50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

von Gert Sommer / Martin Quack und Katharina Wegner / Monika Gerstendörfer / Herbert Leuninger / Andrea Gourd / Lothar Müller

zum Anfang | Die Menschenrechts-Charta der Vereinten Nationen

von Gert Sommer

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde am 10.12.1948 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen ohne Gegenstimmen angenommen (48 pro-Stimmen, 8 Enthaltungen). Diese Allgemeine Erklärung ist eines der bedeutsamsten Schriftdokumente der Menschheitsgeschichte: Die damals in den Vereinten Nationen vertretenen Länder haben sich darin auf einen erstaunlich umfassenden Katalog von unveräußerlichen Menschenrechten geeinigt, die für alle Menschen gelten sollen, unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Religion usw. Mit der Allgemeinen Erklärung sind für die nationale und internationale Politik wichtige verbindliche Ziele festgelegt worden:

„… proklamiert die Generalversammlung diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal, damit jeder Einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemühen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern und durch fortschreitende Maßnahmen im nationalen und internationalen Bereich ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Verwirklichung bei der Bevölkerung… zu gewährleisten.„ (Präambel der Allgemeinen Erklärung).

Die Menschenrechte können sehr pauschal inhaltlich folgendermaßen zusammengefasst werden: Gerechtigkeit, gleiche Rechte und Fehlen von Gewaltanwendungen; individuelle Freiheiten und politische Teilnahme; wirtschaftliche und soziale Sicherheit sowie kulturelle Teilhabe.

Zu den Menschenrechten gehören also das grundlegende Recht auf Leben und weitere bürgerliche und politische Menschenrechte (im folgenden meist abgekürzt als »bürgerliche Rechte«) wie z.B. Asylrecht, Meinungs- und Informationsfreiheit, Verbot von grausamer Behandlung (vgl. Kasten).

Art. 1 legt die humanistisch-philosophische Grundlage für die folgenden Rechte mit dem Hinweis, dass alle Menschen gleich an Würde und Rechten geboren seien. Art. 3 ist ein erster allgemeiner Grundstein, da er das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person thematisiert – die Grundlage für alle anderen Rechte.

Zu den Menschenrechten gehören zudem die wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Rechte (im folgenden meist »wirtschaftliche Rechte«) wie z.B. Recht auf Arbeit, Schutz vor Arbeitslosigkeit, Anspruch auf ausreichende Lebenshaltung (einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung), Recht auf Bildung. Dementsprechend ist Art. 22 der zweite allgemeine Grundstein der Allgemeinen Erklärung, da er die im einzelnen folgenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte benennt. Bei der Realisierung wird auf innerstaatliche Maßnahmen und auf nationale Zusammenarbeit hingewiesen. Gleichzeitig enthält dieser Artikel auch eine gewisse Relativierung bzw. zeigt die Grenzen auf, da – dies ist selbstverständlich – die Ressourcen jedes Staates bei der Realisierung dieser Rechte berücksichtigt werden müssen.

Die UNO Menschenrechts-Charta

Die zunächst unverbindliche Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bekam eine größere völkerrechtliche Verbindlichkeit durch die zwei Menschenrechtspakte des Jahres 1966 (»Zwillingspakte«: »Pakt über bürgerliche und politische Rechte« sowie »Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte«), die inhaltlich weitgehend mit der Allgemeinen Erklärung übereinstimmen. In den beiden Pakten wird zusätzlich explizit ein Selbstbestimmungsrecht aller Völker aufgeführt und deren freie Verfügung über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel. Andererseits wird das Asylrecht in den beiden Pakten nicht mehr erwähnt.

Die Präambel sowie die Artikel 1, 3 und 5 der beiden internationalen Pakte sind weitgehend identisch. Hier wird die Aussage „Frei von Furcht und Not„ wörtlich übernommen und es wird auf die gleiche Berechtigung von bürgerlichen und sozialen Rechten verwiesen. Neben der Verpflichtung der Staaten wird auch der Einzelne auf seine Verpflichtung hingewiesen, „für die Förderung und Achtung der (Menschenrechte) einzutreten„.

Insbesondere im Zusammenhang mit diesen »Zwillingspakten« von 1966, die bis Ende 1997 von annähernd 140 Staaten unterschrieben und ratifiziert wurden (zusätzlich je 4 Signaturen ohne Ratifizierung; Human Rights. International Instruments. Chart of Ratifications as at 31 December 1997. New York: United Nations), hat sich das Verständnis des Völkerrechts entscheidend verändert: Wenn ein Staat Menschenrechte verletzt oder in seinen Grenzen die Verletzung von Menschenrechten zulässt, dann können andere Staaten es als legitim ansehen, sich in dessen innere Angelegenheiten einzumischen.

Zur UNO-Menschenrechtscharta werden zum einen die Allgemeine Erklärung, zum anderen die beiden Zwillingspakte und schließlich das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 gezählt, der das individuelle Beschwerderecht und die Aufgaben des Ausschusses für Menschenrechte festlegt.

Viele weitere Abkommen – u.a. zu Folter, Skalverei, Rassendiskriminierung, Apartheid, Menschenhandel, Minderheiten, Frauenrechten (vgl. den Beitrag von Gerstendörfer) – sind im wesentlichen Präzisierungen dieser Charta zu Einzelthemen. Es gibt aber auch über die Allgemeine Erklärung hinausgehende bedeutsame Erweiterungen, insbesondere die Konvention über die Rechte des Kindes (1989), den Internationalen Strafgerichtshof (vgl. den Beitrag von K. Wegner) und die Diskussionen um die dritte Generation. Seit einigen Jahren wird in den Vereinten Nationen über eine sogenannte dritte Generation der Menschenrechte diskutiert. Darin geht es um die Rechte auf Frieden, auf Entwicklung und auf eine gesunde Umwelt (vgl. Das Parlament, 24.4.93. Themenheft Menschenrechte; Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, 1994, u.a. die dort abgedruckte Weltsozialcharta). Zum Recht auf Entwicklung hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen 1986 eine Resolution angenommen, bei der wiederum die Gesamtheit der Menschenrechte angesprochen wird:

Artikel 1 (1) Das Recht auf Entwicklung ist ein unveräußerliches Menschenrecht, kraft dessen alle Menschen und Völker Anspruch darauf haben, an einer wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung, in der alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll verwirklicht werden können, teilzuhaben…

Artikel 2 (1). Der Mensch ist zentrales Subjekt der Entwicklung und sollte aktiver Träger und Nutznießer des Rechts auf Entwicklung sein.

Die verschiedenen Menschenrechtsgenerationen haben unterschiedliche Richtungen politischer Forderungen: Bei den bürgerlichen Rechten geht es in erster Linie um Schutzrechte (negative Freiheitsrechte) des Individuums gegenüber der Staatsmacht, bei den politischen um (positive) Teilnahmerechte an politischen Entscheidungen; die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte sind primär Forderungen an den Staat, sie sind Teilhaberechte zur Gewährung angemessener Lebensbedingungen; die bislang nicht verabschiedeten Menschenrechte der dritten Generation schließlich sind Forderungen einzelner Staaten an andere Staaten bzw. die Staatengemeinschaft (zu Dokumentation und Diskussion von Menschenrechten vgl. u.a. Beck, 1992; Bundeszentrale, 1995; Kühnhardt, 1991; Tetzlaff, 1993; United Nations, 1995).

Unteilbarkeit der Menschenrechte

In Reden westlicher Politiker, aber auch in westlichen Medien, wird häufig argumentiert, die wirtschaftlichen Menschenrechte seien keine »richtigen« Menschenrechte, sie seien vielmehr von den damals real-sozialistischen Ländern quasi eingeschmuggelt oder den anderen Staaten aufgezwungen worden. Die Allgemeine Erklärung und die Zwillingspakte sind aber eindeutig in ihrer Aussage, dass sowohl bürgerliche als auch wirtschaftliche Rechte zu den Menschenrechten gehören und dass es unzulässig ist, den einen Teil über den anderen zu stellen oder gegen ihn auszuspielen. Dies ist von den Vereinten Nationen immer wieder bis in die jüngste Zeit betont worden.

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete z.B. 1950 eine Resolution, in der es u.a. heißt, dass „der Genuss bürgerlicher und politischer Freiheiten und ökonomischer, sozialer und kultureller Rechte miteinander verbunden und voneinander abhängig sind„ (S. 4; United Nations, 1988; Human rights – The International Bill of Human Rights. Fact Sheet No. 2).

Und es gab auch einen prominenten Zeitzeugen, der diese Zusammengehörigkeit explizit betonte. US-Präsident Franklin D. Roosevelt formulierte in seiner berühmten Jahresbotschaft vom 6. Januar 1941 vor dem amerikanischen Kongress vier Freiheiten für eine künftige bessere Welt: (1) Rede- und Meinungsfreiheit, (2) Glaubensfreiheit, (3) Freiheit von Not (d.h. ökonomische Bedingungen, die jeder Nation ein gesundes Leben für seine BewohnerInnen sichert) und (4) Freiheit von Furcht (d.h. Sicherheit vor militärischen Angriffen).

Menschenrechtsverletzungen auch im »Westen«

Die von den Vereinten Nationen verabschiedeten Menschenrechte beinhalten eine differenzierte, weitgehende Sammlung grundlegender Rechte für ein menschenwürdiges Leben, ausgehend von der „Würde„ und dem „Wert der menschlichen Person„ (Präambel der Allgemeinen Erklärung). Angesichts dieser Menschenrechtskonzeption ist es offensichtlich, dass ihre Verwirklichung wohl nie erreicht werden wird, sondern immer nur angestrebt werden kann „… als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal„, (Präambel).

Somit verletzen alle Staaten permanent Menschenrechte. Bei einigen Staaten ist dies offensichtlich, wenn z.B. Menschen gefoltert und ermordet werden oder wenn keine Meinungsfreiheit oder kein Wahlrecht besteht. Bei anderen Staaten erscheint dies weniger offensichtlich, wenn z.B. Menschen arbeitslos und obdachlos sind. Die Kritik an einzelnen Staaten bezüglich der Verletzung bestimmter Menschenrechte ist somit immer auch ein selektiver, häufig bewusst gesteuerter politischer Akt, ein politisches Kampfmittel; diese Kritik ist häufig stärker von politischer Opportunität geleitet als von der Sorge um das Wohl der Bevölkerung. Durch das Betonen genehmer und das Leugnen oder Herabsetzen nicht genehmer Menschenrechte wird suggeriert, der eigene Staat bzw. die eigene Staatenorganisation sei der wahre Hüter »der« Menschenrechte (Ostermann & Nicklas, 1979, sprechen von »Halbierung« der Menschenrechte; Sommer & Zinn, 1996). Damit wird zur staatlichen und persönlichen Selbstwerterhöhung beigetragen sowie zur Stabilisierung des eigenen gesellschaftlichen Systems.

Da in westlich-demokratischen, hoch industrialisierten Ländern häufig der Eindruck erzeugt wird, diese hätten »die Menschenrechte« realisiert, gebe ich nur einige Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen in unseren Ländern.

  • Diese betreffen z.B. insbesondere das Recht auf Arbeit und den Schutz vor Arbeitslosigkeit, Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, Recht auf angemessene und befriedigende Entlohnung; das Recht auf soziale Sicherheit, Anspruch auf eine Lebenshaltung, die Gesundheit und Wohlbefinden gewährleistet (in den USA z.B. sind ungefähr 3 Millionen BürgerInnen obdachlos und ungefähr 20 Millionen leiden unter Hunger; vgl. Brown & Allen, 1988); Verbot der Diskriminierung (z.B. fehlende Gleichberechtigung von Mann und Frau; in den USA z.B. Diskriminierung gegenüber Indianern und Schwarzen); Recht auf Asyl (in Deutschland seit dem sog. Asylkompromiss kaum mehr realisiert; vgl. den Beitrag von Leuninger); bedrohte Meinungsfreiheit u.a. durch wirtschaftliche Konzentrationsprozesse (vgl. den Beitrag von Gourd);
  • Selbstbestimmungsrecht aller Völker, deren freie Verfügung über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel (Art. 1 der beiden Menschenrechtspakte; dagegen verstoßen z.B. militärische Interventionen und »verdeckte« Operationen der USA in einer Vielzahl von Ländern wie Chile, Grenada, Libyen, Nicaragua; vgl. Hippler 1987; der berühmte US-Sprachwissenschaftler Noam Chomsky sprach angesichts der Geschichte der USA ironisch von der 5. Freiheit, nämlich der „Freiheit zu Raub und Ausbeutung„).
  • Schließlich gehören in diese Aufzählungen auch die vielfachen Mithilfen zu Menschenrechtsverletzungen, insbesondere durch die Unterstützung von diktatorischen Regimen, sei dies mit politischen oder wirtschaftlichen Mitteln, durch Polizeihilfe oder Waffenexporte.
  • Zu analysieren wäre auch, in welchem Ausmaß die von den führenden Industrienationen wesentlich zu verantwortende Weltwirtschaftsordnung systematisch zu Menschenrechtsverletzungen beiträgt; als Beispiel seien die Kredite von Internationalem Währungsfond und Weltbank genannt, die üblicherweise von sog. Strukturanpassungsmaßnahmen abhängig gemacht werden. Dazu gehören u.a.

    1. die Kürzung der Staatsausgaben, die meist zu Kürzungen im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen führen, oder
    2. die Ausrichtung der Wirtschaft vornehmlich auf Export, was häufig zur Verschlechterung der Versorgung der einheimischen Bevölkerung führt (vgl. den Beitrag von Windfuhr). Hier zeigt sich wiederum die Halbierung der Menschenrechte: Unzureichende Versorgung von Menschen mit Nahrung (bis hin zum Verhungern), Wohnung und Kleidung wird üblicherweise als soziales Problem bezeichnet, nicht aber als konkrete und brutale Menschenrechtsverletzung.
  • Zu nennen wäre schließlich die Bedrohung der menschlichen Lebensgrundlagen durch die Gefährdung des ökologischen Systems. So verbrauchen z.B. die Industriestaaten – etwa 25% der Weltbevölkerung – über 80% der Energie, westliche Firmen sind am Raubbau z.B. von Regenwäldern wesentlich beteiligt.

Verwirklichung der Menschen- rechte als permanente Aufgabe

Die Verwirklichung der Menschenrechte ist also eine Aufgabe für alle Menschen und alle Nationen, um eine Kultur des Friedens zu erschaffen. Dazu ist es zunächst wichtig, dass die Menschen über die ihnen zustehenden Menschenrechte informiert werden, was bislang nur unzureichend realisiert ist (Sommer & Zinn, 1996, sowie Sommer, Stellmacher & Christ, 1998, fanden in Untersuchungen, dass außer Meinungs- und Religionsfreiheit kaum weitere Menschenrechte spontan genannt werden konnten; vgl. auch den Beitrag von L. Müller). Es wäre zudem eine wichtige Aufgabe – in Anlehnung an die Berichte von amnesty international zu Menschenrechtsverletzungen an politischen Gefangenen –, für jedes Land der Erde den Stand der Realisierung und Verletzung der Menschenrechte kontinuierlich zu beobachten (vgl. Jongman & Schmid, 1994). Dabei ist das Engagement sowohl von unabhängigen und kompetenten WissenschaftlerInnen als auch von Nichtregierungsorganisationen dringend erforderlich (vgl. Bungarten & Koczy, 1996), da Regierungen aus politischer Opportunität häufig zu einer verzerrten Wahrnehmung und Darstellung neigen. Diese Berichte sollten dann Gegenstand sowohl von innerstaatlichen als auch internationalen Diskussionen sein. Bei den entsprechend diagnostizierten Defiziten wären Agenden für ihre Behebung zu erarbeiten.

Literatur:

Beck-Texte (1992): Menschenrechte. München, Beck.

Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (1995): Menschenrechte – Dokumente und Deklarationen. Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung.

Brown, J.L. & Allen, D. (1988): Hunger in America, in: Annual Review of Public Health, 9, 503-526.

Bungarten, P. & Koczy, U. (Hrsg.)(1996): Handbuch der Menschenrechtsarbeit. Bonn, Dietz.

Chomsky, N. (1988): Die 5. Freiheit. Hamburg, Argument-Verlag.

Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (1994). Bericht über die menschliche Entwicklung 1994. Bonn, DGVN.

Hippler, J. (1987): Low-Intensity Warfare – Konzeption und Probleme einer US-Strategie für die Dritte Welt. Essen, Arbeitspapier des Instituts für Internationale Politik.

Jongmann, A.J. & Schmid, A.P. (1994): Monitoring human rights. Utrecht, PIOOM: Netherlands Instituts for Human Rights.

Kühnhardt, L. (1991): Die Universalität der Menschenrechte. Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung.

Ostermann, Ä. & Nicklas, H. (1979): Die halbierten Menschenrechte. Unterrichtsmaterialien zur Menschenrechtsdiskussion, Friedensanalyse Nr. 9. Frankfurt, Suhrkamp.

Sommer, G., Stellmacher, J. & Christ, O. (1998): Die Unteilbarkeit von Menschenrechten: Eine sozialpsychologische Analyse zur kognitiven Repräsentation von Menschenrechten im internationalen Vergleich. Vortrag bei 11. Tagung Friedenspsychologie, Marburg.

Sommer, G. & Zinn, J. (1996): Die gesellschaftliche Halbierung der Menschenrechte: Wissen, Einstellungen und Darstellungsmuster in deutschen Printmedien. Zeitschrift für Politische Psychologie,4, S. 193-205.

Tetzlaff, R. (Hrsg.). (1993): Menschenrechte und Entwicklung. Bonn, Stiftung Entwicklung und Frieden.

Prof. Dr. Gert Sommer, Vorsitzender des Forum Friedenspsychologie (FFP) und der Interdisziplinären Arbeitsgruppe für Friedens- und Abrüstungsforschung an der Universität Marburg

zum Anfang | Durchbruch in Rom. Das Statut über die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes

von Martin Quack und Katharina Wegner

Silent leges inter arma – inmitten der Waffen müssen die Gesetze stumm bleiben. Diesen Ausspruch Ciceros zitierte der VN-Generalsekretär Kofi Annan bei seiner Würdigung des neu geschaffenen Internationalen Strafgerichtshofs.

Das soll nun anders werden. Am 17. Juli 1998 hat die Staatenkonferenz der Vereinten Nationen (VN) zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) nach fünfwöchiger Verhandlungsdauer in Rom das Statut zum Gerichtshof verabschiedet. 120 Staaten votierten in geheimer Abstimmung für den vom Vorsitzenden des Gesamtausschusses, dem kanadischen Botschafter Kirsch, vorgelegten Kompromissentwurf des Statuts. Gegen diesen »Vertrag von Rom« stimmten die USA, China, die Türkei, Israel und drei weitere Staaten, 21 Länder enthielten sich der Stimme.

Die Gründung des Gerichts mit dem Sitz in Den Haag wurde von Ländervertretern und Nichtregierungsorganisationen (NRO) als historisches Ereignis bezeichnet. VN-Generalsekretär Kofi Annan unterbrach für die Unterzeichnung des Gründungsvertrags eine Südamerikareise und Aussenminister Kinkel sprach von einem „bedeutsamen, ja historischen Sieg„.

Jahrelang haben Staatenvertreter, die Völkerrechtler der VN und die Vertreter der NRO um die genaue Formulierung des Statuts gestritten. Der ausgehandelte Kompromiss enthält folgende zentrale Bestimmungen:

Gegenstand der Ermittlungen

Verfolgt werden, laut der Präambel, die „schlimmsten Verbrechen, die die internationale Gemeinschaft als Ganzes betreffen„. Zur Verantwortung gezogen werden sollen weltweit die Urheber von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Angriffskriegen.

  • Als Völkermord gelten nach Art. II der Konvention gegen den Völkermord von 1948 Verbrechen, mit denen „eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise vernichtet„ werden soll.
  • Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden definiert als „Teil einer ausgedehnten oder systematischen Attacke„ gegen die Zivilbevölkerung. Dazu gehören Mord, Versklavung, Folter, Vergewaltigung, erzwungene Austragung von Kindern und erzwungene Sterilisation.
  • Kriegsverbrechen sind nach dem Statut unter anderem „schwere Verstöße„ gegen die Genfer Konvention von 1949. Dort wird der Schutz der Zivilbevölkerung und die Behandlung von Verwundeten, Kranken und Kriegsgefangenen im Krieg und, in abgeschwächter Form, auch in innerstaatlichen Konflikten geregelt.
  • Für den Angriffskrieg wurde keine Definition festgeschrieben; gemäß der Charta der VN stellt der Sicherheitsrat fest, ob ein solcher vorliegt.

Die wichtigsten Organe des Gerichts

  • Die Ermittlungen können von der Anklagebehörde unter Leitung der Chefanklägerin bzw. des Chefanklägers selbständig, also von Amts wegen, ohne vorherige politische Konsultationen eingeleitet werden. Die Initiative zu einem Gerichtsverfahren kann auch von einem Vertragsstaat oder vom Sicherheitsrat ergriffen werden.
  • Die Anklagebehörde unterliegt der Kontrolle einer Ermittlungskammer mit sechs Richterinnen und Richtern. Sie entscheidet, ob es genügend Anhaltspunkte für eine Strafverfolgung gibt.
  • Die Urteile des Gerichts werden von einer Spruchkammermit sechs Richterinnen und Richtern gefällt.
  • Zweite Instanz ist die Berufungskammermit fünf Richterinnen und Richtern.
  • Kontrollorgan für den IStGH ist die mindestens einmal im Jahr stattfindende Versammlung der Vertragsstaaten, sie beschließt über inhaltliche und Verfahrensfragen.

Die insgesamt 18 Richterinnen und Richter werden von den Vertragsländern für neun Jahre gewählt. Eine Wiederwahl ist nicht möglich. Um faire Gerichtsverhandlungen zu garantieren, gelten die folgenden Grundsätze:

Prozessgrundsätze und Gerichtsverfahren

  • Prozesse des IStGH finden nur bei Anwesenheit der bzw. des Angeklagtenstatt.
  • Es gilt das Rückwirkungsverbot. Danach müssen, damit die Tat geahndet werden kann, Straftatbestände und das Ausmaß der Strafen bereits feststehen, bevor das Verbrechen verübt wird. Der IStGH wird ferner nur bei Straftaten tätig, die nach dem Inkrafttreten des Statuts begangen werden.
  • Straftäter sind vor dem IStGH individuellfür ihre Taten verantwortlich, auch Staatsoberhäupter und andere Amtsträger genießen keine Immunität.
  • Verurteilte erhalten Gefängnisstrafenvon bis zu 30 Jahren oder, bei besonders schweren Verbrechen, lebenslänglich. Der Gerichtshof kann auch zusätzlich Geldstrafen verhängen und Güter beschlagnahmen. Die Todesstrafe kann nicht verhängt werden.
  • Opfernkann das Gericht Entschädigungen zusprechen, Zeugenwird Schutz zugesichert und das Gericht kann Aussagen auf Video zulassen, vor allem, wenn es um Vergewaltigung geht.

Tätigwerden des Gerichts

  • Der Grundsatz der Komplementaritätbedeutet, dass der IStGH nur tätig wird, wenn nationale Gerichte zu einer Strafverfolgung nicht willens oder in der Lage sind.
  • Im Falle von Kriegsverbrechen durch eigene Staatsangehörige oder auf dem eigenen Territorium steht es einem Unterzeichnerland frei, während einer Übergangsfrist von sieben Jahren die Kompetenz des Gerichts nicht anzuerkennen.
  • Tätig werden kann der Gerichtshof auch nur, wenn die Tat in einem Unterzeichnerland geschehen ist oder der Verdächtige die Staatsangehörigkeit eines solchen Landes besitzt. Auf Beschluss des Sicherheitsrates der VN, d.h. mit der Zustimmung der vetoberechtigten, ständigen Mitglieder, entfällt diese Bedingung.
  • Der Sicherheitsrat kann unter bestimmten Bedingungen durch Beschluss Gerichtsverfahren für ein Jahr aussetzen. (Das bedeutet aber auch, dass jedes ständige Mitglied mit einem Veto diese Verfahrensverzögerung verhindern kann.) Diese Frist kann verlängert werden.

Finanzierung und Überprüfungskonferenz

Der IStGH soll durch von der Generalversammlung zu genehmigende, allgemeine VN-Mittel, durch Beiträge der Vertragsstaaten und durch Spenden finanziert werden.

Sieben Jahre, nachdem der Gerichtshof seine Arbeit aufgenommen hat, soll eine Überprüfungskonferenz stattfinden, um u.a. eine Definition des Angriffskriegs zu erarbeiten und ggf. den Verbrechenskatalog um Drogenhandel und Terrorismus zu erweitern.

Bis das Den Haager Gericht jedoch seine Arbeit aufnehmen kann, ist es noch ein steiniger Weg. Voraussetzung ist nämlich, dass die Parlamente von mindestens 60 Staaten das Statut ratifiziert haben. Und das kann, auch wenn das Votum bei der Schlusssitzung in Rom eindrucksvoll war und z.B. die Bundesregierung das Ratifikationsverfahren bald einleiten wird, noch Jahre dauern.

Jahrzehntelang und steinig war auch der Weg, der zum »Vertrag von Rom« führte.

Der lange Weg zu einem Internationalen Strafgerichtshof

Seit der Antike haben angesehene Gelehrte von Plato bis Hugo Grotius die Rechtmäßigkeit von Krieg und Kriegsführung diskutiert. Vor mehr als 200 Jahren forderte Immanuel Kant in seiner Schrift »Zum Ewigen Frieden« den Schutz des Friedens und der Menschenrechte durch die Herrschaft des Völkerrechts. Trotz Forderungen nach einem internationalen Strafgericht im letzten Jahrhundert wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg von den Siegermächten der erste Versuch gemacht, Kriegsverbrecher, vor allem den deutschen Kaiser Wilhelm II., zur Verantwortung zu ziehen. Dieser fand jedoch Zuflucht in Holland, das die Kompetenz eines internationalen Gerichts, ein Staatsoberhaupt anzuklagen, bestritt. Auch die anderen Kriegsverbrecher mussten sich nur vor dem deutschen Reichsgerichtshof verantworten.

Die Notwendigkeit eines effektiveren Systems internationaler Strafjustiz wurde dadurch zwar deutlicher, doch erst die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges führten zu den ersten internationalen Strafgerichten. Bei den Militärtribunalen der Siegermächte 1945 in Nürnberg und Tokio wurden Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schwere Verstöße gegen das Kriegsrecht sowie das Verbrechen des Angriffskriegs verhandelt. Der Grundsatz der persönlichen Verantwortung, auch von Generälen, Staatspräsidenten und Monarchen, wurde verankert.

Bereits 1947 wurde dann vom Sekretariat der VN ein Entwurf für eine Konvention über ein internationales Straftribunal ausgearbeitet. Aber die 1948 von der Völkerrechtskommission der VN weitergeführten Arbeiten zur Errichtung eines ständigen internationalen Strafgerichtshofs versandeten 1953 im Ost-West-Konflikt.

Erst mit dessen Ende ging wieder eine Initiative vom damaligen sowjetischen Staatspräsidenten Gorbatschow aus, der die Schaffung eines Strafgerichtshofs zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus anregte. 1989 schlugen Trinidad und Tobago vor, den internationalen Drogenhandel mit Hilfe eines internationalen Strafgerichtshofs einzudämmen. Diese Anregungen führten 1990 zum Auftrag der VN-Generalversammlung an die Völkerrechtskommission, Entwürfe für die Satzung eines IStGH und eines internationalen Strafgesetzbuchs zu erarbeiten. Im Juli 1994 wurde ein Satzungsentwurf vorgelegt.

Noch während dieser Vorarbeiten wurden im ehemaligen Jugoslawien, bei dem ersten großen militärischen Konflikt in Europa seit Jahrzehnten, massive Menschenrechtsverletzungen verübt. Die Fernsehberichte über misshandelte und verhungernde Gefangene und über Massenvergewaltigungen erregten weltweites Entsetzen. Deshalb setzte der Sicherheitsrat der VN am 25. Mai 1993 zum ersten Mal gemäß Kapitel VII der Charta der VN ein internationales Gericht ein, das Ad-hoc-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Am 8. November 1994 wurde zur Aufarbeitung der Verbrechen in Ruanda ein weiteres Ad-hoc Tribunal im tansanischen Arusha errichtet. Dies waren entscheidende Schritte auf dem Weg zu einem IStGH. Wesentliche Regelungen dieser beiden Gerichte, z.B. über Verfahrensgrundsätze, dienten als Modell und Praxistest für das Statut des IStGH.

Die Konferenz in Rom

Durch die Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda waren so viele Staaten von der Notwendigkeit eines IStGH überzeugt, dass 1996 von der Generalversammlung ein Vorbereitungsausschuss mit der Klärung der offenen Fragen betraut wurde. Dazu wurden Vertreter aller Staaten und auch NRO eingeladen, von denen sich 220 zu einer »Coalition for an International Criminal Court« zusammenschlossen.

Mit zahlreichen offenen Fragen begann am 15. Juni 1998 in Rom die im Dezember 1997 von der Generalversammlung beschlossene Staatenkonferenz. Es gab allein 1.400 Texte in Klammern, über deren Formulierung bis dahin noch keine Einigung erzielt worden war. Für einen starken und unabhängigen IStGH engagierten sich ca. 50 »gleichgesinnte« Staaten –unter ihnen alle EU-Staaten ausser Frankreich –, die von den NRO unterstützt wurden. Ihnen standen auf der anderen Seite die nicht organisierten Gegner eines starken und unabhängigen Gerichtes gegenüber. Dazu zählten vor allem die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates USA, China, Russland und Frankreich und andere Regionalmächte wie Indien und Mexiko sowie Diktaturen wie Libyen, der Irak und Kuba. Die meisten Staaten waren jedoch unentschieden und wurden deshalb heftig umworben.

Die Motive der Gegner

  • Regionalmächte wie Indien, Pakistan, Mexiko, Ägypten, Syrien und Nigeria waren besorgt um ihre den Kolonialherren mühsam abgerungene Souveränität und wegen Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land.
  • Israel stimmte gegen das Statut, weil Siedlungen in besetzten Gebieten als Kriegsverbrechen gelten.
  • Die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates wollten mehr Einfluss auf die Arbeit des Gerichts haben, Frankreich stimmte am Schluss jedoch dem Kompromiss zu.
  • Indien wiederum lehnte jeden Einfluss des Sicherheitsrates auf den Gerichtshof ab – insbesondere weil dessen Mitglieder USA und China dem Vertrag nicht zustimmten.
  • Der wichtigste Gegner, die USA, wollten ein zu mächtiges Gericht verhindern. Sie behaupteten, ihre weltweit eingesetzten Streitkräfte vor Gerichtsverfahren schützen zu müssen. Die Soldaten könnten von gegnerischen Staaten zu Propagandazwecken vor dem Tribunal angeklagt werden, womöglich auch noch vor Richtern, die aus Libyen oder aus dem Irak kommen. Deshalb verlangten die USA eine Vetomöglichkeit. Weiterhin arbeiteten sie auch erfolgreich gegen die Möglichkeit, den Einsatz von nuklearen Waffen auch bei Selbstverteidigung als Kriegsverbrechen anzuklagen. Die USA erklärten, den IStGH nicht anzuerkennen und aktiv gegen ihn zu arbeiten. Der Vorsitzende des Senatsausschusses für auswärtige Politik, der Republikaner Jesse Helms, hält den IStGH für „dead on arrival„.

Der Kompromiss kam erst nach überaus zähen Verhandlungen zustande, und die ganze Konferenz drohte bis zum Schluss zu scheitern. Nach der von den USA verlangten Schlussabstimmung – die Konferenzleitung hätte den Beschluss lieber im Konsens gefasst – waren die Vertreter der meisten Länder und NRO erleichtert, dass der Beschluss doch noch zustande kam. Es bleiben jedoch viele Kritikpunkte:

Kritik am Kompromiss

Besonders bemängelt werden die auf Drängen Frankreichs aufgenommene mögliche Schonfrist bei Kriegsverbrechen und die Möglichkeit der Verzögerung der Verhandlungen durch den Sicherheitsrat. Ein weiterer Kritikpunkt ist die fehlende Definition von Aggression und die Tatsache, dass der Gerichtshof nur dann Fälle an sich ziehen kann, wenn entweder der Staat, in dem das fragliche Verbrechen begangen wurde, oder der Herkunftsstaat des mutmaßlichen Täters das Statut ratifiziert hat.

Beanstandet werden auch die Straflosigkeit des Einsatzes von Kindersoldaten über 15 Jahren und die Möglichkeit Angeklagter, sich auf den Befehlsnotstand berufen zu können. Mit der Behauptung, lediglich Befehle ausgeführt zu haben, ohne zu wissen, dass diese Anordnungen illegal waren, können sie auf Strafminderung hoffen. In einem Fall wie dem des Kriegsverbrechers Mladic könnte diese Klausel problematisch werden.

In dem Verbrechenskatalog fehlen weiterhin die, immerhin diskutierten, Umweltverbrechen, der Einsatz von Atomwaffen und von Landminen. Die Ablehnung des Gerichtshofs durch China und vor allem die USA wird als Geburtsfehler bezeichnet.

Bewertung

Trotz der zahlreichen Kritikpunkte ist die Verabschiedung des Statuts zum IStGH ein großer Schritt auf dem Weg zum Ende der bisherigen weitgehenden Straflosigkeit bei den im Statut aufgeführten Verbrechen. Die starke Unabhängigkeit des Gerichts und vor allem der Anklagebehörde, die vier Verbrechensgruppen und die große Mehrheit bei der Abstimmung erschienen noch vor wenigen Jahren kaum erreichbar. Zum ersten Mal werden Verbrechen innerhalb eines Landes nicht als innere Angelegenheit des betreffenden Landes anerkannt.

Die Überprüfungskonferenz bietet die Möglichkeit, den Verbrechenskatalog zu erweitern und die Fehler des Statuts zu beheben. Deshalb darf der diplomatische und öffentliche Druck auf unwillige Länder, dem Statut beizutreten und den IStGH zu unterstützen, nicht nachlassen.

Die Mitarbeit der USA, der einzigen Supermacht mit weltweiten militärischen Einsatzmöglichkeiten, ist für einen starken IStGH unerläßlich. Leider sind die USA allgemein nicht bereit, sich internationalen Kontrollen zu unterwerfen. Sie betrachten diese als unzulässige Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten. Die USA sind beispielsweise auch als einer von wenigen Staaten weder der VN-Konvention über die Rechte des Kindes noch der VN-Konvention über die Eleiminierung aller Formen der Diskriminierung von Frauen beigetreten. Die VN werden von den USA politisch und finanziell eher behindert als unterstützt. Schon beim Anti-Minen-Abkommen von Ottawa, in dem der Einsatz, die Lagerung und die Herstellung von Antipersonenminen sowie der Handel damit verboten wurde, stand die Supermacht nahezu allein mit ihrer Ablehnung des Vertrags. Auf der Konferenz in Rom musste sie jetzt die zweite schwere Niederlage auf dem internationalen Parkett binnen eines Jahres einstecken. Auch hinsichtlich der Todesstrafe stehen die USA weiter im Abseits. Es bleibt zu hoffen, dass sie ihre Haltung überdenken und den IStGH bald unterstützen.

Martin Quack, Katharina Wegner (Kirchenrätin), tätig im Menschenrechtsreferat im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Postfach 210220, 30402 Hannover

zum Anfang | Femizid: Tödliche Gewalt gegen Frauen

von Monika Gerstendörfer

Tödliche Gewalt gegen Frauen hat Tradition, vielfältige Ursachen und viele Gesichter. Sie wird seit Jahrtausenden systematisch betrieben, im Krieg wie im Frieden. So behauptete schon Aristoteles in seiner Theorie von der Sukzessivbeseelung, dass der männliche Embryo nach 40 Tagen eine Seele besäße, der weibliche jedoch erst nach 80 Tagen. Entsprechend war die Mutter nach der Geburt eines Mädchen 80 Tage unrein, nach der eines Jungen nur 40 Tage lang (vgl. Ranke-Heinemann, 1988). Diese Behauptung von der Unreinheit und Minderwertigkeit von Frauen war und ist ein wesentlicher Faktor für das Zustandekommen des Phänomens »Femizid«.

Heute »fehlen« nach UN-Schätzungen weltweit 60 bis 90 Millionen Mädchen und Frauen (vgl. Klasen, 1993). Die Ursachen sind vielfältig. Beispielsweise wird ein Teil weiblicher Feten mit Hilfe moderner Technologie (z.B. Pränataldiagnostik) abgetrieben; u.a. in Indien, denn Mädchen und Frauen gelten als »teuer« wegen der zu zahlenden Mitgift (vgl. Wichterich, 1994, 1995). Gibt es in einem Land keine Möglichkeit zur Pränataldiagnostik oder sind die Leute arm und können sich eine solche Untersuchung nicht leisten, dann werden die weiblichen Neugeborenen ausgesetzt, misshandelt, getötet oder man lässt sie einfach verhungern. So »fehlen« heute in Indien fast 36 Millionen Frauen (vgl. Klasen a.a.o.).

Auch in China – hier sind es 40 Millionen Frauen, die »fehlen« (a.a.o.) – werden bevorzugt weibliche Feten abgetrieben, denn dort herrscht die staatlich vorgegebene »Ein-Kind-Politik«, die mit brutalen Sanktionen durchgesetzt wird. Wenn Eltern also nur ein Kind bekommen dürfen, dann soll es „wenigstens ein Junge sein„, denn Mädchen werden als „nutzlos und teuer„ angesehen. Dies gilt insbesondere für die ländlichen Gebiete, denn dort bedeuten männliche Kinder zusätzliche Arbeitskräfte. Nur Söhne bieten die Garantie für ein gesichertes Alter und für soziales Ansehen im Dorf. Erbrecht und Konfuzianismus tun ein übriges, um den Druck auf die Frauen zu verschärfen. Wie überall auf der Welt, so lassen auch hier die Männer ihren Unmut über solcherlei staatliche Zwangsmaßnahmen an den Frauen aus. So gibt es in China eine Regelung, nach der ein Ehemann nach einer verordneten Abtreibung sechs Monate keine Scheidung beantragen darf. Trotzdem werden Frauen, die »nur« Mädchen bekommen, oftmals vom Ehemann verstoßen. Wie furchtbar die Situation für weibliche Menschen in China ist, verdeutlicht der Inhalt eines Artikels des chinesischen Gesetzes »zum Schutz von Frauen und deren Interessen« von 1992, der keines weiteren Kommentars bedarf:

Das Töten, Aussetzen und grausame Verletzen von weiblichen Säuglingen ist verboten. Diskriminierung und Misshandlung von Frauen, die Mädchen geboren haben, ist verboten.„

In vielen Ländern werden die Mädchen nach wie vor schlechter ernährt als die Jungen. Sie müssen hungern, während die Jungen mit genügend Nahrung versorgt werden. Ressourcenknappheit wird hier auf dem Rücken von weiblichen Menschen ausgetragen. Auch das hat Tradition.

Weiterhin trägt die Verhütungs“philosophie« ihren Teil zum Femizid bei: laut UN-Schätzungen gibt es 45 Millionen Abtreibungen pro Jahr, bei denen ca. 70.000 Frauen ihr Leben lassen. In Lebensgefahr sind Mädchen auch in Ländern, in denen die sog. Kinderehe üblich ist. Weibliche Kinder von elf, zwölf Jahren werden mit erwachsenen Männern verheiratet, die meist keine Rücksicht auf den körperlichen und seelischen Entwicklungsstand der Mädchen nehmen und sie in einem Alter schwängern, in dem die Gefahr der Todesfolge sehr hoch ist.

Die moderne Technik hat die alten Rituale und Traditionen keineswegs verdrängt, sondern die Gefahr eines systematisch betriebenen Femizids verschärft. Ein erstes Beispiel ist die pränatale Diagnostik, mit deren Hilfe nicht nur eine genetische Fehlbildung, sondern auch das Geschlecht eines Fetus festgestellt werden kann. Die Geschlechtszugehörigkeit entscheidet dann darüber, ob der Embryo abgetrieben wird oder nicht, und es sind die weiblichen Feten, die abgetrieben werden (vgl. Wichterich, 1994a, b, 1995). Fehlbildungen und weibliche Geschlechtszugehörigkeit werden in vielen Ländern der Erde im Grunde als »synonym« angesehen; beides dient als Grund für eine vorzunehmende Abtreibung.

Ein weiteres Beispiel ist die Reproduktionsmedizin und die dafür entwickelte Technologie. Hier wird deutlich, dass das Frauenbild auch Ende des zwanzigsten Jahrhunderts von Entwertung und Missachtung gezeichnet ist. Schon die verwendete Sprache spricht hier für sich. So wird im Zusammenhang mit der Reproduktionstechnologie von Frauen als „Eispenderinnen„ und sogar als „fötales Umfeld„ gesprochen.

Nicht zu vergessen ist der rassistische Aspekt: Lebensgefährliche Verhütungsmittel werden von großen Pharmakonzernen an den Frauen aus der sog. Dritten Welt getestet, damit die sog. »Bevölkerungslawine« gestoppt werden kann. Es sind zum Teil Mittel, die für Frauen der »Ersten Welt« verboten sind, weil sie lebensgefährliche Risiken bergen (vgl. Wichterich, a.a.O.).

Die Beschreibung der massiven Menschenrechtsverletzungen an Frauen in der heutigen und in der vergangenen Zeit macht klar, dass es Musterähnlichkeiten über alle Formen des Femizids hinweg gibt, nämlich eine Be- bzw. Abwertung weiblichen Lebens.

Das Beispiel Tibet verdeutlicht es: Seit 45 Jahren hält die Volksrepublik China ungestraft und illegal das Land Tibet besetzt. Seit 1985 werden ArbeiterInnen und BäuerInnen vermehrt nach Tibet umgesiedelt. In manchen Gebieten kommen mittlerweile 8 ChinesInnen auf eine TibeterIn. Die illegale Besetzung Tibets ist der politische Rahmen, innerhalb dessen die Menschenrechtssituation der Frauen in Tibet zu beschreiben ist (vg. Drongshar, 1993, 1994; Gerstberger et al. 1993, Gerstendörfer 1994, Saalfrank, 1993). Es handelt sich um eine Situation, die mit den Begriff »Genozid durch Femizid« umschrieben werden muss. Obwohl es in dem riesigen Land keine objektive Notwendigkeit zu irgendwelchen Geburtenkontrollmaßnahmen gibt1, wird die chinesische Bevölkerungspolitik hier verschärft und mit offener Gewalt angewendet. Nach jahrelangen Beobachtungen von Menschenrechtsorganisationen ziehen in Tibet Vollstrecker – sog. Geburtenkontrollteams – durchs Land, die angeblich auf Quotenjagd sind. Frauen, die sich vor den Quotenjägern verstecken, werden bestraft, indem ihre Schwägerinnen und Cousinen in Lastwagen abgeholt werden, um sie einer Zwangsabtreibung zu unterziehen. Sogenannte »mobile Ambulanzen« stehen dafür zur Verfügung. Die Mehrzahl der Frauen wird – Berichten zufolge – nach der erzwungenen Abtreibung gleich zwangssterilisiert. So etwas wird sogar bei Erstschwangerschaften durchgeführt.

Neben dieser Form der »demographischen Endlösung« praktiziert die chinesische Regierung auch ihre anderen üblichen Formen des Terrors: Da es insbesondere immer wieder die Tibeterinnen – unter ihnen wiederum besonders die Nonnen – sind, die sich gegen die chinesische Terrorherrschaft wehren, sind sie es auch, die besonders krassen Formen der Gewalt ausgesetzt werden. Die chinesische Antwort auf die mutigen Proteste der Frauen hieß und heißt: Hinrichtungen, Zwangsarbeit, Gefängnis und Folter, »Verhöre« und brutale Vergewaltigungen, Misshandlungen der Geschlechtsteile mit elektrischen Viehtreiberstäben, das Hetzen hungriger Hunde auf wehrlose, nackte Frauen u.v.m.

Ein weiteres Beispiel für Genozid durch Femizid ist uns aus der jüngsten Vergangenheit noch sehr präsent: die massenhafte Vergewaltigung im ehemaligen Jugoslawien, aber auch in Ruanda und anderswo (vgl. Gutmann 1993, Ossig 1993, Stiglmayer 1993, Welser 1993).

In Kriegszeiten nimmt man seit Menschengedenken die massenhaften Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen als Selbstverständlichkeit hin, denn „es ist halt Krieg„. Die Selbstverständlichkeit brutalster Gewalt, beständiges Schweigen auf Täter- wie Opferseite und hohe Dunkelziffern sind wesentliche Merkmale des Femizids wie auch die bewusste Verbreitung von Mythen über die angeblich „allzeit bereiten, kriegerischen Triebtäter„.

Der Femizid beginnt jedoch nicht erst mit den Massenvergewaltigungen. Wieder ist es die Technik, die noch mehr Frauen (und Kinder) tötet. Betrachten wir nämlich die Entwicklung der Kriege in unserem Jahrhundert, so zeigt sich, dass es zunehmend mehr tote ZivilistInnen als tote Soldaten gibt. Im II Weltkrieg gab es bereits weit mehr tote ZivilistInnen als Soldaten; im Koreakrieg war das Verhältnis 5 zu 1 – und im Vietnamkrieg bereits 13 zu 1! Diese Tendenz ist steigend. Die männlich dominierte Technikgestaltung machte es möglich, dass – zunächst durch Städtebombardierung (II. WK) – die Überlebenschancen der Soldaten verglichen mit der Zivilbevölkerung immer größer wurden. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass Kriege heute um so schneller »gewonnen« werden, je mehr ZivilistInnen – in ihrer Funktion als Angehörige der Soldaten – getötet werden können. Der Krieg gegen die Frauen ist also ein wesentlicher Teil der Kriegführung geworden.

Aber so neu ist diese Form des Femizids nicht, denn im Zweiten Weltkrieg, im April 1945, warnte Goebbels die deutschen Frauen vor den bösartigen „Bestien„, den „Untermenschen„, die über sie herfallen würden (vgl. Sander, 1992, S.23). Hier wurde unter den Frauen Angst und Panik verbreitet, gleichzeitig wurden die Männer gegen „den bösen Iwan„ aufgehetzt. Tatsache ist, dass es keineswegs nur die Russen waren, die vergewaltigt haben (vgl. Sander, a.a.O.). Aber die Volksverhetzung durch Goebbels und andere wirkt bis in unsere Tage. Kaum jemand denkt bei den Massenvergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg an die Amerikaner, Briten und Franzosen oder auch an die Wehmachtsbordelle der Deutschen und die sog. Freudenabteilungen der Nazis, in denen jüdische und andere Frauen das erdulden mussten, was vor wenigen Jahren den Frauen im ehemaligen Jugoslawien angetan wurde. Frauen wurden und werden als Kriegswaffe benutzt, um die Gegner zu zermürben und Völker (möglichste langfristig) gegeneinander aufzuhetzen (vgl. Batscheider, 1993).

Der offen betriebene Femizid im Krieg sollte jedoch niemals darüber hinwegtäuschen, dass Frauen auch in Friedenszeiten objektiv an Leib, Seele und Leben bedroht sind. Sexualisierte Gewalt stellt hierbei ein besonderes Risiko dar. Zählt man alle Gewalttaten, denen Frauen in Deutschland zum Opfer fallen könnten (Handtaschenraub: 5.5%, Raub: 1.8%, Einbruch: 5.3%, Körperverletzung mit Waffen: 1.9%) zusammen, so ist die Summe dieser möglichen Verbrechen geringer als die Zahl der sog. Sexualstrafdelikte (14.9 %; vgl. KFN-Studie 1995). Die Beispiele am Anfang lassen sich also leicht ergänzen und erweitern. Gewaltformen wie Genitalverstümmelungen (80 Millionen laut WHO-Schätzungen der 80er Jahre; vgl. Afele 1993) und andere schwere Menschenrechtsverletzungen gehören genauso dazu wie die neuesten Formen der virtuellen Gewalt mit Hilfe der weltweiten Computernetze, wo sich Händler, Pornoringe, satanistische Sekten und viele andere in einem nahezu vollständig geschützten Raum tummeln dürfen, um den modernen Sklavinnen- und Sklavenhandel immer besser zu organisieren und zu verbreiten. Hier hat sich in den letzten Jahren ein regelrechter und bestens organisierter Markt entwickelt, auf dem weibliche Körper nur noch als »Frischfleisch« betrachtet werden (vgl. Gerstendörfer 1998).

Frauenverachtung und damit einhergehende Menschenrechtsverletzungen sind auch in Deutschland an der Tagesordnung. Eine Zielgruppe sind professionelle Sexarbeiterinnen. Seit Monaten klagen Selbsthilfegruppen aus der politischen Hurenbewegung in Deutschland (u.a. HWG e.V. Frankfurt, Hydra e.V. Berlin; vgl. u.a. FR, taz, BZ, Bild v. 13.8.98) über eine drastische Zunahme von Gewalttaten gegen Prostituierte sowie deren immer härter werdende Formen. Es geschieht jedoch nichts. Im Gegenteil. Sieht man sich den Ausgang und die Urteilsbegründungen von Vergewaltigungsprozessen in diesem Bereich an, so wird nach wie vor der Mythos gepflegt, nach dem eine Prostituierte immer zu Sex bereit sei, weshalb sie gar nicht vergewaltigt werden könne. Dass eine Vergewaltigung ein besonders brutaler Gewaltakt ist, der Körper und Seele zerstört, wird überhaupt nicht zur Kenntnis genommen (vgl. Gerstendörfer 1998b, c). Auf diese Weise werden Verbrechen, die eigentlich als Offizialdelikte eingestuft sind (§177 StGB: Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung, § 223-226 StGB Körperverletzungsdelikte, § 239 Freiheitsberaubung, § 212 StGB Totschlag, § 211 StGB Mord usw.), in der Praxis – und damit in der Lebenswirklichkeit von Frauen – als bloße Vergehen behandelt. Diskriminierende Prostitutionsgesetze (lebensgefährliche Orte durch Sperrgebietszonen usw.), die Menschenrechtsverletzungen an Frauen im Grunde vorprogrammieren, tun ein übriges; ebenso die »Eintopf-Philosophie«, was die Prostitution und die sog. Zwangsprostitution angeht. Dass es bei der »Zwangsprostitution« keineswegs um »Sexarbeit«, sondern um fortgesetzte sexualisierte Misshandlung geht, wird durch die Sprache und deren Auswirkungen auf die Einstellung von Politik, Gerichten und Gesellschaft geleugnet. Geleugnet wird aber ebenso, dass es bei der professionellen Prostitution um freiwillig angebotene Sexarbeit geht. Hier spielen altväterliche und altfeministische Moralvorstellungen eine erhebliche Rolle, und sie sind ein weiteres Beispiel für eine tiefsitzende Frauenverachtung in unseren Gesellschaften. Sie tragen in erheblichem Maße dazu bei, dass sowohl SexarbeiterInnen als auch sog. Zwangsprostitutierte von unserer Gesellschaft ausgeschlossen und damit potentiellen Gewalttätern geradezu ausgeliefert werden. Die dramatischen Auswirkungen solcher Moralvorstellungen lauten: Weder ist ein Ende der Sklaverei (sog. Frauenhandel) noch ist eine Ende der Gewalt gegen Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter in Sicht.

Die Unterschiedlichkeit der Beispiele sollte deutlich gemacht haben, dass die offensichtlich extremen Formen der Gewalt gegen Frauen im Krieg nicht (allein) für Femizide verantwortlich sind. Es ist vielmehr so, dass alles seinen Anfang hat: Im »Frieden« nämlich, und dort in den unterschiedlichen und nach wie vor kaum geächteten Formen der täglichen Diskriminierung von Frauen. Ob es nun sexualisierte Übergriffe gegen Studentinnen durch ihre Lehrer (vgl. Gerstendörfer 1994b) oder Belästigungen und Mobbing am Arbeitsplatz sind, ob Gewalt in Ehe und Partnerschaft, sexistische Witze oder die Ungleichverteilung bei gut bezahlten Arbeitsplätzen; all dies formt einen Rahmen, innerhalb dessen vieles vorbereitet wird, was in anderen »social settings« zu offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen führt.

Mit diesen wenigen Beispielen aus dem »Frieden« soll der Bogen geschlossen und zugleich deutlich gemacht werden, dass die allgemeine gesellschaftliche Reaktion auf Gewalt gegen Frauen, auf Vergewaltigung, Folter und Mord, im Krieg nicht so sehr anders ist als im Frieden.

Zwar sind die Erlebniswelten in Krieg und Frieden ganz und gar unterschiedlich, aber die zentralen Denk- und Verhaltensmuster gegenüber Frauen sind durchgängig. Der Krieg lässt nur die soziale Kontrolle und die kulturell vermittelten Handlungstabus fallen; soziale Kontrolle und Tabus, die im Frieden die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten von Männern und Frauen einigermaßen erträglich gestalten, indem sie Feindseligkeiten verdecken und mit Hilfe von gesellschaftlichen Regelungen – auch durch Gesetze – die tatsächliche Ungleichheit, den Sexismus, verschleiern (vgl. Forum Menschenrechte 1996).

Der Krieg zeigt nur mit radikaler Deutlichkeit und Prägnanz, wohin frauen- und lebensfeindliche Bewusstseinsprägungen in handelnder Konsequenz wirklich führen. Das ist der rote Faden, der systematisch ausgeübte Gewalt gegen Frauen und Femizid im Krieg wie im Frieden miteinander verbindet. Um hier etwas ändern zu können, muss Öffentlichkeit hergestellt und die Fakten benannt werden (dürfen). Leider ist es bislang immer noch so, dass tägliche Diskriminierungen verleugnet und heruntergespielt oder gar zum Gegenstand allgemeiner Belustigung erhoben werden.

Dabei wäre der Kampf gegen diesen Sexismus gar nicht so schwer, denn wenn wir uns den Kampf gegen Rassismus und Fremdenhass vor Augen führen, dann sind wir hier zumindest soweit gekommen, dass ein »Wehret den Anfängen« längst als wichtige Strategie anerkannt ist, um diese Form der Ungleichheit zwischen Menschen abschaffen zu können. Gleiches gilt für den alltäglichen Widerstand im Kleinen.

Für die Problematik des Sexismus wären genau solche Gegenstrategien angebracht, denn die Muster zwischen den verschiedenen Ismen (Ungleichheiten zwischen Menschen) sind gleich. Es ist bislang jedoch keineswegs selbstverständlich, dass dies für die Bekämpfung des Sexismus umgesetzt würde.

Vor diesem Hintergrund machen alle Worte, Forderungen und Handlungsempfehlungen – wie sie u.a. in UN-Konventionen zu lesen sind – erst dann Sinn und haben Aussicht auf Erfolg, wenn jede einzelne Person bei sich selbst und in ihrem Umfeld damit beginnt, Diskriminierungen nicht weiter zu tolerieren und Gewalt offen zu ächten.

Literatur

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Batscheider, T. (1993): Friedensforschung und Geschlechterverhältnis, BdWi, Marburg (Dissertation).

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Drongshar, T.W. (1994): Die Frauen Tibets/Tibetische Frauen, Teil 2. Terre des Femmes-Rundbrief, 1, S.23-25.

Forum Menschenrechte (Hrsg.) (1996): Vergewaltigung – Verbrechen an Frauen in Kriegs- und Friedeszeiten, Dokumentation einer Anhörung in der Friedrich Ebert Stiftung, DGVN, Bonn.

Gerstberger, I., Klemp, L., König, A., Reischies, A. & Wang, R. (1993): Dossier anlässlich der Weltfrauenkonferenz 1995 – Menschenrechtsverletzungen an Frauen in der VR China und Tibet, Germanwatch, NRO-Frauenforum, Terre des Femmes, Bonn.

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Gerstendörfer, M. (1995): Menschenrechtsverletzungen an Frauen im Krieg: Frauen als militärisches Kalkül – II. Weltkrieg, Naziherrschaft und Schweigen. In: Loccumer Protokolle 62/93: Nicht länger schweigen! Fraueninhaftierung und Gewalt, S.97-126.

Gerstendörfer, M. (1996): Der § 218 – Das Bundesverfassungsgericht und seine Geschlechterpolitik. In: P. Imbusch & R. Zoll (Hrsg.) Friedens- und Konfliktforschung, (S.351-375). Opladen: Leske + Budrich.

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Gerstendörfer, M. (1998c): Gewalt durch Sprache, Teil II: Die Kriminalisierung von Sexualität – ein Plädoyer für die Verteidigung der Würde von Frauen, die der Prositutuion nachgehen. Zeitung für leichte und schwere Mädchen, 18, S.5-8.

Gutman, R. (1993): Wir haben Befehl, Mädchen zu vergewaltigen. In: T. Zülch (Hrsg.), »Ethnische Säuberung« – Völkermord für »Großserbien« (S.105-109). Zürich Luchterhand Flugschrift 5.

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Monika Gerstendörfer, Dipl.-Psychologin, Lobby für Menschenrechte, Postfach 1030, 72541 Metzingen.

zum Anfang | Asylrecht in Deutschland – Asylrecht in Europa

von Herbert Leuninger

Die Grundgesetzänderung vom 26. Mai 1993 solle die „Singularisierung der Bundesrepublik Deutschland beseitigen„, so der Fraktionsvorsitzende der CDU/ CSU, Dr. Wolfgang Schäuble, am Tag der Grundgesetzänderung im Deutschen Bundestag. Der grundrechtliche Schutz für politisch Verfolgte müsse „an das Niveau der Schutzgewähr der internationalen Staatengemeinschaft, wie es in der Genfer Konvention seinen Ausdruck findet„, angepasst werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Grundsatzurteil vom 14. Mai 1996 dieses Asylrecht als verfassungskonform bestätigt. Mit der Grundgesetzänderung sei „eine Grundlage geschaffen, um durch völkerrechtliche Vereinbarungen eine europäische Gesamtregelung der Schutzgewährung für Flüchtlinge mit dem Ziel einer Lastenverteilung zwischen den beteiligten Staaten zu erreichen.„ Das Gegenteil dessen, was Politik und Verfassungsgericht hier verkünden, ist wahr: Deutschland versucht sich zunehmend von den bisher anerkannten Standards des internationalen Flüchtlingsschutzes zu lösen.

Nach dem Abbau des Grundrechts auf Asyl sind die nächsten Angriffspunkte die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention. Beide kommen nur noch eingeschränkt in Deutschland zur Geltung. 1993 wurde das Asylrecht angeblich geändert, um ein europäisches Asylrecht zu schaffen. Jetzt ist die Bundesrepublik die Vorreiterin bei der Demontage des internationalen Flüchtlingsrechtes. Bis heute hat die Bundesregierung keinen Vorschlag für ein einheitliches europäisches Asylrecht, das politisch Verfolgte wirksam schützt, vorgelegt. Bisher gibt es vor allem eine europäische Asylpolitik, die auf die Abwehr von Flüchtlingen gerichtet ist. Vergleichbare Verfahrensregelungen oder gar ein gemeinsames materielles Asylrecht gibt es nicht.

Die Abkommen von Dublin und Schengen haben im europäischen Bereich nur Verfahrens- und Zuständigkeitsregelungen gebracht. Sie sind jedoch nicht in den Bereich des materiellen Asylrechts vorgedrungen. Da alle EU-Staaten prinzipiell ein Asylrecht anerkennen und sich zur Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet haben, ist die Forderung, ein solches materielles europäisches Asylrecht zu schaffen, nicht so weltfremd wie manchmal dargestellt. PRO ASYL fordert von der neu gewählten Bundesregierung unmittelbar nach der Bundestagswahl Initiativen zur Schaffung eines verbindlichen europäischen Rechts. Hierbei sind die bislang anerkannten Standards des internationalen Flüchtlingsrechts, die Empfehlungen des Europarates aus dem Jahre 1981 und die Auslegung dieser Standards durch den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) zu berücksichtigen. Aus dem Bereich der Nichtregierungsorganisationen gibt es Vorschläge des Europäischen Flüchtlingsrates ECRE, die ebenfalls als Grundlage dienen können.

Damit dieses Vorhaben nicht auf die lange Bank geschoben wird und sich die Politik nicht mit dem Hinweis auf die angeblich so langwierigen internationalen Prozesse entlasten kann, fordern wir konkrete Schritte vom nationalen Gesetzgeber, dem Deutschen Bundestag. Allerdings sind die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen von Rot-Grün zum Asylrecht eine einzige große Enttäuschung.

Dennoch hat für PRO ASYL nach wie vor oberste Priorität, dass die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention wieder uneingeschränkt in Deutschland Geltung erlangen.

Angleichung des deutschen Asylrechts an internationale Standards

Genfer Flüchtlingskonvention

Mit der Drittstaatenregelung, wie sie im Asylverfahrensgesetz festgeschrieben ist, hat sich die Bundesrepublik Deutschland von der Einzelfallprüfung abgewandt und ist zur Pauschalierung des Asyl- und Menschenrechtsschutzes übergegangen.

Die Drittstaatenregelung erklärt alle Nachbarstaaten Deutschlands und die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu sicheren Drittstaaten, insofern dort der Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention gilt. Flüchtlinge, die über diese Länder einreisen, verlieren in Deutschland jeden Anspruch auf Asyl und können dorthin zurückgeschoben werden.

Demgegenüber setzt aber das in Artikel 33 GFK enthaltene Refoulement-Verbot eine Einzelfallprüfung voraus (Refoulement-Verbot: Die Genfer Flüchtlingskonvention untersagt es, Flüchtlinge gegen ihren Willen in ihre Herkunftsländer abzuschieben). Dies ist die Auffassung des UNHCR. Um dieser Auffassung wieder zur Geltung zu verhelfen, muss nicht das Grundgesetz geändert werden. Die geforderte Regelung widerspricht auch nicht der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung vom 14. Mai 1996. Es genügt eine Änderung von § 34 a Asylverfahrensgesetz.

Eine derartige Regelung ist auch politisch keineswegs weltfremd. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Bundestagsfraktion der SPD im Jahr 1993 einen Änderungsantrag gestellt hat, mit dem sicher gestellt werden sollte, dass auch solche Asylsuchende eine gerichtliche Beschwerdemöglichkeit erhalten, die über einen »sicheren Drittstaat« nach Deutschland einreisen.

In Deutschland hat sich eine Rechtsprechung durchgesetzt, die den Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention verengt. Verfolgt sollen nur diejenigen sein, deren Verfolgung vom Staat ausgeht. Damit wird faktisch verhindert, dass die Genfer Flüchtlingskonvention ihre volle Schutzwirkung entfalten kann. Motoren dieser Entwicklung sind neben der ehemaligen Bundesregierung die höchstrichterliche Rechtsprechung, insbesondere die des Bundesverwaltungsgerichtes (BVerwG).

Durch diese Interpretation der GFK sind z.B. Flüchtlinge aus Somalia, Afghanistan und auch aus Bosnien aus dem unmittelbaren Asylschutz herausgefallen. Zehntausende Flüchtlinge werden als AsylbewerberInnen abgelehnt und gelten dann als Menschen, die das Asylrecht missbrauchen.

So hat das Bundesverwaltungsgericht in einem Grundsatzurteil vom 4. November 1997 entschieden, dass praktisch allen Flüchtlingen, die aus Kriegs- und Krisengebieten nach Deutschland fliehen, der asylrechtliche Schutz verweigert wird. Obwohl das Gericht im konkreten Fall zugestand, dass der Asylsuchende aus Afghanistan als hoher Funktionär des früheren kommunistischen Regimes inzwischen überall in Afghanistan mit lebensbedrohender Verfolgung rechnen müsse, verweigerte es ihm asylrechtlichen Schutz. Politische Verfolgung besteht nach dem Bundesverwaltungsgericht nur dann, wenn sie von einem Staat oder einer staatsähnlichen Gewalt ausgeht, deren Herrschaft stabil und dauerhaft ist. Diese Rechtsprechung ignoriert die Entstehungsgeschichte der Genfer Flüchtlingskonvention. Diese entstand mit dem Ziel, alle diejenigen Menschen zu schützen, die durch den Wegfall des zuvor gewährten staatlichen Schutzes schutzlos geworden sind – unabhängig davon, ob der Auslöser der Untergang des Herkunftsstaates oder eine Verfolgung durch staatliche Organe ist. Die Folge der verengenden Auslegung der GFK durch das Bundesverwaltungsgericht ist, dass Flüchtlingen die Status-Rechte der GFK vorenthalten werden (etwa Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina, Afghanistan, Somalia). Eine Änderung der Praxis ist erforderlich. Vom UNHCR ist in den vergangenen Jahren die entsprechende Beachtung der GFK immer wieder gefordert worden.

Europäische Menschenrechtskonvention

Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verbietet es, jemanden der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung zu unterwerfen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass das Verbot des Art. 3 EMRK auch dann gilt, wenn eine Person in ein Land gebracht werden soll, in dem die Misshandlung von nichtstaatlicher Seite droht (EuGMR, Urteil vom 17.12. 1996 Nr. 71/ 1995/ 577/ 663 – Ahmed ./ . Österreich, InfAuslR 1997, S. 279 ff.). Dieser Rechtsprechung zu folgen, weigert sich das Bundesverwaltungsgericht in seiner Somalia-Entscheidung vom 15. April 1997. Zugrunde lag dieser Entscheidung der Fall eines somalischen Staatsangehörigen, der von den Truppen des Clanchefs Aidid verfolgt und inhaftiert wurde. Dem nach Deutschland Geflohenen wurde von den Verwaltungsgerichten nicht nur der Asylanspruch verweigert; man verweigerte ihm auch die Rechtsstellung nach § 51 Abs. 1 AuslG und den Abschiebungsschutz gemäß § 53 Abs. 4 AuslG, der sich auf den Schutz durch die Europäische Menschenrechtskonvention bezieht. Die Begründung: Als unmenschliche Behandlung seien gemäß Art. 3 EMRK grundsätzlich nur Misshandlungen durch staatliche Organe anzusehen (AZ.: BVerw G 9C 38. 96, Urteil vom 15.4. 1997).

Das Bundesverwaltungsgericht ist demnach der Auffassung, dass eine die Abschiebung verbietende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach Art. 3 EMRK nur dann vorliegen soll, wenn „sie von einem Staat oder von einer staatsähnlichen Organisation herrührt„.

Demgegenüber hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil »Ahmed gegen Österreich« vom 17. Dezember 1996 ( N r. 71/ 1995/ 577/ 663) festgestellt, dass „angesichts des absoluten Charakters von Art. 3 auch nicht … das Fehlen jeder staatlichen Gewalt in Somalia„ der Anwendbarkeit von Art. 3 EMRK entgegenstehe. Der Grundsatz, wonach es beim Abschiebungsschutz nach Art. 3 EMRK nicht auf die Einwirkung einer staatlichen oder staatsähnlichen Gewalt ankommt, sondern absoluter Schutz vor Folter, unmenschlicher Behandlung oder Abschiebung in eine vergleichbar lebensbedrohliche Lage gewährt werden soll, wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil »D. gegen Vereinigtes Königreich« vom 2. Mai 1997 (N r. 146/ 1996/ 767/ 964) bestätigt. (In der Entscheidung ging es um einen Aidskranken, dem nach seiner Abschiebung ins Herkunftsland mangels ausreichender Behandlungsmöglichkeiten der baldige Tod gedroht hätte. Die Abschiebung wurde als unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK bewertet.)

Damit geht die deutsche Rechtsprechung einen Sonderweg und setzt sich in Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Schutzbedürftigen wird so der notwendige Schutz entzogen.

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss auch für deutsche Gerichte verbindlich sein. Deshalb ist im Zuge einer europäischen Harmonisierung des Menschenrechtsschutzes § 53 Abs. 4 AuslG wie oben bereits dargelegt zu fassen.

Erfordernisse eines »harmonisierten« Asylrechts in der EU

Der Europäische Flüchtlingsrat (ECRE), in dem Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen aus 21 europäischen Ländern vertreten sind, hat auf seiner gemeinsamen Sitzung im Frühjahr 1998 in Portugal die europäischen Politiker aufgefordert, in der Asylpolitik einen stärker ethisch orientierten Ansatz zu verfolgen. Der Rat appelliert an die europäischen Regierungen, eine Führungsrolle in der Verteidigung der Menschenrechte der Asylsuchenden zu übernehmen, die aus den Krisengebieten vor den Toren Europas fliehen.

ECRE zeigt sich sehr besorgt angesichts der wachsenden Diskrepanz zwischen der Verpflichtung der europäischen Regierungen zu demokratischen Werten und humanitären Traditionen auf der einen Seite und dem restriktiven Ansatz in der Bewältigung der jüngsten Flüchtlingskrisen auf der anderen. Drei namhafte Beispiele bieten besonderen Anlass zur Sorge. Die Unruhen im Kosovo, in Algerien und im nördlichen Teil des Iraks und der Türkei wurden allesamt frühzeitig vorhergesehen, dennoch ergriff die Völkergemeinschaft keine wirksamen Präventivmaßnahmen. Viele der Opfer dieser Tragödien gelangen nun als »Boat People« zu uns und überleben nur mit knapper Mühe ihren Versuch, in Europa Zuflucht zu finden. Die derzeitige abschreckende Reaktion Europas gegenüber diesen Menschen kann als Ergebnis der Politik einer »Festung Europa« betrachtet werden, welche die Regierungen seit fast einem Jahrzehnt mit ihrer politischen Tagesordnung verfolgen.

Im einzelnen fordert ECRE :

  1. die Tatsache anzuerkennen, dass ein bedeutender Teil der Personen, die derzeit aus Algerien, dem Kosovo, dem Irak und der Türkei fliehen, des internationalen Schutzes bedürfen. Die europäischen Staaten sollten nicht versuchen, die Flüchtlingsproblematik durch den Einsatz von Maßnahmen zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung zu lösen. Der Aktionsplan der Europäischen Union zum Phänomen der sogenannten irakischen Einwanderer vom Februar 1998 sei der Inbegriff eines solchen Ansatzes. An einer Stelle wird darin erwähnt, dass „die Bedingungen der Genfer Konvention Beachtung finden„, aber davon abgesehen geht es ausschließlich um Maßnahmen, die verhindern sollen, dass weitere kurdische Flüchtlinge nach Europa gelangen – Maßnahmen, welche völlig außer Acht lassen, dass Menschenrechtsverletzungen gegen das kurdische Volk Realität sind.
  2. noch einmal alle Abschiebungen von AlgerierInnen, Kosovo-AlbanerInnen und KurdInnen zu überprüfen, um eine Verletzung des Non-Refoulement-Prinzips der Genfer Flüchtlingskonvention zu vermeiden und niemanden zurückzuschicken, der Gefahr läuft, Folterungen oder anderen unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlungen ausgesetzt zu werden. Die Regierungen Europas sollten ihre Kräfte dafür einsetzen, die Ursachen der Flüchtlingsbewegungen zu beseitigen, statt auf die Verhandlung oder Durchsetzung von Rückführungsabkommen mit diesen Ländern zu drängen. Derartige einseitig erzwungene Rückführungen seien zum gegenwärtigen Zeitpunkt kontraproduktiv, sie wirkten sich destabilisierend auf eine ohnehin schon höchst instabile Situation aus, und sie liefen den internationalen Verpflichtungen der aufnehmenden Staaten zuwider, wie sie in der Flüchtlingskonvention aus dem Jahre 1951 und in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert sind.
  3. in Diskussionen mit anderen europäischen Staaten hinsichtlich der Harmonisierung der Aufnahme- und Asylpolitik eine Grundsatzposition einzunehmen und zu überdenken, wie Europa auf Flüchtlinge reagieren soll, die vor einem Bürgerkrieg oder vor einem allgemeinen Gewaltklima fliehen. Folgendes sei von vitalem Interesse:

    • eine korrekte Anwendung der Konvention aus dem Jahre 1951 in Übereinstimmung mit ihrem humanitären Geist, einschließlich der Anerkennung des Status derjenigen, die der Verfolgung von nichtstaatlicher Seite ausgesetzt sind;
    • ein regionales und zeitlich begrenztes Schutzsystem wie beispielsweise das von der Kommission der Europäischen Union vorgeschlagene, mit dem ein Instrument zum Umgang mit plötzlichen großen Flüchtlingsaufkommen geschaffen würde;
    • sicherer und rechtsverbindlicher Schutz von De-facto-Flüchtlingen, die nicht unter die Flüchtlingsdefinition gemäß der Konvention fallen;
    • eine angemessene Politik der Lastenteilung, die auch die Schaffung eines europäischen Flüchtlingsfonds beinhaltet, um die finanzielle Verantwortung für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen zwischen den europäischen Staaten aufzuteilen.

Alternativen zum Strategiepapier der EU

Der Europäische Flüchtlingsrat, in dem von deutscher Seite die großen Wohlfahrtsverbände und PRO ASYL Mitglieder sind, hat sich auch mit eigenen Vorschlägen an den österreichischen Ratsvorsitz gewandt. Dieser hatte im Juli 1998 ein Strategiepapier zur Einwanderungs- und Asylpolitik vorgelegt, das unter den Nichtregierungsorganisationen große Unruhe auslöste. ECRE hat hierzu ausführlich Stellung genommen und diverse und in mancher Hinsicht moderate Alternativen unterbreitet.

  • Die EU-Staaten sollten bei größeren erzwungenen Fluchtbewegungen äußerst zurückhaltend mit einer Visumspflicht umgehen. (Deutschland hatte am Beginn des Bosnien-Konfliktes sofort eine Visumspflicht für Bosnier eingeführt, um deren Flucht ins Bundesgebiet zu erschweren). Gegebenenfalls seien Abschiebungen und Rücknahmeabkommen für Krisengebiete vorübergehend auszusetzten.
  • Asylbewerber sollten vielmehr beim Zugang zum europäischen Territorium und zu Anerkennungsverfahren unterstützt werden. Das würde eine Kehrtwendung in der derzeitigen europäischen Flüchtlingspolitik bedeuten, die auf die Verhinderung von Zuflucht abstellt und Flüchtlingen keine andere Wahl lässt, als sich dubiosen und kostspieligen Fluchthilfeorganisationen (sog. Schleppern oder Schleusern) auf Gedeih und Verderb zu überantworten und »illegal« die Grenzen zu überschreiten.
  • Das umständlichen Systems der Asylverfahren könnte vereinfacht werden, jedoch dürfte die Rechtsstaatlichkeit der Verfahren dabei keinen Schaden nehmen. Vielmehr sollten einige der ineffizienten und teuren Maßnahmen, die in den letzten zehn Jahren immer häufiger angewendet wurden, abgeschafft werden. Dies betrifft insbesondere die Abschiebehaft trotz gleichwertiger Alternativen, die Regelung des sicheren Drittstaates (welche zur Vervielfachung der Verfahren, Inhaftierungen und Rückführungen geführt hat), die Abschiebung in Fällen, bei denen keine Programme zur freiwilligen Rückkehr angeboten wurden, sowie die Visapflicht für Personen, die fluchtproduzierenden Situationen zu entkommen trachten.
  • Andere Möglichkeiten der EU-Staaten im Bereich Asyl (vorübergehender Schutz, Rückkehrprogramme und andere humanitäre Angebote) sollten besser genutzt werden.
  • Schließlich gehe es um die Vollendung der Harmonisierung, einschließlich der Verbesserung früherer Maßnahmen und Abkommen, sowie um die Ausarbeitung einer ergänzenden Definition für Flüchtlinge, die aus der Genfer Flüchtlingskonvention herausfallen;
  • Auf europäischer Ebene müssten Integrationsstrategien entwickelt werden, die sich auf Vielfalt, Nichtdiskriminierung, sozioökonomische Rechte und die Rechte der Familienzusammenführung gründen. Wenn ECRE auch nicht einer Rückführung von Personen widerspricht, die keines internationalen Schutzes bedürfen, so sei es erforderlich, dass die Mitgliedstaaten jenen einen dauerhaften Aufenthalt ermöglichen, die aus Gründen, die diese selbst nicht zu verantworten hätten, nicht zurückgeführt werden können;
  • Die politische Unterstützung für das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) sollte wieder hergestellt werden, um auf dem direktesten Weg weltweite Solidarität praktizieren zu können und das Prinzip der Universalität der Menschenrechte (und somit auch des Rechts auf Asyl) zu wahren.

Letztlich muss der Kampf gegen die Ursachen erzwungener Migration Vorrang haben vor einer wie auch immer gearteten Abwehr von Menschen, die Schutz suchen oder um ihr Überleben kämpfen. Ein interessantes Beispiel dürfte der Ende 1995 eingeleitete Barcelona-Prozess sein. In ihm haben sich die Anrainer des Mittelmeeres unter Führung der EU zusammengeschlossen. Mit einem eindrucksvollen Bündel von Konferenzen, Kontakten und Maßnahmen – nicht zuletzt auch durch beachtliche finanzielle Mittel – soll ein Raum der Partnerschaft, der Stabilität und des Friedens entstehen. Dieser Versuch, der neben einer Reihe nordafrikanischer Staaten auch Israel und die Türkei umfasst, verdiente eine höhere Aufmerksamkeit. Er ist im Übrigen ausdrücklich darauf angelegt, Flüchtlingsströme einzudämmen.

Literatur:

Heinhold, H. (1997): Abschiebungshaft in Deutschland. Frankfurt.

Heinhold, H. (1997): Recht für Flüchtlinge – Ein Leitfaden durch das Asyl- und Ausländerrecht für die Praxis. Frankfurt.

Leuthardt, B. (1997): Europas neuer Pförtner – Litauen im Schatten des deutschen Asylrechts. Frankfurt.

PRO ASYL (Hrsg.) (1998): Mindestanforderungen an ein neues Asylrecht. (Materialheft), Frankfurt.

Wurzbacher, S. (1997): Gut beraten. Abgeschoben … Flüchtlingssozialarbeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Frankfurt.

Herbert Leuninger, Europareferent von PRO ASYL – Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge, Postfach 101843, 60018 Frankfurt.

zum Anfang | Meinungsfreiheit in der Mediengesellschaft

von Andrea Gourd

Die Meinungsfreiheit zählt zu den vornehmsten Menschenrechten überhaupt (BVerfGE 5, 85: 205). Daher gehört das Grundrecht auf Meinungsfreiheit zum Standard in den Verfassungen westlicher Demokratien und zählt nach verbreiteter Ansicht zu den verwirklichten Grundprinzipien. Doch gerade diese vermeintliche Selbstverständlichkeit birgt die Gefahr in sich, dass Meinungsfreiheit zwar positiv rechtlich verankert wird, ihr normativer Sinn jedoch aus dem Blick gerät.

Was konkret mit dem normativen Sinn der Meinungsfreiheit gemeint ist, erschließt sich bei einer Betrachtung ihres elementaren politischen Charakters. Um mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts zu sprechen, ist Meinungsfreiheit „für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend, denn sie ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist. Sie ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt„ (BverfGE 5, 85: 205). Ihre Bedeutung gewinnt Meinungsfreiheit also nicht nur als elementares Individualrecht, sondern mehr noch als konstituierendes Element der parlamentarischen Demokratie. Es handelt sich hier sozusagen um eine doppelte Legitimation, wobei beide Dimensionen sich gegenseitig bedingen.2 Diesen Doppelcharakter von individualrechtlicher und gesellschaftspolitischer Stoßrichtung teilt die Meinungsfreiheit mit anderen Grundrechten. Menschenrechte bewegen sich im Kontext von Staat und Individuum, sie definieren Freiheitsräume des Einzelnen, die um der individuellen Entfaltung willen vor staatlichen Interventionen geschützt sind. Umgekehrt verlangt aber individuelle Entfaltung auch nach sozialer Teilhabe; erst im Zusammenspiel von Unabhängigkeit vor Eingriffen und Teilhabe am politischen Prozess einer Gesellschaft werden Menschenrechte verwirklicht. Dieses Zusammenwirken von positiver und negativer Freiheit ist für das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit konstitutiv. Meinungsfreiheit lässt sich als ein klassisches Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in die individuelle Freiheit der Meinungsäußerung interpretieren. Meinungsfreiheit erschöpft sich aber nicht in der Freiheit vor staatlichen Ein- und Übergriffen. Wird sie verstanden als elementares Recht, das die Mitwirkung am politischen Geschehen einer Gesellschaft ermöglicht, sichert und fördert, und das zugleich der Einlösung der Demokratie dient, so nimmt Meinungsfreiheit den Charakter eines Teilhaberechts an.3 Dies impliziert weiter, dass der Einzelne zur Wahrnehmung seiner verbürgten Freiheit auf staatliche Vorkehrungen angewiesen ist, die ihm die Ausübung seines individuellen und staatsbürgerlichen Rechts ermöglichen. Die Frage, in welcher Form der Staat heute tätig werden muss, um der so verstandenen Meinungsfreiheit aller Bürgerinnen und Bürger gerecht zu werden, steht im Zentrum der aktuellen Auseinandersetzung um dieses Grundrecht.

Unter den Bedingungen der sog. modernen Massendemokratie vollziehen sich der politische Meinungsstreit und die Meinungsbildung in erster Linie vermittelt durch Massenmedien. Es obliegt also im wesentlichen den Medien, ein Forum bereitzustellen, in dem sich die unterschiedlichen Interessengruppen einer Gesellschaft auseinandersetzen und verständigen sollen. Dieses Forum, normativ verstanden als eine allen zugängliche Öffentlichkeit, ist in pluralistischen Massengesellschaften unerläßliche Bedingung demokratischer Willensbildung, denn nur über die Herstellung von Öffentlichkeit ist demokratische Legitimation von politischen Entscheidungsprozessen möglich.

Je stärker freie Meinungsbildung auf Massenmedien angewiesen ist, desto deutlicher wird eine neue Dimension des Rechts auf Meinungsfreiheit: Es geht nicht mehr nur darum, überhaupt aussprechen zu dürfen, was man denkt, sondern darüber hinaus um die Chance, Meinungen in die Öffentlichkeit zu tragen. Denn Meinungsfreiheit umfasst nicht nur das Recht auf freie Meinungsäußerung, sondern setzt den Zugang zu Informationen ebenso voraus wie die Möglichkeit, sich eine Meinung zu bilden, seine Bedürfnisse und Überzeugungen zu artikulieren, auf andere informationsgebend und meinungsbildend zu wirken usw.4 Es geht also um den Zugang zu den Massenmedien, insbesondere dem Fernsehen als dem bewusstseinsbestimmenden Medium unserer Zeit. Meinungen, die keinen Zugang zu massenmedialer Verbreitung finden, haben so gut wie keine Durchsetzungschance mehr. Zum »Zu-Wort-Kommen« als Aspekt der Meinungsfreiheit tritt also wesentlich das »Zu-Gehör-Kommen« als ergänzende Komponente. Der Zugang zu den Massenmedien entscheidet darüber, ob der für eine freiheitliche Demokratie notwendige Meinungspluralismus widergespiegelt wird oder ob durch einseitige Ausrichtung der Medien womöglich Manipulationen der individuellen und öffentlichen Meinungsbildung möglich werden. Politische Machtfragen entscheiden sich heute zu einem großen Teil an der Beherrschung der Medien.

Vor diesem Hintergrund erweitert sich der Ruf nach Meinungsfreiheit zu einer menschenrechtlichen Forderung neuer Qualität, nämlich zur Forderung nach einer umfassenden Kommunikationsfreiheit, in die beide Dimensionen dieses Grundrechts, also individualrechtliche und gesellschaftspolitische, Eingang finden. Die Umsetzung dieser Konzeption von Meinungsfreiheit bringt jedoch auch in Deutschland erhebliche Schwierigkeiten mit sich. Dies macht der Streit um die verfassungsrechtliche Interpretation von Art. 5 des Grundgesetzes deutlich. Mit Art. 5 Abs. 1 GG ist das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit zum konkret einklagbaren Grundrecht geworden. Dabei gehört das Verhältnis des Satzes 2 („Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet„, sog. Medienfreiheit) zu Satz 1 („Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten„) zu den umstrittensten Fragen der Auslegung des Art. 5. Dies erläutern wir im folgenden.

Hinter diesem grundsätzlichen Dissens stehen unterschiedliche Auffassungen zur Stellung der beiden Seiten der Meinungsfreiheit zueinander. Strittig ist das Verhältnis subjektiv- zu objektivrechtlichen Elementen des Grundrechtsschutzes. Der individualrechtlichen Interpretation des Art. 5 steht die funktionalistische Auslegung einer um ihre gesellschaftspolitische Funktion erweiterten Meinungsfreiheit gegenüber – mit jeweils erheblichen Konsequenzen für die Ausgestaltung des Medienwesens und die Anforderungen an staatliches Tätig werden. Bei diesen divergierenden verfassungsrechtlichen Interpretationen der Meinungsfreiheit steht der Umfang dieses Freiheitsrechts selbst zur Diskussion, was der Streit um die »richtige« Auslegung der Rundfunkfreiheit verdeutlicht.

In der subjektiv- bzw. individualrechtlichen Deutung des Art. 5 I 2 GG wird Rundfunkfreiheit als liberales Abwehrrecht verstanden. Nach diesem klassischen Grund- und Menschenrechtsverständnis sichert die Rundfunkfreiheit dem einzelnen einen Raum freier Betätigung ohne staatliche Eingriffe. Das Äußern und Verbreiten einer Meinung mittels Rundfunk ist in dieser Sichtweise lediglich ein unselbständiger Unterfall der individuellen Meinungsäußerung. Aus dem Recht auf freie Meinungsäußerung wird daher ein Recht des Einzelnen auf Rundfunkveranstaltung abgeleitet und dieses wiederum eng mit der ökonomischen Entfaltungsfreiheit im Rundfunksektor gekoppelt. Gemäß dieser individualrechtlichen Sicht dient Rundfunkfreiheit also nicht primär dem Recht aller auf freie Meinungsbildung, sondern in erster Linie dem Recht des privaten Unternehmers, ein Rundfunkunternehmen zu gründen und Gewinn orientiert zu betreiben. Dass wirtschaftliche Macht sowie organisiertes Durchsetzungsvermögen darüber entscheiden, wer diese so verstandene Rundfunkfreiheit verwirklichen kann und welche Interessen und Ansichten im öffentlichen Meinungsspektrum zur Geltung kommen, wird in diesem Modell nicht problematisiert.

Ganz im Gegensatz dazu steht die funktionalistische Deutung der Rundfunkfreiheit, in der die bereits angesprochene politische Dimension der Meinungsfreiheit bedeutsam wird. Danach bildet gelungene Meinungsbildung den Kern der Rundfunkgewährleistung. Sie setzt auf Maximierung pluralistischer öffentlicher Informations- und Meinungsvermittlung. Rundfunkfreiheit hat hier primär eine den Kommunikationsinteressen aller Bürgerinnen und Bürger dienende Funktion. Um des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung willen ist es daher gerechtfertigt und sogar gefordert, die Interessen der Rundfunkunternehmer zu beschneiden, insofern sie der eng mit dem Demokratieprinzip verbundenen Zielsetzung freier Meinungsbildung zuwiderlaufen. Nach diesem Grundrechtsverständnis wird massenmediale Kommunikation auch und gerade um ihrer gesellschaftlichen Bedeutung willen geschützt. Da der Rundfunk aufgrund der erforderlichen technischen und finanziellen Voraussetzungen nicht jedermann offensteht, wird daraus die Pflicht des Staates zur Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen abgeleitet, die sicherstellen, dass Fernsehen und Hörfunk ihrer gesellschaftlichen Funktion auch tatsächlich gerecht werden. Aus dem liberalen Abwehrrecht wird so ein politisches Auftragsrecht.

Im Bundesverfassungsgericht findet sich ein prominenter Vertreter der funktionalistischen Deutung. Bezüglich der Rundfunkfreiheit hat das Gericht wiederholt betont, dass diese der Gewährleistung freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung diene. Wie der Rundfunk organisiert ist – also öffentlich-rechtlich oder privat-kommerziell – ist zweitrangig, solange der Gesetzgeber sicherstellt, dass „die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in möglichster Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet„ ( BVerfGE 57, 295). Das Grundrecht auf Rundfunkfreiheit beinhaltet demnach einen Auftrag zur Sicherung gleichgewichtiger Vielfalt und zur Schaffung kommunikativer Chancengleichheit. Es mündet damit zwangsläufig in die Forderung nach pluraler Medienorganisation.

Bereits hier ist evident, dass diese Ziele durch ein Verständnis von Meinungsfreiheit als Abwehrrecht nicht hinreichend gesichert werden können. Der Gesetzgeber ist vielmehr aufgefordert, den Missbrauch kommunikativer Macht zu Instrumentalisierungs- oder Manipulationszwecken zu verhindern und publizistische Vielfalt effektiv zu sichern. Insbesondere gilt es einer ökonomischen und damit publizistischen Konzentration im Mediensektor vorzubeugen sowie der Gefahr des Missbrauchs mit dem Ziel einseitiger Einflussnahme auf die öffentliche Meinung entgegenzutreten (BVerfGE 73, 118). Hier ergibt sich ein konkreter Gestaltungsauftrag an den Staat, der weit über eine rein gewerberechtliche Lizenzierung, wie sie faktisch bei der Zulassung privat-kommerzieller Fernsehprogramme praktiziert wird, hinausreicht.

Konfrontiert man nun diese Forderung nach einer unter funktionalen Aspekten »zweckdienlichen« Ausgestaltung des Medienwesens mit den tatsächlich vorhandenen Strukturen des Rundfunksystems, so wird eine erhebliche Diskrepanz offenkundig. Obwohl nicht nur das Verfassungsgericht auf die besonderen Gefahren, die von einer Medienkonzentration für Meinungsvielfalt und freie Meinungsbildung ausgehen, nachdrücklich und mehrfach hingewiesen hat – insbesondere mit dem Hinweis, dass Fehlentwicklungen gerade in diesem Bereich nur schwer rückgängig zu machen sind –, ist genau diese Situation heute zu konstatieren. Hinter der Fassade der Vielfältigkeit (weil Vielzahl) im privaten Rundfunk verbergen sich in Deutschland im wesentlichen die beherrschenden Medienverbünde Kirch und Bertelsmann/ CLT. Die Anfang der 80er Jahre von interessierter Seite proklamierte Bestrebung, das »Monopol« ARD/ZDF zugunsten eines pluralistischen privaten Fernsehsystems abzulösen, hat heute dazu geführt, dass sich – über zahlreiche Verschachtelungen der Besitzformationen, Abhängigkeitsverhältnisse etc. – der private Fernsehmarkt fest im Griff des genannten Duopols befindet, das darüber hinaus bereits Tendenzen zum Monopol aufweist: Die Konzerne Kirch und Bertelsmann kooperieren beim Pay-TV-Kanal Premiere und beabsichtigen, den gewinnträchtigen Zukunftsmarkt des digitalen Fernsehens gemeinsam zu erschließen.5 Diese massive Konzentration im Mediensektor bedeutet eine Einengung publizistischer Vielfalt und pluralistischer Meinungsvermittlung, da einzelne Unternehmer mit spezifischen Interessen erheblichen Einfluss auf die veröffentlichte Meinung und damit auf die Meinungsbildung der Bevölkerung bekommen. Andere Interessen, Meinungen und das Potential zum Widerspruch gegen die herrschenden Perspektiven verlieren damit zunehmend an Artikulationsmöglichkeiten und werden vom politischen Willensbildungsprozess ausgeschlossen. Eine gefährliche Potenzierung erlangt der Einfluss dieser Medienkonzerne dadurch, dass nicht nur die horizontale Konzentration außerordentlich hoch ist, d.h. ein Anbieter jeweils mehrere bundesweite Sender beherrscht (Sat1, Pro7, Kabel 1, DSF, Premiere unter dem Einfluss von Kirch; RTL, RTL2, Premiere, Vox maßgeblich beeinflusst von Bertelsmann/ CLT). Darüber hinaus wird die Verflechtung durch vertikale und diagonale Konzentrationstendenzen immer stärker vorangetrieben. Ein Medienunternehmen tritt also nicht nur als Veranstalter mehrerer Fernsehprogramme auf, sondern ist zusätzlich etwa im Produktions- und Vertriebsbereich tätig und verfügt neben erheblicher Meinungsmacht im Rundfunk auch über Meinungsmacht im Printsektor. Diese intermediäre Verflechtung bildet sich zunehmend zur Multimedia-Konzentration aus. Für kleinere, unabhängige Programmanbieter bleibt auf diesem Markt kein Platz mehr. Bestes Beispiel für eine solch drastische Konzentration ist der Kirch-Konzern, der monopolartig die Kontrolle über alle Funktionen des Marktes von der Programmproduktion über den Programmhandel bis hin zur Ausstrahlung besitzt – und darüber hinaus durch den Verbund mit dem Springer-Konzern über erheblichen Einfluss auf dem Printsektor verfügt. Die sich hieraus ergebenden Synergieeffekte weiss Kirch weidlich zu nutzen. Solche multimedialen Anbieterstrukturen ermöglichen eine kaum mehr zu überschauende und erst recht kaum mehr zu kontrollierende ökonomische und publizistische Marktmacht in wenigen Händen und versprechen größtmöglichen wirtschaftlichen Erfolg. Die Massenmedien, normativ Instrumente zur Verwirklichung von Meinungsfreiheit, werden so zur Machtquelle, und wie Hege richtig bemerkt: „Politische Macht ist immer Macht auf Zeit, die Macht von Medienunternehmen ist es nicht.„6

Von Seiten der Politik wurde die zunehmende Vermachtung des Mediensektors nie ernsthaft angegangen. Im Gegenteil: Standortpolitik, gesetzlicher Nachvollzug und damit Legalisierung bereits eingetretener Missverhältnisse haben diesen Prozess begünstigt statt verhindert. Nicht umsonst hat mit der Etablierung kommerziellen Fernsehens die individualrechtliche Deutung der Rundfunkfreiheit an Boden gewonnen. Erst der Ruf nach möglichst wenig staatlicher Reglementierung und möglichst viel Spielraum für individuelle profitorientierte Betätigung auf dem Fernsehmarkt hat diesen zu einem einträglichen Geschäft werden lassen. Die Kommerzialisierung des Rundfunks hat zu einer Funktionsverschiebung des Fernsehens von der Wahrnehmung politisch-gesellschaftlicher Ziele zur Wahrnehmung ökonomischer Ziele geführt – geebnet wurde dieser Weg durch eine den wirtschaftlichen Erfordernissen angepasste Grundrechtsinterpretation. Dem normativen Sinn der Kommunikationsfreiheit, freie individuelle Meinungs- und demokratische Willensbildung zu sichern, kann ein hochkonzentriertes, in den Dienst privater Gewinninteressen gestelltes Fernsehen jedenfalls nicht gerecht werden.

Wenn das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit seine Konturen angesichts der Herausforderungen des elektronischen Zeitalters bewahren soll, so muss es im dargestellten Sinne zum Kommunikationsgrundrecht aller erweitert werden – mit erheblichen Konsequenzen für die Ausgestaltung des Medienwesens. Gefordert ist die Gegensteuerung durch das Rechtssystem, das reguliert, wo es um das Offenhalten von Kommunikationskanälen geht, und dem aktuellen Ruf nach Deregulierung angesichts neuer Medientechniken mit profitablen Gewinnaussichten nicht leichtfertig nachgibt. Denn ohne gesellschaftlich verantwortungsvolle Wahrnehmung staatlicher Gestaltungsmöglichkeiten wird das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit inhaltlich ausgehöhlt. Dies sollte insbesondere bei der aktuellen Diskussion um die – wieder mal – »neuen Medien« der Informationsgesellschaft nicht aus dem Blick geraten.

Dipl.-Politologin Andrea Gourd, seit 1995 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaften an der Philipps-Universität in Marburg, Wilhelm-Röpke-Str.6, 35032 Marburg.

zum Anfang | Menschenrechtserziehung in Deutschland. Ziele, Erfolge, Perspektiven

von Lothar Müller

Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte jährt sich in diesem Jahr zum fünfzigsten Mal. Welches Resümee lässt sich angesichts dieses halben Jahrhunderts ziehen? Der in diesem Jahr vorgestellte Jahresbericht von amnesty international füllt wie bislang viele hundert Seiten lediglich mit den am besten dokumentierten Fällen. In über 120 Staaten der Welt werden Menschen gefoltert oder misshandelt, in über 90 Staaten sind gewaltlose politische Gefangene in Haft, in rund 70 Staaten werden Menschen Opfer politischer Morde oder von »Verschwinden-lassen«. Es muss von horrenden Dunkelziffern ausgegangen werden. Ein Blick in die Tagespresse reicht aus, um ein ernüchterndes Bild von der Lage der Menschenrechte in der Welt am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zu zeichnen. Dennoch sehen viele in der Idee der Menschenrechte und ihrer fortschreitenden Implementierung in die Organe der Staaten und Völkergemeinschaft gerade nach Beendigung des Kalten Krieges Anlass zur Hoffnung. Aktuell richtet sich der Blick auf die Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshof mit seiner wahrscheinlich großen Bedeutung für die Einklagbarkeit der Menschenrechte.

Welche Rolle kann in dieser Situation Menschenrechtserziehung spielen?

Ein Wertekanon, wie er sich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ausdrückt, bedarf einer angemessenen Wertevermittlung, wenn er von der breiten Bevölkerung getragen werden soll. Die Frage nach geeigneten Mechanismen zur Wertevermittlung bzw. -erziehung wird seit geraumer Zeit in verschiedenen Kontexten wissenschaftlich zu beantworten gesucht. Beiträge finden sich unter den Überschriften Friedens-, Mündigkeits-, Demokratie- oder eben Menschenrechtserziehung. Vielerorts findet sich dort die Forderung nach einer ganzheitlichen Werteerziehung, was den Einbezug von kognitivem, emotionalem sowie handlungsorientiertem Lernen meint. Was bedeutet das für die Menschenrechtserziehung in Deutschland? Welche Ziele verfolgt sie? Welche Erfolge lassen sich verbuchen? Welche Perspektiven für die Zukunft ergeben sich daraus?

Welche Ziele verfolgt Menschenrechtserziehung?

Ich zitiere hier die Zielsetzungen der »Empfehlung zur Förderung der Menschenrechtserziehung in der Schule« der Kultusministerkonferenz von 19807. Sie reiht sich in Ansätze ein, welche mit Kognitionen, Emotionen und Handlungen arbeiten oder anders ausgedrückt bei »Kopf, Herz und Hand« ansetzen, und ist somit exemplarisch zu nennen. Dies wird an den im Folgenden geschilderten drei Zielen von Menschenrechtserziehung deutlich:

  • Menschenrechtserziehung soll Kenntnisse und Einsichten vermitteln, z.B. in die sozialen, ökonomischen und politischen Gründe der weltweit festzustellenden Menschenrechtsverletzungen.
  • Die Frage nach der Verwirklichung der Menschenrechte soll ein wichtiger Maßstab zur Beurteilung der politischen Verhältnisse werden.
  • In dem Schüler und der Schülerin soll die Bereitschaft geweckt werden, sich für die Verwirklichung der Menschenrechte einzusetzen. Er und sie sollen sich für die Rechte anderer einsetzen.

Mit dieser Empfehlung liegt in Deutschland erstmalig eine Stellungnahme von offizieller Seite zur Ausgestaltung von Menschenrechtserziehung vor. Die Kultusministerkonferenz betont hier ausdrücklich, dass es nicht ausreicht, lediglich Kenntnisse im Bereich der Menschenrechte zu vermitteln. Es erscheint einleuchtend, dass ein Wissen über die Menschenrechte, das vokabelgleich gelernt und abgefragt wird, nicht geeignet sein kann, Haltungen oder sogar Handlungen heranwachsender Menschen zu beeinflussen. Das Wissen um Menschenrechte und deren Verletzungen soll ergänzt werden durch eine emotional relevante Bewertung dieses Wissens. Im gewünschten Fall wird die Verletzung von Menschenrechten abgelehnt. Schließlich sollte die Erziehung zur Wahrung der Menschenrechte immer auch handlungsorientiert sein. Neben dem politischen Engagement gibt es vielfältige Möglichkeiten, sich im schulischen Umfeld für die eigenen oder die Rechte anderer einzusetzen. Dieses »sich einsetzen« für die Menschenrechte ist das Letztkriterium der Kultusministerkonferenz8.

Welche Erfolge lassen sich verbuchen beim staatlichen Engagement?

Die bislang erfolgten Evaluationen zur Umsetzung der KMK-Empfehlung zeichnen ein eher ernüchterndes Bild. So führte Peter-Michael Friedrichs 1990, also zehn Jahre nach der Empfehlung, eine kurze Umfrage durch, in der er bei allen Kultusministerien anfragte, inwiefern die Empfehlung umgesetzt worden sei und bat um Zuschickung relevanter Unterlagen.

Die ihm aus den (alten) Bundesländern daraufhin zugeschickten Materialien, sprich Unterrichts- und Ausbildungskonzepte, passten bequem in einen Schuhkarton. Daneben wurde ihm versichert, welch hohen Stellenwert die Thematik habe. Sicher ist der Umfang solcher Materialien allein noch kein Beleg für mangelndes Engagement. Innerhalb des Schuhkartons ist nach Dafürhalten von Friedrichs der Anteil von relativ unsystematisch erstellten und kaum evaluierten Konzepten jedoch recht hoch. Außerdem zeigt sich eine Schiefe zugunsten einer inhaltlichen Bearbeitung der Thematik und zuungunsten von bewusstseinsschaffenden Ansätzen sowie der Förderung von Engagement.

Ausgehend von dieser Datenlage führte ich zu Beginn dieses Sommersemesters eine Studie an der Universität Trier durch, welche insgesamt 95 teilnehmende Studierende eines Seminars zur Menschenrechtserziehung mittels Fragebogen befragte. Es handelte sich um 42 Lehramtskandidatinnen und –kandidaten sowie um 53 Studierende des Diplom-Studienganges Pädagogik. Bis auf fünf Personen begannen alle ihre Schulzeit 1980 oder später, also nach der Empfehlung der KMK, alle schlossen mit Abitur ab. Mit diesen Voraussetzungen stellen die Befragten natürlich keine repräsentative Stichprobe dieser Altersgruppe dar. Sie sind überdurchschnittlich lange schulisch ausgebildet und haben im Schnitt eine zweijährige Universitätskarriere hinter sich. Der Fragebogen thematisiert u.a. folgende Punkte:

  • Die Kenntnis der 30 Artikel der Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
  • Die Effekte von Menschenrechtserziehung in Anlehnung an die Ziele der KMK.

Im ersten Teil des Fragebogens wurden die Studierenden aufgefordert, spontan aufzuschreiben, welche Menschenrechte sie kennen. Obwohl bereits die Nennung eines Stichwortes aus einem Artikel zur Bewertung »Artikel gekannt« führt, »kennen« die Studierenden im Schnitt nur 5,4 Menschenrechtsartikel. Es ist festzustellen, dass die Studierenden ein im Schnitt nur rudimentäres Wissen über den Gegenstand der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte besitzen9. Diese Ergebnisse decken sich mit Untersuchungen von Sommer et al.10, die einen noch deutlich geringeren Kenntnisstand (vermutlich aufgrund einer restriktiveren Auswertung der Angaben der Studierenden) konstatieren.

Im zweiten Teil des Fragebogens wurde der Frage nachgegangen, inwiefern die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz von 1980 Effekte in der schulischen Ausbildung der Befragten hatten. Die Studierenden hatten die Möglichkeit, den Erfolg ihrer eigenen schulischen Menschenrechtserziehung, gemessen an den Zielsetzungen der KMK im Wortlaut, auf einer 5-stufigen Ratingskala einzuschätzen. Dabei wurden die verschiedenen Ziele der KMK in der Wahrnehmung der Studierenden bei ihnen selbst als zwischen »eher nicht« und »mittel« von der Schule erreicht angesehen. Besonders wenig wurde es danach von der Schule erreicht, zu ermöglichen, „das Verhältnis von universeller Geltung und jeweiliger nationaler Entfaltung der Menschenrechte zu beurteilen„ sowie die Studierenden zu befähigen, „sich in ihrem persönlichen und politischen Lebensumkreis für die Realisierung der Menschenrechte einzusetzen„. Ergänzend zu den Zielen der KMK wurde nachgefragt, ob und inwiefern die Studierenden sich selbst aktiv für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen. Die Beantwortung dieser Frage weist den niedrigsten Mittelwert aller erhobener Items auf. So sagen 62,1 Prozent der Befragten, dass sie sich »gar nicht« oder »eher nicht« für die Menschenrechte einsetzen. Nur jede zehnte befragte Person sagt von sich selbst, sie würde sich »etwas« für die Menschenrechte einsetzen. Insgesamt werden also die Ziele der KMK als »wenig« bis »mittelmäßig« erreicht angesehen. Insbesonders eigene Möglichkeiten der Realisierung der Menschenrechte werden eher nicht als von der Schule vermittelt gesehen. Darf man den Selbstauskünften Glauben schenken, so ist das größte Manko in der mangelnden Initiierung entsprechenden Verhaltens zu sehen. Angesichts der hohen Selektivität dieser Stichprobe ist davon auszugehen, dass die Ziele bei anderen Gleichaltrigen in noch deutlich geringerem Maße verwirklicht wurden.

Das ernüchternde Bild zum Stand der Menschenrechtserziehung, welches sich hier darstellt, deckt sich mit vielen Aussagen von Lehrpersonen und Schülern, die im Rahmen von Studientagen oder Fortbildungen zu hören sind. Selbst die inhaltliche Vermittlung der Menschenrechte kann nicht als gewährleistet gesehen werden. Das Erzeugen eines Menschenrechtsbewusstseins sowie das Initiieren von Engagement bleibt weit hinter den Zielen zurück.

Welche Erfolge lassen sich beim individuellen und ehrenamtlichen Engagement verbuchen?

An dieser Stelle soll die tragende Rolle der NGOs, der Nicht-Regierungs-Organisationen, angesprochen werden. Die größten Organisationen, die Engagement in der Frage der Menschenrechtserziehung zeigen, sind u.a. die kirchlichen Organisationen wie Missio, Miserior, Diakonisches Werk oder die Jugendverbände. Daneben arbeiten nicht konfessionell gebundene Organisationen wie Terre des Hommes und nicht zuletzt amnesty international zur Menschenrechtserziehung. Spezielle Fragen der Menschenrechte werden vom Deutschen Roten Kreuz oder der Deutschen Welthungerhilfe bearbeitet. Daneben existieren verschiedene kleinere bundesweit oder regional arbeitende Gruppen. Diese Organisationen leisten seit geraumer Zeit wohl den entscheidenden Beitrag zur Menschenrechtserziehung in Deutschland.

Es werden vielfältige Ansätze wie z.B. konkrete Vorschläge zur Unterrichtsgestaltung oder Konzepte zur Weiterbildung, Gottesdienste und öffentliche Veranstaltungen entwickelt und angeboten. So sehr dieses Engagement grundsätzlich erfreuen mag, so wenig lässt sich leider leugnen, dass selbst relativ mitgliederstarke Organisationen wie amnesty international massiv in ihren personalen und finanziellen Ressourcen limitiert sind.

Es ist festzustellen, dass auch das hohe Engagement nichtstaatlicher Organisationen dem immer wieder verlauteten Stellenwert der Menschenrechtserziehung nicht entsprechen kann. So verbleibt der Entwicklungsstand der Menschenrechtserziehung weit unter dem theoretisch Möglichen.

Welche Perspektiven für die Zukunft ergeben sich daraus?

An vielen Schulen Deutschlands zeigen sich trotz der mangelnden Förderung von Menschenrechtserziehung ermutigende Beispiele. So führen z.B. die Unesco-Projektschulen vielfach Projekte und Aktionen in diesem Jahr zu den Menschenrechten durch. Diese in Deutschland etwa 100 Schulen erheben die Behandlung der Menschenrechte zu einem ihrer Grundsätze11. Immer wieder finden sich auch in anderen Schulen einzelne engagierte Lehrpersonen, die ausgezeichnete Konzepte entwickeln und durchführen. In Kontakten mit solchen Lehrpersonen wird deutlich, dass diese Personen mit großem Lerngewinn für ihre SchülerInnen wie für sich selbst, aber auch mit spürbar positiven Konsequenzen für die Klassen- und Schulatmosphäre, Menschenrechtsthemen bearbeiten. Diese Ansätze zu stärken möchte ich als das erste Ziel für die Zukunft bezeichnen. Wenn sich die Erziehung zur Wahrung der Menschenrechte Hand in Hand mit der Demokratie- oder der Friedenserziehung flächendeckend positiv entwickeln soll, sind unterschiedliche konkrete Forderungen denkbar, welche nun ansatzweise dargestellt werden sollen.

  • Es sollte eine Neufassung der KMK-Erklärung von 1980 in Form eines Erlasses verabschiedet werden. Insbesonders die Schulbuchverlage orientieren sich nach eigenen Aussagen sehr eng an solchen Vorgaben. Vorreiter ist Nordrhein-Westfalen, das 1997 einen Erlass zur Förderung der Menschenrechtserziehung herausgab. Andere Bundesländer wie Bayern oder das Saarland signalisieren ähnliche Initiativen, doch ein umfassender KMK-Beschluss wäre natürlich von größerem Gewicht.
  • Die in der KMK-Erklärung aufgeführten Ziele sollten verbindlich in die Lehrpläne, Richtlinien oder Curricula der Fächer im historisch-politischen Lernfeld, aber auch darüber hinaus, aufgenommen werden. Außerdem wäre die Produktion geeigneter Schulbücher und sonstiger Lehr- und Lernmittel anzuregen und von Regierungsseite zu unterstützen12
  • Pädagogische Konzepte müssten professionell, z.B. von den Staatsinstituten für Schulpädagogik, entwickelt und bekannt gemacht werden.
  • Menschenrechtserziehung sollte zum verbindlichen Gegenstand der offiziellen Lehrpersonenaus- und -fortbildung gemacht werden.
  • Im Bereich der außerschulischen Bildung sollten informelle Menschenrechtserziehungsprojekte (wie z.B. Straßentheater, Workshops, Cartoons, Trainingsprogramme für Multiplikatoren etc.) entwickelt werden, damit auch Menschen – insbesondere Jugendliche, die den formalen Erziehungsbereich verlassen haben – mit Menschenrechtsprogrammen erreicht werden können.
  • Die Bundesregierung sollte aufgefordert werden, eine Nationale Koordinierungsstelle zur Menschenrechtserziehung einzurichten. In der Erklärung zur Dekade der Menschenrechtserziehung der UNO von 1995-2004 wird eine solche Stelle gefordert. In Österreich ist diese Forderung in Form der »Servicestelle für Menschenrechtserziehung« in Wien bereits erfüllt13

Dipl. Psych. Dipl. Päd. Lothar Müller ist Sprecher der Sektionskoordinationsgruppe Menschenrechtserziehung bei amnesty international Deutschland. Er arbeitet am FB 1 Pädagogik der Universität Trier, Universitätsring 15, 54286 Trier.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
(Kurze Zusammenfassung)

Bürgerliche und politische Rechte

  1. Menschen sind frei und gleich geboren;
  2. universeller Anspruch auf Menschenrechte, Verbot der Diskriminierung nach Rasse, Geschlecht, Religion, politischer Überzeugung usw.;
  3. Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit;
  4. Verbot von Sklaverei;
  5. Verbot von Folter und grausamer Behandlung;
  6. Anerkennung des Einzelnen als Rechtsperson;
  7. Gleichheit vor dem Gesetz;
  8. Anspruch auf Rechtsschutz;
  9. Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Ausweisung;
  10. Anspruch auf unparteiisches Gerichtsverfahren;
  11. Unschuldsvermutung bis zu rechtskräftiger Verurteilung, Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen;
  12. Schutz der Freiheitssphäre (Privatleben, Post…) des Einzelnen;
  13. Freizügigkeit und Auswanderungsfreiheit;
  14. Asylrecht;
  15. Recht auf Staatsangehörigkeit;
  16. Freiheit der Eheschließung, Schutz der Familie;
  17. Recht auf individuelles oder gemeinschaftliches Eigentum;
  18. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit;
  19. Meinungs- und Informationsfreiheit;
  20. Versammlungs- und Vereinsfreiheit;
  21. Allgemeines gleiches Wahlrecht.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

  1. Recht auf soziale Sicherheit, Anspruch auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte;
  2. Recht auf Arbeit, freie Berufswahl, befriedigende Arbeitsbedingungen; Schutz vor Arbeitslosigkeit; Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, angemessene Entlohnung, Berufsvereinigungen;
  3. Anspruch auf Erholung, Freizeit und Urlaub;
  4. Anspruch auf ausreichende Lebenshaltung, Gesundheit und Wohlbefinden, einschließlich Nahrung, Wohnung, ärztliche Betreuung und soziale Fürsorge;
  5. Recht auf Bildung, Elternrecht; Entfaltung der Persönlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Freundschaft zwischen den Nationen als Bildungsziele;
  6. Recht auf Teilnahme am Kulturleben;
  7. Recht auf eine soziale und internationale Ordnung, die die Rechte verwirklicht;
  8. Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, Beschränkungen mit Rücksicht auf Rechte anderer;
  9. Absoluter Schutz der in diesen Menschenrechten angeführten Rechte.

Allgemeine Literatur zu Menschenrechten.

amnesty international (1993). Menschenrechte vor der Jahrhundertwende. Frankfurt a.M..

Bielefeldt, H. (1998). Philosophie der Menschenrechte. Darmstadt: Primus.

Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.)(1995). Menschenrechte – Dokumente und Deklarationen. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Bungarten, P. & Koczy, U. (Hrsg.)(1996). Handbuch der Menschenrechtsarbeit. Bonn: Dietz. (Handbuch zur deutschen und europäischen Menschenrechtsarbeit und -politik mit vielen wichtigen Informationen und Adressen)

Braßel, F. & Windfuhr, M. (1995). Welthandel und Menschenrechte. Bonn: Dietz.

Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (1998). Bericht über die menschliche Entwicklung 1998. Bonn: UNO-Verlag.

Dialektik 1987, Heft 13 (Die Rechte der Menschen)

Evangelische Kirche Deutschland (Hrsg.)(1996). Menschenrechte und Entwicklung. Frankfurt a.M..

FIAN (Hg.). (1998). Food First. Bonn: Dietz.

Heinz, W. S. (1986). Menschenrechte in der Dritten Welt. München: Beck.

Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.). (1995). Die Rolle der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte im Kontext des UN-Weltsozialgipfels. Bonn.

Human Rights Watch (1992). World Report. New York.

Hutter, F.-J. & Tessmer, C. (Hrsg.)(1997). Die Menschenrechte in Deutschland. München: Beck.

Könitzer, B. & Martens, J. (Hrsg.)(1997). UN-williges Deutschland. Der WEED-Report zur deutschen UNO-Politik. Bonn: Dietz.

Kühnhardt, L. (1991). Die Universalität der Menschenrechte. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Nowak, M. (Ed.). (1994). World Conference on Human Rights: Vienna, June 1993. The Contribution of NGOs. Reports and Documents, Wien.

Weiß, N., Engel, D. & d’Amato, G. (1998). Menschenrechte. Vorträge zu ausgewählten Fragen. Berlin: Berlin Verlag.

Tetzlaff, R. (Hrsg.). (1993). Menschenrechte und Entwicklung. Bonn: Stiftung Entwicklung und Frieden.

United Nations (1995). The United Nations and Human Rights, 1945-1995. New York: United Nations.

Widerspruch, Juli 1998, Heft 35 (Menschenrechte)

Prof. Dr. Gert Sommer, Vorsitzender des Forum Friedenspsychologie (FFP) und der Interdisziplinären Arbeitsgruppe für Friedens- und Abrüstungsforschung an der Universität Marburg
Martin Quack, Katharina Wegner (Kirchenrätin), tätig im Menschenrechtsreferat im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Postfach 210220, 30402 Hannover
Monika Gerstendörfer, Dipl.-Psychologin, Lobby für Menschenrechte, Postfach 1030, 72541 Metzingen.
Herbert Leuninger, Europareferent von PRO ASYL – Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge, Postfach 101843, 60018 Frankfurt.
Dipl.-Politologin Andrea Gourd, seit 1995 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaften an der Philipps-Universität in Marburg, Wilhelm-Röpke-Str.6, 35032 Marburg.
Dipl. Psych. Dipl. Päd. Lothar Müller ist Sprecher der Sektionskoordinationsgruppe Menschenrechtserziehung bei amnesty international Deutschland. Er arbeitet am FB 1 Pädagogik der Universität Trier, Universitätsring 15, 54286 Trier.

Tschad: Hirse, Schwarzes Gold und Menschenrechte

Tschad: Hirse, Schwarzes Gold und Menschenrechte

von Barbara Dietrich

in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Frieden in Forschung und Lehre an den Fachhochschulen

„Shell: der schmutzige Krieg im Ogoni Land“, „ 30 Jahre Ölausbeutung contra Umweltschutz“, „Todesurteil gegen Ken Saro-Wiwa“ – so oder ähnlich lauteten die Schlagzeilen, als im Oktober 1995 in den Medien über einen Strafprozeß in Nigeria berichtet wurde, in dessen Verlauf neun Angeklagte, darunter der bekannte Autor und Bürgerrechtler Ken Saro-Wiwa, von einem Sondergericht zum Tode verurteilt worden waren und die Todesstrafe – trotz weltweiter Proteste – umgehend vollstreckt wurde.

Ken Saro-Wiwa war führendes Mitglied einer Anfang der neunziger Jahre im Niger- Delta entstandenen »Bewegung für das Überleben der Ogoni« (Movement for the Survival of the Ogoni People – MOSOP), eines Zusammenschlusses von Intellektuellen und Ogoni-Dorfbevölkerung mit dem Ziel politischer Autonomie und gerechter Verteilung der Einnahmen aus der Ölförderung. Das Gebiet der Ogoni, ca. 1.000 km2 groß und von ca. 500.000 Menschen bewohnt, ist nur ein kleiner Teil des Niger-Deltas und eines der ersten Fördergebiete der Firma Shell-Niger, welche die Ölförderung dort bereits seit 1958 betreibt (Danler/Brunner, 1996: 34; Shell, 1995: 3) und die 14 % ihrer gesamten weltweit organisierten Ölproduktion aus dem Niger-Delta bezieht (Danler/Brunner, 1996: 11). Die durch die Ölausbeutung im Niger-Delta verursachten Umweltschäden sind massiv und vielfältig: permanente und zeitweilig auftretende Ölaustritte bewirken die Verschmutzung / Kontaminierung von Böden, Flüssen und schließlich des Trinkwassers, die Ölschicht auf Wasser und Land entzündete sich an manchen Stellen und brannte, ohne daß die Verantwortlichen bei Shell dagegen einschritten (Danler/Brunner, 1996: 26).

Durch das Abfackeln des mit dem Öl assoziierten Erdgases über 24 Stunden am Tag entsteht schwerer Ruß, der sich auf Haut, Schleimhäute und Atemwege der im Delta lebenden Bevölkerung legt, sich auf Feldern und Gewässern absetzt und somit auch in die Nahrung gelangt. Das mit der Abfackelung entstehende Methan-Gas – 12 Mio. t im Jahr – gilt als wichtigster Verursacher des Treibhauseffekts und wird – trotz seit 1996 bestehenden Verbots – fortgesetzt (Danler/Brunner, 1996: 28 f.).

Ein umweltverträgliches Konzept für die Müllentsorgung fehlt: Der bei den Bohrungen zutage geförderte – teilweise kontaminierte – Schlamm wird meist in die nahen Flußläufe gekippt oder im Land vergraben, darin enthaltene Salze, Chemikalien etc. geraten ebenfalls ins Wasser. Auch anderer Müll wird vergraben, verbrannt oder in Flüsse und Sümpfe entsorgt (Danler/Brunner, 1996: 25 ff.). Es ist nur folgerichtig, wenn 80 % der gemeldeten Krankheiten auf verunreinigtes Trinkwasser zurückgeführt worden sind (Danler/Brunner, 1996: 15).

Andere Folgeprobleme der Ölproduktion sind z.B. die Landnahme, die seitens Shell und anderer Ölgesellschaften (z.B. Chevron, Mobil etc. (Danler/Brunner, 1996: 5,10)) ohne weiteres erfolgt, seit durch das Landnutzungsdekret der nigerianischen Regierung im Jahre 1978 sämtliches Land einschließlich der darunter liegenden Rohstoffe – aller bisherigen Tradition zuwider – zu staatlichem Eigentum deklariert worden war (Danler/Brunner, 1996: 7,14 f.).

Nachdem im Januar 1993 etwa 300.000 Menschen an einem von der MOSOP initiierten Protestmarsch gegen die Umweltzerstörung teilgenommen hatten, wurde die Organisation und ihre Anliegen in weiten Teilen Nigerias und international bekannt und damit eine wachsende Gefahr für die Militärregierung, der es bislang gelungen war, etwaige Proteste mit militärischen Mitteln im Keim zu ersticken.

Nachdem Ken Saro-Wiwa als führender Oppositioneller seine Kandidatur für die Constitutional Conference erklärt und MOSOP zuvor Shell zur Zahlung von Gewinnanteilen und von Schadensersatz für die vergangenen 30 Jahre Ölförderung aufgefordert hatte, wurden Ken Saro-Wiwa und einige Mitstreiter unter dem Vorwurf der Anstiftung zum Mord an Gegnern der MOSOP verhaftet. Der Vorwurf gegen Ken Saro-Wiwa war insbesondere deshalb absurd, weil er sich zur Tatzeit nachweisbar nicht an Ort und Stelle aufgehalten hatte (Danler/Brunner, 1996: 35). Gegen die Todesurteile, die gegen Ken Saro-Wiwa und acht weitere Angeklagte ausgesprochen wurden, gab es keine Rechtsmittel, vielmehr wurden sie alsbald vom Obersten Militärrat bestätigt und am 10.11.1995 vollstreckt.

<-2>Die Verurteilung und Hinrichtung der Angeklagten wurde begleitet von einem Feldzug des Militärs gegen die BewohnerInnen der Ogoni-Dörfer: Mord, Schläge, Brandstiftungen waren an der Tagesordnung; Ziel war es, die MOSOP zu zerschlagen (Danler/Brunner, 1996: 35).

In einer von Shell-London im Jahre 1995 herausgegebenen Studie »Die Erdölindustrie in Nigeria« verweist Shell zu seiner Rechtfertigung darauf, Anfang 1995 eine Umweltstudie »Niger Environment Survey« in Auftrag gegeben, bis Ende 1994 Rohrleitungen im Umfang von 1.300 km Länge erneuert zu haben und neue Ansätze hinsichtlich des Exports von Erdgas mit zu entwickeln (Shell, 1995: 6 ff.). Was die politische Lage in Nigeria betrifft, so propagiert Shell als der größte und einflußreichste der in Nigeria tätigen Ölkonzerne (Danler/Brunner, 1996: 5,10; Shell, 1995: 2) die »stille Diplomatie« gegenüber der Militärregierung mit dem Ziel, mäßigend auf die sozialen Konflikte im Land einzuwirken bzw. mit der Bitte um Nachsicht „aus humanitären Gründen“ im Falle Ken Saro-Wiwas (Shell, 1995: 8 ff). Jedenfalls im letzteren Fall ohne Erfolg.

Tschad – (k)ein neues Ogoni-Land ?

Droht im Tschad eine Entwicklung, die der in Nigeria vergleichbar ist? Oder nutzt die Regierung im Tschad die Chance, maximale Gewinne aus der geplanten Ölförderung für das eigene Land zu reklamieren, zum Nutzen der benachteiligten Bevölkerung einzusetzen und damit auch die Demokratisierung zu entwickeln?

Tschad, seit 1960 formal unabhängig, Nachbarland von Nigeria, Nachbar auch von Sudan, Libyen, Niger, Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik: ein Land ohne eigenen Zugang zum Meer.

Der äußerste Norden mit fast 50 der Gesamtfläche des Tschad – etwa zweieinhalbmal so groß wie Frankreich –, ist Wüste, der mittlere Teil – der Norden genannt wird – ist Teil der semiariden Sahelzone. Im Süden – tropisches bzw. randtropisches Gebiet – konzentrieren sich auf 25 der Gesamtfläche ca. 60 der insgesamt 6,4 Mio. Einwohner des Tschad (1995). An Verkehrswegen besitzt der Tschad insgesamt ca. 250 km asphaltierte Straßen; im Süden gibt es wegen des Baumwollanbaus und der Vermarktung dieses Produkts ein regelmäßig gewartetes Pistennetz (Matthes, 1993: 488; Fischer Weltalmanach, 1997: 705).

Im Tschad leben – Resultat der kolonialen Grenzziehung – ca. 200 Ethnien. Es gibt zwölf verschiedene Sprachgruppen mit mindestens 110 Sprachen und Dialekten. Französisch ist Amtssprache, seit 1982 auch arabisch.

<-2>In der Sahelzone leben Angehörige islamisch-sunnitischen Glaubens, die – teilweise nomadisierend – Viehzucht und Handel betreiben. Im Süden leben dagegen christlich und animistisch orientierte Ethnien, die Ackerbau treiben (Ki-Zerbo, 1992: 579). Die Ethnie der seßhaften Sara dominiert im Süden (1 Mio.) und stellt bis heute die administrative Elite, wiewohl seit 1982 ein Muslim Präsident ist (Matthes, 1993: 489; Nohlen, 1993: 679f.).

Wirtschaftlich zählt der Tschad zu den ärmsten Ländern der Welt und ist als LLDC (Least Developed Country) klassifiziert (Klassifikation nach UN-Kriterien, vgl. Michler, 1991: 42; ab 1992 gelten modifizierte Kriterien, vgl. Beermann, 1992: 58f.). Als Indikatoren hierfür seien genannt (Angaben für 1995):

  • Bevölkerungswachstum 1985 – 1995: durchschnittlich 2,5 pro Jahr.
  • Kindersterblichkeit: 15,2 (Fischer Weltalmanach, 1997: 705).
  • Schulbesuch der Kinder: 25 (Duppel/Petry, 1997: 1).
  • Analphabetenrate: 52 (Fischer Weltalmanach, 1997: 705).
  • <-3>Zugang zu sauberem Trinkwasser: 1/3 der Bevölkerung (Duppel/Petry, 1997: 1).
  • Durchschnittseinkommen pro Kopf 1993: 210 US $ jährlich (amnesty international, 1993: 6).
  • <-2>Bruttosozialprodukt: 1.144 Mio. US $.
  • Auslandsverschuldung: 908 Mio. US $ (Fischer Weltalmanach, 1997: 705f.).

Importprodukte sind Industriegüter, Maschinen, Transportausrüstungen, Nahrungsmittel, Brennstoffe. Exportgüter sind Baumwolle (mit 80 Anteil), Erdnüsse, Gummi Arabicum sowie Produkte aus der Viehzucht (Fischer Weltalmanach, 1997: 706).

Der Tschad besitzt bisher nicht erschlossene Bodenschätze: Uran, Gold, Zinn, Bauxit im äußersten Norden (Nohlen, 1993: 680), in dem von Libyen ehemals besetzten Azouzou-Streifen (SIPRI, 1988: 178 f.; Herz, 1988: 94 f.) sind es Wolfram, Zinn, Blei und Uran (Matthes, 1993: 488 f.), vor allem aber ist es Erdöl (dazu i. e. unten).

Der mehr als 30 Jahre dauernde Krieg und Bürgerkrieg und die Dürre der Jahre 1982 bis 1985, während der 80 des Viehbestandes zugrunde ging, haben zu Migrationsbewegungen größeren Umfangs geführt (Herz, 1988: 95): von Norden nach Süden (ca. 500.000 Flüchtlinge), dort vor allem in die Städte und in andere Nachbarländer. Dort lebten Tausende von Flüchtlingen in Lagern. Die Überschwemmungen durch die beiden großen Flüsse im Jahre 1988 machten ca. 50.000 Personen obdachlos, die ebenfalls im Süden Zuflucht suchten. Dadurch verschob sich das Ungleichgewicht zwischen Norden und Süden erneut nach Süden, mit der Folge, daß die ohnehin unzulänglich entwickelte Infrastruktur hier, z.B. im Hinblick auf Gesundheits- und Wohnungsversorgung, Ausbildungs- und Transportmöglichkeiten, total überlastet wurde (Matthes, 1993: 489; Nohlen, 1993: 680).

Politisch wird der Tschad durch den im Jahre 1990 nach einem Militärputsch an die Macht gekommenen Idriss Déby regiert, der durch die Wahl vom Juli 1996 in seinem Amt bestätigt wurde . Allerdings wurden bei Durchführung der Präsidentschaftswahlen u.a. zwei aussichtsreiche Kandidaten gerichtlich von der Teilnahme ausgeschlossen, ein anderer Kandidat wurde inhaftiert und mußte seinen Wahlkampf vom Gefängnis aus führen (Auswärtiges Amt, 1995: 1).

In der neuen Verfassung des Tschad vom März 1996 ist das Prinzip der Gewaltenteilung verankert. Der Katalog der Grundrechte enthält zugleich die Verpflichtung des Staates, diese zu achten und zu schützen. Willkürliche Verhaftungen sind verboten, es gilt die Unschuldsvermutung; die Möglichkeit der Verteidigung wird garantiert, ebenso wie der Anspruch des Einzelnen auf rechtliches Gehör. Auch Polizei und Gendarmerie werden zur Beachtung der Menschenrechte verpflichtet. Die Regierung des Tschad hat überdies die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948, die Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker von 1981, das Übereinkommen gegen Folter von 1984 sowie andere internationale Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte unterzeichnet und hat durch Gesetz vom August 1994 eine nationale Menschenrechtskommission etabliert, welche die Regierung in Angelegenheiten der Menschenrechte, in Frauen- und Minderheitenfragen beraten soll (Auswärtiges Amt, 1995: 1f.).

Menschenrechte stehen nur auf dem Papier

Diese rechtsstaatlich-liberalen Grundpositionen stehen jedoch nur auf dem Papier. Das von Déby bei Amtsantritt und in Abgrenzung zu seinem Vorgänger, dem seit 1982 diktatorisch herrschenden Oberst Hissène Habré, abgegebene Versprechen der Demokratisierung von Staat und Gesellschaft wurde nicht umgesetzt (amnesty international, 1993: 4 ff.). Vertreter von tschadischen Menschenrechtsorganisationen sowie MitarbeiterInnen von amnesty international und anderen Organisationen berichten seit Débys Amtsantritt kontinuierlich und detailliert von

  • willkürlichen Verhaftungen
  • Langzeitinhaftierungen ohne Anklage bzw. Gerichtsverfahren
  • Isolationshaft
  • Verschwinden von Personen
  • Überfällen auf Häuser, Wohnungen oder ganze Dörfer
  • Morddrohungen
  • außergerichtlichen und öffentlichen Hinrichtungen
  • Vergewaltigungen und Mißhandlungen von Frauen

seitens der Sicherheitskräfte, von einer Zunahme unterschiedlicher Erscheinungsformen von Gewalt also, bei der die Täter unverfolgt und unbestraft blieben (amnesty international, 1993; amnesty international, 1996a; Beassemda: 3 f.; amnesty international, 1997b: 1; amnesty international, 1997c). Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Gewaltspirale Ende 1996, als der Generaldirektor der Gendarmerie mit Unterstützung des Präsidenten Déby anordnete, Taschendiebe, die auf frischer Tat ertappt werden, sofort zu erschießen, ein Befehl, dem Anfang 1997 seitens Polizei und Militär in zahlreichen Fällen Folge geleistet wurde (amnesty international, 1996b: 1; Fischer Weltalmanach,1997: 706; amnesty international, 1997c: 1).

Die Ursachen für die gravierende Mißachtung der Menschenrechte sind vielfältig: Sie resultieren aus der kolonialen Vergangenheit ebenso wie aus bestehenden krassen ökonomischen und politischen Disparitäten. Nicht zuletzt aber sind die Ende der achtziger Jahre entdeckten Ölvorkommen im Umfang von ca. 930 Mio. t Grund für eine weitere Zunahme von massiven Verletzungen der Menschenrechte (Horta, 1997: 1; Bauchmüller, 1997: 63). Die Ölfelder, deren Ausbeutung anvisiert wird, liegen im Tschad-See (Sidigui) und im Doba-Becken im südlichen Tschad (Miandoum, Bolobo, Komé) (Zint, 1997: 3; Ngarlejy, 1997: 1). Ein Konsortium von Esso (Exxon; 40 ), Shell (40 ) und elf aquitaine (20 ) (Horta, 1997: 3) bereitet auf der Grundlage eines Vertrages mit der Regierung des Tschad vom Februar 1995 die Ölförderung vor: Die Vorkommen sollen mit 300 Bohrbrunnen erschlossen und ab dem Jahr 2001 täglich 225.000 barrel gefördert werden (Horta, 1997: 2; Rademaker, 1997: 1). Der Abtransport des Öls wird mittels einer neuen unterirdisch geplanten Pipeline erfolgen, die 170 km durch tschadisches und knapp 1.000 km durch kamerunisches Territorium geführt werden soll. Sie geht mitten durch das Siedlungsgebiet von Pygmäen und endet in Kribi, einer kamerunischen Hafenstadt, die von Naturschutzgebiet umgeben ist (Leurres, 1997: 6 ff.; Horta, 1997: 9). Dort wird das Öl zum Weitertransport auf Schiffe verladen (Bauchmüller, 1997: 63). Die Mitbenutzung der bereits vorhandenen Pipeline nach Limbé, die ausschließlich durch anglophones kamerunisches Gebiet führt, wurde von elf aquitaine abgelehnt, weil die neue Pipeline ausschließlich durch den frankophonen Teil Kameruns geführt und damit gleichzeitig dem französischen Militär ein rascher Zugangsweg zum Tschad für den Fall künftig notwendiger Kriseninterventionen eröffnet werden soll (Horta, 1997: 9; Ngarlejy, 1997: 1).

Die Weltbank soll mitfinanzieren

Nach Vorbereitungsarbeiten für die Ölförderung wird die Durchführung des mindestens 3,5 Mrd. US $ teuren Projekts seitens des Konsortiums von der externen Mitfinanzierung durch die Weltbank und ihre Tochtergesellschaften IDA (International Development Association) und IFC (International Finance Corporation) abhängig gemacht (Rademaker, 1997: 1; Ngarlejy, 1997: 1; Deutsche Bundesbank, 1992: 54 f.). Dabei wollen sich die Ölgesellschaften den Ruf der Weltbank, nur ethisch integere Projekte zu fördern, zunutze machen (Bauchmüller, 1997: 1). Nicht zuletzt sichert eine Beteiligung seitens der Weltbank ihnen auch die Möglichkeit, nachfolgend weitere Kredite auf dem internationalen Kapitalmarkt zu erlangen (Koordinationsbüro Erdölprojekt, 1998a: 1).

Von seiten der Weltbank wurde das Projekt als eines der Kategorie A identifiziert, als ein Projekt also, dessen Umweltverträglichkeit fraglich ist und vor der Entscheidung über die Kreditvergabe umfassender Prüfung bedarf (Tschad-Kamerun, 1998: 1; Commission for environmental impact assessment, 1998: 2).

Riesige Probleme für Menschen und Umwelt

Die Probleme, die durch die Erdölförderung im Tschad hervorgerufen werden, sind immens. Das Doba-Becken, als Zentrum der Ölförderung vorgesehen, ist das fruchtbarste Gebiet im Tschad: Hier wird der größte Teil der Nahrungsmittel, vor allem Hirse, Sorghum, Maniok, Süßkartoffeln produziert – ebenso wie Baumwolle, das wichtigste Exportprodukt (Zint, 1997: 2; Nohlen, 1993: 680).

Landenteignungen für die Herstellung der erforderlichen Infrastruktur haben bereits begonnen: Aus den Fördergebieten werden mindestens 1.500 Familien vertrieben werden, weitere werden der projektierten Pipeline weichen müssen (Ngarlejy,1997; Horta, 1997). Damit einher geht die Zerstörung von Häusern, Bäumen, fruchtbaren Feldern, also die Gefährdung der ausreichenden Versorgung mit Nahrungsmitteln (Rademaker, 1997: 2; WEED, 1997: 2). Der von ESSO zur Vorlage bei der Weltbank konzipierte »Compensation and Resettlement Plan« vom Februar 1998 wirft vielfältige Probleme auf hinsichtlich der Voraussetzungen, des Umfangs und des Verfahrens der Entschädigung. Bemerkenswert erscheint zudem, daß die Bevölkerung vor Ort in die Kontrolle der Entschädigungs- und Umsiedlungsprogramme nicht einbezogen wird, die Kontrolle selber nur punktuell stattfinden soll. Es besteht begründeter Anlaß zu der Annahme, daß die zuvor für die Betroffenen vorhandenen Reproduktionsmöglichkeiten mittels dieser Programme nicht adäquat ersetzt bzw. wiederhergestellt werden (Schönegg, 1998: 1 ff.).

Es ist außerdem – auch wiederum mit Rücksicht auf die im Niger-Delta gemachten Erfahrungen – vorhersehbar, daß sich die bestehenden sozialen Strukturen grundlegend verändern werden: Die geplante Erdölförderung wird zusätzliche Arbeitskräfte erfordern, zusätzliches Geld wird in die Region fließen, Korruption, Kriminalität und auch die Ausbreitung von AIDS werden damit wahrscheinlich einher gehen, bisher bestehende Familien- und Dorfstrukturen zerstört werden (Danler/Brunner, 1996: 15,19; 36, S.2).

Experten gehen überdies davon aus, daß – auch bei Einsatz modernster Technik – Lecks entstehen, Öl in den Boden sickern wird, und Grundwasser, Flüsse sowie Böden im Umfeld der Pipeline kontaminiert werden, eine Konsequenz, die besonders schwer wiegt, weil der Tschad mit seinem trockenen und heißen Klima auf das vorhandene Wasser existentiell angewiesen ist. Daß die Pipeline unterirdisch verlegt wird, erschwert zudem Reparaturen, die angesichts erhöhter Korrosionsgefahren um so notwendiger sein werden (36, S.2; Horta, 1997: 9f.).

Das Ölprojekt birgt aber auch politische Gefahren, wurde es doch – gemessen an den von der Weltbank aufgestellten Kriterien partizipatorischer Entwicklung (Adams/Rietbergen-McCracken, 1994: 36 f.) – ohne Einbeziehung der Betroffenen vorbereitet (Dames and Moore, 1997: 15; Zint/Petry, 1997: 19 f.; urgewald, 1998a: 2.; Tschad-Kamerun, 1998: 1) bzw. wurden Ansätze zur Information der betroffenen Bevölkerung vor Ort unter militärischer Präsenz durchgeführt (Commission for environmental impact assessment, 1998: 9; Zint, 1998a), eine Konstellation, die eher geeignet ist, die Bevölkerung abzuschrecken bzw. zu vertreiben. Ein zusätzlicher Unsicherheitsfaktor ist die Tatsache, daß die Angehörigen der Armee überwiegend aus der Ethnie rekrutiert werden, welcher der Präsident angehört, bzw. aus verbündeten Ethnien (Horta, 1997: 5; amnesty international, 1993: 23).

Schließlich gibt es in verschiedenen Landesteilen einen bewaffneten Widerstand: Z.B. die in der südlich gelegenen Doba-Region operierende Rebellenbewegung, die einen föderativen Staatsaufbau zu ihrem Hauptziel erklärt hat. Der in Aussicht stehende Ölreichtum aus den Förderquellen des Südens hat nämlich Forderungen nach größerer Autonomie dieses Landesteils bzw. nach einem föderativen Staatsaufbau reaktualisiert, nicht zuletzt, weil die Entscheidungen über die Verwendung der Gewinne aus der Ölförderung ausschließlich im Norden gefällt werden (Horta, 1997: 5; WEED, 1997: 2).

Die Bevölkerung – soweit sie über die Ölvorkommen informiert ist – verbindet Hoffnung mit deren Ausbeutung: Hoffnung auf Förderung des Wirtschaftswachstums und der Infrastruktur, auf Arbeitsplätze und eine Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Chancen hierfür sind minimal. Zum einen, weil die Gelder der Weltbank-Organisationen nicht in konkrete soziale Projekte fließen, sondern in den Bau der Pipeline und anderer Infrastruktureinrichtungen im Kontext des Ölprojekts bzw. an das Konsortium direkt ausbezahlt werden sollen (WEED, 1997: 1; Bauchmüller, 1997: 64). Erst Einnahmen aus dem Ölgeschäft sollen in einen staatlichen Entwicklungsfonds zur Bekämpfung der Armut eingezahlt werden. Doch allein die tschadische Regierung entscheidet über die Verwendung dieses Geldes, so daß begründete Zweifel bestehen, ob es tatsächlich all jenen zugute kommt, die es am dringendsten brauchen (Horta, 1997: 3 f.; Bauchmüller, 1997: 64f.).

Diese Zweifel werden verstärkt durch die Tatsache, daß die Regierung dem Konsortium – mit Rücksicht auf die hohen Kosten für den Bau der Pipeline und den Erdölhafen von Kribi – hohe und total unangemessene Steuervorteile eingeräumt hat: Während der ersten dreißig Jahre der Ölförderung resultiert daraus ein Verzicht auf Steuereinnahmen in Höhe von 21 Mrd. US $. De facto bezahlt somit der Tschad dafür, daß elf aquitaine sich geweigert hat, die bereits vorhandene Pipeline zu nutzen. 3 Mrd. US $ – Tantiemen aus dem Verkauf des Erdöls – bezahlt die Regierung außerdem an das Konsortium für die Errichtung einer kleinen Raffinerie am Tschad-See, von der aus das dort gewonnene Öl nach N’Djamena gepumpt und im Tschad verbraucht werden soll (Ngarlejy, 1997: 1 f.). Schließlich sieht das Übereinkommen zwischen der tschadischen Regierung und dem Konsortium vor, daß der Tschad Ausgleichszahlungen leisten muß im Fall, daß der Ölpreis 17 $ pro Barrel unterschreiten wird (Le pipeline Phantom, 1997). Die derzeitigen jährlichen Einnahmen des Staates betragen hingegen lediglich etwa 100 Mio. US $ für die Erteilung der Erdöllizenzen (Ngarlejy, 1997: 1f; 36, S.2).

Pipeline Verträge im Interesse der Ölkonzerne

An dieser Stelle sollen wichtige Regelungen vorgestellt werden, die in dem Vertrag zwischen der Regierung der Republik Kamerun einerseits und der Cameroon Oil Transportation Company (COTCO) andererseits enthalten sind und der am 7.8.1997 per Gesetz anerkannt worden ist (FERN, 1998: 1).

In COTCO sind auf der einen Seite die Regierungen Tschads und Kameruns zu je 25 vertreten, auf der anderen Seite ein Konsortium der Ölgesellschaften Shell, ESSO und elf aquitaine zu insgesamt 50 (FERN, 1998: 1). Der Vertrag zwischen den Parteien wird als privater Vertrag verstanden, der 25 Jahre lang gelten soll und auf Wunsch von COTCO um 25 Jahre verlängert werden kann: Eine demokratische Mitbestimmung Betroffener zumindest bei der Festlegung der Nutzungsbedingungen für die folgenden 25 Jahre ist nicht vorgesehen, so daß zwischenzeitlich aufgetretene Probleme keine Berücksichtigung finden (FERN, 1998: 1).

Der Vertrag selbst enthält umfangreiche Ermächtigungen zugunsten von COTCO, z.B. was die Nutzung der Umwelt betrifft. Darüber hinaus erhält COTCO das Recht, sich in dringenden Notfällen oder im Falle plötzlicher Gefahr für Menschen oder Umwelt in ausschließlich eigener Verantwortung Zugang zu jedwedem privaten oder öffentlichen Land zu verschaffen, um die Ursachen für die Gefahrenlage herauszufinden bzw. ihr abzuhelfen. Nach Ansicht von FERN, einer NGO in Belgien, die den Vertrag analysiert hat, handelt es sich hier um eine Ermächtigung, die COTCO weitestreichende Kompetenzen verleiht, bis hin zu paramilitärischen Interventionen, z.B. für den Fall, daß sich irgendein Widerstand gegen das Pipeline-Projekt oder seine Folgen entwickeln wird (FERN, 1998: 3).

Abschließend legt der Vertrag zwischen der Regierung Kameruns und COTCO fest, daß nationales Recht der Republik Kamerun gegenüber dem Vertrag nachrangig ist, soweit es diesem Vertrag widerspricht . Die gleiche Regelung wird im Verhältnis zum internationalen Recht getroffen (FERN, 1998: 3). Unabhängig davon, ob dieser Vertrag oder einzelne seiner Bestimmungen überhaupt rechtswirksam sind, dokumentieren sie jedenfalls eindeutig die Machtverhältnisse und das Rechtsverständnis der beteiligten Vertragsparteien.

Ein analoger Vertrag zwischen der Regierung des Tschad und der privaten Gesellschaft TOTCO (Tchad Oil Transportation Company) ist in Vorbereitung (Commission for environmental impact assessement, 1998, Appendix 2), sein Inhalt bisher nicht bekannt. Es besteht allerdings Grund zu der Annahme, daß in ihm ebenso weitreichende Befugnisse zugunsten des Ölkonsortiums enthalten sein werden.

Wege aus der Gewalt: Die Arbeit der Menschenrechts- organisation ATNV (Association Tchadienne Non Violente)

Die krassen Erscheinungsformen physischer und struktureller Gewalt haben zur Entstehung aktiver zivilgesellschaftlicher Organisationen im Tschad geführt. Sie arbeiten mit dem Ziel, der Gewalt entgegenzuwirken, den Schutz und die Erhaltung der Umwelt zu sichern, zur Entwicklung der Demokratie im Land beizutragen und für die bestehende Pressefreiheit zu kämpfen (Horta, 1997: 4; amnesty international, 1993: 7; EIRENE, 1998a: 2).

Stellvertretend soll hier die ATNV vorgestellt werden, die im Jahre 1991, kurz nachdem sich Präsident Déby an die Macht geputscht hatte, von Christen im südlichen Tschad als erste gewaltfreie Organisation in Anknüpfung an Theorie und Praxis der Gewaltlosigkeit bei Gandhi und in der christlichen Tradition gegründet wurde.

Die Gründer setzen sich für den Frieden im Land, für Freiheit und Menschenrechte, für Versöhnung und Demokratie, gegen Unwissenheit, Elend und Unterentwicklung ein. Heute hat die Organisation 5.000 aktive Mitglieder und 61 lokale Komitees. Auch Frauen sind in dieser Organisation aktiv (Beassemda, 1997).

Die ATNV hat im Konflikt zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern aktiv vermittelt mit dem Ziel, ihn ohne weitere Gewalt einer Lösung zuzuführen. Nachdem die lokalen »Dialog-Komitees« zunächst mit beiden Parteien getrennt zusammen gekommen waren, um die jeweiligen Sichtweisen kennenzulernen, und nachdem sie die durch die Nomaden-Viehzüchter verursachten Schäden auf den Feldern inspiziert hatten, brachten sie die Konfliktparteien zusammen, um über Schaden und Entschädigung gemeinsam zu beraten und zu beschließen.

Ähnlich ging die Organisation bei der Konfliktvermittlung zwischen Rebellen und Regierung vor, jeweils Schlichtungstraditionen, wie sie in afrikanischen Gesellschaften existieren, mit einbeziehend. Im April 1997 führte diese Mediation zum Friedensschluß zwischen der Regierung und den Rebellen. Ein Friedensschluß, der zwar nur wenige Monate andauerte, der aber dennoch ein erstes Beispiel praktischer und – zumindest zeitweilig – effektiver Mediations- und Friedensarbeit darstellt. Vor allem aber wird daran deutlich, welche Bedeutung und Einflußmöglichkeiten zivilgesellschaftliche Organisationen im Tschad inzwischen erlangt haben.

Neben der aktuellen Konfliktlösung ist es Ziel der Arbeit von ATNV, dauerhafte Strukturen zu entwickeln, die dazu geeignet sind, immer dann, wenn Konflikte erstmals auftreten oder erneut aufbrechen, zwischen den Kontrahenten zu vermitteln. Den in diesem Zusammenhang auftauchenden Gegensatz zwischen dem neu geschaffenen »Dialog der Kontrahenten« und den gesellschaftlich tradierten »Chef-Strukturen« , bei denen die Dorfchefs – oftmals stark parteiisch – als Schlichter fungieren, versuchen die Mitglieder der ATNV produktiv aufzulösen. Sie führten z.B. Seminare für die Chefs du Village und Unterpräfekten durch und legten dabei das inhaltliche Hauptgewicht auf die Verwirklichung der Menschenrechte für alle am Konflikt Beteiligten und auf die Entwicklung und Förderung gewaltfreier Konfliktlösungen zwischen ihnen (FR, 1998: 1f.).

Neben Mediationsarbeit ist die ATNV bestrebt, in die Öffentlichkeit hineinzuwirken: Sie prangert Menschenrechtsverletzungen an, appelliert an die Regierung, die in der Verfassung garantierten Grundrechte zu beachten, fordert die Ahndung repressiver und gewaltsamer Menschenrechtsverstöße seitens der Sicherheitskräfte und macht der Bevölkerung ihre Rechte und Pflichten als Staatsbürger in einer Demokratie bewußt. So übersetzt sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN in lokale Sprachen und macht die Menschen in öffentlichen Versammlungen mit deren Inhalt vertraut. Sie macht die Frauen mit ihren spezifischen Rechten nach tschadischen Gesetzen und aufgrund internationaler Konventionen bekannt (Beassemda, S.2; Equipe du CEFOD, 1994; Association pour la promotion).

Im Kontext der Öffentlichkeitsarbeit ist auch das Bildungszentrum vorzustellen, das ATNV in Moundou seit 1996 einrichtet mit dem Ziel, der Idee der gewaltlosen Konfliktregelung weiterreichende Geltung zu verschaffen. Dieses – Martin-Luther-King-Zentrum genannt – soll zu einem Treffpunkt in der Region werden und soll Raum bieten für eine Beratungsstelle, für Versammlungen und Bildungskonferenzen, sowie für eine Dokumentationsstelle zu Menschenrechten, Gewaltlosigkeit, Erdölförderung, etc.. Außerdem sollen im MLK-Zentrum Menschen aus verschiedenen Teilen der Sahel-Zone und aus dem gesamten Land zusammengeführt werden, um miteinander ins Gespräch und in Austausch kommen zu können (Duppel/Petry, 1997: 4; Beassemda, S.4).

<-3>Aus Protest gegen schwere Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Militär organisierten ATNV und andere Menschenrechtsorganisationen seit 1993 immer wieder die Aktion »ville morte« – gestorbene Stadt, eine afrikanische Version gewaltfreien Widerstandes. Alle in einer Region oder Stadt lebenden Menschen verweigern die Arbeit, bleiben zu Hause, kaufen nicht ein. Die Form des Generalstreiks wurde von vielen Menschen mitgetragen und machte die Organisationen und ihre Zielsetzungen in der Bevölkerung bekannt (Duppel/Petry, 1997: 3; 38; amnesty international, 1998b: 1).

<-2>Die Organisation hat auch gegen die Einführung der Todesstrafe für Taschendiebe öffentlich und scharf protestiert und erreicht, daß sie zumindest vorübergehend suspendiert wurde (Beassemda, 1997).

Bereits seit 1994 beschäftigen sich die MitarbeiterInnen von ATNV – ebenso wie andere Menschenrechts- und Umweltorganisationen im Tschad – mit dem Erdölprojekt. Anlaß hierfür war damals die Erschießung eines Bauern, der zu einem Esso-Flugplatz gelaufen kam, weil er die Landung eines Flugzeugs beobachten wollte. Die Erschießung durch die für die Sicherheit von ESSO zuständige Gendarmerie wurde mit der Behauptung legitimiert, es habe sich bei dem Getöteten um einen Rebellen gehandelt. Nachforschungen durch ATNV und andere Organisationen ergaben die Unwahrheit dieser Behauptung; eine Strafverfolgung der Täter und eine Entschädigung der Familie des getöteten Bauern blieben trotzdem aus (Beassemda: 4; Zint, 1997: 6).

Folgeschäden des Erdölprojekts minimieren

ATNV geht nicht davon aus, daß das Erdölprojekt verhindert werden kann. Im Gegenteil: Auch ihre MitarbeiterInnen versprechen sich davon einen wirtschaftlichen Aufschwung im Lande, vorausgesetzt, ein großer Teil des erwarteten Gewinns kommt dem Tschad zugute und wird insbesondere zugunsten der Betroffenen verwendet (Beassemda, 1997: 5). Vor allem aber geht es ATNV und anderen Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) darum, die vorprogrammierten Folgeschäden des Ölabbaus zu verhindern bzw. zu minimieren. Durch beharrliche Öffentlichkeitsarbeit und Forderung nach Offenlegung hat ATNV in Kooperation mit anderen bereits einige Erfolge zu verzeichnen. So wurde z.B. die Entscheidung der Weltbank über deren finanzielle Beteiligung am Ölprojekt von September 1997 auf Ende 1998 verschoben, nachdem die NGOs darauf hingewiesen hatten, daß die tschadische Bevölkerung über das Projekt bisher so gut wie nicht informiert wurde (Collectif des Assiciations, 1998: 2; Beassemda, 1997; Bauchmüller, 1997: 64 f.), dies aber im Widerspruch zu den Förderrichtlinien der Weltbank stehe, in denen als Voraussetzung für die Kreditvergabe u.a. die Information und Partizipation der betroffenen Bevölkerung festgeschrieben sei (Adams/Rietbergen-McCracken, 1994: 36 ff.; Rademaker, 1997: 1; Koordinationsbüro Erdölprojekt, 1998a: S.2). Eine Umweltverträglichkeitsstudie wurde – statt von der tschadischen Regierung – von Esso, der führenden Gesellschaft innerhalb des Konsortiums, in Auftrag gegeben (urgewald, 1998a: 2), Ende 1997 der Weltbank überreicht und veröffentlicht. Auch hier wurde der Forderung der zivilgesellschaftlichen Organisationen nach Information Rechnung getragen (Dames and Moore, 1997; EIRENE, 1997).

Liest man allerdings die zusammenfassenden Ergebnisse dieser Auftragsstudie, so entsteht der Eindruck, daß eine Reihe von Problemen, die das Ölprojekt mit sich bringt (Sicherheitslage, Folgen des Projekts für die ansässige Bevölkerung, insbesondere im Hinblick auf Reproduktionsbedingungen, Folgen für die Umwelt), thematisiert, sie aber zugleich als mehr oder minder gelöst dargestellt bzw. verharmlost werden (Dames and Moore, 1997): Eine »Verträglichkeitsstudie« also, im wahrsten Sinne dieses Wortes.

Im Kontext des Ölförderungsprojekts haben sich die tschadischen Menschenrechts- bzw. Umweltorganisationen untereinander vernetzt und verstärkt. Gleichermaßen ist die Kooperation mit anderen afrikanischen und europäischen Organisationen weiterentwickelt worden, um die Probleme in Tschad und Kamerun einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und vielseitige Unterstützung zu initiieren. Um die Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit in der BRD zu intensivieren, haben sich amnesty international, Brot für die Welt, WEED, urgewald, Misereor und andere NGOs auf die Durchführung gemeinsamer Aktionen -vor allem bezogen auf Öffentlichkeitsarbeit – verständigt (EIRENE, 1997: 1; Koordinationsbüro Erdölprojekt, 1998a).

Im Januar 1998 organisierten ATNV und andere lokale Organisationen eine Zusammenkunft im südtschadischen Donia – in der Förderregion gelegen –, an der Repräsentanten von Esso, der Weltbank, der tschadischen Regierung, Gäste aus Nigeria, Kamerun und Europa sowie mehr als 100 Repräsentanten/innen von NGOs teilnahmen.

Wiederum die Erfahrungen in Nigeria als Präzedenzfall vor Augen, wurde die Umweltverträglichkeitsstudie auf der Konferenz seitens der NGO-Vertreter heftig kritisiert. Auf der Grundlage dieser Kritikpunkte und ihres Selbstverständnisses initiierten sie den Dialog mit Regierung, Konsortium und Weltbank und forderten u.a. Rahmenbedingungen für die friedliche und sichere Durchführung des Ölprojekts zu schaffen unter Einbeziehung der betroffenen Bevölkerung und der Nutzung ihrer Kompetenzen vor Ort. Dazu müßten gesetzliche Regelungen bezüglich des Umweltschutzes und der Ölgewinnung formuliert, die Einnahmen aus dem Projekt kontrolliert werden und eine Entschädigung in adäquater Höhe erfolgen. Außerdem müßten weitere Untersuchungen zu den soziokulturellen und anderen Folgeproblemen seitens der Regierung in Auftrag gegeben werden. Die Weltbank wird aufgefordert, strengstens auf Einhaltung der von ihr aufgestellten Verfahrensregelungen und Vergabekriterien zu bestehen und die Regierung in Richtung auf eine Verhandlungslösung mit der Rebellenbewegung zu beeinflussen. Kompetente und erfahrene Fachleute sollten eingesetzt werden, um die Kontrolle der Ölförderung zu sichern (Zint, 1998a; Zint, 1998b; Zint, 1998c; siehe auch Erklärung von Donia im Kasten).

Diese Forderungen werden mittlerweile auch von der GCA (Groupe de Concertation et d’Action sur le Projét Pétrolier et d’Oléoduc Tchad-Cameroun), einem Zusammenschluß tschadischer und kamerunischer NGOs, und von fachkompetenten Organisationen im Ausland vertreten, nachhaltig unterstützt und um weitere Forderungen ergänzt (Commission for environmental impact assessment, 1998; Centre pour l’Environment, 1998; Tschad-Kamerun, 1998).

Brutale Gewalt soll Widerstand brechen

Seit Ende des Jahres 1997 hat sich die politische Situation im Tschad nochmals dramatisch und kontinuierlich verschärft:

Im November 1997 führten die Sicherheitskräfte eine geplante Militäraktion in der Region Moundou durch, bei der es 98 Tote sowie Verletzte, Verhaftete, Gefolterte und Verschleppte gab. Auch das Haus des Vorsitzenden der ATNV wurde zerstört. Anlaß dieser Gewaltaktion war der Aufenthalt führender Mitglieder der Rebellenbewegung FARF (Forces Armées pour la République Fédérale), die sich zur Unterzeichnung des mit der Regierung im April 1997 geschlossenen Friedensabkommens in Moundou aufhielten (EIRENE, 1998a: 2; amnesty international, 1997a: 1; amnesty international, 1998a: 1; Collectif des Associations, 1997).

Ende März 1998 verbot die Regierung jegliche Aktivitäten von Menschenrechts-Organisationen (amnesty international, 1998b). Zuvor – Anfang März – wurden bei Kämpfen im Süden des Landes mehr als 100 Menschen, zumeist unbewaffnete Zivilisten, getötet (amnesty international, 1998a; FR, 1998).

Mitte März wurden 12 Dorfvorsteher und andere Personen vom stellvertretenden Präfekten von Benoye, einem Ort nördlich von Moundou, zu Gesprächen über Steuerprobleme geladen. Am Ort der Zusammenkunft wurden sie von Sicherheitskräften festgenommen und mit anderen Personen zusammen erschossen. Uniformierte Truppen durchsuchten etwa zur gleichen Zeit das Dorf Talade – ebenfalls in der Region der Ölförderung gelegen –, 25 Einwohner wurden gefesselt und ermordet (amnesty international, 1998c: 2).

<-2>Am 18.3.1998 stürmten Militärs die Kathedrale von Moundou, nahmen den Abt und die anwesenden Personen fest. Der Abt wurde nach schweren Mißhandlungen mit einigen anderen freigelassen, die übrigen GottesdienstbesucherInnen verschwanden spurlos (AG Erdölförderung, 1998). Am folgenden Tag wurde ein Stadtteil in Moundou von Militärs durchsucht. Alle Jugendlichen wurden zusammengetrieben und ermordet, ihre Beerdigung vom Militär verboten (Koordinationsbüro Erdölprojekt, 1998b).

Am 22.3.1998 stürmten Militärs das Haus eines führenden Menschenrechtlers. Er mußte fliehen, ebenso wie Vertreter anderer lokaler Menschenrechtsorganisationen und der Vorsitzende des ATNV, der vorübergehend aus Angst um sein Leben untertauchen mußte (Koordinationsbüro Erdölprojekt, 1998b; amnesty international, 1998b).

All die genannten schwersten Menschenrechtsverletzungen weisen darauf hin, daß die Regierung neuerdings und mit großer Zielgenauigkeit daran geht, jegliche Opposition, insbesondere den Widerstand gegen das Ölprojekt, mit brutalster militärischer Gewalt niederzuschlagen bzw. im Keim zu ersticken, um so die Region zu befrieden und den Weg für die Ölförderung freizumachen (EIRENE, 1998b; 38; FR, 1998; FAZ, 1998).

Das Europäische Parlament hat in seinen Sitzungen vom Februar 1997 und Juni 1998 die anhaltenden Verletzungen der Menschenrechte im Tschad scharf verurteilt und die Regierung aufgefordert, für die Einführung rechtsstaatlicher Verhältnisse, insbesondere in Polizei und Justiz zu sorgen (Zint, 1998d: 2).

<-3>Für den Fall einer positiven Entscheidung der Weltbank fordert das Europäische Parlament von der tschadischen Regierung bzw. dem Konsortium u.a. eine umfassende Information der Öffentlichkeit, Inkraftsetzung und Einhaltung strengster Vorschriften zum Schutz der Umwelt, lokale Reinvestition eines angemessenen Anteils der Gewinne aus der Ölförderung. Die Mitgliedstaaten der EU werden aufgefordert, Druck auf die Regierung des Tschad auszuüben, damit sie die Militäraktionen im Süden des Landes beende. Das EP verlangt überdies von den EU-Staaten, ihre weitere Kooperation mit und Hilfe für den Tschad von der Einhaltung der Menschenrechte seitens der tschadischen Regierung abhängig zu machen (Europäisches Parlament, 1998: Ziff. F).

Europäische Bedenken gegen Erdölprojekt

Am 13. Februar 1998 war der Außenminister des Tschad, Annadi, zu Gesprächen mit dem Außenminister und dem Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Bonn. Von deutscher Seite wurden Bedenken gegen das Projekt zur Ölförderung im Hinblick auf potentielle Umweltschäden geäußert, Bedenken auch im Hinblick darauf, daß die Erträge möglicherweise nicht der Bevölkerung zugute kämen, daß gegen die Opposition mit Repressionen vorgegangen werde und ein neuer Bürgerkrieg entstehen könne (FAZ, 1998).

Bedenken sind keine Bedingungen – das hat die Entwicklung nach diesen Gesprächen allzu deutlich gezeigt. Die Regierung der BRD könnte eine gewichtige Rolle im Hinblick auf die von der Weltbank zu treffende Entscheidung über die Beteiligung am Ölprojekt im Tschad übernehmen, ist Bonn doch einer der größten Geldgeber der Weltbank und ihrer Tochtergesellschaften IDA und IFC und ständiges Mitglied in den Exekutivdirektorien dieser Organisationen mit Stimmrecht in Relation zur Höhe des eingezahlten Kapitalanteils (Deutsche Bundesbank, 1992: 56 ff., 83 ff., 88 ff.).

Demgemäß hat der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung des Deutschen Bundestages im Juni 1998 einem Entschließungsantrag zugestimmt, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, ihre Zustimmung zu einer Beteiligung der Weltbank am Tschad-Kamerun-Ölprojekt davon abhängig zu machen, daß das Vorhaben umweltverträglich und unter Beteiligung der Betroffenen durchgeführt wird, daß es zur Entwicklung der Volkswirtschaft und zur Bekämpfung der Armut beiträgt und die Menschenrechte Beachtung finden (Deutscher Bundestag, 1998: 3).

Immerhin hat die Bundesregierung inzwischen die von ESSO vorgelegte Umweltverträglichkeits-Studie überprüfen lassen und das Ergebnis an die Weltbank übersandt.

Die Regierung der Niederlande hat ein unabhängiges Fachgremium mit der Erstellung einer Expertise beauftragt: Sie bezieht sich auf die Umweltprobleme in Tschad und Kamerun. Die Autoren empfehlen im Falle der Förderung des Projekts seitens der Weltbank, eine internationale interdisziplinäre Beraterkommission einzusetzen, die dazu beitragen soll, die Weltbank in der Umsetzung ihrer Politik des Umweltschutzes, der Armutsbekämpfung, der Wiederansiedlung und der Partizipation der Betroffenen zu unterstützen (Commission for environmental impact assessment, 1998: 2). Die Regierung der Niederlande selbst hat der Weltbank eine Vertagung der Entscheidung empfohlen (urgewald, 1998a: 2f.).

Am 3.6.1998 wurde der Parlamentarier Ngarlejy Yorongar zusammen mit zwei Journalisten wegen angeblicher Verleumdung des Präsidenten der Nationalversammlung verhaftet. Er hatte jenem vorgeworfen, Geld zur Finanzierung seines Wahlkampfes von elf aquitaine angenommen zu haben. Die Interparlamentarische Union in Genf untersuchte diesen Fall und kam zum Ergebnis, daß Yorongars Meinungsäußerung durch das Abgeordnetenmandat gedeckt sei (Resolution zu Cas No. CHD/01- Ngarlejy Yorongar – Tchad) (amnesty international, 1998e; AG Erdölprojekt Tschad-Kamerun, 1998). Yorongar ist schärfster Kritiker der tschadischen Regierung und des Ölprojekts: Er stand damals kurz vor einer Reise nach Brüssel zum Vortrag über die Probleme dieses Vorhabens (urgewald, 1998b; Telkämper, 1998; Collectif des Associations, 1998).

Das Europäische Parlament hat auch die Verhaftung Yorongars entschieden verurteilt und die tschadische Regierung aufgefordert, ihn sofort frei- sowie eine demokratische Diskussion über die Lage im Land und über das Ölprojekt zuzulassen (Europäisches Parlament, 1998: Ziff.F 2). Am 20. Juli 1998 wurde Yorongar nach einem Verfahren unter Vorenthaltung elementarer Verteidigungsrechte zu 3 Jahren Haft verurteilt: Das Strafmaß übersteigt die gesetzlich für Beleidigung vorgesehene Haftstrafe um ein Jahr! Die beiden Journalisten erhielten jeweils eine Geldstrafe: auch sie ist doppelt so hoch wie die gesetzlich vorgeschriebene Höchstsumme (amnesty international, 1998e).

Nach Ansicht des Generaldirektors von ESSO-Tschad, Jean-Pierre Petit, handelt es sich bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen und Menschenrechtsverletzungen um eine innere Angelegenheit des tschadischen Staates, welche die Planungen des Konsortiums nicht tangiert (Zint, 1998d). Aus dieser Sicht ist es nur konsequent, daß mit den Vorbereitungsarbeiten – Bau der Camps und der Zufahrtsstraßen – für die Verlegung der Pipeline bereits begonnen wurde (AG Erdölprojekt Tschad-Kamerun, 1998b). Die Röhren für die Pipeline werden von Mannesmann und Preußag geliefert.

Menschenrechtsverletzungen im Tschad

Entschließung des Europa-Parlaments vom 20.02.1997

Das Europäische Parlament,

A…beunruhigt über die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen im Tschad, einem Land, in dem Militär- und Polizeiangehörige systematisch ohne vorheriges Gerichtsverfahren Hinrichtungen an Bürgern vornehmen, die der Zugehörigkeit zu Oppositionsgruppen verdächtigt oder als Straftäter angesehen werden,

B…bestürzt darüber, daß Vergewaltigung auch zu den üblichen Repressions- und Einschüchterungsmitteln gegenüber Opfern gehört, und über die alltägliche Anwendung der Folter, bei der einige traditionelle und besonders grausame Formen – wie »Arbatachar« von den Ordnungskräften als völlig normale Amtshandlungen betrachtet werden,

C…betroffen über das Telegramm mit Weisungen an die »Gruppierungen der Spezialeinheiten«, durch das mit dem Befehl zur physischen Vernichtung aller auf frischer Tat ertappten Diebe willkürlichste staatliche Gewalt legalisiert wurde,

D…in der Erwägung, daß einige Mitgliedstaaten der Regierung des Tschad politische, finanzielle und vor allem militärische Hilfe gewährt haben, ohne die Folgen der Menschenrechtsverletzungen für die Opfer zu berücksichtigen,

E…unter Hinweis auf die derzeit im Land laufenden Wahlen und die Tatsache, daß der Tschad das Abkommen von Lomé unterzeichnet hat, das zur vollen Achtung der Menschenrechte verpflichtet,

Das Europäische Parlament,

1…verurteilt alle im Tschad gegenwärtig weiterbestehenden Formen der Gewalt wie Hinrichtungen, willkürliche Verhaftungen, Folter und Vergewaltigung;

2…verlangt die sofortige und bedingungslose Freilassung aller politischen Häftlinge, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten;

3…fordert die Behörden des Tschad auf, die Weisungen an die »Gruppierungen der Spezialeinheiten« unverzüglich zu widerrufen und sich für einen Rechtsstaat und eine auf die Achtung der Menschenwürde gegründete Justiz einzusetzen;

4…betont, daß es unerläßlich ist, den Menschenrechtsverletzungen ein Ende zu setzen, die dafür Verantwortlichen vor Gericht zu stellen und das Gerichtssystem und die Ordnungskräfte zu reformieren, und fordert den Rat und die Kommission auf, diese Reformen im Richtprogramm des Tschad vordringlich zu unterstützen;

5…fordert den Rat, die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, ihrer Verantwortung angesichts der Lage im Tschad nachzukommen, ihre Zusammenarbeit von der Einhaltung der Menschenrechte durch die Behörden abhängig zu machen und insbesondere darüber zu wachen, daß die Militärhilfe nicht zur Begehung von Menschenrechtsverletzungen mißbraucht wird;

6…ist der Auffassung, daß der Status des Tschad als Empfänger von Hilfsleistungen gemäß dem Abkommen von Lomé im Lichte der Fortschritte, die die künftigen Machthaber des Landes hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte erzielen, überprüft werden muß;

7…beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, der Regierung des Tschad, den Kopräsidenten der Paritätischen Versammlung AKP-EU, der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen und der OAE zu übermitteln.

Deklaration des Seminares von Donia

Am 20.-25.1.1998 trafen sich in Donia im Süden des Tschad ca. 130 Teilnehmer aus Nichtregierungsorganisationen, Menschenrechtsorganisationen, Bauernvereinigungen, religiöse und lokale Führer zu einem Informationsseminar über das Erdölprojekt. ESSO-Vertreter, ein Weltbankmitarbeiter und Mitarbeiter des Energie- und des Umweltministeriums standen Rede und Antwort. Im Mittelpunkt stand die Umweltverträglichkeitsstudie. Am Ende des Seminares erklärten die Teilnehmenden:

Wir, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Informations- und Austauschseminars über das tschadische und kamerunische Erdöl, versammelt am 20.-25.1.1998 in Donia im Tschad haben folgenden Zustand festgestellt:

Die Dokumentation der Zone – genauer gesagt: präzise Daten über die natürlichen Ressourcen und die Bevölkerung, Karten der Förderzone, die Größe der zu erwartenden Auswirkungen des Erdöls – steht jetzt zur Verfügung.

Zweiter positiver Aspekt ist die geistige Offenheit für den Dialog bei der Regierung, den Mitgliedern des Konsortiums, der Weltbank und der Zivilgesellschaft, die Fähigkeit der Vertreter der Regierung, des Konsortiums, der Zivilgesellschaft, der Weltbank und der Basisgemeinden zuzuhören und sich positiv auszutauschen.

Demgegenüber haben wir folgende Mängel festgestellt:

  • Einige Etappen des Verfahrens der Weltbank im Bereich der Konsultation und Leitung des Projektes wurden von dem Konsortium und der Regierung nicht respektiert.
  • Es gibt Mängel in der Umweltverträglichkeitsstudie und im Umweltmanagementplan.
  • Vernachlässigung sozio-kultureller Aspekte.
  • Die schwache Bewertung und Bedeutung lokaler Kompetenzen, namentlich des CIRAD, des ONDR (Organisation National pour la Development Rural) und der Nichtregierungsorganisationen.
  • Die Nichtexistenz eines Umweltrechts.
  • Das permanente Klima der Unsicherheit, das den Tschad und insbesondere die Zone, in der das Öl gefördert wird, regiert.
  • Unangemessene Entschädigungs- und Ausgleichsmaßnahmen.
  • Fehlende Klarheit über die Verwaltung der Einnahmen aus der Erdölförderung.
  • Negative Effekte, die das Erdölprojekt auf biophysischer, sozio-ökonomischer und kultureller Ebene haben könnte.

Aus dem, was voraus geht, haben wir einige Vorschläge gewonnen…:

Wir schlagen der Weltbank vor, die Einhaltung ihrer Richtlinien und Verfahrensweisen schärfstens zu kontrollieren.

Wir schlagen der Regierung vor:

  • vor Beginn des Erdölprojektes eine Studie über sozio-ökonomische Begleitauswirkungen durchzuführen,
  • juristische Texte über das Umweltmanagement und die Erdölförderung zu erarbeiten,
  • alles in ihrer Macht stehende zu tun, um Frieden und Sicherheit zu schaffen,
  • die Zivilgesellschaft in der Verwaltung, Begleitung und Kontrolle der Erdöleinnahmen zu beteiligen,
  • eine kompetente und erfahrene Equipe einzusetzen, um die Begleitung und Kontrolle des Projektes sicherzustellen.

Wir schlagen der Regierung und dem Konsortium vor, ein System angemessener Entschädigungen und Ausgleichszahlungen zu schaffen, das allen betroffenen Werten, Gütern und Erbgütern Rechnung trägt.

Die Nichtregierungsorganisationen laden wir ein,

  • ihre Informationsprogramme zu intensivieren, um die betroffenen Gemeinschaften zu sensibilisieren und zu informieren,
  • Mechanismen zu schaffen, um bei der Verwaltung der Ressourcen – bei Kompensationen und Entschädigungen – zu helfen,
  • ein Informationsnetzwerk über das Erdölthema auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene zu entwickeln.

Zuletzt laden wir die Nichtregierungsorganisationen und die lokalen Gemeinschaften ein, eine neue Strategie für den Umgang mit der Umwelt vor Ort zu entwickeln.

Donia, den 25.1.1998.

(Abschrift vom Band auf Französisch: Martin Zint, Übersetzung: Günter Schönegg)

Europa-Parlament zur Lage im Tschad

Das Europäische Parlament beschloß am 18.6.1998 „unter Hinweis auf seine vorangegangenen Entschließungen zur Lage im Tschad,

  • in Anbetracht der schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen im Tschad seit Oktober 1997, die mit dem Massaker an 100 unbewaffneten Zivilisten in der Region Logone im März 1998 ihren Höhepunkt gefunden haben und gekennzeichnet durch Hinrichtungen, willkürliche Inhaftierungen und Folter durch die tschadischen Sicherheitskräfte, wie Amnesty International und tschadische Menschenrechtsorganisationen anprangern,
  • in der Erwägung, daß Ngarlejv Yorongar, Mitglied der Opposition im tschadischen Parlament, am 2. Juni 1998 aufgrund einer Anklage wegen Diffamierung verhaftet wurde,
  • zutiefst besorgt über die kürzliche Inhaftierung der Journalisten Koumbo Synga und Polycarpe Togamessi,
  • in der Erwägung, daß Ngarlejv Yorongar ein vehementer Kritiker des Tschad-Kamerun-Ölförderungs- und Pipelineprojektes gewesen ist, das von einem internationalen Konsortium angeführt wird und bei der Weltbank anhängig ist, die ihre Bewilligung an den Abschluß einer Umweltverträglichkeitsprüfung geknüpft hat, die noch vor Herbst 1998 erfolgen soll,
  • in der Erwägung, daß das internationale Konsortium öffentlich erklärt hat, daß es ohne Beteiligung der Weltbank das Projekt nicht weiterbetreiben will,
  • unter Hinweis auf die prekäre Situation der örtlichen Gemeinschaften in dem Projektgebiet, die auf die fortdauernde politische Instabilität und die Menschenrechtsverletzungen zurückzuführen ist, sowie unter Hinweis auf die Bedeutung dieser Region für die nationale Landwirtschaft,
  • fordert (das Europäische Parlament) den Rat, die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, Druck auf die tschadische Regierung auszuüben, die Menschenrechte und die Gesetze im ganzen Land anzuerkennen und die militärischen Aktionen im Süden unverzüglich zu beenden;
  • verlangt (das europäische Parlament) die sofortige Freilassung von Ngarlejv Yorongar und fordert die tschadische Regierung ferner auf, demokratische Diskussionen sowohl über die Lage im Land als auch über das geplante Ölprojekt in der Doba-Region zuzulassen;
  • fordert (das Europäische Parlament) die tschadische Regierung und das internationale Konsortium auf, das Ölförderprojekt nur im Falle einer positiven Bewertung durch die Weltbank fortzusetzen und u.a. folgende Garantien zu geben:
  • umfassendere Unterrichtung der Öffentlichkeit über das Ölförderprojekt;
  • Schutz der einheimischen Bevölkerungsgruppen und angemessener Ausgleich für die Menschen, die gezwungen sind, ihren Wohnort zu verlassen, und zwar unter strikter Wahrung der Menschenrechte;
  • überaus strenge Umweltschutzvorschriften, die sich auf Verhütung von Ölaustritt, Streckenführung der Pipelines, Luftqualität, »Disease-Control« und Unfallverhütung erstrecken;
  • lokale Reinvestition eines angemessenen Anteils der Projektgewinne;
  • beauftragt (das Europäische Parlament) seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, den Regierungen der Mitgliedstaaten, den Regierungen und Parlamenten des Tschad und Kameruns sowie der Weltbank zu übermitteln.“

Für die Überlassung von Materialien und Dokumenten und für Diskussion bei der Abfassung des Manuskripts danke ich Susanne Breitkopf (urgewald), Martin Petry (Brot für die Welt), Günter Schönegg (EIRENE) und Martin Zint (Journalist).

Literatur

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Prof. Dr. Barbara Dietrich lehrt am FB Sozialwesen der FH Wiesbaden

Irak: UN-Sanktionen und Menschenrechte

Irak: UN-Sanktionen und Menschenrechte

von Steffen Rogalski und Jutta Burghardt / Andreas Zumach

zum Anfang | Die Luftangriffe gegen Irak führen in eine gefährliche Sackgasse

von Andreas Zumach

Was ist das Völkerrecht Linken, Grünen, Friedensbewegten noch wert? Diese Frage stellt sich angesichts der Debatte über die schweren US-amerikanisch-britischen Luftangriffe auf Ziele im Irak vom 16. Februar. Selbst KritikerInnen dieser Maßnahmen ließen erschreckende Ahnungslosigkeit erkennen beziehungsweise die Verdrängung einiger simpler Tatsachen, an die hier noch einmal erinnert sei als Grundlage für alle folgenden Erörterungen: Die Luftangriffe waren ein eindeutigvölkerrechtswidriger Kriegsakt. Es gibt keine Resolution des UNO-Sicherheitsrates oder irgendeine andere völkerrechtliche Grundlage für diese oder andere militärische Maßnahmen gegen Irak. Dasselbe gilt für die Einrichtung und Durchsetzung der »Flugverbotszonen« und damit auch für das von den USA und Großbritannien reklamierte »Recht« ihrer Kampfpiloten auf »Selbstverteidigung« gegen irakische Flugabwehrraketen. Auch die Resolution 688 des Sicherheitsrates zum Schutz der irakischen Kurden und Schiiten sieht weder militärische noch andere Zwangsmaßnahmen vor. Die Angriffe von 16. Februar gegen Ziele in der Nähe Bagdads und außerhalb der beiden »Flugverbotszonen« bedeuten eine militärische Eskalation. Zumindest im Vergleich mit den letzten 26 Monaten, in denen US-amerikanisch-britische Kampfflugzeuge »lediglich« zwei bis drei mal wöchentlich (und von der Weltöffentlichkeit weitgehend ignoriert) irakische Bodenziele ausschließlich innerhalb der beiden »Flugverbotszonen« bombardierten. Mitte Dezember 98 hatten die Amerikaner und Briten vier Tage lang Ziele im ganzen Land und auch in der Stadt Bagdad bombardiert. Öffentlich begründeten die Regierungen in Washington und London die Luftangriffe vom 16. Februar zunächst mit der Behauptung, der Irak habe in der Region um Bagdad in den letzten Monaten neue Militäranlagen in Betrieb genommen und den Luftabwehrbeschuss gegen US-amerikanische und britische Kampfflugzeuge verstärkt. In den Tagen nach den Luftangriffen wurden zur weiteren Rechtfertigung ausgesuchte Medien und Journalisten (in Deutschland: FAZ und Welt) mit angeblichen »neuen Erkenntnissen« des CIA, des britischen Geheimdienstes sowie des Bundesnachrichtendienstes versorgt. Laut diesen »neuen Erkenntnissen« habe das Regime von Saddam Hussein seit 1999 Rüstungsprogramme für atomare, chemische und biologische Waffen reaktiviert und über Tarnfirmen u.a. in Indien eine rege Aktivität zum Einkauf von Materialien für diese Programme entwickelt. Zudem habe das Regime neue Raketenabschussbasen an der Grenze zu Syrien installiert, von denen sich Israel erreichen lasse. Die Verbreitung dieser »neuen Geheimdiensterkenntnisse« hatte außerdem den Effekt, die Bedrohungsbehauptungen zu untermauern, mit denen Washington die Notwendigkeit eines Raketenabwehrsystems begründet. All die Behauptungen und Rechtfertigungen Washington und Londons für die Luftangriffe lassen sich international nicht überprüfen, da die UNO-Waffeninspektoren Irak infolge der US-amerikanisch-britischen Luftangriffe vom Dezember 1998 verlassen mussten. Es fallen jedoch einige Widersprüche auf. So hat die CIA auf ihrer Internet-Webseite noch im letzten Jahr erklärt, es gebe keine Anzeichen für eine Wiederaufnahme irakischer Massenvernichtungsprogramme.

Welche Interessen Washington und London tatsächlich mit den Luftangriffen verfolgten, ist unklar. Offensichtlich ist nur, dass US-Präsident Bush gleich zu Beginn seiner Amtszeit Härte demonstrieren wollte. Dafür spricht auch die offensive Art, mit der die Angriffe in Washington publik gemacht wurden. Darüber hinaus ist aber zunächst keine kohärente Strategie der neuen Administration erkennbar – weder hinsichtlich des Irak-Problems, noch mit Blick auf den damit eng und unlösbar verknüpften israelisch-palästinensischen Konflikt. Stattdessen wurden Widersprüche deutlich. Außenminister Colin Powell ließ erkennen, dass er – im Unterschied zu Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney – zumindest zu diesem Zeitpunkt gegen die Eskalation der Luftangriffe war.

In weiten Teilen der US-Luftwaffe gelten die Luftangriffe schon lange als ein militärisch nutzloses und äußerst kostspieliges Unternehmen. Allein die Maßnahmen zur Durchsetzung der südlichen »Flugverbotszone« kosteten im Haushaltsjahr 2000 über 1,4 Milliarden US-Dollar. Powell hat verlauten lassen, er strebe eine »Modifizierung« der Sanktionen an: Die Importe humanitärer und anderer ziviler Waren in den Irak sollen erleichtert, die Maßnahmen gegen die Einfuhr militärischer Güter verschärft werden. Hardliner im Kongress lehnen dieses Vorhaben als »Aufweichung« der Sanktionen ab. Ähnliche Vorbehalte kamen von Cheney und Rumsfeld. Dabei müssten der Vizepräsident und der Verteidigungsminister ähnlich wie Präsident Bush ebenfalls eine Modifizierung des Sanktionsregimes gegen Irak anstreben. Denn alle drei sind in hohem Maße den Interessen der US-amerikanischen Erdölindustrie verpflichtet. Diese will die Ausbeutung der irakischen Erdölvorhaben nicht weiter europäischen, russischen und asiatischen Konzernen überlassen, die im Zuge der seit rund zwei Jahren laufenden »illegalen« Unterminierung der Sanktionen bereits wieder ins Geschäft mit dem Irak gekommen sind bzw. ihre Ausgangsbasis für künftige Geschäfte erheblich verbessert haben.

Die Luftangriffe vom 16. Februar haben die Chancen für eine vom UNO-Sicherheitsrat offiziell abgesegnete und von den USA kontrollierte Modifizierung der Sanktionen allerdings eher verringert als erhöht. Die Reaktionen fast in der gesamten arabischen Welt fielen weit kritischer aus, als die Bush-Administration einkalkuliert hatte. Die in Washington schon seit geraumer Zeit mit Argwohn beobachtete politische und wirtschaftliche Annäherung Syriens, Ägyptens, Jordaniens und anderer arabischer Staaten an Irak wurde durch die Angriffe weiter forciert. Saddam Hussein fühlt sich bestärkt und zeigt sich noch weniger bereit, über eine Wiederzulassung von Waffeninspektoren auch nur ernsthaft zu diskutieren. Das wurde bei den Gesprächen des irakischen Außenministers mit UNO-Generalsekretär Kofi Annan Ende Februar in New York deutlich. Eine Wiederzulassung von Waffeninspekteuren wäre aber wiederum die Vorbedingung, die Bagdad erfüllen müsste, damit Powell in Washington eine Modifizierung der Sanktionen durchsetzen kann. Führende Vertreter der Republikaner im Kongress legen die Schwelle für eine Zustimmung Bagdads sogar noch höher mit ihrer Forderung, ein künftiges Waffeninspektionsteam solle nur noch aus US-Amerikanern und Briten bestehen. Mit ihrer neuen Politik hinsichtlich des israelisch-palästinensischen Konflikts hat die Bush-Administration das Regime in Bagdad zusätzlich bestärkt. Saddam Hussein nutzt bereits die Intifada seit September letzten Jahres dazu, sich in der arabischen Welt – wie bereits Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre – als Führer im Kampf gegen Israel zu profilieren. Nachdem die Bush-Administration klargemacht hat, dass sie den Oslo-Prozess aufgegeben hat und die Regierung Sharon nicht einmal zur Einhaltung der Zusagen ihrer Vorgänger drängen wird, hat die Gewalteskalation zugenommen, und sie dürfte sich noch weiter verschärfen Das wiederum wird die Kritik in den arabischen Staaten an den USA weiter verstärken und deren Wiederannäherung an den Irak zusätzlich beschleunigen. Die Sackgasse, in die sich die Bush-Administration bereits innerhalb der ersten vier Wochen ihrer Amtszeit im Nahen Osten manövriert hat, ist sehr tief. Und weder die Europäer noch sonst wer sind bereit oder in der Lage, einen Ausweg aufzuzeigen. Neue Luftangriffe und eine weitere militärische Eskalation scheinen derzeit unausweichlich.

Andreas Zumach arbeitet als freier Journalist in Genf/Schweiz.

zum Anfang | Das Dilemma der Sanktionen gegen den Irak

von Steffen Rogalski

Die lückenhafte Abrüstung der irakischen Massenvernichtungswaffen und die notwendige Kontrolle des diktatorischen Herrschaftsregimes geben Anlass zur Aufrechterhaltung der Sanktionen, die extremen Leiden der Bevölkerung in Folge der Sanktionen sind aber ein Anlass um selbige aufzuheben. Das ist das Dilemma, vor dem die internationale Staatengemeinschaft gegenwärtig steht.

Der vorliegende Bericht gibt einen Überblick über Ursachen, Durchführungsbestimmungen und Folgen der UNO-Sanktionen gegenüber dem Irak.

  • Es werden die Ziele der Sanktionen erläutert, die Sanktionen selbst werden auf ihre Praktikabilität untersucht und in einen »sanktionstheoretischen« Kontext gestellt.
  • Es geht um die Ergebnisse im Bereich der Abrüstung der irakischen Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägersysteme und um die »Wandlungsfähigkeit« des Irak bzw. des irakischen Herrschaftsregimes.
  • Geschildert werden die negativen humanitären Auswirkungen von Krieg und Sanktionen auf die irakische Bevölkerung und die Infrastruktur des Landes.

Die Ziele der Sanktionen und ihre Realitätstüchtigkeit – sanktionstheoretische und friedenspolitische Implikationen

Am 2. August 1990 besetzten irakische Truppen Kuwait, was der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Aggression und Bruch des Friedens verurteilte. Er forderte den Irak mit Resolution 660 zum sofortigen und bedingungslosen Rückzug auf. Als dies nicht geschah, wurden mit Resolution 661 vom 6. August 1990 umfassende Wirtschaftssanktionen verhängt, die das Einstellen jeglichen Finanz- und Wirtschaftsverkehrs beinhalteten. Dies konnte als eine entschiedene Warnung für ein entschlossenes Handeln der UNO-Mitgliedstaaten gesehen werden. Es war eine diplomatische und politische Ausnahmesituation, denn der UNO-Sicherheitsrat war sehr aktiv und verabschiedete bis zur letzten Warnung 12 Resolutionen. Am 29. November 1990 wurde Resolution 678 verabschiedet, die ein Ultimatum setzte: Wenn der Irak nicht bis zum 15. Januar 1991 alle Resolutionen umgesetzt hätte, die sich auf die Okkupation Kuwaits bezogen, würden alle Mitgliedstaaten, die mit der legitimen Regierung Kuwaits kooperierten, autorisiert „alle notwendigen Mittel“ einzusetzen, um dies vom Irak zu erzwingen und die Sicherheit und den Frieden in der Region wiederherzustellen. Es folgten zahlreiche diplomatische Initiativen, um den Irak zum Rückzug zu bewegen. Die irakische Ökonomie war durch den vorangegangen Iran-Irak-Krieg, das Anwachsen der Auslandsverschuldung und vor allem durch ihre Abhängigkeit vom (nun gestoppten) Ölexport, der über 90 % der irakischen Exporteinnahmen und etwa 50 % des Bruttosozialproduktes ausmachte, unter erheblichem Druck. Diplomatie, Drohung mit dem Militäreinsatz und Sanktionen wirkten zusammen. Einige Wissenschaftler meinten, dass allein schon die wirtschaftlichen Daten eine ideale Sanktionssituation zeigten und der Irak bald einlenken würde. Doch diese Erwartung erwies sich aus zwei Gründen als falsch: Zum einen ist die Zeit bis zur Wirkung von UNO-Sanktionen sehr lang (in vorangegangenen Fällen mit bedeutenden politischen Zielen wie bei Rhodesien und Südafrika 15 respektive 23 Jahre), zum anderen war die friedenspolitisch motivierte Annahme falsch, dass Sanktionen den Militäreinsatz ersetzen würden. Die Sanktionen dienten als Ergänzung und Vorbereitung zu einem Militärschlag. Einen Tag nach Ablauf des Ultimatums begann eine Koalition von Staaten mit einer groß angelegten militärischen Offensive, heute »Zweiter Golfkrieg« genannt, die bereits am 28. Februar 1991 mit der Befreiung Kuwaits und einer verheerenden militärischen Niederlage des Iraks endete. Damit war das politische Hauptziel (der Res. 660) erreicht, aber die Sanktionen wurden in der Folge fortgesetzt und durch Kontrollbestimmungen bzw. Waffenstillstandsbedingungen ergänzt.

Mit Resolution 687 vom 3. April 1991, die der Irak widerwillig anerkennen musste (und folgenden Resolutionen) wurde er unter eine langfristige internationale Kontrolle gestellt. Die Hauptziele der Resolution 687 bestehen primär im haftbar Machen des Irak für Kriegsschäden und in der Sicherstellung der Kontrolle über die Rüstung des Irak. Nicht nur die Vernichtung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägersystemen war ein Hauptziel der UNO, sondern auch die Kompensation der Kriegsschäden und die korrekte Begleichung von Auslandsschulden. Wie dies ein Land schaffen soll, das selbst vom Krieg zerstört und von umfassenden Sanktionen betroffen ist, blieb unklar. Zur Kontrolle schuf die UNO folgende Sonderorganisationen:

  • eine Beobachtertruppe an der irakisch-kuwaitischen Grenze (UNIKOM);
  • eine Sonderkommission, die die Vernichtung von irakischen Massenvernichtungswaffen und deren Trägersystemen (mit einer Reichweite von über 150 Kilometern) überwacht (die sog. UNSCOM);
  • eine Kommission zur Grenzfestlegung
  • und eine Kommission zur Verwaltung eines Fonds für Reparationen bzw. Kriegsentschädigungen.

Damit entstand das umfassendste und härteste Sanktionsregime in der Geschichte der UNO. Und das wurde im Laufe der Zeit noch ausgebaut.

Nach der brutalen Niederwerfung von Aufständen im Norden und Süden des Irak und mangelnder Anerkennung von UNO-Bestimmungen wurden zusätzliche Beschlüsse gefasst, um die Aggressionsfähigkeit des Irak weiter einzuschränken: Mit Resolution 715 (1991) wurde die Aufhebung der Sanktionen an die Errichtung eines langfristigen Rüstungskontroll- und Verifikationsprogramms zur Verhinderung der Herstellung verbotener Massenvernichtungswaffen gebunden. Zuvor wurde mit Resolution 688 die Einstellung von Repressionen, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen als ein weiteres UNO-Ziel verankert, das letztlich auch die Grundlage für die (völkerrechtlich nicht legitimierte) Durchsetzung von Flugverbotszonen ist.

Von den USA und Großbritannien wurde eine zusätzliche Agenda eingeführt, in der sie die vollständige Aufhebung der Sanktionen an die exakte Erfüllung aller dieser Forderungen gebunden haben. Zu dieser Politik gehört die militärische Eindämmung des Irak durch die USA. Es geht um das versteckte Hauptziel der USA (das niemals offiziell ein UNO-Ziel war), die »hidden agenda«: die Beseitigung oder Niederhaltung des irakischen Herrschaftsregimes. Gefordert wird ein andauerndes Wohlverhalten des Irak, bei dem er seine »friedlichen Absichten« ständig zu beweisen hat (Baur, 1998:20ff). Solche kaum zu realisierenden Forderungen sind dann gleichzeitig der Hebel um eine Aufhebung der Sanktionen durch ein Veto Großbritanniens und/oder der USA im Sicherheitsrat zu verhindern.

Das Sanktionsregime kann auch im Bereich der Kontrolle der Abrüstung von irakischen Massenvernichtungswaffen als sehr hart angesehen werden. Mit Res. 707 vom 15. August 1991 wurde unter Berufung auf Kapitel VII der UNO-Charta vom Irak verlangt, den Inspektorenteams der Sonderkommission UNSCOM und der Internationalen Atomenergiebehörde sofortigen, bedingungslosen und uneingeschränkten Zugang zu allen Gebieten, Einrichtungen, Ausrüstungen, Unterlagen und Transportmitteln zu gewähren, die sie zu inspizieren wünschen. Gleichzeitig soll der Irak sofort alle Versuche der Verheimlichung und jede Bewegung und Zerstörung von Material oder Ausrüstung einstellen, die sich auf Programme für Massenvernichtungswaffen und ballistische Raketen oder Material dazu beziehen. Er wird außerdem aufgefordert, auf jegliche Fragen der UNSCOM und der IAEO und deren Inspektorenteams zu antworten. Nach dem der Irak zunächst häufig kooperierte, ohne dass die Sanktionen im Wesentlichen gelockert worden wären, kam es zu erheblichen Störungen der Inspektionen ab 1997; nach der Krise um die Inspektion von Präsidentenpalästen am 5. August 1998 stellte die irakische Seite ihre Kooperation ein. Mit dem Beharren auf einer restlosen Erfüllung aller UNO-Forderungen sieht sich der Irak in seiner Souveränität bedroht. Wahrscheinlich ist er auch mit der Aufklärung des Verbleibs von Restbeständen von Massenvernichtungswaffen überfordert. Dies kann aus friedenspolitischer Sicht für die Bewertung seiner Lage nicht ausschlaggebend sein, der Irak konnte sich aber aus seiner Sicht unmöglich in eine Situation begeben, in der umfassende Sanktionen mit einem kompletten Rüstungs- und Technologiekontroll- sowie Überwachungssystem (in der Form und mit den Autoritäten der UNSCOM) beliebig verlängerbar waren.

Das verweist auf ein für alle UNO-Sanktionen typisches Problem1: Selbst wenn die Staatengemeinschaft übermächtig ist und ihre Entschlossenheit, ihre Sanktionsziele zu erreichen auch deutlich signalisiert, kann das betroffene Herrschaftsregime durch Gegenmaßnahmen die Effektivität der Sanktionen verringern und damit die Sanktionsperiode und auch den eigenen Machterhalt verlängern. Durch Schmuggel und Abwicklung von verdecktem Handel über dritte Staaten (Umweghandel), Mobilisierung binnenwirtschaftlicher Ressourcen, Außenhandelsrestriktionen und Propaganda zum Abfangen der politischen Effekte der Wirtschaftsblockade können die Verluste durch entgangenen Handel und deren wirtschaftliche und politische Folgen abgemildert werden. Durch wirtschaftliche Umstrukturierungen mit Staatseingriffen und Subventionen sowie einer Propaganda zur Förderung der Opferbereitschaft der Bevölkerung kann negativen Effekten von Wohlfahrtsverlusten teilweise entgegengewirkt werden. Auf der externen Ebene, die durch vielfältige Formen der internationalen Isolierung geprägt sein mag, ist es wahrscheinlich, dass ein sanktionierter Staat finanzielle und andere Anreize bietet, die Sanktionen zu unterlaufen und sich erheblich bemüht, Gegenallianzen und eine Gegenpropaganda aufzubauen. Dies ist in unterschiedlichem Ausmaß auch beim Irak erkennbar. Wie bei allen wichtigen Sanktionsfällen geht es um die Frage, wie sich ein bestimmtes Herrschaftsregime aufrecht erhalten lässt, also schließlich um eine Existenzfrage. In solchen Fällen lenkt deswegen kein Herrschaftsregime ohne weiteres ein.

Wenn man die älteren, bedeutenden Fälle von UNO-Sanktionen, Rhodesien und Südafrika, betrachtet, hing der Erfolg der Politik letztlich von vier entscheidenden politischen Faktoren ab:

  • von der Existenz einer bedeutenden langjährigen Opposition, die das Herrschaftsregime durch politischen Widerstand, aber auch teilweise durch Guerillakrieg schwächte;
  • von der Fähigkeit der internationalen Gemeinschaft, durch eine menschliche und moralische Isolierung psychologischen Druck auf das Herrschaftsregime auszuüben, seine Ideologie zu entblößen und die Wandlungsfähigkeit des Herrschaftsregimes durch einen kritischen Dialog zu provozieren;
  • von der Einsichtsfähigkeit des Herrschaftsregimes, dass der wirtschaftliche und politische Preis für die Sanktionen auf Dauer zu hoch ist, sich ihr Herrschaftssystem nicht mehr halten lässt und Reformen erforderlich sind;
  • von der Herausbildung eines Verhandlungsprozesses (nur zum Teil mit internationaler Unterstützung) zwischen Regime und Opposition über einen friedlichen Systemwandel und die Abgabe politischer Herrschaft im Gegenzug zur Erhaltung von ökonomischen Grundlagen bzw. Privilegien der ehemaligen Elite.

Insgesamt gesehen sind UNO-Sanktionen nicht aus sich selbst heraus, aus der Anwendung bestimmter Techniken und der Erfüllung von quasi-technischen Zielen, effektiv. Es gibt ein komplexes Zusammenspiel verschiedenster Einflussfaktoren und Funktionsbedingungen. Die überragende Macht der Sanktionssender bzw. der UNO-Mitgliedstaaten und die Verletzlichkeit des sanktionierten Landes reicht allein nicht zur Erklärung der Faktoren, die für den politischen Wandel hauptsächlich verantwortlich sind, aus.

Hinzu kommt die Frage nach der generellen Legitimität von Sanktionen und nach ihren humanitären bzw. moralischen Grenzen. Umfassende Sanktionen können in Entwicklungsländern zu erheblichen Einschränkungen wirtschaftlicher und sozialer Menschenrechten (insbes. Recht auf Nahrung und medizinische Versorgung) führen, die rechtlich und rein humanitär nicht mehr vertretbar, unverhältnismäßig zu den angestrebten Zielen der Staatengemeinschaft sind und sich u.U. auch auf die Ziele des Sanktionsprozesses kontraproduktiv auswirken. Umfassende und harte Sanktionen können die zivilgesellschaftliche Entwicklung hemmen und zur Einschränkung der Handlungsfähigkeit oppositioneller Kräfte führen. Im Ergebnis leidet die Bevölkerung unter den Sanktionen und kann gleichzeitig nicht zum Erreichen der Sanktionsziele beitragen. Gleichzeitig sind harte Sanktionen ein Anlass für das Herrschaftsregime, härter gegen die Opposition vorzugehen und eine gesamtgesellschaftliche Solidarität, »Treue« gegenüber dem Herrschaftsregime einzufordern. Resultat dieses Prozesses sind Ohnmacht und Lethargie und damit eine mangelnde Wandlungsfähigkeit des Gesellschaftssystems. Die Gesellschaft ist durch die umfassenden Sanktionen gefangen, ohne dass sie die Situation positiv verändern könnte. Dies wirft insgesamt die Frage nach der Legitimität eines solchen Sanktionsregimes auf. Auch kann in einem solchen Fall m.E. nicht automatisch von einer Zivilisierung außenpolitischer Mittel gesprochen werden, nur weil man auf den Einsatz von Militär größtenteils verzichtet.

Für alle diese Sachverhalte ist der Irak ein Musterbeispiel. Er ist außerdem ein Fall, in dem die Öffentlichkeit dringend über die Problematiken und die enormen negativen humanitären Auswirkungen aufgeklärt werden muss. Gleichzeitig gilt es Möglichkeiten eines politischen Erfolges und Alternativen zu der bisherigen Politik eines harten Sanktionsregimes zu diskutieren, die realpolitisch durchsetzbar und funktional sind. Für den Fall des Irak muss die Sanktionspolitik so revidiert werden, dass sie nicht mehr als „Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“ (Braunmühl, 1998) begriffen werden kann.

Die unzureichenden Möglichkeiten des innenpolitischen Wandels

In der Folge der Sanktionen sind im Irak eine enorme Verschlechterung des gesamten sozialen Gefüges und ein starker sozialer Abstieg zu beobachten: Die zum »Herrschaftslegitimationszentrum« gehörenden Sunniten, unter ihnen hochausgebildete Leute, Technokraten, Lehrer und auch Journalisten, sollen im Laufe der Zeit verarmt sein. Dies betrifft sogar Personen aus der Elite der Baath-Partei und des Militärs. Die Ausreise von hochgebildeten Leistungsträgern wie Wissenschaftlern, Professoren und Ingenieuren wurde mit einer Gebühr von 5 Mio. Dinar belegt, um eine weitere Abwanderung zu verhindern. Für normale Bürgerinnen und Bürger wurde die Gebühr von 6.000 auf 200.000 Dinar angehoben. Die sozialen Folgen des Niedergangs sozialer und moralischer Einstellungen in der irakischen Bevölkerung sind nicht mehr zu übersehen: steigende Kriminalität, Wucherpreise, offene Prostitution, weit verbreitete Korruption, Abnehmen bürgerlicher Tugenden und sinkender Schulbesuch der irakischen Jugend. Oft müssen Kinder zum Betteln und Stehlen auf die Straße geschickt werden, obwohl darauf drakonische Strafen stehen (Cordesman/Hashim,1997: 14ff).

Ein Überleben des irakischen Regimes ist durch die Maßnahmen erklärlich, die als eine Art Krisenprävention vom Herrschaftsregime Saddam Husseins ergriffen wurden. Nach dem Zweiten Golfkrieg ist es ihm gelungen, durch Versprechen von Reformen, scheinbare Rückbesinnung auf den Islam und Einbinden von bekannten Persönlichkeiten den Schein eines politischem Wandels aufzubauen. Im Frühjahr 1991 wurden politische Reformen angekündigt, die die Rolle der Baath-Partei reduzieren und ein Mehrparteiensystem einführen sollten. Von Anfang an waren diese Reformen aber so minimal, dass praktisch keine politischen Veränderung eintraten Im Gegenteil: Saddam Hussein trat in seinen Reden Vorstellungen von westlicher Demokratie und anderen Formen politischer Liberalisierung entgegen und machte klar, dass niemand aus dieser politischen Richtung mit Führungspositionen im politischen, sozialen und kulturellen Leben des Landes rechnen könne. Durch geschicktes Manövrieren innerhalb des Regierungsapparates wurde außerdem ein Wandel des absolutistischen Systems verhindert. Eine weitere Herrschaftstechnik war es, erfolglosen Ministern auch eine Teilschuld an der ökonomischen Misere zuzuweisen. Dies mag dem Zentrum der irakischen politischen Elite noch mehr das Gefühl vermittelt haben, dass es auf absehbare Zeit keine Alternative zu Saddam Hussein geben dürfte. Viele der sunnitischen Führungseliten machen den Westen, besonders die USA, verantwortlich für die systematische Zerstörung des Irak als moderner Regionalmacht. Es heißt deshalb auch, sunnitische Intellektuelle, die in privaten Gesprächen aus ihrer Gegnerschaft zu Saddam Hussein kein Hehl machten, seien oftmals weitaus nationalistischer oder »anti-imperialistischer« als dieser, sie stünden nicht für Reformen oder Demokratie (Cordesman/Hashim, 1997: 16ff).

Opposition und Putschversuchen aus dem Zentrum der irakischen Herrschaftseliten, den sunnitischen Machteliten, ist Saddam Hussein immer wieder mit brutaler Gewalt entgegengetreten (Vgl. Koszinowski, 1996: 73). Saddam Husseins Herrschaftssicherung beruht immer mehr auf Vetternwirtschaft und Patronage. Er umgibt sich mit Verwandten und Freunden aus der Takrit-Region. Diese Mitglieder einer »erweiterten Familie« sind eng an ihn gebunden und erlauben ihm seine persönliche Herrschaft über das Militär, die Sicherheitsdienste, die Baath-Partei und die Regierung. Schlüsselpositionen werden, vermutlich zur Verhinderung der Herausbildung einer störenden Hausmacht, häufig umbesetzt (Cordesman/Hashim 1997:19ff). Zudem nutzt der irakische Staatsapparat ein Netz von Staatssicherheitsdiensten und Geheimdiensten, bei denen im Jahr 1995 ca. 100.000 Menschen beschäftigt waren. Unterstützt werden sie von einzelnen Abteilungen der Baath-Partei und »Volksräten«, die oft mit Rechten ausgestattet sind, die normalerweise nur Polizei und Justiz zustehen (Blair. 1994: 2). Saddam Hussein hat eine persönliche Elitetruppe von mindestens 15.000 Mann zu seinem Schutz sowie eine ausgewählte persönliche Leibwache.

Wer auf einen innenpolitischen Wandel hofft, sollte beachten, dass etwa zwei Millionen Iraker im Ausland leben, darunter ein großer Teil der Opposition. Die ersten größeren Auswanderungswellen gab es schon in den 70er und 80er Jahren. Islamisten, Kommunisten und Kurden wurden damals massiv attackiert und ins Exil gezwungen. Die Opposition gliedert sich im Wesentlichen in folgende Gruppen: Islamisten, arabische Nationalisten, Kurden, Kommunisten und Demokraten sowie Parteien assyrischer und turkomanischer Minderheiten. Die Zufluchtsländer für die Flüchtlinge waren hauptsächlich der Iran für islamistische Gruppen, der kurdische Norden des Irak (oder »Kurdistan«) für Kurden und Kommunisten und Syrien für arabische Nationalisten und Kommunisten (Francke, 1994: 153). Der irakische Staat reagierte auf die interne Opposition und die Aufstände nach dem Golfkrieg mit einer erneuten Welle der Repression und Unterdrückung, so dass z.B. der shiitische Widerstand in den Untergrund gehen musste. Manche shiitischen Gruppen sahen sich sogar gezwungen, ihre Basis in den schwer zugänglichen Sümpfen des Euphrat und Tigris aufzubauen. Der repressive Staatsapparat aus zivilen und militärischen Geheimdiensten ist so umfassend, dass einige irakische Oppositionelle von einem »Terror-Netzwerk« (al-Khafaji, 1994: 20ff) reden.

Die Chancen der Opposition, die »Kreise der Macht« im Irak zu stören und eine politische Alternative aufzubauen, sind momentan gering. Die Opposition ist politisch zerstritten und ethnisch zersplittert. Zwei der wichtigsten Strömungen, die Islamisten und die Kommunisten, sind kaum miteinander vereinbar. Einflussreiche kurdische Gruppen kämpften im 1. Golfkrieg selbst dann noch auf Seiten des Iran, als der Irak bereits zu gewinnen schien. Der Irak führte praktisch mitten im Iran-Irak-Krieg auch noch sechs Jahre Bürgerkrieg gegen die Kurden. Gleichzeitig musste das Regime Saddam Husseins sich während dieses Krieges immer wieder der Loyalität der Shiiten (die die Bevölkerungsmehrheit bilden) versichern. Unter diesen Bedingungen galt schon damals jede Opposition als Verrat.

Einer der wenigen Ansatzpunkte für eine Opposition ist die Tatsache, dass der irakische Staat von einer sunnitischen Minderheit beherrscht wird, die nur etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmacht, während die (nicht-arabischen) Kurden und die Shiiten zusammen eine übergroße Mehrheit bilden. Die Opposition ist aber nicht nur gespalten, die Trennlinien sind vor allem ethnisch oder religiös bestimmt, ausgenommen Demokraten und Kommunisten. Eine Einigung zumindest eines größeren Teils der über 70 Oppositionsgruppen ist aber nur möglich, wenn die Frage des Umgangs mit Minderheiten gelöst wird. Ein Hauptstreitpunkt innerhalb der irakischen Opposition im Exil ist deswegen die Frage, ob und wie in einem neuen Irak föderale Strukturen eingerichtet werden können. Auch ist die irakische Opposition sich in der Art des anzustrebenden Wandels uneinig: durch Volksaufstand/Guerillakampf oder durch Bündnisse mit dem Militär. Aus Sicht der irakischen Opposition wäre ein Sturz des Regimes möglich gewesen, wenn die Golfkriegsalliierten sie bei den Aufständen unmittelbar nach dem Golfkrieg unterstützt hätten. So hat die Repression in Folge der kurdischen und shiitischen Aufstände mehr Opfer gekostet haben als der Golfkrieg selbst (Luizard, 1995: 19f und Francke, 1994: 173ff).

Auch heute beklagt die irakische Opposition, sie werde nicht genügend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt. Teile kritisieren auch die derzeit bestehenden Sanktionen als kontraproduktiv. Diese führten dazu, dass der tägliche Überlebenskampf keinen Raum für politische Aktivitäten mehr lasse (Pertes, 1997: 255).

Die Arbeit der UNSCOM und die Effektivität der Sanktionen

Schon vor Jahren kritisierten US-amerikanische Stellen, dass der Irak seine Infrastruktur für konventionelle Waffen, darunter auch Raketen, wieder aufbaue. Der Bau von Raketen mit einer Reichweite unter 150 km ist dem Irak aber erlaubt und Erkenntnisse über die Reichweite der Raketen, darüber, ob sie technisch ausgereift und überhaupt einsatzbereit sind, liegen angeblich nicht vor. Über eine Chemiefabrik, die früher chemische Waffen produzierte, heißt es, sie sei wieder aufgebaut worden und diene der Produktion von Chlor- und Phenolverbindungen, könne aber jederzeit zur Produktion chemischer Kampfstoffe oder von Vorstufen-Chemikalien umgerüstet werden. Mit solchen Behauptungen wird ein Generalverdacht gegenüber jeglicher industrieller Produktion aufgebaut. Die Zuverlässigkeit solcher und ähnlicher Angaben lässt sich kaum überprüfen. Der geflüchtete irakischer General Wafiq as-Sammarra'i Ende 1994/Anfang 1995 sagte, die irakische Rüstungsindustrie sei nun wieder fähig, leichte Munition zu fabrizieren (Baram, 1995: 27f); dagegen behaupteten die US-Amerikaner bereits ein Jahr zuvor, nach Geheimdienstangaben habe der Irak die Produktion von T-72-Panzern wieder aufgenommen habe, sowie die eingeschränkte Produktion von Artillerie und Kurzstreckenraketen, kleinen Waffen und Ersatzteilen für Fahrzeuge und Waffen. Woher der Irak – trotz des Embargos – dafür die Mittel haben soll, bleibt schleierhaft. Aber gerade wegen des »Dauerverdachts« lohnt sich ein Blick zurück auf die Erfolge bzw. Nichterfolge der UNSCOM.

Von Anfang an kooperierte der Irak bei der systematischen Erfassung seiner Rüstung nur in sehr unzureichender Weise. Die Deklarationen des Irak erwiesen sich als falsch und unvollständig. Allein im Sommer 1991 entdeckte die UNSCOM Scud-Raketen und mobile Abschussrampen, die vorher nicht bekannt waren, sowie 50 stationäre Abschussvorrichtungen, 23.000 zusätzliche Teile chemischer Munition, große Mengen von Vorstufen-Chemikalien für die Produktion chemischer Waffen und zwei Anlagen, die mit dem biologischen Programm verbunden waren. In zwei groß angelegten Inspektionen gelang es trotz der Weigerung des Irak (im zweiten Fall nur durch Intervention des Sicherheitsrates und die Androhung militärischer Gewalt), eine enorme Anzahl von relevanten Dokumenten über das Nuklearprogramm sicherzustellen. Das alles war aber nur ein anfänglicher Triumph, denn von diesem Zeitpunkt an wird angenommen, dass der Irak Sofortmaßnahmen ergriff um alle relevanten Dokumente zu vernichten und in den Anlagen alle Spuren zu beseitigen. Die Arbeit der UNSCOM war von diesem Zeitpunkt an (Sommer 1991) auf einen großen technischen Aufwand, z.B. Luftaufnahmen per Hubschrauber, Flugzeugen und Satelliten, angewiesen (UNSCOM – Inspecting for Peace, 1998: 57f).

Die Untersuchung des Programms für biologische Waffen dauerte – aufgrund der Nichtkooperation des Irak – dann auch sehr lange, bis eine Aufklärung erreicht werden konnte. Erst nachdem der für irakische Waffenprogramme zuständige General Hussein Kamel Hassan Anfang August 1995 nach Jordanien geflüchtet war, händigte die irakische Regierung der UNSCOM plötzlich ca. 600.000 Dokumente, Filme, Videos und Mikrofiches aus, die angeblich von eben jenem General in einem landwirtschaftlichen Haus versteckt worden waren (UNSCOM – Inspecting for Peace, 1998: 59f).

Erfolge der UNO-Sonderkommission zur Abrüstung des Irak (UNSCOM)

Trotz aller Nichtkooperation und Behinderungen seitens der Iraker hat die UNSCOM enormen Erfolg gehabt:

  • die Aufdeckung verschiedener Programme zur Urananreicherung für die Herstellung atomwaffenfähigen Materials, Verfahren zur Gewinnung von Plutonium und Produktionsstätten zur Herstellung einer Boden-Boden-Atombombe, die allein mit irakischen Mitteln hergestellt werden sollte,
  • die Entdeckung der Produktion chemischer Waffen in einem größeren Ausmaß als deklariert wurde, was fünf Anlagen und zusätzliche, modernere C-Waffen einschloss (z.B. das höchst gefährliche und wirksame Nervengas VX), zwischen 38.500 (bei einer Anlage) bis über 200.000 Stück chemische Munition, zwischen 690 bis über 4.000 t chemische Kampfstoffe in größeren Mengen und etwa (bei einer Anlage) 3.000 bis zu 20.000 t Vorstoffe für chemische Waffen sowie mindestens 426 Teile von Produktionseinrichtungen und 91 Teile damit verbundenen analytischen Equipments,
  • den Fund von drei biologischen Waffenprogrammen (letale Humanpathogene, nicht-letale Humanpathogene und Tier- und Pflanzenpathogene). Diese Programme umfassten die Produktion von etwa 19.000 Litern Botulinum-Toxin, 8.500 Litern Anthrax und 2.000 Litern (Leberkrebs verursachendes) Aflatoxin. Diese drei chemischen Kampfstoffe wurden bereits in waffenfertiger Form als Bomben, Raketensprengköpfe und taktische Feldmunition (122mm-Raketen und 155mm Artilleriemunition) hergestellt. Der Irak hatte außerdem an einem ferngesteuerten Flugkörper experimentiert, der die Kampfstoffe hinter feindlichen Linien versprühen sollte. Die ganze biologische Haupt-Waffenfabrik in Al-Hakam wurde unter der Aufsicht der UNSCOM zerstört.
  • die Entdeckung einer fertiggestellten Langstreckenkanone (Supergun) sowie von Teilen und Antriebstoffen für vier weitere,
  • die Enthüllung und Aufklärung, dass mehr Scud-Raketen und Abschussrampen vorhanden waren, als der Irak ursprünglich erklärt hatte, sowie drei Programme für die einheimische Produktion von Raketen mit unerlaubter Reichweite (über 150 km), zum Teil mit erheblich höherer Reichweite (die allerdings nie realisiert wurden, S.R.), darunter 48 fertige Langstreckenraketen, 14 konventionelle Sprengköpfe, sechs fertige mobile Abschussrampen, 28 feste Abschussvorrichtungen etc.
  • die Aufdeckung von Produktionsstätten und Ausrüstungen, die mit Iraks verschiedenen Nuklearwaffenprogrammen verbunden waren, sowie die Entfernung von Uran und Plutonium aus dem Irak mit Hilfe der IAEO,
  • die Zerstörung oder Verifikation der Zerstörung
  • von Varianten von Scud-Raketen, 19 mobilen Abschussrampen, 76 chemischen und 113 konventionellen Sprengköpfen für die Scud-Varianten, 60 weiteren, festen Abschussvorrichtungen, Produktionseinrichtungen, Unterstützungsgerät (z.B. Radar-Fahrzeugen) sowie weiteren Komponenten
  • der Langstreckenkanone, ihrer Komponenten und Antriebsstoffe,
  • der biologischen Grund- bzw. Brutstoffe und der biologischen Waffenproduktion in der Hauptproduktionsstätte al-Hakam,
  • der Produktionsanlage für chemische Waffen und der Ausrüstung des Muthanna Staatsunternehmens und seiner Einrichtungen in Fullajah,
  • von 480.000 Litern chemischer Kampfstoffe (Senfgas, Sarin, Tabun), 28.000 Stück gefüllter und 12.000 Stück ungefüllter chemischer Munition und große Mengen von 45 verschiedenen Vorstoffen für chemische Waffen.

(UNSCOM – Inspecting for Peace 1998: 62f)

Für US-Präsident Clinton hat die UNSCOM damit mehr Waffen zerstört hat als die ganze Operation »Desert Storm«, der alliierte Militärschlag zur Befreiung Kuwaits und zur Niederhaltung militärischer Kapazitäten im Irak.

Auch der vielfach entstandene oder erweckte Eindruck, die Inspektoren seien andauernd oder zumindest sehr häufig behindert worden, ist nicht immer richtig. Der letzte UNSCOM-Bericht des Jahres 1995 (S/1996/258), der insgesamt 19. Bericht des Vorsitzenden der Sonderkommission, stellt z.B. in Absatz 18 fest: „Während der Berichtsperiode hat die Kommission eine Anzahl von Inspektionen durchgeführt. Irak hat in den meisten Fällen seine Verpflichtungen erfüllt.“ Für eine Inspektion wird die Zusammenarbeit des Irak in dieser Berichtsperiode sogar hervorgehoben, und lediglich die irakische Verweigerung einer Inspektion (UNSCOM 143) vom 8.-17. März wird bemängelt.

Beispielhaft sollen einige Berichte über den Inspektionsprozess aus den Jahren 1995-97 hier dargestellt oder angeführt werden, um die relative Normalität des Ablaufs und die Grenzen der UNSCOM-Inspektionen in ihrer Gesamtheit zu zeigen. Ein Beispiel für die Dimension der Überwachung: Die Inspektionen im »biologischen Bereich« erstreckten sich 1995 auf 80 biologische Forschungs- und Produktionseinrichtungen im Irak, von denen ganze fünf intensiv überwacht werden mussten (Zilinskas, 1995: 256ff). Ein ehemaliger Inspektor, der ausführlich Inspektions- und Analysemethoden schilderte, stellte schließlich fest, dass der Großteil der Anlagen, die er besuchte, weder die Ausrüstung noch das Personal hatte, mit Pathogenen umzugehen, ohne die Beschäftigten einer großen Gefahr auszusetzen (Mohr, 1995: 243).

Im März 1996 erklärte der Vorsitzende der UNSCOM, Ekéus, dass das Programm für die laufende Überwachung und Verifikation im Irak wahrscheinlich noch für 15-20 Jahre fortgeführt werden müsste.

Im Bagdader Zentrum der UNSCOM arbeiteten 1997 mehr als 100 Leute, einschließlich 20 Wissenschaftler und Spezialisten in Nuklearphysik, Chemie, Biologie und Raketentechnologie. Sie führten unangekündigt Inspektionen durch. Gleichzeitig gab es das Import/Exportkontrollsystem und es wurden Übertragungen von 150 Überwachungskameras kontrolliert. Nach sechs Jahren konnte die UNSCOM trotzdem noch keine vollständige und genaue Versicherung geben, dass alle irakischen Programme für Massenvernichtungswaffen aufgedeckt wurden. Die UNSCOM konnte während des Jahres 1997 für die Vernichtung großer Mengen von Vorstoffen des gefährlichen Nervengases VX keine Nachweise finden und hatte Evidenz dafür, dass möglicherweise immer noch Sprengköpfe mit B- und C-Waffenmunition existierten, da ihre Vernichtung nicht nachgewiesen werden konnte. In dieser Situation stieg die Anzahl der Behinderungen, so wurde z.B. den UN-Inspektoren der Zutritt zu verschiedenen Einrichtungen, wie präsidentialen Anlagen, verweigert und die Nationalität einiger Inspektoren bemängelt (Zanders/Hart, 1998: 481ff). Dennoch gab es auch in diesem Jahr bemerkenswerte Fortschritte bei der Abrüstung, wie z.B. im Raketensektor (UN-Dok. S/1997/774, Abs. 23-43).

Abschließend lässt sich feststellen, dass die Anzahl der Behinderungen von Inspektionen zwar relativ klein war (insgesamt hatten die Inspektorengruppen in sechs Monaten des Jahres 1997 über 700 Inspektionen durchgeführt), die Obstruktionspolitik des Irak verstärkte aber dass bereits vorhandene Misstrauen.

Seit Ende 1998 kann die Politik gegenüber dem Irak mit dem Wort »Stillstand« bezeichnet werden. Eine vollständige Abrüstung des Irak und die Erfüllung der Verpflichtungen nach Res. 687 (1995) konnten nicht erreicht werden. Gleichwohl könnte die UNO den bereits erreichten Stand der Abrüstung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägersysteme als befriedigend und die verbleibenden Fragen als tolerierbar bezeichnen, ohne dass sie von dem Ziel der vollständigen Abrüstung in diesem Bereich abrücken müsste. Notwendig wäre dazu lediglich eine neue Kontrollpolitik, die mit dem Irak ausgehandelt werden müsste.

Die friedenspolitisch wesentlichsten Gründe: Das Leiden der irakischen Bevölkerung unter den Sanktionen ist unverhältnismäßig hoch während das Herrschaftsregime von Saddam Hussein dadurch nicht in Frage gestellt wird.

Die harten humanitären Folgen der Sanktionen

Bereits der Iran-Irak-Krieg hatte dem Irak enorme materielle Schäden zugefügt. Sluglett und Farouk-Sluglett schätzen die Kosten dieses Krieges – einschließlich der Verluste aus Erdöleinnahmen, der Einbußen im BSP sowie der Infrastrukturschäden – auf 452,6 Mrd. US$ (Sluglett/Farouk-Sluglett, 1991: 278f).

Der 43-tägige Golfkrieg führte zu einer weit gehenden Zerstörung der zivilen Infrastruktur. 90.000 t Explosivstoffe wurden von der internationalen Koalition abgeworfen. 2.500-3.000 Zivilisten wurden getötet und 9.000 Häuser zerstört (Hoskins, 1997: 91ff).

Die UNO-Sanktionen trafen den Irak also bereits in einer ökonomisch äußerst komplizierten Situation und sie führten dazu, dass sich in kürzester Zeit das Bruttosozialprodukt fast halbierte.

Die Auswirkungen der Kriegsführung und der Sanktionen waren für die Bevölkerung katastrophal. Nach dem Bericht eines deutschen Beobachters traten folgende Effekte ein:

  • Die Versorgung mit Elektrizität und Brennstoffen kam zum Erliegen.
  • 90% der Industriearbeiter wurden zur Inaktivität gezwungen und waren ohne Einkommen.
  • Die Preise für Lebensmittel waren und sind für die Mehrheit der Bevölkerung zu hoch.
  • Das einzige Laboratorium zur Produktion von Impfstoffen war zerstört.
  • Die Getreideernte war schwer gefährdet, da die Bewässerungssysteme zerstört waren und es keinerlei Pestizide und Düngemittel gab. Das mechanisierte Einbringen der Ernte war von Treibstoff und Ersatzteilen abhängig, die fehlten.
  • Die normale Infrastruktur war weit gehend zusammengebrochen, insbesondere bei der Wasserversorgung, der Abwasserreinigung, der Elektrizitätsversorgung, der Müllbeseitigung, der Treibstoffversorgung und im Telefonssystem (Ruf, 1994: 79f).

Der UN-Bericht (UN-Dokument S/22799), der in Zusammenarbeit mit vielen UNO-Organisationen vor Ort unter der Leitung des Exekutivdelegierten des UNO-Generalsekretärs, Sadruddin Aga Khan, erstellt und am 15. Juli 1991 veröffentlicht wurde, schätzte den jährlichen Bedarf für die Wiederherstellung einer normalen Infrastrukturversorgung im Irak auf 6,85 Mrd. $. Er verwies im Absatz 26 auf einen unmittelbaren humanitären Anfangsbedarf von rund 22 Mrd. $, um die elementarsten Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu decken.

Mit Sicherheitsratsresolution 666 vom 13. September 1990 war dem Irak-Sanktionsausschuss die Aufgabe zugewiesen worden, die Nahrungsmittelsituation im Irak (und in Kuwait) ständig zu überwachen, um festzustellen, ob humanitäre Umstände eingetreten sind, die die Lieferung von Nahrungsmitteln notwendig machen. Mit der Resolution 687 (1991) entfiel die Notwendigkeit des Nachweises, dass humanitäre Umstände vorliegen, und Lieferungen solcher Art konnten nach einem kurzen Genehmigungsverfahren, dem »vereinfachten und beschleunigten Kein-Einwand-Verfahren« (Genehmigung der Lieferung, wenn kein Mitglied des Sanktionsausschusses einen Einwand erhebt), behandelt werden. Der erste Bericht durch einen Vertreter des Generalsekretärs, der so genannte Athisaari-Bericht, hatte „auf einer dringenden humanitären Grundlage“ auch Ersatzteile, Chlorverbindungen, Pumpausrüstungen als Gegenstände vorgeschlagen, deren Export in den Irak erlaubt sein sollte. Res. 687 verwies auf diese Empfehlungen und bestimmte, dass „Materialien und Bedarf für essenzielle zivile Notwendigkeiten/Bedürfnisse wie in dem Bericht des Generalsekretärs vom 20. März 1991 identifiziert“ nach einem „vereinfachten und beschleunigten Kein-Einwand-Verfahren“ behandelt werden sollen. Bis heute gibt es aber keine Liste sofort zu genehmigender Güter, es wird an Einzelfallentscheidungen festgehalten.

Viele der mit den Sanktionen befassten UNO-Mitarbeiter und auch politisch verantwortliche Vertreter von Staaten in der UNO haben 1991 nicht einmal den Versuch gemacht, sich eine genaue Übersicht über die humanitäre Situation im Irak zu verschaffen. Vorliegende Studien wurden trotz ihrer Plausibilität in Zweifel gezogen. Auch der Irak selbst zeigte sich nicht gerade kooperativ. Versuche seitens des Sicherheitsrates und des Sanktionsausschusses eine Liste aufzusetzen, die vielleicht mit der Zustimmung des Sicherheitsrates vom Kein-Einwand-Verfahren zu einer simplen Anmeldungs- bzw. »Notifikationsprozedur« hätten führen können, scheiterten aufgrund des irakischen Verhaltens. Dies veranlasste den Sicherheitsrat im Februar 1992 zu der Aussage, dass der Irak damit „der Möglichkeit verlustig geht, die lebenswichtigen Bedürfnisse seiner Zivilbevölkerung zu begegnen und darum die volle Verantwortung für ihre humanitären Probleme trägt“ (Braunmühl/ Kulessa, 1995: 93f).

Unmittelbar nach dem Krieg, im Juli 1991, hatte die UNICEF aber schon vor schwer wiegender Unterernährung bei Kindern unter fünf Jahren gewarnt. Im zweiten Jahr nach dem Krieg machte die Nahrungs- und Landwirtschafts-Organisation der UNO, FAO, darauf aufmerksam, dass die große Mehrheit der irakischen Bevölkerung unter schwerer Unterprivilegierung, Hunger und Unterernährung leidet und der Irak zu diesem Zeitpunkt eine Kalorienversorgung unterhalb derer von afrikanischen Katastrophengebieten hatte (Hoskins, 1997: 111ff).

Die finanzielle Lage des Irak hätte sich – auch wenn die Sanktionen zu einem großen Teil aufgehoben worden wären – auf absehbare Zeit nicht besonders verändert, denn der Irak hat Kriegsentschädigungen in Höhe von etwa 50-60 Mrd. $ und Auslandschulden von etwa 75,5 Mrd. $ zu zahlen. Vielleicht wird die Summe der Kriegsentschädigungen noch höher, denn im Mai 1994 lagen der UNO-Kompensationskommission Schadenersatzansprüche in Höhe von 81 Mrd. $ vor.

Um die Lage der irakischen Bevölkerung zu verbessern und die dringendsten humanitären Bedürfnisse erfüllen zu können, hat der UNO-Sicherheitsrat – durch den Bericht der FAO alarmiert – mit den Resolutionen 706 und 712 vom 16. August und 19. September 1991 den Export von Öl im Wert von 1,6 Mrd. $ erlaubt. Der Irak ging darauf nicht ein, da die UN-Überwachung der Nahrungsmittel-Auslieferung die Souveränität des Irak verletze. Es dauerte bis zum 14. April 1995, bis der Sicherheitsrat sein Angebot verbesserte und mit Resolution 986 den überwachten Verkauf von Öl für 2 Mrd. $ innerhalb von 180 Tagen unter internationaler Kontrolle offerierte. Allerdings fließen 30 % der Einnahmen in einen Kompensationsfond zur Begleichung der Kriegsreparationen und etwa 20 % sind für Nothilfemaßnahmen im Nord-Irak vorgesehen. Der Irak wies auch diesen Vorschlag zuerst zurück, weil er dadurch die Souveränität des Landes gefährdet und dahinter die Förderung einer Sezession sah. Die wirtschaftliche Situation des Landes war unterdessen durch Hyperinflation, den Zusammenbruch der Märkte und den extremen Anstieg von Arbeitslosigkeit und Mittellosigkeit großer Teile der Bevölkerung gekennzeichnet. Die irakische Regierung erklärte im März 1993, dass 234.000 Menschen, darunter 83.000 Kinder unter fünf Jahren „als Resultat der Sanktionen“ zwischen August 1990 und Januar 1993 gestorben seien, die medizinischen Versorgung hätte um 85% reduziert werden müssen. Im September 1994 kündigte das Welternährungsprogramm ein sechsmonatiges Notprogramm mit der Lieferung von über 100.000 t Nahrungsmittelhilfe für 1,3 Mio. Menschen an. Im Mai 1995 schätzten UNO-Organisationen die Zahl der von Nahrungsmittelrationen abhängigen Personen auf 4 Mio., davon litten mindestens eine Millionen Menschen chronischen Hunger, etwa 23 % der Kinder unter 5 Jahren waren unterernährt. Es wurde ein Notprogramm für 183,3 Mio. $ für ein Jahr vorgeschlagen um den Hunger zu mildern sowie Wasser-, Gesundheits-, Sanitär- und Erziehungsprojekte durchzuführen und vertriebene Familien wiederanzusiedeln. Bis zum Oktober 1995 waren für dieses Programm aber nur 40 Mio. $ gespendet worden. (Das Öl-für-Nahrung-Programm war zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht angelaufen.) Nach langen Verhandlungen mit der irakischen Regierung wurde im Mai 1996 ein Memorandum der Verständigung unterzeichnet, in dem der Irak den Bedingungen der Überwachung des Öl-für-Nahrung-Programms nach Resolution 986 (1995) zustimmte. Nach diesem Schritt sollte der Irak einem detaillierten Umsetzungsprogramm des Sanktionsausschusses zustimmen. Die USA übten innerhalb der UNO aber gleichzeitig Druck aus, um sehr starke Überwachungsmechanismen zu jedem Stadium der vorgeschlagenen Export-, Import- und Distributionsprozeduren zu etablieren. Die USA waren weiterhin sehr bemüht, sicherzustellen, dass innerhalb der UNO eine sehr enge Definition von humanitären Lieferungen galt, um einen möglichen Missbrauch von importierten Gütern für andere Zwecke auszuschließen. Der Umsetzungsplan wurde vom UNO-Sanktionsausschuss Anfang August 1996 genehmigt und es wurde angenommen, dass bis Mitte September alle notwendigen organisatorischen Maßnahmen dafür getroffen wären. Wegen einer politischen Krise in den Beziehungen zwischen Irak und den USA wurden die Vorbereitungsarbeiten dann aber vorübergehend eingestellt, so dass diese erst Ende November 1996 abgeschlossen werden konnten. Am 10. Dezember begann schließlich die Ölförderung unter UNO-Kontrolle. Zu diesem Zeitpunkt war der Verkauf von Öl im Wert von 2 Mrd. $ für eine Periode von 180 Tagen erlaubt und alle Einnahmen wurden auf ein UNO-Treuhandkonto eingezahlt. Von diesem Betrag gehen folgende Summen ab: 20 Mio. $ für die Verwaltung des Treuhandkontos, 44,32 Mio. $ für operationelle und administrative Kosten der UNO, 15 Mio. $ für die UNO-Sonder- bzw. Spezialkommission für den Irak (UNSCOM), die die Einhaltung der Waffenstillstandsbedingungen überwacht und 600 Mio. $ für Kriegsentschädigungen. Es bleiben rund 1,3 Mrd. für den Kauf von humanitären Gütern, von denen nochmals 260 Mio. für die UN-Hilfsprogramme in kurdisch kontrollierten Gebieten bestimmt sind.

Durch einen Bericht des UNO-Generalsekretärs vom 4. September 1991 (S/23006) war der Sicherheitsrat über den enormen humanitären Bedarf des Irak orientiert, denn in Absatz 17 dieses UNO-Dokumentes werden allein die Nahrungsbedürfnisse des Irak für ein halbes Jahr auf einen Wert von 1,1 Mrd. $ geschätzt. Zusätzlich wurde erwartet, dass

  • für den Wiederaufbau der wesentlichen Gesundheitsdienste weitere 250 Mio. $,
  • für spezielle Ernährungsprogramme von Müttern und Kindern 27 Mio. $,
  • für Wasser- und Sanitärinfrastruktur 120 Mio. $
  • und für den Aufbau einer ausreichenden landwirtschaftlichen Basis 300 Mio. $

gebraucht würden.

Konsequenterweise sprach sich der Generalsekretär (in Absatz 57. (b)) für eine Erhöhung des maximalen Ölverkaufs für humanitäre Belange über den Betrag von 1,6 Mrd. $ hinaus aus, der in Res. 706 (1991) festgelegt worden war. Sämtliche Überwachungs- und Kontrollstrukturen der UNO und die administrativen Vorgehensweisen, um im Irak sowohl den Export von Öl, als auch den Import und die Distribution der Güter zu vollziehen, waren zu diesem Zeitpunkt bereits ausgearbeitet (International Legal Materials, 30, 6, Nov. 1991: 1722ff). In Res. 712 vom 19. September 1991 wurde dann aber der Betrag von Res. 706 nicht erhöht, sondern nur eine Anweisung erteilt, dass das erste Drittel der Summe für humanitäre Zwecke freigegeben werden darf.

Die Sachverhalte einer sehr schwierigen medizinischen und Ernährungslage waren über fünf Jahre bekannt, sie wurden auch in öffentlich zugänglichen Informationsquellen dokumentiert – wenngleich nur bruchstückhaft, eine unmittelbare Änderung der Sanktionspolitik und zumindest eine genauere Übersicht hätte erfolgen müssen (vgl. zur finanziellen und sozialen Situation: Alnasrawi, 1992, zur medizinischen Situation und zur Säuglingssterblichkeit: Effect of the Gulf War on Infant and Child Mortality in Iraq, 1992). Durch die Verhängung eines umfassenden Sanktionsregimes unter Einschluss humanitärer Güter und eine zu geringe Abmilderung des Sanktionsregimes durch Ölverkäufe sowie eine zu starke Kontrolle der zu liefernden humanitären Güter durch den Sanktionsausschuss haben sich der UNO-Sicherheitsrat und sein Sanktionsausschuss, namentlich seine Mitglieder Großbritannien und USA, massiver Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht. Sie haben einen politischen Druck gegenüber dem Irak ausgeübt, der in der Intensität der Mittel völkerrechtlich nicht mehr zu legitimieren ist. Die Haltung der restriktiven Staaten im Sanktionsausschuss sollte wahrscheinlich dazu beitragen, die irakische Bevölkerung zu demoralisieren und so den Kollaps des Regimes herbeizuführen. In der Praxis hieß dies, dass die vom Sanktionsausschuss zeitweilig oder vollständig abgelehnten Güter auch unzweifelhaft notwendige humanitäre Güter umfassen konnten. Zu den abgelehnten Waren gehörten z.B. Babynahrung, Nahrungsmittel, diverse Textilien, Schulmaterialien, Spielzeug, Körperpflegemittel, Wasserreinigungschemikalien, eine Vielzahl von medizinisch unabdingbaren, zur Grundausstattung gehörende Güter (Verbandsmaterial, Röntgenausrüstungen, Dialysegeräte, Medikamente zur Krebsbehandlung, Katheter, Sauerstoffzelte, chirurgische Instrumente, Ambulanzfahrzeuge, alle möglichen elektrischen Vorrichtungen etc.) Eine umfassende Liste der Waren, die zum Teil nicht genehmigt wurden, findet sich bei dem britischen Autor Simons. Er gibt eine eindrucksvolle Beschreibung des Leidens der Zivilbevölkerung, insbesondere von Kranken und kranken Kindern, aufgrund dieser inhumanen Praxis (Simons, 1998: 118 ff/passim). Die Folgen der Sanktionen – insbesondere das Anwachsen der Kindersterblichkeit, Fehl- und Unterernährung – waren UNO-Stellen ausreichend bekannt durch die Berichte der irakischen Regierung, teilweise übermittelt durch den irakischen UNO-Botschafter und durch Berichte diverser humanitärer und UNO-Hilfsorganisationen (FAO, UNICEF, WFP, WHO) (vgl. Simons, 1988: 127, 129, 137, 146f, 157ff, 170). Eine britische Hilfsorganisation, die ständig im Irak arbeitet (Medicine Aid for Iraq/MAI), erklärte z.B. nach dem Besuch zahlreicher Krankenhäuser, dass dort nach vier Jahren harter Sanktionen grauenhafte Zustände herrschten: Viele Medikamente fehlen, wie antiepileptische Mittel, Antibiotika oder Insulin; Milchpulver für Säuglinge und Kleinkinder ist nicht vorhanden, Kleinkinder sterben nach zwei Wochen Durchfall in Folge von Entkräftung und Dehydration (Gottstein, 1996). Aus anderen Berichten geht hervor, dass durch die Praxis der Öl-für-Nahrung-Programme der UNO zwar eine Linderung der Situation eingetreten ist, jedoch bei besonders verletzlichen Bevölkerungsteilen trotzdem von einer Unterversorgung auszugehen ist. Nach UNICEF-Angaben stieg die Anzahl der Babies mit zu geringem Geburtsgewicht um das Fünffache. Die Säuglingssterblichkeit lag im Irak vor dem Zweiten Golfkrieg bei 42 pro 1000 Lebendgeburten, nach Regierungsangaben hat sie sich fünf Jahre nach dem Golfkrieg mehr als verdoppelt auf 92 pro 1000. UNICEF hat in seiner Studie von 1994 auch festgestellt, dass die Reduktion der Nahrungsrationen zu einer Gefährdung von 2,5 Mio. Kindern sowie schwangeren und stillenden Frauen führt. Ein Studie des internationalen Roten Kreuzes schätzte die Zahl sogar auf 3,5 Mio. Menschen, die Unterernährung zu befürchten hätten, darunter 500.000 Kinder unter 5 Jahren (Simons, 1998: 171).

Eine Untersuchung in Bagdad ergab, dass dort 12 % der Kinder krank, 28 % im Wachstum behindert und 29 % untergewichtig waren. Insgesamt belaufen sich die Schätzungen auf über 500.000 gestorbene Kinder in Folge der Sanktionen. Die Nahrungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO sprach 1995 von mehr als einer Millionen Iraker, darunter 567.000 Kinder, die als direkte Folge der Sanktionen gestorben sind.

Eine Nachfolgegruppe des Harvard Study Team, eine multinationale Gruppe von Ärzten, Experten für öffentliches Gesundheitswesen, Wirtschaftswissenschaftlern, Anwälten und Gesundheitsforschern, die Irak im April und Mai 1996 besuchte, bemerkte „das erstaunliche Fehlen einer öffentlichen Debatte über die Beteiligung der UNO an dieser massiven Verletzung der Menschenrechte und speziell der Rechte der Kinder“ (Simons 1998,215f).

Hinter dem bloßen Wort Menschenrechtsverletzung verbirgt sich, dass den meisten Irakern das völkerrechtlich garantierte Recht auf Nahrung drastisch beschnitten wird. Die Regierungsrationen reichen gerade noch aus, um ungefähr ein Drittel der notwendigen Kalorienmenge aufzunehmen, die Nahrungsversorgung besteht zu einem großen Teil nur aus Grundnahrungsmitteln, während sonstige, normale Nahrungsmittel unerschwinglich teuer oder generell knapp sind. Eine außerordentliche Erleichterung durch das Öl-für-Nahrungsmittel-Programm nach Res. 986 gab es nicht. Dem Irak blieben davon anfangs nur 1,3 Mrd. $. Bei einer Bevölkerung von ca. 20 Millionen sind das weniger als zwei Dollar pro Woche pro Person, und dies in einem Land, wo das gesamte Gesundheitssystem sowie das Nahrungsproduktions- und -distributionssystem praktisch zusammengebrochen sind. Erst ab 1998 gab es eine Verbesserung des Programms.

Zwei Tendenzen waren bei den Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrates und im Sanktionsausschuss festzustellen: Zum einen die Weigerung, über die Lieferung von ausschließlich humanitären Gütern im Sinne einer reduzierten Grundversorgung hinauszugehen, und zum anderen die mangelnde Kenntnis oder Wahrnehmung der wirtschaftlichen und sozialen bzw. humanitären Situation im Irak. Mehrfach hat der Sanktionsausschuss sogar noch im Frühjahr 1997 Lieferungen abgelehnt, die nicht in das Konzept eines strengen Sanktionsregimes passten, obwohl sie durch Res. 986 gedeckt waren. Eine Ursache für diese »Nicht-Reaktion« auf humanitäre Notstände im Irak mag das Misstrauen sein, dass dem Irak entgegengebracht wird. Es wird auch in wissenschaftlichen Kreisen, die sich mit dem Irak befassen, gesagt, dass die Daten der irakischen Regierung nicht verlässlich sind. Jedoch lieferten die Untersuchungen von Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) und UNO-Organisationen genügend Informationen um eine schwierige humanitäre Lage der irakischen Bevölkerung festzustellen (vgl. Cordesman/Hashim, 1997: 145).

Zum Teil ist das irakische Regime sicher selbst für die Verschlechterung der humanitären Lage verantwortlich, einserseits aufgrund einer verfehlten Ausgabepolitik, wie dem Bau von Luxusvillen, andererseits durch das anfängliche Nichteingehen auf die Möglichkeit eines »Öl-für-Nahrungsmittel-Angebotes«. Allerdings hätte eine andere Politk auch nicht zu einer ausreichenden Verbesserung der Lage geführt. Das unterstreichen die Untersuchungen des US-Wissenschaftlers Hoskins, der für den Wiederaufbau von Infrastruktur, für Kriegsreparationszahlungen und Auslandschulden einen zusätzlichen Finanzbedarf von 582 Mrd. $ veranschlagt. Nimmt man den laufenden humanitären Bedarf hinzu, so ist es schwer vorstellbar, wie selbst bei einer vollständigen Aufhebung der Sanktionen der Irak seinen Wiederaufbau bewältigen und gleichzeitig ca. 20 Mio. Menschen versorgen soll (Hoskins, 1997: 98).

Mit einer Erhöhung der möglichen Erdöleinnahmen seit 1998 haben sich die Bedingungen des Öl-für-Nahrung-Programms verbessert, so dass ein kontinuierlicher zusätzlicher Fluss von Lebensmitteln, Medikamenten und anderen humanitären Gütern in den Irak möglich ist. Das Programm kann allerdings den Bedarf der Menschen im Irak niemals vollständig decken, es bedarf einer Ergänzung durch einheimische Aktivitäten zur Versorgung der Bevölkerung. Auch eine teilweise Alimentation voraussetzend, hätte über die Mengen der tatsächlich notwendigen Lieferungen genauer nachgedacht werden müssen.

Mit Res. 1284 wurde Mitte Dezember 1999 die Obergrenze für den Ölverkauf aufgehoben. Damit ist es dem Irak erlaubt, so viel Öl zu fördern und zu verkaufen, wie er will; aber alle Importe werden noch von der UNO genehmigt und auch finanziell abgewickelt. Dem Irak wurde damit das Signal gegeben, dass eine engere Kooperation mit der UNO und weitere Abrüstungsmaßnahmen zur schrittweisen oder vollständigen Aufhebung der Sanktionen führen können. Doch der Irak lehnte diese Resolution ab. Die Gründe dafür sind offensichtlich: Zum einen hat die UNMOVIC ganz ähnliche Rechte und Aufgaben wie ihre Vorgängerorganisation UNSCOM, die unter dem Chefinspektor Richard Butler ganz wesentlich zur Eskalation von Krisen beigetragen hatte, zum anderen ist die Inspektionsarbeit so schwerfällig, dass unmöglich innerhalb des vorgesehenen Berichtzeitraums von 120 Tagen ein Erfolg nachweisbar wäre. Ein mangelnder Erfolg kann aber Anlass für weiter gehende militärische Kontrollmaßnahmen oder auch erneute Bombardierungen sein. In der gleichen Resolution droht der UNO-Sicherheitsrat (in Abs. 33) schließlich auch damit, die mögliche Ausweitung der Einfuhr ziviler Güter wieder zu beschneiden, falls der Irak sich erneut weigern sollte, bei der Abrüstung der Massenvernichtungswaffen zu kooperieren. Der Irak steckte damit in einem enormen Gefangenendilemma.

Ende März 2000 diskutierte die UNO erneut die Situation im Irak und der Generalsekretär Kofi Annan beschrieb sie als »moralisches Dilemma« für die UNO. Nach seiner Ansicht sollten so bald wie möglich die humanitäre Lage genauer untersucht und Schritte zur Verbesserung der Lage der Bevölkerung eingeleitet werden. Gleichzeitig sprach er sich für die Verbesserung der irakischen Basis für eine effektive Ölproduktion, inklusive Transport und Verkauf, aus. Der UNO-Generalsekretär bat den Sanktionsausschuss, die Bedingungen für die zeitlich begrenzte Blockierung von zu genehmigenden Gütern (Holds) zu überarbeiten. Doch trotz der Hinweise auf die UNICEF-Berichte über die katastrophale Gesundheitssituation insbesondere bei Kindern blieb die Debatte in der UNO in festgefahrenen Strukturen. Der US-amerikanische Vertreter unterstrich erneut, dass der Irak eine Bedrohung darstelle und zuerst seinen Verpflichtungen zur Abrüstung der Massenvernichtungswaffen nachkommen müsse. Er wies außerdem darauf hin, das die festgehaltenen Güter (Holds) lediglich zehn Prozent der Verträge ausmachten und es sich meistens um dual-use-Güter handele, bei denen lediglich die Endverbleibserklärung fehle.

Vor allem aus den Entwicklungsländern wurde dem die gravierend schlechte humanitäre Situation entgegen gestellt. Der Vertreter Malaysias erklärte im Sicherheitsrat (März 2000), dass dieses Sanktionsregime gegen die Menschenrechte verstoße (UN Press Release SC/6833 vom 24. März 2000).

Am 1. Juni 2000 bestätigte ein regulärer Bericht des UNO-Generalsekretärs (UN-Dokument S/2000/520) die katastrophale ökonomische Situation im Irak. In ihm heißt es u.a.:

  • Es drohen erhebliche Fehlfunktionen oder Zusammenbrüche in Teilbereichen der irakischen Ölförderung und erhebliche Sicherheitsprobleme für das Personal in der Min al Bakr-Region (Abs. 10).
  • Ersatzteillieferungen für die Ölförderung in der Region Basrah fehlen. Zusätzlich existiert ein Mangel an ausgebildetem Personal und es fehlen die finanziellen Mittel, dieses im Irak anzuwerben (Abs. 31ff).
  • Im Bereich des Zentrums und des Südens des Irak ist in der Weizenproduktion durch Management- und Transportprobleme eine zu geringe Kapazität erkennbar, es gibt eine leichte Nahrungsmittelunterversorgung, im Infrastrukturbereich für Nahrungsmittelsicherheit u.ä. gibt es »angehaltene Verträge« für über 150 Mio. $ (Abs. 40ff).
  • Auch im Bereich der medizinischen Versorgung hat die Zahl der »angehaltenen Verträge« zugenommen. Dies betrifft sowohl die Medizinauslieferung als auch die lokale Medikamentenproduktion, ohne dass dazu vom Sanktionsausschuss ausreichend Informationen eingeholt wurden. Es gibt des weiteren Distributionsprobleme, die zur Folge haben, dass für eine bestimmte ärztliche Behandlung zwar die benötigten Medikamente vorhanden sind, aber die dazu erforderlichen Präparate oder Geräte fehlen. Als besonders schwer wiegend wird die mangelnde Verbesserung der medizinischen Versorgung und der Ernährungssituation von Kindern erwähnt (Abs. 44ff).
  • Es gibt weiterhin gravierende qualitative Probleme im Bereich Wasser- und Abwasserversorgung, im Bereich der Bewässerungssysteme und sämtlicher für die Landwirtschaft notwendiger Produkte (z.B. Ersatzteile für landwirtschaftliche Maschinen oder Pflanzenschutzmittel), Schwierigkeiten in Bereichen der Elektrizitätsversorgung und der Telekommunikation sowie in Teilen des Bildungssektors (Abs. 54ff, 58ff, 64ff, 67ff, 72).

Aktuelle politische Situation, Gesamtbewertung und realpolitische Alternativen

Es wird häufig betont, dass die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein ein Ziel der Sanktionen ist. Dabei wird verschwiegen, dass dies nie offiziell deklariertes Ziel der UNO war (Der Frage, ob nicht eine Reihe von Maßnahmen, die eingeleitet wurden um dieses Zieles zu erreichen, unter diesen Bedingungen völkerrechtswidrig sind, kann hier nicht weiter nach gegangen werden). In den meiten den Irak betreffenden Resolutionen werden auch nur bestimmte Handlungen des Regimes als Motive für ein internationales Eingreifen genannt. In anderen UNO-Sanktionsbeschlüssen (z.B. gegen Rhodesien) wurden weitaus bessere Formulierungen zur Bezeichnung und Bekämpfung eines diktatorischen Regimes gefunden. Ausschlaggebend ist, dass es konsensual als legitimes Ziel angesehen wird, zum Sturz eines Regimes beizutragen, wenn dieses eine Gefahr bzw. eine Bedrohung für die internationale Sicherheit und den Frieden in der Region darstellt oder darstellen könnte (das präventive Verhängen von Sanktionen ist ausdrücklich im Wortlaut der Charta vorgesehen). Stattdessen werden seit langer Zeit offiziell und inoffiziell verdeckte Aktionen finanziert und durchgeführt, um das Regime im Irak im wortwörtlichen Sinne zur Strecke zu bringen. Dazu gehören die Aussetzung eines Kopfgeldes auf Saddam Hussein in Höhe von 97 Mio. US$ durch die USA, Attentatsplanspiele durch Israel, mehrfache Attentate auf Saddams ältesten Sohn Udai und eine groß angelegte Bombardierung von militärischen und paramilitärischen Einrichtungen des Irak 1998, CIA unterstützte Guerillatruppen und die handfeste Unterstützung von Putschplänen (Vgl. Finales Training, in: Der Spiegel, 9/1998: 147. Wasser auf die Mühlen der Gegner Saddam Husseins, in: Der Tagesspiegel, 25.11.1998 und Arabische Staaten warnen vor Putsch gegen Saddam Hussein, 4. Februar 1999).

Vor diesem Hintergrund kann es weder überraschen, dass der Irak Waffeninspekteure als Spione einstuft und mit dieser Begründung die Zusammenarbeit mit der UNO einstellt, noch, dass das Regime Saddam Hussein sich aggressiv gebärdet um angesichts des arabischen Nationalismus nicht das Gesicht zu verlieren. Iraks Politik ist freilich auch ein Spiel mit dem Feuer: Das vermutete Verbergen von Restbeständen von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen, die Drohungen gegenüber Israel mit einem heiligen Krieg, die wiederholte Diskussion über die staatliche Legitimität von Kuwait, das sind andauernde Gründe gegen eine Lockerung der UNO-Sanktionen.

Trotzdem gab es im vergangenen Jahr eine Wende in der Irak-Politik vieler Staaten, teilweise aus geschäftlichen Interessen, teilweise aufgrund der humanitären Situation. Die Frage nach der Legitimität des UNO-Sanktionsregimes stellt sich aber auch prinzipiell:

  • Andere UNO-Sanktionsregime beinhalteten wesentlich selektivere und schwächere Maßnahmen. Im Vergleich dazu sind die Sanktionen gegen das kriegszerstörte Entwicklungsland Irak zu stark: Es handelt sich bei den meisten UNO-Sanktionen um selektive Maßnahmen, die nur Embargos von Waffen oder Rüstungsgütern und bestenfalls dual-use-Gütern betreffen und bei denen die Kontrollmechanismen nicht so stark ausgeprägt waren oder sind wie beim Irak. Hinzu kommt, dass z.B. Sanktionen gegen Südafrika harte selektive Maßnahmen beinhalteten, die trotz der Stärke des Landes und des Regimes zum Erfolg führten, ohne dass die Mehrheit der Bevölkerung unverhältnismäßig leiden musste. Die schwer wiegenden Verletzungen der sozialen Menschenrechte der irakischen Bevölkerung und das Sterben Hunderttausender Menschen sind – im Vergleich dazu – nicht hinnehmbar.
  • Die Sanktionen stehen im Gegensatz zu der jetzt geführten, ausgeprägten Debatte um »Menschenrechte und Sanktionen« und der Forderung nach zielgenauen Sanktionen gegen die Eliten und das Regime anstatt gegen die Normalbevölkerung: International besteht unter WissenschaftlerInnen angesichts der verheerenden humanitären Folgen von Sanktionen in Entwicklungsländern ein weitest gehender Konsens über deren menschenrechtliche Grenzen bzw. die Notwendigkeit, sie effektiv auf Eliten zuzuschneiden. Solche Sanktionen werden gerade deshalb auch als »intelligente Sanktionen« bezeichnet (vgl. www.smartsanctions.ch und www.bicc.de), weil sie jene treffen, die sie treffen sollen, die Eliten und die Regime selbst. Intelligente Sanktionen erfordern allerdings einen effizienten Organisationsapparat.
  • In der Debatte um die Effektivität von UNO-Sanktionen gegen den Irak werden langfristig wesentliche Funktionsmuster und Funktionsprinzipien von Sanktionen ignoriert; die Zielerreichung im Sinne eines System- bzw. Regimewandels sind aber von diesen Mustern und Prinzipien abhängig: Schon die Tatsache, dass die harten Sanktionen eine Gesellschaft und insbesondere oppositionelle Gruppen aufgrund des dauernden Existenzkampfes – und mehr noch durch die dadurch provozierte Regierungskontrolle über alle Märkte inklusive der Lebensmittelversorgung – daran hindern einen Wandel herbeizuführen, sollte schon Grund genug sein, die Sanktionen so zu gestalten, dass diese negativen Effekte vermieden werden. Aber die Einsicht in die Komplexität des Sanktionsprozesses selbst liefert noch einen weiteren Grund: Im Gegensatz zu den herkömmlichen Sanktionsanalysen, die von einer Sender-Ziel-Perspektive, einem einfachen Aktions-Reaktionsmuster ausgehen, sollte man mit einer komplexen Interaktionsstruktur rechnen; d.h. kein Regime gibt sich unter dem Druck von Sanktionen hilflos und gefangen. Ganz im Gegenteil werden Gegenmaßnahmen eingeleitet, die die Notwendigkeit der Veränderung bzw. die Abnahme der Existenzfähigkeit des bisherigen Regimes – zunächst abwenden. Bündnispartner zum Sanktionsbruch o.ä. werden gesucht. Der regionale und internationale Konsens über die Sanktionen soll aufgebrochen werden um politischen und ökonomischen Druck zum System- bzw. Regimewandel abzuschwächen. In dieser Situation ist es für die Sanktionssender wichtig, eine umfassende und glaubwürdige Kommunikation über Sanktionsziele zu führen, unter Einschluss der Weltöffentlichkeit, der Medien, der wichtigsten Politikpartner, der Bevölkerung des sanktionierten Landes und des gegnerischen Regimes selbst. Daran mangelt es aber im Fall des Irak.

Es ist offensichtlich, dass es kein internationales Konzept für die Verbesserung der politischen Beziehungen im Nahen Osten und für die Reintegration des Irak gibt. Im Mittelpunkt des Interesses – vor allem der USA und GB – steht nach wie vor die Kontrolle der Region mit ihrem Ölreichtum. Ein solches Konzept ist aber notwendig, lässt sich nur langfristig entwickeln und darf nicht an die UNO-Sanktionen gekoppelt werden, denn deren primäre Ziele sind die Kompensation für Kriegsschäden in Kuwait und die Abrüstung irakischer Massenvernichtungswaffen. Betrachtet man diese unterschiedlichen Interessenlagen, so verwundert es nicht, dass in der UNO sowohl am 8. Juni 2000 (mit Res. 1302) als auch am 5. Dezember 2000 (mit Res. 1330) das Öl-für-Nahrung-Programm mit großer Zustimmung verlängert wurde, ohne dass es eine größere Debatte über die Aufhebung der Sanktionen im Sicherheitsrat gab. Lediglich China und Russland, als ständige Mitglieder, sprachen die Aufhebung der Sanktionen an.

Ausblick

Wenn im Juni 2001 wieder nur über die Fortsetzung des Öl-für-Nahrung-Programms diskutiert wird – zu dem es bisher keine Alternative gab – und keine sichtbaren Erfolge in der Kooperation zwischen Irak und der UNMOVIC erkennbar werden, so ist das für alle Seiten verheerend – nicht nur für die irakische Bevölkerung, die am meisten leidet, sondern auch für den Ruf der UNO, der USA und Großbritanniens vor allem im Nahen Osten und unter den Entwicklungsländern. Bei Fortführung der harten Sanktionspolitik drohen ein Glaubwürdigkeitsverlust der westlichen Politik und ein Legitimitätsverlust der UNO. Eine Reorientierung und Umsteuerung ist notwendig, wenn es nicht zu einer Dauerkonfrontation mit den arabischen Staaten und einigen Entwicklungsländern kommen soll.

Eine realpolitische Alternative zu der harten Sanktionspolitik könnte beinhalten: Technologiekontrollen und Finanzkontrollen gegenüber dem Regime, Waffenembargo und Reiseverkehrsbeschränkungen; es geht also um die strikte Verfolgung von harten selektiven Sanktionen gegenüber dem Regime und dem Militär, die vorausgeplant werden müssen. Der schwerfällige Sanktionsausschuss zur Genehmigung des Imports aller möglichen zivilen Güter muss durch eine effektive Administration ersetzt werden, die Genehmigungspflicht für den Import humanitärer Güter ist aufzuheben. Der Irak muss die durch den Ölexport erwirtschafteten Mittel weitest gehend selbstständig zur Behebung der Infrastrukturschäden, für Nahrungsmittel etc. einsetzen können. Um Missbrauch zu verhindern, ist ein entsprechendes Kontrollregime notwendig. Dies ist möglich, denn wenn man eine Organisation wie die UNSCOM oder die UNMOVIC einsetzen kann, dann kann der Sicherheitsrat sich auch andere wirkungsvolle Hilfsorgane schaffen. Das gelingt nur, wenn die britische und US-amerikanische Politik ihre diktatorische Linie aufgeben zugunsten einer Linie des kritischen Dialogs. Die internationale Staatengemeinschaft muss dem irakischen Regime seine Grenzen aufzeigen bezüglich der Rüstung und dem Verhalten gegenüber bisher diskriminierten Bevölkerungsgruppen. Gleichzeitig muss dem Irak aber die Chance gegeben werden zur Behebung der Kriegsschäden und zur Wiederherstellung menschenwürdiger Lebensbedingungen für die Normalbevölkerung. Sanktionen zum Zweck der Wahrung und Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit, zur Achtung und Sicherung der Menschenrechte sind notwendig. Dabei muss aber immer darauf geachtet werden, dass sie nicht zur Interessenwahrnehmung einzelner Staaten missbraucht werden. Sanktionen sind zum größten Teil aufzuheben oder zu korrigieren, wenn sie nicht greifen oder wenn die Ergebnisse den Absichten widersprechen. Das ist im Irak zweifelsfrei der Fall.

Anmerkung

1) Die folgenden »sanktionstehoretischen« Überlegungen stammen im Wesentlichen aus der Dissertation von Rogalski (2000), siehe Literaturverzeichnis. Eine überarbeitete Fassung soll im Jahr 2001 im Buchhandel erscheinen.

Dr. Steffen Rogalski ist Politikwissenschaftler und Vorsitzender des Arbeitskreis für Frieden-Atomwaffenfreies Europa (AKF)e.V.

zum Anfang | Die UNO-Sanktionen gegen den Irak – ein Blick hinter die Kulissen

von Jutta Burghardt

Der Welt wird nur die militärische Seite der Auseinandersetzung mit dem Irak gezeigt. Die andere Seite, das Leiden der Bevölkerung unter den Sanktionen, soll vor den Augen der Weltöffentlichkeit möglichst verborgen bleiben. Selbst wenn die Regierung des Irak die Situation der Menschen in propagandistischer Absicht beschreibt – die menschliche Tragödie, die sich im Irak abspielt, ist nichtsdestoweniger real. Im übrigen beschreibt auch die US-Administration die Situation des Landes in propagandistischer Absicht, wenn sie die Lage der Menschen ausschließlich Saddam Hussein zuschreibt. Die irakische Regierung nimmt ihre Rechte und Pflichten hinsichtlich des Allgemeinwohls der Iraker mit größerer Verantwortung wahr als dies eine Regierung, die in der Region vorwiegend strategische Interessen verfolgt, beurteilen kann. So erinnern wir uns zum Beispiel daran, dass Madeleine Albright, vom Nachrichtensender CBS 1996 befragt, ob der Tod von 500.000 irakischen Kindern die Sache wert sei, sagte: Dies sei eine schwierige Wahl, jedoch ja, es sei diesen Preis wert. Wann hat sich jemals jemand so wie Frau Albright zur Akzeptanz von Völkermord bekannt? Und hat nicht besonders Deutschland hier Verantwortung? Schließlich war der Mord an sechs Millionen Juden unter dem Hitlerregime ein entscheidender Anstoß zur Gründung des Staates Israel, des Staates, der durch die Niederwerfung der Regionalmacht Irak geschützt werden soll. Schließlich war auch die Verabschiedung der Genozidresolution der Vereinten Nationen 1949, von der weiter unten die Rede sein, durch deutsche Taten veranlasst worden.

Das Embargo

Das Embargo gegen den Irak hat den Charakter einer klassischen Blockade. Hierzu gehören außer den Handelssanktionen auch regelmäßige militärische Aktionen – wie zum Beispiel das Bombardement im Dezember 1998 oder die fast täglichen unilateral von den USA und Großbritannien festgelegten Kontrollflüge in den »no-fly«-Zonen über Nord- und Südirak mit Bombardierungen von militärischen und zivilen Einrichtungen. Allerdings wird hier nicht eine mittelalterliche Festung mit einigen hundert Menschen belagert, sondern eine ganze Nation von inzwischen fast 25 Millionen Menschen. Was sollen im Übrigen die Hirtennomaden in den schiitischen Gebieten im Süden des Irak und die Bewohner von Basra davon halten, wenn sie »zu ihrem eigenen Schutz« angegriffen, verletzt und getötet werden? Die Menschen im Irak sagten mir, sie verstünden nicht, warum ihnen die Amerikaner nach dem Leben trachten. Auch in den VN-Organisationen vor Ort waren wir wegen der Bombardierungen besorgt, sollten wir doch unsere Mitarbeiter wöchentlich als Beobachter in diese Gebiete schicken.

Die Sanktionen enthalten dem Ölland Irak die Mittel vor, seine Infrastruktur nach zwei Kriegen – dem achtjährigen Iran-Irak-Krieg und dem Golfkrieg, in denen das Land völlig verwüstet wurde – wieder aufzubauen sowie die sozialen Einrichtungen zu rehabilitieren und zu unterhalten. Das Kernstück der Sanktionskonstruktion ist: Die irakische Regierung soll keine Verfügung über ihre Einnahmen aus Ölverkäufen haben. (Dies impliziert natürlich auch eine willkommene Umkehr der Verstaatlichung der irakischen Ölindustrie Anfang der siebziger Jahre.)

Das Embargo, erlassen durch die Sicherheitsratsresolution (SR) 661, sollte zunächst den Irak bewegen die Besetzung Kuwaits aufzugeben. Dies geschah, wie bekannt, auf andere Weise. Unmittelbar nach dem Golfkrieg wurden die Sanktionen dann in der SR 687 bestätigt, um das Land zur Beseitigung seiner Massenvernichtungswaffen zu zwingen. Dies ist offenbar zu einem großen Teil erledigt. Neuerdings ist jedoch, mit Sicherheitsratsresolution (SR) 1284 (Dezember 1999), von einer Aufhebung des Embargos nicht mehr die Rede, sondern lediglich von seiner Suspendierung und regelmäßigen Erneuerung in bestimmten Zeitintervallen, selbst bei voller Kooperation der irakischen Seite mit den Waffeninspekteuren (jetzt: UN Monitoring, Verification and Inspection Commission – UNMOVIC). Zudem soll gemäß der US-amerikanischen Erklärung aus Anlass der Verabschiedung von SR 1284 bei einer Suspendierung die irakische Regierung wiederum nicht über die Einnahmen aus dem Verkauf ihres Rohöls verfügen können. Bei dem derzeitigen Wegfall der Begrenzung der Öleinnahmen – ebenfalls unter SR 1284 – wäre die logische Folge dann die Ausweitung der UN-Aktivitäten im Irak, d.h. eine weitere Einschränkung der staatlichen Souveränität, die durch Sanktionsregime und VN-Kontrolle über die Öleinnahmen faktisch bereits gegeben ist.

Die die Sanktionen konstituierende SR 661 sieht lediglich die vollständige Unterbindung des Handels mit dem Irak vor. Dort ist weder die Rede von einem Flugembargo noch von der Unterbindung des wissenschaftlichen Austauschs; auch nicht von dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen und des Informationsaustauschs der Bevölkerung mit dem Rest der Welt. Klar ist, mit dem Irak als Regionalmacht – nicht etwa mit dem Regime – soll Tabula rasa gemacht werden. Der Irak soll auf den Stand der ärmsten Länder auf diesem Globus zurückgeworfen werden. Das ist gelungen.

Die verlautbarte Zielsetzung der US-amerikanischen Irak-Politik – die neben den Sanktionen auch die Unterstützung der irakischen Opposition unter dem Iraq- Liberation-Act einschließt – ist es, Saddam Hussein und seine Regierung zu beseitigen. Allerdings, der Shia- und Kurdenaufstand, der sich im März 1991 gegen Saddam Hussein gerichtet hatte, war zwar im amerikanischen Lager erwünscht, wurde jedoch von dort nicht unterstützt. Saddam Hussein konnte danach seinen eisernen Griff über das Land wieder herstellen. Vor diesem Hintergrund sind erneute interne Aufstände zur Beseitigung Saddams kaum denkbar, besonders nicht durch eine Bevölkerung, die seit zehn Jahren täglich ums schiere Überleben kämpft und deren physische und materielle Ressourcen völlig erschöpft sind. Zudem schaffen die Sanktionen einen Solidarisierungseffekt zwischen Bevölkerung und Regierung.

Vor diesen Hintergründen – der von der US-Administration geäußerten Willenserklärung, die Regierung beseitigen zu wollen, der Rücknahme der Zusage, die Sanktionen aufzuheben, sowie der regelmäßigen Bombardements, die nicht von den Vereinten Nationen beschlossen sind – lässt die irakische Regierung verständlicherweise wenig Kooperationsbereitschaft mit den Vereinten Nationen erkennen. Allerdings wird neuerdings über die Wiederaufnahme des Dialogs zwischen den Vereinten Nationen und dem Irak diskutiert, so in einem Gespräch zwischen dem VN-Generalsekretär, Kofi Annan, und dem Vizepräsidenten des Irak, Ramadan, am Rande des Treffens der Organization of Islamic Countries Mitte November 2000 in Doha/Qatar.

Das humanitäre Programm

Bereits unmittelbar nach dem Golfkrieg ließ der Generalsekretär der Vereinten Nationen zwei Berichte über die Lage im Irak erstellen, durch Marti Athissari und Sadruddin Aga Khan. Beide Berichte schildern die enormen Zerstörungen durch den Golfkrieg. Der Aga-Khan-Bericht thematisiert zum ersten Mal den Mechanismus, der in der »Oil-for-Food« genannten Operation angewandt wird: Die Zerstörungen der Infrastruktur im Irak seien derart verheerend und die Lage der irakischen Bevölkerung so dramatisch, dass Abhilfe durch Beiträge von Gebern nicht geschaffen werden könne; dies solle vielmehr durch irakische Ölverkäufe geschehen.

Das jetzt existierende humanitäre Programm der Vereinten Nationen soll der Grundversorgung der Bevölkerung und der Reparatur und Aufrechterhaltung wesentlicher Infrastruktureinrichtungen dienen. Seine Grundlage ist SR 986 (14 April 1995). Das eigentliche VN-Mandat ist jedoch im Memorandum of Understanding (20 Mai 1996) zwischen dem VN-Sekretariat und der irakischen Regierung festgelegt, nämlich Beobachtung der gleichmäßigen und effizienten Verteilung der importierten Güter in Mittel- und Südirak sowie Tätigkeit der VN-Organisationen (WFP, FAO, UNICEF, WHO, UNESCO, UNDP, UNOPS und HABITAT, neuerdings auch ITU) für und anstelle der irakischen Regierung in den kurdischen Gebieten im Norden des Landes. Nach jeweils sechs Monaten wird die Laufzeit des humanitären Programms durch eine technische Resolution (seit 6. Dezember 2000 ist Phase IX in Kraft) verlängert. Der Irak musste dieser beitreten und unterbreitete den Vereinten Nationen daraufhin einen Verteilungsplan mit umfangreichen Anhängen zur Verwendung der erwarteten Öleinnahmen in den Bereichen Nahrungsmittel, medizinische Versorgung, Elektrizität, Landwirtschaft, landwirtschaftliche Bewässerung, Wasserversorgung und -entsorgung, Primar- und Sekundarschulbildung, Kommunikation und Transport, Unterhalt und Rehabilitation der Ölförderung und, seit Mitte des Jahres 2000, auch für Wohnungsbau. Allein das Nahrungsmittelbudget betrug zu meiner Zeit im Irak (Januar 1999 bis Ende März 2000) rund 2 Milliarden US$ pro Jahr.

Der Generalsekretär legte den irakischen Verteilungsplan dem Sicherheitsrat vor, nachdem dieser vom humanitären Team nach Verhandlungen mit den irakischen Ressorts mit einem Kommentar versehen worden war. Dieser Vorgang ist relativ unverbindlich, da sich das Sanktionskomitee vorbehält – es ist identisch zusammengesetzt wie der jeweilige Sicherheitsrat –, alle Kaufverträge einzeln zu genehmigen. Es müssen überhaupt sämtliche Ein- und Ausfuhren des Irak von diesem Komitee genehmigt werden. SR 1284 hat dieses Verfahren etwas vereinfacht, indem Verträge über die Lieferung humanitärer Güter im engeren Sinne (also Nahrungsmittel und Medikamente, inzwischen auch Einfuhren für die Wasserversorgung) vom Sanktionskomitee nicht mehr im Einzelnen genehmigt werden müssen. Ausgenommen von dieser en-bloc-Genehmigung bleiben natürlich weiterhin die humanitäre Operation unterstützende Lieferungen wie Fahrzeuge oder Labormaterialien z.B. für Nahrungsmitteltests. Sie gelten als Dual-Use-Güter und werden häufig zunächst einmal blockiert, wenn sie überhaupt genehmigt werden.

Die Gelder aus den Ölverkäufen müssen auf ein Konto (Escrow Account) bei der Banque Nationale de Paris in New York eingezahlt werden. Derzeit liegen dort 11 Milliarden US-Dollar. So fällt es dem Irak leicht, seine Öllieferungen vorübergehend einzustellen, wie er das jetzt getan hat, um eine Sonderzahlung der Ölkäufer auf ein von Irak kontrolliertes Konto zu erzwingen.

Das VN-Konto hat folgende Segmente:

  • 13 Prozent für die kurdischen Gebiete in Nordirak entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil. Von den verbleibenden 87 Prozent dürfen von der irakischen Regierung nur
  • 53 Prozent für die humanitäre Versorgung von Mittel- und Südirak in Anspruch genommen werden.
  • 30 Prozent werden für Golfkriegsreparationen (ab Dezember 2000 nur noch 25 Prozent) und die Tätigkeit der UN Compensation Commission (UNCC),
  • 2,2 Prozent für die Präsenz des humanitären Programms der VN und
  • 0,8 Prozent für die Tätigkeit von UNSCOM/UNMOVIC verwendet. Die restlichen Mittel werden für kleinere Ausgaben wie z.B. Pipeline-Gebühren verwandt.

Das humanitäre Programm stellt eine Ausnahme zu den rigiden Embargovorschriften von SR 661 dar, ist unter Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen erlassen und folglich Teil des Sanktionsregimes. Es war als eine vorübergehende Maßnahme gedacht und ist daher als kurzatmiges Versorgungsprogramm ausgelegt. Der Irak interpretiert es als ein Mittel, die Sanktionen ad infinitum fortzuführen. Die internationale Gebergemeinschaft hat sich, unter dem Eindruck, das humanitäre Programm werde die Grundversorgung der irakischen Bevölkerung sicherstellen, nach dessen Einführung weit gehend zurückgezogen. Sie täuschen sich jedoch. Das humanitäre Programm ist sachlich ausgehöhlt und dient der Verschleierung der wirklichen Auswirkungen der Sanktionen. Irak hatte Ende September 2000 (Stichtag 21.09.2000) nur 48 Prozent der seit Phase I, also seit vier Jahren, bestellten Lieferungen erhalten. Da Mittel- und Südirak ohnehin nur über 53 Prozent der Öleinnahmen verfügen dürfen, die Lieferzeiten wegen der komplizierten und langwierigen Genehmigungs- und Bereitstellungsverfahren für die finanziellen Mittel außerordentlich lang sind und eine enorme Zahl von Verträgen blockiert ist, sind von insgesamt 34 Mrd. US$ Öleinnahmen derzeit lediglich rund 25 Prozent (rd. 8 Mrd. US$) in den Händen der Iraker. Die eingetroffenen Güter sind zudem teils unbrauchbar, weil Komponenten fehlen oder nicht zeitgerecht eintreffen (wie im Agrarsektor) oder weil die gelieferte Qualität nicht den vertraglich vereinbarten Anforderungen entspricht. Letzteres ist oft auch bei den Nahrungsmittellieferungen der Fall. Besonders niedrige Lieferungsraten haben neben dem für das humanitäre Programm zentral wichtigen Ölsektor (mit nur 18 Prozent) die Sektoren Kommunikation und Transport (nur 3,7 Prozent aller Bestellungen, bis März 2000 war in dreieinhalb Jahren überhaupt nichts eingetroffen), Hochschulbildung (7,2 Prozent – von 222,7 Mio. $ Bestellungen sind nur Güter im Wert von 16 Mio. $ eingetroffen), landwirtschaftliche Bewässerung (5 Prozent), Wasserversorgung und -entsorgung (13 Prozent), Grund- und Oberschulen (14 Prozent) und Elektrizität (22 Prozent).

Trotz Beschleunigung des Genehmigungsverfahrens für die humanitären Güter im engeren Sinn, seit Erlass von SR 1284, hat sich die Zahl der blockierten Verträge stark (von 1.000 bis 1.200 Stück zu Anfang des Jahres 2000 auf rd. 2000 im September d. J.) erhöht. Ihr Finanzvolumen hat sich seit Jahresanfang von rd. 1 Mrd. auf 2,3 Mrd. $ mehr als verdoppelt. Verträge werden im Sanktionskomitee nur von den USA und zu einem geringen Teil von Großbritannien blockiert.

Grob umgerechnet auf eine Bevölkerung von 20 Mio. (in Mittel- und Südirak) ergibt sich für die im Rahmen des humanitären Programms über vier Jahre erhaltenen Güter eine Investition von 100 Dollar pro Person/Jahr. Dabei entfallen etwa 75 Dollar bereits auf den erfahrungsgemäß bei Notversorgungsmaßnahmen immer teuersten Posten, nämlich die Nahrungsmittelgrundversorgung (das entspricht einem Durchschnittswert von 6 Dollar pro Ration/Monat). Die restlichen 25 Dollar bestreiten die übrigen Käufe und Investitionen, d.h. Medizin, Bildung, Elektrizitätsversorgung, Wasserversorgung und Transport.

Die Regierungstätigkeit im Irak unterliegt immensen Einschränkungen: massenhafte Personalentlassungen, Unterbezahlung der Mitarbeiter, wenig Möglichkeiten zu Außenkontakten zwecks Überprüfung von Lieferungen und Firmen. Das Sanktionskomitee erlaubt dem Irak keine Vertragsstrafen zu verhängen oder andere Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, wie sie im regulären Geschäftsverkehr zum Schutz vor unseriösen Geschäftspraktiken üblich sind – obwohl dies im Memorandum of Understanding garantiert ist. Dennoch führt das Handelsministerium die Nahrungsmittelversorgung in Mittel- und Südirak, die wohl derzeit größte regelmäßige Versorgungsoperation auf diesem Globus, verantwortungsbewusst, vorbildlich und außerordentlich effizient durch. Jeder, der im Irak lebt, erhält jeden Monat pünktlich seinen Warenkorb.

Der Handelsminister muss häufig aus der strategischen Reserve des Irak, die sich vorwiegend aus der inländischen Nahrungsmittelproduktion zusammensetzt, Produkte für das humanitäre Programm verfügbar machen, um den monatlichen Warenkorb für jeden Iraker zusammenzustellen. Da die Regierung wegen der komplizierten und langwierigen Verfahrenswege des Sanktionsregimes keine Kontrolle darüber hat, zu welchem Zeitpunkt die bestellten Nahrungsmittel eintreffen, können diese Volumina erheblich sein. Diese werden durch die Einfuhren des humanitären Programms erstattet. Übrigens werden sämtliche Güter des humanitären Programms eingeführt, auch wenn Entsprechendes im Lande produziert wird. Dies ist wirtschaftlich schädlich, deshalb sieht SR 1284, an deren Umsetzung der Irak sich allerdings nicht beteiligt, auch die Möglichkeit des lokalen Aufkaufs von humanitären Gütern vor.

Im Januar 2000 hatte die irakische Regierung über mehrere Monate hinweg insgesamt 600.000 t Weizen in die humanitäre Operation eingebracht und vermutlich den größten Teil ihrer Weizenreserve aufgebraucht. Gleichzeitig zeichnete sich ab, dass ich als Vertreterin des Welternährungsprogramms (WFP) die lokale Nahrungsmittelproduktion würde aufkaufen müssen – in Konkurrenz mit der irakischen Regierung, die ihre strategische Reserve wieder auffüllen musste. Dies und die Tatsache, dass die Art und Weise, wie SCR 1284 angelegt ist, keine Aussicht auf eine Aufhebung der Sanktionen eröffnet und eine Erleichterung der Lage der irakischen Bevölkerung wiederum in weite Ferne rückt, haben mich letztendlich zu meinem Rücktritt veranlasst.

Die Folgen der Sanktionen: Die Menschen sind verarmt, krank, isoliert

Der Irak war auf die Sanktionen nicht vorbereitet. Seine wirtschaftliche Abhängigkeit von den Öleinnahmen ist nahezu total. Anders als Deutschland und andere Teile des kriegszerstörten Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, die durch den Marshall-Plan Aufbauhilfe erhielten, darf der Irak nach zwei aufeinander folgenden Kriegen nicht einmal die eigenen Ressourcen zum Wiederaufbau verwenden. Im Golfkrieg wurden unter anderem Elektrizitäts- und Wasserversorgungseinrichtungen zerstört. Besonders die Versorgung mit sauberem Wasser ist jedoch für die Ernährung wichtig, denn selbst eine Bereitstellung von Grundnahrungsmitteln, wie sie jeder im Irak hat, ist nutzlos, wenn unsauberes Wasser Krankheiten induziert.

Da sich (bisher) alle Länder strikt an das Handelsverbot mit dem Irak gehalten haben – ausgenommen sind natürlich die vom Sicherheitsrat seit 1996 genehmigten und kontrollierten Ölverkäufe und die Einkäufe von humanitären Gütern – liegen auch nahezu alle inländischen wirtschaftlichen Aktivitäten lahm. In der Folge gibt es kaum Arbeits- und dadurch Einkommensmöglichkeiten, folglich auch kein Steueraufkommen. Im Gegenteil: Bei meinem Eintreffen 1999 musste die irakische Regierung allein für die interne Abwicklung der Nahrungsmittelkomponente des humanitären Programms – Transport, Lagerung, Verwaltung – 160 Milliarden Dinare (2000 Dinare sind 1 US$, also rd. 80 Millionen US$) im Jahr buchstäblich drucken, weil sie keinen Zugang zu den Öleinnahmen hat und diese ihr daher auch für die Deckung ihrer internen Kosten nicht zur Verfügung stehen. Hinzu kommen natürlich entsprechende Beträge in den anderen Bereichen der humanitären Versorgung, besonders aber im Ölsektor mit – nach irakischen Angaben – 50.000 Angestellten. Das »humanitäre Programm« richtet also zusätzlich ökonomischen Schaden an und steigert die Inflation. Der Mittelstand verarmt folglich nicht nur wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten, sondern auch weil seine Investitionen entwertet sind und seine Rücklagen zu einem Nichts zusammenschmelzen.

Insgesamt ist die derzeitige Datenlage zum Irak über die vom humanitären Programm der Vereinten Nationen hinausgehenden Erhebungen schlecht. Auch letztere müssen sich jedoch strikt an ihr Mandat halten (Das World Food Program z.B. darf in Mittel- und Südirak nur die Verteilung der Nahrungsmittel beobachten.); anderenfalls besteht die Gefahr, von der Regierung zur persona non grata erklärt zu werden. Das humanitäre Programm der Vereinten Nationen ist Teil des Sanktionsregimes, daher für den Irak eher Feind als Freund. Informationen werden eher vorenthalten als freigiebig vermittelt. Eine Erhebung zur Situation der Haushalte durfte das humanitäre Team während meiner Zeit (Januar 1999 bis März 2000) nicht durchführen. Die mangelnde Verfügbarkeit neuerer solider Daten war auch ein Handicap für unsere Berichterstattung an das humanitäre Panel, eines der drei Irak-Panels (die beiden anderen beschäftigten sich mit Reparationen und Abrüstung), die der Sicherheitsrat zur Vorbereitung von SR 1284 eingerichtet hatte. Das humanitäre Team behalf sich mit der Herausgabe eines zu seinem Bericht zusätzlich verfassten Kompendiums, das eine Mischung von irakischen Angaben und Ergebnissen eigener professioneller Beobachtungen enthielt und insofern nur den Status von »anecdotal evidence« hatte. Die nachfolgenden Beschreibungen können ebenfalls keinen höheren Stellenwert beanspruchen. Eine Ausnahme stellt UNICEF dar, das in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium regelmäßig Studien zur Überwachung des Gesundheitszustandes der Kinder unter fünf Jahren erstellt und im Juni 2000 diejenige Studie veröffentliche, die den Nachweis erbrachte, dass seit Beginn der Sanktionen 500.000 Kinder durch die Sanktionen ums Leben gekommen sind (s. Nutritional Status Survey of Infants in Iraq, Government of Iraq/UNICEF-Iraq, October 1998 und Child and Maternal Mortality Survey 1999, Preliminary Report, UNICEF/Ministry of Health, July 1999)

Gemäß meinen eigenen Feststellungen sind die Angaben der Iraker eher konservativ und halten Überprüfungen stand. Dies bestätigte mir nochmals im September 2000 der Vertreter der WHO in Bagdad und dies stellten auch der humanitäre Koordinator, Graf Sponeck, sowie die VN-Beobachter der anwesenden Sonderorganisationen und Programme fest, nachdem von Sponeck die regelmäßige Überprüfung der irakischen Angaben über die Bombardierungen in den »no-fly«-Zonen angeordnet hatte.

Irak war vor den Sanktionen das, was generell ein Schwellenland genannt wird. Die Spuren hiervon sind noch immer erkennbar: ein großzügig angelegtes Straßennetz, Fünf-Sterne-Hotels; Angehörige der Mittelschicht, die in den USA und in Großbritannien studiert haben, Herzspezialisten und Neurologen, die im Mittelmeerraum in hohem Ansehen standen, ehemalige Vertreter deutscher und anderer ausländischer Niederlassungen. Allgemein wird angenommen, dass sich zwei Millionen Iraker außer Landes aufhalten und ihre Familien mit Remittenden unterstützen.

Die Sozialdaten waren einst exzellent: Laut UNESCO gab es vor den Sanktionen eine Alphabetisierungsrate von 95 Prozent. Im März 2000 betrug diese nur noch 58 Prozent mit einer Abnahmequote von 5 Prozent pro Jahr. Es bestand Schulpflicht, die auch eingefordert wurde. Dies geschieht jetzt nicht mehr. Die irakische Regierung weiß, dass sie die Schulpflicht nicht mehr durchsetzen kann, denn viele Kinder müssen arbeiten, um das Familieneinkommen durch Betteln, Zigaretten- und Zeitungsverkauf oder Schuhputzen aufzubessern. Ich selbst sah einen Drei- bis Vierjährigen in der Nähe meines Hotels bei dieser Tätigkeit. Besonders Kinder und ältere Frauen betteln. Vor den Sanktionen war dies undenkbar. Ebenso wie Prostitution in einer muslimischen Gesellschaft.

Der Wertverfall des Dinar beläuft sich auf insgesamt 6.000 Prozent. Das Durchschnittseinkommen beträgt derzeit 5.000 bis 6.000 Dinar, das sind 2,5 bis 3 US$ (ein Dinar hatte einen Wert von 3,3 US$ vor den Sanktionen, heute von 0,004 US$). Nach relativ kurzer Zeit sind die Möglichkeiten eines Durchschnittsbürgers, der Situation Herr zu werden und sich über Wasser zu halten – Stadtflucht oder umgekehrt auch Landflucht, Verkauf von Eigentum bis hin zum einfachen Hausrat – erschöpft. Es ist deshalb die dauerhafte Deprivation, hervorgerufen durch eine über zehn Jahre anhaltende wirtschaftliche Lähmung eines ganzen Landes, das sich im Nachkriegszustand bzw. – wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Bagdad feststellt – im weiterhin andauernden Kriegszustand befindet, die eigentlich die Zerstörung der irakischen Gesellschaft und ihrer Menschen bewirken. Dass die irakische Gesellschaft in diesem zehnjährigen Überlebenskampf nicht noch stärker erodiert ist, ist der großen Diszipliniertheit, dem Fleiß, der praktischen Intelligenz, möglicherweise auch der Religiosität ihrer Menschen zuzuschreiben, mit Sicherheit aber auch dem harten Griff der Regierung. Viele Iraker sagten mir, dass jeder Tag, den sie überleben, für sie wie ein Wunder sei.

Andererseits: Eine neue Klasse von Profiteuren ist entstanden. Geschätzte 5-10 Prozent des geförderten Öls werden geschmuggelt. Es gibt alles im Irak, sogar zu relativ günstigen Preisen, wenn man in Dollar bezahlen kann.

Das Land war und ist laizistisch verfasst, Frauen waren und sind weitaus weniger von der in islamischen Gesellschaften oft praktizierten Diskriminierung betroffen. Eine meiner irakischen Mitarbeiterinnen, ehemals hochrangige Diplomatin, beklagt nun die Zuflucht der Iraker zur Religion und das Aufkommen fundamentalistischer Einstellungen. Sie sagte mir auch, dass sie über ihre eigene Reaktion erstaunt war, als klar war, dass es im Irak Kinder gab wie in Biafra oder Äthiopien: Sie konnte keine Träne weinen. Manchmal macht eben auch das Entsetzen starr.

Der irakische Minister für Arbeit und Soziales teilte mir im März 1999 mit, dass nur noch 40 Prozent der Industrien mit einem Auslastungsgrad von 10 Prozent in Betrieb sind. Nach seiner Einschätzung sind 90 bis 95 Prozent der Iraker völlig verarmt. Dieses Ministerium versorgt normalerweise diejenigen mit minimalen Mitteln zum Lebensunterhalt, die in völliger Armut leben. 1994 stellte das Ministerium die Registrierung solcher Personen jedoch ein, weil es deren anschwellende Flut nicht mehr bewältigen konnte. Die VN waren damals besorgt über Anzeichen einer bevorstehenden Hungersnot. In den Jahren 1999/2000 ging aus unseren routinemäßigen Erhebungen im Irak hervor, dass zwei Drittel der Bevölkerung den monatlichen Warenkorb in weniger als 20 Tagen aufbrauchten. Wir haben uns immer gefragt, wovon diese Gruppe den Rest der Zeit lebt. Vermutlich sind dies Familien, die keine zusätzlichen Einkommen haben und nur von dem Warenkorb (der zum Gegenwert von 12 Cents zur Verfügung gestellt wird) leben, ihn vielleicht sogar in Teilen veräußern müssen um andere notwendige Mittel zum Leben zu kaufen oder zu tauschen. (Inhalt des Warenkorbs: Weizenmehl, Reis, Hülsenfrüchte, Speiseöl, Milchpulver, Tee, Zucker, Salz, Waschpulver, Seife; für Kleinkinder bis zu einem Jahr auch Babymilchpulver).

Viele irakische Kinder sind körperlich zurückgeblieben (stunted growth); chronische Mangelernährung erzeugt jedoch nicht nur körperliche Defizite, sondern wirkt sich auch auf die mentalen Fähigkeiten aus. Anlässlich eines Programms für unterernährte Kinder unter fünf Jahren, das wir im Irak durchführten, gab uns die zuständige Behörde deren Zahl mit rd. 700.000 an. Die irakischen Kinder wachsen zudem in einem unsicheren sozialen Umfeld auf. Ein besonders krasses Beispiel hierfür war unsere Beobachtung, dass in irakischen Waisenhäusern Eltern ihre Kinder abliefern, weil sie nicht mehr für sie sorgen können.

Die Abschottung der Gesellschaft von allen Möglichkeiten des Austauschs mit dem Rest der Welt setzt die derzeit aufwachsende Generation in einen nicht aufholbaren Nachteil. (Selbst der Fall der Mauer und seine enormen Folgen für den gesamten Globus sind noch nicht richtig im Irak angekommen; und wie bekannt begann der Internet-Boom erst 1996 in den Vereinigten Staaten!) Mindestens eine irakische Generation ist verloren, und selbst wenn die Sanktionen morgen aufgehoben würden, der Wiederaufbau der Gesellschaft, besonders aber auch die Wiederherstellung der individuellen menschlichen Fähigkeiten, würden sich über sehr viele Jahre erstrecken, wenn sie im Individualfall überhaupt geschehen können. Der Stress, dem Menschen ausgesetzt sind, die, um ihre Familie zu ernähren, zwei in der Regel minderwertige Berufe ausüben müssen, erschöpft unendlich, wenn er sich über zehn lange Jahre hinzieht, die Verschlechterung der Ausbildung in den Schulen und im professionellen Bereich wirkt sich langfristig auf mindestens eine Generation aus; Kinder, die überhaupt nicht in die Schule gehen, werden das Versäumte niemals nachholen können; der Druck auf die Familie, wenn Familienmitglieder erkranken und ihnen nicht geholfen werden kann, macht depressiv ebenso wie die Fehlinvestitionen in Lebensläufe oder in Erwartungen, die sich nicht erfüllen lassen. Die Zahl der Eheschließungen hat abgenommen; Entprofessionalisierung findet statt. So sind z.B. 60 Prozent der über 1000 irakischen Mitarbeiter im humanitären Programm professionell ausgebildet, üben jedoch eine minderwertige Tätigkeit aus, wie der Pilot, Ingenieur oder Agrarwissenschaftler, der als Fahrer arbeitet, der Bankdirektor, der nun Food-Aid-Monitor ist.

Der Ersatzinvestitionsbedarf ist enorm. Zwar ist ein Großteil der Transportinfrastruktur wie Straßen und Brücken in Eigenleistung wieder hergestellt – außer der Eisenbahn, deren Rehabilitation bisher nicht genehmigt wurde – sonst wäre auch die landesweite Nahrungsmittelversorgung nicht durchführbar. Der Hafen von Basra jedoch ist bis auf die Anlagen, die zum Einbringen der Nahrungsmittel notwendig sind, stillgelegt, die Hafenanlagen verfallen. Und selbst diese und andere für die Nahrungsmittelversorgung unbedingt notwendigen Einrichtungen, wie die Getreidemühlen, sind in einem desolaten Zustand. Jüngst war zu lesen, dass die irakische Regierung 600.000 PKW beschaffen will. Angesichts des Zustands fast aller Fahrzeuge dort ist dies meines Erachtens ein Minimum.

Seit Ende 1998 herrscht zudem eine Dürre in der Region, die sich im Irak auf die Ernteerträge und auf Besitz und Einkommen der nomadisierenden Bevölkerung (Viehbestand) verheerend sowie auf die Versorgung mit sauberem Wasser zusätzlich erschwerend auswirkt. Der FAO-Vertreter in Bagdad sagte mir im September 2000, wenn die Dürre anhalte, würden demnächst sämtliche Obstplantagen zugrunde gehen.

Das Gesundheitswesen des Irak galt einst als eines der besten im Mittelmeerraum. Heute sind Gesundheitszustand und Gesundheitsversorgung der Bevölkerung schlecht. Die Lebenserwartung ist zurückgegangen. Am 28. September 2000 besuchte ich – ohne Vorankündigung – das Saddam General Hospital in Saddam City und sprach mit dem Direktor. In Saddam City leben Menschen, die der niedrigsten gesellschaftlichen Schicht angehören, ein Drittel der Bevölkerung Bagdads, mehr als zwei Millionen Menschen. Das Allgemeinkrankenhaus, eines von vier in Saddam City, hat 308 Betten, mehr als 600 Besucher während der Öffnungszeiten und ca. 200 zusätzlich außerhalb. 150 Personen kommen im Durchschnitt täglich in die Notaufnahme. Medikamente stehen nicht ausreichend zur Verfügung. Nach Einsetzen der Versorgung durch das humanitäre Programm hat sich nach Auskunft des Direktors die Situation allerdings gebessert. Es fehlten aber weiterhin Anästhetika und Antibiotika, besonders für Patienten mit Verbrennungen. TBC und andere Infektionskrankheiten, ebenso Brucellose seien im Ansteigen. Diabetes und Bluthochdruck haben seit dem Golfkrieg zugenommen, bei älteren Menschen offenbar bedingt durch Stress. Bei jüngeren – schon drei- bis vierjährigen Kindern – sei die Ursache für die Diabeteserkrankungen unklar. Seltene Krebserkrankungen seien aufgetreten, vermutlich durch abgereichertes Uran (Depleted Uranium – DU). Seit Phase I des humanitären Programms (1996) habe der Direktor keine moderne computerisierte Ausrüstung erhalten, jedoch ein Ultraschallgerät. Die Zahl der Ärzte und Spezialisten nehme ab, ebenso die Qualität der Ausbildung bei den jungen Ärzten. Wissenschaftliches Material und Lehrmaterialien dürfen nicht in den Irak importiert werden. Das Labor dieses für Bagdads arme Bevölkerung zentralen Allgemeinkrankenhauses war, was die Ausrüstung anbelangte, in einem desolateren Zustand als ich ihn jemals in den ärmsten Entwicklungsländern gesehen habe. Das Labor der Notaufnahme war minimal besser ausgestattet.

Im Irak wurden die durch den Golfkrieg entstandenen Umweltschäden nicht saniert (Zerstörung von Ölförderungs- und Petrochemieanlagen; Geschosse, die mit abgereichertem Uran ummantelt sind). Nach Auskünften und Unterlagen, die ich im September 2000 vom Vertreter der WHO in Bagdad und von irakischen Spezialisten, die mit entsprechenden Untersuchungen beauftragt sind (einem Mitglied des Komitees zur Untersuchung der Auswirkungen des Golfkriegs sowie der Sekretärin des Komitees), erhalten habe, lagert sich abgereichertes Uran, das vor allem Alpha-Partikel aussendet und eine Halbwertzeit von 4,5 Milliarden Jahren hat, im Körper ab – vor allem in Leber und Knochen –, attackiert die DNA, wird nach einiger Zeit mit dem Urin ausgeschieden und lässt sich dort auch nachweisen. Die irakischen Behörden haben über tausend Personen (Frontsoldaten und ihre Familien; mit Kontrollgruppe), die exponiert waren, unter Beobachtung. Es wird vermutet, ist jedoch bisher nicht nachgewiesen, dass die Zunahme von Leukämie, das Auftreten seltener Krebserkrankungen sowie angeborener Missbildungen auf das abgereicherte Uran zurückzuführen sind. Das irakische Komitee hat neben der drei- bis vierfachen Zunahme von Leukämie und Kindersterblichkeit als mögliche Folgen des Gebrauchs von DU-Munition festgestellt: Unfruchtbarkeit bei Männern und Frauen (auch Jugendlichen); seltene Deformationen, die noch weiter zunähmen (z.B. Kinder ohne oder mit deformierten Armen, ohne Finger, mit deformiertem Kopf, ohne Augen, mit deformierten Augen, ohne Ohren); Chromosomen-Änderungen; deformiertes Sperma (DU sei im Sperma nachgewiesen worden); erhebliche Zunahme von Brustkrebs, besonders bei 17- bis 20-jährigen Frauen.

Insgesamt sei eine Zunahme von Krebs (Lungen-, Nieren-, Lymph- und Schilddrüsenkrebs), besonders auch bei Jugendlichen, festzustellen. Irak versuche, einen Nachweis der Beziehung zwischen DU und Krebs sowie genetischen Veränderungen zu erbringen. Während der Explosion sei chemisches und radioaktives Material ausgetreten, das jetzt in die Nahrungskette aufgenommen sei. Besonders viel liege noch in der Provinz Basra in der Erde. Damals habe es oft geregnet, so dass dort, wo es starke Kontamination gab, viel von den toxischen Stoffen in das Grundwasser geriet. 1996/97 zeigte die Untersuchung von Frontsoldaten zum ersten Mal eine Zunahme bei Krebserkrankungen, zunächst nur wenig Fälle. Es sei jedoch zu erwarten, dass die Entwicklung über Jahre hinaus weitergehe.

Festgestellt wurden im Südirak auch Deformierungen von Tieren. Dort seien Wasser, Boden und Pflanzen DU-verseucht. Insgesamt seien über 300 t Material mit chemischer und radioaktiver Aktivität abgeschossen worden. Die betroffenen Gebiete seien für Menschen und Tiere inzwischen unzugänglich gemacht. Seit 1995 wende sich die Regierung in dieser Angelegenheit an die WHO. Bisher war eine externe Verifizierung dieser irakischen Feststellungen trotz mehrfacher Bitten an die WHO nicht möglich. Es habe zwar einmal eine Mission gegeben, deren Ergebnisse seien der Regierung jedoch nicht mitgeteilt worden. Entsprechende Bestandsaufnahmen und Ausrüstung zur Dekontamination seien teuer. Deswegen sei ein Programm der internationalen Organisationen notwendig. Man habe bisher noch nicht endgültig entschieden, ob die Oberfläche abgetragen werden soll oder ob man den verseuchten Boden bedecken will. Kontaminiert seien Farmland und Areale bei kleineren Städten. Die kontaminierte Erde werde durch Wind bewegt. Auch Saudi-Arabien und Kuwait seien betroffen; die Arabic Organization for Atomic Energy habe die Regierungen hierüber entsprechend informiert. In Kuwait und Safwan, auf dem Highway of Death solle sogar mehr DU-Munition als im Irak liegen.

Der Vertreter der WHO in Bagdad berichtete Ende September von seinem Besuch beim Sanktionskomitee in New York und seinem dort vorgetragenen Petitum, 35 medizinische Ausrüstungsgegenstände zur Lieferung freizugeben. Kein Mitglied des Komitees habe ihm die Frage beantworten können, warum ein Anästhesie-Gerät nicht geliefert werden dürfe. Aufgrund seiner Initiative wurden schließlich rund 50 Prozent der Gegenstände freigegeben. Bezug nehmend auf die immer wieder von den USA vorgebrachte Behauptung, die irakische Regierung halte Medikamente zurück, erklärte er, die Verteilungsrate für medizinische Güter liege bei 75 Prozent. Die Regierung halte 14 Prozent als strategische Reserve, dies sei sehr wenig. Der Rest sei auf Lager, weil Ergebnisse der Qualitätskontrolle abgewartet werden müssen, weil Komponenten fehlten oder weil die Güter die Qualitätskontrolle nicht passiert hätten. Allein medizinische Dienste und Medikamente zur Verfügung zu stellen sei jedoch nicht ausreichend für Herstellung und Erhalt von Gesundheit, vielmehr sei die Rehabilitation des gesamten Infrastruktursystems – von Wasser, Abwasser, Elektrizität, Einkommen und Erziehung – sowie das Durchbrechen der Isolation nötig. Für die irakische Bevölkerung stehe das einfache Überleben derzeit im Vordergrund. Für ihn und seine Arbeit ausschlaggebend sei die Resolution der WHO-Versammlung, nach der es keine Behinderung bei der Lieferung von medizinischer Ausrüstung geben darf. Es müsse aber immer noch Impfstoff, z.B. gegen Polio, dem Sanktionskomitee zur Billigung vorgelegt werden. Er setze sich daher dafür ein, dass auch Impfstoffe auf die Liste derjenigen Güter gesetzt werden, die vom 661-Komitee en bloc verabschiedet werden. Die meisten medizinischen Güter, die Komponenten benötigten, seien blockiert, ebenso jedwede computerisierte Ausrüstung und fast alle Reagenzien. Das Zentrallabor für Tuberkulose in Bagdad biete für die dort arbeitenden Angestellten keinen ausreichenden Schutz, und es gebe keine Mittel, die Situation zu verbessern. Die Blutbank müsse vollständig renoviert werden. Sämtliche wasserinduzierten Krankheiten nähmen zu (Tuberkulose, Malaria, Unterernährung). Die Dürre verschärfe die Situation. Die Zahlenangaben der Regierung seien akkurat. Im Süden sei Leukämie um das Fünffache angestiegen. Es seien jedoch unabhängige Untersuchungen zur Beweisführung der Verursachung durch DU nötig.

Menschenrechte

Zwischen den Bestimmungen des Kapitels VII, Paragraph 41, der Charta der Vereinten Nationen (Action with Respect to Threats to the Peace, Breaches of the Peace, and Acts of Aggression [The Security Council may decide what measures not involving the use of armed force are to be employed to give effect to its decisions, and it may call upon the Members of the United Nations to apply such measures. These may include complete or partial interruption of economic relations and of rail, sea, air, postal, telegraphic, radio and other means of communication, and the severance of diplomatic relations.]) und den Menschenrechtsinstrumenten der Vereinten Nationen besteht ein Bruch. Faktisch treffen Sanktionen fast ausschließlich die einfache Bevölkerung, und das humanitäre Programm bietet für diese keinen aktiven Menschenrechtsschutz. Es böte ihn auch dann nicht, wenn es in vollem Umfang, in gutem Glauben und unter Verzicht auf die gegenwärtige Politisierung umgesetzt werden würde. Denn: Ein reines Versorgungsprogramm, das überdies ausgehöhlt ist, kann nicht über einen Zeitraum von zehn Jahren die wirtschaftliche Tätigkeit eines gesamten Volkes ersetzen. Die Lösung für die humanitäre Katastrophe für die jetzt fast 25 Millionen Menschen (1988: 18 Millionen) liegt nur in der vollen Wiederbelebung der wirtschaftlichen Tätigkeit des zivilen Sektors und der Verfügung des Staates über seine Exporteinnahmen, die ihm notwendige Investitionen und die Wiederherstellung der sozialen Dienste ermöglicht.

Die Menschenrechte haben universelle Gültigkeit, das heißt „[Es]darf keine Unterscheidung gemacht werden aufgrund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört, ohne Rücksicht darauf, ob es unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder irgendeiner anderen Beschränkung seiner Souveränität unterworfen ist.“ (Artikel 2 der Universellen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948).Die Menschenrechte sind also auch im Irak anzuwenden. Human Rights Watch (HRW), eine unabhängige Organisation in New York, die sonst die Menschenrechtsverletzungen durch die irakische Regierung anprangerte, hat dies in einem Brief an den Ständigen Vertreter der USA bei den Vereinten Nationen vom 4. Januar 2000 ebenfalls thematisiert: Der UNO-Sicherheitsrat dürfe nicht den hohen Grad der Schuld benutzen, den die Regierung des Irak an der humanitären Krise habe, um den eigenen Anteil an der Verantwortung zu verdunkeln. Bei der Anwendung von Zwangsmaßnahmen, einschließlich nicht-militärischer Maßnahmen wie der eines Embargos, müsse sich der Rat von dem humanitären Kernprinzip leiten lassen, Bedrohung des Lebens und körperlichen Schaden unschuldiger Menschen, die für die mit Sanktionen belegte Regierungspolitik nicht verantwortlich seien, so gering wie möglich zu halten, wörtlich: „Wir glauben, es besteht eine dringende Notwendigkeit für zusätzliche Initiativen, um die Durchsetzung der Ziele der Resolutionen 687 (1991) und 688 (1991) besser in Übereinstimmung zu bringen mit der humanitären Verpflichtung des Rats und seiner Mitgliedstaaten, den Schaden an der Zivilbevölkerung zu minimieren und den Schutz der fundamentalen Rechte sicherzustellen, der dieser im Rahmen der internationalen Gesetzgebung zusteht.“

Es herrschten weiterhin lebensbedrohende Umstände im Irak vor. Ein temporäres Nothilfeprogramm biete nicht diejenigen umfassenden Planungen und Investitionen, die notwendig seien, um Iraks Infrastruktur auf ein Niveau anzuheben, das die notwendigsten zivilen Grundbedürfnisse befriedige. Wie das zuvor das humanitäre Panel, so wiederholt HRW die bereits in FAO/WFP-Berichten erhobene Forderung, die zivile Wirtschaft des Irak wiederzubeleben – selbst auf die Gefahr hin, dass die Regierung wieder über Finanzmittel verfügt. Statt dessen sollten alle Güter, die in den Irak importiert werden, einem Kontrollverfahren unterworfen werden – was derzeit nicht der Fall ist. Der Sicherheitsrat müsse abwägen zwischen dem Schaden, den die Sanktionen der Bevölkerung zufügten und dem, was durch diese noch erreicht werden könne.

Auch der VN-Generalsekretär ist der Ansicht, dass die Vereinten Nationen bezüglich des Irak in einem Dilemma steckten, da die VN ansonsten immer auf Seiten der Schwachen und Verwundbaren stehe und Leiden zu lindern versuche.

Artikel II der Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord definiert Genozid als eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:

a) Tötung von Mitgliedern dieser Gruppe;

b) Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe;

c) Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen…

Der belgische Völkerrechtsexperte Marc Bossuyt wendet in seinem Bericht an die Commission on Human Rights – Sub-Commission on the Promotion and Protection of Human Rights (E/CN.4/SUB.2/2000/33) vom 21. Juni 2000 nicht nur Absatz c der Genozidkonvention auf den Irak an, er stellt auch in seinen Empfehlungen fest, dass Sanktionen, die das Völkerrecht und besonders die Menschenrechte verletzen, nicht res pektiert werden müssen. Ich folge ihm hierin.

Wie eingangs erwähnt, sieht Resolution 1284 (12 Dezember 1999) statt Aufhebung der Sanktionen deren mögliche Suspendierung vor, gemäß Interpretation der USA wiederum ohne dem Irak die Kontrolle über die Öleinnahmen zuzugestehen. Irak akzeptiert aus diesem Grunde die Zusammenarbeit mit den VN auf Basis dieser Resolution nicht und besteht auf der Anwendung von Sicherheitsratsresolution 687, Paragraph 22, und damit der Aufhebung der Sanktionen nach vollzogener Abrüstung. Dieser Auffassung der USA ist eine weitere Menschenrechtsbestimmung entgegen zu setzen: Der Sozialpakt vom 19. Dezember 1966 sieht in Teil I, Artikel 1 (2) vor: Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen, unbeschadet aller Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Wohles sowie aus dem Völkerrecht erwachsen. In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.

Ausblick: Dialog statt Sanktionen

Viel hat sich in den letzten Monaten ereignet: Die Beziehungen zu Jordanien sind verbessert; mit Syrien deutet sich eine zuvor nicht denkbare Allianz an; es gibt hochrangige Gespräche mit dem Iran. Einige arabische Nachbarn haben ihre diplomatischen Vertretungen wieder geöffnet; einige westliche Nationen beabsichtigen dies ebenfalls. Iraks Stellung im arabischen Raum ist – besonders im Umfeld des palästinensisch-israelischen Konflikts – und, angesichts hoher Ölpreise, auch beim Rest der Welt enorm gestärkt. Solidaritätsflüge aus der arabischen Welt und von Seiten der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, die Irak eher positiv gegenüberstehen, finden seit August 2000 nahezu regelmäßig statt. Es ist die Rede davon, dass das Embargo erodiert – und Irak arbeitet seinerseits an dieser Erosion. Jedoch, lassen wir uns nicht täuschen. Der Kern der Sanktionen bleibt erhalten: Der Irak darf weiterhin nicht über seine Einnahmen aus den Ölverkäufen verfügen. So haben die USA beispielsweise keine Einwände gegen zusätzliche Ölausfuhren über Syrien, solange die Einnahmen auf das UNO-Treuhandkonto eingezahlt werden.

Daher: Die Entwaffnung des Irak (von Massenvernichtungswaffen) muss vollzogen werden. Der Irak muss das »Reinheitssiegel« der Waffeninspekteure erhalten, und ich bin überzeugt, dass die Regierung mit den Waffeninspekteuren zusammenarbeiten wird, wenn sie eine faire Behandlung und die tatsächliche Aufhebung des Embargos erwarten kann. Der Irak muss die ihm zukommende Rolle in der Völkergemeinschaft, einschließlich einer konstruktiven Rolle als OPEC-Land und im regionalen Kontext, baldmöglichst wieder einnehmen. Es ist notwendig, hierzu einen politischen Dialog zu beginnen.

Jutta Burghardt war vom 26. Januar 1999 bis zum 31. März 2000 Vertreterin des Welternährungsprogramms (WFP) und Länderdirektorin Irak mit Büro in Bagdad. Aus Protest gegen die andauernden Sanktionen legte sie ebenso wie Hans Graf Sponeck, seit über 30 Jahren im UN-System tätig und Leiter des Öl-für-Nahrung-Programms, Ende März ihre Arbeit in Bagdad nieder. Zur Zeit ist sie Referentin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Bonn und mit Programmen für afrikanische Länder betraut.

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Anti-Terrorstrategien und Schutz der Menschenrechte

Anti-Terrorstrategien und Schutz der Menschenrechte

von Wolfgang S. Heinz

Der transnationale Terrorismus wird heute bi- und multilateral bekämpft. Zwei große Handlungsbereiche sind zu unterscheiden, (1) den der Vereinten Nationen, den von ihnen entwickelten Abkommen gegen spezifische Straftaten mit dem UN-Sicherheitsrates mit seinem Anti-Terrorism Committee in der Führungsrolle und (2) die Maßnahmen der USA in der Perspektive eines Global War against Terrorismus. Zwar sind staatliche Reaktionen auf den Terroranschlag vom 11. September 2001 entsprechend der Wahrnehmung transnationaler terroristischen Bedrohung ähnlich ausgefallen, etwa wenn man an den Haushaltszuwachs für Polizei und Nachrichtendienste, an eine bessere Vernetzung untereinander und das wachsende Interesse an Islam und Islamismus denkt. In ihrer strategischen Ausrichtung sind die Reaktionen von Staaten auf terroristische Bedrohungen aber von Land zu Land durchaus unterschiedlich ausgefallen (Leeuwen 2003, Brysk/Shafir i.V.).

Für die internationale Zusammenarbeit zwischen den Staaten ist eine Übereinstimmung über den Begriff des Terrorismus’ von zentraler Bedeutung, weil bei der Kooperation zwischen Polizei Justiz, Geheimdiensten und bis hin zu Militäreinsätzen klar sein muss, gegen wen sich staatliche Maßnahmen richten.

Bis heute gibt es keine international akzeptierte Definition von Terrorismus. Vielfach ist es ein politischer Begriff, der gegen den jeweiligen Gegner und Feind gerichtet wird, besonders bei Diktaturen und autoritären, nicht-demokratischen Regierungen.

Vereinte Nationen und internationales Strafrecht

Grundlage für die Ahndung und Überwindung des Terrorismus ist im Rahmen der Vereinten Nationen die zwischenstaatliche Zusammenarbeit mit dem Ziel gemeinsamer Strafverfolgung.

Seit 1963 wurden dreizehn Abkommen von vielen Staaten akzeptiert, in denen terroristische Straftaten definiert wurden, z.B. widerrechtliche Inbesitznahme von Luftfahrzeugen (1971), Straftaten gegen völkerrechtlich geschützte Personen, einschließlich Diplomaten (1979), Geiselnahme (1980), Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus (1999) und Nuklearterrorismus (2005).

Ein umfassendes Abkommen gegen Terrorismus wird seit 2001 in der VN-Generalversammlung diskutiert. Jedoch ist man damit nicht weitergekommen, weil sich Meinungsunterschiede über die juristische Bewertung des Kampfes gegen ausländische Besetzung – vor allem zwischen westlichen Ländern und Mitgliedstaaten der Islamischen Konferenzorganisation (OIC) – nicht überbrückt werden konnten. Im Hintergrund steht das Beispiel palästinensischer Kampf gegen die israelische Besetzung und die Frage seiner Einordnung als Terrorismus. Eine Überwindung der Meinungsverschiedenheiten erscheint kurzfristig als wenig wahrscheinlich.

Unter Menschenrechte werden im Folgenden die völkerrechtlich verbindlichen internationalen und regionalen Abkommen verstanden, in denen Menschenrechte definiert werden. Besonders wichtig für unser Thema sind Menschenrechtsnormen, die auch nicht im Notstand oder Kriegsfall außer Kraft gesetzt werden dürfen (vgl. UN-Antifolterkonvention von 1994, UN-Zivilpakt von 1966).

Nach dem UN-Zivilpakt ist die zeitweilige Außerkraftsetzung von Rechten möglich, wenn „das Leben der Nation (des Staates) bedroht“ und der Notstand amtlich verkündet ist jedoch nur „in dem Umfang, den die Lage unbedingt erfordert“ (Zivilpakt Art. 4) (ähnlich Art. 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention/EMRK Art. 15). Als notstandsfeste Menschenrechte gelten im UN-Zivilpakt das Verbot von Diskriminierung und Sklaverei, der Folter und bestimmte Rechte beim Gerichtsverfahren sowie das Recht auf Gedanken-, Gewissen- und Religionsfreiheit, bei der EMRK nach Art. 15 das Recht auf Leben, das Folterverbot, das Verbot der Sklaverei und Leibeigenschaft, das Rückwirkungsverbot und die Anerkennung der Rechtsperson. Von den westlichen Staaten hat bisher nur Großbritannien 2001 eine entsprechende Erklärung abgegeben, man befände sich im Ausnahmezustand.

USA: Global War on Terrorism and Operation Enduring Freedom

Die Rolle der USA ist global von zentraler Bedeutung, da ihre politisch-militärische Dominanz sowie die enormen eingesetzten Ressourcen eine Sogwirkung auf viele, besonders kleinere Länder ausübt.

Am 14. September 2001 gab der Kongress mit Resolution »Authorization for Use of Military Force« dem Präsidenten den Auftrag, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen. Die Regierung Bush konzeptionalisierte die Bekämpfung des internationalen Terrorismus als Krieg und schloss gleichwohl die Anwendung völkerrechtlicher Rechtsnormen des Kriegsvölkerrechts, besonders der III. und IV. Genfer Konvention auf Terrorismusverdächtige in Afghanistan aus. Die USA haben nicht die Möglichkeit nach Art. 4 UN-Zivilpakt in Anspruch genommen, der UN die Einschränkung bestimmter Menschenrechts anzuzeigen, weil ein Ausnahmezustand vorläge.

Zum weiteren politischen Kontext der Präsidentschaft Bush gehörte die Überzeugung starker Kräfte in der Republikanischen Partei, die sog. Imperiale Präsidentschaft, ein in den US-Geschichte seit langem diskutierter Begriff, müsse wieder hergestellt werden. Hier wird die Präsidentschaft als Institution verstanden, der in der Außenpolitik über die Verfassung hinaus »inhärente Rechte« (Machtbefugnisse) i.S. einer effektiven Exekutive zukommen. In diesem Verständnis kam es besonders nach dem erzwungenen Rücktritt von Präsident Richard Nixon, dem Musterfall einer solchen Präsidentschaft, zum »Sündenfall«, als der Kongress unzulässig präsidentielle Macht eingeschränkt hätte. Nun sei es an der Zeit, die Institution der Präsidentschaft in ihrer wahren Bedeutung wieder herzustellen (vgl. Schlesinger 2004a, b). Dies bedeutet, eine Einflussnahme von Kongress und Justiz möglichst zu unterbinden.

Die Strategie der Regierung Bush hat vier zentrale Bestandteile, die von Regierungen anderer Länder, besonders ihren Geheimdiensten, in erheblichem, gleichwohl noch nicht völlig bekanntem Umfang unterstützt wurden und werden:

  • Identifizierung, Festnahme oder Entführung von Terrorverdächtigen und deren Verbringung an geheime Haftorte, zu denen die US-Justiz, Rechtsanwälte, Familienangehörige, Menschenrechtsorganisationen u.a. keinen Zugang haben (und auch an bekannte Haftorte mit stark eingeschränktem Zugang).
  • Eine Umdefinierung des Verständnisses von Folter: Eine regierungsinterne Diskussion über die anzuwendende Definition von Folter und anderen grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen oder Strafen führte 2002 bis Ende 2005 zu einem besonderen US-amerikanischen Verständnis, das radikal und völkerrechtswidrig Folter auf Handlungen an der Grenze zum Organkollaps und Tod verkürzte (Ende Dezember 2005 hat das Justizministerium diese Interpretation offiziell zurückgenommen) (Die Dokumente finden sich in Greenberg/Dratel 2005, zur Debatte in den USA Greenberg 2006).
  • Die Entführung von Terrorverdächtigen in Drittstaaten und deren Rückführung in ihre arabischen Heimatländer (extraordinary renditions), sollte den Einsatz von Foltermethoden und damit schnelle Ergebnisse möglich machen (hierzu umfassend mit Bezug zu CIA-Flügen in Europa Grey 2006). Zwar erklärt(e) die Regierung Bush immer wieder, sie foltere nicht und lasse nicht in Drittländern foltern, dem stehen aber Hunderte von Fällen entgegen (hierzu gibt es keine Statistiken oder auch nur Teilstatistiken der US-Regierung; für eine Untersuchung dreier US-Institutionen siehe Human Rights Watch/ Human Rights First/Center for Human Rights and Global Justice 2006).
  • All diese Maßnahmen würden strikt geheimgehalten so dass eine Zuordnung zur Regierung der USA, dem Militär oder Geheimdienst CIA nicht möglich sein sollte (Woodward 2004, S.114).

Nicht behandelt werden kann hier der große Komplex Krieg in Afghanistan und Irak, Fehler der Kriegsführung und Verluste der Zivilbevölkerung, die mindestens in die Zehntausende in Afghanistan und dem Irak gehen (zur Diskussion siehe Heinz/Arendt 2004, S.73f.).

Am 6.09.2006 gestand Präsident George W. Bush öffentlich ein, dass die CIA nach dem 11.09.2001 ein System von Geheimgefängnissen aufgebaut habe, um die USA durch Gewinnung von Informationen vor weiteren Anschlägen zu schützen. Dieses System habe sich bewährt, sei einer rechtlichen Prüfung des US-Justizministeriums unterzogen und für legal befunden worden. Auch würden die USA nicht foltern. In Guantánamo hätten sich ursprünglich 770 Gefangene in Gewahrsam der USA befunden, von denen noch 455 in Haft seien. In den geheimen Gefängnissen der CIA befinde sich jetzt niemand mehr. Das System würde aber für zukünftige Aufgaben beibehalten werden (White House 2006).

Mit Blick auf die Praxis der Entführungen/Überstellungen von Terrorismusverdächtigen (extraordinary renditions) hat das State Department erklärt, dass diese Praxis der US-Regierung fortgesetzt werde (Bellinger 2006). In Deutschland hat nach einem Fernsehbericht das US-Hauptquartier in Europa in Stuttgart im Dezember 2006 bestätigt, dass es die Verbringung von Häftlingen nach Guantánamo organisiert hat (der Fall der sechs Algerier aus Bosnien-Herzegowina).

Menschenrechtsverletzungen während der Terrorismusbekämpfung

Seit 2001 ist es zu zahlreichen, zum Teil systematischen Menschenrechtsverletzungen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung gekommen, vor allem in autoritären Staaten und Diktaturen, wo die Opposition schnell mit Terrorismus in Verbindung gebracht wurde, um sie zu schwächen. Die Themenberichterstatter der Vereinten Nationen, besonders zu Folter und Terrorismus, haben hierüber berichtet, ebenso die großen internationalen Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international und Human Right Watch, nationale Menschenrechts-NGOs, vor allem aber kritische investigative Medien wie die Washington Post und New York Times in den USA.

Aber auch Demokratien haben zu menschenrechtlich bedenklichen oder offen menschenrechtswidrigen Maßnahmen gegriffen. Gegenwärtig lassen sich vorrangig folgende Menschenrechtsprobleme identifizieren (mit dem Schwerpunkt auf Demokratien):

  • Internierung von Terrorismusverdächtigen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren, besonders von Ausländern (USA, vorübergehend: Großbritannien).
  • Überprüfungsverfahren für internierte Verdächtige, die nicht im Ansatz einem fairen Verfahren entsprechen (Folge: Jahrelange Haft für die Betroffenen, ohne dass ein Ende abzusehen ist, z.B. für die Gefangenen in Guantánamo).
  • Anwendung von Folter und Misshandlungen durch Militär und Geheimdienste (in vielen Staaten).
  • Entführung von Terrorismusverdächtigen in Drittstaaten und Überstellungen an Staaten, die die Folter praktizieren (USA, mit Unterstützung einiger europäischer Staaten).
  • Zulassung von Beweismitteln bei Gerichtsverfahren, die unter der Folter erpresst wurden (vorübergehend in Großbritannien).
  • Vorenthaltung von Beweismitteln, die aus Geheimdienstquellen stammen gegenüber angeklagten Terrorismusverdächtigen in Strafverfahren (Guantánamogefangene USA; vorübergehend in Großbritannien).

Schlußfolgerungen und Ausblick

Seit 2005/06 zeigen sich zunehmend unterschiedliche Bewertungen zwischen Regierungen und Justiz und auch in der Öffentlichkeit über angemessene rechtsstaatliche Methoden der Bekämpfung des Terrorismus, besonders zwischen den USA und Europa. Hohe Gerichte haben in den USA, Großbritannien und Deutschland Gesetze für verfassungswidrig erklärt, was dazu führte, dass Regierungen und Parlament neue eher rechtsstaatliche Lösungen suchen mussten.

Rechtsverletzungen bei der Terrorismusbekämpfung, besonders die Misshandlung und Folter von Gefangenen, fügen einer erfolgreichen Terrorismusbekämpfung massiven Schaden zu. Eine solche Vorgehensweise fördert Sympathie- und Solidarisierungseffekte – natürlich neben dem Schaden für die Opfer selbst. In der Sicherheitspolitik wird dies besonders nach dem Gefängnisskandal von Abu Ghraib 2004 auch ganz offen eingeräumt, sowohl in Europa als auch in den USA.

Demokratische Staaten müssen für die verschiedenen Gebiete der Zusammenarbeit – Geheimdienste, Polizei, Justiz, Militär – genau prüfen, welche Rechtsnormen gelten und wie deren Einhaltung wirkungsvoll kontrolliert werden kann, damit Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung nicht direkt oder indirekt zu Menschenrechtsverletzungen beitragen. Dies gilt besonders für die geheimdienstliche und militärische Zusammenarbeit.

Antiterrorismusgesetzgebung sollte kontinuierlich auf ihre Wirksamkeit, intendierte und nicht intendierte Wirkungen überprüft werden. Nur diejenigen Maßnahmen, die wirkungsvoll sind, können auch dann gerechtfertigt werden, wenn ihre Umsetzung klar abgrenzbare Nachteile im Bereich der Menschenrechte, z.B. Einschränkungen der Wahrung der Privatsphäre, nach sich zieht. Jede Anti-Terrorismus-Maßnahme steht zunächst unter diesem Rechtfertigungszwang. Sie muss, so verlangt es auch das deutsche Recht, geeignet, erforderlich und verhältnismäßigsein.

Die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen, wie sie zum Beispiel im Terrorismusbekämpfungsgesetz vorgesehen ist, dient dazu, die Auswirkungen von Sicherheitsgesetzen auf die Menschenrechte zu überprüfen. Das Instrument der Evaluierung soll es dem Gesetzgeber ermöglichen, rechtspolitische Entscheidungen strukturell und zukunftsorientiert unter dem Aspekt der Vereinbarkeit mit den Menschenrechten und dem Rechtstaatsprinzip zu überprüfen und gegebenenfalls nachzubessern – und zwar auf der Grundlage konkreter und verlässlicher Informationen (Weinzierl 2006).

Literatur

Bellinger, John B. III (2006): U.S. Renditions of Terrorists Are Legal Vital. Letters to the Editor, in: The Wall Street Journal, 05.07.2006.

Brysk, Alison/ Shafir, Gershon (Hrsg.) (i.V.): Counter-Terror and Human Rights: International Perspectives on National Insecurity, Berkeley: University of California Press.

Greenberg, Karen J. (2006): The Torture Debate in America. Cambridge u.a.: Cambridge University Press.

Greenberg, Karen J./Dratel, Joshua L. (Hrsg.) (2005): The Torture Papers. The Road to Abu Ghraib, Cambridge u.a.: Cambridge University Press.

Grey, Stephen (2006): Das Schattenreich der CIA. Amerikas schmutziger Krieg gegen den Terror. Stuttgart: DVA.

Human Rights Watch / Human Rights First / Center for Human Rights and Global Justice (2006): By the Numbers. Findings of the Detainee Abuse and Accountability Project, April 2006, http://hrw.org/reports/2006/ct0406/.

Heinz, Wolfgang S./Arend, Jan-Michael (2004): Internationale Terrorismusbekämpfung und Menschenrechte. Entwicklungen 2003/2004, Berlin 2004. http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/webcom/show_shop.php/_c-488/_lkm-616/_cat-4/i.html

Leeuwen, Marianne van (Hrsg.) (2003): Confronting terrorism. European experiences, threat perceptions, and policies. Den Haag: Kluwer Law International.

Schneckener, Ulrich (2006): Transnationaler Terrorismus, Frankfurt/M: Suhrkamp.

Weinzierl, Ruth (2006): Die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen – Anregungen aus menschenrechtlicher Perspektive, Berlin: Institut für Menschenrechte.

Schlesinger, Arthur M. (2004a): The Imperial Presidency, Boston/New York: Mariner (Erstveröff. 1973). (2004b): War and the American Presidency, New York/London: W. W. Norton

White House (2006): President Discusses Creation of Military Commissions to Try Suspected Terrorists. Press Release. 06.09.2006. http://www.whitehouse.gov/news/releases/2006/09/20060906-3.html (abgerufen am 17.12.2006)

Woodward, Bob (2004): Der Angriff. Plan of attack. München: DVA.

Wolfgang S. Heinz, Dr. phil. habil. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Menschenrechte. Privatdozent für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin. Mitglied des Europarat-Ausschusses zur Verhütung der Folter (CPT). Veröffentlichungen vor allem zu Innen- und Sicherheitspolitik in Lateinamerika und Asien, Vereinte Nationen, internationaler Menschenrechtspolitik, zum Verhältnis zwischen internationaler Terrorismusbekämpfung und Menschenrechtsschutz.

Die Erfindung der Erinnerung

Die Erfindung der Erinnerung

Geopolitik des Entsetzens und Ethik der Rekonstruktion

von Juan Jorge Michel Fariña

Die zeitgenössischen Katastrophen zeichnen eine Geopolitik des Entsetzens, deren Koordinaten zunehmend ungewisser werden. Von Erdbeben über Wassergewalt, von den ökonomischen und ökologischen Risiken bis zu vielfältigen Formen menschlicher Vernichtung erlebt die Menschheit täglich den Beweis ihrer Zerbrechlichkeit. Aber schon Sigmund Freud hatte es prophetisch geahnt: Während die Verletzlichkeit gegenüber der Natur Mitleid und Solidarität weckt, erzeugt die Aggression durch den Nächsten noch mehr Hass und Ressentiments. Sich mit dieser Besonderheit der »condition humaine« auseinander zu setzen, ist wohl die größte Herausforderung unserer Zeit.

Am 24. März 2006 wurden in Argentinien die Gedenkfeiern zu 30 Jahre Militärputsch begangen. Warum 30 Jahren, warum nicht fünf, fünfzehn oder schlicht dreizehn? Welche Neigung treibt uns dazu, die Erinnerung an diese oder jene Jubiläen zu knüpfen, wenn sich doch die Wirklichkeit nicht in Dekaden zeigt? Es handelt sich offensichtlich um den Wert einer Zeremonie, um die symbolische Wirksamkeit bestimmter Rituale einer Kultur, mit der wir die einmalige Geographie unserer gemeinsamen Geschichte festlegen.

Die drei Zeiten der Schuldbefreiung

Der Fall Argentiniens ist interessant, weil er ein gigantisches Unternehmen der Erfindung von Erinnerung voraussetzt. Es wurden aufwändige Versuche unternommen, die Vergangenheit zu begraben und dennoch hat das Erinnern überdauert. Das alles hat sich innerhalb gewisser Besonderheiten ereignet, die zum Nachdenken über die Originalität dieser Beharrlichkeit anregen.

Vor weniger als einem Jahr, im Juni 2005, hat der Oberste Gerichtshof in einem historischen Urteil die Verfassungswidrigkeit des Schlußpunktgesetzes (Ley de Punto Final) und des Befehlsnotstandsgesetzes (Ley de Obediencia Debida) festgestellt. Die Medien haben die Information über die ganze Welt verbreitet, es aber versäumt, ihr Publikum über den Sinn dieser Gesetze aufzuklären. Was bedeuten diese beiden Gesetze, die fälschlicherweise »Begnadigungsgesetze« genannt werden?

Es handelt sich um zwei Säulen einer Straflosigkeitsstrategie für die schlimmsten Verbrechen, die je in der Geschichte Argentiniens begangen wurden. Irgendwann habe ich einen Artikel mit der Überschrift »Die drei Zeiten der Schuldbefreiung« veröffentlicht. Diese drei Zeiten heißen Schlußpunktgesetz, Befehlsnotstandsgesetz, Begnadigung. Sie sind chronologische und logische Zeiten der größten juristisch-institutionellen Anordnung des Vergessens, die je entworfen wurde.

Vielen unserer Universitätsstudenten, die nach 1976 geboren sind, behagt es nicht, wenn wir von Dingen aus der Vergangenheit sprechen. Sie betrachten uns ein bisschen herablassend, so als wären wir alte Opas, die von einem fernen Spanischen Bürgerkrieg erzählen. Dennoch lohnt sich die Beschäftigung mit der Geschichte.

Im Dezember 1986, zwei Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur, war die Erforschung der finstersten Verbrechen der argentinischen Geschichte beachtlich voran geschritten. Man hatte überzeugende Beweise gegen rund 1.300 Militärs der verschiedenen Streitkräfte gesammelt, Beweise von Verbrechen wie illegalen Entführungen, Folter, Vergewaltigung, dauerhafter Freiheitsberaubung, Diebstahl, Entführung und Identitätstausch von Säuglingen sowie massiven Morden unter dem Vorwand des Verschwindenlassens (Desaparecidos). Diese 1.300 Militärs waren nur die Spitze des Eisbergs. Die Beweise, die zur Verurteilung genügt hätten, waren das Ergebnis jahrelanger Recherchen argentinischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen.

Doch es blieb weitaus mehr zu erforschen, und man schätzte damals, wenn die Ermittlungen konsequent und mit staatlicher Unterstützung weitergeführt worden wären, hätte man die Zahl der Schuldigen mindestens verdreifachen müssen.

Das war der Punkt, an dem die argentinische Regierung die Entscheidung traf, die Untersuchungen abrupt zu beenden. Das Schlusspunktgesetz (Ley de Punto Final) setzte der Suche nach Wahrheit ein zeitliches Limit. Es beschnitt den Corpus des Ermittelten auf den Zeitraum bis 1986 und erklärte damit jede spätere Anklage für nichtig. Das war die erste Phase der Schuldbefreiung.

Einige Monate später, zu Ostern 1987, erhob sich eine Gruppe der in diese humanitären Verbrechen verwickelten Militärs aus Protest gegen die Verurteilung. Es war der berühmte Putsch der »Bemalten Gesichter« (carapintadas). Seine Protagonisten bemalten sich Stirn und Wangen mit schwarzer Schuhcreme zum vermeintlichen Zeichen dafür , dass sie kämpfende Soldaten gewesen seien. Unter diesen Bedingungen gab die Regierung dem Druck nach und verkündigte das Befehlsnotstandsgesetz (Ley de Obediencia Debida), das fast alle jener 1.300 angeklagten Militärs der Verantwortung enthob, auf denen erdrückende Beweise für ungeheure Verbrechen lasteten. Das damals angeführte Argument lautete, sie hätten die Verbrechen auf Befehl ihrer Vorgesetzten ausgeführt, deshalb seien sie „nicht verantwortlich für das, was sie taten.“ (Originalgesetzestext: „No eran responsables de lo que hacían.“) Das war die zweite Phase der Schuldbefreiung.

Wir können uns drei konzentrische Kreise vorstellen. Der äußere Kreis, der weiteste von allen, stellt das Universum der Verantwortlichen für die Verbrechen dar. Mit dem Schlusspunktgesetz wurde dieser Kreis auf einen kleineren reduziert, auf ein Drittel des ersten, und mit dem Befehlsnotstandsgesetz entließ man automatisch fast alle in Freiheit. Als Schuldige blieben ein Dutzend hochrangiger Militärs übrig, ein letzter innerer Kreis, unbedeutend im Vergleich zum ersten Universum. Diese Militärs kamen vor Gericht und wurden in unterschiedlichem Maße für schuldig befunden. Wenige Jahre später, im Jahr 1990, kam die dritte Phase der Schuldbefreiung: die Begnadigung (Indulto). Alle wurden begnadigt, das heißt, es wurde ihnen verziehen.

Das bedeutet, dass innerhalb kurzer Zeit die Verantwortlichen für die größten Verbrechen unserer Geschichte freigelassen wurden, die meisten von ihnen wurden nicht mal vor Gericht gestellt.

Wenn in den Medien von der täglichen Unsicherheit in Argentinien gesprochen wird, von der Gewalt, mit der Kriminelle ihre Wut an Opfern auslassen, vom Mangel an Verfassungsgarantien für die Bürger, dann bringt das niemand mit diesem beschämenden Kapitel unserer Geschichte in Verbindung. Als entstünde die Gewalt von selbst und die Straflosigkeit sei aus einem Ei gekrochen.

Die Erfindung der Erinnerung

Doch das Bemerkenswerte ist, dass die Erinnerung überlebt hat. Wenn wir Argentinier über den Sinn nachdenken, uns unserer Vergangenheit zu erinnern, ist es hilfreich, den Faschismus in Deutschland zu Hilfe zu ziehen. Wir erleben heute eine Welle des Erinnerns an die Verbrechen des Dritten Reiches. Dabei reden wir hier nicht von Ereignissen der letzten 30 Jahre, sondern von jenen, die 60 Jahre her sind. Schauen wir auf die Erfahrungen, die das Kino bietet: »Der Untergang«, der die letzten Tage Hitlers im Bunker rekonstruiert und die erschreckenden Morde von Kindern durch einen Arzt der Nazis. »Der neunte Tag«, der auf tapfere Weise die Dimension einer Entscheidung eines Geistlichen in einem Konzentrationslager thematisiert, »Amen«, der Film des unvergesslichen Costa-Gavras, der die Grenzen von Wissenschaft und Technologie aufzeigt, die sich ergeben, wenn man sie jenseits jeglicher ethischer Horizonte denkt. Oder »Verschwörung«, jener Film, der die geheimen Akten jener Versammlung von 1942 ans Licht zerrt, mit denen die Auslöschung des jüdischen Volkes beschlossen wurde.

Wenn das Kino der Spiegel ist, in dem sich eine Gesellschaft betrachtet, was heißt das für das Gedenken? Heißt das vielleicht, dass in diesen extremen Nuancen des Horrors der Schlüssel zum Verständnis jenes zeitgenössischen Subjekts, des Argentiniers, liegt, der gerade versucht, unsere Demokratie aufzubauen? Denn tatsächlich ist es so: Wenn man ein Ausnahmezustands-Regime mit langen Gefängnisaufenthalten, Verschwundenen, Folter, gewalttätigen Formen des Exils und geheimen Internierungscamps erlebt, tritt etwas von der »condition humaine« ans Licht, das latent in der täglichen Erfahrung enthalten, aber nur in seinen schlimmsten Formen der Erkenntnis zugänglich ist. Es ist diese Gewalt, die auch in normalen Zeiten existiert, die uns in den Demokratien, die wir errungen haben, aber im täglichen Erleben aus den Händen gleitet. Wir müssen daraus folgern, dass die Erinnerung nicht nur eine moralische Verpflichtung gegenüber der eigenen Geschichte ist, sondern vielmehr ist sie der Ausweg, den die menschliche Psyche bietet, um mittels dessen, was sich als extrem darstellt, die blinden Stellen der Gegenwart jedes Einzelnen anzuschauen.

Das Erinnern, das Gedenken ist also keine Ergötzung an der Vergangenheit, sondern die Erfindung der Zukunft.

Die Rückkehr von Antigone

„Wie können Sie einem Häftling Information entlocken, wenn Sie ihn nicht foltern? (…) Glauben sie, wir hätten 7.000 erschießen können? Selbst wenn wir nur drei erschossen hätten…Schauen Sie mal, was der Papst für einen Aufstand gemacht hat, als Franco drei erschossen hatte. Die ganze Welt hätte sich auf uns gestürzt. Sie können keine 7.000 Menschen erschießen (…) Und wenn wir sie ins Gefängnis gesteckt hätten, was dann? Das hatten wir schon mal. Dann kommt eine neue Regierung und setzt sie frei.“

Diese Worte haben eine besondere Bedeutung, denn es sind die ersten, mit denen ein Unterdrücker der Militärdiktatur (1976-1983) explizit zugibt, dass die Verschwundenen im Geheimen umgebracht wurden. Es ist der argentinische General Díaz Bessone, der von der französischen Journalistin Marie-Monique Robin für den Dokumentarfilm »Todesschwadronen. Die französische Schule« interviewt wurde. Er wurde in Frankreich und anderen zwölf europäischen Ländern am 1. September 2005 gezeigt.

Jahrzehntelang haben die argentinischen Militärs die Existenz der Verschwundenen geleugnet, anfangs unter der Vorgabe, die Menschen seien noch am Leben und heimlich ins Exil gegangen, später mit dem Eingeständnis einiger weniger Fälle, die als »Exzesse« bezeichnet wurden. Die Enthüllungen im erwähnten Film zeigen, dass es sich um einen systematischen Plan handelte: Man mordete im Geheimen und entfernte die Körper der Opfer, um jegliche Form von Begräbnisritual von Seiten der Familie zu verhindern.

Diese grimmige Wut auf den politischen Gegner über den Tod hinaus ist nicht neu. Schon vor 2.500 Jahren greift Sophokles in seiner »Antigone« ein ähnliches Thema auf. Kreon, oberster Befehlshaber des thebischen Heeres, verbietet das Begräbnis von Polyneikes. Dieser war beim Versuch, die Stadt anzugreifen, um seine Rechte auf den Thron von Theben zu verteidigen, ums Leben gekommen. Das Edikt von Kreon hatte die Funktion einer Strafe und gleichzeitig einer Drohung an jene, die versuchten, die Staatsgewalt herauszufordern. Deshalb ist Antigones Tat, gegen die Gesetze der Stadt den Körper ihres toten Bruders zu begraben, im Lauf der Geschichte zum Symbol für ethisches Handeln avanciert.

Das Verschwindenlassen der Körper ist – zusammen mit der Entführung und dem Identitätstausch von Kindern – zum »Markenzeichen« der argentinischen Militärdiktatur geworden. Gleichzeitig war es, auch wenn seine Verfechter es nicht wussten, der Anfang vom Ende des eigenen Regimes. Denn eine Mutter, äußerst empfindlich angesichts der Bedrohung ihrer Leibesfrucht, wird nie ihr Kind aufgeben. Dieser Kern von »Antigone« ist es, der in den Demonstrationen der Mütter rund um die Plaza de Mayo wiederkehrt, ebenso wie in allen anderen politischen oder sozialen Formen des endlosen Strebens nach Gerechtigkeit.

Ethik und Ästhetik der Erinnerung

Zweifellos spielt die Kunst in der Strategie der Rekonstruktion die Hauptrolle. Denn es gibt nichts zu rekonstruieren, wenn Gedächtnis und Gerechtigkeit nicht vorhanden sind. Die Literatur, die Musik, die Bildhauerei, das Kino und das Theater zeigen bewegende Offenbarungen dieser Übung einer kollektiven Erinnerung.

Einer der Schriftsteller, die das Thema der Erinnerung am tiefsten und sicherlich am bewegendsten aufgegriffen haben, ist der argentinische Dramatiker Eduardo Pavlovsky. Sein Werk »El señor Laforgue« wurde 1981 während der Militärdiktatur aufgeführt, als die Anerkennung gering und die Umstände noch sehr riskant waren. Die Geschichte musste auf die Insel Haiti unter dem Regime von Papa Doc verlegt werden. Das Stück beschreibt die Geschichte eines Kommandanten der Luftwaffe, der die Aufgabe hatte, das Verschwinden politischer Gegner zu organisieren. Die angewandte Technik war fürchterlich: Die Verdächtigen wurden bewusstlos an Bord eines Militärflugzeuges gebracht und unter Vollnarkose ins Meer geworfen. Ein nachgeworfenes schweres Gewicht sollte die Körper versenken – eine »saubere« Technik des Verschwindenlassens.

Das Stück von Pavlovsky nähert sich dem Thema auf überraschende Weise: Kommandant Laforgue geht zu einer Routinebesprechung in ein Militärzentrum und läuft dort zufällig einem Überlebenden seiner nächtlichen Flüge über den Weg. Der Mann war mit einer zu niedrigen Narkosedosis ins Meer geworfen worden, er wurde auf wundersame Weise von Fischern gerettet. Ein Fehler des Systems: Nicht alle Opfer wurden sorgfältig genug eliminiert. Einige Verschwundene tauchten wieder auf und sind ein gefährliches lebendes Zeugnis.

Die politische Situation auf der Insel beginnt sich zu verändern, unter der Hand reden die Leute, und es kursieren Gerüchte über die nächtlichen Flüge der Militärs. Die Person des verantwortlichen Piloten wird bekannt, die Oberen sind beunruhigt. Drastische Maßnahmen müssen ergriffen werden. Mit der Präzision eines Uhrwerks wird das Verschwinden des Kommandanten geplant. In einer modernen Militärklinik leitet man seine Metamorphose ein: Die Physiognomie wird verändert, er bekommt eine neue Familie, seine Persönlichkeit wird verwandelt, sein Gedächtnis ausgelöscht. Die Behandlung verläuft langsam und schwierig. Die Erinnerungen von Laforgue sind sehr hartnäckig. Die Sitzungen müssen intensiviert, neue Technologien hinzugezogen werden. Gleichzeitig spitzt sich die politische Lage auf der Insel zu: Der Diktator fällt schlagartig in Ungnade, das Volk organisiert seine Wut. Die leisen Gerüchte werden zu lauten Vorwürfen. Ein Detail des Stücks: Aufgrund der Finanzkrise muss die Regierung Blei beim Versenken der Körper sparen, die Ereignisse überstürzen sich. Ein schweres Gewitter peitscht über die Insel. Das aufgewühlte Wasser treibt die Leichen an den Strand, wie in einem Albtraum kehren die Körper der Verschwundenen zurück.

Das Regime ist verzweifelt. Es gibt keinen Ausweg mehr, Laforgue ist gefährlicher denn je geworden. Seine Verwandlung muss abgeschlossen und er aus dem Land gebracht werden. In der Klinik trifft man die Vorbereitungen für die Reise Laforgues und seiner neuen Familie in die Vereinigten Staaten. Im letzten Moment schlägt das Gedächtnis unerbittlich zu: Als Laforgue einsteigen soll, spült der Anblick des Flugzeugs die Erinnerungen des Kommandanten wieder hoch und zeigt ihm wie im Spiegel das finstere Ende seiner ehemaligen Passagiere. Sein Schrei um Erbarmen „Nicht ins Flugzeug! Nicht ins Flugzeug!“ beendet das Stück mit einem Zeugnis gegen das Vergessen.

Erinnerung und Gerechtigkeit

Pavlovsky zeichnet meisterhaft die Strategie des Regimes nach, doch vor allem die Risse darin, die Fehler, die seine Grenzen offenbaren und seine Widersprüche. Es geht, wie anfangs angedeutet, um die Beharrlichkeit der Erinnerung. Je ausgetüftelter, je klüger die Anordnung des Vergessens, umso größer ist der Einfallsreichtum der Erinnerung. Wie in jedem Stück von Pavlovsky nimmt »El señor Laforgue« auf subtile, ästhetische Weise die Vorgänge vorweg, die man später in der gesellschaftlichen Wirklichkeit wiedererkennt. Im Text sind nur die Feinheiten , die kleinen Details vergrößert, die die geheimen Besonderheiten der »condition humaine« ausmachen.

Man erkennt die zahlreichen Facetten der Vernichtung, den Kampf um die Vermehrung von Macht ohne Rücksicht auf die Opfer, das Bemühen um »Sauberkeit« einer raffinierten Technik, die jede Spur verwischen will (vollständiges Verschwindenlassen), die unpersönliche Bürokratie, die das Verschwindenlassen des Henkers in die unendliche Kette von Befehlen einreiht, und schließlich die bürokratisch-politische Technik, die die Verantwortlichkeit des Flüchtigen der Stunde auf ein Minimum reduzieren will.1

Der argentinische Psychoanalytiker Fernando Ulloa hat einmal behauptet, Gerechtigkeit herzustellen sei wie lieben. Es gebe Höhepunkte und tagtägliches Einerlei.

Nach dreißig Jahren Militärputsch mag es merkwürdig erscheinen, dass wir den Eintritt in diese schreckliche Nacht feiern und nicht den Ausgang der Nacht. Doch wenn man einmal die Ausgangsmöglichkeiten erfasst hat, ist das Herz des Labyrinths das Beunruhigendste. Darauf richtet sich die Beschwörung der Erinnerung.

Anmerkungen

1) Zur Beschreibung dieser Mechanismen siehe Guillermo Maci und Juan Jorge Fariña: Tesis analiticas sobre la desaparicion de personas tal como se presentan en la experiencia clinico-institucional, Buenos Aires, 1983.

Juan Jorge Michel Fariña ist Professor für Psychologie, Ethik und Menschenrechte an der Universität Buenos Aires und leitet an der Technischen Universität das Programm »International Bioethical Information System«. Von 1981 bis 1992 war er Direktor des Programms zur psychologischen Unterstützung der Angehörigen von Verschwundenen und politischen Häftlingen (MSSM-Medicins du Monde). Übersetzung aus dem Spanischen: Dr. Daniela Engelhardt

Menschenrechte – Paradoxien einer bahnbrechenden Idee

Menschenrechte – Paradoxien einer bahnbrechenden Idee

von Jost Stellmacher, Gert Sommer und Elmar Brähler

Die Menschenrechts-Charta der Vereinten Nationen – die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 sowie die inhaltlich sehr ähnlichen »Zwillingspakte« von 1966 (»Pakt über bürgerliche und politische Rechte« sowie »Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte«) – formulieren erstmals in der Menschheitsgeschichte die bahnbrechende Idee, dass unveräußerliche Rechte für alle Menschen auf der gesamten Welt gelten (sog. Universalität der MR). Die AEMR enthält 30 Artikel mit etwa 100 einzelnen Rechten wie z.B. Recht auf Leben, Verbot von Diskriminierung, Folterverbot, Asylrecht, Rechtssicherheit, Meinungs- und Informationsfreiheit, Recht auf Arbeit, Schutz vor Arbeitslosigkeit, Anspruch auf ausreichende Lebenshaltung (einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung), Recht auf Bildung. Immer wieder wurde von den Vereinten Nationen betont, dass die wirtschaftlichen und bürgerlichen Rechte die gleiche Bedeutung haben und interdependent sind (sog. Unteilbarkeit der MR). Somit sind mit der AEMR für die nationale und internationale Politik wichtige Ziele formuliert worden: Menschenrechte sind „das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“ (Präambel der AEMR). Wie aber steht es um dieses Ideal in den Köpfen der Menschen – als Grundvoraussetzung seiner Wirksamkeit?

Die Bedeutung von Menschenrechts-Bildung ist häufig betont worden, z.B. wiederholt in der Menschenrechts-Charta selbst; von der Ständigen Konferenz der Kultusminister der deutschen Länder 1980 und 2000; von der UNESCO – Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur –, die in verschiedenen Erklärungen betonte, dass Menschenrechte, Frieden und Demokratie eng miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig bedingen. Zentrale Ziele der Menschenrechtsbildung sind (1) ein fundiertes Wissen über Menschenrechte, (2) eine positive Einstellung zu Menschenrechten und insbesondere (3) Handlungsbereitschaft und konkretes Handeln für die Einhaltung der Menschenrechte. Je besser Menschen, so glaubt man, über ihre Rechte informiert sind, die der anderen respektieren und sich aktiv dafür einsetzen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für ein friedliches und gewaltfreies Zusammenleben.

Die Menschenrechtsbildung erhielt einen hohen politischen Stellenwert, als die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1994 eine Resolution sowie einen Aktionsplan zur »Dekade der Menschenrechtserziehung 1995-2004« verabschiedete (dokumentiert in Europäisches Universitätszentrum für Friedensstudien u.a., 1997, 138-141). Zentral ist die folgende Aussage zur Relevanz der Menschenrechtsbildung: „… jede Frau, jeder Mann und jedes Kind (müssen) in Kenntnis aller ihrer Menschenrechte – bürgerlicher, kultureller, wirtschaftlicher, politischer und sozialer Art – gesetzt werden …, um ihr volles menschliches Potential entwickeln zu können.“

Die grundsätzliche (idealistische) Annahme besagt, dass ein hohes Bildungsniveau bezüglich der Menschenrechte – bei der Bevölkerung allgemein, besonders aber auch bei relevanten Berufsgruppen wie Politikern, Lehrern, Juristen, Medizinern und Militärs – bedeutsam zur Entwicklung einer friedlicheren und gerechteren Welt beitragen kann. Aber auch am Ende der UN-Dekade zur Menschenrechtsbildung ist das Ergebnis recht dürftig. Dies trifft auch für Deutschland zu: Über diese Dekade wurde kaum informiert, es gab keinen nationalen Aktionsplan für Menschenrechtsbildung. Einzelne Aktivitäten, die hauptsächlich von Nichtregierungsorganisationen ausgingen, waren kaum koordiniert (Lohrenscheit & Rosemann, 2003; Mihr, 2005). Im Folgenden werden einige Befunde aus empirischen Studien präsentiert, die die Notwendigkeit von Menschenrechtsbildung unterstreichen.

Wissen und Wichtigkeit von Menschenrechten – Paradoxe Ergebnisse?

In den Jahren 2002 und 2003 führten wir zwei große repräsentative Studien in Deutschland zum Thema Menschenrechte durch (Sommer, Stellmacher & Brähler, 2003; Stellmacher, Sommer & Brähler, 2005). Unseres Wissens sind dies die bislang einzigen repräsentativen Studien zu diesem Thema weltweit. Die weltweite Verwirklichung von Menschenrechten wurde von 76% der Befragten als „äußerst wichtig“ eingeschätzt. Bei spezifischen Menschenrechten relativierte sich dieses Ergebnis allerdings: Von den vorgegebenen 17 Menschenrechten bewerteten über 50% der Befragten zwar 11 Rechte als „äußerst wichtig“, aber 6 bedeutsame Rechte wurden von weniger als 50% als „äußerst wichtig“ eingestuft (Versammlungsfreiheit, Recht auf Asyl, Religionsfreiheit, bezahlter Urlaub/begrenzte Arbeitszeit, Bildung von Gewerkschaften, Teilnahme am kulturellen Leben).

Die insgesamt hohe Wertschätzung der Menschenrechte lässt jedoch keine Aussagen darüber zu, was und wie viel die Personen über Menschenrechte wissen. Die repräsentativen Studien ergaben insgesamt ein recht geringes Wissen. Bei der Frage, ob es ein Dokument gibt, das Menschenrechte weltweit für jeden Menschen definiert, können nur 4 % eine weitgehend richtige Antwort wie „UNO-Menschenrechtskonvention“ bzw. „UNO-Menschenrechtscharta“ geben. Die AEMR wird so gut wie nie genannt.

Ebenso deutlich sind Wissensdefizite, wenn nach spezifischen Menschenrechten gefragt wird: In den repräsentativen Studien konnten von den 30 Artikeln der AEMR im Durchschnitt nur weniger als drei spontan genannt werden. Dieses Ergebnis ändert sich nur unbedeutend, wenn statt der 30 Artikel die o.g. etwa 100 einzelnen Rechte ausgewertet wurden. Kein einziges Menschenrecht wurde von mindestens der Hälfte und nur vier wurden von mindestens einem Viertel der Befragten genannt (Abb. 1). Dies sind allesamt politische und bürgerliche Rechte: das Recht auf Meinungsfreiheit (48%), das Recht auf Leben (35%), das Recht auf Schutz der Menschenwürde (29%), das Recht auf Religionsfreiheit (29%). Von den sozialen, wirtschafltichen und kulturellen Rechten wird das Recht auf Arbeit am häufigsten genannt (23%). Bei diesem Recht sind große Ost-West-Unterschiede zu erkennen: Recht auf Arbeit wurde viel häufiger von Ostdeutschen (44%) als von Westdeutschen (18%) genannt. Dies ist vermutlich das Ergebnis zum einen der unterschiedlichen politischen Sozialisation in der BRD und der DDR, zum anderen der noch immer sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen in den alten und neuen Bundesländern.

Ähnliche Defizite im Wissen über Menschenrechte sind zu erkennen, wenn eine Liste von Menschenrechten vorgelegt wird. Bei sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechten ist eine große Unsicherheit zu erkennen, ob sie überhaupt den Status von Menschenrechten besitzen oder sie werden explizit nicht als Menschenrechte angesehen, z.B. Schutz vor Arbeitslosigkeit (vgl. ausführlicher Sommer, Stellmacher & Brähler, 2005). Dieses Ergebnis hatten wir auch schon in früheren Studien gefunden: Das Recht auf Arbeit wird erheblich stärker als Menschenrecht erkannt als das ergänzende Recht auf Schutz vor Arbeitslosigkeit (beide in Artikel 23 der AEMR). Somit gibt es u.a. in diesem Bereich nicht nur fehlendes Wissen, sondern die Befragten sind von ihrem falschen Wissen auch noch weitgehend überzeugt. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit ist dieses Ergebnis politisch höchst relevant.

Zusammenfassend zeigt sich in den Ergebnissen unserer repräsentativen Studien das Paradox, dass die Idee der Menschenrechte und ihre Verwirklichung als sehr wichtig beurteilt werden, gleichzeitig das Wissen über Menschenrechte aber sehr gering ist. Insbesondere zeigt sich eine Halbierung in der Weise, dass wirtschaftliche gegenüber bürgerlichen Rechten weniger bekannt sind und als weniger wichtig bewertet werden. Dies entspricht dem Umgang mit Menschenrechten in Politik und Medien (vgl. Sommer, 1999). Es scheint, dass die Konzeption der Menschenrechte hauptsächlich als allgemeine Idee oder als Label existiert, ohne angemessene Verankerung in den Köpfen der Leute. Dies offenbart große Defizite in der Menschenrechtsbildung und erleichtert den politischen und ideologischen Missbrauch des Menschenrechtskonzeptes: Wegen des fehlenden Wissens u.a. in der Bevölkerung können Menschenrechte leicht politisch instrumentalisiert werden (z.B. Sommer, 2001). Dies ist das zweite Paradox: Die grundsätzlich humanitäre Idee der Menschenrechte wird immer wieder missbraucht, um Gewalt und Kriege zu rechtfertigen.

Für den außer-europäischen Raum fehlen bislang vergleichbare Untersuchungen. Eine kleine Studie in Guatemala ergab erste Hinweise: Es zeigten sich ebenfalls Defizite im Wissen über Menschenrechte, die soziale Repräsentation von Menschenrechten aber war deutlich unterschiedlich (Kieselbach, 2004): Spontan sehr häufig genannt (von über 50% der Befragten) wurden das Recht auf Leben (73%) und zwei soziale und kulturelle Menschenrechte (Recht auf Bildung: 61%; Recht auf Nahrung, Wohnung, Kleidung, ärztliche Versorgung etc.: 62%). Das Recht auf Religionsfreiheit, das in westeuropäischen Ländern häufig als Menschenrecht genannt wird, scheint in Guatemala mit einer spontanen Nennungsquote von nur 11% der Befragten eher nicht als Menschenrecht präsent zu sein. Dies zeigt, dass das Wissen über Menschenrechte in Abhängigkeit vom politischen und kulturellen Kontext geformt wird. Entsprechend muss Menschenrechtsbildung sich an den politisch und kulturell spezifischen Defiziten und Bedürfnissen der jeweiligen Bevölkerung orientieren.

Menschenrechte und die Sozialisation von Werten

Gesellschaften sozialisieren spezifische Werteorientierungen, also allgemein wünschenswerte Zielvorstellungen, die als Leitlinien für das Verhalten von Personen, Gruppen und Institutionen dienen. Schwartz (1992) hat empirisch 10 zentrale Wertetypen ermittelt. Diese Grundhaltungen können das Menschenrechts-Bewusstsein entweder unterstützen oder behindern. Verschiedene Studien (Cohrs, Maes, Kielmann & Moschner, 2004; McFarland & Mathews, 2005) haben gezeigt, dass die Wertetypen Universalismus (bezogen auf Personen außerhalb der eigenen Gruppe) und Wohlwollen (bezogen auf Personen, zu denen direkter Kontakt besteht) positiv mit der Anerkennung von Menschenrechten zusammenhängen. Beides sind Wertorientierungen, die eine Überwindung von egoistischen Motiven und das Interesse am Wohlergehen anderer beinhalten. Dagegen stehen die Wertetypen Konformität (Beschränkung von Handlungen, die soziale Erwartungen und Normen verletzen) und Sicherheit (Sicherheit, Harmonie und Stabilität in Gesellschaften und sozialen Beziehungen) in negativer Beziehung zur Anerkennung von Menschenrechten.

Ähnlich problematisch für das Menschenrechts-Bewusstsein ist die Sozialisation von bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen, wie z.B. Autoritarismus oder Soziale Dominanzorientierung: Zentrale Charakteristika einer autoritären Persönlichkeit sind bedingungslose Unterwerfung unter die Normen und Werte von gesellschaftlich anerkannten Autoritäten und Intoleranz und Härte gegenüber Personen, die nicht mit den Normen und Werten der eigenen Gruppe konform gehen (vgl. Altemeyer, 1981; Stellmacher, 2004). Die Theorie der Sozialen Dominanz (Sidanius & Pratto, 1999) versucht u.a. zu erklären, wie Gesellschaften es schaffen, die aus Ungleichheiten entstehenden Gruppenkonflikte zu minimieren. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Modell die Soziale Dominanzorientierung, d.h. Ausmaß, in dem hierarchische Beziehungen zwischen sozialen Gruppen in der Gesellschaft befürwortet werden. Je stärker diese Merkmale ausgeprägt sind, desto problematischer ist dies für Einstellung und Einsatzbereitschaft in Sachen Menschenrechte.

Relevant für die Menschenrechtsbildung ist, dass eine Ursache für die Entwicklung von autoritären Persönlichkeitsstrukturen in der kindlichen und jugendlichen Sozialisation und hier insbesondere in der familiären Moralentwicklung gesehen wird (Hopf, 2000). Soziale Dominanzorientierungen werden nach Sidanius und Pratto (1999) auch durch gesellschaftliche Sozialisationen geprägt. Eine Studie von Stellmacher, Sommer und Imbeck (2003) konnte zeigen, dass Autoritarismus und Soziale Dominanzorientierungen erheblichen Einfluss auf die Wichtigkeitseinschätzung von Menschenrechten besitzen und dadurch auch die Einsatzbereitschaft für Menschenrechte maßgeblich beeinflussen (vgl. Abb. 2): Je höher Autoritarismus und Soziale Dominanzorientierungen ausgeprägt sind, desto geringer werden Menschenrechte als wichtig erachtet und desto weniger sind diese Menschen bereit, sich für Menschenrechte aktiv einzusetzen.

Die geschilderten Befunde zeigen, dass sich bestimmte Werte und Persönlichkeitsmerkmale förderlich bzw. hinderlich auf eine positive Repräsentation der Menschenrechts-Idee auswirken. Eine effektive Menschenrechtsbildung sollte demnach auch weitere Sozialisationsfaktoren in Betracht ziehen. Hier liegt ein wichtiger indirekter Ansatzpunkt für eine positive Menschenrechtsbildung.

Was kann Menschenrechtsbildung bewirken?

In den letzten Jahren gibt es verstärkt Bemühungen, die Menschenrechtsbildung in Deutschland voranzubringen. Dies geschieht insbesondere durch die Arbeitsgruppe Menschenrechtsbildung des »Forum Menschenrechte« und das 2001 gegründete Deutsche Institut für Menschenrechte. Als ein Ergebnis erschien kürzlich das »Handbuch zur Menschenrechtsbildung für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit« (Bundeszentrale für politische Bildung, Deutsches Institut für Menschenrechte & Europarat, 2005). Dieses Buch zeigt sehr vielfältige Vorschläge zur Menschenrechtsbildung auf, eingeschlossen Anregungen zum Aktiv-Werden. Bislang existieren aber keine wissenschaftlichen Evaluationen zu Maßnahmen der Menschenrechtsbildung. Daher ist auch noch unbekannt, was Menschenrechtsbildung bewirken kann. Unsere repräsentativen Ergebnisse zu Wissen, Einstellung und Einsatzbereitschaft in Sachen Menschenrechte haben insgesamt große Defizite aufgezeigt. Danach hatte die UN-Dekade der Menschenrechtserziehung keine bedeutsamen Auswirkungen in Deutschland.

Das Ergebnis einer kleinen Marburger Studie zeigt aber, dass auch wenig aufwendige Menschenrechtsbildung deutliche Effekte haben kann. Im Sommersemester 2005 führten wir ein Seminar durch, das sich u.a. mit dem Thema Menschenrechte befasste. In fünf 90minütigen Sitzungen wurden die Bereiche UNO Menschenrechts-Charta; Wissen, Einstellung und Handlungsbereitschaft bezüglich Menschenrechten; Menschenrechtsbildung; Menschenrechte in den Medien; sowie als konkretes Menschenrechtsbeispiel »Flüchtlinge und Asyl« behandelt. Durch das Seminar konnten das Wissen über Menschenrechte und die Hochschätzung ihrer Wichtigkeit deutlich gesteigert werden. (In den Parallelseminaren »Aggression und Gewalt« sowie »Vorurteile und Rassismus«, die als Kontrollgruppen fungierten, gab es dagegen kaum Veränderungen diesbezüglich.) Darüber hinaus wurden in dem Menschenrechtsseminar auch ethnische Vorurteile und die Diskriminierungsbereitschaft gegenüber Ausländern bedeutsam reduziert. Diese kleine Evaluationsstudie zeigt, dass Menschenrechtsbildung sich auch auf andere relevante inhaltliche Bereiche, die nicht direkt vermittelt wurden, positiv auswirken kann. Zu berücksichtigen ist dabei, dass dieses Seminar im Rahmen des Psychologiestudiums nicht primär auf Menschenrechtsbildung ausgerichtet war und dass nur fünf Sitzungen die Menschenrechte thematisierten. Bei intensiverer und anders strukturierter Menschenrechtsbildung sollten daher stärkere Effekte erwartet werden. Dazu müssten aber Evaluationsstudien durchgeführt werden, die u.a. prüfen sollten, ob eine allgemeine Menschenrechtsbildung auch einen Beitrag z.B. zur Gewaltprävention leisten kann.

Fazit

In Deutschland sind erhebliche Defizite in der Menschenrechtsbildung zu konstatieren. Die wenigen vorliegenden Ergebnisse aus anderen Ländern lassen kaum andere Schlussfolgerungen zu. Zwar ist positiv anzumerken, dass die Idee der Menschenrechte einen hohen Stellenwert besitzt. Wenn aber gleichzeitig nur geringes und die Menschenrechte »halbierendes« Wissen vorhanden ist, besteht die große Gefahr, dass die Menschenrechtsidee durch ein selektives Hervorheben einzelner politischer und bürgerlicher Rechte politisch missbraucht wird. Ein Missbrauch liegt ebenso vor, wenn einzelnen Staaten selektiv Menschenrechtsverletzungen vorgehalten werden. Betont werden muss daher die Universalität und Unteilbarkeit von Menschenrechten: Friede und Gerechtigkeit werden nur dann gefördert, wenn bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte beachtet und handlungsleitend im nationalen und internationalen politischen Geschehen werden. Unter dieser Perspektive ist auch die neoliberale Politik der führenden westlichen Industrienationen zu problematisieren, die nicht nur in den eigenen Ländern, sondern weltweit soziale, wirtschaftliche und kulturelle Menschenrechte ignoriert.

Literatur

Altemeyer, B. (1981): Right-wing authoritarianism. Manitoba: The University of Manitoba Press.

Bundeszentrale für politische Bildung, Deutsches Institut für Menschenrechte & Europarat (2005): Kompass. Handbuch zur Menschenrechtsbildung für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Cohrs, C., Maes, J., Kielmann, S. & Moschner, B. (2004): Predicting human rights attitudes, knowledge, and behavior. Paper presented at the 27<^>th<^*> Annual Scientific Meeting of the International Society of Political Psychology. Lund, Sweden, July 15-18.

Europäisches Universitätszentrum für Friedensstudien, Deutsche UNESCO-Kommission, Österreichischse UNESCO-Kommission (1997): Erziehung für Frieden, Menschenrechte und Demokratie im UNESCO-Kontext. Bonn, Dt. UNESCO-Kommission.

Hopf, C. (2000): Familie und Autoritarismus – zur politischen Bedeutung sozialer Erfahrungen in der Familie. In S. Rippl, C. Seipel & A. Kindervater (Hrsg.): Autoritarismus. Kontroversen und Ansätze der aktuellen Autoritarismusforschung (S. 33-54). Opladen: Leske + Budrich.

Kieselbach, B. (2004): Menschenrechte in Guatemala: Einstellungen, Einsatzbereitschaft und psychologische Einflussvariablen. Marburg, Unveröffentlichte Diplomarbeit.

Lohrenscheit, C. & Rosemann, N. (2003): Perspektiven entwickeln – Menschenrechtsbildung in Deutschland. http://www.institut-fuer-menschenrechte.de (Stand: November, 2004)

McFarland, S. & Mathews, M. (2005): Who cares about Human Rights? Political Psychology, 26, 365-386.

Mihr, A. (2005): Die UN-Dekade für Menschenrechtsbildung – Eine Bilanz. Der Bürger im Staat (Sonderheft Menschenrechte), 55 (1/2), 51-56 (LZPB Baden-Württemberg).

Schwartz, S. H. (1992): Universals in the content and structure of values: Theoretical advances and empirical tests in 20 countries. In M. Zanna (Ed.): Advances in Experimental Social Psychology, Vol. 25 (S. 1-65). San Diego, CA: Academic Press.

Sidanius, J. & Pratto, F. (1999): Social dominance. An intergroup theory of social hierarchy and oppression. Cambridge: Cambridge University Press.

Sommer, G. (1999): Die Menschenrechts-Charta der Vereinten Nationen – Kenntnisse, Einstellungen sowie Präsentationen in deutschen Printmedien. In G. Sommer, J. Stellmacher & U. Wagner (Hrsg.): Menschenrechte und Frieden (S. 39-61). Marburg: Arbeitskreis Marburger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für Friedens- und Abrüstungsforschung.

Sommer, G. (2001): Menschenrechtsverletzungen als Legitimationsgrundlage des Jugoslawien-Kosovo-Krieges? In J.M. Becker & G. Brücher (Hrsg.): Der Jugoslawienkrieg – eine Zwischenbilanz (S. 81-92). Münster: LIT.

Sommer, G., Stellmacher, J. & Brähler, E. (2003): Menschenrechte: Wissen, Wichtigkeit und Einsatzbereitschaft – Ergebnisse einer repräsentativen Befragung in Deutschland. Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, 35, 361-382.

Sommer, G., Stellmacher, J. & Brähler, E. (2005): Menschenrechte in Deutschland: Wissen, Einstellungen und Handlungsbereitschaft. Der Bürger im Staat (Sonderheft Menschenrechte), 55 (1/2), .57-62 (LZPB Baden-Württemberg).

Stellmacher, J., Sommer, G. & Brähler, E. (2005): The cognitive representation of Human Rights: Knowledge, importance and commitment. Peace and Conflict: The Journal of Peace Psychology, 11, 267-292.

Stellmacher, J., Sommer, G. & Imbeck, J. (2003): Psychologische Ansätze zu einer positiven Menschenrechtserziehung – Determinanten der Einsatzbereitschaft für die Einhaltung von Menschenrechten. In E. H. Witte (Hrsg.): Sozialpsychologie politischer Prozesse (S. 143-166). Lengerich: Pabst.

Stellmacher, J. (2004): Autoritarismus als Gruppenphänomen. Zur Aktivierung autoritärer Prädispositionen. Marburg: Tectum.

Dr. Jost Stellmacher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Sozialpsychologie am Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg. Tätigkeitsschwerpunkte sind Intergruppenprozesse, Fremdenfeindlichkeit, Aggression und Gewalt sowie Menschenrechte. Prof. Dr. Gert Sommer ist Professor am Fachbereich Psychologie der Universität Marburg. Er war viele Jahre Vorsitzender des Forum Friedenspsychologie und ist stellvertretender Vorsitzender von W&F. Forschungsschwerpunkte: Psychologische Analysen von Menschenrechten und Feindbildern. Prof. Dr. Elmar Brähler ist Medizinpsychologe und Leiter der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig. Tätigkeitsschwerpunkte sind Psychodiagnostik, Migrantenforschung, ethische Fragen der Reproduktionsmedizin und Untersuchungen zu politischen Einstellungen.

Menschenrechte und Konfliktprävention

Menschenrechte und Konfliktprävention

Zur Diskussion um die UN-Reform

von Silke Voß-Kyeck

Die Erwartungen waren gemischt, die Reaktionen sind größtenteils positiv, die Umsetzung wird möglicherweise sehr ernüchternd sein. Als Kofi Annan vor zwei Jahren 16 ausgewählte Experten beauftragte, globale Sicherheitsbedrohungen zu analysieren und notwendige kollektive Maßnahmen zu empfehlen, waren viele Beobachter skeptisch, ob dieses Gremium unterschiedlichster altgedienter Persönlichkeiten tatsächlich visionäre und gleichermaßen realistische Vorschläge für den Reformprozess der Vereinten Nationen unterbreiten würde.1 Im Rückblick auf die vergangenen Jahre und in Anbetracht der Angriffe auf die UN und das Völkerrecht im Kontext des Irak-Krieges und der neuen Sicherheitsstrategie der US-Regierung – und damit einer drohenden Rückentwicklung zum »Faustrecht« in den internationalen Beziehungen – war diese Skepsis sicherlich berechtigt. Im Dezember 2004 hat jedoch die Expertengruppe unter dem Titel »Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung« eine umfassende und mitunter beängstigende Analyse der seit den Gründungsjahren der UN tief greifend veränderten Welt und größtenteils sehr differenzierte Handlungsempfehlungen vorgelegt. Das Ziel ist eindeutig, die beschädigte Autorität der Vereinten Nationen wiederherzustellen, um den Herausforderungen auf kollektiver Grundlage effektiv begegnen zu können. Das schließt Kritik zu manchen Details nicht aus, sondern ein.

Folgt man den bisherigen Stellungnahmen der Bundesregierung und ihrer diplomatisch-politischen Kampagne für einen deutschen Sitz im Sicherheitsrat, könnte man meinen, die Reform dieses zweifellos anachronistischen Gremiums sei der zentrale Aspekt des Expertenberichts. Diese verkürzte Sicht ist jedoch weder klug noch gerechtfertigt, zumal gerade dies der einzige Punkt ist, bei dem kein Konsens für die Empfehlungen gefunden wurde und die Sicherheitsratserweiterung nur ein Puzzlestein in einem weit größeren Bild ist.

Auch die isolierte Auseinandersetzung mit den Kriterien für die Legalität und Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt wird dem Bericht nicht gerecht, zeigt er doch Lösungsansätze auf, damit es zum Äußersten nicht kommen muss. Das Potenzial der Konfliktprävention und die Bedeutung des Menschenrechtsschutzes für eine »sicherere Welt« bleiben in der Debatte des Expertenberichts bisher völlig unterbewertet und verlangen deshalb eine besonders sorgfältige und kritische Erörterung.

Kollektive Unsicherheit durch grenzüberschreitende Bedrohungen

Ausgangspunkt aller Überlegungen ist ein Begriff von kollektiver Sicherheit, der über die Sicherheit von Staaten hinausgeht und auf drei Grundaussagen beruht:

  • die heutigen Bedrohungen überschreiten nationale Grenzen,
  • kein Staat kann sich alleine schützen und
  • nicht jeder Staat ist stets willens und fähig, seine eigene Bevölkerung zu schützen.

Ein Konsens über die heutigen Bedrohungen wird als Vorbedingung für die Herstellung kollektiver Sicherheit gesehen – und mit der unterschiedlichen Wichtigkeit, die Bedrohungen bislang zugemessen wurde, werden die bisherige Inkonsistenz und Selektivität multilateralen Handelns erklärt.

An erste Stelle setzt der Bericht die wirtschaftlichen und sozialen Bedrohungen durch Armut, Infektionskrankheiten und Umweltzerstörungen, und somit wird auch Entwicklung als erste aller Präventivmaßnahmen zur unabdingbaren Grundlage kollektiver Sicherheit. Dazu kommen zwischen- und innerstaatliche Konflikte, nukleare, radiologische, chemische und biologische Waffen, Terrorismus und grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Die Interdependenz dieser Bedrohungen bestärkt die Notwendigkeit eines neuen Sicherheitsverständnisses zusätzlich.

An der Berechtigung dieser Bedrohungsszenarien kann kaum ein Zweifel bestehen. Ergänzt man aber über die Entwicklungsfrage hinaus das Prinzip kollektiver Sicherheit explizit um die Perspektive »menschlicherSicherheit«, stellt sich die Frage, wie vollständig die Bedrohungsanalyse tatsächlich ist. Denn die Sicherheit von Millionen Menschen weltweit, und Frauen und Mädchen in besonderer Weise, ist durch Verletzungen ihrer elementaren Rechte ganz konkret alltäglich bedroht. Nicht nur delegitimieren systematische Menschenrechtsverletzungen die verantwortlichen Staaten als Elemente des internationalen Systems. Die Gewährleistung aller Menschenrechte für alle Menschen ist das absolut notwendige Minimum, um die Sicherheit und Integrität von Individuen vor Machtmissbrauch zu schützen. Die Menschenrechte sind keine Gefälligkeitsleistungen der Regierungen. Ohne den Schutz des Rechtsstaates, inklusive Mechanismen zur Rechenschaftspflicht, können »Terrorismus-Verdächtige«, GewerkschafterInnen oder AktivistInnen für Zugang zu sauberem Wasser gleichermaßen Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen werden, wie geheime Festnahme, Verhaftung ohne Vorwürfe und Verfahren, Folter und Verschwindenlassen. Die Herausforderung für die Staaten besteht darin, die Sicherheit der Bürger nicht auf Kosten der Menschenrechte verbessern zu wollen, sondern sicherzustellen, dass alle Menschen in den Genuss des gesamten Spektrums ihrer elementaren Rechte gelangen. Wirkliche individuelle wie auch kollektive Sicherheit entsteht erst, wenn Menschenrechte respektiert und geachtet werden.

Umso wichtiger ist es, hervorzuheben, dass der Bericht eine ganze Reihe wichtiger Empfehlungen enthält, die in der Diskussion nicht untergehen sollten. Allem voran steht hier der unmissverständliche Hinweis auf den „klaren Widerspruch“ (290)2 zwischen nur 2 Prozent der Haushaltsmittel für das Hochkommissariat für Menschenrechte und der Charta-Verpflichtung, Menschenrechtsschutz zu einem Hauptziel der UN zu machen. Weniger eine Frage der Kosten als des politischen Willens wäre die sofort umsetzbare Empfehlung, die Hochkommissarin für Menschenrechte regelmäßiger in Debatten des Sicherheitsrates einzubeziehen. Das Hochkommissariat kann nicht nur für die Mandatierung von Friedenseinsätzen, sondern generell für länderspezifische Debatten, Frühwarnung und die Umsetzung menschenrechtsrelevanter Bestimmungen der Sicherheitsratsresolutionen einen unschätzbaren Beitrag leisten. Der vorgeschlagene Jahresbericht des Hochkommissariats über die Menschenrechtslage in »allen« UN-Staaten könnte sowohl zur Entpolitisierung der Debatte in der Menschenrechtskommission beitragen als auch der Arbeit der Sonderberichterstatter und Vertragsorgane deutlich mehr Gewicht verleihen. Dies allerdings führt wieder zurück auf die bisher völlig unzureichenden Ressourcen des Hochkommissariats und den notwendigen politischen Willen, dieses Amt zu stärken.

Herausforderungen für die Gewährleistung kollektiver Sicherheit

Die Schwäche in der Bedrohungsanalyse trägt mit dazu bei, dass die Notwendigkeiten und insbesondere Möglichkeiten für Menschenrechtsschutz und Konfliktprävention, die der Bericht teils ausdrücklich, teils erst auf den zweiten Blick offeriert, in der Diskussion des Berichts deutlich unterbelichtet bleiben und hier beträchtliches Potenzial zu versickern droht.

Eher beiläufig verweist der Bericht beispielsweise auf die Notwendigkeit, Frauen angesichts der massenhaften Anwendung sexueller Gewalt in Konflikten besonders zu schützen, oder in Friedensverhandlungen und -prozesse stärker einzubinden. Dies wird der Bedeutung, die Frauen bei der Verhütung und Beilegung von Konflikten und bei der dauerhaften Friedenskonsolidierung (und damit auch kollektiver Sicherheit im Sinne des Berichts) spielen können, nicht gerecht. Die Empfehlungen der vom Sicherheitsrat schon im Jahr 2000 beschlossenen Resolution 1325, deren Umsetzung die Expertengruppe en passant befürwortet, sehen dementsprechend vor, dass Frauen auf allen nationalen, regionalen und internationalen Entscheidungsebenen der Prävention, Konfliktbeilegung und Friedenskonsolidierung verstärkt eingebunden werden und eine Gender-Perspektive in allen Prozessen der Friedenssicherung systematisch integriert und implementiert wird.

Deutlicher ist der Bericht hingegen in seiner Forderung nach rechtsverbindlichen Vereinbarungen zur Kennzeichnung, Rückverfolgung, Vermittlung und zum Transfer von Kleinwaffen und leichten Waffen. Weltweit werden jedes Jahr eine halbe Million Menschen durch Waffengewalt getötet – ein Mensch pro Minute. Regierungen, die lautstark vor der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen warnen, tragen gleichzeitig durch den hemmungslosen Transfer von konventionellen Waffen, darunter Kleinwaffen, zur Eskalation von Konflikten rund um den Erdball bei. Für eine effektive Krisenprävention ist die verbindliche Kontrolle von Klein- und Leichtwaffen – die als echte Massenvernichtungswaffen angesehen werden müssen – eine absolut notwendige Voraussetzung. Umso wünschenswerter wäre es, dass sich die Bundesregierung auch diese Empfehlung des Berichts zu Eigen macht und sich der Unterstützung für ein rechtlich verbindliches internationales Rüstungskontrollabkommen anschließt. Nur einheitliche Standards für den Waffenhandel und das Verbot aller Exporte, die zur Verletzung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts beitragen, können zu einer globalen Lösung für ein globales Problem führen.

Dass die Experten sich auf eine Definition des Terrorismus-Begriffs einigen konnten, ist nicht nur von Kofi Annan ausdrücklich begrüßt worden. Der präventive Aspekt einer eindeutigen Definition wird allerdings bisher wenig reflektiert. Eine solche Definition würde es vielen Staaten schwerer machen, Menschenrechtsverletzungen als notwendiges Mittel bei der »Terrorismusbekämpfung« zu rechtfertigen. Und sie ist eine Voraussetzung für eine umfassende, an den Ursachen ansetzende Strategie, die zugleich in einen strikten menschenrechtlichen Rahmen eingebunden sein muss.

Weitaus offensiver ist der Bericht in seiner Analyse der Defizite der UN bei der Prävention von zwischen- und innerstaatlicher Konflikten und entsprechenden Lösungsvorschlägen. Die Bedeutung präventiver Diplomatie und professioneller Vermittlung ist unbestritten, sie verlangt jedoch nach ausreichenden Kapazitäten und kompetenter Ausbildung, was bisher durch die „bewusst unzureichende Mittelausstattung“ (102) durch die Mitgliedstaaten verhindert wird. Aus menschenrechtlicher Perspektive besonders zu betonen ist die herausgehobene Rolle der Rechtsstaatlichkeit und entsprechender Unterstützung beim Kapazitätsaufbau in den Staaten. Insbesondere für Nachkonfliktsituationen macht der Bericht sehr deutlich, dass die Herstellung „ziviler Sicherheit durch Polizei-, Justiz- und Rechtsstaatsreform (und der) Aufbau örtlicher Kapazitäten für Menschenrechte und Aussöhnung“ (229) von außerordentlicher Bedeutung für die Realisierung von Menschenrechten und die langfristige Friedenskonsolidierung sind.

Vor diesem Hintergrund und angesichts einer institutionellen Lücke bei der Verhinderung des Wiederaufflammens einmal beigelegter Konflikte stellt die Forderung, eine „Kommission für Friedenskonsolidierung“ einzurichten, die zentrale Empfehlung der Experten dar. Unter der Voraussetzung, dass hier tatsächlich eine Koordinationsfunktion und nicht nur eine neue Ebene politischer Bürokratie etabliert wird, und dass auch die Hochkommissarin für Menschenrechte ausdrücklich einbezogen wird, verdient dieser Vorschlag zweifellos weitere Diskussionen. Über den institutionellen Fragen sollten jedoch die politisch und finanziell weniger bequemen Empfehlungen – neben den genannten Rechtsstaatsinvestitionen auch Ressourcen für Entwaffnungs- und Demobilisierungsprogramme, Wiedereingliederung und Rehabilitation – nicht vernachlässigt werden.

Den Finger in die Wunde legen die Experten schließlich auch mit ihrer Kritik an der bisherigen Sanktionspraxis des Sicherheitsrates. Je öfter in den letzten Jahren auf dieses Mittel zurückgegriffen wurde, umso deutlicher wurden die Unzulänglichkeiten vor allem in der Umsetzung: selektiv verhängt, nicht zielgenau eingesetzt und weder konsequent umgesetzt noch überwacht. Viel eher als einen Willen zur Prävention von Konflikten belegt diese Praxis die politischen und ökonomischen Partikularinteressen der Sicherheitsratsmitglieder. Nur ein aktuelles Beispiel: Während in der Elfenbeinküste, bedingt durch spezielle Interessen eines einzelnen Mitglieds, ein effektives Sanktionsregime mit allen notwendigen Überwachungsressourcen implementiert werden kann, wird im Sudan auf Intervention einer Vetomacht einer der Hauptverantwortlichen für schwerste Menschenrechtsverletzungen gezielt vom Waffenembargo ausgenommen. Diese Praxis hat der Legitimität von Sanktionen erheblich geschadet. Die daraus folgenden Empfehlungen der Expertengruppe sind ebenso nahe liegend wie eindringlich: routinemäßige Überwachungsmechanismen mit der erforderlichen Autorität und Ermittlungskompetenz, ausreichende Analysekapazitäten für die gezielte Ausrichtung, Sekundärsanktionen für Sanktionsbrecher und regelmäßige Bewertung der humanitären Auswirkungen von Sanktionen. Allein schon mit der konsequenten Umsetzung dieser Empfehlungen hätte der Sicherheitsrat nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen zur Hand, die den Einsatz von Gewalt als »ultima ratio« Lügen strafen.

Die Gewaltfrage

Stellung zu beziehen zu der Frage, wann die Anwendung von Gewalt sowohl rechtmäßig als auch legitim ist, war mit Blick auf die jüngsten militärischen Interventionen wie auch auf die Bestimmung des Souveränitätsbegriffs zweifellos eine große Herausforderung an das Panel. Die Expertengruppe macht sich hier ganz deutlich das Souveränitätskonzept zu Eigen, das 2001 von der »International Commission on Intervention and State Sovereignty« (ICISS) formuliert wurde und Souveränität nicht nur als Abwehrrecht gegen Einmischung von außen definiert, sondern auch als Pflicht eines Staates, seine Bevölkerung zu schützen („responsibility to protect“).3 Mit dem Bezug auf diese „sich herausbildende Norm“ (203) einer kollektiven internationalen Schutzverantwortung und dem Rückverweis auf die Bedrohungsanalyse ist es letztlich folgerichtig, dass selbst präventive kollektive Gewalt von den Experten nicht grundsätzlich ausgeschlossen wird. Die normativen Grenzen werden jedoch eindeutig gesteckt: Weder eine Neufassung des Gewaltverbots in Art. 51 der Charta noch eine Neufassung des mit Kapitel VII gewährten Handlungsspielraumes wird für notwendig erachtet. Und ebenso deutlich wird der Sicherheitsrat als einzige Quelle der Autorität akzeptiert. Hier kommt die »Weisheit« der Experten tatsächlich zum Ausdruck: Jeder Vorschlag zur Änderung der Charta im Hinblick auf das Gewaltverbot und kollektive militärische Zwangsmaßnahmen hätte die Büchse der Pandora geöffnet und mit großer Wahrscheinlichkeit der noch verbliebenen Autorität des Sicherheitsrates den Todesstoß versetzt. Sie taten also gut daran, unmissverständlich den mit Art. 51 und Kapitel VII bestimmten völkerrechtlichen Rahmen zu bekräftigen.

Angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre konnte das Panel aber zugleich Antworten auf die Legitimitätsfragen nicht verweigern. Inkonsistent, ineffizient, oft zu spät, zu zögerlich oder überhaupt nicht – so die schonungslose Analyse des bisherigen Handelns des Sicherheitsrates in Fällen so genannter humanitärer Interventionen. Somit ging es den Experten nicht darum, „Alternativen zum Sicherheitsrat als Quelle der Autorität zu finden“, sondern darum, „dafür zu sorgen, dass er besser funktioniert als bisher“ (198), und darum, dass seine folgenreichen Resolutionen „besser getroffen, besser begründet und besser kommuniziert werden“ (205). Möglich werden soll dies durch die Festlegung auf fünf Legitimitätskriterien, die ebenso wie der Souveränitätsbegriff eng den Vorgaben der ICISS angelehnt sind:

  • der Ernst der Bedrohung,
  • die Redlichkeit der Motive,
  • die Anwendung als letztes Mittel,
  • die Verhältnismäßigkeit der Mittel und
  • die Angemessenheit der Folgen.

Obwohl diese der Theorie des »bellum iustum« folgenden Kriterien weder falsch noch neu sind, bleiben dennoch ernstzunehmende Zweifel, ob damit sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingungen etabliert werden können. So fehlt beispielsweise die explizite Verpflichtung auf Einhaltung des humanitären Völkerrechts bei allen Zwangsmaßnahmen. Und bei der Schwere der Bedrohung bleibt unbegründet, warum hier nicht bereits den im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs völkerrechtlich kodifizierten Standards (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen) gefolgt wird.

Eine wichtige Schlussfolgerung in Bezug auf diese Maßstäbe bleibt der Bericht ohne Zweifel schuldig – dass keine der Interventionen der letzten fünfzehn Jahre den Kriterien standgehalten hätten. Allein diese Erkenntnis macht in dieser Frage einen Konsens der Staatengemeinschaft höchst unwahrscheinlich.

Perspektiven

Auch wenn die Analyse sehr differenziert ist und die Experten versuchen, dort, wo bisher breiter Interpretationsspielraum bestand, engere Grenzen zu ziehen – insbesondere bei der Legitimierung militärischer Gewalt, der Verhängung von Sanktionen und der Definition von Terrorismus –, sind die Inhalte des Berichts weder neu noch revolutionär. Dies spricht allerdings eher für den Realitätssinn der Experten; denn alles andere wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Entscheidend ist die in jeder Hinsicht berechtigte Eindringlichkeit, mit der auf den notwendigen Wandel verwiesen wird.

So ist es aus menschenrechtlicher Perspektive sehr zu wünschen, dass die Halbwertzeit des Berichts über das Gipfeltreffen im Herbst 2005 hinausreicht. Auch Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaft müssen dazu beitragen und sich nachdrücklich äußern. Viele der Empfehlungen ließen sich unmittelbar umsetzen, andere bedürfen eines förmlichen Beschlusses durch die Generalversammlung. Die »Vereinten Nationen« stehen aber sowohl für die Organisation als solche wie auch für die »Gemeinschaft« von 191 Staaten mit höchst unterschiedlichen Bedrohungsperzeptionen, Kapazitäten und ökonomischen Interessen. Es wäre illusorisch zu hoffen, dass tatsächlich von einer breiten Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten der politische Wille aufgebracht wird, sich umfassend an die Expertenempfehlungen zu binden. Die Panelmitglieder selber lassen keinen Zweifel, wovon die kollektive Sicherheit abhängen wird: „Die … Reformen werden für sich allein genommen die Vereinten Nationen nicht wirksamer machen. … Ihre Institutionen werden nur so stark sein wie die Energie, die Ressourcen und die Aufmerksamkeit, die die Mitgliedstaaten und deren Führer auf sie verwenden“.4

Die Bundesregierung täte gut daran, schnellstmöglich über den Tellerrand ihres Strebens nach einem Sicherheitsratssitz hinauszuschauen und auch die anderen Aspekte der Expertenempfehlungen ebenso energisch voranzutreiben. Dabei hätte sie durchaus Referenzen einzubringen – etwa die deutlich ausgebauten zivilen Krisenpräventionskapazitäten und zumindest theoretisch neue Ansätze der Entwicklungspolitik. Sonst droht mit provinzieller Kurzsichtigkeit die Chance vertan zu werden, wirklich etwas für eine sicherere Welt beizutragen.

Anmerkungen

1) Den Vorsitz der »Hochrangigen Expertengruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel« hatte Anand Panyarachun (ehem. Premierminister Thailands). Die weiteren Mitglieder: Robert Badinter, Joao Clemente Baena Soares, Gro Harlem Brundtland, Mary Chinery-Hesse, Gareth Evans, David Hannay, Enrique Iglesias, Amre Moussa, Satish Nambiar, Sadako Ogata, Jewgenij Primakow, Qian Qichen, Nafis Sadik, Salim Ahmed Salim, Brent Scowcroft.

2) Die Ziffern verweisen auf die nummerierten Absätze des Berichts.

3) Der entsprechende Kommissionsbericht ist verfügbar unter: http://www.iciss.ca [01.03.05]

4) Zusammenfassung des Berichts.

Dr. Silke Voß-Kyeck, Politologin, ist Fachreferentin für Lobbyarbeit im Generalsekretariat der deutschen Sektion von amnesty international und koordiniert u.a. die Arbeit der Sektion zu internationalen Organisationen.

Der Wegfall des Zivildienstes muss nicht mehr schrecken

Der Wegfall des Zivildienstes muss nicht mehr schrecken

Kommission »Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr« am IFSH

von IFSH

In Kürze wird der Bundestag über ein »Zweites Gesetz zur Änderung des Zivildienstgesetzes und anderer Gesetze« beraten. Die Überschrift des Gesetzespakets erstaunt ebenso wie die Zuständigkeit in diesem Verfahren. Erstmalig haben bei substanziellen Änderungen im Wehrrecht nicht das Verteidigungsministerium und der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages, sondern das für den Zivildienst zuständige Familienministerium und der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Federführung. Offensichtlich geht es bei den Regelungen für die Wehrpflicht inzwischen weniger um den Dienst in der Bundeswehr als um den Dienst der Kriegsdienstverweigerer. Die Bundeswehr stellt sich nämlich bereits seit der Anweisung des Verteidigungsministers vom Januar 2004 an seinen Generalinspekteur, die neue Bundeswehrstruktur so auszurichten, dass sie auf Grundwehrdienstleistende nicht länger angewiesen ist, auf den Wegfall der Wehrpflicht ein.

Auch der Wegfall des Zivildienstes – als Folge dieser Entscheidung – hat längst seinen Schrecken verloren. Zwischen Staat und Wohlfahrtsverbänden wird heute praktisch nur noch um die Konditionen des Übergangs gerangelt. Vor allem geht es um die finanzielle Unterstützung der Umstellung, also konkret darum, wie die bisher für den Zivildienst ausgegebenen Haushaltsmittel des Bundes für die sozialen Dienstleistungen erhalten bleiben können, und um den Zeitpunkt. Überraschend haben im Januar einige Wohlfahrtsverbände das Jahr 2008 als Zeitpunkt des Ausstiegs aus Wehrpflicht und Zivildienst genannt. Bis dahin sei eine reibungslose Umstellung möglich. Die Bundesregierung hat diesen Termin nicht bestätigt, aber eben auch nicht dementiert. Als Fixpunkt für Planungen scheint er deshalb sehr nützlich zu sein.

Renate Schmidt ist durch das anstehende Gesetzgebungsverfahren unversehens federführende Ministerin bei der Novellierung des Wehrpflichtgesetzes geworden. Dabei ist sie eine ausgewiesene Wehrpflichtgegnerin. „Ich halte die Wehrpflicht für überholt, sie ist nicht mehr länger das richtige Modell für Deutschland,“ schrieb sie im Juni 2003 in einem Gastkommentar für die »Financial Times Deutschland«. Als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist sie aber für den Zivildienst zuständig und verantwortet weit mehr Einberufungen im Rahmen der Wehrpflicht als der Verteidigungsminister. Während der Verteidigungsminister in diesem Jahr 73.500 Dienstposten mit 83.000 Grundwehrdienstleistenden und freiwillig länger dienenden Wehrdienstleistenden besetzen will, plant die Familienministerin für 93.000 Dienstplätze über 120.000 Einberufungen. Dabei hat die jetzige Bundesregierung die „größtmögliche Gerechtigkeit und Gleichbehandlung“ von Wehr- und Zivildienstpflichtigen als Maxime im Koalitionsvertrag von 2002 festgeschrieben. Wenn rund 50 Prozent mehr zum Zivildienst als zum Grundwehrdienst einberufen werden, ist die Verletzung der den Kriegsdienstverweigerern zugesagten Gleichbehandlung mehr als offensichtlich.

Während Renate Schmidt Schwierigkeiten hat, mit der schnellen Reduzierung von Dienstposten für Grundwehrdienstleistende Schritt zu halten und sich so die Frage nach der Einberufungsgerechtigkeit stellt, ist die Frage der Wehrgerechtigkeit längst aus dem Ruder gelaufen. Zielvorgabe für die Restwehrpflicht ist die Einberufung von rund 55.000 Wehrpflichtigen pro Jahr. Bei Jahrgängen von durchschnittlich etwa 415.000 Männern wird auf den ersten Blick schon deutlich, dass das Gebot der Gleichbehandlung, unter das das Bundesverfassungsgericht die Durchführung der Wehrpflicht gestellt hat, nicht erfüllt werden kann. So ist heute unbestritten, dass von den tauglich gemusterten und für den Grundwehrdienst verfügbaren Wehrpflichtigen nur noch jeder Zweite einberufen werden kann. Die Wehrverwaltung findet immer neue Ausnahmeregelungen, um den Überschuss an Wehrpflichtigen sozialverträglich verwalten zu können, beispielsweise durch die Freistellung Verheirateter oder von Vätern. Mit der beabsichtigten Streichung des Tauglichkeitsgrades 3 werden von jedem Geburtsjahrgang rund 33.000 eigentlich taugliche Wehrpflichtige und noch einmal ebenso viele eigentlich taugliche Zivildienstpflichtige einfach für „dauernd nicht wehrdienstfähig“ erklärt mit der Folge, dass sie keinen Dienst mehr leisten müssen. Gerechter wird die Wehrpflicht dadurch allerdings nicht.

Der Zivildienst stellt mit 93.000 Arbeitskräften bei den sozialen Dienstleistern eine scheinbar beachtliche Mitarbeitergruppe, die aber sofort an Gewicht verliert, wenn man weiß, dass allein bei den Wohlfahrtsverbänden 1,2 Millionen Menschen arbeiten. Insgesamt machen Zivildienstleistende rund fünf Prozent der Mitarbeiter in staatlichen und wohlfahrtsverbandlichen sozialen Einrichtungen aus. Vor fünf Jahren (Mitte 1999) waren sogar über 150.000 Zivildienstleistende im Dienst. Der Abbau von knapp 60.000 Zivildienstleistenden war möglich und gelang durch den Einsatz anderer Arbeitskräfte. Öffentlich wurde und wird über diese gelungene Konversion aber nur wenig geredet.

Vorschläge für Ausstiegsszenarien aus dem Zivildienst

Im Januar 2004 übergab die Kommission »Impulse für die Zivilgesellschaft« ihren Bericht »Perspektiven für Freiwilligendienste und Zivildienst in Deutschland«. Rund 100 Fachleute aus Bundes- und Landesministerien, aus Wohlfahrtverbänden und Freiwilligendiensten hatten ein dreiviertel Jahr lang über die Zeit »nach der Wehrpflicht« beraten und dann Vorschläge unterbreitet, die den Übergang zur wehrpflichtfreien Gesellschaft möglich machen. Einvernehmen bestand und besteht bei allen Fachleuten – auch bei denen der Wohlfahrtsverbände –, dass soziale Dienstleister auf Zivildienstleistende als Hilfskräfte nicht angewiesen sind.

Nach den Empfehlungen der Kommission sollen bis zum Wegfall der Wehrpflicht – und in der Folge: des Zivildienstes – Korrekturen am heutigen Zivildienst vorgenommen werden, um den Übergang zu erleichtern. So wird die Zivildienstdauer an die Wehrdienstdauer angepasst, und der Zivildienst soll zu einem »Lerndienst« weiterentwickelt werden. Dabei sollen die Ausbildungsanteile im Zivildienst dem Umfang der Ausbildungselemente der Freiwilligendienste angeglichen werden.

Von großer Bedeutung ist das öffentliche Eingeständnis, dass Zivildienstleistende nicht »billige Arbeitskräfte« sind, sondern dass ein besetzter Zivildienstplatz pro Jahr rund 15.000 Euro kostet. Davon tragen der Bund gut 8.000 und die Einsatzstellen knapp 7.000 Euro. Seit langem herrscht Einigkeit darüber, dass bei einem Ersatz der Zivildienstleistenden durch reguläre Dauerarbeitskräfte ein Verhältnis von zwei zu drei angenommen werden muss, zwei Dauerarbeitskräfte ersetzen drei Zivildienstleistende. Ein solches Verhältnis ist möglich, weil durch die alle neun Monate wechselnden Zivildienstleistenden erhebliche Arbeitszeit für Einarbeitung, Lehrgänge und fachliche Anleitung verloren geht, die bei Dauerarbeitskräften nur einmalig anfällt. 90.000 Zivildienstleistende könnten also durch 60.000 Dauerarbeitskräfte ersetzt werden. Auf Zivildienstplätzen arbeiten – auch das wird inzwischen sehr realistisch gesehen – Mitarbeiter ohne einschlägige berufliche Vorbildung und in der Regel ohne Arbeitserfahrung. Die Tätigkeiten der Zivildienst-Arbeitsplätze sind so strukturiert, dass sie innerhalb zweier Monate erlernt werden können. Die bei einem Wegfall des Zivildienstes neu zu schaffenden Arbeitsplätze sind also besonders geeignet für Menschen mit geringer oder gar keiner beruflichen Qualifizierung, also für Menschen, für die auf dem heutigen Arbeitsmarkt kaum Arbeitsplätze angeboten werden.

Während für drei Zivildienstleistende 45.000 Euro im Jahr ausgegeben werden, belaufen sich die Arbeitgeberkosten für eine junge Hilfskraft auf deutlich unter 25.000 Euro pro Jahr. Zivi ldienstleistende können also durch reguläre Arbeitskräfte ersetzt werden, ohne das Mehrkosten entstehen – im Gegenteil. Volkswirtschaftlich werden Arbeitslosengeld und Sozialleistungen für 60.000 dann nicht mehr arbeitslose Menschen eingespart.

In der Fachdiskussion wird aber nicht davon ausgegangen, dass alle Zivildienstplätze durch reguläre Dauerarbeitskräfte ersetzt werden. Angenommen wird, dass sich in der Praxis ein »Mix« ergibt aus Vollzeitarbeitsplätzen, Teilzeitarbeitsplätzen und Mini-Jobs, Freiwilligendiensten und ehrenamtlichen Tätigkeiten.

Vollzeitarbeitsplätze werden überall dort entstehen, wo Zivildienstleistende in der Basisversorgung eingesetzt werden, zum Beispiel im Hol- und Bringedienst eines Krankenhauses, in der Hausmeisterei, Küche oder Wäscherei von Altenheimen, in Notrufzentralen usw.

Mini-Jobs und Teilzeitarbeitsplätze dürften eingerichtet werden in Arbeitsbereichen, in denen es zeitliche Arbeitsschwerpunkte gibt, so zum Beispiel bei »Essen auf Rädern« oder im Behindertenfahrdienst usw.

Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus Freiwilligendiensten werden vermutlich dort tätig werden, wo auch Zivildienstleistende bisher interessante Lernfelder vorfanden, zum Beispiel in der so genannten ISB-K, der individuellen Schwerstbehindertenbetreuung bei Kindern (Begleitung von behinderten Kinder in Regelkindergärten und Regelschulen), in Umwelteinrichtungen oder für Tätigkeiten, »die ein bisschen Farbe in das Grau des Heim- oder Krankenhauslebens bringen« wie Besuchs-, Vorlese- und Veranstaltungsbegleitdienste usw.

Ehrenamtliche werden an den Stellen Zivildienstleistende ersetzen können, an denen echte Zusatztätigkeiten übernommen wurden, so zum Beispiel der Baumschnittkurs eines Umweltverbandes, die Theaterbegleitung in einer Alteneinrichtung usw.

Es ist zu erwarten, dass die Umstellung auf diesen Mix an »Ersatzkräften« wie schon die bisherige Reduzierung des Zivildienstes fast geräuschlos über die Bühne gehen wird. Und in Wirklichkeit handelt es sich um die Rückkehr zur Normalität einer freiheitlichen Gesellschaft, die auf freiwillige Mitarbeit setzt.

Klares Nein zur allgemeinen Dienstpflicht

Im Zusammenhang mit dem möglichen Wegfall des Zivildienstes haben die Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt sich in der »Bild-Zeitung« für die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht ausgesprochen. Ob die Ministerpräsidenten nun der Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu unterstellen wären, sei dahingestellt. Zumindest sind ihre Stellungnahmen eindeutig nicht durch die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland gedeckt.

Artikel 12 Grundgesetz verbietet die Einführung eines sozialen Pflichtjahres: „Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden“. Aber auch eine Änderung des Grundgesetzes – möglich nur mit einer Zweidrittel-Mehrheit – würde die Einführung eines sozialen Pflichtjahres in Deutschland nicht ermöglichen. Internationale Menschenrechtskonventionen gelten in Deutschland wie nationales Recht. Die Bundesrepublik Deutschland müsste vor der Einführung eines »sozialen Pflichtjahres« die Geltung der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte von 1966, des Übereinkommens über Zwangs- und Pflichtarbeit vom 26.6.1961, des Übereinkommens über die Abschaffung der Zwangsarbeit vom 25.6.1957, die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarates vom 4.11.1950 aufheben. Als Ausnahmen sind national wie international nur der Zwang zum Wehrdienst sowie in Strafverfahren festgelegte Arbeitsauflagen zugelassen. Der Vorschlag, dass ausgerechnet unser Land mit seiner historischen Belastung sich über das Verbot von Zwangs- und Pflichtdiensten hinwegsetzt, ist geschichtsvergessen und eine Absage an die zivilisierte Welt. Naturalleistungen zwangsweise einzufordern ist ein Rückfall in Zeiten der mittelalterlichen Frondienste. Derzeit gibt es ein solches Pflichtjahr weltweit nur im diktatorischen Burma.

Aber auch ganz praktische Überlegungen zeigen schnell, dass die Vorschläge der Ministerpräsidenten völlig ungeeignet sind, den Zivildienst zu ersetzen: Völlig aus dem Blick gerät üblicherweise die Größenordnung eines »sozialen Pflichtjahres«. Rund 800.000 Männer und Frauen umfasst ein durchschnittlicher Geburtsjahrgang. Rund 100.000 dürften – aus welchen Gründen auch immer – für eine Dienstpflicht nicht in Frage kommen. Rund 100.000 könnte die Bundeswehr und rund 100.000 der bisherige Zivildienst aufnehmen, da es im Falle der Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht wohl bei der faktischen Beibehaltung der Wehr- und Zivildienstpflicht bleiben würde. Wer ein »soziales Pflichtjahr« fordert, muss also ein Organisationsmodell entwickeln, das pro Jahr 500.000 junge Erwachsene zusätzlich zum bestehenden Wehr- und Zivildienst für einen Zeitraum von rund einem Jahr unterbringt.

Wenn etwas »verpflichtend« ist, muss gleichzeitig kontrolliert werden, dass alle das »soziale Pflichtjahr« auch wirklich machen. Staatliche Pflichtdienste bedeuten zum einen im Umkehrschluss auch staatliche Fürsorge (Krankenschutz, Haftpflicht etc.) mit den entsprechenden Verwaltungen. Zum anderen müssen Sanktionen für diejenigen vorgesehen werden, die der Pflicht nicht nachkommen. Geldstrafen kommen dabei nicht in Frage, weil sie für Reiche ein »Freikaufen« ermöglichen würden. Es bleibt wie beim Wehrdienst nur die angedrohte Freiheitsstrafe als adäquates Sanktionsmittel.

Junge Erwachsene dürften im »sozialen Pflichtjahr« etwa so viel kosten wie die heutigen Grundwehr- und Zivildienstleistenden oder wie die MitarbeiterInnen im Freiwilligen Sozialen Jahr. Rund 15.000 Euro werden für diese Pflicht- und Freiwilligendienste pro Person und Jahr veranschlagt. Getragen wird dieser Betrag bisher je nach Dienstart zu unterschiedlichen Anteilen von den Einrichtungen und über die öffentliche Hand. Ein »soziales Pflichtjahr für alle« würde 7,5 Milliarden Euro (500.000 Dienstpflichtige mal 15.000 Euro und Jahr) kosten, zusätzlich zu dem Geld, was heute schon für Grundwehrdienst und Zivildienst ausgegeben wird.

Mit den 7,5 Milliarden Euro, die ein Pflichtjahr kosten würde, ließen sich rund 300.000 neue tariflich bezahlte Arbeitsplätze auf einem dem Zivildienst vergleichbaren Niveau (Hilfs- und Zuarbeiten, rund 25.000 Euro Arbeitgeberbrutto) schaffen. Eine Reduzierung der Arbeitslosenzahlen um 300.000 hätte darüber hinaus eine erhebliche Entlastungswirkung für die Sozialkassen. Oder es könnten auch 150.000 FacharbeiterInnen mit 50.000 Euro Arbeitgeberbrutto neu eingestellt werden.

Ein »soziales Pflichtjahr für alle« verzögert den Berufseinstieg um ein Jahr und verkürzt die erreichbare Lebensarbeitszeit entsprechend. Rentenberechnungsmodelle müssten das entsprechend berücksichtigen. Volkswirtschaftliche Studien gehen davon aus, dass ein um ein Jahr späterer Berufseinstieg einen Einkommensnachteil von gut 90.000 Euro – bezogen auf die Lebensarbeitszeit – ausmacht. Entsprechend geringer sind dann auch die Leistungen in die Sozialversicherungskassen.

Die Fachdiskussion ist sich in der Frage der Bewertung von Pflichtdiensten weitgehend einig. Sie werden als völlig ungeeignet abgelehnt. „Die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht anstelle der Wehrpflicht durch Verfassungsänderung bzw. die Einbeziehung junger Frauen in die allgemeine Wehrpflicht hält die Kommission nicht nur für völkerrechtswidrig, sondern für einen grundsätzlich falschen Weg, Eigeninitiative, Mitgestaltung und Beteiligung aller Altersgruppen in der Zivilgesellschaft zu fördern“, schreibt die Kommission »Impulse für die Zivilgesellschaft« quasi als Präambel zu ihrem Bericht.

Blick zu den europäischen Nachbarn

In verschiedenen Nachbarländern Deutschlands wurde in den letzten Jahren die Wehrpflicht und damit auch der Zivildienst – im Umfang dort aber jeweils deutlich kleiner als in Deutschland – abgeschafft. Die Diskussion um den Umbau sozialer Dienstleistungen und deren Finanzierung fand und findet in diesen Ländern ebenso wie in Deutschland statt. Dabei spielte der wegfallende Zivildienst aber nur eine völlig untergeordnete Rolle. Bedeutsamer war die Diskussion, welche Angebote Jugendlichen gemacht werden können, um ihre Bereitschaft zu freiwilligem Engagement aufzugreifen. Dass diese Diskussion aber weitgehend unabhängig von der Diskussion um die Wehrpflicht stattfindet, zeigt das Beispiel Englands, das seit 1957 keine Wehrpflicht mehr hat. Frankreich, Belgien, die Niederlande und England sind zu unterschiedlichen Lösungen gekommen, meistens einem »Mix« aus Maßnahmen zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit und gezielten Angeboten an Freiwilligendiensten. Letztlich spielte der Wegfall des Zivildienstes für soziale Dienstleister und Gesellschaft keine große Rolle, weil Problembereiche wie Jugendarbeitslosigkeit und Lösungen zur Verbesserung freiwilligen sozialen Engagements die weit wichtigeren gesellschaftspolitischen Fragestellungen sind.

Fazit

Die Kommission »Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr« begrüßt die Weichenstellung für den Wegfall des Zivildienstes. Weder gibt es heute noch eine tragfähige sicherheitspolitische Begründung für die Beibehaltung der Wehrpflicht, noch erweist es sich als nötig, an der Verpflichtung junger Männer zu Ersatzdiensten weiter festzuhalten. In einem europäischen Sicherheitssystem sind Zwangsdienste entbehrlich. Die Mehrheit der europäischen Staaten hat diese Erkenntnis bereits umgesetzt. Nun ist Deutschland am Zug.

Kommission »Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr« am Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH)

Einzelfall oder System?

Einzelfall oder System?

Folter in Abu Ghraib

von Gert Sommer

Im Gefängnis Abu Ghraib haben Angehörige der US-Armee systematisch irakische Gefangene gefoltert, u.a. durch Schläge, Isolation, Schlafentzug, Einsetzen von Hunden (für Muslime unreine Tiere), Zwingen zu stundenlangen schmerzvollen körperlichen Haltungen, Aufsetzen von Kapuzen und Androhung von Exekution. Die US-Regierung versucht dies – wider besseres Wissen – als das Fehlverhalten einiger weniger Soldaten darzustellen.

„Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“

(Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 5 UNO, 1948)

Abu Ghraib ist jedoch kein Einzelfall. Im Verlauf des sog. Kampfes gegen den Terrorismus sind mindestens 10.000 Menschen außerhalb der USA in Lagern interniert. Besonders bekannt wurde der US-Stützpunkt Guantánamo auf Kuba, in dem seit über zwei Jahren Menschen ohne jegliche Rechte festgehalten werden.

In Abu Ghraib wurden unmenschliche Methoden eingesetzt, die für Muslime eine besondere Erniedrigung darstellen, z.B. unbekleidet zur Schau gestellt und zu sexuellen Handlungen gezwungen zu werden, und dies z.T. auch in Anwesenheit von Frauen. Traumatische Erfahrungen dieser Art stellen nicht nur aktuell für die Betroffenen eine ungeheuerliche Schande dar, sie führen zudem – neben physischen Schäden bis hin zum Tod (über 30 Gefangene sind in US-Gefangenschaft in Afghanistan und Irak umgekommen) – mit großer Wahrscheinlichkeit mittel- und langfristig zu psychischen Auffälligkeiten wie ständige Übererregtheit, psychische Taubheit und unkontrolliertes Wiedererleben der Erfahrungen, zu sog. posttraumatischen Belastungsstörungen, Ängsten und psychosomatischen Störungen, Depressionen bis hin zu Suizid.

Die Täter – Soldaten und Wachpersonal – scheinen im Zivilleben relativ normale Bürger gewesen zu sein. Was aber motivierte dann ihre Taten? Eine nahe liegende Erklärung, dass hier Sadisten ihre perversen Neigungen auslebten, dürfte kaum angemessen sein. Die psychologische Forschung hat angemessenere Erklärungsmöglichkeiten:

Gehorsam

Die Täter haben auf Befehl gehandelt, und Gehorsam ist eines der wichtigsten Ziele militärischer Ausbildung. Hinzu kommen können Angst vor Bestrafung bei Befehlsverweigerung und Furcht vor sozialem Ausschluss aus der Bezugsgruppe. Die Gehorsamsexperimente von Stanley Milgram haben gezeigt, dass die Mehrheit der Menschen auf Anweisung eines »Wissenschaftlers« bereit ist, anderen Menschen beträchtliche körperliche Schmerzen zuzufügen, etliche sogar bis hin zur (scheinbaren) Tötung des Opfers.

Machtgefälle

In Gefängnissen besteht ein extremer Machtunterschied zwischen Wärtern und Gefangenen. Das Gefühl der eigenen Macht, Stärke und Überlegenheit scheint für viele Menschen eine große Versuchung darzustellen (dies mag für die Täter von Abu Ghraib, mehrheitlich aus der Unterschicht der USA – sog. white trash – besonders relevant sein): Der Unterlegene kann gedemütigt und misshandelt werden, ohne dass dieser sich wehren kann. Sexualisierte Gewalt ist dabei durchaus üblich. Das Gefängnisexperiment von Phil Zimbardo, bei dem Studierende zufällig in die Gruppen der Wärter und Gefangenen aufgeteilt wurden, musste schon nach wenigen Tagen abgebrochen werden: Die »Wärter« behandelten die »Gefangenen« zunehmend brutal bis hin zur sexuellen Erniedrigung.

Angst, Bedrohung, Frustration

Insbesondere in Kriegszeiten können sich die Soldaten einer ständigen Lebensbedrohung ausgesetzt erleben. Diese Angst kann in Gewalt und Brutalität umschlagen. Auch wenn diese Sicht schwer fallen mag: Täter sind nicht selten selbst Opfer –z.B. ihrer Sozialisation, der militärischen Ausbildung, der Überforderung durch die Kriegssituation. Unter »normalen« Bedingungen wären sie keine Folterer. Auch sie können als Folge ihrer Taten intensiv leiden, psychische Störungen ausbilden und gesellschaftlich diskriminiert werden.

Trotz dieser psychologischen Erklärungen ist festzuhalten, dass die Täter für ihre Taten verantwortlich sind: Sie haben andere Menschen gefoltert ohne dazu gezwungen worden zu sein. Aber sind die direkten Täter auch die Hauptschuldigen, wie die US-Regierung zu suggerieren versucht? Dagegen sprechen viele Hinweise: Zum einen der Umgang der USA mit Folter, zum anderen das politische Umfeld in den USA.

Zum Umgang der USA mit Folter

  • Im Gefängnis Abu Ghraib spielten offensichtlich der CIA und der militärische Geheimdienst eine wichtige Rolle, die beide Folterungen der Gefangenen forderten oder zumindest nahe legten, um gewünschte Informationen zu erlangen.
  • Auch in den normalen Gefängnissen der USA sind körperlicher und sexueller Missbrauch »Routine«, wie die New York Times schreibt. Warum sollte es dann in den von den USA kontrollierten Gefängnissen außerhalb der USA weniger brutal zugehen?
  • In Guantánamo sind seit über zwei Jahren Gefangene ohne jegliche Rechte (ohne Anklage, ohne Anwalt und ohne Außenkontakt) unter menschenunwürdigen Bedingungen interniert, sie wurden wohl auch gefoltert. Der damalige Kommandeur von Guantánamo, General Miller, »exportierte« offensichtlich die dort üblichen Verhörmethoden im September 2003 in den Irak.
  • Seit Anfang 2002 gibt es Stellungnahmen von US-Ministerien, dass die Genfer Konventionen für Gefangene in Afghanistan irrelevant seien, d.h. nicht beachtet werden müssen. Die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat Belege für Folterungen in Afghanistan. Die Genfer Konventionen zur Behandlung von Gefangenen sind inhaltlich weitgehend identisch mit Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, sie sind rechtlich verbindlich. Sie nicht zu beachten, stellt somit einen Rechtsbruch bzw. ein Kriegsverbrechen dar.
  • Die US-Regierung hat im »Kampf gegen den Terror« Folter »delegiert«. Um schneller Informationen zu erhalten, hat sie Gefangene an Länder ausgeliefert, in denen gefoltert wird, z.B. nach Ägypten und Pakistan.
  • In den USA gibt es eine öffentliche Diskussion über die Zulässigkeit von Folter im »Kampf gegen den Terrorismus«. Dem entsprechend halten 45% der US-Bevölkerung Folter in diesem Zusammenhang für legitim. Die Antifolter-Konvention der UN von 1984 aber ist eindeutig: „Außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg … oder ein sonstiger öffentlicher Notstand dürfen nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden“. Zudem sind die Verpflichtungen der Staaten zur Verhinderung des Verbrechens der Folter weit reichend festgelegt, u.a. strafrechtliche Verfolgung der Täter, Unterrichtung über das Folterverbot und Wiedergutmachung für die Opfer.
  • Die US-Armee hat jahrzehntelang in der »School of the Americas«, seit 2001 Western Hemisphere Institute for Security Cooperation, Militär für Lateinamerika ausgebildet, das wesentlich an Folter und politischen Morden beteiligt war.

Wenn wir nur diese wenigen Hinweise zum Umgang der USA mit Folter berücksichtigen, dann können die jetzt angeklagten Folterer im Irak sicherlich nicht als große Ausnahmen angesehen werden. Folter scheint vielmehr ein integraler Bestandteil des Handlungsrepertoires der USA in relevanten Situationen zu sein.

Das gesellschaftliche Umfeld für Folter

Im Zusammenhang mit der Folter im Irak muss darüber hinaus aber auch das politisch-gesellschaftliche Umfeld in den USA, insbesondere unter der Bush-Regierung, beachtet werden.

  • Die USA haben bedeutende internationale Abkommen systematisch boykottiert oder aufgekündigt. Dazu zählen u.a. das Kyoto-Protokoll zur Reduktion umweltschädlicher Emissionen, Verträge zur Begrenzung der Atomwaffenrüstung und – im jetzigen Zusammenhang besonders bedeutsam – der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Das Völkerrecht ist – bei allen Unzulänglichkeiten – eine hoch bedeutsame zivilisatorische Errungenschaft. Wenn die jetzige Bush-Regierung das Völkerrecht offensichtlich so gering schätzt, warum sollten Soldaten und Wachpersonal dann ein anderes Bewusstsein haben?
  • Im Irakkrieg 2003 ging es wesentlich um die Kontrolle der höchst wichtigen Ressource Erdöl. Er war ein Bruch des Völkerrechts, begleitet von systematischer Erniedrigung der Vereinten Nationen und Verhöhnung der Regierungen, die diesen Krieg nicht unterstützten. Wenn aber die US-Regierung so offensichtlich die Charta der Vereinten Nationen missachtet, warum sollte dann der einzelne Soldat der Überzeugung sein, internationales Recht – wie die Genfer Konventionen – sei bindend? Der zeitlich nicht begrenzte »Krieg gegen den Terror« birgt die Gefahr, dass in den USA der Mythos entsteht, unschuldiges Opfer von Gewalt zu sein, und dass man sich deshalb über alle Normen hinwegsetzen könne.
  • Die USA halten sich historisch für ein auserwähltes Land (God’s own country), jede Rede eines US-Präsidenten endet mit „God bless America“. Verschärfend kommt hinzu, dass der jetzige Präsident Bush sich als Werkzeug einer Höheren Macht sieht. Wie schon unter Präsident Reagan geht es dann letztlich darum, dass das Gute (natürlich repräsentiert von den USA) das Böse in der Welt bekämpft – früher den Kommunismus, heute den Terrorismus bzw. die Achse des Bösen. Wenn die Welt so konzipiert wird, dass die eigene Seite das Wahre und Gute repräsentiert (Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie) und dies gemäß göttlicher Vorsehung missionarisch verbreiten soll, dann besteht die Gefahr, dass der Zweck die Mittel heiligt und entsprechend auch höchst zweifelhafte und verbrecherische Mittel als akzeptabel gelten.

Diese wenigen Hinweise zur negativen Haltung der US-Regierung gegenüber internationalem Recht verdeutlichen, dass Folter und unmenschliche Behandlung in Abu Ghraib kein isolierter Verstoß gegenüber dem Völkerrecht sind.

Folterhintergrund: Militär und Krieg

Das Militär ist jene weltweit verbreitete anachronistische Organisation, in der Menschen systematisch dazu gebracht werden, Befehlen von Vorgesetzten zu gehorchen und gezielt zu töten. Militär bedeutet also Sozialisation zum Töten von Menschen und ist somit gegen zivile und humanitäre Grundsätze gerichtet. Im Krieg werden moralische Grundwerte – insbesondere das Tötungsverbot – systematisch verletzt. Kriege bedeuten immer Grausamkeiten und unermessliches Elend.

Betrachten wir die oben genannten Fakten, dann wird deutlich: Verantwortlich sind nicht nur die Einzeltäter, sondern auch das gesellschaftliche System, das diese Täter produziert hat, und die Institution Krieg.

Gert Sommer, Professor für Psychologie an der Universität Marburg, Vorsitzender des Forum Friedenspsychologie, stellv. Vorsitzender Wissenschaft & Frieden, Träger des Preises der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie

Verrat an den Menschenrechten

Verrat an den Menschenrechten

von Heiko Kauffmann

Vom »Primat des Nationalen« zum »Primat der Ökonomie«, von einer bornierten, die Realitäten negierenden national verengten Sicht hin zu der eindimensionalen Rationalität ökonomischer Verwertungsinteressen: Hier zeigt sich die schwere Hypothek der Kohl-Jahre, welche auch die Nachfolge-Regierung zu rationalen Verwaltern scheinbar unabänderlicher »Sachzwänge« werden ließ, statt zu wirklichen Gestaltern einer grundsätzlich neuen entwicklungs- und menschenrechtsorientierten Migrations- und Flüchtlingspolitik. Die Süssmuth-Kommission hatte noch einen Paradigmenwechsel bei der Einwanderungspolitik gefordert: Öffnung, Diskurs, Weltoffenheit, einem ganzheitlichen Blickwinkel, dessen Horizont nicht durch die nationale ökonomische Standortlogik begrenzt wird, sondern der sich völkerrechtlich und menschenrechtsorientiert auch nach den Problemlagen anderer Länder richtet, aus denen Menschen zu uns kommen, der ihre Gründe, Bedürfnisse, Motive ernst nimmt. Nach dem 11. September 2001 ist davon nichts mehr zu hören, das neue Einwanderungsgesetz blieb schon vor seinem Scheitern vor dem Bundesverfassungsgericht am 18. Dezember 2002 den Prinzipien der Kontrolle, Begrenzung, Steuerung und Abwehr verhaftet.
Klaus Bade resümiert in seinem Buch »Europa in Bewegung«: „So lange das Pendant der Abwehr von Flüchtlingen aus der »Dritten Welt«, die Bekämpfung der Fluchtursachen in den Ausgangsräumen, fehlt, bleibt diese Abwehr ein historischer Skandal, an dem künftige Generationen das Humanitätsverständnis Europas im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert ermessen werden.“

Stieß der Bericht der Süssmuth-Kommission noch solche Fragen zaghaft an, so finden wir in Schilys Gesetz davon nichts! Schien durch die Greencard-Debatte – von Bundeskanzler Schröder 1999 angestoßen – zunächst eine diskursive Konstellation ins Wanken gebracht worden zu sein, die in dem bis dahin gebetsmühlenartig vorgetragenen Bekenntnis »Deutschland ist kein Einwanderungsland« auch regierungsamtlich ihren Ausdruck fand, so entpuppte sich der einvernehmlich aus fast allen politischen Lagern eingeforderte Paradigmenwechsel in einer vornehmlich unter Kosten-Nutzen-Aspekten geführten Debatte allenfalls als ökonomisch bedingter Richtungswechsel.

Vor dem Hintergrund der Terroranschläge vom 11.09., die eine »aufgeklärte« Auseinandersetzung im Sinne der oben skizzierten Perspektiven- bzw. des Paradigmenwechsels, im Sinne einer umfassenden zukunftsorientierten und positiv gestalteten Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik verlangt hätten, wurde zudem wieder schnellstens »zurückgerudert«: Ein ursprünglich als »offen« verstandenes Einwanderungskonzept mutierte – auch infolge der Verquickung von ausländerrechtlichen und sicherheitspolitischen Bestimmungen im sogenannten Otto-Katalog bzw. Anti-Terror-Paket und der neuerlichen Akzentuierung auf Kontrolle, Begrenzung, Steuerung und Abwehr – zu einem Zuwanderungsbegrenzungsgesetz. Vor dem Hintergrund einer zunächst zu eng geführten und dann mit falschen Vorzeichen – Terrorismusgefahr – geführten Debatte, konnte sich in der Bevölkerung nicht der erhoffte Einstellungswandel gegenüber Einwanderern und Flüchtlingen vollziehen; vielmehr ist zu befürchten, dass mit den Antiterrorpaketen – die vor der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes in Kraft traten – der rassistische Bazillus in Deutschland noch verstärkt wurde.

Die hohen, zumindest aber viel weitergehenden Erwartungen der Menschenrechtsbewegung und der Flüchtlingsinitiativen löst das Gesetz nicht ein; es bleibt bei den strukturellen Diskriminierungen einzelner und dem Prinzip der Gefahrenabwehr:

  • Noch mehr Menschen werden der sozialen Ausgrenzung in Gestalt des Asylbewerberleistungsgesetzes unterworfen.
  • Abschiebungshaft wird nicht abgeschafft und auch nicht verkürzt, sondern durch »Ausreisezentren« erweitert.
  • Die Residenzpflicht wird nicht abgeschafft, sondern der Kreis der von ihr Betroffenen erweitert.
  • Es gibt keinen Einstieg in die Lösung der als »illegal« bezeichneten Menschen ohne Aufenthaltsstatus. Humanitäre Hilfe für sie bleibt mit Strafe bedroht; die Pflicht zur Datenweitergabe d.h. zur Meldung und »Anzeige« durch die Helfer – seien es Ärzte, Lehrer, Initiativen – an Ausländerbehörden und Polizei, bleibt bestehen.
  • Der Status der Menschen, die lediglich eine Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung erhalten, liegt auf niedrigstem Niveau.
  • Das Kindeswohl wird weiter missachtet, indem die UN-Kinderrechtskonvention durch das Zuwanderungsgesetz nicht umgesetzt wird.

Die überzogenen Reaktionen auf die furchtbaren Terroranschläge vom 11. September in den USA bewirkten ein Übriges. Sie haben Menschen- und Bürgerrechte und das Völkerrecht geschwächt und beschädigt. Denn die Reaktionen der »weltweiten Allianz gegen den Terror« haben in vielen Mitgliedsländern zu bedrohlichen Einschränkungen von Menschen- und Freiheitsrechten geführt, von denen in erster Linie Einwanderer und Flüchtlinge betroffen waren. Flüchtlinge und Ausländer wurden unter einen generellen Terrorismusverdacht gestellt. Noch vor Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes kam es zu gesetzgeberischem Aktivismus: Das Ausweisungsrecht wurde verschärft, der Datenschutz für Ausländer weitgehend beseitigt. Viele der gesetzlichen Bestimmungen richten sich pauschal gegen Migranten und Flüchtlinge. Sämtliche im Rahmen von erkennungsdienstlichen Maßnahmen erfassten Ausländerinnen und Ausländer werden wie potentielle Straftäter behandelt.

Völkerrecht oder Gesetz des Dschungels?

Der 11. September 2001, nach dem die Welt angeblich eine andere geworden ist, begründet keine neue Zeitrechnung; aber viele, welche die schrecklichen Geschehnisse des 11. September in ihrem Sinne deuten und instrumentalisieren möchten, sähen es gerne, wenn ihnen dieses Datum die erforderliche Legitimation dafür geben könnte, sich von allen internationalen Regeln und völkerrechtlichen Verpflichtungen lösen und verabschieden zu können.

Wäre es nicht die vorrangige und höchste Aufgabe der demokratischen Führer der Welt, nach diesem Terroranschlag an das wichtigste und zentrale zivilisatorische Projekt der Menschheit nach 1945 zur Bewahrung des Friedens und zur Durchsetzung der Menschenrechte anzuknüpfen?

Der tiefste Fall in ihrer Geschichte führte die Menschheit nach 1945 zur Gründung der Vereinten Nationen.

Und nicht nur die Gründung und die Charta der Vereinten Nationen 1945 als Grundlage für eine Global-Governance Struktur zwischen den Staaten und Nationen, sondern auch die mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) beginnende Ausgestaltung und Diversifizierung der individuellen Schutzrechte, der Stärkung der Individuen vor staatlicher Allmacht und Willkür in Menschenrechtskonventionen und völkerrechtlichen Verträgen waren und sind eine Antwort auf das Grauen und die Barbarei des 20. Jahrhunderts, der Versuch, einen Rückfall unmöglich zu machen, das Ungeheuerliche bewusst zu halten und Instrumente und Bedingungen zu schaffen, welche die Bewahrung des Friedens und die Geltung der Rechte und der Würde jedes Menschen zur wichtigsten und unumkehrbaren Verpflichtung und Priorität jeder Politik unter dem Dach der Vereinten Nationen machen sollten.

Vor diesem Hintergrund ist der aktuelle Umgang der Regierung der USA mit internationalen Verträgen und Völkerrechtskonventionen nicht nur äußerst befremdlich, er ist absolut schädlich und nicht akzeptabel – umso mehr, wenn man die einst führende Rolle bedenkt, welche die USA bei der Gründung der Vereinten Nationen und bei der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gespielt haben.

Es ist bekannt, dass die amtierende amerikanische Regierung unter Präsident Bush die Unterschrift Clintons unter das Statut von Rom, das die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs vorsah, zurückgezogen hat und sich nun mit aller Kraft gegen diesen Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) stellt, der über Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit urteilen soll.

Bis heute haben die USA als einziger Staat die UN-Kinderrechtskonvention nicht ratifiziert, den Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte sowie die Anti-Folter-Konvention nur in Teilen.

Auch in anderen Bereichen, z.B. beim Klima-Schutz-Protokoll, in Fragen der Rüstungskontrolle oder bei der Biowaffen-Konvention ist es ausgerechnet die Supermacht USA, die internationale Abkommen blockiert und sich ihrer Verpflichtungen und Verantwortung entziehen will. Dies erscheint um so paradoxer, als es gerade die USA sind, die – etwa bei den Biowaffen – unter Androhung von Militärschlägen die uneingeschränkte Kontrolle anderer Länder (z.B. des Irak) durch Waffeninspektoren fordern, Inspektionen auf US-amerikanischem Boden aber auf keinen Fall zulassen wollen.

Auch der allgemein als sicher erachtete Konsens über die uneingeschränkte Geltung der Menschenrechte ist nach dem Einsturz der Zwillingstürme ins Wanken geraten: Plötzlich wird in den USA offen darüber diskutiert, ob Folter unter bestimmten Voraussetzungen nicht ein probates Mittel sei, um Informationen zu erhalten. Offen wird zugegeben, dass die USA Kriegsgefangene an (verbündete) Regimes ausliefern, in denen für sie die Gefahr und die Wahrscheinlichkeit besteht, gefoltert zu werden. Das alles trotz des Folterverbots als zwingendes internationales Völkerrecht, das auch nicht durch abweichende bilaterale Vereinbarungen zwischen Staaten gebrochen werden kann und darf. Obwohl gerade auch in den USA Menschenrechte und Demokratie als traditionell ur-amerikanische Werte »gehandelt« werden, werden sie dennoch den aktuellen strategischen Zielen der US-Regierungspolitik untergeordnet.

Der Verrat an den Menschenrechten

Nach dem 11.09 haben fast überall Geheimdienste, Polizei und Militär mehr Eingriffs- und Kontrollbefugnisse erhalten. Vorgeblich um Demokratie, Menschenrechte und Freiheit zu schützen, instrumentalisieren Regierungen den »Kampf gegen den Terror« zu Angriffen auf Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit.

Joachim Hirsch hat in diesem System der »Durchstaatlichung der Gesellschaft« schon vor dem 11.09. einen neuen Typus des Sicherheitsstaates erkannt: „Seine Mechanismen zielen nicht mehr vorrangig auf die Einpassung einer politisch passiv gehaltenen Bevölkerung in den Produktions- und Konsumzirkel einer Wohlstandsgesellschaft, sondern arbeiten mit Ängsten und Bedrohungen, die propagandistisch mobilisiert, auf Kriminelle jedweder Couleur, internationale Banden, Terroristen und im Prinzip auf alle Ausländerinnen projiziert werden. Die staatliche Aufrüstung gegen die so definierten Gefahren beinhaltet nicht nur eine grundsätzliche Veränderung des politischen Legitimationsdiskurses, sondern begründet sich selbst, indem sie tendenziell erzeugt, wogegen sie sich richtet. Je mehr die Ausländergesetze verschärft werden, desto eher wachsen die Verstöße dagegen an. Ideologisch und faktisch wird eine sicherheitsstaatliche »Wohlstandsfestung« konstruiert, die ihre Grenzen schließt und mit technisch immer ausgefeilteren Maßnahmen überwacht, sich auf militärische Interventionen zwecks Befriedung einer zunehmend konflikthaft werdenden Peripherie einrichtet und die auf die Folgen gesellschaftlicher Spaltungen und Polarisierungen nur noch mit den Mitteln repressiver Überwachung und »Kriminalitätsbekämpfung« reagieren zu können glaubt“. (Hirsch, Joachim: Der nationale Wettbewerbsstaat, Berlin, 1995, S. 160)

Mit Blick auf diese Entwicklung, die sich durch die Terroranschläge des 11. September gerade in den demokratisch verfassten Gesellschaften des Westens potenziert hat, mahnte der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen anlässlich des Tags des Flüchtlings, am 28.9.2001, die Staaten und die Öffentlichkeit, Opfer d.h. Flüchtlinge, nicht mit Tätern zu verwechseln. Viele Asyl- suchende seien ja selbst vor religiös, ethnisch oder politisch motiviertem Fanatismus geflohen. Massive Menschenrechtsverletzungen und die Terrorisierung ganzer Volksgruppen seien oftmals Ursachen von Fluchtbewegungen: „Flüchtlingsschutz ist deshalb auch eine Antwort der Zivilisation auf den Terror“. (vgl. unter: www.unhcr.de).

Die Generalsekretärin von ai, Irene Khan, beklagt die Hast der Regierungen, leichtfertig weitreichende Maßnahmen zu verabschieden und ihre Bereitschaft, Menschenrechte Sicherheitsinteressen unterzuordnen. „Viele peitschten neue Rechtsvorschriften durch die Parlamente, die neue Straftatbestände schufen, Organisationen verboten und deren Guthaben einfroren, bürgerliche Freiheitsrechte beschnitten und Schutzvorkehrungen gegen die Verletzung von Menschenrechten aushöhlten. Mehrere dieser Gesetze enthielten bedauerlicherweise eine Definition des »Terrorismus«, die gefährlich weit gefasst und äußerst vage formuliert war.“ (amnesty international, Jahresbericht 2002, Frankfurt, S. 8)

Die Folge: „Der »Krieg gegen den Terrorismus« hat eine Tendenz hervorgebracht, ausländische Staatsangehörige, insbesondere Flüchtlinge und Asylbewerber als »Terroristen« abzustempeln.“ (ebda S. 10) Auf diese Weise sei Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in beunruhigender Weise geschürt worden.

Ebenfalls klagt die ai Generalsekretärin die »Heuchelei« und das »selektive Handeln« beim Schmieden der »Allianz gegen den Terror« an; dabei hätten machtvolle Regierungen durch die „Anwendung doppelter Standards“ denjenigen in die Hände gespielt, „die die Universalität der Menschenrechte anzufechten versuchen“. (ebda, S. 11)

Der Einsicht von amnesty international, der IPPNW, der Menschenrechts- und der Friedensorganisationen „Die Welt braucht keinen Krieg gegen den »Terrorismus«, sondern eine Kultur des Friedens, die sich auf den Menschenrechten und auf Gerechtigkeit für alle gründet“ (ebda, S. 18), folgte die Mehrheit der Staaten jedoch nicht. Im Gegenteil, viele glaubten, nun die erforderliche Legitimation zum Abbau von Menschen- und Grundrechten zu haben, viele Regierungen nahmen die Terrorbekämpfung als Vorwand, um Maßnahmen durchsetzen zu können, die vorher als unpopulär und undurchführbar galten und die sich vor allem gegen Minderheiten und politische Gegner richten.

Die »Reporter ohne Grenzen«, die »Internationale Liga für Menschenrechte« und »Human Rights Watch« haben Anfang 2002 eine »Hitliste« von 15 Staaten bzw. Staatengemeinschaften vorgelegt, die den 11. September zum Anlass genommen haben, um Grund- und Menschenrechte nachhaltig zu beschränken und zu beschneiden. An 1. Stelle stehen die USA mit ihren Anti-Terror-Maßnahmen, Stichworte:

  • Menschenjagd und exzessive Festnahmen;
  • Verstöße gegen die Rechte der Gefangenen;
  • Aufgabe der Unschuldsvermutung;
  • Ein eigenes Gesetz, mit dem die Vereinigten Staaten sich auf den Weg zum Polizeistaat gemacht haben mit den Möglichkeiten Mandantengespräche abzuhören, außerordentliche Militärgerichte einzurichten, Geheimprozesse durchzuführen und 5.000 Personen aus dem Nahen Osten festzunehmen;
  • Muslime und Araber zu diskriminieren;
  • Denunziationsmöglichkeiten auszuweiten;
  • Eine Identitätskarte im Sinne von Big Brother einzuführen;
  • Die Diskussion um die Aufhebung des Folterverbots.

Es folgen Großbritannien, Kanada, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Terrorismusbekämpfungsgesetz. Erst danach folgen China, Italien, Indien, Spanien mit seinem ETA-Problem (das jetzt im Rahmen der Antiterrormaßnahmen gelöst werden soll), Pakistan, Jordanien, Russland, Indonesien und Simbabwe, Staaten, über deren demokratische Verfasstheit bisher keine Zweifel bestanden, und Staaten, bekannt für die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen und die Verfolgung von Minderheiten, Hand in Hand, in verbündeter Nachbarschaft, plötzlich einig im Kampf gegen gemeinsame Gegner. In welcher Gesellschaft befinden wir uns da?

Manche Regierungsvertreter der westlichen Demokratien scheuen sich mittlerweile nicht mehr, die von den Menschenrechtsorganisationen beklagten Doppel-Standards und die Zwielichtigkeit ihrer Menschenrechtspolitik offen zu propagieren. So vertrat der außenpolitische Berater von Toni Blair, Robert Cooper (im britischen Observer vom 7. April 2002) die Auffassung, es sei die Herausforderung für die postmoderne Welt, sich mit der Idee einer Doppelmoral (double standards) vertraut zu machen. Er teilt die Welt in einer Weise ein, wie sie gerade die arabische Welt den Amerikanern vorwirft. Wörtlich heißt es: „Unter uns zivilisierten Nationen agieren wir auf rechtsstaatlicher Basis und in offener Sicherheitspartnerschaft. Wenn es aber um rückständige Staaten außerhalb des postmodernen europäischen Kontinents geht, müssen wir rauere Methoden einer frühen Epoche – wie Gewalt, Präventivschläge und Täuschung anwenden, Methoden, die erforderlich sind, um mit denen zurecht zu kommen, die noch im 19. Jahrhundert… leben“. Und weiter: „Unter uns halten wir uns an die Gesetze. Wenn wir aber im Dschungel operieren, dann wenden wir die Gesetze des Dschungels an“.

Diese Doppelmoral muss man im Hinterkopf behalten, wenn es um den »Krieg gegen den Terror« und damit um die Installierung einer neuen Weltordnung geht.

Schon bei der »humanitären Intervention« im Kosovo wurde deutlich, dass es nicht in erster Linie darum ging Fluchtursachen zu beseitigen und Menschenrechte durchzusetzen, sondern vielmehr darum, sogenannte Massenfluchtbewegungen und »illegale Einwanderung« in die westeuropäischen Staaten um jeden Preis zu verhindern. Das ist Ausdruck einer Flüchtlingspolitik, deren zentraler Beweggrund nicht in der Beachtung der Menschenrechte, sondern im ökonomischen Eigeninteresse liegt.

Recht des Stärkeren statt Stärke des Rechts

Von Benjamin Franklin, einem der Väter der US-amerikanischen Verfassung, stammt der Satz: „Wer Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren“. Die westliche Freiheit stirbt bereits an ihrer Doppelmoral:

  • Sie stirbt im australischen Wüstenlager Woomera, indem auf Hilfe angewiesene Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen interniert sind;
  • sie stirbt auf Guantanamo, wo die Taliban-Gefangenen unter Verstoß des Kriegsvölkerrechts in absoluter Isolation gehalten werden;
  • sie stirbt an den Küsten des Mittelmeers, wenn der Weg oft Tod und die Rettung nur Abschiebung bedeutet;
  • sie stirbt auch in den Abschiebehaftanstalten in Deutschland, in denen Flüchtlinge, die nichts Strafbares begangen haben, wie Kriminelle inhaftiert werden.

Der offene Angriffskrieg der USA gegen den Irak würde die hier skizzierte katastrophale Entwicklung extrem beschleunigen. Die Vorbereitungen der USA für diesen Krieg laufen auf Hochtouren. Die US-Regierung will – unterstützt von den Regierungen Großbritanniens und Spaniens – diesen Krieg. Die große Mehrzahl der Staaten und die große Mehrheit der Bevölkerung in allen europäischen Ländern sowie den Ländern der sogenannten Dritten Welt ist dagegen.

Die Staatengemeinschaft steht damit an einem Scheideweg: Festigt und intensiviert sie ihren – nach zwei Weltkriegen und nach dem Holocaust – gewonnenen Konsens zur Gültigkeit des Völkerrechts und zur Durchsetzung der Menschenrechte in einer globalen Struktur unter dem Dach der Vereinten Nationen – oder setzt sich die zynische Doppelmoral durch, bei der sich mächtige Staaten zwar auch auf Menschenrechte, Demokratie und Freiheit berufen, sie aber im Zweifelsfall nur für sich gelten lassen, während sie im Umgang mit anderen jederzeit missachtet werden, wenn sie den eigenen Interessen im Wege stehen?

Der von der Regierung der USA nach dem mörderischen Terroranschlag des 11. September begonnene »Krieg gegen den Terror« missachtet die strengen Auflagen und Voraussetzungen der UN-Charta für die (legitime) Anwendung von Waffengewalt (im Verteidigungsfall). Mit diesem weit in die Zukunft reichenden und sich gegen eine ganze »Achse des Bösen« richtenden Krieg werden alle entwickelten zivilisatorischen Errungenschaften des UN-Reglements über Bord geworden. Diese Politik der Stärke schafft keine Ordnung, sondern Chaos, sie löst keine Probleme, sondern schafft viele neue.

Wer mit dem »Krieg gegen den Terror« beginnt, hat den »Krieg gegen die Armut« bereits verloren. Nur, wer es ernst meint mit dem »Krieg gegen die Armut«, kann den »Krieg gegen den Terror« gewinnen – oder ihn sogar überflüssig machen.

Das Vermächtnis der Opfer der Kriege und Verbrechen des 20. Jahrhunderts, aber auch das Andenken der Menschen, die am 11.09.01 verbrecherischem Terror zum Opfer fielen, verlangt nichts Größeres und Schwereres von Regierung und Zivilgesellschaften als dafür zu kämpfen, dass ihre Kinder und alle Kinder dieser Erde in einer Welt der Gerechtigkeit und des Friedens leben können. Gerade weil sich die politische Klasse hinsichtlich friedenspolitischer Alternativen und Alternativen bei allen wesentlichen Zukunftsanliegen in Schweigen hüllt oder so gut wie nicht in Erscheinung tritt, sind die Kräfte der Zivilgesellschaft und sozialen Bewegungen stärker denn je gefragt, ein Gegengewicht zur Parteiendemokratie zu bilden und als politische Kraft sichtbar zu machen.

Heiko Kauffmann, Sozialwissenschaftler, war langjähriger Sprecher und ist Vorstandsmitglied von pro asyl