Massive Einschränkung von Bürgerrechten

Massive Einschränkung von Bürgerrechten

von Dirk Eckert

Nicht nur in den USA wurden nach dem 11. September die Sicherheitsmaßnahmen drastisch verschärft, auch in Deutschland hat die rot-grüne Bundesregierung zwei »Sicherheitspakete« verabschiedet, die angeblich dem Schutz vor terroristischen Angriffen dienen sollen. Doch sowohl der Zeitpunkt wie die Maßnahmen selber lassen vermuten, dass hier längst erarbeitete Pläne aus der Schublade gezogen und unter dem Label »Terrorismusbekämpfung« präsentiert wurden. Ein Jahr nach den Verbrechen vom 11. September steht fest: Grund- und Bürgerrechte sind massiv eingeschränkt worden.
Mit den beiden Sicherheitspaketen von Innenminister Otto Schily (SPD) wurden rund 100 bestehende Gesetze novelliert.1 Unter das sogenannte erste Sicherheitspaket2 fallen etwa die bessere Überprüfung von Mitarbeitern von Flughäfen und Fluglinien, zu der auch Material der Geheimdienste und des Ausländerzentralregisters herangezogen werden soll, oder die Abschaffung des Religionsprivilegs, mit dem religiöse Vereine anderen nichtreligiösen Vereinen gleichgestellt wurden.

Das erste Sicherheitspaket beinhaltete auch einen schärferen Umgang mit Ausländerinnen und Ausländern. So werden von Ausländern bei der Erteilung von Visa grundsätzlich Fingerabdrücke genommen, bei Zuwanderung soll grundsätzlich eine Anfrage beim Verfassungsschutz eingeholt werden müssen. Straffällig gewordene Ausländer sollen, wenn sie aus humanitären Gründen nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden können, in Drittländer ausgewiesen werden.

Darüber hinaus wurde ein neuer Paragraph 129b im Strafgesetzbuch eingeführt. 129a stellt die Bildung einer terroristischen Vereinigungen unter Strafe. Dass Mord, Totschlag und andere Verbrechen auch ohne diesen Paragraphen bestraft werden können, verweist auf seine politische Funktion. Der neue Paragraph 129b bezieht Vereinigungen mit ein, die ausschließlich im Ausland aktiv sind.

Die Durchsetzung des Paketes erfolgte schnell und ohne große Widerstände – bis auf die Rasterfahndung. Mit ihr wurde eine ganze Bevölkerungsgruppe unter Verdacht genommen. Gesucht wurde nach Kriterien wie männlich, islamisch, arabisch, studierend und finanziell unabhängig. Auch Reisetätigkeit und Flugausbildung zählten zu den gesuchten Merkmalen.3 Zweifel an der Effektivität wurden schnell laut. Kein Wunder, hatten sich doch die Attentäter vom 11. September, die in Hamburg jahrelang studiert hatten, ordentlich angemeldet, ihre Miete gezahlt und sich weitgehend »unauffällig« verhalten. Die RAF-Mitglieder in den 70ern, bei denen die Rasterfahndung erstmals angewandt wurde, lebten dagegen illegal, sie zahlten Miete und Stromrechnung bar.

„Die aktuelle Terrorismusdebatte zeigt, dass insbesondere aus dem kurzfristigen Handlungszwang, dem die Politik sich ausgesetzt sieht, sehr schnell zu solchen Instrumenten gegriffen wird, zu denen Erfahrungswerte vorliegen“, so der Arbeitskreis Innere Sicherheit. „So sind viele der Instrumente, die jetzt gegen den internationalen und islamistischen Terrorismus eingesetzt werden, der RAF-Terroristenverfolgung aus den 70er Jahren entlehnt. Diese Erfahrungen lassen sich aber nicht übertragen. Tätermotive, Täterprofile, Täterdenkweisen und Tatstrukturen unterscheiden sich grundlegend voneinander.“4

In einigen Bundesländer, darunter Berlin und Hessen, stoppten Gerichte die Rasterfahndung. Begründet wurde das damit, dass – wie auch die Bundesregierung immer wieder betont hat – eine konkrete Gefährdung nicht bestehe und somit die Grundlage für die Rasterfahndung nicht gegeben sei. „Die Antragsbegründung ist auf Vermutungen gestützt. Trotz monatelanger intensiver Fahndungen ist der Antragsteller mit seinem Vorbringen über das Stadium von Mutmaßungen nicht hinausgekommen“, so das Landesgericht Wiesbaden, das die Rasterfahndung in Hessen beendete. In Nordrhein-Westfalen war die Sammelwut der Behörden besonders groß: Dort wurden die Daten aller Männer im Alter zwischen 18 und 41 gerastert. Das Oberlandesgericht Düsseldorf beanstandete diese Praxis, erlaubte aber die Rasterfahndung bei ausländischen Studierenden.5

Sicherheitspaket II

Das zweite Sicherheitspaket wurde kritischer diskutiert. Laut erstem Entwurf hätte das Bundeskriminalamt (BKA) ohne Anfangsverdacht gegen alle und jeden ermitteln können. Das Bundesjustizministerium legte jedoch Protest ein, ebenso der Deutsche Richterbund, die Bundesanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein, die Strafverteidigerverbände, zahlreiche Bürgerrechtsorganisationen und der Bundesdatenschutzbeauftragte. Letztlich musste Schily dieses Vorhaben auf Druck des grünen Koalitionspartners zurücknehmen.6

Das endgültige Anti-Terror-Paket7 verabschiedete das Bundeskabinett am 7. November 2001. Die Gewinner der Gesetzesnovellen sind das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Geheimdienste, deren Abhörbefugnisse ausgedehnt wurden, unter anderem auf Luftfahrtunternehmen. Auch die BKA-Befugnisse wurden ausgeweitet, jetzt darf das Amt bspw. bei Angriffen auf »kritische Infrastruktur« tätig werden.8 Personenbezogene Daten können zwischen Bundeskriminalamt, Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst leichter ausgetauscht werden, wodurch die Trennung von Polizei und Geheimdiensten aufgeweicht wird.9

Wieder waren die Maßnahmen so umfangreich, dass etwa der Berliner Datenschutzbeauftragte Hansjürgen Garstka feststellen musste, dass ein „wesentlicher“ Teil „mit der aktuellen Situation der Terrorismusbekämpfung nichts zu tun“ hat. Garstka nannte als Beispiel die Aufnahme biometrischer Merkmale in Pässe und Personalausweise.10 Die Attentäter des 11. September hatten bekanntlich nicht mit falschen Ausweispapieren agiert. Offenbar handelte es sich um einen Wunschzettel der Sicherheitsbehörden, der mit den Anschlägen des 11. September wenig zu tun hatte.

Biometrische Merkmale in Pässen können grundsätzlich zur Verifikation oder Identifikation benutzt werden. Bei ersterem wird überprüft, ob Pass und Passbesitzer identisch sind. Für letzteres müsste eine Datenbank aufgebaut werden, um aus einer Menge von Menschen etwa einen gesuchten Terroristen herausfiltern zu können. Doch soweit kam es nicht: Schily hat in letzter Minute klargestellt, dass keine Zentraldatei mit allen biometrischen Merkmalen aufgebaut wird.

Neben der Aufnahme biometrischer Daten in Pässe und der Ausweitungen der Kompetenzen der Geheimdienste sollen auch Sicherheitsüberprüfungen von Personen durchgeführt werden, die an einer „sicherheitsempfindlichen Stelle innerhalb von lebens- oder verteidigungswichtigen Einrichtungen“ arbeiten. Der Bundesgrenzschutzes kann bewaffnete Beamte als sog. Sky Marshalls in Flugzeugen einsetzen. Vereinsrecht und Ausländerrecht wurden ebenso verschärft wie die Asylverfahren. Durch Sprachaufzeichnungen soll künftig das Herkunftsland von Asylbewerbern genauer überprüft werden, identitätssichernde Merkmale wie Fingerabdrücke können zehn Jahre aufgehoben werden. Sicherheitsbehörden können verstärkt das Ausländerzentralregister nutzen, in dem die Daten von Migranten gespeichert sind.

Den Datenschutzbeauftragten von 13 Bundesländern – Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Schleswig-Holstein – erschien das Paket als „unter rechtsstaatlichen Aspekten nicht akzeptabel“ und „weit über das Ziel einer angemessenen und zielorientierten Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September“ hinausgehend. Besonders kritisierten sie die Vielzahl von ausländerrechtlichen Bestimmungen, mit denen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der nichtdeutschen Mitbürger eingegriffen werde.11

Bei der Abstimmung im Bundestag am 14. Dezember stimmten trotzdem nur FDP und PDS gegen das veränderte zweite Sicherheitspaket . Die Regierung hatte voher selbst übliche parlamentarische Gepflogenheiten umgangen, indem etwa ein dreißig Seiten starker Änderungsantrag erst einen Tag vor der Beratung an die Abgeordneten ausgeliefert wurde.

Folgen

Der Arbeitskreis Innere Sicherheit (AKIS) macht eine „Verzahnung von innerer und äußerer Sicherheit“ aus. „Der 11. September ist aber auch hier nicht Ursache, sondern hat eine Entwicklung bewusst werden lassen, die sich bereits seit Jahren abzeichnet.“12 Geschwächt wurde auch der Datenschutz. „Die Existenz wirksamen Datenschutzes kennzeichnet aber gerade den Rechtsstaat im Gegensatz zum totalitären Überwachungsstaat, der versucht, möglichst alles über seine Untertanen zu erfahren.“13 Hier hat sich das konservative Verständnis von der Rolle des Staates und der Bedeutung von Bürgerrechten durchgesetzt, nachdem die vom Staat »großzügigerweise gewährten Rechte« bei äußerer oder innerer Bedrohung sofort zurückgenommen werden müssen, da sie einer effektiven Bekämpfung der Bedrohung »im Wege stehen«.

„Mit der Abkehr vom Datenschutz gewinnt damit nicht nur ein längst überwunden geglaubtes Staatsverständnis des starken, von der Gesellschaft unabhängigen Staates wieder an Bedeutung, sondern zugleich werden auch andere rechtsstaatliche Prinzipien ausgehöhlt.“14 So führt die Aufweichung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zu einer Umkehr der Beweislast, so dass dem Einzelnen nicht mehr seine Schuld nachgewiesen werden muss, sondern vielmehr dieser seine Unschuld zu beweisen hat.

Besonders betroffen von den Gesetzesverschärfungen sind Migranten. „Eigentlich sind Ausländer in Deutschland keine Menschen mehr“, lautete der Befund von Jürgen Seifert, dem Bundesvorsitzenden der Humanistischen Union. Pro-Asyl-Referentin Marei Jelzer beklagte eine „Aufweichung des Asylgeheimnisses“ durch den»Otto-Katalog«, so die umgangssprachliche Bezeichnung der Anti-Terror-Gesetze. Die Möglichkeit einer Datenweitergabe bis zum Verfolgerstaat will sie nicht mehr ausschließen.15

Als nicht zur Terrorismusbekämpfung geeignet, nicht erforderlich und unverhältnismäßig kritisierten 14 Menschenrechtsorganisationen das zweite Sicherheitspaket: „Nicht dargelegt wird, warum die bisherigen Kompetenzen von Geheimdiensten, BGS, BKA und Länderpolizeien – die in den letzten Jahren schon massiv erweitert wurden – nicht ausreichen sollten. Vielmehr ist festzustellen, dass eine Reihe der beabsichtigten Gesetzesänderungen seit Jahren in den Schubladen der Sicherheitsbehörden lagen – und nunmehr unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung und der Instrumentalisierung der Ängste der Bevölkerung schnellstmöglich, ohne ausführliche, abwägende und das Grundgesetz achtende Diskussion verabschiedet werden sollen.“16

Anmerkungen

1) Vgl. Arbeitskreis Innere Sicherheit (AKIS), Zehn-Punkte-Erklärung des AKIS zur inneren Sicherheitspolitik, Marburg/Duisburg, 14.01.2002, http://www.ak-innere-sicherheit.de

2) Dokumentation: Das Sicherheitspaket I, http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,2044,OID111132_TYP3_THE289554,00.html

3) Vgl. Markus Deggerich: Was bringt die Rasterfahndung?, in: Spiegel Online, 3.10.2001, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,160482,00.html

4) Arbeitskreis Innere Sicherheit (AKIS), Zehn-Punkte-Erklärung des AKIS zur inneren Sicherheitspolitik, a.a.O.

5) Vgl. Wilhelm Achelpöhler: Rasterfahndung: Suchmaschine der Innenminister, in: ak – analyse & kritik, Nr. 460, 22.3.2002

6) Vgl. Stefan Krempl: Der neue Otto-Katalog ist da, in: Telepolis, 1.11.2001, http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/te/9955/1.html

7) Wortlaut unter http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/co/11056/1.html

8) Vgl. Krempl: Der neue Otto-Katalog ist da, a.a.O.

9) Generalverdacht gegen Muslime, in: ak – analyse & kritik, Nr. 455, 25.10.2001

10) Stefan Krempl: Schily wandelt auf den Spuren des Fürsten Metternich, in Telepolis, 1.12.2001, http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/te/11255/1.html

11) Florian Rötzer: Datenschutzbeauftragte lehnen das zweite Antiterrorpaket der Bundesregierung ab, in: Telepolis, 7.11.2002, http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/te/11070/1.html

12) Arbeitskreis Innere Sicherheit (AKIS), Zehn-Punkte-Erklärung des AKIS zur inneren Sicherheitspolitik, a.a.O.

13) Arbeitskreis Innere Sicherheit (AKIS), Zehn-Punkte-Erklärung des AKIS zur inneren Sicherheitspolitik, a.a.O.

14) Arbeitskreis Innere Sicherheit (AKIS), Zehn-Punkte-Erklärung des AKIS zur inneren Sicherheitspolitik, a.a.O.

15) junge Welt, 5.6.2002, http://www.jungewelt.de/2002/06-05/001.php

16) http://www.cilip.de/terror/offener-brief.htm

Dirk Eckert ist Politikwissenschaftler und Beirat der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

Siedlungspolitik verstößt gegen Menschenrechte

Siedlungspolitik verstößt gegen Menschenrechte

von Yehezkel Lein

Das Thema Siedlungen in der West Bank wird in Israel und der internationalen Öffentlichkeit fast ausschließlich als abstraktes politisches Problem wahrgenommen. Der Abbau von Siedlungen wird nur im Rahmen von »Zugeständnissen« gesehen, die Israel eventuell machen muss um einen endgültigen Friedensvertrag mit der palästinensischen Autonomiebehörde zu erreichen. Diese Herangehensweise hat einen der wichtigen Aspekte dieses Themas aus dem Blickfeld verschwinden lassen: Der fortgesetzte Verstoß gegen die Menschenrechte der Palästinenser, der seine Ursache hat in der Errichtung der Siedlungen, in deren Verteilung in der West Bank und in deren Eigenschaft als israelische Exklaven, die von der palästinensischen Bevölkerung getrennt und gegen sie abgeriegelt sind.
Internationales Menschenrecht verbietet es der Besatzungsmacht, Bürger aus ihrem eigenen Territorium in besetztes Gebiet zu transferieren (Vierte Genfer Konvention, Artikel 49). Die Hager Bestimmungen verbieten es der Besatzungsmacht dauerhafte Veränderungen im besetzten Gebiet vorzunehmen, wenn diese nicht im engeren Sinn durch militärische Notwendigkeiten bedingt sind oder zum Nutzen der lokalen Bevölkerung dienen. Dadurch führt die Errichtung der Siedlungen zur Verletzung von internationalen Menschenrechtsgrundsätzen. Darüber hinaus führen die Siedlungen zur Verletzung vieler weiterer Grundrechte der Palästinenser, wie dem Recht auf Selbstbestimmung, dem Gleichheitsgrundsatz, dem Schutz des Eigentums, dem Anspruch auf einen angemessenen Lebensstandard und dem Recht auf Bewegungsfreiheit.

Obwohl die von Siedlungen überbauten Gebiete weniger als zwei Prozent der West Bank ausmachen (1,7%), sind die Gemeindegrenzen viermal so groß (6,8%), vieles davon ist für Erweiterungen vorgesehen. Zusätzlich kontrollieren die Regionalverwaltungen der Siedlungen weite Landstriche (35,1%). Insgesamt haben die verschiedenen israelischen Regierungen seit der israelischen Besetzung 1967 über 40% der West Bank enteignet und das Land der Kontrolle der Siedlungen unterstellt. Dennoch ist es nicht nur das große Ausmaß der Gebiete, die von den israelischen Siedlungen kontrolliert werden, sondern auch deren spezifische Lage, die zu unzähligen Menschenrechtsverletzungen führt. Ein genauer Blick auf einige Gebiete der West Bank kann einen Einblick in die Art und das Ausmaß dieser Verstöße geben.

Mit Ausnahme der Enklave von Jericho wurde der gesamte Landstrich entlang der jordanischen Grenze, einschließlich Jordantal und Totes Meer, zum Hoheitsgebiet zweier jüdischer Regionalverwaltungen (Hayarden und Megillot) erklärt. Die weniger als 5.000 Siedler verbrauchen einen riesigen Anteil der Wasserressourcen der West Bank für landwirtschaftliche Zwecke. Die Menge entspricht 75% des privaten und kommunalen Verbrauchs der gesamten palästinensischen Bevölkerung. Die Verweigerung von Land- und Wasserressourcen verhindert jede mögliche Entwicklung der palästinensischen Landwirtschaft. Die Kontrolle der Siedlungen über das Ufer des Toten Meers verhindert außerdem die Realisierung von äußerst wertvollen ökonomischen Möglichkeiten auf industriellem oder touristischem Gebiet.

Die Siedlungen in dem Streifen, der sich entlang des Bergkamms in der Mitte der West Bank zieht, und in denen 34.000 Siedler leben, haben erhebliche Auswirkungen auf die Palästinenser in diesem dicht bevölkerten Gebiet. Die meisten Siedlungen wurden entlang der oder angrenzend an die Road No. 60 errichtet. Diese Straße ist die Hauptverkehrsader, die die sechs wichtigsten Städte in der West Bank miteinander verbindet. Die Orte der Siedlungen waren nicht zufällig gewählt, sondern hatten den expliziten Zweck, die Ausweitung palästinensischer Bebauung zur Straße hin und das Zusammenwachsen von auf gegenüberliegenden Straßenseiten liegenden Gemeinden zu verhindern. Die Anwesenheit von israelischen Bürgern in dicht besiedelten und manchmal feindseligen palästinensischen Gebieten hat zu einer starken Militärpräsenz geführt, um die Siedler zu beschützen. In Zeiten wachsender Gewalt antwortet Israel mit der Verhängung starker Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für die palästinensische Bevölkerung entlang dieser Verkehrsader. Diese Restriktionen betreffen beinahe jeden Aspekt des Alltags von ungefähr 2 Millionen Palästinensern und schränken ihren Anspruch auf medizinische Versorgung, ihr Recht auf Arbeit, Familienleben und Bildung erheblich ein.

Der Zusammenhang zwischen der Anwesenheit der Siedler und der Einschränkung der Bewegungsfreiheit wird dort noch augenfälliger, wo die Road No. 60 durch bebaute Gebiete der palästinensischen Kommunen führt, wie z.B. in den Städten Hawara und Silat Ad-Dhaber (südlich bzw. nordwestlich von Nablus). Seit dem Beginn der Al-Aqsa-Intifada hat die israelische Armee wiederholt lange Ausgangssperren über diese Städte verhängt, um den Siedlern in den angrenzenden Siedlungen Bewegungsfreiheit zu ermöglichen.

In der Bergregion blockieren die Siedlungen die urbane Entwicklung der wichtigsten palästinensischen Städte. So sind z.B. die ungefähr 158.000 Einwohnern des Stadtgebietes von Nablus (mit acht Dörfern und zwei Flüchtlingslagern) auf beinahe allen Seiten von Siedlungen umgeben. Die Siedlungen Har Brakha und Yizhar liegen im Süden der Stadt, die Siedlungen Qedumim und Shave Shomron im Westen, im Osten grenzen Elon Moreh und Itamar direkt an die Flüchtlingslager Askar und Balata an und im Norden liegt eine Militärbasis. So wird die Entwicklung des Gebietes von allen Seiten blockiert.

Die strategische Positionierung der Siedlungen in den verschiedenen Teilen der West Bank verhindert die Entstehung größerer zusammenhängender palästinensischer Gebiete. Am auffälligsten ist dies im westlichen Teil der West Bank entlang der Grenze von 1967, wo Dutzende von Siedlungen (z.B. Alfei Menashe, Karnei Shomron, and Modi’in Illit) gebaut wurden als Reaktion auf die große israelische Nachfrage nach billigen Wohnungen in erreichbarer Nähe zum Großraum Tel Aviv. Durch das Bestehen von Siedlungen in diesem Gebiet behielt Israel die volle Kontrolle über die meisten Gebiete, die palästinensische Städte und Dörfer umgeben, auch nachdem durch die Oslo-Vereinbarungen die Amtsgewalt an die Palästinensische Autonomiebehörde überging. Das führte zur Entstehung von mehr als 50 autonomen palästinensischen Enklaven (»Area A« und »Area B«1), die vollständig von israelisch kontrolliertem Land (»Area C«) umgeben sind.

Eine der Hauptfolgen dieser Zerstückelung ist, dass Israel – obwohl die Planungs- und Baukompetenzen für Area A und B weitestgehend an die Palästinensische Autonomiebehörde übergeben wurden – nach wie vor die Bebauung von Freiland behindern kann, das den Kommunen und ihren Einwohnern gehört. Zusätzlich schränkt diese geographische Realität die Möglichkeit zur Errichtung eines unabhängigen und lebensfähigen Palästinenserstaates ein und verletzt so das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung.

Die Siedlungen, die im Großraum Jerusalem errichtet wurden (in einem Gebiet, das weit über die Stadtgrenzen hinaus geht) haben Auswirkungen sowohl auf die Bewegungsfreiheit als auch auf das Recht zur Selbstbestimmung. Das Gebiet von Ma’ale Adummim, der größten Siedlung in dieser Region, zusammen mit drei kleineren Siedlungen, schafft einen zusammenhängenden Block im Zentrum der West Bank, der sich über 17.500 Morgen Land erstreckt – von der östlichen Grenze Jerusalems bis zu den Außenbezirken von Jericho. Das Siedlungsgebiet ist ungefähr 15mal größer als das tatsächlich überbaute Gebiet.

Dieser Siedlungsblock trennt den nördlichen Teil der West Bank ab vom südlichen. Wenn Ma’ale Adumim wie geplant nach Westen erweitert wird, dann wird es die Hauptverkehrsroute zwischen Ramallah und Bethlehem blockieren (die Wadi An-Nar-Straße). Diese ist die einzige verbliebene Verbindung zwischen diesen Städten, seit es 1993 Palästinensern verboten wurde Jerusalem ohne Genehmigung zu betreten. Diese Entwicklung würde eine weitere Aufteilung der besetzten Gebiete in vier territoriale Einheiten bedeuten: der Gaza Streifen, Jerusalem, der südliche Teil der West Bank und der nördliche Teil. In gleicher Weise veranlasst die Siedlung Ari’el die israelische Regierung einen langen Korridor zu kontrollieren, der zu dieser Siedlung führt (der Trans-Samaria Highway). Dieser zieht sich von der Grenze von 1967 beinahe bis zur Road No. 60 und unterbricht so die territoriale Einheit im Norden der West Bank, einem Gebiet das dicht besiedelt ist.

Der Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern in den 90er Jahren versäumte es vollständig, das Thema Siedlungen zu bearbeiten. Während der Friedensprozess sich entwickelte, weiteten die Siedlungen eilig die unter ihrer Kontrolle stehenden Gebiete aus und keine einzige Siedlung wurde abgebaut. Zusätzlich vergrößerte sich auch die Bevölkerung in den Siedlungen. 1993 (als die Prinzipienerklärung von Oslo unterzeichnet wurde) lebten insgesamt 247.000 Menschen in den Siedlungen in der West Bank (einschließlich Ost-Jerusalem); Ende 2001 war diese Zahl auf 380.000 gestiegen.

Das Scheitern des Friedensprozesses und der Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada im September 2002 sind komplexe Phänomene, die viele Ursachen haben. Die israelischen Siedlungen sind jedoch zweifellos ein Hauptfaktor. Das Wissen um Wachstum und Ausdehnung der Siedlungen und deren Auswirkungen auf die Menschenrechte der Palästinenser ist unabdingbar für das Verständnis des Konfliktes und muss bei allen zukünftigen Friedensinitiativen berücksichtigt werden.

Anmerkungen

1) »Area A« bezeichnet Gebiete mit voller Autonomie; »Area B« bezeichnet Gebiete mit palästinensischer Zivil- und israelischer Militärverwaltung.

Yehezkel Lein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter von B’Tselem, dem israelischen Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten. Lein hat im Auftrag von B’Tselem einen 100 Seiten umfassenden Bericht über die israelische Siedlungspolitik erarbeitet. Einzusehen im Internet unter www.btselem.org/Download/Land_Grab_Eng.doc
Die deutsche Zusammenfassung liegt auf der IMI-Homepage www.imi-online.de
Übersetzung: Claudia Haydt

Menschenrechte sind universal

Menschenrechte sind universal

von Tobias Pflüger

Israel und Palästina – viele machen es so, wie ich es lange Zeit auch gehalten habe, sie wollen sich zu diesem Konflikt nicht verhalten: Zu kompliziert, oberflächlich gesehen die Wiederkehr des immer gleichen, emotional und historisch zu belastet und scheinbar kein Ausweg in Sicht.

Hinzu kommt, dass die Diskussionen um das Konfliktgebiet Israel – Palästina durch eine Debatte über realen und vermeintlichen Antisemitismus überlagert werden. Ist es für Deutsche möglich, israelische Regierungspolitik zu kritisieren, oder ist eine Kritik an der Regierungspolitik Israels schon Antisemitismus?

Mir persönlich ist wichtig, dass die Menschen im Konfliktgebiet vor Ort – in Israel und Palästina – im Mittelpunkt der Debatte stehen, und deshalb ist für mich eine Kritik an der brutalen Besatzungspolitik der Regierung Scharon unverzichtbar. Dabei geht es nicht um Kritik an »den Juden« oder um eine Infragestellung des Existenzrechts Israels, sondern um Kritik an konkreter israelischer (Kriegs-) Politik.

Wir müssen uns für ein Ende der direkten Gewalt in Israel und Palästina einsetzen, das heißt jedes Attentat von palästinensischer Seite genauso verurteilen wie jedes Attentat der israelischen Siedler oder des israelischen Staates (z.B. die gezielten »Liquidierungen«).

Doch das genügt nicht: Notwendig ist vor allem eine Beendigung der strukturellen Gewalt in der Region – ein Ende der Absperrungen, der Bombardierungen palästinensischer Wohnbereiche durch israelisches Militär, ein Ende der Sonderrechte israelischer Siedler im besetzten Gebiet, z.B. bei der Straßen- und Wassernutzung sowie der Landnahme.

Menschenrechte sind universal. Wer nach der Formel vorgeht: »Israel darf nicht kritisiert werden«, entweder aus historischen Gründen oder religiöser Motivation, verschließt die Augen gegenüber den realen Gewalt- und Machtverhältnissen vor Ort, gegenüber den Menschenrechtsverletzungen von israelischer Regierung und Militär. Er lässt zu, dass Nahost instrumentalisiert wird für hiesige Debatten, dass historische deutsche Schuld auf dem Rücken der Palästinenser ausgetragen wird.

Wir haben aufgrund unserer Geschichte eine besondere Verpflichtung gegenüber jüdischen Menschen und es gilt jedem Antisemitismus bereits im Ansatz entgegen zutreten. Konsequent gegen Rassismus und Antisemitismus vorzugehen bedeutet aber auch, alle ausgrenzenden Mechanismen in unserem Denken anzugehen: Nicht nur den Antisemitismus bekämpfen sondern auch nicht zulassen, dass in manchen »Plädoyers für Israel« rassistische Muster produziert werden, z.B. gegen »den Islam« und »die Araber«.

Die israelische Regierung eskaliert vor dem Hintergrund des »Krieges gegen den Terrorismus« den Konflikt. Einiges spricht aber auch dafür, dass die Hardliner beider Seiten – auf der israelischen Seite Scharon und die militanten Siedler und auf palästinensischen Seite die Hamas und der Islamische Jihad – sich gegenseitig brauchen, um jeden Ansatz einer Deeskalation zu torpedieren. Auch das sollten diejenigen bedenken, die in unserem Land eine »blinde« Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand üben und die palästinensische Intifada verherrlichen, mit all ihren Auswüchsen wie dem fatalen Märtyrerkult und dem Machismus der Gewalt. Unsere Solidarität verdienen der zivile Widerstand der palästinensischen Seite – den es auch reichlich gibt – und die israelischen Friedensgruppen, wie Gush-Shalom.

Meine Hoffung liegt bei der immer stärker werdenden israelischen Friedensbewegung. In diesem Jahr gab es bereits mehrere Demonstrationen mit jeweils zehntausenden Teilnehmer/innen, die ein Ende der Besatzung forderten. Und ein neuer Faktor ist hinzugekommen, der zentral werden könnte: Immer mehr israelische SoldatInnen und Offiziere wollen die brutale Besatzungspolitik nicht mehr mitmachen und verweigern den Dienst in den besetzten Gebieten.

Politisch ist der zentrale Punkt im Nahen Osten der vollständige Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten, sprich aus West Bank und Gazastreifen. Die Siedlungspolitik steht deshalb in dieser W&F-Ausgabe auch in mehreren Artikeln im Mittelpunkt. Die israelischen Siedlungen müssen perspektivisch aufgegeben oder in einen zukünftigen Staat Palästina eingegliedert werden, auch wenn das in Israel selbst erhebliche Probleme aufwerfen wird.

Insgesamt haben wir versucht Schlaglichter zu werfen auf die Innen-, Außen- und Militärpolitik Israels. Nicht behandelt haben wir die Politik der arabischen Staaten und der PLO gegenüber Israel in der Vergangenheit und heute, das wäre für den Blick auf die aktuelle Situation zwar sehr interessant, hätte aber unseren Rahmen gesprengt. Es versteht sich von selbst, dass die Artikel die Meinung der Autor/innen wiedergeben. Nicht in jedem Fall stimmen diese mit der Redaktion überein.

Ihr Tobias Pflüger

„Schöne Flüchtlingsmädchen und Vergewaltigungslager“

„Schöne Flüchtlingsmädchen und Vergewaltigungslager“

Wie Medien Geschlechterstereotype zur Kriegslegitimation nutzen

von Susanne Kassel

Es ist wieder Krieg. Die USA führen nach den terroristischen Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September einen Krieg, der in den Medien als „Krieg gegen den Terror“, „Krieg gegen Afghanistan“ oder „Krieg gegen die Taliban“ bezeichnet wird. Dem Gebrauch von Sprache (und Bildern) sollte vor allem in Kriegs- und Krisenzeiten besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil Medien dann ein gesteigertes Bedürfnis nach Information und Orientierung befriedigen:1 Nachrichten- und Sondersendungen sowie Hintergrundberichte zum aktuellen politischen Geschehen »machen Quote«. So verbuchten z.B. die Nachrichtensender ntv und Phoenix nach dem 11. September Zuschauerrekorde. Auch wenn die derzeitige Praxis der Medienberichterstattung mehrfach Gegenstand kritischer Reflexion gewesen ist und NachrichtensprecherInnen nicht müde werden zu betonen, dass ihnen nur eingeschränkt Material zur Verfügung stehe, sind einige Aspekte bisher kaum beachtet worden. Dazu gehören die Festschreibung von Geschlechterrollen in Kriegen und die Funktion, die sie in diesem Kontext erfüllen.
Während in Friedenszeiten eine relative Heterogenität in der Darstellung von Männern und Frauen zu beobachten ist, reduziert sie sich in Konflikten auf althergebrachte Geschlechterstereotype: Männer werden zu Soldaten, zu Politikern, zu »Tätern«, Frauen zu Flüchtlingen, zu Soldatenmüttern, zu »Opfern«. Während Männer vornehmlich als aktiv Handelnde präsentiert werden, werden Frauen zu Objekten des Kriegsdiskurses, für deren Befreiung Kriege geführt werden – aber ohne ihre Beteiligung.

Entdifferenzierung der Geschlechterbilder

Dieses »Verschwinden« der Frauen aus dem Kriegsdiskurs kann dazu führen, Krieg mit »Männlichkeit« zu assoziieren: Auf dem Titel der ersten Ausgabe der Emma nach dem Anschlag auf das World Trade Center war eine verschleierte Frau mit einer Dornenkrone zu sehen, im Vordergrund George Bush, Osama Bin Laden und Joschka Fischer. Die Textzeile lautete: „Terror – Männer, Männer, Männer.“2 Eine solche Sichtweise verstellt jedoch den Blick auf die aktive Rolle, die Frauen – auch als Täterinnen – in Kriegen spielen und schließt sie von der Teilnahme am Kriegsdiskurs aus. Indem Frauen die Position des Friedens – der »weinenden Soldatenmütter« – zugewiesen wird, werden sie de facto zur Machtlosigkeit verdammt.3 Sie werden aus einem Diskurs verbannt, den sie – durchaus mit pazifistischen Absichten – mitprägen könnten. So hat z.B. Madeleine Bunting in einer Analyse der jeweils ersten fünf Seiten der großen britischen Tageszeitungen festgestellt, dass die Zahl der von Frauen veröffentlichten Artikel nach dem 11. September drastisch gesunken ist.4

Aus der Perspektive der kommunikationswissenschaftlichen Geschlechterforschung ist Gender – die soziale Konstruktion der Geschlechtszugehörigkeit – eine der zentralen (oder die zentrale) Kategorien der Darstellung und Wahrnehmung von Kriegen.

Der Beschreibung der Reduzierung der weiblichen Rolle auf die des Opfers wird dabei häufig entgegen gehalten, eine solche Position ignoriere, dass Frauen in den meisten Fällen tatsächlich die von Flucht und Misshandlung hauptsächlich Betroffenen seien. In der Tat ist der Zusammenhang zwischen Rollenzuschreibung und realer Betroffenheit ebenso problematisch wie uneindeutig. Negiert nicht die Rede von einem »Vergewaltigungsmythos«5 und von der Instrumentalisierung der Vergewaltigung zur Kriegslegitimation das Leid vergewaltigter Frauen?

Der Verweis auf die konkrete Situation von Frauen im Kriegsgebiet ist berechtigt, erfasst aber nicht die strukturellen Probleme der Rollenzuweisung an Frauen und der Handlungsspielräume, die ihnen dadurch zugewiesen werden. Das wird deutlich, wenn sich die Untersuchung statt auf die Ebene der »Opfer« auf die Ebene der »Täterinnen« konzentriert. Anhand dieses überwiegend männlich besetzen Umfeldes zeigt sich, dass die Geschlechterrollen nicht auf der Ebene des realen Geschehens anzusiedeln sind, sondern der Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit im gesellschaftlichen Diskurs folgen.

Grundsätzlich erhöht sich in Kriegszeiten der Rückhalt für die politische Führung eines Landes. Kanzler Schröder und Außenminister Fischer konnten durch ihr Engagement im Kosovokrieg die eigene Beliebtheit deutlich steigern. Vergleichbares wurde den aktiv beteiligten Frauen nicht zuteil: Mira Markovic, die Ehefrau des jugoslawischen Staatspräsidenten Milosevic, wurde als »Hexe von Belgrad« diffamiert.6 Sicherlich korrespondiert diese negative Präsentation mit der Darstellung ihres Mannes als »Diktator« oder »Serbenzar«. Auffälliger aber wird die Differenz in der Präsentation von Politikern und Politikerinnen, wenn man den Blick auf die NATO richtet: während Clinton, Schröder und Fischer gerne als rational und umsichtig handelnde »elder statesmen« beschrieben wurden, setzte sich für die US-Außenministerin Albright der Spitzname »Mad Madeleine« durch.7Den auf diese Weise medial abgewerteten, handelnden Frauen steht die große Zahl der zumeist anonymen Opfer gegenüber. Auch wenn unter den Flüchtlingen viele Männer zu finden sind, wird ihr Leid in den Medien in der Regel anhand von Frauen dargestellt. So widmete z.B. der Spiegel den Kosovo-Flüchtlingen eine Titelgeschichte.8 Das Titelbild zeigte eine junge Frau mit halb entblößter Brust, an der ein Säugling lag.

Mit ihrer madonnenhaften Inszenierung korrespondierten auch die übrigen Bilder: Hier wurde der Blick der LeserInnen ebenfalls auf Frauen gelenkt. Keines der Bilder fokussierte einen Mann, obwohl gelegentlich und bei genauerem Hinsehen im Hintergrund Männer zu erkennen waren. Dasselbe gilt für die Berichterstattung in den folgenden Ausgaben. Flüchtende Männer erscheinen nur als Teil einer großen Masse, die Ikonisierung des Leids ist den Frauen vorbehalten.

Die Dichotomisierung von Frauen- und Männerrolle findet sich beispielhaft in der Zeit vom 15. April 1999: Die Titelseite zeigt Großaufnahmen der Köpfe führender Politiker, in der Mitte das Bild einer albanischen Mutter mit Kind. Die Textzeile lautet: „Gesichter des Krieges: Bill Clinton, Boris Jelzin, Flüchtlinge, Slobodan Milosevic, Gerhard Schröder.“9

Durch die Bildmontage wird suggeriert, was andernorts vielfach diskutiert wurde: Es sei die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, Flucht und Vertreibung von Frauen und Kindern aus dem Kosovo zu stoppen, das Mittel dafür sei Krieg.

Menschenrechte – und insbesondere Frauenrechte – dienen auch in Afghanistan als Mittel um die Bombardierungen zu rechtfertigen, obwohl sie in keinem unmittelbaren Zusammenhang zum propagierten »Krieg gegen den Terror« stehen. Den diskursiv erzeugten Geschlechterbildern kommt jedoch bei der Kriegslegitimation eine wichtige Funktion zu.

Instrumentalisierung von Geschlechterbildern

Das Führen eines Krieges setzt außerdem eine Entdifferenzierung der Positionen der KriegsakteurInnen voraus. Insbesondere in demokratischen Ländern muss ein gesellschaftlicher Konsens geschaffen werden, der einen Kriegseinsatz legitimiert. Medien können dabei helfen, indem sie die Möglichkeiten des Sprechens über den Krieg im Interesse der gesellschaftlichen Eliten regulieren und begrenzen. Komplexitätsreduktion der Sachlage, Feindbildkonstruktion und der gezielte Einsatz von »starken Bildern« (z.B. Vergleich mit Hitler) zählen zu den Mitteln, mit denen sie zur Legitimierung von Kriegen beitragen können.10 Mit Hilfe von Sprache und Bildern werden Positionen des »Eigenen« und des »Fremden« erschaffen, wobei Einheit durch die Betonung der Differenz zum »Anderen«, zum Ausgegrenzten hergestellt wird.

Eine wissenschaftliche Methode, die für die Analyse solcher Fremdbildkonstruktionen besonders geeignet ist, ist die Diskursanalyse.11 Diskursanalysen fragen nach dem Ort, an dem Aussagen getroffen werden und nach den Bedingungen ihres Zustandekommens. Sie wollen die gegenseitige Beeinflussung von Sprache und sozialer Struktur sichtbar machen. Die Diskursanalyse der Berichterstattung über Kriege wäre z.B. an der medialen Bedeutungsproduktion interessiert, d.h. sie kann einen Interpretationsraum skizzieren, innerhalb dessen ein Krieg medial verhandelt wird.Wir haben an der Universität Göttingen die Spiegel-Berichterstattung über den Kosovokrieg einer solchen Analyse unterzogen.12 Anhand mehrerer Titelgesichten untersuchten wir exemplarisch, ob, und wenn ja wie, ein kriegsbefürwortender Konsens gebildet wurde, die Definition einer einheitlichen Identität durch Abgrenzung vom Gegner erfolgte und an welches historische und kulturelle »Vorwissen« dabei angeknüpft wurde. Dabei kamen wir zu dem Ergebnis, dass die Charakterisierung der am Krieg beteiligten Parteien entlang von Dualismen erfolgte: Dem Westen als Ort der Aufklärung und rationalen Vernunft stand ein der Voraufklärung verhafteter Balkan gegenüber. Eine mögliche Identifikation mit dem Gegner oder auch nur Verständnis für sein Handeln konnte auf diese Weise ausgeschlossen werden, die Komplexität der Situation wurde auf zwei einander monolithisch gegenüberstehende Positionen reduziert. Unsere These vom »Meinungskorridor«, der auf diese Weise in Kriegszeiten etabliert und begrenzt wird, ließ sich auch durch Ergebnisse aus anderen Untersuchungen stützen: Christiane Eilders und Albrecht Lüter fanden mittels Inhaltsanalyse heraus, dass die grundsätzliche Legitimität des Kosovokrieges in den Medien nicht angezweifelt wurde und dass dieser im Wesentlichen als berechtigte Antwort auf serbische Menschenrechtsverletzungen verstanden wurde.13

Ähnliches lässt sich auch jetzt beobachten: Unabhängig von den vielen Verweisen auf die große Mehrheit von MuslimInnen überall auf der Welt, die terroristische Handlungen grundsätzlich verurteilen, und unabhängig von der immer wieder beschworenen Formel, keinen Krieg gegen das afghanische Volk zu führen, erfolgt in den Medien über die Konstruktion von Feindbildern und Stereotypen in Bezug auf die islamische(n) Gesellschaft(en) eine klare Parteinahme für das Vorgehen der USA.

In diesem Zusammenhang erfüllt die Darstellung von Frauen in der islamischen Welt eine wichtige Funktion. Sie dient als Baustein der Konstruktion einer unzivilisierten Gesellschaft, gegen die es freiheitliche und demokratische Werte zu verteidigen gilt.14 Ein solches Vorgehen zeigte sich auch im Kontext der Berichterstattung über den Kosovokrieg:

  • In beiden Fällen wurden bzw. werden Frauen primär als Opfer präsentiert. Die Missachtung der Rechte von Frauen und Gewalt gegen Frauen sind Bestandteile der stereotypen Darstellung der feindlichen Parteien in beiden Kriegen.15
  • Die Präsentation von Frauen als Opfer eines Krieges kann dabei helfen, ein »Feindbild« zu konstruieren und einen Krieg zu rechtfertigen. Die Misshandlung von Frauen passt in das Bild der voraufklärerischen, unzivilisierten Gesellschaft, als die das jeweilige Feindesland beschrieben wird.16 Der Verweis auf Vergewaltigung und Vertreibung erzeugt einen starken Handlungszwang. Ähnlich wie bei dem Vergleich von Saddam Hussein oder Slobodan Milosevic mit Hitler wird ein moralischer Impetus geschaffen, der eine kriegsverneinende Position nahezu unmöglich macht: Wer diesen Krieg nicht führen will, macht sich der Missachtung der Menschenrechte und der Duldung des Nazismus schuldig. Oder: Wer diesen Krieg nicht führen will, befürwortet die Entrechtung der Frauen in Afghanistan.

Im Bosnienkrieg war von Frauen vor allem im Zusammenhang mit »ethnischen Säuberungen« und systematischen Vergewaltigungen die Rede. Im Rückgriff auf das damals etablierte Bild wurde im Kosovokrieg von »Vergewaltigungslagern« gesprochen. Zusammen mit dem umstrittenen »Hufeisenplan« serbischer Vertreibungen und mit angeblich errichteten »Konzentrationslagern« dienten sie als Rechtfertigung der »humanitären Intervention«.

Ein ähnliches Vorgehen lässt sich im Krieg gegen Afghanistan beobachten: „Die schönen Töchter Afghanistans – Taliban-Krieger vergewaltigen Flüchtlingsmädchen“ lautete die Überschrift eines Artikels in der Bild am 27. September, der auch im Internet veröffentlicht wurde.17 Ein Link führte zu den »Hintergründen«: „So rechtlos sind die Frauen in Afghanistan“. Vergewaltigung ist ebenfalls Thema in einem Spiegel-Artikel über oppositionelle Frauen in Flüchtlingslagern vom 15. Oktober – dort werden als Täter die oppositionellen Mudschahidin ausgemacht. Eine Afghanin wird mit den Worten zitiert: „Bei den Taliban mussten wir die Burka aus religiösen Gründen anlegen, sonst wären wir eingesperrt oder gesteinigt worden, bei den Mudschahidin mussten hübsche Frauen die Burka als Selbstschutz tragen, weil man sie sonst vergewaltigt hätte. Wo ist da der Unterschied?“18

Vergewaltigung ist ein Verbrechen, das die »Anderen« begehen: Im Krieg der »zivilisierten Welt« gegen den »islamischen Fundamentalismus« ist die Thematik der Vergewaltigung Ausdruck der Barbarei des Feindes. Indem sie auf den Feind projiziert wird, kann sie aus dem Selbstbild verbannt werden. Während »Sie kommen und schänden unsere Frauen« zu den gängigsten Erzählungen der Kriegsmythologie gehört, wird die Vergewaltigung von amerikanischen Soldatinnen durch ihre Kollegen weit gehend tabuisiert, ebenso wie sexuelle Übergriffe von UN-Soldaten in Ex-Jugoslawien. Auch das Aufblühen der Prostitution in Regionen mit ständiger Militärpräsenz (der UNO, der USA oder anderer) wird häufig ignoriert.19

Entschleiert, also frei?

Im Kontext der Vorbereitungen zu einem Krieg kann die Misshandlung und Entrechtung von Frauen als Legitimationsgrund missbraucht werden. Die Situation von Frauen wird von den Medien meistens vernachlässigt, doch es wird besonders häufig dann darüber berichtet, wenn ein Land als Gegner identifiziert wird: Die Lebensbedingungen afghanischer Frauen haben sich in den letzten Jahren nicht verändert, zu einem wichtigen Thema der Medienagenda sind sie jedoch erst nach den Terroranschlägen geworden: „Am ärgsten traf es die Frauen – manche von ihnen wehren sich nun“, schreibt der Spiegel im Oktober 200120 und ignoriert dabei den Umstand, dass die in den 70er Jahren gegründete afghanische Frauenrechtsorganisation RAWA seit dem Abzug der sowjetischen Armee immer wieder auf die Unterdrückung der Frauen durch die aus den Mudschahidin hervorgegangenen Taliban und Parteien der Nordallianz hingewiesen hat. 1995 war die Missachtung der Menschenrechte in Afghanistan ein Thema auf der Weltfrauenkonferenz in Peking – Gehör fanden sie damals nicht. Mittlerweile wird in allen Medien über die »Rebellinnen des Herzens«21 von RAWA berichtet.

Kann einer solchen Vereinahmung feministischer Anliegen überhaupt entgangen werden? Die in Großbritannien aufgewachsene Afghanin Saira Shah kehrte Anfang des Jahres 2001 – also vor den Terroranschlägen – in ihr Geburtsland zurück, um unter Lebensgefahr einen Film über die weit reichende Verletzung von Frauen- und Menschenrechten zu drehen. Die hochgelobte Dokumentation »Beneath the Veil« wurde im Sommer 2001 in Großbritannien und in den USA ausgestrahlt, fand aber keine größere Beachtung. Nach dem 11. September wurde sie von CNN in regelmäßigen Abständen wiederholt.

Zu den Bildern der verschleierten Frauen haben sich mittlerweile die Bilder der entschleierten Frauen gesellt. Nachdem die Verschleierung in den westlichen Medien als Zeichen der Unterdrückung und Aufforderung zur Befreiung etabliert worden war, mag der Druck groß gewesen sein, nach dem Einmarsch in Kabul das Bild einer Frau zu präsentieren, die ihr Gesicht zeigt: „Machte der Burkazwang für die Taliban ihre Herrschaft und Kontrolle über die Frauen sichtbar, sind mit derselben Logik die freigelegten Gesichter der Frauen dem Westen Beweis genug für ihre Befreiung.“22

Wie »befreit« die Frauen in Afghanistan tatsächlich sind und in naher Zukunft sein werden, ist derzeit nur schwer absehbar. Ob sich ihre Situation unter der neuen Regierung verbessert, ist fraglich – und ebenso, ob sie dann auch weiterhin Gegenstand der Berichterstattung sein werden.

Anmerkungen

1) Vgl. Löffelholz, Martin: Krisenkommunikation – Probleme, Konzepte, Perspektiven. In: Löffelholz, Martin (Hg.): Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1993. S. 11-32. Vgl. Grimm, Jürgen: Informationsleistungen von Medien in Krisenzeiten. Anomalien des Zuschauerverhaltens während des Golfkriegs. In: Ludes, Peter (Hg.): Informationskontexte für Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1996. S. 227-263.

2) Emma, Nr. 6, Nov/Dez 2001

3) Der »Soldatenmütter«-Diskurs scheint gesellschaftlich legitimierter zu sein als andere pazifistische Positionen (vgl. auch: Sander, Helke: Mr. Baroody und die Mütter. In: Emma, Juli/August 1999, S. 42-43). So wurde z.B. die grüne Politikerin Claudia Roth von Kanzler Schröder als »Heulsuse« diffamiert, weil sie angeregt hatte, die Bombardierung Afghanistans auszusetzen, um den Hilfsorganisationen den Zugang zum Kriegsgebiet zu ermöglichen.

4) Bunting, Madeleine: Women and War. In: The Guardian, 20. September 2001 (auch: www.guardian.co.uk/Archive/Article/0,4273,4260841,00.html).

5) vgl. Mikich, Sonja et al.: Sich selbst ein Bild machen – Reporter-Erfahrungen am Kriegsschauplatz. In: Hall, Peter Christian (Hg.): Krieg mit Bildern – Wie Fernsehen Wirklichkeit konstruiert (Band 33 der Mainzer Tage der Fernsehkritik). Mainz: ZDF, 2001. S. 122.

6) Bild, 26. März 1999.

7) Vgl. auch die »Eiserne Lady« Margret Thatcher.

8) Wohin führt dieser Krieg? Der Spiegel, Nr. 14/1999.

9) Die Zeit, Nr. 16/1999.

10) Vgl. Schulte-Holtey, Ernst: Das Ereignis des Krieges. Orientierungsversuche im Frühjahr 1999. In: Grewenig, Adi/Jäger, Siegfried/Jäger, Margret (Hg.): Medien in Konflikten. Holocaust – Krieg – Ausgrenzung. Duisburg: DISS, 2000. S. 133-148.

11) Wodak, Ruth: Zwei Ansätze der kritischen Diskursanalyse. In: Titscher, Stefan et al. (Hg.): Methoden der Textanalyse. Leitfaden und Überblick. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1998. S. 178-203; vgl. auch Smith, Philip: The semiotic foundations of media narratives: Saddam and Naser in the American mass media. In: Journal of Narrative and Life Theory, 4 (1&2), 1994. S. 89-118.

12) Elisabeth Klaus/Susanne Kassel/Kerstin Goldbeck: Fremd- und Selbstbilder in der Berichterstattung der deutschen Medien während des Kosovokrieges – am Beispiel des Spiegel (Veröffentlichung des Artikels in Vorbereitung).

13) Eilders, Christiane/Lüter, Albrecht: Germany at War. Competing Framing Strategies in German Public Discourse. In: European Journal of Communication: The Media and the Kosovo Conflict (Special Issue), Vol 15, Nr. 3, September 2000. S. 415-428.

14) Dabei ist es mir wichtig zu betonen, dass die folgenden Ausführungen lediglich Hypothesen darstellen, die in Bezug auf die Ausgewogenheit der Berichterstattung bisher nicht überprüft worden sind.

15) Im Umkehrschluss präsentierten Kriegsparteien Frauen als Soldatinnen in den eigenen Reihen, wenn sie sich selbst als besonders aufgeklärt und liberal darstellen wollten. So erreichten die Soldatinnen der US-Armee während des zweiten Golfkriegs einige Aufmerksamkeit (und wurden später Gegenstand eines Hollywoodfilms). Der Journalist Malte Olschewski berichtet von einem Frauen-Batallion der bosnisch-muslimischen Armee, das westlichen Kamerateams bevorzugt vorgeführt wurde, um die Fortschrittlichkeit des bosnischen Islam zu belegen, tatsächlich aber nie zum Einsatz kam (Olschewski, Malte: Von den Karawanken bis zum Kosovo. Die geheime Geschichte der Kriege in Jugoslawien. Wien: Braumüller, 2000. S. 136 und 255).

16) Eine Analyse des Feindbilds »Islam« findet sich z.B. bei Link, Jürgen: „Der irre Saddam setzt seinen Krummdolch an meine Gurgel!“ Fanatiker, Fundamentalisten, Irre und Trafikanten – das neue Feindbild Süd. In: Jäger, Siegfried: Text- und Diskursanalyse. Eine Anleitung zur Analyse politischer Texte. Duisburg: DISS, 1993. S. 73-92.

17) www.bild.de (Download am 27.09.01)

18) Carolin Emcke: Zuviel Leid für eine Seele. In: Der Spiegel 42/2001, S. 178-180.

19) Vgl. Böhm, Andrea: Freier für den Frieden. In: Die Zeit 3/2000 (www.zeit.de/2000/3/200003_sfor.html); Bressnell, Ariane/ Schwab, Waltraud: Keine Komplizinnen. In: die tageszeitung Nr. 6634, 24.12.01, S. VI-VII.

20) Claudia Emcke: Zuviel Leid für eine Seele. In: Der Spiegel 42/2001, S. 178.

21) Bernard, Cheryl/ Schlaffer, Edith: Rebellinnen des Herzens. In: Welt am Sonntag, 25.11.01.

22) Connie Uschtrin: Minis über Kabul. In: Konkret 1/2002, S. 17.

Susanne Kassel, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für interdisziplinäre Medienwissenschaft der Universität Göttingen, promoviert über das Zusammenspiel von Medien und Militär in Kriegszeiten

Türkei: Widerstand gegen Menschenrechtsverletzungen

Türkei: Widerstand gegen Menschenrechtsverletzungen

von Barbara Dietrich

Seit Dezember 1999 hat die Türkei in der EU Kandidatenstatus. Doch während mit sechs anderen Ländern Ost und Mitteleuropas bereits an Modalitäten und Zeitplänen für einen Beitritt gearbeitet wird, liegt der weitere Weg der Türkei in die EU noch im Dunkeln. Nur eine Minderheit unter den europäischen PolitikerInnen setzt sich dafür ein die Türkei aufzunehmen um damit Voraussetzungen zu schaffen für eine größere Akzeptanz der Menschenrechte, die große Mehrheit sieht allerdings in weniger Menschenrechtsverletzungen (und sicherlich auch in der Verbesserung einer Reihe ökonomischer Faktoren) die Voraussetzung für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei.
Vor diesem Hintergrund sind die Eindrücke von besonderem Interesse, die eine Delegation der IPPNW über die Menschenrechtsverletzungen und den Widerstand gegen selbige im April des Jahres gewann.1
Barbara Dietrich berichtet.

Die türkische Menschenrechtsstiftung (Türkiye Insan Haklari Vakfi) wurde im Jahr 1990 vom Menschenrechtsverein der Türkei mit Unterstützung Intellektueller und der Türkischen Ärztevereinigung gegründet, um Verletzungen der Menschenrechte zu dokumentieren. Zusätzlich wurden Zentren zur Behandlung und Rehabilitation von Folterüberlebenden in Ankara, Adana, Istanbul und Izmir etabliert, denen im Jahre 1998 eines in Diyarbakir folgte (2, S. 7 ff., 21). Außerdem implementiert die Stiftung ein weiteres sogenanntes »5-Städte-Projekt« in den Südost-Provinzen Gaziantep, Sanliurfa, Hatay, Malatya und Adyaman: Folterüberlebende, die nicht in Reichweite der bisher existierenden Zentren leben, sollen über die dort vorhandenen Hilfeangebote informiert und es soll ihnen soziale und finanzielle Unterstützung für Fahrtkosten und Unterkunft gewährt werden, wenn sie Hilfe in Anspruch nehmen wollen. (2, S. 8; 22).

MitarbeiterInnen in der Stiftung sind jeweils ÄrztInnen, PsychiaterInnen, SozialarbeiterInnen, RechtsanwältInnen, die den Folteropfern bei der Lösung ihrer medizinischen, psychischen und sozialen Probleme Hilfe leisten (9, S. 19; 15, S. 7f.; 2, S. 22). Das erste Gespräch mit der Patientin/dem Patienten wird von einem Arzt oder Sozialarbeiter durchgeführt, der alle einschlägigen Beschwerden aufnimmt. Anschließend folgt ein Gespräch mit einem Psychiater. Erweisen sich Untersuchungen als notwendig, die in dem jeweiligen Zentrum nicht durchführbar sind, wird die Patientin/derPatient an FachärztInnen überwiesen, welche die Untersuchungen kostenlos oder gegen Kostenerstattung durchführen und die jeweiligen Ergebnisse an das Zentrum rückvermitteln. Im Zentrum selbst wird schließlich individuell für jede Patientin/jeden Patienten ein Therapie- und Rehabilitationsplan aufgestellt. Nicht nur Folterüberlebende, sondern auch deren Angehörige, die mit den traumatischen Erfahrungen ihrer Verwandten konfrontiert sind, werden in die Arbeit einbezogen. Alle Kosten für Diagnose, Behandlung und Rehabilitation werden von der Stiftung getragen (0; 2, S. 22; 13, S. 6).

Seit Gründung der Stiftung bis Anfang 1998 haben landesweit insgesamt 4.010 Personen in den Zentren Hilfe wegen ihrer physischen, psychischen und sozialen Probleme gesucht (2, S. 7). Unmittelbar nach erlittener Folter kommen in das Zentrum in Izmir relativ wenige Patienten/innen, die meisten kommen etwa 6 Monate bis 2 Jahre später (0). Der ersten Gruppe von PatientInnen geht es meist darum, ein Alternativ-Gutachten zu bekommen zu der Frage, ob sie/er gefoltert worden ist. Sie können es in ihrem eigenen oder in einem Strafprozess gegen jemanden, der der Folter beschuldigt wird oder im Falle einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorlegen.

Der anderen Gruppe von PatientInnen geht es darum, medizinische/psychotherapeutische Behandlung im Zentrum oder durch es vermittelt zu bekommen (0).

Neben den beiden Aufgabenbereichen – Therapie für Folteropfer und Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen – unterstützt die Stiftung Forschungen und andere wissenschaftliche Aktivitäten: So fand im März 1999 z.B. in Istanbul ein internationales Symposium statt, auf dem ein Handbuch über Folterpraktiken, ihre Erforschung und Dokumentation beraten und als sogenanntes »Istanbul-Protokoll« verabschiedet wurde. Das Symposium war u.a. von der Stiftung vorbereitet und ausgerichtet worden. Derzeit wird angestrebt, dieses Handbuch als ein solches der Vereinten Nationen autorisieren zu lassen (14; 0; 2, S. 8).

Kurz vor unserem Besuch war in den Räumen der Menschenrechtsstiftung in Izmir eine Ausstellung über Folterpraktiken an PatientInnen des Zentrums gezeigt worden: Die Fotos dokumentieren die Folgen der falaka (Schläge auf die Fußsohlen), Spuren der Folter mit Elektroschocks, Wunden von ausgedrückten Zigaretten auf der Haut – es sind dies nur Beispiele für die in der Türkei angewandten Foltermethoden: In den Jahresberichten der Stiftung werden sie detailliert und ihrer Häufigkeit nach aufgelistet (2, S. 31-34).

Dabei wird die Definition von Folter zu Grunde gelegt, wie sie in der Tokyo-Deklaration des Weltärztebundes formuliert wurde: „Folter ist die vorsätzliche, systematische oder mutwillige Zufügung von körperlichen oder geistigen Leiden durch eine oder mehrere Personen, die nach eigenem Gutdünken oder auf Befehl irgendeiner Autorität handeln, um eine andere Person dazu zu zwingen, Informationen preiszugeben, ein Geständnis abzulegen oder zu irgendeinem anderen Zweck.“ (2, S. 22; Übers. d. Verf.).

Im Jahresbericht 1998 weisen die MitarbeiterInnen der Stiftung daraufhin, dass Folter in der Türkei nicht nur während der Untersuchungshaft und in den Gefängnissen praktiziert wird, sondern z.B. auch bei Razzien in Dörfern, bei Hausdurchsuchungen oder wenn die Polizei das Haus eines Verdächtigen besetzt und alle Anwesenden ausfragt bzw. festnimmt oder wenn Zivilpolizisten Personen entführen (2, S. 22).

Nach einem Besuch u.a. der Anti-Terror-Abteilung der Polizei in Istanbul im Jahre 1996 hatte das »Europäische Komitee zur Verhinderung von Folter« des Europarats festgestellt, dass dort schwere Formen von Folter angewendet werden: Schläge auf die Fußsohlen und Handflächen, Aufhängung an den Armen (31, S.1). Anlässlich eines Besuches dort Anfang 1999 fanden VertreterInnen des Komitees dieselben unerträglichen Foltermethoden vor (32, S. 6; 24). Von der Menschenrechtskommission des türkischen Parlaments wird Folter seitens der Polizei mittels Elektroschocks, Verprügeln, Abspritzen mit Wasserhochdruckschläuchen angegeben (23). Auch von amnesty international werden derartige Folterpraktiken sowie sexuelle Folter und Todesfälle als Folge von Folterungen bis 1999 bestätigt (16, S. 557 ff.; 17, S. 540 ff.; 20, S. 33).

Durch die Arbeit in den Zentren der Menschenrechtsstiftung wird nur ein Bruchteil all jener erfasst, die in der Türkei Opfer von Folter geworden sind: Man schätzt ihre Zahl auf etwa eine Million Personen (15, S. 4; 9, S. 20).

Nach Angaben von ÄrztInnen der Stiftung in Diyarbakir haben Folterungen im Polizeigewahrsam und in der Untersuchungshaft im letzten Jahr noch zugenommen: Sie werden von ihnen als „üblich“ bezeichnet (0). Im Jahresbericht 1998 der Stiftung heißt es : „Torture continued in a systematic manner“ (2, S.12, 15; s.a. S. 28). Amnesty international spricht in einem Bericht vom Juni 1999 ebenfalls von der „systematischen und weitverbreiteten Anwendung der Folter“ und anderen Menschenrechtsverletzungen, denen gemeinsam sei, dass die staatlichen Täter in der Regel nicht zur Rechenschaft gezogen würden (25, S. 28 f.) – eine Einschätzung, die von derselben Organisation im April diesen Jahres wiederholt wurde (20, S.32 f.). Selbst die Menschenrechtskommission des türkischen Parlaments spricht davon, dass Folter bei der türkischen Polizei „gängige Praxis“ sei (23). Ebenso urteilt die Rechtsanwältin Eren Keskin, Stellvertretende Vorsitzende des Menschenrechtsvereins der Sektion Istanbul und eine der führenden Menschen- und Bürgerrechtlerinnen in der Türkei: „Die Folter wird in der Türkei als Staatspolitik noch immer in systematischer Weise angewendet“ (21, S.104; s.a. 22).

Angesichts dieser klaren Aussagen von kompetenter Seite ist es unverständlich, dass die Kommission der Europäischen Union in ihrem »Bericht 1999 (…) über die Fortschritte der Türkei« resumiert, dass „Folterungen (…) zwar nicht mehr systematisch auftreten, aber weiterhin existieren“ (3, S. 12). Einige Zeilen später nimmt sie allerdings auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom Juli 1999 Bezug, in dem anhaltende Folter festgestellt wird und resümiert, dass sich die Lage in der Türkei „nicht wesentlich geändert (hat)“ ( 3, S. 12).

Die MitarbeiterInnen der Stiftung sind immer wieder staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. In Izmir beobachteten wir einen Strafprozess gegen den Gynäkologen und langjährigen Mitarbeiter des Zentrums, Dr. Zeki Uzun. Er war angeklagt, ohne Honorar bei zwei Frauen – Kurdinnen und Mitglieder der PKK – Abtreibungen vorgenommen und dadurch eine terroristische Organisation unterstützt zu haben (Art. 196 tStGB). Das Verfahren, das wir beobachteten, fand vor dem Staatssicherheitsgericht in Izmir statt und hatte den politischen Teil, also die Unterstützungshandlung zum Gegenstand. Es basierte auf Aussagen eines Mannes, der wegen seiner Mitgliedschaft in der PKK angeklagt war und durch seine Aussagen gegen Dr. Uzun, den er kannte, Strafreduzierung nach dem sogenannten »Reuegesetz« (28, S. 8; 29, S. 10 f.) erreichen wollte .

Die Staatssicherheitsgerichte (SSG) in der Türkei sind u.a. zuständig für Straftaten, welche „gegen die unteilbare Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk begangen werden“: Art. 143 TV (6, S. 363). Sie tagten jahrelang in der Besetzung mit zwei Zivil- und einem Militärrichter. In mehreren Urteilen der Jahre 1998/9 hatte der EGMR entschieden, dass die Beteiligung aktiver Militärrichter an Staatssicherheitsprozessen gegen das Recht der Angeklagten auf ein unabhängiges und unparteiliches Gericht verstoße, ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) also nicht gewährleistet sei (1, S. 341; 10, S. 24 ff.; 3, S.10; 5, SS.C 301/32 f).Die Verfassung der Türkei wurde daraufhin am 22. 6. 1999 geändert und die Militärrichter an den SSG durch zivile Richter ersetzt (3, S. 10).

Die Gerichtsverhandlung gegen Dr. Uzun war äußerst kurz: VerteidigerInnen und auch der Staatsanwalt (!) plädierten auf Freispruch vom Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Dr. Uzun selbst wies in einem knappen Schlusswort darauf hin, dass er seinen Beruf frei ausüben, PatientInnen ohne Ansehen der Person behandeln wolle. Die Urteilsverkündung wurde vertagt.

Zuvor, Ende Oktober 1999 war der Arzt von der Anti-Terror-Polizei Izmir in Handschellen in seine voll besetzte Krankenhaus-Praxis geführt und waren Patientenakten beschlagnahmt worden (0). Unter dem Verdacht der Unterstützung und Behandlung von Mitgliedern terroristischer Organisationen war er verhaftet und 6 Tage lang gefoltert worden. Dabei wurden ihm die detaillierten Berichte, die er über Folter an Patienten angefertigt hatte, vorgeworfen (0; 7, S. 46). Seine Anzeige gegen die Folterer hat er nach massiven Drohungen gegen seine Familie wieder zurückgezogen (0).

Ein weiterer Strafprozess fand vor einem SSG etwa 100 km von Izmir entfernt, in Aliaga statt. Ausgangspunkt dieses Prozesses war ein Massaker an Gefangenen im Zentralgefängnis von Ankara im September 1999, bei dem 10 Gefangene ermordet und viele verwundet worden waren. Eines der Opfer sollte einige Tage später in seinem Heimatdorf beerdigt werden. Der Trauergesellschaft, etwa 150 Personen, stellten sich auf dem Gang zum Friedhof Gendarmen in den Weg. Dr. Ayan bemühte sich, wie er uns sagte, die Gruppe ruhig zu halten. Bei dem Versuch weiterzugehen wurden die TeilnehmerInnen der Beerdigung von den Gendarmen brutal attackiert. 76 Personen wurden verhaftet, davon kamen 14 in Untersuchungshaft, unter ihnen Dr. Alp Ayan, Psychiater im Zentrum, Günseli Kaya und Berrin Esin Akan, Sekretärinnen der Stiftung.

Auch diese Verhandlung war nur von kurzer Dauer: Das örtliche SSG war von einem übergeordneten Gericht für zuständig erklärt worden, die diesbezügliche schriftliche Anordnung lag nicht vor, sodass auch dieser Prozess vertagt wurde. Damit verlängert sich für die Betroffenen das Warten in Angst und Ungewissheit und der Einsatz – Busmiete und -fahrt, verlorene Arbeitszeit etc. – war vergeblich. Außerdem werden beim nächsten Prozesstermin möglicherweise keine ausländischen BeobachterInnen teilnehmen.

So weit die mündlichen Informationen, die ich nunmehr ergänzen will durch Informationen aus einem urgent-action-Aufruf der Stiftung, in dem der vorausgegangene Verfahrensablauf detailliert geschildert wird:

Die Gendarmerie hatte in ihrem Protokoll behauptet, die festgenommenen BeerdigungsteilnehmerInnen hätten Widerstand geleistet und anlässlich der Beerdigung eines Mitglieds einer illegalen Organisation Propaganda für diese gemacht. Aus diesen Protokollen ergibt sich außerdem, dass Dr. Ayan und Frau Kaya – für ihre menschenrechtlichen Aktivitäten bekannt – als ProvokateurInnen identifiziert seien. Seitens des SSG in Izmir verlautete, die Inhaftierten müssten wegen Ungehorsams gegen eine rechtmäßige Anordnung zum Schutz der öffentlichen Ordnung angeklagt werden, worauf eine Strafe von 3 bis 6 Monaten stehe (Art. 526 tStGB). Als Ergebnis einer Anhörung vor dem Kriminalgerichtshof in Aliaga wurde entschieden, dass Dr. Ayan und Frau Kaya ebenso wie die 12 anderen Untersuchungsgefangenen vor das SSG gebracht werden müssten und nach Art. 32-3 des Versammlungs- und Demonstrationsgesetzes anzuklagen seien, der diejenigen mit Strafe bedroht, die auf die Entscheidung der Sicherheitskräfte, eine Versammlung aufzulösen, mit Zwang, Gewaltanwendung, Drohung, Angriff oder Widerstand reagieren. Zusätzlich sei eine Anklage wegen Unterstützung von Mitgliedern terroristischer Vereinigungen und Verbreitung von deren Propaganda (7-2 AntiTerrorGesetz) angezeigt. Das erste dieser beiden Delikte wird mit Gefängnis zwischen 3 und 5 Jahren, das letztere mit Gefängnis zwischen 1 und 5 Jahren bestraft (19, S. 48).

Beide Strafverfahren sind exemplarisch: Wenn ÄrztInnen strafrechtlich verfolgt werden, weil sie – ihren Berufspflichten folgend – PatientInnen ohne Rücksicht auf deren politische oder organisatorische Zugehörigkeit behandeln oder weil sie gutachtlich bestätigen, dass PatientInnen gefoltert worden sind oder sich weigern, Namen von Folterüberlebenden, die sie behandeln, herauszugeben (9, S. 8 f.), so will man sie wegen ihres Einsatzes für Folterüberlebende so hart wie möglich bestrafen, ihrem menschenrechtlichen Engagement damit ein Ende setzen. Die Staatsgewalt tut zudem ihr Möglichstes, der Stiftung Nähe zum Terrorismus anzuhängen (0; 7, S. 46; s.a. 9, S. 26 ff.).

Eine weitere einschneidende Art der beruflichen und politischen Repression ist die sogenannte Verbannung, eine Strafversetzung, die gegen staatliche Bedienstete im Gesundheitswesen dekretiert werden kann, z.B. wenn ihre Arbeit „aufgrund eines administrativen oder strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens als bedenklich angesehen wird“ und zwar ohne dass ein disziplinarischer oder Strafausspruch vorangegangen sein muss (00; 11, S.129). Solcherart Verbannungen erfolgen aufgrund beamtenrechtlicher (G Nr. 657) oder administrativer Bestimmungen oder – in den Notstandsgebieten (Ende 1999: Diyarbakir, Hakkari, Sirnak, Tunceli, Van; 18, S. 9) – auf Anordnung des Notstandsgouverneurs (0; 11, S. 129); sie sind zeitlich unbefristet und können von dem/r Betroffenen nicht angefochten werden (0).

Nach Informationen unserer Gesprächspartner in der Gewerkschaft für die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes – KESK- in Diyarbakir werden Verbannte öfter an Orte mit extrem nationalistisch gesonnener Bevölkerung »versetzt«. Die Betroffenen, die als »SeparatistInnen« gebrandmarkt sind, treffen dort auf ein offen aggressives Klima: Sie sind Beschimpfungen und Angriffen ausgesetzt; es gibt bereits eine Verbannung, die mit der Ermordung des Verbannten geendet hat (0; 26, S. 6).

Der Ort, an den jemand verbannt wird, kann weiter entfernt liegen oder von der Außenwelt abgeschnitten sein oder unterliegt ständiger polizeilicher Kontrolle, so dass sich der/die Verbannte nicht frei bewegen kann. Das Leben in Verbannung verläuft dann in weitgehender Isolation. Auch kann es sein, dass, wenn beide Eheleute verbannt werden, sie an verschiedenen Orten leben müssen (0). Verbannungen haben nach Einschätzung unserer Gesprächspartner im letzten Jahr noch zugenommen. Auch die Vorsitzenden der KESK werden regelmäßig kurze Zeit nach Beginn ihrer Tätigkeit in die Verbannung geschickt (0; 11, S. 131). Ohnehin unterliegt gewerkschaftliche Arbeit ständiger polizeilicher Kontrolle: Mitglieder werden willkürlich verhaftet oder bei Gesundheitskampagnen in umkämpften, also besonders gefährlichen Regionen eingesetzt, werden nicht befördert, gewerkschaftliche Veranstaltungen werden nicht erlaubt etc. (0; 27, S. 6).

Wichtig erscheint mir schließlich noch die Information über die »yesil card«, die Grüne Karte, die im Jahr 1992 für mittellose Personen mit Wohnsitz in der Türkei eingeführt worden ist und ihnen Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung sichern soll (8, S. 31) – eine Tatsache, die auch für abgelehnte AsylbewerberInnen, die aus der BRD in die Türkei abgeschoben werden, von Bedeutung sein kann.

Die Grüne Karte wird in der Praxis allerdings nicht wegen Bedürftigkeit, sondern aufgrund polizeilicher Recherchen nach Kriterien politischer Zuverlässigkeit und eher an Wohlhabende vergeben, so berichten unsere Gesprächspartner in Diyarbakir. In Diyarbakir selbst sind bisher 270.000 solcher yesil cards ausgegeben worden (0) – wiewohl die Stadt in den letzten Jahren – vor allem kriegsbedingt – einem immensen Bevölkerungszuwachs ausgesetzt war und mittlerweile 1,5 Mio. (27, S.7), möglicherweise sogar mehrere Millionen Einwohner hat (26, S.11).

Der Lagebericht Türkei des Auswärtigen Amtes vom September 1999 weiß lediglich von den gesetzlichen Vergabekriterien für die yesil card und davon zu berichten, dass „bei Ankunft in Ankara (…) die direkte medizinische Versorgung im Rahmen privatärztlicher (!; d. Verf.) Behandlung nach Klärung der Kostenfrage (!; d. Verf.) grundsätzlich (! ; d. Verf.) möglich ist“ (8, S.31).

Hier zeigt sich ein Grundproblem, das in den meisten unserer Gespräche auftrat und zu denken gab: Die Änderung der Gesetzgebung mit dem Ziel der inhaltlichen Demokratisierung ist mit Rücksicht auf den Kandidatenstatus, den die Türkei seit Dezember 1999 in der EU hat (24, S. D 3), und im Hinblick auf die Erfüllung der Kopenhagener (Aufnahme-)Kriterien (28) geboten und wird seitens der Regierung und des Parlaments der Türkei forciert (8, S. 20 f.; 3, S. 12 ff.; 30;). Die Durchsetzung der demokratischen Neuerungen ist damit allerdings noch keineswegs gewährleistet: Sie lässt auf sich warten.

Anmerkung

Die Reise begann mit einem Termin in Istanbul bei Insan Haklari Dernegi, dem türkischen Menschenrechtsverein, ging dann in den kurdischen Südosten nach Diyarbakir, wo 5 Tage lang Gespräche mit VertreterInnen verschiedener Ärzte- und Gesundheitsorganisationen geführt wurden. Abschließend wurden in Izmir einige Gerichtstermine beobachtet in Strafsachen gegen ÄrztInnen.

Der Bericht konzentriert sich auf die Menschenrechtsstiftung TIHV: Sie wird stellvertretend für andere Organisationen und ihre MitarbeiterInnen vorgestellt, die ebenfalls mit großem Mut, mit Zähigkeit und unter Inkaufnahme größter persönlicher Gefahren, auch für ihre Angehörigen, für die Verwirklichung der Menschenrechte in der Türkei kämpfen.

Anmerkungen

0) mündliche Information

1) Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, 3. Aufl., Bonn 1999

2) Human Rights Foundation of Turkey, Treatment and Rehabilitation Centers Report 1998, Ankara 1999

3) Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Regelmäßiger Bericht 1999 der Kommission über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt, Brüssel 13.10.1999

4) Die Staatssicherheitsgerichte müssen abgeschafft werden, in: Nützliche Nachrichten, 1/1999, S. 12

5) Europäisches Parlament, Entschließung zum Todesurteil gegen Herrn Öcalan und zur Zukunft der Kurdenfrage in der Türkei vom 22.7.1999, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften v. 18.10.1999, S. C 301/32 ff.

6) Christian Rumpf, Das türkische Verfassungssystem. Einführung mit vollständigem Verfassungstext, Wiesbaden 1996

7) Hüseyin Kandemir, TIHV-Ärzte werden selbst Folteropfer, in: kurdistan aktuell Nr. 76/77, Oktober-Dezember 99, S. 46f.

8) Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei, Bonn, 7.9.1999

9) Internationale Ärzte für die Verhütung eines Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW Deutschland), Ärztekammer Berlin, medico international, Krieg und Gesundheit in Türkei-Kurdistan, o.0., o. J. (1996)

10) Conseil de l'Europe, Case of Incal v. Turkey (41/1997/825/1031), Strasbourg, 9 June 1998

11) IPPNW, Ärztekammer Berlin, Genocide Watch, Kurdistan-Türkei. Medizin unter Kriegsbedingungen, Berlin, Göttingen 1996

12) Dialog Kreis (Hsg.), Parlamentarier der Türkei durchbrechen Tabu in der Kurdenfrage, 1. Aufl., Köln 1998

13) o.V., Die Türkische Menschenrechtsstiftung. Bericht des Vorstandes über die 4. ordentl. Versammlung der Gründungskommission am 30.1.1994

14) Manual on the Effective Investigation and Documentation of Torture and 0ther Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (The Istanbul Protocol), Submitted to the United Nations High Commissioner for Human Rights, August 9, 1999

15) Uta Klee, Waltraut Wirtgen, Bericht über die Informationsreise einer Ärztinnengruppe in die Türkei vom 11. bis 18. März 1998, o.0., o. J., Masch. Man.

16) amnesty international, Jahresbericht 1998, Frankfurt/M. 1998, S. 554 ff.

17) amnesty international, Jahresbericht 1999, Frankfurt/M. 1999, S. 538 ff.

18) 20 Jahre Kriegsrecht, in: Nützliche Nachrichten 4/1999, S. 9

19) Türk Insan Haklari Vakfi – Documentation Center, urgent action 99/06 v. 14.10.1999 – Human rights defenders under arrest, in: kurdistan aktuell Nr. 76/77, Oktober – Dezember 99, S. 48

20) amnesty international, Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe an jungen Frauen in Haft, in: Roja Kurdistane Nr. 16/April 2000, S. 32 f.

21) Eren Keskin, Nun ist das türkische Volk an der Reihe. Menschenrechte in der Türkei, in: Kurdistan Report 97, Nov./Dez. 1999-Januar 2000, S. 104

22) Kein Wandel in der Türkei. Menschenrechtlerin vermisst die Hilfe der EU, in: Frankfurter Rundschau, 2.5.2000

23) Türkische Parlamentarier kritisieren Polizei-Folter, in: Frankfurter Rundschau, 5. 5. 2000

24) Europäischer Rat (Helsinki), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 10. und 11. Dezember 1999

25) Holger Brecht, Schutz für die Täter, in: ai-Journal 6/1999, S. 28 ff.

26) Gesundheit und Krieg. Der Niedergang des Gesundheitssystems in den kurdischen Provinzen der Türkei, in: Roja Kurdistane Nr. 15, Okt. 1999, S. 11

27) Gisela Penteker, 4. Ärztinnen-Delegationsreise in die Türkei vom 12. bis 16. März 1999, Protokoll, Masch. Man., 12 S.

28) Helmut Oberdiek, Gutachtliche Stellungnahme in der Verwaltungsrechtssache A 3 K 10688/97, VG Stuttgart

29) Mehmet Sahin, Eine Reise durch die heißen Tage des letzten Sommers des Jahrtausends, in: Nützliche Nachrichten 3/1999, S. 7 ff.

30) Demirel mahnt Rücksicht auf Menschenrechte an, Frankfurter Rundschau, 16.5.2000; Sezer verlangt Reformen, Frankfurter Rundschau, 17. 5. 2000

31) Council of Europe, European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CTP), Public Statement on Turkey , 6 December 1996, CPT/Inf (96) 34

32) ders., Observations made by the delegation of the CTP which visited Turkey from 27 February to 3 march 1999, Strasbourg 4 May 1999, CTP/Inf (99) 17

Prof. Dr. Barbara Dietrich lehrt am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Wiesbaden