Von Lobbyisten und Mythen

Von Lobbyisten und Mythen

Schusswaffengebrauch in den USA

von William Durston

In den Vereinigten Staaten werden Schusswaffen ungleich häufiger eingesetzt als in vergleichbaren Industrieländern. Für den Autor, der jahrzehntelang als Notarzt gearbeitet und während seiner Tätigkeit zahlreiche Schusswaffenopfer medizinisch versorgt hat, ist dies ein Problem der öffentlichen Gesundheit mit epidemischem Charakter. Die Ursache sieht er in der laxen Waffengesetzgebung des Landes – und die wiederum sei durch den hartnäckigen Glauben an einfach zu widerlegende Mythen geprägt.

Tod und Verletzung durch Schusswaffen sind in den Vereinigten Staaten ein Problem von epidemischem Ausmaß. Immer dann, wenn es zu einem »School-Shooting« kommt, wie z.B. am 14. Dezember 2012 an der Grundschule Sandy Hook in Newtown, Connecticut, bei dem 20 Kinder und sechs Erwachsene umkamen, ist das Problem in aller Munde. Diese tragischen Amokläufe1 zeigen aber lediglich die Spitze des Problems. In den Vereinigten Staaten kommen pro Tag durchschnittlich 86 Menschen durch Schusswaffen um, darunter fünf Kinder bzw. Jugendliche bis 18 Jahre.2 Auf jeden dieser 86 Menschen kommen Schätzungen zufolge mindestens zwei oder drei, deren Verletzungen nicht tödlich sind.3

Vergleich mit anderen Ländern

In den Vereinigten Staaten kommen Tod und Verletzung durch Schusswaffen häufiger vor, als in jedem anderen demokratischen Land mit hohem Einkommensniveau. Die Anzahl entsprechender Todesfälle liegt hier sieben Mal höher als im Durchschnitt der anderen 22 führenden Industriestaaten der Welt,4 bei Kindern unter 15 Jahren sogar fast zwölf Mal.5

Zu häufigem Schusswaffengebrauch tragen viele Faktoren bei, darunter psychische Krankheiten, Drogenmissbrauch, sozioökonomische Ungleichheit, Gewaltdarstellung in den Medien und Defizite im Strafrechtssystem. Es gibt aber einen Punkt, in dem sich die Vereinigten Staaten deutlich von den anderen 22 Ländern unterscheiden: Der Waffenbesitz ist viel laxer reglementiert, Schusswaffen sind daher viel einfacher verfügbar.6

Der Zusammenhang zwischen dem einfachen Zugriff auf Schusswaffen und der hohen Zahl von Todesfällen und Verletzungen durch Schusswaffen ist so offensichtlich, dass die meisten Beobachter im Ausland – und übrigens auch im Inland – rätseln, warum die US-Regierung nicht wie in den anderen Vergleichsländern schärfere Regeln für den Schusswaffenbesitz bzw. -erwerb einführen. Kein Wunder also, dass den Vereinigten Staaten vorgeworfen wird, seine Knarren mehr zu lieben als seine Kinder. Auch wenn diese Kritik unsachlich und unangemessen ist – es verblüfft schon, dass Washington weder auf die wiederholten Amokläufe noch auf das alltägliche Blutbad reagiert. Kanada, Australien und Großbritannien haben seit Langem strengere Waffengesetze als die Vereinigten Staaten und verschärften diese in den 1990er Jahren nach etlichen Amokläufen weiter; außerdem ergriffen sie energische Maßnahmen zur Durchsetzung dieser Gesetze. Nicht so die Vereinigten Staaten. 2011 kamen bei einem Amoklauf auf einem Supermarktparkplatz in der Nahe von Tuscon, Arizona, sechs Menschen um, zwölf weitere wurden teils lebensgefährlich verletzt. Zu den Opfern gehörte auch die Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords, die durch einen Kopfschuss schwer verletzt wurde. Am zweiten Jahrestag des Amoklaufs klagte sie ihre Kollegen an: „Wie hat der Kongress reagiert auf eine grauenhafte Serie von Massenschießereien, die in unseren Kommunen Terror verbreitet, Zehntausende Amerikaner zu Opfern gemacht und ein Kongressmitglied auf einem Parkplatz bei Tuscon lebensgefährlich verletzt haben? Einfach gar nicht.“ 7

Hindernisse bei der Waffenreglementierung

Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, die in den Vereinigten Staaten eine schärfere Reglementierung des Schusswaffenbesitzes oder -erwerbs verhindern. Die wichtigsten davon sind sämtlich die Folge von Mythen, die von der Waffenlobby verbreitet und in der amerikanischen Öffentlichkeit weithin akzeptiert werden.

Mythos 1:
Die Bürger der Vereinigten Staaten verdanken ihre demokratischen Freiheiten dem privaten Schusswaffenbesitz

Dieser Mythos wird von der Waffenlobby ausdrücklich gefördert. Die Lobbyisten behaupten, der Sieg der nordamerikanischen Kontinentalarmee über die britischen Truppen im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) sei nur möglich gewesen, weil die meisten Kolonisten Schusswaffen besaßen und hervorragende Schützen waren. In Wirklichkeit, und das ist gut belegt, verfügten aber nur sehr wenige Kolonisten über eine Schusswaffe, und die war meist in einem so schlechten Zustand, dass Benjamin Franklin empfahl, die Kontinentalarmee solle doch lieber mit Pfeil und Bogen schießen. Die meisten Schusswaffen der Kontinentalarmee waren im Laufe des Unabhängigkeitskrieges aus Frankreich importiert worden und wurden nach dem Krieg weder benutzt noch gepflegt. Die Bürger der Vereinigten Staaten verdanken ihre demokratischen Freiheiten also keineswegs dem Mythos, ihre Vorväter hätten ihre Schusswaffen auch nach dem Krieg behalten, sondern der Tatsache, dass diese Vorväter an ihren demokratischen Idealen festhielten und diese ausbauten.8

Mythos 2:
Der Zweite Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten garantiert das Individualrecht auf Schusswaffenbesitz

Der Zweite Zusatzartikel (Second Amendment) zur Verfassung der Vereinigten Staaten lautet: „A well regulated militia, being necessary to the security of a free state, the right of the people to keep and bear arms, shall not be infringed.“ (Da eine wohl organisierte Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.)9

Schusswaffenbefürworter und die Schusswaffenlobby behaupten, der Zweite Zusatzartikel verleihe dem Individuum das Recht auf den Besitz von Schusswaffen, um 1. den persönlichen Schutz zu gewährleisten, 2. feindliche Truppen abzuwehren und 3. die US-Regierung zu stürzen, sollte diese auf Abwege geraten.

Der Zweite Zusatzartikel erwähnt den Besitz von Schusswaffen für den persönlichen Schutz aber gar nicht; überdies ist es sehr fraglich, ob Schusswaffen dazu überhaupt taugen, wie unten noch ausführlicher diskutiert wird. 1789, als der Zweite Zusatzartikel verfasst wurde, waren sich die Gründungsväter der Vereinigten Staaten genau bewusst, dass eine Miliz, die sich aus Individuen mit privaten Schusswaffen zusammensetzt, gegen das britische Militär keine Chance hätte. Selbst der Oberbefehlshaber der Kontinentalarmee und spätere US-Präsident George Washington spottete über die Bürgermilizen, sie seien „nicht dafür qualifiziert, sich selbst zu verteidigen, geschweige denn, den Feind zu ärgern“, und wies die Behauptung, Bürgerwehren taugten zur Verteidigung des Landes, als „schimärisch“ zurück.10 Äußerst erfolgreich waren bewaffnete Bürgermilizen hingegen bei der Unterdrückung von Sklaven und bei der Dezimierung der indigenen Bevölkerung, und es wird immer wieder unterstellt, dies sei der wahre Grund dafür gewesen, dass der Zweite Zusatzartikel überhaupt in das »Bill of Rights« aufgenommen wurde.

Die Vorstellung, die Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika hätten absichtlich einen Zusatzartikel in die US-Verfassung aufgenommen, der es unzufriedenen Bürgern erlaube, die Regierung durch den Einsatz privater Schusswaffen zu stürzen, ist überdies reichlich absurd. Und doch wird diese »insurrectionist theory« (Aufrührertheorie) von einigen Kreisen der Waffenlobby vehement vertreten.11 Welche Gefahren sich aus dieser Interpretation des Zweiten Verfassungszusatzes ergeben, erschließt sich von selbst.

Über Jahrzehnte kam der Oberste Bundesgerichtshof der Vereinigten Staaten wiederholt zum Schluss, dass der Zweite Zusatzartikel keineswegs ein Individualrecht auf Schusswaffenbesitz garantiere, so z.B. in seinen richtungsweisenden Urteilen von 1939 und 1980. Beim „Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen“ handle es sich vielmehr um ein kollektives Recht, das es den Bundesstaaten erlaube, bewaffnete Milizen zu unterhalten, beispielsweise die bis zum heutigen Tag bestehenden Nationalgarden. Der ehemalige Oberste Bundesrichter Warren Burger befand sogar, die Fehldarstellung des Zweiten Zusatzartikels durch die Waffenlobby sei „einer der schlimmsten Fälle von Betrug durch eine Interessenvertretung – ich wiederhole das Wort »Betrug« – an der amerikanischen Öffentlichkeit, der mir in meinem ganzen Leben untergekommen ist“.12

In den Jahren 2008 und 2010 vollzog der Oberste Gerichtshof allerdings einen Schwenk und erklärte alle bisherigen Präzedenzfälle mit einer knappen Mehrheit (5:4) für nichtig. Nun kam das Gericht zum Schluss, der Zweite Zusatzartikel werde durch das in Washington und Chicago erlassene Verbot von Handfeuerwaffen verletzt.13 Zu den fünf Richtern, die so entschieden, gehörten die von US-Präsident George W. Bush ernannten Bundesrichter Alito und Roberts. Seither überschwemmen Gegner der Waffenkontrolle die Bundes- und Lokalgerichte mit Klagen, um bestehende Waffengesetze und –regelungen zu kippen. Die meisten dieser Klagen wurden bislang abgewiesen, da die Urteile von 2008 und 2010 sich nur auf Handfeuerwaffen bezogen, die »zum Selbstschutz« gekauft werden. Welche Implikationen die Uminterpretation des Zweiten Zusatzartikels durch das Oberste Gericht längerfristig haben, ist aber noch offen.

Mythos 3:
Rechtschaffene Bürger sollten ihre Schusswaffen zum Selbstschutz behalten

Der Mythos, dass die Bürger sich tatsächlich besser schützen können, wenn sie Schusswaffen zu Hause aufbewahren oder gar mit sich führen, wird von der Waffenindustrie und -lobby angefeuert.14 Aber auch die Massenmedien nähren diesen Mythos mit unzähligen Videospielen, Fernsehshows und Filmen, in denen der »good guy« die Bösen mit Schusswaffen erledigt.

Es wird geschätzt, dass in den Vereinigten Staaten etwa 200-300 Millionen Schusswaffen im Privatbesitz sind15 und dass 38-48% aller Erwachsenen eine Schusswaffe zu Hause aufbewahren. Die meisten von ihnen geben an, dass sie die Waffe für den »persönlichen Schutz« besitzen. Dabei ist es genau umkehrt: Zahlreiche medizinische Studien zeigen, dass eine im Haus aufbewahrte Schusswaffe mit einer wesentlich höheren Wahrscheinlichkeit zum Töten, Verletzen oder Einschüchtern eines Mitglieds des eigenen Haushalts eingesetzt wird als zum Schutz vor einem Angreifer. Die bekannteste Studie dieser Art fand heraus, dass auf jeden Fall, in dem eine häusliche Schusswaffe tatsächlich zum Erschießen eines Einbrechers eingesetzt wurde, 43 mit Schusswaffen verübte Selbstmorde, Tötungsdelikte oder (versehentlich) erschossene Haushaltsmitglieder kommen.16

Mythos 4:
Ein Abgeordneter begeht politischen Selbstmord, wenn er sich gegen die Waffenlobby stellt

Die Waffenlobby, allen voran die finanzkräftige National Rifle Association (NRA), hat eine wirksame Waffengesetzgebung in den Vereinigten Staaten in den vergangenen 40 Jahren erfolgreich verhindert. Die NRA ist eng mit der Schusswaffenindustrie verbunden und gibt Millionen Dollar für politische Kampagnen aus. Allerdings kann sie viel effektiver bellen als beißen. Im Wahlkampf zur Kongresswahl 2012 gab die Lobbyorganisation mehr als elf Millionen US$ aus, allerdings verwendete sie 99% des Geldes, um Kandidaten zu unterstützen, die die Wahl verloren, oder um Kandidaten zu bekämpfen, die aus der Wahl siegreich hervorgingen.17 Die NRA bekämpft überdies regelmäßig Gesetze, die Umfragen zufolge von einer großen Mehrheit der US-Bevölkerung und manchmal sogar von den meisten NRA-Mitgliedern befürwortet werden.

Kein Ende in Sicht

Der epidemische Gebrauch von Schusswaffen wird die Vereinigten Staaten weiter plagen, bis diese Mythen zerstört werden und die BürgerInnen des Landes darauf bestehen, dass schärfere Waffengesetze erlassen und durchgesetzt werden. Solange dies nicht der Fall ist, setzt sich das tägliche Blutbad mit Schusswaffen wohl ungehindert fort.

Anmerkungen

1) Der Autor verwendet den Begriff »mass shooting«. Da »Massenschießerei« im Deutschen eine andere Konnotation hat, wird hier die Übersetzung »Amoklauf« gewählt, obgleich ein »mass shootings« durchaus eine sorgfältig geplante Tat sein kann. [die Übersetzerin]

2) Centers for Disease Control and Prevention: WISQARS (Web-based Injury Statistics Query and Reporting System).

3) Centers for Disease Control and Prevention (CDC): Nonfatal and fatal firearm-related injuries – United States, 1993-1997. Morbidity and Mortality Weekly Report (MMWR), 19. Nov. 1999, Vol. 48, No. 45, S.1029-1034.

4) E.G. Richardson und D. Hemenway (2011): Homicide, suicide, and unintentional firearm fatality: comparing the United States with other high-income countries, 2003. The Journal of Trauma and Acute Care Surgery, Vol. 70, Issue 1, S.238-243.

5) CDC: Rates of homicide, suicide, and firearm-related death among children – 26 industrialized countries. MMWR, 7. Februar 1997, Vol. 46, No. 5, S.101-105.

6) M. Killias (1993): International correlations between gun ownership and rates of homicide and suicide. Canadian Medical Association Journal (CMAJ), Vol. 148/(10), S.1721-1725.

7) Ex-lawmaker Gabrielle Giffords launches gun control push. ABC Action News, 8. Januar 2013.

8) Zu der Zeit, als die US-Verfassung geschrieben wurde, wurde das in der Unabhängigkeitserklärung festgehaltene Ideal „dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören“ fast ausschließlich auf weiße, männliche Landbesitzer bezogen.

9) Der ursprüngliche Text der Verfassung der Vereinigten Staaten vom 17. September 1787 wurde nie verändert, seither aber mehrmals ergänzt. Die »Bill of Rights« mit ihren zehn Zusatzartikeln (Amendments) von 1789 legen Grundrechte für die Bürger des Landes fest. Zum Zweiten Zusatzartikel siehe z.B. den entsprechenden Eintrag in Wikipedia; von hier wurde auch die dt. Übersetzung übernommen. [die Übersetzerin]

10) Zitat in Michael A. Bellesiles (2000): Arming America: The Origins of a National Gun Culture. New York: Alfred A. Knopf.

11) J. Horwitz und C. Anderson (2009): Guns, Democracy, and the Insurrectionist Idea. Ann Arbor: The University of Michigan Press.

12) In einem Interview mit »The MacNeil/Lehrer NewsHour«, 16. Dezember 1991.

13) District of Columbia v. Heller; 554 US 570, 128 SCt, 2783 (2008).

14) Tom Diaz (1999): Making a Killing: The business of guns in America. New York: The New Press.

15) American Medical Association Council on Scientific Affairs: Firearms injuries and deaths: a critical public health issue. Public Health Report, Volume 104, No. 2, März-April 1989, S.111-120.

16) D. Azrael und D. Hemenway: In the safety of your own home: results from a national survey on gun use at home. Social Science & Medicine, Vol. 50, Issue 2, Januar 2000, S.285-291.

17) Sunlight Foundation Reporting Group: Follow the unlimited money: National Rifle Association of America Political Victory Fund, 2012 Cycle. 11. April 2013.

Bill Durston war Scharfschütze beim U.S. Marine Corps und ist Vietnamkriegsveteran. Der Notarzt war Präsident und ist nun Vizepräsident des Sacramento-Chapters der US-Sektion der Internationalen Ärzte zur Verhütung eines Atomkriegs / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW).
Eine englische Langfassung dieses Artikels mit sehr ausführlichen Quellennachweisen ist anzufragen bei billdurston@comcast.net.
Übersetzt von Regina Hagen.

Die schleichende Privatisierung des Meeres

Die schleichende Privatisierung des Meeres

Private Sicherheitsdienste zum Schutz deutscher Handelsschiffe?

von Viviane Flügge

Aufgrund der schwierigen Lage in Somalia und der leer gefischten somalischen Gewässer hat in den letzten Jahren die Seepiraterie am Horn von Afrika deutlich zugenommen. Diesem Problem wurde bislang vorwiegend durch militärische Einsätze zur Pirateriebekämpfung begegnet, an denen auch die Bundeswehr beteiligt ist. Nun hat die Bundesregierung die Forderung des Verbands Deutscher Reeder nach mehr staatlichem Schutz zurückgewiesen und die Reeder aufgefordert, auf bewaffnete private Sicherheitsdienste zurückzugreifen.1 In der öffentlichen Diskussion wurde bislang vernachlässigt, dass es sich bei der privaten Piraterieabwehr um die schleichende Privatisierung eines Bereichs handelt, in dem die Grenzen polizeilicher und militärischer Aufgaben verschwimmen. Dabei werden die privaten Notrechte instrumentalisiert, wodurch sich diese Privatisierungsform verfassungsrechtlich nur schwer begrenzen lässt, obwohl es zu einem weitgehenden staatlichen Kontrollverlust kommt.

Es wird geschätzt, dass in Deutschland insgesamt 3.600 private Sicherheitsdienste in verschiedenen Bereichen tätig sind, wobei diese teilweise sogar polizeiliche Aufgaben wahrnehmen.2 Was den Einsatz Privater im militärischen Bereich betrifft, war – anders als in den USA und in Großbritannien – Deutschland bislang zurückhaltend, und es hieß von Seiten der Bundesregierung, ein solcher sei verfassungswidrig und keinesfalls geplant.3 Tatsächlich beschränkt sich die zunehmende Privatisierung von Aufgaben der Bundeswehr bislang hauptsächlich auf den Bereich der Verwaltung.4

Seit der Steigerung der Piratenangriffe auf Handelsschiffe in den vergangenen Jahren – im Jahr 2011 waren es 445 im Vergleich zu 263 im Jahr 2007 – nimmt faktisch bereits etwa jede achte deutsche Reederei private Sicherheitsdienste in Anspruch.5 Staatlicher Schutz von Handelsschiffen ist nach Ansicht der Bundesregierung nicht möglich, da die Bundeswehr nicht zuständig und die Bundespolizei überfordert sei. Stattdessen soll der rechtliche Rahmen für den Einsatz privater Sicherheitsdienste angepasst werden.

Seepiraterie und die Befugnisse gegen Piratenschiffe werden auf völkerrechtlicher Ebene durch das von Deutschland ratifizierte Seerechtsübereinkommen geregelt. An Bord der Schiffe gilt die Rechtsordnung des Flaggenstaates, das deutsche Recht ist also auf Schiffen mit deutscher Flagge auch für ausländische Sicherheitsunternehmen anwendbar.6 Die deutsche Regulierung von Sicherheitsdiensten beschränkt sich bislang maßgeblich auf die Zulassung der Gewerbeausübung (§34a Gewerbeordnung) und das Führen von Waffen (§§28 ff. Waffengesetz). Gemäß dieser Normen ist der Einsatz bewaffneter privater Sicherheitskräfte auf deutschen Schiffen nicht verboten.7 Ergänzend soll aber ein Zertifizierungssystem entwickelt werden, um einen hohen Ausbildungsstandard der Sicherheitskräfte sicherzustellen, wobei bislang der Verbindlichkeitsgrad einer solchen Regulierung nicht feststeht.

Internationalisierung innerer Sicherheit

Die neue Aufgeschlossenheit der Bundesregierung gegenüber dem Einsatz privater Sicherheitsdienste zur Piraterieabwehr ist überraschend, weil sie im Widerspruch zur bisherigen Ablehnung der privaten Übernahme militärischer Aufgaben steht.

Nach deutschem Recht handelt es sich beim Schutz von Handelsschiffen grundsätzlich um eine exterritoriale Ausübung innerer Sicherheitsgewährleistung, da Piraterie als Kriminalität und nicht etwa als militärischer Angriff zu werten ist. Es findet kein Angriff auf die Bundesrepublik als Staat statt, sondern ausschließlich auf private Rechtsgüter auf Hoher See. Hierfür ist nach §6 Bundespolizeigesetz in Verbindung mit dem Seeaufgabengesetz die Bundespolizei zuständig.

Dennoch ist seit dem Bundestagsbeschluss vom 19.12.2008 die Bundeswehr im Rahmen der EU-Operation Atalanta zur Piraterieabwehr am Horn von Afrika im Einsatz. Ziel dieser Operation ist neben dem Schutz von UN-Hilfslieferungen auch der von Handelsschiffen. Die verfassungsrechtliche Grundlage für die Teilnahme an der Operation Atalanta wird in Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz gesehen, wonach sich der Bund einem System kollektiver Sicherheit anschließen kann.8 Diese Norm ermächtigt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch zur Ausübung der typischerweise im Rahmen dieses Systems anfallenden Tätigkeiten.9 Durch die Internationalisierung der Sicherheitsgewährleistung erfüllen die Streitkräfte somit auch polizeiliche Aufgabenbereiche wie die Piraterieabwehr, was für sich genommen bereits problematisch ist, da es dem verfassungsrechtlichen Trennungsgebot von Polizei und Militär widerspricht.10

Schleichende Privatisierung der Piratenabwehr

Umso problematischer wird es, wenn der vermengte Aufgabenbereich zusätzlich privatisiert wird. Zwar wird suggeriert, beim Schutz von Handelsschiffen handele es sich von vornherein um eine private Angelegenheit,11 dennoch obliegt die Gefahrenabwehr gerade auch zum Schutz privater Güter grundsätzlich dem Staat, der hierfür auch das Gewaltmonopol hat.

Der Schutz von Handelsschiffen durch Sicherheitsunternehmen lässt sich aber nicht ohne weiteres als gängige Privatisierung bezeichnen. In der rechtswissenschaftlichen Diskussion werden verschiedene Privatisierungstypen unterschieden, die sich alle dadurch auszeichnen, dass eine explizite Übertragung staatlicher Aufgaben an Private erfolgt, sei es z.B. durch Gründung von Eigengesellschaften, Beleihungen Privater mit hoheitlichen Rechten oder durch Öffentlich-Private Partnerschaften.12 Eine ausdrückliche Aufgabenübertragung findet jedoch im Bereich der Piraterieabwehr nicht statt. Stattdessen ist das Phänomen als staatlicher Rückzug oder als Verzicht auf die Wahrnehmung von Gefahrenabwehr zu beschreiben, wodurch Sicherheitslücken entstehen, die Private selbst zu füllen haben. Dieses Phänomen ist in Bezug auf polizeiliche Aufgaben als schleichende, kalte oder auch mittelbare Privatisierung bezeichnet worden.13 Durch sein Unterlassen nötigt der Staat hierbei Private, die sich offensichtlich selbst nicht wirksam schützen können, zum Rückgriff auf bewaffnete Sicherheitsunternehmen.

Das Einfallstor der Jedermannrechte

Das, was die schleichende Privatisierung möglich, aber auch bedenklich macht, ist, dass die private Sicherheitstätigkeit nicht auf der Grundlage übertragener hoheitlicher Rechte erfolgt, sondern unter Bezugnahme auf die jedermann zustehenden Notrechte der Eigentümer und des Sicherheitspersonals. Diese Rechte stellen eine zulässige Ausnahme zum Gewaltmonopol des Staates dar. Nur für den Fall, dass obrigkeitliche Hilfe bei (drohenden) Angriffen nicht rechtzeitig zu erlangen ist, soll Privaten das Recht auf Notwehr, Notstand oder vorläufige Festnahme zustehen. Diese Notrechte stellen systematisch keine Eingriffsermächtigungen dar, sondern Rechtfertigungs- und Entschuldigungsnormen, was bedeutet, dass bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen eine Bestrafung oder zivilrechtliche Haftung ausnahmsweise ausscheidet. Anders als staatliche Eingriffe unterliegen private Nothandlungen nur eingeschränkt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da Private weniger Abwehrmöglichkeiten haben und ihnen nicht zugemutet werden soll zu prüfen, ob das angegriffene und das durch die Verteidigung verletzte Rechtsgut im angemessenen Verhältnis stehen. Es genügt vielmehr, wenn für die private Abwehrmaßnahme kein milderes Mittel bei gleicher Effektivität zur Verfügung steht.14

Wenn sich der Staat aber seiner Aufgaben mit dem Hinweis entledigt, dass Private von ihren Notrechten Gebrauch machen sollen, dann werden diese instrumentalisiert und erhalten den Charakter von Eingriffsbefugnissen, was weder ihrer systematischen Funktion noch ihrem Ausnahmecharakter gerecht wird. Dass hierbei auch noch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz umgangen wird, wird umso brisanter dadurch, dass die Piratenabwehr nicht durch hilflose Einzelne erfolgt, sondern durch professionelle, bewaffnete und auf den Angriff vorbereitete private Sicherheitskräfte.

Diese Bezugnahme auf die Notrechte beim Einsatz der Sicherheitsdienste führt dazu, dass sich die private Piraterieabwehr verfassungsrechtlich nur schwer begrenzen lässt. So werden zwar einigen Normen des Grundgesetzes Privatisierungsschranken entnommen, die jedenfalls ein Verbot der Privatisierung der Kernsubstanz exklusiver Staatsaufgaben enthalten sollen. Ihre Reichweite bleibt jedoch selbst in Bezug auf ausdrückliche Aufgabenauslagerungen vage und sehr umstritten.15 Umso problematischer wird die Erfassung einer schleichenden Privatisierung. Denn die private Piraterieabwehr soll ja ihrer Logik nach eben kein Verstoß gegen das Gewaltmonopol des Staates sein, weil die Notrechte gerade zulässige Durchbrechungen des Gewaltmonopols darstellen.16 Möglicherweise ist ein Verstoß aber in der oben beschriebenen staatlichen Instrumentalisierung der Notrechte zu sehen.

Auch die Privatisierungsschranke des Art. 33 Abs. 4 Grundgesetz, nach welchem hoheitsrechtliche Befugnisse in der Regel von Angehörigen des öffentlichen Dienstes auszuüben sind, lässt sich hier nur schwer in Anschlag bringen, weil die private Tätigkeit gerade nicht auf der Grundlage hoheitsrechtlicher Befugnisse erfolgt. Möglich wäre es aber, in dieser Norm auch eine Verpflichtung des Staates zu sehen, sich nicht seiner Aufgaben zu entäußern. Ferner wirft die schleichende Privatisierung insbesondere auch Fragen der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates auf. Denn aus der staatlichen Pflicht, den Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, könnte auch das Verbot folgen, sich vollständig aus einem Bereich zurückzuziehen. Problematisch ist hierbei aber, dass eine extraterritoriale Geltung der Schutzpflicht umstritten ist und dem Staat ein weiter Gestaltungsspielraum zugestanden wird, der auch die Zulassung privater Tätigkeit beinhalten kann.

Gefahren schleichender Privatisierung

Privatisierungen staatlicher Sicherheitsaufgaben bringen stets die Gefahr mit sich, dass es zu einem Verlust demokratischer Legitimation und Kontrolle kommt und dass rechtsstaatliche Grundsätze nicht ausreichend berücksichtigt werden. Insbesondere stellt sich regelmäßig die Frage der Grund- und Menschenrechtsbindung der privaten Sicherheitsakteure. Anders als der Staat unterliegen die privaten Sicherheitsunternehmen in erster Linie den Prinzipien des Marktes, was auch zu einem Interesse am Fortbestand der Piraterie führen kann.17 Es ist auch eine Eskalation der Gewalt und eine Art Wettrüsten zwischen den Piraten und den Sicherheitsdiensten zu befürchten.

Noch mehr als bei der Privatisierung durch explizite Aufgabenübertragung gehen bei der schleichenden Privatisierung jedoch die Möglichkeiten der staatlichen Einflussnahme und Überwachung der privaten Tätigkeit verloren. Sie beschränken sich maßgeblich auf die Kontrolle der Gewerbezulassung. Die besondere Gefahr der schleichenden Privatisierung liegt aber darin, dass sich hier sogar der Prozess der Abgabe von Staatsverantwortung an Private jeglicher Kontrolle entzieht, was umso brisanter wird, wenn davon faktisch auch militärische Bereiche betroffen sind.

Es zeigt sich, dass in der Diskussion um die private Piraterieabwehr trotz der Gefahren, die eine schleichende Privatisierung mit sich bringt, weder der militärische noch der Privatisierungsaspekt ausreichend berücksichtigt werden. Dennoch ist festzuhalten, dass jedwede Piraterieabwehr, sei es durch Polizei, Militär oder private Sicherheitskräfte, nur die Symptome eines Problems bekämpft, dessen Ursachen – die große Armut im so genannten »failed state« Somalia und die durch u.a. europäische Fangflotten leer gefischten Gewässer18 – auch mit dem Verhalten westlicher Akteure zusammenhängen.

Anmerkungen

1) Vgl. Hawxwell, A (2011): Schutz vor Piraten durch private Sicherheitsdienste. Wissenschaftlicher Dienst Deutscher Bundestag, S.5. Pfeiffer, H (2011): Regelung für Söldner auf hoher See. taz vom 21.07.2011.

2) Vgl. Schulte, M. (1995): Gefahrenabwehr durch private Sicherheitskräfte im Lichte des staatlichen Gewaltmonopols. Deutsches Verwaltungsblatt 1995, S.130ff.

3) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage [Bündnis 90/DIE GRÜNEN] »Rolle von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern privater Unternehmen bei Einsätzen der Bundeswehr im Ausland«. Bundestagsdrucksache 17/6101 vom 08.06.2011, S.3.

4) Gramm, C. (2004): Privatisierung bei der Bundeswehr. Unterrichtsblätter für die Bundeswehrverwaltung 2004, S.81ff.

5) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage [SPD] »Maßnahmen im Kampf gegen Piraterie«. Bundestagsdrucksache 17/6715 vom 01.08.2011, S.1 Blecker, T./Will, T. (2010): Der Einsatz privater Sicherheitsdienste zum Schutz vor Piraterie und maritimem Terrorismus – Die ökonomisch-logistische Sicht. In: Stober, R. (Hrsg.) (2010): Der Schutz vor Piraterie und maritimem Terrorismus zwischen internationaler, nationaler und unternehmerischer Verantwortung. Köln: Heymann. S.53 (67).

6) Von der gesamten deutschen Handelsflotte mit 3.786 Schiffen fahren nur 542 unter deutscher Flagge.

7) König, D./Salomon, T.R (2011): Private Sicherheitsdienste im Einsatz gegen Piraten. Rechtswissenschaft 2011, S.303 (319). Arbeitsgruppe der IMK [Ständige Konferenz der Innenminister und –senatoren der Länder]: Bekämpfung der Seepiraterie. Rechtliche und tatsächliche Möglichkeiten zum Schutz deutscher Handelsschiffe [Kurztitel: Abschlussbericht der IMK-AG »Pirateriebekämpfung«]. 29. November 2011, S.27.

8) Paulus, A./Comnick, M. (2010): Rolle von Bundesmarine und Bundespolizei. In: Mair, S. (Hrsg.) (2010): Piraterie und maritime Sicherheit. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik. SWP-Studie S18, S.79 (85).

9) Kutscha, M., (2012): Einladung ohne Grenzen. Wissenschaft & Frieden 2012-1, S.22.

10) Vgl. Fischer-Lescano, A./Kreck, L. (2009): Piraterie und Menschenrechte. Bremen: Zentrum für europäische Rechtspolitik/ZERO. Diskussionspapier 3/2009, S.33f.

11) Vgl. Interview mit dem maritimen Koordinator der Bundesregierung Hans-Joachim Otto: Mehr Schutz für Schiffe unter deutscher Flagge. Wirtschaftswoche vom 22.01.2011.

12) Rebler, A. (2011): Verkehrsüberwachung durch Private. Straßenverkehrsrecht 2011, S.1 (2f.). Portugall, G. (2007): Die Bundswehr und das Privatisierungsmodell der ÖPP. In Richter, G. (Hrsg.) (2007): Die ökonomische Modernisierung der Bundeswehr. Wiesbaden: Grin Verlag, S.141 (144).

13) Braun, F. (2009): Die Finanzierung polizeilicher Aufgabenwahrnehmung im Lichte eines gewandelten Polizeiverständnisses. S.63. Kirchhof, G. (2007): Rechtsfolgen der Privatisierung. Archiv des öffentlichen Rechts 2007, S.215 (225).

14) Hoffmann-Riem, W. (1977): Übergang der Polizeigewalt auf Private. Zeitschrift für Rechtspolitik 1977, S.277 (281f.). Krölls, A. (1999): Privatisierung der öffentlichen Sicherheit in Fußgängerzonen. Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1999, S.233 (235).

15) Weiner, B. (2001):Privatisierung von staatlichen Sicherheitsaufgaben. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag. S.91f. (102).

16) D. König/T.R. Salomon (2011), op.cit., Fn. 7, S.322f.

17) Vgl. Eick, V.(2011): Freibrief zum Entern?, analyse & kritik, 49/2011, S.564 ff.

18) Maihold, G./Petretto, K. (2008): Gefahrenabwehr auf See. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik. SWP-Aktuell 56/2008, S.4. Mari, F./Heinrich, W.: Von Fischen, Fischern und Piraten. Wissenschaft & Frieden 2009-2, S 11.

Viviane Flügge ist Volljuristin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich »Staatlichkeit im Wandel« und am Zentrum für Europäische Rechtspolitik der Universität Bremen. Ihr Themenschwerpunkt ist die Privatisierung und Internationalisierung äußerer Sicherheitspolitik in Deutschland.

Black-Water

Black-Water

von Jürgen Nieth

Blackwater ist eine unter vielen »Sicherheitsfirmen«, die
für die USA arbeiten. Die Tötung von 17 irakischen Zivilisten am 16. September
hat sie in die Schlagzeilen gebracht. Dabei war das nicht der erste
Zwischenfall dieser Art. „An Heiligabend 2006 erschoss ein betrunkener Black­water-Angestellter
in der hoch gesicherten Green Zone in Bagdad einen Leibwächter des irakischen
Vizepräsidenten. Im Mai 2006 tötete Blackwater-Personal zwei Zivilisten,
darunter einen Angestellten des irakischen Innenministeriums“
(NZZ am
Sonntag, 07.10.07, S.28).

Narren- und Straffreiheit für Söldner

Die Neue Zürcher Zeitung schreibt weiter: „In keinem der
Fälle ist es zu einer Anklage oder einem Prozess gekommen. Während alle
Soldaten Militärgerichten unterstehen, sind Angestellte von privaten
Sicherheitsfirmen im Irak de facto unbelangbar. Denn einen Tag bevor Paul
Bremer, der damalige Chef der US-Übergangsregierung im Irak, im Juni 2004
fluchtartig das Land verließ, hatte er dekretiert, dass alle Sicherheitsfirmen,
die einen Vertrag mit den Koalitionsstreitkräften haben, von der irakischen
Strafverfolgung nicht belangt werden dürfen. Die sogenannte »CPA-Order 17« gilt
bis heute und garantiert den modernen Söldnern Narren- und Straffreiheit.“

Die schießfreudige Truppe

Die Blackwater-Mitarbeiter gelten nach einem Report, den die
Demokraten im Kontrollausschuss des US-Repräsentantenhauses vorlegten, als „schießfreudige
Truppe… Blackwater ballere schneller und häufiger als die Kollegen anderer
Sicherheitsfirmen – mindestens 1,4 Mal pro Woche, genau 195 Mal seit Januar
2005. In 163 Fällen hätten Prince‘ (Chef von Black­water) Mitarbeiter zuerst
den Finger am Abzug gehabt“
(SZ 04.10.07, S.8). „Die Zahl von 1,4
Vorfällen kommt nach einem Bericht der »Washington Post« ehemaligen Blackwater
Mitarbeitern allerdings verdächtig niedrig vor. Nach ihrer Erfahrung würden
viele schlicht gar nicht gemeldet“
(Tagesspiegel 04.10.07, S.2).

Iraker fordern: Blackwater raus

Kein Wunder also, dass im Irak der Protest gegen Blackwater
wächst. „Die Wut in der Bevölkerung ist groß“, erklärte der irakische
Regierungssprecher Ali al-Dabbag laut FR. Die Firma müsse für ihr Verbrechen in
Bagdad zur Rechenschaft gezogen werden: „Wir wollen, dass Black­water den
Irak verlässt.“
Da muss dann auch die US-Regierung reagieren.
US-Verteidigungsminister Robert Gates am 19.10.: „Es hat Vorfälle gegeben,
in denen, gelinde gesagt, Iraker beleidigt und nicht angemessen behandelt
wurden.“
Von Mord spricht er nicht und auch nicht von einem
Blackwater-Abzug (FR 20.10.07).

Irak Krieg ohne »Private« nicht denkbar

„Am 4. April 2004 griffen irakische Milizen das Hauptquartier
in Nadschaf an. Das Gefecht dauerte vier Stunden, doch in den Berichten des
US-Militärs findet sich kein Hinweis darauf. Grund
: Es waren keine
US-Militärs an dem Gefecht beteiligt, Mitarbeiter der PMC Blackwater
verteidigten das Hauptquartier“, schrieb Dario Azzellini vor fast zwei Jahren
in W&F (W&F 1-2006, S.14, Schwerpunkt »Privatisierte Gewalt«). Wie groß
der Anteil der modernen Söldner heute im Irak ist, dazu die FAZ Sonntagszeitung
(30.09.07, S.12): „Während noch im ersten Irak-Krieg zur Befreiung Kuweits
1991 auf zehn Soldaten ein Mitarbeiter einer privaten Vertragsfirma kam, sind
heute im Irak mindestens ebenso viele Angestellte der… Privatunternehmen im
Einsatz wie amerikanische Soldaten.“
Der Tagesspiegel (04.1.07, S.2)
spricht von „rund 180.000 Privatpersonen, die das Weiße Haus angeheuert hat,
um für Amerika im Irak Krieg zu führen.“
Für »Die Zeit« (27.09.07, S.23)
ist es „nicht polemisch, die Söldner zur offiziellen Streitmacht zu zählen.
Das Pentagon selbst tut dies. Unter dem Rubrum total force der USA listen die
Militärbürokraten aus Washington ausdrücklich auch die contractors auf.“

Geschäft der Söldner boomt

Die TAZ (18.10.07, S.3) berichtet, dass „allein das
US-Verteidigungsministerium … seit dem Jahr 1994 3.601 Verträge mit zwölf Firmen
im Wert von rund 300 Milliarden Dollar abgeschlossen (hat), die meisten davon
in den letzten zehn Jahren.“
Hinzu kämen noch Zahlungen des
US-Außenministeriums und der Entwick­lungsbehörde USAID, von denen keine Zahlen
vorlägen. „Private Dienste schließen Lücken des Militärs und machen damit
weltweit mehr als 100 Milliarden Umsatz“,
schreibt das Handelsblatt
(19.9.07, S.15). Auf den Irak bezogen heißt es: „Nachdem seit Beginn des
Irakkrieges nach Angaben des US-Kongresses bereits vier Milliarden Dollar an
private Sicherheitsdienste geflossen sind, will das US-Militär allein 2007
mindestens 1,5 Milliarden Dollar für Aufträge… an Dritte vergeben.“

Blackwater voll im Geschäft

„Unter den Sicherheitsunternehmen ist »Blackwater« eines
der größten und vor allem das exponierteste“,
schreibt die FAZ
Sonntagszeitung (30.09.07, S.12). „Der wichtigste Auftraggeber… ist das
amerikanische Außenministerium
: das Unternehmen ist für den Personenschutz
des amerikanischen Botschafters Ryan Crocker sowie aller anderen Mitarbeiter
der Botschaft und auch von Außenministerin Condoleezza Rice verantwortlich,
wenn diese den Irak besucht. Blackwater sichert… die Gebäude der amerikanischen
Botschaft in der »Grünen Zone«.“

„Heute hat das Unternehmen rund 2.300 Söldner in neun
Ländern, es kann insgesamt auf 21.000 Männer zurückgreifen, es besitzt eine
eigene Luftflotte von 20 Flugzeugen, Kampfhelikopter und ein 7.000 Hektar
großes Trainingsgelände. Insgesamt bildet Blackwater 45.000 Männer im Jahr aus.
Die Firma ist eine Privatarmee und sie ist überall einsetzbar“
(Zeit,
27.09.07, S.23).

Söldner im UN-Dienst?

Angesichts der engen Verzahnung mit dem US-Militär, kann es
als ausgeschlossen gelten, dass »Blackwater« den Irak verlassen“ wird,
meint die FAZ (19.09.07, S.6). Das gilt auch für die anderen Söldnertruppen.
Die Privaten Militärfirmen denken bereits weiter. „Nachdem die Claims im
Irak und in Afghanistan auf Jahre hinaus abgesteckt sind, wollen manche Söldner
die UNO-Blauhelmtruppe ablösen. Sie seien schneller, effektiver und günstiger.
In den USA bemühen sie sich um eine Beteiligung an einer Lösung für Darfur –
bereits existiert ein Vertrag zur privaten Ausbildung der Truppen im Südsudan“

(NZZ am Sonntag, 07.10.07., S.28).

Militanter Islamismus in Algerien und Ägypten

Militanter Islamismus in Algerien und Ägypten

Das Kriegsgeschehen in Nordafrika

von Jürgen Endres

Die Politisierung des Islam in Form von islamistischen Organisationen ist in Ägypten durch eine relativ lange Tradition geprägt. Die im Jahr 1928 von Hassan al-Banna gegründete Muslimbruderschaft (arab. al-ikhwan al-muslimun) gilt zu Recht als erste islamistische Bewegung. Ihr Programm von 1936 umfaßte summarisch folgende Punkte: Beendigung des Parteienwesens, Einführung der islamischen sharia1, kulturelle Zensur sowie Wahrung islamischer Moralvorstellungen, Verbot von Zins und Profit und sozial orientierte Verteilung des Reichtums. Nach Jahren militanter Aktionen gegen die britische Vorherrschaft in Ägypten und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Repräsentanten des Nasser-Regimes korrigierte die Bruderschaft den von ihr verfolgten Kurs der gewaltsamen Konfrontation und beschloß einen Marsch durch die Institutionen, der sich zu einem wahren Hindernislauf entwickeln sollte.

Allerdings vollzogen nicht alle Mitglieder der zu einer Massenorganisation angewachsenen Muslimbruderschaft die ideologische Kurskorrektur. Resultat dieser Entwicklung war die Abspaltung militanter islamistischer Organisationen von der Muslimbruderschaft, die heute den bewaffneten Kampf gegen das bestehende System fortsetzen. Derzeit werden in Ägypten einige Dutzend militante islamistische Organisationen vermutet, die jedoch unabhängig voneinander agieren. Die bekanntesten dieser Organisationen sind al-jihad (heiliger Kampf), al-jama'a al-islamiyya (islamische Gemeinschaft), hizb at-tahrir al-islami (Partei der islamischen Befreiung) sowie jama'a at-takfir wa-l-hijra (Gemeinschaft der Bezichtigung des Unglaubens und der Auswanderung).

Der bewaffnete Konflikt in Ägypten

Seit 1992 haben sich die Auseinandersetzungen zwischen den militanten islamistischen Organisationen und den ägyptischen Sicherheitskräften intensiviert. Durch Attentate auf Repräsentanten der Regierung und Vertreter der Sicherheitskräfte, Angehörige der koptisch-christlichen Minderheit und Touristen sowie Bombenanschläge auf öffentliche Einrichtungen erstreben die militanten islamistischen Organisationen eine Destabilisierung der ägyptischen Regierung, um auf diesem Weg deren innen- und außenpolitische Legitimität zu untergraben.

Der durch den islamistischen Terrorismus herausgeforderte Staat reagiert stets mit unerbittlicher Härte (landesweite Razzien, Verstoße gegen die Menschenrechte, Schußwechsel mit meist zahlreichen Verletzten und Toten, Massenverhaftungen und Militärtribunale) und trägt durch diese Strategie zu einer Eskalation der Auseinandersetzungen bei. Dabei gelang es jedoch weder den Sicherheitskräften, die den säkularen Staat herausfordernden militanten islamistischen Organisationen zu eliminieren, noch erreichten die etwa 10.000 Mitglieder dieser Organisation ihr Ziel, die ägyptische Regierung tatsächlich zu destabilisieren. Somit ist weder ein Ende des Konflikts noch ein Sturz des ägyptischen Regimes in Sicht.

Parallel zur militärischen Auseinandersetzung mit den militanten islamistischen Organisationen des Landes führt die ägyptische Regierung einen weit weniger spektakulären für die zukünftige Entwicklung des bewaffneten Konflikts jedoch entscheidenden Kampf gegen die Muslimbruderschaft. Mit einer Mitgliederzahl von etwa 100.000 zählt diese zu den bedeutendsten politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes. Etwa eine Million Ägypter sollen mit der Bruderschaft sympathisieren.

Die ideologische Kurskorrektur der Bruderschaft könnte im Vergleich zu ihren Anfangsjahren drastischer nicht sein. Im Gegensatz zu ihrer Gründungszeit tritt sie heute für ein freies Parteiensystem ein, in dessen Rahmen sie als islamistische Partei zu partizipieren bereit ist. Sowohl das politische System als auch die ägyptische Gesellschaft wird von der Muslimbruderschaft als islamkonform charakterisiert. Zudem bekennt sie sich zu einer sozialen Marktwirtschaft und zeigt alle Züge einer politischen Partei. Seit geraumer Zeit jedoch wird der gesellschaftliche und politische Einfluß der seit 1954 offiziell verbotenen Bruderschaft, die unter Sadat relative politische Freiheit und Partizipation genoß, trotz der Integrationsbereitschaft und des Bekenntnisses zu demokratischen Strukturen systematisch zurückgedrängt. Im Jahr 1993 änderte die ägyptische Regierung die Wahlgesetze für Berufsvereinigungen, die der Bruderschaft als Plattform für eine politische Partizipation dienten und schränkte dadurch die Möglichkeiten politischer Partizipation drastisch ein. Zudem erhebt das ägyptische Regime vermehrt den Vorwurf des Zusammenschlusses zu einer terroristischen Vereinigung gegen prominente Muslimbrüder und läßt diese von Militärgerichten verurteilen.

Die Konsequenzen dieser staatlichen Konfliktstrategie könnten sich als fatal erweisen. Denn die massive staatliche Repression im Verein mit einer forcierten Politik des Entzugs der Möglichkeiten der politischen Partizipation und Integration in bestehende Strukturen drohen wie in der Ära Nassers bereits geschehen zu einer Radikalisierung bisher friedlich agierender Muslimbrüder beizutragen. Eine weitere Eskalation des Konflikts ist somit aufgrund einer steten Einschränkung friedlicher politischer Alternativen zum bewaffneten Konfliktaustrag nicht auszuschließen.

Der Krieg in Algerien

Die Geschichte des seit 1992 herrschenden Krieges in Algerien ist wie die des bewaffneten Konflikts in Ägypten eine Geschichte der Verweigerung politischer Freiheit und Partizipation. Von besonderer Bedeutung für den Krieg in Algerien ist jedoch, daß die staatssozialistische Entwicklungsdiktatur Algeriens in eine klientelistische Kleptokratie der Front de Liberation Nationale (FLN) mündete, die sich seit der Unabhängigkeit Algeriens 1962 Staat und Wirtschaft angeeignet hat.

Die unmittelbare Vorgeschichte des innerstaatlichen Krieges beginnt mit dem Wahlsieg der im Februar 1989 konstituierten Front Islamique du Salut (FIS) bei den ersten freien Kommunalwahlen im Sommer des Jahres 1990 sowie bei der ersten Runde der Parlamentswahlen im Dezember des Jahres 1991. Wie schon zahlreiche Male zuvor in Krisensituationen betrat das algerische Militär die politische Bühne und setzte den für März 1992 vorgesehenen zweiten Wahlgang aus. Zudem zwangen die Militärs den amtierenden Staatspräsidenten Chadli Benjedid zum Rücktritt und verboten kurze Zeit später die FIS. Der durch das Militär zum Präsidenten ernannte Muhammad Boudiaf, der 30 Jahre im marokkanischen Exil lebte, fiel im Sommer 1992 einem Attentat seiner eigenen Sicherheitskräfte zum Opfer, für das zunächst jedoch die FIS verantwortlich gemacht wurde. Das abrupte Ende des durch die Wahlen eingeleiteten Demokratisierungsprozesses mündete in einem innerstaatlichen Krieg, der seit 1992 zwischen 50.000 und 80.000 Todesopfer gefordert hat und der im Gegensatz zu Ägypten zu einem partiellen Zusammenbruch der staatlichen Ordnung geführt hat.

Auf seiten der militanten Islamisten, die sich um ihren Wahlsieg betrogen fühlen und auf staatliche Repression mit Terror antworten, sind es zwei Organisationen, die insbesondere in die Kämpfe mit den staatlichen Sicherheitskräften verwickelt sind: zum einen die Mitglieder der Organisation Mouvement Islamique Armé (MIA), die als bewaffneter Arm der verbotenen FIS angesehen wird und die sich seit dem Frühjahr 1994 Armée Islamique du Salut (AIS) nennt. Die zweite intensiv an der militärischen Auseinandersetzung mit dem Staatsapparat beteiligte Organisation ist die Groupe Islamique Armé (GIA), die im Sommer des Jahres 1992 infolge der Ermordung und Verhaftung zahlreicher islamistischer Untergrundführer entstand.

Über die Anzahl der Mitglieder dieser Organisationen existieren stark divergierende Angaben. Einige Schätzungen gehen von etwa 2.500 Mitgliedern aus, andere reichen bis zu 20.000. Ihnen stehen 40.000 Militärs gegenüber, die aus der insgesamt 130.000 Mann starken Armee speziell zu Terrorismusbekämpfung bereitgestellt wurden.

Weder die zwischen der FIS, der FLN und der Front des Forces Socialistes (FFS) im Januar des Jahres 1995 im Rahmen der »Plattform von Rom« verabschiedete »Nationale Charta«, die der Wiederherstellung eines souveränen, demokratischen und sozialen Algeriens im Sinne der Prinzipien des Islam dienen sollte, noch die Präsidentschaftswahlen vom November des selben Jahres, aus denen der seit Januar 1994 amtierende Staatschef General Liamine Zeroual als deutlicher Sieger hervorging, führten zu einem Rückgang der Intensität der militärischen Auseinandersetzungen. Dies gilt auch für das Referendum über eine neue Verfassung, in der u.a. die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten erheblich erweitert und politische Parteien, die sich als religiös definieren, verboten wurden sowie für die Parlamentswahlen vom Juni 1997, die die Staatschef Zeroual nahestehende Rassemblement National Démocratique (RND) gewann. Sie erhielt 156 von 380 Parlamentssitzen. Zweitstärkste Kraft wurde das Mouvement de la Société pour la Paix (MSP), die Nachfolgeorganisation der algerischen Hamas2.

Die Tatsache, daß die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen gleich blieb, obwohl sich die Regierung um eine höhere Legitimation bemühte, liegt zum einen darin begründet, daß insbesondere die GIA jegliche Form des Dialogs mit der algerischen Regierung ablehnt. Zum anderen – und dies ist von entscheidender Bedeutung – wurde die islamistische Opposition von der Regierung vollkommen aus dem politischen Prozeß ausgeschlossen und somit ein Großteil der oppositionellen Kräfte des Landes der Möglichkeiten politischer Partizipation beraubt.

Parallelen und Unterschiede zwischen Algerien und Ägypten

Prägnanteste Parallelen in beiden bewaffneten Konflikten sind sicherlich die diesen zugrundeliegenden Hauptkonfliktlinien und Ursachen sowie die Konstellation der Konfliktparteien. Beide Konflikte sind Folgen einer als illegitim empfundenen staatlichen Herrschaft und einer in beiden Staaten existierenden tiefen sozialen Krise, die aus der Transformation traditionaler Gesellschaften resultiert.

In beiden Fällen wird ein korruptes und mehr oder minder autoritäres Regime durch reformorientierte Organisationen – in Ägypten ist dies insbesondere die Muslimbruderschaft, in Algerien die FIS – oder militante islamistische Gruppierungen herausgefordert. Die Artikulation des Protests und die Legitimation des bewaffneten Widerstandes geschieht jeweils unter Rückgriff auf den Islam, der zugleich vages Programm für die angestrebte Gesellschaftsform ist: al-islam hua al-hall (der Islam ist die Lösung). Sowohl in Ägypten als auch in Algerien soll das von den militanten islamistischen Organisationen als unislamisch perzipierte politische System durch ein an den Idealen der medinensischen umma3 zu Lebzeiten Muhammads ausgerichtetes System ersetzt werden, das auf dem Koran und der sunna4 des Propheten Muhammad basieren soll. Den säkularen Gesellschafts- und Staatsmodellen der Moderne wird ein an traditionalen Elementen orientiertes islamistisches Modell entgegengesetzt, von dem man sich eine Form einer autochthonen Moderne verspricht und das an die Hochzeit der islamischen Kultur anknüpfen soll.

Weitere Parallelen weist die Mitgliederstruktur der militanten islamistischen Organisationen Ägyptens und Algeriens auf. In beiden Staaten rekrutieren sich diese Organisationen vorwiegend aus jungen Erwachsenen, die nur über wenig formale Bildung verfügen und aus ruralen Gebieten oder den Armutsvierteln urbaner Zentren stammen. Des weiteren werden an den Universitäten Studenten rekrutiert, deren Zukunft trotz ihrer formalen Ausbildung meist ungesichert ist. Angesichts des Scheiterns säkularer Strategien perzipieren diese den Rückgriff auf traditionelle Bezugssysteme (hier der Islam) als einzig wahre Alternative und erfahren zudem in den islamistischen Organisationen ein Gefühl der Zugehörigkeit und Gemeinschaft.

Die Unterschiede in der Größe der Konfliktparteien und der Zahl der Opfer der bewaffneten Auseinandersetzungen lassen sich u.a. durch das unterschiedliche Maß an politischen und gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten erklären. Während in Algerien der islamistischen Opposition eine politische Partizipation an den bestehenden Strukturen vollkommen verwehrt wird, bleiben der islamistischen Opposition in Ägypten dazu – wenn auch geringer werdende – Möglichkeiten.

Die Unterschiede resultieren aber auch aus den verschiedenen historischen Verläufen der Modernisierung Ägyptens und Algeriens. Im Vergleich zu Algerien ist die ägyptische Gesellschaft deutlich stärker mit Momenten moderner kapitalistischer Gesellschaft durchdrungen, wie auch die Staatlichkeit Ägyptens auf eine deutlich ältere Tradition zurückblicken kann. Beide Faktoren sind für die unterschiedlichen Entwicklungen der bewaffneten Auseinandersetzungen von entscheidender Bedeutung.

Sowohl für Ägypten als auch für Algerien ist der Kassandraruf eines drohenden aggressiven islamistischen Regimes ungerechtfertigt. Denn in beiden Staaten sympathisiert das Gros der Bevölkerung in keiner Art und Weise mit den militanten Islamisten, sondern sehnt vor allem ein Ende der gewaltsamen Auseinandersetzungen herbei.

Literatur

Borchardt, Ulrike 1994: Bürgerkrieg in Algerien, Arbeitspapier Nr. 75 der Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Universität Hamburg (out of print).

Endres, Jürgen 1997: Die islamistische Opposition in Ägypten zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit: Muslimbruderschaft und militante Islamisten, Arbeitspapier der Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Universität Hamburg (in print).

Keppel, Gilles 1985: The Prophet and Pharao. Muslim Extremism in Egypt, London.

Manousakis, Gregor M. 1994: Algerien, der erste Dominostein? In: Europäische Sicherheit, Jg. 43, Nr. 7, S. 335-337.

Meier, Andreas 1994: Der politische Auftrag des Islam: Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen. Originalstimmen aus der Islamischen Welt, Wuppertal.

Mitchell, Richard P. 1969: The Society of the Muslim Brothers, London.

Riesenbrodt, Martin 1993: Islamischer Fundamentalismus aus soziologischer Sicht. In: APuZ, B 33, S. 11-16.

Anmerkungen

1)sharia: islamische Rechtsordnung. Zurück

2) Die algerische Hamas darf mit der palästinensischen Hamas nicht verwechselt werden. Während Hamas in Palästina als Akronym für harakat al-muqawama al-islamiyya (Bewegung des islamischen Widerstands) steht und die Organisation ihre Ziele mittels physischer Gewalt zu erreichen sucht, steht der Name der gewaltverneinenden algerischen Partei für das arabische Wort „Eifer“. Zurück

3) umma: Gemeinschaft der Gläubigen. Zurück

4) sunna: überlieferte beispielgebende Verhaltensweisen des Propheten; die zu verbindlichen Präzedenzfällen erhobenen überlieferten Aussagen und Handlungen des Propheten. Zurück

Jürgen Endres ist Mitglied der AKUF

Ein Investment-Fonds als außenpolitisches Instrument?

Carlyle:

Ein Investment-Fonds als außenpolitisches Instrument?

von Werner Ruf

Die Geschäftserfolge von Carlyle erscheinen geradezu märchenhaft. Doch nicht jeder Anleger erhält das Privileg, hier sein Kapital vermehren zu dürfen. Nach welchen Kriterien das Screening der Kunden durchgeführt wird, ist nicht transparent. Doch dürfte Carlyle noch mehr sein als nur ein erfolgreicher Investment-Fonds: Die Nähe des Managements zum politischen Establishment dürfte nicht nur die Geschäftserfolge erklären, sie könnte den Fonds auch zu einem Instrument der US-Außenpolitik machen. Auch mit seiner schon früh erfolgten Beteiligung an dem privaten militärischen Unternehmen Vinnell zeigte Carlyle nicht nur seine glückliche Hand als Investor in dieser boomenden Branche, die Firma begab sich damit auch in jene Grauzone, wo Politik, Geschäft und die Durchsetzung politischer Ziele mittels Gewalt in einander fließen.

Die Firma wurde 1987 von vier Investoren mit einem Kapital von fünf Mio. US$ gegründet. Heute liegt sie auf Rangplatz neun der großen Investmentfirmen.1 Sie verwaltet derzeit 30,9 Mrd. US$.2 Die sehr nüchterne und nicht sehr explizite homepage der Firma versichert den Anlegern „außerordentliche Rückflüsse“. Die Firma selbst hat über 600 Beschäftigte. In den Firmen, an denen sie beteiligt ist, arbeiten über 131.000 Menschen. Carlyle, benannt nach dem Gründungsort, dem Carlyle Hotel in New York, basiert auf privater Partnerschaft, das heißt, dass die Firma einer »Gruppe von Individuen« gehört, von denen die meisten Manager bei Carlyle sind. Sie werden offensichtlich aus einem Personenkreis rekrutiert, der engste Beziehungen zum politischen und wirtschaftlichen Establishment hat. Die Investoren sind öffentliche und private Institutionen sowie sehr vermögende Individuen, ihre Namen sind nur selten bekannt. Explizite Politik der Firma ist es, hoch qualifizierte Fachkräfte der Investment-Branche zu rekrutieren, die eine „große Reputation in ihren jeweiligen lokalen Märkten haben und über etablierte Kontakte zu hohen Geschäftskreisen verfügen.“3 Diese Anforderungen könnten auch gelesen werden als Auswahlkriterien für die wichtigsten Investoren, die großenteils zugleich Management-Funktionen in der Firma innehaben. Im Verwaltungsrat von Carlyle finden sich folgerichtig:4

  • der ehemalige US-Präsident George Bush sen., zuvor Vizepräsident der USA und Direktor der CIA.
  • Frank Carlucci, vormals US-Verteidigungsminister und stellvertretender Direktor der CIA.
  • James Baker III, vormals Außen- und Finanzminister, von Präsident George W. Bush im Dezember 2003 zu seinem persönlichen Beauftragten für die Umschuldung des Irak ernannt.
  • John Major, vormals britischer Premierminister, der dem europäischen Zweig der Firma vorsteht.
  • Fidel Ramos, vormals Präsident der Philippinen, Aufsichtsratsmitglied von Carlyle-Asia.

Zu den wichtigsten privaten Anlegern der Firma gehören George Soros, Prinz Alwaled bin Talal bin Abdul Aziz Al-Saud. Auch die Familie Osama bin Ladens zählte zu diesem Kreis, liquidierte allerdings ihre Einlagen im Oktober 2001 (spekuliert wird über den bescheidenen Betrag von 2 Mio. US$). Carlyle glänzt auch in der Außendarstellung durch Prominenz: International renommierte Personen treten als Festredner auf – so der ehemalige US-Außenminister Colin Powell oder der Vorsitzende von AOL Time Warner, Steve Case, ebenso wie der frühere Bundesbank-Präsident Karl Otto Pöhl. Vater Bush soll pro Rede bis zu 100.000 US$ Honorar erhalten5 – eine gute Voraussetzung für weitere Investitionen.

Als »private global investment firm« ist Carlyle keine Aktiengesellschaft. Aus diesem Grunde gibt es auch keine Rechenschaftsberichte, bleiben Geschäftsgebaren, Gewinne und Verluste der Firma im Dunkeln.6 Allerdings sind auf der homepage (alle?) die Firmen aufgeführt, an denen Carlyle Beteiligungen hält, wobei der Umfang der Beteiligung nicht immer erkennbar ist. Carlyle entscheidet selbst, wer »qualifizierter Anleger« ist und in diesen ausgewählten Kreis aufgenommen wird.7 Als Beteiligungsgesellschaft nimmt Carlyle Kapital von seinen Mitgliedern auf, um es in Form von Management Buyouts, Venture Capital, strategischen Minderheitsbeteiligungen zu investieren. Insgesamt gehören der Firma 550 Investoren aus 55 Ländern an. 21 Niederlassungen existieren in den USA, Europa (so in Frankfurt, München, London und Paris) und Asien. Die wichtigsten Branchen von Carlyle sind:

  • Flugzeugbau und Verteidigung
  • Kfz – Technik
  • Industrie
  • Energie
  • Gesundheitswesen
  • Informationstechnologie/Telekommunikation und Medien
  • Immobilien

Carlyle selbst gliedert seine Beteiligungen folgendermaßen:8 (sh. Grafik)

Die Investitionen von Carlyle sind also breit gestreut, der Rüstungssektor nimmt trotz der in der Grafik auf 1% veranschlagten Investitionen einen gewaltigen Bereich der Beteiligungen ein. Immerhin nennt sich die Firma selbst den „führenden Investor in Luftfahrt- und Verteidigungsindustrie“ mit einem Investitionsvolumen von 7,4 Mrd. US$.9 Jedoch muss und kann davon ausgegangen werden, dass rüstungsrelevante Investitionen weit über den reinen Rüstungsbereich hinausgehen: Gerade in den Branchen des Fahrzeugbaus, der Informationstechnologie, aber auch der Medizin gibt es vielfältige Formen des »double use«: Die Produkte und Systeme sind oft sowohl zivil wie militärisch nutzbar. Ein weiterer strategischer Schwerpunkt der Investitionen/Beteiligungen von Carlyle ist der geopolitisch relevante Energiesektor, auf die umfangreichen und einschlägigen Beteiligungen kann hier nicht eingegangen werden. Im engeren Bereich der Rüstungsindustrie hält Carlyle – unter vielen Anderen:

  • 49% des Kapitals von United Defense, dem führenden Entwickler und Produzenten von Kampffahrzeugen, Artillerie, Schiffsgeschützen, Raketenabschussbasen und Präzisionsmunition. Die Firma ist zugleich die größte Schiffsreparaturwerft, und ihr gehört der schwedische Rüstungskonzern Bofors.
  • Hinzu kommt United States Marine Repair Inc., die insbesondere auf die Reparatur, Modernisierung und Wartung der US-Kriegsflotte, aber auch ziviler Schiffe spezialisiert ist.
  • AvioSpa erwarb Carlyle zusammen mit Finmeccanica im September 2003 von der Fiat-Gruppe für 1,6 Mrd. &, wobei Calyle 70%, Finmeccanica 30% der Anteile hält. Die Firma ist spezialisiert auf Entwicklung und Produktion von militärischen und zivilen Flug-, Schiffs- und Raumfahrtsantriebssystemen. Bei diesem Erwerb – so Carlyle auf seiner homepage – kamen der Firma ihre „sektorielle Erfahrung und lokale Kenntnisse“ zu Gute.10 Die Avio-Gruppe kaufte am 7. Juni 2005 von Royal Philips Electronics 80% von Philips Aerospace (Eindhoven), den führenden Produzenten von komplexen Komponenten für General Electric, Boeing, Rolls Royce, Lockheed Martin und BAE Systems. in der Folge wurde die Firma umbenannt in DutchAero B.V.
  • Aviall ist der führende Zulieferer für Flugzeug- und Schiffbauindustrien. Die Firma sicherte sich einen Zehnjahresvertrag für die Wartung von Rolls-Royce-Turbinen, die Standard-Ausrüstung der Transportmaschine Herkules 130 und weiterer Flugzeugtypen.
  • Indigo Systems Inc. ist Produzent von Infrarot-Systemen, die Wärmequellen in Dunkelheit, Nebel und durch bauliche Widerstände hindurch orten können. Eine Investition von 10 Mio. US$ im Jahre 2002 brachte im Folgejahr Einnahmen in Höhe von 30 Mio. US$.
  • Stellex Aerostructures, Inc. ist einer der führenden Hersteller von Titan- und Aluminium-Komponenten für die Luft- und Raumfahrt sowie für die Rüstungsindustrie.
  • US Investigations Services, Inc. ist der größte Hersteller von Geräten im Bereich der investigativen und professionellen Sicherheitsdienste in Nordamerika.11
  • Mit QinetiQ erwarb Carlyle 2003 Anteile am größten Technologie-Konzern in Europa und wurde so zum »strategischen Partner« des britischen Verteidigungsministeriums. Auch bei diesem Vertragsabschluss waren die „Expertise im Bereich des Verteidigungs- und Luftfahrtsektors“, ebenso entscheidend wie „die lokalen Kenntnisse unseres britischen Investment-Teams.“12
  • Am 27. September 2005 erwarb Carlyle außerdem die britische Firma NP Aerospace zum Preis von 54 Mio. US$. Sie ist einer der führenden Hersteller im Luftfahrt- und Verteidigungssektor.

Diese Auflistung könnte noch lange fortgesetzt werden. Die Erarbeitung einer Verflechtungs- und Beteiligungsmatrix von Carlyle geriete zur Sisyphos-Arbeit, vor allem, wenn man die »nicht-militärischen« Bereiche noch auf ihre Relevanz für den Rüstungssektor untersuchen wollte. Deutlich wird allerdings bereits aus der obigen Aufzählung, dass die Firma nicht nur eine finanzpolitische Bedeutung, sondern auch ein politisch-strategisches Potential besitzt. Es wäre verwunderlich, wenn dieses nicht genutzt würde – zur Gewinnmaximierung ebenso wie zur politischen Einflussnahme, die zum Ersteren ja nicht in Widerspruch zu stehen braucht.

Denn Carlyle ist gewissermaßen das Scharnier zwischen privaten Geschäftsinteressen und Investitionen der US-Regierung im Bereich der Verteidigung, der Energieversorgung und der Informationstechnologien. Die Firma operiert „im so genannten Dreieck von Industrie, Regierung und Militär“,13 also dem »inner circle« des amerikanischen militärisch-polit-ökonomischen Komplexes. Es sind die personellen Verflechtungen im Schnittpunkt dieses Dreiecks, die die gigantischen Wachstumsraten der Firma in weniger als zwei Jahrzehnten erklären. Sie sind das Resultat geradezu einzigartig enger Beziehungen zwischen Personen wie Georges Bush, Frank Carlucci oder James Baker III mit dem Pentagon und seinem derzeitigen Chef Donald Rumsfeld, mit Vize-Präsident Dick Cheney und vielen Anderen: Firmen, die der Carlyle-Gruppe angehören, erhielten allein im Jahr 2002 Rüstungsaufträge von insgesamt 1,4 Mrd. US$.14 Auf der anderen Seite beschränken sich diese Verflechtungen wie auch die Interessen15 keineswegs auf das US-amerikanische Establishment: Sie sind im Wortsinne global und verschmelzen führende Rüstungs- und Technologieunternehmen weltweit. Diese Verflechtung zwischen Finanzwelt, Politik und den Verwertungsinteressen der Rüstungskonzerne macht es möglich, Einfluss und Profite ungeheuren Ausmaßes zu sichern. Denn nirgendwo sind diese Profite leichter und größer als in der Kriegswirtschaft, sind doch Rüstungsprojekte weitestgehend der Geheimhaltung unterworfen, so dass sich offene Ausschreibungen verbieten. Und da sie von monopolistischen Abnehmern – Regierungen – vergeben werden, sind sie oft Quelle gigantischer Extraprofite. Genau hier zeigt sich der strategische Vorteil von Carlyle: Die Nähe zum politischen Establishment erschließt frühzeitig Wissen darüber, wo, wann und wie der nächste Krieg geführt werden soll und welche Waffensysteme hierfür vorgesehen sind. Kurz, es geht darum zu wissen, wo die Regierung(en) Geld ausgeben werden, um »vorsorgend« zu investieren.

Auch bei der Privatisierung der Gewalt lag Carlyle schon früh im Trend der Zeit und beteiligte sich an privaten militärischen Unternehmen, die, wenn sie sich nicht selbst an kriegerischen Aktionen beteiligen, vor allem in der Ausbildung tätig sind und so zugleich eine wichtige Vermittlerfunktion bei der Beschaffung von Rüstungsgütern darstellen.16 Bereits 1992 erwarb Carlyle die Vinnell Corporation.17 Die Firma ist schwerpunktmäßig tätig in der Ausbildung ausländischer Streitkräfte im Rahmen des International Military Education and Training – Programms der US-Regierung, aber auch für die US-Armee, die US-Air Force und das Department of Homeland Security. Zugleich tritt sie als Beschaffer der notwendigen Waffensysteme auf. Ein weiterer Schwerpunkt ist nachrichtendienstliche Tätigkeit.18 Wichtigster Klient war bisher Saudi-Arabien, wo Vinnell seit 1975 die Nationalgarde ausbildet. Bei einem Anschlag auf die Wohnungen des Personals von Vinnell kamen dort im Frühjahr 2003 sieben US-Amerikaner ums Leben. Inzwischen ist Vinnell auch in Ägypten, Qatar, Oman, Kuweit und der Türkei aktiv. 2003 erhielt das Unternehmen einen 48-Mio.-Auftrag zur Ausbildung der irakischen Armee.

Die Exklusivität und Qualität der Beziehungen zwischen den Spitzen der US-Administration, herausragenden Personen aus Politik und Hochfinanz und kapitalträchtigen Anlegern schaffen nicht nur ein Geflecht für lukrative Geschäfte, sie beinhalten zugleich das Potential, zu einem wichtigen politischen Instrument der Sicherung der US-Hegemonie zu werden: Die Kontrolle der militärischen Spitzentechnologien erscheint zunehmend als wesentlicher Bestandteil des sich verschärfenden hegemonialen Gegensatzes zwischen der EU und den USA. Der Kampf um die Kontrolle rüstungsrelevanter Spitzentechnologien in Europa begann offen mit der Übernahme von AvioSpa und der beiden oben genannten britischen Firmen durch Carlyle. Er fand einen vorläufigen Höhepunkt im Versuch Carlyles, einen erheblichen Anteil an der Howaldtswerke-Deutsche Werft zu erwerben. Dies scheint durch massive Intervention der Bundesregierung verhindert worden zu sein: Mit dem Closing am 05. Januar 2005 wurde der Zusammenschluss von ThyssenKrupp Werften und HDW vollzogen, eine 25%ige Beteiligung erhielt der – zivilere – Konkurrent One Equity Partners (OEP). Damit war der Startschuss für den Werftenverbund ThyssenKrupp Marine Systems gefallen.19

Die Auseinandersetzungen um den Aufkauf europäischer Rüstungsfirmen durch die US-Konkurrenz, an deren Spitze Carlyle als eine Art Ober-Holding agiert, fallen zeitlich zusammen mit der Schaffung der »Europäischen Verteidigungsagentur«, die im Verfassungsentwurf für die Europäische Union festgeschrieben wurde. Der Schwerpunkt der Arbeit dieses Amtes liegt in den Bereichen Fähigkeiten, Beschaffung und Forschung. Trotz des Scheiterns des Verfassungsentwurfs aufgrund der Ablehnung in Frankreich und den Niederlanden hat die Agentur inzwischen ihre Tätigkeit aufgenommen. Ihre Aufgabe ist es, auf EU-Ebene „bei der Ermittlung der Ziele im Bereich der militärischen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten … mitzuwirken; auf die Harmonisierung des operativen Bedarfs … hinzuwirken; … die Forschung auf dem Gebiet der Verteidigungstechnologie zu unterstützen“ und „dazu beizutragen, dass zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors und für einen gezielteren Einsatz der Verteidigungsausgaben ermittelt werden, und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen“ (Art. III-311 Verfassungsentwurf). Ziel dieser Maßnahmen ist es, die Rüstungsindustrie der 25 EU-Staaten als genuin europäische zu erhalten und zu sichern, insbesondere um ausländische (=US-amerikanische) Einflussnahme abzuwehren.

Das Amt hat zwei zentrale Aufgaben, wie eine pünktlich erstellte Studie des Instituts für Sicherheitsstudien, des strategischen »think tanks« der EU in Paris, feststellte:20 Erstens sicherzustellen, dass der Bedarf an Fähigkeiten der europäischen Streitkräfte gedeckt wird, zweitens die Effizienz der Rüstungskooperation zwischen den Partnern zu steigern, um so zu Kosteneinsparungen zu gelangen. Nicht zuletzt wird, wie der Untertitel der Studie programmatisch verheißt, als weiteres Resultat eine Stärkung des Euro erwartet („getting a bigger bang for the Euro“), und zwar vor allem im Bereich der Anteile am weltweiten Rüstungsexport, die dann nicht mehr in Dollar, sondern in Euro, zu fakturieren wären. Es geht also darum, die europäische Rüstungsindustrie zunehmend von den USA unabhängiger und selbständig zu machen bzw. den Aufkauf europäischer Industrien zu verhindern. Die europäische Aufrüstung erscheint so als der harte Kern jener Formel, die in gaullistischer Tradition in Frankreich immer wieder beschworen, in der vergangenen rot-grünen Koalition übernommen wurde: Mit den USA „auf gleicher Augenhöhe“ verkehren.

Hier kann nicht darüber spekuliert werden, ob und inwieweit die europäischen Militarisierungsträume aufgehen und zur Etablierung einer gleichwertigen Militärmacht neben den USA führen werden. Doch: Europäische Handlungsfähigkeit soll bis zum Jahr 2008 erreicht werden, wenn das satellitengestützte Aufklärungs- und Nachrichtenübertragungssystem Galileo fertig gestellt ist und die neuen Marschflugkörper und Luft–Luftraketen, Kurz- und Mittelstreckenraketen wie auch die Raketensysteme zur Abwehr von taktischen ballistischen Raketen einsatzfähig sind.21 Diese Programme, vor allem aber Galileo, an dem auch China beteiligt ist und Beteiligungsinteressen seitens Indiens und Israels bestehen, hat in der US-amerikanischen Politikberatung zu geradezu alarmistischen Analysen geführt:22 Festgestellt wird hier, dass der Anteil der USA am internationalen Waffenexport von 47% (1999) auf weniger als 24% (2003) gesunken ist und dass, sollte die Europäische Verteidigungsagentur erfolgreich sein, die „bipolare Orientierung des transatlantischen Verteidigungssektors“ kaum mehr aufzuhalten sein wird.23 Und da befürchtet wird, dass die Bush-Administration die derzeitige Aufrüstungspolitik nicht mehr lange durchhalten können wird, sehen andere Autoren schon generell ein neues bipolares Zeitalter heraufziehen.24

Es ist nicht nachweisbar, ob ein Zusammenhang besteht zwischen der internationalen Investitionstätigkeit von Carlyle und den globalstrategischen Rivalitäten zwischen den USA und einer sich von der NATO-Führungsmacht abkoppelnden Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Im Kontext der transatlantischen Beziehungen ist Carlyle sicherlich nur ein Element, aber insofern nicht unwichtig, als gerade dieser Fonds auch nach politischen Entscheidungskriterien agieren dürfte. Dass ihre Geschäftserfolge seit Ende 2001 geradezu explosionsartig stiegen, ist nach dem Aufrüstungsboom, der dem 11. September 2001 folgte, nicht verwunderlich. Wesentliche Teile dieses Erfolges dürften sich allerdings aus der ungeheuren Nähe der Firma zum neo-konservativen politischen Establishment der derzeitigen US-Administration erklären, für das die Firma zugleich eine Art Rentenkasse zu sein scheint. Jenseits des Profite, die durch gut strukturierte politische Beziehungen gesichert und gesteigert werden, scheint es, als ob Carlyle gerade wegen seiner »Nähe zur Macht« auch eine strategische Zielsetzung in der sich herausbildenden hegemonialen Rivalität zwischen Europa und den USA verfolgt. Dies zeigen eindeutig die strategischen Beteiligungen von Carlyle am europäischen Rüstungssektor wie auch die europäische Reaktion, die zur Gründung der »Verteidigungsagentur« geführt hat. Wenn es um die Kernsubstanz der nationalen Machtmonopole geht, scheint es also möglich, die Bewegungsgesetze der Globalisierung und das Agieren der »unsichtbaren Hand des Marktes« außer Kraft zu setzen – und sie, mit Hilfe einer Firma wie Carlyle, auch politisch wirksam zu nutzen.

Anmerkungen

1) Die bisher einzige Monografie zu Carlyle ist: Briody, Dan: The Iron Triangle. Inside the Secret World of the Carlyle Group, New Jersey 2003. Vgl. Auch die sehr informative Arbeit von Sturn, Barbara: Der militärisch-industrielle Komplex und die Privatisierung vom Krieg am Beispiel von Carlyle. Seminar für Politikwissenschaft der Universität Wien, Sept. 2005.

2) http://www.thecarlylegroup.com/eng/company/l3-company737.html#6 abgerufen 30.Nov. 2005.

3) http://www.carlyle.com/eng/geo/investment2138.html abgerufen 30. Nov. 2005.

4) http://www.hereinreality.com/carlyle.html abgerufen 30. Nov. 2005.

5) Freitag Nr. 23, 31. Mai 2002.

6) http://www. thecarlylegroup.com/profile.htm abgerufen 23. Juli 2005.

7) http://www.thecarlylegroup.com/eng/company/l3-company737.html#6 abgerufen 30. Nov. 2005.

8) http://www.carlyle.com/eng/company/l3-company735.html abgerufen 6. Dez. 2005.

9) http://www.carlyle.com/eng/industry/topcasestudy-495.html abgerufen 30. Nov. 2005.

10) http://www.carlyle.com/eng/industry/casestudy-2826.html abgerufen 30. Nov. 2005

11) http://www.carlyle.com/eng/portfolio/portfoliol5-1908.html abgerufen 30. Nov. 2005.

12) http://www.carlyle.com/eng/industry/casestudy-2827.html abgerufen 30. Nov. 2005.

13) http://www.ratical.org/ratville/JFK/JohnJudge/linkscopy/Carlyle Scrts.html, abgerufen 07. April 2003.

14) Brody a. a. O. S. 149f.

15) So war Carlyle einer der wichtigsten Bieter beim Verkauf des deutschen Werftriesen HDW und ist derzeit bemüht um den Kauf der Rüstungsfirma MTU, die von Daimler-Chrysler abgestoßen werden soll (Financial Times Deutschland, 9. Sept. 2005).

16) Ruf, Werner: Private Militärische Unternehmen; in: Ders. (Hrsg.): Politische Ökonomie der Gewalt. Staatszerfall und die Privatisierung von Gewalt und Krieg, Opladen 2003, S. 76 – 90.

17) Vinnell (http://www.vinnell.com/) wurde 1997 von TRW aufgekauft. Diese wiederum wurde 2002 von Northrop Grumman übernommen, dem Produzenten von atomgetriebenen Flugzeugträgern, beteiligt am Bau von Interkontinentalraketen, am ABM-System und an Weltraum-Teleskopen, Hersteller eines taktischen Hoch-Energie-Lasers. http://www.northropgrumman.com/ abgerufen 2. Dez. 2005.

18) Makki,Sami: Militarisation de l’humanitaire, privatisation du militaire. Paris 2004, S. 54.

19) Die neue Unternehmensgruppe umfasst Howaldtswerke-Deutsche Werft GmbH, Kiel, Nobiskrug GmbH, Rendsburg, Blohm + Voss GmbH und Blohm + Voss Repair GmbH, Hamburg, Nordseewerke GmbH, Emden sowie Kockums AB, Schweden, und Hellenic Shipyards S.A., Griechenland. ThyssenKrupp hält 75% der Anteile an dem Werftenverbund und übernimmt die industrielle Führung. http://www.thyssenkrupp-marinesystems.com/de/index.php?page_id=NAV_HOME abgerufen 2. Dez. 2005.

20) Schmitt, Burkhard: The European Union and armaments. Getting a bigger bang for the Euro. Chaillot-Paper Nr. 63, Paris, Aug. 2003, S. 40.

21) Zu den geplanten Rüstungsvorhaben s. ausführlich: Oberansmayr, Gerald: Auf dem Weg zur Supermacht. Die Militarisierung der Europäischen Union, Wien 2004, insbes. Tabelle S. 106f.

22) s. u. A.: Nardon, Laurence: Galileo and GPS: Cooperation or Competition? The Brookings Institution 2005. http://www.brookings.edu/fp/cusf/analysis/nardon.pdf; abgerufen 10. Juli 2005. Shambaugh, David: China and Europe: The Emerging Axis. The Brookings Institution, Sept. 2004. http://www.brookings.edu/views/articles/shambaugh/20040901.pdf abgerufen 10. Juli 2005.

23) Jones, Seth G.: The rise of Europe’s Defense Industry, the Brookings Institution 2005. http://www.brookings.edu/fp/cuse/analysis/jones20050505.pdf abgerufen 9. Juli 2005.

24) Guay, Terrence R.: The Transatlantic Defense Industrial Base: Restructuring Scenarios and their Implications, April 2005. http://www.strategicstudiesinstitute.army.mil/pubs/display.cfm?PubID=601 abgerufen 7. Dez. 2005

Prof. em. Dr. Werner Ruf lehrte bis 2003 Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel.

Wa(h)re »Sicherheit«

Wa(h)re »Sicherheit«

Zum kommerziellen Sicherheitsgewerbe in der BRD

von Volker Eick

Das exorbitante Wachstum des privaten Sicherheitsgewerbes ist mit erheblichen Folgen für das bundesrepublikanische Sicherheitsgefüge verbunden. Der folgende Beitrag beschreibt zunächst Wachstum, Umsatz und Umfang des Gewerbes. Der zweite Abschnitt stellt die gegenwärtigen und zukünftigen Arbeitsfelder privater Sicherheitsdienste dar und verweist auf die rechtlichen Rahmenbedingungen für ihren Einsatz. Weiter konzentriert sich der Beitrag auf den Einsatz des Gewerbes im öffentlichen Raum und die damit verbundenen Ausgrenzungs- und Einschließungsprozesse. Schließlich ordnet der letzte Abschnitt Handlungslogik und -auftrag des privaten Sicherheitsgewerbes – und der staatlichen Sicherheitsagenturen – in den Kontext eines neoliberalen Stadt- und Staatsumbaus ein, der im Zuge globaler Standortkonkurrenz »Sicherheit« zum Schmiermittel dieser Restrukturierung macht. Wachstum und Bedeutungsgewinn des privaten Sicherheitsgewerbes sind aus dieser Perspektive Ausdruck, nicht Auswuchs einer Neoliberalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse insgesamt.

Private oder, besser: kommerzielle Sicherheitsdienste1 sind in Deutschland kein neues Phänomen. Schon 1901 wurde der erste Wach- und Sicherheitsdienst in Hannover gegründet. In den vergangenen rund 20 Jahren jedoch hat die Branche ein exorbitantes Wachstum erlebt – in Hinblick auf deren rechtliche Einhegung, die (demokratische) Kontrolle, auf Zugangs- und Verweilrechte für so genannte Randgruppen vor allem in urbanen Räumen sowie schließlich unter dem Gesichtspunkt der (Re)Definition dessen, was als ein sozialpolitisches und was als ein sicherheitspolitisches Problem zu diskutieren sei. Zudem gilt die simple, aber prägende Logik des Profits: Wer die Ware »Sicherheit« verkaufen will, der wird sich bemühen, die entsprechende Nachfrage zu schaffen. Diese Perspektive bildet den Hintergrund der folgenden Anmerkungen zum kommerziellen Sicherheitsgewerbe. Zunächst seien Wachstum, Umsatz und Umfang konkreter beschrieben.

Das Zählen der Kohorten

Das exorbitante Wachstum der Unternehmen (und Mitarbeiter) der Sicherheitsbranche in den vergangenen rund 20 Jahren ist nicht nur beredter Ausdruck von Neoliberalisierung,2 sondern hat zudem diverse Sozialwissenschaftler veranlasst, von einer (Re)Feudalisierung der Kriminalpolitik zu sprechen: Erstens, weil staatliche Sicherheitsagenturen wie die gute alte »Polizey« aus privaten Agenturen entstanden und mit der Herausbildung von (National)Staaten eng verbunden sind (Knöbl, 1998) und diese Entwicklung zumindest in Teilen auf private Akteure zurückgedreht zu werden scheint (Murck, 1993; Ronneberger et al., 1999 m.w.N.; für den angelsächsischen Raum vgl. Rigakos, 2002; Shearing, 1997). Zweitens – darauf komme ich im dritten Teil zurück – ist mit diesem Begriff auch eine (Re)Orientierung an Zugangsrechten in den öffentlichen Raum und die Partikularisierung von Normen und Wertvorstellungen angesprochen, die auf ständischen Vorstellungen neofeudaler Prägung zu basieren scheint.

Folgende Tabelle mag zunächst für die Bundesrepublik einen Eindruck davon vermitteln, wie sich die Branche entwickelt hat (Tabelle 1).

1970 1980 1990 2002 2005
Unternehmen 325 542 835 3.000 3.000
Mitarbeiter 47.400 61.700 105.000 145.000 200.000
Umsatz (Mio. Euro/Jahr) 314 507 1.200 4.000 6.000
Älteren Datums:
Absperrdienste Empfangsdienste Objektschutz Sicherheitsberatung
Alarmverfolgung Fahrzeugbewachung Personenbegleitschutz Sicherheitstransport
Altennotruf Fluggastdienste Pförtner-/Telefondienste Sicherungsposten
Arbeitssicherheit Geldbearbeitung Raumschutz (elektr.) Technische Meldung
Aufzugsnotruf Geld-/Werttransporte Revierkontrolldienste Türöffnungsdienste
Ausbildung Kurierdienste Schiffsbewachung Urlaubsdienste
Baubewachung Messedienste Schlüsselfunddienste Veranstaltungsdienste
Brandschutz Museumsdienste Separatbewachung Werksfeuerwehr
Datensicherheit Notrufzentralen Sicherheitsanalyse Werkschutz
Neueren Datums:
Abschiebegefängnisse Fahndung Psychiatrische Kliniken Verkehrsüberwachung
City-Points Justizvollzugsanstalten Quartiersmanagement Videoüberwachung
Facility Management OPNV Umweltschutz/Ranger Zweiter Arbeitsmarkt

Ich schreibe bewusst »Eindruck«, weil in diesem Beitrag verschiedene Probleme wie die (Nicht-)Berücksichtigung von nicht-sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, von Detekteien und Werkschutz, die nur zeitweise Beschäftigung von Mitarbeitern sowie unterschiedliche statistische Grundlagen hier nur erwähnt, aber nicht diskutiert werden können. Zutreffend scheint aber, dass die Zahl der Beschäftigten im deutschen Sicherheitsgewerbe – anders als etwa in den USA, Polen oder Großbritannien – unter der der staatlicher Polizeikräfte (ca. 265.000) liegt – dies freilich unter der Voraussetzung, dass nicht auch der elektronische und mechanische Sicherheitsbereich miteinbezogen werden (vgl. Stober/Olschok, 2004).

Der Markt des kommerziellen Sicherheitsgewerbes, das im Englischen treffend auch mit rent-a-cop umschrieben wird, ist dabei oligopolistisch organisiert: Die zehn größten Unternehmen halten einen Umsatzanteil von rund 50 Prozent oder anders formuliert: Zwölf Prozent der bundesweit inzwischen 3.000 gemeldeten Unternehmen teilen 81 Prozent des Umsatzes unter sich auf und beschäftigen zwei Drittel aller (registrierten) Mitarbeiter. Zu berücksichtigen sind weiter Konzentrations- und Globalisierungstendenzen: So hat der Weltmarktführer der Branche, die Group4Security, seinen Sitz in London, der Branchenzweite in Deutschland und der Welt, die Securitas AB, im schwedischen Stockholm. Richtig (und wichtig) ist weiter, dass es sich (mit den üblichen Ausnahmen wie etwa hoch spezialisierten Personenschutz- oder Sicherheitsanalyse-Diensten)3 um einen klassischen Niedriglohnsektor handelt, selbst wenn – was keinesfalls in allen Bundesländern der Fall ist – Tarifvereinbarungen existieren. Um wenigstens einen Einblick davon zu geben, sollen hier kursorisch einige (Tarif)Stundenlöhne genannt werden (alle Angaben brutto/Stunde, 2004): 4,73 Euro (Bereich Separatbewachung), 4,60 Euro (Veranstaltungsdienste), 5,33 Euro (Geld- und Werttransport). Das mag an Angaben zu Anzahl, Mitarbeitern und Umfang soweit genügen.

Von Alarmaufschaltung bis Zwangsernährung

Aus den Nachtwächtern des 16. und 17. Jahrhunderts und dem Werkschutz der fordistischen Großbetriebe des 20. Jahrhunderts ist mittlerweile eine Branche herangewachsen, die ein ausdifferenziertes Aufgabenspektrum (auch vormals staatlicher Aufgabenfelder) abdeckt – wie Tabelle 2 (in alphabetischer Reihenfolge) verdeutlichen mag.

Wie aus dieser Auflistung hervorgeht, sind seit etwa fünfzehn Jahren – den langen 1990er Jahren zwischen Mauerfall und 9/11 – vor allem zwei Bereiche zu Wachstumsmärkten für das kommerzielle Sicherheitsgewerbe avanciert: Zum einen das, was als »Randgruppen-Management« innerhalb von Institutionen (Gefängnisse, Anstalten etc.) bezeichnet (und hier nicht diskutiert) werden kann, zum anderen Aufgabenfelder, die im öffentlichen Raum angesiedelt sind – und damit in der klassischen Domäne staatlicher bzw. kommunaler Sicherheits- und Ordnungspolitik. Dieser Beitrag ist bemüht, nicht zu dramatisieren; gleichwohl ist mit der profitgetriebenen Suche nach neuen Aufgabenfeldern das permanente Bestreben verbunden, bisher bestehende Grenzen der Aufgabenwahrnehmung, wie sie etwa hoheitliche Regelungen darstellen, zu überwinden. Ein paar Sätze scheinen zu diesen Grenzen daher angebracht.

Bisher bedarf es faktisch keiner besonderen Qualifikation, um im Sicherheitsgewerbe tätig zu sein. Auch gibt es kein Gesetz, das Einsatzfelder festlegt,4 so dass lediglich die Übernahme hoheitlicher Aufgaben nicht bzw. nur unter der Bedingung der so genannten Beleihung erlaubt ist.5 Zu diesen hoheitlichen Aufgaben gehört (bisher) auch, was – an jeweiligem Ort – Zeitgeist sowie politischen und wirtschaftlichen Eliten als die zu gewährende Sicherheit und Ordnung gilt.

In Zeiten, in denen die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur, das Outsourcing von staatlichen Aufgaben, die Umwidmung von öffentlichem Raum in Ware dem Neoliberalismus Tür und Tor öffnen, erschließen sich auch neue Betätigungsfelder für das Sicherheitsgewerbe. Insgesamt betrachtet, wird die Zurichtung des Gemeinwesens Stadt in betriebswirtschaftlicher Logik (unter Zuhilfenahme von Partikularnormen) zum »Unternehmen Stadt« betrieben, mit immer neuen Aufgabenfeldern in der Dienstleistungsperipherie. Dem Sicherheitsgewerbe ist es – wie seinen öffentlichen (60%) und privaten (40%) Auftraggebern – unter den obwaltenden Umständen darum zu tun, die je eigenen Interessen einerseits als Allgemeininteresse zu »verkaufen« und sie andererseits unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit möglichst effizient und effektiv, d.h. ohne demokratische Zumutungen, umzusetzen. Derzeit wird, auf ebenfalls unzureichender Datenbasis, angenommen, dass zwischen sieben und 13 Prozent aller Beschäftigten der Branche im öffentlichen Raum tätig sind. Zwar sind auch hier ihre Befugnisse staatlich eingehegt, so dass ihnen keine anderen Rechte zustehen als allen Bürgern – die Notwehrrechte (§§ 32ff StGB), die Jedermannrechte und das Recht auf vorläufige Festnahme nach § 127 StPo (s. dazu bereits Hoffmann-Riem, 1977; vgl. Eick, 2005b). Recht(durch)setzung und Alltagspraxis stellen jedoch regelmäßig ein »umkämpftes Terrain« dar, zumal eben jene rechtlichen Begrenzungen häufig nicht bekannt bzw. mangels Lobby nicht durchsetzbar sind und durch das (harsche) Auftreten des Gewerbes sowie seiner Auftraggeber überformt werden. Schließlich sind hier Flächen in Privatbesitz zu nennen, die sich jedoch im Gemeingebrauch befinden (so genannte halböffentliche Räume oder mass private property), in denen Nutzungskonflikte ausgetragen, Ausgrenzungen manifest oder zu territorialen Kompromissen kleingearbeitet werden.

Zwischen Exklusion und Containment

Es sind vor allem diese letztgenannten Flächen, in denen von Ausgrenzung bzw. Einschließung gesprochen werden muss. Die Deutsche Bahn AG ist dafür ein beredtes Beispiel, hat sie doch seit ihrer Privatisierung 1992 einen eigenen Sicherheitsdienst installiert, der, unterstützt vom (mittlerweile in Bundespolizei umbenannten) Bundesgrenzschutz, gegen Obdachlose, Trinker, Trebekids, (Migranten-)Jugendliche und Drogenkonsumenten vorgeht. Allein auf den Berliner Fern- und S-Bahnbahnhöfen kommt es so zu jährlich mehreren tausend Platzverweisen, Hausverboten und selbst Haftstrafen wegen unerwünschten Aufenthalts (Eick, 1998).

Der deutsche Einzelhandel betreibt nach Angaben seines Verbandes HDE rund 80 so genannte City-Streifen in innerstädtischen Arealen. Die diversen zu Interessensgemeinschaften zusammengeschlossenen Einzelhändler beschäftigen zudem weitere kommerzielle Sicherheitsdienste in »ihren« Fußgängerzonen, um diese von oben genannten Gruppen »sauber« zu halten. Darüber hinaus werden bundesweit gegenwärtig gesetzliche Grundlagen für die Installation so genannter Business Improvement Districts nach nordamerikanischem Vorbild geschaffen, die es den beteiligten Hauseigentümern in diesen abgegrenzten Arealen erlauben, zusätzlich zu den staatlichen oder kommunalen Institutionen eigene sauberkeits-, ordnungs- und sicherheitspolitische Strategien zu entwickeln und umzusetzen (Hoyt, 2004). Weiter ist das outgesourcte Sicherheitspersonal des öffentlichen Personennahverkehrs angehalten, ebenfalls gegen solche Randgruppen und darüber hinaus, animiert durch Kopfgelder, gegen Schwarzfahrer vorzugehen (Brunst, 2004). In allen genannten Bereichen sind überdies Körperverletzungen dokumentiert, und jeder durchschnittliche Wochentag auf einem Berliner, Hamburger oder Leipziger Hauptbahnhof verdeutlicht, dass sich hier nicht allein kleinräumig eigene Rechts- und Ordnungsvorstellungen durchgesetzt haben, sondern auch, mit welchen ebenfalls sehr eigenen Mitteln diesen Nachdruck verliehen wird. Damit sind einige innerstädtische Räume des Konsums benannt, in denen das Gewerbe die Ware »Sicherheit« an den Mann (und die Frau) bringt.

Darüber hinaus müssen mittlerweile auch Wohnquartiere in den Blick genommen werden. Denn mit der Privatisierung ehemaliger Sozialwohnungsbauquartiere (Eick/Sambale, 2005) und mit der Installierung des Bund-Länder-Programms »Soziale Stadt« haben sich neue Arbeitsfelder für das Sicherheitsgewerbe ergeben (DifU, 2003: 124, Fn 95). Sie laufen ebenfalls darauf hinaus, spezifischen Bevölkerungsgruppen den Zugang zu (privatisierten) Spielplätzen und Fußgängerzonen (Eick, 2004), zu öffentlichen Plätzen und Parks (und dabei gleich auch noch Obdachlosenhilfs- und Drogennotdiensten) zu verweigern bzw. ihnen spezifische Quartiere zuzuweisen, in denen sie sich noch aufhalten dürfen (Holm, 2001; Eick, 2005a; zusammenfassend Ronneberger et al., 1999). In allen genannten Fällen, zu deren empirischer Verdichtung hier der Raum fehlt, handelt es sich um die Durchsetzung von partikularen Norm- und Profit- bzw. Sauberkeits-, Ordnungs- und Sicherheitsvorstellungen, die auf einen Strukturwandel der Öffentlichkeit zu Lasten der Nichtkaufkräftigen oder der für den Verwertungszusammenhang »überflüssigen« hinauslaufen – gleichsam als Warnung für das Publikum. Offensichtlich geschieht dies unter weitgehender Zustimmung bzw. Duldung ebendieses Publikums. Dabei betont das Gewerbe – wie im Bereich Globalisierung oder Terrorismus – gerne die Unausweichlichkeit des eigenen Tuns und betreibt aktiv dessen Popularisierung. Im Folgenden soll diese Entwicklung in den polit-ökonomischen Kontext gegenwärtiger Neoliberalisierung eingebettet werden.

Sicherheit im »Unternehmen Stadt«

Seit etwa Mitte der 1970er Jahre lässt sich, ausgehend von den USA, ein ideologischer Feldzug gegen die Errungenschaften keynesianischer Wohlfahrtsstaatlichkeit beobachten. Diese von einigen Autoren als Proto-Neoliberalismus beschriebene Phase (Brenner/Theodore, 2002) wurde in den 1980er Jahren von einer Periode abgelöst, in der ebendiese Artefakte und Vereinbarungen (Sozialer Wohnungsbau, Gewerkschaftskorporatismus, staatliche Umverteilung, öffentliche Infrastruktur) zerschlagen bzw. aufgekündigt werden (roll back). Im Zuge dieser unter den Bedingungen der Globalisierung stattfindenden Neoliberalisierung gewannen nicht nur Städte an Bedeutung (vgl. etwa Sassen, 1991). In dieser Phase wurde auch offensichtlich, dass die vom Neoliberalismus angerichteten Verwüstungen dessen Reproduktion zu gefährden begannen. Vor diesem Hintergrund bildeten sich alternative Strategien für einen »nachhaltigen Neoliberalismus« heraus, wie man – in sich widersprüchlich – sagen könnte. Das kann hier nicht diskutiert werden, ebenso wenig wie aktuelle Gegenstrategien und -entwürfe (Hamel et al., 2000; Pickvance, 2003). Entsprechend sind die langen 1990er Jahre von einer Rejustierung bzw. Neuschaffung von Instrumenten und Arrangements geprägt, in die bestehende alternative Handlungsansätze (partizipative Elemente, lokale Ökonomie, ökologische Aspekte etc.) kooptiert und für eine neoliberale Handlungslogik in den Dienst genommen wurden. Dem Neoliberalismus wird so ein eigenständiges, wenn auch vielfältiges Gesicht gegeben (roll out), das zudem regional und im Zeitverlauf höchst verschiedene Ausprägungen annehmen kann (Jessop, 2002; Harvey, 2005) – und offenbar annehmen soll, wenn wir die gegenwärtigen Debatten in der Bundesrepublik betrachten.

Der bisher bestehende und grundgesetzlich fundierte Konsens, gleiche Lebensbedingungen in allen Teilen des Landes sicherzustellen, wird ein ums andere Mal von unserem IWF-Bundespräsidenten in Frage gestellt. Das Land Brandenburg will seine Fördergelder nur noch auf »Ankerstädte« konzentrieren. Kleinräumig von Ort zu Ort und von Fall zu Fall soll von Arbeitszeit bis Zugangsrecht entschieden werden, was noch finanzierbar und tolerabel ist. In der Jugend- und Sozialpolitik wird sozialräumlichen Ansätzen das Wort geredet und in der Stadt- und Kriminalpolitik geht es um »soziale Brennpunkte«, »gefährliche Orte«, »problemorientierte Kieze«, »Betretungsverbots-« sowie »Hochsicherheitszonen«. In dem Maße wie solche kleinräumigen, quasi-kontraktuellen Inseln von Wert und Nicht-Wert an Gewicht gewinnen und der Logik des Profit-Center unterworfen werden, wächst auch der Spielraum gewinnorientierter Akteure zu Lasten eines (wie fragil, fragmentarisch und fragwürdig auch immer) sozialen Zusammenhalts. Im kriminalpolitischen Bereich haben die Bundes- und Landesinnenministerien bereits Mitte der 1990er Jahre signalisiert, dass sie sich einer solchen Logik anschließen werden und entsprechende Vereinbarungen mit der Sicherheitsbranche geschlossen. Auf kommunaler Ebene gibt es angesichts vermeintlich leerer Kassen nahezu Begeisterung für solcherart Zusammenarbeit. Die Ware »Sicherheit« hat sich als solche fest etablieren können und bestimmt zunehmend auch die Handlungslogik staatlicher Kriminalpolitik.

Wer also im »Unternehmen Stadt« nicht gebraucht wird oder zu diesen Bedingungen nicht mitspielen kann (oder will), gilt als überflüssiger Mitarbeiter – und mithin als Problem. Dessen Bearbeitung wird zunehmend auch Aufgabenfeld kommerzieller Sicherheitsdienste – von Rechtsverstoß bis Normabweichung. Aus dieser Perspektive steht nicht nur ein neuer Feudalismus ins Haus, sondern erhält auch der Begriff Werkschutz eine neue Dimension.

Anmerkungen

Literatur

Brenner, N./Theodore, N. (2002): Cities and the geographies of »actually existing neoliberalism«. Antipode, 34, 349-379.

Brunst, Th. (2004): Die private Stadtsicherheit. Unter: http://www.trend.infopartisan.net/trd0804/050804.html [29. 11. 05].

Crespo, D./Scahill, J. (2005): Overkill in New Orleans. Unter: http://www.alternet.org/module/printversion/25320 [12. 10. 05].

Deutsches Institut für Urbanistik (DifU) (Hg.) (2003): Strategien für die Soziale Stadt. Berlin.

Eick, V. (1998): Der deutsche Bahnhof – Zentrale oder Filiale der panoptischen Stadt des 21. Jahrhunderts? Unter: http://www.big-brother-award.de/2000/.gov/add.html [17. 03. 05].

Eick, V. (2004): Jenseits des Rechtsstaats. In T. Müller-Heidelberg et al. (Hg.): Grundrechte-Report 2004 (S. 148-151). Frankfurt/M.

Eick, V. (2005a): Neoliberaler Truppenaufmarsch? Nonprofits als Sicherheitsdienste in »benachteiligten« Quartieren. In G. Glasze et al. (Hg.): Diskurs – Stadt – Kriminalität (S. 167-202). Bielefeld.

Eick, V. (2005b): Private Sicherheitsdienste. In H.-J. Lange (Hg.): Begriffe der Sicherheitspolitik. Opladen [im Erscheinen].

Eick, V./Sambale, J. (Hg.) (2005): Sozialer Wohnungsbau, Arbeitsmarkt(re)integration und der neoliberale Wohlfahrtsstaat in der Bundesrepublik und Nordamerika. Berlin.

Hamel, P. et al. (Hg.) (2000): Urban movements in a globalizing world. London.

Harvey, D. (2004): Die Geographie des »neuen« Imperialismus. In C. Zeller (Hg.): Die globale Enteignungsökonomie (S. 183-215). Munster.

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Holm, A. (2001): Ausgrenzende Einbeziehung – Flexible Kontrollstrategien am Helmholtzplatz. Berliner MieterEcho, Nr. 288, 8-9.

Hoyt, L. (2004): Collecting private funds for safer public spaces. Environment & Planning B: Planning and Design, 31, 367-380.

Jessop, B. (2002): Liberalism, neoliberalism, and urban governance. In N. Brenner/N. Theodore (Eds.): Spaces of neoliberalism (pp. 105-125). Oxford.

Knöbl, W. (1998): Polizei und Herrschaft im Modernisierungsprozess. Frankfurt/M.

Murck, M. (1993): Zurück zum Feudalismus? Über gesellschaftspolitische Gefahren des privaten Sicherheitsgewerbes. Deutsche Polizei, 9, 10-12.

Nitz, G. (2000): Private und öffentliche Sicherheit. Berlin.

Nogala, D. (1995): Was ist eigentlich so privat an der Privatisierung sozialer Kontrolle? In F. Sack et al. (Hg.): Privatisierung staatlicher Kontrolle (S. 234-260). Baden-Baden.

Olschok, H. (1999): Sicherheitsdienstleister im Jahr 2005. Vortrag auf dem SiTech-Kongress (28. Okt.). Berlin.

Olschok, H. (2004): Entwicklung und Perspektiven des Wach- und Sicherheitsgewerbes auf nationaler und europäischer Ebene. In R. Stober/H. Olschok (Hg.): Handbuch des Sicherheitsgewerberechts (S. 13–34). München.

Pickvance, C. (2003): From urban social movements to urban movements. International Journal of Urban and Regional Research, 27, 102-109.

Rigakos, G. (2002): The new parapolice. Toronto.

Ronneberger, K. et al. (1999): Die Stadt als Beute. Bonn.

Sassen, S. (1991): The Global City. New York.

Shearing, C. (1997): Gewalt und die neue Kunst des Regierens und Herrschens. In T. v. Trotha (Hg.): Soziologie der Gewalt (S. 263-278). Köln.

Stober, R./Olschok, H. (Hg.) (2004): Handbuch des Sicherheitsgewerberechts. München.

Willenbrock, H. (1998): Ein Fall für Jaitner. Neue Zürcher Zeitung/Folio, 7. Unter: http://www-x.nzz.ch/folio/archiv/1998/07/ articles/willenbrock.html [23. 11. 05].

Anmerkungen

1) Der Begriff »kommerzielle« Sicherheitsdienste hat m. E. zwei Vorteile: Erstens kann damit unterschieden werden zwischen den vielgestaltigen »zivilgesellschaftlichen« oder vigilanten Formen des Polizierens (wie Neighborhood Watch, Bürgerwehren, Sicherheitspartnern) auf der einen und kommerziellen Sicherheitsdiensten auf der anderen Seite. Zweitens verdeutlicht der Begriff »kommerziell« zudem Ziel und Handlungsorientierung solcher Dienste: Gewinnorientierung und Profitmaximierung (vgl. Nogala, 1995).

2) Unter Neoliberalismus verstehe ich mit Jessop (2002) die Stärkung des freien Wettbewerbs, das Zurückdrängen der Rolle von Recht und Staat, den (Aus)Verkauf der öffentlichen Infrastruktur, die Verbreitung der Marktlogik im verbliebenen öffentlichen Sektor und den »freien« Handel nach Innen. Der Begriff Neoliberalisierung soll darauf verweisen, dass es sich dabei um ein aktiv gestaltetes politisches Projekt handelt.

3) Für die Befreiung des in Geiselhaft befindlichen Jan Philipp Reemtsma etwa wurde ein privater Sicherheitsdienst zur Lösegeldübergabe beauftragt (vgl. Willenbrock, 1998) und auch zur Blütezeit der Terroristenhatz in den bleiernen 1970er Jahren ist deren Einsatz belegt. Wie sehr zudem die Grenzen zwischen zivilem und militärischen Einsatz Privater verschwimmen können, zeigt eindrücklich der Einsatz der Söldnerfirma Blackwater, die Kontingente ihrer Truppen aus dem Irak abzog, um sie nach dem Hurrikan Katrina in New Orleans einzusetzen (Crespo/Scahill, 2005).

4) Geplante Gesetzesvorhaben scheitern regelmäßig an den Lobby-Organisationen der Branche – und dem willfährigen Bundeswirtschaftsministerium.

5) Diese spezifische Rechtsfigur sowie einige andere Ausnahmetatbestände sollen hier nicht entwickelt werden; vgl. dazu Nitz (2000).

Volker Eick ist Politikwissenschaftler und arbeitet in Berlin.

»Rent-a-Soldier«

»Rent-a-Soldier«

Die Privatisierung des Militärs

von Herbert Wulf

Ihr Geschäft ist der Krieg – Vorbereitung, Durchführung und Nachsorge – alles in einer Hand. Private Militärfirmen tauchen immer häufiger in den Kriegen und Konflikten als Akteure auf, nicht unbedingt an vorderster Front.1 Fast jede größere militärische Operation im letzten Jahrzehnt hat ein stets wachsendes Engagement privater Militärfirmen hervorgebracht. Manche Armee kommt ohne die privaten Militärfirmen nicht mehr aus. Zwar unterliegt der Sicherheitsbereich in vielen Ländern demokratischen Kontrollen, doch die Kommerzialisierung und die Internationalisierung der Sicherheit rüttelt an der Effektivität dieser Kontrollen.
Die Ursachen für diesen, seit einigen Jahren zu beobachtenden neuen Trend sind vielfältig. Mindestens fünf Gründe spielen eine zentrale Rolle:2

Erstens: Das Abspecken im Militärbereich nach dem Ende des Kalten Krieges

Auf der Angebotsseite gibt es vor allem freie Kapazitäten der Streitkräfte seit dem Ende des Kalten Krieges. Schaut man in die Firmenprospekte oder die Internetseiten privater Militärfirmen, wie Cubic, DynCorp, Vinnell Corporation oder Military Professional Resources Inc. (MPRI) in den USA oder Sandline International, Defence Systems Limited oder Gurkha Security Guards in Großbritannien, stellt man fest, dass sich das Personal im wesentlichen aus ehemaligen Soldaten der Streitkräfte rekrutiert. Die Abrüstung in den 1990er Jahren hat nicht nur zu einer Schwemme gebrauchter Waffen geführt, die aus Europa in zahlreiche Länder der Welt verkauft oder verschenkt wurden, sondern ebenso einen Überschuss qualifizierten militärischen Personals hervorgebracht, das jetzt in den Militärfirmen neue Betätigungsfelder sucht und findet.3 Weil in zahlreichen Länder die Militärhaushalte gekürzt wurden, reagierten die Streitkräfte mit Personalabbau und »Outsourcing« traditionell militärischer Funktionen. Die privaten Militärfirmen entwickelten sich azyklisch: Bei sinkendem Militärbudget, stiegen die Umsätze. Im Golfkrieg 1991 hatte das US-Heer noch 711.000 aktive Soldaten zur Verfügung. Heute sind es mit 487.000 ein Drittel weniger. Im ersten Golfkrieg war das Verhältnis zwischen dem Personal privater Militärfirmen und dem US-Heer ungefähr 1 zu 50 bis 100; im Golfkrieg 2003 kam auf jeweils 10 Soldaten ein Firmenangestellter.4 Aufträge in Höhe von 30 Milliarden Dollar (8% des Gesamtverteidigungshaushaltes) vergibt das Pentagon im Jahr 2003 an private Militärfirmen.5

Zweitens: Die veränderte Art der Kriegsführung

Die Streitkräfte setzen immer mehr auf modernes Gerät. Die Spitze des Eisbergs ist die so genannte Revolution in Military Affairs, in dem die Waffensysteme elektronisch miteinander verknüpft werden und die Befehlshaber, fernab vom eigentlichen Kriegsgeschehen, in Echtzeit über die Entwicklung der Kampfhandlungen informiert werden und ihre Befehle treffen. Die Streitkräfte selbst sind jedoch nicht mehr in der Lage, das moderne Gerät zu bedienen und zu warten.

Drittens: Zonen ungleicher Sicherheit in der globalisierten Gesellschaft und die Rolle subnationaler Akteure

Im Inneren vieler Gesellschaften kann der Staat mit Militär und Polizei nicht mehr die Sicherheit der Bürger garantieren. Vielmehr werden die Akteure des Sicherheitssektors oft selbst zu einer Bedrohung für das Leben vieler Menschen. Die Globalisierung hat die Zonen ungleicher Sicherheit sowohl verschärft als auch öffentlich bewusster gemacht. Immer mehr Menschen werden marginalisiert und zum Sozialfall in der globalisierten Gesellschaft. Im Ländern mit völligem Staatszerfall (in so genannten failed states), in denen nicht mehr klar zu erkennen ist, wer noch über die Souveränität verfügt, ist die Tendenz zu erhöhter Nachfrage nach privatisierten Sicherheitsdiensten und zusätzlichen UN-Friedensmissionen am deutlichsten zu erkennen.6 Diejenigen, die über die notwendigen Ressourcen verfügen, organisieren ihre Sicherheit selbst. Es kommt zur Kommerzialisierung der Sicherheit.7 Diese Privatisierung erhöht oftmals die Unsicherheit. Gleichzeitig versuchen verschiedene sub-nationale Gruppen wie Warlords, Rebellengruppen, organisiertes Verbrechen und Terrorgruppen aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen an dieser Entwicklung zu profitieren oder sie zu bekämpfen. Dieser Trend, vor allem in Entwicklungsländern, ist auf den Begriff »neue Kriege« gebracht worden.8

Viertens: Die zunehmenden »humanitären« Interventionen

Die anschwellende Zahl von Kriegsflüchtlingen, ethnische Säuberungen und Genozid und der daraus resultierende Wunsch zur Prävention bewaffneter Konflikte hat den UN-Sicherheitsrat im letzten Jahrzehnt zum verstärkten Eingreifen auch mit militärischen Mitteln veranlasst. Wenn auch diese Entwicklung nicht völlig neu ist, so haben doch die sich häufenden UN-Friedensmissionen, ebenso aber auch die Bekämpfung des Drogenhandels in Lateinamerika, der Ruf nach dem Militär bei großen Naturkatastrophen, humanitäre Hilfe für Kriegsflüchtlinge und neuerdings der Kampf gegen den internationalen Terror den Trend zu militärischen Eingreifen verstärkt. Die Nachfrage nach militärisch gestützten UN-Friedensmissionen war immer größer als das Angebot an Truppen und anderen Ressourcen. Dies beförderte die Nachfrage nach privaten Akteuren. Begründet und legitimiert werden internationale Militäreinsätze zunehmend mit der Notwendigkeit humanitäre Katastrophen zu verhindern. Der Einsatz privater Militär- oder Sicherheitsfirmen soll dabei die Streitkräfte unterstützen bzw. entlasten oder deren Aufgabe komplett übernehmen.

Fünftens: Die normativ positiv besetzte Politik der Privatisierung

P. W. Singer spricht von „the power of privatization and the privatization of power“.9 Der relativ neue und rasch wachsende Markt des privaten Sicherheitssektors, mit Firmen, die ihren Service weltweit anbieten, entwickelte sich als Teil einer umfassenderen Privatisierung, in der das Konzept des »schlanken Staates« zentral ist. Um kosteneffektivere Marktlösungen zu finden, werden traditionell militärische Funktionen privatisiert. Das neoliberale Konzept vom schlanken Staat hat sich fast kritiklos durchgesetzt, und die Privatisierung hat nicht an den Kasernentoren Halt gemacht und auch sensible Bereiche des Militärs werden privatisiert.

In den US-Streitkräften heißt es, die Einsätze bei humanitären Interventionen lenken von den Kernaufgaben der Streitkräfte ab. In anderen Armeen wird beredt darüber Klage geführt, dass für die neuen Aufgaben keineswegs zusätzlich Mittel bereit gestellt werden. Deshalb ist beispielsweise die Zeitschrift Parameters, das Sprachrohr des US-Heeres, durchaus von der Tätigkeit der privaten Militärfirmen angetan und spricht im Stile von Unternehmensberatern von der Möglichkeit der Konzentration der Streitkräfte auf »Kernkompetenzen«, nämlich »kämpfen«, wenn sie von privaten Militärfirmen entlastet werden.10

Markt und Militär: Das Aufgabenspektrum privater Militärfirmen

Privatisierung in den Streitkräften ist kein klar definierter, sondern ein eher schillernder Begriff. Sehr unterschiedliche Aktivitäten werden darunter subsummiert.11 Sie reichen von der Sicherung privaten Eigentums bis zum Schutz von Minen und Förderanlagen global operierender Firmen, von der Verwaltung und Vermarktung militärischer Liegenschaften bis zur Privatisierung des Fuhrparks von Armeen, von Transportdiensten für UN-Friedensmissionen bis zum Schutz von Hilfskonvois, von der Rekrutierung des Militärpersonals bis zur Ausbildung im Nahkampf, von Kriegsvorbereitungen wie Spionagetätigkeiten bis zur Meldung von Truppenbewegungen, von der Logistik für das Militär bis zum Einsatz in Kampfhandlungen, von technisch komplexen bis zu eher schmutzigen Aufgaben wie der Verteidigung der Privilegien korrupter Eliten. Bezogen auf die Produktpalette (und auch auf die Nähe zum eigentlichen Kriegsgeschehen) kann man zwischen drei unterschiedlichen Firmenprofilen bzw. Tätigkeitsarten unterscheiden:

  • 1. Beratung und Ausbildung,
  • 2. Zulieferer sowie logistische und technische Dienstleistungen und
  • 3. Kampfhandlungen, also Firmen, die auch den Finger am Abzug haben.

Der größte Zuwachs an Aufträgen ist bei den Firmentypen 1. und 2. zu verzeichnen, während viele Firmen vor der direkten Beteiligung in Kampfhandlungen zurückschrecken.

Mit der heutigen Privatisierung werden die Aufgabenbereiche des Militärs deutlich eingeschränkt, gleichzeitig aber durch die internationalen Einsätze geografisch und funktionell erweitert. Diese Privatisierung findet in manchen Ländern in großem Stile und geplant statt. Vor allem in den USA und Großbritannien wird die Privatisierung forciert vorangetrieben.12 In Großbritannien ist die Privatisierung vor allem ein Nebenprodukt knapper öffentlicher Haushalte und Resultat des Drucks des Marktes. In den USA passt die Privatisierung in das marktwirtschaftlich orientierte Konzept der Konservativen, vor allem aber auch in das Konzept, die Streitkräfte auf Kampfeinsätze vorzubereiten, ohne sie dabei zu vergrößern. Wenn beispielsweise amerikanische Panzer im Joint Readiness Training Center des Heeres in Fort Polk, Louisiana, durch die Straßen rattern und plötzlich Zivilisten im Gefechtsgetümmel auftauchen, dann ist dies keineswegs eine ungewollte Störung des Trainings. Vielmehr hatte man die Firma Cubic beauftragt, so realistisch wie möglich den Einmarsch der Truppen in Bagdad zu simulieren. Während MPRI die amerikanischen GIs in Camp Doha in Kuwait im Nahkampf ausbildete, flog Cubic bosnische Flüchtlinge aus den ganzen USA nach Fort Polk, um die Kriegserfahrungen möglichst realistisch nachzuspielen. Über 600 Cubicbeschäftigte waren nötig, um eine Übung für 6.500 Soldaten durchzuführen.13 Gelegentlich sind auch deutsche Firmen beteiligt. Die wegen illegaler Waffengeschäfte angeklagte Firma Optronic aus dem süddeutschen Königsbronn sucht auf ihrer Internetseite „Civilians on the Battlefield“. „Statisten für Rollenspiele bei Manövern der U.S. Armee“, heißt es etwas weniger martialisch in der deutschen Anzeige. Das alles ist völlig legal.14

Weniger spielerisch ging es im Bürgerkrieg in Sierra Leone zu. Während Sandline International wegen der Beteiligung an Kampfhandlungen in Großbritannien ins Gerede kam, sorgte Defence Systems Limited im gleichen Konflikt für die Logistik der UN-Blauhelme. Die ursprünglich südafrikanische Firma Executive Outcome, die sowohl in Angola als auch in Sierra Leone an Kampfhandlungen beteiligt war, musste aufgrund gesetzlicher Auflagen Südafrika verlassen. Jetzt findet man im Internet Niederlassungen von Executive Outcome in Großbritannien und den USA.

Die amerikanische Firma MPRI rühmt sich jede Art militärischer Mission ausführen zu können (außer Kampfeinsätzen). Im Gegensatz zu anderen Firmen verzichtet MPRI auf unmittelbare Kampfeinsätze. MPRI hat laut Eigenauskunft derzeit internationale Verträge „in allen Regionen der Welt.“ MPRI unterhält ein »Kampfsimulationszentrum« und ein »Kampfausbildungscamp«. Neben der Drogenbekämpfung in Kolumbien, wo die US-Regierung MPRI-Berater bei Polizei und Militär einsetzt, geriet MPRI in die internationale Kritik, weil die Firma die kroatische Armee zu einem Zeitpunkt ausbildete als in der Krajina ethnische Säuberungen durchgeführt wurden. Ob MPRI direkt beteiligt war, ist nicht nachzuweisen. Die Beteiligung an Kampfhandlungen passiert heute jedoch nicht nur mit der Waffe in der Hand. Ein Experte, der beispielsweise am Computer Daten über Truppenbewegungen eingibt, spielt eine entscheidende Rolle auf dem »automatisierten Schlachtfeld«.

In unterentwickelten oder kollabierten Ländern werden die privaten Dienste nachgefragt, um schwache Regierungen zu stabilisieren.15 Statt die staatlich legitimierten Streitkräfte zu beauftragen, schließen Regierungen Kontrakte mit privaten Spezialfirmen, weil das Militär die Aufgaben nicht erfüllen kann oder sich auf die Kernkompetenzen konzentrieren soll. Viele dieser Tätigkeiten werden von Privatfirmen durchaus effizient ausgeführt; in manchen Entwicklungsländern haben sie sich als seriöse Alternative zu ineffizienten oder nicht vertrauenswürdigen Streitkräften etabliert.16 Für den Staat sind die Privaten auch deshalb attraktiv, weil nur für den Service gezahlt werden muss, den die Regierung anfordert und erhält. Ein stehendes Heer dagegen kostet immer knappe Ressourcen.

Firmen mit beschränkter Haftung

Die meisten Aktivitäten der privaten Militärfirmen bewegen sich im Rahmen bestehender Gesetze, insofern als sie in der Regel politisch gewollt und durch staatliche Stellen lizenziert sind. Manche Firmen aber operieren in einer Grauzone bzw. ihre Tätigkeiten sind nicht staatlich reguliert, wenn nicht gar illegal. Sehr unterschiedliche Akteure sind als private Sicherheitsdienstleister tätig und oftmals werden die Firmen als moderne Söldner bezeichnet.17 Die privaten Militärfirmen wehren sich dagegen. Im Gegensatz zu Söldnergruppen legen die modernen Militärfirmen Wert darauf, dass sie ordnungsgemäß registriert sind, ihre Steuern bezahlen und nicht mit dem internationalen Recht in Konflikt kommen. Als die Firma DynCorp in die Kritik geriet, als sieben ihrer Angestellten in Bosnien 12-jährige Mädchen prostituierten, hielt sich die Firma aus Imagegründen bedeckt und entließ die Mitarbeiter.18 Sandline International betont jetzt, nachdem die Firma in England wegen ihres Engagements in Sierra Leone öffentlich kritisiert wurde – in ihrer Firmenphilosophie ihre Leistungskompetenz unter strikter Beachtung der Menschenrechte. Die amerikanische Firma MPRI hebt auf ihrer Internetseite ausdrücklich hervor, dass sie „mit einer Lizenz der US-Regierung in einer Reihe von Ländern“ operiert.

Söldner ziehen in der Regel für einen Auftraggeber in den Krieg; sie sind, wie Singer es ausdrückt: »guns for hire«19. Private Militärfirmen haben zwar auch ihren Ursprung als private Akteure im Krieg, doch im Gegensatz zu Söldnern haben sie eine hierarchisch gegliederte Organisationsstruktur. Sie sind nicht als Einzelperson, sondern als Firma tätig. In dieser Beziehung sind sie eher mit Rüstungsfirmen vergleichbar. Sie rekrutieren ihr Personal offen, bieten einen breiteren Service an und arbeiten für mehrere Auftraggeber gleichzeitig. Sie konkurrieren um Aufträge auf dem Weltmarkt und versuchen nicht, ihre Existenz zu bestreiten, wie dies bei Söldnern oft der Fall ist.20Anders als Rüstungsfirmen operieren sie jedoch eher als virtuelle Firmen ähnlich wie Internetfirmen. Sie benötigen vergleichsweise wenig Kapital und investieren nicht in große Produktionsstätten. Die Markteintrittshürden sind nicht besonders hoch, da sie rasch erfahrenes Personal anheuern können. Ihr Kapital ist vor allem das Know-how. MPRI beschäftigt beispielsweise nur 800 Personen fest, kann aber weitere 11.000 jederzeit für Kurzeinsätze abrufen. Die Einkommen der Beschäftigten schwanken stark. Während der Kriegsphase auf dem Balkan heuerte MPRI lokal Interessenten für 5.000 Dollar bar bei der Anwerbung und 1.500 Dollar monatlich steuerfrei an.21 In den USA wird zwischen dem Zwei- bis zum Zehnfachen des militärischen Salärs von privaten Firmen gezahlt.22Der Boom der privaten Militärfirmen war dem vor allem an Aktienfirmen interessierten Magazin Fortune eine lange Analyse wert. DynCorp konnte im Jahr 2002 seinen Umsatz um 18% auf 2,3 Milliarden Dollar steigern, davon rund ein Viertel im Bereich der privaten Militärdienstleistungen. Cubics Gewinn wuchs im gleichen Jahr um 41%. L3 Communications gehörte 2002 zu den 100 am schnellsten wachsenden Firmen und verbuchte ein durchschnittliches Gewinnwachstum von 33 Prozent in den letzten drei Jahren. Kellogg, Brown & Root (KBR), ein Tochterunternehmen von Haliburton, dem der heutige Vizepräsident Dick Cheney früher als Vorstandsvorsitzender vorstand, versorgte rund 20.000 Soldaten des US-Militär auf dem Balkan mit Nahrungsmitteln, Wasser, frischer Wäsche, Post und schwerem Gerät. Alleine 42 Millionen Mahlzeiten lieferte KBR und wusch 3,6 Millionen Säcke Wäsche. Die Aufträge des Pentagon an KBR beliefen sich auf 3 Milliarden Dollar. Heute sind ungefähr 10 mal mehr Truppen der US-Streitkräfte im Nahen Osten im Einsatz. Und Haliburton ist wieder einer der Hauptauftragnehmer.23Jetzt interessiert sich auch das Großkapital für die mittelgroßen gewinnträchtigen privaten Militärfirmen.24 1997 fusionierten die Londoner Firma Defense Service Limited und die US-Firma Arms Holdings, die 1999 und 2000 zu den 100 am schnellsten wachsenden Firmen der Fortune-Liste gehörte. MPRI wurde 2000 von L3 Communications aufgekauft. Computer Science Corporation, selbst ein großer Auftragnehmer des Pentagon, zahlte im letzten Jahr 950 Million Dollar, um DynCorp aufzukaufen. Mit einer Weltmarktstrategie (»global branding« im Jargon der Business Schools) wollen die Firmen sich ein seriöses Image zulegen und ihren Service weltweit anbieten und nicht mehr primär nur für die US-Streitkräfte arbeiten.Ob der Privatsektor die Finanzprobleme in den Militärhaushalten lösen oder lindern kann, muss sich erst noch erweisen. Bislang sind die Erfahrungen noch zu gering. Die anekdotenhafte Evidenz ist ausreichend, um dieses Konzept für die Finanz- und Verteidigungsminister weiter attraktiv zu machen; sie reicht aber nicht aus, um den Praxistest bereits als gelungen anzusehen. Private Militärfirmen sind profitorientierte Anbieter militärischer Dienstleistungen, die nicht unbedingt immer den aus sicherheitspolitischen Gründen gewünschten Dienst günstig anbieten. So wird beispielsweise KBR vorgeworfen, während der Konflikte auf dem Balkan unzureichende Dienstleistungen erbracht zu haben und in vier von sieben Verträgen der US-Armee zu hohe Beträge in Rechnung gestellt zu haben. Zwei der übrigen Verträge übernahm dann die Armee selbst und der letzte wurde an eine andere Firma vergeben.25

Steht das staatliche Gewaltmonopol zur Disposition?

Wenn auch hinter der Privatisierung das Bemühen steckt, die Streitkräfte effizienter zu führen, so birgt dieser Ansatz auch Gefahren. Eine zentrale Funktion des Staates, nämlich das Gewaltmonopol, könnte unterhöhlt oder sogar ganz aufgegeben werden. Obwohl diese Norm heute im Grundsatz nicht umstritten ist, wird sie de facto unterhöhlt. Sicherheit geht um die Frage, wer hat und wer sollte die legitime Ausführung und Kontrolle der Gewalt haben.26 In der globalisierten Welt ist diese Kontrolle in Frage gestellt. Ein global wirksames staatliches Gewaltmonopol existiert nicht, und die Machtlosigkeit des UN-Sicherheitsrates hat dies im Falle des Irakkrieges aktuell erneut bestätigt. Um so nachhaltiger stellt sich die Frage nach »global governance« im Sicherheitsbereich.

Die Art, wie staatliche Gewalt angewendet und reguliert wird, wird durch den Einsatz privater Firmen nachhaltig beeinflusst. Während die Regierung gegenüber dem Parlament rechenschaftspflichtig ist, sind private Firmen dies nur gegenüber ihren Aktionären oder Besitzern und dem Auftraggeber. Manche Regierung ist durchaus interessiert genau aus diesem Grunde die Dienste privater Firmen in Anspruch zu nehmen. Da beispielsweise in den USA die Kontrollen des Kongresses bei Rüstungsexporten, Militärhilfe und in der Drogenbekämpfung der Regierung weniger Handlungsspielraum erlauben, greift die Regierung gerne auf die privaten Militärfirmen zurück. Auch gegenüber der Öffentlichkeit muss sie sich bei möglichen Verwicklungen oder wenn es zu Toten oder Verletzten bei den Einsätzen kommt nicht verantworten, da es sich ja nicht um Angehörige der Streitkräfte handelt.

Derzeit ist nicht erkennbar, dass sich der Trend der Privatisierung umkehrt oder Gegenkräfte entstehen. Privatisierung im Militär ist kein kurzfristiger oder vorübergehender Modetrend. Es ist deshalb zweifellos erforderlich, Regeln für dieses Engagement der Privatfirmen im internationalen Recht zu verankern. Der Einsatz der privaten Militärfirmen verläuft nicht spannungsfrei, denn es stehen sich zwei Grundprinzipien gegenüber, die nicht immer kompatibel sind: Die Sicherheit des Auftraggebers und das Gewinnmotiv der Firmen. Das öffentliche Gut »Sicherheit« und das private Gut »Gewinn« können im Konflikt miteinander liegen. Das Risiko, das Firmenvermögen zu verlieren, ist bei gewaltsamen Auseinandersetzungen durchaus gegeben. Im Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea Ende der 1990er Jahre beispielsweise hatte Äthiopien eine kleine, aber umfassende russische Luftwaffe von der Firma Sukhoi, einem Flugzeugbauer, einschließlich moderner Su-27 Kampfjets mit Piloten und Bodenpersonal geleast. Selten wurde diese Luftwaffe eingesetzt; denn auch die eritreische Luftwaffe hatte ihrerseits russische und ukrainische Piloten angeheuert. Die Firmen auf beiden Seiten zögerten, ihr Leben und das Firmenkapital aufs Spiel zu setzen.27

Ein weiteres Kennzeichen der Privatisierung ist, dass private Kampftruppen (Firmentyp 3) meist von Regierungen angeheuert werden, die schwach sind und sich in einer Notlage befinden. Gleichzeitig sind dies die Regierungen, die am meisten Schwierigkeiten haben, die Ressourcen für die Privatfirmen aufzubringen. Oft werden dann »Hypotheken« aufgenommen, in dem den Privatfirmen Prospektionsrechte für Rohstoffe (Öl, Diamanten, Edelholz usw.) übertragen werden. Damit wird die Zukunft der Firmen an die Zukunft des Auftraggebers geknüpft und mancher Konflikt verlängert. Es kommt zur gegenseitigen Abhängigkeit von Auftraggeber und Auftragnehmer. In einer solchen Situation ist nicht klar, welche staatlichen Aufträge umgesetzt werden, wer darüber entscheidet, ob entschieden wird und wenn ja, welche Art Gewalt angewendet wird.

Die Privatisierung militärischer Funktionen führt zu einem fundamentalen langfristigen Wandel im Verhältnis von Militär und Nationalstaat. Militärische Ressourcen sind auf dem globalen freien Markt auf Kontraktbasis käuflich. Experten für fast jede militärische Tätigkeit stehen abrufbar bereit. Wirtschaftliche Macht kann damit noch schneller in militärische Macht umgesetzt werden. Während staatliche Armeen nach Max Webers Modell vom Nationalstaat für ein allgemeines politisches Ziel, die Sicherheit der Bürger, eingesetzt werden, übernehmen jetzt profitorientierte Einheiten einen Teil dieser Funktion.

Es sind erhebliche Zweifel angebracht, ob dieser Prozess tatsächlich bruchlos und störungsfrei ablaufen wird. Die Globalisierung hat die Bedingungen für das Webersche Konzept des Nationalstaates verändert. Denationalisierung findet auf zahlreichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Ebenen statt und auch die Konzeption national organisierter und orientierter Armeen ist in Frage gestellt. Doch bislang haben sich die parlamentarischen Kontrollen nicht parallel zu den Tendenzen der Internationalisierung und Privatisierung des Militärs mit entwickelt. Fallen die Werkzeuge von Krieg und Gewalt und deren Kontrolle durch den Nationalstaat in die Hände nicht-staatlicher Akteure (von kriminellen Gruppen bis zu bewaffneten Aufständischen, von angeheuerten Gangs bis zu legal operierenden Firmen)? Ist es klug und politisch vertretbar, Kontrollfunktionen im nationalen Rahmen aufzugeben (oder nicht mehr wahrnehmen zu können) bevor neue Kontrollmechanismen international geschaffen sind? Werden irgendwann die Streitkräfte eines Landes gar gegen die eigenen Bürger in privaten Militärfirmen auf unterschiedlichen Seiten der Front kämpfen oder Militärfirmen gegeneinander eingesetzt werden (wie das in dem oben erwähnten Äthiopien-Eritrea-Krieg russischen Firmenangehörigen passierte)? Dürfen die Angestellten der privaten Militärfirmen bei ihren Einsätzen Waffen tragen und unterliegen sie den Genfer Protokollen als Kombattanten und Kriegsgefangene oder sind sie Zivilisten auf dem Schlachtfeld, wenn sie an der Seite von Kommandospezialkräften im Einsatz sind? Sind die Angestellten dieser Firmen Deserteure, wenn sie in kritischen Situationen ihren »Arbeitsplatz« verlassen? Dies sind keine nur konzeptionell wichtigen Fragen, sie betreffen die heutige Realität ganz konkret. Airscan, eine amerikanische Firma, die in der Drogenbekämpfung in Kolumbien tätig ist, koordinierte die Bombardierung eines Dorfes, in dem 18 Bewohner (einschließlich Kinder) getötet wurden. In Peru leiteten Angestellte der Firma Avivation Development bei einer Überwachungsaktion der CIA fälschlicherweise den Abschuss eines kleinen Zivilflugzeuges ein, in dem eine Familie amerikanischer Missionare ums Leben kam.28 Wer übernimmt hierfür die Verantwortung?

Das neoliberale Konzept, auf Marktmechanismen auch im Sicherheitsbereich zu setzen, stellt die institutionelle Balance zwischen ziviler Kontrolle und professioneller Autonomie für das Militär in Frage. War schon der Bereich Sicherheit bislang von wirksamen parlamentarischen Kontrollen weit entfernt, so werden die Parlamentarier in Zukunft noch weniger mitzureden haben, weil sich das Militär durch internationale Kooperationen und durch die Übertragung von Aufgaben an Privatfirmen tendenziell den Kontrollen entzieht. Die Unterschiede zwischen der Privatisierung der Bahn oder Post einerseits und Militär und Polizei andererseits sind qualitativer Natur, die im staatlichen Gewaltmonopol begründet ist – einer Errungenschaft, die in Europa vor mehr als 350 Jahren mit dem westfälischen Frieden als zivilisatorischer Fortschritt erreicht wurde.

Anmerkungen

1) David Shearer, Private Armies and Military Intervention, in: Adelphi Papers 316, London: International Institute for Strategic Studies, 1998. Robert Mandel, The Privatization of Security, in: Armed Forces & Society, Vol. 28, Nr. 1, Fall 2001, S. 129-151. Mark Duffield, Post-modern Conflict: Warlords, Post-adjustment States and Private Protection, in: Civil Wars, Vol. 1, Nr. 1, S. 65-102. Peter Lock, Sicherheit à la carte? Entstaatlichung, Gewaltmärkte und die Privatisierung des staatlichen Gewaltmonopols, in: Tanja Brühl et. al (Hrsg.), Die Privatisierung der Weltpolitik, Bonn 2001, S. 200-229.

2) Eine etwas anders geartete Begründung in P. W. Singer, Corporate Warriors: the Rise and Ramifications of the Privatized Military Industry, in: International Security, Vol. 26, Nr. 3, Winter 2001/2002, S. 186-220.

3) Zur Demobilisierung der Streitkräfte weltweit siehe Bonn International Center for Conversion (BICC), Conversion Survey, Baden-Baden, verschiedene Jahrgänge.

4) Diese grobe Schätzung stammt von P. W. Singer (Brookings) und wird zitiert in Nelson D. Schwartz, The War Business. The Pentagon‘s Private Army, in: Fortune, 3. März 2003 (www.fortune.com/fortune/articles/0,15114,427948,00.html).

5) Nelson. D. Schwartz, ibid.

6) Peter Viggo Jakobsen, The Transformation of United Nations Peace Operations in the 1990s, in: Cooperation and Conflict, Vol. 37, Nr. 3, 2002, S. 268-282.

7) Erhard Eppler, Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt?, Frankfurt/Main 2001.

8) Mary Kaldor, New and Old Wars: Organized Violence in a Global Era, Cambridge 1999. Herfried Münkler, Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, Weilerswist 2002.

9) P. W. Singer, ibid., S. 197.

10) Eugene B. Smith, The New Condottieri and US Policy: The Privatization of Conflict and Its Implication, in: Parameters, Vol. XXXII, Nr. 4, Winter 2002/2003, S. 116. So auch FORTUNE, siehe Nelson D. Schwartz, ibid.

11) In tabellarischer Form habe ich die unterschiedlichen Tätigkeiten privater Militär- und Sicherheitsfirmen klassifiziert, siehe Herbert Wulf, Change of Uniform – But No Uniform Change in Function, Soldiers in Search of a New Role, in: BICC–Conversion Survey 2002, Baden-Baden 2002, S. 97.

12) Neil V. Davis, Outsourcing, Privatisation and other Forms of Private Sector Involment: Conditions and Requisites, unveröffentlichtes Konferenzpapier für die im Rahmen des Euro-atlantischen Partnerschaftsrats abgehaltene Konferenz »Defence Reform, Defence Industry and the State« des George Marshall Centre und der NATO in Wildbad Kreuth im August 2000.

13) Nelson D. Schwartz, ibid.

14) www.optronic-online.de

15) Musah, Abdel-Fatau and J. Kayode Fayemi, (Hrg.) Mercenaries, An African Security Dilemma. London und Sterling, Virginia, Pluto Press, 2000. Damian Lilly und Michael von Tangen Page, Security Sector Reform: The Challenges and Opportunities of the Privatisation of Security, International Alert, London, 2002.

16) Robert Mandel, ibid., S. 135.

17) Alex Vines, Mercenaries, Human Rights and Legality, in: Musah, Abdel-Fatau and J. Kayode Fayemi, ibid., S. 169-197. Auch der Beauftragte der Vereinten Nationen zum Einsatz von Söldner, Ernesto Bernales Ballesteros, hat in seinem Bericht für das Jahr 2002 die Aktivitäten der privaten Sicherheitsfirmen ausdrücklich angesprochen. United Nations, Economic and Social Council, The Right of Peoples to Self-Determination and its Application to Peoples Under Colonial or Alien Domination or Foreign Occupation (UN Commission on Human Rights), E/CN.4/2002/20, Genf 10. Januar 2002.

18) Nelson D. Schwartz, ibid.

19) P. W. Singer, ibid. S. 191.

20) Die Problematik der mangelnden gesetzlichen Regelung habe ich thematisiert in: Herbert Wulf, Privatisierung der Sicherheit. Ein innergesellschaftliches und zwischenstaatliches Problem, in: Vereinte Nationen, Vol. 50, Nr. 4, August 2002, S. 144-148.

21) Berichtet von Franz-Josef Hutsch in einem Beitrag im Hörfunk NDR 4, in: »Streitkräfte und Strategien« am 8. Februar 2003.

22) P. W. Singer, S. 199.

23) Jeremy Kahn, Will Haliburton Clean Up? In: Fortune, 30 März 2003 (www.fortune.com/fortune/fortune500/articles/0,14114,438798.00.html).

24) Nelson D. Schwartz, ibid.

25) US General Accounting Office, Contingency Operations: Opportunities to Improve the Logistics Civil Augmentation Program, GAO/NSIAD-97-63, Februar 1997, zit. in P. W. Singer, S. 205.

26) Robert Mandel, ibid., S. 135.

27) P. W. Singer, ibid., S. 205.

28) P. W. Singer, ibid., S. 218.

Prof. Dr. Herbert Wulf leitete bis Ende 2001 das Internationale Konversionszentrum Bonn (BICC). Er führt dort ein von der Volkswagen-Stiftung gefördertes Forschungsprojekt zur Internationalisierung und Privatisierung der Streitkräfte durch.

Paramilitärs und Paramilitarismus

Paramilitärs und Paramilitarismus

von Sabine Kurtenbach

Wenn von Paramilitärs in Lateinamerika die Rede ist, so werden vor allem historische Erinnerungen wach. Erinnerungen an die 70er und den Anfang der 80er Jahre in denen Todesschwadrone im Auftrag der Herrschenden in zahlreichen Ländern folterten und mordeten, oft im engsten Kontakt zu den regulären militärischen Einheiten. Im Verlauf dieser Kriege erreichten viele dieser Gruppen eine relative Autonomie, die in den letzten Jahren vielfach noch ausgebaut werden konnte. Die Autorin zeichnet den Weg der Paramilitärs anhand der Entwicklung in Guatemala und Kolumbien nach und zeigt auf, warum die Zurückdrängung der paramilitärischen Strukturen eine unerlässliche Voraussetzung für eine Demokratisierung ist.

Der Begriff Paramilitärs wird in erster Linie mit den Todesschwadronen der 70er Jahre in Verbindung gebracht, die auf dem Subkontinent in zahlreichen Ländern die Herrschaft der diktatorischen Militärregime gewaltsam abgesichert haben. Da sich selbst diese Regime einen legalen Anstrich gaben, haben sie die Repression gegen politische Gegner, deren »Verschwindenlassen«, deren Folter und deren Mord, vielfach paramilitärischen Gruppierungen überlassen. Die Mitglieder dieser Gruppen waren in der Regel Angehörige des Militärs.

In den Kriegsländern Zentralamerikas bestanden die paramilitärischen Akteure dagegen aus von den Sicherheitskräften bewaffneten »Zivilisten« und dienten in erster Linie der Aufstandsbekämpfung und der damit verbundenen Kontrolle der Bevölkerung. Am ausgeprägtesten war dieses System in Guatemala, wo etwa eine Million Menschen zur Mitarbeit in sog. Zivilpatrouillen gezwungen wurde. In El Salvador hatten die zivilen Verteidigungskomitees etwa 60-80.000 Mitglieder, in Nicaragua waren in den 80er Jahren etwa 500.000 Menschen Mitglieder ziviler Milizen.1 Auch in Kolumbien entstand ein Teil der sog. Selbstverteidigungsgruppen durch staatliche und private Initiativen der Aufstandskontrolle, etwa in den 90er Jahren die sog. »Convivir« (Zusammenleben). In Peru wurden die »rondas campesinas« von der Regierung Fujimori als zentrales Element des Kampfes gegen Sendero Luminoso eingesetzt.

Im Verlauf dieser Kriege erreichten die verschiedenen paramilitärischen Gruppen aber überall ein erhebliches Maß an Autonomie, weil sie hauptsächlich im ländlichen Raum agierten, wo es nur eine prekäre staatliche Präsenz gab. Außerdem profitierten sie – ebenso wie die staatlichen Sicherheitskräfte – von den existierenden kriegsökonomischen Strukturen; sei es direkt oder indirekt von der US-Militärhilfe, sei es durch die Kontrolle von illegalen Aktivitäten im Grenzbereich (Schmuggel, Drogenhandel, etc.). In den lateinamerikanischen Friedensprozessen Ende des 20. Jahrhunderts wurden diese Gruppen und deren Demobilisierung nirgends explizit thematisiert. Ein Zeichen dafür, dass sie allgemein – in Zentralamerika mehr als in Kolumbien oder Peru – als mehr oder minder direkt abhängig von den staatlichen Sicherheitskräften betrachtet wurden.

Wandel und Kontinuität von Gewalt und paramilitärischen Akteuren

Spricht man am Anfang des 21. Jahrhunderts dagegen von Paramilitarismus und Paramilitärs in Lateinamerika, so hat sich das Bild grundlegend gewandelt. Zwar gibt es in dem einen oder anderen Fall sehr deutliche historische Kontinuitäten zu den Phänomenen der 70er Jahre, allerdings verfügen diese Gruppen über ein hohes Maß an Autonomie, eine Verbindung zu staatlichen Sicherheitskräften besteht »nur« noch im Kontext personeller oder auch krimineller Netzwerke oder durch die Toleranz und engagiertes »Wegsehen« seitens des Militärs. Letztlich spiegelt diese Veränderung den Wandel des Gewaltgeschehens in der Region wider.

Während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten die US-Dominanz und vor allem der Kalte Krieg das Gewaltgeschehen in Lateinamerika. Die Gewalt war überwiegend politisch begründet, sei es zur Erhaltung des Status quo, sei es zu deren Veränderung. Während das Ende der Ost-West-Konfrontation – mit Ausnahme Kubas – vor allem auf die Dynamik der innergesellschaftlichen Konflikte in Lateinamerika einwirkte, veränderten zwei andere Entwicklungen maßgeblich deren Struktur:

  • Trotz aller Defizite und der weitgehenden Reduzierung auf die Abhaltung regelmäßiger und sauberer Wahlen entzog die Demokratisierung der Gewalt die politische Legitimierung und damit auch den ideologischen Bezugsrahmen.
  • Die neoliberale Strukturanpassung erhöhte die soziale Fragmentierung und untergrub die Organisationsfähigkeit der kollektiven Akteure in der gesamten Region. Dies wird nicht nur in der hohen Volatilität politischer Parteien, sondern auch in der Schwäche von Gewerkschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft deutlich.

In bezug auf die Gewalt und die Gewaltakteure drücken sich diese Veränderungen in einer Privatisierung und Diffusion, d.h. in einer Vereinzelung und Verallgemeinerung der Gewalt aus (vgl. Lock 1999). Lateinamerika ist auch heute noch – allerdings mit bedeutenden innerregionalen Unterschieden – weltweit der gewalttätigste Kontinent (WHO 2002). Die Länder südlich des Rio Grande weisen die höchsten Homizidraten (Zahl der Morde pro 100.000 Einwohner) auf. Aber auch der Raum, in dem die Gewalt stattfindet, hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Fanden die Guerillakriege noch überwiegend auf dem Land statt, so ist die Gewalt heute vor allem in den lateinamerikanischen Städten »zu Hause«. Ein Großteil der Gewalt geschieht im Umfeld der organisierten und nicht-organisierten Kriminalität, wobei die Grenzen fließend sind. Kriminalität – d.h. die vorsätzliche Überschreitung von strafrechtlichen Regeln einer Gesellschaft – ist in Lateinamerika nicht weiter verbreitet als in anderen Weltregionen, sie ist dort aber in höherem Maß gewalttätig und mit dem Einsatz von Schusswaffen verbunden (vgl. Fajnzylber u.a. 1998).

Die organisierte Kriminalität nahm ihren Ausgang und verdankt ihren Aufschwung dem Drogenhandel, in deren Umfeld zunächst in Kolumbien, später aber auch in Mexiko und Brasilien mafiöse Organisationen mit globaler Reichweite entstanden sind (vgl. Serrano/Toro 2002). Waffenhandel und Geldwäsche sind wesentliche Bestandteile dieses Geschäfts, ebenso wie Entführungen, Menschenhandel und Schmuggel (z.B. Autos). Aber auch die nicht-organisierte Kriminalität weist einen gewissen Grad an Organisation auf bzw. ist in weiten Teilen direkt und indirekt an die organisierte Kriminalität angebunden. Zentraler Akteur sind in vielen Ländern die zahlreichen »Jugendbanden«, deren Zielsetzung sich in erster Linie auf das eigene Überleben und im Rahmen der Gruppe meist auf die soziale, ökonomische und politische Kontrolle des eigenen Stadtviertels bezieht. Ähnliche Phänomene gab und gibt es auch in anderen Ländern und Weltregionen – in Afrika sind diese Gruppen vielfach die zentralen Akteure der »neuen« Kriege und der Warlord-Strukturen (vgl. Nissen/Radtke 2002, Riekenberg 1999).

Die Ausübung oder Androhung von Gewalt ist im Kontext der organisierten Kriminalität ein zentraler Mechanismus zur Absicherung der »Geschäfte«, die aufgrund ihres kriminellen Charakters keine vertragliche Regelung aufweisen. Außerdem spielt die Gewalt bei den Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppen eine große Rolle, wenn es um die Sicherung oder Ausdehnung des eigenen »Geschäftsbereichs« geht. Hat sich eine Gruppe dann durchgesetzt – und insofern ein Monopol errichtet – geht die Gewalt zumindest vorübergehend zurück, weil diese Gruppen in ihrem Territorium durchaus Funktionen der öffentlichen Sicherheit erfüllen. Allerdings ist diese weder auf rechtsstaatliche noch demokratische Mechanismen, sondern auf Gewalt gestützt. Schon aus diesem Grund ist die so entstandene Sicherheit meist prekär und kommt nur der jeweiligen Klientel zugute.2

Guatemala – Paramilitärs im Frieden

Guatemala ist ein Beispiel dafür, wie eine im Krieg etablierte Gewaltordnung den Übergang vom autoritären zum formal demokratischen Regierungssystem sowie die Beendigung des Krieges überlebt und sich den neuen Gegebenheiten anpasst. Zentrale Bestandteile dieser Ordnung sind klientelistische und kriminelle Netzwerke aus Teilen des Militärs, der ehemaligen Regierungspartei Frente Republicano Guatemalteco (FRG) und der paramilitärischen Gruppen, die im Krieg gegründet wurden (vgl. hierzu Peacock/Beltrán 2003). Diese Gruppen schüren vor allem, aber nicht nur, auf der lokalen Ebene und auf dem Land Unsicherheit und Angst, was auch auf der nationalen Ebene Wirkung zeigt. Zum einen tragen die Gewalt und/oder deren Androhung dazu bei, die substantielle Umsetzung der Friedensverträge von 1996 und damit die Reform von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu verhindern. Zum anderen untergräbt dies die ohnehin fragile legitimatorische Basis des demokratischen politischen Systems.

Schon deshalb war und ist es extrem schwierig, die paramilitärischen Strukturen des Krieges zu demobilisieren. So blieb die Bewaffnung der Zivilpatrouillen kurz nach Kriegsende unter anderem mit dem Argument aus, die Mitglieder der PAC (Patrullas de Autodefensa Civil) hätten sich die Waffen selbst gekauft, weshalb der Staat sie ihnen jetzt nicht wegnehmen könne. Eine sehr spezielle Sicht auf Privateigentum und staatliches Gewaltmonopol. Die PAC haben sich in einigen Regionen des Landes reorganisiert, heute sollen sie über ca. 500.000 Mitglieder verfügen. Seit 2003 haben sie mehrfach zentrale Kreuzungen und Straßen des Landes besetzt sowie ihren Protest in die Hauptstadt getragen, um eine »Entschädigung« für ihre Beteiligung am Krieg einzufordern. Die Regierung hat dies daraufhin zugesagt. Politik in Guatemala ist auch zu Friedenszeiten noch überwiegend gewaltgestützt.

Kolumbien – Frieden mit den Paramilitärs?

Historisch zeigen sich in Kolumbien ähnliche Entwicklungen wie in Guatemala, weil sich dort bewaffnete Gruppen, die zunächst in den 50er Jahren im Kontext des Kriegs zwischen Liberaler und Konservativer Partei entstanden, in weitgehend kriminelle Organisationen und Banden transformierten (vgl. Sánchez/ Meertens 1983). Aktuell findet allerdings der umgekehrte Prozess statt, in dessen Rahmen sich kriminelle Organisationen politisieren, um in Verhandlungen mit der Regierung eintreten zu können.

Bis Mitte der 90er Jahren entstanden in Kolumbien circa 250 paramilitärische Gruppierungen mit unterschiedlicher regionaler Präsenz und verschiedenem Organisationsgrad.3 In den Städten Kolumbiens bildeten die Jugendbanden die Basis der paramilitärischen Gruppen. Weltweit bekannt geworden sind die Gruppen der sog. »sicarios«, die gedungenen Mörder, die vom Erlös ihres »Geschäfts« der Mutter einen Kühlschrank kauften.4 Die Drogenbosse rekrutierten und funktionalisierten diese Gruppen für ihre Zwecke, aus zunächst losen und punktuellen Formen der Kooperation entstanden schlagkräftige Verbände, die sich im Verlauf der 90er Jahre nicht nur verselbständigten, sondern auch politisierten. Vor diesem Hintergrund wuchs in den vergangenen Jahren in der kolumbianischen Gesellschaft das Bewusstsein dafür, dass die Paramilitärs unter Umständen gefährlicher sind als die Guerillagruppen. Und dies obwohl zahlreiche so genannte »Selbstverteidigungsgruppen« als Reaktion regionaler Eliten auf die wachsenden Aktivitäten der Guerilla sowie die Demokratisierung und Dezentralisierung des Landes entstanden, die seit Mitte der 80er Jahre die politischen Spielregeln grundlegend verändert haben. Ganz im Sinne traditioneller Politikmuster gründeten die traditionellen Eliten Privatarmeen gegen die stärker werdende Organisation oppositioneller Gruppen.

Im Januar 1995 schloss sich ein Großteil der paramilitärischen Gruppen unter dem Namen Autodefensas Unidas de Colombia (AUC) zusammen. Die zentrale Ideologie der paramilitärischen Gruppen ist die der »Selbstverteidigung « gegen die Guerilla, und die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status quo, weshalb sie sich als Staatsersatz sehen. Mit der Wahl von Álvaro Uribe zum Präsidenten im Jahr 2002 wurden sie erstmals von einer Regierung als Gesprächspartner anerkannt. Im Juli 2003 unterzeichneten die Regierung und ein Großteil der Paramilitärs eine gemeinsame Erklärung, in der vereinbart wurde, die überwiegende Mehrheit der paramilitärischen Gruppen bis Ende 2005 zu demobilisieren und zu reintegrieren. Dieser Prozess ist von zahlreichen Rückschlägen und Problemen begleitet. Neben der Frage der Strafverfolgung für begangene Menschenrechtsverletzungen, der fehlenden Transformation der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Demobilisierung bleibt die Forderung der USA nach Auslieferung zahlreicher Bosse bestehen.

Zurückdrängung paramilitärischer Strukturen

Die hier nur skizzierten Erfahrungen in Guatemala und Kolumbien zeigen einige Grundsatzprobleme im Zusammenhang mit paramilitärischen Akteuren und Strukturen in Lateinamerika auf. Der Einfluss dieser Gewaltakteure reicht aus, um – mit oder ohne eigenes politisches Projekt – grundlegende Reformen zugunsten einer Vertiefung der Demokratie und einer Stärkung des Rechtsstaats zu verhindern. Dies macht sie zu mächtigen Blockadekräften. Die Aufrechterhaltung des Status quo ist für die Gewaltakteure von hoher Bedeutung, weil sie nur so ihren illegalen Geschäften weitgehend ungestört nachgehen können bzw. diese – wie derzeit in Kolumbien – legalisieren können. Dadurch werden nach aller Erfahrung aber insbesondere dier Handlungsoptionen all der Akteure eingeschränkt, die für gesellschaftlichen Wandel eintreten.

Die Paramilitärs agieren letztlich in einer Grauzone zwischen Krieg und Frieden, wie sie gerade auch für die »neuen« Kriege charakteristisch ist. Zieht man die Grenze zwischen Krieg und Frieden dort, wo die politische Gewalt aufhört, so verschwindet diese Grauzone aus dem Blick, ihr politischer Gehalt wird nicht wahrgenommen. Gerade für die künftige Entwicklung stellt sich aber durchaus die Frage, unter welchen Bedingungen diese »unpolitischen« Gewaltakteure sich stärker politisieren könnten. Schließlich ist nicht gesagt, dass das »Ende der Ideologien«, das mit dem Ende des Ost-West-Konflikts konstatiert wurde, ein Dauerzustand ist. Die lateinamerikanischen Länder sind demographisch sehr jung – ca. 40% der Bevölkerung sind unter 15 Jahren alt. Dies führt dazu, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich nicht selbst an die Zeiten der Militärdiktaturen und/oder – außerhalb Kolumbiens – an die Kriegszeiten erinnert. Beides gilt als stabilisierendes Element für die Demokratien und in beiden Kontexten spielt vor allem unter präventiven Gesichtspunkten die Frage des gesellschaftlichen Umgangs mit der Gewalt der Vergangenheit eine wichtige Rolle. Nur wenn es gelingt auf rechtsstaatlichem Weg die paramilitärischen Gewaltakteure in die Schranken zu verweisen, lassen sich die demokratischen Strukturen stärken, die zu deren politischer Marginalisierung notwendig sind.

Literatur:

Duncan, Gustavo (2005): Del Campo a la Ciudad en Colombia. La Infiltración Urbana de los Señores de la Guerra. Documento CEDE No.2 enero, versión electrónica. Bogotá (http://economia.uniandes.edu.co/~economia/archivos/temporal/d2005-02.pdf, Zugriff am 25.4.05).

Fajnzylber, Pablo/ Daniel Lederman, Norman Loayza (1998): Determinants of Crime Rates in Latin America and the World. An Empirical Assesment. Worldbank Latin American and Caribbean Studies Viewpoint, Washington D.C.

González, Fernán E., Ingrid J. Bolívar, Teófilo Vázquez (2003): Violencia Política en Colombia. De la nación fragmentada a la construcción del Estado. CINEP, Bogotá.

Kurtenbach, Sabine (2005): Gewalt, Kriminalität und Krieg – zur symbiotischen Verbindung verschiedener Gewaltformen und den Problemen ihrer Einhegung, in: Basedau, Matthias/ Hanspeter Mattes, Anika Oettler (Hg.): Sicherheit als öffentliches Gut, Hamburg DÜI, S.209-228.

Lock, Peter (1998): Privatisierung von Sicherheit im Zeitalter der Globalisierung, in: Lateinamerika. Analysen-Daten-Dokumentation. Jg. 15, Nr. 38. Hamburg Institut für Iberoamerika-Kunde.

Manwaring, Max G. (2005): Street Gangs: The New Urban Insurgency. Strategic Studies Institute, U.S. Army War College, Carlisle (www.carlisle.army.mil/ssi) Zugriff am 13.4.05).

Nissen, Astrid/ Katrin Radtke (2002): Warlords als neue Akteure der internationalen Beziehungen, in: U. Albrecht et al. (Hg): Das Kosovo-Dilemma: Schwache Staaten und Neue Kriege als Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Münster, Westfälisches Dampfboot, S.141-155.

Peacock, Susan C./Beltrán, Adriana (2003): Hidden Powers. Illegal Armed Groups in Post Conflict Guatemala and the Forces Behind them. A WOLA Special Report. Washington D.C.

Riekenberg, Michael (1999): Warlords. Eine Problemskizze in: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung 9. Jg. Nr. 5/6, S. 187-2005.

Romero, Mauricio (2003): Paramilitares y autodefensas 1982-2003. Bogotá.

Serrano, Mónica/ María Celia Toro (2002): From Drug Trafficking to Transnational Organized Crime in Latin America, in: Mats Berdal/ Mónica Serrano (Hg.) 2002: Transnational Organized Crime and International Security. Business as Usual?, Boulder, London Lynne Rienner, S. 155-182.

WHO (2002): World Report on Violence and Health 2002. Genf.

Anmerkungen

1) Alle Angaben beruhen auf den eher konservativen Angaben des Londoner Internationalen Instituts für Strategische Studien (vgl. IISS- Military Balance 1982/83ff).

2) Eine eindrucksvolle Studie zu den wechselnden Mechanismen, die von der organisierten Kriminalität zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung ihres Einflusses in Kolumbien benutzt werden ist Duncan 2005.

3) Zu den Paramilitärs vgl. v.a. González et al. 2003, Romero 2003 und Duncan 2005.

4) Zum Psychogramm eines Sicarios vgl. El Tiempo 9.4.1989, deutsche Übersetzung in: Militärpolitik Dokumentation 76/77.

Dr. Sabine Kurtenbach ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Iberoamerika-Kunde in Hamburg, freie entwicklungspolitische Gutachterin und Mitherausgeberin des seit 1999 im Suhrkamp-Verlag erscheinenden Jahrbuch Menschenrechte

Mit Furcht gibt es keinen Frieden

Mit Furcht gibt es keinen Frieden

Probleme der urbanen Gewalt in Brasilien / Beobachtungen von Carl D. Goerdeler

von Carl D. Goerdeler

Manuel Coutinho würde keiner Fliege die Flügel ausreißen. Der Gemütsmensch in seinem Gemüseladen an der Avenida Automovel Club ist ein friedlicher Zeitgenosse. Aber in seiner Schublade hat er einen Revolver; den hat er sich nach dem dritten Überfall auf seinen Laden angeschafft. Und am 23. Oktober 2005 hat Manuel natürlich mit Nein und also gegen das Verbot von Waffenhandel gestimmt. So wie 58,5 Millionen andere Brasilianer auch. Nur 25,4 Millionen waren dafür, den Kauf von Schusswaffen und Munition auf die Streitkräfte, die Polizei, Wachmänner, Jäger und Sportschützen zu beschränken.

An diesem denkwürdigen Sonntag im Oktober hatten etwa 120 Millionen Brasilianer ihr Votum abgegeben – die Teilnahme an der Volksabstimmung war für alle Bürger zwischen 18 und 70 Jahren verpflichtend. Stimmberechtigt waren aber auch Jugendliche im Alter von 16 und 17 Jahren. Wenn auch die Waffenbefürworter mit rund 64 Prozent klar über die Verbotsanhänger (36 Prozent) gesiegt haben – so zeigte doch die hohe Enthaltung von rund 22 Prozent aller Stimmberechtigten, wie umstritten die gesamte Volksabstimmung war.

Noch im September 2005 hatten die Umfragen einen klaren Meinungstrend für das Verbot von Waffenhandel signalisiert. Worauf war der Stimmungswechsel zurückzuführen?

„Kein Zweifel – das Nein ist ein Ausdruck des Protestes gegenüber einem Staat, der die Bürger im Regen stehen lässt. Und die Regierung hat den Schwanz eingekniffen“ – so der Abgeordnete Paulo Delgado, der zur Arbeiterpartei des Präsidenten Lula da Silva gehört. Und Lula hatte mit seiner Linksregierung, den Bürgerrechtlern und der Katholischen Kirche die Initiative der Vereinigung »Viva Rio« unterstützt, ein Votum zum Verbot von Waffenhandel herbeizuführen. Ermutigt wurden die Pazifisten dadurch, dass im Juli 2004 die Brasilianer in einer freiwilligen Aktion rund 440.000 (meist unbrauchbare) Gewehre gegen Belohnungen von bis zu 100 Dollar abgeliefert hatten. Der Waffenlobby und dem -handel drohten schwere Zeiten: Seit dem Beginn der Abrüstungskampagne mussten landesweit 1.500 Waffenläden schließen.

An der friedlichen Gesinnung der weitaus meisten Brasilianer besteht wohl kein Zweifel. Doch in keinem Land der Welt mit Ausnahme von Venezuela sterben mehr Menschen (gemessen an der Gesamtbevölkerung) jährlich durch Waffengewalt – mehr als durch Verkehrsunfälle, Krebs oder andere Krankheiten. Zwischen1979 und 2003 wurden nach Angaben der Vereinten Nationen mehr als eine halbe Million Menschen ermordet.

Das Gefühl der Bedrohung und das Wissen um die Ohnmacht der Behörden, die Kriminellen zu fangen und zu bestrafen kennt jeder Brasilianer. Wenn ein Waffenverbot glaubhaft gemacht hätte, dass den Mördern nun endlich das Handwerk gelegt werde – dann wäre diese Abstimmung wohl anders ausgegangen. So aber beschlich die meisten Bürger je näher der Abstimmungstag kam, die Vermutung, die Regierung wolle sich mit dem Votum nur ein Alibi verschaffen – ein strenges Gesetz erlassen, aber sonst alles weiter laufen lassen wie bisher: die korrupte Polizei wie die untätige Justiz. Die meinungsführende Zeitschrift »Veja« hatte noch unmittelbar vor der Volksabstimmung darauf hingewiesen, dass in Brasilien nur drei Prozent aller Morde aufgeklärt werden (gegenüber 70 Prozent in den USA) und dass im Schnitt zehn Jahre vergehen, bis in einem Prozess der Täter verurteilt wird (acht Monate in den USA). Fazit: In Brasilien kann man straflos töten.

Die Bürger wollen nicht Freiwild sein. Amtlichen Angaben zufolge befinden sich in den häuslichen Arsenalen rund 17 Millionen Schusswaffen – davon sind neun Millionen nicht angemeldet. Die Dunkelziffer dürfte noch weit höher ausfallen. Ein Verbot des Waffenhandels hätte langfristig vielleicht die Bürger entwaffnet – aber auch die Kriminellen? Daran haben mehr und mehr Brasilianer gezweifelt. Die Unterwelt beschafft sich ihre (teils schweren) Waffen sowieso auf dem Schwarzmarkt.

Die Waffenlobby feierte das Ergebnis als »Sieg des freien Bürgers«. In Wahrheit aber war dies eine bittere Niederlage: eine Niederlage für die Linksregierung von Lula und eine Niederlage für die zivile Gesellschaft. Die Brasilianer trauen sich selber und ihren Waffen mehr zu als der öffentlichen Ordnung. So wie Manuel Coutinho, der Gemüsehändler.

Die schweigende Mitte

Noch mehr Mitte geht nicht: nach der Praça da República richten sich alle Entfernungen in São Paulo und von dort ist es nur ein Katzensprung in die Oper, zur Kathedrale und hoch in den 42. Stock des Edificio Italia mit dem Panoramablick über die12-Millionen-Metropole. An der Praça da República hätte die Bankfrau Marlene Alves de Santana mit ihrer Familie gleich einziehen können: 240 Quadratmeter im 8. Stock mit Blick auf den schütteren Park – die Miete halb so hoch, die Fläche doppelt so groß wie bei ihrer Wohnung in Brooklyn am Südrand der City. Marlene ist aber nicht eingezogen. Denn sie fürchtete sich, nach Einbruch der Dunkelheit vors Haus zu treten. Sie wäre über Obdachlose, die auf dem Bürgersteig und unter den Bäumen auf dem Platz kampieren, gestolpert und spätestens in der ersten Woche hätte man ihr die Handtasche entrissen, und das wäre noch harmlos gewesen. Es war doch merkwürdig genug, dass die Miete so niedrig und das Angebot an freien Wohnungen dort in dem Altbau aus den 30er Jahren so hoch waren. Aber hatte nicht auch das Hilton-Hotel, einst die erste Adresse im Stadtzentrum und wegen des Sonntagsbrunchs beliebt, gerade erst dicht gemacht?

Die Mitte wohnt am Rand, und die vom Rand der Gesellschaft strömen in die Mitte, besetzen die Bürgersteige, schlagen ihr Buden in der Gosse auf. Die guten Kunden bleiben weg, Geschäftsleute schließen ihre Läden oder stellen um auf Billigware.

Der Zersetzungsprozess der alten Mitte kann in jeder brasilianischen Großstadt beobachtet werden. Man fährt nicht mehr in die Mitte zum Einkaufen, Speisen oder Spazieren gehen. Man geht auch nicht mehr ins Theater oder Kino. Man bleibt zu Hause hinter Gittern – oder fährt in die Shopping-Malls, wo ja alles beisammen ist. 5.000 betuchte Bürger zusammen zu trommeln, wäre auf der Praça da República ein Kunststück, im Morumbi-Shopping-Center aber ist es ein Klacks.

Die Flucht aus der Mitte führt zum Verfall der Stadt und auch der Gesellschaft. Die Stadt franst immer weiter aus, zugleich verfällt das Zentrum. Die Bürger distanzieren sich buchstäblich immer mehr voneinander und von der Mitte. Wer es sich leisten kann, zieht in einen scharf bewachten Wohnpark; was sich außerhalb abspielt, sieht man im Fernsehen. In Rio de Janeiro führen Pädagogen hin und wieder Jugendliche aus den Reichen-Ghettos durch die Stadt: damit sie einmal Bus und Metro fahren lernen und sehen, wo das Rathaus steht.

„Die Favelas auf den Bergen gehörten früher zur Postkarte von Rio de Janeiro; man war ja beinahe stolz auf sie. Entsinnen Sie sich noch an »Orfeu Negro«, den Kult-Film der fünfziger Jahre? – alles vorbei“, bedauert Hans Stern, der Juwelenhändler und wohl reichste Mann von Rio. In seiner Jugend war er im Cabriolet mit Weißwandreifen über die Avenida Atlantica geschwebt; das würde er heute schon aus Gründen der Tarnung, also der Sicherheit, nicht wagen. „Ob die Armut zugenommen hat, ob deshalb die Gewalt gestiegen ist, vermag ich nicht zu sagen. Aber finden sie einmal die Bürger und Mäzene, die sich etwa um das Stadttheater kümmern, um das Symphonie-Orchester, um das Klassik-Radio, um die Stadtbibliothek. Bringen Sie mir die Bürger, die sich mit ihrer Stadt identifizieren!“

Drei Monate lang, von Mitte Mai bis Mitte August 2005 waren die städtischen Museen in Rio de Janeiro geschlossen. Und keiner hat es gemerkt! Der Streik der Kulturbürokraten war nur eine Marginalie. Monatliche Massaker der Polizei oder der Drogenbosse – wo ist da der Unterschied? Kliniken, in denen die Kranken verrecken, Gesetze, die nichts gelten: Wo regiert wird, wird geschmiert. Und die Bürger gehen nicht auf die Barrikaden.

Die brasilianische Mittelklasse beginnt beim Einkommen von fünf Mindestlöhnen und darüber. Zehn Prozent aller Erwerbspersonen verdienen das monatlich; die kleine Oberschicht ist auf ein Arbeitseinkommen nicht angewiesen. Die Besser- und Bestverdienenden verfügen über die Hälfte des gesamten Volkseinkommens – die weniger privilegierte Hälfte der Bevölkerung verfügt aber nur über zehn Prozent des gesamten Kuchens. Trotz der deutlich gestiegenen Lebensqualität (Human Development Index der UN) und Bildung sind in Brasilien Einkommen und Besitz also weiterhin sehr ungleich verteilt.

Aber darum geht es nicht. Das Gefühl der Mitte, an den Rand gedrängt zu sein, teilen nicht nur Ladeninhaber und Professoren, Ingenieure und Zahnärzte. Das Gefühl hat die bürgerliche Klasse in Brasilien ganz allgemein. „ Früher war es selbstverständlich, die Kinder in die öffentliche Schule zu schicken“, erinnert sich die Familientherapeutin Cyntia Falcão.„ Aber wer wagt das heute noch?…Wer irgend kann und etwas auf sich hält, der meidet sie“. So wie man das Öffentliche insgesamt meidet. Früher hätten zur Sippschaft, auch der ihren, immer Honoratioren gehört. Doch diese Zeiten sind vorbei: In den Gemeinderäten, den Provinzparlamenten und im Nationalkongress agieren Berufspolitiker, die sich nicht als Repräsentanten einer Nation, Gesellschaft oder Klasse verstehen, sondern als Geschäftemacher in eigener Sache.

Rio – 50 Jahre Verfall

An welchem Tag der Niedergang von Rio de Janeiro begann, ist nicht genau zu bestimmen. Es muss vor 50 Jahren gewesen sein als Juscelino Kubitschek, der künftige Staatspräsident, versprach, die Hauptstadt zu verlegen; so wie es ja bereits die Verfassung von 1891 vorsah. Das hatte bis dahin niemand Ernst genommen. Umso größer dann das Erstaunen, dass Juscelino vom ersten Tag seiner Regierung an, Vermessungstrupps und Ingenieure in den Busch schickte, den Bau von Brasília in die Wege zu leiten.

Rio de Janeiro, die »Prinzessin des Meeres«, die »schönste Stadt der Welt«, brauchte keine Rivalen zu fürchten. Nicht, solange sich die gesamte nationale Politik hier abspielte und an der Copacabana auf dem diplomatischen Parkett getanzt wurde. Sollten sich andere Städte wie São Paulo und Belo Horizonte mit Maschinenindustrie und Eisenhütten die Hände dreckig machen – Rio hatte das nicht nötig. Blaumänner hatten an der Copacabana nichts zu suchen, Putzfrauen, Köchinnen und Chauffeure, die schon.

Natürlich waren die Bewohner von Rio de Janeiro damals nicht alle Minister, Beamte oder Diplomaten. Das ganze Heer der Hofschranzen und Beamten, der ganze »niedere Klerus« der Politik und Verwaltung und deren Hauspersonal, dazu die ergrauten Staatsdiener, alle galt es zu versorgen. Davon lebte die Stadt – lebten die Krämer wie die Kutscher, die Friseure wie die Fräuleins, die Straßenfeger wie die Trambahnfahrer.

Der Typ des »malandro«, des Tunichtguts, des Vorstadtstrizzi, auch des sympathischen Spitzbuben und Überlebenskünstlers, eine Art brasilianischer Schweijk, war der Prototyp Rios, und er wurde in immer neuen Varianten besungen. Der malandro, das war der Macho, der wusste, wie man die öffentliche Stromleitung anzapfen konnte, der das Bier in der Sambaschule verkaufte, der als Buchmacher für die Bosse der eigentlich illegalen Tierlotterie die Wetten notierte, der jeden kannte und den jeder kannte und der aus der Kneipe heraus den Mädchen hinterher pfiff. Kurz und gut, der malandro war die Personifizierung des »jeitinho brasileiro«, der Kunst, sich durchzumogeln. An diesen »jeitinho« glaubt Rio de Janeiro ganz besonders.

Doch dann wurde es Ernst. 1960 flogen die Staatsgäste ein, landeten aber nicht in Rio de Janeiro, sondern in der Steppe da oben in Goias, wo sie die neue Hauptstadt einweihten. Kubitschek war wohl verrückt geworden. Wer von den Beamten wollte schon dahin? Die Generäle gaben den Befehl zum Staatsstreich. Das war am 31. März 1964.

Würde das Regime nun von Rio de Janeiro aus kommandieren, wo die meisten Garnisonen lagen? Anfangs schien es so – aber dann entdeckte die Junta, dass man in Brasilia viel ungestörter von politischen Turbulenzen Sandkastenspiele unternehmen konnte – sie entdeckten ihr Herz für die neue Hauptstadt, obgleich deren Architekt, Oscar Niemeyer, ein unbelehrbarer Kommunist war.

Rio de Janeiro, doppelt verraten. Verraten von der Politik, verraten von den Militärs. Die Bohème ging auf die Straße, die Studenten probten den Aufstand, so wie die Kommilitonen in Berkley und Berlin. Aber die Protestsongs und die Steine gegen den »Schweinestaat« blieben wirkungslos. Zu viel Utopie war im Spiel, wo doch die Schornsteine rauchten – nicht in Rio de Janeiro aber in São Paulo beispielsweise. Der Widerstand in Rio de Janeiro driftete in den Untergrund und die Drogenszene ab – in São Paulo aber setzten die Fabrikarbeiter mit ihren Streiks dem Regime zu. Die brasilianische Arbeiterbewegung mit ihrem charismatischen Führer Luis Inacio Lula da Silva an der Spitze war nun zum Subjekt der Geschichte geworden. Und Rio de Janeiro hatte in der Politik von da an ausgespielt.

21 Jahre kommandierten die Militärs, und als dann 1985 die Demokratie wieder eine Chance bekam, spielte sich das Geschehen in Brasília ab, kein Mensch kam mehr auf den Gedanken, die Hauptstadt wieder nach Rio de Janeiro zurück zu legen. Zurück aber ging es in Rio de Janeiro selber: Mit dem Gouverneur Leonel Brizola kam ein Populist alten Schlags an die Regierung. Brizola war der Liebling der Bohème, der Kleinbürger und der malandros – aller, die sich in Rio verraten fühlten. Dabei war Brizola kein Carioca, sondern einer aus dem tiefen Süden, ein Gaucho – und das Schicksal von Rio interessierte ihn nicht: Er wollte auf der nationalen Bühne die erste Geige spielen.

Während andere Bundesstaaten, São Paulo vorweg, miteinander wetteiferten, Industrien anzusiedeln und Arbeitsplätze zu schaffen, behinderte Brizola in Rio de Janeiro mögliche Direktinvestoren, besonders solche aus dem Ausland.

In Brasilien ging es aufwärts, in Rio de Janeiro in die Gegenrichtung. Statt auf Pragmatiker und Tatmenschen zu setzen, wählten die Bürger Politiker mit der größten Klappe. Und weil Politik sowieso verrufen war, bekam der »Große Onkel« in der Kommunalwahl von 1988 die drittmeisten Stimmen. Der »Große Onkel« war der Schimpanse im Zoo.

Die Bürger von Rio de Janeiro hatten sich aus der Politik abgemeldet. Und auf der nationalen Bühne rangierte die Stadt unter »ferner liefen«. Jedes Jahr zogen Bundesbehörden ab, blieben Rentner zurück. Selbst die Banken packten ein und zogen um nach São Paulo. Was blieb denn noch übrig an ökonomischer Substanz?

Nur noch der Bordsteinhandel, der Schwarzmarkt, die Gastronomie. Wenigstens die Touristen würden wie jedes Jahr einfliegen. Die Sonne und das Meer hatten Rio noch nicht verlassen. Aber neue Hotels wurden nicht mehr gebaut. Und der Hafen? Der Hafen verschlammte im Sumpf der Mafia, die die Preise diktierte, so wie in dem berühmten Film mit Marlon Brando, »On the Waterfront«. Das war ja vorherzusehen: Je weniger Arbeitsplätze es in Rio de Janeiro noch gab, desto heftiger waren sie umkämpft.

Die Menschen mit geregelter Arbeit wurden immer weniger im Vergleich zu den (relativ gut betuchten) Staatsrentnern an der Copacabana und den Menschen in den Vorstädten und Favelas, die sich mit Gelegenheitsjobs durchschlugen. Nun kamen Rio de Janeiro, die Stadt wie der Staat, an den Tropf der Bundesregierung. Einen Entwicklungsplan hatte man immer noch nicht. Wo sollte die Zukunft Rios denn liegen? In der nationalen Laissez-faire-Metropole?

Viel zu lange hatte man alles schleifen lassen. Längst war nun auch der Staat schon auf dem Rückzug. No future, kein Geld – die Favelas blieben ihrem Schicksal überlassen. Und dieses Schicksal hieß nun Diebstahl, Drogen, Tod. Mit krimineller Energie kam man schneller ans Geld als mit Ausdauer bei der Arbeitssuche. Lange hatte der Virus der Selbstzerfleischung eine Schattenexistenz geführt, nun brach er an den Rändern der Stadt mit voller Wucht aus.

Der Staat hat also keinen Anwalt mehr, die bürgerliche Gesellschaft kapselt sich ein. Die »Zivilgesellschaft« ist nur eine Schimäre, von der die Intellektuellen faseln. Brasilien wird von einer Nomenklatur populistischer Politiker regiert, die wie Sektenprediger den Zehnten in ihre eigene Tasche stecken. Die neue Mitte, das sind die Fußballvereine, die Sambaschulen, die Telenovelas, die Garagenkirchen, die 1-Dollar-Shops, die Video-Läden, der Traum, einen Job bei der Müllabfuhr zu kriegen. Aber um diese Mitte herum wächst mit jedem Jahr mehr ein breiter Todesstreifen der Armut und Gewalt, der den Rest der bürgerlichen Gesellschaft erdrosselt.

Carl D. Goerdeler lebt seit 1988 in Rio de Janeiro. Er ist Lateinamerika-Korrespondent zahlreicher deutschsprachiger Zeitungen und Autor mehrerer Marco-Polo Reiseführer

Söldnergeschichte(n)

Söldnergeschichte(n)

von Michael Sikora

Eine Geschichte der Söldner gibt es eigentlich nicht. Das Söldnerwesen ist keine definierbare Institution, das über die Jahrhunderte eine kontinuierliche Entwicklung durchlaufen hätte. Seit der Antike haben sich Söldner anscheinend jeder Form militärisch organisierter Gewalt angegliedert, mehr oder weniger zahlreich, in höchst unterschiedlicher Gestalt und ebenso unterschiedlichen Motiven folgend. Da sind beispielsweise die eigentlichen Handwerker der Gewalt, Spezialisten, die ihre besonderen Fähigkeiten im Umgang mit Waffen und Kriegführung als Dienstleistung zu Markte tragen. An die englischen Bogenschützen oder die genuesischen Armbrustschützen des späten Mittelalters wäre zu denken, oder an die Technokraten des Krieges, die das Personal der gegenwärtigen Söldnerfirmen bilden.

Viele Söldner wird man eher als Abenteurer begreifen, die sich für einen Lebensentwurf entschieden haben, von dem sie sich in unterschiedlicher Weise Bestätigung und Verwirklichung versprechen. In den Reihen der mittelalterlichen Ritterheere fanden sich bereits viele junge Adlige, die nicht ihrer Vasallenpflicht, sondern der Bezahlung folgten und auf ihre Art die Ideale ihres Standes zu verwirklichen suchten. Vielen modernen Söldnern scheinen die Belastungen eines Kriegerlebens verheißungsvoller zu sein als die Zwänge der Zivilisation.

Manchmal nimmt das Söldnerwesen die eigenartige Gestalt einer ethnischen Besonderheit an. Das prominenteste Beispiel sind die Schweizer Eidgenossen: Zwei Jahrhunderte lang, im 14. und 15., befreiten sie sich von ihren Feudalherren, entwickelten innovative Kampfweisen – und zählten danach für drei Jahrhunderte zu den begehrtesten Söldnern auf den Kriegsschauplätzen ganz Europas. Ein letzter Abglanz lebt bis heute in der päpstlichen Schweizergarde fort. Oder die Gurkhas, Angehörige einer kampfeslustigen nepalesischen Ethnie, die Anfang des 19. Jahrhunderts mit den Engländern in Berührung kamen und sich nach ihrer Unterwerfung in großer Zahl für die britische Armee verpflichten ließen. Bis heute holen sie englische Kastanien aus den Feuern der Welt, und so war das erste Todesopfer der KFOR-Truppen im Kosovo ein Gurkha der britischen Armee.

Die meisten Söldner aber wird man wohl als arme Schlucker betrachten müssen, die in den Krieg ziehen, weil sie vielleicht von Ruhm und Beute träumen, aber zunächst nicht wissen, wovon sie morgen leben sollen. Nicht selten waren und sind dies selbst Opfer des Krieges, der ihre Dörfer und Gehöfte verheert und ihnen die Lebensgrundlage entzogen hat. Nicht selten aber auch wurden und werden junge Männer einfach in den Krieg gezwungen. In den Söldnerheeren des 17. und 18. Jahrhunderts fanden sich viele Arme und Gezwungene, und erst recht stützen sich moderne Warlords in den Elendsregionen der Bürgerkriege auf solche mehr oder weniger freiwillige Krieger und schrecken auch nicht vor der Rekrutierung von Kindern zurück. Andererseits bieten selbst moderne Berufsarmeen westlicher Staaten nicht nur hehre Ideale, sondern gesicherte Laufbahnen an, die offensichtlich in ökonomischen Krisen als Alternative zu Arbeitslosigkeit nachgefragt werden.

Aber sind das auch Söldner? Die Vielgestaltigkeit des Söldnerwesens macht an vielen Stellen Grenzen fließend und Definitionen schwierig. Das wird auch an den jüngsten Versuchen deutlich, dem Söldnertum juristisch entgegen zu treten. Unter dem Eindruck der unkontrollierbaren Gewalt, die im Zuge der Entkolonierungskrisen in Afrika von Söldnern ausging, haben sich auch die Vereinten Nationen die Bekämpfung der Söldner zum Ziel gemacht. Aber in der 1989 von der UN-Generalversammlung verabschiedeten Konvention gegen Söldner konnte man sich nur auf eine gewundene Definition einigen, die wortreich Merkmale von Söldnern aufzählt. Als solche gelten demnach nur Krieger, die extra für einen Konflikt angeworben worden sind, die keine Staatsangehörigen der Konfliktparteien sind, deren Kampf sich gegen Regierung und Integrität eines Staates richten, die nicht von Dritten offiziell entsandt worden sind. Besonders misslich für eine Norm, die ja auch juristisch handhabbar sein soll, ist, dass diese Beschreibung nicht einmal ohne subjektive Dimension auskommt, den demnach ist für den Söldner auch wesentlich, dass ihn vor allem das Streben nach persönlichem Gewinn motiviert.

Aber gerade diese subjektive Dimension ist es, die dem volkssprachigen Verständnis von Söldnern zugrunde liegt. Ein Beispiel, das im Vergleich zu den Kriegen der Welt läppisch erscheinen mag, bringt dies in aller Subtilität zum Ausdruck. Im Dezember 1999 sahen sich die Fußballprofis des FC Bayern München nach einer verlorenen Partie mit Spruchbändern wie „Schämt euch, ihr Söldner“ konfrontiert. Gekränkt steckte Übungsleiter Hitzfeld exakt das beleidigende Begriffsfeld ab: „Die Fans haben kein Recht, uns als Verräter, Söldner und Gauner hinzustellen“. Aber warum wurde dieser Vorwurf gerade an diesem Tag erhoben? Das vorangegangene Spiel war nicht gegen einen beliebige Mannschaft verloren worden, sondern gegen den Lokalrivalen 1860 München. Bei diesem Gegner geht es traditionsgemäß nicht nur um Punkte, sondern um Ehre, und da wird mehr verlangt, als vertraglich vereinbarte Dienstleistung, nämlich Leidenschaft und Identifikation. So ergab die Schmähung erst Sinn. Und das eben markiert den Söldner im landläufigen Sinn: Ein Mangel an legitimen Motiven, die ihre Gewaltausübung rechtfertigen könnten.

Das ist zwar ein auch in der Geschichte verbreiteter Topos der Söldnerkritik, aber er ist keineswegs zeitlos. Die mitunter widersprüchlichen Bilder, die sich eine Gesellschaft von Söldnern macht, sagen nicht nur etwas über Söldner aus, sondern noch viel mehr über das Verhältnis der Gesellschaft zur militärischen Gewalt. Sie sind mithin selbst Produkt historischer Prozesse. Wenn es auch schwierig ist, eine Geschichte der Söldner zu schreiben, so kann doch die Geschichte der Spuren erzählt werden, die sie in die Geschichte von Krieg und Herrschaft und von Werten und Wahrnehmungen eingeschrieben haben. Ein Leitmotiv dessen ist die Polarität zwischen Söldnerheer und Bürgerheer. Die griechische wie die römische Geschichte kennt solche Kapitel. Die Ursprünge der modernen Variante kann man bis ins 15. Jahrhundert zurück verfolgen.

Es ist die Zeit, in der Söldner in den europäischen Heeren allmählich zur Mehrheit und damit für eine längere Phase der Militärgeschichte zum dominierenden Strukturmerkmal wurden. Das war ein voraussetzungsvoller und eckiger Prozess, was hier nicht näher entfaltet werden kann. Zur vollen Selbständigkeit gelangte das Söldnerwesen zuerst in den italienischen Stadtstaaten der Renaissance. Deren Erfahrungen von willkürlicher Gewalt, gewissenlosem Verrat und unkontrolliertem Machtmissbrauch riefen zwar auch entschiedene Kritiker auf den Plan. Aber den Siegeszug der Söldner hielten sie nicht auf, zu verlockend waren die Vorzüge der Söldner für die Fürsten und Obrigkeiten. Die herkömmlichen Wehrformen, der Appell an adlige Vasallen oder städtische wie dörfliche Milizen, war an lästige Bedingungen geknüpft und an den Eigensinn und Widerwillen der Betroffenen. Söldner dagegen waren beliebig verfügbar – wenn man sie denn bezahlen konnte. Rasch erwies sich auch deren militärische Effektivität als schlechterdings unschlagbar.

Der Wunsch nach Söldnern überstieg aber in aller Regel die materiellen Möglichkeiten der Kriegsherren. Fürstliche Behörden waren noch kaum entwickelt, und die fürstlichen Amtsträger waren noch lange nicht in der Lage, die komplexe Organisation von Truppen in eigener Regie zu vollziehen. Das blieb erfahrenen Truppenführern überlassen. Mehr noch, das Kapital, das den Fürsten fehlte, wurde oft auf demselben Weg mobilisiert, indem solche Truppenführer, zwar im Auftrag, aber dann auf eigene Kosten Söldner hinter sich scharten und also in Vorleistung traten, in der Erwartung, dass der Krieg selbst und die Steuersäckel ihrer Auftraggeber diese Investition auf längere Sicht rentabel werden ließ. Die Logik dieser Praxis ist als Kriegsunternehmertum bezeichnet worden, und wenn es auch anachronistisch wäre, diese Praxis als privatwirtschaftlich zu bezeichnen, so blieb doch die Kontrolle der Fürsten über diese Truppen lange Zeit prekär. Erst allmählich, bis ins 18. Jahrhundert, entwickelten die staatlichen Herrschaftsapparate die nötigen Techniken, um die Kontrolle über das Militär zu sichern und die Armeen als ein zentrales Machtinstrument in den Staatsapparat zu integrieren.

Aus einer ganz hohen Warte betrachtet, hat die beliebige Verfügbarkeit der Söldner entwicklungsgeschichtlich eine große Bedeutung erlangt. Indem das Söldnerwesen die adligen Ritterheere des Mittelalters als dominierende Struktur ablöste, wurde das Kriegswesen zugleich von seiner Bindung an geburtsständische Rollen und Normen abgekoppelt. Die Reduktion kriegerischer Praxis auf militärische Effizienz, die sich in Gestalt des Söldnerwesens vollzog, bedeutete nichts anderes als eine Professionalisierung des Kriegswesens, das im Prinzip von jedermann ausgeübt werden konnte. Das ist ziemlich vereinfacht gedacht, insofern auch die Einschätzung der Effizienz wiederum von zeitgenössischen Wahrnehmungen abhing, die aus heutiger Sicht nicht immer sehr rational anmuten (es aber aus damaliger Sicht waren). Aber Drill, Disziplin, Dienstgrade, Befehlshierarchie, alle diese Ingredienzien modernen Heerwesens entfalteten sich als funktionale Optimierung von Söldnerverbänden.

Das Militär wurde auf diese Weise relativ früh zu einem autonomen Subsystem, das die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften antizipierte. Die Autonomie bedeutete unter den Bedingungen des vormodernen Fürstenstaates aber auch, dass die Armeen ein unkontrollierbares Instrument für die Eroberungswünsche der Fürsten darstellten. Die Entfremdung zwischen Söldnerheer und Bevölkerung geriet im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend in die bürgerliche Kritik.

Und dann ging alles ganz schnell. Die französische Revolution führte nicht nur zu einer militärischen Massenmobilisierung, sondern zu einer neuen ideellen Legitimation des Kriegsdienstes, die sich gerade vom Fürstendienst abhob. Aus der Revolutionierung des Staates und des Krieges erwuchs ihre Nationalisierung. Damit wurde das Heerwesen nicht nur in den Herrschaftsapparat, sondern auch in den Wertehaushalt der bürgerlichen Gesellschaft integriert. Die Heere blieben zwar Zankapfel zwischen monarchischer und parlamentarischer Kontrolle, aber ihr unwägbares Gewaltpotential wurde durch die Verpflichtung auf nationale Werte gesamtgesellschaftlich legitimiert.

Der Typus des Söldners wurde damit aber beinahe über Nacht zum gesellschaftlichen Außenseiter. Er wurde einhellig zum moralischen Mängelwesen gestempelt, um gute und böse Krieger unterscheiden zu können. Die Professionalität allein reicht nicht für diese Unterscheidung, denn die gab und gibt es auf beiden Seiten. Die Nationalisierung des Krieges führte überdies dazu, dass bis heute der Söldner meist ganz selbstverständlich als Ausländer betrachtet wird, also als Fremder dort, wo er seinen Militärdienst leistet, und umgekehrt als Verräter gegenüber seinem Heimatland. Für die vorrevolutionäre Ära wäre dieser Maßstab gegenstandslos gewesen, denn unter den Rekruten, die den Trommeln der Werbeoffiziere folgten, befanden sich in europäischen Heeren gleichermaßen Inländer wie Ausländer. Die einen als Söldner zu begreifen, die anderen aber nicht, hieße anachronistisch den nachrevolutionären Maßstab anzulegen. Bei genauerem Hinsehen stößt der Maßstab im übrigen auch bei modernen Söldnerverbänden auf Grauzonen.

Das Söldnerwesen wurde auf diese Weise marginalisiert. Aber es verschwand keineswegs. Die Ambivalenz, in die die Söldner der Moderne hineingestellt worden sind, wird am Beispiel der französischen Fremdenlegion besonders deutlich. 1831 zunächst aus politischen Flüchtlingen aufgestellt, behandelte sie die französische Regierung selbst mit Misstrauen und sorgte ganz konkret für ihre räumliche Marginalisierung, indem die Legion lange Zeit nur in nordafrikanischen Standorten stationiert wurden. Von dort aus ließen sich die Legionäre immer noch für die europäischen Staatenkriege einsetzen. Vor allem aber waren sie ein gefügiges Instrument, um weit jenseits der Grenzen Frankreichs koloniale Interessen zu verfechten, wofür sich nationales Militär nur mit großem legitimatorischen Aufwand hätte motivieren und mobilsieren lassen. Dieser Vorteil, der wiederum auf die beliebige Verfügbarkeit verweist, lässt sich auch auf andere Söldnerstrukturen des 19. und 20. Jahrhunderts übertragen.

Wie dominierend dennoch das nationalstaatliche Paradigma blieb, offenbart das paradoxe Motto der Legion: Legio patria nostra – die Legion ist unser Vaterland. Die Ambivalenz wird noch deutlicher, wenn die oben skizzierten Definitionen herangezogen werden. Denn nach den Maßstäben der UN wären die Fremdenlegionäre keine Söldner, schließlich ist die Legion eine staatliche Institution. Natürlich hatte die Staatengemeinschaft kein Interesse, sich dieses Instrument selbst zu verbieten. Sie zielte auf die Bekämpfung nichtstaatlicher Gewalt. Fragt man aber nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, so gelten die Legionäre allerdings als die Söldner schlechthin, gemessen gerade an dem subjektiven Maßstab, der nach den Motiven des Kriegers fragt.

Gemessen allerdings an den Entwicklungen der letzten 40 Jahre, mit der Ausbreitung von Söldnerpraktiken seit den 60er Jahren und ihrer rasanten Beschleunigung seit den 90er Jahren, stellt die Fremdenlegion in der Tat eine vergleichsweise reguläre und legitimationsfähige Formation dar. Es ist hier nicht der Raum, die diffuse Vielfalt der militärischen Strukturen zu erfassen, die sich seither ausgebildet haben. Zwei Hauptentwicklungen markieren die auseinanderstrebenden Pole einer immer breiter gefächerten Praxis. Das Ende des Kalten Krieges favorisiert offenbar die Zunahme regionaler Krisenherde, in denen die Erodierung staatlicher Strukturen die Entstehung von Gewaltmärkten ermöglicht, das heißt Zustände, unter denen lokale und regionale Kriegsherren unkontrollierte, dauerhafte Gewaltherrschaften aufbauen, gespeist von der Kontrolle über legale, aber vor allem illegale Warenströme und Ressourcengewinnung. Über ihre Ähnlichkeit mit den Kriegsunternehmern des 16. und 17. Jahrhunderts ist schon diskutiert worden, aber der noch viel höhere Grad an Autonomie und Territorialisierung solcher Gewalträume kennzeichnet auch substantielle Unterschiede.

Dem stehen international agierende Militärfirmen gegenüber, die sich aus ehemaligen Spezialisten staatlicher Militär- oder Sicherheitsapparate rekrutieren und eine breite Palette von Dienstleistungen der Sparte Gewalt anbieten. Die zunehmende Indienstnahme solcher Firmen auch durch westliche Regierungen folgt einerseits der Logik des Outsourcing, die komplexe Aufgaben in privater Hand effizienter ausgeführt sieht. Zugleich aber emanzipiert sich diese Praxis von der Legitimation staatlichen Gewaltmonopols und ermöglich damit, im Rahmen globaler Rivalitäten jenseits der Aufmerksamkeit demokratischer Öffentlichkeiten Interessen zu verfolgen und beispielsweise auch in den trüben Schattenwelten der regionalen Krisen zu agieren. Die in einigen Regionen zunehmende Relativierung staatlicher Gewalt durch Subversion und Globalisierung lässt erwarten, dass militärische Gewalt und staatliche Legitimierung allmählich wieder entkoppelt werden. Der Streit um die Begriffe, ob nämlich diese Strukturen als Söldnerwesen bezeichnet werden können, ist in der Fachdebatte längst entbrannt und verweist darauf, dass es sich auch um ein Ringen um Wahrnehmungen und Wertungen handeln wird.

Anmerkungen

Die Literatur über Söldner ist zahlreich, aber in aller Regel räumlich wie zeitlich nur begrenzt konzipiert. Weiterführende Hinweise finden sich in: Michael Sikora: Söldner – historische Annäherung an einen Kriegertypus, in: Geschichte und Gesellschaft, 29. Jahrgang 2003, Heft 2, S. 210-238.

PD Dr. Michael Sikora, Westfälische Wilhelms-Universität Münster., arbeitet zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Militärs, zur Kulturgeschichte des Adels und zur Genese politischer Partizipation in der Frühen Neuzeit