Rüstungsrekord 2018


Rüstungsrekord 2018

von Jürgen Nieth

„Die Militärausgaben haben im Jahr 2018 mit weltweit geschätzt 1822 Milliarden Dollar einen Höchststand erreicht und sind gegenüber dem Vorjahr um 2,6 Prozent gewachsen. Das geht aus einer jährlichen Untersuchung hervor, die das Friedensforschungsinstitut SIPRI am Montag (29.05.2019) in Stockholm veröffentlicht hat. Mit Abstand am meisten Geld wendeten die USA für Verteidigung auf: 649 Milliarden Dollar. Das entsprach 36 Prozent der weltweiten Ausgaben […].

An zweiter Stelle folgt China mit geschätzt 250 Milliarden, was einer Steigerung von fünf Prozent entspricht. Es folgen Saudi-Arabien (geschätzt 67,6 Milliarden Dollar), Indien (66,5 Milliarden) und Frankreich (63,8 Milliarden). Russland liegt mit 61,4 Milliarden Dollar auf Platz sechs und damit erstmals nicht mehr unter den ersten fünf. Deutschland gab demnach 49,5 Milliarden Dollar für Verteidigung aus, 1,8 Prozent mehr als im Vorjahr. Damit überholte die Bundesrepublik Japan und liegt auf Platz acht.“ (SZ 30.4.19, S. 7)

Diese Fakten aus dem SIPRI-Bericht werden fast gleichlautend auch in den anderen ausgewerteten Presseorganen (siehe unten) wiedergegeben. Die NZZ (29.4.19, S. 2) ergänzt, dass die Schweiz mit 4,8 Milliarden Franken wie im Vorjahr auf Rang 38 platziert ist.

SIPRI wertet Daten von 155 Ländern aus und stützt sich seit 1988 – als dem Stockholmer Institut erstmals globale Vergleichsdaten zur Verfügung standen – in seinen jährlichen Berichten nicht nur auf offizielle Regierungsangaben zum Rüstungshaushalt, es berücksichtigt auch andere Quellen, wie Statistiken der Zentralbanken und der NATO sowie Regierungsantworten auf Anfragen der Vereinten Nationen. Die Zahlen werden von SIPRI unbewertet veröffentlicht.

Die Bewertung wäre also Aufgabe der berichtenden Redakteur*innen. Aber auch hier ergibt unsere Auswertung vielfach nur eine Wiedergabe der Zahlen, allerdings mit unterschiedlichen Schwerpunkten.

„Trump-Zeit ist Rüstungszeit“

lautet die Headline im nd (30.4.19, S. 6). Die meisten Berichte beleuchten die Rüstungskostensteigerung der USA, allerdings ohne sie kritisch zu kommentieren. Die taz (29.4.19, S. 8) hält fest, die USA steckten trotz niedrigerem Wirtschaftswachstum 4,6 Prozent mehr ins Militär, insgesamt 649 Milliarden Dollar“. Und bei faz.net (29.4.19) heißt es: „Das entspricht mehr als einem Drittel (36 Prozent) der weltweiten Militärausgaben und ist fast so viel wie alle Investitionen der acht darauffolgenden Länder zusammengerechnet.“ Na ja, Fakten sprechen manchmal ja auch für sich.

Russland hinter Frankreich

Das gilt auch für die Tatsache, dass Frankreich 2018 mehr für Rüstung ausgab als Russland. Dazu Die Welt (29.4.19, S. 9): „Dieser Positionswechsel ergibt sich, obwohl Paris seine Militärausgaben leicht verkleinerte (minus 1,5 Prozent). Doch Moskau kürzte noch viel stärker (minus 3,5 Prozent). Dadurch rutschte Russland mit 61,4 Milliarden Dollar Militärausgaben von Platz vier auf sechs ab.“ Und die taz (s.o.) hält fest: „In der globalen Topliste der Militärmächte hatte Russland vor zwei Jahren noch auf dem dritten Platz gelegen, nun ist es hinter Saudi-Arabien, Indien und Frankreich.“ Russlands Militärausgaben entsprachen „weniger als einem Zehntel der US-amerikanischen oder 88 Prozent der osteuropäischen Staaten.“ Denn Letztere rüsteten 2018 mächtig auf: „Polen beispielsweise mit einem Plus von 8,9 Prozent gegenüber 2017, bei der Ukraine waren es 21 Prozent und in Staaten wie Lettland, Litauen, Rumänien und Bulgarien zwischen 18 und 24 Prozent“.

Gäbe Deutschland zwei Prozent seines Bruttosozialprodukts für Rüstung aus, wie von Trump gefordert und von Ministerin von der Leyen immer wieder als Notwendigkeit betont, würde auch die BRD mit rund 80 Milliarden weit vor Russland liegen und hinter den USA und China auf Platz drei.

239 Dollar pro Kopf

1.822 Millionen Dollar für Rüstung, 2018 waren das 239 Dollar pro Kopf der Weltbevölkerung und damit neun Dollar mehr als 2017. „Nach einem Abwärtstrend nach dem Kalten Krieg liegen die globalen Rüstungsausgaben 2018 nun 76 Prozent höher als 1998.“ (taz, s.o.) Und die Welt (s.o.) hält für die Jahre 2009 bis 2018 fest: „Zu den größten Wachstumstreibern im Zehnjahresvergleich gehören China (plus 83 Prozent) und die Türkei (65 Prozent).“ Die Stuttgarter Nachrichten (29.4.19, S. 4) gehen auf regionale Verschiebungen ein: „Die Militärausgaben Asiens und Ozeaniens sind nach Sipri-Angaben seit 1988 jährlich gestiegen. Mittlerweile machen sie 28 Prozent der weltweiten Investitionen ins Militär aus – nach nur 9 Prozent vor 30 Jahren. Als Grund für den kontinuierlichen Anstieg sieht Sipri auch den Konflikt zwischen China und den USA.“

Kritik aus der Zivilgesellschaft

findet nur in zwei Zeitungen Beachtung. Das nd (30.4.19, S. 6) zitiert Martina Fischer, »Brot für die Welt«-Referentin: Höhere Militärausgaben machten die Welt nicht sicherer. Wollte die Bundesregierung ihren eigenen Ansprüchen genügen, „muss deutlich mehr in zivile Krisenprävention und Friedensförderung investiert werden“. Ähnlich auch die Forderung der abrüstungspolitischen Sprecherin der Linken, Sevim Dagdelen: „Deutschland sollte bei der Bekämpfung des Hungers Spitze sein, nicht bei den Ausgaben für Militär und Rüstung.“ (nd, s.o)

Die FR (30.4.19, S. 5) zitiert wie das nd Martina Fischer und Sevim Dagdelen. Darüber hinaus Lucas Wirl vom Internationalen Peace Bureau: Drei Prozent der diesjährigen Rüstungsausgaben würden ausreichen, um das UN-Nachhaltigkeitsziel einer weltweiten universellen Bildung bis mindestens zur zehnten Klasse zu gewährleisten.“ Und Thomas Breuer, Leiter des Friedensteams von Greenpeace: „Ein Teil der Militärausgaben würde reichen, um die Energiewende zu finanzieren und damit den Klimawandel zu bremsen. Nötig seien [dafür] jährliche Investitionen von 1,42 Billionen US-Dollar.“

Zitierte Presseorgane: faz.net – frankfurter allgemeine online, FR – Frankfurter Rundschau, nd – neues deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, StZ – Stuttgarter Zeitung, StN – Stuttgarter Nachrichten, SZ – Süddeutsche Zeitung, süddeutsche-online, taz – die tageszeitung, Die Welt.

Das Zwei-Prozent- Ziel der NATO


Das Zwei-Prozent- Ziel der NATO

Deutsche Aufrüstung und kein Ende?

von Lühr Henken

Drei markante Entscheidungen – Trendwenden für ihre Befürworter, Kriegsvorbereitungen für ihre Kritiker – sprechen dafür, dass kein Ende der deutschen Aufrüstung zu erkennen ist: die dreifache Anzahl von Bundeswehrsoldaten in Kriegsmanövern, nämlich 12.000, im letzten Jahr; die Ankündigung Ursula von der Leyens, die Truppe bis zum Jahr 2025 um 25.000 auf 203.000 Soldat*innen zu vergrößern; und die höchste Steigerung des Bundeswehrhaushalt 2019 seit 1955: um 4,7 Mrd. auf 42,3 Mrd. Euro. Diese Entscheidungen sind Vorboten für das, was sich im Beschluss des NATO-Gipfels von Wales 2014 verbirgt, die Militärhaushalte aller NATO-Staaten (außerhalb der USA) möglichst auf zwei Prozent ihres Bruttoinlandproduktes (BIP) hochzufahren.

Bis zur Krise um die Ukraine 2014 hatten sich die Bundesregierungen bezüglich einer Erhöhung des Rüstungshaushalts zurückgehalten.1 Jedoch, so war es dem SPIEGEL zu entnehmen, „war [es] die Bundesregierung, die im Nato-Rat mehrere Vorschläge machte, um die Mitglieder zu höheren Militärausgaben zu animieren“.2 Also nicht US-Präsident Obama und schon gar nicht sein Nachfolger Trump hatten, wie immer behauptet wird, auf das Zwei-Prozent-Ziel gedrängt – treibender Faktor sind und waren nationale deutsche Ambitionen.

In der Gipfelvereinbarung von Wales wurde kein absoluter Wert vorgegeben: „Die Bündnispartner, deren Anteil vom BIP für Verteidigungsausgaben gegenwärtig unter diesem Richtwert liegt, werden darauf abzielen, sich innerhalb von zehn Jahren auf den Richtwert von zwei Prozent zuzubewegen.3 Das heißt: Man kann auch darunter bleiben, das Bemühen um die Erreichung des Zieles muss aber erkennbar sein.

Bei strikter Anwendung der Zwei-Prozent-Vorgabe der NATO, so errechneten Forscher der zwei regierungsnahen Institute Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik und Stiftung Wissenschaft und Politik, wird der deutsche Militärhaushalt im Jahr 2024 nach »NATO-Kriterien« bei 85 Milliarden Euro liegen.4 Das wäre eine Verdopplung der Ausgaben gegenüber heute. Nun legte sich Verteidigungsministerin von der Leyen (CDU) mit Zustimmung des Regierungspartners SPD Mitte Mai 2018 darauf fest, 2024 1,5 Prozent des BIP für die Bundeswehr ausgeben zu wollen, und meldete dies der NATO als Ziel.5 Damit wäre der Beschluss von Wales formal erfüllt. Laut SPIEGEL, dem ein internes Papier des Verteidigungsministeriums vorliegt, wären das 62,5 Milliarden Euro nach »NATO-Kriterien«.6 Gegenüber 2014 wäre das ein sehr saftiger Anstieg um 80 Prozent in zehn Jahren (von 34,75 auf 62,5 Mrd. Euro).

Aber von der Leyen reicht das nicht. Schon im Juni 2018 verkündete sie, sie wolle für 2021 und 2022 zusammen 25 Milliarden Euro mehr.7 Würde sich von der Leyen damit durchsetzen, wäre der Anteil von 1,5 Prozent am BIP bereits am Ende dieser Legislaturperiode, also 2021, erreicht. Hierfür gibt es von der SPD aber bisher noch keine Unterstützung.

Es stellt sich die Frage, wofür die Regierung – hier vor allem die CDU/CSU – eigentlich das viele Geld will? Als Gründe werden angegeben: Schutz vor Russland und die schlechte Ausrüstung der Bundeswehr.

Bedrohliches Russland vs. NATO-Übermacht

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg malt ein bedrohliches Bild von Russland. Er sagte im Juni 2016, „Russland versuche mit militärischen Mitteln einen Einflussbereich aufzubauen. Das [NATO-] Bündnis beobachte eine massive russische Aufrüstung an der eigenen Grenze – in der Arktis, im Baltikum, im Schwarzen Meer bis zum Mittelmeer.8 Unterschlagen wird hier das krasse Ungleichgewicht der Kräfteverhältnisse zugunsten der NATO.

Die Deutsche Welle veröffentlichte im Februar 2018 einen Kräftevergleich.9 Demnach verfügt die NATO mit knapp 3,5 Mio. Soldaten über die 4,4-fache Anzahl Russlands, die NATO hat 25 Prozent mehr Kampfpanzer, sie hat das 2,8-fache an Kampfhubschraubern, das Vierfache an Kampfflugzeugen, das 2,7-fache an Zerstörern, Fregatten und Korvetten und das 2,6-fache an U-Booten. Während die NATO-Staaten 27 Flugzeugträger nutzen, hat Russland nur einen. Nur in einem einzigen Rüstungsbereich hat Russland mehr als die NATO: Es hat acht Prozent mehr Artilleriesysteme.

Bei den Militärausgaben ist die NATO-Übermacht noch deutlicher: 2018 schätzte die NATO ihre Ausgaben auf 1.013 Mrd. US$.10 Das ist etwa das 15-fache Russlands. Russland senkt seine Militärausgaben seit 2016, in 2017 sogar um 20 Prozent auf 66 Mrd. US. 11

Es zeigt sich: Der von NATO-Seite vorgegebene Grund für das Zwei-Prozent-Ziel, eine russische Bedrohung mit entsprechender Aufrüstung, ist gegenstandslos. Von Russland ist kein Angriff zu erwarten.

Arme Bundeswehr vs. Aufrüsten für weltweite Schlagkraft

Der zweite Grund: die angeblich schlechte Ausrüstung der Bundeswehr. So schlecht kann es um sie nicht bestellt sein, denn die Bundeswehr setzte sich eine Norm für die tägliche durchschnittliche Einsatzbereitschaft ihrer Hauptwaffensysteme. Das sind 70 Prozent. Die erreichte sie nach eigenen Angaben 2017.12 Und das war 2014, dem ersten Jahr in dieser Statistik, nicht anders. Die folgende Aussage des Heeresinspekteurs Jörg Vollmer vom Februar 2016 unterstreicht das. Er sagte, das Heer verfüge „über modernes Gerät, welches uns angesichts sehr unterschiedlicher Bedrohungslagen in den verschiedenen Einsatzgebieten flexibel, reaktionsfähig, vor allem aber durchsetzungsfähig macht. Wir verfügen gerade hier über eine weitgehend bedarfsgerechte Ausstattung“.13

Trotzdem gab von der Leyen 2015 bekannt, dass bis 2030 insgesamt 130 Milliarden Euro für neue Ausrüstungen und Waffen benötigt würden.14 Wofür?

2013, also noch vor der Ukraine-Krise, schlug Deutschland der NATO das »Rahmennationen-Konzept« vor, das 2014 beim NATO-Gipfel in Wales verabschiedet wurde. Demnach gibt es unter den europäischen NATO-Staaten drei »Rahmennationen«: Deutschland, Großbritannien und Italien. Um sie herum gruppieren sich jeweils kleinere Armeen mit speziellen Funktionen. In jeder Gruppe übernimmt die »Rahmennation« die Führung und Koordination. Zudem stellt sie Logistik und Kampfverbände zur Verfügung.

Erste handfeste Auswirkung der »Rahmennation« ist die deutsche Rolle in der Schnellen Eingreiftruppe der NATO, der NATO Response Force (NRF), die in den letzten drei Jahren auf 40.000 Soldat*innen verdreifacht wurde. In dieser beteiligte sich die Bundeswehr 2015 maßgeblich am Aufbau der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), auf Deutsch bündig »Speerspitze« genannt. Die hat eine Truppenstärke von 5.000 bis 8.000 Soldat*innen, die binnen zwei bis sieben Tagen weltweit komplett verlegbar sein sollen.15 Die Führung dieser »Speerspitze« übernimmt Deutschland 2019 und 2023 jeweils für ein Jahr. Auch das sind von der Bundesregierung selbst übernommene Aufgaben.

Das »Bühler-Papier«

Der Chef des Planungsstabes der Bundeswehr, Generalleutnant Erhard Bühler, hingegen gab im April 2017 einen anderen Kurs vor: Man habe den Fokus bisher zu sehr auf Auslandseinsätze gelegt. Angesichts der Gefahr durch Russland müsse künftig die »Landes- und Bündnisverteidigung« gleichwertig im Fähigkeitsprofil berücksichtigt werden, hieß es. Bühler spricht von einer fundamentalen Änderung des Maßstabes. Das »Bühler-Papier« bildet die konzeptionelle Grundlage für das geheime »Fähigkeitsprofil der Bundeswehr«, das Generalinspekteur Eberhard Zorn im September 2018 unterzeichnete. Teile seines Inhalts wurden durch exklusive Berichte über das »Bühler-Papier« in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung öffentlich.16

Ab 2031 soll demnach das deutsche Heer über zehn voll ausgerüstete Brigaden verfügen und Deutschland als »Rahmennation« insgesamt 15 Brigaden führen können. Heute verfügt es über sieben nicht voll ausgerüstete Brigaden, darunter eine Lehrbrigade, sowie über Anteile an der Deutsch-französischen Brigade. Die erste komplette Brigade soll 2023 die »Speerspitze« der NRF stellen.

Was beinhaltet die volle Ausrüstung von zehn Brigaden? Dafür gibt das »Bühler-Papier« folgendes preis: ein Plus von 27 Bataillonen. Ein Bataillon umfasst 600 bis 800 Soldaten. Das bedeutet den Ausbau der Artillerie auf fast das Fünffache – nämlich von drei auf 14 Bataillone.17 Dafür werden neue Artilleriesysteme angeschafft. Hinzu kommt der Ausbau der Infanterie. Die braucht fünfmal so viele Radpanzer wie heute. Zudem würden mehr Kampf- und mehr Schützenpanzer ebenso benötigt wie mehr Militärtransportflugzeuge A400M und Drohnen. Dazu kommen sollen bis zu 60 schwere Transporthelikopter.18 Zudem soll Seekrieg aus der Luft wieder möglich gemacht werden.

Deutlich wird: Es handelt sich hier nicht um neue Ausrüstung, wie es die Kanzlerin behauptet,19 sondern es ist eine massive Aufrüstung.

Das Verteidigungsministerium machte gegenüber der NATO dann Nägel mit Köpfen. Anfang 2018 wurde bekannt, dass die Bundeswehr ab 2027 eine voll einsatzbereite schwere Division für die »Landes- und Bündnisverteidigung« vorhalten will, die aus drei Brigaden mit je 4.000 bis 5.000 Soldaten besteht. „Ab 2032 hat Deutschland der NATO dann sogar drei voll einsatzbereite Divisionen zugesagt.20 Das sind die zehn Brigaden aus dem »Bühler-Papier« und entsprechen ca. 60.000 Heeressoldaten, die sehr kurzfristig einsatzbereit sein sollen. Hier wurden ehrgeizige nationale Zusagen gemacht, ohne dass die Finanzierung in Höhe von Zig-Milliardenbeträgen gewährleistet ist.

EU-Militarisierung mit Deutschland an der Spitze

Die Steigerung der deutschen Militärausgaben auf zwei Prozent des BIP wirken sich auch massiv auf die Stellung Deutschlands in der militärischen Zusammenarbeit der EU aus.

Die deutsche Wirtschaft ist mehr als 40 Prozent stärker als die der zweitgrößten Wirtschaftsmacht in der EU, Frankreich.21 Geben beide Staaten zwei Prozent des BIP für ihr Militär aus, entspricht dies in Deutschland über 40 Prozent mehr. Deutschland wird so zur stärksten Militärmacht in der EU und zugleich unter den europäischen NATO-Staaten, denn die britische Wirtschaft ist ähnlich stark wie die französische.

Und so haben die lächerlichen 0,8 Prozentpunkte Mehrausgaben des Militärhaushalts von 2014 bis 2024 eine durchschlagende Wirkung. Das wollen die Friedensbewegten unseres Landes nicht. Deshalb ist es weiterhin wichtig, Unterschriften unter den Appell »Abrüsten statt Aufrüsten« zu sammeln.22

Anmerkungen

1) Aus Zahlen von SIPRI (auf der Basis des Dollarkurses von 2016) ergibt sich zwischen 1998 und 2017 eine minimale Schwankung der Bundeswehrausgaben von höchstens zwölf Prozent zwischen etwa 38,5 Mrd. US$ (in den Jahren 2006, 2007, 2013 , 2014) und 43 Mrd. US$ (in den Jahren 1999 und 2017). Zahlen aus SIPRI Military Expenditure Database, hier »Data for all countries 1949 -2017« in kon­stan­ten (2016) US$.

2) Von Hammerstein et al. (2018): Ein bisschen Frieden. DER SPIEGEL, Nr. 13/2017 vom 25.3.2017, S. 30.

3) NATO (2014): Wales Summit Declaration, Issued by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Wales. 5.9.14, Absatz 14.

4) Gebauer, M. et al. (2018): Eklat mit Ansage. DER SPIEGEL, Nr. 28/2018 vom 7.7.2018, S. 36.

5) süddeutsche.de, 11.6.2018.

6) spiegel.de, 14.5.18. Nach »NATO-Kriterien« zählen die Ausgaben für die Bundespolizei als Militärausgaben (ca. 4,5 Mrd. Euro 2024). Die Bundeswehr würde demnach 58 Mrd. Euro erhalten.

7) zeit.de, 16.6.2018.

8) spiegel.de, 16.6.2016.

9) Deutsche Welle, 8.2.2018.

10) NATO (2018): Defence Expenditure of NATO Countries 2011-2018. Press Release PR/CP(2018)091 vom 10.7.2018, S. 7.

11) SIPRI (2018): Global military spending remains high at $1.7 trillion. Press release vom 2.5.2018.

12) Bundesministerium der Verteidigung (2018): Bericht zur materiellen Einsatzbereitschaft der Hauptwaffensysteme der Bundeswehr. Anlage zu Parl Sts bei der Bundesministerin der Verteidigung Grübel – 1980003-V07 vom 26.2.2018.

13) Vollmer, J. (2016): Schnell, Durchsetzungsfähig, Kampfstark – Elemente der Ausrichtung des Deutschen Heeres. Infobrief Heer, Nr. 1/2016, S. 2.

14) heb/dpa/AFP (2018): Von der Leyen will 130 Milliarden Euro investieren. spiegel.de, 26.1.2016.

15) Stabenow, M. (2018): Geld ist doch nicht alles Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.7.2018.

16) Seliger, M. (2017): Der Kalte Krieg läst grüßen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.4.2017.
Leithäuser, J.; Seliger, M. (2017): Bis zu den Sternen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.4.2017.

17) Seliger, FAZ 7.4.2017, op.cit.

18) Bieterwettbewerb reloaded – Bundeswehr bekommt bis zu 60 schwere Transporthubschrauber. faz.net, 15.12.2017.

19) Merkel zur Bundeswehr: „Ausrüstung, nicht Aufrüstung“. Deutsche Welle, 7.7.2018.

20) Neuer Bundeswehr-Panzer zu alt – »Puma«-Aufrüstung kostet 500 Millionen. n-tv.de, 25.1.2018.

21) BIP Deutschlands (2017) 3.263 Mrd. Euro, BIP Frankreichs (2017) 2.288 Mrd. Euro. Das deutsche BIP liegt um 42,85 % über dem französischen. Fischer Weltalmanach 2019, S. 105 bzw. S. 165. Berechnungen des Autors.

22) https://abruesten.jetzt.

Lühr Henken, Berlin, ist einer der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.

Ein Jahr Präsident Trump

Ein Jahr Präsident Trump

Mehr Rüstung, weniger Vereinte Nationen

von Simon Schulze

Der vorliegende Artikel zieht ein Zwischenfazit der strategischen Ausrichtung der Politik der Regierung Trump: Auf welchen Feldern setzt die US-amerikanische Administration neue Akzente und wie sind die Folgen einzuschätzen? Ist tatsächlich das »Make America great again«-Mantra das Problem oder vielleicht eher die sprunghafte und inkonsistente Politik der Trump-Administration? Eine Antwort versucht dieser Artikel zu geben, indem er zwei Aspekte näher beleuchtet, die zentral für die Pläne der US-Regierung sind und langfristige, womöglich nicht intendierte Folgen haben werden: die Politik der USA in Bezug auf die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren bei den Vereinten Nationen sowie die Verteidigungspolitik.

Seit dem überraschenden Sieg Donald Trumps bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016 ist mehr als ein Jahr vergangen. Nicht nur in großen Teilen der Weltöffentlichkeit sorgte sein Wahlerfolg für Unverständnis und Bestürzung, auch in akademischen Fachkreisen wurden die möglichen außenpolitischen Auswirkungen überwiegend negativ eingeschätzt. Manche spekulierten gar, das Ende der derzeitigen Weltordnung sei nahe (Foreign Affairs 2016).

Die größten Effekte von Trumps Politik lassen sich bisher allerdings in der Innenpolitik feststellen und betreffen somit überwiegend das Leben der US-Amerikaner*innen. Besonders in der Wirtschafts-, Sozial und Umweltpolitik zeigt sich, dass Trump alle Möglichkeiten ausschöpft, das Vermächtnis seines Vorgängers Barack Obama zu beseitigen (Baker 2017). Dennoch sind die Ideen, Äußerungen und Programme des US-Präsidenten auch auf der internationalen Ebene von größter Bedeutung. Mit Sorge werden die strategische Ausrichtung seiner nationalistischen Politik und seine erratische und unberechenbare Persönlichkeit wahrgenommen.

In den Vereinigten Staaten wurden bereits einige Analysen durchgeführt, die eine Einschätzung erlauben, ob und inwieweit der 45. US-Präsident tatsächlich die Stabilität des gegenwärtigen internationalen Systems gefährdet. Richard Gowan, Professor für internationale Politik an der Columbia University in New York, kommt zu dem Urteil, dass in erster Linie die Chancen für multilaterale Kooperationen und verbindliche Abkommen schwänden, da die USA nicht mehr als verlässlicher Akteur wahrgenommen würden (Gowan 2017). Besorgt ist Bruce Jentleson, der an der Duke University in North Carolina Politikwissenschaft lehrt, im Hinblick auf die Zukunft der Vereinten Nationen, die sich aufgrund der Reformpolitik des neuen Generalsekretärs António Guterres und der Forderungen von Donald Trump strukturell und inhaltlich neu ausrichten müssten (Jentleson 2017). Amitav Acharya, Professor für Internationale Beziehungen an der American University in Washington, D.C., sieht sogar die liberale Weltordnung in einer fundamentalen Legitimationskrise, die durch die Person Donald Trumps verstärkt würde, auch wenn die Ursachen struktureller Natur seien (Acharya 2017). Insgesamt ziehen die ersten Arbeiten daher ein recht negatives Resümee über die Außenpolitik der neuen US-Regierung, stellen jedoch den Fortbestand des internationalen Systems nicht in Frage.

Die Trump-Administration und die Vereinten Nationen

Nicht nur durch ihre formelle Position als Botschafterin bei den Vereinten Nationen ist Nikki Haley neben Trump die herausragende Person der US-Außenpolitik. Die persönlichen Überzeugungen und Präferenzen von Haley und Trump decken sich vielfach, außerdem genießt sie einen direkten Zugang zum Präsidenten und übt so einen größeren Einfluss auf ihn aus als andere Minister*innen. Dadurch bestimmt sie die Leitlinien der US-Außenpolitik entscheidend mit (Johnson 2017). Der vom Ralph Bunche Institute der City University New York herausgegebene Blog »PassBlue« stellt mit seinem »Nikki Haley Watch« ein hilfreiches Instrument zur Verfügung, das aktuelle Entwicklungen, Hintergrundinformationen und Einschätzungen zur Haleys Person und Politik festhält (PassBlue 2017). Denn die gewichtigen Folgen ihres Einflusses lassen sich bei mehreren Themen erkennen, u.a. bei dem Wunsch nach Reformen innerhalb der Vereinten Nationen und bei der Zusammenarbeit – oder Konfrontation – im Sicherheitsrat.

Zu den größten Kontinuitätslinien der US-amerikanischen Außenpolitik unter Donald Trump gehört der Wunsch nach einer grundlegenden Neuausrichtung der Weltorganisation. Dieses in der Vergangenheit vielfach geäußerte Anliegen wiederholte er in seiner Rede vor der Generalversammlung am 19. September 2017 (Trump 2017) und kritisierte dabei besonders die angeblich ausufernde Bürokratie und Behäbigkeit der Vereinten Nationen. Die Organisation, so Trump, müsse sich grundlegend ändern, um ihren Aufgaben gerecht zu werden und ihre Ziele zu erreichen.

Zwei konkrete Kernanliegen Trumps dürften erheblichen Einfluss auf die zukünftige Arbeitsweise der Vereinten Nationen haben: die Reform des Menschenrechtsrats und die Senkung der Beitragszahlungen der Vereinigten Staaten für Friedensmissionen der Vereinten Nationen.

Das Verhältnis der USA zu den Mitgliedern des Sicherheitsrats, insbesondere zu den anderen Vetomächten, hat sich im Jahr 2017 erkennbar verschlechtert. Im Verlauf des Jahres konnte sich der Sicherheitsrat auf 60 Resolutionen einigen, während es im Jahr zuvor noch 77 waren (United Nations Security Council 2016 und 2017). Wichtig ist aber weniger die Anzahl der Beschlüsse, sondern deren thematische Ausrichtung. Es fallen vor allem zwei Schwerpunkte auf, die im Sicherheitsrat debattiert und erfolgreich zum Abschluss gebracht werden konnten: Ein Fokus lag auf regionenspezifischen Fragen von Sicherheit und Frieden, wobei besonders Afrika und der Nahe Osten im Mittelpunkt standen. Das andere herausragende Thema war die Bekämpfung terroristischer Organisationen. Weitere internationale Herausforderungen, wie Pandemien oder der Klimawandel, spielten dagegen keine prominiente Rolle. Dazu kommt, dass auch 2017 keine Einigung über mögliche Lösungsansätze hinsichtlich der Konflikte in Syrien, im Jemen oder in der Ukraine erzielt werden konnte. Hingegen verabschiedete der Sicherheitsrat vier Resolutionen, welche die nukleare Aufrüstung Nordkoreas verurteilen und das Land mit Sanktionen belegen (S/RES/2345, 2356, 2371 und 2375). Dies spiegelt die inkohärente Zusammenarbeit zwischen den Vetomächten mit ihren oft entgegengesetzten Interessenslagen wider.

Dabei war Trump überzeugt, die Interessen der USA gegenüber den anderen Großmächten besser als Obama durchsetzen zu können. Dazu sollten zukünftig bilaterale Absprachen mit Russland und China Präferenz haben vor multilateralen Abkommen. Diese Ideen finden sich auch in Trumps Rede vor der Generalversammlung wieder. Der US-Präsident begreift sich als Verteidiger eines dogmatischen Souveränitätsverständnisses. An 21 Stellen verwendet er in dieser Rede den Begriff »Souveränität«, der zweifellos konstitutiv für die Stabilität der Beziehungen zwischen den Staaten ist. Bizarr wirkt allerdings weniger die Präferenz Trumps für gerade dieses Strukturprinzip der internationalen Politik, während z.B. Menschenrechte oder die Verantwortung der Staaten für ihre eigene Bevölkerung für ihn kaum eine Rolle spielen. Vielmehr fällt seine selektive Akzeptanz des Souveränitätsgedankens bei ausgewählten Konflikten auf. Bestimmte Länder, wie Nordkorea, Iran, Venezuela oder Kuba, deklariert er zu Feindesstaaten, für die das Souveränitätsprinzip aufgrund ihres Bedrohungspotentials für die USA und ihrer Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung nicht zu gelten scheint. Dagegen lobt er andere autoritäre Regime, wie Saudi-Arabien, dezidiert.

Eine vergleichbar diffuse Haltung wie zu zentralen Akteuren und Prinzipien der internationalen Politik findet sich auch in der Verteidigungspolitik der US-Regierung wieder.

Die Verteidigungspolitik der Trump-Administration

Eines der wichtigsten Ziele der derzeitigen US-Regierung ist die Aufrüstung des eigenen Militärs, einschließlich des Nuklearwaffenarsenals. Waren die Verteidigungsausgaben der USA von 2009 bis zum Ende der Amtszeit Obamas kontinuierlich auf 600 Mrd. US$ gesunken (Mutschler 2017, S. 6), steigen sie mit Donald Trumps erstem Haushalt, dem für das Finanzjahr 2018, auf knapp 700 Mrd. US$ (626 Mrd. für den allgemeinen Verteidigungshaushalt sowie 66 Mrd. für laufende Militäreinsätze) (Garamone 2017), allerdings steht die Verabschiedung des Haushaltsgesetztes 2018 durch den Kongress noch aus.1 Die Erhöhung des Militäretats wird mit der allgemeinen Gefahrenlage für die Vereinigten Staaten begründet, die sich gegenüber feindlich gesinnten Staaten und terroristischen Organisationen schützen müssten.

Eine kohärente, im US-Kabinett abgestimmte Sicherheitsstrategie legte Trump mit der »National Security Strategy« (White House 2017) einen Tag nach Unterzeichnung des Verteidigungshaushaltes und fast zeitgleich mit der Abfassung dieses Artikels vor. Deshalb lassen sich die langfristigen Auswirkungen dieser Neuausrichtung noch schwer abschätzen.

Kurzfristig sind für eine mögliche Aufrüstungsspirale und eine Eskalation zwei konkrete Konflikte entscheidend. So zählt zu den Konstanten der Regierung von Donald Trump, dass das Atomabkommen mit dem Iran in Frage gestellt und die fragile Situation auf der koreanischen Halbinsel durch undiplomatische Affronts angeheizt wird. Trump interpretierte auch in seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Vereinbarung, die den Iran davon abhalten soll, Atomwaffen zu entwickeln, als „Schande für die USA (Trump 2017). Außerdem bezeichnete er in der gleichen Rede die nordkoreanische Führungsriege um Kim Jong-un als „suizidale Kriminelle“. Sowohl Iran als auch Nordkorea stellen aus seiner Sicht aufgrund ihrer Aufrüstungsprogramme eine Gefahr für den Weltfrieden dar. Auf der anderen Seite gibt es Hinweise dafür, dass die US-Administration selbst eine aktivere Rüstungspolitik betreiben und mehr militärische Infrastruktur an ausgewählte Verbündete exportieren wird. Da Donald Trump institutionalisierten Kooperationsregimen, wie der NATO, skeptisch gegenübersteht, kann man davon ausgehen, dass es keine weiteren Abkommen und Vereinbarungen auf dem Gebiet der multilateralen Rüstungskontrolle geben wird. So wird in der »National Security Strategie« nur davon gesprochen, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu verhindern (White House 2017, S. 8) und das bestehende nukleare Nichtverbreitungsregime in Ostasien zu erhalten (ebenda, S. 47). Eine weiterführende, proaktive Politik scheint nicht beabsichtigt.

Auf die langfristigen Gefahren dieser Politik verwies bereits kurz vor Trumps Amtsantritt Jeffrey Knopf, Leiter eines Studienprogramms zu Nichtverbreitung in Monterey, Kalifornien (Knopf 2017). Seiner Ansicht nach macht die US-Regierung mehrere Fehler, die die hegemoniale Stellung der USA gefährdeten. Demokratisch verfasste Verbündete könnten sich nicht mehr auf die Sicherheitsgarantien der USA verlassen, weil eine Interessen- und Wertgemeinschaft für Trump nicht existiere. Dadurch bestehe die Gefahr, dass Staaten wie Japan und Südkorea selbst aufrüsten würden. Diese Entwicklung würde »realistischen« Überlegungen der Internationalen Beziehungen widersprechen und auf eine widersprüchliche und inkonsistente Politik hindeuten. Außerdem erkennten Staaten wie Nordkorea, dass Abrüstungsvereinbarungen mit den USA sinnlos seien, wenn sie unter fadenscheinigen Vorwänden aufgekündigt werden sollten, wie es die US-Regierung mit dem Iran-Abkommen anstrebe.

Fazit

Nach knapp einem Jahr an der Spitze des mächtigen Staates ist es möglich, eine erste Zwischenbilanz über die außenpolitischen Aktivitäten der Trump-Regierung zu ziehen und einen Ausblick zu wagen.

Auf der einen Seite zeigt sich, dass übertrieben pessimistische Einschätzungen nicht eingetroffen sind. Das Fundament der internationalen Ordnung zeigt eine außerordentliche Resistenz. Der Trump-Administration war es bislang nicht möglich, zentrale Institutionen der Vereinten Nationen, wie den Menschenrechtsrat, nach eigenem Gutdünken umzugestalten. Auf der anderen Seite haben die USA durch ihre Zahlungskraft ein gewichtiges Mittel zur Verfügung, um die Arbeitsweise der Weltorganisation entscheidend zu beeinträchtigen. Die Auswirkungen werden sich beispielweise bei zukünftigen Friedensmissionen der Vereinten Nationen zeigen. Ähnliches wird auch im Hinblick auf die Arbeit des Sicherheitsrats deutlich. Dieser erfüllt seine Aufgabe, Sicherheit und Frieden im internationalen System zu garantieren, weiterhin nur unzureichend. Zwar beschlossen die ständigen Mitglieder im Fall von Nordkorea weitere Sanktionen, wodurch dessen weitere Aufrüstung erschwert werden könnte. In anderen Krisenfeldern, wie Syrien, Jemen oder der Ukraine, ist hingegen keine Annäherung zwischen den USA, Russland und China erkennbar. Hier zeigt sich, dass die Vereinigen Staaten auch unter Trump andere wirkungsmächtige Akteure nicht zu Verhaltensänderungen bewegen können.

Inwieweit sich durch Trump bestimmte normative Strukturen und Prinzipien in den Internationalen Beziehungen verändern werden, lässt sich noch schwer abschätzen. Womöglich erlebt ein klassisches Souveränitätsverständnis eine verstärkte Renaissance. Da die US-Regierung diesen Ansatz sehr selektiv auslegt und den eigenen Interessen gemäß anwendet, bleibt abzuwarten, ob diese Tendenzen langfristig Bestand haben werden.

Dauerhafte Auswirkungen wird sicherlich die neue Verteidigungspolitik der USA haben. Hier deutet sich an, dass die USA selbst die Leidtragenden ihrer widersprüchlichen Politik sein könnten, wenn sich die Beziehungen zu Verbündeten verschlechtern, ohne dass sich das Verhältnis zu Rivalen, wie Russland und China, entspannt. Außerdem könnten sich die Vereinigten Staaten genötigt sehen, manche Aufgaben von Friedensmissionen der Vereinten Nationen zu übernehmen, die aufgrund der Budgetkürzungen in ihrer Arbeit eingeschränkt werden. Dies würde Trumps Zielsetzung, weniger internationales Engagement zu zeigen, ad absurdum führen.

Die US-Administration betreibt also keine kühl durchdachte und interessengeleitete, sondern eine unkalkulierbare und widersprüchliche Politik. Dies spiegelt sich in den Persönlichkeiten der führenden Protagonist*innen Donald Trump und Nikki Haley wider.

Anmerkung

1) Kurz bevor dieser Text in Satz ging, wurde Trumps Haushaltsentwurf für das Finanzjahr 2019 veröffentlicht. Dort sind für das Pentagon 686 Mrd. US$ vorgesehen, das sind 99 Mrd. mehr als in seinem Entwurf für 2018 (dpa: Hunderte Milliarden Dollar zusätzlich für Waffen und Abschottung; handelsblatt.com, 12.2.2019). Zum tatsächlichen Militäretat ­siehe William D. Hartung: Mehr als eine Billion Dollar. S. 10 in dieser W&F-Ausgabe. [die Redakteurin]

Literatur

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Mutschler, M.M. (2017): Globaler Militarisierungsindex 2017. Bonn: Bonn International Center for Conversion.

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Trump, D.J. (2017): Remarks by President Trump to the 72nd Session of the United Nations General Assembly, 19.9.2017. Washington; whitehouse.gov.

United Nations Security Council (2016): Resolutions adopted by the Security Council in 2016.

United Nations Security Council (2017): Resolutions adopted by the Security Council in 2017.

White House (2017): National Security Strategy of the United States of America. Washington, 18.12.2017.

Simon Schulze, M.A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Außenpolitik der Universität Trier.

Trump oder Brexit?


Trump oder Brexit?

Ursachen und Ausprägungen des EU-Rüstungsschubs

von Jürgen Wagner

Forderungen nach einer »Weltmacht EUropa« und einem Ausbau des EU-Militärapparates gibt es schon lange, seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im November 2016 werden sie aber besonders lautstark artikuliert. Allerdings handelt es sich nun nicht mehr um rhetorische Absichtsbekundungen, vielmehr haben sich die EU-Staats- und Regierungschefs in einem schwindelerregenden Tempo darangemacht, die »Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« (GSVP) voranzutreiben. Im Folgenden werden die wichtigsten aktuellen GSVP-Projekte – Hauptquartier, PESCO und Rüstungshaushalt – vorgestellt und die Ursachen für die Geschäftigkeit untersucht. Dabei zeigt sich, dass sämtliche Vorhaben bereits vor der Wahl Donald Trumps auf den Weg gebracht wurden, auch wenn er gerne als Rechtfertigung herangezogen wird. Insofern liegt es nahe, dass der aktuelle EU-Rüstungsschub weniger mit einem neuen Präsidenten im Weißen Haus als mit anderen Ursachen zu tun hat.

Unmittelbar nach der Wahl Donald Trumps meldete sich die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini geradezu trotzig folgendermaßen zu Wort: „In den kommenden Monaten und Jahren – man kann sogar sagen: in diesen Stunden – wird es eine zunehmende Nachfrage nach Europa geben von unseren Nachbarn und unseren Partnern in der Welt. Die Forderung nach einem von Prinzipien geleiteten globalen »Sicherheits-Dienstleister« wird wachsen. Die Forderung nach einer Supermacht, die an mehrseitige Bündnisse und Zusammenarbeit glaubt.“ 1 Fast genau so klingt auch die »Entschließung zur Umsetzung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik«, die das Europäische Parlament am 14. Dezember 2016 verabschiedete: „Das Europäische Parlament […] betont, dass die EU ihre Sicherheits- und Verteidigungsfähigkeiten stärken muss, da sie ihr volles Potenzial als Weltmacht nur nutzen kann, wenn sie ihre einzigartige »Soft Power« im Rahmen eines umfassenden EU-Ansatzes mit »Hard Power« kombiniert.“ 2

Ganz ähnliche Forderungen werden verstärkt auch in den Medien geäußert, wobei sich besonders ein Artikel mit dem vielsagenden Titel »Weltmacht! Echt jetzt?« hervortat, der von nicht weniger als zehn Redakteur*innen der Wochenzeitung »DIE ZEIT« gezeichnet wurde: „Nach der Wahl Donald Trumps erkennen die Europäer, dass sie künftig selbst ihre Interessen durchsetzen und ihre Sicherheit garantieren müssen – und was dem noch alles im Wege steht. […] Europa muss nicht »Weltmacht« werden im amerikanischen Sinne, mit Flugzeugträgergruppen, die stählern durch alle Weltmeere pflügen. […] Europa hat Interessen in Afrika, in einem Teil von Asien (Syrien! Afghanistan!) und an all seinen Außengrenzen, vom Balkan bis Marokko, vom Atlantik bis tief ins südliche Mittelmeer. Hier Mitverantwortung zu übernehmen, weit über den eigenen Kontinent hinaus – auch das ist Weltmacht. Regional begrenzte Weltmacht ganz gewiss, aber auch zum Glück. Aber für eine ziemlich große Region.“ 3

Obwohl es schon seit einiger Zeit Bestrebungen gibt, die für erforderlich gehaltene »hard power« zur Unterfütterung der eigenen Weltmachtansprüche aufzubauen, kamen diesbezügliche Versuche viele Jahre nur schleppend voran. Der wohl wichtigste Grund hierfür: Großbritannien erstickte aus Sorge um seine eigene militärpolitische Bewegungsfreiheit nahezu alle entsprechenden Initiativen schon im Keim. Hieraus erklärt sich die kaum verhohlene Freude, die manche Militärpolitiker*innen angesichts des bevorstehenden EU-Austritts Großbritanniens an den Tag legten. So meldete sich etwa Elmar Brock, damals Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Europaparlaments, unmittelbar nach dem britischen Austrittsreferendum am 23. Juni 2016 folgendermaßen zu Wort: „Der Brexit hat auch gute Seiten. […] Jahrelang haben uns die Briten aufgehalten. Jetzt geht es endlich voran.“ 4

Globalstrategie und Bratislava-Agenda

Lediglich fünf Tage nach dem britischen Austrittsreferendum nahm der EU-Rat am 28. Juni 2016 eine neue Globalstrategie an, die seither das wichtigste Rahmendokument für die EU-Außen- und Militärpolitik ist. Das Dokument nennt als „Interessen“ ein „offenes und faires Wirtschaftssystem“ und den „Zugang zu Ressourcen“. Dies beinhalte den „Schutz“ von Handelswegen „im Indischen Ozean“, „im Mittelmeer“, am „Golf von Guinea“ bis hin zum „Südchinesischen Meer“ und der „Straße von Malakka“. In diesen Regionen sieht sich EUropa berufen, – notfalls militärisch – für »Ordnung« zu sorgen, insbesondere in seinem unmittelbaren Umfeld: „Die EU wird sich – praxisorientiert und auf Prinzipien gestützt – für die Friedenskonsolidierung einsetzen; dabei werden wir die Bemühungen auf unsere östlichen und südlichen Nachbarregionen konzentrieren, während weiter entfernte Einsätze von Fall zu Fall erörtert werden.

Hierfür sollen Kapazitäten für „autonome“ – also unabhängig von der NATO und damit den USA durchführbare – Militärinterventionen aufgebaut werden: „Die Mitgliedstaaten [benötigen] bei den militärischen Spitzenfähigkeiten alle wichtigen Ausrüstungen, um auf externe Krisen reagieren und die Sicherheit Europas aufrechterhalten zu können. Dies bedeutet, dass das gesamte Spektrum an land-, luft-, weltraum- und seeseitigen Fähigkeiten, einschließlich der strategischen Grundvoraussetzungen, zur Verfügung stehen muss. […] Eine tragfähige, innovative und wettbewerbsfähige europäische Verteidigungsindustrie ist von wesentlicher Bedeutung für die strategische Autonomie Europas und eine glaubwürdige GSVP.“ 5

Noch einen Tag vor Annahme der EU-Globalstrategie gaben die damaligen Außenminister Deutschlands und Frankreichs, Frank-Walter Steinmeier und Jean-Marc Ayrault, die Richtung vor, als sie am 27. Juni 2016 das Papier »Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt« vorlegten. In ihm wurde gefordert, Deutschland und Frankreich müssten, nicht zuletzt indem sie ihre „Anstrengungen auf dem Gebiet der Verteidigung verstärken“, vorangehen, um „die EU Schritt für Schritt zu einem unabhängigen und globalen Akteur zu entwickeln“.6 Am 12. September 2016 wurde ein zweites deutsch-französisches Papier veröffentlicht, diesmal von den damaligen Verteidigungsministern beider Länder. Daraufhin knotete EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker die deutsch-französischen Vorschläge in seiner »Rede zur Lage der Union«7 am 14. September 2016 zu einem Bündel zusammen, das fortan als »Bratislava-Agenda« der Öffentlichkeit präsentiert wurde.

Ein Hauptquartier für mehr EU-Kriege

Auffällig an Junckers »Rede zur Lage der Union« war der scharfe Ton, den der Kommissionspräsident anschlug: „Mit zunehmenden Gefahren um uns herum reicht Soft Power allein nicht mehr aus. […] Europa muss mehr Härte zeigen. Dies gilt vor allem in unserer Verteidigungspolitik. Europa kann es sich nicht mehr leisten, militärisch im Windschatten anderer Mächte zu segeln oder Frankreich in Mali allein zu lassen. Wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen, unsere Interessen und die europäische Art zu leben zu verteidigen.“

Wenn sich die EU bisher zu einem Militäreinsatz entschied, konnte sie nicht auf stehende Planungs- und Führungskapazitäten zurückgreifen. Stattdessen musste zunächst bei den Einzelstaaten abgefragt werden, welches Land denn bereit wäre, ein Hauptquartier zur Verfügung zu stellen. Da hierdurch reibungslose und vor allem häufige Einsätze erheblich erschwert wurden, bestand eine erste Forderung Junckers darin, diesen »Missstand« zu beheben: „In den letzten zehn Jahren haben wir uns in über 30 zivilen und militärischen EU-Missionen von Afrika bis Afghanistan engagiert. Doch ohne dauerhafte Struktur können wir nicht wirksam agieren. Dringende Operationen verzögern sich. Es ist an der Zeit, dass wir für diese Operationen ein gemeinsames Hauptquartier einrichten.

Bereits am 6. März 2017 verständigte sich der Rat, ein solches Hauptquartier unter dem Namen »Militärische Planungs- und Führungsfähigkeit« ins Leben zu rufen. Eine Zeitlang sperrte sich Großbritannien noch gegen das Vorhaben, lenkte aber schließlich ein, sodass der endgültige Beschluss Anfang Juni 2017 gefällt wurde. Anfangs darf das Hauptquartier nur nicht-exekutive Einsätze (vor allem Trainings- und Ausbildungsmissionen) leiten. Doch dürfte diese Einschränkung längerfristig kaum Bestand haben, wie etwa SPIEGEL ONLINE schreibt: „Insbesondere Deutschland wünscht sich noch größere Fortschritte, hieß es in Diplomatenkreisen. So könnte die neue Zentrale später auch »exekutive« EU-Militäreinsätze führen – also nicht nur Trainings- und Beratungsmissionen, sondern auch Einsätze mit möglicher Waffengewalt wie etwa die Anti-Piratenmission »Atalanta« und die Marinemission »Sophia« im Mittelmeer. Sie werden bisher von den Hauptquartieren in den Mitgliedstaaten geleitet.“ 8

PESCO: Historischer Rüstungsschub?

Als zweiter wichtiger Baustein für den Ausbau des EU-Militärapparates forderte Juncker in seiner »Rede zur Lage der Union« die Aktvierung der »Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit«, englisch »Permanent Structured Cooperation« oder PESCO. Sie wurde zwar theoretisch bereits 2009 mit dem Vertrag von Lissabon eingeführt, aber ebenfalls lange von Großbritannien blockiert. Mit PESCO können Teile der EU-Militärpolitik per Mehrheitsentscheidung auf Gruppen ausgelagert werden, die nicht alle Staaten umfassen, was einer Aushebelung des in diesem Bereich geltenden Konsensprinzips gleichkommt. Erschwerend kommt hinzu, dass Länder, die sich an PESCO beteiligen wollen, bestimmte »Teilnahmekriterien« erfüllen müssen. Hierüber soll ein zusätzlicher Rüstungsdruck ausgeübt werden. Es ist daher kein Zufall, dass eine Studie der »Generaldirektion Auswärtige Politik« des Europaparlaments die PESCO-Verpflichtungen mit den Maastricht-Kriterien der Eurozone verglich.9

Bei PESCO handelt es sich vor allem um ein deutsch-französisches Projekt, das aus nachvollziehbaren Gründen bei einigen kleinen und mittleren Mitgliedstaaten auf erhebliche Skepsis stieß. Dies erklärt, weshalb deutsche Spitzenpolitiker PESCO freudig begrüßten, als das Konzept am 13. November 2017 im Grundsatz beschlossen wurde. Noch am selben Tag meldete sich Außenminister Sigmar Gabriel zu Wort und sprach von einem „Meilenstein der europäischen Entwicklung“ und einem großen „Schritt in Richtung Selbstständigkeit und Stärkung der Sicherheits– und Verteidigungspolitik der EU“. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini stufte die Entscheidung sogar als einen „historischen Moment für die europäische Verteidigung“ ein.10

Über die PESCO-Teilnahmebedingungen wurde lange und intensiv gestritten; sie wurden schließlich im »Aktivierungspapier«11 festgelegt, das am 13. November 2017 von 23 Ländern unterzeichnet wurde. Mit dem am 8. Dezember 2017 vorgelegten und wenige Tage später verabschiedeten Ratsbeschluss zur Begründung von PESCO wurde das Projekt endgültig auf den Weg gebracht.12 Mit dem Ratsbeschluss schlossen sich auch Portugal und Irland PESCO an, sodass nur noch Dänemark, Malta und Großbritannien abseits bleiben. Rüstungsnahe Stimmen äußerten sich eher enttäuscht ob der der getroffenen Vereinbarungen, was vor allem an der teils schwammigen Formulierung der jeweiligen PESCO-Verpflichtungen liegt. Näher betrachtet hat das Dokument aber durchaus das Potenzial, den EU-Militarisierungsprozess weiter voranzutreiben.

Zu den relativ unverbindlichen Formulierungen gehören etwa die Verpflichtung, die Militärausgaben regelmäßig inflationsbereinigt zu erhöhen, oder das Bekenntnis, die Rüstungsinvestitionen sukzessive auf mindestens 20 % des Militärbudgets anzuheben. Auch bei anderen Passagen, wie etwa denen zur Bereitstellung strategischer Fähigkeiten oder zur »besseren« Finanzierung von EU-Rüstungsprojekten und EU-Einsätzen, fehlten genaue Angaben, wozu sich die Länder eigentlich verpflichtet haben.

Auf der anderen Seite müssen teilnahmewillige Länder aber beispielsweise verpflichtend Truppen für die EU-Battlegroups bereitstellen, um bei PESCO mitmachen zu dürfen. Verbindlich ist auch die Verpflichtung, sich an mindestens einem PESCO-Projekt zum Aufbau strategisch relevanter Militärkapazitäten zu beteiligen. Im Dezember 2017 drangen Details zur deutschen Beteiligung an die Öffentlichkeit: „Deutschland übernimmt in der neuen EU-Verteidigungszusammenarbeit die Führung bei vier von insgesamt 17 Militärprojekten. Unter deutscher Koordinierung sollen ein Sanitätskommando, Logistikdrehscheiben, ein Zentrum für Trainingsmissionen sowie eine Stelle zum Aufbau schnellerer Krisenreaktionskräfte geschaffen werden.13

Um den »Erfolg« von PESCO zu garantieren, müssen die teilnehmenden Länder die Einhaltung ihrer Zusagen künftig extern durch die EU-Verteidigungsagentur »evaluieren« lassen. Im »Aktivierungspapier« heißt es dazu: „Dieser [Evaluierungs-] Bericht wird detailliert über den Stand der PESCO-Implementierung Auskunft geben, einschließlich der Einhaltung der Verpflichtungen jedes Mitgliedsstaates in Übereinstimmung mit seinem Nationalen Implementierungsplan.14 Unklar ist, wie mit PESCO-Mitgliedern umgegangen werden soll, deren Rüstungsbemühungen »negativ« evaluiert werden. Ob über diese Prüfberichte genug Druck erzeugt werden kann, dass die Teilnehmerstaaten in die »richtige« Richtung rüsten, dürfte deshalb maßgeblich darüber entscheiden, ob mit PESCO wirklich ein »historischer« Militarisierungsschritt eingeleitet wurde.

Milliarden für die Rüstung

Die letzte Ankündigung Junckers in seiner »Rede zur Lage der Union« vom September 2016, die in diesem Artikel thematisiert werden soll, ist zugleich die spektakulärste: „Eine starke europäische Verteidigung braucht eine innovative europäische Rüstungsindustrie. Deshalb werden wir noch vor Jahresende einen Europäischen Verteidigungsfonds vorschlagen, der unserer Forschung und Innovation einen kräftigen Schub verleiht.15 Dabei handelt es sich um alles andere als eine Selbstverständlichkeit, schließlich verbietet Artikel 41(2) des Lissabon-Vertrages die Verwendung des EU-Haushalts für „Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen“.16

Dennoch legte die EU-Kommission wenige Wochen später, am 30. November 2016, mit dem »Verteidigungs-Aktionsplan« erste Details für den besagten EU-Rüstungshaushalt vor. Im Kern enthält er den kurz darauf, im Dezember 2016, vom Europäischen Rat grundsätzlich gebilligten Vorschlag, im nächsten EU-Haushalt (für die Jahre) 2021-2027 jährlich 500 Mio. Euro für Rüstungsforschung und satte fünf Mrd. Euro für die Beschaffung von Rüstungsgütern auszuloben – zusammen also 38,5 Mrd. Euro.17 Am 7. Juni 2017 veröffentlichte die EU-Kommission weitere Einzelheiten: Der Start des Fonds soll um zwei Jahre auf 2019 vorverlegt und bis einschließlich 2020 der Betrag von 2,59 Mrd. Euro bereitgestellt werden. Danach soll es bei den beschriebenen 5,5 Mrd. Euro jährlich bleiben, wovon jedes Jahr 1,5 Mrd. aus dem EU-Haushalt und der Rest von den Mitgliedsstaaten stammen sollen. Die Kommission legte am selben Tag einen entsprechenden Verordnungsvorschlag vor, der von Parlament und Rat im Laufe des Jahres 2018 als prioritäres Projekt verabschiedet werden soll.18 Um das Ganze legal zu gestalten, stellte die Kommission den Rüstungshaushalt auf die Rechtsgrundlage der Wettbewerbsförderung, da diesbezügliche Maßnahmen im Gegensatz zur Militärpolitik aus dem EU-Budget finanziert werden können.19

Rüstung mit oder gegen Trump?

Wie aus der vorigen Darstellung klar geworden sein sollte, entwickelt sich der EU-Militärbereich in jüngster Zeit überaus dynamisch. Somit drängt sich die Frage auf, inwieweit es sich hier um Maßnahmen handelt, die auch oder womöglich sogar primär gegen die USA gerichtet sind. Dabei lässt sich zunächst festhalten, dass die USA in einem machtpolitisch rauer werdenden Klima schon länger nicht mehr in der Lage sind, die westlichen Interessen in dem Ausmaß weitgehend im Alleingang durchsetzen zu können, wie dies früher der Fall war. Dies hat wenig mit Donald Trump und viel mit den veränderten internationalen Machtverhältnissen zu tun, wie Außenminister Sigmar Gabriel im Dezember 2017 verdeutlichte: „Der US-Rückzug geht nicht auf die Politik eines einzelnen Präsidenten zurück. Er wird sich auch nach der nächsten Wahl nicht grundlegend ändern. […] Wir müssen einsehen: Entweder wir versuchen selbst in dieser Welt zu gestalten oder wir werden vom Rest der Welt gestaltet. […] Die heute noch fehlende Machtprojektion der Europäischen Union hat jedenfalls dazu geführt, dass überall dort, wo sich die USA tatsächlich oder scheinbar zurückgezogen haben, keine Hinwendung zu Europa erfolgt ist, sondern zu anderen Staaten, von denen operationalisierte Macht weit eher erwartet wird: im Nahen Osten z.B. zu Russland und in Afrika zu China.20

Weiter lässt sich feststellen, dass – auch wenn es innerhalb des Establish­ments durchaus die eine oder andere Stimme gibt, die unter Verweis auf Donald Trump für einen Bruch mit den USA plädiert – es für die Mehrheit der deutschen und europäischen Entscheidungsträger*innen weiterhin viele Gründe für ein enges Bündnis mit den USA gibt, Trump hin oder her. So erteilte beispielsweise der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, Plänen zur »Gegenmachtbildung« mit folgenden Argumenten eine Absage: „Erstens würden wir die vielen Millio­nen Amerikaner ignorieren, die eben nicht Donald Trump gewählt haben. […] Anstatt uns pauschal von den USA abzuwenden, sollten wir mit all jenen zusammenarbeiten, die an einer Bewahrung der transatlantischen Wertegemeinschaft interessiert sind. […] Zweitens ist es nicht so, dass überall auf der Welt Partner Schlange stünden, die mit Europa die liberale Weltordnung verteidigen wollten. […] Langfristig wird die liberale Weltordnung nur Bestand haben, wenn sie von beiden Pfeilern der transatlantischen Partnerschaft gestützt wird. Drittens übersehen jene, die jetzt zu einer europäischen Gegenmachtbildung zu den USA aufrufen, dass diese Option in Wahrheit gar nicht besteht. Die Europäer können kurz- und mittelfristig nicht auf die US-amerikanische Sicherheitsgarantie verzichten.“ 21

Ischinger ist mit seiner Meinung nicht allein: „Mit 521 Führungsspitzen aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung ist das F.A.Z.-Capital-Elite-Panel die am ranghöchsten besetzte repräsentative Umfrage in Europa. Unter den Teilnehmern sind 85 Vorstände von Unternehmen mit mehr als 20000 Beschäftigten, 24 Minister und Ministerpräsidenten und 33 Leiter von Bundes- und Landesbehörden. [… Die Umfrage kommt zu dem Ergebnis], dass die allermeisten Führungskräfte bisher nicht glauben, dass das deutsch-amerikanische Verhältnis durch Trump dauerhaften Schaden erleidet. […] Eine Erhöhung der deutschen Verteidigungsausgaben hält eine Mehrheit gleichwohl für wichtig oder sehr wichtig.22

Es geht also darum, im Verbund der EU die USA beim Erhalt der westlichen Machtposition zu unterstützen. Dies erfordert größere militärische Beiträge, die sich in Form von mehr Mitspracherechten im Bündnis auszahlen sollen. Zwar eröffnet der Brexit nun die Möglichkeit, lange geplante Rüstungsvorhaben umzusetzen, sie müssen aber dennoch gegenüber einer skeptisch eingestellten Bevölkerung legitimiert werden. Und hier zeigt sich der eigentliche »Wert« Donald Trumps, denn unter Verweis auf ihn argumentieren derzeit die einen, es sei nun zwingend erforderlich aufzurüsten, um nicht länger auf die USA angewiesen zu sein. Andere hingegen plädieren für ein verstärktes militärisches Engagement mit dem Verweis, Trump könnte seine Drohung wahr machen und das Engagement der USA in NATO und Europa substanziell reduzieren.

Egal wie Trump in der derzeitigen Debatte also gedreht und gewendet wird, es läuft stets auf die Forderung nach einem Ausbau des EU-Militärapparates hinaus.

Anmerkungen

1) Zitiert nach Küster, K. (2016a): Mehr Sicherheit mit einer europäischen Armee? Deutschlandfunk, 14.11.2016.

2) Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14.12.2016 zur Umsetzung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (2016/2036(INI)): europaparl.europa.eu.

3) Bittner, J. u.a. (2016): Weltmacht! Echt jetzt? ZEIT ONLINE, 19.11.2016.

4) Zitiert nach Küstner, K. (2016b): Deutsch-französische Strategie zur Verteidigungspolitik. Deutschlandfunk, 13.9.2016.

5) Rat der Europäischen Union: Gemeinsame Vision, gemeinsames Handeln – Ein stärkeres Europa. Eine Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union (EUGS), Brüssel, 28.6.2016; europa.eu.

6) Ayrault, J.-M.; Steinmeier, F.-W. (2016): Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt. 27.6.2016; auswaertiges-amt.de.

7) Juncker, J.C. (2016): Rede zur Lage der Union: Hin zu einem besseren Europa – Einem Europa, das schützt, stärkt und verteidigt. Straßburg, 14.9.2016; europa.eu.

8) Becker, M. (2017): EU wächst militärisch zusammen – zumindest ein bisschen. SPIEGEL ONLINE, 6.3.2017.

9) European Parliament – Directorate-General for External Policies (2017): Permanent Structured Cooperation – national perspectives and state of play. Study, July 2017, S. 30; europarl.europa.eu.

10) EU-Staaten bauen an Verteidigungsunion. ­heute.de, 13.11.2017.

11) Notification on Permanent Structured Co­operation (PESCO), 23.11.2017; consilium.europa.eu.

12) Council of the European Union (2017): COUNCIL DECISION establishing Permanent Structured Cooperation (PESCO) and determining the list of Participating Member States. Dokumentnr. 14866/17, 8.12.2017, S. 1.

13) Deutschland soll vier Militärprojekte anführen. n-tv, 9.12.2017.

14) Notification …, op.cit.

15) Juncker (2016), op.cit.

16) Vertrag über die Europäische Union (Konsolidierte Fassung). In: Amtsblatt der Europäischen Union vom 26.10.2012, S. 37.

17) Europäische Kommission (2016): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Europäischer Verteidigungs-Aktionsplan. Brüssel, 30.11.2016, Dokument COM(2016) 950 final; ec.europa.eu.

18) Siehe dazu Wagner, J.; Lösing, S. (2017): EU-Rüstung ohne Rechtsgrundlage. Blätter für deutsche und internationale Politik. 10/2017, S. 41-44.

19) Wagner, J.; Lösing S. (2017), op.cit.

20) Gabriel, S. (2017): Europa in einer unbequemeren Welt. Rede vom 5.12.2017; auswaertiges-amt.de.

21) Ischinger, W. (2017): Einbinden, Einfluss nehmen. Süddeutsche Zeitung, 15.2.2017.

22) Göbel, H. (2017): Die EU kann alles – nur keine Sicherheit. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.7.2017.

Jürgen Wagner ist geschäftsführendes Vorstands­mitglied der Tübinger ­Informationsstelle Militarisierung (imi-online.de).

Der militärisch-industrielle Komplex

Der militärisch-industrielle Komplex

Neuinterpretation in Zeiten von Trump

von Andrew Lichterman

Schon lange wird in Friedenskreisen sowohl für analytische als auch für politische Zwecke der Begriff »militärisch-industrieller Komplex« genutzt. Das Konzept erlangte auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges durch den Ex-General und US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower Prominenz – dabei war er selbst ein führender Vertreter des gewaltigen Konglomerats, das dieser Begriff umschreibt. Ebenso wie das Konglomerat selbst hat auch das Konzept des militärisch-industriellen Komplexes viel Beharrungsvermögen bewiesen, wird aber auch oft zu leichtfertig zitiert. Denn als Werkzeug ist es zwar bequem, wird aber selten geschärft, verändert, überarbeitet. Dieser Text unternimmt eine Interpretation des militärisch-industriellen Komplexes, die zu den USA in Zeiten eines US-Präsidenten Donald Trump passt.

Die gewaltigen Militärapparate, Rüstungsindustrien und intellektuellen Unterstützungsapparate, die wir gemeinhin als militärisch-industriellen Komplex bezeichnen, begleiten uns in den USA schon seit einem dreiviertel Jahrhundert. In diese Zeit fällt der Aufstieg der Militärmacht USA, aber auch der Beginn ihres Abstiegs. Der militärisch-industrielle Komplex hatte seine Geburtsstunde vor dem Kalten Krieg, den er prägend mit verursachte und am Laufen hielt. Er überdauerte ihn ebenso wie eine kurze Phase der Verwirrung in einer »Nach-Kalte-Krieg-Zeit«, die inzwischen definitiv vorbei ist. In diese Zeitspanne fällt gleichermaßen der Aufstieg der US-Wirtschaft zu ihrer Spitzenposition in puncto Technologie, Fertigungskapazität und Dominanz auf den internationalen Märkten sowie ihr Abstieg, der schneller erfolgt als der Verfall der militärischen Vorherrschaft der USA.

Die Rolle des militärisch-industriellen Komplexes blieb über all die Jahre nicht statisch, und seine langfristige Rolle bei der Gestaltung der Wirtschaft ist tatsächlich sehr relevant. Im Moment sollte aber – wie schon im Kalten Krieg – Priorität haben, einen unmittelbar drohenden Krieg zwischen nuklear bewaffneten Großmächten zu verhindern. Daher müssen wir uns fragen, ob der Verweis auf den »militärisch-industriellen Komplex« noch hilfreich ist, um die kriegstreibenden Kräfte zu verstehen, oder ob dadurch andere – für die jetzige Situation wesentliche – Aspekte aus den Augen geraten.

Eine durch und durch militarisierte Außenpolitik

Oberflächlich betrachtet hat der militärisch-industrielle Komplex der USA nichts an Stärke verloren. Donald Trumps bisherige Amtszeit lässt darauf schließen, dass die laufenden Waffen­entwicklungs- und Beschaffungsprogramme, wenn auch mit höherem Etat, im Wesentlichen weiterlaufen werden. Trumps Entwurf für den Militärhaushalt 2018 lag etwas über dem, den Obama vorgesehen hatte. Das Militär braucht aber eine erhebliche Steigerung des Rüstungshaushalts, wenn Obamas ambitionierte Programme zur Aufrüstung von Atomwaffen fortgesetzt und Trumps Pläne zur Ausweitung und Aufrüstung des übrigen Militärs umgesetzt werden sollen.

Genauere Informationen über Trumps Militärprogramm wird es erst geben, wenn sein Etatentwurf für das Haushaltsjahr 2019 vorliegt – der erste, der zur Gänze von ihm und seiner Administration verantwortet wird.1 Die Zusammensetzung seines Mitarbeiterstabs und Kabinetts lässt eine durch und durch militarisierte Außenpolitik erwarten. Trump besetzte die Posten des Verteidigungsministers, des Nationalen Sicherheitsberaters und des Stabschefs des Weißen Hauses, die üblicherweise Zivilisten vorbehalten sind, mit Berufsoffizieren. Er berief Führungskräfte von Rüstungsunternehmen auf Schlüsselpositionen im Verteidigungsministerium, darunter Vorstandsmitglieder von Lockheed Martin, Boeing, Raytheon und Textron. Trumps ernannte Rick Perry zum Chef des Energieministeriums, das die nuklearen Bomben und Sprengköpfe der USA entwickelt und baut. Perry, bis 2015 Gouverneur von Texas, bringt für diesen Job reichlich wenig Erfahrung mit: Vor seiner Ernennung wusste er nicht, dass das Energieministerium für die Atomwaffen zuständig ist, und hatte gar seine Abschaffung gefordert.2 Mangels Kompetenz an der Ministeriumsspitze werden die Vorgaben zum Thema Atomwaffen wohl buchstäblich ungefiltert von den langjährigen Insidern des Atomwaffenkomplexes kommen, vor allem aus den Atomwaffenlabors von Livermore und Los Alamos. Da es keine kohärente Außenpolitik gibt – oder auch nur einen Stab kundiger Zivilbeamter in den höheren Rängen der Regierung, die eine formulieren könnten –, werden die laufenden Programme zur Modernisierung des Militärs wohl einfach weiterlaufen, mit steigendem Etat.

Im Kongress gibt es kaum Widerstand gegen die Erhöhung des Militäretats, ganz im Gegenteil werden dort teils noch deutlich höhere Beträge gefordert. Für 2018 wurde vom Kongress mit überwältigender Mehrheit ein Pentagon-Budget in Höhe von fast 700 Mrd. US$ verabschiedet, im Repräsentantenhaus stimmten auch Zweidrittel der oppositionellen Demokraten zu, im Senat sogar fast alle.3 Die Republikaner und die Demokraten haben zwar seit Jahren Mühe, den Gesamtetat der US-Regierung festzulegen und Haushaltssperren zu vermeiden, letztlich eint sie aber der Wille, die Mittel für das Militär bereitzustellen. Dass das gelingt, ist nicht zuletzt auch im Interesse des militärisch-industriellen Komplexes und ein Indikator für dessen Einfluss auf die Abgeordneten.

Die vier Phasen des militärisch-industriellen Komplexes

Der militärisch-industrielle Komplex der USA hat mindestens vier Phasen durchlaufen. Die erste Phase war geprägt durch die Fließbandproduktion im Zweiten Weltkrieg, in der Zehntausende Arbeiter*innen für die Millionen Soldaten auf den Schlachtfeldern Luft-, Land- und Wasserfahrzeuge bauten. In dieser Zeit begann auch die enorme, institutionalisierte staatliche Finanzierung von Forschung und Entwicklung; das Manhattan-Projekt zum Bau der Atombombe ist dafür nur das prominenteste Beispiel.

Nach einem gewissen Nachkriegseinbruch setzte der militärisch-industrielle Komplex unter dem Vorzeichen des Kalten Krieges die Massenproduktion von Waffen fort, um ein Militär auszurüsten, dass Millionen Mann unter Waffen hielt, während für das nukleare Wettrüsten gleichzeitig ein paralleler Komplex entstand, der die Regierung, Wirtschaftsunternehmen und Universitäten umfasste. Die Führungsspitze der USA setzte die Militärausgaben zur Steuerung der Nachkriegswirtschaft ein und initiierte im Namen der nationalen Verteidigung gigantische Infrastrukturprojekte, z.B. die Interstate Highways [das Gegenstück zu den europäischen Autobahnen]. Dieses Konglomerat meinte Eisenhower mit »militärisch-industriellem Komplex«. Dessen Aktivitäten wie die Etats erreichten ihren Höchststand während des Korea- und des Vietnamkrieges, als die USA große Landkriege führten sowie ihr Atomwaffenarsenal weiterentwickelten und massiv ausbauten.

Nach dem Vietnamkrieg gab es eine kurze Phase der Entspannung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Zu Beginn der 1980er Jahre fuhren die USA die Waffenforschung und -produktion schon wieder hoch, entwickelten neue Generationen Atomwaffen und Trägersysteme und verfolgten mehrere technologische Pfade für Raketenabwehr. Die UdSSR zog mit, so gut sie es vermochte. In dieser Phase schien das weitverzweigte und in Jahrzehnten gefestigte Netzwerk von Waffenlabors und -fabriken das Wettrüsten in einem Ausmaß voranzutreiben, das nicht nur mit den Profitinteressen der Rüstungsunternehmen oder dem langfristigen Streben der USA nach Ausweitung seiner ohnehin schon dominierenden Wirtschaftsmacht zu erklären ist. Der britische Historiker Edward Thompson schrieb damals: „So betrachtet, haben die USA und die UdSSR keinen militärisch-industriellen Komplex – sie sind dieser Komplex. Der »führende Sektor« (Waffensysteme und ihre Stützen) nimmt in der Gesellschaft nicht viel Raum ein und die offizielle Geheimhaltung sorgt für eine geringe Sichtbarkeit, dennoch prägt er die gesamte Gesellschaft. Und er lenkt die Richtung des Wachstums.4

Trotz des Impulses durch das Wettrüsten und der offenkundigen Dominanz der Kommandohöhen der US-Wirtschaft durch den militärisch-industriellen Komplex sanken die Militärausgaben in Prozent des Bruttosozialprodukts zu dieser Zeit; der Höhepunkt war bereits in den 1950er und 1960 Jahren erreicht. Das Ende des Kalten Krieges läutete ein Jahrzehnt ein, in dem der Verteidigungshaushalt sogar in absoluten Zahlen niedriger war als im Kalten Krieg, d.h. der Anteil des militärisch-industriellen Komplexes an der US-Wirtschaft insgesamt verringerte sich.

Diese dritte Phase des militärisch-industriellen Komplexes endete am 11. September 2001, in dessen Folge die Ausgaben für konventionelle Rüstung und den Ausbau von Kampftruppen für die wechselnde Abfolge von Besatzungs- und Aufstandbekämpfungskriegen weltweit stiegen. Noch ist nicht eindeutig zu erkennen, ob diese vierte Phase des militärisch-industriellen Komplexes in zwei Unterphasen unterteilt ist oder ob wir uns einer ganz neuen, klar unterscheidbaren fünfte Phase nähern. In den frühen 2000er Jahren konzentrierte sich das US-Militär auf die klassischen Probleme, die die Aufrechterhaltung eines ausgedehnten Imperiums mit sich bringt: Wie nutzt man den eigenen Vorsprung in punkto Mobilität, Kommunikation, Überwachung und Feuerkraft aus, um gegenüber vielen schlechter organisierten Gegnern an einer Vielzahl von Schauplätzen die Oberhand zu behalten? Spätestens mit Obamas »pivot to Asia« – der militärischen Prioritätensetzung Richtung Asien – und dem Beginn des Ukrainekrieges fingen die nationalen Sicherheitseliten und der militärisch-industrielle Komplex wieder ernsthaft damit an, sich auf eine Konfrontation mit anderen nuklear bewaffneten Großmächten vorzubereiten.

Die relative Macht des militärisch-industriellen Komplexes

Die Rückkehr von Spannungen zwischen Großmächten und ein gewisses strategisches Wettrüsten bedeuten allerdings nicht, dass der militärisch-industrielle Komplex der USA ein Wiedergänger von dem aus Zeiten des Kalten Krieges ist. Zu sehr haben sich die Streitkräfte der Großmächte und deren Ausrüstung geändert, und in noch größerem Maße die Struktur der globalen Wirtschaft, die Rolle und Wirtschaftskraft der USA. All dies beeinflusst die Fähigkeit der USA, ihre militärische Dominanz aufrecht zu erhalten. All dies beeinflusst aber auch die relative Macht des militärisch-industriellen Komplexes in der Wirtschaft und Politik der USA sowie die Fähigkeit der US-Eliten, den militärisch-industriellen Komplex als Vehikel für tecnologische Entwicklung und die Regulierung der Wirtschaft zu nutzen.

Der sinkende Militärhaushalt wurde in den 1990er Jahren begleitet von einer rasanten Konsolidierung der Rüstungsindustrie und der Schließung militärischer Standorte im Inland.5 Die Streitkräfte wurden professionalisiert; auch die Waffentechnologie unterlag einem Wandel. Entsprechend wurde die Truppe verkleinert, dafür mit leistungsfähigeren, aufwendigeren und teureren Waffensystemen ausgerüstet. Dadurch litt die bis dato beherrschende geographische und wirtschaftliche Präsenz des Militärs und der Rüstungsindustrie.

Die geringere Relevanz des militärisch-industriellen Komplexes für die US-Wirtschaft und die parallelen Umbrüche der ökonomischen Struktur insgesamt lassen den Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes auf die gesamte technologische Entwicklung und Wirtschaftssteuerung vermutlich sinken. Das Verteidigungsministerium hat seine führende Rolle als Auftraggeber für Forschung und Entwicklung bereits verloren.6 Forschung und Entwicklung profitieren von der Nähe zu den Produktionsstätten der relevanten Industriezweige. Viele US-Unternehmen verlagerten ihre Produktion aber ins Ausland, solche Synergien fallen also zunehmend weg. Außerdem werden auch durch technische Innovationen kaum neue Jobs im Inland geschaffen, auch nicht als Ergebnis von Forschung und Entwicklung für das Militär.

Rüstungsproduktion als Steuerungsmittel für die Makroökonomie und die Schaffung neuer Arbeitsstellen verspricht also nicht mehr viel Erfolg. In einer zunehmend polarisierten Wirtschaft, sei es global oder national, haben ältere und kleinere Industriestandorte und ländlich geprägte Regionen im Hinterland das Nachsehen. Als Subunternehmer für die teuren Hightech-Waffen werden eher Firmen in den Ballungsräumen beauftragt, weil sich die Unternehmen der neuen Technologien vorzugsweise dort ansiedeln. Dies fördert im Umkehrschluss die weitere Integration der Ballungsräume in die globalen Handels- und Investitionsstrukturen. Neue militärische Tätigkeitsfelder, die an Privatunternehmen vergeben werden, z.B. im Bereich Aufklärungs-, Spionage- und Informationstechnologie, konzentrieren sich ebenfalls eher in bereits »globalisierten« Ballungsräumen. Die alten Industriezentren werden also kaum von steigenden Militärausgaben profitieren, sich stattdessen mit örtlichen Militärstützpunkten oder schon lange regional etablierten Fabriken und Lieferketten begnügen müssen. In den diversifizierten und globalisierten Ballungsräumen aber spielen selbst steigende Militärausgaben für die Wirtschaftskraft keine so große Rolle.

Widersprüchliche Dynamiken

Allerdings gibt es zu dieser Entwicklung auch einige Gegentrends. Der allgemeine Niedergang der Fertigungsindustrie in den USA könnte dazu führen, dass der Fertigung von Rüstungsgütern in diesem schrumpfenden Sektor in Zukunft eine unverhältnismäßig große Rolle zukommt. Auch der Export von Rüstungsgütern war für die US-Rüstungsindustrie immer ein wichtiger Faktor. Rüstungsexporte werfen in der Regel mehr Profit ab als Waffenverkäufe an das inländische Militär und finden häufig antizyklisch statt, so dass die Fertigungskapazität durchgehen aufrechterhalten werden kann und die Rüstungsunternehmen auch dann profitabel arbeiten, wenn das US-Militär vorübergehend weniger Aufträge vergibt.7 Die Expansion der quasi-militärischen »Homeland Security«, von der allgegenwärtigen Überwachung bis hin zur Militarisierung der Bundes- und Ortspolizei, schafft neue Absatzmärkte für militärtaugliche Technologien und eine engere Verbindung zwischen dem für innere Sicherheit zuständigen Sektor und dem Militär.

Weitere gegenläufige Trends ergeben sich aus dem Zusammenspiel der politischen Landschaft mit der sich wandelnden ökonomischen Landschaft. Sofern es nicht zu einem deutlichen Strukturwandel kommt, sind Militärstandorte und Rüstungsfabriken im ländlichen Raum und in den älteren Zentren der verarbeitenden Industrie eine der wenigen Optionen für Wirtschaftswachstum und feste, gut bezahlte Arbeitsplätze, die nicht so einfach ins Ausland verlagert werden können. Durch die Schließung von Militärstützpunkten in den 1990er und frühen 2000er Jahren sind die inländischen Militärbasen jetzt vor allem im Südosten der USA konzentriert.8 Die Zusammensetzung des US-Kongresses und des »Wahlmännerkollegiums« gibt gering bevölkerten Staaten ein überproportionales Gewicht, und die Republikaner nutzten die langen Jahre, in denen sie die Bundespolitik schon dominieren, um Wahlbezirke neu aufzuteilen, in denen sie stark sind, z.B. rund um Militärstandorte und Rüstungsfabriken. Dem militärisch-industriellen Komplex kommt bei der Politikgestaltung damit noch mehr Bedeutung zu; das kompensiert in gewissen Ausmaß seine eher bescheidene Bedeutung für die Ökonomie. Die US-Politik wird auf diese Weise immer weiter polarisiert und blockiert – auf längere Frist ein zuverlässiger Ausgangspunkt für all diejenigen, die für Nationalismus und Militarismus offen sind.

Die verbliebene Stärke des militärisch-industriellen Komplexes und die steigenden Militärausgaben unter Trump könnten ein Faktor sein, der die USA in den Krieg treibt. Für die Kriegsgefahr spielen andere Faktoren aber wohl eine wichtigere und unmittelbarere Rolle. Dazu gehört der Wettlauf um Rohstoffe und Märkte, der an die Kämpfe zwischen den Großmächten im frühen 20. Jahrhundert erinnert, und das in einer Zeit, in der das Wirtschaftswachstum, die Akkumulation und Konzentration von Reichtum und die Globalisierung von Handel und Investitionen ihren Zenit bereits erreicht haben. Die Öffnung der Länder des ehemaligen Ostblocks als neue Märkte und billige, qualifizierte Arbeitskräftereservoirs hielt den Konflikt zwischen den Großmächten nach dem Kalten Krieg zunächst unter der Decke. Dazu trug auch die relative Schwäche der herrschenden Schichten in Russland und China während der ideologischen und wirtschaftlichen Turbulenzen infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion bei. Inzwischen streben die Führungseliten in beiden Ländern nach mehr Kontrolle sowohl ihrer inländischen Wirtschaft als auch des nahen Auslandes.

Diese widersprüchlichen Dynamiken, denen der militärisch-industrielle Komplex in den USA unterliegt, sind Ausdruck eines erheblichen Ungleichgewichts zwischen einem nach wie vor mächtigen US-Militär und einer US-Wirtschaft im Niedergang. Es besteht die Gefahr, dass diese fundamentale Diskrepanz die herrschenden wirtschaftlichen und politischen Kreise der USA zu gefährlichen Verhaltensmustern verleitet. Spitzenpolitiker die glauben, ihr Land habe den Zenit erreicht und falle nun gegenüber ihren Hauptrivalen zurück, könnten versucht sein, ihren schwindenden militärischen Vorteil nochmals maximal auszunutzen und Kriege zu riskieren oder sogar gezielt vom Zaun zu brechen.9

Selbst wenn Trump einmal nicht mehr im Amt ist, verbleiben die Kräfte, die ihn ins Amt brachten. Für die herrschenden Kreise der Vereinigten Staaten wird es zunehmend schwieriger, wie gewohnt ihren Vermögensanteil aus der globalen Wirtschaft zu ziehen und gleichzeitig genug Wohlstand zu verteilen, um im Inneren den Frieden aufrecht zu erhalten. Das verleitet auch im Inneren zu riskanteren Politikstrategien. Das Einsickern eines Blut-und-Boden-Nationalismus von den politischen Rändern in die politische Mitte ist vielleicht ein Zeichen für die Angst in Teilen der Elite vor dem Niedergang der USA. Die ungleiche Verteilung von Reichtum, die Erosion der Demokratie und die unbekümmerten Attacken auf die sozialen Schutzsysteme schaffen ein enormes Potential für Ressentiments. Militarismus und extremer Nationalismus sind das ideologische Werkzeug, um diese Wut zu kanalisieren und zugleich Repression im Inneren und konfrontative Politik nach außen zu rechtfertigen.

Nachdenken tut not

Wir beginnen erst langsam, den heutigen militärisch-industriellen Komplex zu verstehen; das ist aber Voraussetzung, um darüber nachzudenken, welche Strategien wir brauchen. Heute ist vieles anders als im Kalten Krieg, aber manche unerfreulichen Aspekte sind unverändert geblieben. Wir müssen erkennen, dass unsere Priorität zuallererst auf der Verhinderung eines neuen katastrophalen Krieges liegen muss. Trumps Aufstieg hat uns daran erinnert, vor welchen Gefahren wir stehen. Das zentrale und gleichbleibende Charakteristikum militärisch-industrieller Komplexe ist ihre permanente Mobilisierung für Kriege von potentiell zivilisationsbeendendem Ausmaß. Sowohl der Historiker Edward P. Thompson als auch der Soziologe C. Wright Mills mahnten uns schon vor Langem, „der unmittelbare Anlass für den Dritten Weltkrieg ist seine Vorbereitung.10 Dabei muss kein zusätzlicher Cent in Militärbasen, Streitkräfte oder die Aufrüstung von Atomwaffen fließen, um die Maschinerie für unser aller Auslöschung zu schaffen – diese existiert schon jetzt.

Anmerkungen

1) Kurz bevor dieser Text in Satz ging, wurde Trumps Haushaltsentwurf für das Finanzjahr 2019 veröffentlicht. Dort sind für das Pentagon 686 Mrd. US$ vorgesehen, das sind 99 Mrd. mehr als in seinem Entwurf für 2018 (dpa: Hunderte Milliarden Dollar zusätzlich für Waffen und Abschottung; handelsblatt.com, 12.2.2019). Zum tatsächlichen Militär­etat ­siehe William D. Hartung: Mehr als eine ­Billion Dollar. S. 10 in dieser W&F-Ausgabe. [die Übersetzerin]

2) Davenport, C. (2017): Rick Perry Regrets Call to Close Energy Department. The New York Times, 19.1.2017.

3) U.S. House of Representatives: Final Vote Results For Roll Call 631. Role call vote on HR 2810, The National Defense Authorization Act for Fiscal Year 2018. 14.11.2017.
U.S. Senate roll call vote, H.R.2810 as amended, National Defense Authorization Act for Fiscal Year 2018. 18.9.2017.

4) Thompson, E.P. (1980): Notes on Exterminism, the Last Stage of Civilization. New Left Review, No. 121, May/June 1980, S. 23.

5) Cronberg, C.; Aeroe, A.; Seem, E. (1996): Technological Powers in Transition – Defense Conversion in Russia and the U.S. 1991-1994. Copenhagen: Afademisk Forlag A/S, S. 94f.

6) National Academy of Engineering and National Research Council (2012): Assuring the U.S. Department of Defense a Strong Science, Technology, Engineering, and Mathematics (STEM) Workforce. Washington, D.C.: ­National Academy Press, S. 1.

7) Markusen, A.; Yudken, J. (1992): Dismantling the War Economy. New York: Basic Books, S. 79, 211.

8) Kromm, C. )2005): Base Closings and the South. Facing South, 13.5.2005.

9) Siehe dazu Copeland, D.C. (2000): The Origins of Major War. Ithaca: Cornell University Press.

10) Thompson, E.P. (1980): Notes on Extermin­ism, the Last Stage of Civilization. New Left Review, No. 121, May/June 1980, S. 22; dort zitiert er Mills, W.C. (1958): The Causes of World War III. New York: Literary Licensing, S. 47.

Andrew Lichterman ist Politikanalyst und Jurist bei der Western States Legal Foundation (Oakland, Kalifornien) und Vorstandsvorsitzender der Campaign for Peace, Disarmament and Common Security (Cambridge, Massachusetts).

Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Mehr als eine Billion Dollar

Mehr als eine Billion Dollar

Das Budget der USA für Militär, Rüstung und Verteidigung

von William D. Hartung

Bei all dem Geschrei nach mehr Geld durch Militär, Politik und den Präsidenten sollte man nicht glauben, dass es dem Pentagon nie besser ging. Das Verteidigungsministerium der USA erhält weit mehr als eine halbe Billion Dollar pro Jahr, mit steigender Tendenz. Inflationsbereinigt ist der Verteidigungsetat höher als in den 1980er Jahren, als der damalige US-Präsident Ronald Reagan den Etat massiv aufstockte, und nähert sich wieder den Spitzenwerten seit dem Zweiten Weltkrieg. Dabei ist das allenfalls die halbe Wahrheit, denn für »Verteidigung« werden zusätzlich Hunderte Milliarden Dollar ausgegeben, die nicht im Haushalt des Pentagon auftauchen. Auch wenn die Angaben vom Juli 2017 stammen – die Absurditäten des US-Sicherheitsstaates haben nicht erst mit Donald Trump begonnen.

Um einen Eindruck von den wahren Kosten für unsere bisherigen, heutigen und künftigen Kriege zu bekommen, müssen wir uns die entsprechenden Budgetzahlen genau anschauen. Die für diesen Zweck aufgewandten Gelder sind das Lebenselixier des nationalen Sicherheitsstaates. Dabei geht es um insgesamt zehn Kategorien nationaler Sicherheitsausgaben – und nur eine davon ist für das Pentagon. Wappnen Sie sich also für eine Tour durch das Billionen-Dollar-Budget der USA für »nationale Sicherheit«. Angesichts der Neigung des Pentagon, Geld zu verschwenden, und der Tendenz unserer Regierung, ohne Ende Kriege zu führen, die gefährlich und töricht sind, ist eines von Anfang an klar: Der größte Teil dieser horrenden Summen, die von unseren Steuergeldern bezahlt werden, dient in keiner Weise dazu, uns sicherer zu machen.

1. Das Pentagon-Budget

Der offizielle Etat des Pentagon umfasst die Kosten für Ausbildung, Ausrüstung und den laufenden Betrieb des US-Militärs sowie für die zahlreichen Zivilangestellten des Pentagon zu Friedenszeiten. Wenn Verschwendung ein Garten Eden ist, dann sind wir hier im Paradies.

Der Haushalt des Pentagon ist geprägt von Verschwendung, was kaum verwundert angesichts der einzigen großen Regierungsbehörde, die noch nie einer Rechnungsprüfung unterzogen wurde. So befand letztes Jahr z.B. das Defense Business Board, ein Beratungsgremium des Verteidigungsministeriums, dass das Pentagon über fünf Jahre 125 Mrd. US$ sparen könnte, wenn es seine überbordende Bürokratie stutzt. Und jüngst zeigte der Generalinspekteur des Pentagon in einer Studie auf, dass das Ministerium Hunderte Empfehlungen ignorierte, die zu Einsparungen von mehr als 33,6 Mrd. US$ geführt hätten.

Das Pentagon kann noch nicht einmal genaue Zahlen nennen, wie viele Mitarbeiter privater Subunternehmen es beschäftigt, es sind aber auf jeden Fall mehr als 600.000, und viele von ihnen sind mit Aufgaben betraut, die viel besser von Regierungsangestellten erledigt würden. Mit einer Reduzierung der hohen Zahl von Vertragsbeschäftigten um 15 % könnte das Pentagon pro Jahr 20 Mrd. US$ sparen – und das wäre erst der Anfang, wenn es darum geht, die überflüssige doppelte Stellenbesetzung durch Regierungsangestellte und private Arbeitskräfte zu beseitigen.

Das sind nur die offensichtlichsten Beispiele unsinniger Ausgaben im Verteidigungsministerium. Die Einsparungen könnten noch viel größer sein, würde das Pentagon seine globalen Ambitionen zurückfahren, die in den letzten 15 Jahren nichts als Ärger brachten und dafür sorgten, dass das US-Militär im Irak, in Afghanistan, in Syrien und anderswo im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika verheerende und kontraproduktive Kriege führt. Ben Friedman vom libertären Cato Institute schätzt, das Pentagon könnte im nächsten Jahrzehnt eine ganze Billion Dollar sparen, wenn Washington seine interventionistischen Instinkte zügeln und sich einfach auf die Kerninteressen der USA konzentrieren würde.

Bekanntermaßen bewarb sich Donald Trump um die Präsidentschaft als Geschäftsmann, der aufräumen und in der Regierung eine noch nie dagewesene Effizienz durchsetzen würde. Stattdessen hat er sich seit seinem Amtsantritt vor allem dadurch hervorgetan, dass er die chronischen Probleme im Pentagon ignoriert und für 2018 eine deftige Etaterhöhung auf 575 Mrd. US$ vorgeschlagen hat. Und selbst diese expansive Finanzplanung für das Militär wirkt bescheiden im Vergleich zu den Wünschen übereifriger Mitglieder der Armed Services Committees [Verteidigungsausschüsse] von Repräsentantenhaus und Senat des US-Kongresses. Demokraten ebenso wie Republikaner wollen das Pentagon-Budget 2018 auf mindestens 600 Mrd. US$ hochtreiben. Da die Kämpfe im Kongress über das endgültige Budget weitergehen, belassen wir es für den Moment bei den von Trump geforderten Ausgaben.1

2. Das Kriegsbudget

Die Kriege dieses Jahrhunderts, von Irak bis Afghanistan und darüber hinaus, wurden überwiegend nicht aus dem regulären Pentagon-Budget finanziert, sondern über ein Sonderkonto. Das Kriegsbudget – in der antiseptischen Sprache des Pentagon als »Overseas Contingency Operations« [Notfalleinsätze im Ausland] bekannt – erreichte seinen Höchststand von 180 Mrd. US$ während der bewaffneten Irak-Intervention der Regierung Bush [jr.].

Die Truppenzahl im Irak und in Afghanistan ist seither von etlichen Hunderttausend auf etwa 15.000 Soldat*innen stark zurückgegangen, das Kriegsbudget hingegen ist wundersamerweise nicht annähernd so stark gefallen. Für dieses gilt noch nicht einmal die bescheidene Deckelung des regulären Pentagon-Budgets, die vom Kongress 2011 im Rahmen des Haushaltsstreits und einem Deal zur Aufrechterhaltung der Regierungstätigkeit verhängt und bis heute nicht aufgehoben wurde.

Vielmehr hat sich das Kriegsbudget in den letzten fünf Jahren zum Reptilienfond entwickelt, aus dem das Pentagon Dutzende von Milliarden Dollar für Posten bezahlt, die mit Kriegsführung nicht das Geringste zu tun haben. Die Trump-Regierung fordert für dieses Budget für das Finanzjahr 2018 64,4 Mrd. US$. Einige Kongressmitglieder würden gerne noch 10 Mrd. US$ oben drauf packen. Für diese Zusammenstellung nehmen wir hier auch die von Trump geplanten Zahlen.

3. Atomsprengköpfe (und mehr)

Die Kosten für Forschung, Entwicklung, Aufrechterhaltung und »Modernisierung« der 6.800 US-Atomwaffen fallen bei einer obskuren Behörde an, die zum Energieministerium gehört: der National Nuclear Security Administration. Die NNSA ist auch zuständig für Atomreaktoren der US Navy, für die Sanierung der durch die Atomwaffenfabriken verseuchten Umwelt und für die Finanzierung der drei Atomwaffenlabors. Dafür stehen pro Jahr mehr als 20 Mrd. US$ zur Verfügung.

4. »Sonstige Verteidigung«

Dieser Sammelbegriff umschreibt mehrere verteidigungsbezogene Finanzströme, die nicht an das Pentagon, sondern an andere Behörden gehen, und umfasst pro Jahr etwa 8 Mrd. US$. In den letzten Jahren wurden etwa Zweidrittel dieser Gelder für »Homeland Security«-Aktivitäten des FBI ausgewiesen – das entspricht mehr als dem halben Jahresetat dieser Behörde.

Die vier bislang genannten Kategorien machen das aus, was das Budget Office [Haushaltbüro] des Weißen Hauses insgesamt für »nationale Verteidigung« ausweist. Die 677,6 Mrd. US$ erzählen aber bei Weitem nicht die ganze Geschichte.

5. Heimatschutz

Nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001 schuf der Kongress eine Mega-Behörde: das Department of Homeland Security [Ministerium für Heimatschutz]. Ihm wurden 22 existierende Einheiten unterstellt, die alle mit innerer Sicherheit und Grenzschutz zu tun haben. Dieses wuchernde Ministerium hat inzwischen 240.000 Beschäftigte. Wer es genau wissen will, unter dem Dach des Heimatschutzministeriums sind momentan u.a. folgende Einrichtungen angesiedelt: Coast Guard [Küstenwache], Federal Emergency Management Agency [Bundesagentur für Katastrophenschutz], Federal Law Enforcement Training Center [Bundespolizeiakademie], Domestic Nuclear Detection Office [Amt für die Detektion nuklearer Strahlung im Inland], Citizenship and Immigration Services [Einwanderungs- und Ausländerbehörde], Customs and Border Protection Agency [Zoll und Grenzschutz], Transportation Security Agency [Amt für Verkehrssicherheit], Secret Service [u.a. zuständig für den Schutz der Regierungsmitglieder], Immigration and Customs Enforcement Agency [Amt für Einwanderungs- und Zollkontrolle] und Office of Intelligence Analysis [Amt für Aufklärungsanalyse]. Letzteres ist der einzige von 17 US-Geheimdiensten, der tatsächlich in den originären Aufgabenbereich des Heimatschutzministeriums passt.

Wie viele dieser Behörden machen uns wirklich sicherer? Darüber ließe sich trefflich streiten, wenn tatsächlich jemand Interesse an dieser Debatte hätte. Das Amt für Einwanderungs- und Zollkontrolle – in den USA zuständig für Abschiebungen – z.B. hat viel mehr Leid verursacht als uns vor Kriminellen und Terroristen geschützt. Andererseits ist es beruhigend, dass es eine Behörde gibt, die den Auftrag hat herauszufinden, ob sich in unserer Mitte eine Atombombe oder eine radioaktive »schmutzige« Bombe befindet.

Auch wenn es schwer ist, das Pentagon zu übertrumpfen, hat das Heimatschutzministerium seine eigene Bilanz fragwürdiger Ausgaben für große und kleine Posten. Sie reichen von 1.000 US$ Gebühr pro Teilnehmer*in für Konferenzen in Wellnesshotels über den Kauf von Dudelsäcken für Grenzschutzbeamte bis hin zu Dutzenden erstaunlich fetter Gehälter für Bürokraten der Behörde. Am zehnten Jahrestag der Gründung des Heimatschutzministeriums kritisierte der Kongressabgeordnete Jeff Cuncan (Republikaner, South Carolina) heftig, das Ministerium sei »voller Verschwendung«, und verwies dabei u.a. auf einen Bericht des Generalinspekteurs der Behörde, der über eine Milliarde Dollar Fehlausgaben anprangerte.

Das Heimatschutzministerium sollte eigentlich Kräfte bündeln, um die Vereinigten Staaten vor inneren Bedrohungen zu schützen. Inzwischen scheint es aber wie ein Magnet immer mehr Ausgaben für planlose, verfehlte und zuweilen sogar gefährliche Vorhaben anzuziehen. Dazu gehört z.B. ein Programm, das lokalen Polizeibehörden den Kauf von Ausrüstung ermöglicht , die für militärische Zwecke ausgelegt ist – nicht etwa zum Einsatz gegen Terrorist*innen, sondern gegen Bürger*innen, die gegen Unrechtsakte just der Behörden protestieren, die vom Heimatschutzministerium mit Waffen ausgerüstet werden.

Die Regierung Trump forderte für das Finanzjahr 2018 einen Etat in Höhe von 50 Mrd. US$ für das Ministerium.

6. Militärhilfe

Die Programme der US-Regierung für Militärhilfe wurden in diesem Jahrhundert deutlich ausgeweitet. Die Vereinigten Staaten führen Dutzende Waffen- und Trainingsprogramme für mehr als 140 Länder durch. Dies summiert sich auf über 18 Mrd. US$ pro Jahr, etwa 40 % davon aus dem Etat des State Department [Außenministerium]. Der Anteil des Pentagon an diesen Programmen ist im regulären Verteidigungshaushalt enthalten, die 7 Mrd. US$ des Außenministeriums nicht. Dabei kann es sich solche Ausgaben kaum leisten, da sein Etat von der Trump-Administration ohnehin ausgehöhlt wird.

7. Geheimdienste

Die Regierung der Vereinigten Staaten unterhält 16 separate Geheimdienste: Central Intelligence Agency [CIA, ziviler Auslandsgeheimdienst]; National Security Agency [NSA; militärischer Auslandsgeheimdienst, zuständig für die weltweite Überwachung, Entschlüsselung und Auswertung elektronischer Kommunikation; der Chef der NSA ist gleichzeitig Chef des US Cyber Command]; Defense Intelligence Agency [militärischer Nachrichtendienst]; FBI [fungiert u.a. als Inlandsgeheimdienst]; State Department Bureau of Intelligence and Research [Amt für Aufklärung und Forschung des Außenministeriums]; Department of Homeland Security Office of Intelligence Analysis [Büro für Nachrichtenanalyse des Heimatschutzministeriums]; Drug Enforcement Administration Office of National Security Intelligence [Nationaler Geheimdienst der Drogenbehörde]; Treasury Department Office of Intelligence and Analysis [Geheimdienst des Finanzministeriums]; Department of Energy Office of Intelligence and Counterintelligence [Büro für Aufklärung und Gegenspionage des Energieministeriums]; National Reconnaissance Office [Nationales Amt für Aufklärung, betreibt die militärischen Spionagesatelliten]; National Geospatial Intelligence Agency [Nationale Agentur für Fernaufklärung]; Air Force Intelligence, Surveillance, and Reconnaissance [Spionage, Überwachung und Aufklärung der Luftwaffe]; Army Military Intelligence [Heeresnachrichtendienst]; Office of Naval Intelligence [Marinenachrichtendienst]; Marine Corps Intelligence [Nachrichtendienst der Marineinfanterie]; Coast Guard Intelligence [Nachrichtendienst der Küstenwache]. Über ihnen allen thront das Office of the Director of National Intelligence [Büro des Leiters der US-Geheimdienste], der dieses weitgespannte Geheimdienstnetz koordinieren soll. Das macht zusammen also 17 Geheimdienstorganisationen.

Die USA werden 2018 mehr als 70 Mrd. US$ für diese Geheimdienste ausgeben. Der größte Brocken davon, einschließlich der Budgets für die CIA und die NSA, kommt aus dem Etat des Pentagon. Aus anderen Etats kommen bestenfalls ein paar Milliarden Dollar; aus Gründen der Geheimhaltung gibt es dazu keine genauen Informationen. Der Einfachheit halber setzen wir an dieser Stelle also einfach null Dollar an.

8. Unterstützung für Veteranen

Die Zahl der Veteranen erhöht sich durch die Kriege im Irak und in Afghanistan ständig, sodass die Kosten für die Unterstützung der Veteranen nach ihrer Rückkehr in die USA dramatisch steigen. Viele der Veteranen sind versehrt, manche brauchen ihr Leben lang medizinische Behandlung. Für 2018 beläuft sich der Etatantrag des Bundesamtes für Kriegsveteranen auf 186 Mrd. US$ – das ist mehr als dreimal so viel wie vor der militärischen Intervention in Afghanistan 2001.

9. Renten und Pensionen für militärisches Personal

Der Treuhandfonds, der die Bezüge von Militärangehören im Ruhestand und von hinterbliebenen Familienmitgliedern decken soll, reicht nicht annähernd aus, um alle Ansprüche zu decken. Daher wird dieser Fonds im Rahmen des allgemeinen Haushaltsgesetzes regelmäßig aufgestockt, inzwischen um etwa 80 Mrd. US$ pro Jahr.

10. Anteil der Militärausgaben an den Schuldzinsen der USA

Bekanntlich weist der Haushalt der US-Regierung regelmäßig ein Defizit aus, und die Staatsschulden wachsen. Inzwischen belaufen sich die Zinszahlungen für diese Schulden auf etwa 500 Mrd. US$ pro Jahr. Das Project on Government Oversight [eine Nichtregierungsorganisation] hat ausgerechnet, dass der Anteil der Militärausgaben an den Schuldzinsen des Landes mehr als 100 Mrd. US$ pro Jahr beträgt.

Mehr als eine Billion

Insgesamt kommen also knapp 1,1 Billionen US$ zusammen, um die vergangenen Kriege zu bezahlen, die laufenden Kriege zu finanzieren und für künftige militärische Auseinandersetzungen vorzusorgen. Das ist fast das Doppelte des offiziellen Haushaltsansatzes für das Pentagon für das Finanzjahr 2018. Die meisten Steuerzahler*innen haben keine Ahnung, dass mehr als eine Billion pro Jahr für die so genannte »nationale Verteidigung« ausgegeben wird – die heutzutage besser »nationale Unsicherheit« genannt werden sollte.

Wenn Sie also wieder mal den Präsidenten, den Verteidigungsminister, den Generalstabsvorsitzenden oder Falken aus dem Kongress jammern hören, dass das US-Militär mangels Finanzen praktisch vor dem Kollaps stehe, glauben Sie kein Wort. Donald Trump mag letztlich eine Plutokratie im Weißen Haus etabliert haben, die militärische Variante davon hat es sich im Pentagon und dem übrigen nationalen Sicherheitsstaat aber schon lange bequem gemacht. Um in der Terminologie des US-Präsidenten zu bleiben: Eines ist sicher – Pentagon & Co. gehören zum oberen ein Prozent.

Haushaltsansatz 2018 der US-Regierung für Militär, Rüstung und Verteidigung

Pentagon-Budget (siehe Endnote 1)

575 Mrd. US$

Kriegsbudget (Auslandseinsätze)

64,6 Mrd. US$

Atomsprengköpfe (Energieministerium)

20 Mrd. US$

»Sonstige Verteidigung«

8 Mrd. US$

Heimatschutzministerium

50 Mrd. US$

Militärhilfe (Außenministerium)

7 Mrd. US$

Geheimdienste

70 Mrd. US$ (überwiegend im Pentagon-Etat, Rest geheim, daher hier nicht mitgezählt)

Veteranen

186 Mrd. US$

Ruhestandsbezüge
(zusätzlich zum Treuhandfond)

80 Mrd. US$$

Anteil an den Schuldzinsen der USA

100 Mrd. US$

Gesamt

1.090 Mrd US$ ˜ 1,1 Billionen US$

Anmerkung

1) Am 12.12.2017 verabschiedete der US-Kongress für das Finanzjahr 2018 einen Verteidigungshaushalt in Höhe von 695,9 Mrd. US$, mit 613,8 Mrd. US$ Grundfinanzierung, 74,6 Mrd. US$ für Auslandseinsätze (Overseas Contingency Operations; siehe »2. Kriegsbudget« in diesem Artikel) sowie 7,5 Mrd. US$ für »mandatory spending« (pflichtgemäße Ausgaben). Siehe H.R. 2810 – National Defense Authorization Act for Fiscal Year 2018; govtrack.us/congress/bills/115/hr2810. [die Übersetzerin]

William D. Hartung ist Geschäftsführer des Arms and Security Project am Center for International Policy (ciponline.org) in Washington, D.C. und Autor zahlreicher Studien und Publikationen. 2010 veröffentlichte er »Prophets of War – Lockheed Martin and the Making of the Military-Industrial Complex« (New York: PublicAffairs, 304 S.).
Die Originalfassung dieses Text enthält zahlreiche Links zu Quellen, auf die sich der Autor stützt; siehe »Tomgram: William Hartung, The Trillion-Dollar National Security Budget« vom 25. Juli 2017 auf tomdispatch.com.

Aus dem Englischen übersetzt von Regina Hagen; die Erläuterungen in eckigen Klammern wurden von ihr hinzugefügt.

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Rüstungsschub, Brexit & Bratislava-Agenda

von Sabine Lösing

Spätestens seit 1999 auf den Ratsgipfeln in Köln und Helsinki die Aufstellung einer Schnellen Eingreiftruppe in Korpsgröße (60.000 Soldaten) beschlossen wurde, kann von der viel beschworenen »Zivilmacht EUropa« eigentlich keine Rede mehr sein. Zwar wurden seither über 30 Einsätze im Rahmen der so genannten »Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« (GSVP) durchgeführt, dennoch gehen vielen die diesbezüglichen »Fortschritte« nicht weit genug. Als ein wesentliches Hindernis für den weiteren Ausbau des EU-Militärapparates galt bislang Großbritannien, das viele Initiativen blockierte, aus Sorge, dies könnte eine Einschränkung der eigenen macht- und militärpolitischen Beinfreiheit zur Folge haben. Dies erklärt, warum zahlreiche Militarisierungsbefürworter angesichts des bevorstehenden EU-Austritts den Briten kaum eine Träne nachzuweinen scheinen. So äußerte etwa Elmar Brok, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europaparlaments: „Der Brexit hat auch gute Seiten. […] Jahrelang haben uns die Briten aufgehalten. Jetzt geht es endlich voran.

Und in der Tat, lange ließ man sich nicht Zeit, um Nägel mit Köpfen zu machen. Unmittelbar nach dem britischen Referendum am 23. Juni 2016 wurde eine neue EU-Globalstrategie verabschiedet, die das ehrgeizige Ziel vorgibt, dass der Union „das gesamte Spektrum an land-, luft-, weltraum- und seeseitigen Fähigkeiten, einschließlich der strategischen Grundvoraussetzungen, zur Verfügung stehen muss“. Vier Tage danach stellten die Außenminister Deutschlands und Frankreichs das offensichtlich lange vorher erarbeitete Papier »Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt« vor. Darin forderten sie nicht nur einen massiven Ausbau des EU-Militärapparates, sondern auch eine diesbezügliche deutsch-französische Führungsrolle. Nach der Sommerpause präsentierte auch die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini ähnliche Vorschläge, und kurz danach, am 12. September 2016, veröffentlichten Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und ihr französischer Kollege Jean-Yves Le Drian das Papier »Erneuerung der GSVP«.

Schließlich griff EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker den Großteil der kursierenden Vorschläge in seiner Rede zur Lage der Union am 14. September 2016 auf, die es allein schon wegen des ungewohnt militaristischen Tonfalls in sich hatte: „Mit zunehmenden Gefahren um uns herum reicht Soft Power allein nicht mehr aus. […] Europa muss mehr Härte zeigen. Dies gilt vor allem in unserer Verteidigungspolitik. Europa kann es sich nicht mehr leisten, militärisch im Windschatten anderer Mächte zu segeln oder Frankreich in Mali allein zu lassen. Wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen, unsere Interessen und die europäische Art zu leben zu verteidigen.

Konkret forderte Juncker u.a. eine profiliertere Rolle der EU in Krisengebieten sowie die Schaffung des symbolträchtigen Postens eines EU-Außenministers. Da als ein Haupthindernis für – noch – mehr EU-Einsätze fehlende stehende Planungskapazitäten gelten, plädierte der Kommissionspräsident ferner für die Schaffung eines EU-Hauptquartiers. Bislang verfügt die EU außerdem über keine eigenen militärischen Mittel, sie werden »bei Bedarf« von einzelnen Mitgliedsstaaten gestellt – auch das soll sich künftig ändern: „Außerdem sollten wir uns auf gemeinsame militärische Mittel hinbewegen, die in einigen Fällen auch der EU gehören sollten. Und weil dies alles reichlich Geld verschlingen dürfte, schlug Juncker in seiner Rede die Einrichtung eines EU-Rüstungshaushalts vor, was gegen Artikel 41(2) des EU-Vertrags verstößt, der es verbietet, „Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen“ aus dem EU-Haushalt zu bestreiten: „Eine starke europäische Verteidigung braucht eine innovative europäische Rüstungsindustrie“, so Juncker. „Deshalb werden wir noch vor Jahresende einen Europäischen Verteidigungsfonds vorschlagen, der unserer Forschung und Innovation einen kräftigen Schub verleiht.

Abschließend verständigten sich die die EU-Staats- und Regierungschefs beim informellen (d.h. ohne Großbritannien durchgeführten) Treffen in der Slowakei am 16. September 2016 auf die so genannte »Bratislava-Agenda«: Bis zum 60-jährigen EU-Jubiläum im März 2017 sollen die bisherigen Vorschläge konkretisiert und zur Abstimmung gebracht werden.

Es ist eine bittere Ironie, dass die wichtigste Schlussfolgerung aus dem Brexit und der Unzufriedenheit (nicht nur) der britischen Bevölkerung darin zu bestehen scheint, kostspielige Militarisierungsinitiativen voranzutreiben, anstatt sich endlich der wirklichen Sorgen und Nöte der Menschen anzunehmen.

Sabine Lösing ist Abgeordnete der linken Fraktion im Europaparlament.

Deutsch-französische Achse schwächelt

Deutsch-französische Achse schwächelt

Quo vadis Europa?

von Hans-Georg Ehrhart

Dominiert Deutschland Europa? Hat die Griechenlandkrise das Bild vom »hässlichen Deutschen« wieder reaktiviert? Was soll aus Europa werden und aus seiner Hauptstütze, der deutsch-französischen Achse? Die Erweiterung der EU auf 28 Mitgliedsländer hat die Bedeutung der deutsch-französischen Achse zweifellos relativiert. Hinzu kommt das derzeitige ökonomische Ungleichgewicht zwischen beiden Ländern. Gleichwohl ist die bilaterale Zusammenarbeit immer noch von Bedeutung, denn ohne eine Verständigung zwischen Paris und Berlin geht, so die Überzeugung unseres Autors, in der EU nichts voran, weder in der Wirtschafts- und Finanz- noch in der Sicherheitspolitik.

Laut Präsident François Hollande bilden Deutschland und Frankreich das „Herz Europas“ und tragen außerordentliche Verantwortung für dessen wirtschaftliche, finanzpolitische, soziale und politische Integration (Hollande 2012, S.3). Für Deutschland wiederum ist die „engste Partnerschaft mit Frankreich in einem geeinten Europa“ eine der Grundkoordinaten seiner Außenpolitik (Steinmeier 2015, S.8). Diese positive Grundhaltung verhindert aber nicht, dass es unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft Europas und Interessengegensätze gibt, die es mühsam zu überwinden gilt. Den diversen Problemen liegen unterschiedliche politische Denkansätze und »Kulturen« zugrunde, die es beiden Seiten schwer machen, einen Kompromiss zu finden.

Unterschiedliche wirtschaftspolitische Ansätze

In der Wirtschafts- und Finanzpolitik verfolgt Deutschland einen liberalen Ansatz, der auf einer starken Exportindustrie, offenen Märkten und einer hohen Wettbewerbsfähigkeit basiert. Das damit verbundene europapolitische Problem formuliert Außenminister Steinmeier, wenn er mahnt, „ein fatales strategisches Dilemma zu verhindern, in dem Deutschland sich vor die Wahl gestellt sähe zwischen seiner internationalen Wettbewerbsfähigkeit in der Globalisierung einerseits und der Zukunft der europäischen Integration – vor allem dem Zusammenhalt der Wirtschafts- und Währungsunion – andererseits“ (Steinmeier 2015, S.11). In Frankreich hingegen spielen der vorsorgende Staat und die Binnennachfrage traditionell eine größere Rolle. Das trug dazu bei, dass das Land seit Jahren ein sehr hohes Haushalts- und Staatsdefizit aufweist.

Deutschland hatte 1997 extra den Stabilitätspakt durchgesetzt, um die Währungsunion wetterfest gegen gegen eine schuldenbasierte Staatsfinanzierung zu machen. Dem 750 Mrd. schweren Hilfspaket für Griechenland stimmte Berlin 2010 erst zu, nachdem der damalige französische Präsident Sarkozy gedroht hatte, den Euro zu verlassen (Traynor/Tremlett 2010). 2012 wurde der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) eingeführt, er vergibt aber nur rückzahlbare Kredite und ist nicht für Finanztransfers zuständig. Während Berlin die Einführung von Eurobonds, also gemeinsamen Staatsanleihen, vehement ablehnt, sieht Paris darin die Krönung seiner Europapolitik. Schon seit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) in den 1950er Jahren versucht Frankreich, die deutsche Wirtschaftskraft zu »europäisieren« und für seine Vorstellung von Europa nutzbar zu machen.

Der deutsche Finanzminister Schäuble ist zwar durchaus für eine Fiskalunion, aber nur, sofern diese die effektive Kontrolle ihrer Mitglieder ermöglicht und Regelverstöße verlässlich sanktioniert, etwa durch einen mit entsprechenden Kompetenzen ausgestatteten Europäischen Währungsfonds (Schäuble 2010). Frankreich denkt eher an einen gemeinsamen Haushalt und eine gemeinsame Haftung, will sich auf der anderen Seite aber in seine nationale Politik nicht viel reinreden lassen. Dementsprechend schlug Präsident Hollande nach dem qualvollen Griechenlandkompromiss, der Mitte August 2015 zum dritten Rettungspaket führte, die Bildung einer europäischen Wirtschaftsregierung für die Eurozone mit eigenem Haushalt und Parlament vor. Zur Not könne eine „Avantgarde“ aus interessierten Staaten vorangehen (Gamelin 2015a, S.6).

Nach einem gemeinsamen Arbeitspapier, über das die Wochenzeitung DIE ZEIT berichtete (2.6.2015), streben Paris und Berlin nun eine engere Währungsunion mit häufigeren Gipfeltreffen, mehr Kompetenzen für die Gruppe der Finanzminister und ihres Präsidenten, der so etwas wie der von Paris vorgeschlagene europäische Finanzminister werden könnte, sowie eine Beteiligung des Europaparlaments an. Sie wollen also vor allem die zwischenstaatliche Zusammenarbeit stärken, was dem bevorzugten französischen und mittlerweile auch von Kanzlerin Merkel goutierten Ansatz entspräche. In diese Richtung geht auch die (nicht zuletzt mit Blick auf das mit Austritt aus der EU drohende Großbritannien formulierte) Idee Schäubles, die EU zurückzubauen, indem der Europäischen Kommission die Aufsicht über Haushalte, Binnenmarkt und Wettbewerbsrecht entzogen und einer unabhängigen Behörde übertragen wird (Gamelin 2015b, S.4).

Unterschiedliche sicherheitspolitische Kulturen

Die Zeiten, in denen die Kommission als künftige europäische Regierung angesehen wurde, sind ohnehin vorbei. CDU und SPD nahmen bereits vor Jahren Abschied von der – übrigens von Paris nie geteilten – Vision der Vereinigten Staaten von Europa. Das hindert beide Parteien aber nicht daran, für eine Europäische Armee zu plädieren (Ehrhart 2014, S.92). Allerdings lassen sie offen, was sie darunter verstehen. Wenn der europäische Bundesstaat kein Ziel mehr ist, wie soll eine Europäische Armee politisch geführt werden? Paris denkt gar nicht daran, seine verteidigungspolitische Souveränität aufzugeben – mehr Koordinierung und Zusammenarbeit in Teilbereichen ja, mehr aber nicht. In offiziellen Äußerungen wird zwar gerne von der Notwendigkeit einer »europäischen Verteidigung« gesprochen, jedoch nicht im Sinne einer integrierten Armee.

Das französische (und britische) Hauptinteresse an der seit 1999 im Rahmen der EU im Aufbau befindlichen »Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« (GSVP) liegt in verbesserten militärischen Kapazitäten. Hauptadressat dieses Anliegens ist Deutschland, das mehr für Rüstung und Verteidigung ausgeben und sich international militärisch mehr engagieren soll. Während Deutschland nur 1,4 Prozent seines Bruttoinlandprodukts für Verteidigung ausgibt, sind es bei Frankreich zwei Prozent (darin enthalten sind allerdings auch die Kosten für die französische Nuklearstreitmacht). Weil Deutschland nicht so richtig mitzog, schloss Frankreich mit Großbritannien 2010 weit reichende militärpolitische Verträge ab, ohne Berlin zu konsultieren oder die GSVP zu erwähnen.

Ein Grund für die manchmal unterschiedlichen Positionen liegt in den immer noch verschiedenen sicherheitspolitischen Kulturen. Bereits das von Paris initiierte Projekt der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft scheiterte 1954 schließlich am französischen Widerstand. Damit war auch die geplante Europäische Politische Gemeinschaft gescheitert. Einerseits wollte Paris damals Sicherheit und Kontrolle durch Integration der Bundesrepublik, andererseits wollte es seine außen- und sicherheitspolitische Handlungsfreiheit bewahren – Frankreich sah sich als Weltmacht, befand sich im Indochinakrieg. Die 1952 gegründete EGKS, die die Kontrolle über die damals rüstungswirtschaftlich relevante Schwerindustrie ermöglichte, und die 1954 gegründete Westeuropäische Union (WEU), die umfangreiche rüstungskontrollpolitische Beschränkungen für die Bundesrepublik vorsah, reichten dem NATO-Gründungsmitglied Frankreich als Rückversicherung aber schließlich aus.

EGKS und WEU sind mittlerweile Geschichte. Zahlreiche bilaterale Initiativen haben inzwischen die Welt erblickt: Sie reichen vom Elysée-Vertrag – bis heute die wichtigste vertragliche Grundlage für die bilateralen Beziehungen -, der deutsch-französischen Brigade und dem Eurokorps bis zum Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat. Selbst auf dem Gebiet der nuklearen Abschreckung, die Frankreich als Garant für das Überleben der Nation und als Ausdruck eines besonderen Status betrachtet, bot Frankreich 1986 und 1996 Deutschland Konsultationen an. Deutschland zeigte aber kein Interesse, weil es eher auf die »nukleare Teilhabe« an US-Atomwaffen im Rahmen der NATO setzt. Zudem gilt bei aller Kooperationsbereitschaft die Aussage von Charles de Gaulle, dass sich die Verfügung über Atomwaffen nicht teilen lasse.

Doch steht dieses Thema für Frankreich längst nicht mehr auf der Agenda. Die sicherheitspolitischen Herausforderungen haben sich geändert. Im Mittelpunkt stehen nun vor allem Terrorismus und gescheiterte Staaten. Als ehemalige Kolonialmacht und ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats ist Frankreich viel interventionsfreudiger als Deutschland und hat in den letzten Jahren in Libyen, Mali, der Zentralafrikanischen Republik und im Nahen Osten interveniert. Während Deutschland traditionell eher nach Osten blickt, liegt für Frankreich die zentrale Problemzone in Afrika. Im Ukrainekonflikt versucht Berlin, Paris über das »Normandieformat« (Deutschland, Frankreich, Russland und Ukraine) einzubinden. Zugleich folgt es dem französischen Drängen, sich auch militärisch mehr in Afrika zu engagieren, indem es Teile der deutsch-französischen Brigade in Mali einsetzt. Die Zusammenarbeit bei der weltraumgestützten Aufklärung ist ein weiterer Kooperationsbereich, wie auch das Vorhaben, eine bewaffnungsfähige Drohne zu entwickeln.

Fehlende gemeinsame Vision

Nach dem Abschluss des Vertrages von Lissabon, durch den die Europäische Union institutionell reformiert wurde, bedürfte es »nur« eines Beschlusses der EU-Staats- und Regierungschefs, um eine gemeinsame Verteidigungspolitik einzuführen, die dann zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte. Doch solange die beiden Hauptprotagonisten nicht an einem Strang ziehen, wird eine Außen- und Sicherheitspolitik Europas aus einem Guss Zukunftsmusik bleiben. Ähnlich sieht es in der Wirtschafts- und Währungspolitik aus. Es braucht eine gemeinsame Vision um voranzukommen. Diese fehlt aber offensichtlich. Was ist also zu tun?

Frankreich müsste in beiden Fällen seinen nationalen Souveränitätsanspruch reduzieren, Deutschland müsste für andere mehr ins Risiko gehen. Durch die eigene Bereitschaft, Souveränität und Risiko zu teilen, könnte die schwächelnde deutsch-französische Achse Vorbild sein und mit anderen interessierten Partnern das Friedensprojekt EU voranbringen, statt in Kleinmütigkeit zu verharren. In unserer globalisierten Welt wäre dies einem Europa mit schwachen Institutionen oder gar einer Renationalisierung Europas allemal vorzuziehen.

Literatur

DIE ZEIT: Merkel strebt radikale Euroreform an. 2. Juni 2015.

Hans-Georg Ehrhart (2014): Europäische Armee – eher Chimäre als Vision! In: Ines-Jacqeline Werkner, Janet Kursawe und Margret Johannsen (Hrsg.) (2014): Friedensgutachten 2014. Berlin: LIT, S.87-99.

Cerstin Gammelin (2015a): Friedenstaube nach Berlin. Süddeutsche Zeitung, 21.7.2015.

Cerstin Gammelin (2015b): EU, eine Nummer kleiner. Süddeutsche Zeitung, 31.7.2015.

François Hollande (2012): Rede anlässlich des 50. Jahrestages der Rede von General de Gaulle an die deutsche Jugend. In: Ministère des Affaires Ètrangères et Européennes: Bulletin d'actualités. 24.9.2015, S.1-4.

Wolfgang Schäuble im Interview mit Bild: Pleite-Ländern notfalls den Euro wegnehmen. 15.3.2015.

Frank-Walter Steinmeier (2015): »Krise, Ordnung, Europa« – Zur außenpolitischen Verortung und Verantwortung Deutschlands. In: Auswärtiges Amt Projektteam „Review 2014 – Außenpolitik Weiter Denken“: Review Krise – Ordnung – Europa.

Ian Traynor and Giles Tremlett: Nicolas Sarkozy Threatened to Pull Out of Euro Over Greece. The Guardian, 14 May 2010.

Dr. Hans-Georg Ehrhart ist Mitglied der Geschäftsleitung des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und Leiter des Zentrums für Europäische Friedens- und Sicherheitsstudien am IFSH (ZEUS).

Agenda Rüstung

Agenda Rüstung

Stärkung der Waffenindustrie und staatliche Machtpolitik

von Jürgen Wagner

Anfang Oktober 2014 wurde das von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen in Auftrag gegebene Gutachten über die Bundeswehr-Beschaffungsprojekte veröffentlicht. Nahezu zeitgleich ging Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel mit einer rüstungspolitischen Grundsatzrede an die Öffentlichkeit. Aus von der Leyens Haus folgte im Juni 2015 das »Dialogpapier« zwischen dem Bundesministerium für Verteidigung (BMVg) und der Rüstungslobby, und wenige Tage später wurde das »Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der Verteidigungsindustrie in Deutschland« nachgeschoben, das die wesentlichen Kernelemente aus der Rede des Wirtschaftsministers übernimmt. Zusammen bilden diese Initiativen das Gerüst der sich abzeichnenden »Agenda Rüstung« der Bundesregierung, die im Folgenden näher beschrieben wird.

In Sachen Rüstungspolitik legt die Bundesregierung seit einiger Zeit eine hektische Betriebsamkeit an den Tag: Personal wurde ausgetauscht, Gutachten wurden erstellt und Strategiepapiere verabschiedet. Die Politik will mit der sich dabei herauskristallisierenden »Agenda Rüstung«1 vor allem zwei Interessen umsetzen: Einmal geht es darum, deutlich mehr militärische Schlagkraft pro investiertem Euro zu generieren als dies bislang der Fall war. Hierfür ist man im BMVg bestrebt, vorhandene Ineffizienzen im Beschaffungswesen soweit als möglich zu beseitigen und die Industrie bei der auftragsgemäßen Lieferung künftig stärker in die Pflicht zu nehmen. Gleichzeitig besteht ein Kerninteresse an der Stärkung der deutschen Rüstungskonzerne und ihrer industriellen Basis.

Letzterem kommt hohe Priorität zu, weil die Vorstellung, eine starke einheimische Rüstungsindustrie sei eine notwendige Bedingung für eine wirkungsvolle Militär- und Machtpolitik, tief in den Köpfen der politischen Entscheidungsträger verwurzelt ist.2 So kommt eine umfassende Untersuchung zum »Wert« des deutschen Rüstungswesens zu dem Ergebnis: „[D]ie Rüstungspolitik [ist] ein integraler Bestandteil der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie eine Kernkompetenz der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. […] Der Zugriff auf eine leistungsfähige und flexible rüstungsindustrielle Basis ist für die Bundesregierung somit eine Grundvoraussetzung ihrer militärischen und damit außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Handlungsfähigkeit. Für den Handelsstaat Deutschland ist diese Komponente seiner staatlichen Handlungsfähigkeit eine grundlegende Voraussetzung für eine effektive und nachhaltige Interessensverfolgung in einer multipolaren Weltordnung. […] Nicht seine ökonomische Dimension – sprich der Beitrag zur Wirtschaftsleistung und die Schaffung von Arbeitsplätzen – sondern die […] militärische und außenpolitische Dimension macht den Rüstungssektor zu einem unverzichtbaren Wirtschaftsbereich der deutschen Volkswirtschaft.“ 3

Bei der Stärkung des Rüstungssektors wird arbeitsteilig vorgegangen: Das BMVg drängt dabei vor allem auf eine Erhöhung der Rüstungsausgaben und hier insbesondere des investiven Anteils. Das erklärte Ziel des Wirtschaftsministeriums besteht wiederum – ganz im Gegensatz zur allgemeinen Wahrnehmung – darin, eine »exportpolitische Flankierung der Verteidigungsindustrie« auf den Weg zu bringen. Dabei steht die Förderung von Fusions- und Übernahmeprozessen (»Konsolidierung«) im Zentrum der Überlegungen, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Es soll der deutsche rüstungsindustrielle Sektor gestärkt werden, womit wiederum – idealtypisch -auch eine Ankurbelung der Exporte und infolgedessen eine Senkung der Stückkosten einhergehen soll.

Rüstungsgutachten, Dialogpapier und Militärhaushalt

Nach einer unglaublichen Pannenserie – praktisch kein Bundeswehr-Beschaffungsprojekt kam in den letzten Jahren ohne drastische Verzögerungen und teils regelrecht absurde Preiserhöhungen über die Ziellinie – zog Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen im Februar 2014 öffentlichkeitswirksam die Notbremse. Als Hauptverantwortliche für die Misere identifizierte sie den Staatssekretär für Ausrüstung, Stéphane Beemelmans, der von seinen Aufgaben entbunden – sprich: gefeuert – wurde, und seinen Abteilungsleiter, Detlef Selhausen, den man kurzerhand versetzte.

In diesem Zuge kündigte von der Leyen auch eine externe Überprüfung der Bundeswehr-Großprojekte an. Mit dieser Aufgabe wurden die Unternehmensberatung KPMG, die Ingenieurgesellschaft P3 und die Kanzlei Taylor Wessing betraut, die ihre Ergebnisse in Form des Gutachtens »Bestandsaufnahme und Risikoanalyse zentraler Rüstungsprojekte« am 6. Oktober 2014 an die Verteidigungsministerin übergaben. Darin wurden auf 1.200 Seiten, von denen allerdings nur ein 51-seitiges Exzerpt öffentlich einsehbar ist, neun Großprojekte mit einem Gesamtvolumen von 57 Mrd. Euro untersucht, wobei 140 Probleme und Risiken identifiziert wurden, die teils interner Natur, teils aber auch aufseiten der Industrie zu verorten seien. Daher kam das Gutachten zu dem Ergebnis, „dass eine Optimierung des Rüstungsmanagements in nationalen und internationalen Großprojekten dringend und ohne Verzug geboten ist“.4

Das vernichtende Urteil wurde von der neuen Staatssekretärin für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung, der früheren Unternehmensberaterin Katrin Suder, folgendermaßen zusammengefasst: „Waffensysteme kommen um Jahre zu spät, Milliarden teurer als geplant – und dann funktionieren sie oft nicht richtig oder haben Mängel.“ 5 Auch von der Leyen selbst richtete eine erstaunlich deutliche Kritik an die Adresse der Rüstungsunternehmen: „Wir wollen nicht für Fehler bezahlen, die die Industrie gemacht hat.“ 6 Nach solch starken Worten sahen viele Kommentatoren von der Leyen auf „Konfrontationskurs zur Rüstungsindustrie“ (Süddeutsche Zeitung). Die Verteidigungsministerin wolle „mit aller Härte den Rüstungssektor neu ordnen“ (DIE WELT) und „bei der Rüstungsbeschaffung aufräumen“ (Wirtschaftswoche).

Zwar sind die bislang kursierenden Überlegungen noch vage, es scheint aber ernsthaft die Absicht zu bestehen, die Rüstungsindustrie künftig stärker für ein kosteneffizienteres Beschaffungswesen in die Pflicht zu nehmen. Gerade deshalb fällt auf, wie entspannt, ja geradezu positiv, die »Agenda Rüstung« von den Unternehmen aufgenommen wurde. Aus der Pressemitteilung der größten Lobbyverbände zum Gutachten wird allerdings bereits ersichtlich, weshalb dies der Fall ist: „Die Studie bestätigt die Notwendigkeit der industrieseitig bereits seit längerem angemahnten ausreichenden Mittelbereitstellung.“ 7

Die Botschaft war angekommen, und in der Presse setzte unmittelbar ein, was man als »Schrotthaufen-Debatte« bezeichnen könnte: „So Schrott ist die Bundeswehr“ (BILD), die Truppe sei nichts anderes als „stahlgewordener Pazifismus“ (DIE ZEIT) und das ganze Problem existiere vor allem, da die Bundeswehr seit Jahren „[c]hronisch unterfinanziert“ sei (Deutschlandfunk). Damit war ein gewisser Nährboden geschaffen, um die Akzeptanz für eine Erhöhung der Rüstungsausgaben in der diesbezüglich eher kritisch eingestellten Bevölkerung zu vergrößern.

Seit Jahren schon wird von Politik, Militär und Rüstungsindustrie geklagt, die Rüstungsausgaben befänden sich im freien Fall, obwohl die Realität anders aussieht: Der Militärhaushalt stieg nämlich von (umgerechnet) 23,18 Mrd. Euro im Jahr 2000 sogar inflationsbereinigt um rund 25% auf etwa 33 Mrd. im Jahr 2015 und liegt damit drastisch über dem eigentlich verbindlich vereinbarten Sparziel vom Juni 2010. Damals war festgelegt worden, alle Ressorts müssten bis 2014 insgesamt 81,6 Mrd. Euro einsparen und die Bundeswehr solle dazu 8,3 Mrd. beitragen. Gemäß dem daran angelehnten Bundeswehrplan sollte der Rüstungshaushalt bis 2014 also auf 27,6 Mrd. Euro reduziert werden. Dieser Beschluss scheint inzwischen hinfällig zu sein, denn obwohl der offizielle Haushalt 2015 bereits etwa 5,5 Mrd. über dem vereinbarten Sparziel lag, legte Finanzminister Wolfgang Schäuble im Frühjahr 2015 mit dem »Eckwerte-Papier« noch einmal nach: Nun soll der BMVg-Etat 2016 auf 34,2 Mrd. Euro steigen, im Jahr darauf sollen es 34,74 Mrd. und 2018 dann 34,8 Mrd. sein, um 2019 schließlich 35 Mrd. zu umfassen.8

Die Entwicklung der Rüstungsausgaben war auch Thema im ab November 2014 tagenden »Dialogkreis«, der sich aus 70 Vertretern des Verteidigungsministeriums und der Rüstungsindustrie zusammensetzt und im Juni 2015 einen ersten Ergebnisbericht veröffentlichte. Nachdem es sich bei dem Rüstungsprojekte-Gutachten um eine „nach innen gerichtete Bestandsaufnahme“ gehandelt habe, sei nun das „konstruktive Gespräch mit der Industrie“ gesucht worden, um zu einem „gemeinsamen Verständnis“ über die »Agenda Rüstung« zu gelangen und „Möglichkeiten zur Verbesserung der Situation zu suchen“.9 Ziel des Dialogs sei es, wie aus einer gemeinsamen Presseerklärung von BMVg und dem Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie e.V. (BDSV) hervorgeht, „Maßnahmen zu erarbeiten wie […] die bisherige Tendenz »zu spät, zu teuer, weniger Leistung« abgelegt werden kann“.10 Um dies zu erreichen, werden zwei Maßnahmen angesprochen: „Erstens ein transparentes Vorgehen bei Rüstungsprojekten und zweitens ein professionelles Beleuchten auch unterschiedlicher Positionen sowohl in der fachlich-inhaltlichen als auch in der politischen Befassung.“ 11

Bleibt diese Absichtserklärung eher vage, war es möglich, hinsichtlich der Finanzen zu einem recht konkreten gemeinsamen Verständnis zu gelangen. Unmissverständlich wird festgehalten, es bestehe weiterhin die „Notwendigkeit einer graduellen Erhöhung des Einzelplans 14 und seines investiven Anteils“. Der mit dem Eckwerte-Papier beschlossene Aufwuchs sei zwar begrüßenswert, aber keineswegs ausreichend: „Dieser Anstieg ist jedoch zu schwach.“ 12 Neben der Erhöhung der Militärausgaben im Allgemeinen widmet sich das Dialogpapier auch der Frage der Rüstungsinvestitionen, die momentan bei 15% des Militärhaushalts liegen und ganz im Sinne der Industrie ebenfalls deutlich steigen sollen: „Als konkrete Maßnahmen werden die aufgaben- und ausrüstungsorientierte Erhöhung des Einzelplans 14, die Festschreibung einer Investitionsquote von 20 Prozent für Rüstungsinvestitionen und die Festschreibung einer F&T-Quote von 10 Prozent des Investivanteils im Einzelplan 14 empfohlen.“ 13

Bei genauerer Betrachtung enthält das Dialogpapier also eine Art »Package Deal«, der die Interessen beider Seiten, Politik wie Industrie, berücksichtigt und den die FAZ folgendermaßen beschreibt: „Die Politik versprach verlässlichere Investitionsquoten in Rüstungsgüter und weniger bürokratischen Aufwand bei Prüfungen und Zulassungen, die Industrie sicherte dafür größere Termintreue zu.“ 14

Strategie zur Stärkung der Rüstungsindustrie

Immer wieder wird Sigmar Gabriel vorgeworfen, durch seine extrem restriktive Haltung gegenüber dem Export von Rüstungsgütern betätige er sich als „Totengräber der wehrtechnischen Industrie Deutschlands“. 15 Ein Blick in Gabriels rüstungspolitische Grundsatzrede vom 8. Oktober 2014 allerdings genügt, um Zweifel an diesem Image aufkommen zu lassen. Zwar bekennt sich Gabriel in der Rede dazu, Waffenlieferungen in Krisenregionen gewissen Einschränkungen zu unterwerfen, allerdings nur für bestimmte, relativ eng umrissene Güter und nach sehr vage aufgestellten Kriterien. „Aber zugleich müssen wir – und das ebenfalls mit großer Klarheit – feststellen, dass es natürlich legitime sicherheits- und bündnispolitische Interessen gibt, welche die Lieferung von Rüstungsgütern und Kriegswaffen rechtfertigen können. […] Deutschland und seine Partner haben ein eigenes Interesse daran, Piraterie, Terrorismus und Proliferation von Waffen, wie sie im Nahen und Mittleren Osten auftreten, einzudämmen. […] Die Lieferungen an die Kurden im Norden des Irak, die der Abwehr einer fanatisch-grausamen Terrorbewegung wie dem so genannten »Islamischen Staat« dienen, sind weder ein Tabubruch und noch gar ein Widerspruch zu unseren Werten und Rechtsregeln.“ 16 Darüber hinaus kündigte er in dieser Rede explizit eine „[e]xportpolitische Flankierung für die Verteidigungsindustrie“ an, um mittels einer Konsolidierung bzw. Bündelung des Rüstungssektors die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Rüstungsindustrie zu „verbessern“.

Ausgangspunkt der diesbezüglichen Überlegungen ist die Annahme, dass der kleinteilige europäische Rüstungssektor, der sich auf viele Länder und Rüstungsbetriebe verteilt, erhebliche Ineffizienzen verursacht. In den Worten Gabriels: „Die Verteidigungsindustrie in der EU ist nach wie vor national ausgerichtet und stark fragmentiert. Europa leistet sich den »Luxus« zahlreicher Programme für gepanzerte Fahrzeuge, den intensiven Wettstreit zwischen drei Kampfflugzeugen und eine starke Konkurrenz z. B. im U-Boot-Bereich. […] Folgen dieser unbefriedigenden Situation sind hohe Kosten und nachteilige Folgen für den internationalen Wettbewerb, aber auch negative Auswirkungen für die Streitkräfte. Die Bundesregierung muss daher nach meiner Meinung verstärkt auf eine europäische Zusammenarbeit bis hin zum Zusammengehen von in einzelnen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen setzen. […] Es ist erklärtes Ziel der EU und der Bundesregierung, den bisher stark zersplitterten europäischen Verteidigungsmarkt neu zu gestalten und die europäische wehrtechnische industrielle Basis zu stärken. Die starke und wettbewerbsfähige deutsche Industrie könnte von einer solchen Entwicklung deutlich profitieren.“ 17

Vor allem mittels europaweiter Beschaffungsprogramme sollen höhere Produktionszahlen und somit sinkende Stückpreise erreicht werden. Da Rüstungsaufträge außerdem nicht mehr wie heute primär national, sondern europaweit ausgeschrieben und vergeben werden sollen, wird es eine wachsende Konkurrenz um die selteneren, aber von der Marge umfassenderen Aufträge geben. Die Folge dessen soll (und wird wohl auch) die Konsolidierung der EU-Rüstungsindustrie sein, da hierdurch Fusions- und Übernahmeprozesse massiv vorangetrieben werden.

Dabei sind die Konsolidierung und die damit einhergehende Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit auch im Interesse der Rüstungsindustrie selbst, zumindest in dem der stärksten Konzerne, die hoffen, aus den Übernahmeprozessen als »Eurochampions« hervorzugehen. Denn für ihren Fortbestand sind deutsche Rüstungskonzerne auf Rüstungsexporte angewiesen – der heimische Markt ist trotz steigender Militärausgaben zu klein. In den Worten von Claus Günther, Vorsitzender des Ausschusses »Sicherheit« des Bundesverbandes der deuschen Industrie: „Wir brauchen Exporte, denn allein durch die dünne nationale Auftragsdecke wird die deutsche Rüstungsindustrie nicht überlebensfähig sein.“ 18 Um aber auf dem Weltmarkt bestehen zu können, sind eine gewisse Konzerngröße, hohe Stückzahlen und damit attraktive Preise erforderlich. Nach der gängigen Auffassung profitieren also alle relevanten Akteure von einer Konsolidierung des Rüstungssektors: „Die Streitkräfte, weil gemeinsam billigere und bessere Produkte beschafft werden können und die einheitliche Ausrüstung gemeinsame Einsätze vereinfacht. Und die Industrie, weil höhere Stückzahlen und bessere Margen sie wettbewerbsfähiger machen.“ 19

Aus diesen Gründen flossen Gabriels Forderungen nach einer Konsolidierung des Rüstungssektors auch in das im Juli 2015 veröffentlichte »Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der Verteidigungsindustrie in Deutschland« ein. Auch hier wird für eine „exportpolitische Flankierung der Verteidigungsindustrie“ plädiert und das Ziel formuliert, „den bisher stark fragmentierten europäischen Verteidigungsmarkt neu zu gestalten und die wehrtechnische industrielle Basis Europas zu stärken“. Wie schon bei Gabriel wird auch in dem Strategiepapier der »Luxus« der (zu) vielen Beschaffungsprojekte beklagt und erklärt, wie Abhilfe zu schaffen ist: „Es ist unser erklärtes Ziel, zukünftig neue Beschaffungsprogramme zunehmend gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Union durchzuführen. […] Mehr gemeinsame, möglichst standardisierte Entwicklung und Beschaffung wird mittel- bis langfristig zu mehr Zusammenarbeit und darüber hinaus auch zur Konsolidierung in der Verteidigungsindustrie in Europa führen. […] Die Bundesregierung setzt verstärkt auf eine europäische Zusammenarbeit bis hin zum Zusammengehen von in einzelnen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen unter Wahrnehmung der nationalen Interessen. Die Bündelung technologischer Stärken wird die wirtschaftliche Bedeutung europäischer Projekte im internationalen Wettbewerb entscheidend erhöhen.“ 20

Bei aller Begeisterung für etwaige europäische Konsolidierungsvorhaben betonte jedoch schon Gabriel unmissverständlich, „dass der Schritt in europäische Kooperationen und Zusammenschlüsse am besten auf der Basis einer konsolidierten deutschen Rüstungsindustrie aus erfolgt, um auf Augenhöhe mit europäischen Partnern verhandeln und notfalls auch zusammengehen zu können“.21 Mit anderen Worten: An einem europäischen Konsolidierungsprozess ist die Regierung überaus interessiert, aber nur aus einer Position der Stärke, die es ermöglicht, die eigenen Unternehmen als »Eurochampions« zu etablieren und so die deutsche rüstungsindustrielle Basis massiv zu stärken. Auch das »Strategiepapier der Bundesregierung« misst deshalb dem „Erhalt nationaler verteidigungsindustrieller Schlüsseltechnologien“ eine zentrale Bedeutung zu, weshalb „deren Verfügbarkeit aus nationalem Sicherheitsinteresse zu gewährleisten ist“.22 Wohl mit Blick auf die angekündigte Fusion des deutschen Panzerbauers Krauss-Maffei Wegmann mit seinem französischen Konkurrenten Nexter Systems wurde daher die Liste der Schlüsseltechnologien in dem Strategiepapier um »geschützte/gepanzerte Fahrzeuge« (sowie »Unterwassereinheiten«) erweitert. Folgerichtig stoppte das Wirtschaftsministerium, das der Fusion noch zustimmen muss, den Fusionsprozess Anfang September 2015 zunächst und leitete unter Verweis auf besondere »Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik« eine »vertiefte Prüfung« ein, deren Ausgang zum Abschluss dieses Artikels noch unklar ist.

Paradigmenwechsel in der Rüstungspolitik?

Verteidigungsministerium und Rüstungslobby sind sich einig: Bei der »Agenda Rüstung« handele es sich um eine „klare Kurskorrektur“, um einen „Paradigmenwechsel in der Zusammenarbeit von Industrie und Bundeswehr“.23 Ob sich diese Einschätzung bewahrheitet, werden angesichts einer Reihe offener Fragen erst die Zeit und Praxis erweisen.

Es sind durchaus Zweifel angebracht, ob die Konsolidierung des Rüstungssektors tatsächlich erhebliche Effizienzsteigerungen mit sich bringen wird.24 Vor allem ist aber unklar, ob es tatsächlich gelingen wird, politische und industrielle Partikularinteressen zugunsten übergeordneter (macht-) politischer Erwägungen zurückzudrängen. Der äußerst vage Charakter der bisherigen Vorschläge zeigt, dass dies keineswegs sicher ist. Doch selbst – oder gerade – wenn dies der Fall sein sollte, stellt ein »effizienterer»« Rüstungssektor, der konsequent auf mehr militärische Schlagkraft und eine Stärkung der Rüstungsindustrie getrimmt wird, friedenspolitisch alles andere als einen Fortschritt dar – ganz im Gegenteil.

Anmerkungen

1) Bei der »Agenda Rüstung« handelt es sich eigentlich um ein sechs Punkte umfassendes Maßnahmenpaket, das vom BMVg zeitgleich mit der Veröffentlichung des Rüstungsprojekte-Gutachtens veröffentlicht wurde. Hier wird darunter aber die Summe der derzeit angedachten Handlungsoptionen verstanden.

2) Sabine Lösing und Jürgen Wagner: EU-Armee: Machtpolitische Imperative und Stolpersteine. Tübingen: Informationsstelle Militarisierung, IMI-Studie 2015/07, S.2f.

3) Henrik Heidenkamp (2015): Deutsche Rüstungspolitik – Ein Politikfeld im Handlungsdruck. Opladen: Barbara Budrich, S.73 und 18.

4) KPMG, P3 Group, Taylor Wessing: Exzerpt – Umfassende Bestandsaufnahme und Risikoanalyse zentraler Rüstungsprojekte; Stand 30. September 2014. S.51.

5) Arno Neuber (2015): Rüstungsprojekte der Bundeswehr. In: Informationsstelle Militarisierung (IMI) (Hrsg.): Deutschland – Wi(e)der die Großmacht. Tübingen, S.10-16, hier S.10.

6) Von der Leyen kritisiert Rüstungsindustrie. n-tv, 7.10.2014.

7) Gemeinsame Erklärung von BDSV, BDLI und BDI. 7.10.2015.

8) Vgl. T. Wiegold: Verteidigungshaushalt soll bereits 2016 um 1,2 Milliarden Euro steigen. Augengeradeaus, 17.3.2015. Im Regierungsentwurf für den Einzelplan 14/2016 stieg der Betrag nochmals leicht auf 34,366 Mrd. Euro. Siehe dazu griephan Briefe – Wöchentliche Informationen zum Geschäftsfeld äußere und innere Sicherheit, Nr. 28/2015, S.2.

9) 1. Ergebnisbericht: Dialog zu Themen der Agenda Rüstung zwischen BMVg und BDSV. Berlin, 29. Juni 2015, S.1.

10) BMVg und BDSV: Rüstungsdialog auf gutem Weg. Pressemitteilung, Berlin, 29.06.2015.

11) Ebenda.

12) 1. Ergebnisbericht, op.cit., S.39.

13) Ebenda, S.4.

14) Johannes Leithäuser: Im Zeichen des Panzers. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.7.2015.

15) So etwa der CSU-Abgeordnete Florian Hahn. Vgl. Christoph Hickmann: An Gabriels Leine. Süddeutsche Zeitung, 24.7.2015.

16) Rede von Bundesminister Gabriel zu den Grundsätzen deutscher Rüstungsexportpolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Berlin, 8.10.2014.

17) Ebenda.

18) Klaus M. Frieling: Firmen und Politik beim Trialog: „Wir sind voneinander abhängig“. Cellesche Zeitung, 18.9.2014.

19) Wirtschaftswoche zitiert in: Florian Bertges (2009): Der fragmentierte europäische Verteidigungsmarkt – Sektorenanalyse und Handlungsoptionen. Frankfurt am Main: Peter Lang, S.95.

20) Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der Verteidigungsindustrie in Deutschland. Berlin, 8.7.2015.

21) Rede von Bundesminister Gabriel, op.cit.

22) Strategiepapier der Bundesregierung, op.cit., S.5f.

23) BMVg und BDSV, op.cit.

24) Sabine Lösing und Jürgen Wagner, op.cit., S.5f.

Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) und in der Redaktion von W&F.

Mehr Verantwortung? Ja, bitte!

Mehr Verantwortung? Ja, bitte!

von Paul Schäfer

Vorstand und Redaktion von W&F waren bei der Jahresplanung 2015 relativ schnell einig: „Wir müssen was zur deutschen Rolle in der heutigen Welt machen.“ Ausgangspunkt der Diskussion waren die programmatisch anmutenden Reden dreier deutscher PolitikerInnen auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014, in denen das veränderte Gewicht Deutschlands in Europa und der Welt beschworen und daraus ein »Mehr an Verantwortung« abgeleitet wurde.

Bei der Vorbereitung des vorliegenden Heftes sind wir aber rasch darauf gestoßen, dass eine solide Einschätzung der Rolle Deutschlands schwieriger ist als gedacht. Weil die Reden der Konferenz doch nur eine Momentaufnahme darstellen, weil eine Reihe von Ereignissen – Ukrainekrise, Islamisches Kalifat in Nahost, Flüchtlingsdrama – einschneidende Prozesse in Gang gesetzt hat, die nicht so einfach zu erfassen sind, und weil die Bundesregierung diesbezüglich durchaus widersprüchliche Signale aussendet. Wir haben uns daher vorgenommen, eher eine Annäherung an das Thema zu versuchen. Am Anfang des Schwerpunktthemas stehen daher pointierte und kontroverse Statements zu der Frage, ob »München« eher für eine Zäsur oder doch eher für ein Kontinuum der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik steht. Die Folgebeiträge brechen diese Frage, direkt oder indirekt, herunter auf sicherheits- und militärpolitische Entwicklungen der jüngsten Zeit. Diese wiederum stehen in engem Zusammenhang mit dem wieder aufgebrochenen großen Konflikt zwischen den NATO- und den EU-Mitgliedsstaaten auf der einen Seite und Russland auf der anderen sowie mit den immer weiter eskalierten Gewaltszenarien vor allem in Nahost. Es ergeben sich einzelne Mosaik-Teile, ein fertiges Bild fügt sich daraus (noch) nicht zusammen. Aber vielleicht liegen die Widersprüche in der Sache selbst?

Kein Zweifel: Deutschland hat vor allem innerhalb der EU erheblich an Gewicht gewonnen. Dies ist offenkundig mit der gestärkten Position Deutschlands nach der Weltfinanzkrise 2007/8 verknüpft. Die Ultimaten setzende Politik der Bundesregierung in den »Verhandlungen« über die Schuldenkrise Griechenlands ist ein Beispiel dafür. „In Europa wird wieder deutsch gesprochen“, hieß es da. Die Regierung nutzt das stärkere ökonomische Gewicht, um bilateral wie in internationalen Gremien Einfluss zu nehmen. Aber welchem Kompass folgt sie dabei? Sie will weiter an der globalen Durchsetzung der neoliberal geprägten Weltwirtschaftsordnung arbeiten; sie möchte im deutschen Interesse die EU als Faktor in diesem globalen Wettbewerb stärken. Zugleich ist die Regierung mit den vehementen Folgen dieser »Weltordnung« konfrontiert – den „Schattenseiten der Globalisierung“, von denen inzwischen selbst die Kanzlerin spricht. Eine Konsequenz: Man müsse sich stärker in internationales Krisenmanagement einbringen. Aber wie? Und in welchem Verhältnis soll diese Krisendiplomatie mit dem auf der Münchner Konferenz unüberhörbar geforderten intensiveren militärischen »Engagement« stehen?

Im Osten hat man mit rücksichtsloser Markterweiterungspolitik einen geopolitischen Wettlauf mit Russland ausgelöst, dadurch in der Ukraine Gewaltprozesse befördert, und schickt sich dann an, Feuerwehr zu spielen. »Friedensdiplomatie« wird mit Säbelrasseln und Sanktionen garniert. Wohin soll das führen?

Noch irritierender die Eindrücke in der Flüchtlingsfrage. Deutschland hat sich mit der Aufnahme hunderttausender Flüchtlinge positiv profiliert, avanciert fast schon zum gelobten Land. Aber werden daraus endlich Konsequenzen gezogen? Neben der »Willkommenskultur« erleben wir gleichzeitig, dass die Bundeswehr zur Flüchtlingsabwehr im Mittelmeer aktiv werden soll. Und was gedenken die Bundesregierung und die EU zu tun, um sich endlich den Fluchtursachen zuzuwenden? Bis dato hat man sich überwiegend im Windschatten der USA bewegt und ist damit mitverantwortlich für das, „was westliche Politik im Orient anrichtet“ (Michael Lüders). Wird es hier, unter dem Druck der Ereignisse, ein Umdenken geben?

Für eine „vorausschauende Politik“ möchte der Bundesaußenminister sein Haus besser wappnen. Doch dazu gehört entschieden mehr als eine neue Abteilung für Krisenprävention am Werderschen Markt. Es geht um Grundkonzepte: Vereinte Nationen oder Mächtekoalitionen? Gerechtigkeit global oder Behauptung der eigenen Privilegien? Vorrang für zivil oder Fortsetzung militärisch gestützter Interessenpolitik? Werden die immer wieder proklamierten Wertemaßstäbe endlich auch auf das eigene Handeln angewandt?

Sollte Deutschland in dieser laut Außenminister »aus den Fugen geratenden Welt« mehr internationale Verantwortung übernehmen? Ja! Wie wäre es, wenn Deutschland bei der Umsetzung der neuen UN-Nachhaltigkeitsziele voranginge? Wenn die Bundesrepublik grundsätzlich auf Rüstungsexporte verzichten würde? Wenn sich unser Land ein besonderes internationales Profil erarbeitete, das auf Friedensdiplomatie und ziviler Konfliktbearbeitung beruht?

Ihr Paul Schäfer