integrationsbereitschaft der betreffenden Minderheit beruhen. Eine republikanische politische Kultur fordert also zweitens eine politische Assimilation bzw. Integration insofern, als auch ethnischen Minderheiten Loyalität zur Verfassung und ihren Institutionen und damit eine Teilhabe am »Verfassungspatriotismus« abzuverlangen ist.

Eine politische Kultur der »offenen Republik« verlangt aber drittens eine bewußte Abkehr von statischen und eine Wiedergewinnung von dynamisch-geschichtlichen Konzeptionen von Politik und auch von Kultur. Ein statisches Politikverständnis liegt etwa bei Walzer vor, wenn er „die multinationale Einwanderungsgesellschaft“ der USA als eine „vergängliche Schöpfung“ ansieht, „die schließlich durch einen einheitlichen Nationalstaat ersetzt werden soll“ (1996: 108). Er übersieht, daß das »e pluribus unum« und das Konzept des »Schmelztiegels« die unabschließbare und zukunftsoffene Aufgabe einer von Generation zu Generation neu zu erarbeitenden Identifizierung der Bürger mit ihrem Gemeinwesen und seinen Institutionen bezeichnet. Gerade die republikanische politische Kultur der USA hat sich auf diesem Wege immer wieder erneuert. Ein statisches Politikverständnis kommt auch im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht zum Ausdruck, das als Deutsche immer noch die Nachfahren deutscher Ahnen und nicht die Bürger Deutschlands gelten läßt, die gewillt sind, im Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland zu leben und sich in den politischen Institutionen des Grundgesetzes zum Wohl des ganzen zu engagieren.

Statisch ist aber auch das dauernde Reden von der kulturellen oder ethnischen »Identität«, das Völker, Nationen oder Minderheiten auf Momentaufnahmen objektiver Kriterien reduziert und den gerade für die Geschichte Europas so wichtigen Sachverhalt übersieht, daß eine Kultur nur im dauernden Werden, in beständiger Tradition und Aneignung und dabei eben auch in der Auseinandersetzung mit dem »Fremden« am Leben erhalten werden – oder aber auch untergehen kann.

Daß es in der Politik nicht um musealen Schutz klar abgrenzbarer »Identitäten«, sondern um die je menschliche Gestaltung kulturellen und gesellschaftlichen Wandels geht, hat in der so nationalistisch geprägten Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts der französische Gelehrte Ernest Renan in seiner berühmt gewordenen Rede vor der Sorbonne vom 11. März 1882 zum Ausdruck gebracht. „Beim Menschen gibt es etwas“ – schreibt er – was der Sprache übergeordnet ist: den Willen“ (1996: 27), und: „Ehe es die französische, deutsche, italienische Kultur gibt, gibt es die menschliche Kultur“ (29). Walter Euchner weist zurecht darauf hin, daß Renans berühmtes Diktum über die Nation – „Das Dasein einer Nation ist … ein Plebiszit Tag für Tag“ – der „Rhetorik der Republik“ entstammt (55). In dieser Rhetorik die Notwendigkeit der Ergänzung des freiheitlichen Verfassungsstaates durch eine lebendige republikanische politische Kultur zu erkennen, ist die Herausforderung, vor welche das Problem der Integration ethnischer Minderheiten weltweit stellt.

Literatur

Dicke, Klaus (1993): Die Verrechtlichung des internationalen Minderheitenschutzes, in: Klaus-Dieter Wolf (Hrsg.), Internationale Verrechtlichung, Pfaffenweiler, S. 109 – 126.

Dicke, Klaus (1994): „Festung Europa“ oder weltoffen-republikanische Europäische Union? Zum Leitbild europäischer Ausländer- und Minderheitenpolitik, in: COMPARATIV 4, S. 48 – 59.

Oberndörfer, Dieter (1991): Die offene Republik. Zur Zukunft Deutschlands und Europas, Freiburg i. Br.

Oberndörfer, Dieter (1997): Zwischen „political correctness“ und kommunitaristischer „Gemeinschaft“ – Der Fall Amerika, in: Georgios Chatzimarkakis/Holger Hinte (Hrsg.), Freiheit und Gemeinsinn. Vertragen sich Liberalismus und Kommunitarismus?, Bonn, S. 47 – 64.

Renan, Ernest (1996): Was ist eine Nation? Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne. Mit einem Essay von Walter Euchner, Hamburg.

Taylor, Charles (1993): Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a.M.

Walzer, Michael (1996): Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie. Aus dem Amerikanischen von Christiane Goldmann. Hrsg. und mit einer Einleitung von Otto Kallscheuer, Frankfurt a.M.

Klaus Dicke ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Friedrich Schiller-Universität Jena. Er ist Mitglied des Bundesvorstandes der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, der Deutschen UNESCO-Kommission und Vorsitzender von deren Arbeitskreises »Kultur des Friedens«.

Mehrheiten versus Minderheiten

Mehrheiten versus Minderheiten

Zur Kritik erklärungsbedürftiger Konzepte

von Christian P. Scherrer

Thema dieses Artikels sind jene Akteure, die bis heute, wie so oft in der Geschichte der Moderne, aus dem System der Nationalstaaten »herausfallen«, mit schweren Konsequenzen für alle Beteiligten. Die Rede ist von nicht-dominanten Gruppen im Staat. Jeder Staat hat sie, die ethnischen Minderheiten. Im 20. Jahrhundert wurden Minderheitenfragen in Europa wiederholt zum Anlaß genommen, Kriege zu führen. Es handelt sich also wahrlich nicht um ein zweitrangiges Phänomen. C.<0> <>P. Scherrer untersucht den Inhalt von Begrifflichkeiten, befaßt sich mit den unterschiedlichen Wahrnehmungen, erarbeitet Merkmale zur Definition ethnischer Gemeinschaften und kommt zu der Schlußfolgerung, daß das völkerrechtliche Prinzip der Selbstbestimmung kein Recht auf Sezession beinhaltet.

Wer die Frage nach dem Inhalt von Begriffen wie Mehrheit und Minderheit stellt, sticht in ein Wespennest von Problemen. Beide Begriffe sind einerseits an Form und Größe des jeweiligen Staates gebunden und somit von jeder Veränderung dieser Parameter abhängig. Ein anschauliches Beispiel: Vor unseren Augen zerfiel die Sowjetunion in fünfzehn Nachfolgestaaten, wodurch Hunderte von neuen Minderheiten produziert wurden. Andererseits kommt in den beiden Begriffen eine tiefer verwurzelte Ebene zum Ausdruck, in der Frage nach der ethnisch-kulturellen Basis der Identitäten von Minderheiten und Mehrheiten, von Ethnien und Nationen. Eine weitgehend unbedachte Voraussetzung der Idee des Nationalstaates war die Annahme einer ethnisch-homogenen Basis der Nation, d.h. die Behauptung der Identität von Ethnie und Nation.

Ethien, Völker oder Staatsnationen erscheinen als Mehrheiten oder Minderheiten quasi wertneutral »im demographischen Kleid«. Staaten wollen brave Steuerzahler und folgsame einheitliche »Bürger« (gestern noch Untertanen) haben, die sich in erster Linie als Teil des staatlichen Gemeinwesens definieren. Abweichungen von der Norm sind unerwünscht. Seitens der Staatsklassen wurde über Jahrzehnte der Versuch gemacht, Anderes gleichzumachen und Fremdes zu assimilieren. Anpassung an den jeweiligen »Nationalcharakter« war gefordert. Majoritäre Ethnizität erhielt die Weihe des Nationalen. Minoritäre Ethnizität bzw. das Ethnische schlechthin wurde im politischen Diskurs vorwiegend negativ besetzt, mit Konnotationen wie primitiv, rückständig oder irrational. Das Ethnische und Fremdkulturelle sollte »absterben«. Entgegen den Prognosen der Politik- und Sozialwissenschaften über die Entwicklung moderner Gesellschaften hat Ethnizität in den letzten Jahrzehnten keineswegs an Bedeutung verloren.

Ethnizität und Identität

Das Gegenteil trat ein: Die Bedeutung und Politisierung des Ethnisch-Kulturellen hat sich in Gewaltkonflikten, zivilen Auseinandersetzungen, gesellschaftlichen Aus- und Abgrenzungen bis hin zu Statusfragen verstärkt. Kulturelle Besonderheiten wurden zu identitätsstiftenden Emblemen von Minderheiten. Ethnizität ist in diesem Beitrag die Bezeichnung für eine Vielzahl von Mobilisierungsformen, die letztlich auf die autonome Existenz spezifisch ethnischer Formen der Vergesellschaftung Bezug nehmen und diese politisieren. Kämpfe sozialer Klassen und ethnischer Gruppen lassen sich dabei nicht sauber trennen; bisweilen entspricht die Klassengrenze der ethnischen, oft überschneiden sich die beiden.

Die Bildung ethnisch-kultureller Identität kann nicht als gegeben vorausgesetzt werden, sondern ist das nicht zwangsläufige oder automatische Resultat von Interaktionsprozessen innerhalb einer ethnisch-kulturellen Gruppe, zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen und zwischen Ethnie(en) und Staat(en). Von diesen drei Konfliktbereichen wird oft nur der zweite interethnische Bereich beachtet, meist in der Form von Minderheitenkonflikten im Norden und angeblich tribalistischen Konflikten im Süden. Gerade das für den Ethno-Nationalismus signifikante konfliktuelle Verhältnis zwischen Ethnien und Staat(en) wird hingegen vernachlässigt. Ethnische Identität kann z.B. als das Bewußtsein kultureller Eigenständigkeit oder Andersartigkeit interpretiert werden. Dieses kollektive Bewußtsein ist nicht der naturwüchsige Reflex objektiver kultureller Kennzeichen und auch nicht eine Sache »freier Wahl«; es steht aber immer in einem konfliktuellen Zusammenhang.

Die im Zusammenhang mit ethno-nationalen Konflikten oft gebrauchten Begriffe Minderheit vs. Mehrheit sind erklärungsbedürftig. Charakteristika, die eine nationale Minderheit als ethnische Gruppe oder ein indigenes Volk zu einer Nation ohne eigenen Staat machen, bleiben aus machtpolitischen Gründen umstritten. Festlegungen gewinnen heute an politischer Relevanz. Das Verhältnis von nationalen Minderheiten und Staaten kann nicht mehr ausschließlich als innere Angelegenheit deklariert werden, sondern ist vermehrt Teil der internationalen Beziehungen.

Zum Begriff der nationalen Minderheit

Der Begriff der Minderheit und die Realität, in der Minderheiten geschaffen werden und leben müssen, weist eine Vielzahl von Facetten auf, die oft kaum berücksichtigt werden. Diese Bezeichnung ist relativ jung und erst seit den zwanziger Jahren gebräuchlich. Minderheit ersetzte den älteren Begriff der Nationalität und betont einseitig die Beziehung zum Staat. Der wichtigste Gesichtspunkt scheint, daß der Begriff der Minderheit grundsätzlich askriptiver Natur ist:

  • In der Regel wird staatlicherseits definiert, was eine Minderheit ausmacht und auf welchen Personenkreis der Begriff anwendbar ist. Der Staatsapparat ist dominiert von oder im Besitz einer angebbaren ethnischen Gruppe, die sich selbst als Mehrheit definiert, was bisweilen demographisch gesehen nicht zutrifft. (So sind die Malaien in Malaysia keine demographische, sondern eine politische Mehrheit; dasselbe gilt für die Russen in der ehemaligen UdSSR sowie für die Abessinier – Amharen, Tigrai – in Äthiopien.) Der Begriff der Mehrheit ist politisch-territorialer Natur; für sein »Gegenstück« gilt dies ebenso.
  • Minderheiten sind in aller Regel die Mehrheit in den von ihnen bewohnten oder beanspruchten Gebieten. Der Staat versucht oft, solche sog. Minderheiten in ihren Gebieten durch Ansiedlung von Angehörigen des Staatsvolkes zu majorisieren. (Zu größeren Umsiedlungsaktionen kam es in Indonesien, in Äthiopien unter Mengistu und in Bangla Desh).
  • Oft gibt es kein demographisch mehrheitsfähiges Staatsvolk. Nationale Zensen und demographische Statistiken stellen (für alle Akteure) nur ein weiteres Kampfgebiet dar. Statistiken werden üblicherweise nach politischen Vorgaben ausgerichtet.
  • In Extremfällen ist die als Minderheit apostrophierte ethnische Gruppe nur machtmäßig gesehen eine politische Minderheit, stellt aber die demographische Mehrheit (z. B. die Oromo in Äthiopien oder die Maya-Völker in Guatemala. Alle Minderheiten Burmas stellen zusammengenommen die demographische Mehrheit).

Der Begriff der Minderheit ist auch aus einer Serie von »internen« Gründen erklärungsbedürftig. Viele Nationalitäten, welche sich in ihren historischen Rechten von den (neuen) Staaten eingeschränkt sehen, bedrängt, bedroht oder verfolgt werden, verstehen sich selbst nicht als Minderheit. Sie teilen die sozialpsychologischen Charakteristika von Minderheiten nicht; einige pflegen im Gegenteil einen selbstbewußten Nationalismus:

  • Nationalen Minderheiten, die von der dominanten ethno-nationalen Gruppe meist als untergeordnete Segmente komplexer(er) Staatsgesellschaften angesehen werden, erhalten spezielle phänotypische und kulturelle »Eigenheiten« zugeschrieben. Solche »Merkmale« werden von der so bezeichneten Gruppe i.d.R. als befremdlich oder kränkend empfunden. Angehörige solcher Minderheiten fühlen sich von den dominanten Segmenten der Staatsgesellschaften verachtet (z.B. Elemente des Gegensatzes Indios/Latinos in Lateinamerika), mißbraucht und politisch benutzt.
  • Mitgliedschaft in ethnischen Minderheiten beruht gleichwohl auf Deszendenz (reale oder konstruierte Abstammung), deren kohäsive Kräfte nachfolgende Generationen zusammenhalten (z.B. bei den Indianern Nordamerikas oder den Roma in Europa), selbst dann, wenn spezifische phänotypische oder kulturelle Eigenheiten für Außenstehende nicht bemerkbar sind oder sich objektiv verlieren (wie z.B. bei den Nachgeborenen von Arbeitsmigranten in den nördlichen Metropolen).
  • Minderheiten teilen mit vielen traditionalen und indigenen Gesellschaften die Tendenz oder Verpflichtung auf Endogamie, haben wenig oder keinen politischen Einfluß und werden marginalisiert (z.B. als billige Arbeitskräfte in bestimmten Sektoren).
  • Traditional oder tribal strukturierte minoritäre Gesellschaften unterscheiden und reproduzieren sich aufgrund ihrer Nichtintegration (oder Teilintegration) in die Marktökonomien; sie entwickeln eine Vielfalt von autonomen, selbstversorgenden Produktionsweisen (am deutlichsten bei Nomaden- oder Wildbeutergesellschaften).

Das Begriffspaar der nationalen Minderheit hat sich im Diskurs zur Minderheitenfrage und in der zwischenstaatlichen Politik in den letzten Jahren vermehrt durchgesetzt. Einerseits ist dies eine Folge der vermehrten Aufmerksamkeit, die sich in Europa nach dem Kalten Krieg auf die konfliktive Minderheitenfrage richtete, wobei die Minderheitenfrage immer eng mit der Frage der Menschenrechte verbunden ist. Andererseits bedeutet die plötzliche Konjunktur für diese Begriffskombination, daß eine Art Kompromißformel gefunden wurde, welche den unterschiedlichen Sprachgebrauch in Ost- und Westeuropa überbrücken bzw. vereinheitlichen sollte. Die OSZE richtete ein Hochkommissariat für Nationale Minderheiten ein (vgl. Scherrer, 1996, S. 218-257).

Das Ethnische an nationalen Minderheiten

Der grundlegende Begriff des Ethnischen ist nicht klar definiert und wird in der Ethnologie in gewissen Grenzen kontrovers aufgefaßt. Die Vielfalt der von den verschiedenen ethnologischen Schulen angebotenen Zuordnungen ist groß; eine Kombination der eingängigen Verortungen ist aber aufgrund der unterschiedlichen Herangehensweisen und Standards kaum möglich. Die am häufigsten angeführten Nennungen sind gemeinsame Abstammung, Rasse, gleiche Kultur, Religion, Klasse und Sprache(vgl. auch Zimmermann, 1992). Davon sind die drei Nennungen Rasse, Klasse und Religion nicht sinnvoll:

Die ethnische Form der Vergesellschaftung ist von derjenigen der sozialen Klassen zu unterscheiden. Deren Bereiche und Grenzen sind zwar oft deckungsgleich (Klassentrennung entlang ethnischer Linien), können sich in komplexeren Gesellschaften aber auch überschneiden oder – wie in egalitären Gesellschaften – ausschließen. Rasse oder Religion als Kriterien sind gänzlich abzulehnen: Rasse ist als Kategorie schwer belastet; europäische Rassentheorien waren integraler Teil kolonialer Rechtfertigungsideologien. Mit Religion ist ein Teilbereich der ideologischen Superstruktur gemeint; im Rahmen der Kolonialexpansion bedeutet die Durchsetzung einer bestimmten, dort fremden Religion in den meisten Fällen eine Implikation bzw. ein Resultat der kolonialen Unterwerfung.

Wenn von Attributen einer ethnischen Gemeinschaft die Rede ist, denken die meisten Menschen zuerst an Religion. Dies scheint erstaunlich angesichts des empirischen Tatbestandes, wonach importierte (Kolonial-) Religionen und synkretistische Varianten bei den weltweit zwischen 2500 und 6500 Ethnien weit häufiger und/oder dominanter sind als indigene Religionen. Religion ist für Huntington das primäre Kriterium zur Definition dessen, was er unter Zivilisation versteht (Huntington, 1996). Religion kann in der Tat kein ethnisches Merkmal sein, sondern ist – bis zur Moderne – eher ein Merkmal des Staates bzw. seiner Formation innerhalb eines zivilisatorischen Rahmens.

Welche Attribute definieren eine ethnische Gemeinschaft?

Einer unter mehreren möglichen Zugängen zum Thema berücksichtigt Attribute, die auf Bündeln von »Besonderheiten« einer bestimmten Gruppe basieren, welche als »ethnische Merkmale« verstanden werden. Solche Attribute sind nur im Rahmen interethnischer Beziehungen relevant. Oft werden sie erst in Konfliktsituationen zu einem zentralen Feld der Wahrnehmung. Die Attribute einer ethnischen Gemeinschaft stehen im Rahmen der Ethnologie als Disziplin nicht fest. Es gibt jedoch einen tendenziellen Konsens zumindest bei wenigen Merkmalen. Aus meiner Sicht betreffen diese Merkmale minimal:

1. eine historisch gewachsene oder wiederentdeckte Gemeinschaft von Menschen, welche sich größtenteils selbst reproduziert,

2. einen eigenen Namen, der oft nichts anderes als »Mensch« bedeutet,

3. eine spezifische, andersartige Kultur, insbesondere eine eigene Sprache, bestimmte Vorstellungen vom Verhältnis zur Natur und zur Welt (Kosmologie),

4. ein kollektives (ethnisches) Gedächtnis oder geschichtliche Erinnerung, einschließlich seiner Mythen (Gründermythen gemeinsamer Abstammung), und

5. Solidarität unter den Mitgliedern, was ein Wir-Gefühl vermittelt.

Diese Attribute stellen keine feststehende Check-Liste dar, wohl aber eine Annäherung an das Prinzip des Ethnisch-Kulturellen, dessen Elemente noch hinterfragt, im konkreten Fall spezifiziert und gegen jene der Nation und Zivilisation abgegrenzt werden sollen.1

Hypothesen und theoretische Vorentscheidungen

Ethnische Zugehörigkeit wird aus der Sicht der Betroffenen (emisch) im Regelfall mitnichten als ideologisch produziert aufgefaßt. Sie ist aber andererseits nicht ein quasi organischer Prozeß, vermittelt durch die spezifische Sozialisation als Angehörige(r) einer distinkten sozialen Gruppe. Umgekehrt zur Hypothese der ideologischen Konstruktion oder gar der »Erfindung«2 sprechen einige Autoren von einer Zugehörigkeit aufgrund von traditionaler ethnischer Solidarität, die sich auf Gruppen mit langer geschichtlicher Kontinuität, hoher Kohärenz und sozialer Kohäsion wie z.B. Clans und andere tribale Einheiten bezieht, und welche eine fast naturwüchsige Form ethnischer Solidarität darstelle.

Die Hypothesen zum Thema liegen also ungewöhnlich weit auseinander. Vorerst ist es heuristisch unabdingbar, das Referenzsystem anzugeben und die theoretischen Axiome zu bezeichnen. Aussagen über Gruppenzugehörigkeit und persönliche Identität können je nach den Referenzbedingungen und dem geschichtlichen Kontext unterschiedlich ausfallen. Die ethnische und soziokulturelle Identität eines Individuums variiert:

  • je nach Standort bzw. Standpunkt des Beobachters;
  • Fremdzuordnung und Eigenidentifikation können u.U. sehr verschieden sein;
  • Konfliktsituationen können radikale Veränderungen bewirken.

In der Situation der Bedrohung können einzelne Elemente persönlicher und kollektiver Identität überhöht werden bzw. an Einfluß verlieren. Dabei spielt sowohl die Instrumentalisierung von Mechanismen der Abgrenzung durch die Politik (im Sinne einer Ausgrenzung) eine Rolle, als auch der Rückgriff auf – im Rahmen friedlicher Koexistenz – gesellschaftlich unbewußte Elemente von Gruppenidentität. Identität konstituiert sich über Abgrenzungsprozesse, die nicht in einem herrschaftsfreien Raum stattfinden und deren Modalitäten nicht frei und eigenständig bestimmbar sind. Abstrakte Verschiedenheit von Anderen ist unproblematisch; die Erfahrung konkreter Bedrohung durch Andere bzw. die Konstruktion eines Überlegenheitsgefühls gegenüber Anderen sind dagegen Resultate von Ausgrenzungs- und Polarisationsprozessen.

Unterschiedliche Wahrnehmung

Aus emischer Sicht ist eine Form gemeinsamer Abstammung zentral. Daß es sich nicht um faktische Abstammung handeln muß, sondern i.d.R. um eine putativ-mythische oder »fiktive«, wird oft übersehen. Weitere zentrale Elemente, welche über die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe bestimmen, wie die Reproduktionsfähigkeit als Gruppe, gemeinsame kulturelle Konfigurationen und ein sogenanntes Wir-Gefühl, welches Gruppensolidarität impliziert, mögen als zu allgemein gesehen werden, um im Endeffekt präzise empirische Befunde über die ethnische Dimension politischer Vorgänge in einer Konfliktsituation zu ermöglichen. Die nachhaltige Beschädigung zentraler Elemente von außen (oder innen) ruft aber in jedem Einzelfall bestimmte Formen des Widerstandes hervor, die vom Rückzug bis zum bewaffneten Aufstand reichen.

Die Aufrechterhaltung ethnischer Grenzen – und damit die Abgrenzbarkeit der Ethnien – ist aus verschiedenen Gründen nicht unproblematisch, trotzdem scheinen viele Ethnologen und Soziologen solchermaßen definierte Völker als eine Art »Inseln für sich« zu betrachten, die zwecks Beschreibung isoliert, willkürlich aus ihrem sozialen Zusammenhang und ihrem inter-ethnischen Kommunikationsraum herausgenommen werden. Das Überbetonen einzelner Elemente, wie die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Kultur oder die soziale Dimension, welche ethnische Gruppen als eine bestimmte Form sozialer Organisation sieht, erscheint problematisch. Nach Barth ist das als zentral angesehene Attribut einer gemeinsamen Kultur eher Implikation.3 Kultur wird oft in fetischisierter Form zur Postulierung einer abstrakten Einheit politisch von oben verordnet und zwecks »nationaler Eindeutigkeit« mißbraucht.4

Eigene Sicht und Fremdidentifikation

Relevant ist die Frage nach der Art und Form der kollektiven und individuellen Wahrnehmung. Von Relevanz sind dabei die Unterscheidungen in Selbst- bzw. Fremd-Identifikation und die Innen/Außen-Perspektive. Nicht nur objektive kulturelle Unterschiede (Differenzen an sich) sind demnach in vielen Fällen zur Identifikation einer bestimmten Gemeinschaft relevant, sondern jene kulturellen Ausdrucksformen, die von den Mitgliedern einer bestimmten Gemeinschaft selbst als signifikant angesehen werden.

Der Signifikanz bezüglich ethnischer Andersartigkeit, die gewissen Unterscheidungsmerkmalen seitens einer bestimmten Gruppe und ihrer Nachbarn zugeschrieben wird, entsprechen oft keine oder ungenügende, »objektiv« von außen feststellbare Differenzen. Diese für Außenstehende nur nuancenhaft verschiedenen Expressionen werden von den Mitgliedern als interne Signale für ethnische Grenzziehungen bzw. als Embleme kultureller Differenz benutzt, während wiederum andere Merkmale in ihrer Bedeutung für die Akteure – aber nicht unbedingt für den Beobachter – zweitrangig erscheinen. Gerade unter den Bedingungen repressiver Diskriminierung sind jedoch auch Fälle der Übernahme von Fremdzuweisungen bekannt, allerdings unter Auswahl bestimmter Elemente oder in modifizierter Form. Die Überbetonung der Fremdzuweisung bei der »Definition« der Ethnie(n), oft mit Kritik am kolonialen social engineering verbunden, läuft Gefahr, den Gegenstand selbst zu negieren. Das Phänomen langer geschichtlicher Kontinuität der Ethnien und ihre (trotz Dynamik und Wandelbarkeit) bemerkenswerte Kohärenz und soziale Kohäsion kann auf diese Weise nicht erklärt werden.

Über welche Symbole und in welcher Intensität ethnische Differenz inszeniert wird, bzw. innere Kohäsion und Abgrenzung gegen außen geschaffen wird, ist variabel; dies ist abhängig von einer Vielzahl von Faktoren wie dem sozialen und politischen Umfeld, der Art und Weise der Interaktion auf drei Ebenen (innerethnisch, interethnisch, gegenüber dem Staat) und dem Grad der eingebildeten oder realen Bedrohung. Das kollektive Gedächtnis einer Gemeinschaft bleibt nicht unbeeinflußt von gegenwärtigen Umständen und anhaltenden Bedrohungen. Bezüglich historischer Erinnerungen interethnischer Beziehungen kann dies zu einem kritischen Faktor werden. Bei der Frage der Manipulierbarkeit des kollektiven Gedächtnisses sollte aber berücksichtigt bleiben, daß wichtige Inhalte auf generativen Erfahrungen beruhen, die sich nicht problemlos umdeuten lassen.

Die Gewichtung verschiedener Embleme oder Symbole verschiebt sich in der Zeit. Aus dem Arsenal kultureller Symbole werden einige ausgewählt, um die Differenz von »Wir-Gruppe« und Fremdgruppe(n) zu markieren. Die Medien solcher Abgrenzungsprozesse können je nach (Bedrohungs-) Situation andere sein. Welches Emblem aufgegriffen wird, hängt keineswegs nur von den Interessen ethnischer Eliten ab. Die Existenz ethnischer Eliten als gegeben vorauszusetzen, ist oftmals schon eine ideologische Annahme. In vielen Fällen (z.B. bei akephalen und egalitären Gesellschaften) bestehen gar keine Eliten. Die Betonung der Eliten führt generell zu einer Vernachlässigung der dynamischen Beziehung von Eliten und Massen.

Von der nationalen Minderheit zur Nation ohne Staat

Eine nationale Minderheit kann innerhalb des Rahmens sozio-politischer und völkerrechtlich relevanter Kategorisierung als eine Nationalität verstanden werden. Diese Begriffsverschiebung ist als Ergebnis eines politischen Prozesses zu sehen, der in den meisten Fällen konfliktiv verlief. Machtfaktoren spielen dabei eine entscheidende Rolle.5 Analysen, die gesellschaftliche Bewertungen, Adäquanz und Machtfragen außer Acht lassen, genügen nicht. Der Eroberungs- und Dominanzaspekt ist von zentraler Bedeutung. Dieser konstitutive Aspekt wurde bei der Ausarbeitung neuer Instrumente des Internationalen Rechts zum Schutz indigener und bedrohter Völker anerkannt (Un-CHR, 1993).

Ethnisch-kulturellen Gruppen, die sich nicht zur Nation(alität) umbilden, droht unter den realen, feindlichen Bedingungen der internen oder externen Kolonisation die Vernichtung als eigenständige Einheiten. Eine aufgrund äußeren Drucks seitens der Mehrheit umgebildete, kohäsive, nicht-dominante ethnische Gruppe kann als Nationalität bezeichnet werden, wenn sie trotz der Dominanz- und Souveränitätsansprüche von außen 1. einen Kommunikations- und Interaktionsraum darstellt, d.h. eine eigene Öffentlichkeit zu konstituieren bzw. zu erhalten vermag,

  • über eine mit ihr identifizierbare besondere Produktions- und Lebensweise verfügt und zu reproduzieren vermag,
  • eine wie immer geartete politische Organisation entwickelt,
  • ein angebbares Gebiet bzw. ein begrenztes Territorium besiedelt (bzw. zu verteidigen vermag), und
  • unverwechselbar ist, da ihre Mitglieder sich selbst als solche identifizieren bzw. durch andere einer bestimmten Gemeinschaft zugeordnet werden.

Meine Begriffsbestimmung zu nationaler Minderheit als Ethnie bzw. Nationalität enthält somit insgesamt zehn Kriterien bzw. Charakteristiken.6 Ethnische Merkmale sind nur im Rahmen interethnischer Beziehungen relevant und werden in Konfliktsituationen zu einem zentralen Feld der Wahrnehmung. Bestimmte sozio-kulturelle Praktiken können gänzlich unwichtig sein, in einer anderen Umgebung aber plötzlich extrem wichtig werden. Auch Hautfarbe, Statur, Physiognomie oder andere phänotypische Eigenschaften sind in vielen Gesellschaften der Dritten Welt (für sie selbst) von untergeordneter Bedeutung, in westlichen Gesellschaften gehören physische Charakteristiken aber zu den zentralen Unterscheidungsmerkmalen, sowohl zu Hause gegenüber Migranten und Flüchtlingen, wie in der Fremde, z.B. am Urlaubsort.

Eine ethnisch-nationale Gemeinschaft, welche über einige zentrale oder alle diese Attribute verfügt, entwickelt eine bestimmte unverwechselbare Kollektividentität; sie könnte im politischen Kampf das völkerrechtliche Prinzip der Selbstbestimmung beanspruchen. Dies impliziert keineswegs ein Recht auf Sezession, das von der Staatengemeinschaft nie anerkannt würde. Die Schaffung neuer Staaten folgt nach politischer Opportunität. Das Völkerrecht spricht von »Völkern«, meint jedoch Staaten; die meisten Staaten sind Vielvölkerstaaten. In der politisch-rechtlichen Praxis wird das Selbstbestimmungsrecht, selbst in der Form interner Selbstverwaltung, nicht respektiert und umgesetzt, weil die meisten Völker in der Regel nicht als solche anerkannt werden, sondern als nationale Minderheiten. Die Rechtsbasis dazu wären die Menschenrechte, die in aller Regel Rechte des Individuums sind. Folglich befinden sich die Rechte ethno-nationaler Gemeinschaften in einer prekären »Grauzone« zwischen kollektivem Völkerrecht und individuellen Menschenrechten.

Literatur

Anderson, Benedikt (1988);: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Frankfurt a/M.

Barth, Frederik (Ed.) (1969): Ethnic groups and boundaries. Boston.

Burger, Julian (1987): Report from the frontier. The state of the world's indigenous peoples. London.

Elwert, Georg/Waldmann, Peter (Eds.) (1989): Ethnizität im Wandel. Saarbrücken.

Galtung, Johan (1996): Peace by peaceful means. Peace and conflict, development and civilization. London.

Gurr, Ted Robert (1993): Minorities at risk. A global view of ethnopolitical conflict. Washington.

Heinz, Marco (1993): Ethnizität und ethnische Identität. Eine Begriffsgeschichte. Bonn.

Horowitz, Donald L.(1985): Ethnic groups in conflict. Berkeley, Los Angeles.

Huntington, Samuel P. (1996): Kampf der Kulturen (Clash of Civilizations). München/Wien.

Ryan, Stephen (1990): Ethnic conflict and international relations. Aldershot.

Scherrer, Christian P. (1997): Ethno-Nationalismus: Ursachen, Strukturmerkmale und Dynamik ethnischer Gewaltkonflikte. Handbuch zu Ethnizität und Staat, Band 2. Münster, i. E.

Scherrer, Christian P. (1996): Ethno-Nationalismus im Weltsystem. Prävention, Konfliktbearbeitung und die Rolle der internationalen Gemeinschaft. Handbuch zu Ethnizität und Staat, Band 1. Münster.

Tibi, Bassam (1995): Krieg der Zivilisationen. Hamburg.

UN-CHR (1993): Universelle Deklaration der Rechte indigener Völker. E/CN.4/Sub.2/ 1993/26.

Zimmermann, Klaus (1992): Sprachkontakt, ethnische Identität und Identitätsbeschädigung. Frankfurt a/M.

Anmerkungen

1) Ethnische Gemeinschaften mögen „vorgestellte“ (Andersons imagined communities) sein, diese Vorstellung ist bedeutend konkreter und faßbarer als jene der Nation oder Zivilisation. Kulturen sind immer lokal, Zivilisationen regional (Tibi 1995, S. 11), verbunden durch Kosmologien (Galtung 1996, S. 211-222, 253ff.). Die Gleichsetzung von Kultur mit Zivilisation ist völlig unzuläßig (Huntington 1996, S. 14). Zurück

2) Im Anschluß an Anderson wurden alle möglichen Formen sozialer und politischer Organisation als Erfindung bezeichnet, so auch die Ethnie (vgl. Elwert 1989, S. 26). Zurück

3) Barth (Ed.) (1969), S. 11. Eine gemeinsame Kultur wäre also nicht eine primäre, definitive Charakteristik einer ethnischen Gruppe, weil dies (seiner Meinung nach) die zeitliche Kontinuität (von der wir ausgehen) und die formbestimmenden Faktoren ethnischer Gruppen einschränken würde. Zurück

4) Politische Folklore unterdrückt jedes Element von latent multipler Zugehörigkeit, löst Volkskultur aus ihrem sozialen Zusammenhang und überhöht die „eigene Kulturleistung“. Die Kritik einer materialistischen Kulturwissenschaft am „Fetisch Kultur“ analysiert die Strukturen der Kommunikation, Formen des gesellschaftlichen Habitus, Fragen nach Rhetorik und Oralität, Sprachgebrauch, Gemeinschaftsrituale, geschlechtspezifische Rollen sowie äußere Symbole (religiöse und politische). Zurück

5) Burgers Definition indigener Völker (1987, S. 9) berücksichtigt den Eroberungs- und Dominanzaspekt, macht jedoch unnötige Einschränkungen wie Nomadismus, Akephalität, „different world-view“. Zurück

6) Der Definitionsversuch stellt eine Verbindung von etwa je zur Hälfte subjektiven und objektiven Merkmalen dar. Die Streitfrage ist bei einigen dieser Nennungen, ob sie als »objektive Merkmale« bezeichnet werden sollen. Zumindest die Namengebung, einige kulturelle Aspekte (Sprache z.B.), die Assoziation mit einem Territorium als Siedlungs- und Wirtschaftsgebiet, die Produktionsweise und der Grad der politischen Organisiertheit können als objektive, empirisch überprüfbare Merkmale gelten. Zurück

Dr. Christian P. Scherrer ist Ethnosoziologe und Konfliktforscher; Mitarbeiter am Institut für Ethnizitätsforschung und Konfliktbearbeitung (IFEK),Moers; Leiter des Ethnic Conflicts Research Project (ECOR).

Menschenrechte

Menschenrechte

Zur Universalisierbarkeit und inhaltlichen Reichweite westlicher Vorstellungen

von Gertrud Nunner-Winkler

Es sind vor allem zwei Probleme, die die Menschenrechtsdebatte aufwirft. 1. Die Universalisierbarkeitsfrage: Formulieren die Menschenrechte eine universell verbindliche Moral oder nur eine westliche (Zivil-)Religion, die ihren Anspruch auf Weltherrschaft nur ideologisch kaschiert (»Kulturimperialismus«) und die Irreduzibilität einer kulturellen Vielfalt von Verfassungen, Lebensformen und Moralen verkennt oder verleugnet (vgl. Gray, 1994, S. 728)? 2. Die Frage der inhaltlichen Reichweite der Menschenrechte: Lassen sich über die bloß negativ definierten politischen Freiheitsrechte (»erste Generation« von Menschenrechten) hinaus weitergehende wirtschaftliche, soziale und kulturelle Teilhaberechte (»zweite Generation«) bzw. Solidaritätsrechte auf Entwicklung, saubere Umwelt und Frieden (»dritte Generation«) ausweisen?

Zur Universalisierbarkeit – Der Begründungsmodus

Ursprünglich waren die Menschenrechts-Forderungen unter Rekurs auf das Naturrecht begründet worden, das seit der griechischen Naturphilosophie als Maßstab diente. Auf die inhaltlich unbestimmte Folie des vieldeutigen Konzepts der »Natur« des Menschen oder einer Sache ließen sich dabei allerdings die unterschiedlichsten Deutungen projizieren, die dann rückwirkend Herrschaftsstrukturen oder erwünschte Normierungen zu legitimieren erlaubten (vgl. Stratenwerth, 1958, S. 290). So etwa dekretierte die katholische Naturrechtslehre Fortpflanzung als »natürlichen« Zweck von Sexualität und begründete daraus die »Widernatürlichkeit« und damit Sündhaftigkeit von Homosexualität oder Geburtenkontrolle. Ebenso geriet die »Natur« der Frau – nachdem die religiöse Fundierung einer Vorrangstellung des Mannes („Das Weib sei dem Manne untertan.“) mit dem basalen Gleichheitsprinzip der Aufklärung („All men are created equal.“) nicht mehr vereinbar war – ins »wissenschaftliche« Visier, und die Biologie der Geschlechterdifferenzen wurde entwickelt: „Innere Lage und die defizitäre Ausstattung des weiblichen Geschlechtsapparates signalisieren die Unselbständigkeit der Frau in der Welt.“ – So faßt Honegger (1989, S. 187) die medizinische Lehrmeinung des 19. Jahrhunderts zusammen. Ganz analog verfuhr man mit den Schwarzen in den USA. Deren »Natur« – „die ewige Monotonie ihres Ausdrucks … die schwächeren Verstandesleistungen“ (so Jefferson, zitiert nach Meuschel, 1981, 107 f.) – »rechtfertigten« Ausbeutung und Sklaverei.

Neuere Überlegungen knüpfen nicht mehr an die »Natur« des Menschen, sondern an seine Interessen und Bedürfnisse an (so etwa Galtung, 1994; Nussbaum, 1993). Der Übergang von solch deskriptiven Aussagen über universelle Bedürfnisse zu normativen Forderungen läßt sich über vertragstheoretische Ableitungen vermitteln: Nicht die aus der Beobachterperspektive festgestellte »Natur«, sondern die – in der Teilnehmerrolle – vorgetragenen Interessen begründen danach Normen. Nach Hobbes' klassischem Entwurf war es das Interesse an Ordnung und Sicherheit, das die im Naturzustand gleich und frei, aber ordnungslos und isoliert nebeneinander lebenden Subjekte dazu bewog, im Gesellschaftsvertrag ihre »natürlichen Rechte« auf Freiheit und ungezügelte Entfaltung an eine Herrschaftsinstanz abzugeben, damit diese die Einhaltung der Grundregeln des Gemeinschaftslebens überwache (vgl. Hartfiel, 1976, S. 236).

Wiederum allerdings gerieten Einseitigkeiten der Menschenbildannahmen in die Kritik: Der fiktive Zusammenschluß involvierte autarke Wesen, denen es allein um die wechselseitige Kontrolle ihrer asozialen Triebregungen geht. Neuere Ansätze lassen demgegenüber ein breiteres Spektrum an Interessen und Bedürfnissen zu. Rawls (1972) hat wohl das am detailliertesten ausgearbeitete Modell vorgelegt: In einer »hypothetischen Ursprungssituation« finden sich »unter dem Schleier der Unwissenheit« alle gleichberechtigt zusammen, um Regeln und Institutionen zu vereinbaren, denen sie frei zustimmen können. Viele Unterschiede (in Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft, Religion, Generationenzugehörigkeit) gelten als irrelevant. Nur ein Minimalwissen über universelle Merkmale bringen die Subjekte ein: Als sterbliche Wesen wissen sie um ihre Verletzlichkeit; als weder völlig instinktdeterminiert noch heilig wissen sie um ihre Fähigkeit, andere zu verletzen, und sie wissen, daß sie selbst ohne guten Grund nicht verletzt werden wollen. Daraus lassen sich die sogenannten natürlichen Pflichten ableiten: das Verbot, andere zu töten, zu bestehlen, zu belügen, ihrer Freiheit zu berauben. Als bloße Unterlassungen können diese negativen Pflichten (vgl. Gert, 1983) jederzeit von jedermann gegenüber jedermann eingehalten werden. Darüber hinaus aber wissen die Subjekte auch, daß sie allein nicht überlebensfähig, sondern als soziale Wesen auf Institutionen und Kooperationszusammenhänge verwiesen sind. Daraus leiten sich (rollen- und kulturspezifisch unterschiedliche) positive Pflichten ab, die in dem allgemeinen Fairnessgebot gründen, daß in einer »gerechten Gesellschaftsordnung« jeder das Seine zu tun habe.

Gerecht ist eine Ordnung, wenn sie den beiden von rationalen Subjekten frei gewählten Grundprinzipien entspricht:

1. Jeder genießt so weitgehende Freiheit wie diese mit gleichen Freiheitsrechten anderer verträglich ist.

2. Soziale und ökonomische Ungleichheiten sind nur akzeptabel, soweit sie den Interessen insbesondere der am schlechtesten Gestellten dienen und an Positionen geknüpft sind, zu denen jedermann freien Zugang hat. Daraus lassen sich die bürgerlichen Freiheitsrechte (Recht auf Redefreiheit, Gewissensfreiheit, auf fairen Prozeß …) und ökonomische Teilnahmerechte als Recht auf gleiche Zugangschancen in einem offenen Marktmodell ableiten. Eine ergänzende wohlfahrtstaatliche Absicherung für Notfälle folgt aus dem Wissen, daß Schicksalsschläge nie auszuschließen sind, und gründet in dem vorrangigen Gut der Selbstachtung, zu dessen Minimalerfordernissen auch menschenwürdige Lebensbedingungen zählen.

Westliche Momente im Menschenrechtsdenken

Was ist westlich, was ist universell am Begründungsmodus und an den Inhalten der Menschrechtsforderungen?

Rawls' Modell ist Ergebnis eines »Überlegungsgleichgewichts«: Der systematische Anspruch auf innere Konsistenz der Prinzipien und daraus abgeleiteter Normen auf der einen und ein alltagsweltlich verankertes intuitives Moralverständnis auf der anderen Seite korrigieren einander wechselseitig. Dieser Prozeß spiegelt ein spezifisch modernes konstruktiv-rekonstruktives Moralverständnis wider. Dem »natürlichen« Moralverständnis hingegen gilt die »moralische Realität« als objektiv gegeben: Moralische Gebote werden danach nicht geschaffen, sondern – „wie die Gesetze der Physik“ (Dworkin, 1984, S. 267) – entdeckt oder von den Göttern offenbart.

Nicht nur diese reflexive Haltung – als Produkt von Religionskriegen (vgl. Rawls, 1993) und Aufklärung – auch die inhaltlichen Grundannahmen sind westlich-modern: die Annahme einer vorgängigen Gleichheit aller Menschen; die Fokussierung auf das Individuum; die Ableitung von Rechten aus rational ausweisbaren Interessen. Das Gleichheitsprinzip ist konstitutiv für die Moderne. Sofern Gleichheit die einfachste Verteilungsform darstellt, ist nicht die Gleichheit selbst sondern jegliche Abweichung von der Gleichheit rechtfertigungspflichtig (vgl. Tugendhat, 1993). Abweichungen aber sind – in nachmetaphysischer Zeit – nicht länger unter Rekurs auf Gottes Schöpferwillen begründbar. Auch der Vorrang des Individuums vor der Gemeinschaft und der Rechte vor den Pflichten, wie er in der Vertragskonstruktion, in der jeder einzelne ein Vetorecht genießt (vgl. Dworkin, 1984, S. 280 ff.), zum Ausdruck kommt, ist Korrelat des Säkularisierungsprozesses: Wenn keiner transzendenten Instanz mehr Rechenschaft geschuldet ist, können nur Menschen selbst einander Pflichten auferlegen, die sie nur soweit binden, wie alle dies wollen können. Gehorsam gegenüber jenseitigen Mächten, Einordnungsbereitschaft in vorgängig gestiftete Welt- oder Gesellschaftsordnungen können nicht länger mehr einen Eigenwert beanspruchen.

Kritik am Menschenrechts- Denken aus traditionaler Sicht

Religiös orientierten Kulturen entsprechen andere Weltdeutungen und Moralvorstellungen. Im Hinduismus etwa stehen nicht das Individuum und dessen Freiheit, Würde und Rechte im Zentrum, sondern die organische Einheit des Kosmos (vgl. D'Sa, 1991). Als Leib Gottes hat dieser Kosmos eigene Rechtsansprüche, aus denen dem Menschen Pflichten (gegen die Götter, die Elemente, die Ahnen, die geistigen Traditionen, die Mitmenschen) erwachsen. Die westliche Selbsterfahrung des Individuums als abgetrenntes und vereinzeltes »Ich« gilt diesem Denken als falsches, als zu überwindendes Bewußtsein.

Auch aus »afrikanischer Sicht« (Bujo, 1991) ist der Vorrang des Individuums vor der Gemeinschaft und die Betonung von Freiheit und Selbstbestimmung nicht akzeptabel. Bestimmte Menschenrechts-Forderungen, etwa das Recht des Individuums auf Eigentum, das Recht der Eltern, die Erziehung ihrer Kinder allein zu bestimmen, das Recht auf selbstbestimmte Partnerwahl, finden in der sozialen Organisation Afrikas keine Entsprechung: Die Nutzung des Eigentums, die Erziehung der Kinder, die Eheschließung sind Angelegenheiten, die alle betreffen und nur „durch die Verständigung mit der Sippengemeinschaft einschließlich der Ahnen“ (Bujo, 1991, S. 221) geregelt werden können.

Zum Diskurs zwischen den Kulturen

Ein Ableitungsmodus, der seinen Ausgang von den Interessen und Bedürfnissen der Individuen (und nicht von den Ansprüchen der sozialen Gemeinschaft, der Götter oder der Natur) nimmt und der Rechte (und nicht Pflichten) ins Zentrum stellt, ist westlich-modern. Folgt daraus, daß ein Plädoyer für im Westen entwickelte Menschenrechts-Vorstellungen »imperialistisch« ist?

Zunächst ist festzuhalten, daß zu den eigenen moralischen Überzeugungen allein die erklärende Haltung eines neutralen Beobachters einzu nehmen selbst widersprüchlich ist. Das Erheben eines Richtigkeits- oder zumindest eines Rechtfertigbarkeitsanspruchs ist konstitutiv für die Bedeutung von Werturteilen. Für die eigenen Anschauungen eintreten kann nicht, wer sie als bloß extern indoktriniert versteht, sondern nur, wer Gründe für ihre Berechtigung zu haben glaubt. An den Werten und Prinzipien der Aufklärung können wir nur festhalten, soweit wir die eigene historische Entwicklung als Lernprozeß begreifen und folglich die eigenen Urteile als Einsichten verstehen, an denen wir mit Gründen festhalten. Mit dieser Einstellung ist das Wissen darum, daß der eigene Lernprozeß historisch-geographisch kontingent situiert ist und andere Erfahrungen möglicherweise andere Konsequenzen nahegelegt hätten, durchaus kompatibel. Nicht möglich hingegen ist Selbstobjektivierung im Sinne einer vollständigen Reduzierung der eigenen Urteile auf deren Entstehungsbedingungen. So zu verfahren hieße, einen „performativen Selbstwiderspruch“ (Apel, 1988; Habermas, 1983) begehen, also theoretisch vertreten, was praktisch nicht lebbar ist. Im alltäglichen Lebensvollzug nämlich können wir nicht anders als die Gültigkeit der unsere Praxis fundierenden Normen zu unterstellen. In der Empörung etwa über erlittenes oder beobachtetes Unrecht spiegelt sich ein Anspruch auf faire Behandlung, der als berechtigt (und keineswegs allein kontingenten Sozialisationserfahrungen geschuldet) erlebt wird. Emotionen wie Schuld, Reue, Empörung, die das Für-berechtigt-Halten verletzter normativer Erwartungen widerspiegeln, sind unhintergehbarer Teil der menschlichen Lebensform (vgl. Strawson, 1978).

Will man die genannten Aspekte zusammendenken – die Gewißheit, den eigenen Wertungen mit Gründen verpflichtet zu sein, mit dem Wissen um deren historische Vermitteltheit und der Einsicht, daß andere aufgrund anderer Erfahrungen zu anderen Wertungen gekommen sind –, so zeigt sich nur ein Ausweg: der Dialog. Im verstehenden Nachvollzug der Gründe anderer gilt es zu prüfen, ob unterschiedliche Wertungen nebeneinander bestehen bleiben können, bzw. im Falle des Ausschlusses, ob die eigenen Überzeugungen den Einwendungen standhalten oder zu revidieren sind. Denn – solange die Geschichte noch nicht an ihr Ende gekommen ist – muß der Dialog auch für eigene Lernprozesse offen sein. Dieser Sachverhalt ist zwar komplex – aus der Entwicklung der Wissenschaftsgeschichte aber ist uns das Zusammendenken von begründeter Gewißheit mit der Vorläufigkeitsvermutung und prinzipieller Revisionsbereitschaft längst vertraut. So halten wir an unserer Überzeugung, daß die Erde eine Kugel sei, fest, wiewohl wir wissen, daß man sie früher für eine flache Scheibe hielt und unsere späte Geburt und damit unser Zugang zu neueren physikalischen Erkenntnissen völlig kontingent ist.

Auch haben wir erlebt, daß physikalische Theorien in der Auseinandersetzung mit neuen Daten und Interpretationen zurückgewiesen, revidiert oder in umfassendere Deutungssysteme integriert wurden. So verstehen wir Theoriebildung als unabschließbar offen für Lernprozesse. Lernen aber ist nur dem möglich, der sachorientiert an seinen eigenen Überzeugungen solange festhält, bis er eines Besseren belehrt wurde. Analog gilt für Moral: Wir können unsere Basisannahmen (Gleichheit, Individualrechte), die im Vertragsmodell weniger begründet, als vielmehr nur expliziert werden, nicht als zufällig evolvierte Normierungen bloß beobachten – wir müssen sie als für unser eigenes Selbstverständnis konstitutiv verstehen. Indem wir uns dennoch auf einen Dialog einlassen, und zwar ohne auf die absolute Irrtumsfreiheit der eigenen Orientierungen zu pochen, sondern mit der Bereitschaft zu lernen, praktizieren wir das konstruktive Moralverständnis, das dem Rawls'schen Konzept des Überlegungsgleichgewichts entspricht. Und indem wir die Gründe des anderen als Gründe zu verstehen und nur mit Gründen entweder zu akzeptieren oder zurückzuweisen suchen, behandeln und achten wir ihn als gleich und realisieren also das grundlegendste »moderne« Moralprinzip der Egalität.

Eine solch egalitäre Dialogbereitschaft ist die klare Gegenposition zu der im Westen vielfach propagierten objektivierend-relativistischen Haltung gegenüber den eigenen Vorstellungen bei einer gleichzeitig unhinterfragt-kritiklosen Akzeptanz fremder Traditionen: Im Namen eines mißverstandenen Toleranzgebotes und unter völligem Verzicht auf Begründungsansprüche unterläuft diese Haltung die eigene und verabsolutiert die fremde Position. Sie ist amoralisch: Sofern wir den anderen nicht befragen, verweigern wir ihm die Anerkennung als Subjekt, das mit Gründen zu seinen Urteilen steht – und sofern wir uns selbst als Produkt unserer Geschichte bloß begreifen, sprechen wir auch uns den Subjektstatus ab. Zugleich ist diese Haltung naiv: Sie verkennt, daß es eine »natürliche« Moral in einer Welt, die durch Verkehr, Medien und Märkte zu einem einzigen Kommunikationszusammenhang geworden ist, nicht mehr gibt. Konstitutiv für traditionale Kulturen war die Absolutsetzung der eigenen Weltanschauung: Als einzig bekannte, als einzig vorstellbare konnte sie als perspektivische Weltsicht nicht erkannt, sondern mußte als objektive Realitätsspiegelung verstanden werden. Angesichts der unausweichlichen Erfahrung der Vielfalt menschlicher Kulturen aber ist heute jeglicher Rückgriff auf Traditionen ein bewußt reflektierter Akt und als solcher notwendig auf die Prüfung der Geltungsfragen verwiesen.

Die reflexive Haltung zur Moral also ist zwar zunächst säkular; aufgrund faktisch voranschreitender Globalisierungsprozesse wird sie aber zunehmend auch traditionalen Kulturen aufgenötigt. Damit wird – angesichts der vorfindlichen Normenvielfalt – auch das zentrale inhaltliche Grundprinzip eines säkularen Moralverständnisses, nämlich die in einem offenen Lernprozeß notwendig zu unterstellende Gleichachtung von gut begründeten Interessen und Bedürfnissen, für alle Kulturen verbindlich.

Verallgemeinerungsfähige Interessen

Welchen der westlichen Menschenrechts-Forderungen nun liegen verallgemeinerungsfähige Interessen zugrunde? Die negativen Pflichten sind direkt aus unbestreitbar universellen Merkmalen – der Verletzlichkeit und Verletzungsfähigkeit – abgeleitet. Damit kann ein Interesse an Regeln, die Verletzungen zu unterlassen gebieten, als universell gelten. Solchen Regeln allerdings wird man nur eine prima facie Geltung zuschreiben wollen, denn nicht blinder Regelgehorsam als Selbstzweck ist im unparteilichen Interesse aller, sondern Schadensvermeidung. Ausnahmen also werden als rechtfertigbar gelten können, wenn nur so (unparteilich beurteilter) größerer Schaden verhütbar ist. Dabei gilt es allerdings zu bedenken, daß Schaden nicht nur Leib und Leben, sondern auch die Selbstachtung einer Person oder spezifische Wertbindungen betreffen mag. Was nun in jedem konkreten Einzelfall als größerer Schaden gilt, darüber ist Konsens nicht zwingend erzielbar. Empirische Prognosen über wahrscheinliche Folgen sind mit Unsicherheiten behaftet, und Philosophen, Individuen und Kulturen differieren in der Bewertung unterschiedlicher Folgen. Für manche wiegt der Verlust der Ehre, für andere der des Lebens schwerer; für manche zählen zwischenmenschliche oder doch nur innerweltliche Schädigungen allein, andere stellen auch transzendente Schadensfolgen (etwa für die Ahnen oder die Götter) in Rechnung.

Auch positive Pflichten sind aus einem universellen Merkmal abgeleitet: der Angewiesenheit auf soziale Kooperationszusammenhänge. Daraus ergibt sich, daß die Regel, jeder solle prima facie (d.h. in einer weitgehend wohlgeordneten Gesellschaft) »seine Pflicht« tun, universelle Gültigkeit hat, da sie in jedermanns Interesse ist. Allerdings ist dies nur ein formales Universale: Welche konkreten Pflichten es jeweils zu erfüllen gilt, variiert zwischen Positionen, Kulturen und Zeiten – in Abhängigkeit von der spezifischen Gestaltung der Kooperationsbeziehungen und Institutionen. Die Struktur der formalen Regel ist analog zum Versprechen zu verstehen. Prima facie sind Versprechen zu halten – dies ist universell. Was aber konkret zu tun ist, hängt davon ab, was versprochen wurde – dies also ist variabel.

Aus diesen Überlegungen läßt sich ein Kontinuum ableiten: Es gibt Handlungen, die universell als unmoralisch gelten: Einen anderen aus Eigennutz zu töten, zu bestehlen oder zu belügen oder die eigenen Pflichten nicht zu erfüllen, wird in allen Kulturen als verwerflich erachtet. Solche Handlungen verletzen universelle minimale Funktionserfordernisse von Gesellschaften. Es gibt jedoch einen breiten Dissensbereich: sowohl was moralisch relevante Folgebewertungen für die Rechtfertigung von Ausnahmen von negativen Pflichten wie auch, was die konkrete Bestimmung von Rollen und Rollenverpflichtungen anlangt. In diesem Dissensbereich gibt es – auch aus westlicher Sicht – legitime Grauzonen: Differenzen etwa in der Bewertung innerweltlicher Folgen sind gemäß unserem pluralistischen Selbstverständnis unvermeidlich. Auch bei der Gestaltung sozialer Kooperationsbeziehungen mag der »legitime Grauzonenbereich« weiter gesteckt sein, als bislang zugestanden war: in Fragen der Eigentumsordnung, Ehestiftung und Kinderaufzucht gibt es sehr wohl funktionale Äquivalente zu unseren eigenen Institutionen, die der Würde der Person keinen Abbruch tun (beispielsweise die oben zitierte Kollektivverantwortung der Sippe für das Kindswohl). Anders verhält es sich mit Übertretungen negativer Pflichten (d.h. direkte Schädigungen einzelner Personen), die durch Verweis auf bloße Überlieferungen, auf ein unterstelltes Gemeinwohl, auf Ahnen oder Götter gerechtfertigt werden. Die Aufforderung, den zu töten, der die Götter lästert, die Praxis, Frauen zu beschneiden oder Witwen zu verbrennen, sind Beispiele für solche kulturellen Praktiken, die dem Menschenrechts-Denken unversöhnlich zuwiderlaufen und die für uns – umso mehr als wir ähnliche Praktiken (etwa Ketzerverbrennungen) aus unserer eigenen, aber eben in dieser Hinsicht überholten Geschichte kennen – absolut unakzeptabel sind.

Wie ist mit Menschenrechts-Verletzungen im interkulturellen Kontakt umzugehen? Prima facie ist jede Verletzung eines anderen unzulässig. Über mögliche Gründe, eine Übertretung dieses Gebotes zu akzeptieren, will der Betroffene aber selbst bestimmen. Gibt es interkulturelle Differenzen in der relativen Gewichtung von Schädigungen, weil innerweltliche Kosten unter Rekurs auf übernatürliche Verpflichtungen oder Kompensationen in Kauf genommen werden, gilt es in Diskurse einzutreten. Weder die Existenz noch die Nicht-Existenz transzendenter Mächte ist zwingend beweisbar und nur die Betroffenen selbst können gegebenenfalls Implikationen ihrer Glaubensüberzeugungen revidieren (etwa indem sie – wie dies in der jüdisch-christlichen Tradition geschah – auch Gott unter die Geltung einer moralischen Ordnung stellen: ein guter Gott kann nicht wollen, daß in seinem Namen Leid zugefügt wird). Wird die Unverletzlichkeit der Person jedoch im Interesse der Machterhaltung herrschender Eliten mißachtet (Folterungen, Willkürverhaftungen, Hinrichtungen) bzw. werden Glaubensbereitschaften strategisch gesteuert, so sind (zumindest) Anklage vor der Weltöffentlichkeit, Entzug von Unterstützungen für die Regierungen, Asylbereitstellung für Verfolgte, Diskursangebote für ideologisierte Bevölkerungsgruppen geboten.

Zur inhaltlichen Reichweite der Menschenrechte

Die Entwicklung des Menschenrechts-Denkens läßt sich als Abfolge unterschiedlicher Agenden begreifen, die in der europäischen Geschichte von jeweils neuen Trägerschichten erkämpft wurden. Galtung (1994, S. 223ff.) skizziert »Generationen« von Forderungen: Die erste verdankt sich der Durchsetzung des Bürgertums, das „Rechte und Freiheiten für jedermann“ forderte (»blaue Rechte« – als Abwehr von Staatseingriffen). Dabei wurde nicht gesehen, daß auch der Kapitalismus Unfreiheiten erzeugt, gegen die dann die Arbeiterklasse ökonomische und soziale Teilhaberechte (»rote Rechte« – als Einforderung von Staatsleistungen) einklagte. So evolvierte der »sozialdemokratisch-technokratische Kompromiß«, gegen den nun „Frauen, Kinder, die Natur“, „nicht-westliche Länder“, die »Solidaritätsrechte« (»grüne Rechte« – auf Entwicklung, saubere Umwelt, Frieden) einfordern. Diese dritte Generation läßt sich allerdings vielleicht auch nur als Einklage der blauen und roten Forderungen im Weltkontext deuten (so auch Galtung, 1994, S. 166). Die bislang diskutierte Frage der Universalisierbarkeit betraf vor allem die negativen Freiheitsrechte, deren universelle (zumindest prima facie) Geltung auf der unproblematischen Grundannahme basiert, daß niemand »ohne guten Grund« geschädigt oder verletzt werden möchte.

Schwieriger ist die Begründung positiver Rechte. Zweifellos bedarf die Nutzung von Freiheitsrechten einer materiellen Basis. Zweifellos ist die Welt nicht im Rawls'schen Sinne »wohlgeordnet«: Hungernde und Verhungernde (grobgeschätzt leiden etwa 400 Millionen Menschen starken Mangel und sterben jährlich etwa 14 Millionen Kinder unter 15 Jahren an Unterernährung und damit verbundenen Infektionen) stehen überernährten Völkern gegenüber – die Durchsetzung »roter Rechte« zwischen den Nationen, d.h. eine gerechtere Verteilung von Ressourcen, steht offensichtlich noch aus. Die theoretische Frage lautet: Wie können (Wohlfahrts-)Interessen (das Interesse an Bildung und Erziehung, Arbeit und Gesundheitsversorgung, Absicherung gegen Daseinsrisiken) (Wohlfahrts-)Rechte begründen?

Eine direkte Ableitung positiver Rechte schlägt Tugendhat (1992) vor. Autonomie, Nicht-Abhängigkeit, Freiheit sind der Kern des Menschenrechts-Gedankens (1992, S. 353). Freiheit aber (im Sinne der Libertarians) allein als Abwesenheit von Zwang zu verstehen, wäre verkürzt. Freiheit bedeutet, wählen zu können, und dies erfordert Möglichkeiten und Fähigkeiten. Da Unfreiheit ein Übel ist, und zwar ganz unabhängig davon, ob sie äußerem Zwang, mangelnden Ressourcen oder begrenzten Fähigkeiten geschuldet ist (S. 359), folgt aus der Logik des Menschenrechts-Denkens, daß die Bedingungen für eine menschenwürdige Lebensführung zu sichern sind: Wohlfahrtsleistungen also seien nicht als gewährte Gnadenakte, sondern als Erfüllung von Rechtsansprüchen (S. 367) zu begreifen; diese gelte es verfassungsmäßig zu verankern (S. 370), sofern sie ebenso fundamental sind wie die negativen Freiheitsrechte.

Eine solche rein moralphilosophische Deduktion allerdings unterschätzt, so meine ich, die Bedeutung auch bloß pragmatischer Gesichtspunkte. Zunächst ist zu bedenken, daß Rechte und Pflichten komplementär sind: Meinem Recht auf einen Arbeitsplatz bzw. ein garantiertes Minimumeinkommen entspricht eine kollektive Pflicht, Arbeitsplätze bereitzustellen bzw. Mittel einzutreiben. Schon innerhalb eines einzelnen Staatswesens können dabei Probleme auftreten: Gemäß dem Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen – darauf verweist Galtung (1994, S. 155 f.) – wird ab einem bestimmten Punkt der Bedürfnisbefriedigung eine Phase rapide abnehmender Nützlichkeit erreicht. Konkret: Wachsende Finanzvolumina im Staatshaushalt (insbesondere auch wegen damit verbundener Steigerungen von Zentralisierung, Bürokratisierung und Kontrollaufwand) mögen zunehmend verringerte Nutzeffekte erbringen und zugleich u.U. neue Folgekosten aufwerfen: In dem Maße, in dem wachsende Anteile individueller Wohlfahrt nicht mehr dem Spiel der freien Marktkräfte, sondern staatlichem Entscheidungshandeln geschuldet sind (vgl. Elster, 1992), wird der Staat zum Adressat von Wohlfahrtsansprüchen. Berücksichtigung aber werden nur als Stimmblöcke (pressure groups) organisierbare Interessen finden. Im Zuge dieser Entwicklung – so Lenhardt (1990) – läßt sich beobachten, daß politische Konfliktlinien zunehmend häufiger entlang zugeschriebener Merkmale (z.B. ethnische Zugehörigkeiten, religiöse Mitgliedschaften oder Geschlechtszugehörigkeit) verlaufen. Der Grund dafür dürfte in der leichteren Mobilisierbarkeit solcher Gruppierungen liegen – Zumutungen aus »angeborenen« Identitäten kann sich einer kaum entziehen (vgl. dazu ausführlicher Nunner-Winkler, 1994). Im internationalen Kontext dürften sich diese Probleme eher verschärfen. Insbesondere die dem Rechtsdenken inhärierende Zentralisierung und Hierarchisierung von Versorgungsleistungen steigert Korrumpierungsgefahren: Wer kontrolliert die Kontrolleure – das ist das Problem.

Grundlegender aber ist die Frage, inwieweit überhaupt die Bereitstellung von Arbeitsplätzen und (über Nothilfe hinausgehenden) materiellen Versorgungsleistungen zentralstaatlicher Planung anheimstellbar ist. Rawls` Klassifikation von Gerechtigkeitsproblemen ist klärend. Rawls spricht von »vollkommener Verfahrensgerechtigkeit«, wenn sowohl ein Kriterium wie ein Verfahren vorliegt. Geht es etwa darum, einen Kuchen unter zweien gleich aufzuteilen, gibt es sowohl ein verfahrensunabhängiges Kriterium (exakte Mengengleichheit der beiden Portionen) wie auch eine praktikable Prozedur (einer teilt, der andere wählt). »Unvollkommene Verfahrensgerechtigkeit« liegt vor, wenn es zwar ein Kriterium aber kein sicheres Verfahren gibt. Bei Gerichtsverhandlungen etwa ist das Kriterium klar (nur Schuldige sind zu verurteilen), die Verfahren (Verhöre, Indizienermittlung, Zeugenaussagen, etc.) garantieren gerechte Urteile jedoch keineswegs zuverlässig. Schließlich gibt es »reine Verfahrensgerechtigkeit«: Das Verfahren liegt vor, aber es gibt kein unabhängiges Kriterium. Die Gewinnverteilung beim Lotteriespiel etwa ist genau dann gerecht, wenn das Verfahren korrekt durchgeführt wurde – ein anderes Kriterium gibt es nicht. In liberalen Demokratien ist nun – so Rawls – das Problem einer »gerechten« Verteilung volkswirtschaftlich produzierter Güter bzw. vorhandener Positionen eine Frage der »reinen Verfahrensgerechtigkeit«. Es gibt kein vorgängiges Kriterium, das gerecht festzulegen erlaubte, wer welche Aufgaben übernehmen und wieviel an Entlohnung erhalten sollte. (Ständisch geordnete Gesellschaften verfügten noch über solche Kriterien: Die Geburt bestimmte die Zuweisung von Positionen, die Norm der standesgemäßen Lebensführung die Zuteilung von Gütern und Dienstleistungen). In modernen Marktgesellschaften also lassen sich Gerechtigkeitsbewertungen nicht am Ergebnis, sondern allein am Verfahren bemessen. Rawls benennt zwei Kriterien der Verfahrensgerechtigkeit: Chancengleichheit (d.h. Vermeidung von Diskriminierungen aufgrund angeborener Merkmale) und das Postulat, Ungleichverteilung nur insoweit in Kauf zu nehmen, als sie aus der Perspektive der am schlechtesten Gestellten zustimmungsfähig ist. Ungleichheit ist also nur akzeptabel, soweit sie die Effizienz steigert und davon insbesondere die Unterprivilegierten profitieren, die sich von einem durch Leistungsanreize bewirkten Anwachsen des Gesamtkuchens mehr als von weiteren Umverteilungsmaßnahmen (egalitäreres Aufteilen eines kleineren Kuchens) versprechen. In der »reinen Verfahrensgerechtigkeit« also sind Effizienz- und Gerechtigkeitsgesichtspunkte zusammengedacht. Diese Konzeptualisierung wird der Komplexität von Wirtschaftskreisläufen und der Schwierigkeit planwirtschaftlicher Steuerungen eher »gerecht« als moralphilosophisch deduzierte Postulate.

Eine solche systemorientierte Blickrichtung vermag auch einem anderen (insbesondere von Galtung vorgetragenen) Einwand eher Rechnung zu tragen. Als Individualrechtstheorie impliziert das Menschenrechts-Denken eine Akteursperspektive: In den Blick kommen Individuen, Gruppen, Organisationen, Staaten sowie deren Absichten und deren (als Ereignisse konzeptualisierte) Handlungen. Die Strukturperspektive hingegen fehlt. Permanente Zustände wie Repression, der langsame Transfer von Reichtum (Ausbeutung), ein allmählicher Tod durch Verhungern sind in diesem Bezugsrahmen kaum zu fassen. Militärische Aggression ist der Prototyp gut kritisierbarer Menschenrechts-Verletzungen: Einer/mehrere böse Handelnde begehen absichtlich Untaten (z.B. die Bombardierung einer Stadt, die Invasion eines anderen Landes). Ökonomische Aggression hingegen ist kaum anklagbar. Sie ist Teil der Struktur der internationalen Arbeitsteilung, bei der das Zentrum der Peripherie die Bedingungen diktiert und so – ohne daß irgendwo böse Absichten einzelner Akteure dingfest zu machen wären – zwei Teilnehmerklassen der Weltgesellschaft produziert: die im Zentrum stehen und die durch das Zentrum an den Rand gedrängt werden. Selbst wenn mit den multinationalen Konzernen zunehmend wieder Akteure ins Spiel kommen, deren internationale Vertragsabschlüsse gegebenenfalls nach Gerechtskeitsgesichtspunkten überprüfbar wären, bleibt das Grundproblem ungelöst. Denn zwar mag so ein Gleichgewicht nationaler Interessen herstellbar sein – eine Befriedigung der Interessen von Akteuren niederer Ebenen muß dies aber keineswegs beinhalten. Die Elite eines Entwicklungslandes etwa mag die Ressourcen ihres Landes zu einem »marktgerechten« Preis veräußern, nur um den Erlös dann in eigene Luxusbedürfnisse zu stecken, ohne sich im geringsten um die Befriedigung der Grundbedürfnisse ihrer Einwohner zu bekümmern.

Um kurz zusammenzufassen: Angesichts der Komplexität sozialer Systeme und der Bedeutsamkeit von Effizienzkriterien für wirtschaftliches Handeln ist fraglich, ob das Einklagen positiver Rechte (auf Arbeit, Einkommen) bei bürokratisch organisierten zentralen Instanzen (Staat, UNO), praktikabel ist. Es scheint angemessener, ungerechte Verfahren zu bekämpfen, als bestimmte Ergebnisse einzuklagen. Ungerecht etwa sind Formen der Arbeitsorganisation, bei denen junge gesunde Arbeitskräfte, deren Aufzucht- und Altersversorgungskosten tradierten Netzwerken angelastet werden, für einige Jahre kaserniert und billigst entlohnt werden (vgl. Fröbel, Heinrichs & Kreye, 1977). Für den Verzicht auf illegitime Bereicherung (die Bezahlung entspricht nicht einmal den notwendigen Reproduktionskosten der Arbeitskraft) ist zudem universelle Verbindlichkeit leichter einsichtig zu machen als für positive Unterstützungsleistungen. Was ansteht, ist die Erfindung und Durchsetzung von Regelungen, die eine Strukturtransformation in den internationalen Austauschverhältnissen einleiten und den Abbau von Ausbeutung vorantreiben. Dies wäre ohnedies im wohlverstandenen langfristigen Eigeninteresse der priviligierten Länder: Weltweite Wirtschaftsmigrationen, gegen die die Industrieländer sich mit Polizei und Stacheldraht zu schützen suchen, sind nur ein erstes – und möglicherweise ein auch nur vorerst noch gewaltfreies – Anzeichen dafür, daß für eine gerechtere Ordnung der Weltgesellschaft insgesamt zu sorgen ein Gebot der Stunde ist.

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Gertrud Nunner-Winkler ist Privatdozentin für Soziologie an der Universität München und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für psychologische Forschung.