Rüstungsexportkontrollatlas | 2023

Rüstungsexportkontrollatlas

mit Beiträgen von David Scheuing und Marius Pletsch, Andrea Kolling, Anna Katharina Ferl, Andreas Seifert, Luca Schiewe und Julius-Anton Bussenius, Simone Wisotzki, Jürgen Grässlin, Markus Bayer, Max Mutschler, Michael Brzoska, Anna von Gall

herausgegeben durch die Informationsstelle Wissenschaft und Frieden e.V. (IWIF)
in Koordination mit der Heinrich-Böll-Stiftung e.V.

erscheint als Beilage zu W&F 4/2023

Vorwort

von David Scheuing und Marius Pletsch

Deutsche Rüstungsexporte boomen – aber so ganz genau ist der Öffentlichkeit oft nicht klar, was und warum von welchem Unternehmen wohin exportiert wird. Es wird vielmehr eine emotionale und oft erstaunlich faktenfreie Diskussion im öffentlichen Raum geführt, weshalb »deutsche Tabus« fallen müssten. Dabei gibt es an der derzeitigen Praxis von Rüstungsproduktion und -export viel zu kritisieren: Mangelnde Transparenz, widersprüchliche Exportentscheidungen, undemokratische Entscheidungsverfahren und vieles mehr.

Im Kontext der Militarisierungs- und Rüstungsschübe, verstärkt durch die »Zeitenwende« und die Bestrebung, Deutschland »kriegstüchtig« zu machen, sehen wir eine dreifache Relevanz für einen Rüstungsexportkontrollatlas, den wir hiermit vorlegen.

Zum einen hatte es in den Jahren vor dem einschneidenden Ereignis des russischen Einmarsches in die Ukraine am 24. Februar 2022 doch signifikante Bewegung und Zusagen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegeben, eine umfassendere und bedeutungsvollere Rüstungsexportkontrolle möglich zu machen. Dies mündete noch im Herbst 2021 im Versprechen des Koalitionsvertrags gemeinsam mit der FDP, ein solches Rüstungsexportkontrollgesetz auf den Weg zu bringen. Seither jedoch herrscht weitgehend Stille.

Zum zweiten hat die öffentliche Diskussion um die Lieferung von Rüstungsgütern und Waffen an dritte Staaten in den vergangenen zwei Jahren eine dramatische Verschiebung erlebt. Von einer sehr skeptischen Haltung der breiteren Öffentlichkeit hin zu einer vor allem auf die moralische Gebotenheit der Waffenlieferungen ausgerichteten Debatte, in der die Konsequenzen einer solchen Exporthaltung ebenso wie die historische Sinnhaftigkeit einer restriktiven Haltung gleichsam missachtet oder diskreditiert werden.

Zum dritten zeugten die Schritte des zuständigen Wirtschaftsministeriums im Spätsommer 2023 auch von der Bereitschaft, Exporte für bestimmte Rüstungsgüter deutlich zu vereinfachen und zu erleichtern. Die Rede ist von den neuen »Allgemeingenehmigungen«. Diese passen sich in ein schon länger erkennbares Exportgebahren ein, in dem die praktizierte »restriktive« Rüstungsexportpolitik zunehmend ausgehöhlt wird (nicht zuletzt durch Lobbydruck der Rüstungsindustrie), z.B. im Rahmen von europäischen Gemeinschaftsprojekten oder bei entsprechend gelagerten geopolitischen Interessen des Staates.

In allen diesen Dimensionen bedarf es der Erinnerung an die Bedingungen und Konsequenzen von Rüstungsproduktion und -export und einer Schärfung der Debatte um Rüstungskontrolle. Damit dies auch gelingen kann, geht der Atlas logisch in drei Schritten vor: Der erste Teil des Atlas zeigt die Bedeutung der Rüstungsproduktion für den Standort Deutschland, seine Verflechtungen, seine Finanzierungen und seine Niederlassungen. Der zweite Teil des Atlas arbeitet dann sowohl Bedingungen für die Exportargumentationen heraus, als auch die ganz konkreten Konsequenzen von Exporten.

Im dritten Teil des Atlas werden die aktuellen strukturellen Bedingungen für Rüstungskontrolle, deren Veränderungs- und Optimierungsmöglichkeiten sowie Möglichkeiten für Aktions- und Widerstandsformen aufgebracht.

In den vergangenen 30 Jahren sind in Deutschland vielfach kleinere Rüstungsatlanten erschienen. Die zahlreichen Publikationen unter diesem Titel sind bislang ausschließlich regional orientiert gewesen (u.a. Thüringen, Hessen, Bodensee, Nordrhein-Wesfalen, Hamburg). Dem gegenüber stehen globale Atlanten, die allerdings schon vor vielen Jahren erschienen sind und keinen spezifischen Fokus auf die Verwicklung deutscher Unternehmen, Standorte und Exporte aufweisen.

Der vorliegende Atlas soll diese Lücke zu füllen beginnen und als Grundlage für informierte Gespräche dienen. Wir danken daher unseren Autor*innen, die jeweils mit ihren Beiträgen versucht haben, eine solche Einordnung zu ermöglichen. Nicht zuletzt gilt unser Dank der Heinrich-Böll-Stiftung, durch deren Förderung dieser Atlas überhaupt erst möglich werden konnte.

Eine gewinnbringende Lektüre wünschen,

Marius Pletsch und David Scheuing

1) RÜSTUNG: Definition, Finanzierung, Produktion

Aufrüstung und Kriegswirtschaft als Konsequenz der so genannten „Zeitenwende“?

von Andrea Kolling

Was ist Rüstung? „Alles was schießt und knallt“, so kategorisierte Anfang der 1990er Jahre ein Ministerialbeamter bei einem Gespräch im zuständigen Wirtschaftsministerium das Kriegsgerät salopp. Cyberwar und europäische Weltraumrüstung lagen noch in der Zukunft und der Zusammenbruch der Sowjetunion war gerade erst geschehen. Zur gleichen Zeit wurde über eine Friedensdividende debattiert und die Rüstungsindustrie gab sich verschämt kleinlaut und bangte um ihre Pfründe.

Heute jedoch wird ungeniert über modernstes Kriegsgerät geredet, dessen Wirkmächtigkeit und Sinnhaftigkeit betont und die Notwendigkeit einer so genannten »nachhaltigen«, d.h. im Klartext einer langfristigen und umfassenden waffentechnischen Unterstützung für Staaten nahegelegt – auch jenseits der Ukraine, ob mit oder ohne offizielle NATO-Mitgliedschaft.

Rüstung als Gewaltmittel

Weit gefasst bedeutet sich »zu rüsten«, sich gegen feindliche äußere Bestrebungen unter Sicherung des eigenen Territoriums und der Bevölkerung zur Wehr setzen zu können. Das bedeutet, militärische Maßnahmen und Mittel zur Vorbereitung einer kriegerischen Handlung, sei es Angriff oder Verteidigung, bereitzuhalten, zu produzieren und zu warten. Dazu existieren in Deutschland, wie in allen Staaten mit entsprechenden industriellen Produktionsmöglichkeiten, Regeln und Gesetze, die den Rahmen einer Rüstungsproduktion von privaten oder staatlichen Unternehmen bestimmen. Im Gegensatz zu Frankreich sind es in Deutschland private Unternehmen mit einem unterschiedlichen und schwankenden Anteil an Rüstungsproduktion. Zu den Top-Ten bezogen auf das Umsatzvolumen zählen in Deutschland Airbus, Rheinmetall, Thyssen-Krupp. Unübersichtlich ist die Zahl und Auftragslage mittelständischer Rüstungshersteller und Zulieferer (→ vgl. Seifert).

Ganz eng verstanden beinhaltet Rüstung ausschließlich die Rüstungsgüter, die im Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG) erwähnt werden: Raketen aller Art, Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber mit integriertem Waffensystem zur Zielerfassung, Feuerleitsysteme, integrierte elektronische Kampfmittel, Kampfführungssysteme, Kriegsschiffe, Unterseeboote, kleine Wasserfahrzeuge mit Angriffswaffen, jegliche Minenkampfboote: Minenleger, -räumboote, -jagdboote, Landungsboote, -schiffe, Munitionstransporter, Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, gepanzerte kampfunterstützende Fahrzeuge, Türme für Kampfpanzer, Maschinengewehre und Pistolen, voll- und halbautomatische Gewehre, Kanonen, Haubitzen, Mörser jeder Art, rückstoßarme, ungelenkte, tragbare leichte Panzerabwehrwaffen, Minenleg-/Wurfsysteme, Torpedos, Minen und Bomben aller Art, Handgranaten, Sprengladungen, Vollmantelweichkerngeschosse, Gewehrgranaten, Geschosse, Gefechtsköpfe, Zünder, Zielsuchköpfe, Submunition, Dispenser zur systematischen Verteilung von Submunition, auch besondere Laserwaffen. Also alles was fliegt, fährt und schwimmt, gepanzert ist und „schießt und knallt“. Die Liste umfasst den engen Kernbereich der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Von der Liste ausgenommen sind Kriegswaffen, auf deren Herstellung die Bundesrepublik verzichtet hat: Atomwaffen, biologische und chemische Waffen.

Problematisch wird es bei der Frage nach in einem weiteren Sinne verstandenen Rüstungsgütern, bis hin zu dem Bereich der Dual-Use Güter, die sowohl eine zivile als auch eine militärische Verwendung finden können (→ siehe Ferl). Hier lässt der Gesetzgeber auch im Interesse der Industrie bewusst eine breite Grauzone und Spielraum.

Abb 1: Waffengattungen

Wie ist die Herstellung von Gewaltmitteln erlaubt?

In der Bundesrepublik Deutschland steht über allem das Grundgesetz Artikel 26: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“ Dazu der Abs. 2: „Zur Kriegführung bestimmte Waffen dürfen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ Die im Grundgesetz vorgesehene nähere Regelung sollen zwei Gesetze gewährleisten: das Kriegswaffenkontrollgesetz als das wesentliche Ausführungsgesetz und das Außenwirtschaftsgesetz für den Export. Zwei gesetzliche Grundlagen plus Regularien, die klar definieren sollen, in welchem Handlungsfeld es den Produzenten erlaubt ist zu handeln.

Für Kriegswaffen muss ein Unternehmen eine Produktionserlaubnis beantragen. Dies kann mit einer Voranfrage geschehen – telefonisch, heute auch per Mail/SMS. Positiv beschiedene Voranfragen könnten zwar nachträglich von der Rüstungsindustrie eingeklagt werden, was sie aber aus eigenem Interesse nicht tun werden, da sie sonst befürchten würden beim nächsten Mal eher bei Aufträgen nicht berücksichtigt zu werden. Voranfragen werden auch nicht im jährlichen Rüstungsexportbericht der Bundesregierung veröffentlicht. Über die Gespräche, ob eine Genehmigung in Aussicht gestellt werden könnte oder wie das gewünschte Gut gestaltet sein müsste, so dass eine Produktion für ein Unternehmen bzw. ein Export genehmigt werden könnte, oder warum es chancenlos bleiben wird, erfährt die Öffentlichkeit nichts. Im Dunkeln lässt sich gut munkeln, sagt der Volksmund. Doch wird die immer wieder von Parteien in der Oppositionsrolle propagierte und von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen seit Jahrzehnten geforderte »bessere Transparenz« umgesetzt? Nach wie vor gibt es mehr Wirrwarr als Klarheit, zahlreiche Regelungslücken und eine nebulöse Rüstungspolitik mit vielen Fragezeichen.

Das KWKG von 1961 beinhaltet ein grundsätzliches Verbot mit Genehmigungsvorbehalt. Das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) lässt sich dahingegen so lesen, dass der Export von genehmigungspflichtigen Gütern grundsätzlich befürwortet werden kann, aber unter Genehmigungsvorbehalt steht. Dort heißt es: Handlungen können beschränkt werden, um die wesentlichen Sicherheitsinteressen zu gewährleisten und gemäß dem Grundgesetz eine Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker zu verhüten, aber auch EU-Projekte zu gewährleisten und zugleich EU-Ratsbeschlüsse über wirtschaftliche Sanktionen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) umzusetzen, ebenso UN-Embargos. Zugleich soll aber in die Freiheit der Wirtschaft möglichst wenig eingegriffen werden. Ein Spagat und große Verantwortung in der Abwägung zwischen kapitalistischen, unternehmerischen Exportinteressen und möglicherweise todbringendem Gerät. Gegen einen Export spräche es beispielsweise, wenn bekannt werden sollte, dass der zugesicherte Endverbleib bei einem Empfänger nicht gewährleistet sein könnte (→ siehe Grässlin). Ausführende Behörde ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) mit Sitz in Eschborn. Es gilt die Einzelfallprüfung. Als genehmigungspflichtige Güter gelten Waren, die in einer umfangreichen, differenzierten Liste des KWKG und AWG gelistet sind. Schiffsmotoren als Solche sind zivil, keine gelisteten Güter, auch wenn sie später in Schiffe einer ausländischen Marine eingebaut werden. Gelistet sind Komponenten, Bauteile sowie ihre technische Unterstützungsleistung, dafür sind Genehmigungen notwendig. Ebenso für sogenannte Dual-Use-Güter, also Waren, die sowohl zivil als auch militärisch verwendet werden können. Über die EU-Dual-Use-Verordnung werden diese Exporte innerhalb und außerhalb der EU kontrolliert. Die Federführung bei Exportgenehmigungen liegt im Wirtschaftsministerium. Grundsätzlich greift der EU-Gründungsvertrag von 1957 und der Nationalstaat kann darüber allein bestimmen, welches und wie viel Rüstungsmaterial gewollt ist. Es ist der Kernbereich nationaler Souveränität.

Dem Gesetz nachgeordnet sind Richtlinien als politische Willenserklärung der Bundesregierung, die allerdings nicht rechtlich verbindlich sind. Die ersten Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern wurden 1971 formuliert und dreimal überarbeitet: 1982, 2000 unter der ersten Rot-Grünen Bundesregierung und zuletzt 2019 unter Angela Merkels Führung. Sie bedeuten Orientierung für eine Genehmigungspolitik, die laut eigenem Bekunden restriktiv zu gestalten ist, doch ist Restriktivität in der Rüstungsexportpolitik mehr Label als Praxis. Allein die Länderliste, in welche nicht geliefert werden soll, wurde in den letzten 30 Jahren Zug um Zug verringert und der Export insbesondere in so genannte Drittstaaten, d.h. Länder außerhalb von EU und NATO, ausgeweitet. Nach den Grundsätzen sollten die Lieferungen an Drittstaaten nur Ausnahmen sein (→ siehe Bayer und Mutschler). Die deutschen Regelungen gelten zwar als die strengsten der Welt, doch Papier ist geduldig. Anfang 2018 heißt es noch im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD „keine Rüstungsexporte in Krisenregionen“ mehr und den Export von Kleinwaffen in so genannte Drittstaaten „grundsätzlich“ nicht mehr genehmigen zu wollen sowie Anträge für Technologieexporte in Drittstaaten künftig stärker zu prüfen, wenn damit ausländische Rüstungsproduktionen aufgebaut werden können.

„Zeitenwende“ bedeutet Aufrüstungsjahrzehnte

Der epochale Bruch mit dem 24.2.2022, der Krieg gegen die Ukraine und die damit verbundenen geopolitischen Machtverschiebungen haben erhebliche Auswirkungen auf die Rüstungsentscheidungen, sowohl was den Export und die Beschaffungen für die Bundeswehr betrifft, als auch monetär über das 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr und das 2%-NATO-Ziel hinaus. Ein Schub in Quantität und Qualität. Zwar wird noch in der jetzt veröffentlichten »Nationalen Sicherheitsstrategie« der Bundesregierung die „restriktive Rüstungsexportpolitik“ betont, zugleich heißt es, die Bundesregierung werde die Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung neu fassen und das Strategiepapier der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie aktualisieren. Konterkariert wird die restriktive Linie, indem es heißt: „die Bundesregierung wird die Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähige Präzisionswaffen“, sowie eine Stärkung der „sicherheits- und verteidigungsindustriellen Basis befördern“ – dies bei gleichzeitigem Schutz von nationalen und europäischen Schlüsseltechnologien. Bei Beschaffungen soll primär auf europäische Lösungen gesetzt werden – eine bemerkenswerte Verschiebung vom nationalstaatlichen Interesse in Richtung europäischer Union. Zugleich schimmert ein Führungsanspruch in der neuen nationalen Sicherheitsstrategie durch, z.B. als logistische Drehscheibe in Europa mit dem Ausbau militärischer Mobilität. Große Ambitionen der »Fortschrittskoalition« der Ampel-Regierung.

Gleichzeitig zur neuen Nationalen Sicherheitsstrategie gibt das grün geführte Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) zum
1. September 2023 neue Regularien zur vereinfachten und schnelleren Lieferung von Rüstungsgütern für Bündnis- und neue Wertepartner heraus. Verkauft wird dies als ein Fortschritt an Effizienz und Beschleunigung der Genehmigungsverfahren, dabei soll die Einzelfallprüfung bei ausgewählten EU- und NATO-Partnern sowie Wertepartnern entfallen (→ siehe Brzoska). Sie werden als Allgemeinverfügung gebündelt, so laut Pressemitteilung von BMWK und BAFA vom 25.7.23. Eine zielgenaue Kontrolle soll vorrangig durch eine vertiefte Einzelfallprüfung bei den sonstigen Drittländern geschehen. Umgesetzt wird eine EU-Dual-Use-Verordnung von 2021 für eine Reihe von Ländern. Im Hinblick auf die neuen Wertepartner bedeutet das, dass keine Einzelanträge mehr gestellt werden müssen.

Als neue Wertepartner werden u.a. die Republik Korea, Singapur, Chile, Uruguay und Argentinien genannt. Die politische Steuerung durch derartige Festlegungen tritt sichtbar heraus: Warum wird beispielsweise nicht Brasilien aufgeführt? Wegen der nicht gelieferten Gepard-Panzer-Munition für die Ukraine? Oder weil Brasilien gerade eine Autoproduktion mit chinesischer Hilfe aufbaut, anstatt auf deutsche VW-Produktion zu setzen? Oder weil Brasilien BRICS-Gründungsmitglied ist? Der kleine Staat Singapur erhält zukünftig noch mehr und einfacher gelistete Güter. Wozu eigentlich? Auch wenn es sich um sogenannte Dual-Use-Güter handelt, eine transparente Rüstungsexportpolitik sieht anders aus.

Über eine weitreichende Verfügung wird Rüstungsexportpolitik gemacht und wo bleibt das im Koalitionsvertrag angekündigte Rüstungsexportkontrollgesetz? Die aktuelle Bestimmung gilt nur bis zum März 2024 und dann wird sie in ein Gesetz überführt oder stillschweigend verlängert. Die neue Allgemeinverfügung zeigt, wohin die Reise geht: in Richtung Priorität auf europäischer Ebene verbunden mit einer stärkeren Liberalisierung nicht nur im Dual-Use-Bereich. Die Positionen innerhalb der Regierung scheinen sich da wenig zu unterscheiden. Exportinteressen gehen verstärkt in Richtung Lateinamerika und Indopazifik. Welche genaue Linie verfolgt die Ampel bezüglich der Rüstungsproduktion, der EU und mit dem Export in Länder außerhalb und innerhalb von NATO, EU, einzelnen Wertepartnern und Drittländern. Wie werden Lieferungen im Einzelnen begründet? In Spannungsgebiete, Krisenregionen? Wurde im Bundessicherheitsrat (→ siehe Infokasten nebenan) als oberstem Entscheidungsgremium darüber gesprochen und sich parteiübergreifend verständigt?

Ob ein angekündigter »Nationaler Sicherheitsrat« im Hinblick auf Transparenz und informierte öffentliche Debatten zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik da Abhilfe schaffen würde, darf bezweifelt werden. Eine umfassende Transparenz, inklusive differenzierter Begründungen, ist erforderlich, wenn die Einbeziehung von Zivilgesellschaft hinter blumigen Worten nicht völlig zur Farce werden soll. Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf umfassende Informationen, zumindest nach Rüstungsbeschlüssen der Regierung.

Der Bundessicherheitsrat

Der Bundessicherheitsrat (BSR) ist ein Kabinettsausschuss der Bundesregierung, ein geheimtagender interministerieller Ausschuss. Die Genehmigung von Rüstungsexporten zählt zu seinen Kernaufgaben, dazu die Koordinierung deutscher Sicherheitspolitik und ihre strategische Ausrichtung. Er tagt in unregelmäßigen Abständen, jedoch wird weder eine Tagesordnung bekannt gegeben, noch über den Zeitpunkt informiert. „Die Protokolle befinden sich als geheime Verschlusssache in der Registratur des Bundeskanzleramts“ heißt es in einer Information der wissenschaftlichen Dienste des deutschen Bundestages. Ständige Mitglieder sind die Bundesministerinnen bzw. Bundesminister des Auswärtigen, der Finanzen, des Innern, der Justiz, für Wirtschaft, für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie der Chef des Bundeskanzleramts. Der Kanzler führt den Vorsitz und verfügt über die Richtlinienkompetenz. Er kann bei einem Patt entscheiden. Regelmäßiger Teilnehmer ist der Generalinspekteur der Bundeswehr in beratender Funktion. Andere Funktionsträger können ebenfalls zur Beratung hinzugezogen werden, z.B. die Geheimdienste.
Die ständigen Mitglieder des BSR sind verpflichtet, den Rat über geplante Maßnahmen, z.B. Beschaffungen für die Bundeswehr zu unterrichten. Wenn eine Anfrage im BAFA als problematisch eingestuft wird und es kann nicht im Umlaufverfahren zwischen den Ministerien geklärt werden, landet diese letztlich auf dem Tisch des BSR. Ein Vorbereitungsausschuss von Abteilungsleitern aus den beteiligten Ministerien erörtert, koordiniert und unterrichtet die Mitglieder des BSR. Letztlich verantwortlich ist das Gesamtkabinett. Somit sind die Beschlüsse des BSR Empfehlungen, aber seit langem entscheidet der BSR abschließend und damit faktisch bindend über Rüstungsexporte.
Im Zusammenhang mit den Rechten der Parlamentarier*innen hat das Bundesverfassungsgericht zwar der Exekutive die alleinige Verantwortung zugestanden, aber eine umfassendere Unterrichtung nach getroffenen Beschlüssen angemahnt. Eine parlamentarische Kontrolle vergleichbar mit dem parlamentarischen Kontrollgremium für die Geheimdienste gibt es für den BSR nicht.

Wie und wozu genau sollen die Bundeswehr und andere Armeen in Zukunft ertüchtigt und ausgestattet werden? Welche Ziele gibt es und welche roten Linien? Mehr von allem? Worthülsen wie »Sicherheit« und »Verteidigung« sollten detailliert und rechenschaftspflichtig erläutert werden. Wie sollen Entgrenzungen im Hinblick auf zukünftige Konflikte und Kriege verhindert werden? Warum wird »Abschreckung« mit nuklearer Teilhabe manifestiert? Welche Gefechtsführungskapazitäten werden angestrebt? Dies ist umso wichtiger, da die Öffentlichkeit aktiv an diesen Entscheidungen beteiligt sein will und sollte.

Waren in den vergangenen Jahrzehnten nach verschiedenen Umfragen durchgängig 70-80% der deutschen Bevölkerung gegen Rüstungsexporte eingestellt, so hat sich das seit dem 24.2.2022 und dem russischen Einmarsch in die Ukraine scheinbar auf um die 50% in der Frage von Waffenlieferungen an die Ukraine eingependelt. Auswirkungen solcher Befragungen auf politische Entscheidungsträger*innen sind ohnehin nicht zu erwarten, aber sie verraten etwas über das Verhältnis von breiter Öffentlichkeit und Rüstung – in Zahlen sichtbar gemacht.

Um eine stabile mehrheitliche Zustimmung zu Rüstungslieferungen zu generieren, bewährt sich die »Salamitaktik«, peu à peu immer etwas mehr in Menge und Art der Mandate und Praxis der Bundeswehreinsätze. Sichtbar wird das beispielsweise auch in der Veränderung der »Out-of-Area«- Einsätze der Bundeswehr außerhalb der EU: Von der ersten Feldlazarett-Lieferung im Rahmen eines UN-Mandats nach Kambodscha 1993 über das Brunnenbauen bis zum vorläufigen Ende risikoreicher deutscher Militärambitionen beim desaströsen Abzug aus Kabul im August 2021. Die entsprechende Entwicklung der Zustimmung zu Waffenexporten in die Ukraine ist ein Musterbeispiel für diese Taktik. Hier hieß es zuerst: keine schweren Waffen, dann doch, dann hieß es: keine Panzer, dann wurden sie doch genehmigt und nun die aktuelle Diskussion über die »Taurus«-Lieferung. Was folgt dann?

Absehbare Trends der Aufrüstung

Und allenthalben wird gerüstet: Der Ukraine-Krieg gilt als der erste große Drohnenkrieg und befeuert auch hierzulande erneut Debatten um die Bewaffnung von Drohnen. Auch wenn die Drohnen nicht kriegsentscheidend sein werden, kriegstauglich sind sie schon lange. Noch ist der Abnutzungskrieg mit Mensch und Material klassisch konventionell. Mehr Verdun als Cyberwar. »Warproofed« gilt als Qualitätsausweis bei Rüstungsgütern. In der Ukraine wird die Zukunft des Krieges mit Drohnen, Smartphones, Cyberangriffen, Logistik, Überwachung, Automatisierungen und allen aktuell verfügbaren Informationstechnologien im Gefecht, getestet und verbessert. Die Zeit nach dem Krieg wird sichtbar machen, wohin sich Europa insgesamt und die Staaten rüstungstechnisch entwickeln und protegiert werden.

Erste Trends sind erkennbar: Schwere hochtechnische Präzisionswaffen sollen nach der Nationalen Sicherheitsstrategie erforscht und gefördert werden. Die Zivilklauseln an den Universitäten sind da für manch eine Politiker*in und Hochschulrektor*in ein ärgerliches Hindernis, auch für MdB Willsch (CDU) kürzlich in einer Bundestagsdebatte. Die Schieflage zwischen Zivilschutzmaßnahmen, Entwicklungszusammenarbeit und der Priorisierung von Militär wird nicht nur fortgeschrieben, sie wird erheblich zunehmen. Bedeutet das eine Entwicklung in Richtung einer Militärwirtschaft für den Industriestandort Deutschland und – als ein Gegengewicht zum »Inflation Reduction Act« der USA – ein Vielfaches mehr an europäischen und bilateralen Rüstungskooperationen? Angenehme Zukunftsaussichten für die Rüstungsproduzenten. Die Weichen werden heute gestellt. Jedoch ist nicht zu vergessen: Munition und Bomben sind Verbrauchsgüter, mit dem Blut vieler getränkt.

Schwammige Kategorien für Rüstungsgüter, wie defensiv oder offensiv, sind weniger militärisch klare Kategorien, als politisch ideologische, um Rüstungsproduktion und Exporte breit akzeptabler zu machen. Und trotzdem: Eine Lieferung von Helmen in die Ukraine wurde unisono medial lächerlich gemacht, hatte aber defensiven Charakter. Rein faktisch war es ein genehmigungspflichtiger Rüstungsexport aus Beständen der Bundeswehr, in ein nicht EU- und NATO-Land, das sich zudem im Krieg befand. Dies sollte nicht aus den Augen verloren werden, nur weil die Forderung nach Aufrüstung heute als Mehrheitsmeinung propagiert wird.

Grundsätzlich geht es um die Definition und Umsetzung von menschlicher Sicherheit, letztlich um unser aller Leben in Deutschland und Europa. Immer mehr Rüstung wird nicht zu einem friedlicheren, sicheren, wertebasierten Europa beitragen. Meine Generation, die der Nachkriegskinder mit den kriegstraumatisierten und abwesenden Vätern, wurde im Kalten Krieg der Rüstungsspiralen und Konfrontation sozialisiert. Aus unserer Erfahrung ist klar, dass der aktuelle heiße Krieg in Europa mit Entgrenzungspotential beendet werden muss, bevor sich die Rüstungsspiralen und ihre Eskalationslogik ungehemmt Bahn brechen. Die Gestaltungsmöglichkeiten der postulierten Zeitenwende sollten nicht das Kriegsmaterial und Produktionskapazitäten priorisieren, sondern das friedliche Zusammenleben befördern.

Andrea Kolling ist langjähriges Mitglied in der GKKE-Fachgruppe Rüstungsexporte, sowie im europäischen Netzwerk gegen Waffenhandel ENAAT – European Network against Arms Trade, ehemalige Vorsitzende der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung, und BUKO-Kampagne: Stoppt den Rüstungsexport.

Das Problem mit der KI.

Oder: Warum Rüstung mitunter schwer greifbar ist

von Anna-Katharina Ferl

Staaten setzen auf Rüstung als Machtinstrumente, um ihre eigene Sicherheit zu bewahren. Oft meinen sie, dass schon ein kleiner technologischer Vorsprung eine entscheidende Rolle bei der Frage nach Sieg oder Niederlage in bewaffneten Konflikten spielt (Dickow, Hansel und Mutschler 2015). Neue Technologien spielen eine immer wichtigere Rolle in bewaffneten Konflikten, wie der Krieg gegen die Ukraine aktuell zeigt. Gleichzeitig sind diese wenig bis gar nicht reguliert und neue Initiativen bleiben oft erfolglos (Daase et al. 2023). Die stetige Entwicklung und der Einsatz neuer Militärtechnologien macht das Feld der Rüstung komplexer und bringt neue Probleme mit sich. Insbesondere Entwicklungen im digitalen Bereich können weitreichende militärische Potentiale haben, werden aber vor allem im zivilen Bereich entwickelt (sogenannte Dual-Use Technologien). Ab wann zählt eine Technologie dann als Rüstungsgut?

Ein weiterer Faktor, der die Definition von Rüstung erschwert, ist die immaterielle Natur dieser digitalen Entwicklungen. Digitale Technologien, die aus Software bestehen, können ungleich schwerer einer direkten militärischen Nutzung zugeordnet werden als beispielsweise ein Panzer. Die weitreichenden Folgen technologischer Neuerungen im Rüstungsbereich sind aber kein neues Phänomen. Bereits die Entwicklung von Feuerwaffen revolutionierte den Krieg im ausgehenden Mittelalter und leitete eine neue Zeitordnung ein (Müller und Schörnig 2006). Während des Ost-West Konflikts in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es eine Vielzahl neuer technologischer Entwicklungen, die ein Wettrüsten nach sich zogen. Diese zeigen, dass die Entwicklung neuer Militärtechnologien schon immer Herausforderungen und Probleme mit sich brachte.

Technologische Innovation als Treiber von Rüstungswettläufen

Abb. 2: Technologische Innovation als Treiber von Rüstungswettläufen im Ost-West Konflikt

Was ist also neu an den aktuellen Entwicklungen? Welche neuen Probleme werfen neue Waffen(-technologien) auf? Dies wird im Folgenden exemplarisch aufgezeigt an den Herausforderungen, die die Nutzung künstlicher Intelligenz (KI) in Rüstungstechnologien mit sich bringt.

Künstliche Intelligenz und digitale Waffen

Künstliche Intelligenz (KI) ist in aller Munde: Ihr wird bereits jetzt ein revolutionäres Potential zugeschrieben – und das nicht nur in unserem Alltag, sondern insbesondere auch im militärischen Bereich (Horowitz 2018). Allerdings sollten wir davon absehen, KI zu überschätzen. Aktuelle Entwicklungen im KI-Bereich sind vor allem auf eng gefasste Spezialaufgaben ausgerichtet – weit entfernt von Vorstellungen einer künstlichen Superintelligenz. Dennoch bringt der anhaltende technologische Fortschritt eine Reihe von Herausforderungen mit sich, die sich auch im Rüstungsbereich zeigen.

Dabei ist KI keine eigenständige Technologie wie ein Kampfflugzeug, sondern vielmehr eine Grundlagentechnologie, die bestimmte Anwendungen, auch militärische, ermöglicht. Zu den wichtigsten Anwendungsbereichen von KI zählen autonome Funktionen. Diese können autonomes Fahren im Straßenverkehr ermöglichen, z.B. autonome Taxis, wie sie in San Francisco erprobt werden. KI-gestützte Autonomie kann aber auch militärisch nutzbar gemacht werden, indem z.B. bewaffnete Drohnen nicht mehr durch einen Menschen gesteuert werden, sondern Tätigkeiten selbstständig und ohne menschliche Kontrolle ausführen können (Franke 2016).

Autonome Funktionen bergen das Risiko, die Kriegsführung zu beschleunigen und Eskalationsgefahren zu potenzieren. Außerdem gehen weitreichende völkerrechtliche und ethische Fragen mit Autonomie in Waffensystemen einher, die bisher ungelöst bleiben (Sauer 2022). Dafür ist der Erhalt menschlicher Kontrolle über KI-gesteuerte Waffensysteme, insbesondere über die kritischen Funktionen der Zielauswahl und Zielbekämpfung, entscheidend (Boulanin et al 2020). Im Fall von KI zeigt sich bereits die oben angesprochene essentielle Herausforderung neuer Technologien: sie sind oft prinzipiell doppelt nutzbar, zivil und militärisch, also »Dual-Use«. Diese bergen drei Problematiken: erstens sind Dual-Use Risiken schwerer abschätzbar als reine Rüstungsprojekte, zweitens können Dual-Use Risiken Rüstungsdynamiken antreiben, und drittens müssten bereits während der Forschung und Entwicklung diese Risiken präventiv eingedämmt werden (Riebe und Reuter 2019).

Während die Militärausgaben weltweit steigen (Bales et al. 2021), ist der militärische Anteil an Forschung und Entwicklung seit Ende des Ost-West-Konflikts rückläufig (Altmann 2007). Das bedeutet aber auch, dass vermehrt Forschung im zivilen Bereich stattfindet, die einerseits von Militärs eingekauft oder direkt in Auftrag gegeben wird. Dabei spielen multinationale Konzerne, wie Google, Amazon oder Microsoft eine entscheidende Rolle.

Ein drittes Problem in diesem Feld ist die rasante Geschwindigkeit der Entwicklung neuer Technologien. Die Politik kann oft gar nicht so schnell nachziehen und Probleme erkennen und regulieren. Daher warnten erst vor Kurzem Expert*innen und namhafte Personen wie Bill Gates in einer öffentlichen Erklärung vor den Risiken von KI.1 Der aktuelle Stand der Forschung und Entwicklung bleibt allerdings oft intransparent, da sowohl im wirtschaftlichen als auch im militärischen Bereich Geheimhaltung an erster Stelle steht. Dass ein Projekt wie »Project Maven« (→ siehe Infokasten nebenan) öffentlich wird, ist eher die Ausnahme als die Regel.

Das Projekt Maven von Google und Pentagon

‚Project Maven‘ ist eines der bekanntesten und umstrittensten KI-Rüstungsprojekte im zivil-militärischen Bereich der letzten Jahre. 2017 gab das US-Verteidigungsministerium den Auftrag an Google, ein KI-Programm zu entwickeln, um Videomaterial von Drohnen effizienter nach relevanten Objekten und Zielen zu durchsuchen. Die schiere Masse an Videomaterial sollte durch die KI schneller und besser durchsucht und relevante Informationen direkt für die militärische Entscheidungsfindung bereitgestellt werden. Das Programm wurde erst 2018 publik und nach anhaltenden Protesten der Belegschaft stellte Google die gesamte Zusammenarbeit mit dem Pentagon 2019 ein. Allerdings arbeitet Google seit 2021 wieder an Projekten für das Pentagon, neben anderen großen Unternehmen, wie Amazon und Microsoft.


Peitz, Dirk (2018): Project Maven. Google wird einfach ersetzt.Zeit online, online verfügbar: https://www.zeit.de/digital/internet/2018-06/maven-militaerprojekt-google-ausstieg-ruestungsexperte-paul-scharre/komplettansicht.

Wakabayashi, Daisuke; Conger, Kate (2021): Google Wants to Work With the Pentagon Again, Despite Employee Concerns. The New York Times, online verfügbar: https://www.nytimes.com/2021/11/03/technology/google-pentagon-artificial-intelligence.html.

Möglichkeiten der Regulierung Künstlicher Intelligenz

Wie kann die Politik diesen Entwicklungen nun entgegenwirken? Welche Maßnahmen gäbe es auch auf internationaler Ebene, um KI-Technologien zu regulieren, die nicht vor Staatsgrenzen Halt machen? Rüstungskontrolle dient dazu, die negativen Effekte von Rüstungsdynamiken zu begrenzen und gegenseitige Sicherheit zu gewährleisten, um die Beziehungen zwischen Staaten zu stabilisieren. Rüstungskontrolle kann dabei entweder quantitativ bestimmte Höchstgrenzen für Waffenkategorien setzen oder qualitativ die Leistung und technologische Weiterentwicklung von Waffensystemen regulieren.

Rüstungskontrolle ist also eine politische Maßnahme, um bestimmte Rüstungsgüter zu regulieren und Rüstungsdynamiken einzudämmen. Allerdings zeigt sich hier auch, dass Rüstungskontrolle einerseits in der Regel den technologischen Entwicklungen hinterherläuft – also oftmals nicht rechtzeitig reguliert. Andererseits stellt die technische Komplexität von KI-Anwendungen die Rüstungskontrolle vor neue definitorische Herausforderungen, da es nicht mehr »nur« ausreicht, physisch z.B. Sprengköpfe zu zählen, sondern die Probleme oft in ein paar Zeilen Softwarecode stecken. Daher ist auch die Verifikation, also die Überprüfung, dass sich alle Mitglieder eines solches Übereinkommens daranhalten würden, im KI-Bereich extrem schwer bis unmöglich, wenn Softwarecode relativ leicht geändert oder versteckt werden kann.

Für »präventive Rüstungskontrolle«, die oft schon in der Phase der Entwicklung ansetzt, scheint es bei KI-Entwicklungen noch nicht zu spät – aber die Zeit läuft (Altmann 2008). Trotz des eigentlich logischen Ansatzes, Rüstung zu regulieren, ehe Staaten enorme Summen dafür ausgegeben haben, und einer Reihe solcher Bemühungen, bleiben Erfolge präventiver Rüstungskontrolle rar. Dies liegt vor allem daran, dass technische Entwicklungen bis dato ungeahnte militärische Relevanz entwickeln könnten und Staaten sich ungern Regelungen unterwerfen, ehe das Potenzial einer Technologie vollständig erkannt wurde. Auch in den aktuellen Diskussionen über Rüstungskontrolle wird eine präventive Kontrolle der militärischen Nutzung künstlicher Intelligenz gefordert, insbesondere solcher Funktionen, die Autonomiesteigerungen in Waffensystemen ermöglichen.

Zentrale Begriffe und Konzepte:

Rüstungskontrolle: Alle Vereinbarungen, die die Verringerung der Kriegsgefahr anstreben durch eine Reihe von Maßnahmen, die Vertrauensbildung und Transparenz stärken, aber auch die konkrete Steuerung von Rüstung und Kontrolle bestimmter Waffen einschließt.

Abrüstung: Bezeichnet solche rüstungskontrollpolitischen Maßnahmen, die auf die Verringerung oder komplette Abschaffung militärischer Fähigkeiten und Rüstungsgütern abzielen.

Nichtverbreitung: Verhinderung der Verbreitung (Proliferation) bestimmter Rüstungsgüter auf immer mehr Staaten.

Verifikation: Die Überprüfung, ob die Mitgliedsstaaten einer Rüstungskontrollvereinbarung diese auch einhalten und somit Betrug zu verhindern oder aufzudecken.


Bundeszentrale für politische Bildung (2013): Eine kurze Geschichte der Abrüstung und Rüstungskontrolle, https://sicherheitspolitik.bpb.de/de/m7/articles/m7-01.

Schörnig, Niklas (2017): Rüstung, Rüstungskontrolle und internationale Politik. In: Sauer, Frank; Masala, Carlo (Hrsg.): Handbuch internationale Beziehungen.
Wiesbaden: Springer VS, S. 959–990.

Der Handlungsbedarf im Bereich der präventiven Rüstungskontrolle künstlicher Intelligenz ist aber nicht nur auf autonome Waffensysteme begrenzt. Militärische KI-Anwendungen zeigen sich nicht nur im klassischen Waffentypus, sondern gerade in weniger durchsichtigen Bereichen der militärischen Entscheidungsfindung (Welchen Einfluss haben Vorurteile in der KI-gestützten Zielauswahl?, vgl. Villasenor 2019) oder der Verschränkung mit Nuklearwaffen und deren Kontrolle (Baldus 2022). Allerdings sollte künstliche Intelligenz weder über- noch unterschätzt werden. Die Risiken und Potentiale müssen sorgfältig abgeschätzt werden, damit eine Regulierung möglicher problematischer Anwendungen schnell und umfassend gelingen kann. Außerdem müssen international dringend Regeln für die verantwortungsvolle Forschung und Innovation aufgestellt werden (Boulanin, Brockmann und Richards 2020).

Stop »Killer Robots«: Autonome Waffensysteme und der Versuch einer präventiven Regulierung

Seit 2014 treffen sich Staatenvertreter*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen und wissenschaftliche Expert*innen im Rahmen der Waffenkonvention der Vereinten Nationen (CCW) zu einem möglichen Verbot autonomer Waffensysteme, bevor diese militärisch entwickelt und genutzt werden. Trotz der anfänglichen Fortschritte und der breiten internationalen Bereitschaft, Gespräche über die präventive Regulierung autonomer Funktionen in Waffensystemen zu führen, ist der Prozess ins Stocken geraten. Dies liegt einerseits im politischen Interesse einiger Staaten, keine Einschränkungen in der Entwicklung von Technologien hinzunehmen, die ihnen in Zukunft militärische Vorteile verschaffen könnten.

Andererseits sehen Beobachter*innen, wie Rosert und Sauer (2021), das Problem auch in einer suboptimalen Strategie der Kampagne »Stop Killer Robots«. Die Kampagne war zwar maßgeblich daran beteiligt, das Thema auf die Agenda der internationalen Staatengemeinschaft zu setzen, die Ausrichtung an früheren humanitären Rüstungskontrollmaßnahmen, wie blendende Laserwaffen und Antipersonenminen war jedoch weniger erfolgreich. Dies liegt einerseits daran, dass autonome Waffensysteme wesentlich abstraktere und komplexere Technologien sind, andererseits die völkerrechtlichen Probleme weniger eindeutig als bei vorherigen Waffengattungen sind. Auch der Begriff »Killerroboter« für autonome Waffensysteme ist eher kontraproduktiv. In der Debatte hat sich auch das Prinzip menschlicher Kontrolle über solche autonomen Systeme als zentrales Ergebnis herauskristallisiert, dass als positive Verpflichtung auf mehr Rückhalt als die Forderung eines Verbots stoßen könnte.

Viele Beobachter*innen sind insgesamt aber dennoch pessimistisch, was die Aussichten auf eine präventive Regulierung oder gar eines Verbots autonomer Waffensysteme in naher Zukunft angeht. Allerdings gibt es seit einiger Zeit Bestrebungen, den Prozess auch außerhalb der CCW weiterzuführen. So haben 70 Staaten 2022 in der VN-Generalversammlung eine gemeinsame Erklärung zu autonomen Waffensystemen eingebracht. Im November 2023 wurde eine Resolution im Ersten Komitee der Generalversammlung mit überwältigender Mehrheit angenommen, in der der VN-Generalsekretär aufgerufen wird, die Herausforderungen autonomer Waffensysteme zu untersuchen.


Rosert, Elvira; Sauer, Frank (2021): How (not) to stop the killer robots: A comparative analysis of humanitarian disarmament campaign strategies. Contemporary Security Policy 42 (1), 4-29.

Altmann, Jürgen; Brahms, Renke; Dahlmann, Anja; Ferl, Anna-Katharina; Küchenmeister, Thomas; Trittenbacher, Johanna; Weber, Jutta (2020): Autonome Waffensysteme – auf dem Vormarsch? Wissenschaft und Frieden W&F Dossier 90.

Anmerkung

1) Center for AI Safety (2023) Statement on AI Risk, online verfügbar: https://www.safe.ai/statement-on-ai-risk.

Anna-Katharina Ferl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Peace Research Institute Frankfurt (PRIF) und forscht zu Fragen der militärischen Nutzung künstlicher Intelligenz, autonomen Waffensystemen und der Kontrolle und Regulierung von Militärtechnologien. Sie ist außerdem Mitglied in PRIFs Forschungsgruppe »Emerging Disruptive Technologies« und promoviert an der Goethe Universität Frankfurt.

Deutsche Rüstungsschmieden:

Spezialisiert, vernetzt, internationale Akteure

von Andreas Seifert

Es gibt eine gewisse Diskrepanz zwischen dem von der Industrie reproduzierten Selbstbild einer leistungsfähigen, zu technologischen Spitzenleistungen fähigen Rüstungsindustrie in Deutschland und den Verzögerungen in der Beschaffung und den Mängeln an Waffensystemen – der schwarze Peter wird dabei vielleicht zu leicht dem Beschaffungswesen der Bundeswehr zugeschoben. Doch wer ist damit gemeint, wenn von »der deutschen Rüstungsindustrie« gesprochen wird, welches sind die großen und die kleinen Firmen, die dazu gezählt werden müssten?

Es gibt nur wenige systematische Erhebungen zur Rüstungsindustrie in diesem Land – das liegt unter anderem auch daran, dass sie – volkswirtschaftlich betrachtet – nicht mehr relevant ist. Nach einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln waren in der Rüstungsindustrie 2020, also vor dem Beginn des Ukrainekrieges, rund 55.000 Menschen beschäftigt und sie erzeugte einen Umsatz von 11 Mrd. € (vgl. IDW 2022) – zum Vergleich betrug allein der Inlandsumsatz der deutschen Automobilindustrie im gleichen Jahr rund 153 Mrd. € und der Gesamtumsatz deutscher Autohersteller sogar 506 Mrd. €, bei rund 774.000 Beschäftigten (Statista 2023). 2013 veröffentlichte der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) eine Studie in der der Kernbereich der Rüstungsindustrie (also Unternehmen, die direkt in der Waffenproduktion tätig sind) gerade einmal 17.220 Beschäftigte zählt und rund 80.000 weitere im erweiterten Bereich der Sicherheitsindustrie zu verorten sind (Schubert et al. 2012). Erst mit sogenannten indirekten und induzierten Beschäftigungseffekten wurde diese Zahl auf 316.000 Menschen in Deutschland hochgerechnet, die von der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie profitieren. Die Studie spricht von einem Produktionswert von 22,6 Mrd. € für die Branche und einem überdurchschnittlichen Wachstum im Vergleich zur Gesamtwirtschaft und einer hohen Exportquote (vgl. ebd.). Die Diskrepanz der Zahlen mag erstaunen und erklärt sich nur teilweise aus den unterschiedlichen methodischen Ansätzen. Aktuelle Statistiken erfassen nur unzureichend, welche Güter und Umsätze mit welchen Beschäftigten zusammenhängen und wo die Grenzen zwischen Sicherheit, Verteidigung oder Waffen und Rüstungsgütern verlaufen.

Der Blick in die Mitgliedsverzeichnisse der großen Lobbyvereinigungen wie dem Bundesverband der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik (DWT) und dem Anwenderforum für Fernmeldetechnik, Computer, Elektronik und Automatisierung (AFCEA) zeigt ein sehr viel differenzierteres Bild der Branche. Es sind Unternehmen engagiert, die in der überwiegenden Zahl auch, wenn nicht sogar mehrheitlich in zivilen Bereichen tätig sind und bei denen das »Rüstungsgeschäft« ein weiteres Betätigungsfeld unter vielen darstellt (vgl. IMI 2022). Würde man alle Beschäftigten und Umsätze pauschal der Rüstung zuschlagen, würde die Rüstung in Deutschland groß erscheinen. Das Bundesverteidigungsministerium (BMVg) selbst spricht mit Blick auf die kleineren Firmen von einem „Wehrtechnischen Mittelstand“ dem rund 1.350 Unternehmen in Deutschland zuzurechnen sind und sich dadurch charakterisieren, dass sie nicht mehr als 1.000 Mitarbeiter*innen und einen Umsatz unter 300 Mio. € aufweisen.

In einer der vielen Aufstellungen zu den größten Rüstungsunternehmen Deutschlands wurden vom Portal »Technik und Wirtschaft für die Deutsche Industrie – Produktion« 2018 genannt:

Abb. 3: Die 10 größten deutschen Rüstungsunternehmen

Die Aufstellung in der Abb. 3 suggeriert eine Klarheit, die sich bei genauerem Besehen auflöst, da die Verbindungen zwischen den Unternehmen nicht sichtbar sind. Auch die Dynamik der Branche hat in den Jahren seit 2019 zugenommen. Sie zeigt die großen Firmen, wie sie in der öffentlichen Wahrnehmung und Debatte eine Rolle spielen – allen voran die Platzhirsche Airbus und Rheinmetall. Im internationalen Vergleich sind die großen deutschen Unternehmen eher klein. Das Stockholmer Friedenforschungsinstitut SIPRI veröffentlicht jährlich eine Liste der 100 größten Unternehmen im Bereich Waffenproduktion und militärischer Services – Lockheed Martin aus den USA führt diese Liste an: mit über 60 Mrd. US$ Umsatz – also einem mehrfachen der gesamten Branche in Deutschland. Dieser Liste nach findet sich das erste deutsche Unternehmen auf Platz 31(Abb. 4). Als trans-europäisch werden weitere Unternehmen gelistet, die in Deutschland substanziell produzieren (Abb.5).

Abb. 4 „Deutsche Unternehmen“ nach SIPRI

Abb. 5 Trans-Europäische Unternehmen“ nach SIPRI

Der Blick auf die Umsätze und Beschäftigtenzahlen allein blendet aber andere Aspekte aus, die zur Bewertung der Unternehmen wesentlich sind. Der Aktivist Jürgen Grässlin spricht mit Blick auf den Handfeuerwaffenproduzenten Heckler & Koch aus Oberndorf nicht ohne Begründung von dem „tödlichsten Unternehmen“ Deutschlands (Grässlin 2013). Tatsächlich sind nicht wenige auch der kleinen Unternehmen Spezialisten, ggf. sogar Weltmarktführer für bestimmte Bauteile, die in Waffensystemen weltweit ihren Einsatz finden – sie sind so gesehen »wesentliche Akteure« auch wenn ihr Umsatz (oder ihr Umsatz im Rüstungsbereich) vergleichsweise gering ausfällt. Hier ist es wichtig in den Blick zu nehmen, dass Großwaffensysteme wie Panzer, Kampfflugzeuge oder Kampfschiffe nicht von einem einzigen Unternehmen gebaut werden, sondern sich aus Baugruppen und Teilen unterschiedlicher Hersteller zusammensetzen. Unternehmen bilden daher Konsortien, um solche Aufträge überhaupt bearbeiten zu können.

Andreas Seifert ist Politikwissenschaftler und ist als Vorstand bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in den Themenfeldern Sicherheitspolitik in Ostasien und Rüstungsindustrie aktiv.

Zehn ausgewählte Standorte deutscher Rüstungsschmieden

Abb. 6: Ausgewählte Standorte Baden-Württemberg und Bayern

1) Airbus

Airbus ist nach BAE-Systems (GB) und Leonardo (IT) der drittgrößte europäische Luft- und Raumfahrtkonzern und erwirtschaftete 2021 18% seiner Umsätze mit Wehrtechnik. Der Konzern gilt als Trans-Europäisch und hat sein Hauptquartier in den Niederlanden und Werke und Niederlassungen in nahezu allen europäischen Ländern und darüber hinaus. In den beiden Divisionen Airbus Helicopters und Airbus Defence&Space wird der Großteil der militärischen Geschäfte abgewickelt – Airbus unterhält Standorte an vielen deutschen Städten. Airbus ist unter anderem in der Produktion des Eurofighter Typhoon, dem Transportflugzeug A 400 M, dem Tank-Transportflugzeug MRTT (auf der Basis des
A 330) und dem Kampfhubschrauber Tiger aktiv. Darüber hinaus produziert Airbus in seiner Tochterfirma NH-Industries (zusammen mit dem Leonardo-Konzern) den Transporthubschrauber NH90. Airbus ist über seine Beteiligung an MBDA auch direkt an der Produktion von Lenkwaffen beteiligt. Der Konzern wird einer der Hauptauftragnehmer des FCAS (Future Combat Air Systems) sein. Alle Produkte des Konzerns sind von vornherein auf einen Export in Länder außerhalb Europas konzipiert – die Struktur als trans-europäisches Unternehmen gibt dabei Möglichkeiten, ggf. national vorhandene politische Widerstände oder Exportbeschränkungen zu umgehen.

2) Hensoldt Germany

Die erst 2017 gegründete Firma ist ein Konglomerat aus einstmals unabhängiger Unternehmen, die hier über verschiedene Wege (vor allem aus dem Firmenbestand des Airbuskonzerns) zusammengefasst wurden. Das Unternehmen ist ein Sensorspezialist, der plattformunabhängig verschiedenste Waffenhersteller beliefert. Mit Hensoldt ist ein deutscher Anbieter entstanden, der das breite Feld spezieller militärischer Elektronik anbietet – er ist in diesem Punkt vergleichbar mit anderen Technologie- und Rüstungskonzernen wie Thales oder Leonardo (der 2021 ein Anteilspaket von 25,1% an Hensoldt erworben hat). Weiterer Eigentümer ist der deutsche Staat, der in der Pandemie 2020 ein Aktienpaket im Wert von 450 Mio. € erworben hat. Im SIPRI- Ranking ist Hensoldt von 2020 auf 2021 von Platz 79 auf 69 vorgerückt. In jüngerer Zeit ist die Belieferung türkischer Drohnenhersteller mit Sensoren negativ aufgefallen.

3) Heckler & Koch

Der Umsatz von Schusswaffenherstellern wie Heckler & Koch fällt im Vergleich zu Schiffsbauern nahezu gering aus – die tödliche Wirkung ihrer Waffen jedoch ist eine wesentlich höhere. Das Unternehmen knüpfte nach 1955 nahezu bruchlos an die deutsche Waffenbauertradition an und fertigt bis heute immer neue Handfeuerwaffen. Die Standardgewehre der Bundeswehr G3 (1959-1997) und G36 (1997-) sind weltweit im Einsatz und werden auch im Ausland in Lizenz gefertigt. Exportiert wurden also nicht nur die Gewehre an sich, sondern auch komplette Waffenfabriken. Neben Heckler & Koch stehen auch die Firmen Carl Walther, SIG Sauer und Haenel für deutsche Kleinwaffenproduktion und ihren internationalen Einsatz.

4) Diehl-Defense

Diehl steht, wie auch Rheinmetall, auf einem zivilen und einem militärischem Bein – 870 Mio. US$ der knapp 3,7 Mrd. US$ Gesamtumsatz von Diehl 2021 entfielen auf die Defense Sparte mit Hauptsitz in Überlingen am Bodensee. Diehl hat einen Fokus auf Lenkflugkörper und fertigt an verschiedenen Standorten Komponenten und entwickelt Technologien hierzu – die teilweise auch in Lenkflugkörperserien anderer Hersteller verbaut werden. Diehl ist in einer Reihe von Kooperationen aktiv, wie mit MBDA, Elbit, Thales oder Rheinmetall. Von Diehl stammt die IRIS-T, die als Luft-Luft und Boden-Luft-Lenkflugkörper in verschiedenen Streitkräften eingesetzt wird und im Kontext des Ukrainekriegs bekannter geworden ist.

5) Northrop Grumman LITEF

Die Trägheitsnavigationssysteme und Sensoren der Freiburger Firma LITEF sind Bestandteil von Waffensystemen und Verkehrsflugzeugen und -hubschraubern weltweit – auch andere Maschinen werden mit ihnen bestückt. Es ist einer der »hidden champions« mit Sitz in Deutschland, der, obwohl er den Namen des viertgrößten Waffenproduzenten der Welt trägt, explizit Technik verkauft, die nicht den US-Regulatorien unterliegt und damit unabhängig von einer Genehmigung durch die USA-Behörden verkauft/exportiert werden kann (ITAR-frei).

Abb. 7: Ausgewählte Standorte Niedersachsen, NRW, Hessen und Bayern

6) Naval Vessels Lürssen – ThyssenKrupp Marine Systems

Die Umsätze in der Marineindustrie sind gigantisch – Kriegsschiffe kosten viel Geld, dass in der Regel erst fließt, wenn ein Schiff an der Kaimauer festmacht, weshalb Schiffsbauer schnell in den oberen Rängen von SIPRI ankommen, aber ebenso schnell wieder verschwinden können. Das kapitalintensive Geschäft wird nicht selten von Korruption begleitet – die technologische Komplexität und die langen Beschaffungszyklen lassen die Projekte schnell zu Millionengräbern gedeihen. Von der einstmals großen und erfolgreichen Marineindustrie in Deutschland ist nicht mehr viel übrig geblieben. Die »Reste« wurden und werden immer wieder mal verkauft oder umfirmiert, wobei jedes neue Unternehmen für sich reklamiert, in der großen Tradition des Marineschiffbaus in Deutschland zu stehen. Die hier genannten Unternehmen NVL und TKMS bilden zusammen die Spitze davon. Die U-Boote aus Deutschland kosten rund 400 Mio. € das Stück und sind vor allem Exportschlager.

7) Rheinmetall

Der Düsseldorfer Mischkonzern rangierte 2021 mit einem Umsatz von fast 4,45 Mrd. US$ im Rüstungsgeschäft auf Platz 31 der weltweit größten Rüstungsunternehmen und ist damit Deutschlands größte Rüstungsschmiede. Neben der im Vordergrund stehenden Produktion schwerer Waffensysteme wie Leopard 2, Lynx, Marder, Puma etc. bietet der Konzern auch kleinere Waffensysteme an, die als Ergänzung oder zusätzliche Ausrüstung zu haben sind. Durch Zukäufe in den vergangen 20 Jahren ist Rheinmetall zu einem »Vollanbieter« des militärischen Bedarfs geworden, der von Patronen über Granaten und Drohnen bishin zu Feldlagern alles im Programm hat. Der Konzern ist international breit vernetzt und betreibt Fabriken auch in Ländern, die keinen oder anderen Exportbeschränkungen unterliegen. Der Konzern ist einer der exponiertesten Lobbyisten für eine Aufweichung von Exportbeschränkungen und der Erhöhung von Rüstungsbeschaffungen.

8) KMW-Nexter (KNDS) – Krauss-Maffei Wegmann

Der »europäische Champion« unter den Panzerbauern besteht aus dem größten französische Panzerbauer (im Besitz des französischen Staates) und dem größten deutschen Panzerbauer (im Besitz der Familie Bode/Wegmann) und hat seinen Sitz in den Niederlanden … und ist hierzulande kaum als Firma bekannt. Hier kennt man KMW als deutsches Unternehmen, das an der Produktion von Leopard-Panzern, Panzerhaubitzen und weiteren gepanzerten Fahrzeugen beteiligt ist. Die Fusion mit Nexter sollte nicht nur technologische Synergien, sondern auch gemeinsame Produktions- und Exportkapazitäten schaffen – denn, anders als das landläufige Bild, ist Panzerproduktion in Europa nach 1990 mehr Manufaktur, denn Industrie.

9) Dynamit Nobel Defence

Versteckt im Siegerland auf der Grenze zwischen NRW und Hessen befinden sich die Produktionsanlagen von Dynamit Nobel Defence (DND) – es ist ein historischer Standort: Produktionsstätten von Munition und Sprengstoff wurden weitab größerer Siedlungen gebaut. DND fertigt Schulterwaffen für die Bundeswehr und andere Armeen. Als »Panzerfaust« bekannt sind diese Schulterwaffen kleine Flugkörper, die von Soldaten am Boden abgefeuert werden können. Darüber hinaus baut DND reaktive, explodierende Schutzpanzerungen für gepanzerte Fahrzeuge. DND ist in einer Kooperation mit General Dynamics Ordnance and Tactical Systems auch auf dem US-Markt mit seinen Produkten vertreten. Das Unternehmen gehört zum israelischen Rüstungskonzern Rafael Advanced Defence Systems – einem der Schwergewichte im internationalen Waffenhandel: es rangiert auf Platz 45 bei SIPRI.

10) MBDA Deutschland

Mit nationalen Gesellschaften in Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien und Spanien ist die MBDA heute einer der größten Anbieter von Lenkflugkörpern weltweit – und der deutsche Ableger ist technologisch gesehen ein wesentlicher Baustein in diesem Konstrukt. Das Unternehmen beliefert 90 Armeen rund um den Globus und ist in Deutschland an drei Standorten mit Produktion und Entwicklung vertreten. MBDA ist auf vielfache Weise mit anderen Unternehmen verbunden und ist im Besitz von Airbus (37,5%), BAE Systems (37,5%) und dem Leonardo-Konzern (25%). Mit dem Tochterunternehmen Bayern-Chemie ist das Unternehmen auch in der Raumfahrt und bei Hyperschallflugkörpern aktiv, mit TDW (Gesellschaft für verteidigungstechnische Wirksysteme mbH) werden Gefechtsköpfe und anderer Komponenten für die Lenkwaffen von MBDA und die anderer Hersteller wie Raytheon, Lockheed Martin, Saab und Kongsberg Defence & Aerospace entwickelt.

Wer finanziert die deutsche Rüstungsindustrie – und wie?

Ein Überblick von Facing Finance e.V.

von Julius-Anton Bussenius und Luca Schiewe

Ohne Bankkredite, ohne Exportkredite, ohne Versicherungen von Rückversicherern, ohne Risikenübernahme von Investmentbanken, ohne Investitionen von Fonds und ohne Anleihenverkäufe an der Börse ist es auch für deutsche Rüstungskonzerne schwer, auf den (internationalen) Markt zu gelangen und sich dort zu halten. Doch über welche Strukturen und Wege erhalten deutsche Rüstungsunternehmen konkret Gelder?

Die Umschreibung »deutsche Rüstungsindustrie« kann unterschiedlich weit gefasst werden und bedarf einer Spezifizierung (→ vgl. Seifert). Nach der Mitgliederliste des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) umfasst die »deutsche Rüstungsindustrie« aktuell 221 Mitgliedsunternehmen, von denen 187 namentlich genannt werden. Nach Angaben des BDSV betätigen sich seine Mitgliedsunternehmen in Deutschland auf dem Gebiet der Ausrüstung von Organen der Landesverteidigung und inneren Sicherheit in der Wehr-, oder Sicherheitstechnik mit industriellen oder digitalen Wertschöpfungsketten. Die Mitgliedschaft ist unabhängig von der Unternehmensgröße und bietet damit eine gute Annäherung an ein breites Verständnis der deutschen Rüstungsindustrie.

Finanzierungswege der Rüstungsindustrie

Die deutsche Rüstungsindustrie ist bezüglich Eigentümerstruktur, Ort des Unternehmenssitzes, Mitarbeiter*innenzahl und Jahresumsatz sehr heterogen. Je nach Unternehmensstruktur nutzen deutsche Rüstungsfirmen auch sehr unterschiedliche Finanzierungswege. Um einen Überblick zu bekommen, lohnt es sich, die Unternehmen zunächst anhand der zentralen Faktoren Eigentümerstruktur und Ort des Unternehmenssitzes zu kategorisieren (vgl. Abb. 8 und 9). Unter den BDSV-Mitgliedsunternehmen haben 129 ihren Hauptsitz in Deutschland, während 58 ihren Hauptsitz im Ausland haben oder deutsche Tochterunternehmen von ausländischen Konzernen sind. Bezüglich der Eigentümerstruktur befinden sich 95 Unternehmen in privatem Besitz, meist mittelständische Familienunternehmen, die eher kleinere Mitarbeiter*innenzahlen und Jahresumsätze aufweisen; Sechs gehören Finanzinvestoren, die das Ziel verfolgen, diese Unternehmen profitabler zu machen und anschließend weiterzuverkaufen oder an die Börse zu bringen; 28 sind Tochterfirmen von Konzerngruppen in Privathand oder Staatshand, meist Großkonzerne; Neun sind börsennotiert und in der Regel charakterisiert durch große Mitarbeiter*innenzahlen und Jahresumsätze; und 41 sind Tochterunternehmen oder Joint Ventures von börsennotierten Konzernen, die meisten davon mit Sitz im Ausland. Zu acht Unternehmen konnten keine Informationen zur Unternehmensstruktur gefunden werden.

Abb. 8: Sitz der BDSV-Mitgliedsunternehmen

Die Unternehmensstruktur beeinflusst, auf welche Weise sich eine Rüstungsfirma finanziert. Für alle Firmen gilt, dass sie ihre Operationen und Investitionen teilweise selbst über einbehaltene Gewinne finanzieren. Daneben lassen sich für jede Unternehmensstruktur verschiedene Finanzierungswege erkennen.

Erstens: Unternehmen in privatem Besitz finanzieren sich hauptsächlich über Kredite deutscher Banken. Dabei handelt es sich in der Regel um konventionelle Banken und nicht um Nachhaltigkeitsbanken. Der Fair Finance Guide Deutschland zeigt, welche deutschen Banken die Rüstungsindustrie finanzieren und welche nicht.

Zweitens: Unternehmen, die Teil einer Konzerngruppe sind, finanzieren sich in der Regel über ihren Mutterkonzern. Einige deutsche BDSV-Mitgliedsfirmen gehören zu großen und internationalen Konzernen, meist Rüstungskonzernen, und finanzieren sich über diese. Ein paar dieser ausländischen Mutterkonzerne sind in Staats- oder Privathand, aber die meisten sind börsennotiert: Airbus, Atos, BAE Systems, Bruker, CAE, Capgemini, Caterpillar, CGI, Chart Industries, Cohort, Dassault Aviation, Elbit Systems, Engie, Frequentis, General Atomics, General Dynamics, Huber+Suhner, IBM, Kennametal, Leonardo, Melrose Industries, Moog, Northrop Grumman, Oerlikon, Palantir, QinetiQ, Rolls-Royce, RTX, Saab, Safran, Solvay und Thales.

Abb. 9: Eigentümerstruktur der BDSV-Mitgliedsunternehmen

Drittens: Unternehmen, die an der Börse gelistet sind, finanzieren sich häufig über Konsortialkredite (große Kredite, die von mehreren nationalen und internationalen Banken gemeinsam vergeben werden) oder direkt über die Ausgabe neuer Aktien und Anleihen am Kapitalmarkt. Wenn eine deutsche Rüstungsfirma eine Anleihe ausgibt, dann nimmt sie dabei frisches Fremdkapital am Finanzmarkt auf. Wenn sie neue Aktien ausgibt, dann nimmt sie dabei frisches Eigenkapital am Finanzmarkt auf. Dabei übernehmen ein paar ausgewählte Investmentbanken die neuen Aktien und verkaufen sie dann an Anleger*innen, insbesondere Pensionskassen, Versicherungsgesellschaften, Kreditinstitute, Vermögensverwalter und Investmentfonds. Wenn diese Anleger*innen neu ausgegebene Aktien oder Anleihen eines deutschen Rüstungsunternehmens kaufen (Primärmarkt), dann finanzieren sie dieses Unternehmen. Wenn dahingegen alte Aktien eines Rüstungsunternehmens zwischen Investor*innen gehandelt werden (Sekundärmarkt), erhält dieses Unternehmen dabei kein Geld. Trotzdem unterstützen auch Käufer*innen von Rüstungsaktien am Sekundärmarkt indirekt die jeweiligen Rüstungsfirmen, da sie zu einer höheren Nachfrage beitragen, die den Aktienpreis stützt und die Firma von einem höheren Aktienpreis finanziell profitiert. Das ist z.B. der Fall, wenn die Firma neue Aktien ausgibt und dabei dann einen höheren Preis erzielen kann.

Viertens: Ein paar deutsche Rüstungsfirmen wurden von Finanzinvestoren, meist Private Equity Fonds, aufgekauft und werden von diesen teilweise finanziert. Zu diesen Finanzinvestoren zählen aktuell Capital Management Partners, Mimir Group, Perusa Partners, Rantum Capital, Star Capital Partnership LLP, Triton Capital Partners und bald auch KKR.

Investoren und Kreditgeber der deutschen Rüstungsindustrie

Im Folgenden wird analysiert, wer die börsennotierten BDSV-Mitgliedsfirmen finanziert. Die größten Aktionäre der deutschen Rüstungsindustrie können unterschieden werden zwischen strategischen Anteilseignern (Staaten, Partnerkonzerne, Stiftungen, Gründerfamilien) und Investoren, die mit ihren Aktieninvestments in erster Linie Gewinne erzielen wollen. Die größten strategischen Anteilseigner der börsennotierten BDSV-Mitgliedsfirmen sind Stand August 2023 der deutsche Staat (mit Aktienbeteiligungen in Höhe von 12,95 Mrd. US$); der französische Staat (12,44 Mrd. US$); der Autokonzern Mercedes Benz (8,71 Mrd. US$); der spanische Staat (4,68 Mrd. US$); die Luxemburger Finanzholding CDE (2,38 Mrd. US$); der chinesische Autokonzern BAIC (1,62 Mrd. US$); der Staatsfonds Kuwaits (1,24 Mrd. US$); der Sicherheitstechnologie-Konzern Giesecke+Devrient (1,04 Mrd. US$); die Krupp-Stiftung (0,98 Mrd. US$); der italienische Rüstungskonzern Leonardo (0,62 Mrd. US$); die Software AG Stiftung (0,6 Mrd. US$); und die Fuchs-Familienstiftung (0,56 Mrd. US$).

Abb. 10: Größte Investoren börsennotierte BDSV-Mitgliedsfirmen

Die größten Investoren der börsennotierten BDSV-Mitgliedsfirmen sind Stand August 2023 die US-amerikanische Investmentgesellschaft Capital Group (12,67 Mrd. US$); der weltweit größte Vermögensverwalter Blackrock (9,52 Mrd. US$); der weltweit zweitgrößte Vermögensverwalter Vanguard (4,04 Mrd. US$); der britische Hedge-fond TCI (2,55 Mrd. US$); der weltweit drittgrößte Vermögensverwalter Fidelity (2,16 Mrd. US$); Europas größter Fondsanbieter Amundi (2,07 Mrd. US$); die US-Investmentgesellschaft Wellington (1,79 Mrd. US$); die größte britische Bank HSBC (1,41 Mrd. US$); das Fondshaus der Deutschen Bank, die DWS (1,23 Mrd. US$); die US-Investmentgesellschaft Invesco (1,22 Mrd. US$); die US-Investmentgesellschaft Harris Associates (1,21 Mrd. US$); und das Fondshaus der deutschen Sparkassen, die Deka (1,07 Mrd. US$). Es zeigt sich, dass die wichtigsten Investoren der börsennotierten deutschen Rüstungsfirmen die großen US-amerikanischen Finanzinstitute sind, die die globalen Kapitalmärkte dominieren. Dahinter kommen Finanzinstitute aus Großbritannien, Deutschland und Frankreich.

Wenn wir die Konsortialkredite betrachten, die die börsennotierten BDSV-Mitglieder seit dem Jahr 2020 erhalten haben, sehen wir, dass die größten Kreditgeber allesamt Großbanken sind: Die größte französische Bank BNP Paribas (4 Mrd. US$); die zweitgrößte italienische Bank Unicredit (3,97 Mrd. US$); die nach Börsenwert weltweit größte Bank JP Morgan (3,71 Mrd. US$); die zweitgrößte französische Bank Crédit Agricole (3,60 Mrd. US$); die größte britische Bank HSBC (3,51 Mrd. US$); die französische Bank Société Générale (3,39 Mrd. US$); die Investmentbank der französischen Sparkassen und Genossenschaftsbanken, Natixis (3,33 Mrd. US$); die größte spanische Bank Santander (3,33 Mrd. US$); die größte deutsche Privatbank Deutsche Bank (1,70 Mrd. US$); die zweitgrößte spanische Bank BBVA (1,42 Mrd. US$); die zweitgrößte britische Bank Barclays (1,32 Mrd. US$); die US-Bank Citi; die größte kanadische Bank RBC; die japanischen Banken Mizuho und Sumitomo (alle 1,26 Mrd. US$); und die zweitgrößte deutsche Privatbank Commerzbank (0,59 Mrd. US$).

Hinzu kommen weitere Banken, die sich mit Summen unterhalb der Milliardenmarke an diesen Konsortialkrediten beteiligt haben. Das sind unter anderem die deutsche staatliche Förderbank KfW; die Kreissparkasse Biberach; die Kreissparkasse Ostalb; die Stadtsparkasse Düsseldorf; die Landesbank Baden-Württemberg; die Landesbank Hessen-Thüringen; die Bayerische Landesbank; das Zentralinstitut der deutschen Volks- und Genossenschaftsbanken, die DZ Bank; die größte chinesische Bank Industrial & Commercial Bank of China; die US-Investmentbank Goldman Sachs; die nach Börsenwert weltweit zweitgrößte Bank Bank of America; die größte holländische Bank ING; die größte schwedische Bank SEB; die britische Bank Standard Chartered; die größte Singapurer Bank DBS; die französische Genossenschaftsbank Crédit Mutuel; die australische Bank ANZ; die größte Schweizer Bank UBS; und die kürzlich untergegangene Credit Suisse.

Wer finanziert kontroverse Waffen?

Im Finanzsektor werden Rüstungsunternehmen häufig danach unterschieden, ob sie kontroverse Waffen entwickeln, produzieren und verkaufen oder dies nicht tun. Bei kontroversen Waffen handelt es sich um Kampfmittel, deren Einsatz umstritten ist und die meist in internationalen Verträgen von einer Vielzahl an Staaten geächtet werden. Dazu werden meist Streumunition, Nuklearwaffen, Anti-Personen-Minen, biologische Waffen, chemische Waffen, Waffen mit weißem Phosphor und abgereichertes Uran gezählt. Insgesamt sechs BDSV-Mitgliedsfirmen sind Teil von ausländischen, börsennotierten Rüstungsunternehmen, die an der Herstellung kontroverser Waffen beteiligt sind. Folglich finanzieren sich die deutschen Rüstungsfirmen, die Teil eines Herstellers kontroverser Waffen sind, über diese ausländischen Mutterkonzerne: Airbus, General Dynamics, Northrop Grumman, Safran, Thales, Elbit Systems. Weitere sieben ausländische Rüstungskonzerne, die nicht Mitglieder des BDSV sind, produzieren kontroverse Waffen und haben Niederlassungen oder Produktionsstätten in Deutschland. Diese deutschen Produktionsstätten finanzieren sich ebenfalls über die ausländischen Konzerne, zu denen sie gehören: Boeing, Fluor, Honeywell International, Jacobs Engineering, Leonardo, Dassault Aviation, Rolls-Royce.

Abb. 11: Größte strategische Anteilseigner börsennotierter BDSV-Mitgliedsfirmen

Wer liefert Waffen an kriegführende Staaten?

In der Datenbank exitarms.org, einem Projekt von Facing Finance e.V., unterscheiden wir zwischen Unternehmen, die Waffen an kriegführende Staaten liefern und Unternehmen, die das nicht tun. Aus diesen Daten geht hervor, dass zwischen 2016 und 2021 insgesamt 48 Unternehmen mit Sitz in Deutschland an Rüstungsexporten in Kriegsgebiete beteiligt waren. Zudem haben im selben Zeitraum 65 Unternehmen – teilweise mit Hauptsitz im Ausland – aus Deutschland heraus Waffen in Kriegsgebiete geliefert. Wenn wir von diesen Rüstungsexporteuren diejenigen betrachten, die börsennotiert sind, sehen wir, dass einige der größten Anteilseigner auch bereits unter den größten Aktionären der BDSV-Mitgliedsfirmen waren: Die Investoren Amundi, Blackrock, Capital Group, DWS, Fidelity, Harris Associates, Invesco, TCI, Vanguard und Wellington sowie die strategischen Anteilseigner BAIC, Kuwaits Staatsfonds und der französische Staat.

Abb. 12: Größte Kreditgeber von Konsortialkrediten für börsennotierte BDSV-Mitgliedsfirmen

Daneben gibt es ein paar neue Großaktionäre: Die größten strategischen Anteilseigner der börsennotierten Firmen, die Waffen in Kriegsgebiete exportiert haben, sind das Land Niedersachsen; die Holding der Milliardärsfamilie Porsche-Piëch; der Staatsfonds Katars; der Autokonzern Volkswagen; der italienische Staat; die französische Milliardärsfamilie Dassault; die Holding des israelischen Milliardärs Federmann; und der Luftfahrt- und Rüstungskonzern Airbus. Die größten Investoren sind der norwegische Staatsfonds sowie – allesamt mit Sitz in den USA – der Vermögensverwalter Artisan Partners; die nach Börsenwert weltweit zweitgrößte Bank Bank of America; der Vermögensverwalter Columbia Threadneedle; der Fondsanbieter DFA; der Vermögensverwalter Geode; die nach Börsenwert weltweit größte Bank JP Morgan; der Vermögensverwalter Longview Asset Management; die Finanzberatungsfirma Managed Account Advisors; der Vermögensverwalter MFS; die Investmentbank Morgan Stanley; der Pensionsfonds Newport; die Investmentgesellschaft Sanders Capital; der Versicherungskonzern State Farm; die Großbank State Street; und der Vermögensverwalter T. Rowe Price.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich deutsche Rüstungsfirmen hauptsächlich über folgende Wege finanzieren: selbst einbehaltene Gewinne; Kredite lokaler, nationaler und internationaler Banken; die Investitionen ihrer Mutterkonzerne, häufig ausländische, börsennotierte Rüstungskonzerne, sowie die Finanzierung über den Verkauf neuer Aktien und Anleihen an den Kapitalmärkten, meist an Pensionskassen, Versicherungsgesellschaften, Kreditinstitute, Vermögensverwalter und Investmentfonds.

Julius-Anton Bussenius studiert Politikwissenschaft an der FU Berlin und ist Praktikant bei der Nichtregierungsorganisation Facing Finance e.V.

Luca Schiewe hat einen finanzwissenschaftlichen Background, ist bei Facing Finance e.V. für Engagement- und Divestmentstrategien zu Rüstungsexporteuren zuständig und koordiniert die ExitArms-Datenbank.

Rüstung findet nebenan statt:

Standorte und Cluster der Rüstungsproduktion

von Andreas Seifert

Der Blick auf die aktuelle Karte mit Rüstungsstandorten in Deutschland offenbart einige Schwerpunkte und auch Leerstellen, vor allem aber eine breite Verteilung über ganz Deutschland. Es sind heute viele kleine, oftmals sogar unscheinbare Standorte: die ganz großen Zentren, wie es sie noch in den 1970er Jahren gab, sind weniger und kleiner geworden. Um die Dynamik dahinter zu verstehen, hilft ein Blick in die Geschichte.

Die Höhepunkte der Rüstungsindustrie in Deutschland lagen im Ersten und Zweiten Weltkrieg und in der Hochphase des Kalten Krieges in den 1970er Jahren. Bereits Ende der 1970er Jahre, vor allem aber in den 1980er Jahren begann ihr relatives und absolutes Gewicht zu sinken. Von rund 400.000 Beschäftigten in diesem Bereich in den 1980ern, fiel die Zahl nach 1991 immer weiter ab und betrug je nach Zählmethode und Ansatz Anfang der 2000er Jahre nur noch rund 60.000 bis 90.000 Beschäftigte. Bundesländer wie beispielsweise Bremen versuchten, diesen Strukturwandel mit einer staatlich geförderten »Konversion« zu flankieren, die negativen Effekte abzufedern, anderswo wurde auf Fusionen gesetzt und wieder andere Unternehmen stellten Teile ihrer Produktion auf zivile Güter um.

Neben dieser allgemeinen Reduktion der schieren Anzahl von Beschäftigten beeinflusste auch die technologische Entwicklung und die geografische Lage den Zuschnitt der Industrie. Sind einzelne Standorte, wie Schönebeck südlich von Magdeburg seit 1832, schon immer und auch heute noch Standorte von Rüstung, so verschwanden doch andere von der Karte und es traten neue hinzu.

Grob formuliert trug die Abkehr von der Schwerindustrie (Stahlbau, Panzer) zur Leichtindustrie (z.B. im Flugzeugbau, Drohnen), aber auch die verstärkte Nutzung von Elektronik bzw. digitalen Technologien wesentlich zur Veränderung geografischer Schwerpunkte in der Rüstung bei. Trotz allem lassen sich geografische Kontinuitäten ortsbezogen beobachten und werden sich mit der rüstungsbezogenen »Zeitenwende« weiter vertiefen.

Nach 1989 wurde im Osten Deutschlands kaum etwas von der dort vorhandenen Rüstungsindustrie fortgeführt – z.B. Suhl mit der Firma Haenel. Jedoch sehen heute Unternehmen wie z.B. Rheinmetall durchaus eine Chance, in den östlichen Bundesländern erneut Rüstung anzusiedeln. Sie folgen hier einem Standortauswahlprinzip, das die Rüstungsindustrie schon immer verfolgte: besonders gefährliche Produktionen, z.B. Sprengstoffe, werden in eher dünner besiedelten, strukturarmen Regionen angesiedelt. Beispiele wie Burbach, Aschau am Inn, Schrobenhausen oder auch Oberndorf am Neckar sind Beispiele hierfür auch im deutschen Westen – selbst kleinere Firmen können so regional gesehen eine große Bedeutung für Arbeitsplätze, Sozialräume und Standortattraktivität erlangen.

Große Cluster in Deutschland, die ihre Kontinuität bis heute bewahrt haben, sind beispielsweise:

Abb. 13: Cluster 2 | Bremen-Hamburg-Kiel

(1) Die Bodenseeregion, die ausgehend von der mit den Zeppelinen verbundenen Rüstungsindustrie Anfang des 20. Jahrhunderts über den Flugzeug- und Motorenbau bis heute einen produktionstechnisch hoch relevanten Cluster bildet. Mit Diehl in Überlingen (früher einmal Bodensee Geräte Technik), über MTU Friedrichshafen (heute Rolls Royce) bis hin zu Hensoldt (vor kurzem noch Airbus) sind große Namen aus der Rüstungsindustrie direkt am See vertreten. Diese Firmen produzieren neben Motoren – heute mehr Schiffs- als Flugzeugmotoren – auch Getriebe für Panzerfahrzeuge, Sensoren und Lenkwaffen. Aber auch für die digitale Steuerung von Panzern und ganzen Schiffssystemen gibt es Anbieter.

(2) Ein anderer Cluster mit einer hohen Kontinuität ist der Bremen-Hamburg-Kiel Cluster. Dieser war einmal Hauptstandort der Marinerüstung in Deutschland. Heute spielt die Marinerüstung immer noch eine Rolle, aber sie ist deutlich kleiner und wird flankiert von Sensorik, Luft- und Raumfahrt. Mit Kiel, wo nicht nur die Produktion von U-Booten ihre Heimat gefunden hat, bilden Hamburg und Bremen eine Gruppe, die das gesamte Drumherum um die komplexer gewordenen maritimen Systeme entwickelt und produziert. Bremen ist heute einer der Schwerpunktstandorte nicht nur der Raumfahrt an sich, sondern auch ihrer militärischen Nutzung – große Firmen wie OHB entwickeln und bauen Satelliten fürs Militär. Schätzungen zufolge sind heute mit rund 8.000 Arbeitsplätzen in diesem Cluster wieder ähnlich viele Menschen in der Rüstung beschäftigt, wie zuletzt in den 1980er Jahren.

(3) Der zweite süddeutsche Cluster liegt um München. Panzer werden heute vor allem in Kassel und München gebaut. Mit dem Großraum München ist der größte Rüstungscluster benannt, den Deutschland aufzuweisen hat. Dabei ist es nicht einmal der Panzerbauer KMW, der hier hervorsticht, auch Rheinmetall und Rhode & Schwarz sind vertreten und alles was im Bereich militärischer Luftfahrt Rang und Namen hat: MTU Aeroengines, Europrop, Airbus und Hensoldt. Ebenfalls in München ist auch ein Teil der Forschung und Entwicklung für die Bereiche Luftfahrt und Militär anzutreffen – nirgendwo in Deutschland gibt es eine höhere Massierung.

(4) Rund um die Behördenstandorte Berlin (Regierung), Bonn (BMVg) und Koblenz (Beschaffungsamt) häufen sich die Verbindungs- und Lobbybüros der Rüstungsindustrie. Rund um Bonn herum hat sich zudem der wichtiger gewordene Bereich der Digitalindustrie angesiedelt. Diese formt einen eigenen Cluster, der sich in den letzten Jahren nahezu unbemerkt und abseits der auf schweres Gerät fixierten medialen

Rüstungsdebatten entwickelt hat. Kern der Entwicklung ist hier der AFCEA-Verband, der Militär, Behörden und Politiker*innen mit der Industrie zusammenbringt: kein scheinbar ziviler Technologiekonzern, der nicht vertreten ist. In Bonn sind die Übergänge zwischen dem Cyberkommando der Bundeswehr, dem BSI und anderen zivilen Akteuren fließend – eine jährliche Rüstungsmesse für den digitalen Kampf ist das Sahnehäubchen.

Abb. 14: Ausgewählte Standorte und Cluster der Rüstungsproduktion

Andreas Seifert ist Politikwissenschaftler und ist als Vorstand bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in den Themenfeldern Sicherheitspolitik in Ostasien und Rüstungsindustrie aktiv.

2) EXPORT: Struktur, Empfänger, Konsequenzen

Mehr oder weniger Sicherheit?

Die Ambivalenz von Rüstungsexporten aus der sicherheitspolitischen Perspektive

von Simone Wisotzki

Deutsche Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter geraten immer wieder in die Schlagzeilen, wenn sie etwa in Konfliktregionen gelangen. Meist fehlt es von politischer Seite an Begründungen, weshalb in die Regionen oder in das jeweilige Land geliefert worden ist (→ vgl. Kolling). Allerdings finden sich auch in strategischen Dokumenten, wie Weißbüchern oder außenpolitischen Strategiepapieren selten konkrete Hinweise darauf, dass Rüstungsexporte als Teil des außen- und sicherheitspolitischen Selbstverständnisses angesehen werden. Zu finden sind solche Argumente vor allem bei Vertreter*innen von strategischen Sicherheitsstudien, bei Bundestagsabgeordneten oder natürlich auch bei Industrievertreter*innen. Wie lauten diese Argumente?

Prinzipiell lassen sich verschiedene Argumentationsstränge der Befürworter*innen einer außen- und sicherheitspolitisch verstandenen Strategie identifizieren. Wichtig sind dabei vor allem drei Debatten: 1. Die regionale Stabilität und Sicherheit; 2. Ertüchtigung von Drittstaaten; 3. Bündnispolitische Argumente. Die Debatten um die Ausrüstungs- und Ausstattungshilfen für die Ukraine sind inzwischen so umfangreich, dass sie einen eigenen Beitrag wert sein sollten (GKKE 2022). Das Folgeargument der zunehmenden weltweiten Militarisierung und Aufrüstung in Folge der »Zeitenwende« leitet diesen Beitrag jedoch zentral an. Das führt gerade auch im Hinblick auf die bündnispolitischen Argumente zu eigenen, neuen Entwicklungen, speziell bei der Intensivierung von europäischen Rüstungskooperationen. Die weltweite sicherheitspolitische Krise hat nicht nur Folgen für die deutsche Rüstungsexportpolitik, sondern zeigte sich schon lange vor dem neuerlichen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Ganz deutlich wurde sie auch schon in den vorangegangenen Jahren im Hinblick auf die multilaterale bzw. strategische nukleare und die konventionelle Rüstungskontrolle in Europa (→ vgl. Bayer und Mutschler; siehe auch Wisotzki und Kühn 2021).

Die Ambivalenz von Rüstungsexporten

Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter sind keine Handelsware wie jede andere. Eigentlich ist allen klar, dass der Umgang, die Genehmigung, der Transfer und der Export einer ganz besonderen Sorgfaltspflicht bedürfen. Dennoch gelangen solche Waffen, die Munition oder auch die Spionagesoftware in die Hände von kriegführenden Staaten, von nicht-staatlichen Akteuren oder auch von menschenrechtsverachtenden Diktaturen, sind damit also oftmals konfliktverschärfend wirksam. Auf der anderen Seite steht das in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen (VN) verbriefte Recht auf Selbstverteidigung, über das alle Staaten im Falle eines Angriffs auf ihr Territorium verfügen. Gemäß dem kollektiven Recht auf Selbstverteidigung können andere Staaten das angegriffene Land mit Waffen und Munition unterstützen. In jedem Fall müssen nach Artikel 51 Absatz 2 der VN-Charta alle Maßnahmen der Selbstverteidigung gegenüber dem Sicherheitsrat angezeigt werden. In den Verhandlungen zum internationalen Waffenhandelsvertrag (ATT) haben nahezu alle Staaten darauf gedrungen, dass mit dem Recht auf Selbstverteidigung auch das Recht eines jeden Staates zur Herstellung, zum Import, zum Transfer und zum Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern verbunden ist. Eine solche Formulierung findet sich deshalb auch in der Präambel des ATT.

Der ATT betont wiederum, dass Waffen und Rüstungsgüter zwar Frieden und Sicherheit garantieren können, andererseits aber auch genau diesen beiden Zielen abträglich sein können – dies unterstreicht einmal mehr die Ambivalenz, die mit der Problematik von Rüstungsexporten verbunden ist.

Rüstungsproduzierende Staaten haben unterschiedliche Gründe, weshalb sie auf den Export von Rüstungsgütern nicht verzichten wollen. Ganz oben stehen außenpolitische und sicherheits- und verteidigungspolitische Argumente, aber auch wirtschaftliche und beschäftigungspolitische Gründe werden oftmals genannt. Dabei findet sich in den Politischen Grundsätzen in Artikel III.2 der Hinweis, dass beschäftigungspolitische Gründe keine ausschlaggebende Rolle bei der Genehmigungsentscheidung von Rüstungsexporten an Drittstaaten spielen dürfen.

Sicherheitspolitische Begründungen für Rüstungsexporte

Alle Bundesregierungen haben sich stets zur »restriktiven« deutschen Rüstungsexportpolitik bekannt. Dennoch finden sich mannigfaltige Beispiele und Belege dafür, dass Kriegswaffen, sonstige Rüstungsgüter aber beispielsweise auch Dual-Use-Güter in Kriegs- und Krisengebiete gelangt sind (Wisotzki 2020; → siehe auch Grässlin). Selten werden Genehmigungen öffentlich begründet, doch häufig finden sich Hinweise darauf, dass Politiker*innen sicherheits- und verteidigungspolitische Überlegungen zugrunde legen, um ihre Positionierungen zu rechtfertigen (beispielsweise in den Debatten des Bundestages; vgl. Wisotzki 2021).

Abb. 15: Deutsche Rüstungsexporte weltweit

Datenquelle: BICC/ruestungsexport.info; Bezugsjahr 2021

Rüstungsexporte als Beitrag zu regionaler Stabilität und Sicherheit

Als häufiges sicherheitspolitisches Argument ist zu vernehmen, dass Rüstungsexporte zu regionaler Stabilität und Sicherheit beitragen. Aus Sicht der Befürworter*innen von Rüstungsexporten sind es vor allem zwei Regionen in der Welt, in der deutsche Sicherheits- und Stabilitätsinteressen zum Tragen kommen – die Region rund um den Persischen Golf sowie die regionale Stabilität Ostasiens, insbesondere auch rund um das Südchinesische Meer. So sollen „Rüstungsexporte als Instrument im Rahmen einer interessengeleiteten Außen- und Sicherheitspolitik auch dann in Frage kommen, wenn nicht alle Aspekte (Menschenrechte, mangelnde Kontrolle über den Verbleib und die Verwendung der Waffen, etc.) dabei in idealtypischer Weise berücksichtigt werden“ (Schilling 2015, S. 33). Die Stabilität der Region des Nahen und Mittleren Ostens (MENA) sowie die Ostasiens müsse als Teil deutscher Sicherheitsinteressen verstanden und diese Staaten beim »Aufbau ihrer Verteidigungskapazität« unterstützt werden.

EU-Mitgliedsstaaten, darunter auch Deutschland, haben an alle Konfliktparteien rund um das Südchinesische Meer Kriegswaffen, Rüstungsgüter und Technologien geliefert – vor allem auch Kriegsschiffe im maritimen Sektor (Duchâtel und Bromley 2017, S. 7). Daneben gibt es in der Region Asiens eine ganze Reihe weiterer ungeklärter Territorialkonflikte und ungelöster Konflikte. Selbst wenn eine gewisse strategische Stabilität durch Aufrüstung angenommen werden könnte, so dokumentieren zahlreiche Zwischenfälle auf See das hohe Risiko einer gewalthaften Eskalation (Abb et al. 2021, S. 34ff.; Boemcken und Grebe 2013).

Die Gefahr von Rüstungswettläufen durch Rüstungsexporte für spezifische Regionen sollte nicht unterschätzt werden. Blickt man auf die MENA-Region, so verdeutlichen die jährlichen Zahlen des Stockholmer Instituts für Friedensforschung (SIPRI) die beträchtliche Aufrüstung und die Rüstungswettläufe gerade in dieser Region. So ist Saudi-Arabien direkt hinter Indien der zweitgrößte Rüstungsimporteur, Katar nimmt Platz 3 ein. Unter den Top-20 der größten Rüstungsimporteure (gemittelt über die Jahre 2018-2022) liegt Ägypten auf Platz 6 und die Vereinigten Arabischen Emirate auf Platz 11. In der Region Ostasien liegt Südkorea auf Platz 7 und Japan auf Platz 9 der weltweit größten Rüstungsexporteure. 41 Prozent der weltweiten Waffenimporte verfielen auf die Regionen Asien und Ozeanien, dicht gefolgt von den MENA-Staaten mit 31 Prozent (vgl. Wezeman, Gadon und Wezeman 2023). Die Aufrüstung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ausmaß des Konfliktgeschehens in beiden Regionen und unterstreicht einmal mehr den Zusammenhang zwischen Konfliktgeschehen und Rüstungswettläufen (vgl. Barakat et al. 2021). Wissenschaftler*innen sehen einen Wandel zu einer proaktiveren und militarisierten Außenpolitik arabischer Empfängerstaaten deutscher Rüstungsexporte. Die gelieferten Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgüter kämen tatsächlich auch in den Kriegen in der Region zum Einsatz oder würden an beteiligte Konfliktakteur*innen weitergegeben (vgl. Hüllinghorst und Roll 2020). Das Argument der regionalen Stabilität wird oftmals auch mit der Möglichkeit der Einflussnahme durch Rüstungsexporte verknüpft, um in diesen Ländern Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu realisieren (vgl. Durm 2021). Eine Studie zeigt anhand der britischen Exportpolitik, dass diese Vorstellung von Einflussnahme im Fall Saudi-Arabiens illusorisch sei, das Königreich vielmehr umgekehrt Einfluss auf die britische Politik nehme (vgl. Van Rij und Wilkinson 2018).

Rüstungsexporte zur Ertüchtigung und Stabilisierung von Drittstaaten

Demokratien scheuen oftmals davor zurück, eigene Soldat*innen in entfernte Konfliktregionen zu entsenden. Grund dafür ist die öffentliche Meinung, die sich schnell gegen solche Einsätze wendet, sobald die eigenen Soldat*innen Opfer von Kämpfen vor Ort werden – dies dokumentieren wissenschaftliche Untersuchungen (Geis et al. 2013). Als Ausweg aus dem Dilemma hat sich die sogenannte »Ertüchtigungspolitik« für fragile Staaten entwickelt: Militär und Polizei werden ausgebildet und mit Waffen ausgestattet. In Deutschland entbrannte darum eine Debatte in Folge der »Merkel-Doktrin« ab 2011, in der es auch darum ging, zu begründen, dass Rüstungsexporte künftig Teil des außen- und sicherheitspolitischen Instrumentenkastens werden sollten (Bundesregierung 2012).

Vom »Paradigmenwechsel« sprachen viele dann aber, als Deutschland sich 2014 entschloss, Waffen- und Ausstattungshilfe aus den Beständen der Bundeswehr zu leisten, um damit die kurdischen Peschmerga im Nordirak zu unterstützen. Hartnäckig hält sich bis heute das Narrativ, dass diese Entscheidung in einer Notlage gefällt wurde, damit die Peschmerga die von den Milizen des »Islamischen Staates« (IS) im Sindschar-Gebirge eingekesselten Jesid*innen befreien konnten. Allerdings wurden sie letztlich von PKK-nahen Milizen befreit, noch bevor die deutschen Waffenlieferungen im Nordirak angekommen waren. Diese Waffen wurden dann im Kampf gegen den IS eingesetzt und die Bundeswehr beteiligte sich an einer Ausbildungsmission im Nordirak. Doch gab es auch Berichte über die Missachtung internationaler Menschenrechtsstandards durch die Peschmerga und die kurdische Regionalregierung, so etwa die Vertreibung der arabischstämmigen Bevölkerung aus eroberten Gebieten. 2017 geriet die Mission endgültig in die Kritik, als die kurdische Regionalregierung nach einer Volksabstimmung die Autonomie gegenüber der irakischen Regionalregierung verkündete und sich beim Vormarsch auf die ölreiche Stadt Kirkuk in gewaltsamer Konfrontation mit irakischen Truppen vorfand.

Neben diesem Beispiel gibt es zahlreiche andere Fälle, die zeigen, dass eine Ertüchtigung von Polizei und Armee sowie Ausstattungshilfe und Waffenexporte nicht zur Stabilisierung von fragilen Staaten beiträgt und vielmehr Konflikte gewaltsam eskalieren lassen kann. Dies unterstreichen auch die zahlreichen Putsche und Militärregierungen in Mali oder Niger, in denen verschiedene Missionen ebenfalls Ausbildungs- und Ausrüstungshilfe geleistet hatten (vgl. Eckert 2020). Auch die neuere quantitative Kriegsursachenforschung kommt zu ähnlichen Ergebnissen im Hinblick auf den Zusammenhang von Aufrüstung und Kriegswahrscheinlichkeit. Studien zu Bürgerkriegen belegen, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer gewaltsamen Konflikteskalation durch konventionelle Rüstungsimporte deutlich erhöht (vgl. Pamp et al. 2018). Rüstungstransfers an nicht-staatliche Akteure erhöhen die Gefahr des gewaltsamen Konfliktaustrages und lassen die Konflikte auch im Hinblick auf Opferzahlen tödlicher werden. Schließlich führen Waffenimporte an Regierungen dazu, dass die Konflikte länger anhalten. Waffen sind das „gewaltspezifische Kapitel“, das notwendig ist, damit bewaffnete Rebellionen überhaupt stattfinden können (vgl. Collier und Hoeffler 2004).

Rüstungsexporte und Bündnisfähigkeit

Die Notwendigkeit von Rüstungsexporten – auch an Drittstaaten – wird häufig auch mit der Erwartungsverlässlichkeit vonseiten der Bündnis- und Kooperationspartner begründet. Übergeordnetes Ziel ist dabei, eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit den Bündnispartnern – NATO oder EU – zu gestalten. Rüstungskooperationen haben in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen und werden weiter ausgebaut. So betonten die von der Ampel-Koalition 2022 vorgelegten Eckpunkte für das künftige Rüstungsexportkontrollgesetz die Notwendigkeit einer verstärkten Rüstungskooperation innerhalb der EU-Partnerstaaten. Die gemeinsame Beschaffung soll durch das neue Programm EDIRPA realisiert werden. Ziel ist es, neue Rüstungssysteme gemeinsam herzustellen, was durchaus sinnvoll sein kann, um beispielsweise auch Kosten zu sparen (vgl. Europäisches Parlament 2023).

Was das aber auch bedeuten kann, wenn einzelne Staaten nur Teile oder Komponenten zuliefern, zeigt die de-minimis-Regel zwischen Deutschland und Frankreich, die 2019 als Teil der Aachener Verträge verhandelt wurde. Danach kann Deutschland als Komponentenzulieferer bei einem Anteil von bis zu 20 Prozent am jeweiligen Rüstungsgut so gut wie keine Einwände gegen das Exportvorhaben erheben (vgl. GKKE 2019). Tatsächlich sind auf diese Weise selbst während des deutschen Exportmoratoriums nach der Ermordung des saudi-arabischen Journalisten Jamal Khashoggi Rüstungsexporte durch Sammelausfuhrgenehmigungen und Re-Exportgenehmigungen über Frankreich nach Saudi-Arabien gelangt (vgl. GKKE 2022), obwohl das Land sich zu diesem Zeitpunkt im Krieg gegen die Houthi-Milizen im Jemen befand (vgl. Disclose 2021). An diesem Beispiel zeigt sich einmal mehr, dass die EU-Staaten die Regeln zum Umgang mit Rüstungsexporten, wie den internationalen Waffenhandelsvertrag ATT oder den »Gemeinsamen Standpunkt« von 2008, sehr unterschiedlich auslegen. Für europäische Rüstungskooperationen braucht es klare Governancestrukturen, die sich an den vorhandenen Instrumenten der Rüstungsexportkontrolle orientieren und diese auch einheitlich umsetzen.

Hin zu einer restriktiven Exportpolitik

Rüstungsexporte zeichnet die Ambivalenz aus, in der staatlichen Logik für die Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherung des staatlichen Gewaltmonopols notwendig zu sein, gleichzeitig aber eben auch Konflikte gewaltsam eskalieren zu lassen, als Instrumente zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung missbraucht zu werden und Rüstungsspiralen zwischen Staaten oder in Regionen in Gang zu setzen. Die »Zeitenwende« in Folge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine verleiht den Befürworter*innen einer Sicherheitspolitik, in der Rüstungsexporte zum Teil des strategischen Instrumentenkastens werden, neuen Aufwind. Ein solcher Trend lässt sich schon seit längerem auch auf Ebene der Europäischen Union und hier konkret an verstärkten Initiativen gemeinsamer Rüstungskooperationen feststellen. Leider klafft zwischen dem Trend verstärkter Verteidigungskooperation und einer institutionalisierten und vor allem auch tatsächlich implementierten europäischen Rüstungsexportpolitik eine gewaltige Lücke.

Rüstungsexporte sollten prinzipiell begründungspflichtig sein und es sollte von den Verantwortlichen der Nachweis erbracht werden müssen, dass sie in ihren Entscheidungen im Sinne einer restriktiven Rüstungsexportpolitik zuallererst den Erfordernissen von Frieden, menschlicher Sicherheit, der Wahrung der Menschenrechte und der Aufrechterhaltung der internationalen regelbasierten Ordnung nachkommen. Statt sich einer sicherheitspolitischen Logik zu verschreiben, die allein auf staatliche Sicherheitsinteressen und auf das Recht zur Selbstverteidigung setzt, sollte die deutsche Rüstungsexportpolitik den Blick vor allem auch auf menschliche Sicherheit und auf ein friedenspolitisches Primat richten, das auch im Grundgesetz verankert ist.

Simone Wisotzki ist Projektleiterin am Leibniz-Institut Friedens- und Konfliktforschung (PRIF) und arbeitet dort zu Fragen der humanitären Rüstungskontrolle, der Rüstungsexportkontrolle und der geschlechtersensiblen Friedens- und Konfliktforschung.

Todbringende Kleinwaffen

Auswirkungen von Exporten aus Deutschland

von Jürgen Grässlin

Zu den Kleinwaffen zählen Handgranaten, Landminen, Faustfeuerwaffen (wie Pistolen und Revolver), Maschinenpistolen und allen voran Sturm-, Maschinen- und Scharfschützengewehre. Sie können von einem Menschen getragen und eingesetzt werden. Leichte Waffen umfassen u.a. schwere Maschinengewehre, tragbare Raketenwerfer, Granatwerfer, Panzerabwehrkanonen und Mörser bis zu einem Kaliber von 100mm. Um sie zu tragen und zu bedienen, müssen zwei Menschen, ein Packtier oder Fahrzeug verwendet werden. Mit Ausnahme von Granaten benötigen Klein- und Leichtwaffen (Small Arms and Light Weapons, SALW) Munition (bpb o.J.).

Kleinwaffenopfer und Kleinwaffenbesitz

Anders als gemeinhin angenommen, sterben die allermeisten Menschen in Kriegen und Bürgerkriegen nicht durch den Beschuss mit Granaten, Bomben oder anderen Geschossen, abgefeuert von Kampfpanzern, Militärhelikoptern, Kampfjets oder Kriegsschiffen. Vielmehr sind die Opferzahlen beim Beschuss mit Klein- und Leichtwaffen mit Abstand am höchsten. Sie sind die Massenvernichtungswaffen des 20. und 21. Jahrhunderts. Bei ihren Recherchen kamen 2006 das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF, und das Internationale Forschungszentrum für Rüstungskonversion, BICC, zu dem Ergebnis, dass in jedem Jahr bis zu 500.000 Menschen ihr Leben durch den Einsatz von SALW verlieren (Tagesspiegel 2006).

Laut Studien des Genfer Forschungsinstituts »Small Arms Survey« (SAS), das sich auf die Analyse der Produktion, des Exports und des Einsatzes von Kleinwaffen spezialisiert hat, wuchs die Zahl von Kleinwaffen in Händen von Zivilist*innen weltweit von 650 Mio. im Jahr 2006 auf 857 Mio. im Jahr 2017 an.

SAS schätzt, dass sich rund 85% dieser Kleinwaffen im zivilen Besitz befinden. Hinzu kommen 133 Mio. (13%) im militärischen und 23 Mio. (2%) im behördlichen Gebrauch bei Polizei und Sicherheitskräften. Es sind demnach aktuell mehr als eine Milliarde Feuerwaffen rund um den Globus im Umlauf (SAS 2020).2

Der größte Anteil ziviler Abnehmer*innen ist in den Vereinigten Staaten von Amerika mit 393 Mio. Kleinwaffen zu verzeichnen. Obwohl die USA lediglich einen Anteil von vier Prozent der Erdbevölkerung ausmachen, finden sich dort rund 40% aller Feuerwaffen (SAS 2018).

Die Staaten mit dem größten militärischen Feuerwaffenpotential sind Russland (mit 30,3 Mio. Stück), China (27,5 Mio.), Nordkorea (8,4 Mio.), die Ukraine (6,6 Mio.) und die USA (4,5 Mio.). Diese umfassen die Kategorien der modernen selbstladenden Gewehre (72%), Pistolen (13%), Maschinengewehre (6%) und andere (9%) (Karp 2018, S. 3f., S. 8).

Abb. 16: Kleinwaffen in Händen von Zivilist*innen weltweit

… und seine dramatischen Folgen

Diese unglaubliche Hochrüstung im zivilen, militärischen und behördlichen Bereich zeitigt weltweit dramatische Folgen, wie das aktuelle Update des SAS in der Datenbank »Global Violent Deaths« (GVD) dokumentiert. Allein 2020 starben laut GVD 531.000 Menschen durch Feuerwaffen, davon 88.000 Mädchen und Frauen. Im Jahr 2020 galt der Krieg in Afghanistan noch als der tödlichste Konflikt, in dem für diesen Zeitraum 31.000 Menschen ihr Leben durch Kleinwaffen verloren. Allein auf dem afrikanischen Kontinent starben 2020 rund 35.000 Menschen in kriegerischen Auseinandersetzungen, u.a. im Kongo, in Äthiopien und Nigeria sowie in der Sahelzone (Hideg und Boo 2022).

Abb. 17: Verteilung des Besitzes von Schusswaffen (insgesamt mehr als 1 Mrd.)

Der Fluch der Gewehre

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lag die Kalaschnikow in ihren verschiedenen Versionen mit rund 70 bis 120 Millionen Exemplaren unangefochten an der Spitze im Ranking der meistproduzierten, -exportierten und -eingesetzten Gewehre. Bis heute waren und sind die in Russland entwickelten und in mehr als zehn Lizenzstätten nachgebauten Sturmgewehre die Nummer 1 auf dem Weltmarkt der Kleinwaffen (Control Arms Campaign 2006).

Mit deutlichem Abstand folgte die Heckler & Koch-»Waffenfamilie«, so die H&K-interne Bezeichnung, mit – gleichsam geschätzt – 10 bis 15 Millionen G3-Schnellfeuergewehren. Damit rangierte das im schwäbischen Oberndorf entwickelte G3-Gewehr lange Jahre auf Platz 2 im globalen Ranking. Nicht wesentlich geringer war die Verbreitung der Uzi der Israel Weapons Industries Ltd. (IWI), der M16 der Colt Defence LLC aus den USA und die FN-Gewehre der belgischen FN Herstal SA. Vielfach wurden und werden diese Gewehrtypen in europäischen, asiatischen oder amerikanischen Lizenzstätten nachgebaut (Grässlin 2014, S. 106ff.).

Die Genehmigungspraxis von Kleinwaffenexporten aus Deutschland

Besonders dramatisch hatten sich die 15 Lizenzvergaben für das G3-Gewehr an Staaten wie die Türkei, Pakistan, Mexiko oder Saudi-Arabien in den Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts durch die jeweiligen Bundesregierungen ausgewirkt. Nach zurückhaltenden Schätzungen des Autors verloren mehr als zwei Millionen Menschen ihr Leben durch den Einsatz der G3-Schnellfeuergewehre, weitaus mehr wurden verstümmelt und verkrüppelt. Berechnet auf die vergangenen Jahrzehnte starben somit durchschnittlich 114 Menschen am Tag durch ein G3-Gewehr (Grässlin 2013, S. 408ff.).

Die zahlreichen Kampagnen der Friedensbewegung, wie die Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!«, zeitigen mittlerweile jedoch Wirkung (→ vgl. von Gall). Um 2007 vergab die Bundesregierung die letzte Lizenz zum Nachbau von Kleinwaffen, die für das H&K-Sturmgewehr G36 an Saudi-Arabien. In den Jahren danach errichteten H&K-Ingenieure allerdings eine komplette Produktionsanlage nahe Riad (Grässlin 2013, S. 491f.).

Seither aber hat sich bei den wechselnden Bundesregierungen die Erkenntnis durchgesetzt, welch katastrophale Folgen Kleinwaffenexporte und Lizenzvergaben, allen voran in Krisen- und Kriegsgebiete bewirken. Durch die 2015 verabschiedeten »Grundsätze der Bundesregierung für die Ausfuhrgenehmigungspolitik bei der Lieferung von Kleinen und Leichten Waffen, dazugehöriger Munition und entsprechender Herstellungsausrüstung in Drittländer«, kurz Kleinwaffengrundsätze, soll aus Regierungssicht „das Risiko (…) der unkontrollierten Weiterverbreitung von Kleinwaffen noch weiter gesenkt werden“ (BMWK o.J.).

Im gleichen Jahr beschloss die Große Koalition unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/CSU) und Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) eine Pilotphase für »Post-Shipment-Kontrollen«, die inzwischen verbindlich festgeschrieben sind. Seither können deutsche Behörden nach der Ausfuhr von Rüstungsgütern im jeweiligen Empfängerland Vor-Ort-Kontrollen des Endverbleibs durchführen. Allerdings fanden seit 2017 lediglich neun solcher Überprüfungen statt, und zwar in Indien, in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Südkorea, Indonesien, Malaysia, Brasilien, Jordanien, Trinidad und Tobago sowie im Oman. Laut den deutschen Kontrollbehörden verliefen diese beanstandungsfrei.

Mit der »Schärfung« der »Politischen Grundsätze zum Rüstungsexport« sollte im Sommer 2019 eine strengere Genehmigungspraxis für die Ausfuhr von Kriegswaffen in Drittländer (außerhalb der EU, NATO und NATO-assoziierten Staaten) erzielt werden. Nunmehr darf der Transfer von Kleinwaffen in Drittländer „grundsätzlich nicht mehr genehmigt werden“ (Bundesregierung 2019, S. 6). Das Problem Nr. 1: Politische Grundsätze sind Absichtserklärungen ohne jegliche rechtliche Verbindlichkeit. Problem Nr. 2: Auch Exporte an NATO-Staaten sind je nach Einsatz der Waffen ausgesprochen bedenklich, wie die massenhafte Verwendung dieser Waffen in Einsätzen weltweit belegt.

Die Ampelkoalition von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP setzte sich seit November 2021 zur Aufgabe, die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung „durch eine sorgfältige Einzelfallprüfung“ weiterzuentwickeln. Eine zahlenbasierte Pauschalbetrachtung allein auf Basis der Genehmigungswerte eines Berichtszeitraumes sei „kein tauglicher Gradmesser“ bei der Beurteilung der Frage der Restriktivität. Zukünftig bedürfe es „einer einzelfallorientierten Beurteilung von Genehmigungsentscheidungen“ (Bundesregierung 2022a, S. 8) – bezogen auf die Art des Rüstungsgutes, das jeweilige Empfängerland und den vorgesehenen Verwendungszweck der Güter.

Das Ergebnis dieser Neuorientierung ließ sich gleich im Rüstungsexportbericht 2022, dem ersten Gesamtjahr der Ampelkoalition, ablesen. Dementsprechend wurde der Gesamtwert der Genehmigungen für Kleinwaffen und Kleinwaffenteile im Jahr 2021 auf 43,9 Mio. € leicht gesteigert gegenüber den 37,6 Mio. € 2020. Rund 99% des Genehmigungswertes entfielen auf EU-, NATO- und NATO-gleichgestellte Länder, lediglich etwa 1% auf Drittländer. Bei den Leichtwaffen und Leichtwaffenteilen lag dieser Anteil allerdings noch bei 7% des Genehmigungswertes (Bundesregierung 2022a, S. 8, S. 10).

Was bei der Erfassung des Gesamtwertes noch halbwegs verträglich klingt, hat einen beträchtlichen Haken, auf den die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) in ihrem Jahresbericht 2022 nachdrücklich hinweist: Erwähnt werden müsse, „dass die von der Bundesregierung angegebenen Werte für die Genehmigung der Ausfuhren von Kleinwaffen weder Gewehre ohne Kriegswaffenlisten (KWL)-Nummer, noch Revolver und Pistolen sowie Jagd- und Sportwaffen einschließen“ (GKKE 2022, S. 52). Die GKKE betrachtet dementsprechend den Genehmigungswert für den Gesamtbereich der Ausfuhrliste für Handfeuerwaffen. Dieser liegt für das Jahr 2021 realiter bei immens hohen 234,14 Mio. € gegenüber 170,62 Mio. € noch im Jahr 2020. Mit erfasst in diesem Wert ist auch das entsprechende Zubehör, beispielsweise Schalldämpfer oder Zielfernrohre. Im Rüstungsexportbericht 2021 sind erstmals auch Genehmigungszahlen zu Leichtwaffen veröffentlicht. So sind 2021 Leichtwaffen in Höhe von 15,58 Mio. € (2020: 37,94 Mio. €) genehmigt worden.

Hilfreich bei der Analyse der tatsächlich erfolgten Exporte von Klein- und Leichtwaffen ist der Blick in die Information der Bundesregierung an das Waffenregister der Vereinten Nationen. Demnach wurden Kleinwaffen bzw. deren Bestandteile in eine Reihe von Drittländern exportiert. Unter anderem wurde in den Kosovo (Sturmgewehre und Leichte Maschinengewehre) und nach Jordanien (Maschinenpistolen und leichte Maschinengewehre) exportiert. Leichtwaffen erhielten Singapur (rückstoßfreie Gewehre), der Kosovo (in Handfeuerwaffen integrierte oder einzeln aufgebaute Granatwerfer) und Israel (tragbare Abschussgeräte für Panzerabwehrraketen und Raketensysteme) (GKKE 2022, S. 52ff.).

Definitionen sind von entscheidender Bedeutung

Entscheidend bei der Erfassung und Transparenz der Rüstungsexportgenehmigungen sind die jeweils zugrunde gelegten Definitionen. Hier besteht zum einen das Problem der Unterscheidung zwischen Kriegswaffen und Rüstungsgütern. Zwar ist die mittlerweile geänderte Berichtspraxis der Bundesregierung über Rüstungsexporte grundsätzlich transparenter.3 Es bleibt aber unerklärlich, weshalb sich die Bundesregierung im Rahmen der nationalstaatlichen Auskunfts- und Berichtspflicht nicht an ihren eigenen Berichten an das United Nations Office for Disarmament Affairs (UNODA) orientiert. Die Folge: Es gibt bisweilen große Abweichungen in den Berichten. Mit einer einfachen Anpassung der zugrunde gelegten Definitionen könnte die Bundesregierung die Dopplung der bestehenden Berichte einsparen. Leider scheint es jedoch keinen entsprechenden Willen in der Regierungspolitik zu geben, die unterschiedlichen Definitionen von Kriegswaffen und Rüstungsgütern anzugleichen.

Zum anderen folgt daraus, dass ohne eine Übernahme der Definition der Vereinten Nationen für Kriegswaffen und Rüstungsgüter auch in Zukunft Sturmgewehre als Rüstungsgüter der Kriegswaffenkontrolle und den entsprechenden Nationalen Berichten unterliegen, während eine Faustfeuerwaffe (Pistolen und Revolver) als sonstiges Rüstungsgut lediglich in den Exportberichten der UNROCA-Datenbank der UNODA aufgeführt wird (vgl. Möhrle 2021, S. 54ff.).

Abb. 18: Unterschiedliche Definitionen

Das Ergebnis dieser Rüstungsexportpraxis ist äußerst problematisch: Noch immer erfassen die Rüstungsexportberichte der Bundesregierung nur einen vergleichsweise überschaubaren Bereich der Kleinwaffen. Dies ist umso seltsamer, als dass die Bundesregierung in ihrer Genehmigungspolitik Klein- und Leichtwaffen voneinander getrennt behandelt hat, obwohl diese in der geltenden OSZE-Definition stets zusammen genannt werden.

Daher fordert die GKKE die Bundesregierung dazu auf, endlich auch die Daten zu den tatsächlichen Exporten von Rüstungsgütern zu veröffentlichen. Das Fehlen einer solchen Statistik ist ein erhebliches Transparenzdefizit. Das Bundesstatistikgesetz sollte dementsprechend verändert werden. Des Weiteren fordert die GKKE, dass neben den Genehmigungswerten für die Ausfuhr von Kleinwaffen und Leichtwaffen auch die Genehmigungswerte für Gewehre ohne KWL-Nummer, Revolver und Pistolen, Jagd- und Sportwaffen sowie für die entsprechende Munition gesondert angegeben werden. Problematisch ist auch das Fehlen von Angaben zu den Transfers von gelisteten Dual-Use-Gütern, deren Risikopotential für Frieden und Sicherheit nicht unterschätzt werden sollte. Sie sind nach EU-Vorgaben ebenfalls genehmigungspflichtig.

Illegale Exporte und ihre Auswirkungen – zwei Fallstudien

In den Jahren nach 2006 bzw. nach 2009 machten die bis dato führenden deutschen Kleinwaffenproduzenten H&K und SIG Sauer durch widerrechtliche Waffengeschäfte auf sich aufmerksam. Die beiden Exportskandale, die jeweils 2021 mit der Verurteilung durch den Bundesgerichtshof ihr Ende fanden, seien hier kurz skizziert.4

Fall 1: Illegale Gewehrexporte von Heckler & Koch in Mexiko

Abb. 19: Route Mexiko (Fall H&K)

Eigene Darstellung in Anlehnung an Rosa-Luxemburg-Stiftung

Auf der Basis vertraulicher Informationen eines Whistleblowers aus dem Unternehmen Heckler & Koch erstattete der Autor für das RüstungsInformationsBüro über seinen Rechtsanwalt Holger Rothbauer im Jahr 2010 Strafanzeige. Dank der umfassenden Insiderinformationen konnte belegt werden, dass 4.702 H&K-Sturmgewehre des Typs G36 von 2006 bis 2009 widerrechtlich – d.h. unter Missachtung unterzeichneter Endverbleibserklärungen (EVE) – von Mexiko-City in vier Unruheprovinzen verbracht worden waren. Dort morden seither korrupte Sicherheitskräfte und Mitglieder der Drogenmafia mit G36. Während des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft Stuttgart, die zeitweilig auch durch das von H&K eingesetzte Wirtschafts- und Beratungsunternehmen KPMG geführt wurden, verschwanden abertausende E-Mails zum unternehmensinternen Infoaustausch zwischen den H&K-Verantwortlichen in Mexiko und der H&K-Führungsebene in Oberndorf. Im Februar 2019 sprach das Landgericht Stuttgart daraufhin zwei angeschuldigte H&K-Geschäftsführer frei. Verurteilt wurden dagegen zwei vormalige Beschäftige zu Haftstrafen auf Bewährung und das Unternehmen zu einer Geldstrafe in Höhe von 3,7 Mio. €. Erstmals in der mehr als 70-jährigen Firmengeschichte konnte dem Unternehmen illegaler Waffenhandel nachgewiesen werden. Der Bundesgerichtshof bestätigte im März 2021 das Stuttgarter Urteil in entscheidenden Punkten.

Gemäß Grundgesetz Artikel 26 (2) verantwortet die Bundesregierung die Rüstungsexportpolitik. Die G36-Exportgenehmigungen nach Mexiko waren ein Testfall für eine völlig neue Form des Waffenhandels mit Regierungsgenehmigung. Das Experiment der von Angela Merkel (CDU) und Franz Müntefering bzw. ab November 2007 von Frank-Walter Steinmeier (beide SPD) geführten Bundesregierung sah Folgendes vor: Wie auch in Indien wurde erstmals getestet, ob ein für die Waffenlieferung verbotenes Land wie Mexiko doch partiell mit Kriegswaffen ausgerüstet werden kann. Die Endverbleibserklärungen, die der Empfänger unterzeichnen muss, sollten den Verbleib der H&K-Waffen in vermeintlich ruhigen Provinzen gewährleisten. Doch das Ergebnis war todbringend: Unzählige Menschen wurden nach der illegalen Weiterlieferung der mehr als viertausend G36-Gewehre in die vier für Lieferungen verbotenen Unruheprovinzen Chiapas, Guerrero, Jalisco und Chihuahua erschossen.

Fall 2: Illegale Pistolenexporte von SIG Sauer nach Kolumbien

Abb. 20: Route Kolumbien (Fall SIG Sauer)

Eigene Darstellung

Der in Eckernförde ansässige Kleinwaffenhersteller SIG Sauer exportierte von April 2009 bis April 2011 zehntausende Pistolen des Typs SP 2022 von Deutschland über die USA ins Bürgerkriegsland Kolumbien. SIG Sauer hatte bei den Rüstungsexport-Kontrollbehörden lediglich die Lieferung in das US-Werk in New Hampshire beantragt. Ein Genehmigungsantrag für Kolumbien wäre aufgrund der dortigen Menschenrechtslage nicht gestattet worden.

Nachdem ein Whistleblower aus dem Unternehmen der Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« umfassendes Beweismaterial übergeben hatte, stellten Paul Russmann und der Autor als Kampagnensprecher erneut über den Rechtsanwalt Holger Rothbauer Strafanzeige gegen verantwortliche Rüstungsmanager von SIG Sauer bei der Staatsanwaltschaft.

Wenige Tage danach intensivierte die Kieler Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen wegen des Verdachts der Verletzung des Kriegswaffenkontrollgesetzes und des Außenwirtschaftsgesetzes (AWG). Sie erteilte ein staatliches Rüstungsexportverbot gegenüber SIG Sauer.

Gezwungenermaßen verkündete das Unternehmen mit der Verwaltungszentrale in Emsdetten im Oktober 2014, dass in Deutschland schwerpunktmäßig nur noch Sportwaffen hergestellt werden würden. Vorerst verblieben lediglich rund 50 Arbeitsplätze in Eckernförde. Zugleich verlagerte das Management die Militärproduktion endgültig ins SIG-Sauer-Werk in New Hampshire, USA.

Am 3. April 2019 verurteilte das Landgericht Kiel Michael Lüke und Robert Lackermeier von SIG Sauer Deutschland und Ron Judah Cohen, Chief Executive Officer der SIG Sauer Inc. in den USA, wegen Verstoßes gegen das AWG zu Haftstrafen – wenn auch nur zur Bewährung. Immerhin mussten die Verurteilten Geldstrafen in Höhe von bis zu 600.000 € entrichten. Dieses Geld kam auch Menschenrechtsorganisationen zugute, die in Kolumbien Hilfsprojekte durchführen.

Von der Firmengruppe SIG Sauer Beteiligungs GmbH sollten mit dem Kieler Urteil 11,1 Mio. € eingezogen werden, was dem Gesamtumsatz des Waffendeals mit Kolumbien entsprach. Grundlage dieses Urteils war ein Rechtsparagraph, der sich hauptsächlich gegen die organisierte Kriminalität richtete. Dagegen legte SIG Sauer Revision ein. Mit Urteil vom 1. Juli 2021 bestätigte der Bundesgerichtshof in Karlsruhe jedoch das Kieler Urteil weitgehend.

Die Folgen dieses widerrechtlichen Waffendeals sind bis heute todbringend: Im Empfängerland schießt die kolumbianische Nationalpolizei, die »Policia National«, mit SIG-Sauer-Pistolen. Erfahrungsgemäß zirkulieren die SP 2022 als Beutewaffen auch bei anderen Konfliktparteien. Unbekannt ist die – zweifelsohne hohe – Anzahl der bislang durch die Pistolen aus Deutschland verletzten und getöteten Menschen.

Durch Vor-Ort-Recherchen konnte das Kinderhilfswerk terre des hommes (tdh) belegen, dass SIG-Sauer-Waffen in Kolumbien immensen Schaden anrichten. Die Pistolen werden von Drogenbanden, Paramilitärs und Guerillagruppen bei Verbrechen eingesetzt und Kindersoldat*innen aufgezwungen. Auch kriminelle Polizist*innen und Militärs haben sie bei Straftaten und schweren Menschenrechtsverletzungen benutzt, berichtete Ralf Willinger von tdh.5

SIG Sauer zog Konsequenzen – wenn auch die falschen. Mit der fortgeführten und letztlich vollständig umgesetzten Auslandsverlagerung der Produktion ins US-Werk in New Hampshire entzieht sich der vormals zweitgrößte deutsche Kleinwaffenhersteller dem Zugriff der Kontrollbehörden hierzulande. Allerdings verblieb der zentrale SIG-Sauer-Firmensitz, die L&O-Holding, weiterhin in Emsdetten. Somit kommen die in den USA erwirtschafteten Gewinne der Firmenholding im Münsterland zugute (→ vgl. Bussenius und Schiewe).

Legale Exporte – dennoch tödlich: Kleinwaffenexporte an die Ukraine

Doch keineswegs sind nur illegale Rüstungsexporte mit Sorge zu betrachten. Bezogen auf die Ankündigung restriktiver Exportpolitik, gab der Rüstungsexportbericht der Bundesregierung für das erste Halbjahr 2022 wenig Anlass zur Entwarnung. So wurde der Genehmigungswert für die Ausfuhr von Kleinwaffen und Kleinwaffenteilen von Januar bis Juni von rund 22,45 Mio. € (2021) auf 71,5 Mio. € (2022) mehr als verdreifacht. Noch drastischer war das Exportvolumen im Bereich der Lieferung von Leichtwaffen und deren Waffenteile. Vom Gesamtwert von rund 154 Mio. € betraf lediglich ein Anteil von rund 20 Mio. € EU-, NATO- und NATO-gleichgestellte Staaten. Dagegen gingen Leichtwaffen im Umfang von etwa 134 Mio. € in die Ukraine als einziges Drittland.

Noch exorbitanter wurde der Anteil der Munitionstransfers für Kleinwaffen im ersten Halbjahr 2022 in die Ukraine gesteigert. Hatte der Drittlandanteil 2021 noch bei knapp 264.000 € gelegen, so wurde von Januar bis Juni 2022 mit 11,9 Mio. € mehr als das Einundvierzigfache an Munitionsausfuhren genehmigt. Davon lag der Ukraine-Anteil bei Munition und deren Teile für Kleinwaffen bei knapp 11,8 Mio. €. Hinzu kamen weitere 9,6 Mio. € für die Genehmigung des Exports von Munition von Panzerabwehrwaffen an die Ukraine (Bundesregierung 2022b, S. 5, Anlagen 4, 6 und 9).

Insgesamt hat die Bundesregierung der Ukraine seit Kriegsbeginn im Februar 2022 Waffen im Volumen von rund 18 Mrd. € geliefert bzw. zugesagt. Im Übrigen verlangt sie dafür keine Bezahlung. Diese militärischen Unterstützungsleistungen sind „nicht rückerstattungspflichtig“, so die Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen für Die Linke (taz 2023).

Auch wenn der Wert der SALW-Exporte vergleichsweise gering klingt, ist deren Wirkung immens. Tagtäglich sterben russische Soldaten durch Kugeln aus dem Lauf der aus Deutschland gelieferten Klein- und Leichtwaffen. Krieg ist bekanntlich gut fürs Geschäft der Rüstungsindustrie, national wie auch international. Die Perspektive des Krieges in der Ukraine ist eine ungute. In den – nach der völkerrechtswidrigen Intervention Russlands – seit eineinhalb Jahren tobenden Abnutzungsschlachten ist derzeit kein Ende absehbar. Bezogen auf den Einsatz aller Waffensysteme musste im August 2023 bilanziert werden: Nahezu 500.000 Menschen verloren im Ukraine-Russland-Krieg bislang ihr Leben oder wurden verwundet, wie die New York Times auf der Grundlage US-offizieller Aussagen meldete (Cooper et al. 2023).

Droht ein Rüstungsexportförderungsgesetz?

Die Bundesregierung plant in dieser Legislaturperiode ein »Rüstungsexportkontrollgesetz« zu verabschieden, das im Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP festgeschrieben wurde. Bereits im Oktober 2022 legte das von der Partei Bündnis 90/Die Grünen geführte Bundeswirtschaftsministerium Eckpunkte für das neue Kontrollgesetz vor, die weit hinter den vormals geweckten Erwartungen zurückblieben und die von uns in der Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« dementsprechend scharf kritisiert wurden. Aus NGO-Kreisen wurden 30 differenzierte Änderungs- und Ergänzungsvorschläge unterbreitet. Dabei forderte die Kampagne »Aufschrei« eine real und nicht nur verbal praktizierte restriktive Rüstungsexportpolitik. Im Bereich der Kleinwaffen forderte sie weitgehende Verbote von Exporten und Lizenzvergaben, um die Beihilfe zum Morden mit deutschen Waffen in Krisen- und Kriegsgebieten zu stoppen.

Nach dem monatelangen intensiven Meinungsaustausch sollte die Vorlage für das spätere Rüstungsexportkontrollgesetz in den mitverantwortlichen Ministerien und in den Gremien der drei Ampelparteien beraten werden. Der Entscheidungsprozess zog sich unerwartet in die Länge. Währenddessen teilte das Wirtschaftsministerium zusammen mit dem ihm untergeordneten Bundesausfuhramt (BAFA) – wohlgemerkt ohne jegliche Rücksprache mit den vormals intensiv angehörten Expert*innen der Friedensbewegung und Friedensforschung – neue Allgemeingenehmigungen (AGG) zum Export von Rüstungsgütern mit (→ siehe Brzoska).

Aktion Aufschrei kritisierte die Gesetzesänderung in Wort und Tat vehement. Sie zeige „ganz deutlich, dass auch diese Bundesregierung wirtschaftliche Interessen vor Exportkontrolle, Transparenz und vor allem menschliche Sicherheit stellt“ (Aktion Aufschrei 2023). Das neue Rüstungsexportkontrollgesetz mit seinem ursprünglichen zentralen Transparenz- und Kontrollansatz droht zu einem Rüstungsexportförderungsgesetz zu verkommen. Das so dringend notwendige Verbandsklagerecht wird verweigert, desgleichen Exportverbote im Kleinwaffenbereich – trotz der immens hohen Opferzahlen.

Anmerkungen

2) Die reale Zahl ist laut SAS vermutlich noch höher. Denn von den mehr als hundert Regierungen, die dem SAS Daten liefern sollten, legten
lediglich acht ihre Informationen zum jeweiligen Kleinwaffenarsenal umfassend offen. SAS publiziert die aufwändig zu ermittelnden Daten der
Kleinwaffenanalysen in der Regel mehrere Jahre rückwirkend, in diesem Fall bezogen auf das Jahr 2017.

3) Nachdem sich die Bundesregierung bezüglich ihrer Genehmigungspraxis lange hinter dem Privileg des Kernbereichs der exekutiven Eigenverantwortung
versteckt hatte, konnten wir seitens des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.) und unserer Partnerorganisationen gemeinsam mit den damaligen
Bundestagsabgordneten Jan van Aken und Hans-Christian Ströbele im Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht das Informationsrecht
des Parlamentes und der Öffentlichkeit stärken. Siehe hierzu das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Oktober 2014 (Az. 2 BvE 5/11).

4) Auch wenn die heutigen Fortschritte noch lange nicht ausreichend sind, so haben die Strafanzeigen gegen H&K und SIG Sauer doch viel Positives
bewirkt. Umfassende Falldarstellungen finden sich auf der Website des »GLOBAL NET – STOP THE ARMS TRADE (GN-STAT)« (www.gn-stat.org).

5) CASE 07 des GN-STAT liefert Analysen, Antworten und Forderungen zur Problematik »Kindersoldat*innen und Waffenhandel«, vor allem dem
Handel mit Kleinwaffen. Ehemalige Kindersoldat*innen aus vielen Ländern kommen zu Wort, mit denen der Autor Ralf Willinger von terre des
hommes gesprochen hat. Er setzt sich für ein Ende der Rekrutierung von Kindersoldat*innen und den Stopp von Waffenexporten ein, siehe
https://gn-stat.org/?p=3204.

Jürgen Grässlin ist Sprecher der Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!«, Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Aktivist der Kritischen Aktionär*innen Daimler und Heckler & Koch sowie Vorsitzender des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.) mit dem »GLOBAL NET – STOP THE ARMS TRADE« (GN-STAT). Er ist Autor zahlreicher kritischer Sachbücher über Rüstungsexporte sowie Militär- und Wirtschaftspolitik, darunter internationale Bestseller.

3) KONTROLLE: Herausforderungen, Verantwortlichkeiten, Reformbedarf

Status Quo der Rüstungsexportkontrolle

Etablierte Mechanismen und ihre Optimierbarkeit

von Markus Bayer und Max Mutschler

Deutschland zählt zu den führenden Rüstungsexporteuren weltweit. Nach den jüngsten Erhebungen des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) liegt Deutschland für den Zeitraum von 2018 bis 2022 mit einem Anteil von 4,2% auf Platz fünf der Liste der weltweit führenden Waffenexporteure, hinter den USA, Russland, Frankreich und China (Wezeman, Gadon und Wezeman 2023). Die Genehmigung von Rüstungsexporten obliegt dabei allein der Bundesregierung. Im Jahr 2021 erteilte sie 11.197 Einzelausfuhrgenehmigungen für Rüstungsgüter mit einem Rekordwert von 9,35 Mrd. € (der Durchschnittswert für die zehn Jahre 2012-2021 liegt bei 6,35 Mrd. €).6 Zu diesen addieren sich 2021 zusätzlich Sammelausfuhrgenehmigungen im Wert von über vier Milliarden Euro. Letztere sind Genehmigungen, die meist im Rahmen von Rüstungskooperationen mit anderen Ländern erteilt werden und bei denen die betreffenden Rüstungsgüter häufiger ein- und ausgeführt werden.

Abb. 21:Deutscher Anteil an Rüstungsexporten im internationalen Vergleich 2022

(Quelle: SIPRI 2023)

Regelwerke, Akteure und Verfahren

Das gegenwärtige System zur Rüstungsexportkontrolle in Deutschland basiert auf einer Reihe unterschiedlicher Regelwerke. Manche davon sind rechtsverbindlich, wie etwa das Kriegswaffenkontroll- oder auch das Außenwirtschaftsgesetz; andere hingegen entfalten nur eine politische Verbindlichkeit, wie etwa die »Politischen Grundsätze der Bundesregierung zum Rüstungsexport« (→ vgl. Kolling, Grässlin). Hinzu kommen internationale Regelwerke, wie der »Gemeinsame Standpunkt der EU zu Rüstungsexporten« und der Internationale Waffenhandelsvertrag (→ vgl. Wisotzki). Diese Regularien geben verschiedene Kriterien für die deutsche Rüstungsexportkontrolle vor. So schreiben sowohl der Waffenhandelsvertrag als auch der Gemeinsame Standpunkt vor, dass bestehende Sanktionen beim Export von Waffen zu befolgen und die Beachtung der Menschenrechtssituation im Empfängerland sicherzustellen ist. Der Gemeinsame Standpunkt verpflichtet Deutschland zudem, dafür Sorge zu tragen, dass Rüstungsexporte Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Region und Alliierte nicht gefährden und dass die Entwicklung des Empfängerlandes nicht negativ durch unangemessene Militärausgaben beeinflusst wird. Hierzu muss die Bundesregierung eine Risikoeinschätzung vornehmen. Sie muss etwa prüfen, ob ein »eindeutiges Risiko« besteht, dass das betreffende Rüstungsgut im Empfängerland zur internen Repression eingesetzt wird. Objektive Indikatoren für derartige Risikoabschätzungen sind nicht vorgegeben. Letztendlich obliegt es einzig und allein der Bundesregierung und der zuständigen Verwaltungsbürokratie, diese Kriterien im Hinblick auf konkrete Rüstungsgüter für das entsprechende Empfängerland zu prüfen und auf Grundlage dieser Prüfung über den Export oder die Lieferung von Rüstungsgütern zu entscheiden. Die Bundesregierung hat deshalb hier einen sehr großen Entscheidungsspielraum.

Je nach Typ des zum Export beantragten Gutes unterscheidet sich der Entscheidungs- bzw. Bewilligungsprozess: Handelt es sich bei den betreffenden Rüstungsgütern um Kriegswaffen, also zum Beispiel Panzer oder Maschinengewehre, und handelt es sich beim Empfängerland um ein Mitgliedsland der NATO bzw. der EU, entscheidet das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) überwiegend selbstständig und beantwortet auch ggf. gestellte Voranfragen. Handelt es sich um ein Empfängerland außerhalb der NATO bzw. der EU, ist das Auswärtige Amt (AA) für die Beantwortung von Voranfragen zuständig. Die Exportentscheidung fällt dann zumeist in Abstimmung zwischen AA, dem BMWK und dem Verteidigungsministerium (BMVg). Über besonders bedeutsame oder umstrittene Rüstungsexporte entscheidet der Bundessicherheitsrat (BSR) (→ siehe Infokasten, S. 8): ein geheim tagender Kabinettsausschuss unter Vorsitz des Bundeskanzlers mit Beteiligung der Ressorts Bundeskanzleramt, Auswärtiges, Verteidigung, Finanzen, Inneres, Justiz, Wirtschaft und Klimaschutz sowie wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Bei sonstigen Rüstungsgütern, also etwa bei Panzermotoren oder Helmen, ist das dem BMWK unterstellte Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) die zuständige Genehmigungsbehörde. Auch hier können kritische Fälle an das federführende Ministerium – also das BMWK – oder den Bundessicherheitsrat zur Entscheidung weitergeleitet werden.

Abb. 22: Schematische Darstellung Rüstungsexportentscheidung

Zentrale Probleme: Mangelnde Kontrolle und Intransparenz

Wie aus der obenstehenden Beschreibung der Genehmigungsverfahren hervorgeht, ist die Bundesregierung bei Rüstungsexporten weder einer politischen Kontrolle durch das Parlament noch einer gerichtlichen Kontrolle ihrer Entscheidungen über Rüstungsexporte unterworfen. Immerhin unterrichtet die Bundesregierung seit 2015 den Bundestag über abschließende Genehmigungsentscheidungen des Bundessicherheitsrats und informiert dabei in der Regel über Art und Anzahl der genehmigten Rüstungsgüter, das Empfängerland, die beteiligten deutschen Unternehmen und das Gesamtvolumen des Geschäfts. Da der Bundessicherheitsrat jedoch nur in Ausnahmefällen über die Rüstungsexporte entscheidet, erfahren sowohl die Parlamentarier*innen als auch die Öffentlichkeit über den allergrößten Teil der deutschen Rüstungsexporte lediglich, was aus den Antworten der Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen sowie aus den halbjährlich vorgelegten Rüstungsexportberichten der Bundesregierung hervorgeht. Die Informationen, die dort zur Verfügung gestellt werden, sind weniger detailliert als die Informationen der Unterrichtung des Bundestages über Genehmigungen des Bundessicherheitsrats. Aufgelistet nach Empfängerland informiert die Bundesregierung dort in der Regel lediglich über das Empfängerland (nicht jedoch über den tatsächlichen Endempfänger, also z.B. Armee, Polizei, Geheimdienst etc.), die Anzahl der Genehmigungen, deren finanzielles Gesamtvolumen sowie darüber, wie sich dieses auf die unterschiedlichen Positionen der sogenannten Ausfuhrliste aufschlüsselt. Bei Drittländern (Länder, die weder EU noch Nato angehören, noch der Nato gleichgestellt sind) erfolgen zwar noch weitere Angaben zur Art der Rüstungsgüter, etwa dass es sich bei 35% des genehmigten Volumens um Teile für gepanzerte Fahrzeuge handelt. Wie viel Stück von welchem Rüstungsgut bzw. Hersteller für wen genau genehmigt wurden, kann man den Berichten und auch den meisten Antworten der Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen jedoch nicht entnehmen.

Für zivilgesellschaftliche Akteure und auch für die Opposition ist es schwierig, auf dieser mageren Informationsgrundlage eine Bewertung der Einzelfallentscheidungen der Bundesregierung vorzunehmen. Denn sie kennen den Einzelfall in der Regel nicht. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung ihre Entscheidungen in diesem Politikfeld nur in ganz besonderen Fällen überhaupt öffentlich begründet. Meist nur dann, wenn es sich um die Lieferung von Waffen aus Bundeswehrbeständen an direkte Kriegsparteien handelt, so wie jüngst bei der Diskussion um Waffenlieferungen an die Ukraine, oder zuvor im Jahr 2014 bei den Waffenlieferungen an die kurdischen Peschmerga (→ vgl. Wisotzki). Bei den allermeisten kommerziellen Rüstungsexporten, die den Großteil der deutschen Rüstungsexporte ausmachen, werden Parlament und Öffentlichkeit weder über die betreffenden Rüstungsgüter noch über die Begründung der Bundesregierung für ihren Export informiert.

Angesichts dieser Intransparenz sowie des Mangels an politischer und richterlicher Kontrolle ist es wenig verwunderlich, dass die deutsche Rüstungsexportpolitik überwiegend von wirtschaftspolitischen Interessen geleitet wird (→ vgl. Wisotzki, Brzoska). Nach einer Analyse deutscher Exporte von konventionellen Großwaffensystemen zwischen 1992 und 2013 spielt dabei die Menschenrechtslage in den Empfängerländern nur eine untergeordnete Rolle. Statt klaren sicherheitspolitischen Interessen, sei die deutsche Rüstungsexportpolitik in diesen Jahren eher einer liberalen, marktorientierten Agenda gefolgt (Platte und Leuffen 2016). Eine Bestandsaufnahme der deutschen Rüstungsexportpolitik der letzten 30 Jahre kommt zu dem Schluss, dass Exporte in Drittländer, die eigentlich eine Ausnahme sein sollten, in manchen Jahren mit Genehmigungsquoten von rund 60% zur Regel geworden sind (Wisotzki 2020). Eine Tatsache, die auch in den jährlich erscheinenden Rüstungsexportberichten der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) kritisiert wird. Zwar sind nicht alle Drittstaaten problematische Empfängerländer, viele hingegen schon. Nach Auswertung des Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) hat die Bundesregierung 2021 Rüstungsexporte an 52 Staaten genehmigt, deren Menschenrechtssituation als sehr schlecht eingestuft wird. In 30 Empfängerländern gab es interne Gewaltkonflikte. Insgesamt hat die Bundesregierung 2021 Rüstungsexporte mit einem Gesamtwert von 4,6 Mrd. € an 19 Länder genehmigt, die mindestens hinsichtlich vier der acht Kriterien des Gemeinsamen Standpunkts der EU zu Rüstungsexporten als problematisch eingestuft werden können (siehe Abb. 23, linke Seite).

Abb. 23: Deutsche Rüstungsexporte 2021 an problematische Empfängerländer

Verbesserungsmöglichkeiten

Wie oben dargelegt, ist die bisherige Berichterstattung über deutsche Rüstungsexporte immer noch zu intransparent. Um dem zu begegnen, sollte die Bundesregierung sich dazu verpflichten, für jede Ausfuhrgenehmigung, die sie erteilt, darzulegen, um welche Rüstungsgüter es geht (also nicht nur die Ausfuhrlistenposition, sondern die exakte Bezeichnung und Stückzahl) und wer der vorgesehene Endempfänger ist (also nicht nur das jeweilige Land, sondern z.B. auch ob Polizei, Armee, Geheimdienst oder andere Akteure Empfänger sind). Da dies angesichts der großen Anzahl der jährlichen Einzelausfuhrgenehmigungen das bisherige Berichtsformat überfordern würde, wäre hierzu eine Online-Datenbank sinnvoll. Aber die Bundesregierung sollte nicht nur transparenter über die Rüstungsgüter und Endempfänger berichten, sondern ihre Entscheidungen für (und eventuell auch gegen) Rüstungsexporte ausführlich begründen.

Im bisherigen System der Rüstungsexportkon-trolle in Deutschland liegt die Begründungspflicht bei den Kritiker*innen von Rüstungsexporten – egal ob sie aus der Zivilgesellschaft kommen, im Bundestag oder sogar in der Regierung sitzen. Sie sind es, die zeigen müssen, dass etwa bei einem Rüstungsexport an ein autoritäres Regime ein eindeutiges Risiko besteht, dass das betreffenden Rüstungsgut z.B. im Empfängerland zur internen Repression benutzt wird. Angesichts des Informationsmangels ist dies aber faktisch oft kaum leistbar. Zumindest beim Export von Rüstungsgütern an Drittländer sollte daher die »Beweislast« von den Kritiker*innen hin zu den Befürworter*innen des jeweiligen Rüstungsexports verschoben werden. In der Praxis ließe sich eine solche Beweislastumkehr etwa dergestalt umsetzen, dass die Bundesregierung bei einer Entscheidung für einen Rüstungsexport an ein Drittland – derartige Exporte sollen ja eine Ausnahme darstellen – gegenüber dem Bundestag in öffentlicher Sitzung begründet, warum sie der Ansicht ist, dass in diesem Fall alle Kriterien für eine positive Exportentscheidung erfüllt sind und weshalb der betreffende Export im außen- und sicherheitspolitischen Interesse Deutschlands ist (vgl. GKKE 2022, S. 70ff.).

Abb. 24: Weltkarte von Staaten mit Exportgenehmigungen für deutsche Rüstungsgüter

Exportgenehmigungen für deutsche Rüstungsgüter 2021 und Darstellung privilegierter Gruppen (Stand November 2023)

Zusätzlich zu einer Erhöhung der Transparenz und der damit einhergehenden Verbesserung der politischen Kontrolle durch Parlament und Öffentlichkeit bedarf es auch der Möglichkeit, das Regierungshandeln seitens der Zivilgesellschaft gerichtlich überprüfen zu lassen. Hierfür ist die Schaffung eines Verbandsklagerechts unerlässlich. Seit 2002 besteht in Deutschland die Möglichkeit für bestimmte gemeinwohlorientierte Verbände, bei Verletzungen von Rechten der Allgemeinheit eine Popularklage einzureichen. Etabliert wurde das sogenannte Verbandsklagerecht zuerst im Bereich des Naturschutzes, wo es im Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) und dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz (UmwRG) geregelt ist. Letzteres gibt anerkannten lokalen oder national tätigen Umweltverbänden, wie beispielsweise dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) e. V., aber auch ausländischen bzw. internationalen Verbände die Möglichkeit, einen sogenannten »Umwelt-Rechtsbehelf« einzulegen und damit zu erwirken, dass behördliche Entscheidungen richterlich auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden müssen. Dabei muss der betreffende Verband darlegen, dass die entsprechende Entscheidung gegen eine Rechtsvorschrift verstößt und überdies die in der Satzung des Verbandes bzw. Vereins dargelegten Tätigkeitsfelder tangiert. Zuständig für die Bearbeitung dieser Verfahren sind dann die Verwaltungsgerichte. Das Verbandsklagerecht ist inzwischen in Deutschland nicht nur im Bereich des Umweltschutzes, sondern auch in Bereichen anderer kollektiver Rechte, wie dem Datenschutz oder der Gleichstellung, fest verankert und nicht mehr wegzudenken. In keinem der genannten Bereiche hat es, wie von Kritiker*innen vielfach befürchtet, zu einer Überlastung der Justiz oder einer Handlungsunfähigkeit der Legislative geführt. Im Gegenteil, oft bildeten Verbandsklagen die einzige Möglichkeit, Chancengleichheit zwischen mächtigen Konzernen und Betroffenen herzustellen.

Ein Verbandsklagerecht im Bereich der Rüstungsexportkontrolle würde deutschen – in einer weiterreichenden Variante ggf. auch internationalen – anerkannten, gemeinwohlorientierten Verbänden wie Brot für die Welt und Misereor oder Amnesty International die Möglichkeit geben, gerichtlich überprüfen zu lassen, ob Exportentscheidungen der Bundesregierung den festgelegten Kriterien widersprechen bzw. ob die Regierung die Kriterien in angemessener Weise geprüft und abgewogen hat. Dies bedeutet mitnichten ein Veto-Recht für zivilgesellschaftliche Akteure oder einen Eingriff in die Entscheidungshoheit von Bundesregierung und Bundessicherheitsrat, wie von den Kritiker*innen eines solchen Verbandsklagerechts behauptet wird. Es soll vielmehr die Rechtsstaatlichkeit gestärkt werden, indem eine Möglichkeit geschaffen wird, gerichtlich zu prüfen, ob und inwieweit sich die Regierung bei der Genehmigung von Rüstungsexporten an existierende Gesetze und Regelungen hält.

Umzusetzen sind diese und andere Verbesserungen der deutschen Rüstungsexportkontrolle am sinnvollsten in Form eines neuen Rüstungsexportkontrollgesetzes. Ein solches wird schon seit längerem von verschiedenen Organisationen und zivilgesellschaftlichen Gruppierungen gefordert. Die Bundesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag für die Jahre 2021-2025 dazu verpflichtet, ein solches Rüstungsexportkontrollgesetz auszuarbeiten. Im Herbst 2023 liegt bislang jedoch nur ein Eckpunkte-Entwurf aus dem Bundeswirtschaftsministerium dafür vor (→ vgl. Brzoska).

Anmerkung

6) Alle in diesem Beitrag verwendeten Angaben zu den deutschen Rüstungsexporten stammen, sofern nicht anders angegeben, aus den Berichten
der Bundesregierung über ihre Rüstungsexportpolitik. Die vom Bundeswirtschaftsministerium erstellten Berichte sind zugänglich unter: https://
www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/ruestungsexportkontrolle.html.

Markus Bayer ist Senior Researcher am Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) und leitet dort das Projekt »Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte«. Er ist zudem Mitglied der Fachgruppe Rüstungsexporte der GKKE (Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung). Neben Fragen der Rüstungskontrolle interessieren ihn insbesondere friedliche Transformationsprozesse, fragen der politischen Agency, Versöhnung in postkolonialen Kontexten und Zivil-Militärische Beziehungen.

Max Mutschler ist Senior Researcher am Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) und leitet dort das DFG-Projekt »Verflüchtigt sich der Krieg? Die Folgen der Proliferation moderner Militärtechnologie für die Kriegführung autokratischer Staaten und nicht-staatlicher Gewaltakteure«. Er ist Co-Vorsitzender der Fachgruppe Rüstungsexporte der GKKE (Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung). Seine Forschungsinteressen liegen vor allem im Bereich Rüstung und Rüstungskontrolle. Neben der deutschen Rüstungsexportpolitik zählen dazu insbesondere die Folgen militärtechnologischer Entwicklungen auf die Kriegführung.

Möglichkeiten der Eindämmung von Waffenhandel

Strukturelle Faktoren und Spielräume eines neuen deutschen Rüstungsexportgesetzes

von Michael Brzoska

Der internationale Handel mit Rüstungsgütern wird von zwei Faktoren getrieben: der Nachfrage nach Waffen und dem Angebot von Waffen. Wie auch in anderen Märkten ist die Nachfrage nicht unabhängig vom Angebot. Anbieter betreiben aktives Marketing. Was ein Land kauft, weckt auch in Nachbarländern Bedürfnisse.

Eine Besonderheit des internationalen Waffenhandels ist die zentrale Bedeutung von Staaten, auf der Nachfrage- und insbesondere der Angebotsseite. Drei Dimensionen sind für das Verständnis von deren Handlungen besonders hervorzuheben.

Staat und Rüstungsindustrie sind eng verflochten

Nationale Rüstungsproduktion ist weit überwiegend Herstellung für die eigenen Streitkräfte, weniger als ein Viertel der globalen Rüstungsproduktion wird international gehandelt.7 Rüstungsproduzenten sind daher in der Regel wirtschaftlich stark von den Beschlüssen der Regierungen abhängig, die ihre größten Kunden sind. Gleichzeitig begründet das enge wirtschaftliche Verhältnis Staat ↔ nationale Rüstungsindustrie aber auch ein staatliches Interesse an Rüstungsexporten, zumindest insoweit Rüstungsexporte Vorteile für nationale Rüstungsbeschaffung bringen. Dies kann bestehen in Kostensenkungen durch größere Stückzahlen einzelner Waffensysteme, das Überleben nationaler Rüstungsfirmen, auch wenn keine nationalen Beschaffungsvorhaben bestehen, oder durch den Rüstungsexport als Teil gemeinsamer Waffenproduktion mit anderen Staaten.

Rahmensetzungen für Rüstungsexportkontrolle in Deutschland

Die zweite Dimension betrifft die staatliche Kon-trolle über Waffenproduktion und Rüstungshandel. Es liegt in unmittelbarem staatlichen Interesse, dass Gewaltmittel nicht für Zwecke genutzt werden können, die dieser Staat nicht billigt. In Deutschland regelt das Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG) Herstellung, Transport („Verbringung“) und Besitz von Kriegswaffen, als Ausführungsgesetz zum Artikel 26 des Grundgesetzes. Jede nicht für die Bundeswehr vorgesehene Herstellung und Verbringung von Kriegswaffen, sowohl innerhalb Deutschlands als auch ins Ausland, muss von der Bundesregierung genehmigt werden (→ vgl. Kolling).

Der Kreis der Kriegswaffen ist relativ begrenzt. Nicht dazu gehören Schusswaffen, die auch für nicht-militärische Zwecke verwendet werden, wie Pistolen und Jagdgewehre, deren innerstaatliche Kontrolle durch das Waffengesetz (WaffenG) erfolgt. Auch ein Großteil der weiteren Güter, die für Kriegführung wichtig sind, fallen nicht unter das KWKG. Deren Export beschränkt das Außenwirtschaftsgesetz (AWG). Es enthält Genehmigungspflichten für den Export von Rüstungsgütern und auch von Gütern mit doppelter Verwendungsmöglichkeit (»Dual use«).

Über nationale Vorschriften hinaus müssen die Genehmigungsbehörden auch internationales Recht beachten. So sind Waffenembargos, die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) oder der Europäische Rat verhängt, für die deutschen Genehmigungsbehörden verbindlich. Das gilt auch für den Internationalen Waffenhandelsvertrag (ATT) dem Deutschland beigetreten ist (→ vgl. Bayer und Mutschler, sowie Wisotzki).

Keinen rechtsverbindlichen Charakter hingegen haben die erstmals 1967 formulierten und seitdem mehrfach geänderten »Politischen Grundsätze der Bundesregierung zum Rüstungsexport«.8 Seit 2017 sind neben den allgemeinen auch eigene Grundsätze für den Export von Kleinwaffen formuliert und veröffentlicht worden (→ vgl. Grässlin). Die Grundsätze sind aber für Entscheidungen von Bundesregierung und nachgeordneten Behörden, insbesondere dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), von hoher Bedeutung. Denn in ihnen hat die Bundesregierung fixiert, wie sie in der Praxis mit Genehmigungsanträgen umgehen will. Sie stellen damit sowohl eine Art Richtlinie für diejenigen da, die in Bundesregierung und BAFA über die Masse der Anträge zu entscheiden haben, als auch, da sie zumindest seit den frühen 1970er Jahren auch öffentlich sind, eine Selbstbindung der Bundesregierung, da in der Öffentlichkeit Entscheidungen des Bundessicherheitsrat (BSR), der bei wichtigen oder kontroversen Fällen befasst wird, mit den Politischen Grundsätzen abgeglichen werden können (→ siehe Infokasten S. 8).

Ebenfalls von Bedeutung für die Exportpraxis ist der »Gemeinsame Standpunkt« der EU zum Rüstungsexport vom 8. Dezember 2008. Er enthält acht Kriterien, auf deren Beachtung sich die Mitgliedsstaaten der EU geeinigt haben. In Deutschland ist er bisher nicht unmittelbar rechtsverbindlich sondern nur Teil der Politischen Grundsätze, obwohl im Gemeinsamen Standpunkt die Aufforderung enthalten ist, ihn in nationales Recht umzusetzen.

Abb. 25:Regionale wirtschaftliche Bedeutung von Rüstungsexporten

Unterschiede in der regionalen wirtschaftlichen Bedeutung von Rüstungsexporten (Gesamtwerte Exportgenehmigungen Januar-August 2022); Quelle: Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage (Drucksache 20/3354, 7.9.2022)

Rüstungsexportpolitik in der politischen Auseinandersetzung

Drittens eröffnet das enge Verhältnis Staat ↔ Rüstungsproduktion Regierungen die Möglichkeit, Waffenexporte als politisches Instrument zu nutzen (→ vgl. Wisotzki), aber für die demokratische Öffentlichkeit auch die Chance, Regierungshandeln im Sinne der eigenen politischen Vorstellungen zu beeinflussen (→ vgl. von Gall). Dabei stehen sich sowohl in Regierung wie Öffentlichkeit regelmäßig unterschiedliche Interessen gegenüber.
Rüstungsexporte sind nicht nur für Rüstungshersteller wirtschaftlich attraktiv, sie finanzieren auch Arbeitsplätze. Zudem lässt sich mit ihnen, zumindest in kleinem Maßstab, Wirtschaftspolitik betreiben. Insbesondere Abgeordnete aus Wahlkreisen mit vielen Rüstungsindustriebetrieben sind daran interessiert. Mit Rüstungsexporten lässt sich auch Außen- und Allianzpolitik betreiben. Allerdings ist gegenüber anderen Staaten oft eher die Versagung, als die Genehmigung von Rüstungsexporten ein außenpolitisches Problem, so wenn etwa Saudi Arabien die Verweigerung der Genehmigung der Lieferung von Panzern als Affront bezeichnet, oder wenn Frankreich und Großbritannien es als unfreundlichen Akt unter Verbündeten ansehen, wenn ihre Firmen Produkte aus gemeinsamen Rüstungsproduktionsvorhaben mit Deutschland, wie etwa den Eurofighter, auf Grund deutscher staatlicher Bedenken nicht überall hin exportieren dürfen, wohin es ihnen ihre eigenen Regierungen erlauben würden (→ vgl. Wisotzki).

In der Öffentlichkeit werden hingegen vor allem besonders heikle Exportgenehmigungen thematisiert, diskutiert und vor allem kritisiert. Wesentlicher Anlass für letzteres ist vor allem eine immer wieder deutlich werdende Diskrepanz zwischen allgemeiner politischer Rhetorik und Rüstungsexportpraxis.

Rüstungsexporte berühren für den politischen Diskurs zentrale Werte wie Frieden und Menschenrechte. In den politischen Grundsätzen wird dem seit Jahrzehnten Rechnung getragen, indem dort angekündigt wird, der Beachtung der Menschenrechte im Bestimmungs- und Endverbleibsland von Rüstungsgütern bei den Entscheidungen über Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern besonderes Gewicht beizumessen.

Ein besonderes Problem stellen Exporte im Rahmen von gemeinsamen Rüstungsvorhaben mit anderen Staaten, vor allem Frankreich und Großbritannien dar. Schon in den frühen 1990er Jahren wurden, lange nicht öffentlich verfügbare, Abkommen geschlossen, in denen die Bundesregierung weitgehend auf die Umsetzung der eigenen Grundsätze verzichtete. Sie verpflichtete sich, nur in Ausnahmefällen Weiterexporte von Waffensystemen mit deutschen Komponenten auch in problematische Staaten zu behindern. Diese Sonderbehandlung wurde mit dem Interesse an der Stärkung einer europäischen Rüstungsindustrie begründet.

Rüstungsexportpolitik in der Praxis

Den Ankündigungen einer restriktiven Rüstungsexportpolitik der Bundesregierungen seit den späten 1960er Jahren steht die Genehmigungspraxis gegenüber. Deutschland gehört seit den 1970er Jahren durchgängig zu den größten Rüstungsexporteuren weltweit. Immer wieder wurden Genehmigungen, insbesondere für Kriegsschiffe, damit begründet, dass dadurch Arbeitsplätze geschaffen oder erhalten wurden. Das BICC in Bonn prüft seit den frühen 2000er Jahren ob und inwieweit die Empfänger deutscher Rüstungsgüter sich an internationale Vereinbarungen zu Menschenrechten halten, und mussten regelmäßig Lieferungen an hochproblematische Länder verzeichnen.9 Besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit fanden immer wieder einzelne, einer restriktiven Rüstungsexportpolitik widersprechende Genehmigungen.10

Die öffentliche Kritik an der Genehmigungspraxis führte durchaus zu Änderungen der Rüstungsexportpolitik. Besonders wirkungsvoll war sie im Bereich von Kleinwaffen (→ vgl. Grässlin). Auch in anderen Bereichen führte öffentliche Kritik zu Änderungen in der Genehmigungspraxis. So wurden ab 2019 keine Genehmigungen, einschließlich solcher für Gemeinschaftsvorhaben mit anderen Ländern, mehr nach Saudi-Arabien erteilt. Anlass war der Mord am Regimekritiker Jamal Khashoggi. Zudem intervenierte das Land militärisch im Jemen und hatte sich dabei schwerer Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht schuldig gemacht.

Verschärfungen der Kontrolle stehen Erleichterungen für Antragsteller für Exporte von Rüstungsgütern gegenüber. So war es bis in die 1990er Jahre Praxis, den Export von gepanzerten Fahrzeugen in Länder des Nahen Ostens nicht zu erlauben. Diese Beschränkung wurde im Zuge der deutschen Unterstützung der am Golfkrieg Beteiligten 1991 aufgegeben. Inzwischen hat eine Reihe arabischer Staaten gepanzerte Fahrzeuge aus Deutschland erhalten. Auch im Bereich der Exporte für Koproduktionen wurde das Kontrollniveau gesenkt (→ vgl. Wisotzki).

Diese Beispiele machen deutlich, dass Rüstungsexportpolitik Ausdruck des Gewichtes von Interessen ist. Für eine Lockerung der Rüstungsexportpolitik stehen vor allem die Rüstungsindustrie, aber auch lokale Wirtschaftsinteressen, Politiker*innen mit Interesse an der Stärkung der deutschen Rüstungsindustrie und solche mit starkem Interesse an der Nutzung von Rüstungsexporten für Bündnis- und Außenpolitik. Ihnen gegenüber stehen vor allem eine Reihe von Fachorganisationen aus der Zivilgesellschaft, die versuchen die Öffentlichkeit auf die Probleme und Widersprüche der Rüstungsexportpolitik aufmerksam zu machen (→ vgl. von Gall), sowie Politiker*innen, die an einer stärker werteorientierten Außenpolitik interessiert sind.

In dieser Konstellation ist Transparenz ein wichtiges Instrument für mehr Zurückhaltung bei Rüstungsexporten (→ vgl. Bayer und Mutschler). Um mehr Restriktivität zu erreichen, sind kritische Organisationen vor allem auf Druck aus der Öffentlichkeit angewiesen, die mehrheitlich für mehr Zurückhaltung bei Rüstungsexporten ist (Greenpeace 2020). Der Umfang der von der Bundesregierung veröffentlichten Daten ist zwar in den letzten Jahrzehnten gewachsen, aber weiterhin bleiben zentrale Informationen der Öffentlichkeit verschlossen, etwa welche Kriterien wie abgewogen, warum Exporte genehmigt wurden, oder, um die Formulierung aus den Politischen Grundsätzen aufzunehmen, welche sicherheitspolitischen Interessen für einen Export gesprochen haben.

Auf dem Weg zu einem Rüstungsexportkontrollgesetz

Weil die Genehmigungspolitik so stark von Interessen und damit verbundenem Lobbyismus beeinflusst wird, drängen viele zivilgesellschaftliche Organisationen seit Jahren auf ein Rüstungsexportgesetz, in dem Zurückhaltung rechtlich verbindlicher gemacht wird, wobei die Erwartungen der Organisationen von einem generellen Verbot bis hin zu einer Festschreibung des aktuellen Status quo von Politischen Grundsätzen und EU-Standpunkt reichen.11

In den Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP im Spätherbst 2021 einigten sich die Parteien darauf, in der folgenden Legislaturperiode ein neues nationales Rüstungsexportkontrollgesetz zu verabschieden. Ziel ist eine rechtlich verbindliche Erweiterung und Schärfung der Kriterien für Entscheidungen über den Export aller Rüstungsgüter, über die Bestimmungen in KWKG, AWG und Gemeinsamem Standpunkt der EU hinaus. Der Koalitionsvertrag enthält den Satz: „Nur im begründeten Einzelfall, der öffentlich nachvollziehbar dokumentiert werden muss, kann es Ausnahmen geben“. Neben stärkerer Restriktivität wird dort auch mehr Transparenz über Entscheidungen zu Rüstungsexporten ankündigt (SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP 2021).

Federführend für die Umsetzung dieser Ankündigungen ist das von Bündnis 90/Die Grünen geführte Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), das im Frühjahr 2022 in Konsultationen mit Expert*innen die Erwartungen an ein neues Rüstungsexportgesetz einholte. Im Herbst 2022 legte der zuständige Staatssekretär Sven Giegold Eckpunkte für ein Rüstungsexportkontrollgesetz vor. Daran schlossen sich Fachgespräche mit Vertreter*innen aus der Indus-trie, Wissenschaft und Zivilgesellschaft an.12 Die Eckpunkte bauen auf den geltenden Politischen Grundsätzen und den Kleinwaffengrundsätzen auf, enthalten aber weitergehende Konkretisierungen, insbesondere zur Beurteilung der Menschenrechtslage. Zudem wird angekündigt, Defizite in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als weiteres Kriterium in das Gesetz einführen zu wollen.

Während Vertreter*innen aus der Industrie die Eckpunkte grundsätzlich als überflüssig kritisierten, begrüßten die Vertreter*innen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft weitgehend die Grundlinien des Papiers. Allerdings gab es auch von dieser Seite Kritik und Enttäuschung über die fehlende Bereitschaft des BMWK, weiterreichende Schritte in Richtung Begrenzung der deutschen Rüstungsexporte zu gehen. Einige Teilnehmende forderten das generelle Verbot von Rüstungsexporten während andere auf Regelungslücken etwa bei der Kontrolle international agierender Rüstungsunternehmen sowie das Fehlen effektiver politischer und rechtlicher Kontrollmöglichkeiten des Regierungshandelns hinwiesen, was sich durch ein Klagerecht für fachlich ausgewiesene zivilgesellschaftliche Verbände bei problematischen Rüstungsexportentscheidungen beheben ließe. Auch wurde die in den Eckpunkten festgehaltene Privilegierung von Exporten aus Kooperationsvorhaben kritisiert.

Die in den Fachgesprächen angekündigte Überarbeitung der Eckpunkte wurde bis zum Herbst 2023 nicht öffentlich. Auch wurde öffentlich nicht bekannt, welche Gesichtspunkte andere Ministerien im Konsultationsprozess innerhalb der Bundesregierung einbrachten.

Der Werdegang eines Rüstungsexportgesetzes steht im Schatten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. In der Öffentlichkeit wurde das anfängliche Zögern der Bundesregierung bei Waffenlieferungen an die Ukraine vielfach als Ausdruck der restriktiven deutschen Rüstungsexportpolitik angesehen – und die dann folgende schrittweise Ausweitung der Lieferungen als Ausweis einer generellen Aufweichung der Restriktivität. Tatsächlich aber wären nach den bestehenden rechtlichen Vorschriften als auch nach den Politischen Grundsätzen weitgehende Exporte von Rüstungsgütern an die Ukraine möglich gewesen, die Zurückhaltung der Bundesregierung hatte vorrangig andere Gründe. Das zeigt nicht zuletzt eine ähnliche Zurückhaltung auch anderer Staaten, wie den USA und Frankreich, mit deutlich offensiverer Rüstungsexportpolitik.

Abb. 26: Die neuen Allgemeingenehmigungen als Exportbeschleuniger

Trotzdem hat der russische Krieg in der Ukraine die Stimmungslage zum Rüstungsexport beeinflusst. Ein Ausdruck davon sind relevante Passagen in der Nationalen Sicherheitsstrategie. Dort wird angekündigt, zwar bei einer restriktiven Grundlinie bleiben zu wollen, aber gleichzeitig „Bündnis- und Sicherheitsinteressen, die geo-strategische Lage und die Anforderungen einer verstärkten europäischen Rüstungskooperation“ berücksichtigen zu wollen (Bundesregierung 2023, S. 9). Zu einer Aufweichung der Restriktivität dürfte auch die im Juli 2023 veröffentlichte Ankündigung des BMWK, weitere Erleichterungen für Rüstungsexporte in Mitgliedsstaaten der EU und der NATO sowie ausgewählte weitere Staaten einzuführen. Über die bereits geltenden Verfahrensregelungen können nun auch für sonstige Rüstungsgüter außerhalb von Gemeinschaftsprojekten Allgemeingenehmigungen beantragt werden.

Rüstungsexportpolitik bleibt ein Feld der Auseinandersetzung widerstrebender Interessen. Es ist momentan offen, wie sich die Gewichtungen verschieben, wie stark etwa der Lobbyismus einer wachsenden Rüstungsindustrie ist. Denn rein nach wirtschaftlicher Logik wäre diese, aufgrund der durch das Sondervermögen für die Bundeswehr deutlich verbesserten Auftragslage, weniger auf Rüstungsexporte angewiesen, um gute Geschäfte zu machen. Ebenso offen ist, wie sehr in der öffentlichen Meinung die weitverbreitete Skepsis gegenüber Rüstungsexporten angesichts eines veränderten Diskurses über Militär und Rüstung für die Landes- und Bündnisverteidigung bestehen bleibt. Das dürfte auch dafür entscheidend sein, wie ein neues Rüstungsexportkontrollgesetz aussieht, ob es, wie im Koalitionsvertrag angekündigt, mehr Transparenz und Restriktivität rechtlich verbindlich festschreibt oder das Vorhaben der Eindämmung des Exports von Rüstungsgütern aus Deutschland in problematische Staaten misslingt.

Anmerkungen

7) Eigene Schätzung auf der Grundlage von Angaben zu Militärausgaben und internationalem Waffenhandel in entsprechenden Datenbanken
des SIPRI.

8) Die Fassungen seit 1971 sind unter anderem zu finden unter: http://ruestungsexport-info.de/ruestung-recht/politische-grundsaetze.html und
https://www.waffenexporte.org/category/gesetze-normen/politische-grundsaetze/.

9) Die Prüfungen des BICC umfassen weitere Aspekte einer restriktiven Rüstungsexportpolitik. Kurzfassungen finden sich in den jährlichen Rüstungsexportberichten der Gemeinsamen Konferenz der Kirchen für Entwicklungspolitik (GKKE).

10) In den jährlichen Exportberichten der GKKE finden sich zahlreiche Beispiele, auch bei Wisotzki 2020.

11) Dies wurde in den zahlreichen Stellungnahmen deutlich, die in mehreren Anhörungen zu diesem Vorhaben abgegeben wurden,
siehe https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Artikel/Service/Gesetzesvorhaben/erarbeitung-eines-rustungsexportkontrollgesetzes.htm.

12) Die Dokumente sind auf der Homepage des BMWK verfügbar. Weitergehende Informationen zu den Konsultationen des BMWK finden sich
unter https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Parlamentarische-Anfragen/2022/10/20-3368.pdf.

Michael Brzoska ist Senior Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und Senior Research Associate beim Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) und forscht zu ökonomischen Aspekten von Rüstung, Sicherheit, Krieg und Frieden.

Widerstehen – Kritisieren – Verändern

Wie Friedensaktivismus Rüstungsexportpolitik verändern kann

von Anna von Gall

Wenn man heute in Deutschland über die Friedensbewegung spricht, stößt man oft auf zwei gängige Vorurteile. Einerseits wird sie oft als naiv, idealistisch oder fernab der Realität abgestempelt. Andererseits weckt sie ein nostalgisches Gefühl: Man denkt an die Friedensbewegung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA und Europa entwickelte und Persönlichkeiten wie John Lennon oder Bob Dylan hervorbrachte, die mit ihrer Musik die Stimme eine ganze Generation prägten. Unter Aufrufen wie »Make Love Not War« oder »Schwerter zu Pflugscharen«, dem Slogan einer staatsunabhängigen Abrüstungsinitiative in der DDR, organisierten sich Menschen in unterschiedlichen Ländern für Frieden und gegen das konventionelle und atomare Wettrüsten des Kalten Krieges.

Doch eine aktuellere, modernere Friedensbewegung ist heute notwendiger denn je. Auch und gerade heute ist eine kritische Betrachtung der deutschen und europäischen Außen- und Sicherheitspolitik von entscheidender Bedeutung. Die deutsche Rüstungsexportpolitik verdeutlicht, wie effektiv eine aktive Friedensbewegung sein kann, und betont die Bedeutung des wachsamen Blicks der Zivilgesellschaft in Zeiten von Polykrisen und wachsenden Militärausgaben. Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Schwerpunkte der deutschen Sicherheitspolitik in einer Weise verlagert, dass Sicherheit – in einem umfassenden Begriff definiert – dadurch nicht gesteigert, sondern geschwächt wird. Die Rüstungsausgaben steigen global, immer mehr Bereiche des Alltags werden versicherheitlicht (Energiewirtschaft u.a.), drängende friedenspolitische, entwicklungspolitische und menschenrechtliche Fragen geraten unter die Räder dieser Politik zunehmender globaler Konkurrenz.

Was können wir also dafür tun, um die Narrative der militärischen Sicherheit und den Rüstungsexportkomplex aufzubrechen, und warum braucht es dafür aktivistisches Engagement?

Aktionen und Widerstandsmöglichkeiten in Deutschland

Ein wichtiges Beispiel für aktuellen Aktivismus gegen die Narrative der militärischen Sicherheit ist das Engagement für eine restriktive Rüstungsexportkontrollpolitik. Deutsche Rüstungs- und Waffenexporte werden als legitimes Instrumentarium einer staatlichen Sicherheitspolitik verstanden, insbesondere zur Abschreckung, und als wichtiges Mittel zur Selbstverteidigung. Rüstungsexporten an staatliche Strukturen kann aber im Sinne eines umfassenden Sicherheitsverständnisses nicht per se eine stabilisierende Streitkräfteentwicklung sowie die Förderung von Stabilität und Sicherheit auf regionaler und globaler Ebene zugeschrieben werden. Rüstungsexporte in Länder, in denen eine konventionelle Aufrüstung zu einem militärischen Ungleichgewicht führt und sogar noch konfliktverschärfende Wirkung auf regionaler oder globaler Ebene hat (vgl. Bundesregierung 2016, S. 40, Bundesregierung 2017, S. 88), sind mit dem Konzept der menschlichen Sicherheit nicht zu vereinen. Das derzeitige Rüstungsexportregime besteht aus mehreren Regelwerken, die aber nicht verbindlich sind (→ vgl. Wisotzki; Bayer und Mutschler). Letztendlich obliegt es der Bundesregierung zu entscheiden, wann an welche Länder was geliefert wird. Aufgrund des intransparenten Entscheidungsprozesses ist nicht nachzuvollziehen, ob die Bundesregierung das in der Nationalen Sicherheitsstrategie zugrunde gelegte umfassende Sicherheitsverständnis hierfür heranziehen wird und wie diese Entscheidungen in der Vergangenheit getroffen wurden.

Der Widerstand gegen Exporte von deutschen Waffen ist in Deutschland seit den 2000er Jahren ein großer Teil des friedenspolitischen Engagements. Und das auch aus einem weiteren Grund: Deutschland gehört zu den fünf weltweit größten Waffenexporteuren der letzten zehn Jahre (→ vgl. Bayer und Mutschler; siehe auch Wezeman, Gadon und Wezeman 2023). 2011 wurde die Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« ins Leben gerufen. In dieser Kampagne engagieren sich mittlerweile über einhundert Organisationen aus dem umwelt-, friedens- und entwicklungspolitischen Bereich sowie den Kirchen gegen die bisherige, weitgehend uneingeschränkte Exportpolitik mit deutschen Waffen.

Allem Protest zum Trotz boomen deutsche Waffenexporte. Die Ursache dafür sind die zahlreichen Lücken, Schlupflöcher und Ausnahmen in den gesetzlichen Regelungen für Rüstungsexporte. Zwar gibt es diverse weitere Gesetze und Selbstverpflichtungen, die den Rüstungsexport regeln sollten, doch sind sie derart unverbindlich, dass auch Lieferungen in Krisengebiete oder in Länder, in denen Menschenrechte wenig geachtet werden, möglich sind. So ist es nicht verwunderlich, dass sehr viele Kriege und Konflikte in der Welt auch mit deutschen Waffen geführt werden (→ vgl. Grässlin).

Eine Möglichkeit hiergegen vorzugehen ist die öffentlichkeitswirksame Sichtbarmachung dieser Exporte. Dafür steht das Mittel der Strafanzeige zur Verfügung. Erst kürzlich hat Greenpeace gemeinsam mit dem Anwalt Holger Rothbauer eine Strafanzeige eingereicht: Die Firma MAN Energy Solutions (MAN ES) soll Motoren und Technologie für ein Kriegsschiff an die brutale Militärjunta in Myanmar geliefert haben. Im Vordergrund der Vorwürfe stehen sogenannte Dual-Use-Güter: Produkte oder Technologien, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke genutzt werden können. Wenn der Kunde dieser Güter das Militär ist, wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass sie militärisch verwendet werden – der Export solcher Güter ist genehmigungspflichtig. Bisher bestreitet die Firma MAN ES jedoch, dass es sich bei der Lieferung der Motoren um militärisches Material oder um Dual-Use-Güter handele.13

Auch der Konflikt um die Region Karabach kann nicht ganz ohne deutsche Rüstungsgüter gedacht werden. So konnte die aserbaidschanische Führung ihre Streitkräfte mit türkischen Drohnen des Typs Bayraktar TB2, israelischen Drohnen der Typen Harop, Orbiter und SkyStriker, Raketenartilleriesystemen aus der Türkei (TRG-300) und Belarus (Polonez), aber auch mit Daimler-Militär-LKW mit israelischen CARDOM-Mörsern ausstatten, wie Greenpeace aufdeckte.14 Der Umstand, dass solche Güter dennoch in Ländern wie Myanmar oder Aserbaidschan landen, zeigt, wie groß die Lücken in der deutschen Rüstungsexportkontrolle sind.

Bis zum brutalen Angriffskrieg auf die Ukraine sprach sich die Mehrheit der deutschen Wähler*innen gegen einen Export deutscher Rüstungsgüter in militärische Krisenregionen aus. Doch auch damals folgte die Politik diesem Willen bestenfalls halbherzig. Ein besonders prägnantes Beispiel ist der Krieg im Jemen. Bereits 2016 hatte ein breites europäisches Bündnis den Exportstopp von Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien gefordert (ENAAT 2016). Aber erst im Oktober 2018 wurde zumindest in Deutschland ein lückenhaftes Waffenexportembargo gegen Saudi-Arabien erlassen – Anlass war die öffentliche Empörung nach dem Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi durch das saudische Königshaus in der Botschaft in Istanbul.15 Gemeinschaftsprojekte, wie der Eurofighter oder auch Dual-Use-Güter, waren nicht Teil des Embargos (→ vgl. Wisotzki und Bayer und Mutschler). Andere Kriegsparteien konnten in Deutschland weiterhin problemlos ihre Waffen bestellen:

Für die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) gab es zum Beispiel kein Embargo und so konnte von der Bundesregierung der Kauf deutscher Rüstungsgüter an die VAE (2020: 50,1 Mio. €) genehmigt werden. Im Verlauf des Krieges (seit Beginn 2015) wurden insgesamt über 8 Mrd. € an Rüstungsexporten an die saudisch geführte Kriegskoalition genehmigt.

Die ablehnende Haltung der deutschen Bevölkerung zu Rüstungsexporten hielt währenddessen an. Eine Umfrage im Jahr 2021 zeigte, dass 70% aller Bundesbürger*innen der Ansicht waren, dass deutsche Waffen weder an kriegführende Staaten, Krisengebiete oder in Länder außerhalb der EU geliefert werden sollten.16 Als Reaktion darauf – und als eine weitere Protest- und Widerstandsmöglichkeit – hat Greenpeace einen Gesetzesentwurf17 vorgelegt, der Rüstungsexporte aus Deutschland in Drittländer vollständig verbieten soll und Technologietransfer, Unternehmensbeteiligungen und Lizenzvergaben von Rüstungsgütern an Drittländer ausschließt. Ausgenommen waren lediglich Staaten, die von einem Angriffskrieg betroffen sind. Rüstungsexporte würden dabei auf Exporte in solche Staaten reduziert werden, die nicht in völkerrechtswidrige Kriege involviert sind, die stabile Demokratien und Rechtsstaaten sind und die die Menschenrechte achten und wahren. Diese Staaten würden auf eine vom Bundestag verabschiedete Liste aufgenommen werden, die dann EU-Staaten sowie EU-gleichgestellte Staaten umfassen würde. Diese Liste würde Klarheit schaffen: Für alle Staaten, die sich aus Deutschland mit Rüstungsgütern und Kriegsmaterial beliefern lassen wollen, sowie für die Industrie, die zweifelsfrei wüsste, welche Staaten nicht belieferbar wären. Und für die aktuelle und kommende Bundesregierungen, die gar nicht erst der Versuchung ausgesetzt wären, kurzfristige Zweckmäßigkeit über langfristig denkende und verantwortungsvolle Außen- und Sicherheitspolitik zu stellen. Darüber hinaus fordert Greenpeace eine starke Berichtspflicht über die Rüstungsexportpraxis der Bundesregierung. Dabei sollte die Bundesregierung insbesondere dokumentieren, wenn sie Exportgenehmigungen aufgrund von rassistischen, religiösen, kulturellen oder geschlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzungen versagt.

Interventionistischer Widerstand

Nicht zuletzt die Skrupellosigkeit der Konzernführung rund um Rheinmetall-Chef Armin Pappberger führte zur Gründung der Protestgruppen rund um die Aktivist*innen von »Rheinmetall Entwaffnen«. Von einem jährlichen Protestcamp neben dem Fabrikgelände im niedersächsischen Unterlüss bis zu Blockadeaktionen bei Werken in Kassel skandalisierte die antimilitaristische Gruppe in kreativen Protestformen das Treiben des deutschen Rüstungskonzerns. Im September 2019 protestierten ebenso Greenpeace Aktivist*innen an der Fassade der Zentrale des Rüstungskonzerns in Düsseldorf. Mit der Aktion richtete sich die Friedens- und Umweltschutzorganisation auch direkt an die Exportpraxis der Bundesregierung, die jedem Rüstungsexport zustimmen muss.

Auch der Tag der Aktionärs-Hauptversammlung der Rheinmetall AG hat sich in den letzten Jahren zunehmend zum Ort öffentlichen Protests mit neuer Dynamik entwickelt (siehe ORL 2022). Aktivist*innen der Kritischen Aktionär*innen stürmten in den Jahren immer wieder die Bühne der Aktionärsversammlung und konfrontierten die Verantwortlichen – was zur zwischenzeitlichen Unterbrechung der Veranstaltung führte – oder demonstrierten vor der Lobbyzentrale von Rheinmetall in Berlin (wie hier auf einer Aktion von Greenpeace-Aktivist*innen, siehe Greenpeace 2021).

Auch international nahmen gerade im Fall der Jemen-Kriegs-Koalition die Proteste zu. Greenpeace-Aktivist*innen blockierten im spanischen Balboa einen Frachter der illegal Waffen exportieren sollte (Greenpeace Espana 2018), während in anderen Häfen (Antwerpen, Genua, Marseille) gewerkschaftlich organisierte Arbeiter*innen das Be- und Entladen von Frachtschiffen mit Rüstungsgütern verhinderten.

Gemeinsam mit anderen Akteur*innen konnte Greenpeace Deutschland mit »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« und »urgewald« während der Koalitionsverhandlungen der Ampelregierung im Jahr 2021 derart großen Druck aufbauen, dass diese in ihrem Koalitionsvertrag die Verabschiedung eines Rüstungsexportkon-trollgesetzes vereinbart hat (vgl. Winkler 2022). Neben zahlreichen Protesten vor den Orten der Koalitionsverhandlungen, hatten im Oktober 2021 43 Organisationen einen Appell für ein Rüstungsexportkontrollgesetz und für die Fortsetzung des Embargos gegen die Jemen-Koalition an SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP unterzeichnet.18

Auch Studien können helfen, entsprechenden Widerstand auszudrücken: So konnte gezeigt werden, dass es Rüstungsexporte in Drittländer weder zum Überleben der Rüstungsindustrie noch für eine nachhaltige Sicherheitspolitik braucht (vgl. Zschoche 2021). Damit konnten die gängigsten Argumente der Rüstungslobby für Exporte in Drittländer entkräftet werden – und nebenbei einer faktenorientierten Debatte geholfen werden.

Nicht zuletzt auf internationaler Ebene konnte zivilgesellschaftlicher Druck Erfolge verzeichnen: So gelang es »controlarms«, einer Initiative von über 300 Nichtregierungsorganisationen, auf die Verabschiedung des »Arms Trade Treaty« (ATT) hinzuwirken – den ersten internationalen Vertrag über den internationalen Waffenhandel. Mit der »One Million Faces«-Kampagne übergaben sie 2006 eine Petition an den damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan, für die sich über eine Millionen Menschen aus 160 Ländern hatten fotografieren lassen. Auch hier wurde ein weiterer Meilenstein erreicht: Geschlechtsspezifische Gewalt wird im Vertragswerk zum ersten Mal als Ausschlussgrund für Waffenexporte festgeschrieben. Der ATT trat 2013 in Kraft und wurde bisher von 113 Staaten ratifiziert.

Ausblick: Wohin mit dem Protest

Derzeit gibt es global eine Vielzahl von Auseinandersetzungen und Konflikten, die auf den ersten Blick ausschließlich militärisch zu lösen sind. Die Annahme, dass sie eine weitere Aufrüstung erfordern, ist folglich nicht überraschend. Doch wird dabei oftmals vergessen, dass sich die Welt in einer Epoche von Polykrisen befindet und nachhaltiger Frieden notwendiger ist denn je. Der fehlende Zugang zu essentiellen Infrastrukturen und Versorgungssystemen, wie Trinkwasser- und Energieversorgung, zu Bildung und einem Gesundheitssystem oder einem funktionierenden Rechtsstaat, hat massive Auswirkungen auf die Menschen. Ein derartig mangelhafter Zugang nimmt ihnen jegliches Gefühl von Sicherheit und Vertrauen und erodiert somit die Basis für einen nachhaltigen Frieden.

Die nachhaltige Friedensbewegung von heute umfasst Menschen, die mit allen Mitteln ihre Demokratie, diesen Planeten und Menschenrechte verteidigen. Sie verstehen, dass wir diese Welt nicht primär mit Waffen sicherer machen können. Das zivilgesellschaftliche Engagement für eine effektive Rüstungsexportkontrolle – durch Gesetzesinitiativen, Lobbyismus, durch die Schaffung von Kontrollverträgen, Skandalisierung und durch Strafanzeigen – hat gezeigt, wie viel mit Aktivismus erreicht werden kann. Nur mit vereinten Kräften und gemeinsamem Engagement für mehr soziale Gerechtigkeit können wir den vielen Krisen gleichzeitig trotzen. Dafür bedarf es auch weiterhin der Proteste und des Widerstands gegen Waffenexporte und der dauerhaften kritischen Begleitung der Versuche, Exportkontrollmaßnahmen zu verwässern und gleichzeitig immer weiterer Bereiche unseres Lebens zu versicherheitlichen.

Anmerkungen

13) Mehr zum Fall findet sich auf der Homepage von Greenpeace Deutschland: https://www.greenpeace.de/frieden/deutsche-firma-liefert-technik-
kriegsschiff-myanmar.

14) Mehr zu diesem Fall bei Greenpeace Deutschland: https://www.greenpeace.de/ueber-uns/leitbild/exporte-embargo.

15) Dies bildet auch den Willen der deutschen Bevölkerung ab. So gaben 2019 in einer repräsentativen Umfrage im Auftrag von Greenpeace 81%
der Bundesbürger*innen an, gegen Waffenexporte von Deutschland an alle am Jemen-Krieg beteiligten Länder zu sein. Auch 74% der Unionswähler*
innen sowie 82% der SPD-Wähler*innen unter den Befragten waren dagegen.

16) Zu dieser Umfrage siehe: https://www.greenpeace.de/frieden/regeln-ruestungsexporte.

17) Dieser Gesetzentwurf findet sich hier: https://www.greenpeace.de/frieden/regeln-ruestungsexporte.

18) Der offene Brief ist unter anderem dokumentiert bei der Aktion gegen den Hunger, https://www.aktiongegendenhunger.de/presse/40-organisationen-fordern-ruestungsexportstopp-jemen-kriegsparteien.

Anna von Gall ist Campaignerin bei Greenpeace Deutschland und leitet das europäische Projekt »Climate for Peace«. Sie ist Volljuristin und hat über zehn Jahre an (juristischen) Strategien gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen und an der Überwindung tief verwurzelter Geschlechterungleichheiten gearbeitet. Seit September 2019 arbeitet Anna bei Greenpeace zu den Themen Frieden und Waffenexporte, feministische Außenpolitik und menschliche Sicherheit.

Literatur

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Das Problem mit der KI. Oder: Warum Rüstung mitunter schwer greifbar ist | Seite 11

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Weltraum zwischen Konflikt und Kooperation

Weltraum zwischen Konflikt und Kooperation

von Jürgen Scheffran, Götz Neuneck, Dieter Engels, Regina Hagen, Arne Sönnichsen und Maximilian Bertamini

Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden e.V. (IWIF)

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 4/2022

Geopolitik oder Gemeinsame Sicherheit im Weltraum?

von Jürgen Scheffran

Im März 2022 warnte der Chef der russischen Raumfahrtbehörde Ros­kosmos, Dmitri Rogosin, die 500 Tonnen schwere Internationale Raumstation (ISS) drohe abzustürzen. Er begründete dies mit den gegen Russland wegen des Angriffs auf die Ukraine verhängten westlichen Sanktionen. Diese träfen auch die russische Raumfahrtindustrie, würden die Versorgung und Steuerung der ISS beeinträchtigen und das Risiko für mehr Weltraumschrott erhöhen. Während Rogosin eine Abkopplung und mögliche militärische Nutzung des russischen Moduls ins Spiel brachte, kündigte sein Nachfolger Juri Borissow im Juli 2022 gleich ganz den Ausstieg aus der ISS nach 2024 und den Bau einer eigenen Raumstation an (SPIEGEL 2022). Dies würde das Ende der ISS als gemeinsames Projekt Russlands mit westlichen Staaten besiegeln und eine jahrzehntelange zivile Zusammenarbeit im Weltraum beenden. Das erste Raumfahrt-Kooperationsprojekt zwischen den USA und der UdSSR, die Apollo-Sojus-Mission 1975, symbolisierte damals Entspannung und friedliche Zusammenarbeit im Weltraum. Diese Zeiten scheinen vorbei zu sein.

Dual-Use oder Dominanz des Militärischen?

Seit den Anfängen der Raumfahrt sind zivile und militärische Technologien und Infrastrukturen der Raumfahrt eng verflochten (Scheffran 1993). Die deutsche Raketenentwicklung in den 1930er Jahren erfolgte mit militärischer Unterstützung. Sie wurde während des Zweiten Weltkriegs zu einer Triebkraft für die Entwicklung der V2-Rakete in Nazi-Deutschland, die bei der Produktion im Konzentrationslager und beim Einsatz gegen europäische Städte tausende Menschen das Leben kostete. In den 1950er Jahren des Kalten Krieges dominierte – trotz öffentlich erklärter friedlicher Absichten – eine militärische Dimension des Rennens um den Weltraum. Das Janusgesicht der Raumfahrt wurde zum Synonym für technologischen Fortschritt und militärische Überlegenheit, was sich in Innovationen wie der präzisionsgelenkten Interkontinentalrakete, Aufklärungssatelliten und Mikroelektronik niederschlug. Neben der grundsätzlichen Faszination des Weltraums und den damit verbundenen wirtschaftlichen Interessen erklärt doch am ehesten die ambivalente Beziehung zwischen Weltraum und Militär die enormen Summen für Weltraumprojekte und den Stellenwert, der diesem Raum in den internationalen Beziehungen zugemessen wird.

Zwischen 1957 und dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989 brachten die Supermächte mehr als 3.000 Objekte ins All, von denen etwa drei Viertel militärischen Zwecken dienten. Die militärische Nutzung des Weltraums wurde von Satelliten für Aufklärung, Frühwarnung, Wetterbeobachtung, Kommunikation und Navigation dominiert, die die Kriegsführung auf der Erde unterstützen sollten und auch zur Stabilität beitragen konnten, indem sie Transparenz schafften (Schrogl et al. 2015; Neuneck und Rothkirch 2006; Weeden 2019).

Konfrontation und Entspannung im Kalten Krieg

Bis in die 1960er Jahre stand der Weltraum weiter im Zeichen von Machtkämpfen um die militärisch-technologische Vorherrschaft im All. Hatte zunächst die Sow­jetunion mit dem Start des Sputnik-Satelliten 1957 und dem ersten Menschen im All (1961) die Nase vorn, mobilisierten die USA enorme Ressourcen für die zivile Raumfahrt, angespornt durch die Rede von US-Präsident John F. Kennedy am 12. September 1962 (kurz vor der Kuba-Krise), in der er die Nation auf die Mondlandung einschwor. Mit sechs Apollo-Mondfähren zwischen 1969 und 1972 erlangten die USA zwar einen Vorsprung, doch erlahmte danach zunächst das Inte­resse an teuren Raumfahrtprojekten, zumal ihr Nutzen für die Menschheit fraglich war. Erst in jüngster Zeit kehrte das Interesse an Reisen zu Mond oder Mars wieder auf die Agenda zurück.

Nach der Entspannung der 1970er Jahre und der damit verbundenen Abkommen (Weltraumvertrag 1967, SALT-Abkommen und ABM-Vertrag zur Begrenzung der Raketenabwehr 1972) begann in den 1980er Jahren eine weitere Phase von Systemkonkurrenz und Konfrontation, die erneut den Weltraum erfasste und das Risiko eines Atomkriegs barg. In der sogenannten »Star-Wars«-Rede vom 23. März 1983 kündigte US-Präsident Ronald Reagan an, Atomwaffen durch einen Raketenschild im Weltraum unwirksam und obsolet machen zu wollen (Engels et al. 1984). Während viele Wissenschafler*innen die Machbarkeit bezweifelten, wurde die »Strategic Defense Initiative« (SDI) dennoch an den Start gebracht, und erreichte erwartungsgemäß dieses Ziel nicht. Milliardenschwere Ausgaben verstärkten die Weltraumrüstung, von kinetischen Antisatellitenwaffen (ASAT) bis zu La­serwaffen zur Raketenabwehr (siehe den Beitrag von Neuneck in diesem Dossier, S. 6). Nachdem der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow 1985 an die Macht gekommen war, verhandelten beide Supermächte über eine Beendigung des Wettrüstens auf der Erde und im Weltraum, und vereinbarten mit den INF- und START-Verträgen nukleare Abrüstungsschritte. Beide Seiten hielten sich lange an ein von Moskau vorgeschlagenes Moratorium für ASAT-Tests, bis die USA 2008 wieder testeten. Die erneute Entspannung und der Zusammenbruch der Sowjetunion schufen die Voraussetzungen für die Beendigung des Ost-West-Konflikts.

Nach dem Kalten Krieg

In den 1990er Jahren verlagerte sich die Aufrüstung und Nutzung des Weltraums auf Dual-use Projekte, um zivil-militärische Synergien zu nutzen (Liebert et al. 1994). Dies bedeutete aber keineswegs eine geringere militärische Nutzung des Weltraums: Bereits der Golfkrieg 1990/1991, von manchen als erster Weltraumkrieg bezeichnet, stellte dies unter Beweis, da Satelliten intensiv genutzt wurden und die Patriot-Abwehrrakete zum Einsatz kam. Gleichwohl versagten viele dieser High-Tech-Waffen (einschließlich Patriot). Entsprechendes gilt für die folgenden Militärinterventionen (Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Ukraine), mit immensen Schäden.

Mit dem schon 1985 von Reagan gegründeten »Space Command« verstärkten die USA dann nach den Anschlägen vom 11. September 2001 unter Präsident George W. Bush und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld erneut ihre klar militärisch geprägten Dominanzbestrebungen, vorgeblich um ein imaginäres »Pearl Harbor im Weltraum« durch Angriffe von »Schurkenstaaten« und »Terroristen« abzuwehren (INESAP 2002). 2002 kündigte Präsident Bush dann den ABM-Vertrag, um ungestört Raketenabwehr und Weltraumrüstung entwickeln zu können. Ähnliche Schritte der militärischen Expansion im Weltraum erfolgten unter Präsident Donald Trump, der 2019 eine eigene »Space Force« in der US-Armee etablierte und die Weltraumbudgets der entsprechenden Behörden erhöhte.

Doch die Vorherrschaft der USA im Weltraum ist nicht mehr unangefochten. Weitere Akteure haben mittlerweile Zugang zu Trägerraketen und Satelliten, was einerseits die militärische Nutzung vorantreibt und andererseits das Akteursgefüge zunehmend verkompliziert. Trotz einer Krise der russischen Raumfahrt und wachsender Konkurrenz im Weltraumtransport, verfügt Russland nach wie vor über beträchtliche technische und militärische Fähigkeiten im Weltraum, die auch modernisiert werden. Die Ambitionen dokumentierte der russische ASAT-Test vom 15.11.2021, der zahlreiche orbitale Trümmerteile hinterließ (Bugos 2021).

In Europa ist neben den industriellen, technologischen und wissenschaftlichen Kompetenzen sowie dem öffentlichen Interesse an der bemannten Raumfahrt auch eine zunehmende Aufmerksamkeit für militärische Fähigkeiten der Aufklärung, Navigation und Kommunikation zu beobachten, unter Ausnutzung von Dual-use fähigen Projekten (siehe den Beitrag von Hagen in diesem Dossier, S. 14). Dazu gehört die Einrichtung von militärischen Weltraumkommandos in einigen Staaten, wie in Frankreich und Deutschland. Ähnliche Entwicklungen sind in Japan zu beobachten (Yoshitomi 2019).

New Space Race: Globaler Süden und Kommerzialisierung

Die Dual-Use-Strategie im Weltraum spielt auch im Globalen Süden eine Rolle. Weltraumkooperation und Technologietransfer schufen Voraussetzungen für die Entwicklung und Produktion von ballistischen Raketen und Satelliten. Dies wurde deutlich, als der Irak im Golfkrieg Raketen einsetzte, die auch über Dual-Use-Technologieexporte entwickelt, getestet und produziert wurden (Scheffran 1991). Hier zeigten sich Abgrenzungsprobleme bei der Umsetzung von Abkommen wie dem Trägertechnologie-Kontrollregime (»Missile Technology Control Regime«, MTCR) von 1987, das die Verbreitung von Raketentechnologie durch Lieferländer einschränken sollte.

Die Volksrepublik China hat wie die Supermächte auch ballistische Raketen als Grundlage für Weltraumraketen verwendet. Seit 1970 verfügt China über eine wachsende Zahl von Satelliten und verfolgt Programme zur Abwehr von Raketen und Satelliten. Dies zeigte 2007 der erste chinesische ASAT-Test, der ebenfalls Tausende von Fragmenten in der Umlaufbahn hinterließ. Israel verfügt ebenso über leistungsstarke Trägerraketen und seit 1988 auch über Satelliten für Aufklärungs- und andere Zwecke. Auch Indien gehört zu den führenden Raumfahrtnationen, mit Trägerraketen, Satelliten und einem ASAT-Versuch 2019. Ebenso zum »Weltraum-Club« dazu gehören wollen die Atommacht Nordkorea und Iran, der im April 2020 erstmals einen Militärsatelliten in eine Umlaufbahn brachte.

Immer mehr Akteure drängen in den Weltraum, Rivalitäten nehmen zu, besonders zwischen den USA und der VR China (vgl. den Beitrag von Engels, S. 10). Weltweit investierten 2014 insgesamt 58 Länder jeweils mehr als 10 Mio. US$ in die Raumfahrt, 20 Staaten mehr als noch 2005 (Jetzke und Weide 2017). Gründe für das neue Weltraumrennen (»New Space Race«) sind die fallenden Kosten für Starts, die Wiederverwendbarkeit von Trägerraketen, die Serienproduktion von Kleinsatelliten und Effizienzsteigerungen im privaten Sektor.

Ende 2021 befanden sich nahezu 5.000 Satelliten in der Erdumlaufbahn, davon etwa 3.000 aus den USA, 500 aus China und rund 170 aus Russland (Statista 2021). Das Raumfahrtbudget der US-Regierung lag 2018 bei knapp 20 Mrd. US$, gefolgt von den Budgets Chinas, Europas und Russlands. Während die Raumfahrt früher fast ausschließlich von Staaten finanziert und von wenigen etablierten Unternehmen durchgeführt wurde, wird sie mit zunehmender Kommerzialisierung von privaten Akteuren geprägt, bis hin zum Weltraumtourismus (vgl. den zweiten Beitrag von Sönnichsen in diesem Dossier, S. 21). Zwischen 2005 und 2017 wuchs der Weltmarkt für raumfahrtbezogene Geschäfte mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 6,7 % pro Jahr. Die Raumfahrtindustrie erwirtschaftete 2005 einen Umsatz von rund 175 Mrd. US$, der sich bis 2040 verzehnfachen könnte (Kind et al. 2020).

Ukrainekrieg: Brennglas der Geopolitik im Weltraum-Zeitalter

Mit zunehmenden Investitionen wachsen auch die Sicherheitsambitionen im Weltraum, einem Schauplatz geopolitischer Rivalität, der zunehmend „komplexer, fragiler und letztendlich konfliktiver“ wird und gekennzeichnet ist durch Internationalisierung, Kommerzialisierung, Verdichtung und ungenügende Reglementierung (Rotter 2022, S. 18).

Der Ukrainekrieg und die anvisierte sicherheitspolitische Zeitenwende beeinflussen auch die Weltraumsicherheit und die zivile Zusammenarbeit. Seit russische Sojus-Starts vom Raumfahrtzentrum Guayana eingestellt wurden, was auch europäische kommerzielle Satelliten betrifft, braucht die ESA dringend eine alternative Trägerrakete. Direkt vom Krieg betroffen ist die Produktion von Triebwerken der europäischen Vega-Trägerrakete in der Ukraine. Die europäische Weltraumbehörde ESA stellte zudem die Zusammenarbeit mit den kommenden russischen Missionen ein, darunter das deutsch-russische Weltraumteleskop eROSITA und die Mars-Sonde ExoMars.

Im Ukrainekrieg wird der Weltraum von allen Beteiligten militärisch instrumentalisiert, für Aufklärung, Lageeinschätzung, Kommunikation und Navigation. Der Cyberangriff auf einen kommerziellen Satelliten des US-Unternehmens ViaSat zu Kriegsbeginn hatte Auswirkungen auf das Militär in der Ukraine und beeinträchtigte die Terminals ziviler Kunden in ganz Europa, darunter Tausende von Windkraftanlagen in Deutschland (ESPI 2022). Damit rückte die Verwundbarkeit und der Schutz der Weltrauminfrastruktur ins Rampenlicht.

Als Reaktion auf diese oben genannten Herausforderungen zielt der neue »Strategische Kompass für Sicherheit und Verteidigung« (EU 2022) darauf, das »geopolitische Erwachen« in eine dauerhaftere Strategie umzusetzen. Angestrebt wird, neue Mittel, Fähigkeiten und Technologien zu entwickeln, auch für den Schutz und die Resilienz der europäischen Weltraumressourcen in Krisenzeiten. Hierzu gehört die für 2023 angekündigte »Europäische Weltraumstrategie für Sicherheit und Verteidigung«. Vorgeschlagen werden Maßnahmen für Risikoeinschätzung und Krisenmanagement, Überwachung und Vernetzung im Weltraum, der Schutz kritischer Weltraum-Infrastrukturen, -Technologien und -Versorgungsketten, Dual-use-Innovationen und ein autonomer Zugang zum Weltraum (siehe weiter bei Hagen, S. 14). Damit verbunden sind verschiedene Rüstungsprogramme, da­runter auch ein Raketenabwehrsystem für Europa.

Weltraumrecht und Rüstungskontrolle

Die Rivalitäten zwischen den Großmächten und die Verschlechterung der internationalen Beziehungen wirken sich auf die künftige Zusammenarbeit im Weltraum ebenso aus wie auf multilaterale Verhandlungen und Abkommen des Völkerrechts. Entgegen der faktischen militärischen Nutzung hat die internationale Gemeinschaft den starken Wunsch zum Ausdruck gebracht, den Weltraum für Zusammenarbeit und friedliche Zwecke zu erhalten. Als Verhandlungsforen dienen der UN-Sonderausschuss für die friedliche Nutzung des Weltraums (COPUOS) und die Genfer Abrüstungskonferenz (CD) zur militärischen Weltraumnutzung.

Die Entwicklung des Weltraumrechts hat mit den raschen und komplexen Herausforderungen im Weltraum nicht Schritt gehalten (vgl. die entsprechenden Beiträge von Sönnichsen, S. 17 und Bertamini, S. 25). Hier sind neue Regelungen erforderlich, die über den Weltraumvertrag von 1967 hinausgehen und Risiken vermeiden, Investitionen erleichtern, Rechtssicherheit schaffen und nicht zuletzt Sicherheit und Frieden im Weltraum ermöglichen. Resolutionen der VN-Generalversammlung zur »Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum« (PAROS) konnten bislang auch noch nicht in konkrete Schritte umgesetzt werden. Durch passiven und aktiven Schutz und Verkehrsregeln im Weltraum könnten Risiken reduziert und die Überlebensfähigkeit von Weltraumobjekten verbessert werden. Bis zu einem gewissen Grad könnten auch andere vertrauensbildende Maßnahmen (VBM) zur Vermeidung von Unfällen und Missverständnissen mit zur Stabilisierung beitragen.

Da es bislang noch keine wirksamen Weltraumwaffen gibt, kann eine destabilisierende Bewaffnung und ein Wettrüsten im Weltraum durch präventive Rüstungskontrolle und Abrüstung noch verhindert werden (Hagen und Scheffran 2005). Seit den 1970er Jahren gab es Initiativen gegen die Bewaffnung des Weltraums, darunter Vorschläge Frankreichs, der Sowjetunion und der »Union of Concerned Scientists«. Deutsche Wissenschaftler legten 1984 auf einer Konferenz in Göttingen einen »Vertragsentwurf über die Begrenzung der militärischen Nutzung des Weltraums« vor, der seinerzeit Gegenstand einer Bundestagsdebatte war (Fischer et al. 1984; Scheffran 2021). Ergänzend könnten ein Testverbot für ASAT-Waffen und/oder ballistische Raketen vereinbart werden.

In den letzten zehn Jahren wurden erneut verschiedene diplomatische Initiativen ergriffen, um einem Wettrüsten im Weltraum zu begegnen: ein Verhaltenskodex der EU für den Weltraum, Vorschläge Kanadas zur Nichtbewaffnung des Weltraums, ein gemeinsamer Vertragsentwurf Russlands und Chinas gegen Weltraumwaffen (siehe auch der erste Beitrag von Sönnichsen in diesem Dossier, S. 17). Die USA blockierten bislang entsprechende Verhandlungen grundsätzlich. Erst 2022 unter Präsident Joe Biden signalisierten sie die Bereitschaft zur Kontrolle von ASAT-Waffen.

Die Wirksamkeit eines Weltraumabkommens hängt von politischen Anforderungen und technischen Fähigkeiten der Verifikation ab, um die vereinbarten Regeln zu überprüfen und Vertragsverstöße rechtzeitig zu entdecken. Verschiedene Mittel können zu diesem Zweck genutzt werden (Scheffran 1986): Fernerkundung in verschiedenen Spektralbereichen; Bahnverfolgung; Sensoren vor Ort/an Bord; kooperative und institutionelle Verfahren (Informationsaustausch; Inspektion; VBM; eine internationale Agentur; Konsultationen). Einige dieser Mittel sind leicht verfügbar, andere wiederum erfordern Forschung und internationale Zusammenarbeit.

Gemeinsame Sicherheit im Weltraum

Die Chancen der Weltraumrüstungskontrolle hängen von den sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen ab. In einem feindseligen Umfeld ist Rüstungskontrolle notwendiger, wenn auch schwieriger, während in einem kooperativen Umfeld die Anforderungen an Rüstungskontrolle oft geringer sind. Die derzeitige geopolitische Landschaft mit multiplen Krisen, Feindseligkeiten und Instabilitäten steht im Widerspruch zu einer gelingenden internationalen Zusammenarbeit im Weltraum und einer dafür notwendigen breiten Unterstützung von VN-Resolutionen für eine friedliche Weltraumnutzung. Um ein neues Sicherheitsumfeld zu schaffen, müssen Spannungen und Anreize für eine Bewaffnung des Weltraums abgebaut werden, unterstützt durch Maßnahmen zur Risikominderung, Überwachung und Vertrauensbildung. Beim Übergang zu einem globalen Weltraum-Sicherheitsregime spielt die regionale Sicherheitsdynamik und -zusammenarbeit eine Rolle, als Antrieb und als Hindernis. Ohne ein stärkeres diplomatisches Engagement, kooperative Initiativen und ein neues Denken, wie es der kürzlich verstorben Michail Gorbatschow einst forderte, können daher Bedrohungswahrnehmungen und Sicherheitsdilemmata im Weltraum schnell übermächtig werden.

Nach Wolter (2006, S. 5) umfasst das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit im Weltraum „das Verbot aktiver militärischer Nutzungen mit zerstörerischem Charakter im gemeinsamen Raum; ein umfassendes Paket vertrauensbildender Maßnahmen mit multilateralen Satellitenüberwachungs- und -verifikationssystemen sowie ein Schutzregime für friedliche Weltraumobjekte auf der Grundlage von Immunitätsregeln für Satelliten, wie z.B. ‘Verkehrsregeln’ und ein ‘Verhaltenskodex’.“ Gemeinsame Sicherheit sucht also die gegenseitigen Interessen im Weltraum zu wahren und gemeinsame Partnerschaften für regionale Sicherheit, Rüstungskontrolle und Abrüstung anzustreben (ITUC et al. 2022). Hierzu gehört eine sichere und nachhaltige Nutzung des Weltraums, die die Integrität von Weltraumaktivitäten gegen Bedrohungen und Naturrisiken sicherstellt.

Umwelt, Zivilgesellschaft und nachhaltiger Frieden

Der Weltraum ist ein Gemeinschaftsgut, das zur Umwelt der Erde gehört und im Sinne erweiterter Sicherheit vor Aktivitäten zu schützen ist, die sie ausbeuten und zerstören (vgl. der Beitrag von Bertamini in diesem Dossier, S. 25). Krieg im All belastet diese Umwelt und seine Ressourcen. Raumfahrtaktivität schafft negative Nebenwirkungen für die Umwelt, u.a. Weltraummüll, Lichtverschmutzung, Unfallrisiken bei Start und Wiederkehr, Emission von CO2 und anderen Schadstoffen durch Raketenstarts und die dafür notwendige Infrastruktur. In Deutschland wurden ökologische Probleme der Raumfahrt schon seit 1988 untersucht (Wengeler 1993).

Richtig eingesetzt, kann die Raumfahrttechnologie zur Entwicklung der Menschheit und zur Bewahrung der Bio­sphäre beitragen. Für eine friedliche und nachhaltige Weltraumnutzung hatte ich acht Kriterien vorgeschlagen, die auch die sozialen und politischen Kräfteverhältnisse berücksichtigen (Scheffran 2001, siehe Kasten oben links). Neben der Erforschung und Nutzung des Weltraums richtet sich der Blick auf die Kommunikation und die Beobachtung der Erde über Satelliten in wichtigen Bereichen wie Landwirtschaft und Fischerei, Umweltüberwachung und Wettervorhersage, Geologie und Rohstofferkundung, Kartografie und Stadtplanung. So lassen sich wichtige Erkenntnisse über die Auswirkungen des Menschen auf die Umwelt gewinnen, für die nachhaltige Lösung globaler Probleme wie Klimawandel, Arten­sterben, Meeresforschung, Seenotrettung, Katastrophenmanagement und die Überprüfung internationaler Verträge. Satelliten liefern auch Erkenntnisse und Abwehrmöglicheiten gegen Gefahren aus dem All, etwa durch Zusammenstöße mit Asteroiden, wie zuletzt die Dart-Mission am 26.9.2022 zeigte.

Acht Kriterien für eine friedliche und nachhaltige Weltraumnutzung (nach Scheffran 2001):

1. Schwere Katastrophen vermeiden.

2. Militärische Nutzung des Weltraums begrenzen.

3. Risiken für menschliche Gesundheit und Umwelt minimieren.

4. Probleme und menschliche Bedürfnisse nachhaltig lösen.

5. Qualität, Effizienz und Zuverlässigkeit der Technologien sichern.

6. Technische Alternativen mit dem besten Nutzen-Kosten-Verhältnis entwickeln.

7. Sozialverträglichkeit gewährleisten und Zusammenarbeit stärken.

8. Projekte in öffentlichen Debatten unter Beteiligung der Betroffenen rechtfertigen.

In den Machtkämpfen des Raumfahrtzeitalters spielte die Zivilgesellschaft nur eine untergeordnete Rolle. Wie der Göttinger Vertragsentwurf und andere Initiativen zeigen, können Wissenschaft und Gesellschaft sich jedoch effektiv an Fragen der Weltraumsicherheit und Rüstungskontrolle beteiligen und die Sackgasse bei den Verhandlungen im Rahmen einer Weltraumdiplomatie überwinden helfen (Scheffran 2021). Um das öffentliche Bewusstsein und die Demokratisierung des Weltraums zu schärfen, ist ein öffentlicher Diskurs über die zugrundeliegenden Probleme und möglichen Lösungen erforderlich, der auf Offenheit, Transparenz, Fairness und gegenseitigem Respekt beruht. Initiativen (wie das »SichTRaum«-Netzwerk oder das »Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement«) können den Informationsaustausch und demokratischen Prozess zwischen Zivilgesellschaft, Medien und staatlichen Einrichtungen fördern und Unsicherheiten verringern helfen. Hierzu gehört die Entwicklung handlungsleitender Kriterien für die zukünftige Raumfahrtentwicklung, im Sinne nachhaltiger Entwicklung und einer friedlichen Nutzung des Weltraums.

Literatur

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Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.

Ein neues Wettrüsten im Weltraum?

von Götz Neuneck

Vor dem Hintergrund der sich entwickelnden Machtrivalitäten zwischen den USA, Russland und China verschärft sich auch der Wettbewerb im und um den Weltraum, erst recht nach Beginn des Ukraine-Krieges. In einigen Technologiefeldern, insbesondere solchen mit militärischem Hintergrund, ist ein Wettrüsten zu beobachten. Ein Wettrüsten ist ein militärischer Wettbewerb zwischen zwei oder mehreren Staaten, um überlegene Streitkräfte aufzustellen, die über qualitative oder quantitative Vorteile verfügen. Allein die Vermutung, dass der potenzielle Gegner in Schlüsseltechnologien investiert, reicht z.B. für enorme Investitionen in militärisch relevante Raumfahrtprogramme wie Raketenabwehr, Laser oder Künstliche Intelligenz. Die führenden Weltraummächte beschuldigen sich auch gegenseitig, den Weltraum zu bewaffnen bzw. Angriffe gegeneinander durchzuführen, während sie Anti-Satelliten-Fähigkeiten testen (Trevithick 2021). Etwa 20 bis 25 % aller Satelliten werden heute direkt für militärische Zwecke genutzt, d.h. für Aufklärung, Frühwarnung, Kommunikation, Raketennavigation usw. Sie sind von zentraler Bedeutung für die Koordinierung globaler Militäroperationen und für den Einsatz von Waffen (Drohnen, Marschflugkörper), aber auch für die Aufrechterhaltung von Aufklärung und Frühwarnung. Ein Angriff auf Frühwarnsysteme hätte unabsehbare Konsequenzen im Krisenfall.

Mehr nationale Sicherheit im Weltraum und der Schutz kritischer Infrastrukturen sind das Gebot der Stunde für die führenden Weltraummächte (Harrison et al. 2018 und 2022). Die Einrichtung von Weltraumstreitkräften in Russland, China und den USA, die verstärkte russisch-chinesische Zusammenarbeit und die Erprobung von »Counter-Space«-Aktivitäten durch die drei führenden Weltraummächte sind Belege für die Vorbereitung einer heimlichen Bewaffnung des Weltraums, die im Kriegsfall eingesetzt werden oder sogar einen Krieg auslösen kann.

Die militärische Nutzung des Weltraums

Während des Kalten Krieges war die mili­tärische Nutzung des Weltraums eine der wichtigsten Triebfedern der Weltraumprogramme der Supermächte. Viele Entwicklungen, z.B. in den Bereichen Trägerraketen, Erdbeobachtung und Satellitentechnologie, verdeutlichen den doppelten Verwendungszweck der Raumfahrttechnologie, da ihre Operationen sowohl für militärische als auch für kommerzielle oder friedliche Zwecke genutzt werden können (vgl. auch den Beitrag von Hagen in diesem Dossier, S. 14). Wie William Burrows in seiner bahnbrechenden »Geschichte des ersten Weltraumzeitalters« formulierte: „Doch der Weltraum konnte nur durch Raketen erreicht werden, und die Schande daran war, dass Raketen immer wieder ausdrücklich dafür konzipiert wurden, beispiellose Zerstörung anzurichten und eine große Zahl genau der Menschen zu töten, deren Aufklärung und Erlösung sie versprachen“ (Burrows 1998, S. 4). Bereits in den späten 1950er Jahren begannen die USA und die UdSSR mit der Entwicklung und Erprobung kinetischer Anti-Satelliten-Technologien (ASAT). Nukleare Tests im Weltraum (z.B. Starfish Prime 1962) zeigten, dass durch den von Nuklearexplosionen ausgelösten Elektromagnetischen Impuls (EMP) nicht gehärtete Satelliten und Kommunikationsdienste massiv gestört werden würden.

Von der Erde aus können Angriffe mit direkt aufsteigenden Raketen auch Satelliten als Teil von Raketenabwehrsystemen kinetisch zerstören (über den Zusammenhang von Raketenabwehr und Weltraumverteidigung siehe Neuneck, Alwardt und Gils 2015). Eine andere Methode besteht darin, Satelliten in einer Umlaufbahn zu positionieren, sie in die Nähe von feindlichen Satelliten zu bringen und dann den anvisierten Satelliten zu zerstören – eine Methode, die langsamer und berechenbarer ist, aber auch höhere Umlaufbahnen erreicht. Solche »orbitalen« ASAT-Tests wurden vor allem von der UdSSR in den 1970er Jahren durchgeführt. Mit Reagans SDI-Rede 1983 und einer angenommenen sowjetischen ASAT-Bedrohung wurden die ASAT-Entwicklungen in den USA intensiviert. Immer wieder wurden von beiden Supermächten auch militärische Entwicklungen vorangetrieben, wie z.B. bewaffnete Raumstationen (USA: MOL und UdSSR: Almaz) oder Laserwaffen. Nach einigen Entwicklungs- und Testphasen wurden sie jedoch letztlich nicht dauerhaft eingesetzt: zu teuer im Unterhalt, ineffizient und zu gefährlich im Krisenfall waren die berechtigten Hauptargumente. Andere militärische Technologien wie die Aufklärung und Frühwarnung aus dem Weltraum wirkten eher deeskalierend. Sie verringerten das Risiko von Fehleinschätzungen und einer unerwünschten Eskalation im Krisenfall. Dieses Erbe steht heute auf dem Spiel, zumal die Entwicklungen sich nicht mehr alleine auf die Hauptakteure USA und Russland beschränken.

Was sind Weltraumwaffen?

Bereits während des Kalten Krieges verfolgten die USA und die Sowjetunion wiederholt Waffenprogramme und testeten Raumfahrzeuge mit Anti-Satelliten-Funktionen, setzten aber bisher »offiziell« keine Weltraumwaffen dauerhaft ein oder statio­nierten diese.

Unter Weltraumwaffen versteht man einerseits Objekte, die sich im Weltraum befinden oder in den Weltraum hineinwirken können und darauf ausgelegt sind, Satelliten zu beschädigen, funktionsunfähig zu machen oder sogar zu zerstören. Andererseits werden zunehmend neue manövrierfähige Flugkörper (»hyper-glide vehicles«) entwickelt, die auf der Erde starten, den Weltraum durchqueren und wieder Ziele auf der Erde bekämpfen können, also Waffen, die indirekt »aus dem Weltraum« operieren. Ein Überblick über die wesentlichen technologischen Voraussetzungen für Weltraumwaffen findet sich bei Neuneck (2022).

Im Prinzip gibt es verschiedene Technologien, um Objekte (primär Satelliten) im Weltraum zu treffen, zu stören oder funktionsunfähig zu machen. Satelliten kehren zyklisch zurück, so dass sie leicht zu verfolgen sind. Aufgrund ihrer Leichtbauweise sind sie sehr verwundbar und vor allem in niedrigen Orbitalhöhen zerstörbar, auch und gerade durch die in der Entwicklung befindlichen bodengestützten Raketenabwehrsysteme der USA, Russlands, Chinas und Indiens. Das Spektrum der Angriffsmöglichkeiten reicht von nuklearen Explosionen im Weltraum über elektromagnetische Störungen bis hin zu kinetischen Waffen (d.h. durch Explosion oder Kollision).

  • Eine in der Umlaufbahn ausgelöste Nuklearexplosion kann aufgrund der freigesetzten Strahlung Satelliten in einem großen Radius beschädigen oder zerstören und stellt langfristig ein erhebliches Problem dar.
  • Der Einsatz von Waffen mit gerichteter Strahlungswirkung (»directed energy weapons«), wie Laser, Mikrowellen, oder Störsender, erfordert erhebliche technologische Erfahrung (Stupl und Neuneck 2005). Ein Schutz gegen solche Auswirkungen ist begrenzt möglich, doch wird der Satellit dadurch schwerer. Einseitig verwendbar ist die bessere Abschirmung durch Schilde, den schnellen Austausch von Satelliten oder Redundanz. Die Fähigkeiten und Tests von Lasern zum Blenden von Satelliten und das elektronische Stören von fremden Satelliten schreiten bei den drei maßgeblich einflussreichen Weltraummächten voran. Hacker-Angriffe und Störsignale wurden auch schon aktiv bei militärischen Operationen eingesetzt, so im Rahmen des Ukraine-Krieges durch das Stören von GPS-Satellitendaten durch Russland.
  • Eine wichtige Kategorie sind kinetische Angriffe, die im Weltraum aufgrund der hohen Eigengeschwindigkeiten von Satelliten leicht durch Kollisionen erzielt werden können. Eine weitere Option ist die zunehmende Zahl von Kleinsatelliten, die zwar nur begrenzt manövrierfähig sind, aber wie eine »Weltraummine« wirken können. Größere »Kampfsatelliten« müssen durch ko-orbitale Manöver zum Ziel gebracht werden, was Treibstoff und Zeit erfordert. Diese Typen erfordern umfangreiche Tests, weltweit verteilte Bodenstationen und eine jahrelange Technologieentwicklung.
  • Zudem können Anti-Satelliten-Ab­fang­raketen von der Erde aus gestartet oder für längere Zeit im Weltraum stationiert und im Kriegsfall eingesetzt werden. Bodengestützte Raketen lassen sich im Rahmen der Raketenabwehr (»Ballistic Missile Defense«, BMD) auch direkt gegen bestimmte Satelliten einsetzen.
  • Ebenso können Satelliten direkt durch externe Manipulation oder eine Sprengladung funktionsunfähig gemacht werden.
  • Eine letzte Möglichkeit besteht darin, die Datenverbindung zu einem Satelliten zu unterbrechen oder zu kappen. Aufgrund des hohen Dual-Use-Potenzials der Raumfahrttechnologien verfügen vor allem die führenden Raumfahrtnationen über solche Fähigkeiten: Die Bahnen der Zielsatelliten müssen vermessen werden, was Radar- oder optische Bahnverfolgungssysteme, d.h. eine umfassende Weltraumüberwachung, erfordert.

»Counter Space«: Neue Anti-Satellitentests

Der internationale Weckruf für einen neuen Vorstoß in Sachen Weltraumwaffen war der chinesische Satellitentest im Januar 2007, als es der VR China gelang, mit einer bodengestützten Abfangrakete ihren eigenen Wettersatelliten Fengyun-1C zu zerstören (Neuneck 2008). Ein Jahr später setzten die USA ihre schiffsgestützte Abfangrakete SM-3 ein, um einen funktionsunfähigen US-Satelliten zu zerstören, und demonstrierten China und Russland damit ihre bereits vorhandenen Fähigkeiten. Russland testet die boden- und luftgestützten Abfangraketen »Nudol« und »Contact« zum Abfangen von Flugkörpern im niedrigen Orbit. China hat zwischen 2010 und 2018 seine eigenen Abfangraketen getestet. Auch die Nuklearmacht Indien ist in die Entwicklung von Antisatelliten-Abwehr eingestiegen. Am 27. März 2019 verkündete der indische Premierminister den ersten erfolgreichen ASAT-Test Indiens (»Mission Shakti«). Dabei hatte eine bodengestützte ASAT-Abfangrakete den indischen Testsatelliten Microsat R in 300 km Höhe zerstört. Ein indischer Sprecher erklärte, der Test sei nicht gegen eine Nation gerichtet gewesen und die Fähigkeit sei zu Abschreckungszwecken erworben worden.

Die Entwicklung von Counter-Space-Technologien (ASAT, Laser, elektronische Kriegsführung usw.) hat sich seit Ende der 2000er Jahre intensiviert (Secure World Foundation 2019). So werden auch zunehmend übliche zivile Satellitenexperimente zu Rendezvous-Zwecken durch die USA, China und Russland beobachtet. Diese »Rendezvous and Proximity Operations« (RPO) können gut getarnt sein, da sie zivilen Zwecken dienen können, wie z. B. der Betankung oder Reparatur anderer Satelliten. Während man bis vor kurzem glaubte, dass Satelliten in hohen geostationären Umlaufbahnen (36.000 km) unzugänglich und daher sicher seien, mehren sich die Hinweise, dass alle Weltraummächte auch Weltraumwaffen für hohe Umlaufbahnen entwickeln. Während die USA seit 2003 unbemannte Rendezvous-Technologien testen, operiert China seit 2021 mit dem Satelliten SJ-21 in der geostationären Umlaufbahn, um Weltraummüll einzusammeln (Harrison et al. 2022,24). Russland nutzte den Luch-Satelliten, um sich mehreren in der geostationären Umlaufbahn geparkten Satelliten zu nähern.

Im Jahr 2020 beschuldigte das Weltraumkommando der US-Streitkräfte Russland, einen Sub-Satelliten vom Typ »Cosmos-2543« abgesetzt zu haben, um einen US-Spionagesatelliten auszuspionieren. Im Juli 2020 wurde Russland vorgeworfen, dass dieser Satellit ein Projektil ausgestoßen habe, um einen ASAT-Test durchzuführen. Die USA werfen Russland und China vor, einerseits für Rüstungskontrolle im Weltraum einzutreten, andererseits aber heimlich ASAT-Waffen zu testen. Transparenz und Vertrauensbildung in diesem Sektor sind jedenfalls nicht mehr festzustellen.

Ein Krieg im Weltraum wird möglich

Die zunehmende Bedeutung der Weltraum­umgebung für militärische Zwecke wird auch durch einschlägige Dokumente, Programme und die Einrichtung von militärischen Weltraumkommandos und -zentren der führenden Weltraummächte unterstrichen. Im Juni 2018 erklärte der damalige Präsident Trump: „Wir brauchen eine amerikanische Dominanz im Weltraum“ (Lewin 2018). Die von Trump ins Leben gerufene neue 6. Streitkraft der »Space Force« verkündete: „Die Menschheit hat sich verändert, und die Handlungen unserer potenziellen Gegner haben die Wahrscheinlichkeit einer Kriegsführung im Weltraum deutlich erhöht“ (US Space Force 2020). Der Weltraum und damit verbunden auch der Cyber­space werden in der im März 2018 veröffentlichten »National Space Strategy« als neue „Kriegsführungsdomäne“ aufgeführt, was neue militärische Weltraumentwicklungen rechtfertigt und eine „durchdachte Antwort“ in Aussicht stellt (DoD 2018). Für 2020 hat das Pentagon eine eigene »Defense Space Strategy« zur Aufrechterhaltung der „Überlegenheit im Weltraum“ entwickelt (DoD 2020). Russland und China werden darin beschuldigt, die „Bewaffnung des Weltraums“ voranzutreiben, und ihre Programme und Dok­trinen werden als kommende strategische Bedrohung angesehen. Gleichzeitig sollen gemäß der Strategie »Weltraum-Kriegsführungsoperationen« in die operative Führung der USA integriert werden. Die Defense Intelligence Agency nennt in ihrem Bericht »Challenges to Security in Space« für 2019 auch Iran und Nordkorea als Herausforderer der US-Überlegenheit im Weltraum (DIA 2019).

Auf ihrem Gipfeltreffen in Brüssel 2021 widmete die NATO dem Weltraum einen eigenen Abschnitt und die Allianz hat inzwischen eigene Richtlinien veröffentlicht (NATO 2022). Einerseits will sie ein verantwortungsvolles Verhalten im Weltraum anstreben, andererseits kann ein Angriff im Weltraum nun auch als Bündnisfall betrachtet werden. In Ramstein wird seit 2020 ein NATO-Raumfahrtzentrum aufgebaut, das die Raumfahrtaktivitäten der NATO-Mitglieder koordinieren soll. Allerdings soll es keine direkten ­NATO-Operationen im Weltraum geben.

Russland setzt seine alte Raumfahrttradition fort und entwickelt seit 2010 verschiedene Programme. Oft sind die Ziele der verschiedenen Entwicklungen unklar. Seit 2015 organisiert Russland auch seine Luft- und Weltraumverteidigung neu. Die russische und die chinesische Raumfahrtindustrie befinden sich weitgehend in staatlicher Hand. Die Zusammenarbeit zwischen Russland und China sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich schreitet voran. Peking hat beschlossen, dass China „in jeder Hinsicht“ eine Weltraummacht werden will (PRC Space Programme 2021). Das Raumfahrtprogramm ist Teil des »chinesischen Traums« von Präsident Xi und umfasst drei Startzentren und den Betrieb einer eigenen Raumstation (vgl. den Beitrag von Engels in diesem Dossier, S. 10). Eine Beteiligung Chinas an der ISS wurde schon vor langer Zeit abgelehnt. Mond- und Marsmissionen unterstreichen Chinas ehrgeizige Ziele im Weltraum. Im Juli 2019 veröffentlichte China sein erstes Verteidigungsweißbuch seit 2015, in dem der Weltraum, der elektromagnetische Raum und der Cyberspace“ als Domänen für die nationale Verteidigung angesehen werden (State Council Information Office 2019). Ebenfalls seit 2015 werden diese Bereiche von den »Strategic Support Forces« verwaltet. Während seit 2018 keine direkten kinetischen ASAT-Tests durch China mehr beobachtet wurden, scheinen mehr nicht-kinetische Versuche (Laser, elektronische Angriffe) stattzufinden (Weeden 2022).

Zwischen diesen Weltraummächten herrscht, wie oben festgestellt, im militärischen Bereich keine Transparenz. Gegenseitige Verdächtigungen und Anschuldigungen dominieren die veröffentlichten Erklärungen und Doktrinen. Das unbemannte amerikanische Mini-Space Shuttle X-37B hat seit 1999 bereits sechs Langzeitmissionen mit unbekanntem Zweck absolviert und beunruhigt China und Russland ebenso wie umgekehrt die ASAT-Tests der VR China und Russlands. Es bleibt zu hoffen, dass die Regierung Biden ernsthafte Anstrengungen unternimmt, um internationale Regelungen voranzutreiben, neue Regeln für die Raumfahrt aufzustellen und für mehr Transparenz und Vorhersehbarkeit bei Militärprogrammen zu sorgen (Samson und Weeden 2020).

Dieser Text ist eine nachbearbeitete Übersetzung von Auszügen aus Neuneck (2022).

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Götz Neuneck ist Physiker und Ko-Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).

China und USA – Rivalen im Weltraum

von Dieter Engels

Die Nutzung des Weltraums, aber auch die astronomische Forschung und die Erkundungsprojekte von Mond und Mars, sind heute von großer und noch wachsender Bedeutung. Sie werden durch die politischen Konflikte auf der Erde und die daraus resultierenden militärischen Aktivitäten im Weltraum behindert, wenn nicht gar bedroht. Der russische Angriff auf die Ukraine Anfang 2022 hat die Kooperationen zwischen Russland und den westlichen Staaten praktisch zum Erliegen gebracht. Die zivile Zusammenarbeit im Weltraum, lange ein symbolisches Element gegenseitigen Vertrauens zwischen politisch konkurrierenden Gesellschaften, liegt damit in Trümmern. Noch deutlich ernstere Probleme werden entstehen, wenn die sich in den Weltraum ausdehnenden Rivalitäten zwischen den USA und China nicht durch bilaterale oder internationale Abkommen eingedämmt werden.

Die Bedeutung des Weltraums für Machtdemonstrationen ist nicht neu. Das Apollo-Programm der USA mit sechs Landungen auf dem Mond (1969-1972) und das parallel dazu gescheiterte Programm der Sowjetunion manifestierte die Vorherrschaft der USA im Weltraumsektor. Diese Vorherrschaft wird heute aber mindestens durch Chinas Weltraumprogramm (Reichl 2022; Harvey 2019) in Frage gestellt, u.a. auch bei der Erforschung des Mondes. Neben dem Aufbau einer breiten Palette von Satellitensystemen (mit 541 ca. 10 % aller Satelliten weltweit, UCS 2022), wird in China systematisch an prestigeträchtigen bemannten Raumfahrtprogrammen, sowie an Erkundungsmissionen zu Mond und Mars gearbeitet (Reichl 2022).

Orbitale Programme Chinas

Mit Programmen zur Entsendung von Menschen in eine Umlaufbahn wurde offiziell bereits Anfang der 1970er Jahre noch unter Mao Zedong begonnen. Aber erst 2003 erreichte der Taikonaut Yang Liwei die Umlaufbahn in einer Shenzou Raumkapsel. Seitdem wurde das Raumfahrtprogramm parallel zur wirtschaftlichen Entwicklung Chinas rapide vorangetrieben. Bereits 2011 und 2015 wurden die erste Raumstationen Tiangong 1 und 2 gestartet, die mehrfach von Taikonauten mit Hilfe der Shenzou-Kapseln jeweils für wenige Wochen besucht wurden. Dabei wurden zahlreiche Technologien getestet, die für den permanenten Betrieb einer solchen Station notwendig sind. Seit kurzem wird mit dem Aufbau von Tiangong 3 begonnen. Gestartet wurde am 21.4.2021 mit dem 22 Tonnen schweren Zentralelement »Tianhe«, das mit den notwendigen Antrieben, Versorgungseinheiten, sowie Unterkünften und sechs Andockstationen ausgestattet ist. Die erste dreiköpfige Crew besuchte die Station schon im Oktober 2021. Zu ihr gehörte Wang Yaping, Chinas zweite Frau im All, die als erste Frau bei ihrem Aufenthalt einen Außenbordeinsatz absolvierte. Weitere Elemente der Station werden zwei Labore sein, die in den nächsten Monaten gestartet werden sollen, und temporär angedockte »Tianzhou«-Frachtmodule, die zusätzlichen flexibel nutzbaren Raum für jeweils sechs Monate bieten. Die Station ist mit einer geplanten Gesamtmasse von ca. 100 Tonnen etwa nur ein Viertel so groß wie die Internationale Raumstation ISS und fliegt mit 340 bis 430 km in vergleichbarer Höhe. Konzipiert ist sie für eine Lebensdauer von 10 bis 15 Jahren. Mit einer permanenten Besatzung wird ab 2023 gerechnet. Ein Highlight der Station ist ein Weltraumteleskop »Xuntian«, das Ende 2024 gestartet werden soll. Es fliegt in geringem Abstand auf der gleichen Bahn wie Tiangong 3, und soll von dort aus gewartet werden können (Reichl 2022).

Mondprogramme Chinas und der USA

Das chinesische Monderkundungsprogramm wurde mit dem Start der ersten, nach der Mondgöttin Chang’e benannten Mondsonde 2007 begonnen (Reichl 2022, S. 30-33). Die ersten unbemannten Mondlandungen erfolgten 2013 und 2019 (Chang’e 3 und 4), und 2020 brachte die Mission Chang’e 5 dann 1,7 kg Mondgestein zur Erde zurück. Damit gelang China als drittem Land dieses Experiment, nach den USA und der Sowjetunion. Weitere drei Sonden mit Starts innerhalb der nächsten zehn Jahre sind in Planung. Parallel entwickelt China eine neue Raumkapsel, die die bisher verwendeten Shenzou Raumkapseln zur Versorgung der Raumstation ablösen soll, aber auch Menschen zum Mond bringen kann (Reichl 2022, S. 32). 2021 wurde angekündigt, in den 2030er Jahren eine Mondforschungsstation bauen zu wollen, an der auch Russland beteiligt sein soll und die Mitarbeit weiterer Länder erwünscht ist (ebd., S. 34; Jones 2021). Die Station soll robotisch arbeiten, und nur hin und wieder von Taikonaut*innen zur Wartung besucht werden (Zheng 2021).

Auf der anderen Seite nimmt »Artemis«, das Apollo-Nachfolgeprogramm der USA, mit dem für November 2022 geplanten Start der neuen Trägerrakete »Space Launch System« (SLS) an Fahrt auf. Die Geschichte von Artemis hat viel mit der Einstellung des Space Shuttle Programms 2011 zu tun. Obgleich umstritten, hatte der US-Kongress Jahr für Jahr Mittel für den Bau des SLS und einer Orion-Kapsel bewilligt, um die durch das Shuttle-Programm freiwerdenden Raumfahrtkapazitäten in mehreren Bundesstaaten zu erhalten. Die SLS-Rakete wird die Orion-Kapsel in einen 42-tägigen Testflug um den Mond schicken – eine Mission (Artemis 1), die in der Bergung der Kapsel innerhalb von nur zwei Stunden nach der Landung im Pazifischen Ozean gipfeln soll. Bei einem Erfolg der Mission, soll mit Artemis 2 der erste bemannte Flug (ohne Landung auf dem Mond) nicht vor Ende 2024 folgen. An den Artemis-Missionen sind auch Japan, Kanada und die europäische Raumfahrtagentur ESA beteiligt. Die ESA hat das Versorgungsmodul für die Orion-Raumkapsel beigetragen und wird fünf weitere bauen. Dafür werden den Ländern Mitflugmöglichkeiten geboten. Zwei der europäischen Astronaut*innen sollen sich mit Artemis 4 und 5 am Aufbau des von den USA angestrebten »Lunar Gateway« beteiligen, ein dritter soll bis 2030 den Mond betreten können (Foust 2022a, b). Bei dem Gateway handelt es sich um eine Raumstation in der Mondumlaufbahn, die u.a. als Umschlagplatz dienen soll, um eine ebenfalls geplante Station auf der Mondoberfläche zu versorgen.

Es ist abzusehen, dass die beiden Programme nicht im sportlichen Wettstreit miteinander den Mond erkunden werden. Neben Grundlagenforschung werden die Missionen auch Möglichkeiten (kommerzieller) Ausbeutung von Rohstoffen erkunden. Das generelle Misstrauen der USA in die chinesischen Weltraumaktivitäten macht deshalb auch vor der Mond­erkundung nicht halt, wobei bei den Anschuldigungen nicht gerade zimperlich vorgegangen wird. NASA-Leiter Bill Nelson warf China Anfang Juli 2022 in einem Interview der Bild-Zeitung vor, den Mond besetzen zu wollen (Both 2022): „Wir müssen sehr besorgt darüber sein, dass China auf dem Mond landet und sagt: Der gehört jetzt uns, und Ihr bleibt draußen.“ Weiter sagte er, Chinas Raumstation würde zum Training für Astronaut*innen dienen, die Satelliten von Anderen zerstören sollen, sowie dass die technologischen Erfolge Chinas lediglich durch geklaute Ergebnisse möglich gewesen seien.

China reagierte darauf empört. Der Sprecher des Außenministeriums, Zhao Lijian, bewertete Nelsons Vorwürfe als „rücksichtslos“ und eine „Lüge“. Andere chinesische Offizielle betonten, dass kein Interesse bestehe, den Mond zu militarisieren, und China eine Gemeinschaft (»community«) vieler Nationen unterstütze (Hughes 2022). Die Äußerungen Nelsons gelten für Kenner des chinesischen Weltraumprogramms als weit hergeholt. Die Inbesitznahme des Mondes durch Staaten ist durch den 1967 geschlossenen und auch von China unterzeichneten Weltraumvertrag rechtlich ausgeschlossen. Auch wäre der Aufwand immens um 39 Mio. km2 Oberfläche (fünfmal die Fläche Australiens) zu besetzen, zumal der Nutzen fragwürdig ist. China, dessen Raumfahrtbudget 2020 geschätzte 13 Mrd. US$ umfasste (etwa halb soviel wie das Budget der NASA), könnte dies allein nicht leisten, wie auch andere Nationen nicht (Ben-Hitzak und Hines 2022).

Die parallele Erkundung des Monds und der Aufbau von Forschungsstationen kann aber wohl zu Konflikten führen. Ein eventuelles Eindringen in die nähere Umgebung dieser Stationen wird sicher als unerwünscht angesehen, so wie auf der Erde das unautorisierte Eindringen von fremden Schiffen in die 200-Meilen Zone eines Küstenstaates. Damit würde eine de-facto Kontrolle über (kleine) Teilgebiete ausgeübt, die im Prinzip schrittweise ausgeweitet werden könnte. Streit könnte durch die Konkurrenz um besonders interessante Gebiete entstehen, z.B. mit Wasser-Eis-Vorkommen. Auszuschließen sind solche Szenarien nicht, da die in beiden Ländern diskutierten Landegebiete am lunaren Südpol für die bemannte Artemis 3 Mission der USA (geplanter Start Ende 2025) und auch für die unbemannte Mondsonde Chang’e 7 (geplanter Start 2024) Überschneidungen aufweisen (Jones 2022).

Herausforderungen der Satellitenverfolgung: klare Regelungslücken

Der Raum zwischen dem geostationären Orbit (GEO) und der Mondumgebung wird als »cislunarer Raum« bezeichnet, ist tausendmal größer als der erdnahe Raum (siehe Infokasten) – und wird bisher kaum überwacht. So ist die Chang’e 5 Raumsonde nach der Abtrennung der Rückkehr-Kapsel Ende 2020 aktiv geblieben, und im Herbst 2021 zum Lagrange Punkt L1 in der Nähe des Monds manövriert worden (zu den Fachbegriffen GEO, cislunar und ­Lagrange-Punkt, siehe Infokasten). Dieses unangekündigte Manöver ist nur durch die Aktivitäten einiger Amateure der Satellitenverfolgung bekannt geworden. Es gibt keine internationalen Regelungen, die die Meldung eines solchen Manövers verlangen. Jedoch zeigt dieser Fall, dass die Bewegungen von Weltraumfahrzeugen im cislunaren Raum zumindest für die Öffentlichkeit nur unzureichend bekannt sind (Schingler et al. 2022). Bestehende Weltraumüberwachungssysteme reichen bisher nur bis zur GEO-Bahn.

Lagrange-Punkte bzw. -Regionen

Im Erde-Mond- und Sonne-Erde-System gibt es ausgezeichnete Orte, in denen sich die Schwerkraft der beteiligten Körper gerade aufhebt. Diese an der Zahl fünf Orte werden nach dem italienischen Himmelsmechaniker J.-L. Lagrange (1736-1813) benannt. Von Interesse sind im Erde-Mond-System die Lagrange-Punkte L1 und L2, die sich auf der Verbindungsachse Erde-Mond vor und hinter dem Mond befinden.

Vor allem der L2 Punkt gilt als bevorzugter Ort für die Stationierung von Sonden. Diese Punkte sind aber instabil, so wie die Balance einer Kugel auf einer Spitze instabil ist. Sonden werden daher auf Umlaufbahnen um die L-Punkte gebracht. Es ist ausreichend Platz für verschiedene Bahnen, sodass ein gleichzeitiger Aufenthalt mehrerer Satelliten möglich ist. Der Begriff »Punkt« ist deshalb etwas verwirrend, genauer sind es Regionen.

Weltraum, GEO, LEO – eine Definition

Die Grenze zwischen der Erdatmosphäre und dem Weltraum ist fließend. Üblicherweise wird sie bei 80 bis 100 km oberhalb der Erdoberfläche gezogen. Satelliten müssen eine Mindesthöhe erreichen, damit sie nicht durch die Restatmosphäre zu schnell abgebremst werden und zur Erde zurückstürzen. Die meisten Satelliten und die Raumstationen umkreisen die Erde in Umlaufbahnen bis ca. 2.000 km Höhe (LEO = Low Earth Orbit).

Der Start in den LEO benötigt weniger Energie und der geringe Abstand erlaubt eine relativ hohe Auflösung bei den Aufnahmen zur Erdbeobachtung oder Aufklärung. Der Nachteil sind die kurzen Umlaufzeiten im Zeitraum von Stunden, die die kontinuierliche Beobachtung eines bestimmten Gebietes nur mit Hilfe mehrerer Satelliten erlauben.

Dieser Nachteil wird auf einer Bahnhöhe von 36.000 km (GEO = Geostationary Orbit) aufgehoben. Satelliten, die in dieser Höhe über dem Erdäquator umlaufen, befinden sich ständig oberhalb eines bestimmten Ortes auf der Erde. Mit Hilfe von drei im Winkelabstand von 120 Grad angeordneten Satelliten, lässt sich ständig die gesamte Erdoberfläche (außer den Polargebieten) im Blick behalten. Diese besondere Bahn ist deshalb der bevorzugte Aufenthaltsort der Kommunikations-Satelliten (Telefon, TV, …), aber auch von Frühwarnsatelliten, die Raketenstarts erfassen, und vor einem potentiellen Atomschlag warnen können.

Die Bahnen zwischen LEO und GEO werden von Satelliten(-Konstellationen) genutzt, die die speziellen Eigenschaften der LEO- und GEO-Bahnen nicht benötigen. Die kommerzielle und militärische Nutzung des Weltraums beschränkt sich bisher auf den »erdnahen Raum« innerhalb der GEO-Bahn. In den »cislunaren« Raum bis zum Mond in einer Entfernung von 384.000 km, in den interplanetaren Raum (bis 4,5 Mrd. km) und darüber hinaus sind bisher nur Sonden und (bemannte) Weltraumfahrzeuge zur Forschung und Erkundung vorgedrungen.

Mit den zunehmenden Aktivitäten Richtung Mond wird Transparenz bei den Bewegungen und Kommunikationskanälen zwischen den beteiligten Betreibern eine Voraussetzung sein, um auch unbeabsichtigte (Nahezu-)Kollisionen in Zukunft zu vermeiden (Byers und Boley 2022). Diese Kommunikation wird mit Hindernissen zu rechnen haben, weil im Hintergrund immer militärische Dienste die ausgetauschten Informationen abgreifen. So hat beispielsweise die US Air Force Zugriffsrechte auf die Daten, die der erst kürzlich gestartete CAPSTONE Kleinsatellit der NASA zur Erkundung geeigneter Mondumlaufbahnen für die geplante »Gateway«-Station überträgt (Schingler et al. 2022).

Vor diesem Hintergrund ist die in den USA aufgeflammte Diskussion, die Aktivitäten Chinas im cislunaren Raum oder auf dem Mond als neue Herausforderung für die US-amerikanischen Sicherheitsinteressen zu sehen, alarmierend (Bender 2022). Aus militärischen Kreisen wird bereits ein Überwachungssatellit (»Cislunar Highway Patrol System«) für den Raum zwischen Erde und Mond vorgeschlagen (Air Force 2022). Auch Forschungsprojekte auf der Mondoberfläche werfen Fragen auf (s. Abb. S. 11).

Umstrittene Projektvisualisierung zu Materialentwicklung auf dem Mond durch die ­Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), einer Behörde des US-Verteidigungsministeriums. Das von den DARPA Webseiten inzwischen entfernte Bild suggeriert geplante Aktivitäten des Militärs auf dem Mond. Im Einzelnen: Hitchens 2021a. (Quelle: DARPA NOM4D project image)

Die Diskussionen in China zu diesem Thema sind unbekannt. Der bereits erwähnte Weltraumvertrag, der als einziger der weltraumbezogenen Rüstungskon­trollverträge heute noch Bestand hat, beinhaltet Regelungen, die zum Zeitpunkt der Unterzeichnung zu keinen praktischen Folgen führten, die aber heute aktuell sind. Der Vertrag ist ein Beispiel dafür, wie frühzeitige Verhandlungen verhindern, dass Partikularinteressen den Abschluss eines Abkommens blockieren. Knapp 20 Jahre später war es zum Beispiel nicht mehr möglich, breite Unterstützung für den 1984 in Kraft getretenen Mond-Vertrag zu erhalten, der auch die private Aneignung von lunaren Ressourcen verbieten sollte (O’Brien 2022). 2020 haben die USA mit den »Artemis Accords« immerhin eine Initiative gestartet, über bilaterale Abkommen zu Regulierungen für den Rohstoffabbau und zu Sicherheitszonen um mögliche Stationen zu kommen. 21 Ländern haben die »Accords« bisher unterzeichnet, nicht aber China, Russland und bisher auch nicht Deutschland. Kritiker*innen werfen den USA vor, ihre Rechtsauffassung durchdrücken zu wollen (Boley und Byers 2022; Seidler 2022), statt sich um internationale Abmachungen zu bemühen. Denn es droht eine Situation wie beim Goldrausch in Alaska: Wer auf dem Mond als erster gräbt, darf die Schätze behalten.

Initiativen für eine Aufnahme von internationalen Verhandlungen zu potentiell möglichen Konflikten bei der Erkundung des Mondes aber auch zu gegenseitigen Hilfsmaßnahmen in Notfällen wären wünschenswert. Die Weltraumüberwachung für den cislunaren Raum sollte international organisiert und maximale Transparenz zu den dort stattfindenden Aktivitäten für alle Staaten, aber auch für zivile Organisationen hergestellt werden. Solche Verhandlungen werden derzeit vermutlich eher zum Erfolg führen, als solche zu den Problemen im erdnahen Raum.

Die neue große Rivalität

Seit der Fokussierung der US-amerikanischen Außenpolitik auf den Ostasien-Raum (»Pivot to Asia«, Lippert und Perthes 2020; Müller 2021) und insbesondere während der Regierungszeit von Donald Trump (2017-2021) haben sich die Medienpublikationen vervielfacht, die sich mit Chinas angeblicher Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA auch im Weltraum beschäftigen. Sie begleiten die Gründung der »Space Force« Ende 2019, die die bisher verteilten militärischen Raumfahrtprogramme in einer eigenständigen Teilstreitkraft bündelte (David 2020). China wird aus US-amerikanischer Perspektive vorgeworfen, an Anti-Satelliten- und anderen Weltraum-Waffen zu arbeiten, sodass sich die USA auf Kampfhandlungen im Weltraum vorbereiten müssten (DIA 2021; Erwin 2021, Hitchens 2022a). In einem jährlich herausgegebenen Bericht des Pentagons (DoD 2021) werden Chinas raumfahrtbezogene Fähigkeiten als Teil seiner militärischen Fähigkeiten beschrieben, und die Raumstation, das Satelliten-Navigations-System Beidou, und die Gaofen Erdbeobachtungs-Satelliten zum Unwillen Chinas als militärische Einrichtungen angesehen (Wei et al. 2022). Dies sind typische Beispiele von Dual-Use-Projekten, wobei die nicht vorhandene Trennung von militärischer und ziviler Raumfahrt in China es kaum zulässt zu bestimmen, auf welchem Bereich der Schwerpunkt liegt. Der doppelte Verwendungszweck ist aber bei den westlichen Raumfahrtsystemen auch gegeben, sei es bei dem militärisch entwickelten Navigations-Satelliten-System GPS oder bei dem zivil entwickelten europäischen System Galileo (siehe dazu Demirel und Wagner 2021). Beide Systeme haben neben dem öffentlichen auch ein verschlüsseltes Signal, welches dem Militär und anderen Regierungsstellen vorbehalten ist (GPS 2019, 2020). Auch Erdbeobachtungs-Bilder, wie sie aktuell von kommerziellen Anbietern entwickelte Kleinsatelliten aufnehmen, werden an militärische Kunden verkauft oder, wie im aktuellen Fall der Ukraine, direkt an eine Armee weitergegeben (Hitchens 2022b).

China bestreitet vehement, sich in seiner Entwicklung des Weltraumprogramms von Rivalitäten mit den USA leiten zu lassen und sich an einem Wettlauf um die Vormacht zu beteiligen. Seine Verteidigungsfähigkeit im Weltraum würde entsprechend seiner generellen Präsenz im Weltraum ausschließlich dazu dienen, Chinas Souveränität im Weltraum sicherzustellen (Zheng 2021). Im Gegenzug wirft China den USA vor, selbst Waffen für den Einsatz im Weltraum zu entwickeln, den Weltraum als mögliches Schlachtfeld erklärt zu haben (Glenn 2020) und ihre langjährige Politik der Dominanz im Weltraum fortzusetzen. Die USA seien die Hauptverantwortlichen für die fortschreitende Militarisierung des Weltraums. Die angesprochenen Weltraumwaffen sind bekannte Programme, wie Laserwaffen und Störsender, aber auch der Geheimhaltung unterliegende Programme, von denen in 2021 gefordert wurde, sie zu Abschreckungszwecken öffentlich zu machen (Hecht 2019; Hitchens 2021b). Offizielle Stellen der VR China beklagen eine Welle von Versuchen, das chinesische Weltraumprogramm in der Öffentlichkeit zu diskreditieren, und verweisen auf das Weißbuch von 2021 (SCIO 2022), das sich deutlich dafür ausspricht, den Weltraum für friedliche Zwecke zu nutzen und sich Bestrebungen zu widersetzen, den Weltraum in eine Waffe oder ein Schlachtfeld zu verwandeln, oder dort gar ein Wettrüsten zu beginnen.

Die gegenseitigen Anschuldigungen erinnern nur zu gut an den ständigen verbalen Schlagabtausch zwischen der Sowjetunion und den USA im Kalten Krieg. Trotzdem war es damals möglich zusammenzuarbeiten, wie der Aufbau der ISS mit Russland seit 1998 zeigt. Von solchen Projekten, die den verbalen Friedensbeschwörungen Glaubwürdigkeit verleihen würden, sind die USA und China jedoch aktuell noch weit entfernt.

Literatur

Air Force (2022): Air Force Research Lab, Cislunar Highway Patrol System (CHPS). YouTube Video, URL: youtube.com/watch?v=yOnPBE1rZNY.

Ben-Hitzak, S.; Hines, R.L. (2022): Can China claim ownership rights on the Moon? Moon Daily, 10.7.2022.

Bender, B. (2022): Moon battle: New Space Force plans raise fears over militarizing the lunar surface. Politico, 12.3.2022.

Boley, A.; Byers, M. (2020): U.S. policy puts the safe development of space at risk. Science, 9.10.2020, S. 172.

Both, M. (2022): Chinesen wollen den Mond besetzen, Nasa-Chef schlägt Alarm. Bild Zeitung, 2.7.2022.

Byers, M.; Boley, A. (2022): Cis-lunar space and the security dilemma. Bulletin of the Atomic Scientists, 17.1.2022.

David, L. (2020): Space Force: What will the new military branch actually do? SPACE.com, 17.2.2020.

Demirel, Ö. A.; Wagner, J. (2021): EU-Militärhaushalte. Schritte über den Rubikon. W&F 1/2021, S. 14-16.

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DoD (2021): Report on military and security developments involving the People‘s Republic of China. U.S. Department of Defense, 3.11.2021.

Erwin, S. (2021): U.S. generals planning for a space war they see as all but inevitable. Space News, 17.9.2021.

Foust, J. (2022a): The time has finally come for Artemis 1. The Space Review, 22.8.2022.

Foust, J. (2022b): ESA ready for “historic” Artemis 1 mission. Space News, 25.8.2022.

Glenn, M. (2020): Pentagon defines space as battleground to preserve U.S. dominance. The Washington Times, 17.6.2020.

GPS (2019): CGI and Thales sign contract for secure Galileo satellite navigation services. GPS Daily, 3.5.2019.

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Harvey, B. (2019): China in Space: The Great Leap Forward. 2. Edition. Cham: Springer Praxis.

Hecht, J. (2019): Lasers, death rays and the long, strange quest for the ultimate weapon. Lanham: Prometheus Books.

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Müller, W. (2021): Respektierte Großmacht? China im globalen Machtgefüge. W&F 4/2021, S. 6-8.

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Reichl, E. (2022): Die neue Supermacht im All. Sterne und Weltraum 1/2022, S. 28ff.

Schingler, J.K.; Samson, V.; Raju, N. (2022): Don’t delay getting serious about cislunar security. War on the Rocks, 6.7.2022.

SCIO (2022): China‘s space program: A 2021 perspective. State Council Information Office of the People‘s Republic of China, Januar 2022.

Seidler, C. (2022): Amerikas Mond-Diktat spaltet Europa. Der Spiegel, 21.6.2022.

UCS (2022): Satellite Database. Online Ressource. Union of Concerned Scientists. Boston.

Wei, F.; Xuanzun, L.; Siqi, C. (2022): China’s space program eyes peaceful cooperation. Global Times, 24.7.2022.

Zheng, W. (2021): ‘In space, China’s focus still on defence’, says Shenzhou veteran. South China Morning Post, 27.6.2021.

Dr. Dieter Engels ist Astrophysiker und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg.

Ein doppelter Verwendungszweck

Die Nutzung des Weltraums in Europa

von Regina Hagen

Die Nutzung von Weltraumtechnologie gehört spätestens seit dem Golfkrieg 1991 zum Repertoire der aktiven Kriegsführung. Navigations-, Aufklärungs- und Kommunikationssatelliten ermöglichten damals den US-Truppen die Orientierung im fremden Gelände, den schnellen Vormarsch in den Irak und vernichtende, hochpräzise Angriffe mit Marschflugkörpern und Kurzstreckenraketen auf (mitunter nur vermeintlich) militärische Ziele.

Im aktuellen Ukrainekrieg kommt militärischen wie zivilen Weltraumsystemen erneut eine entscheidende Rolle zu. Verbündete Staaten, wie die USA und Großbritannien, versorgten die Ukraine schon vor Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar 2022 mit militärischen und nachrichtendienstlichen Aufklärungsdaten und -berichten. Der russische Verteidigungsminister konstatierte sechs Monate nach Kriegsbeginn, „[w]ir sind wirklich im Krieg mit […] der NATO und dem kollektiven Westen“; dabei gehe es nicht nur um Waffenlieferungen an die Ukraine, sondern um „Kommunikationssysteme, […] Aufklärungssysteme und Spionagesatelliten“ (TASS 2022).

Die ukrainischen Streitkräfte setzen bei der Weltraumnutzung aber nicht nur auf die Hilfe befreundeter Staaten, sondern wurden selbst aktiv. Dazu zwei Beispiele:

  • Schon zwei Tage nach Beginn des Krieges vermeldete Elon Musk, Gründer und CEO von SpaceX (vgl. Beitrag von Sönnichsen in diesem Dossier, S. 21), die von der ukrainischen Regierung erbetene und von der US-Regierung mitfinanzierte und mitorganisierte Lieferung erster Starlink-Terminals an ukrainische Regierungsstellen, um die durch Russland gestörte Satellitenkommunikation zumindest teilweise wieder zu ermöglichen (Jin 2022). Einsatzkräfte an der Front nutzen das kommerziell betriebene, auf bislang gut 3.000 Kleinsatelliten basierende Breitbandsystem z.B. zur Kommunikation mit anderen Truppenteilen oder zur Übertragung von Zielkoordinaten an Artilleriegeschosse und bewaffnete Drohnen.
  • Unter anderem zur Festlegung dieser Zieldaten verfügt das ukrainische Militär seit Kurzem über den exklusiven, per Crowdfunding finanzierten Zugriff auf einen SAR-Kleinsatelliten der finnischen Firma ICEYE (ICEYE 2022) sowie die Rechte an der Datennutzung weiterer ICEYE-Satelliten. Synthetic Aperture Radar (SAR) liefert auch bei Wolken, Schnee, Nebel und Dunkelheit zuverlässig Bilder, in diesem Fall mit einer Auflösung von einem halben bis einem Meter. Diese können mit optischen Daten kommerzieller Satelliten kombiniert in relativ kurzen Abständen aussagekräftige Bilder für die Zielidentifikation liefern und Aufklärungsdaten befreundeter Streitkräfte und Geheimdienste, z.B. Großbritanniens, bestätigen oder ergänzen.

Die vollständige Integration der »Dimension Weltraum« in die Verteidigungsplanung und Kriegsführung war seit Langem abzusehen. In den USA gibt es mit der U.S. Space Force eine eigenständige Teilstreitkraft; in China sind die Weltraumprojekte der Strategischen Kampfunterstützungstruppe unterstellt; in Russland gehört der Weltraum zum Aufgabenspektrum der Воздушно-космические силы (Luft- und Weltraumkräfte). Diese militärischen Hauptakteure haben ebenso wie Indien in den letzten 15 Jahren mit Anti-Satelliten-Tests außerdem ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, gegnerische Weltraumobjekte zu zerstören (vgl. Neuneck in diesem Dossier, S. 6). Die NATO betreibt keine eigenen Satelliten, erklärte aber den Weltraum vor wenigen Jahren zum »Operationsbereich«, verabschiedete eine Weltraumstrategie (NATO 2022a) und eröffnete auf der US-Luftwaffenbasis Ramstein ein Weltraumzentrum. Dabei setzt die NATO gezielt auf Dual-use – und auf die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union (NATO 2022b; Geoană 2020; EEAS 2020).

Europa und die Dimension Weltraum

Auch in Europa hat Raumfahrt schon lange einen hohen Stellenwert, wird von zahlreichen Akteuren betrieben und erzeugt einen relevanten kommerziellen Umsatz (2019: ca. 13 Mrd. Euro).

Der größte der europäischen Akteure ist die 1975 gegründete Europäische Welt­raum­agen­tur (European Space Agency, ESA) mit 22 Mitgliedstaaten, die nicht alle der EU angehören (was umgekehrt ebenso gilt), und einem Budget in Höhe von 7,15 Mrd. Euro für 2022. Die ESA hat relevante Niederlassungen in sieben europäischen Ländern und einen eigenen Weltraumbahnhof in Kourou, Französisch-Guayana.

Schwerpunktmäßig beschäftigen sich die ESA-Projekte mit dem Bau von zivilen Raketen für große und kleine Nutzlasten, der Erforschung des tiefen Weltraums, der bemenschten Raumfahrt (u.a. Beteiligung an der Internationalen Weltraumstation), der Erd-, Klima- und Wetterbeobachtung, der Satellitennavigation und -kommunikation sowie der Suche nach Lösungen für die zunehmende »Vermüllung« des Weltraums (vgl. Beiträge von Sönnichsen und Bertamini in diesem Dossier, ab S. 21).

Laut Satzung wurde die ESA für „ausschließlich friedliche Zwecke“ gegründet (ESA 1975), öffnete sich seit der Jahrtausendwende jedoch zunehmend für »Sicherheits«-Themen, und zwar unter ausdrücklichem Verweis auf die »Petersberg-Erklärung«. In dieser hatte sich die Europäische Union, der zweite große Weltraumakteur in Europa, ab 1992 für gemeinsame Militäraktionen der Mitgliedstaaten bis hin zu „Kampfeinsätze[n] bei der Krisenbewältigung, einschließlich Maßnahmen zur Herbeiführung des Friedens“ (WEU 1992) ausgesprochen.1

Inzwischen gehört die zivil-militärische Nutzbarkeit von Weltraumprogrammen ausdrücklich zum Verständnis von ESA und EU, ebenso die enge Kooperation zwischen den beiden Organisationen. Seit 2019 ist die Weltraumthematik der EU im Direktorat »Verteidigungsindustrie und Weltraum« angesiedelt und wird 2021-2027 mit knapp 15 Mrd. Euro finanziert.

Im Mai 2021 konstatierten das Europäische Parlament und der Europäische Rat: „Die Entwicklung der Weltraumwirtschaft ist seit jeher mit dem Bereich der Sicherheit verknüpft. In vielen Fällen haben die Ausrüstung, Komponenten und Instrumente, die in der Weltraumwirtschaft zum Einsatz kommen, sowie Weltraumdaten und –dienste einen doppelten Verwendungszweck.“ In diesem Sinne sollten „[d]ie Möglichkeiten, die die Raumfahrt im Hinblick auf die Sicherheit der Union und ihrer Mitgliedstaaten bietet, […] insbesondere gemäß der Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union vom Juni 2016 genutzt werden“ (EU 2021).

Im März 2022 kamen auch die Staats- und Regierungschefs der EU überein, „Synergien zwischen Zivil-, Verteidigungs- und Weltraumforschung und -innovation zu fördern und in kritische und neue Technologien und Innovationen für Sicherheit und Verteidigung zu investieren“ (EU 2022a). Im »Strategischen Kompass für Sicherheit und Verteidigung« vom März 2022 kommt dem Weltraum ebenfalls eine hohe Bedeutung zu (EU 2022b).

Europäische Dual-use-Projekte

Die ESA und/oder die EU betreiben eine Reihe von Weltraumprojekten mit dezidiert militärischem Nutzen. Einige davon werden nachfolgend beschrieben.

Satellitennavigation mit Galileo

Heute ist Kriegsführung ohne Satellitennavigation kaum noch denkbar. Panzer und Schiffe vergewissern sich mit Hilfe der Signale ihrer exakten Position und Geschwindigkeit; Raketen, Marschflugkörper und Drohnen werden präzise gelenkt; Minengürtel werden punktgenau verlegt; Nachschub erreicht die Truppen am richtigen Abschnitt der Front.

Galileo ist ein von der EU und der ESA gemeinsam betriebenes, mit dem US-amerikanischen Global Positioning System (GPS), dem russischen Glonass und dem chinesischen Beidou vergleichbares globales System, das zur exakten Positions- und Zeitbestimmung die Signale von Navigationssatelliten nutzt.

Galileo wurde, anders als GPS, Glonass und Beidou, als ziviles Programm aufgesetzt und als solches 2003 von den EU-Mitgliedstaaten genehmigt. 2008 allerdings stimmte das EU-Parlament auf Antrag des deutschen CDU-Abgeordneten Karl von Wogau einer Resolution zu, die „betont, dass Galileo für eigenständige ESVP-Operationen2 notwendig ist, wie auch für die Gemeinsame Außen- und Sicher­heitspolitik (GASP), für Europas eigene Sicherheit und für die strategische Autonomie der Union“ (EP 2008).

Entsprechend bietet Galileo neben den zivilen und offenen Nutzungsmöglichkeiten, z.B. der Positionsbestimmung mit dem Smartphone oder dem Einsatz im Bergbau, in der Landwirtschaft und im Vermessungswesen, einen geschützten Dienst mit einer höheren Ausfallsicherheit und vor allem einer höheren Genauigkeit. Auf diesen verschlüsselten »Öffentlichen Regulierten Dienst« können nur bestimmte Nutzergruppen zugreifen, darunter der Europäische Auswärtige Dienst, Streitkräfte, Polizei, Küstenwachen einschließlich FRONTEX sowie Nachrichtendienste.

Aktuell besteht Galileo aus 24 Satelliten in einer mittleren Erdumlaufbahn. Für den Betrieb von Galileo wurde eigens die Agentur der Europäischen Union für das Weltraumprogramm (EUSPA) gegründet.

Erdbeobachtung mit Copernicus

Aus dem Weltraum lassen sich die Erde und ihre Ökosysteme besonders gut und über lange Zeiträume beobachten. Der Zustand der Landmasse, der Meere und anderer Gewässer, der Pole, Eismassen und Gletscher, der Atmosphäre und der klimatischen Verhältnisse sowie deren Veränderungen stehen hier im Zentrum.

Für die Europäische Union ist Copernicus das zweite, ebenfalls in Kooperation mit der ESA betriebene, »Flaggschiff«-Projekt im Weltraum. Zusätzlich zu Satellitendaten bindet Copernicus Daten ein, die von land-, see- und luftgestützten Messstationen gesammelt werden. Die von Copernicus bereitgestellten Informationen sind in der Regel offen und kostenlos zugänglich; zu den Nutzergruppen gehören Behörden und Unternehmen ebenso wie Umweltämter und -verbände oder interessierte Bürger*innen.

Neben Land-, Meeres-, Atmosphären- und Klimaüberwachung bietet Copernicus zwei weitere »Kerndienste«: Katastro­phen- und Krisenmanagement sowie Sicherheitsdienste. Letzteres meint die gezielte Aufbereitung der mit Copernicus gewonnenen Daten zur Überwachung der EU-Außengrenzen (insbesondere zum Schutz vor »illegitimer« Migration), zur Unterstützung militärischer EU-Einsätze auch außerhalb Europas und zur Überwachung des Schiffsverkehrs (ESA 2014). Diese Daten können „geschützt“ und als „Verschlusssache“ behandelt (EU 2014) und somit bestimmten Nutzergruppen vorbehalten werden, die im Wesentlichen denen des regulierten Dienstes von Galileo entsprechen.

Copernicus umfasst mehrere systemspezifische, »Sentinel« (Wächter) genannte Satelliten sowie einige Instrumentenpakete an Bord von Wettersatelliten der europäischen Wettersatellitenbehörde EUMETSAT. Zu den eingesetzten Technologien gehören u.a. SAR- und Radar-Höhenmessungssysteme sowie optische Spektralkameras vom sichtbaren bis zum Infrarotbereich mit hohem militärischem Nutzungswert. Weitere Daten werden von bis zu 30 Fernerkundungs- und Spionage-Satelliten zugeliefert, die von nationalen, europäischen und internationalen Organisationen betrieben werden. Komplettiert wird das Gesamtsystem durch mehrere Boden- und Kontrollstationen.

Satellitenkommunikation mit EDRS

Das Europäische Daten-Relais-Satellitensystem (EDRS) nutzt zur Satellitenkommunikation stör- und abhörsichere Laserstrahlen mit einer besonders hohen Datenübertragungsrate. Die EDRS-Satelliten kreisen im geostationären Orbit, empfangen die Datenströme niedriger fliegender Satelliten oder Flugzeuge und übertragen diese nahezu in Echtzeit an andere Satelliten oder an die Bodenstationen, die sich alle auf EU-Territorium befinden (ESA 2022). Die damit mögliche Datenautonomie und die hohe Störresistenz sowie die Nahezu-Echtzeitfähigkeit machen das System attraktiv für militärische Anwendungen, wie Aufklärung oder die Datenübertragung an Kampfjets und Drohnen. Das komplette, unter dem Markennamen »SpaceDataHighway™« laufende, System gehört dem privaten Unternehmen Airbus Defence and Space und wird von diesem im Auftrag der ESA betrieben (Airbus 2022).

Sichere Regierungskommunikation mit GOVSATCOM

Governmental Satellite Communications (GOVSATCOM) ist ein EU-Programm für sichere Satellitenkommunikation „mit einer starken Sicherheitsdimension“ im Rahmen der »Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union« vom Juni 2016. Kern ist die Sicherstellung der Kommunikation in Regionen oder Situationen, in denen andere Kommunikationsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen oder gestört bzw. zerstört sind, oder anders formuliert die „Übertragungssicherheit kritischer Informationen mit adäquatem Schutz vor Störung, Abhörung, Eindringung und Cybersicherheitsrisiken“ (ENTRUSTED o.D.) zu garantieren. Zu den Anwendungsbereichen von GOVSATCOM gehören das zivile und das militärischen Krisenmanagement sowie die Überwachung der EU-Außengrenzen und der »illegitimen« Migration. Auch bei diesem Programm werden als Anwendergruppen ausdrücklich Polizei, Grenztruppen und „militärische Krisenkräfte“ identifiziert (EUSPA 2021).

Datenauswertung im Satellitenzentrum Torrejón

Die EU betreibt in Spanien ein eigenes Satellitenzentrum. Auf seiner Homepage führt sich das European Union Satellite Centre (EUSC) so ein: „Arbeiten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Im Kontext der Informationsflut und -verzerrung bietet SatCen eine schnelle und zuverlässige Analyse von Satellitendaten zur Bewältigung aktueller Sicherheitsherausforderungen.“ (EUSC o.D.)

Hier werden für EU-Behörden Satellitenbilder, insbesondere von Copernicus, und Luftbilder gesammelt und so aufbereitet, dass sie die Überwachung von Vorgängen und Aktivitäten außerhalb Europas ermöglichen. Dazu arbeitet das Zentrum eng mit der Europäischen Verteidigungsagentur zusammen und unterstützt mit seinen Analysen die zuständigen Behörden bei der Entscheidungsfindung im Bereich Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. EUSC ist direkt dem Hohen Repräsentanten der EU für Außen- und Sicherheitspolitik unterstellt.

Wohin führt der Weg?

Die militärisch relevanten Weltraumprogramme von EU und ESA reichen bei weitem nicht an die der größeren Akteure, wie USA, Russland oder China, heran. Auch sind in Europa bislang keine Tendenzen zur Weltraumbewaffnung zu erkennen. Am aktuellen Ukrainekrieg lässt sich aber wieder einmal erkennen, wohin der Trend zu gehen scheint: zur immer entgrenzteren Kriegsführung und zum Ausreizen aller technischen Möglichkeiten, auch der, die die Weltraumtechnologie bietet.

Bereits 2008 legte die EU der internationalen Gemeinschaft den Entwurf eines Internationalen Verhaltenskodex für Weltraumaktivitäten (International Code of Conduct for Outer Space Activities) vor, der 2012 und 2013 auf mehreren Expertentreffen diskutiert und daraufhin überarbeitet wurde. Der Kodex soll u.a. „die weitere friedliche und nachhaltige Nutzung des Weltraums für jetzige und künftige Generationen schützen“, dabei helfen, ein Wettrüsten im Weltraum zu verhindern“, die weitere Entstehung von Weltraumschrott verhindern und „internationale Normen für verantwortliches Verhalten im Weltraum stärken“ (EEAS 2014). Zu echten Verhandlungen über diesen Vorschlag kam es bislang nicht, und die Gespräche bei der UN-Abrüstungskonferenz in Genf über die »Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum« (PAROS) kommen auch keinen Schritt voran.

Die Bemühungen um »Spielregeln« für die Weltraumnutzung sind löblich, die weitere Militarisierung des Weltraums werden sie aber nicht verhindern – ebenso wenig wie die zunehmende militärische Nutzung des Weltraums in der EU selbst.

Anmerkungen

1) Die »Petersberg-Erklärung« wurde ursprünglich von der Westeuropäischen Union (WEU), einem kollektiven Beistandspakt, verabschiedet. Die WEU wurde durch die Verträge von Maastricht (1997) und Nizza (2001) sukzessive in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bzw. die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der Europäischen Union überführt.

2) ESVP = Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, entspricht GSVP.

Literatur

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ENTRUSTED (o.D.): What is EU GOVSATCOM? entrusted.eu.

ESA (1975): Übereinkommen zur Gründung einer Europäischen Weltraumorganisation (ESA), abgeschlossen in Paris am 30. Mai 1975.

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ESA (2022): European Data Relay Satellite System (EDRS) Overview; artes.esa.int.

EU (2014): Verordnung (EU) Nr. 377/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Einrichtung des Programms Copernicus und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 911/2010. Amtsblatt der Europäischen Union, 24.4.2014.

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EEAS (2020): EU-NATO cooperation – Factsheets. 17.6.2020, eeas.europa.eu.

European Union Satellite Center (EUSC) (o.D.): Working for EU’s Common Foreign and Security Policy. satcen.europa.eu, ohne Datum.

European Union Agency for the Space Programme (EUSPA) (2021): GOVSATCOM. Stand 23.5.2021.

Geoană, M. (2020): NATO’s views on European defence. Remarks by NATO Deputy Secretary General Mircea Geoană at the European Defence Agency’s Annual Conference. nato.int, 4.12.2020.

ICEYE (2022): ICEYE signs contract to provide Government of Ukraine with access to its SAR Satellite Constellation. Pressemitteilung, 18.8.2022.

Jin, H. (2022): Musk says Starlink active in Ukraine as Russian invasion disrupts internet. Reuters, 27.2.2022.

NATO (2022a): NATO’s overarching space policy. nato.int, 17.1.2022.

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TASS (2022): Russia is at war not only with Ukraine, but with collective West – Shoigu. Tass, 21.9.2022.

Westeuropäische Union (WEU) (1992): Petersberg-Erklärung des WEU-Ministerrats, Bonn, 19. Juni 1992.

Regina Hagen ist ehemalige Redakteurin von W&F. Mit der Nutzung des Weltraums für militärische Zwecke beschäftigt sie sich seit 25 Jahren.

Noch Chancen für Rüstungs­kontrolle im Weltraum?

Interdisziplinäre Antworten auf eine komplexe Frage

von Arne Sönnichsen

Wiederkehrende Tests von Anti-Satelliten-Waffen (ASAT) gelten in der Debatte um die Militarisierung des Weltraums als Indikator für eine zunehmende Militarisierung und Bewaffnung des Weltraums. Dabei nehmen Expert*innen aus der Physik und den Ingenieurwissenschaften, der Rechtswissenschaft und der Politikwissenschaft jeweils andere Facetten einer vielschichtigen Problematik wahr. Mit diesem Artikel soll ein Beitrag für einen Dialog zwischen diesen Disziplinen geschaffen werden. Das Argument ist, dass die Militarisierung des Weltraums nicht unausweichlich ist und sich einzigartige Perspektiven für die Rüstungskontrolle im Weltraum ergeben, wenn die verschiedenen Fachdisziplinen ihre Erkenntnisse kombinieren.

Durch eine zunehmende Zahl an Akteuren und Aktivitäten im Weltraum steigt nicht nur die Bedeutung des Weltraums für die Menschheit, sondern auch das Risiko seiner verstärkten Militarisierung. Dabei wird Militarisierung verstanden als „die Anwendung der Wissensbestände der Weltraumwissenschaften zur Formulierung und daraus folgenden Herstellung von In­stru­menten, Geräten und Maschinen, die in einem militärischen Kontext eine praktische Verwendung finden können“ (Sariak 2017, S. 52). Bei näherer Betrachtung unterscheiden sich eine »passive« bzw. »defensive« Militarisierung – d.h. der Weltraum wird vom Militär etwa für nachrichtendienstliche Zwecke verwendet – und eine »aktive« bzw. »offensive« Militarisierung, wonach das Militär in, um, und durch den Weltraum offensive Waffen einsetzt (siehe z.B. Wolter 2006, S. 52ff.). In der Debatte wird häufig kolportiert, dass Rüstungskontrollmechanismen unzureichend seien, um diese Militarisierung einzuhegen. Die oben genannten Diszipli­nen liefern jedoch Teilantworten darauf, treten aber vielfach nicht in einen Dialog. In diesem Beitrag werden die Perspektiven dieser Disziplinen daher systematisch zueinander in Beziehung gesetzt, um die Chancen für Rüstungskontrolle zu verdeutlichen.

Technische Perspektive

Weltraumtechnologien, die für offensive Zwecke verwendet werden können, werden von der Secure World Foundation (SWF) als »Counterspace«-Technologien bezeichnet. Zu diesen Systemen zählen folgende Typen: Direct Ascent (DA), Directed Energy, Co-Orbital, Electronic Warfare und Cyber (Weeden und Samson 2022, S. xxxi) – also ballistische Abfang­raketen, Laser- und Mikrowellenwaffen, ko-orbitale »Killersatelliten« (siehe dazu ausführlicher Neuneck in diesem Dossier, S. 6ff.), elektronische Kriegsführung und Cyberattacken. Die SWF listet außerdem »Space Situational Awareness« (SSA), also die Überwachung des Weltraums, als defensive Kapazität auf. Für eine Verteilung der Kapazitäten unter den Ländern siehe die Tabelle (oben rechts).

Tabelle: 2022 Global Counterspace Capabilities.
Hinweis: Die SWF summiert Cyberwaffen unter »Electronic Warfare«
Quelle: Website SWF, abgedruckt mit der Zustimmung der Autoren.

Der Weltraum als militärisches Umfeld ist in verschiedener Hinsicht einzigartig: 1.) Weltraumtechnologien sind sehr komplex und teuer, und es ist deshalb wenig verwunderlich, dass lediglich die Weltraumgroßmächte USA und Russland, Europa und Japan, China und Indien nennenswerte Kapazitäten aufbauen konnten oder aufzubauen fähig sind; 2.) gegenüber den schwer nachweisbaren Cyber- und elektronischen Angriffen sind konventionelle Waffen (DA oder ko-orbital) äußerst transparent. 3.) Kriegsführung im Weltraum hat enorme Effekte für alle raumfahrenden Staaten, da die Gefahr der unkontrollierten Erzeugung von Weltraumschrott (»Space Debris«) durch Waffeneinsätze zum sogenannten Kesslersyndrom führen können, also zu Kaskadeneffekten der Schrotterzeugung (Su 2021, siehe auch Bentamini in diesem Dossier, S. 25).

Diese Faktoren stellen jedoch nicht per se ein Hindernis für ein Rüstungskontrollregime im Weltraum dar. Im Gegenteil: die generellen Kosten und Risiken der Raumfahrt, insbesondere hinsichtlich der weltraumspezifischen Waffentechnologien und den Kaskadeneffekten eines unkon­trol­lierten militärischen Schlagabtausches, liefern starke Anreize gerade für die stark involvierten Staaten, die Gefahren durch Rüstungskontrolle zu verhindern.

Rechtswissenschaftliche Perspektive

Das Völkerrecht spielt bei der Militarisierung des Weltraums vor allem in Gestalt möglicher Rüstungskontrollregime eine Rolle. Hierzu muss zunächst beantwortet werden können, was eine Waffe im Weltraum sein kann und wie das Völkerrecht im Allgemeinen an die Definition von Waffen herangeht. Das humanitäre Völkerrecht (HVR) fokussiert primär auf das ius in bello, also jene Regeln, die auf die Durchführung des bewaffneten Konflikts zielen. Im Kontext des HVR wird festgehalten, was ein bewaffneter Konflikt ist (Artikel 2 der Genfer Konventionen). In Ermangelung klarer Definitionen für Waffen lässt sich ein funktionaler Ansatz heranziehen, wonach jedes Objekt, welches dazu geeignet oder bestimmt ist, Schaden zu verursachen, unter den Waffenbegriff fällt. Ähnlich verfährt auch die Haager Landkriegsordnung, die jedenfalls solche Objekte unter den Waffenbegriff fasst, welche geschaffen werden, um Verletzungen und unnötiges Leid zuzufügen. Auch Art. 36 des ersten Zusatzprotokolls der Genfer Konventionen deutet auf ein weites Verständnis des Waffenbegriffs hin.

Im Kontext kollektiver Sicherheit stellen die Vereinten Nationen (VN) und die VN-Charta (VNCh) die zentrale Referenz dar. Gewaltanwendung ist im Kontext der VN strikt untersagt, wobei die VNCh in Artikel 51 das Recht auf Selbstverteidigung einräumt. Was genau eine Waffe konstituiert, wird nicht bestimmt, doch in einer strikten Auslegung angesichts der hohen Schwelle, die die VNCh an legale Gewaltanwendung in Form der Selbstverteidigung knüpft, lässt sich argumentieren, dass die Anwendung jeden Mittels, das substanzielle Schäden zu verursachen vermag, ausreicht, um als Angriff gewertet zu werden. Damit greift auch die VNCh auf einen funktionellen Ansatz zurück, der international durch konkrete Beispiele präzisiert wurde, wie die Terror­angriffe von 9/11 und das NATO »Tallinn Manual« zu Cyberattacken.

Einer Vielzahl von Rüstungskontrollabkommen fehlt es an klaren Definitionen, was als Waffe definiert wird – dies gilt nicht allein für den Weltraum. Das betrifft beispielsweise den Vertrag über den Waffenhandel (ATT) von 2013 und den Nichtverbreitungsvertrag (NPT) von 1968. In der Biowaffenkonvention werden Wirkmittel beschrieben, die in bestimmten Quantitäten waffenfähig gemacht werden können, ebenso wie Mittel zum Transport dieser Wirkmittel – dies ähnelt einem funktionellen Ansatz. Die Chemiewaffenkonvention folgt dem Ansatz, eine spezifische Definition zu liefern, welche Substanzen waffenfähig sind. Unterscheidungsmerkmal zwischen einer legitimen und einer waffenmäßigen Verwendung ist in diesem Abkommen die Intention und die Quantität, in welcher diese vorhanden ist und verwendet wird.

Es zeigt sich, dass im internationalen Recht das funktionale Verständnis von Waffen – definiert als solche Objekte, die dazu geeignet oder bestimmt sind, Schaden oder Leid zu verursachen – den überwiegenden Teil ausmacht. Je nach Rüstungskontrollabkommen treten dann zusätzliche technologiespezifische Aspekte als Entscheidungsmerkmale hinzu.

Adaptiert könnte daher eine Definition von Weltraumwaffen lauten: Weltraumwaffen sind alle Mittel, welche absichtsvoll gebaut oder verwendet werden, um ein Objekt im Orbit zu schädigen oder zu zerstören, oder jedes weltraumbasierte Objekt, welches entworfen oder getestet wurde, um Ziele auf der Erde anzugreifen (Moltz 2019, S. 42f.; Grego 2012).

Im Bemühen um die Verregelung der Weltraumnutzung gab es wiederholt Versuche, Rüstungskontrollregime oder -mechanismen zu etablieren, die bislang jedoch alle erfolglos geblieben sind. Die Magna Charta der Raumfahrt, der Weltraumvertrag (WRV) von 1967, bannte einzig Massenvernichtungswaffen im Weltraum. 1978 und 1979 gab es eine Reihe von erfolglosen bilateralen ASAT-Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion. 1981 stieß die VN-Generalversammlung einen Prozess an, der 1985 als Aufgabe an die ständige Abrüstungskonferenz (»Conference on Disarmament«, CD) weitergeleitet wurde und Verhandlungen zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum (»Prevention of an Arms Race in Outer Space«, PAROS) anstieß. Auch dieser Prozess blieb und bleibt bislang erfolglos.

China und Russland versuchten 2008 mit einem Vertragsentwurf zum Verbot von Weltraumwaffen (PPWT 2008) einen eigenen Anlauf, der von den USA aber scharf zurückgewiesen wurde, da im Entwurf erdgebundene ASAT-Waffen weiterhin erlaubt geblieben wären. Einen Vorstoß hin zu einem »soft law«-Ansatz unternahm die Europäische Union 2008 mit dem Internationalen Verhaltenskodex für Weltraumaktivitäten (ICoC 2008). Dieser Prozess scheiterte ebenfalls 2015, diesmal am Widerstand der Länder des Globalen Südens. Einen ähnlichen Anlauf unternahm Kanada (2009). Neuer politischer Wind kommt dieser Tage aus den USA: Nach einem russischen ASAT-Test vom November 2021 kündigten die USA (im April 2022) und Deutschland (im September 2022) überraschend an, in Zukunft auf destruktive ASAT-Tests zu verzichten (The White House 2022, Auswärtiges Amt 2022).

Es besteht also weiter eine große Regelungslücke, nicht nur bei militärischen Weltraumaktivitäten. Die vielstimmigen Bemühungen sollten durchaus positiv stimmen, dass es im gemeinsamen Bestreben der Staaten mittelfristig zu einer Lösung kommen kann.

Politikwissenschaftliche Perspektive

Eine politikwissenschaftliche Perspektive fokussiert vornehmlich auf die Beziehungen zwischen den Staaten und berücksichtigt dabei im Unterschied zur rechtswissenschaftlichen Perspektive auch Beziehungen in einer weniger institutionalisierten Form. Debatten kreisen hier um den Begriff der Weltraumsicherheit (»space security«), die definiert ist als „Aggregat aller technischen, regulatorischen und politischen Mittel, die auf die Sicherung des ungehinderten Zugangs und der ungestörten Nutzbarkeit des Weltraums sowie die Nutzbarkeit des Weltraums für die Wahrung der Sicherheit auf der Erde abzielen“ (Antoni 2020, S. 15). Sechs raumfahrende Großmächte, die sich insbesondere durch ihre Autonomie auszeichnen und die zeithistorisch als Paare zu Akteuren der Raumfahrt aufstiegen, lassen sich identifizieren: die USA und die Sowjetunion/Russland, Europa und Japan, sowie China und Indien (Schrogl 2019). Zwischen diesen lassen sich vier zentrale Dynamiken identifizieren: Weltraumüberlegenheit, Sicherheitsdilemma, Weltraumclub und zivile Nutzung. Es zeigt sich, dass diese abhängig von der geografischen und geopolitischen Situation des jeweiligen Akteurs ausgespielt werden:

Weltraumüberlegenheit:

  • Dies betrifft vor allem die USA, Russland und China, die allesamt einen geopolitischen Führungsanspruch erheben. Die Machtverteilung ist auch hier unterschiedlich, wobei die USA die umfangreichsten Kapazitäten und das meiste Know-How besitzen, dicht gefolgt von Russland, welches jedoch durch Budgetrestriktionen von seiner Substanz zehrt. China dagegen ist eine aufstrebende Weltraumgroßmacht, die ihre Kapazitäten beständig ausbaut (Space Security Index 2019, S. 136ff.). Andere Staaten rüsten ebenfalls auf, etwa Frankreich und Indien. Insbesondere der geopolitische Konflikt zwischen den USA und China und die von beiden klar artikulierte Führungsrolle könnten sich als Konflikttreiber herausstellen.

Sicherheitsdilemma:

  • Ein Sicherheitsdilemma ist ein klassischer Fall internationaler Politik, in der sich Staaten durch gegenseitiges Misstrauen genötigt fühlen, in militärische Sicherheit zu investieren. Dieses Phänomen korreliert teilweise mit der Dynamik der Weltraumüberlegenheit, ist jedoch regional eingegrenzt, wobei der Hotspot derzeit der asiatische Raum ist, in dem sich die drei Staaten China, Japan und Indien in einem solchen Sicherheitsdilemma sehen. China strebt deutlich nach einer Führungsrolle, während Indien und Japan sich zusehends in eine defensive Rolle gedrängt sehen (Khan und Khan 2019).

Space Club:

  • Das Konzept des »Space Club« (Paikowsky 2017) beschreibt die symbolische Bedeutsamkeit von Staaten. Staaten versuchen demnach durch die Mitgliedschaft in technologischen »Clubs« anderen Staaten zu signalisieren, dass sie als Großmächte anerkannt werden wollen. Zwei Beispiele: Der Wettlauf ins All der 1960er Jahre hatte explizit Konnotationen eines »Space Clubs« in Bezug auf die globale technologische Führungsrolle (Musgrave und Nexon 2018) – wer im Rennen um den Weltraum mit dabei war, konnte sich international als Großmacht geben. Ähnliches trifft auf den indischen ASAT-Test 2019 zu, der gewertet werden kann als Versuch, einen Platz am Verhandlungstisch für einen potenziellen ASAT-Vertrag zu erzwingen, seinen direkten Nachbarn China und Pakistan die militärischen Fähigkeiten zu beweisen, innenpolitisch Stärke zu zeigen und zugleich auf dem internationalen Parkett als verantwortungsvoller Akteur wahrgenommen zu werden (Sönnichsen und Lambach 2020).

Zivile Nutzung:

  • Die zivile Nutzung war lange Zeit der zentrale Handlungstreiber der europäischen Staaten bzw. der europäischen Raumfahrtagentur (ESA) mit ihrer expliziten Zivilklausel, aber auch für Japan. Einige der Länder des Globalen Südens kopierten den Ansatz, die Raumfahrt vor allem zur sozio-ökonomischen Entwicklung zu verwenden, etwa Indien (Harding 2013). Auch wenn die ESA und Japan weiterhin an der zivilen Raumfahrt festhalten, zeigt sich, dass die zunehmende sicherheitspolitische Neubewertung auch hier Einzug hält. So wird die Zivilklausel der ESA durch die europäischen Staaten dadurch umgangen, dass die tendenziell militär- und sicherheitspolitischen Komponenten in die neue EU-Raumfahrtagentur (»European Union Agency for the Space Programme«, EUSPA) ausgelagert werden (Klimburg-Witjes 2021). Auch zeigen Länder wie Frankreich, Indien (Aliberti 2018) und Japan (European Space Policy Institute 2020) verstärkte Tendenzen einer sicherheitspolitischen Neubewertung.

Diese Entwicklungen zeigen, dass die Raumfahrt zunehmend in sicherheitspolitischen Dimensionen gedacht wird. Sie zeigen auch, dass gerade die Konfliktlinien, die am deutlichsten zwischen USA/Russland, USA/China, China/Indien, China/Japan hervortreten, Bewegungen hin zu gemeinsamen und effektiven Rüstungskontrollbestrebungen aushebeln. Dennoch liegt in dieser Analyse der Dynamiken auch eine Chance, sich dieser bewusst zu werden und sie gezielt auszuspielen, um ein Rüstungskontrollregime zu schaffen, welches potenziell desaströse Effekte vermeiden könnte.

Der ABM-Vertrag: Handlungsleitendes Beispiel?

Der 1972 zwischen den USA und der Sow­jet­union vereinbarte und 2002 durch US-Präsident George W. Bush aufgekündigte ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (Anti-Ballistic Missiles, ABM) stellt ein Beispiel für die Herausforderungen eines Rüstungskon­trollregimes dar, das häufig als Referenz für die Probleme bei der Regulierung der Militarisierung der Raumfahrt genannt wird. Die Überlegung hinter dem Abkommen lautete, dass ein Erstschlag wahrscheinlicher wäre, wenn ein Staat über umfangreiche Defensivkapazitäten verfügte und die begründete Vermutung hätte, dass er einen Gegenschlag überleben könnte. Durch die Aufgabe dieser Fähigkeit wären beide Staaten einem Gegenschlag ausgeliefert, was den Anreiz eines Erstschlags verringern sollte. Die Verifikation, also die (gegenseitige) Überprüfung der Einhaltung der Abrüstungsleistungen der Vertragsparteien, ist das Herzstück von Rüstungskontrollregimen und wurde beim ABM-Vertrag in dreifacher Weise realisiert: Beide Vertragspartner erarbeiteten eine funktionell-absichtsbezogene Definition einzelner Bauteile, legten also mithin fest, auf welche Systeme sich das Abkommen bezog. Die Regelbefolgung wurde durch Überwachungsmaßnahmen wie Fotoaufklärungssatelliten bewerkstelligt. Eine ständige Beratungskommission (Art. XIII) konnte angerufen werden, sollte es einen Verdacht geben, dass eine Partei ihren Verpflichtungen nicht nachkommt. Dieser Dreiklang schuf die Grundlage, dass die Vertragspartner den ABM-Vertrag umsetzen konnten und könnte deshalb auch als Beispiel für einen ASAT-Vertrag herhalten (Mutschler 2013).

Fazit

Drei Ergebnisse lassen sich festhalten:

1. Weder technisch noch rechtlich konnten wir Hindernisse feststellen, die die Schaffung eines Rüstungskontrollregimes verhindern – vielmehr deuteten die Bedürfnisse einer Verhinderung (der Kosten) von Kaskadeneffekten und die erkennbaren Regelungsversuche auf ein allgemeines Kontrollbemühen hin. Wohl jedoch ließ sich feststellen, dass die eskalierenden Dynamiken wahrgenommener Sicherheitsdilemmata und Überlegenheitsansprüche zwischen den Staaten das größte Hindernis darstellen.

2. Rechtlich und politisch ist es möglich, gemeinsame Ziele für die beteiligten Akteure zu formulieren, das beweist die Schaffung der ABM-Vertrags.

3. Die Kosten von Weltraumtechnologie sind derzeit ein Flaschenhals, doch es ist zu erwarten, dass mit zunehmender symbolischer Bedeutung der Raumfahrt (»Space Club«) und sinkenden Kosten das Risiko sich verstärkender sicherheitspolitischer Dynamiken steigen wird: die Militarisierung wird zunehmen.

Im Lichte der widersprüchlichen Bewegungen in der aktuellen Politik zwischen der Ankündigung der USA, auf destruktive ASAT-Tests zu verzichten, auf der einen Seite und der durch den Ukrainekrieg steigenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen auf der anderen Seite, ist eine abschließende Einschätzung zu den Chancen für Rüstungskontrolle im Weltraum schwierig. Grundsätzlich zeigen jedoch alle oben geschilderten Erkenntnisse, dass Rüstungskontrolle im nationalen Interesse aller raumfahrenden Staaten ist und Kooperation auf lange Sicht den (auch eventuell unbeabsichtigten) de­struk­tiven Effekten der Militarisierung entgegenwirken kann. Nur gemeinsam bleibt der Weltraum eine „Domäne der gesamten Menschheit“, wie es im Weltraumvertrag heißt.

Dieser Beitrag basiert in Teilen auf einem Artikel, der im Kontext des SichTRaum Netzwerkes (sichtraum-netzwerk.de) entstand und zur Veröffentlichung in »Die FriedensWarte« angenommen ist (­Sönnichsen et al, 2022). Hier finden sich weitere Literaturangaben.

Literatur

Aliberti, M. (2018): India in space: Between utility and geopolitics. Cham: Springer.

Antoni, N. (2020): Definition and status of space security. In: Schrogl, K.-U. (Hrsg.): Handbook of space security. Policies, applications and programs. 2. Aufl. Cham: Springer, S. 9-33.

Auswärtiges Amt (2022): Deutschland erklärt in Genf Verzicht auf Tests mit Anti-Satelliten-Raketen. Beitrag auf der Homepage des Ministeriums, 13.09.2022.

European Space Policy Institute (2020): Securing Japan. An assessment of Japan’s strategy for space. Wien: Webpublikation, 21.7.2020.

Grego, L. (2012): A history of anti-satellite programs. Union of Concerned Scientists (UCS), Webpublikation, Januar 2012.

Harding, R. C. (2013): Space policy in developing countries. The search for security and development on the final frontier. London, New York: Routledge.

ICoC (2008): Draft International Code of Conduct for Outer Space Activities. CD, 2008, 17175/08.

Kanada (2009): On the merits of certain draft transparency and confidence-building measures and treaty proposals for space security. CD, 2009, CD/1865.

Khan, Z.; Khan, A. (2019): Space security trilemma in South Asia. Astropolitics 17(1), S. 4-22.

Klimburg-Witjes, N. (2021): Shifting articulations of space and security: boundary work in European space policy making. European Security 30(4), S. 526-546.

Moltz, J. C. (2019): The politics of space security. Strategic restraint and the pursuit of national interests. 3. Aufl. Redwood City: Standford University Press.

Musgrave, P.; Nexon, D. H. (2018): Defending hierarchy from the moon to the Indian ocean: Symbolic capital and political dominance in early modern China and the cold war. International Organization 72(3), S. 591-626.

Mutschler, M. (2013): Arms control in space. Exploring conditions for preventive arms control. New York: Palgrave Macmillan.

Paikowsky, D. (2017): The power of the Space Club. Cambridge: Cambridge University Press.

PPWT (2008): Draft treaty on prevention of the placement of weapons in outer space and of the threat or use of force against outer space objects. CD, 2008, CD/1839.

Sariak, G. (2017): Between a rocket and a hard place: Military space technology and stability in international relations. Astropolitics 15(1), S. 51-64.

Schrogl, K.-U. (2019): Die strategische Bedeutung des Weltraums für die Großmächte. Zeitschrift für Politikwissenschaft 29(4), S. 517-524.

Sönnichsen, A.; Lambach, D. (2020): A developing arms race in outer space? De-constructing the dynamics in the field of anti-satellite weapons. Sicherheit und Frieden 38(1), S. 5-9.

Sönnichsen, A.; Hadley, S.; Altmann, J.; Bertamini, M.; Mutschler, M.; Scheffran, J. (2022, im Erscheinen): The militarization of space. Unique opportunities for arms control. Die Friedens-Warte 95 (3-4), S. 247-266.

Space Security Index (2019): Space Security Index 2019. Featuring a global assessment of space security by Brian Weeden. 16. Aufl. Ontario.

Su, J. (2021): The legal challenge of arms control in space. In: Steer, C.; Hersch, M. H.; Thompson, D. D. (Hrsg.): War and peace in outer space. Law, policy, and ethics. New York: Oxford University Press, S. 181-199.

The White House (2022): Fact Sheet: Vice President Harris advances National Security Norms in Space. Statement, 18.4.2022.

Weeden, B.; Samson, V. (2022): Global counterspace capabilities: An open source assessment. Secure World Foundation. Broomfield.

Wolter, D. (2006): Common Security in outer space and international law. Geneva: UNIDIR.

Arne Sönnichsen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik der Universität Duisburg-Essen. Er befasst sich im Rahmen seiner Dissertation mit den Auswirkungen von Technik auf Governance am Beispiel der Raumfahrt und koordiniert das Forschungsnetzwerk »SichTRaum – Sicherheit, Technologie, Weltraum«.

Kommerzialisierung als Sicherheitsherausforderung?

Der Aufstieg des »New Space«

von Arne Sönnichsen

Seit die Trägerrakete Falcon 9 im Juni 2010 erstmals erfolgreich in den Himmel startete, steht der exzentrische Milliardär Elon Musk und mit ihm sein Unternehmen SpaceX für eine neue Weltraum-Ära, die auch als »New Space« bekannt ist und im Widerspruch zum »Classic Space« gesehen wird (Paikowsky 2017). Analyst*innen überschlagen sich, prognostizieren sprunghaftes Wachstum der weltweiten Weltraumausgaben um das Achtfache, von 339 Mrd. US$ in 2017 auf bis zu 2,7 Bio. US$ in 2045 (Tran et al. 2017). Es scheint, als habe ein neuer Goldrausch“ (Pelton 2017) eingesetzt, in dem Milliardäre wie Elon Musk, Jeff Bezos und Richard Branson mit ihren Unternehmen SpaceX, Blue Origin und Virgin ganz vorne mit dabei sein wollen. Damit hat das Zeitalter der privaten kommerziellen Nutzung (und Ausbeutung) des Weltraums begonnen – mit allen sicherheitsrelevanten, ökologischen und sozialen Konsequenzen. Kommerzielle Aktivitäten im Weltraum lassen sich unterscheiden in 1.) etablierte Aktivitäten: Satelliten, Trägersysteme und Satellitenkommunikation; 2.) in der Entwicklung befindliche Aktivitäten: Weltraumtourismus, Serviceleistungen im Weltraum und die Entsorgung von Weltraummüll (»Space Debris«); 3.) prospektive Aktivitäten: Produktion im Weltraum, Asteroidenbergbau und Weltraumhabitate (Kind et al. 2020).

Der Artikel skizziert die rechtlichen Regelbereiche der Weltraumgovernance und blickt beispielhaft auf die Genese eines kommerziellen Marktes für Trägersysteme sowie den Weltraumtourismus und den Asteroidenbergbau. Dabei stehen die sicherheitsrelevanten Folgen dieser Entwicklungen im Fokus, die im Kontext der weiteren Versicherheitlichung und Militarisierung des Weltraums nicht unterschätzt werden dürfen.

Die Ursprünge der Kommerzialisierung

Es dauerte gerade einmal fünf Jahre, nach dem Start des Weltraumzeitalters mit Sputnik, bis kommerzielle Akteure nicht nur als Zulieferer von Weltraumtechnologie, sondern auch als Projektpartner fungierten: Am 10. Juli 1962 startete die NASA für AT&T und Bell Telephone Laboratories den ersten kommerziell finanzierten und entwickelten Satelliten Telstar I. Noch im selben Jahr schuf die US-Regierung den »Communications Satellite Act«, der den kommerziellen Betrieb von Satelliten rechtlich verankerte.

Dieses Bemühen um Regulierung einer aufkommenden Kommerzialisierung drückt sich auch in diversen Abkommen aus. Ab 1967 wurde mit dem Weltraumvertrag (WRV) die Beteiligung von nicht-staatlichen Akteuren unter die Überwachung der entsendenden Staaten gestellt. In Artikel VI heißt es: „Die Aktivitäten nichtstaatlicher Körperschaften im Weltraum, einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper, bedürfen der Genehmigung und ständigen Überwachung durch den zuständigen Vertragsstaat.“ Auch die weiteren weltraumbezogenen Verträge, das Weltraumrettungsübereinkommen (1968), das Übereinkommen über die völkerrechtliche Haftung für Schäden durch Weltraumgegenstände (»Space Liability Convention«, 1972), und das Weltraumregistrierungsübereinkommen (1976) finden prinzipielle Anwendung auf kommerzielle Akteure. Der Mond-Vertrag von 1979 gilt dagegen wegen seiner geringen Unterstützung als gescheitert und findet insofern keine Anwendung.

Der Durchbruch der kommerziellen Satellitenkommunikation lässt sich auf die 1980er Jahre datieren und allem Anschein nach bleibt die Satellitenkommunikation bis auf weiteres auch das hauptsächliche Betätigungsfeld. Insbesondere in den USA ergeben sich starke Tendenzen, die Kommerzialisierung auch in anderen Bereichen zu entwickeln, dicht gefolgt von Europa und Japan, die zunehmend Programme zur Förderung kommerzieller Raumfahrt einrichten. Russland bewegt sich hier eher in eine Regression, indem es kommerzielle Aktivitäten zunehmend verstaatlicht, während China und Indien die Raumfahrt stets in den Dienst sozioökonomischer Entwicklung stellten (Kind et al. 2020, S. 21-25). Der zweite »Durchbruch« war die zunehmende Kommerzialisierung in den 2010er und 2020er Jahren, die alle Raumfahrtnationen ernst nahmen. Heute machen privatwirtschaftliche Kommunikationsaktivitäten rund ein Drittel und Erdbeobachtung ein weiteres Drittel aller Satellitenkapazitäten aus (Kind et al. 2020, S. 49).

»Lift Off« für kommerzielle Aktivitäten und Trägersysteme

Auch wenn Telstar I in Kooperation mit den Telekommunikationspartnern entwickelt wurde, übernahm die NASA die Kernaufgabe der Beschaffung der Trägersysteme ebenso wie die der Starts. Dieses Vorgehen sollte der Modus Operandi bis in die 1980er Jahre bleiben. Mit der Mondlandung am 20. Juli 1969 wähnten sich die USA als Sieger des »Space Race«, und das Interesse der US-Öffentlichkeit am Weltraum schwand zunächst, nicht zuletzt infolge von Bürgerrechtsbewegung, Vietnamkrieg und geopolitischer Entspannungspolitik (Logsdon 2015, S. 114f.). In den 1970er und 1980er Jahren nahmen zwei Projekte Fahrt auf, die die Raumfahrt kommerzialisieren wollten. Die deutsche OTRAG (Orbital Transport- und Raketen Aktiengesellschaft) versuchte ab 1975 eine simple, aus mehreren Flüssigraketen bestehende Trägerrakete zu bauen und zu vermarkten. Neben Zweifeln an der Wirtschaftlichkeit führten politischer Druck der USA und der Sowjetunion, aber auch Frankreichs, das eine direkte Konkurrenz zur staatlich getragenen Europa-Rakete/Ariane fürchtete, zum Ende der OTRAG 1986 (Schwehm 2018).

Das Space Transportation System (STS), besser bekannt als Space Shuttle, wurde zeitgleich das neue Prestigeprojekt der NASA, die dazu das Weiße Haus von einem wiederverwendbaren Raumgleiter überzeugte, der Operationen der zivilen NASA, des Militärs und kommerzieller Unternehmen übernehmen sollte. Die Versprechungen waren riesig, die Enttäuschung umso größer: Acht jährliche Starts bei rund 10.000 US$/kg (Preise 2020) waren angepriesen, realisieren konnte man im statistischen Mittel 4,7 Starts jährlich bei Kosten um 65.000 US$/kg (Logsdon 2015, S. 257; Jones 2018). Das Shuttle erlangte trotz explosionsartiger Kostensteigerung 1981 seine Startlizenz, bis die Regierung von Ronald Reagan ihr 1986 diese Lizenz infolge der Explosion des Shuttles »Challenger« wieder entzog und später den Einsatz der Shuttles auf zivile Missionen der NASA begrenzte. Militärische wie kommerzielle Akteure wechselten zu Einweg-Trägerraketen (»Expendable Launch Vehicles«).

Das Scheitern des Shuttles führte zu einem jähen Einbruch amerikanischer Starts, die von dem multinationalen Unternehmen Arianespace und ihrer Ariane-Raketenfamilie (ab 1983) aufgefangen wurden. Dies gilt auch heute als Startschuss für kommerzielle Trägersysteme – wenn auch mit nationalstaatlicher Absicherung. Die Dominanz der ­Ariane wurde erst nach dem Fall der Sow­jetunion geschmälert, als nun auch die russischen Folgeunternehmen mit der Soyuz-, ­Angara-, Proton-Raketenfamilie und der ukrainischen Zenit kommerzielle Raketenstarts anboten, infolge eines durch die Raumstationen MIR und ISS eingeschränkten Budgets und getrieben durch die generellen ökonomischen Nöte der postsowjetischen Länder.

US-amerikanischer Markt für Weltraumstarts

Aufgrund der Bereitschaft für die Öffnung, der hegemonialen Stellung der USA in diesem Bereich und der entsprechend finanzstarken Akteurslandschaft lohnt ein Blick auf die Entwicklung des US-amerikanischen Marktes für Weltraumstarts, um das Phänomen der Kommerzialisierung besser einordnen zu können. Ein kommerzieller Markt für Startkapazitäten entwickelte sich auch dort zunächst nicht, trotz Deregulierung durch die Regierung von Präsident Reagan. Erfolge wie die Conestoga I der Firma Space Science Inc., die am 9. September 1982 erfolgreich abhob, ignorierte die NASA. 2003 führte das Space Shuttle abermals zur Neujustierung des Marktes, als die Raumfähre »Columbia« beim Wiedereintritt verglühte. Die sogenannte Aldridge-Kommission, die der 2004 verkündeten »Vision for Space Exploration« von George W. Bush, jr. folgte, plädierte entschieden dafür, von der bisherigen Praxis der Beschaffung der Startkapazitäten durch die NASA Abstand zu nehmen: statt eines »Kosten Plus«-Modells sollten privat-kommerzielle Startkapazitäten als Public-Private Partnerships nach einem festgelegten Preis eingekauft werden (Solomon 2008, S. 25-29). Im klassischen Modus waren aufgeblähte Hierarchien, Kostensteigerungen und Verzögerungen üblich (Paikowsky 2017), auch hatte sich zwischen NASA und Raumfahrtindustrie eine »Drehtür« für Manager etabliert. De facto blieben sowieso nur zwei Konzerne übrig: Boeing und Lockheed Martin (Berger 2021, S. 192).

Direkte Konsequenzen zeigten sich für die NASA noch nicht, wohl jedoch für ein 2002 gegründetes Weltraumunternehmen. Elon Musk, der durch den Verkauf eines Softwareunternehmens zu einigen Millionen US$ gelangt war, zeigte sich unzufrieden mit den ambitionslosen Zielen der NASA, sodass er kurzerhand sein eigenes Raumfahrtunternehmen, Space Explorations bzw. SpaceX, gründete. 2003 klagte SpaceX gegen die Vergabe eines Auftrags der NASA über 227 Mio. US$ zur Versorgung der ISS, der ohne Ausschreibung an das beinahe bankrotte Unternehmen Kistler Aerospace gegangen war. Die NASA verlor den Prozess, zog den Vertrag mit Kistler zurück und schuf die Programme COTS (»Commercial Orbital Transport Services«) und CRS (»Commercial Resupply Services«), welche finanzielle Mittel an die teilnehmenden Firmen ausschütteten, die zuvor gesteckte Ziele erreicht hatten. Am 28. September 2008 führte SpaceX einen vierten, endlich erfolgreichen Start seiner Falcon 1 durch und wurde mit einem 1,9 Mrd. US$ schweren Vertrag zur Versorgung der ISS belohnt, der das Unternehmen zugleich vor dem Bankrott bewahrte (Vance 2015; Berger 2021).

Damals noch belächelt, transformiert SpaceX seitdem den Markt durch seine der traditionellen Raumfahrt diametral entgegengesetzten Praktiken: so hat SpaceX flache Hierarchien und Entscheidungsprozesse, produziert in-house und verwendet kommerziell verfügbare Bauteile. Käufer bezahlen einen fixen Preis, die Kosten liegen pro kg bei 2.400 US$ (Jones 2018), was vor allem zu einer zunehmenden Marktmacht von SpaceX beiträgt. Auch experimentiert SpaceX mit wiederverwendbarer Technologie und setzt mit Falcon Heavy (Jungfernflug 2018) und der Entwicklung des Gleiters Starship erneut Akzente. Damit ist SpaceX auch zur Chiffre des »New Space« avanciert. Das Unternehmen beweist nicht nur die Agilität und Innovationsfähigkeit von Start-Ups, es beweist, dass Risikoarmut und ein auf Sicherheit getrimmtes Businessmodell für die Frühzeit der (bemannten) Raumfahrt bestimmend war, jedoch zunehmend überholt ist. Dieser Trend wird durch viele nachahmende Unternehmen im Bereich der sogenannten »Microlauncher« kopiert, etwa Electron und Firefly in den USA, oder HyImpulse, RFA und Isar Aerospace in Deutschland.

Weltraumtourismus: Der nächste Schritt?

Beim Weltraumtourismus reisen Personen, die nicht in die Organisationsstrukturen staatlicher Stellen eingebunden sind, gegen Bezahlung in den Weltraum. Der erste Weltraumtourist war Dennis Tito, ein amerikanischer Multimillionär, der 2001 mit einer russischen Soyuz für 20 Mio. US$ zur ISS flog. Generell ist zu unterscheiden zwischen mehrtägigen Aufenthalten im Weltraum, etwa auf der ISS oder in anderen speziellen Habitaten, die Unternehmen wie Bigelow Aerospace planen, und suborbitalen Flügen, bei denen der Rand der Atmosphäre für einige Minuten erreicht wird, bevor das Raumfahrzeug zur Erde zurückfällt. In Zahlen ausgedrückt: Bis Juni 2022 flogen 13 Personen für 8-17 Tage zur ISS und bezahlten zwischen 20 und 35 Mio. US$ an das Unternehmen Space Adventures. 26 Personen unternahmen zehnminütige suborbitale Flüge mit Blue Origin, die rund 200.000 bis 300.000 US$ kosten sollten. Vier Personen blieben mit SpaceX drei Tage im LEO. Während die Aufenthalte von Space Adventures alle ein bis zwei Jahre stattfanden, entsendet Blue Origin seine Raumfahrzeuge annähernd monatlich, d.h. alle 26 Personen, die bislang einen suborbitalen Flug absolvierten, taten dies innerhalb eines Jahres.

Regulativ ist die derzeitige Form des Weltraumtourismus unproblematisch. Staaten haften für die Durchführung der Flüge, und da auf der ISS das jeweilige Landesrecht gilt, obliegt die Entscheidung darüber, wer Zugang zur ISS erhält, dem entsendenden Staat. Ein handfestes politisches Problem betrifft Fragen der (Klima-)Gerechtigkeit. Es wird geschätzt, dass ein einfacher suborbitaler Flug, der bereits deutlich weniger Beschleunigung und damit weniger Abgase und CO2 erzeugt als ein orbitaler Flug, immer noch das 50-100fache eines regulären transkontinentalen Fluges freisetzt. Hier steht der Weltraumtourismus unter einem nicht unerheblichen Rechtfertigungsdruck, da eine Ausweitung der weltraumtouristischen Unternehmungen faktisch nur durch eine höhere Umweltbelastung zu haben ist.

Asteroidenbergbau: ein neuer Extraktivismus?

Der Asteroidenbergbau, d.h. das Einfangen von Asteroiden und der Abbau der enthaltenen Mineralien, ist noch in den Bereich der Science-Fiction einzuordnen, hat jedoch ein signifikantes Transformationspotential. So wäre es möglich, dass der 1852 entdeckte Asteroid Psyche 16 in seinem Inneren Goldvorkommen im Wert von heute rund 600-700 Trillionen US$ mit sich trägt. Zum Vergleich: Der irdische Goldmarkt umfasste 2019 rund 317 Bio. US$. Grundlegende Technologien zum Abbau sind realisierbar und der ESA-Satellit Rosetta demonstrierte schon 2016, dass eine Landung möglich ist. Dennoch sind die Kosten derzeit kaum realistisch zu kalkulieren, die Chancen auf Erfolg mehr als unsicher. Trotzdem wird geforscht und investiert.

Zwei internationale Rechtsnormen werden in diesem Kontext zitiert: Artikel I WRV beschreibt den Weltraum als „Domäne der Menschheit“ und schreibt diesem ähnliche Charakteristika zu wie bei den Globalen Gemeingütern (»Global Commons«). Artikel II WRV verbietet nationale Aneignungen im Weltraum. Gemeinsam entfalten diese beiden Artikel einen Effekt, der darauf hindeutet, dass Asteroidenbergbau auf Basis des derzeitig gültigen Rahmens internationaler Normen nicht legal ist bzw. nicht ausreichend reguliert ist. Diese Lücke haben die USA 2015 und Luxemburg 2017 durch nationale Gesetze gefüllt, die Unternehmen das Recht einräumten, geplünderte Mineralien zu behalten. Als Absicherung von Investitionen sind diese Gesetze plausibel, doch ist damit noch nicht die Gerechtigkeitsproblematik ausgeräumt, die vermutlich dann folgt, sobald Asteroidenbergbau faktisch realisiert werden kann (Svec 2022).

Trägersysteme als Anstoß für weitere kommerzielle Aktivitäten

Die durchgreifenden Veränderungen im Markt der Trägersysteme gehen mit tiefgreifenden Veränderungen aller kommerziellen Aktivitäten einher, die zu weiten Teilen erst möglich sind, seit es kostengünstige Zugänge zum Weltraum gibt. Die Ausweitung von Satellitenstarts, von Satellitenanwendungen, dem Weltraumtourismus und der durch Miniaturisierung forcierte Aufbau von Satellitenschwärmen und Konstellationen aus vielen kleinen Satelliten (Konecny 2004) mit dem Ziel, größtmögliche Redundanz und Resilienz zu schaffen (etwa bei StarLink von SpaceX und dessen globalem Internetangebot), sind maßgeblich auf fallende Startpreise zurückzuführen. Damit kommen auch kommerzielle Dienstleistungsaktivitäten im Weltraum, wie etwa die Durchführung von Wartungsarbeiten an Objekten im Weltraum, erst in Frage. Zugleich entstehen durch diese Ausweitung auch signifikante Sicherheitsgefahren, hier weniger in der traditionellen Dimension militärischer und nationaler Sicherheit (»Security«), vielmehr in den Dimensionen der sicheren Nutzung des Weltraums (»Safety«).

Je mehr Objekte sich im Weltraum befinden, desto höher ist die von ihnen ausgehende Gefahr von kaskadierenden Zusammenstößen, die die Raumfahrt praktisch völlig zum Erliegen bringen könnten. Deshalb ist das Thema Weltraummüll für die Raumfahrt im Zusammenhang mit der Kommerzialisierung zu einem prioritären Thema der Raumfahrtdiplomatie avanciert (siehe den Beitrag von Bertamini in diesem Dossier, S. 25). Entsorgungskonzepte werden bereits als Designmerkmal von Raumfahrzeugen entwickelt, während eine Art aktiver Müllabfuhr im Weltraum Thema politischer Verhandlungen ist. Kommerzielle Akteure wie ClearSpace sind hier auf dem Vormarsch, aber globale Übereinkommen zur Entfernung von Weltraummüll stellen zurzeit noch eine größere politische Herausforderung dar, als Weltraummüll schlicht zu vermeiden. In diesem Kontext wird seit einigen Jahren auch eine Regulierung des Weltraumverkehrs (»Space Traffic Management«) vorangetrieben, um die Vielzahl an Problemen anzugehen (IAA 2016).

Kommerzialisierung als Katalysator oder Dämpfer von Konflikten?

Die Kommerzialisierung beschert der Raumfahrt eine erhöhte Aufmerksamkeit, die vornehmlich auf SpaceX und dessen technologischen Errungenschaften sowie den fallenden Startpreisen beruht. Die Vervielfältigung von Weltraumaktivitäten in Quantität und Qualität nimmt bereits zu, wenngleich eine nachhaltige Demokratisierung im Sinne einer Neujustierung der Machtverhältnisse unwahrscheinlich ist (Rementeria 2022).

Es muss aber bei allem Enthusiasmus auch konstatiert werden, dass die kommerziellen Aktivitäten weiterhin auf einem moderaten Niveau stattfinden. So gibt es zwar einen Aufwärtstrend in der Zahl an Raketenstarts und der gestarteten Objekte (2016: 221; 2021: 1807), und auch insgesamt ist der Satellitenmarkt weiterhin der bedeutsamste hinsichtlich kommerzieller Aktivitäten. Die meisten der gestarteten Objekte werden jedoch weiterhin vornehmlich von staatlichen Akteuren finanziert – hier haben Unternehmen wie SpaceX lediglich im Bereich der Trägersysteme staatliche und halbstaatliche Akteure wie Roskosmos und Arianespace bei der Beförderung verdrängt.

Für die konkrete Umwelt des Weltraums ist die Vervielfältigung an kommerziellen Aktivitäten daher bedeutsam, da sie auch explizit (sicherheits-)politische Verwerfungen durch eine Verschärfung der Abfallproblematik nach sich zieht. Zudem zeigt sich ein Überkreuzen geopolitisch staatlicher Interessen und kommerzieller Aktivitäten: StarLink von SpaceX wird von Staaten wie Russland und China wegen der Verwicklungen im Ukraine­krieg und auch wegen seines unzensierbaren Zugriffs auf das Internet argwöhnisch beobachtet, teilweise sogar aktiv durch Weltraummüll gestört (Sönnichsen 2021) oder gar mit expliziten Ankündigungen bedroht, diese Satelliten abzuschießen (Bhatia 2022). Dass Konstellationen wie StarLink das Potenzial haben, in Krisenregionen eine Kommunikationsinfrastruktur aufrecht zu erhalten, oder dass die Erdbeobachtung unschätzbare Informationen hinsichtlich Klimafolgen, Katastrophen und Menschenrechtsverletzungen liefert, ist gerade im Kontext eines breiten Sicherheitsbegriffes (»human security«) von Relevanz.

Durch die Volatilität der Kommerzialisierung ist eine abschließende Bewertung schwierig. Es konnte aufgezeigt werden, dass die Kommerzialisierung a.) keineswegs ein neues Phänomen, sondern eine Evolution darstellt, die dazu transformativ wirkt; dass b.) die Kommerzialisierung eng mit der Geschichte der Trägersysteme verbunden ist, an deren Anfang wir erst stehen; und c.) die Kommerzialisierung unterschiedliche Rückwirkungen auf Politik und Sicherheit nimmt. Erwartbar ist, dass die technische Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist, es deshalb zu weiteren geopolitischen Konflikten kommen wird und es daher regulativer Eingriffe bedarf, um klare Leitplanken für kommerzielle Aktivitäten im Weltraum herzustellen.

Literatur

Berger, E. (2021): Liftoff. Elon Musk and the desperate early days that launched SpaceX. New York, NY: William Morrow.

Bhatia, S. (2022): Why does China want to shoot down the Elon Musk Starlink satellites? Pocket Now, 27.5.2022.

IAA (2016): Space Traffic Management. Towards a roadmap for implementation. IAA, Paris.

Jones, H. W. (2018): The recent large reduction in space launch cost. Proceedings of the 48th International Conference on Environmental System. Albuquerque, New Mexico, ICES-2018-81.

Kind, S.; Jetzke, T.; Nögel, L.; Bovenschulte, M.; Ferdinand, J.-P. (2020): New Space – neue Dynamik in der Raumfahrt. Büro für Technikfolgenabschätzung. Kurzstudie Nr. 1, Berlin (Oktober).

Konecny, G. (2004): Small satellites – A tool for earth observation? Institute of Photogrammetry and GeoInformation, Universität Hannover, Eigenpublikation.

Logsdon, J. M. (2015): After Apollo? Richard Nixon and the American Space Program. New York: Palgrave Macmillan.

Paikowsky, D. (2017): What is New Space? The ­changing ecosystem of global space activity. New Space 5(2), S. 84-88.

Pelton, J. N. (2017): The New Gold Rush. The riches of space beckon! Cham: Copernicus.

Rementeria, S. (2022): Power dynamics in the age of space commercialisation. Space Policy 60, S. 101472.

Schwehm, O. (Regie) (2018): Fly, Rocket, Fly. Mit Macheten zu den Sternen. Dokumentarfilm. Hamburg: Lunabeach TV und Media GmbH. Online verfügbar unter otrag.com.

Solomon, L. D. (2008): The privatization of space exploration. Business, technology, law and policy. New Brunswick: Transaction Publishers.

Sönnichsen, A. (2021): An ASAT test, again. SpaceWatch.global, zuletzt aktualisiert am 20.12.2021.

Svec, M. (2022): Outer space, an area recognised as res communis omnium: Limits of national space mining law. Space Policy 60, S. 101473.

Tran, F. et al. (2017): Thematic Investing: To infinity and beyond – Global space primer. New York, Bank of America Merrill Lynch (Transforming World Thematic Research), 30.10.2017.

Vance, A. (2015): Elon Musk. How the billionaire CEO of SpaceX and Tesla is shaping our future. New York: Ecco.

Arne Sönnichsen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik der Universität Duisburg-Essen. Er befasst sich im Rahmen seiner Dissertation mit den Auswirkungen von Technik auf Governance am Beispiel der Raumfahrt und koordiniert das Forschungsnetzwerk »SichTRaum – Sicherheit, Technologie, Weltraum«.

Ressourcenabbau, Weltraumschrott und der Weltraum als Teil der »Umwelt«

Eine rechtswissenschaftlich-ökologische Betrachtung

von Maximilian Bertamini

Die Bedeutung des Weltraums für den internationalen Frieden ist breiter gefächert, als es auf den ersten Blick erscheint. Denn nicht nur eine fortschreitende Militarisierung schafft Konfliktpotenziale im All, sondern auch Wettläufe um Ressourcen und die stetige Verknappung nutzbarer Orbits durch Weltraumschrott. Im Sinne des Friedensbegriffs der Vereinten Nationen ist Frieden nicht nur die weitgehende Abwesenheit militärischer Konflikte, sondern darüber hinaus auch das Vorherrschen von Bedingungen, die Konflikten vorbeugen und unter denen Frieden fortbestehen kann. Dazu zählen sozio-ökonomische, humanitäre und ökologische Faktoren (VN Sicherheitsrat 1992), die weitestgehend auch menschenrechtlich verbürgt sind. In Hinblick auf diese Faktoren sind auch Dynamiken friedensrelevant, die nicht militärisch geprägt sind.

Anhand der Regulierung von Ressourcenabbau im Weltall und der Problematik des Weltraumschrotts soll im Folgenden gezeigt werden, inwiefern diese beiden Bereiche Herausforderungen für den richtigerweise breit verstandenen internationalen Frieden sind. Der Beitrag endet mit Überlegungen dazu, ob und inwieweit diese Dynamiken mit einer Einordnung des Weltraums als Teil der natürlichen Umwelt vereinbar wären.

Konfliktpotenzial Ressourcenabbau im Weltall

Auch wenn es nach Science Fiction klingen mag: Der Abbau von natürlichen Ressourcen im Weltraum, z.B. von Aste­roiden und anderen Himmelskörpern, ist ein Vorhaben, dem Unternehmen, Raumfahrtbehörden und Wissenschaft seit einigen Jahren mehr Aufmerksamkeit schenken denn je. Waren 2019 noch ca. 20.000 erdnahe Asteroiden bekannt, so sind es zum Zeitpunkt dieser Publikation bereits ca. 30.000 (CalTech 2022). Viele dieser Himmelskörper verfügen über reichhaltige Vorkommen an Platin und anderen wertvollen Rohstoffen, die jeweils Milliarden von US$ wert sind (Yarlagadda 2022). Neben Mineralien hält der Weltraum auch nennenswerte Vorkommen an Wasserstoff in Form von Eis bereit (etwa in den Polkappen des Mondes) (NASA 2018), die das Interesse verschiedener Akteure wecken. Aus dem Eis kann Wasserstoff extrahiert und in Treibstoff umgewandelt werden, wodurch ein erneutes Auftanken von Raumfahrzeugen ermöglicht würde (TU Berlin 2021). Diese Möglichkeit, in Verbindung mit der Wiederverwendbarkeit moderner Raketen, könnte die Kosten der Raumfahrt derart senken, dass damit ein neues Weltraumzeitalter losgetreten würde. Entsprechend groß ist das wirtschaftliche und wissenschaftliche Interesse am Abbau natürlicher Ressourcen im All.

Angesichts des großen Potenzials von Weltraumbergbau droht allerdings auch ein Wettrennen um die Ressourcen, die mit den jeweils aktuellen technischen Möglichkeiten schon erreichbar sind. Dabei ist zu befürchten, dass das Ringen um die besten Abbaumöglichkeiten nicht nur nach dem Prinzip »first come, first serve« vonstatten geht, sondern dabei auch Konflikte über die extrem wertvollen Rohstoffvorkommen entflammen können. Diese Befürchtung wird dadurch verstärkt, dass der Weltraumvertrag (WRV) von 1967, der einen Großteil der Rechte und Pflichten von Staaten im Weltraum regelt, das Thema Ressourcenabbau nicht explizit behandelt und die freie Nutzung und Erkundung des Weltraums für alle garantiert, was Raum für eine Wild-West-Mentalität lässt (siehe auch Engels in diesem Dossier, S. 12). Der umstrittene rechtliche Status von Ressourcen im All wird im Folgenden skizziert.

Artikel II WRV legt fest, dass der Weltraum keiner nationalen Aneignung unterliegt, sei es durch Souveränitätsansprüche, Besetzung, Benutzung oder auf anderen Wegen. Was in dieser Vorschrift nicht ausdrücklich behandelt wird, ist der Umgang mit Rohstoffen einerseits und mit Privateigentum andererseits. Die Meinungen in der juristischen Fachliteratur darüber, welche Objekte und Rechte von Art. II WRV erfasst sind, gehen teils diametral auseinander. Eine klarere Position zur Frage der Rohstoffnutzung bezieht Art. 11 des Mondvertrages – welcher übrigens einen deutlich weiteren Anwendungsbereich hat, als sein Name vermuten lässt. Laut Art. 11 sind auch Ressourcen im Weltraum ausdrücklich vom Aneignungsverbot erfasst, was so bleiben soll, bis die Vertragsstaaten sich auf Regelungen für ihren Abbau und die Verteilung der daraus resultierenden Vorteile einigen können. Allerdings sind lediglich 18 Staaten Vertragsparteien des Mondvertrages, darunter keine der großen Raumfahrtnationen. Beobachter*innen führen die mangelnde Popularität des Mondvertrages unter anderem auf seinen restriktiven Umgang mit Rohstoffen zurück (Anderson et al. 2019; Coffey 2009, S. 127).

Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass manche Staaten bereits nationale Regelungen erlassen haben, die sich die offene Rechtslage zu Nutzen machen und es den eigenen Staatsangehörigen erlauben, Eigentum an Ressourcen im Weltraum zu erwerben. Insbesondere der US Commercial Space Launch Competitiveness Act (CSLC 2015) und das Luxemburgische Gesetz zur Erkundung und Nutzung der Ressourcen des Weltraums (Luxemburg 2017) sind hier nennenswert (vgl. den Beitrag von Sönnichsen in diesem Dossier, S. 21). Was mit einzelnen Gesetzen begann, findet heute seine Fortführung in den »Artemis Accords« (2020), einem unverbindlich-politischen Vertragswerk unter Schirmherrschaft der USA, demzufolge der Abbau und die Nutzung von Weltraumressourcen nicht per se das Aneignungsverbot in Art. II WRV verletzen. Im gleichen Geiste steht das 2022 erschienene McGill Manual on International Law Applicable to Military Uses of Outer Space (Jakhu und Freeland 2022), welches aktuell geltendes internationales Weltraumrecht wiedergeben soll. Darin heißt es in Regel 128, dass die Ressourcen des Weltraums erkundet und genutzt werden dürfen. Auch wenn die Formulierungen der Artemis Accords und des McGill Manuals vorsichtig gewählt sind und nicht ausdrücklich eine kommerzielle Nutzung von Weltraumressourcen gestatten, stellen sie als derzeit aktuellste Stellungnahmen zur rechtlichen Regelung der Thematik auch keine Hürde für diese dar. Es wird zwar jeweils betont, dass der Weltraum, wie auch in Art. IV WRV vorgesehen, nur zu friedlichen Zwecken genutzt werden darf. Allerdings betrifft diese Einschränkung nur die jeweilige Weltraumnutzung. Das Konfliktpotenzial, das sich aus dem Wettbewerb um ebendiese Nutzungen ergeben kann, findet keine Erwähnung.

Die dargestellte Rechtslage kann Akteure dazu ermutigen, sich die Ressourcen des Weltraums unilateral zu eigen machen zu wollen. Dies betrifft vor allem diejenigen Staaten und Unternehmen, die technologisch und finanziell entsprechend ausgestattet sind – nicht selten auf der Grundlage großer eigener Rohstoffvorkommen (Öl, Gas, Kohle, Seltene Erden, Sand, usw.) auf der Erde, wie etwa im Falle Russlands, Chinas oder der USA. Der Drang nach Festigung und Erweiterung geopolitischer Macht durch weitere oder das erneute Erschließen bereits erschöpfter Rohstoffe kann das Verhältnis der großen Raumfahrtnationen zueinander gefährden und dazu führen, dass Ungleichheiten gegenüber den weniger entwickelten Staaten fortgesetzt und vertieft werden. Zwar betonen das internationale Weltraumrecht, die Artemis Accords und das McGill Manual die Pflicht zur Kooperation und gegenseitigen Rücksichtnahme, aber wie die aktuellen Spannungen zwischen Russland und den USA um die ISS (vgl. Scheffran in diesem Dossier, S. 2) und Chinas Alleingang beim Bau ihrer eigenen Raumstation zeigen, verkommen diese Pflichten nur allzu schnell zu Lippenbekenntnissen. Ein Wettrennen der Großmächte um die Ressourcen des Weltraums bleibt daher sehr bedenklich, insbesondere vor dem Hintergrund eines anspruchsvollen Friedensbegriffs. Es droht Konflikte und Instabilität zu fördern, statt sie einzudämmen, insbesondere auch auf der sozio-ökonomischen Ebene. Angesichts der theoretisch unendlichen Verfügbarkeit von Ressourcen im Weltall eine ernüchternde Vorstellung.

Konflikte um begrenzte Orbits und Weltraumschrott

Eine ähnliche Dynamik droht im Zusammenhang mit dem knapper werdenden nutzbaren Raum im Erdorbit. Mit der stetig steigenden Nutzung des Weltraums durch staatliche und in letzter Zeit auch immer mehr private Akteure steigt auch die Zahl an ausrangierten Satelliten, Trümmerteilen und Kleinstteilen, die unter dem Begriff Weltraumschrott zusammengefasst werden. Insbesondere das fortschreitende Testen von Anti-Satelliten-Raketen ist hier problematisch. Aber auch bei nichtmilitärischer Nutzung entsteht Weltraumschrott, etwa dadurch, dass Objekte technische Defekte erleiden oder sich kleinere Partikel bei Raketenstarts ablösen. Auch das Betreiben von Weltraumbergbau wäre wohl kaum möglich, ohne dass dabei Weltraumschrott entstünde. Im Frühjahr 2022 befanden sich rund 130 Millionen erkennbare Teile Weltraumschrott im Erd­orbit, von denen ca. 100.000 größer als 1cm und ca. 36.500 größer als 10cm sind (SatelliteXplorer 2022). Diese erreichen Geschwindigkeiten von rund 28.000km/h (ebd.), wodurch selbst kleinste Teile bei Kollisionen mit aktiven Weltraumobjekten erhebliche Schäden anrichten können. Je mehr Weltraumschrott anfällt, desto schwieriger wird eine sichere und langfristige Nutzung des Weltraums.

Bestrebungen, die Verursachung von weiterem Weltraumschrott zu verhindern und schon vorhandenen zu beseitigen, verfolgen sowohl staatliche als auch private Akteure. Diese Bemühungen stecken aber jeweils noch in ihren Kinderschuhen (vgl. ebd.). Verheerend an Weltraumschrott ist, dass sich dessen Zahl auch ohne menschliche Einwirkung weiter vervielfacht. Der NASA-Physiker Donald Kessler beschrieb bereits 1978 ein Phänomen, das seitdem als das Kessler-Syndrom bekannt ist (Kessler und Cour-Palais 1978). Seine These ist, dass Teile von Weltraumschrott früher oder später miteinander kollidieren, wodurch weitere kleinere Teile produziert werden, die wiederum mit anderen kollidieren und eine (zunächst langsam eskalierende) Kettenreaktion auslösen. Da auch kleinste Teile Weltraumschrott angesichts ihrer extremen Geschwindigkeit enorme Schäden an funktionsfähigen Weltraumobjekten anrichten können, ist das Kessler-Syndrom ein großes Problem für die langfristige Nutzbarkeit des Weltraums.

In Ermangelung kurzfristiger Lösungen für die Weltraumschrottproblematik und der steigenden Anzahl an Weltraumakteuren wird der Weltraum zunehmend »enger«. Diese Entwicklung erzeugt Druck auf Weltraumakteure und verschärft damit den Drang danach, das meiste aus der eigenen Weltraumnutzung herauszuholen, solange dies noch effizient möglich ist.

Ähnlich wie auch beim Thema des Ressourcenabbaus im Weltraum ist die veraltete Rechtslage eher ein Teil des Problems als der Lösung. Der Weltraumvertrag enthält nur eine einzige Klausel mit einer umweltbezogenen Dimension und damit einen Bezug zur Verschmutzung des Weltraums. Artikel IX WRV spricht davon, dass bei der Erkundung und Erforschung des Weltraums auf die Interessen anderer Staaten Rücksicht zu nehmen ist und verbietet in diesem Sinne auch die Kontaminierung der Erde und anderer Himmelskörper durch Stoffe aus dem Weltraum. Diese Vorschrift ist ihrem Wortlaut nach allerdings in zweierlei Hinsicht beschränkt: Zum einen erstreckt sie sich nicht auf Weltraumnutzungen außerhalb von Erforschung und Erkundung (d.h. nicht auf wirtschaftliche oder militärische Nutzung) und zum anderen werden durch den Fokus auf Himmelskörper die Umlaufbahnen und der »offene« Raum um die Erde nicht in den Anwendungsbereich einbezogen.

Dementsprechend kommt auch das McGill Manual in Regel 129 zu dem Schluss, dass das Völkerrecht keine ausdrücklichen Regeln zur Verursachung von Weltraumschrott enthält. Die Regel enthält aber auch das Zugeständnis, dass sich Pflichten mittelbar aus anderen Normen als denen des Weltraumrechts ergeben können – jedoch ohne diese konkret zu benennen. Auf der politischen Ebene haben sich immerhin die 20 Unterzeichnerstaaten der Artemis Accords in Abschnitt 12 zur Eindämmung von Weltraumschrott verpflichtet.

Der Weltraum als natürliche Umwelt

Neben Perspektiven, die den Weltraum als wirtschaftliche Ressource, militärische Domäne oder Forschungsobjekt betrachten, wird auch immer wieder vorgeschlagen, den Weltraum insbesondere in Hinblick auf das Thema Weltraumschrott als Teil der natürlichen Umwelt zu begreifen (statt vieler s. Bertamini 2021; Shrivastav 2020). Dabei steht im Vordergrund, den Weltraum in zweierlei Hinsicht für zukünftige Generationen zu erhalten: Einerseits als nutzbaren Raum (wirtschaftlich, wissenschaftlich, etc.) und andererseits als kulturellen und spirituellen Bezugspunkt (vgl. hierzu die »Dark and Quiet Skies«-Initiative des VN-Weltraumbüros, UNOSA 2021). Da der Umweltbegriff dynamisch ist und davon abhängt, was die Menschheit zu einem gegebenen Zeitpunkt unter »Umwelt« versteht, sprechen keine kategorischen Erwägungen gegen die Einordnung des Weltraums als Umwelt.

Den Weltraum als Teil der natürlichen Umwelt zu verstehen, würde bedeuten, Erwägungen zum Umweltschutz und zur nachhaltigen Nutzung gemeinschaftlicher Ressourcen auf den Weltraum auszudehnen. Das hätte auch Implikationen für Weltraumbergbau und Weltraumschrott. Für den Umgang mit Weltraumschrott würde die Einordnung des Weltraums als Umwelt vor allem bedeuten, den Fokus weg von Verantwortlichkeit für Schäden durch Weltraumschrott hin zu dessen Prävention zu verschieben. Denn das internationale Umweltrecht, das in weiten Teilen gewohnheitsrechtlich und damit annähernd universell gilt, verlangt den Schutz gemeinschaftlich genutzter Ressourcen und fordert von Staaten die Prüfung einer jeglichen geplanten Maßnahme, die sich negativ auf den Zustand der Ressource auswirken könnte (IGH 2010, Rn. 204). Auch die Übernutzung von Ressourcen wäre dann eindeutig rechtswidrig. Umweltrechtliche Kooperations- und Konsultationspflichten könnten hier die vergleichsweise vagen und engen Pflichten aus dem Weltraumrecht stärken und konkretisieren. Auch in Hinblick auf militärische Nutzungen des Weltraums und den dadurch direkt und indirekt entstehenden Weltraumschrott wäre eine umweltrechtliche Perspektive förderlich. Denn das humanitäre Völkerrecht enthält verschiedene Pflichten zum Schutz der Umwelt in bewaffneten Konflikten (vgl. Art. 55 des 1. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen vom 12. August 1949).

Mit Blick auf den Weltraumbergbau würde die Einordnung des Weltraums als natürliche Umwelt vor allem globale Abstimmung und fairen Zugang einfordern. Im Interesse der Rechtssicherheit wäre hier aber ein ausdrückliches Regelwerk mit klaren Vorgaben, Bedingungen und Verteilungsquoten wünschenswerter.

Eine umwelt(recht)liche Perspektive auf den Weltraum hat das Potenzial, die oft unspezifischen Regeln des Weltraumrechts in manchen Punkten zu konkretisieren und bestehende Pflichten als solche zu betonen. Mindestens als Übergangslösung, bis zur Schaffung konkreter Spezialregeln für die modernen Herausforderungen der Weltraumnutzung, wäre angesichts der erheblichen Bedeutung des Weltraums für das Leben auf der Erde ein »Umweltmindset« angebracht. Durch den vorherrschenden umweltbewussten Zeitgeist lässt sich das Potenzial dieser Perspektive heute besser entfalten als je zuvor.

Literatur

Anderson, S.; Christensen, K.; La Manna, J. (2019): The development of natural resources in outer space. Journal of Energy & Natural Resources Law 37, S. 227-258.

Artemis Accords (2020): Principles for cooperation in the civil exploration and use of the moon, Mars, comets, and asteroids for peaceful purposes. NASA und U.S. Department of State, Washington DC.

Bertamini, M. (2021): Weltraumschrott und Umweltschutz. SichTRaum Blog, 05.02.2021.

CalTech (2022): Discovery statistics. California Institute of Technology, Center for Near Earth Object Studies, cneos.jpl.nasa.gov/stats/totals.html.

Coffey, S. (2009): Establishing a legal framework for property rights to natural resources in outer space. Case Western Reserve Journal of International Law 41, S. 119-147.

CSLC (2015): US Commercial Space Launch Competitiveness Act. 114th U.S. Congress, Washington D.C.

Internationaler Gerichtshof (IGH) (2010): Pulp mills on the river Uruguay (Argentinien v. Uruguay). Urteil Rep. 14.

Jakhu, R.; Freeland, S. (Hrsg.) (2022): McGill manual on international law applicable to military uses of outer space, Vol. I – Rules. Montreal: Centre for Research in Air and Space Law.

Kessler, D.; Cour-Palais, B. (1978): Collision frequency of artificial satellites: The creation of a debris belt. Journal of Geophysical Research 86, S. 2637-2646.

Luxemburg (2017): Law of July 20th 2017 on the exploration and use of space resources. Luxemburg Space Agency.

NASA (2018): Ice confirmed at the moon‘s poles. JPL News, 20.08.2018.

SatelliteXplorer (2022): Space debris map 2022. Online Kartierung, geoxc-apps.bd.esri.com/space/satellite-explorer.

Shrivastav, G. (2020): The future of armed conflicts: Outer space as “natural environment”? Jindal Forum for International and Economic Laws, 10.11.2020.

TU Berlin (2021): Producing rocket fuel and drinking water on the moon. Pressemitteilung, 14.07.2021.

UNOSA (2021): Dark and Quiet Skies Initiative. UN Office for Outer Space Affairs.

VN Sicherheitsrat (1992): Note by the president of the security council, UN Doc. S/23500, 31.01.1992.

Yarlagadda, S. (2022): Economics of the stars: The future of asteroid mining and the global economy. Harvard International Review, 08.04.2022.

Maximilian Bertamini ist Doktorand im internationalen Weltraumrecht und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (Bochum).

Militär- und Atommacht China


Militär- und Atommacht China

Knappe Analyse des militärischen Profils

von Lutz Unterseher

China ist die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt. In den letzten Dekaden wurde stetig aufgerüstet und das technologische Niveau der Rüstungsgüter hat sich sehr gesteigert. Doch ist das Nuklearwaffen­arsenal immer noch um ein Vielfaches kleiner als das Russlands und der USA, vor wenigen Jahren noch war es nicht größer als das Frankreichs, weniger als 300 nukleare Gefechtsköpfe. Diese Asymmetrie ist im Gesamtzusammenhang von militär­strategischen Überlegungen, zur Verfügung stehenden Ressourcen und der Streitkräftestruktur als Ganzem zu erklären.

Die Weltbank gibt für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Chinas, in Kaufkraft gerechnet, bezogen auf das Jahr 2020 einen Umfang von gut 24,27 Bio. US$ an (Weltbank 2021). Auf dem zweiten Platz rangieren die Vereinigten Staaten mit ca. 20,94 Bio. US$. Bei den Militärausgaben liegen die USA jedoch vorn (Angaben für 2020): mit 778 Mrd. US$ zu »nur« gut 350 Mrd. US$ (kaufkraftbereinigt). Somit liegt der militärische Sektor Chinas etwas unter der Hälfte des US-amerikanischen Aufwands.

Bei der Truppenstärke zeigt sich ein gegenteiliges Bild. Während China fast 2,2 Mio. aktive Militärpersonen hat, sind es in den USA 1,4 Mio. (Mendelson 2021). Legt man die Militärausgaben auf die Truppen um, entfallen also in den USA viel mehr Mittel auf die einzelne Militärperson. Selbst wenn angenommen wird, dass in China die militärischen Personalkosten deutlich niedriger sind als in den USA, spricht dies für einen erheblich höheren Technisierungsgrad der US-Streitkräfte. Das lässt eine deutlich höhere Kampfkraft der US-Streitkräfte vermuten. Allerdings nur dann, wenn ausgeblendet wird, dass einige Kriegsszenarien unserer Tage eher robuste, einfache Strukturen und Ausrüstungskonzepte als Hochtechnologie verlangen.

In den USA machen die Militärausgaben 3,7 % des BIP aus, während es in China etwa 1,5 % sind. Dies spricht dafür, dass – zumindest bisher – die Führung in Beijing den Schlüssel zur Weltgeltung eher in wirtschaftlicher Macht gesehen hat als in militärischer Rüstung. Ebenso hat man in China vor einigen Jahren erkannt, dass direkte zivile Investitionen in eine Volkswirtschaft einen höheren Multiplikatoreffekt haben als der Umweg über die Rüstung (Chalmers 1985).

Gleichwohl hat sich das offizielle Militärbudget Chinas von 1994 bis 2014 um das Fünfzehnfache erhöht (Unterseher 2020, S. 27). Dabei hat sich der Anteil des Militärbudgets am Bruttoinlandsprodukt (BIP) nicht erhöht, der Anstieg folgte dem Gesamtwachstum des chinesischen BIP, das zeitweilig Raten im zweistelligen Bereich aufwies. Diese Zunahme hat sich sehr deutlich in der Ausstattung der Streitkräfte niedergeschlagen, wie im folgenden gezeigt werden wird.

Künftig dürfte das BIP Chinas moderater, aber doch deutlich schneller als beispielsweise das der USA wachsen, auch weil die Pandemie besser überwunden wurde. Vorausgesetzt ist innenpolitische Stabilität, die angesichts soziostruktureller Brüche nicht ohne Fragezeichen ist. Aus Sicht der chinesischen Führung braucht China nur abzuwarten. Wegen des höheren Gesamtwachstums werden in 15 Jahren die Streitkräfte Chinas wohl absehbar die am besten alimentierten der Welt sein.

Atomwaffen und Atomwaffenpolitik Chinas

China ist eine der fünf offiziellen Atommächte. Die landgestützten Träger von Atomwaffen stehen unter dem Kommando der Raketenstreitmacht der Volksbefreiungsarmee (People’s Liberation Army Rocket Force: PLARF) – mit einer Personalstärke von 120.000 (IISS 2019, S. 257). Diese hat auch operativen Zugriff auf die Kernwaffenträger, die in die See- und Luftstreitkräfte integriert sind. Die PLARF gliedert sich in 30 Brigaden, was für eine robuste Dezentralisierung spricht.Mit einer in der Fläche verteilten Dislozierung soll es offenbar einem Angreifer erschwert werden, das Abschreckungspotential auszuschalten. Hierzu passt, dass neuerlich erhebliche Anstrengungen unternommen werden, Langstreckenraketen „gehärtet“ unterzubringen: also in Silos (Sarcasticus 2021).

Hinzu kommen vier strategische Radar-Großanlagen und zahlreiche Stationen zur Verfolgung der Flugbahn. Schätzungen von SIPRI-Forschern ergaben, dass China 2019 über ca. 190 landgestützte Atomraketen verfügte (Kristensen und Korda 2019, S. 2): ein Sammelsurium von Typen zum Teil älteren Konstruktionsjahrs mit Reichweiten zwischen 1.750 bis 13.000 km

Jüngere Typen sind zum Teil landbeweglich. Es befindet sich eine Rakete mit Reichweiten zwischen 12.000 und 15.000 km in der Erprobung, die mehrere Gefechtsköpfe tragen kann und Penetrationshilfen zur Überwindung der feindlichen Abwehr aufweist. Mit ihr dürften zukünftig ältere Systeme in begrenzter Zahl ersetzt werden (Unterseher 2020, S. 65).1

Zum Atompotential zählten 2019 auch ca. 20 inzwischen modernisierte mittlere H-6-Bomber älterer sowjetischer Herkunft (bestückt mit je einer Kernwaffe) sowie vier Atom-U-Schiffe (besonders große U-Boote) mit zusammen bis zu 48 Raketen. Inzwischen werden die H-6-Bomber mit jeweils sechs weitreichenden nuklearen Marschflugkörpern DH 10 ausgestattet. Insgesamt gab es 2019 einschließlich einer Reserve etwa 290 Gefechtsköpfe (Kristensen und Korda 2019). Allerdings wurden für 2020 bereits 320 atomare Sprengsätze gemeldet (Sarovic 2020) und 2021 nennt eine Quelle sogar 350 (Statista 2021a).

Trotz dieses Anstiegs ist Chinas Atomarsenal bislang noch bescheiden. Vergrößerung und Modernisierung erscheinen als Stückwerk, als hätte dies nicht höchste Priorität. Das spricht dafür, dass die Führung bislang dem Konzept der Minimalabschreckung anhängt (Feiveson 1989): China geht davon aus, dass Kernwaffen nicht zur Kriegführung taugen, das Konzept der Eskalationskontrolle samt »Enthauptungsoptionen« also irrig ist, womit Atomwaffen einzig eine Rückversicherung gegenüber atomarer Bedrohung bieten können.

Die USA und Russland dagegen verfügen trotz einiger Abrüstungsschritte immer noch über große Arsenale: jeweils zwischen 5.500 und 6.300 Sprengköpfen insgesamt sowie jeweils um 1.550 für den »sofortigen Gebrauch« (Sarovic 2020).

Für eine chinesische Orientierung am Konzept der Minimalabschreckung spricht auch die fehlende strategische Raketenabwehr, die zu einem Nuklearwaffenarsenal für Zwecke der Kriegführung gehören müsste, um es in seinen Optionen noch glaubwürdiger zu machen (Sloss 1989). Entwicklungsarbeiten in dieser Richtung lassen sich jedenfalls nicht erkennen.

„In Peking wird befürchtet, die von Washington betriebene Entwicklung von Kapazitäten zur Aufklärung, Überwachung und zum ‚conventional prompt strike‘ sowie der Aufbau von Raketenverteidigungssystemen könne die chinesische Zweitschlagsfähigkeit gefährden“ (Rudolf 2018, S. 18). Darum ist wohl eine vorsichtige Vergrößerung des strategischen Arsenals Chinas im Gange (ebd., S. 19). Sie geht einher mit Modernisierung und Diversifizierung: Raketen auf U-Schiffen, Wirkungssteigerung der landgestützten sowie Flexibilisierung der luftgestützten Mittel (Goldstein 2019a, S. 4ff): eine »Triade« nach US-Vorbild – doch auf niedrigerem Niveau.

Die Konventionelle Komponente

Der PLARF unterstehen nicht nur Atomwaffenträger, sondern auch ballistische Raketen mittlerer (80 Systeme) und kürzerer Reichweite (200) sowie landgestützte Marschflugkörper (30), die konventionell bewaffnet sind. China hätte die Ressourcen, um atomar deutlich aufzurüsten. Doch wird der Schwerpunkt erkennbar auf jene Elemente gelegt, von denen man Anwendbarkeit und realen Machtgewinn erwartet.

Die Landstreitkräfte schrumpften von gut drei Millionen in Uniform vor 40 Jahren auf knapp eine Million (IISS 1983, S 84, IISS 2019, S. 257). Dieser Prozess war mit Strukturverbesserungen verknüpft, wie der Einführung eines Brigade/Korps- statt des alten Regiment/Division-Systems.

Die technische Erneuerung jedoch kam nicht so schnell voran. China hat zwar nach den USA die zweitgrößte Panzerflotte im aktiven Dienst (Unterseher 2020, S. 113). Doch ist noch erst ein knappes Viertel davon als modern zu bezeichnen – ohne jedoch den westlichen Standard ganz zu erreichen. Bemerkenswert ist die Leistungssteigerung bei den Kampfschützenpanzern (Träger der »Panzerbegleitinfanterie«). Diese haben an Zahl stark zugenommen und einen hohen technologischen Standard erreicht (ebd., S. 40f.).

Wenn noch die mechanisierte Artillerie (»mechanisiert«: beweglich und gepanzert) vermehrt und weiter verbessert wird, sind die Voraussetzungen für den »Kampf der verbundenen Waffen« erfüllt – womit sich die Stoßkraft der chinesischen Landstreitkräfte bedeutend erhöhen würde. Zeitgemäß spielen luftverlegbare Kräfte und Spezialeinheiten eine zunehmend wichtige Rolle.

Zum Schutz eigenen Territoriums dürfte diese Streitmacht mehr als hinreichen. Dabei verrät die Dislozierung, dass es vor allem auch um die Sicherung des Machtzentrums geht. Erst danach scheinen Szenarien zu rangieren, die sich – in dieser Reihenfolge – auf Nordkorea, Taiwan, Vietnam und Indien beziehen. Die verschiedenen Gruppen von Armeen (bzw. Korps) sind entsprechend der angegebenen Brennpunkte bzw. Stoßrichtungen stationiert: in der Nähe Beijings und gegenüber den erwähnten Nachbarn. Dabei fällt auf, dass vor allem die Truppen in der Nähe des Machtzentrums, aber auch die in der Mandschurei (Richtung Korea) mehr schwere, gepanzerte Kräfte aufweisen als die in den anderen Stationierungsgebieten.

Die Seestreitkräfte, mit rund 250.000 Uniformierten, erneuern schrittweise ihre U-Flotte, wobei immer noch technische Hürden zu nehmen sind (beispielsweise bei der Geräuschdämpfung). Der Schwerpunkt lag bisher aber eher auf der Sicherung des weiteren Küstenvorfeldes durch modernste Raketenschnellboote als Voraussetzung für die Dominanz größerer Einheiten im Ost- und Südchinesischen Meer (vgl. Hoering in dieser Ausgabe) – sowie darüber hinaus bis hin zur weltweiten Präsenz. Das heißt, dass man eine »sichere« Basis geschaffen hat, von der aus weiterreichende Ambitionen zu realisieren sind.

Seit 2012 verfügte China über einen Flugzeugträger (Unterseher 2020, S. 45ff., 108f.), inzwischen hat die Volksrepublik zwei Flugzeugträger in Dienst, mindestens ein weiterer ist im Bau. Während in China 2019 zehn Zerstörer vom Stapel liefen, waren es in den USA nur einer sowie allerdings noch sechs kleinere neuartige Schiffe für den küstennahen Kampfeinsatz (»Littoral Combat Ships«). Ab 2020 lief der chinesischen Marine eine Serie von sieben »Superzerstörern« im Kreuzerformat (Typ 055) zu, die für weltweite Operationen geeignet sind. Die im Ausbau befindliche Marine-Infanterie – weit kleiner als die US-Marines – scheint auf die Küsten Taiwans, aber auch Vietnams, sowie die Inseln im Südchinesischen Meer hin orientiert zu sein.

China verfügt bisher nur über einen Stützpunkt im Ausland – Dschibuti am Indischen Ozean zur Sicherung der Afrika-Route, während die USA hunderte solcher Vorposten betreiben. Dies dürfte frustrierend sein, strebt man doch offenbar langfristig eine weltweite maritime Präsenz an (Goldstein 2019b). Es gibt also einen empfundenen Nachholbedarf Chinas, der eine expansive Außenpolitik erfordert.

Die Luftstreitkräfte, mit einer Personalstärke von ca. 400.000, haben die weltweit zweitgrößte Flotte von taktischen Kampfflugzeugen. Starkes Augenmerk gilt den Jagdbombern bzw. Mehrzweckflugzeugen (Unterseher 2020, S. 53f.). Hier wurde mit dem Typ J-10 technologisch Weltniveau erreicht. Dieses Potential ist eine Herausforderung für alle Anrainer. Diese liegen innerhalb des Aktionsradius des chinesischen taktischen Luftpotentials. Es mangelt allerdings noch an weiträumiger Vernetzung und Luftbetankungskapazität, um etwa auch für US-Fliegerkräfte bedrohlich zu sein.

Die bodengestützte Flugabwehr ist stark, womit angezeigt wird, dass die Luftstreitkräfte auf Balance achten, sich also nicht nur dem Angriffsdenken und seinen Risiken verschreiben. Ein Lenkwaffentyp dürfte nach Verbesserungen zur Bekämpfung taktisch-operativer ballistischer Raketen geeignet sein.

Cyber War und Weltraum-Aktivitäten

Das chinesische Konzept für den Informationskrieg ist das der ganzheitlichen Koordination von Land-, See-, Luft-, Weltraum- und elektromagnetischen Komponenten. Seit 2008 sind größere militärische Übungen Chinas durch integrale Elemente des Cyber Warfare gekennzeichnet. 2015 wurde die SSF (Strategic Support Force) geschaffen, sie verfügt über 120.000 Militärpersonen (IISS 2019, S. 258f.).

Diese hat vermutlich drei Säulen, deren erste der Informationsbeschaffung im Cyber Space zum Zweck militärischer Planung dient. Die zweite ist für Operationen im Weltraum zuständig und nutzt dazu Erdsatelliten unterschiedlicher Funktion, während die dritte mit offen­siver wie defensiver elektronischer Kriegsführung sowie Aufklärung befasst ist. China hat dazu mittlerweile über hundert Erdtrabanten für den vorwiegend militärischen Gebrauch (ebd., S. 259): sechs Kommunikationssatelliten, mehr als 30 zu Zwecken von Navigation bzw. Orts- und Zeitbestimmung, fast 50 für die strategische Radar- und Infrarot-Aufklärung sowie weitere Satelliten mit ELINT/SIGINT-Aufgaben (Electronic/Signal Intelligence).

Perspektiven für Rüstungs­kontrolle und Abrüstung

Zumindest verbal ist das Land bereit, „alle Fragen der strategischen Stabilität, nuklearer Risiken und Abrüstung zu erörtern“. Dennoch beteiligt sich Beijing beispielsweise nicht an den Wiener Verhandlungen über eine Nachfolgevereinbarung zum New-Start-Vertrag der USA und Russland (Krüger 2020, S. 2).

Dass Chinas Atomarsenal keinerlei Kontrolle unterliegt, stößt international auf Kritik. Allerdings wäre es höchst problematisch, wenn im Zuge der Beteiligung an Verhandlungen der Volksrepublik eine begrenzte »Nachrüstung« zugestanden würde. Das wäre Rüstungskontrolle, die Abrüstung sabotiert. Vor allem, wenn mit dieser Aufrüstung die Hinwendung Chinas zum wahnwitzigen atomaren Kriegführungsdenken einherginge.

Bleibt die konventionelle Ebene: Auch hier sind die Chancen für ein Einlenken Beijings in Rüstungskontrollverhandlungen eher schlecht. China verwendet das große Potential, neben der innenpolitischen Funktion, zur Machtprojektion in der Region und darüber hinaus. Der völkerrechtswidrige Anspruch auf das Südchinesische Meer ist für Beijing nicht verhandelbar. Kaum vorzustellen auch, dass man mit Taiwan Rüstungskontrollverhandlungen führt, die ja dessen Unabhängigkeit unterstreichen würden.

Anmerkung

1) Seltsam ist, dass Flüssigkeits- und Feststoffantrieb immer noch koexistieren, auch bei neueren Modellen – erhöht doch Feststoffantrieb die Reaktionsfähigkeit der Flugkörper erheblich.

Literatur

Chalmers, M. (1985): Paying for Defence: Military Spending and British Decline. London: Pluto.

Sarovic, A.(2020): SIPRI-Jahresbericht: Forscher warnen vor neuem Atomwettrüsten. Der Spiegel, 15.06.2020.

Feiveson, H. (1989): Finite Deterrence. In: Shue, H. (Hrsg.): Nuclear Deterrence and Moral Restraint, Cambridge: Cambridge University Press, S. 271-292.

Goldstein, L. (2019a): Why a new missile arms race with China might not be worth the cost. The National Interest, 20.12.2019.

Goldstein, L. (2019b): Why China Wants its Navy to Patrol the Atlantic Ocean. Is this a problem for Washington? The National Interest, 25.12.2019.

Mendelson, B. (2021): Die Länder mit den größten Armeen, Handelsblatt, 10.05.2021.

IISS (1983): The Military Balance 1983-84, Oxford: Oxford University.

IISS (2019): The Military Balance 2019-2020, Oxford: Oxford University.

Kristensen, H. M. Korda, M. (2019): World Nuclear Weapon Stockpile, Waterloo/Ontario: Ploughshares.

Krüger, P.-A. (2020): Schlachtfeld Weltraum, Süddeutsche Zeitung (online), 28.07.2020.

Rudolf, P. (2018): Abschreckung in der Ära neuer Großmachtrivalitäten. SWP-Studie, 11.05.2018.

Sarcasticus (2021): Chinas Silomania, Das Blättchen, Ausgabe 21/11.10.2021.

Sloss, L. (1989): The case for deploying strategic defenses, In: Shue, H. (Hrsg.): a.a.O., S. 343-380.

Statista (2021a): Atomwaffen – Anzahl weltweit, Statista Research Department (online).

Unterseher, L. (2020): Militärmacht China. Berlin: Lit.

Weltbank (2021): GDP, PPP, online unter: data.worldbank.org.

Lutz Unterseher, Soziologe und Politologe, war sicherheitspolitischer Berater und hat an Universitäten sowie Militärakademien im In- und Ausland gelehrt. Sachgebiete u. a.: Militärtheorie, NS-System.

Schrödingers Sicherheitsautonomie


Schrödingers Sicherheitsautonomie

Die EU zwischen Zivilmacht und Militärmacht

von Thomas Roithner

Die Autonomie in der EU-Sicherheitspolitik wird nach dem ­Brexit zu Schrödingers Katze: sie ist gleichzeitig lebendig und tot. Sie ist lebendig, vor allem weil Emmanuel Macron und die Rüstungsunternehmen darauf drängen. Sie ist tot, weil das Schwergewicht Großbritannien ausgeschieden ist und es am Grundlegenden – einer gemeinsamen Stimme in der Außenpolitik – oft mangelt. Eine Bestandsaufnahme der bisher erfolgten Schritte der Militarisierung der EU bietet die Chance, aktuelle Militarisierungstendenzen besser einzuschätzen.

Die USA formulieren seit vielen Jahrzehnten mit unterschiedlicher Vehemenz, dass die EG bzw. die EU sicherheitspolitisch nicht selbständig, abgekoppelt, gegengewichtig oder duplizierend wirken darf. Dieses weitgehend akzeptierte Verhältnis hat sich jedoch seit 2016 grundlegend gewandelt:

Zum einen durch die unmittelbar zeitlich beieinanderliegenden Ereignisse des Brexit und des Beschlusses der »EU-Globalstrategie« (EEAS 2016). Dieser zeitliche Zusammenhang war zwar zufällig, die Folgen hängen jedoch zusammen. Die Globalstrategie fordert mitunter »Hard Power« ein – eine Politik, die Großbritannien immer ausschließlich im transatlantischen Bündnis und nicht in der EU verortet hat (trotz der eigenen Rüstungskapazitäten).

Zum anderen hat Donald Trumps »America First«-Politik und seine Kritik an den NATO- und EU-Strukturen den Bemühungen um eine autonome EU-Militär- und Rüstungspolitik seit Jahresbeginn 2017 zusätzlichen Antrieb verliehen. Dass die USA sprichwörtlich »kocht und die EU den Abwasch besorgt«, soll nun besonders aus französischer Sicht der Vergangenheit angehören. Emmanuel Macron erklärte die US-dominierte NATO für „hirntot“ und verfolgt seither die Stärkung einer »EU-First«-Policy. Joe Biden ändert zwar das Lagebild, aber ein NATO-freundlicher Präsident Biden sei trotzdem keine Hilfe, die EU-Interessen in einer konfrontativeren Weltordnung durchzusetzen, so Paris sinngemäß. Beim Erlernen der »Sprache der Macht« wird inklusiv wirkenden Organisationen wie der UNO und der OSZE im Vergleich zur Herausbildung eigener Instrumente der Interessendurchsetzung zunehmend weniger Bedeutung eingeräumt. Institutioneller Pluralismus gerät so zur Nebensache statt Handlungsmaxime zu bleiben. Strategische Autonomie zu erreichen hat mittlerweile beinahe sprichwörtlichen Status in der EU.

Zum Dritten kommt nun zum Tragen, dass die EU-Staaten unterschiedliche außenpolitische Traditionen haben, die ihr jeweiliges Verhältnis zu einer gemeinsamen europäischen »strategischen Autonomie« bestimmen. Neben 21 NATO-Mitgliedern gehören der EU-27 auch sechs neutrale bzw. paktfreie Staaten an. Mit den EU-Erweiterungen kamen Mitglieder hinzu, die eigentlich schneller in die NATO als in die EU wollten. Das zeigt sich an der Inkohärenz der bisherigen GSVP/ESVP-Ansätze: Uneinigkeit bei Streitfragen wie der Flüchtlingspolitik, der Konfliktlösung in Syrien, Libyen oder der Ukraine oder der Anerkennung von Palästina und Kosovo als eigenständigen Staaten; Unklarheit in der Einschätzung der neuen Seidenstraßen; Debatten um (vollständig) autonome Waffensysteme oder die Haltung zum Atomwaffenverbotsvertrag zeigen, wie unzureichend das »Gemeinsame« in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik funktioniert.1

So verharrt die EU-Sicherheitsautonomie in einem Schwebezustand ähnlich Schrödingers Katze: einerseits wird sie von starken Befürworter*innen weiter am Leben gehalten und ausgebaut, während sie zeitgleich aufgrund einer großen Uneinigkeit und Streitigkeiten innerhalb der Union nicht vorankommt.

Auslandseinsätze

Trotz all der Differenzen verweist die EU auf 18 aktuell laufende und knapp zwei Dutzend abgeschlossene Auslandseinsätze (EEAS 2021). Räumlich gesehen liegen die Schwerpunkte dabei in Afrika und auf dem Balkan. Zwei Drittel der EU-Einsätze seit 2003 weisen einen zivilen Charakter auf, jedoch nur 20 % des operativen Personals waren und sind zivil und die Anzahl der eingesetzten zivilen Kräfte war in der letzten Dekade kontinuierlich rückläufig. Obwohl die EU stets betont, sowohl über zivile als auch militärische Einsatzmöglichkeiten zu verfügen, zeigt die Praxis eine klare Asymmetrie zugunsten der militärischen Kapazitäten. Der »Civilian Compact« der EU aus dem Jahr 2018 bleibt also weit hinter seinen Möglichkeiten zurück (vgl. Artikel von Fischer in dieser Ausgabe von W&F).

Doch trotz der Asymmetrie zugunsten militärischer Optionen wurden bspw. die »EU Battle Groups« seit ihrer Einführung 2005 aufgrund politischer und finanzieller Uneinigkeiten bisher noch nie eingesetzt. Da jeder EU-Staat gegen den Einsatz der Truppen sein Veto erheben kann und allen Truppenstellern für Battle Groups drohte, die finanzielle Hauptlast dafür tragen zu müssen, entschloss sich der Europäische Rat 2017, die Entsendung der Battle Groups als gemeinsame Kosten zu betrachten. So sollte die Hemmschwelle für deren Einsatz gesenkt werden.

Mit Blick auf die Militarisierungs­schübe der EU ist es frappierend, zu sehen, dass es weniger als sechs Monate benötigte, um nach dem Brexit-Referen­dum die Grundlagen für ein EU-Hauptquartier zu schaffen. Im Juni 2017 wurde der militärische Planungs- und Koordinierungsstab für EU-Auslandseinsätze (MPCC) beschlossen.

Die neue »Europäische Friedensfazilität« (EFF) soll den Pool an Instrumenten der EU für Auslandseinsätze erweitern. Die EFF ist nicht im Finanzrahmen gelistet, da sie außerhalb des Haushaltes finanziert wird. Finanziert werden mit diesem Instrument u.a. militärische Einsätze – trotz des Namens. Dazu zählen weltweite Militäreinsätze von Dritten, die im Interesse der EU sind, wobei sowohl Truppen als auch deren Infrastruktur bezahlt werden können (Europäische Kommission 2018). Offenkundig hatte der jahrelange Druck wesentlicher Teile der politischen und militärischen Eliten in der EU gewirkt.

Rüstungsinitiativen

Die abgelaufene Dekade war von Appellen zur gemeinsamen Aufrüstung geprägt. Schon dem EU-Vertrag von Lissabon (2007) ist zu entnehmen, dass sich die Mitgliedstaaten „verpflichten […], ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ (Artikel 28a(3)). Die damalige Hohe Vertreterin für die Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, hat dazu erläutert: „Wer Frieden will, muss sich rüsten“ (Ashton 2013). Die EU-Globalstrategie (EEAS 2016, S. 45) wiederum schreibt fest, dass „die Mitgliedstaaten bei den militärischen Spitzenfähigkeiten alle wichtigen Ausrüstungen [benötigen][…]. Dies bedeutet, dass das gesamte Spektrum an land-, luft-, weltraum- und seeseitigen Fähigkeiten […] zur Verfügung stehen muss“.

Besonders in der EU-Rüstungspolitik fungierte das britische Brexit-Referendum als Katalysator. Schon im November 2016 schlug die EU-Kommission den »Verteidigungs-Aktionsplan« vor, der den EU-Rüstungsmarkt stärken sollte. Als Ursache der mangelnden Kooperation unter den EU-Staaten wurde nationaler Protektionismus ausgemacht, den Binnenmarktregeln eigentlich unterbinden sollten und dem nun mit dem Aktionsplan entgegengetreten werden sollte. Im Juni 2017 wurde der Aktionsplan dann zum »Europäischen Verteidigungsfond« (EVF) weiterentwickelt. Das Ziel dieses Fonds ist es, „den Mitgliedstaaten zu helfen, das Geld der Steuerzahler effizienter auszugeben“, wobei unbemannte Systeme, Satelliten, die Marine und Drohnen jeweils Schwerpunkte bilden (Europäische Kommission 2017). Neben dem EVF sind noch weitere Rüstungsbudgets versteckt Teil des Haushaltes: Die »militärische Mobilität« und die »EU-Weltraumprogramme« (vgl. Demirel und Wagner in dieser Ausgabe von W&F). Der Rüstungsbranche ist also das »impfen« des Budgets in den strategisch zentralen Bereichen durchaus sichtbar gelungen.

Heute stellt die EU einen rüstungspolitisch relevanten Faktor dar, ersetzt jedoch kein nationales Militärbudget. Sie koordiniert, verstärkt, sammelt Steuergeld für EU-Rüstungsprojekte ein und wirkt an der Steigerung der Rüstungsexporte mit. Bei wichtigen rüstungspolitischen Entscheidungsprozessen sitzen Rüstungskonzerne mit am Tisch. Zwischen EU-Institutionen, nationalen Regierungen und der Rüstungsindustrie hat sich eine ständig in Bewegung befindliche Drehtür etabliert (vgl. ALTER-EU 2018; Nielsen 2020).

PESCO

Politische Uneinigkeit und die Notwendigkeit einstimmiger Beschlüsse stehen einem gemeinsamen Handeln der EU immer wieder im Weg. Ablehnende Volksentscheide zu EU-Verträgen verdichteten die Alternative zur Vielstimmigkeit in der Sicherheitspolitik: Die militärisch Potenten und politisch Willigen geben den Ton an, die anderen bleiben draußen. Der Vertrag von Lissabon 2007 sah die ständige strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) vor; im Dezember 2017 wurde diese dann Realität, denn das Austrittsreferendum in Großbritannien hatte den vehementesten Kritiker autonomer EU-Sicherheitsstrukturen aus dem Diskussionsprozess genommen.

In diesem Rahmen wurden bislang 47 Projekte ins Leben gerufen, darunter Diskussionswürdiges wie die Eurodrohne, Euro-Artillerie oder ein neuer EU-Kampfhubschrauber. PESCO sieht eine „regelmäßige reale Aufstockung der Verteidigungshaushalte“ vor, muss also als klares Zeichen einer Militarisierung der EU verstanden werden. Nicht alle EU-Staaten nehmen an allen Projekten teil und ein Veto zu kontroversen Vorhaben erscheint unnötig.

Allerdings ist auch PESCO nicht nur erfolgreich. Die jährliche Überprüfung im »koordinierten Jahresbericht zur Verteidigung« (CARD) hat eine Fragmentierung und Inkohärenz bei Ausgaben für Rüstung und Truppen festgestellt. Es sei ein Dickicht an Projekten entstanden, der nationale Interessenbasar eben nicht überwunden und nur zwölf der 47 Projekte lieferten konkrete Ergebnisse. Die Industrie hat zwar Gewinne verbucht, sich aber gemessen an den Plänen von 2016 wenig bewegt. Aus militärischer Logik ist PESCO ein enger Sicherheitsgewinn, aber in einer breiteren Sicht kein Friedensprojekt.

Ein neues Kerneuropa?…

Neben dem institutionalisierten Kerneuropa hat Frankreich mit der Europäischen Interventionsinitiative (EI2) eine von EU und NATO unabhängige Spielart eines militärisch aktiven Kerneuropa geschaffen. Diese Initiative setzt nicht auf eine breite Beteiligung, sondern auf punktuelle Entschlossenheit einzelner Staaten. Frankreich und Deutschland sind in beiden Varianten – PESCO und EI2 – militärischer Schrittmacher für andere EU-Staaten.

Frankreich und Deutschland stehen bei einigen bi- und trilateralen Formen der Rüstungskooperationen im Zentrum. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen arbeitet Hand in Hand mit dem französischen EU-Kommissar für Rüstung und Raumfahrt, Thierry Breton. Beim kommenden Kampfflugzeugsystem (»Future Combat Air System«, FCAS) wird französisch und beim künftigen Kampfpanzersystem (»Main Ground Combat System«, MGCS) wird deutsch gesprochen. Allerdings ziehen Frankreich und Deutschland dabei keineswegs nur an einem Strang: die Widersprüche zwischen Paris und Berlin sowie Zeitverzögerungen in der Umsetzung sind vielgestaltig. Neben dreistelligen Milliardenbeträgen geht es dabei auch um die Souveränität nationaler Rüstungsexportpolitiken, um die Frage, wessen und ob neue Kampfflugzeuge Atomwaffen tragen sollen und wo die Grenzen der Kooperation mit den USA liegen. Der deutsch-französische Freundschaftsvertrag von Aachen aus dem Jahr 2019 ist ein Lösungsversuch, zwar mit vielen offenen Fragen, aber einer ganz klaren Stoßrichtung: einer verstärkten und integrierten Militarisierung der EU.

…und der Rest

Die außenpolitische Uneinigkeit der EU-27 allerdings durch Militärambitionen eines deutsch-französischen Kerneuropas zu kompensieren ist – langfristig gesehen – im günstigsten Fall wirkungslos, im schlimmsten Fall gefährlich. Schon jetzt sind Tendenzen erkennbar: Staaten am kerneuropäischen Abstellgleis verlieren in Teilen ihre Mitsprachemöglichkeiten, u.a. bei PESCO. Das »Kerneuropa der Sicherheit« stellt sich als autoritäre Vertiefung der EU dar, wenngleich es für Militäreinsätze bislang immer noch die Zustimmung aller EU-Staaten braucht. Es scheint erkennbar zu sein, dass das Ziel der engeren Zusammenarbeit im EU-Sicherheitsbereich nicht die Überwindung der Nationalstaaten, sondern deren Hierarchisierung ist.2

Die Vernetzung von Strukturen, Mechanismen und Budgettöpfen stellt seit 2016 eine neue Qualität der sicherheitspolitischen Integration dar. Zwar besteht in der EU zwischen Vereinbarungen auf dem Papier und der Realität, nicht nur bei Truppen und Rüstung, immer noch ein Unterschied, denn Mitgliedstaaten haben ihre Zusagen für Eingreiftruppen, Rüstungsforschung oder Waffenentwicklungen jahrelang nicht beachtet, abgeschwächt oder stark verzögert. Allerdings darf das Niveau der Anreizsysteme von »EU-Globalstrategie«, der neuen Haushaltstöpfe, der Europäischen Friedensfazilität und nicht zuletzt PESCO nicht unterschätzt werden. Dass der größte Truppensteller auch die meisten finanziellen Lasten trägt, wurde jetzt zum Teil durch Gemeinschaftskosten abgefedert. Dass Mitgliedstaaten die teure Entwicklung neuer Waffen allein schultern, wird durch gemeinsame Töpfe und Kooperationen tranchiert. Zentral ist jedoch – mit Blick auf den globalen Wettbewerb – , dass der sprichwörtliche Kuchen vergrößert wird, an dem alle in unterschiedlichem Maße teilhaben wollen und können. Nicht zuletzt gewährleisten die EU-Entscheidungsmechanismen, dass der harte Kern von Kerneuropa auch ein Kuchenstück mit Kirsche bekommt.

EU-Rüstungsfonds, Kerneuropa, Rüstungsagentur, der militärische Überprüfungsmechanismus oder die Auslandseinsatzpolitik samt militärischem Hauptquartier sind kommunizierende Gefäße. Flankiert wird diese Entwicklung vom Auswärtigen Dienst und vom EU-Militärstab. Niemand soll bei der Rüstung unbemerkt den Retourgang einlegen können oder auch nur bummeln.

Brillant ist, dass Deutsche und Franzosen nicht mehr aufeinander schießen, sondern kooperieren. Nicht-Krieg unter den EU-Mitgliedern ist das Eine, schweigende Waffen auch nach außen ist das Andere. Ziel wäre nicht nur, dass Deutsche und Franzosen nicht mehr aufeinander schießen, sondern dass sie nicht gemeinsam auf andere schießen. Es gälte jetzt, hier entscheidende Schritte zu unternehmen. Denn das Friedensprojekt Europa ist derzeit lebendig wie tot zugleich.

Anmerkungen

1) Die EU hatte sich im Brexit-Verhandlungsprozess eine Regelung zur künftigen Kooperation in der Außen- und Sicherheitspolitik gewünscht. Großbritannien hat dies mit Verweis auf die eigene Souveränität abgelehnt. Die EU wird wegen des britischen Know-how und dem Markt für Rüstungsgüter in der Zukunft wohl verstärkte Verständigungsprozesse im Sicherheitssektor anstoßen. Allerdings könnte eine zu exponierte britische Rolle Einigungsprozesse der verbleibenden EU-27 erschweren.

2) Der Vorschlag für ein Ziviles Kerneuropa (Roithner 2015) hat immerhin Eingang in das aktuelle österreichische Regierungsprogramm gefunden.

Literatur

Alliance for Lobbying Transparency and Ethics Regulation in the EU (ALTER-EU) (2018): Corporate Capture in Europe. When Big Business Dominates Policy- Making and Threatens our Rights. Brüssel.

Ashton, C. (2013): Wer Frieden will, muss sich rüsten. Der Standard, 20.12.2013.

Europäische Kommission (2017): A European Defence Fund: € 5.5 billion per year to boost Europe’s defence capabilities. 07.06.2017, Brüssel.

Europäische Kommission (2018): EU Budget for the Future. The European Defence Fund. 13.06.2018, Brüssel.

Europäischer Rat (2017): Schlussfolgerungen zu Sicherheit und Verteidigung, 22.06.2017, Brüssel.

European External Action Service (EEAS) (2016): A Global Strategy for the European Union’s Foreign and Security Policy. Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe. Juni 2016.

European External Action Service (EEAS) (2021): Military and Civilian Mission and Operation, https://eeas.europa.eu, Brussels.

European Union (2016): Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe, Brussels.

Nielsen, N. (2020): EU Defence Agency chief turned lobbyist broke conduct rules, euobserver.com, 11.12.2020.

Roithner, T. (2015): Marsch ins militärische Kerneuropa. Der Standard, 31.07.2015.

Roithner, T. (2020): Verglühtes Europa? Alternativen zur Militär- und Rüstungsunion. Vorschläge aktiver Friedenspolitik, 2. Auflage, Wien: Morawa.

Thomas Roithner ist Friedensforscher, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Wien und Mitarbeiter im Internationalen Versöhnungsbund. Er ist Co-Kampagnenleiter zur Einführung des Zivilen Friedensdienstes in Österreich, www.thomasroithner.at

EU-Militärhaushalte


EU-Militärhaushalte

Schritte über den Rubikon

von Özlem Alev Demirel und Jürgen Wagner

Aufgrund anhaltender Konflikte verzögerte sich die Verabschiedung des EU-Haushalts für 2021-2027 bis Mitte Dezember 2020. Nahezu unumstritten war allerdings die mit ihm einhergehende Einrichtung diverser Militärhaushalte, die für einen weiteren grundlegenden Schritt der Militarisierung der Europäischen Union stehen. Erhebliche rechtliche Bedenken wurden dabei ebenso ignoriert wie grundsätzliche Bedenken, dass es sich hierbei um den endgültigen Abschied von der einstmals viel gepriesenen »Zivilmacht Europa« handelt.

Lange Zeit war es vollkommen undenkbar, dass die Europäische Union über einen, geschweige denn gleich mehrere Militärhaushalte verfügen könnte. Allein schon aufgrund der lange vorherrschenden Auslegung der EU-Verträge wurde dies schlichtweg für illegal gehalten. In den letzten Jahren hat aber eine neue Interpretation an Boden gewonnen, die sich schließlich auch im ersten Haushaltsvorschlag der Kommission für das EU-Budget 2021-2027 niederschlug. Ausgelobt wurden darin eigene Budgetlinien für »Militärische Mobilität«, für einen »Europäischen Verteidigungsfonds« (EVF) sowie für militärisch relevante Weltraumprogramme. Hinzukommen wird wohl auch noch eine »Europäische Friedensfazilität«, die zwar – aus rechtlichen Erwägungen – kein offizieller Teil des Haushalts, aber ein integraler Bestandteil der EU-Mili­tärpolitik sein soll. Trotz anhaltend schwerer rechtlicher Bedenken war seit diesem Vorschlag nur noch die genaue Höhe der einzelnen Posten umstritten, nicht mehr aber die Grundsatzentscheidung selbst, mit der sich die EU ein weiteres wesentliches Merkmal einer Militärmacht zulegt.

Eigentlich illegal!

Rechtlich fragwürdig ist die Einrichtung von EU-Militärbudgets vor allem aufgrund von Artikel 41 Absatz 2 des EU-Vertrags von Lissabon (EUV), in dem es heißt: „Die operativen Ausgaben im Zusammenhang mit der Durchführung dieses Kapitels [Allgemeine Bestimmungen über das Auswärtige Handeln der Union] gehen ebenfalls zulasten des Haushalts der Union, mit Ausnahme der Ausgaben aufgrund von Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen und von Fällen, in denen der Rat einstimmig etwas anderes beschließt.“

Lange wurde dieser Passus, nicht zuletzt auf Drängen Großbritanniens, derart interpretiert, dass keinerlei militärrelevante Ausgaben aus dem EU-Haushalt bestritten werden dürften – eine Auffassung, der sich 2015 auch noch die EU-Kommission anschloss (EU Kommission 2015, S. 7). Als sich die gesamte EU-Machtarchitektur im Anschluss an das britische Austrittsreferendum im Juni 2016 allerdings grundlegend veränderte, begann sich auch rasch eine neue Auslegung durchzusetzen.

Seither wird von Befürworter*innen dieser Haushaltstöpfe zweigleisig argumentiert: So wird einmal postuliert, der Begriff »operative Ausgaben« bezöge sich auf »Operationen«, weshalb das Finanzie­rungsverbot ausschließlich militärische Einsätze betreffe. In Ergänzung zu diesem doch extrem bemühten Rechtfertigungsversuch hat sich die Kommission dann aber noch ein weiteres Konstrukt einfallen lassen. Die einzelnen Töpfe wurden nämlich offiziell nicht auf die Kompetenzgrundlage der »Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik« gestellt, auf die allein sich das Verbot aus Artikel 41(2) EUV bezieht. Stattdessen wird beispielsweise als Kompetenzgrundlage des Europäischen Verteidigungsfonds Artikel 173 (Wettbewerbspolitik) des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) respektive Artikel 179 AEUV (Forschungspolitik) angegeben. Dadurch würden weder die Gelder für die Erforschung noch die für die Entwicklung von Rüstungsgütern unter das Verbot aus Artikel 41(2) EUV fallen, so die Argumentation (Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages 2018).

Dem widerspricht, dass es der Kommission nach geltender Rechtsauffassung nicht erlaubt ist, die Kompetenzgrundlage bestimmter Maßnahmen frei nach Gusto zu wählen. Ein entsprechendes Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) aus dem Jahr 2016 besagt: „Ergibt die Prüfung eines Unionsrechtsakts, dass er zwei Zielsetzungen hat oder zwei Komponenten umfasst, und lässt sich eine von ihnen als die hauptsächliche oder überwiegende ausmachen, während die andere nur nebensächliche Bedeutung hat, so ist der Rechtsakt nur auf eine Rechtsgrundlage zu stützen, und zwar auf die, die die hauptsächliche oder überwiegende Zielsetzung oder Komponente erfordert“ (EuGH 2016).

Aufgrund der dubiosen Rechtsauslegung der Kommission beauftragte die Linksfraktion GUE/NGL im EU-Parlament den Bremer Juraprofessor Andreas Fischer-Lescano mit einem Rechtsgutachten zum Europäischen Verteidigungsfonds, das am 30. November 2018 veröffentlicht wurde. Nach einer ausführlichen Prüfung gelangte Fischer-Lescano darin zu dem Ergebnis, der EVF-Verordnungsvorschlag (EVF-VO) der Kommission enthalte „keine hinreichende Rechtsgrundlage für die Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds“ (Fischer-Lescano 2018, S. 1). Es sei eindeutig, dass hier militärische Belange im Vordergrund stünden, die wiederum dem Finanzierungsverbot aus Artikel 41(2) EUV unterlägen: „Kurzum: Es gibt im Inhalt und der Begründung der EVF-VO deutliche Indizien, dass die in der VO geregelte Industrie- und Forschungsförderung nur ein Mittel zum eigentlichen Zweck der Verteidigungsförderung darstellt und dass der Hauptzweck der EVF-VO darin liegt, die strategische Autonomie der EU im Bereich der Verteidigung zu gewährleisten“ (Ebd., S. 10).1 Zwar kann gegen die EU-Militärhaushalte erst nach deren endgültiger Verabschiedung juristisch vorgegangen werden, die rechtlichen Bedenken sind aber in jedem Fall gravierend.

Mobilität – Rüstung – Weltraum

Dennoch schlug die EU-Kommission im Mai 2018 für den nächsten EU-Haushalt 2021-2027 vor, 11,5 Mrd. € für den EVF einzustellen (EU Kommission 2018).2 Sinn und Zweck des EVF besteht demnach darin, die Erforschung und Entwicklung europaweiter Rüstungsprojekte zu finanzieren. Hierüber sollen Konzentrationsprozesse forciert und die Herausbildung eines europäischen Rüstungskomplexes vorangetrieben werden. Ferner waren 5,8 Mrd. € für die »Militärische Mobilität« enthalten, mit der die Infrastruktur für schnelle Truppen- und Gütertransporte Richtung Russland »ertüchtigt« werden soll – vor allem in Osteuropa. Drittens wurden 14,2 Mrd. € für Europäische Raumfahrtprogramme eingestellt, primär für »Copernicus« und »Galileo«, die von großer militärischer Bedeutung sind.

Verwaltet werden sollen diese Fonds nach Verabschiedung von der »General­direktion Verteidigungsindustrie und Weltraum« (DG Defence), die im Dezember 2019 neu gegründet wurde, um die militärisch relevanten Bereiche zu bündeln. Dass hier auch die extrem kostspieligen Weltraumprogramme mit verortet wurden, macht aus Sicht der Kommission Sinn. Industriekommissar Thierry Breton, Chef der DG Defence, wurde dazu im Februar 2020 mit den Worten zitiert: „Ich halte es für unerlässlich, dass sich der Raumfahrtsektor der EU an die neuen geopolitischen, strategischen, industriellen und technologischen Gegebenheiten anpasst. […] Auf europäischer Ebene war es lange Zeit ein Tabu, aber ich glaube, es ist an der Zeit, es zu brechen. […] Ja, Galileo hat eine Verteidigungsdimension. Ja, Copernicus kann Sicherheitsaufgaben dienen. Und ja, dieser Trend muss in Zukunft noch verstärkt werden“ (Pugnet 2020).

Friedensfazilität für EU-Kriege

Weiterhin unumstritten scheint zu sein, dass eine Finanzierung von EU-Militär­einsätzen nicht aus dem EU-Haushalt bestritten werden darf. Selbiges gilt für die Querfinanzierung von Interventionen Dritter, insbesondere der Afrikanischen Union, und auch der Ausbildung und Aufrüstung »befreundeter« Akteur*innen sind weiterhin Grenzen gesetzt. Doch auch hier wurde mit der »Europäischen Friedensfazilität« (EFF) eine kreative »Lösung« gefunden. Sie wurde im Juni 2018 nahezu parallel zum ersten Haushaltsentwurf der EU-Kommission mit einem Umfang von 9,2 Mrd. € vorgeschlagen. Die EFF ist explizit außerhalb des EU-Haushalts angesiedelt, um nicht in Konflikt mit Artikel 41(2) EUV zu geraten, und wird stattdessen nach einem festen Schlüssel mit Geldern der Einzelstaaten befüllt (Deutschland trägt ca. 25 % des EFF-Haushaltes bei).

Für EU-Militäreinsätze gab es bislang bereits ein ähnliches Finanzierungsmodell namens »ATHENA-Mechanismus«, über das es aber nur möglich war, zwischen 5 % und 15 % der Kosten von EU-Militäroperationen zu finanzieren. Den Rest mussten die beteiligten Staaten für ihren Anteil am Einsatz aus eigener Tasche bezahlen, was – nachvollziehbarerweise – für die Motivation diverser Länder, sich militärisch zu engagieren, nicht eben förderlich war. Aus dem EFF-Entwurf von EU-Außenbeauftragter und EU-Kommission wird nun ersichtlich, dass deshalb ein »Anreizsystem« zur Beteiligung an Militäreinsätzen geschaffen werden soll, indem der Anteil der gemeinsam zu finanzierenden Einsatzkosten auf 35 % bis 40 % angehoben werden soll (EEAS 2018, S. 2).

Über die Rolle des EFF bei der Finanzierung Dritter schreiben Kommission und Außenbeauftragte: „Überdies wird die Fazilität den militärischen Operationen der EU ermöglichen, im Rahmen ihres Mandats integrierte Paketlösungen, die Sicherheit, Ausbildung, Bereitstellung von Ausrüstung und direkte militärische Unterstützung bündeln, anzubieten und so im Einsatzgebiet voll und umfassend tätig zu werden. […] Mit der neuen Europäischen Friedensfazilität wird die Union in der Lage sein, weltweit direkt zur Finanzierung von Friedenseinsätzen, die von Drittstaaten geleitet werden, sowie zu internationalen Organisationen beizutragen, ohne dass dies auf Afrika oder die Afrikanische Union beschränkt wäre“ (Ebd.).

Vor allem gegen die Lieferung von Militärgerät – insbesondere letalem – regt sich aber Widerstand. Am 18. November 2020 warnten 40 zivilgesellschaftliche Gruppen in einer Stellungnahme: „Sollte sie in ihrer gegenwärtigen Form beschlossen werden, […] würde die EFF unter EU-Label Initiativen zum Training und zur Ausrüstung ausländischer Militär- und Sicherheitskräfte finanzieren, einschließlich der Möglichkeit, ihnen tödliche Waffen zu liefern. […] Hinweise aus jüngster Vergangenheit deuten darauf hin, dass die Maßnahmen zur Militär- und Sicherheitsunterstützung, die durch die EFF finanziert werden sollen, aller Wahrscheinlichkeit nach zur Eskalation von Konflikten, insbesondere in anfälligen konfliktbetroffenen Umgebungen, beitragen würden. […] Dies würde genau die Dynamiken befeuern, die der EFF eigentlich zu durchbrechen versucht.“ (Joint Civil Society Statement 2020).

Nach dem ersten Aufschlag der EU-Kommission setzten zähe Verhandlungen sowohl um die einzelnen Rüstungstöpfe als auch den gesamten EU-Haushalt ein. In der Folge mussten einzelne Posten teils deutliche Kürzungen hinnehmen. Zuletzt erzielten die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen am 21. Juli 2020 eine Einigung. Dabei wurden 7,014 Mrd. € für den Europäischen Verteidigungsfonds und 1,5 Mrd. € für die Militärische Mobilität vorgeschlagen. Die EU-Weltraumprogramme sollen nach dem Willen der Staats- und Regierungschefs 13,202 Mrd. € erhalten und für die Europäische Friedensfazilität sind 5 Mrd. € vorgesehen (EC 2020).

Grundsatzentscheidung

Diese Zahlen wurden schließlich auch in den Kompromiss für den EU-Haushalt 2021-2027 vom 10. November 2020 und in die abschließenden Entscheidungen Mitte Dezember 2020 übernommen. Die im Verhandlungsprozess vorgenommenen Kürzungen der einzelnen militärischen Posten hatten aber nichts mit einer Ablehnung der Entwicklung hin zu einer »Militärmacht Europa« zu tun, sondern waren anderen Dynamiken geschuldet. Denn getragen wird diese Entwicklung von der Überzeugung, in einer Ära der zunehmenden „Konkurrenz großer Mächte3 würden die entsprechenden Mittel benötigt, damit sich die Europäische Union (militärisch) behaupten könne.

Thierry Breton als Chef der neu geschaffenen DG Defence formulierte dies folgendermaßen: „Der allmähliche Aufbau einer europäischen Verteidigung ist Teil der jetzt notwendigen »hard power«-Dimension. Dies bedeutet nicht den Verzicht auf unsere historischen Bündnisse. Es geht einfach darum, Europa auf dem geostrategischen Schachbrett der Welt zu behaupten. […] In dieser Hinsicht ist der Europäische Verteidigungsfonds das Instrument, das Europa in die Lage versetzt, über die Technologien zu verfügen, die zur Unterstützung seiner strategischen Autonomie und zur Verringerung seiner Abhängigkeiten erforderlich sind, und in Partnerschaft mit den Mitgliedstaaten eine wettbewerbsfähige industrielle und technologische Verteidigungsbasis zu erhalten, die in der Lage ist, die von den Mitgliedstaaten benötigten Fähigkeiten bereitzustellen“ (Breton 2020).

So besehen wird mit der Geburt des Europäischen Verteidigungsfonds die Zivilmacht Europa wohl endgültig zu Grabe getragen.

Anmerkungen

1) Siehe auch Aust 2019.

2) Bei allen Angaben in diesem Artikel handelt es sich um Preise von 2018, die deutlich unter den bislang noch nicht vollständig veröffentlichten laufenden Preisen liegen. Beim Verteidigungsfonds summiert sich dies zum Beispiel auf 13 Mrd. € in laufenden statt der 11,5 Mrd. € in Preisen von 2018.

3) Diese Formulierung wählte die damalige Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen bei ihrer Eröffnungsrede zur Münchner Sicherheitskonferenz 2019.

Literatur

Aust, B. (2019): Der Europäische Verteidigungsfonds. Ein Rüstungsbudget für die »Militärunion«. Wissenschaft und Frieden 1/2019, S. 43-45.

Breton, T. (2020): Les entretiens de la defense europeenne, Conférence sur l‘avenir de l‘Europe: quelle ambition pour la défense européenne? Brüssel, 04.11.2020.

European Council (EC) (2020): Special meeting of the European Council (17, 18, 19, 20 and 21 July2020) – Conclusions, EUCO 10/20, Brüssel, 21.07.2020.

EEAS (2018): Vorschlag der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik mit Unterstützung der Kommission an den Rat für einen Beschluss des Rates zur Einrichtung einer Europäischen Friedensfazilität, HR(2018) 94, Brüssel, 13.06.2018.

EuGH (2016): Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) in der Rechtssache C 263/14, 14.06.2016.

EU Kommission (2015): Kapazitätsaufbau zur Förderung von Sicherheit und Entwicklung – Befähigung unserer Partner zur Krisenprävention und -bewältigung. JOIN (2015) 17, Brüssel, 28.04.2015.

EU Kommission (2018): Mitteilung der Kommission: Ein moderner Haushalt für eine Union, die schützt, stärkt und verteidigt. Mehrjähriger Finanzrahmen 2021-2027, COM(2018) 321 final, Brüssel, 02.05.2018.

Fischer-Lescano, A. (2018): Rechtsgutachten zur Illegalität des Europäischen Verteidigungsfonds, GUE/NGL, November 2018.

Joint Civil Society Statement (2020): European ‘Peace’ Facility: Causing harm or bringing peace? November 2020.

Pugnet, A. (2020): Oui, la politique spatiale européenne, et Galileo, ont un volet ‘défense’, Bruxelles2, 02.02.2020.

Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages (2018): Zur Zulässigkeit der Haushaltsfinanzierung von Forschung im GSVP-Kontext vor dem Hintergrund des Verbots des Art. 41 Abs. 2 EUV, Sachstand, 16.06.2018.

Özlem Alev Demirel ist Mitglied des Europäischen Parlaments (DIE LINKE) und dort stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Sicherheit und Verteidigung.
Jürgen Wagner ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen.

Umgang mit Killerrobotern


Umgang mit Killerrobotern

Tagung, Evang. Akademie Loccum, 27.-29. Januar 2020

von Thea Riebe

Autonome Waffensysteme werden die Dynamik bewaffneter Konflikten verändern und bergen neue Risiken für die strategische Stabilität und Sicherheit der internationalen Gemeinschaft. Der Druck zu immer mehr Autonomisierung birgt die Gefahr eines Rüstungswettlaufs, in dessen Verlauf durch den Zwang zu immer schnelleren Entscheidungen der Mensch zunehmend zugunsten von autonomen Waffensystemen verdrängt werden könnte. Um dies zu verhindern, diskutieren Diplomat*innen und Expert*innen im Rahmen der UN Convention on Certain Conventional Weapons (CCW) sowie innerhalb der Nationalstaaten und in Nichtregierungsorganisationen intensiv darüber, wie solche autonomen Waffensysteme reguliert oder verboten werden können.

Die Tagung »Killerroboter – Überlegungen zum zukünftigen Umgang mit automatisierten Waffensystemen« der Evangelischen Akademie Loccum im Januar 2020 bot ein Diskussionsforum zu aktuellen Ansätzen der Regulierung von autonomen Waffensystemen. Dem Organisationsteam gelang es, viele Expert*innen aus der Wissenschaft und Praxis zusammenzubringen, u.a. Mitarbeiter*innen des Auswärtigen Amtes, der Bundeswehr und des Verteidigungsministeriums, Vertreter*innen von Polizei, internationalen Organisationen und Gremien wie NATO und UN, Mitglieder der Campaign to Stop Killer Robots und von Human Rights Watch sowie Mitarbeiter*innen von Airbus und deren Projekt »Future Combat Air System«. Da die Konferenz unter der Chatham-House-Regel stattfand, die festlegt, dass in Konferenzberichten keine Aussagen einer bestimmten Person oder Institution zugeordnet werden dürfen, werden im Folgenden keine direkten Zitate verwendet.

Am ersten Tag wurde die Konferenz mit Beträgen über Grundlagen und Fachperspektiven eröffnet. Die Keynote wurde durch Marcel Dickow, Leiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und Leiter des »International Panel on the Regulation of Autonomous Weapons«, gehalten. Er stellte grundlegende Herausforderungen für die internationale Sicherheit und die Regulierung von autonomen Systemen dar. Anschließend beschäftigten sich die ersten beiden Sessions mit der Frage, wie der technische Fortschritt in den Bereichen Künstliche Intelligenz, Robotik und Sensorik die zukünftige Entwicklung von autonomen Waffen beeinflusst und welche militärischen Anforderungen die zukünftige Kriegsführung in Bezug auf autonome Funktionen hat. Der militärische Bedarf einer zukunftsfähigen Armee wurde von Brigadegeneral Gerald Funke, Unterabteilungsleiter Planung I im Bundesministerium der Verteidigung, und Dr. Jean-Christophe Noël vom Security Studies Center des Institut Français Des Relations Internationales (Paris) diskutiert. In dieser Session zu den Risiken und Chancen sowie zum Bedarf wurde deutlich, dass nicht nur strategische Fragen der internationalen Sicherheit zu bedenken sind (security), sondern auch die technische Sicherheit der Anwendungen (safety) einbezogen werden muss.

In der folgenden Session wurden die strategischen, völkerrechtlichen und friedens­ethischen Bewertungen und erwarteten Konsequenzen autonomer Waffensysteme durch Frank Sauer, Senior Researcher der Bundeswehr Universität München, Dr. Henning Lahmann vom Digital Society Institute der European School of Management and Technology (Berlin) und Peter Asaro, Associate Professor an der School of Media Studies at The New School (New York) sowie Mitgründer und stellvertretender Vorsitzender des International Committee for Robot Arms Control (ICRAC), eingeführt. Hier wurde u.a. die sinkende Hemmschwelle zum Einsatz autonomer Waffensysteme diskutiert, welche schrittweise dazu führen könnte, dass bei militärischen Einsätzen autonome Waffensysteme Entscheidungen treffen und nicht mehr der Mensch. Völkerrechtlich und ethisch ist der Einsatz von letalen autonomen Waffensystemen (LAWS) weder verantwortbar noch mit den Menschenrechten vereinbar, da Roboter keine moralischen Agenten sind und auch keine Verantwortung übernehmen können.

Am zweiten Tag gab der nordmazedonische Botschafter Ljupco Jivan Gjorgjinski, Vorsitzender der Regierungsexpertengruppen zu letalen autonomen Waffensystemen der CCW, den Teilnehmer*innen einen Einblick in die Probleme für die Regulierung autonomer Waffensysteme innerhalb der CCW. In der Diskussion wurde deutlich, dass die Verständnisse und Interessen der Staaten in der UN einen Konsens über die Definition zentraler Begriffe, wie »Autonomie« und »autonome Systeme«, erschweren. Mary Wareham, Koordinatorin der Campaign to Stop Killer Robots in Washington D.C., und Anja Dahlmann, Mitglied der International Security Research Division der SWP, ergänzten die Diskussion um die Perspektive einer Nichtregierungsorganisation und die wissenschaftliche Analyse des Diskurses. Hier werde zunehmend von »Systemen mit autonomen Funktionen« statt von »autonomen Systemen« gesprochen, um den Diskursgegenstand auf die relevanten Funktionen, wie den Zielauswahlprozess, einzugrenzen. Dabei seien nicht nur der Verlauf und die zentralen Akteure der Regulierungsdebatte Gegenstand, sondern auch die Haltung zentraler Staaten, wie den USA, China, Russland, Deutschland und der EU. Das Konzept der »meaningful human control«, welches von IRAC und der Campaign to Stop Killer Robots als Maßstab zur Sicherstellung menschlicher Entscheidungskontrolle eingefordert wird, findet auch bei vielen Staaten kaum Unterstützung und wird sowohl durch NGOs als auch unterstützende Staaten unterschiedlich interpretiert. Auf Grund diplomatischer Verwerfungen zwischen den USA, Russland und China und inhaltlicher Differenzen ist ein Konsens zur Regulierung von letalen autonomen Waffensystemen in den Vereinten Nationen nicht in Sicht.

Anschließend wurde die Diskussion auf mögliche Analogien zu anderen Rüstungskontrollregimen gelenkt, wie dem Biowaffenübereinkommen, das durch Elisande Nexon von der Fondation Pour La Recherche Stratégique (Paris) vorgestellt wurde. Die Lehren der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa diskutierte Oberst a.D. Wolfgang Richter von der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik an der SWP.

Die Loccumer Konferenz zu autonomen Waffensystemen brachte nicht nur Expert*innen aus unterschiedlichsten Domänen zusammen, sondern experimentierte auch mit interaktiven Formaten, wie dem Ideenworkshop, in welchem ein*e Impulsgeber*in einen Vorschlag zur Rüstungskontrolle von autonomen Waffen unterbreitete und dieser im Anschluss von einem*r weiteren Teilnehmer*in kommentiert wurde. Als Kommentatorin durfte ich Prof. Daniel Amoroso, Professor für internationales Recht an der Universität di Cagliari, kommentierten. Er schlug basierend auf seinem 2019 mit G. Tamburrini verfassten IRAC-Bericht »What makes human control over weapons systems ‚meaningful‘?« vor, die Autonomisierung in fünf Stufen zu klassifizieren, welche je nach Fähigkeit und Einsatzbereich reguliert und unter bestimmten Bedingungen eingesetzt werden könnten, beispielsweise zum Schutz von Menschen, wie im deutschen Nächstbereichsschutzsystem MANTIS. Dieser differenzierte Ansatz wurde positiv aufgenommen und durch meinen Beitrag um Fragen der Datenethik und des Datenschutzes ergänzt. In der zivilen Forschung und Entwicklung von autonomen Systemen entstehen durch den hohen Dual-use von Daten und Algorithmen bereits Ansatzpunkte für eine ethische und soziale Technikfolgenabschätzung, welche auch auf die militärischen Anwendung Auswirkungen hat. Ein weiterer Impuls wurden durch Dr. Jürgen Altmann gegeben, der ein Vorgehen zur nachträglichen Verifikation durch ein Blackbox-System vorschlug, welches im Anschluss an einen Einsatz die menschliche Kontrolle überprüfen könnte.

Nach dem Ideenworkshop fand ein Szenarienworkshop statt. Hier wurden die Teilnehmer*innen in Gruppen aufgeteilt, die die zentralen Akteure des Regulierungsprozesses repräsentierten, u.a. die USA, Deutschland, die NATO, die Blockfreien Staaten, das Internationale Komitee des Roten Kreuzes sowie Google als Vertreter der IT-Industrie. Die Teilnehmer*innen sollten Handlungsempfehlungen für die jeweiligen Akteure erarbeiten; diese wurden am letzten Konferenztag diskutiert.

Auf der Konferenz wurde also aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert, welche strategischen, rechtlichen, ethischen und sicherheitsrelevanten Implikationen durch die zunehmende Automatisierung von Waffensystemen entstehen, wie menschliche Kontrolle sichergestellt werden kann und welche Fragen von »safety« und »security« im Bereich der Systeme mit autonomen Funktionen zu bedenken sind. Es wurde deutlich, dass es in Deutschland zwischen den Regierungsparteien CDU/CSU und SPD sowie zwischen dem Auswärtigem Amt und dem Verteidigungsministerium keine einheitliche Haltung zur Regulierung gibt. Es liegen auf politischer Ebene aber durchaus Vorschläge vor, um den Einsatz letaler autonomer Waffensysteme zu regulieren. Nur zwei Tage nach der hier besprochenen Tagung wurden im Bundestag entsprechende Anträge der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke diskutiert und mit den Stimmen der Koalitionsparteien abgelehnt.

Thea Riebe

Weniger Sprengkraft, aber mehr Risiko


Weniger Sprengkraft, aber mehr Risiko

Kleine Atomsprengköpfe auf großen U-Boot-Raketen

von Otfried Nassauer

Unter Donald Trump verändert Washington die Konzeption der nuklearen Abschreckung rasch und mit großer Effizienz. Die USA denken erneut über begrenzte atomare Kriege nach und führen dafür geeignete Waffen ein. Nuklearwaffen gewinnen an militärischer und verlieren an politischer Bedeutung. An keiner Waffe wird das so deutlich wie an dem gerade neu eingeführten Sprengkopf W76-2 mit niedriger Sprengkraft für U-Boot-gestützte Langstreckenraketen. Dieser vergrößert die nuklearen Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten der USA massiv. Er wird auch die NATO zu erneutem Nachdenken über nukleare Eskalation und nukleare Teilhabe zwingen.

Als die USS Tennessee, ein Atom-U-Boot der Ohio-Klasse, Ende 2019 zu einer neuen Patrouillenfahrt aufbrach, markierte dies eine Zäsur für die nukleare Abschreckung der USA. Das U-Boot hatte zum ersten Mal eine oder mehrere Langstreckenraketen vom Typ Trident II D5 an Bord, die einen einzelnen Sprengkopf des neuen Typs W76-2 trugen. Dieser hat eine deutlich kleinere Sprengkraft als die großen Mehrfachsprengköpfe der Typen W76-1 und W88 auf den anderen Trident-Raketen an Bord. Die Sprengkraft beträgt etwa acht Kilotonnen, also etwas mehr als der Hälfte der Bombe, die Hiroshima zerstörte.1 Der Sprengkopf W76-2 soll den USA deutlich flexiblere Optionen für begrenzte Nuklearwaffeneinsätzen (Limited Nuclear Options) auf regionalen Kriegsschauplätzen ermöglichen als die bisherige Standardbewaffnung der strategischen U-Boote. Diese können dann neben ihrer traditionellen strategischen Rolle im Kontext eines globalen nuklearen Schlagabtauschs auch eine Rolle in regional begrenzten Kriegen spielen, ganz gleich, ob als Reaktion auf den Einsatz taktischer Atomwaffen durch einen örtlichen Gegner oder im Rahmen eines atomaren Ersteinsatzes (first use) seitens der USA. Die Möglichkeit, in einem Konflikt als erster zu Nuklearwaffen zu greifen, hält sich Washington bereits seit Jahrzehnten sowohl national als auch in der NATO explizit offen.

Das Ziel, einen solchen Sprengkopf einzuführen, verfolgt die Administration von Donald Trump von Anbeginn an. Im Januar 2018 verabschiedete sie eine »National Defense Strategy«, die die Wiederkehr einer Großmächtekonkurrenz mit Russland und China proklamierte, aber auch versprach, kleinere Konflikte, wie jene mit Nordkorea und dem Iran, nicht aus dem Auge zu verlieren. Diese Prioritätensetzung prägte nur einen Monat später auch Trumps »Nuclear Posture Review« und dessen Konzept einer maßgeschneiderten Abschreckung, jeweils zugeschnitten auf diese potentiellen Gegner. Aus der Addition der dafür für erforderlich gehaltenen nuklearen Fähigkeiten wurde die Notwendigkeit abgeleitet, mehr vorhandene Nuklearwaffen weiter in Dienst zu halten als bisher vorgesehen, die vorhandenen Pläne für eine umfassende Modernisierung der vorhandenen atomaren Trägersysteme und Sprengköpfe und der nuklear-industriellen Infrastruktur weiterzuführen und zu beschleunigen sowie zwei nukleare Fähigkeiten neu einzuführen: einen seegestützten Raketensprengkopf kleiner Sprengkraft und neue nukleare seegestützte Marschflugkörper.2

Zwei Jahre später ist der Sprengkopf kleiner Sprengkraft für U-Boot-Raketen stationiert und einsetzbar. In einem ersten kleinen »Kriegsspiel« des Strategischen Oberkommandos der USA wurde im Februar 2020 erstmals der Einsatz als Reaktion auf einen russischen Ersteinsatz in Europa simuliert.

Die Gründe dafür, dass die Einführung dieses Sprengkopfs so viel schneller als üblich realisiert werden konnte, sind leicht auszumachen: Die U-Boote der Ohio-Klasse sind schon lange im Dienst. Für die Trägerraketen des Typs Trident II D5 gilt das auch. Nur wenige der vorhandenen, gerade in Modernisierung befindlichen Sprengköpfe vom Typ W76 mussten dafür modifiziert und die Sprengkraft auf etwa acht Kilotonnen reduziert werden. Auch dafür gab es schon ein Vorbild, das unter Mitwirkung der USA vor Jahren entstand: Großbritannien nutzt an Bord seiner von den USA geleasten Trident-Raketen schon lange einen aus dem W76 abgeleiteten nicht-strategischen Atomsprengkopf kleinerer Sprengkraft als Ersatz für seine 1998 aufgegebenen Atombomben vom Typ WE177. Diese Lösung dürfte als Vorbild für den W76-2 genutzt worden sein. Technisch funktioniert das so: Man verzichtet darauf, den für das Erreichen der maximalen Sprengstärke verantwortlichen zweiten nuklearen Sprengsatz des W76, das so genannte Secondary, zur Explosion zu bringen. Nur der kleinere nukleare Zündsprengsatz, das Primary, wird noch gezündet. Dadurch sinkt die Sprengkraft auf wenige Kilotonnen.

Diese Lösung war offenbar auch günstig: Kostet die Modifikation eines vorhandenen atomaren Sprengkopfs zu einer neuen Version meist etliche Milliarden US$, so wurden für den W76-2 vom Verteidigungs- und vom Energieministerium zusammen Kosten von weniger als 100 Mio. US$ beantragt, verteilt auf die Haushaltsjahre 2019 bis 2023. Vermutlich sollen nur etwa 50 Exemplare der neuen Sprengkopfvariante gebaut und auch nicht alle 14 U-Boote der Ohio-Klasse damit ausgestattet werden. Da der Großteil der Kosten beim Pentagon anfällt, ist davon auszugehen, dass das Energieministerium seinen Kostenanteil aus dem vorhandenen Budget für die Modernisierung von W76-Sprengköpfen zur Version W76-1 begleicht. Schließlich traf das Vorhaben auch im US-Kongress auf vergleichsweise geringen Widerstand: Zum einen waren die Zusatzkosten gering, zum anderen betrug die Sprengkraft mehr als fünf Kilotonnen und rief deshalb keine neue Debatte über Sprengköpfe kleinster Sprengkraft (mini-nukes) hervor.

Mit den Anträgen für das Budgetjahr 2021 macht die Trump-Administration deutlich, dass sie das Konzept kleiner atomarer Sprengköpfe längerfristig mit Verve verfolgen will. Der Budgetvorschlag enthält erstmals Mittel in Höhe von 53 Mio. US$ für Konzeptstudien zu einem künftigen, flexibel abwandelbaren atomaren Sprengkopf vom Typ W93/MK7. Diese Kombination aus einem Sprengkopf neuer Bezeichnung und einem neuen Wiedereintrittsflugkörper soll im nächsten Jahrzehnt ältere Trident-Sprengköpfe ablösen, vorrangig wohl den W76 in seinen verschiedenen Versionen, und zudem – wie schon der W76 – Grundlage für eine neue Generation britischer Trident-Sprengköpfe werden. Damit erhält das Vorhaben legitimatorisch die höheren Weihen bündnispolitischer Solidarität gegenüber Großbritannien, und die Aussicht auf eine Bewilligung im Kongress steigt. Bis 2025 sollen bereits mehr als 1,8 Mrd. US$ bereitgestellt werden.

Noch sind die technischen Eckwerte für diesen Sprengkopf nicht festgeschrieben. Eine umfassende Studie soll zunächst die technisch möglichen Optionen aufzeigen, so der Auftrag des interministeriellen Nuclear Weapons Council. In diesem Kontext soll auch geprüft werden, ob nukleare Komponenten vorhandener Sprengköpfe erneut genutzt werden können. Die Chefin der für die Entwicklung und Modernisierung nuklearer Sprengköpfe zuständigen National Nuclear Security Agency, Gordon-Hagerty, war bei einer Anhörung vor dem Unterausschuss für Strategische Streitkräfte des Repräsentantenhauses bemüht, intensive Debatten zu meiden. Man plane – abhängig von den Ergebnissen der Studie – keine neuen Atomwaffentests und werde – wenn möglich – auf nukleare Komponenten zurückgreifen, die bereits für eingeführte Sprengköpfe getestet wurden. Auf die Frage, ob es sich um einen „neuen Sprengkopf“ handele, antworteten die Regierungsvertreter*innen ausweichend.

Da der W93/MK7 als Basis für eine neue Generation britischer Trident-Sprengköpfe dienen soll, ist davon auszugehen, dass britische Anforderungen an dessen Fähigkeiten in das Entwicklungsvorhaben einfließen werden. Dass Großbritannien sich bereits auf eine solche Zusammenarbeit mit den USA festgelegt hatte, erfuhr die überraschte britische Öffentlichkeit von Mitarbeitern der Trump-Administration, nicht von ihrer eigenen Regierung. Dem britischen Verteidigungsminister Ben Wallace blieb keine andere Wahl als verklausuliert zu bestätigen, dass eine Zusammenarbeit mit den USA vereinbart sei. Er teilte mit: „Wir werden weiterhin eng mit den USA zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass unsere Nuklearsprengköpfe mit dem strategischen Waffensystem Trident kompatibel bleiben. Die Beschaffung von »Ersatzsprengköpfen« werden Gegenstand sowohl der Beschaffungsplanung als auch der dafür erforderlichen politischen Zustimmungsprozesse in Großbritannien sein.3

Die Militärdoktrin Russlands – eine fragwürdige Rechtfertigung

Fragt man in den USA, warum die Einführung seegestützter kleiner Atomsprengköpfe so dringlich sei, so erhält man meist ideologisch motivierte, nukleartheologische Antworten. Die konservative US-Debatte über russische Atomwaffen ist von der These geprägt, Russland verfolge eine Strategie der Eskalation, um seine Gegner zur Deeskalation zu zwingen (escalate to de-escalate).4 Will man Genaueres wissen, wird oft folgendes Szenario beschrieben: Russland habe den Ersteinsatz kleiner, taktisch-nuklearer Waffen zum Bestandteil seiner Militärdoktrin gemacht. Geheime Manöverauswertungen hätten gezeigt, dass Moskau plane, im Fall einer militärischen Konfrontation, zum Beispiel im Baltikum, als erste Konfliktpartei kleine Atomwaffen einzusetzen und darauf zu spekulieren, dass Washington keine geeignete nukleare Reaktionsmöglichkeit besitze. Die Atomwaffen der USA seien entweder viel zu groß, um deren Einsatz zu rechtfertigen, oder es gäbe effektive Abwehrmöglichkeiten. Moderne russische Flugabwehrsysteme könnten zum Beispiel die nuklearfähigen Jagdbomber der NATO abfangen. Washington werde deshalb eher einlenken als eine Eskalation auf die strategisch-nukleare Ebene zu riskieren. Als Strategie des »escalate to de-escalate« lässt sich ein solches Szenario öffentlichkeitswirksam verkaufen.

Doch der Blick in die russische Militärdoktrin lässt nur zwei Fälle erkennen, in denen der Einsatz von russischen Atomwaffen erfolgen könnte: erstens als Antwort auf einen Angriff mit Massenvernichtungswaffen gegen Russland oder seine Verbündeten und zweitens als Antwort auf einen konventionellen Angriff, der die staatliche Existenz der Russischen Föderation (nicht aber derer Verbündeter – der Verfasser) gefährdet. In letzterem Fall ist ein Ersteinsatz nicht ausgeschlossen. Da dieser zweite Fall die ernsthafte Gefährdung der staatlichen Existenz Russlands voraussetzt, sind die Bedingungen für einen Ersteinsatz aber deutlich enger gefasst als bei der NATO oder den USA. Beide Aussagen stehen darüber hinaus in der Tradition des sowjetischen Denkens über die kriegsverhindernde Rolle von Nuklearwaffen.

Der Ursprung der »escalate to de-escalate«-Lesart liegt wohl in der US-Debatte. Dort unterstellen konservative Nukleartheologen ihren russischen Antipoden offenbar ihre eigenen, auf spieltheoretischer Grundlage entwickelten Ansätze und begründen so, dass die von ihnen für notwendig gehaltenen Atomwaffen kleinerer Sprengkraft unbedingt eingeführt werden müssen.

Abschreckung durch Kriegführungsfähigkeit

Fragt man, was die USA tun könnten, um in einem »escalate to de-escalate«-Szenario die nukleare Abschreckung glaubwürdiger zu machen, so lautet die Antwort meist: Die USA brauchen prompt und flexibel über große Entfernungen einsetzbare Nuklearwaffen kleiner Sprengkraft, mit deren Einsatz sie glaubwürdig drohen können und gegen die es keine wirksame Verteidigung gibt. Unverwundbar auf U-Booten stationierte ballistische Raketen großer Reichweite mit einem kleinen Sprengkopf seien dafür besonders geeignet.

Der kleine Sprengkopf auf strategischen U-Booten erfüllt also jenen Nukleartheoretikern, Militärstrategen, Generalen und Admiralen einen lange gehegten Wunsch, die glauben, dass Abschreckung nur glaubwürdig ist, wenn sie sich auf vorhandene, glaubhaft einsetzbare militärische Fähigkeiten abstützen kann, einen Krieg mit atomaren Waffen auch regional begrenzt führen zu können – also den Verfechtern einer Kriegführungsabschreckung. Anhängern einer Abschreckung, die auf Kriegsverhinderung zielt, für die Nuklearwaffen vor allem eine politische, den Ausbruch von Kriegen verhindernde Rolle haben, treibt ein solcher Sprengkopf dagegen Schweißperlen auf die Stirn.

Das ist aus mehreren Gründen so: Zum einen befürchten sie, dass die Hemmschwelle vor einem Nuklearwaffeneinsatz sinkt, wenn Waffen eine hohe Zielgenauigkeit haben und aufgrund ihrer kleinen Sprengkraft deutlich geringere »Kollateralschäden« versprechen. Für den Besitzer solcher Waffen könnte der Anreiz steigen, diese als erster einzusetzen, um den Gegner durch einen begrenzten Nuklearschlag vor die Wahl zu stellen, entweder keine nukleare Antwort zu geben oder die Auseinandersetzung auf die Ebene eines globalen Atomkriegs zu eskalieren. So könnte man selbst ein »escalate to de-escalate«-Szenario schaffen, das Russland vor diese Alternative stellt. Schließlich könnten solche Waffen auch zu der Hoffnung verleiten, nukleare Konflikte auf Kriegsschauplätze, wie Europa oder die koreanischen Halbinsel, begrenzen und die USA davon abkoppeln zu können.

Dies alles verbindet sich mit der Logik der Kriegführungsabschreckung. Es kann deshalb auch nicht verwundern, dass das US-Militär seit 15 Jahren erstmals wieder über eine teilstreitkraft-übergreifende Grundlagenvorschrift für »Nuclear Operations« (Dokument JP3-72, 2019) verfügt. Auch sie atmet diesen Geist der Kriegführungsabschreckung.

Folgen für die NATO

Die Veränderungen in der Nuklearpolitik unter Donald Trump werden nicht ohne Auswirkungen auf die NATO und auf deren System der Nuklearen Teilhabe bleiben. Dafür gibt es drei Anzeichen:

Zum einen verabschiedete der Militärausschuss der NATO eine neue NATO-Militärstrategie, über die sich der NATO-Oberbefehlshaber, General Wolters, erfreut zeigte: Sie „sehe sehr ähnlich aus wie die Nationale Verteidigungsstrategie“ der USA.5. Das NATO-Dokument »Comprehensive Defense and Shared Response« (2019) ist als geheim eingestuft.6

Zum Zweiten verbesserten die USA im Herbst 2019 wahrscheinlich die technischen Sicherheitsvorkehrungen an Bord ihrer in Deutschland gelagerten nuklearen Bomben, sowohl im Blick auf die Hardware als auch bezüglich der Software. Dazu wurden die bisher in Deutschland gelagerten Waffen in die USA zurücktransportiert und wohl gegen andere Waffen ausgetauscht. Deren neue »Use Control» -Systeme sollen garantieren, dass die Waffen nur explodieren können, wenn sie bei exakt den Missionen eingesetzt werden, für die sie der US-Präsident freigibt. In allen anderen Fällen sollen sich die Waffen selbst unbrauchbar machen. Für das im Oktober 2019 beginnende US-Haushaltsjahr 2020 war schon vor zehn Jahren ein solches Upgrade vorgesehen. Dies erfordere Änderungen, die nur in den USA vorgenommen werden können.7

Zum Dritten konfrontiert die Stationierung der Trident-Raketen mit W76-2 Sprengköpfen die NATO mit der einer Zäsur, denn die Ausgangslage für europäische Wünsche nach Mitspracherechten beim Einsatz atomarer Waffen in Europa verändert sich grundlegend. Während des Kalten Krieges und im Grundsatz bis in das vergangene Jahr ließen sich europäische Mitsprachewünsche im Hinblick auf Atomwaffeneinsätze im Rahmen der nuklearen Teilhabe immer mit mindestens einem der folgenden Argumente begründen:

  • Der Einsatz atomarer Waffen erfolgt vom Territorium europäischer Staaten aus.
  • Die US-Waffen kommen aus Depots in Europa.
  • Viele nuklearfähige Trägersysteme gehören europäischen Staaten und werden von Soldaten dieser Ländern betrieben.
  • Schließlich lagen während des Kalten Krieges auch viele Ziele dieser Waffen auf dem Territorium europäischer Staaten.

Im Kern galt bislang: Sollte der Zusammenhalt in der NATO nicht komplett riskiert werden, so müssten sich die Regierungen diesseits und jenseits des Atlantiks ins Benehmen setzen. Der US-Präsident träfe zwar die letzte Entscheidung über die Freigabe jeder substra­tegischen Nuklearwaffe. Ohne Konsultation mit oder gar gegen den erklärten Willen der betroffenen europäischen Staaten könnten diese Waffen aber nur um den Preis eines potentiellen Zerfalls der NATO eingesetzt werden. Dies galt im politischen Sinn, unabhängig davon, ob die europäischen Staaten in der NATO oder in ihrem bilateralen Verhältnis zu den USA je ein Mitsprache- oder Mitentscheidungsrecht im juristischen Sinn hatten. Dies engte zugleich den Spielraum der USA ein, einen atomaren Konflikt auf Europa zu begrenzen.

Künftig könnte das grundlegend anders sein. Obgleich ein potentieller Einsatz des Sprengkopfes W76-2 in den USA bisher meist als Reaktion auf einen russischen Ersteinsatz beschrieben wird, könnte diese Waffe auch für einen Ersteinsatz durch die USA attraktiv sein. Ähnlich wie die Pershing-II der 1980er Jahre hat eine Trident-II mit dem neuen Sprengkopf mehrere Vorteile: die kleine Sprengkraft, der geringere »Kollateralschaden«, eine kurze Flugzeit, eine Reichweite bis nach Russland und vor allem die Verlagerung der Entscheidung darüber, ob der Krieg tatsächlich weiter eskalieren soll, zum Gegner. Zudem können die USA jetzt aus internationalen Gewässern von einem US-Boot eine US-Rakete mit einem einzigen US-Sprengkopf als bevorzugtes substrategisches Mittel für einen begrenzten ersten atomaren Einsatz nutzen und dabei wählen, ob das Ziel dieses Einsatzes auf dem Territorium Russlands oder eines anderen Landes liegt. Da US-U-Boote der NATO auch in Krise und Krieg nicht unterstellt werden, braucht Washington kein europäisches Mittun mehr, wenn es die Schwelle zu einem auf den europäischen Kriegsschauplatz begrenzten Nuklearwaffeneinsatz überschreiten will.

Gerade weil dies den nuklearen Ersteinsatz und damit das Überschreiten der nuklearen Schwelle betrifft, verändert dies aus europäischer Sicht vieles. Schon als die NATO in den späten 1960er Jahren begann, detaillierte Konsultationsmechanismen für den Nuklearwaffeneinsatz einzuführen, war dies der zentrale Streitgegenstand. Es entstanden zwei Dokumente: Das eine betraf generelle Richtlinien für Konsultationen über Fragen des NATO-Einsatzes nuklearer Waffen; das andere befasste sich mit der Einzelfrage von Konsultationen über den erstmaligen Einsatz (initial use) nuklearer Waffen durch die NATO, also dem Überschreiten der nuklearen Schwelle. Dieses Papier betraf damit zugleich die Frage nach dem Primat der Politik und nach der politische Kontrolle über die militärische nukleare Planung. Zweifellos war das aus europäischer Sicht die wichtigste Frage, bei der man mitreden oder mitentscheiden wollte: Wann und in welcher Form soll ein erster Einsatz nuklearer Waffen erfolgen? Die NATO hielt sich ja wie die USA die Möglichkeit eines Ersteinsatzes offen.

Deutschland und die Zukunft der Nuklearen Teilhabe

„Deutschland bleibt über die nukleare Teilhabe in die Nuklearpolitik und die diesbezüglichen Planungen der Allianz eingebunden. So steht es im Weißbuch der Bundesregierung aus dem Jahr 2016, und so gilt es bis heute. Die Bundesregierung will, dass weiterhin US-Atomwaffen in Deutschland stationiert bleiben, die von deutschen Trägerflugzeugen eingesetzt werden können. Das Verteidigungsministerium drängt zu diesem Zweck auf eine rasche Beschaffung von 30 Flugzeugen des Typs F-18F, die den ­Tornado ablösen sollen. Dieser Flugzeugtyp muss jedoch für den Einsatz als nuklearer Jagdbomber erst noch zertifiziert werden. Unklar ist auch, ob die F-18F, anders als der Tornado, alle zusätzlichen operativen Möglichkeiten der modifizierten Atombombe B61-12 nutzen könnte, so deren deutlich verbesserte Zielgenauigkeit und die Fähigkeit zum Einsatz gegen verbunkerte Ziele. Die Stationierung dieses Bombentyps soll in wenigen Jahren beginnen. Er wird über hochmoderne Use-control-Features verfügen, die möglicherweise die nukleare Rolle von Jagdbombern auf Einsatzformen beschränken, die bei einem Ersteinsatz wenig oder keinen Sinn machen.

Die Hoffnung, man könne mit der nuklearen Teilhabe gegebenenfalls Einfluss auf einen Ersteinsatz von US-Atomwaffen in Europa nehmen, dürfte durch die Modernisierung des Nukleararsenals der USA also wohl hinfällig werden. Der geplante Kauf von nuklearfähigen US-Kampfflugzeugen würde dann zu einem sehr teuren Selbstbetrug. Er erfüllt seinen vorgeblichen Zweck nicht mehr.

Anmerkungen

1) Für diesen Artikel wurde folgende Beiträge genutzt:
Arkin, W.A.; Kirstensen, H.M. (2020): US Deploys New Low-Yield Nuclear Submarine Warhead. Federation of American Scientists, Strategic Security Blog29.1.2020.
Wolf, A.F. (2020): A Low-Yield, Submarine-­Launched Nuclear Warhead: Overview of the Expert Debate. Washington D.C.: Congression­al Research Service, 10.1.2020.
Aaron Mehta (2020): Inside America’s newly revealed nuclear ballistic missile warhead of the future. Defense News, 24.2.2020.
U.S. House Armed Services Committee (2020): Subcommittee on Strategic Forces Hearing – The Fiscal Year 2021 Budget Request for Nuclear Forces and Atomic Energy Defense Activities. 3.3.2020.

2) Für eine nähere Darstellung siehe Nassauer, O.: »Tailored Deterrence« – Eine Nuklearpolitik für Donald Trump. W&F 1-2018, S. 14-17.

3) UK Ministry of Defense (2020): Defence Secretary announces programme to replace the UK’s nuclear warhead. gov.uk, 25.2.2020.

4) Siehe z.B. Kroenig, M. (2018): Deterring Russian Nuclear De-escalation Strikes. Washington D.C.: Atlantic Council of the United States, April 2018.

5) U.S. Senate, Committee on Armed Services (2020): Hearing to receive testimony on United States European Command and United Stations Transportation Command in review of the Defense Autorization Request for Fiscal Year 2021 and the future years defense program. 25.2.2020, S. 33.

6) Ibid, S. 11 und 33.

7) U.S. Department of Energy, National Nuclear Security Agency (o.J.): FY09 Refurbishment Planning Schedule; online unter fas.org/­programs/ssp/nukes/images/nnsachart.pdf.

Otfried Nassauer ist Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS) und arbeitet als freier Journalist.

Atombomber in Zeiten von Corona


Atombomber in Zeiten von Corona

von Regina Hagen

Die deutsche Verteidigungsministerin will 148 Flugzeuge bestellen: 93 Eurofighter für Kampfeinsätze, 15 F-18 »Growler« für die Elektronische Kriegsführung sowie 30 F-18 »Super Hornet«. Die F-18 sollen den Tornado ersetzen und kommen aus den USA; ihren dortigen Kollegen Esper setzte sie von der Kaufabsicht in Kenntnis. Darüber berichtet DER SPIEGEL am 19.4.20.

Barbara Junge (taz, 22.4.20, S. 12) kommentiert: „Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat ein un­trügliches Gespür für die falsche Entscheidung im falschen Moment. Mitten in der globalen Gesundheits- und Wirtschaftskrise muss gewiss nicht entschieden werden, welche Kampfjets künftig für Deutschland US-amerikanische Atombomben zu deren Zielen fliegen sollen. Genau dafür sind die F-18 »Super Hornet« aber vorgesehen. Es gehe, so Werner Sonne (tagesspiegel.de, 21.4.20), „nicht nur um einen Milliardendeal, um die Stützung der deutschen Rüstungsindustrie, und auch nicht nur um ein wichtiges Signal in Richtung Washington. All das gehört dazu. Vor allem aber steht die deutsche Sicherheitsarchitektur ganz grundsätzlich zur Disposition: die nukleare Teilhabe, der deutsche Beitrag zum atomaren Schutzschirm der Nato.

Widerstand aus dem Parlament

In der SPD sind viele verärgert, „denn über ihren Alleingang, in Form einer E-Mail an den Amtskollegen Mark Esper in den USA, informierte die CDU-Politikerin weder den Koalitionspartner SPD noch das Parlament“ (Daniel Lücking, nd, 21.4.20, S. 8). Dem scheint nicht ganz so zu sein. „Aus dem Ministerium heißt es, die SPD sei über die Regierungsmitglieder wie Finanzminister Olaf Scholz eingebunden“ (SZ, 21.4.20, S. 6), auch Außenminister Maaß war offenbar informiert. Es geht jedoch um mehr als verletzte Eitelkeiten: „SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sperrt sich schon seit Monaten gegen den Kauf der US-Flieger, weil diese die Fähigkeit zum Transport von Atomwaffen haben. (Daniela Vates, FR, 21.4.20, S. 9) „Dabei bleiben oder aussteigen aus der nuklearen Teilhabe – darum geht es. Und der Riss […]geht vor allem mitten durch die SPD. Kampf dem Atomtod – das war der Schlachtruf der Sozialdemokraten, als es Ende der fünfziger Jahre um die atomare Bewaffnung der Bundeswehr ging. Und das steckt bis heute bei vielen SPD-Linken in ihrer DNA. (Werner Sonne, tagesspiegel.de, 21.4.20)

Aus anderen Parteien gab es ebenfalls Protest, u.a. wegen der Umgehung des Parlaments; hier wiegelt das Verteidigungsministerium indessen ab: Eine Kaufzusage habe sie aber nicht abgegeben, das sei Sache des Parlaments. (nd, 21.4.20, S. 4) Tobias Lindner von den Grünen ist dennoch unzufrieden: „Selbst wenn das Schreiben nur informellen Charakter hat, setzt es die Abgeordneten unter Druck […]. (FR, 21.4.20, S. 9) Der Bundestag allerdings wird erst nach den Verhandlungen mit Boeing über den Kauf entscheiden, also nach der Bundestagswahl.

Praktische und fachliche Bedenken

Zum Kauf der F-18 »Super Hornet« stellen sich auch fachliche Fragen, die nicht einfach wegzuwischen sind. „Unabhängig von der Frage, ob ein Einsatz militärisch sinnvoll oder moralisch vertretbar wäre: Bei Einsatzreichweiten von rund 2000 Kilometern gibt es nicht viele Ziele, die außerhalb von EU-Territorium liegen“, erklärt Moritz Kütt (fr.de, 23.4.20). ­Malte Lehming (tagesspiegel.de, 22.4.20) verweist darauf, „die Vorstellung, dass ein Pilot in Europa in ein Flugzeug steigt und dann seine Bomben abschmeißt,“ sei „veraltet. Künstliche Intelligenz, bewaffnete Drohnen, Cyberwar: Das sind die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen.

Dazu kommt ein weiteres Problem: Weil es sich um amerikanische Atomwaffen handelt, müssen die entsprechenden Kampfflugzeuge auch von den USA für nukleartauglich erklärt, also zertifiziert werden (Marcus Pindur, deutschlandfunk, 25.4.20). Werner Sonne (tagesspiegel.de, 21.4.20) hat weitere Bedenken: „Militärtechnisch ist der Kauf des US-Modells F-18 ein Unfug: ein altes Marineflugzeug, das […] in wenigen Jahren bei den US-Streitkräften ausgemustert wird.

Außerdem geht es um viel Geld. „Der Hersteller Boeing verspricht zwar, sich um die Zertifizierung zu bemühen. Im Falle eines Misserfolges hätte Deutschland geschätzt 1,3 bis 1,9 Milliarden Euro für 30 Flugzeuge ohne Verwendungszweck ausgegeben.(Moritz Kütt, fr.de, 23.4.20). Das Gesamtpaket für die Eurofighter und F-18 bewegt sich allerdings in einer anderen Dimension: „Laut ICAN-Berechnungen könnten sich die Gesamtkosten […] über eine veranschlagte 30-jährige Nutzungszeit mit Ausgaben für Wartung, Treibstoff etc auf mehr als 100 Milliarden Euro belaufen“, berichtet Michael Merz (jw, 21.4.20, S. 1).

Der Schutz von Menschenleben

Moritz Kütt (fr.de, 23.4.20) setzt die Diskussion in einen aktuellen Kontext: Jede einzelne F18 kostet etwa so viel wie 2000 bis 3000 intensiv-medizinische Beatmungsgeräte, die weltweit dringend zum Schutz von Leben benötigt werden. Statt deutsche Steuerzahlerinnen und -zahler den potenziellen Einsatz von Massenvernichtungswaffen finanzieren zu lassen, sollten diese Mittel die internationale Gemeinschaft in der Krisenbewältigung unterstützen. Barbara Junge (taz, 23.4.20, S. 12) zieht daraus einen Schluss: „Jetzt wäre der Moment, die Logik des nuklearen Schutzschirms generell in Frage zu stellen. Leider ist die Verteidigungsministerin dazu nicht bereit. Anders formuliert: „Statt jetzt über den Erhalt eines Waffensystems für die nächsten Jahrzehnte zu entscheiden, sollte vielmehr folgende Frage gestellt werden: Sind Kernwaffen nach der Corona-Krise noch systemrelevant?“ (Moritz Kütt, fr.de, 23.4.20)

Bundeskanzlerin Merkel sagte am 18. März 2020 in einer Fernsehansprache: „Das sind nicht einfach abstrakte Zahlen in einer Statistik, sondern das ist ein Vater oder Großvater, eine Mutter oder Großmutter, eine Partnerin oder Partner, es sind Menschen. Und wir sind eine Gemeinschaft, in der jedes Leben und jeder Mensch zählt. Sie sprach von Corona-Toten. Selbst eine »kleine« Atombombe würde sehr viele Menschen das Leben kosten. Gilt Merkels Plädoyer für sie nicht?

Zitierte Quellen: DE – Darmstädter Echo, deutschlandfunk, FR bzw. fr.de – Frank­furter Rundschau, jw – junge welt, nd – neues deutschland, SZ – Süddeutsche Zeitung, tagesspiegel.de, taz – tageszeitung

Bombenbauer und Bombenbanker


Bombenbauer und Bombenbanker

Das Geschäft mit Atomwaffen

von Susi Snyder

Atomwaffen werden von Regierungen bestellt, von Nuklearlabors entwickelt, von Unternehmen gebaut und vom Militär stationiert und gegebenenfalls auch eingesetzt. Es gibt aber noch einen weiteren Akteur auf diesem Feld: Finanz­institute. Banken, Versicherungen und Rentenfonds halten Unternehmensanteile, vergeben Kredite oder beteiligen sich auf andere Weise an der Finanzierung von Unternehmen, die Atomwaffen herstellen. Die Autorin beleuchtet diesen meist unterbelichteten Aspekt der nuklearen Rüstung.

Atomwaffen bleiben die zerstörerischsten Waffen, die jemals entwickelt wurden – entwickelt, um Städte zu zerstören, Armeen auszulöschen und Bevölkerungen zu pulverisieren. Im Juli 2017 sprach sich die Mehrheit der Welt entschieden und unmissverständlich gegen diese Waffen aus, als sie den »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« annahm. Damit sind Atomwaffen jetzt nicht nur unterschiedslos in der Wirkung, inhuman und unmoralisch, sondern auch durch einen völkerrechtlichen Vertrag verboten.

Gleichzeitig werden ungeachtet weltweiter Appelle, die zu Zurückhaltung und nuklearer Abrüstung mahnen, in allen neun Atomwaffenstaaten neue Atomwaffen entwickelt. Laufende Regierungsaufträge für mindestens 116 Mrd. US$ (102 Mrd. Euro) für die Herstellung, Entwicklung und Lagerung von Atomwaffen wurden an Firmen in Frankreich, Indien, Italien, den Niederlanden, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten vergeben. In der Volksrepublik China beginnen Staats­unternehmen, die in die Herstellung von Atomwaffen eingebunden sind, mit der Ausgabe von Anleihen Geld zu beschaffen. Über die Atomwaffenprogramme in Israel, Nordkorea, Pakistan und Russland (die vorwiegend von staatlichen Firmen betrieben werden), herrscht nach wie vor keine Transparenz.

Staaten, die selbst keine Atomwaffen besitzen, können diese auch nicht beseitigen, sie können aber Normen und Verhaltensregeln einführen, die den weiteren Atomwaffenbesitz und neue Rüstungswettläufe unmöglich machen. Als äußerst wirksam erwies es sich, den Finanzfluss der Unternehmen, die Atomwaffen herstellen (im folgenden kurz »Waffenhersteller«), zu unterbinden. So gaben unter Verweis auf Druck vonseiten ihrer Kredit­institute etliche Unternehmen die Herstellung von Streumunition auf, darunter Textron, Lockheed Martin, Orbital ATK und Singapore Technologies Engineering – obwohl all diese Firmen ihren Sitz in Staaten haben, die dem »Übereinkommen zum Verbot von Streumunition« gar nicht beigetreten sind.

Das Projekt »Don’t Bank on the Bomb« (in Deutschland »Atomwaffen – ein Bombengeschäft«) wurde initiiert, um eine vergleichbare Dynamik anzustoßen. Die Herstellung von Atomwaffen soll durch die Verringerung oder Beendigung von Investitionen in Herstellerfirmen gestoppt werden und der Finanzsektor soll motiviert werden, das Stigma gegen die schlimmsten jemals entwickelten Waffen zu stärken.

Neues nukleares Wettrüsten

Es ist ein neues nukleares Wettrüsten im Gange. Das lässt sich anhand der Aufträge belegen, die für die Forschung, Entwicklung und Herstellung von Schlüsselkomponenten für Atomwaffen vergeben werden. Zu den neuen Systemen, die momentan entwickelt werden, gehören die Interkontinentalraketen des »Ground Based Strategic Deterrent« (Landgestützte strategische Abschreckung«) der USA, das Nachfolgemodell ASN4G der französischen Lenkwaffe ASMP (Air-Sol Moyenne Portée, Luft-Boden-Rakete mittlerer Reichweite) sowie die indischen Bestrebungen, U-Boot-gestützte ballistische Raketen einzuführen. Überdies laufen Programme, um U-Boot-gestützte Hyperschallraketen zu bauen, wie z.B. einem 109,5 Mio. US$ (95,5 Mio. Euro) schweren Vertrag mit dem Charles Stark Draper Laboratory zu entnehmen ist. Die beteiligten Firmen brauchen Investitionen, um konkurrenzfähige Angebote auf entsprechende Ausschreibungen abgeben zu können – so fördern Investitionen aus dem Finanzsektor den Bau neuer Atomwaffen.

Einige Unternehmen fallen durch ihr Gesamtengagement bei der Herstellung von Atomwaffen und laufende Verträge in Milliardenhöhe auf. Huntington Ingalls Industries beispielsweise kooperiert mit etlichen Unternehmen des US-Atomwaffenkomplexes und ist an laufenden Verträgen in Höhe von mehr als 28 Mrd. US$ beteiligt. Lockheed Martin folgt dichtauf und ist an Verträgen über mehr als 25 Mrd. US$ beteiligt.

Profitables Ende des INF Vertrags

Der Vertrag über das Verbot von Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag) zwischen den USA und Russland war das letzte Opfer des wiederaufgelebten nuklearen Wettrüstens. Wir sollten fragen, wem die Entscheidung, den INF-Vertrag zu kündigen und die Welt erheblich unsicherer zu machen, nutzt. Fündig werden wir bei den Unternehmen – viele davon gehören zu den Spendern von US-Präsident Donald Trump –, die vom warmen Geldregen für ein neues nukleares Wettrüsten profitieren. Im vergangenen Jahr stiegen die Investitionen in Firmen, die Atomwaffen herstellen, um 81 Mrd. US$, und selbst diese Summe wird bald wie Peanuts erscheinen.

Seit der Kündigung des Vertrags am 2. Februar 2019 beauftragte die US-Regierung bereits mehr als eine Mrd. US$ für neue ballistische Raketen (Rohrlich 2019). Davon profitiert u.a. Raytheon, das auch sonst in die Atomwaffengeschäfte der USA eingebunden ist. Seit Auslaufen des INF-Vertrags am 2. August 2019 konnten auch Boeing, Lockheed Martin, Textron u.a. Regierungsaufträge für Raketen an Land ziehen.

Überraschend ist es nicht, dass Unternehmen mit einem direkten Draht zur Regierung Trump von dem neuen Wettrüsten profitieren. So hatte z.B. Nikki Haley in ihrer Zeit als UN-Botschafterin der USA den US-Boykott der Verhandlungen zum »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« organisiert (Sengupt und Gladstone 2017) – jetzt sitzt sie im Vorstand von Boeing (Boeing o.J.). Bei dem neuen Wettrüsten geht es nicht um Sicherheit, sondern darum, den Kumpels und Sponsor*innen von Donald Trump die Taschen zu füllen.

Wer baut die Bomben?

Das Projekt »Don’t Bank on the Bomb« ist die einzige ausführliche, öffentlich zugängliche Quelle mit Detailinformationen über die Firmen, die an der Herstellung von Atomwaffen beteiligt sind. Das Projekt untersucht Unternehmen, die unmittelbar an der Entwicklung, Erprobung, Herstellung und Wartung von Atomwaffentechnologie, -komponenten, -produkten und -dienstleistungen mitwirken. Die untersuchten Unternehmen arbeiten an Sprengköpfen oder an atomwaffenfähigen Trägersystemen, z.B. Raketen. Das schließt »Dual-use«-Technologie ein, die nicht speziell für die Nutzung in Atomwaffen entwickelt wird, aber dafür angepasst oder umkonfiguriert werden kann.

Flugzeuge und U-Boote werden in den Analysen von »Don’t Bank on the Bomb« nicht berücksichtigt. Allerdings sind oft die selben Unternehmen an der Herstellung solcher Trägersysteme und an der eigentlichen Atomwaffenproduktion beteiligt. So wird z.B. Lockheed Martin, das derzeit das mittelfristig für Atomwaffen vorgesehene Mehrzweckkampfflugzeug F35 (Joint Strike Fighter) baut, berücksichtigt, weil es mehr als 7,9 Mrd. US$ an laufenden Verträgen für Atomraketen der USA und des Vereinigten Königsreiches aufweist.

Das Projekt bietet momentan Informationen über 28 Unternehmen, die an der Herstellung von Atomwaffen mitwirken. Die meisten davon arbeiten für das Atomwaffenprogramm der USA. Grund dafür ist die vergleichsweise hohe Transparenz der Auftragsvergabe in den USA. Es liegen aber auch Daten über Unternehmen vor, die für das französische, indische und britische Atomwaffenarsenal arbeiten, sowie über elf weitere Unternehmen, darunter auch ein chinesisches. Chinesische Unternehmen gehören nicht zum Untersuchungsgegenstand des Projektes, sind aber natürlich Teil der globalen Atomwaffenindustrie.

Tab. 1. listet die 28 Unternehmen auf, von denen eine direkte Beteiligung an der Atomwaffenindustrie nachgewiesen ist, ihr Ursprungsland sowie das Arsenal bzw. die Arsenale, für die sie arbeiten.

Unternehmen Ursprungsland Arsenal(e)
Aecom Vereinigte Staaten USA
Aerojet Rocketdyne Vereinigte Staaten USA
Airbus Group Niederlande France
BAE Systems Vereinigtes Königreich UK, USA
Bechtel Vereinigte Staaten USA
Bharat Dynamics Limited India India
Boeing Vereinigte Staaten UK, USA
BWX Technologies Vereinigte Staaten UK, USA
Charles Stark Draper Laboratory Vereinigte Staaten UK, USA
Constructions Industrielles de la Méditerranée Frankreich Frankreich
Fluor Vereinigte Staaten USA
General Dynamics Vereinigte Staaten UK, USA
Honeywell International Vereinigte Staaten UK, USA
Huntington Ingalls Industries Vereinigte Staaten USA
Jacobs Engineering Vereinigte Staaten UK, USA
Larsen & Toubro Indien Indien
Leidos Vereinigte Staaten USA
Leonardo Italien Frankreich
Lockheed Martin Vereinigte Staaten UK, USA
Moog Vereinigte Staaten USA
Northrop Grumman Vereinigte Staaten USA
Raytheon Vereinigte Staaten USA
Safran Frankreich Frankreich
Serco United Kingdom UK
Textron Vereinigte Staaten USA
Thales Frankreich Frankreich
United Technologies Corporation Vereinigte Staaten USA
Walchandnagar Industries Indien Indien

Tab. 1: An der Atomwaffenindustrie beteiligte Unternehmen
UK = United Kingdom/Vereinigtes Königreich

Investoren und Desinvestoren

Finanzinstitute können auf unterschied­liche Weise zur Finanzierung von Unternehmen beitragen: durch Darlehen, durch Unterstützung der Unternehmen bei der Emission von Aktien und Anleihen sowie durch (die Verwaltung von) Investitionen in Aktien und Anleihen dieser Unternehmen. Für Vermögensverwalter und Rentenkassen beschränken sich entsprechende Aktivitäten auf (die Verwaltung von) Aktien- und Rentenanlagen der entsprechenden Unternehmen.

Mit Stand Juni 2019 wurde mehr als die Hälfte aller Investitionen in die großen Atomwaffenhersteller von zehn Finanzinstitute getätigt: Vanguard, BlackRock, Capital Group, State Street, Verisight (firmiert jetzt als Newport Group), T. Rowe Price, Bank of America, JPMorgan Chase, Wells Fargo und Citigroup. Die meisten Investitionen finden zwar in Form von Aktienbeteiligungen statt, allerdings wurden fast 20 % der laufenden Investitionen als Darlehen an die Atomwaffenhersteller vergeben.

Wenn mehr Staaten den neuen »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« ratifizieren und dieser in Kraft tritt, wird der Zusammenhang zwischen dem umfassenden Verbot von Atomwaffen und den Unternehmen, die in die Produktion von Atomwaffen eingebunden sind, stärker in die Diskussion rücken.

Seit Juli 2017, als der Vertrag verabschiedet wurde, ist zu beobachten, dass die Stigmatisierung von Investitionen in Atomwaffen wächst. Die niederländische ABP, fünftgrößter Pensionsfonds der Welt, teilte mit, dass aufgrund des „Wandel[s] in der Gesellschaft, auch auf internationaler Ebene […], Atomwaffen nicht mehr zu unserer nachhaltigen und verantwortungsbewussten Investmentpolitik passen“ (Houwelingen 2018). ABP achtete jetzt darauf, das Atomwaffenhersteller keinen Zugang mehr zu ihrem 500 Mrd. US$ (405 Mrd. Euro) schweren Vermögenspool haben.

Die Zahl der Banken, Rentenanbieter und Versicherungsunternehmen, die überhaupt noch in Atomwaffenhersteller investieren, sinkt, selbst wenn die Invest­mentsummen steigen mögen. Manche Investoren spekulieren auf kurzfristige Gewinne, da alle Atomwaffenstaaten neue Atomwaffen entwickeln und hoch dotierte Verträge an Atomwaffenhersteller vergeben. Das birgt aber längerfristig das Risiko eines Kurzschlusses in der globalen Sicherheit.

Die Untersuchungsergebnisse von »Don’t Bank on the Bomb« zeigen, dass eine nennenswerte Zahl institutioneller Investoren Regelwerke aufstellt, die jegliche Finanzbeziehungen mit Atomwaffenherstellern beschränken oder ausschließen. Mindestens 77 Finanzinstitute haben bereits Regeln verabschiedet, die ihre Geschäftsbeziehungen mit Atomwaffenherstellern auf ein Minimum begrenzen. 36 davon haben bereits umfassende Regelwerke eingeführt (­keinerlei Investitionen in als Atomwaffenhersteller identifizierte Unternehmen). Diese offiziellen Regelwerke signalisieren unmissverständlich, dass Atomwaffen inakzeptabel sind und niemand von ihrer Herstellung profitieren darf.

Und in Deutschland?

In fünf europäischen Ländern sind momentan vermutlich 180 Atomwaffen des Typs B61 stationiert (auf den Luftwaffenstützpunkten Kleine Brogel in Belgien, Büchel in Deutschland, Aviano und Ghedi in Italien, Volkel in den Niederlanden und Incirlik in der Türkei). Obwohl eine Mehrheit der Menschen in diesen Ländern gegen die Stationierung dieser Waffen ist, wird in den USA momentan an einer neuen Version dieser Bomben gearbeitet, an der B61-12. Aufgrund technischer Probleme werden die neuen Bomben wohl zwei bis fünf Jahre später als geplant stationiert, aber es gibt bereits Pläne für die Entwicklung des Typs B61-13 ab 2038 (Kristensen 2019).

An der Herstellung der B61-12-Bombe sind mindestens drei Unternehmen beteiligt: Boeing fertigt im Rahmen eines 185-Mio.-US$-Vertrages das Heckleitwerk (das entspricht 163 Mio. Euro). Honeywell International betreibt und managt das Sandia National Laboratory, das die neue Hardware für die Bombe entwickelt. Huntington Ingalls Industries ist für die Nuklearkomponenten und deren Fertigung zuständig. Der Vertrag sah vor, dass die Heckleitwerke im Mai 2019 verfügbar sein sollten (DoD 2019). Ein weiteres Unternehmen, Atlantic CommTech, erhielt 2016 einen Vertrag zur Umrüstung der »Weapon Storage and Security Systems« (zur unterirdischen Lagerung der B61-12 in den Flugzeughangars) an den europäischen Stationierungsorten; diese Arbeiten sollen im Oktober 2020 abgeschlossen sein (DoD 2016).

Zu den deutschen Investoren in diese drei Unternehmen gehören Allianz, BayernLB, Commerzbank, Deutsche Bank, DZ Bank und Siemens. Bei der Bank für Kirche und bei Caritas hingegen gelten umfassende Regelwerke, die jegliche Finanzierungsbeziehungen mit Atomwaffenherstellern ausschließen. Auch die Deutsche Bank hat inzwischen Regeln im Hinblick auf Atomwaffen aufgestellt, die allerdings (noch) nicht umfassend und (noch) nicht vollständig in Kraft sind.

Schlussfolgerungen

Eine Risikoanalyse, die lediglich die Maximierung des Gewinns im Blick hat, ist nicht mehr zureichend. In einer Welt, die mit existenziellen Bedrohungen konfrontiert ist, müssen weitere Faktoren berücksichtigt werden, um der Treuhandpflicht eines Finanzinstituts gerecht zu werden und um angemessene Entscheidungen treffen zu können. Angesichts von Billionen Dollar, die kontinuierlich in nachhaltige Investments fließen, dürfen Investitionen nicht nur profitabel sein, sondern sie müssen auch Gutes tun.

Die Finanzinstitute, die immer noch Profit mit Atomwaffen machen, sind ebenso wie die wenigen Länder, die immer noch an die Nützlichkeit von Atomwaffen glauben, zunehmend isoliert und stigmatisiert. Wir alle können mithelfen, die Profite aus der Atomwaffenherstellung auszutrocknen. Das bringt uns der atomwaffenfreien Welt ein bisschen näher.

Literatur

Boeing (o.J.): Overview – Board of Directors. boieing.com, Stand 30.1.2020.#lit Rohrlich, J. (2019): the US has started a »new nuclear arms race< since Trump pulled out of the INF Treaty. Quartz, 2.5.2019.

Houwelingen, E.v. (2018): ABP Pension Fund excludes tobacco and nuclear weapons. ABP Press Release, 11.1.2018.

Kristensen, H.K. (2019): NNSA Plan Shows Nuclear Warhead Cost Increases and Expanded Production. Federation of American Scientists, Security Blog, 5.11.2018.

Sengupt, S.; Gladstone, R. (2017): United States and Allies Protest U.N. Talks to Ban Nuclear Weapons. New York Times, 27.3.2017.

U.S. Department of Defense/DoD (2016): Daily contracts – Modification P00007 to contract FA2103-16-C-0061. 16.6.2016; dod.defense.gov.

U.S. Department of Defense/DoD (2016): Contracts for September 9, 2016. defense.gov.

Susi Snyder koordiniert die Recherchen und die Kampagne »Don’t Bank on the Bomb« (dontbankonthebomb.com; in Deutschland »Atomwaffen – ein Bombengeschäft«, atombombengeschaeft.de). Sie vertritt die niederländische Friedensorganisation PAX im Steering Committee der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), die 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.

Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Frieden in Bewegung

Frieden in Bewegung

von Michael Müller

Die Rüstungsausgaben erreichen heute neue Rekordhöhen, die weit über denen von 1988 liegen, dem letzten Jahr der noch in Ost und West gespaltenen Welt. Ein neuer Nationalismus macht sich breit. Das Kriegsgerassel wird lauter; die NATO führt immer größere Manöver durch; entlang der 1.700 km langen Grenzen zwischen der EU und Weißrussland/Russland vervielfacht sich die Stationierung von Militär; die Militärübungen haben sich in kurzer Zeit verfünffacht. Und jetzt wird es bis Mai 2020 mit »Defender Europe 20« auch noch ein provokantes US-Manöver mit Unterstützung
von NATO und Bundeswehr geben. 75 Jahre nach Kriegsende ist dies ein schauerliches Signal einer geschichtsvergessenen Politik.

Deutschland ist die zentrale Drehscheibe für das Manöver. 37.000 Soldat*innen aus 16 NATO-Staaten sowie Finnland und Georgien, darunter 29.000 GIs mit schwerem Gerät, werden an die russische Grenze transportiert. Operativ zuständig sind das Heereskommando der U.S. Army in Europe in Wiesbaden und das U.S. European Command in Stuttgart. Die Datenkoordinierung erfolgt über die US-Airbase Ramstein. Ziele sind die Zurschaustellung militärischer Überlegenheit und die Erprobung einer schnellen Verlegung großer Kampfverbände Richtung Osten. Diese militärische Kraftmeierei ist das Gegenteil von
Friedenspolitik.

Der Widerspruch zwischen den wachsenden militärischen Gefahren und der immer noch zurückhaltenden öffentlichen Debatte ist eklatant. Schleichend verschiebt sich die öffentliche Meinungsbildung. Die öffentlichen und viele politische Meinungsmacher fordern, dass sich die Bundeswehr noch stärker an weltweiten Militäreinsätzen beteiligt, dies läge in der nationalen Verantwortung.

Was für ein Irrsinn abläuft, zeigt die neue Rüstungsspirale. Auf die ersten zehn der rund 200 Länder der Erde entfallen knapp 75 Prozent der Militär­ausgaben. Weit an der Spitze liegen die USA, gefolgt von China und Saudi-Arabien. Deutschland erreicht Platz acht; in den letzten fünf Jahren erhöhte die Bundesregierung den Rüstungsetat um 34 Prozent. Sollte die angekündigte Erhöhung auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts Wirklichkeit werden, so stiege je nach wirtschaftlicher Entwicklung unser Land auf Platz drei oder vier weltweit auf. Die Rüstungslobbyisten würden jubeln, die
öffentlichen Haus­halte ächzen.

Dieser Militarisierung wollen wir entgegentreten: Es ist Zeit für die Stärkung der Friedensbewegung und für eine neue Entspannungspolitik. Können doch die neuen Bedrohungen, insbesondere die Folgen der globalen Erderwärmung, nicht militärisch verhindert werden. Im Gegenteil: Die doppelte Gefahr eines Selbstmordes der Menschheit wird real. Da ist zum einen der schnelle Selbstmord durch die neue Hochrüstung und die aggressive Konfrontation mit Stellvertreterkriegen in vielen Regionen der Welt, zum anderen der langsame Selbstmord durch die globale Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen.
Der Klimawandel wird schon in wenigen Jahrzehnten, vielleicht sogar Jahren, kritische Werte überschreiten.

Wir brauchen eine neue Gemeinsamkeit und das ernsthafte Bemühen um Zusammenarbeit, auf staatlicher wie auf bürgerschaftlicher Ebene. Notwendig sind eine starke Friedensbewegung und neue Initiativen für eine weltweite Friedenskultur. Deshalb veranstalten die Naturfreunde Deutschlands, die in diesem Jahr 125 Jahre alt werden, eine große Friedenswanderung. Schon in den 1950er Jahren hatten die Naturfreunde und die Naturfreundejugend die Anti-Atom-Bewegung unterstützt und später die Ostermärsche mitbegründet.

Auch heute setzen wir uns für eine globale Abrüstung und Rüstungskon­trolle ein, für ein Verbot von Rüstungsexporten, für eine atomwaffenfreie Welt und eine neue Friedens- und Entspannungspolitik. Die Friedenswanderung findet statt von 30. April bis 18. Juli diesen Jahres. Unter dem Motto »Frieden in Bewegung« wandern wir in 80 Etappen für eine friedliche Zukunft durch unser Land, von der dänischen Grenze bis zum Bodensee (siehe ­frieden-in-bewegung.de).

Überall auf den rund 1.750 Kilometern wollen die Naturfreunde zusammen mit Friedens- und Umweltgruppen auf die schrecklichen historischen Folgen von Kriegstreiberei hinweisen, neue Kriegsgefahren aufzeigen und Rüstungsexporte verurteilen. Auch Rüstungsstandorte werden angelaufen.

Wir setzen uns für Frieden in Bewegung, weil das »soziale Wandern« zu unserer Geschichte gehört. Mit der Wanderung sollen das Netzwerk der Natur- und Friedensengagierten und der Wille nach einem weltweiten Frieden gestärkt werden. Und wir sagen »Nein« zu Militärmanövern wie Defender Europe 20.

Michael Müller ist Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands.