Rüstungsatlas Baden-Württemberg

Rüstungsatlas Baden-Württemberg

Neues IMI-Projekt zur Vernetzung der kritischen Öffentlichkeit

von Andreas Seifert

Rüstungsindustrie und -export stehen seit dem Bekanntwerden des geplanten Verkaufs von Leopard II-Panzern an Saudi Arabien im Fokus des öffentlichen Interesses – dabei sind sie für die Friedensbewegung schon länger ein wichtiges Thema. Mit Verweis auf die großen Firmen, wie Krauss-Maffei Wegmann, Heckler und Koch oder Rheinmetall, wird dort schon seit Jahren auf die negativen Folgen von Rüstungsproduktion und -export hingewiesen. Die »erfolgreiche« deutsche Rüstungsindustrie liegt im Ranking der Waffenexporteure weltweit inzwischen auf Rang drei hinter den USA und Russland.

Oft wird bei diesen Betrachtungen übersehen, dass es nicht allein die großen Firmen sind, die vom Sterben in anderen Ländern profitieren, sondern dass es eine Vielzahl von kleineren Unternehmen in Deutschland gibt, die mit dem Tod ein gutes Geschäft machen. Der Bundesverband der Wehrtechnischen Industrie geht z.B. davon aus, dass die Hälfte aller Umsätze im Bereich Sicherheit und Rüstung in den kleinen und mittleren Unternehmen generiert wird. Auf Waffen-Messen wie der EUROSATORY in Paris stellen viele mittelständische deutsche Unternehmen ihre Produkte vor. Doch wer kennt diese?

Der »Rüstungsatlas Baden-Württemberg« versucht, diese Lücke zumindest teilweise zu schließen und damit Ansatzpunkte für eine regional basierte Kritik an Rüstung und Rüstungsproduktion mit Argumenten und Informationen zu unterfüttern. Aufgeteilt in vier Bereiche soll das Thema Rüstung von mehreren Seiten betrachtet werden. Der Atlas ist bewusst nicht als reines Verzeichnis konzipiert, sondern als ein Nebeneinander von klaren Informationen (z.B. Adresslisten) und Analysen, die in Form kürzerer oder längerer Texte Hintergründe und Argumentationen verfügbar machen. Durchgängig erleichtern Grafiken und Karten den Zugang zu den Informationen. Der »Rüstungsatlas Baden-Württemberg« erscheint im August 2012 und wird ca. 70 Seiten Umfang haben.

Der erste Teil des Rüstungsatlas hat die Standorte und die Entwicklung der Bundeswehr in Baden-Württemberg zum Fokus. In diesem Abschnitt werden Themen wie Bundeswehrreform, Truppenentwicklung und Haushalt der Bundeswehr ebenso behandelt wie die Spezialkräfte der Bundeswehr oder die Deutsch-Französische Brigade. Wir listen auf, welche Standorte bleiben werden und welche geschlossen werden sollen und beschreiben, welche Chancen sich für die Kommunen aus dem Abzug ergeben.

Der zweite Teil behandelt die Wehrindustrie in Baden-Württemberg und enthält eine umfangreiche Liste der uns bekannten Firmen, die in diesem Bereich aktiv sind. Die Beschreibung enthält Basisinformationen zu den einzelnen Firmen und verzeichnet ihre Standorte in einer Übersichtskarte. Anhand einiger ausgewählter Unternehmen wie EADS, Heckler und Koch, Kärcher Futuretech wird zudem genauer auf das Geschäftsmodell einer »Rüstungsfirma« eingegangen.

Wissenschaft und Forschung für den Krieg stehen im dritten Teil im Mittelpunkt. Anhand einiger grundsätzlicher Überlegungen sollen die Strukturen der modernen »Wehrforschung« aufgezeigt werden. Auch hier wird versucht, über verschiedene Verzeichnisse einen regionalen Zugang zu ermöglichen, der explizit dazu anregen soll, sich kritisch mit den Vorgängen in der eigenen oder benachbarten Stadt auseinanderzusetzen.

Ansatzpunkt für eine Vernetzung der kritischen Öffentlichkeit sollen schließlich im vierten Teil vermittelt werden, der sich dem Protest gegen Rüstung und der Formulierung einer positiven Alternative widmet. Mit weiteren kurzen Texten werden unterschiedliche Formen und Beispiele des Protestes vorgestellt und um eine Liste der uns bekannten Initiativen ergänzt.

Wir verstehen unseren »Rüstungsatlas Baden-Württemberg« auch als einen ersten Schritt zu einem größeren Projekt, das sich von der Printform lösen und den Aktiven die Möglichkeit zur Mitarbeit einräumen soll. Ziel dieses »interaktiven Rüstungsatlas« ist es dann, die Vernetzung innerhalb des Protestes gegen Rüstung und Rüstungsindustrie, aber auch den antimilitaristischen Widerstand voran zu treiben. Auf einer interaktiven Karte im Internet, die weit mehr umfasst als lediglich Baden-Württemberg, sollen dann all die Informationen zugänglich gemacht werden, die in einem direkten Bezug zum aufgezeigten Themenfeld stehen. Die Informationsstelle Militarisierung hat hierzu einen Projektentwurf auf ihrer Internetseite veröffentlicht (imi-online.de, Ausdruck, Juni 2012).

Andreas Seifert (IMI)

Konversion ist machbar

Konversion ist machbar

von Markus Bayer

Der wehrtechnische Bereich und die Bundeswehr befinden sich im Umbruch. Während letztere »vom Einsatz her gedacht« zu einer modernen, schlanken, flexiblen und professionellen Freiwilligenarmee werden soll (Strukturkommission der Bundeswehr 2000), leidet ersterer unter sinkenden nationalen Absatzzahlen und Exportbeschränkungen von Kriegswaffen. 70% der Kriegsprodukte gehen inzwischen ins Ausland – mit Hilfe der Bundesregierung auch in Spannungsgebiete wie den Nahen Osten, Indien und Pakistan. Der Autor hält nicht nur aufgrund der schwierigen Haushaltslage und einer politisch notwendigen strengeren Anwendung der Exportbeschränkung für Kriegswaffen, sondern auch im Sinne einer zukunftsfähigen Friedenspolitik ein umfassendes Konversionsprogramm für unerlässlich.

Die noch unter Minister zu Guttenberg erarbeitete »Priorisierungsliste Materialinvestition« – eine Bedarfsanalyse der Bundeswehr, die Einsparpotentiale aufdecken sollte – setzte die Branche, allen voran den europäischen Rüstungsgiganten EADS, unter Druck. Gespart werden soll nämlich vor allem an wehrtechnischen Großprojekten. So soll

die Reduzierung der Stückzahl des Militärtransporters A400M (Airbus Military im Besitz von EADS) geprüft werden,

auf die Tranche 3b mit 37 Eurofightern (EADS) verzichtet werden,

statt 80 Tiger-Kampfhubschraubern von Eurocopter (Tochter von EADS) soll nur noch die Hälfte beschafft werden,

die Stückzahl des NH-90-Transporthubschraubers (NHIndustries, zu 62,5% im Besitz von EADS) von 122 auf 80 gesenkt werden und

auf das Programm zur Entwicklung und zum Bau der Aufklärungsdrohne »Talarion« (EADS) verzichtet werden.

Zwischen Wagenburg und neuer Offenheit

Während Gewerkschaften wie die IG Metall, in der ein Großteil der in wehrtechnischen Betrieben Beschäftigten organisiert ist, sich grundsätzlich gegen Militarismus und Krieg und für den Frieden engagieren, herrscht zuweilen bei den konkret betroffenen Betrieben, wie der Belegschaft des EADS-Werks in Ingolstadt, eine »Rückwärts in die Zukunft«-Mentalität.

Mit dem Slogan „Wer 3A sagt muss auch 3B sagen“ (gemeint sind die Tranchen des Eurofighters) wird dort mit dem Schutz von Arbeitsplätzen und dem Hochtechnologiestandort argumentiert und offensiv für den Weiterbau des längst obsolet gewordenen Eurofighters geworben. Dabei bilden sich bei Belegschaft, Gewerkschaft und Management zum Teil Wagenburg–Mentalitäten aus, die nach dem Arendtschen „Selbstzwang deduzierenden Denkens“ (Arendt 2008) versuchen, das Dilemma durch Produktion unnötiger Kriegsgeräte und dem damit verbundenem Druck auf die Regierung zum Kauf dieser, durch die Lockerung von Exportbeschränkungen und die Erringung größerer Weltmarktanteile sowie durch Vernetzung und Verschmelzung der vergleichsweise »kleinen« europäischen Rüstungsbetriebe1 und Verdrängung amerikanischer und russischer Konkurrenten zu lösen. „Die Kollegen haben Angst um ihren Arbeitsplatz, um ihre Existenz […] wir werden als IG Metall diesem Streichkonzert nicht tatenlos zusehen und deshalb dagegen mobilisieren und zu Aktionen aufrufen“, so der EADS-Gesamtbetriebsratchef Thomas Pretzl im »Focus« vom 14.09.2010.

Die Folge: Rüstungsgüter wie beispielsweise der Eurofighter oder auch der Leopard 2A7, kürzlich wegen des Exports nach Saudi-Arabien im Gespräch, die bei der Bundeswehr keinen oder einen immer kleineren Absatz erzielen, müssen, um Arbeitsplätze zu sichern und die bestehenden Produktionskapazitäten auszulasten, exportiert werden.

Abnehmer für den Eurofighter sollte unter anderem das seit Jahren im Dauerkonflikt mit Pakistan liegende Indien sein. Zur Unterstützung des Exports „hat die Luftwaffe […] mehrere Kampfjets zur Luftfahrtmesse AirIndia überführt. Der Werbeflug dauerte […] 96 Stunden und kostete 7,1 Millionen Euro.“ (Heilig 2010) Nach Informationen des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS) kam EADS in der Vergangenheit nur für Bruchteile der Kosten solcher Exportunterstützungsaufgaben auf.

Seit Anfang des Jahres ist jedoch klar: Indien wird trotz der deutschen Exportunterstützung den Eurofighter nicht abnehmen. Stattdessen erhielt das von Dassault in Frankreich entwickelte Konkurrenzprojekt Rafale, welches noch im Jahr zuvor aufgrund mangelnder ausländischer Nachfrage vor dem Aus zu stehen schien, den Zuschlag. Damit steigt der »Exportdruck« bei EADS weiter – zu einer sorgfältigeren Auswahl der Abnehmer wird dies sicherlich nicht führen.

Jedoch muss nach Bertolt Brecht nicht zwingend B sagen, wer A gesagt hat – man kann auch erkennen, dass A falsch war. Hier setzt eine umfassende Konversionsforschung an, hier ist sie in der Pflicht, Alternativen zu bieten. Trotz der Tendenz zur Wagenburgmentalität zeigen sich teilweise auch positive Entwicklungen. So werden am ehemaligen Standort von EADS/Airbus in Lemwerder nun von LM Glasfiber Rotorblätter für Windkraftanlagen gebaut (Grässlin 2011). Diese Beispiele gilt es aufzugreifen und als Alternative für Konzerne wie EADS denkbar zu machen.

Ein Blick in die Geschichte

Manchmal lohnt der Blick in die Vergangenheit. In den 1970er Jahren prominent geworden ist das Beispiel des britischen Konzerns Lucas Aerospace, der, ähnlich wie EADS heute, mit einer rückläufigen Nachfrage nach Kampfflugzeugen zu kämpfen hatte. Als Konsequenz kündigte das Management Entlassungen an. Die interessante Reaktion der Belegschaft: Sie schrieb Experten mit der Frage an, welche gesellschaftlich sinnvollen Produkte mit dem vorhandenen Know-how der Belegschaft alternativ hergestellt werden könnten. Das traurige Resultat: Von 180 angeschriebenen Wissenschaftlern und Universitäten antworteten gerade einmal vier. Von diesem Ergebnis ließen sich die Beschäftigten jedoch nicht entmutigen. Vielmehr begannen sie, selber Ideen zu sammeln, Notwendigkeiten zu evaluieren und Produkte zu entwickeln. Dabei stand nicht nur der Erhalt der eigenen Arbeitsplätze im Mittelpunkt der Bestrebungen, sondern immer auch die Einforderung des Rechts, „an sozial nützlichen und benötigten Technologien zu arbeiten“ (Elliot 1977, S.6), und somit das Bestreben, gesellschaftliche Verantwortung für die angefertigten Produkte zu übernehmen. So finden sich unter den etwa 150 von Lucas Aerospace-Mitarbeitern entwickelten und dem Management zur alternativen Produktion vorgeschlagenen Produkten viele im medizinischen oder ökologischen Bereich.

Der Vorschlag der Belegschaft stellte zudem die bestehenden Verhältnisse durch die Forderung nach Mitbestimmung im Produktionsprozess radikal in Frage. Wenn nicht mehr das Management und die von ihm antizipierte Nachfrage des Marktes darüber bestimmen, was und wie produziert wird, sondern die Belegschaften und mit ihnen eine Gesellschaft, die ihre Bedürfnisse formuliert, dann müssen in Konsequenz die Beschäftigten auch die Kontrolle über die Arbeitsabläufe bekommen. Somit steckt im Gedanken der umfassenden, von unten erkämpften Konversion viel mehr als nur eine Umstellung von der Kriegsgüter- zur zivilen Produktion. In ihr steckt die Sehnsucht, dass Menschen selbstbestimmt, losgelöst von Marktmechanismen, gesellschaftlich verantwortlich kreative Lösungen für konkrete Probleme finden können und technologischer Fortschritt verantwortungsbewusst in die Dienste der Menschheit gestellt wird. Letztlich wurden die Pläne zur Konversion vom Management abgelehnt, die alten Machtverhältnisse wieder hergestellt und Arbeiter wie Mike Cooley entlassen (mehr zu Cooley siehe unten).

Sowohl durch die Diskussion in Großbritannien angeregt als auch durch die Friedensbewegung in Deutschland motiviert entstanden in den 1980er Jahren in zahlreichen Rüstungsbetrieben in Deutschland gewerkschaftliche Arbeitskreise »Alternative Produktion«, die mit großem Ideenreichtum die Produktion nützlicher Produkte forderten (Mehrens 1985; Schomacker, Wilke und Wulf 1987). Nicht alle Pläne wurden umgesetzt; dennoch führte die Diskussion dazu, dass selbst in Teilen des Managements in Rüstungsbetrieben nicht mehr nur die Alternative »Rüstung oder Abbau der Arbeitsplätze« diskutiert wurde.

Die deutsche Konversionsforschung

Deutschland ist ein an Konversionserfahrungen reiches Land. Nach zwei verlorenen Weltkriegen stellte sich jedes Mal für Sieger wie Verlierer die Frage nach Beschränkung oder vollkommener Umwandlung der Rüstungskapazitäten und nach Eindämmung des deutschen Militarismus, um einen erneuten Krieg zu verhindern. Für eine kurze Zeit – 1945 bis zur Wiederbewaffnung 1955 – war Deutschland tatsächlich ein Land ohne Rüstungsindustrie. Doch das Bekenntnis Carlo Schmids bei den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, „dass in Deutschland keine Kanonen mehr gebaut werden sollen, nicht nur für uns, sondern auch für andere nicht […]“ (Hildebrandt 1987, S.29) währte nicht lange. Anstelle einer vollständigen Entmilitarisierung kam es zu einer militärischen Bipolarisierung Deutschlands, dessen Territorium auf beiden Seiten der Grenze schließlich die höchste Waffen- und Truppenkonzentration in Friedenszeiten erlebte. „Wie ein Phönix aus der Asche konnte die deutsche Rüstungsindustrie sich so aus den Trümmern zweier verlorener Kriege erheben. Ganze zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war der Weg wieder frei für Waffen »made in Germany«.“ (Bullens 1994)

Mit dem Ende von Blockkonfrontation, Kaltem Krieg und deutscher Teilung stieg Anfang der 1990er Jahre die Hoffnung auf Friedensdividende und Abrüstung. Die Konversionsforschung erlebte einen Aufschwung, schließlich mussten die gigantischen Rüstungspotentiale umgewandelt, Militärstandorte umgewidmet und zivile Angestellte in zivile Bereiche der Wirtschaft überführt und ggf. umgeschult werden.

Trotzdem, oder gerade wegen dieser Geschichte, beschränkt sich die deutsche Konversionsforschung, wie die des in diesem Bereich renommierten Bonn International Center for Conversion (BICC), entweder fast ausschließlich auf Konversion in so genannten Post-Konflikt-Ländern, also konkret auf Fragen der Entlassung, Entwaffnung und Reintegration von ehemaligen Kombattanten (etwa Chrobok 2005), oder die Umwidmung und Säuberung der Liegenschaften der ehemaligen Kasernen und Übungsplätzen der abgezogenen Alliierten bzw. geschlossener Standorte der Nationalen Volksarmee und der Bundeswehr (etwa Wieschollek 2005). Konversion in dieser weiten Begriffsdefinition beseitigt zwar die »Altlasten« von Militarisierung, reagiert aber nur auf bereits beschlossene politische Entscheidungen. Diese müssen aber, wie der aktuelle Umbau der Bundeswehr zeigt, nicht friedenspolitisch sinnvoll und zielführend sein. Dass Aufrüstung meist in Form von Umrüstung oder Abrüstung erfolgt, davor warnte uns bereits Dieter Senghaas.

Beschränkt man sich, einem Konkursverwalter gleich, auf die Konversion ohnehin nicht mehr gebrauchter Stützpunkte, ohne weitergehende Konversionsforderungen zu stellen, verändert man nichts an der Militarisierung der deutschen Außenpolitik und nichts an der zunehmenden Exportabhängigkeit der deutschen Rüstungsbetriebe.

Worum es also gehen muss, ist – friedenspolitisch und in den Betrieben – in die Initiative zu kommen und Alternativen zur weiteren europäischen Verflechtung von Rüstungsbetrieben und der damit verbundenen Umgehung von Exportbeschränkungen aufzuzeigen. Konversion muss hier Ängste nehmen, Wagenburgen aufbrechen und neue Wege in die Zukunft weisen. Selbst wenn Konversion nicht, wie der ehemalige Direktor des BICC, Herbert Wulf, anmerkt, zu einer Friedensdividende im klassischen Sinne führt,2 so bietet sie doch die Chance, große Potentiale frei zusetzen. Hoch qualifizierte Arbeitskräfte, so auch die Vision des oben bereits erwähnten Mike Cooley, könnten, statt ihr Wissen in die Produktion von Kriegsgütern zu stecken, mittels Innovation Lösungen für gesellschaftliche Probleme und Bedürfnisse finden und würden damit nicht nur der Gesellschaft, sondern auch sich selbst einen großen Dienst erweisen.

Warum wir, warum hier, warum jetzt?

Bis vor kurzen schien der Atomausstieg in Deutschland eine Utopie zu sein. Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima/Japan im März 2011 war der Ausstieg für alle Parteien plötzlich nicht nur machbar, sondern auch wünschenswert – gestritten wird nur noch über den richtigen Zeitpunkt. Wie der Atomausstieg zeigt, lohnt es sich manchmal, den „überwertigen Realismus“3 zu überwinden und »utopische« Forderungen nach einer umfassenden Konversion mit allen Implikationen zu stellen.

Es gilt von Seiten der Intellektuellen, den Vorwurf Mike Cooleys zu entkräften, der in seiner Enttäuschung über die fehlende Unterstützung durch die Akademiker schrieb: „Diese arrogante Elite verwechselt immer noch Sprachfertigkeit mit Intelligenz. Dabei zeigt sich Intelligenz meist in ganz anderen Formen: wie man sich organisiert, wie man konkrete Probleme bewältigt, wie man eine Sache anpackt.“ (Pit Wuhrer 2007)

Die gerade stattfindende Umgestaltung der Bundeswehr bietet Ansatzpunkte, die Militarisierung der deutschen Außenpolitik zu diskutieren und zu hinterfragen. Diese Umgestaltung ist direkt mit den skizzierten Problemen in der Rüstungsindustrie verbunden.

Damit umfassendere Konversion keine Utopie bleibt, wird es nötig sein

zusammen mit den Gewerkschaften mehr Demokratie in den Betrieben zu fordern und mit Belegschaften rüstungstechnischer Betriebe in einen Dialog zu treten, um die Möglichkeiten einer umfassenderen Konversion auszuloten,

die Exportbeschränkungen für Kriegswaffen rigide anzuwenden sowie Rüstungsexporte insgesamt sukzessive zurück zu fahren und

die dominierende militärische Sicherheitsdebatte in eine nachhaltige und zivile Friedensdebatte umzuwandeln.

Die deutsche Rüstungsindustrie beschäftigt derzeit ca. 88.000 Personen, vor allem qualifizierte Facharbeiter und Ingenieure. Gleichzeitig droht dem Land ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, der jetzt selbst die konservative Bundesregierung veranlasst hat, per »Blue Card« ausländische Hochschulabsolventen für den deutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen. Natürlich lassen sich die Arbeitskräfte aus der Rüstungsindustrie nicht eins zu eins auf andere Arbeitsplätze umsetzen. Es gibt aber Konversionserfahrungen, auf die zu verweisen ist. Das Thema erneut auf die Forschungsagenda zu setzen, hat jedoch auch eine politische Wirkung: Es verdeutlicht die Machbarkeit, baut Ängste ab und eröffnet Perspektiven!

Literatur

Adorno, Theodor, W. (1971): Erziehung – wozu?, In: ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.105-119.

Arendt, Hanna (2008): Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. München: Piper, 12. Aufl.

Bullens, Hendrik (1994): Abrüstung und Konversion. Wohin treibt die deutsche Rüstungsindustrie? Wissenschaft und Frieden 1-1994, S.65-70.

Chrobok, Vera (2005): Demobilizing and Reintegrating Afghanistan’s Young Soldiers. A Review and Assessment of Program Planning and Implementation. Bonn International Center for Conversion (BICC), Paper 42.

Cooley, Mike (1980): Architect or Bee: The Human/Technology Relationship, Monroe: South End Press.

Elliot, David (1977): The Lucas Aerospace workers‘ campaign. London: Fabian Society.

Kürzung des Rüstungsetats gefährdet Zehntausende Jobs. Focus, 14.9.2010.

Grässlin, Jürgen (2011): Kriegsprofiteur EADS. Wissenschaft und Frieden 2-2011, S.19-22.

Heilig, René (2010): Zugvögel nach Indien und Pakistan. Bundesregierung besorgt das Geschäft deutscher Rüstungskonzerne in Spannungsgebieten. Neues Deutschland, 12.11.2010.

Hildebrand, Eckart (1987): Rüstungskonversion, alternative Produktion und Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland. In: Széll, György (Hrsg.): Rüstungsproduktion und Alternativproduktion. Hamburg: Argument Verlag, S.29-60.

Küchle, Hartmut (2003): Globalisierung in der Rüstungsindustrie. Formen und Auswirkungen auf den deutschen Standort und die Arbeitsplätze, Bonn International Center for Conversion, Paper 32.

Mehrens, Klaus (Hrsg.) (1985): Alternative Produktion. Köln: Bund-Verlag.

Schmid, Veronika und Matthias Bös (2010): Aufbruchsstimmung in Krisenzeiten oder hoffnungslos unzufrieden? In: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Deutsche Zustände, Folge 8. Berlin: Suhrkamp, S.107-127.

Schomacker, Klaus, Peter Wilke und Herbert Wulf (1987): Alternative Produktion statt Rüstung, Köln: Bund-Verlag.

Strukturkommission der Bundeswehr (2010): Vom Einsatz her denken. Konzentration, Flexibilität, Effizienz. Berlin, Oktober 2010.

Wieschollek, Stefan (2005): Konversion: Ein totgeborenes Kind in Wünsdorf-Waldstadt? Probleme der Umnutzung des ehemaligen Hauptquartiers der Westgruppe der Truppen zur zivilen Kleinstadt. Bonn Internationale Center for Conversion (BICC), Paper 49.

Wuhrer, Pit: Der Lucas-Plan: Sie planten die bessere Zukunft. Die Wochenzeitung, 15.2.2007; woz.ch.

Wulf, Herbert (2011): Friedensdividende. In: Hans J. Gießmann und Bernhard Rinke (Hrsg.): Handbuch Frieden. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/Springer Fachmedien; S.138-148.

Anmerkungen

1) „Die Vollendung der europäischen Integration ist deshalb [aus Gründen der Konkurrenz- und Überlebensfähigkeit, M.B.] ein »Muss«“ fordert daher Hartmut Küchle in seinem vom Bonner International Center for Conversion (BICC) herausgegebenem Paper »Globalisierung in der Rüstungsindustrie. Formen und Auswirkungen auf den deutschen Standort und die Arbeitsplätze« (Küchle 2003, S.102). EADS wird hier gerne als Vorbild im Luftfahrtsektor herangezogen, dem eventuell bald der Marinesektor folgen könnte. Spekuliert wird über einen Zusammenschluss von ThyssenKrupp und dem französischen Staatskonzern DCNS. Vgl. Wirtschaftsblatt (1.8.2011): ThyssenKrupp plant »EADS der Meere«.

2) Wulf führt unter Bezug auf Peter Lock an, dass der Rüstungswettlauf keine Investition, sondern eine Hypothek gewesen sei – und auf Hypotheken gibt es keine Dividende (Wulf 2011).

3) Der Begriff geht zurück auf Adorno (1971). „Mit diesem Begriff machte Adorno auf das Phänomen einer extrem übersteigerten Realitätsorientierung aufmerksam. Die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft verinnerlichen laut Adorno nicht nur die gesellschaftlichen Anpassungsnormen, die ihnen abverlangt werden, sie wollen sie sogar übererfüllen und übertreiben sie daher.“ (Schmid/Bös, 2010, S.108)

Markus Bayer (M.A) hat in Frankfurt und Marburg Politikwissenschaften, Soziologie und Friedens- und Konfliktforschung studiert und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen.

Deutsche Marine:

Deutsche Marine:

Strategie und Aufrüstung

von Lühr Henken

Auch in Deutschland spielen die Marine und die Kriegführung zur See eine immer wichtigere Rolle. Der nachfolgende Artikel beleuchtet die dahinter stehenden strategischen Überlegungen sowie die konkreten maritimen Rüstungsprojekte der Bundeswehr.

Piraterie, Rohstoffabhängigkeit Deutschlands und die wachsende Bedeutung des Seetransports sind Schlagworte, die die Marine in ihrem Wettbewerb mit Heer und Luftwaffe um knappe Finanzmittel nicht ruhen lassen. Marineinspekteur Axel Schimpf bezeichnet bereits „das 21. Jahrhundert mehr denn je als das maritime Jahrhundert“. (S&T 3/2011, S.40)

Die deutsche Marineführung hat schon 2008 in der »Zielvorstellung Marine 2025+« (ZVM) langfristige Überlegungen darüber angestellt, „was künftig wo mit welcher Ausprägung durch die Marine zu leisten ist“. Das Grundlagendokument gibt der deutschen Marine zwei Schwerpunkte vor: die „Expeditionary Navy“ („project“) und den „Schutz von Seewegen und Seeräumen“ Deutschlands und seiner Verbündeten („protect“).

Freier Zugang zu Rohstoffen

Die ZVM des Vizeadmirals Wolfgang Nolting prognostiziert für die Zeit bis „2025+“, „dass das Potenzial für gewaltsame Konflikte weiterhin hoch [bleibt], wobei Auseinandersetzungen mit halbstaatlichen und nichtstaatlichen Gegnern durch asymmetrische Formen der Kriegführung gekennzeichnet sein werden. In Konflikten mit Beteiligung staatlicher Akteure können jedoch auch klassische militärische Mittel zum Einsatz kommen. Eine sich absehbar verschärfende Konkurrenz um den Zugang zu Rohstoffen und anderen Ressourcen erhöht das zwischenstaatliche Konfliktpotenzial. Konventionelle reguläre Seestreitkräfte regionaler Mächte können dabei den freien und ungehinderten Welthandel als Grundlage des deutschen und europäischen Wohlstands ebenso gefährden, wie kriminelle oder terroristische Bedrohungen der maritimen Sicherheit.“ Folglich „werden Versorgungs- und Energiesicherheit ein höheres Gewicht erhalten“. (ZVM, S.1)

Bereits im »Weißbuch« der Bundeswehr von 2006 wurde das Interesse an der „Sicherheit der Energieinfrastruktur“ von der Quelle bis zum Endverbraucher formuliert. Diese Interessenlage floss ein in neue »Verteidigungspolitische Richtlinien« (VPR) vom 27. Mai 2011, das verbindliche Dokument deutscher Militärpolitik: „Zu den deutschen Sicherheitsinteressen gehört, […] einen freien und ungehinderten Welthandel sowie den freien Zugang zur Hohen See und zu natürlichen Ressourcen zu ermöglichen.“ (VPR, S.5) Mit dem Anspruch auf „freien Zugang […] zu natürlichen Ressourcen“ wird der Weg zur grundgesetzwidrigen Führung von Wirtschaftskriegen bereitet. So wittern die Marineplaner als Folge des Klimawandels „weiteres Konfliktpotenzial“ darin, dass der „Zugriff auf bisher unzugängliche Ressourcen (z.B. Nordpolarmeer)“ möglich wird. (ZVM, S.2)

Landkrieg von See

Da Deutschland „Bedrohungen und Risiken bereits dort begegnen können [muss], wo sie entstehen“, müsse die Marine zudem „in der Lage sein, dauerhaft, auch in großer Entfernung, im multinationalen Rahmen und unter Bedrohung vor fremden Küsten operieren zu können. Die Marine hat sich künftig noch stärker auf streitkräftegemeinsame Operationen auszurichten und ihre Fähigkeiten auszubauen, Kräfte an Land von See aus zu unterstützen. Die Weiterentwicklung der Marine zu einer Expeditionary Navy steht dabei im Vordergrund.“ (ZVM, S.3) Das Ansinnen der Marineplanung: Künftig sollen von Kriegsschiffen aus unter Beteiligung von Heer und Luftwaffe Landkriege führbar sein („Basis See“).

Schon 2007 hatte Marineinspekteur Nolting versucht, für den expansiven Drang auf die Weltmeere Begründungen zu liefern: „Über den möglichen Schutz ziviler Schifffahrt in gefährdeten Regionen hinaus, müssen wir die Weltmeere auch als größtes militärisches Aufmarsch- und Operationsgebiet begreifen. Nach Schätzung von Experten werden 2020 über 75 Prozent der Weltbevölkerung innerhalb eines nur 60 km breiten Küstenstreifens leben. Wir reagieren auf diesen Umstand, indem wir unsere Marine aktuell zu einer »Expeditionary Navy« weiterentwickeln. Wir müssen Fähigkeiten entwickeln, die uns künftig die Teilhabe an teilstreitkraftgemeinsamen und multinationalen Szenarien bis in entfernte Randmeerregionen ermöglichen.“ (S&T 4/2007, S.10) Ideengeber dieser aufgebauschten Behauptung über küstennahe Siedlungen war der damalige Vorsitzende der Vereinten Stabschefs der USA, Admiral Mike Mullen. Er behauptete 2005, dass mehr als 50% der Menschen in einem 30 km breiten Küstenstreifen leben würden. (Mullen 2005) Exakt diese falsche Behauptung wurde in die ZVM übernommen. Real dürfte es derzeit lediglich ein Viertel bis ein Drittel aller Menschen sein, die Küstenstreifen bewohnen.

Mädchen für alles?

„Im Sinne einer präventiven Sicherheitspolitik und Gefahrenabwehr“ seien für die Marine vor allem Einsätze auch „außerhalb der deutschen Küstengewässer erforderlich. Hierzu gehört insbesondere die Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Es können aber auch Beiträge zur Bekämpfung des Drogen- und Waffenschmuggels, der illegalen Immigration und des Menschenhandels und der Piraterie erforderlich werden.“ (ZVM, S.5) Die Marineführung strebt also eine völlige Entgrenzung des Einsatzgebietes an, wobei sie sich auch die Zuständigkeit für die Bekämpfung von Schwerkriminalität – eine polizeiliche Aufgabe – anmaßt.

Marineinspekteur Schimpf sagt, „der Seeverkehr ist und bleibt die zuverlässigste, wirtschaftlichste und – wenn wir angemessen dafür Sorge tragen – die sicherste Option für den weltweiten Warenaustausch. Die heutigen Wirtschaftsprozesse sind aber ohne sichere Seeverbindungen nicht mehr denkbar.“ (S&T 3/2011, S.40) Schimpf macht nicht nur eine Gefährdung der Seefahrt am Horn von Afrika aus, sondern auch „in anderen Gewässern wie zum Beispiel dem Golf von Guinea“. (Ebd.)

Offenbar war das Lobbying der Marine im Verteilungskampf mit den Teilstreitkräften um Ressourcen erfolgreich. Die Marine muss im Zuge der Bundeswehrreform am wenigsten Federn lassen. Während Heer und Luftwaffe bis zu 35% ihrer Soldatenzahl verlieren sollen, sind es bei der Marine lediglich 13%.

Für die Marine wurden zudem extrem kostspielige und militärisch hocheffiziente schwimmende Waffensysteme aufgelegt.

Fregatten

Der Bundestag hat vier neue Fregatten des Typs F125 in Auftrag gegeben, die mit je zwei Bordhubschraubern ausgerüstet werden sollen, so dass sie sich vor allem zur Piratenbekämpfung eignen. Diese 150 m langen Kriegsschiffe sind mit einer Einsatzverdrängung von 7.200 Tonnen die größte Fregattenklasse der Welt und aufgrund ihrer Größe und Rolle eigentlich im Bereich der Zerstörer anzusiedeln. Komplett neu an diesen Fregatten ist ihr Antriebssystem, das einen ununterbrochenen Aufenthalt von bis zu 24 Monaten (bisher bis zu neun Monaten) auf See ermöglicht. Auf den vier Kriegsschiffen werden sich acht Mannschaften im Rhythmus von vier Monaten ablösen. Die F125 ersetzen die acht Fregatten der Klasse F122, die mit einer Verdrängung von knapp 4.000 Tonnen wesentlich kleiner sind. Die F125 haben Tarnkappeneigenschaften und sind auf Multifunktionalität ausgelegt. So werden außenbords vier Speed-Boote angebracht, mit denen bis zu 50 Spezialkräfte (Kampfschwimmer und Boarding-Teams des »Seebataillons«) von Bord gelassen werden können, um an Land zu gehen oder Schiffe zu entern. Über eine weitere Funktion der F125 schrieb Vizeadmiral Nolting: „Eine Stärke liegt dabei in der Fähigkeit, Operationen in einem Einsatzland mit Waffenwirkung von See zu unterstützen.“ (S&T 4/2007, S.14) Gemeint ist der seeseitige Beschuss von Landzielen. Als Bewaffnung wurde speziell dafür ein Geschütz mit einer Reichweite von bis zu 23 km ausgewählt, dessen Reichweite auf bis 100 km ausbaufähig ist (Vulcano-Munition). Darüber hinaus können von den F125 aus Landoperationen von Heer und Luftwaffe geführt werden. Die vier Fregatten sollen von 2016 bis 2018 ausgeliefert werden. Ihr Stückpreis liegt bei 707 Mio. Euro.

Korvetten

Als weitere Plattform für die Unterstützung von Landkriegen wurden für die deutsche Marine fünf Korvetten hergestellt. Über sie ist im »Weißbuch« der Bundeswehr aus dem Jahr 2006 zu lesen: „Mit den Korvetten K130 verbessert die Marine künftig ihre Durchsetzungs- und Durchhaltefähigkeit. Diese Eingreifkräfte der Marine werden zur präzisen Bekämpfung von Landzielen befähigt sein und damit streitkräftegemeinsame Operationen von See unterstützen.“ (Weißbuch, S.113). Die Kriegsschiffe mit geringem Tiefgang haben ebenfalls Tarnkappeneigenschaften und sind jeweils mit vier Marschflugkörpern bestückt, die aus 250 km Entfernung (S&T 11/2011, S.57) auch Ziele an Land treffen können. Sie fliegen in einem Meter Höhe über der Wasseroberfläche, sind extrem störsicher, können in Salven verschossen werden und ermöglichen damit der deutschen Marine sogar Überraschungsangriffe. Konstruktionsfehler verzögerten ihre Indienststellungen, so dass damit erst 2014 zu rechnen ist. Kostenpunkt: mindestens 2,2 Mrd. Euro. Das Nachfolgeprojekt Korvette K131 ist zugunsten eines größeren Projekts aufgegeben worden.

Mehrzweckkampfschiffe

In Planung ist nunmehr eine komplett neue Kampfschiffklasse: das Mehrzweckkampfschiff 180 (MKS180). Es soll multifunktionale Aufgaben übernehmen und weltweit einsatzfähig sein. Beabsichtigt ist die Herstellung eines nahezu universell einsatzfähigen »Arbeitspferdes« („Schweizer Armeemesser“ für die Marine), das je nach Auftrag – das kann u.a. Verbandsführung, Minenjagd oder die U-Boot-Jagdaufklärung sein – modular ausgerüstet wird. Das MKS180 soll einen Hubschrauber und zwei senkrecht startende Flugdrohnen sowie zwei Speed-Boote für Spezialkräfte erhalten. Schiffsantrieb und Einsatzprofil sollen dem der Fregatte F125 ähneln. Größenmäßig wird es zwischen Fregatte und Korvette angesiedelt. Die Marine gibt den Bedarf mit sechs MKS an. Derzeit wird von einer Indienststellung für 2020 ausgegangen – vorausgesetzt, das Geld wird bewilligt. (S&T 12/2011, S.58ff.)

Einsatzgruppenversorger

Die deutsche Marine verfügt über zwei Einsatzgruppenversorger (EGV), die mit 20.000 t die größten deutschen Marineschiffe nach 1945 sind. Sie liefern der Einsatzgruppe Proviant, Betriebsstoff und Munition. Ihr Einsatz erhöht die landungebundene Stehzeit der Einsatzgruppe von 21 auf 45 Tage, so dass Dauer und Reichweite der Einsätze buchstäblich weltweit ausgedehnt werden können. Im September 2012 soll der dritte EGV an die Bundeswehr übergeben werden.

U-Boote

Im Dienst der deutschen Marine stehen die kampfstärksten konventionell angetriebenen U-Boote der Welt. Von Außenluft unabhängige Brennstoffzellen sorgen für den Antrieb, wodurch etwa drei Wochen lange ununterbrochene Tauchfahrten um den halben Globus möglich sind. Die U-Boote sind leiser als US-amerikanische Atom-U-Boote und von Marinen außerhalb der NATO bisher nicht zu orten. Mit ihren 50 km weit reichenden Schwergewichtstorpedos SEEHECHT stellen sie eine strategische Waffe dar. Die U-Boote sind auch im Flachwasser manövrierfähig und können einen Küstenstreifen von 800 km Länge kontrollieren. Sie können nicht nur Überwasserschiffe versenken, sondern auch U-Boote. Zurzeit verfügt die deutsche Marine über vier dieser U-212. Zwei weitere sind im Bau (zweites Los, Kosten 929 Mio. Euro) und sollen bis Mitte 2014 in Dienst gestellt werden.

Nicht nur der Antrieb dieser U-Boote ist revolutionär, sondern auch ihre Bewaffnung ist einzigartig. Ein für das Heer in den 1990er Jahren entwickelter Flugkörper (POLYPHEM) wurde für den Unterwasserstart adaptiert. Mit der deutschen Entwicklung IDAS (Interactive Defence & Attack System for Submarines) lassen sich U-Jagd-Hubschrauber, aber auch Schiffe und insbesondere Ziele an Land zerstören. IDAS wickelt im Flug ein Glasfaserkabel ab, über das der Schütze an Bord des U-Bootes mittels der Infrarot-Kamera in der Spitze des Flugkörpers sowohl ein Echtzeitbild vom überflogenen Gebiet erhält als auch den Flugkörper – abweichend vom einprogrammierten Pfad – ins Ziel steuern kann. Mit einer Zielabweichung von unter 50 cm lassen sich mit Hilfe des 15 kg-Sprengkopfes noch Ziele in Entfernungen von bis zu 100 km zerstören. Die zwei U-Boote des zweiten Loses können mit je vier IDAS bestückt werden – vorbehaltlich ihrer Beschaffung. Diese weltweit einzigartige Bewaffnung eröffnet den U-Booten völlig neue Möglichkeiten für Offensiven an Land. Da diese beiden U-Boote an die »Vernetzte Operationsführung« angebunden werden sollen, erhalten sie Lagebilder vom Land in Echtzeit. Die Machtentfaltung kann sich somit – für Gegner unentdeckbar – auf sämtliche Küstensiedlungen insbesondere Afrikas, des Mittleren Ostens und Asiens ausdehnen.

Wunschliste

Auf der Wunschliste der Militärführung stehen außerdem zwei Schiffe für die „gesicherte militärische Seeverlegefähigkeit“. Damit sind Truppen- und Materialtransporter („Joint Support Ships“) mit 15.-20.000 t Verdrängung gemeint. „Dieses Schiff ist ein entscheidender Schlüssel zur Nutzung der See als Basis für streitkräftegemeinsame Einsätze von See an Land“, sagt Marineinspekteur Schimpf (2011) und meint mit streitkräftegemeinsam das Zusammenwirken von Marine, Heer und Luftwaffe. Die Finanzierung dieses Marinewunsches ist allerdings noch nicht gesichert.

Kampf um Hegemonie

Das Argument der Marineführung für ihre „Konzentration auf klassische Seekriegsmittel und besondere Fähigkeiten der Küstenkriegführung“ (ZVM, S.18) beruht auf einem Vergleich der deutschen Marine mit jenen anderer europäischer Länder. „Die Grobanalyse der wesentlichen Unterschiede zu den Marinen von Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien ergab, dass deren Stärken im Wesentlichen aus ihren Flugzeugträgern, amphibischen Fähigkeiten und der Führungsfähigkeit auf MCC-Ebene in See bestehen“ (MCC = Maritime Component Command), während „die Stärken der deutschen Marine vor allem in ihren Fähigkeiten zu Operationen in Küstenregionen, der Durchhaltefähigkeit im Bereich herkömmlicher Seekriegsmittel (Escorts, U-Boote) sowie in der Qualität der Ausbildung und des Materials“ lägen. (ZVM, S.16f). Um gemeinsam operieren zu können, haben Großbritannien und Frankreich den Vorschlag unterbreitet, dass ihre beiden Marinen die Flugzeugträger stellen und Deutschland die Fregatten, U-Boote und Versorger. Die deutsche Marineführung lehnt das strikt ab. Denn dann hätten jene Länder die Führung inne, die die Flugzeugträger stellten. Das „kann nicht in deutschem Interesse sein, sofern Deutschland damit von der gleichberechtigten Führung ausgeschlossen ist“. (ZVM, S.17) Deshalb plädiert die deutsche Marineführung für „verbesserte Führungsfähigkeiten“. Und siehe da: Auf den neuen Fregatten F125 soll zusätzlich eine Operationszentrale zur Verfügung gestellt werden, die es einem eingeschifften Einsatzstab ermöglicht, Führungsaufgaben innerhalb eines internationalen Verbandes wahrzunehmen („Basis See“). Die deutsche Marine möchte also auch selbst den Flugzeugträgerverband führen können. Man beabsichtigt offensichtlich Größeres.

Die derzeitigen Einsätze der deutschen Marine im Mittelmeer, im Indischen Ozean und in den ständigen NATO-Verbänden sind nur Vorübungen für das, was folgen soll. Die Marine verfügt nunmehr über ein auf weltweites Agieren ausgerichtetes Konzept. Mittels sehr schlagkräftiger Offensivmittel soll militärisch – zwar im internationalen Verbund, aber durchaus in vorderster Front – auf fremdes Gebiet eingewirkt werden können. Im Jahr 2020 werden der deutschen Marine hierfür nach gegenwärtigen Planungen u.a. elf Fregatten (mit Bordhubschraubern), fünf Korvetten, drei Einsatzgruppenversorger und sechs U-Boote der Klasse 212 zur Verfügung stehen.

Literatur

Inspekteur der Marine (2008): Zielvorstellung Marine 2025+. Nur für den Dienstgebrauch, datiert 6.11.2008, 40 S.

Interview mit Vizeadmiral Axel Schimpf, Inspekteur der Marine (2011); hardthoehenkurier.de.

Remarks as delivered by Adm. Mike Mullen Naval War College, Newport, RI, 31 August 2005; navy.mil/navydata/cno/speeches/mullen050831.txt.

Strategie & Technik (S&T), erscheint monatlich im Report Verlag.

Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Bonn, 30. Oktober 2006.

Lühr Henken, Berlin, ist einer der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag und im Beirat der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

Kriegsprofiteur EADS

Kriegsprofiteur EADS

von Jürgen Grässlin

Bei kaum einem rüstungsproduzierenden Unternehmen klaffen Anspruch und Wirklichkeit weiter auseinander als bei EADS. Während die Konzernführung in der Richtlinie »Integrität & Transparenz»1 ethische Verantwortung zur Grundlage ihres Handelns erklärt, werden selbst Diktatoren und Scheindemokraten hochgerüstet. Zu einem folgenschweren Beispiel einer rein profitorientierten Geschäftspolitik zählen die Rüstungstransfers an Libyen, wo beim Krieg zwischen dem diktatorischen Regime Gaddafi und der westlich dominierten »Allianz der Willigen« auf beiden Seiten EADS-Waffen zum Einsatz kommen. Krieg ist gut fürs Geschäft – bei EADS werden die neuen Bilanzzahlen gefeiert.

Die European Aeronautic Defence and Space Company N.V. (EADS) mit Verwaltungssitz im niederländischen Leiden wurde am 10. Juli 2000 gegründet2 und avancierte seitdem zum führenden Luft- und Raumfahrtkonzern und zum zweitgrößten Rüstungskonzern in Europa. Die deutsche Daimler AG als größter Einzelanteilseigner sowie ein Zusammenschluss aus der französischen Staatsholding SOGEADE, der Waffenschmiede Lagardère und dem französischen Staat halten je 22,46% der Anteile. Weiterer Großaktionär ist mit 5,47% die spanische Staatsholding SEPI.3

In mehr als 45 Staaten arbeiten an den gut 70 Entwicklungs- und Produktionsstandorten und in 35 Außenbüros knapp 120.000 Mitarbeiter (Stand: 31.12.2009).4 EADS umfasst die Unternehmensbereiche Airbus, Astrium, Cassidian und Eurocopter. »Alles, was fliegt«, so könnte die Produktpalette kurz und knapp gekennzeichnet werden. Dabei reicht das Spektrum der Waffensysteme von Kampf- und Transportflugzeugen über Militärhelikopter bis hin zu Atomwaffenträgersystemen und Weltraumraketen. Ergänzt wird die militärische Produktpalette durch Drohnen, die schon heute als Schlüsseltechnologie bei der Kriegsführung gelten.

In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts konnte EADS ihre Rüstungstransfers von 12,6 (2006) auf 13,1 Mrd. US-Dollar (2007) und im Folgejahr auf den exorbitant hohen Rekordwert von 17,9 Mrd. US-Dollar (2008) steigern.5 Damit wurde die selbst gesetzte Zielvorgabe von Verkaufszuwächsen „insbesondere im Verteidigungsgeschäft“ mehr als erfüllt. Zufrieden bilanzierte der damalige EADS-Vorsitzende Rüdiger Grube, mittlerweile Vorsitzender der Deutschen Bahn AG, im Geschäftsjahr 2008 „sehr positive“ Ergebnisse. Gerade „in Krisenzeiten besteht in unserer sich wandelnden Welt stetiger Bedarf an Flugzeugen, Verteidigungs- und Sicherheitssystemen“. Selbstzufrieden meldete die EADS-Führung „volle Auftragsbücher“ sowie eine „starke Nachfrage nach Airbus-Tankflugzeugen“. An diesem Erfolg sind alle Unternehmensbereiche beteiligt.

Airbus verfügt in seinen »Flugzeugfamilien« über eine breite Palette ziviler und militärischer Flugzeuge. Airbus Military fertigt die taktischen Transportflieger C212, CN235 und C295 sowie das militärische Tankflugzeug A330 Multiple Role Tanker Transport (MRTT) und entwickelt den kommenden europäischen Truppen- und Waffentransporter A400M.

Eurocopter gilt als weltweit führender Hersteller ziviler und militärischer Hubschrauber mit einem Marktanteil von mehr als 50%. Zu den zentralen Programmen zählen der Mehrzweck-Militärhubschrauber NH90 und der Kampf- und Unterstützungshubschrauber Tiger. Eurocopter verfüge „über ein stark wachsendes Verteidigungsgeschäft“, freut sich EADS. „Im Einsatz für die französischen Streitkräfte“, so die Kriegswerbung im Geschäftsbericht, „hat der Tiger in Afghanistan beispiellose Zuverlässigkeit und eine hohe Einsatzquote bewiesen“.6

Astrium entwickelte sich zum weltweit drittgrößten Raumfahrtkonzern. Die EADS-Unternehmenstochter ist „Marktführer für Satelliten, Trägerraketen und Dienstleistungen der Raumfahrt“7 und bietet ihre Dienste auch für die militärische Weltraumnutzung an. Bereits 2008 stellte EADS erfreut fest, dass „die neue Generation der ballistischen M51-Rakete ihren letzten Testflug“ absolviert habe.8 Die M51 ist ein neues Trägersystem für die französischen Nuklearsprengköpfe.

Cassidian (vormals »Verteidigung und Sicherheit«) bietet ebenfalls eine breite Produktpalette: vom Kampfflugzeug Eurofighter – dem teuersten Rüstungsprojekt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – über Lenkflugkörpersysteme (z.B. Panzerabwehrraketen) und Verteidigungselektronik bis hin zu unbemannten Luftfahrzeugen, den so genannten Drohnen bzw. UAVs (Unmanned Aerial Vehicles).

Wie Phönix aus der Asche

Im Jahr 2009 musste EADS einen Einbruch bei den Waffenverkäufen hinnehmen. Die »Arms Sales« des Unternehmens sanken laut Berechnung des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI von 17,9 Mrd. US-Dollar (2008) auf 15,9 Mrd. US-Dollar (2009).

Bilanz belastend wirkte sich das Desaster des neuen Militärtransportflugzeuges A400M von Airbus Military aus. Der A400M soll durch erweiterte Ladekapazität, Reichweite und Geschwindigkeit die neu definierten Ansprüche europäischer NATO-Streitkräfte bei außereuropäischen Krisen- und Kriegseinsätzen erfüllen. Zu den ersten Kunden werden neben Deutschland auch Belgien, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg, Spanien sowie die Türkei zählen. Sie allein wollen 180 Maschinen ordern. Mittlerweile ist auch Malaysia als Kunde vier weiterer Militärtransporter hinzugekommen – dort, wie in der Türkei, ist die Menschenrechtslage desaströs. Die Kostenexplosion um mehrere Milliarden Euro ließ Südafrika vom Kauf der ursprünglich geplanten acht A400M zurücktreten. Deutschland hat seine Bestellungen aus monetären Gründen von 73 auf 53 A400M-Transporter reduziert.

Dennoch macht sich – eben auch dank bestens florierender Waffengeschäfte – wieder Euphorie bei EADS breit. Auf der Bilanzpressekonferenz im März 2011 präsentierten Konzernchef Louis Gallois und Finanzchef Hans Peter Ring die Zahlen des Vorjahres. Diese können sich aus Konzernsicht sehen lassen: Die Airbus Division verbesserte den EBIT (das ist der Gewinn vor Zinsen und Steuern) nach einem Verlust von 1,371 Mrd. Euro (2009) auf einen Gewinn von 305 Mio. Euro (2010). Während das Zivilgeschäft bei Airbus Commercial einen Rückgang um 95 Mio. Euro verbuchen musste, trug das Waffengeschäft bei Airbus Military entscheidend zur Verbesserung der Finanzsituation bei: Hatte die Militärsparte 2009 noch einen Verlust beim EBIT von immerhin 1,754 Mrd. Euro verzeichnet, so lag dieser 2010 mit 21 Mio. Euro wieder im Plus.9

Die Erwartungen der EADS-Führung für das laufende Geschäftsjahr sind formuliert: Der EADS-Umsatz soll 2011 „über dem Niveau von 2010 liegen“, der EBIT mindestens auf dem Niveau von 2010. Im Bereich von Zivilflugzeugen „dürfte die Zahl der Brutto-Bestellungen die Auslieferungen übersteigen“, die bei prognostizierten 520 bis 530 Flugzeugen liegt. „Dank höherer Volumina, besserer Preise und Optimierungen“ beim Programm des Großraumfliegers A380 boomt die zivile Luftfahrt. Für 2012 erwartet das Unternehmen „eine erhebliche Verbesserung des EBIT“. 10

Während der zivile Sektor zukünftig expandieren und die Profite damit wachsen werden, sieht die EADS-Führung bei der Militärsparte Cassidian „einen weniger vorteilhaften Geschäfts-Mix“.11 Eine der entscheidenden Fragen wird sein, ob, wann und in welchem Umfang die Serienfertigung des Militärtransporters A400M anläuft und wie hoch die Abverkäufe dann sind.

Kurz vor Jahresende 2010 mühte sich Karl-Theodor zu Guttenberg, CSU, das angeschlagene A400M-Programm zu retten. Vertraglich soll der damalige Verteidigungsminister mehrere kostenträchtige Zugeständnisse festgeschrieben haben. So soll die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) EADS »ein bedingt rückzahlbares« Darlehen in Höhe von 500 Mio. Euro eingeräumt haben. Dieses durfte EADS als »Eigenkapital erhöhenden Zuschuss« verbuchen. Der Bundesförderung damit nicht genug: Ohne Gegenleistung soll sich der Bund als A400M-Käufer zum Verzicht auf eine bessere Ausrüstung im Volumen von 667 Mio. Euro bereit erklärt haben – zum Nutzen der EADS und zum Schaden der Steuerzahler.12

Und noch ein Problemfall belastet die EADS-Militärsparte: Durch einen gescheiterten Deal in den USA mit A330 MRTT-Tankflugzeugen ist dem Konzern ein äußerst lukrativer Milliardenauftrag entgangen. Im Februar 2011 vergab das Pentagon den 35-Mrd.-Dollar-Auftrag zur Beschaffung von 179 Tankflugzeugen an den US-amerikanischen EADS-Konkurrenten Boeing.

Der Anspruch: ethisch handeln, Export- kontrollrisiken eindämmen

Die EADS-Führung will „Compliance sicherstellen durch ethisches Geschäftsgebaren in allen Bereichen“. Diese positive Zielvorgabe ist festgeschrieben in der »Vision 2020«, dem auf Initiative des Konzernchefs Louis Gallois formulierten „strategischen Fahrplan“ für dieses Jahrzehnt. Die Vorstellung der »Vision 2020« vor dem Vorstand erfolgte bereits im Januar 2008. Seither entwickelte sie sich aus Sicht der EADS „zu einem konzernweiten Aktionsplan weiter, der in allen Geschäftsbereichen umgesetzt wird“.13

Wohlige Worte, wunderbar untermalt von dem Verhaltenskodex »Integrität und Transparenz«. Gemäß dessen Vorgaben trage die Luft- und Raumfahrtindustrie „eine besondere Verantwortung“. Dementsprechend verpflichtete sich EADS „zu ethischem Verhalten und Transparenz“. Beim Export „wurde die Compliance-Organisation neu geordnet, um Exportkontrollrisiken einzudämmen“. Das Export Compliance Council, das die Verantwortung für die Überwachung aller exportrelevanten Aktivitäten trägt, hat seine Tätigkeit im Jahr 2009 aufgenommen. Darüber hinaus nahm EADS „an mehreren Initiativen zur Erarbeitung weltweit geltender Standards teil“.14

Das klingt zwar gut, doch bei kaum einem anderen rüstungsproduzierenden Unternehmen dürften Anspruch und Wirklichkeit weiter auseinander klaffen als bei EADS. Während die Aktionärinnen und Aktionäre und die kritische Öffentlichkeit bei den Hauptversammlungen in Amsterdam mit Ethik-Richtlinien ruhig gestellt werden, beliefert EADS neben der Bundeswehr und kriegsführenden Staaten wie den USA, Großbritannien oder Frankreich auch Diktatoren und Scheindemokraten in aller Welt mit Waffen und Rüstungsgütern. Pars pro toto sei im Folgenden ein aktuelles Beispiel genannt.

Der Krieg gegen Gaddafi ist gut fürs Geschäft

Dank seiner reichhaltigen Ölreserven ist Libyen in der Lage, Waffenimporte zeitnah zu zahlen. Kein Wunder also, dass das diktatorische Regime von Muammar al Gaddafi zu den Kunden deutscher Rüstungskonzerne zählt. EADS unterhält in der libyschen Hauptstadt Tripolis eigens eine Repräsentanz.

Seit Aufhebung des Waffenembargos 2004 wurden militärische Geländewagen, Störsender, Hubschrauber und Panzerabwehrraketen vom Typ MILAN 3 geliefert. Gefertigt wurden die Missile d’Infanterie Léger ANti-char (MILAN) bei MBDA, einer Beteiligungsgesellschaft, an der EADS 37,5% der Anteile hält. MBDA bewirbt die tragbare Anti-Panzerrakete MILAN 3 als eine besonders präzis schießende Waffe, gekennzeichnet durch ein „verbessertes Tötungspotenzial“.15

Die libysche Bestellung von MILAN 3 geht auf die Jahre 2006 und 2007 zurück. Im August 2007 bestätigte das Unternehmen, dass Verhandlungen für einen Vertrag über die Lieferung von MILAN-Systemen durch MBDA „nach 18-monatiger Diskussions- und Verhandlungsdauer abgeschlossen“ worden seien.16

Die Abschussanlagen dieser Panzerabwehrraketen wurden von der ebenfalls zum EADS-Konzern gehörenden Firma LFK (Lenkflugkörper) im bayerischen Schrobenhausen gefertigt.17 Die Waffendeals erfolgten 2009 und 2010 über Frankreich, das die MILAN 3 auch bei den eigenen Streitkräften eingeführt hat.

Moralische Hemmungen bei der EADS-Führung? Ethische Grundsätze für Waffenlieferungen an Diktatoren? Augenscheinlich Fehlanzeige. Seit Jahrzehnten zählte Libyen zu den Staaten, in denen Menschen- und Bürgerrechte massiv verletzt werden: „Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit blieben stark eingeschränkt“, bilanzierte die Menschenrechtsorganisation amnesty international für das MILAN-Lieferjahr 2009. Menschen, die verdächtigt wurden, „sich illegal im Land aufzuhalten, wurden festgenommen und misshandelt“. Das libysche Regime ließ auch 2009 die Todesstrafe vollstrecken.18 Viele Regierungskritiker bezahlten ihre öffentlich geäußerten Forderungen nach demokratischer Mitbestimmung mit ihrem Leben. Das Regime Gaddafi überwies für die MILAN-Raketen rund 168 Mio. Euro an EADS.19

Als britische Luftwaffe und Alliierte im März 2011 Angriffe gegen Flugbasen und Stellungen der libyschen Armee flogen, waren wiederum EADS-Waffen im Einsatz: Eurofighter- und Tornado-Kampfflugzeuge. Krieg ist bekanntlich gut fürs Geschäft…

Vom Waffenhandel zu ethisch verantwortbarer Produktion?

Seit nunmehr zwei Jahrzehnten fordern die Kritischen AktionärInnen Daimler (KAD) gemeinsam mit der DFG-VK, Ohne Rüstung Leben, pax christi, dem RüstungsInformationsBüro und weiteren Friedensorganisationen bei den Daimler-Hauptversammlungen mit Aktionen, Gegenanträgen und Redebeiträgen den Ausstieg Daimlers aus der Rüstungsproduktion. Moralische Erwägungen spielen – wenn überhaupt – bei den Hauptversammlungen der EADS N.V. und der Daimler AG kaum eine Rolle. Was zählt ist nur der Profit.

Beachtlich erscheint allerdings eines: Anfang 2011 erwog Daimler-Chef Dieter Zetsche öffentlich den Teilverkauf weiterer EADS-Anteile, unterstützt vom Vorsitzenden des Daimler-Betriebsrats, Erich Klemm. Der erwogene Verkauf von 7,5% der rund 22,5% Aktienanteile würde rund 2,5 Mrd. Euro in die Konzernkasse des Auto- und Rüstungsriesen Daimler spülen.20 In der deutschen Konzernzentrale sorgten Zetsches Gedankenspiele für massive Verunsicherung. In Ottobrunn bei München fürchteten EADS-Manager, dass ihr Hauptquartier „ein schnelles Opfer“ werden könnte und die französische Seite die Kompetenzen in das bislang gleichberechtigte, fortan womöglich alleinige Headquarter verlagern würde. Zudem fürchtet die deutsche Seite durch den Verkauf von Aktienanteilen, zum Beispiel an einen arabischen Staatsfonds, eine massive Störung des im Vertragswerk geradezu minutiös festgelegten deutsch-französischen Gleichgewichts.21

Realiter würde der Verkauf von Daimler-Anteilen an EADS an einen anderen Rüstungsprotegé keinen entscheidenden Beitrag zur eigentlichen Problemlösung darstellen. Wer aus der verfehlten Rüstungsproduktion und den menschenverachtenden Rüstungsexporten aussteigen will, der muss Rüstungskonversion – die Umstellung auf eine nachhaltige Fertigung verantwortbarer Zivilprodukte – anstreben und die Waffenfertigung einstellen. Was revolutionär klingt, ließe sich angesichts der hervorragenden Auftragslage im Zivilbereich bei EADS vergleichsweise vorbildlich umsetzen, den entsprechendem Willen der EADS-Geschäftsführung vorausgesetzt.

Die Zukunftsperspektive der EADS erscheint bei einem Auftragsbestand im Wert von 448 Mrd. Euro positiv. Doch während die zivile Luftfahrt eine vergleichsweise sichere Auftragslage verzeichnet, ist diese im Militärbereich äußerst vakant. Angesichts prognostizierter sinkender Verteidigungsetats der USA und weiterer Schüsselstaaten ist mit Stornierungen und Auftragseinbußen zu rechnen.

Militärische Großprojekte der EADS, allen voran der Eurofighter, laufen in den kommenden Jahren aus. Die Zeichen der Zeit stehen auf zukunftsgerichteten Wandel. Dabei könnte den hoch qualifizierten Ingenieuren des Luft- und Raumfahrtriesen das eigene Know-how durchaus zugute kommen, wie das folgende Beispiel nachdrücklich belegt: Gemäß einer Prognose der International Energy Agency wird sich die weltweit installierte Windkraftleistung von 185 Megawatt (2010) auf 573 Megawatt (2030) mehr als verdreifachen. Passend dazu verkündete EADS im Dezember 2010, das EADS-Tochterunternehmen Astrium solle zu einem führenden Fabrikanten von Rotorblättern für Windkraftanlagen aufgebaut werden: „Wir wollen die Nummer eins in Frankreich werden und, warum nicht, auch die Nummer eins in Europa“, so die Astrium-Managerin Valérie Cazes im Gespräch mit der Financial Times Deutschland. „Wir denken auch an Exporte, und natürlich gehört da auch Deutschland dazu.“

Damit tritt EADS in Konkurrenz zum dänischen Markführer LM Glasfiber. Dessen Produktionszentrum in Deutschland spricht für sich: Am Standort des vormaligen EADS/Airbus-Werks in Lemwerder werden heute Rotorblätter für Windkraftanlagen gefertigt. Besser könnte eine sinnvolle Entwicklung nicht symbolisiert werden.22

Websites/Links

Informationen über Daimler/EADS siehe www.kritischeaktionaere.de, www.wir-kaufen-keinen-mercedes.de, www.rib-ev.de und www.juergengraesslin.com.

Anmerkungen

1) Alle in diesem Artikel erwähnten EADS-Dokumente bzw. Sites können von der EADS-Website www.eads.com geladen werden. EADS: Integrität & Transparenz. 18. Juni 2010; deutsche Übersetzung „zur Information“ des englischen EADS-Dokuments »Ethics and Compliance«.

2) EADS entstand durch Fusion der deutschen DASA, der französischen Aérospatiale-Matra und der spanischen CASA.

3) EADS: Annual Results 2010. Presentation; 9. März 2011, S.28.

4) EADS: Welten verbinden. Das Unternehmen im Jahr 2009. S. XVI-XVII. Die Niederlassungen sind auf der EADS-Website unter »Unsere Standorte« aufgelistet.

5) Stockholm Peace Research Institute: SIPRI Yearbook 2008, 2009 und 2010.

6) EADS: Welten verbinden. op.cit., S. IV und XI.

7) EADS-Website »Unser Unternehmen«, dort: »Astrium«; Motto: „All the space you need“.

8) EADS: Wir haben, was zählt. Das Unternehmen im Jahr 2008. S.49

9) EADS Annual Results 2010. op.cit., S.14.

10) EADS Ausblick 2011. 9.3.2011.

11) Ibid.

12) DER SPIEGEL 49/2010, S.13.

13) EADS-Website »Investor Relations«, dort «Finanzzahlen und Ausblick«.

14) EADS: Welten verbinden. op.cit., S.60 f.

15) ZEIT ONLINE vom 17.03.2011.

16) EADS: EADS präzisiert Stand der Diskussion mit Libyen. München, 03.08.2007.

17) ZEIT ONLINE vom 17.03.2011.

18) AMNESTY INTERNATIONAL REPORT 2010, Libyen, S.287 f.

19) SIPRI Arms Transfers Database, Stand März 2011, und Jane’s Infantry Weapons 2011-2012, S.473 f.

20) Stuttgarter Nachrichten vom 18.02.2011

21) DIE ZEIT vom 17.03.2011, S.33.

22) Financial Times Deutschland vom 23.12.2010, S.3.

Jürgen Grässlin ist Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Sprecher der Kritischen AktionärInnen Daimler (KAD) und Vorsitzender des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.). Er verfasste eine Vielzahl kritischer Sachbücher über die Rüstungs-, Militär- und Wirtschaftspolitik.

Rüstungsgeschäfte und Korruption

Rüstungsgeschäfte und Korruption

von Tobias Bock und Anne-Christine Wegener

Sicherheits- und Verteidigungspolitik gehören zu den korruptionsanfälligsten Sektoren überhaupt. Die in diesem Bereich omnipräsente Korruption ist eine beständige Geißel von Entwicklung und Demokratisierung. Sie verschwendet knappe Ressourcen und reduziert das öffentliche Vertrauen, welches die Bürger der Regierung, den Streitkräften sowie der Polizei entgegenbringen. Nachhaltige Verbesserungen sind nur dann zu erwarten, wenn mehr Staaten und internationale Organisationen robuste Anti-Korruptionsmechanismen einführen und umsetzen, die Rüstungsindustrie sich in internen Compliance-Programmen klar und deutlich zu korruptionsfreien Geschäftsgebaren und -strategien bekennt und die Zivilgesellschaft in weitaus größerem Maße als im Moment die Möglichkeit erhält, mittels erhöhter Transparenz ihrer demokratischen Kontrollfunktion gerecht zu werden.

Sir Dick Evans ließ im vergangenen Jahr folgendes verlauten: „Ich habe den Großteil meiner Karriere in der Luftfahrt- und Verteidigungsindustrie zugebracht und weiß deshalb eine Menge über Korruption. Ich bin bei diesem Thema vermutlich kompetenter als viele andere.“1, Dick Evans ist ehemaliger Vorstandsvorsitzender von BAE Systems, einem britischen Rüstungsunternehmen und dem zweitgrößten Rüstungshersteller der Welt. Transparency International definiert Korruption als den „Missbrauch von anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil“. Dies beinhaltet sowohl „Bestechung und Bestechlichkeit in der öffentlichen Verwaltung, bei der Vorbereitung von Gesetzen und Regulierungen oder beim Einfluss auf politische Entscheidungen“ als auch „Korruption zwischen Firmen (»privat-zu-privat«) und Geldwäsche“.2

Insbesondere Rüstungstransfers unterliegen oftmals einem Höchstmaß an kommerzieller und nationaler Geheimhaltung, was zu einem erhöhten Korruptionsrisiko führt. Korruption hat zweierlei negative Auswirkungen auf Rüstungsgeschäfte: Einerseits verteuert sie die Kosten für legale Rüstungsgüter, die Staaten zur (legitimen) Wahrung ihrer Interessen erwerben.3 Die Verschwendung von staatlichen Geldern für überteuerte Rüstungsgüter läuft Artikel 26 der VN-Charta diametral zuwider, demgemäß „die Herstellung und Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit so zu fördern“ sei, „dass von den menschlichen und wirtschaftlichen Hilfsquellen der Welt möglichst wenig für Rüstungszwecke abgezweigt wird.“ Andererseits erschwert Korruption Staaten den sorgfältigen Umgang mit den in ihrem Besitz befindlichen Rüstungsgütern, die nur den rechtmäßigen Endnutzern zur Verfügung stehen dürfen, aber oftmals in die Hände von organisierter Kriminalität oder terroristischen Organisationen gelangen. Die VN-Konvention gegen Korruption ist zwar als internationales Instrument rechtlich bindend (wenn sie, was in Deutschland noch aussteht, auch ratifiziert worden ist) und verlangt, dass Staaten rechtliche, institutionelle und praktische Anti-Korruptionsmechanismen einführen. Sie befasst sich aber nicht gezielt mit Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Ausmaß und Konsequenzen von Rüstungskorruption

Neben der Verschwendung von öffentlichen Geldern hat Korruption auch schwerwiegende Konsequenzen für den Wettbewerb im Rüstungssektor. Eine Erhebung von Control Risks, einer unabhängigen Beratungsfirma für Sicherheitsrisiken, aus dem Jahr 2006 ergab, dass ungefähr ein Drittel aller Rüstungsunternehmen angaben, im Vorjahr einen Auftrag nicht bekommen zu haben, weil ein Mitbewerber sich korrupter Mittel bediente.4 Gemäß eines Berichts des US-amerikanischen Wirtschaftsministeriums kamen 50 Prozent der Korruptionsvorwürfe von 1994 bis 1999 aus dem Sicherheits- und Verteidigungssektor, obwohl dieser weniger als ein Prozent des Welthandels ausmachte.5 Schätzungen zufolge wurden in den 1990er Jahren Bestechungsgelder im Wert von 15 Prozent der Gesamtausgaben im Rüstungsbereich getätigt.6 Das Sicherheits- und Verteidigungsprogramm von Transparency International schätzt die jährlichen Kosten von Korruption im Sicherheits- und Verteidigungsbereich auf 20 Milliarden US-Dollar.7 Dies entspricht der Summe der offiziellen Entwicklungshilfe, die Irak, Afghanistan, die Demokratische Republik Kongo, Pakistan und Bangladesch erhalten,8 oder auch der Summe, die die G8 in L’Aquila 2009 zur Bekämpfung des Hungers in der Welt zusagten.9

Eine Reihe weiterer Zahlen untermauert das Ausmaß von Korruption im Rüstungsbereich nachdrücklich:

136.000% – die Profitrate für einen einzelnen, funktionsunfähigen Bombendetektor, der nach Angaben eines Herstellers (Alpha 6) bei Herstellungskosten von 11 £ für 15.000 £ verkauft wurde. Es wird gemutmaßt, dass Exemplare dieses unbrauchbaren Bombendetektors für Hunderte von Todesfällen im Irak verantwortlich sind. Eine umfassende Betrugsermittlung der City of London Police ist angelaufen.10

30 Gefechtspanzer des Typs T-90 – laut Generalmajor Alexander Sorotschkin der Gegenwert von 2,2 Milliarden Rubel (80 Millionen US-Dollar), die im russischen Militär 2008 durch Korruption verschwendet wurden.11

22 – Anzahl von hochrangigen Managern von größtenteils kleineren Leichtwaffenherstellern, die im Januar 2010 festgenommen wurden, nachdem sie verdeckten FBI-Ermittlern Bestechungsgelder im Rahmen von 20% eines fiktiven Gesamtauftrages zugesagt hatten, um die Präsidentengarde eines nicht näher genannten afrikanischen Staates ausrüsten zu können.12

Korruptionsrisiken in Sicherheit und Verteidigung

Korruption im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich kann sich auf vielerlei Art äußern.13 Welche Risiken vorhanden sind, ist von Land zu Land unterschiedlich. Transparency International identifizierte nach ausgiebiger Diskussion mit Verteidigungsministern, hochrangigen Offizieren und Vertretern der Zivilgesellschaft etliche Kernbereiche für solche Risiken, so z.B. im politischen Bereich, im Personalbereich, im Verteidigungshaushalt und bei militärischen Operationen.

Politischer Bereich

Wenn es einem korrupten Individuum gelingt, Einfluss auf Sicherheits- und Verteidigungspolitik auszuüben, kann dies gravierende Konsequenzen haben. Ein Beispiel für Korruptionsrisiken im politischen Bereich ist eine Auftragsvergabe für falsches oder so nicht benötigtes Rüstungsmaterial. Oft werden Prozesse verkompliziert oder gar manipuliert, um Korruption und ungerechtfertigte Bereicherung zu verdecken. In Extremfällen kann Korruption auf höchster Ebene dazu führen, dass es einer Elite gelingt, sämtliche Entscheidungen in einem Schlüsselbereich des Staates zu treffen (state capture). Dies ist besonders problematisch in ressourcenreichen Ländern, wo das Militärs oder Sicherheitskräfte an der Ausbeutung der Ressourcen beteiligt sind.

Bedeutend im politischen Bereich ist zudem die Verbindung zwischen organisierter Kriminalität und Korruption: Kriminelle Netzwerke benutzen Korruption in verschiedensten Formen, um möglichst ungestört ihren kriminellen Aktivitäten nachgehen zu können und Ermittlungen sowie Strafverfolgung zu vermeiden. Organisierte Kriminalität und Korruption bedingen einander und sollten in einem ganzheitlichen Ansatz analysiert werden. Ohne Gegenwehr gelingt es der organisierten Kriminalität national wie auch international, effektives Regieren, effizientes Wirtschaften und den Alltag unbescholtener Bürger zu unterminieren.14

Verteidigungshaushalte

Der Missbrauch von Verteidigungshaushalten ist eines der am häufigsten auftretenden Probleme. Eine Kultur der Geheimhaltung resultiert oftmals darin, dass Vorgänge mit dem Hinweis auf die nationale Sicherheit ohne externe Prüfung bleiben. Der Umgang mit nicht mehr benötigten Rüstungsgütern, aber auch mit Gebäuden und Grundstücken, ist ebenfalls durch Korruptionsrisiken gekennzeichnet, z.B. durch das »Verschwinden« von überschüssigen Waffen oder die gezielte Unterbewertung von Immobilien. Geheime Budgets stellen ein besonders großes Risiko dar, da sie sich jeglicher Kontrolle entziehen.

Personalbereich

Die Rekrutierung von Personal ist ein weiterer Bereich, der sich durch ein hohes Korruptionsrisiko auszeichnet. Bestechungsgelder zur Umgehung der Wehrpflicht sind bereits aus Napoleonischen Zeiten bekannt und noch heute ein großes Problem, z.B. in Russland.15 Andere Beispiele sind »Karteileichen«, deren Einkünfte von anderen Soldaten oder Offizieren einbehalten werden, sowie das Zwingen von Untergebenen zur Ausführung verschiedenster Gefälligkeiten bis hin zu harter körperlicher Arbeit.

Militäroperationen

Militäroperationen stellen die höchstmögliche Interaktion des Militärs mit der Bevölkerung dar, sowohl für Angehörige der regulären Streitkräfte als auch für private Sicherheitsanbieter. Wenn internationale Einsatzkräfte in Konfliktgebieten intervenieren, ist ihr Umgang mit Korruption maßgeblich für eine erfolgreiche Mission. Korruption zu ignorieren, führt hingegen mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass Soldaten als Teil korrupter Gesamtstrukturen betrachtet werden. Die Situation in Afghanistan, aber auch die Erkenntnisse aus Bosnien und Kolumbien haben dazu geführt, dass Korruption mittlerweile als entscheidender Faktor in Militäroperationen wahrgenommen wird.

Korruption im Sicherheits- und Verteidigungsbereich ist kein Einzelfall und hat weitreichende Kosten und Folgen, sowohl für die Export- als auch die Importstaaten, wie die folgenden Fälle exemplarisch aufzeigen.

Korruption bei internationalen Rüstungstransfers

2010 durchsuchte die Stuttgarter Polizei die Büros von Heckler & Koch, dem größten deutschen Hersteller von kleinen und leichten Waffen. Heckler & Koch wird beschuldigt, illegal Handfeuerwaffen und Maschinengewehre in Regionen Mexikos exportiert zu haben, die einem Embargo unterliegen, und somit den Bundessicherheitsrat unter Vorsitz von Kanzlerin Merkel getäuscht zu haben – also das Regierungsgremium, welches über heikle Rüstungsexporte entscheidet. Es wird spekuliert, dass eine nicht näher zu bestimmende Anzahl der 8.000 Gewehre vom Typ G36, die von 2006 bis 2009 an die mexikanische Polizei geliefert wurden, jene vier der 27 mexikanischen Regionen zum Zielort hatten, die aufgrund von Menschenrechtsverletzungen einem deutschen Embargo unterliegen: Chiapas, Chihuahua, Guerrero und Jalisco.16 Der Geschäftsführer von Heckler & Koch ist mittlerweile aus »persönlichen Gründen« zurückgetreten.

Ein Beispiel für die negativen Auswirkungen, die Korruption im Rüstungsbereich auf entwicklungspolitische Ziele haben kann, stammt aus dem Jahr 2001. Tansania, ein Land, das im Human Development Report 2009 des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) Rang 151 von 182 belegte,17 erwarb ein militärisches Flugsicherungssystem vom britischen Rüstungshersteller BAE Systems im Wert von 32 Millionen Euro. Ein ehemaliger Industriemitarbeiter soll laut einem Bericht der Tageszeitung Telegraph acht Millionen £, also fast ein Drittel des gesamten Deals, als Bestechungsgeld erhalten haben.18 Die Internationale Zivile Luftfahrtbehörde der Vereinten Nationen hatte das System zuvor als „nicht adäquat und zu teuer“ bezeichnet.19 Tansania hätte für die Kosten des Deals fast jede an Malaria leidende Person im Land behandeln lassen können.20 Der Deal stieß ebenfalls auf den Widerstand der damaligen britischen Entwicklungsministerin, die sich beklagte, dass ein Bildungspaket im Wert von 35 Millionen £ durch das Rüstungsgeschäft „verschlungen worden sei“.21

1999 wurde in Südafrika ein Geschäft zwischen der Regierung und einer Reihe europäischer Rüstungsunternehmen abgeschlossen, das eine Vielzahl von Korruptionsanschuldigungen mit sich brachte. Bei dem größten dieser Geschäfte handelte es sich um einen Vertrag für Kampf- und Trainingsflugzeuge, der ob der bereits ungenutzt vorhandenen Flugzeuge der Südafrikanischen Luftwaffe für Verwunderung sorgte. Es verblüffte darüber hinaus, dass BAE Systems und Saab den Zuschlag bekamen, obwohl ihr Angebot über Mehrzweckkampflugzeuge vom Typ Gripen in mehrerlei Hinsicht nicht der ursprünglichen Ausschreibung entsprach.22 Das anfangs veranschlagte Budget von 9,2 Milliarden Rand (900 Millionen Euro) für die Rüstungsgeschäfte war bis 2005 bereits auf 66 Milliarden Rand (7 Milliarden Euro) angewachsen.23 Zum Vergleich: 2008 wurden für jeden Rand, den der Staat für die unter AIDS leidende Bevölkerung Südafrikas ausgab, 7,63 Rand zur Finanzierung des Rüstungsdeals benötigt.24

(Post-) Konfliktgesellschaften und Korruption

Besonders verheerende Auswirkungen hat Korruption in Konfliktländern.25 Internationales Peacekeeping und -building konzentriert sich zu häufig lediglich auf die Bedürfnisse der Hauptkonfliktparteien, anstatt einen Plan hin zu Stabilität und einem funktionierenden Staat zu entwerfen. Unter diesen Bedingungen wird individuelle Gier zu einem Faktor in den Überlegungen wichtiger Akteure und Powerbroker, und Korruption wird zur Handlungsoption. Die Rolle des Militärs und der Sicherheitskräfte ist hierbei von besonderer Bedeutung. Einige Beobachter gehen so weit vorzuschlagen, dass Peacekeeping-Truppen auch umfassendere staatliche Aufgaben übernehmen sollten, wie z.B. die Sicherung von Grenzen oder die Verbrechensbekämpfung – als Koordinator anderer Akteure und als Anlaufstelle für den Aufbau langfristiger Kapazitäten.26 Unter diesen Umständen müssen der Polizei und Justiz besondere Bedeutung zukommen27 – nicht nur aufgrund ihrer Rolle für den Aufbau nachhaltiger staatlicher Institutionen, sondern auch, da sie oftmals über die meisten Ressourcen verfügen. Klare Strategien sind notwendig, um zu verhindern, dass der Aufbau staatlicher Institutionen als Mittel zur Zementierung der Interessen einflussreicher Akteure missbraucht wird, was wiederum Korruption und organisiertem Verbrechen Vorschub leistet.

Ansätze zur Korruptionsbekämpfung

Sowohl die beschriebenen konkreten Korruptionsfälle als auch die Auswirkung von Korruption und Korruptionsrisiken in Konfliktgesellschaften unterstreichen exemplarisch, dass noch ein langer Weg zurück zu legen ist, bis sich die verheerenden Auswirkungen von Korruption in diesem Sektor eindämmen lassen. Lösungsansätze hierfür liegen auf internationaler wie auf nationaler Ebene.

Auf internationaler Ebene sind insbesondere Waffenexportkontrollen durch Korruptionsrisiken gefährdet: Korruption ermöglicht illegale Waffentransfers mit schwerwiegenden negativen Konsequenzen für Humanitäres Völkerrecht und nachhaltige Entwicklung und erschwert es Staaten, die Entwendung von Waffen zu verhindern, so dass diese in den Besitz von organisierter Kriminalität oder terroristischen Gruppen gelangen können.

Um die Kontrolle von Rüstungsgütern zu stärken, die aus »westlichen« Beständen in den Besitz autokratischer Regime im Nahen und Mittleren Osten gelangten und in diesen Tagen im Mittelpunkt medialer Aufmerksamkeit stehen,28 wird zur Zeit von den Vereinten Nationen ein gesetzlich bindender »Waffenhandelsvertrag« (Arms Trade Treaty) verhandelt.

Ein robuster Arms Trade Treaty soll Standards und Kontrollen enthalten, die es Staaten ermöglichen, sich gegenseitig zu garantieren, dass sie die in ihrem Besitz befindlichen Waffen und Rüstungsgüter kontrollieren. Korruption ist jedoch darauf ausgerichtet, diese gegenseitigen Garantien zu unterlaufen. Ein Arms Trade Treaty muss daher Antikorruptionsmechanismen enthalten, die Staaten in die Lage versetzen, spezifische Waffentransfers einer Einzelfallprüfung unter Einbezug von Korruptionsrisiken zu unterziehen. Die Genehmigung von Waffentransfers sollte unter anderem von der Fähigkeit eines Staates abhängen, die Korruptionsrisiken abzuschwächen.

Auch auf nationaler Ebene kann eine Reihe von Reformen vorgenommen werden, die das Korruptionsrisiko im Sicherheits- und Verteidigungsbereich reduziert und die Integrität stärken. Durch gezielte Risikoanalyse, beispielsweise durch Anwendung von Korruptionstypologien und Analysesystemen von Nichtregierungsorganisationen oder multilateralen Organisationen (z.B. der »Building Integrity«-Initiative der NATO), und den gezielten Einsatz von Umfragen und Erhebungen kann ein erster Schritt zur Korruptionsbekämpfung vorgenommen werden. Besondere Beachtung sollte zudem die Aus- und Weiterbildung von militärischem und zivilem Personal finden: Ein klarer Verhaltenskodex, die Möglichkeit, Korruption zu melden (»whistleblowing«), Fortbildungsmaßnahmen mit speziell auf Korruptionsrisiken zugeschnittenen Kursen und beispielhaftes Verhalten der Führungsschicht sind hierfür einige Ansätze. Zudem mindern konkrete Reformen in der Bearbeitung von Auftragsvergaben, bei Militäroperationen und im Umgang mit dem Verteidigungshaushalt Korruptionsrisiken nachhaltig.29 Nichtregierungsorganisationen können hierbei sowohl als kompetente Fachleute unterstützend zur Seite stehen als auch als externe Akteure Regierungen zu Reformen anhalten.

Auch die Einbeziehung von Rüstungsunternehmen ist Teil eines holistischen Ansatzes zur Korruptionsreduzierung. Rüstungsverbände in Europe und den USA haben nach Anregung durch einige der führenden internationalen Rüstungshersteller freiwillige Selbstverpflichtungen für Unternehmen formuliert, die zunehmend eingeführt werden.30 Es ist hierbei Aufgabe der Unternehmen und Verbände selbst, diese freiwilligen Selbstverpflichtungen längerfristig verbindlich zu machen und deren Einhaltung zu kontrollieren. Nichtregierungsorganisationen kommt aber auch hierbei eine wichtige Kontrollfunktion zu.

Abschließend ist festzuhalten, dass nachhaltige und tief greifende Verbesserungen nur dann zu erwarten sind, wenn noch mehr Staaten und internationale Organisationen robuste Anti-Korruptionsmechanismen einführen und umsetzen, die Rüstungsindustrie sich in internen Compliance-Programmen klar und deutlich zu korruptionsfreien Geschäftsgebaren und -strategien bekennt und die Zivilgesellschaft in weitaus größerem Maße als im Moment die Möglichkeit erhält, mittels erhöhter Transparenz ihrer demokratischen Kontrollfunktion gerecht zu werden und diese auch tatsächlich verantwortungsvoll ausführt.

Literatur

Campos, J. Edgardo und Pradhan, Sanjay (2007): The Many Faces of Corruption: Tracking Vulnerabilities at the Sector Level. Washington D.C.: The World Bank.

Karklins, Rasma (2005): The System made me do it. Corruption in post-communist societies. Armonk, NY: Sharpe.

Transparency International (2000): TI Source Book 2000. Confronting Corruption: The Elements of a National Integrity System. London.

Transparency International (2011): Building Integrity and ReducingCorruption in Defence and Security. 20 Practical Reforms. London.

Anmerkungen

1) „As a guy who’s spent most of his career in the aerospace and defence industry, I know a lot about corruption. I’m probably better qualified than a lot of people to talk about it. I think it will increasingly become a barrier into investment, not just into Kazakhstan, but in other developing countries.“ Zitiert nach The Telegraph vom 14. Juni 2010.

2) www.transparency.de/FAQ.1224.0.html.

3) Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen (VN) bestätigt das Recht auf Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs.

4) Control Risks (2006): International business attitudes to corruption. London, S.5.

5) Perlo-Freeman, Sam und Perdomo, Catalina (2008): The developmental impact of military budgeting and procurement – implications for an arms trade treaty. Stockholm: SIPRI.

6) Tanzi, Vito (1998): Corruption Around the World: Causes, Consequences, Scope, and Cures. International Monetary Fund Staff Papers, Vol. 45, No. 4, S.559-594.

7) Berechnet auf Grundlage von Daten vom Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) und der Weltbank; siehe z.B.: UK Strategic Export Controls, Session 2010-11. Evidence submitted by Transparency International; www.publications.parliament.uk/pa/cm201011/cmselect/cmquad/writev/arms/m4.htm. Dies ist eine konservative Schätzung, die annimmt, dass der Rüstungsbereich nicht korrupter als andere Sektoren ist – eine Annahme, zu der man in Anbetracht aller bisher dargelegten Fakten und Beispiele nicht zwangsläufig kommen muss.

8) Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): Development Database on Aid from DAC Members. Vgl. IECD Development Co-operation Directorate (DCD-DAC): Development Database on Aid from DAC Members; www.oecd.org.

9) Dinmore, Guy (2009): G8 to commit $20bn for food security, Financial Times vom 10. Juli 2009.

10) Jones, Meirion. und Hawley, Caroline (2011): UK promoted failed bomb detectors. BBC Newsnight vom 27. Januar 2011.

11) Military corruption costs Russia almost $80 million in 2008. Ria Novosti vom 2. Dezember 2008.

12) Henriques, Diana B. (2010): F.B.I. Charges Arms Sellers With Foreign Bribes. The vom 20. Januar 2010.

13) Der folgende Abschnitt basiert auf Pyman, Mark und Wegener, A.-C. (2011): Building Integrity and Countering Corruption in Defence & Security. Genf: Geneva Centre for the Democratic Control of Armed Forces (DCAF), Kapitel 1.

14) Dieser Abschnitt bezieht sich auf die Rede »Corruption and organised crime – the need for a new international coalition«, die Bill Hughes, ehemals Director General der UK Serious and Organised Crime Agency (SOCA), in Zusammenarbeit mit Transparency International verfasste und am 10. November 2010 auf der 14. Internationalen Anti-Korruptions-Konferenz in Bangkok, Thailand, hielt; . Siehe auch: Center for the Study of Democracy (CSD) (2004): Partners in Crime. The Risks of Symbiosis Between the Security Sector and Organised Crime in Southeast Europe. Sofia, S.34.

15) McDermott, Roger N. (2009): Russia’s Military Reform Plan Falters. Asia Times Online vom 10. März 2009.

16) Wie Gewehre von Heckler & Koch in Krisengebiete gelangen. Südwestrundfunk, Report Mainz, 14.12.2010.

17) United Nations Development Programme (UNDP) (2009): Human Development Report 2009. Overcoming barriers: Human mobility and development. http://hdr.undp.org/en/reports/global/hdr2009/.

18) Neate, Rupert (2010): BAE radar verdict. The Telegraph vom 20. Dezember 2010.

19) Hosken, Andrew (2009): BAE: The Tanzanian connection. BBC Radio 4 vom 1. Oktober 2009.

20) WHO (2006): Facts on ACTs. January 2006 Update.

21) Ibid.

22) Hoffman, Paul (2010): South African Arms Deal. The Genie is out of the Bottle. The Institute for Accountability in Southern Africa (IFAISA); www.ifaisa.org/The_genie_is_out_of_the_bottle.html.

23) Feinstein, Andrew (2007): After the Party. A Personal and Political Journey Inside the ANC. Johannesburg: Jonathan Ball, S.208-236. Cilliers, Jakkie (1998): Defence Acquisitions – Unpacking the Package Deals. Pretoria: Institute for Security Studies (ISS), Occasional Paper Nr. 29.

24) Ibid.

25) Dieser Abschnitt basiert auf dem Kapitel »Strategic and Planning Considerations for Conflict Environments«, in: Pyman, Mark und Wegener, A.-C. (2011): Building Integrity and Countering Corruption in Defence & Security. Genf: Centre for the Democratic Control of Armed Forces (DCAF).

26) Vgl. Cockayne, James und Pfister, Daniel R. (2008): Peace Operations and Organised Crime. Geneva: Geneva Center for Security Policy (GCSP), Geneva Papers 2.

27) Vgl.u.a. Synnoth, Hilary (2009): Transforming Pakistan. Ways out of Instability. London: Routledge.

28) Vgl. exemplarisch: Wali, Sarah O. und Sami, Deena A. (2011): Egyptian Police Using U.S.-Made Tear Gas Against Demonstrators. ABC News vom 28. Januar 2011. Beaumont, Peter und Booth, Robert (2011): Bahrain uses UK-supplied weapons in protest crackdown. The Guardian vom 17. Februar 2011. Böcking, David (2011): Libyan Arms Deals Come Back to Haunt Europe. Spiegel Online vom 24. Februar 2011.

29) Weitere Informationen zu konkreten Reformmaßnahmen sind hier zu finden: Transparency International (2011): Building Integrity and Reducing Corruption in Defence and Security. 20 Practical Reforms; www.defenceagainstcorruption.org.

30) Beispiele hierfür sind die Common Industry Standards in Europa und das International Forum for Business Ethics zwischen europäischen und US-amerikanischen Unternehmen und den Dachverbänden der Industrie.

Tobias Bock ist Project Officer, Anne-Christine Wegener ist Programme Managerin des sicherheits- und verteidigungspolitischen Programms von Transparency International in London.

Militärisch-industrieller Komplex im Wandel

Militärisch-industrieller Komplex im Wandel

von J. Paul Dunne und Elisabeth Sköns

Als erster sprach US-Präsident Eisenhower von einem militärisch-industriellen Komplex (MIK). 1962 zeigte er eine historische Besonderheit auf: den Aufbau eines großen militärischen Establishments und einer wehrtechnischen Industrie, beide auf Dauer miteinander verbunden. Er fand es höchst bedenklich, dass diese gesellschaftlichen Kräfte ohne jede Befugnis enormen Einfluss ausübten. Der folgende Beitrag untersucht, wie sich das Wesen des MIK im Laufe der Jahrzehnte geändert hat und inwieweit es eine Kontinuität der alten Machtstrukturen und des MIK gibt.

Dwight Eisenhower, republikanischer US-Präsident und im Zweiten Weltkrieg Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Europa, verweist in seiner Abschiedsrede von 1961 als erster auf die bedenklichen Auswirkungen des „Zusammenspiels eines gewaltigen militärischen Establishment und einer Rüstungs-Großindustrie“, die er als „eine neue Erfahrung für Amerika“ bezeichnete. Er warnte Regierungskreise: „[W]ir müssen uns davor hüten, dass der militärisch-industrielle Komplex unbefugt Einfluss ausübt, ob dies nun beabsichtigt oder unbeabsichtigt geschieht. Das Potential für den katastrophalen Anstieg unangebrachter Macht besteht und wird weiter bestehen.“ (Eisenhower 1961, 162).

Später wurde das Konzept des militärisch-industriellen Komplexes (MIK) von Sozialwissenschaftlern weiter entwickelt und meinte eine Koalition von Staatsapparat und Industrie, deren Entscheidungen im eigenen Interesse liegen und nicht unbedingt im Interesse der nationalen Sicherheit. Im Laufe der Zeit wurden unter dem Begriff überdies nicht mehr ausschließlich die Interessen im militärischen Establishment und in der Rüstungsindustrie subsumiert, sondern auch die von politischen Organen (Dunne, 1995).

In vielen Analysen gilt der MIK als ein markantes und konstantes Merkmal des Kalten Krieges, als Bedrohungen überbetont wurden, um unsinnig hohe Militärausgaben zu begründen. In der Literatur bezeichnet das MIK-Konzept häufig Gruppen in der Gesellschaft, die von Militärausgaben und ihrem Wachstum profitieren, es bleibt aber oft vage oder sogar widersprüchlich, was genau damit gemeint ist (Fine, 1993). Mit dem Ende des Kalten Krieges wandelte sich die Sicherheitslage grundlegend, und dies wirkte sich zunächst tiefgreifend auf den militärischen Sektor aus. Die Militärausgaben wurden gekürzt und die militärischen Anforderungen und Technologien veränderten sich, was zu erheblichen Verschiebungen in der wehrtechnischen Industrie und in der Beziehung zwischen den entsprechenden Unternehmen, dem Militär und der Legislative führte (in letzterer werden die Gelder verteilt) (Chapman und Yudken, 1992).

Der militärisch- industrielle Komplex

Im Kern bezieht sich jede theoretische Betrachtung des MIK auf die Existenz einer starken wehrtechnischen Industrie, mit der sich eigennützige Interessen anderer gesellschaftlicher Gruppen verbinden. Was Smith (1977) als liberalen oder institutionellen Ansatz beschreibt, beruht auf dem Wesen des MIK als Zusammenschluss kollidierender Interessengruppen und institutioneller Verbindungen. Der MIK wird zur sich selbst generierenden Agentur, die die Interessen verschiedener Gruppen in der Gesellschaft verkörpert. Die Stärke der eigennützigen Interessen und ihr Wettbewerb um Ressourcen führt zu Druck von innen, Militärausgaben zu tätigen, wobei zur Begründung die äußeren Bedrohungen oft überbetont werden. Das führt dazu, dass der MIK dem Rest der Gesellschaft unnötige Lasten aufbürdet, mit negativen Auswirkungen auf den zivilen Bereich. Der MIK verdrängt zivile Ressourcen, die beteiligten Unternehmen entwickeln eine Kultur der Ineffektivität und Verschwendung, sie werden immer abhängiger von wehrtechnischen Aufträgen und verlieren auf dem zivilen Markt allmählich ihre Konkurrenzfähigkeit (Melman 1985; Dumas, 1986).

Die theoretische Untermauerung dieser Arbeiten lieferte ursprünglich C. Wright Mills mit seiner Analyse der Machteliten, aber es gibt auch Theorien, die dem Weberschen Fokus auf die Rolle der Bürokratie und den Arbeiten von Galbraith zur Koalitionenbildung folgen (Slater und Nardin, 1973). In den USA sind auch die Arbeiten von Veblen zur Relevanz militärischer »Vergeudung« für die ideologische und institutionelle Struktur der US-Wirtschaft zu nennen (Cypher 2008).

Ferner liegen einige marxistische Studien zum MIK vor, deren Argumentationsmuster sich tendenziell durch die Behandlung von Krisen und die Relevanz von Militärausgaben für die Kapitalakkumulation unterscheiden (Dunne und Sköns, 2010; Dunne, 1990). Am bekanntesten ist der Ansatz des Nachfragemangels, den Baran und Sweezy (1966) entwickelten. In ihrer Theorie sind Militärausgaben wichtig zur Verhinderung von Kapitalisierungskrisen, da sie – anders als die sonstigen Staatsausgaben – ohne Lohnerhöhungen die Absorption des volkswirtschaftlichen Überschusses und damit die Aufrechterhaltung der Profitrate ermöglichen. Ein ähnlicher Ansatz, der aber die Tendenz kapitalistischer Ökonomien zur Überproduktion in den Mittelpunkt stellt, zielt auf die permanente Rüstungswirtschaft. In dieser Theorie sind Militärausgaben Verschwendung, und die Bereitstellung von Ressourcen für das Militär verhindert eine Überhitzung. Folglich kann die Ineffizienz des MIK und der wehrtechnischen Industrie als positive Faktoren eingestuft werden, und die Entwicklung des MIK spielt eine positive Rolle für der kapitalistische Entwicklung (Howard und King, 1992).

Das Konzept des MIK ist zwar aus den besonderen historischen Umständen des Kalten Kriegs erwachsen, es scheint aber mehr als deskriptives denn als analytisches Konzept zu taugen (Fine, 1993). Das hat einige Forscher veranlasst, sich auf der empirischen Ebene mit der Dynamik des MIK zu befassen. Smith und Smith (1983) beispielsweise argumentieren, dass der MIK eine Interessenkoalition sei und dass Strukturpaarungen in den Blick genommen werden sollten, die zwischen bestimmten Sektoren der Privatindustrie und bestimmten Teilen des Militärs entstanden sind, wodurch sich unvermeidlich beiderseitige Interessen herausgebildet haben. So betrachtet kann das MIK-Konzept durchaus noch ein sinnvoller Ansatz zum Verständnis der Dynamik des modernen Militärsektors sein.

Gewandelte Sicherheitslage

Das Ende des Kalten Krieges hat zu einem tief greifenden Wandel im internationalen Sicherheitsumfeld geführt. Die globalen Militärausgaben und Rüstungsexporte erreichten Mitte der 1980er Jahre einen Höhepunkt und sanken aufgrund der verbesserten Ost-West-Beziehungen zunächst langsam und mit der Auflösung der Sowjetunion rasch. Während die Militärausgaben in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion (vor allem in Russland) nur noch einen Bruchteil derer der UdSSR ausmachten, fielen die Kürzungen in den USA nicht so radikal aus, was der dominanten Rolle der USA in der Welt nach dem Kalten Krieg entspricht.

Die fixen Forschungs- und Entwicklungskosten für Großsysteme steigen nach wie vor, und zwar bei den Plattformen wie bei den Infrastruktursystemen (z. B. Satelliten oder strategische Systeme der Luftwaffe) und Informationssystemen zur Unterstützung der netzzentrierten Kriegsführung, die Teil der so genannten »Revolution in Military Affairs« sind. Angesichts der langen Vorlaufzeiten und der Verpflichtungen, die staatliche Stellen, Forschungsteams und Unternehmen eingegangen sind, bleibt der Druck erhalten, diese Waffensysteme weiterhin zu produzieren und eine Funktion für sie zu finden. Da aber keine Bereitschaft bestand die wehrtechnische Planung im selben Maß zu kürzen wie die Verteidigungshaushalte, ergab sich vor allem in den USA eine Diskrepanz, die Druck für erneute Steigerungen des Militärhaushalts erzeugte.

In den Jahren nach 2000 wurde zunehmend deutlich, dass die USA und die NATO wohl keine Gegner hatten, die zu einer symmetrischen Antwort in der Lage wären, asymmetrische guerilla-ähnliche Konflikte wurden dagegen wahrscheinlicher. Für diese werden aber ganz andere Waffensysteme gebraucht. Da die Gegner im vagen blieben und ein stärkerer Fokus auf »Innere Sicherheit« (bzw. in den USA »Heimatschutz«) gelegt wurde, änderte sich die Nachfrage. Vor allem Kommunikations- und Überwachungstechnologien spielen eine größere Rolle. NATO- und EU-Truppen nehmen überall in der Welt immer häufiger an so genannten Peacekeeping-Missionen teil. Dadurch änderten sich der Charakter und die Struktur der Streitkräfte, und die Nachfrage verlagerte sich auf Hightech-Systeme, die überwiegend im zivilen IT-Sektor entwickelt werden. Während also viele der langfristigen Waffenprogramme aus der Zeit des Kalten Krieges weiterlaufen, kam es gleichzeitig zu einem deutlichen und entscheidenden Wandel bei der Technologie (Brzoska, 2005; Dunne und Sköns, 2010).

Aufgrund der anhaltend rasanten Entwicklung bei vielen zivilen Technologien hat sich das relative Gewicht von militärischen und zivilen Technologien in etlichen Hightech-Bereichen verschoben. Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die 1980er Jahre hatte die Militärtechnologie gegenüber der zivilen die Nase vorn, seit den 1990er Jahren hinkt die Militärtechnologie aber in vielen Bereichen hinter der zivilen her, insbesondere in der Elektronik. Das liegt vor allem an den langen Vorlaufzeiten der militärischen Beschaffungszyklen, die dazu führen, dass eine Technologie häufig schon veraltet ist, bevor die Systeme in Dienst gestellt werden (Smith, 2009).

War in der Vergangenheit der zivile »Spin-off« von Militärtechnologie ein wichtiges Argument für die Wertschöpfung aus militärischer Produktion, gibt es nun eher einen »Spin-in« von zivilen Technologien zum Militär. Viele Technologien, die einst die Domäne von Militär und Sicherheitsdiensten waren, beispielsweise Kryptographie, werden jetzt überwiegend kommerziell eingesetzt, und immer mehr Komponenten, die in große Waffensystemen verbaut werden, kommen »von der Stange« und werden von Unternehmen produziert, die sich nicht unbedingt der Rüstungsindustrie zurechnen würden (Brzoska, 2005). Elektronik- und IT-Unternehmen, die in der Vergangenheit wenig mit Rüstungsproduktion zu tun hatten, gehören nun plötzlich zur wehrtechnischen Industrie und werden gelegentlich auch zum Ziel der Diversifizierungstendenzen der großen Rüstungsunternehmen (Sköns und Dunne, 2008; Dunne, 1995; Dunne et al., 2007).

Anders als Kleinwaffen werden große Waffensysteme nur in relativ wenigen Staaten gefertigt. Obwohl Wehrtechnikunternehmen auch auf die heimische Unterstützung, d.h. auf Beschaffungsmaßnahmen und Exporthilfen, angewiesen und deshalb nicht wirklich »transnational« sind, haben sie sich nichtsdestotrotz internationalisiert. So versuchen z.B. große wehrtechnische Unternehmen aus anderen Ländern in den USA Firmen aufzukaufen und so auf diesem großen Wehrtechnikmarkt Fuß zu fassen. Die Unternehmen internationalisieren außerdem ihre Lieferketten. Die Regierungen finden sich damit ab, dass die Kosten von Hightech-Forschung und -Entwicklung durch die sinkenden Verkaufszahlen im Inland nicht mehr gedeckt sind und dass folglich an einer internationalen Zusammenarbeit und industriellen Strukturmaßnahmen kein Weg vorbeiführt. Das war vor ein paar Jahrzehnten noch ganz anders, als die Regierungen Wert auf eine umfassende nationale wehrtechnische Industrie legten (Dunne und Sköns, 2010).

Das zunehmende Outsourcing von Militärdienstleistungen führte zu einer erheblichen Ausweitung von privaten Militärdienstleistern (Singer 2003, Wulf 2005). Diese Entwicklung verstärkte sich durch den Irak-Krieg, für den zahlreiche Militärdienstleister unter Vertrag genommen wurden. Infolgedessen konzentrierten sich mehr Großunternehmen auf Militärdienstleistungen (Perlo-Freeman und Sköns, 2008). Das könnte dazu führen, dass sich nur noch die größten Unternehmen auf den Verteidigungssektor spezialisieren und dass sich der Unternehmensmix auf dem Verteidigungssektor hin zu IT- und Serviceunternehmen verlagert (Dunne, 2006, Dunne und Surry, 2006). Die Zutrittsbarrieren zu diesem Marktsegment bleiben wahrscheinlich hoch, da Militärgüter ganz anders vermarktet werden müssen als kommerzielle Produkte und gute Kontakte wichtiger sind als Werbekampagnen. (Dunne und Sköns, 2010).

Auch wenn es in der industriellen Basis des MIK erhebliche Veränderungen gab, sind die wesentlichen Charakteristika der Unternehmen seit dem Kalten Krieg im Großen und Ganzen gleich geblieben. Es gibt zwar weniger Großunternehmen und diese haben auf neue Sicherheitsprodukte umgestellt, sie sind aber immer noch dominant und verfügen oft über erhebliche Monopolmacht und Einfluss auf die Regierungspolitik. Die Internationalisierung hat ihnen neue Freiheiten verschafft, sie hängen aber nach wie vor vom Inlandsmarkt und der Unterstützung ihrer Regierungen ab. In einigen neuen Bereichen setzten sich auch Newcomer durch, konnten die etablierten Unternehmen aber nicht aus den Schlüsselbereichen der Rüstungsproduktion verdrängen.

Das Verhältnis von Staat und Industrie

Mit dem Ende des Kalten Krieges änderten viele Regierungen ihre Haltung zur Rüstungsindustrie. Aufgrund der Kürzungen der Militärausgaben hinterfragten selbst die großen Ländern ihre Fähigkeit, eine umfassende nationale wehrtechnische Industrie aufrecht zu erhalten. Die veränderte Sicherheitslage machte es schwerer, die frühere Unterstützung für die Industrie zu rechtfertigen, und in einigen Ländern wurden wettbewerbsorientierte Beschaffungsrichtlinien eingeführt, um ein besseres Preis-Leistungs-Verhältnis zu erzielen (Dunne und Macdonald, 2001).

In den USA kam es zu einer erstaunlichen Umorientierung der Industriepolitik. Im Kalten Krieg war das Pentagon für die Industrieplanung zuständig, allerdings ging es dabei nur indirekt um Planung. 1993 teilte der stellvertretende Verteidigungsminister William Perry bei einem Dinner (dem so genannten »letzten Abendmahl«) Führungskräften aus der wehrtechnischen Industrie mit, dass das Verteidigungsministerium in Zukunft Unternehmenszusammenschlüsse bezuschussen werde und sich davon Einsparungen erwarte. Diese Politik wurde aufgegeben, als der Konzentrationsprozess so weit fortgeschritten war, dass er wettbewerbsschädlich wurde und dem Kostentrend zuwider lief, den sich das Pentagon erhofft hatte. Anfang 1997 wurde der Zusammenschluss von Lockheed Martin und Northrop Grumman untersagt (Markusen und Costigan, 1999).

In Europa mit seinen deutlich kleineren Märkten führte bei der Umstrukturierung kein Weg an grenzüberschreitenden Fusionen vorbei, mit all den damit verbundenen Problemen. Die großen Akteure in Europa wiesen recht unterschiedliche Eigentumsstrukturen auf, in Frankreich gehört sogar der Staat selbst zu den Unternehmern. Beides machte einen kapitalgetriebenen Fusionsprozess wie in den USA schwieriger. Trotzdem kam es zu einem Konzentrationsprozess, und bis 2005 kam es in Westeuropa in der Luft- und Raumfahrt sowie in der Elektronikindustrie zu grenzüberschreitenden Verflechtungen und Kooperationsabkommen. Die Verflechtungen in der wehrtechnischen Industrie erstreckten sich aber auch über den Atlantik (Dunne und Sköns, 2010).

Allerdings ist der Konzentrationsprozess in der wehrtechnischen Industrie noch nicht so weit fortgeschritten wie in vergleichbaren Hightech-Industrien, was darauf hin weist, dass Beschaffung, Produktion und Verkauf von Waffensystemen noch nicht den Gesetzen des freien Marktes folgen. Das könnte auch mit einer starken Segmentierung der Rüstungsindustrie zusammenhängen, wo der Konzentrationsprozess in der Luft- und Raumfahrt und Elektronik weiter vorangeschritten ist als in anderen Industriezweigen. Auf internationaler Ebene gibt es in Luft- und Raumfahrt und Elektronik oligopolistische Tendenzen, während die Industrie in anderen Bereichen national fragmentiert bleibt (Sköns, 2009; Dunne et al., 2007).

Auch die Privatisierung ehemaliger Staatsunternehmen hatte Auswirkungen auf die Integration der westeuropäischen wehrtechnischen Industrie, da Firmen, die zuvor vom Staat kontrolliert wurden, nun nach den Geschäftsprinzipien von Privatunternehmen operieren mussten. Wie sich der Einfluss und die Kontrolle von Regierungsseite wirklich auswirkten, ist allerdings nicht eindeutig auszumachen, sondern ist von Land zu Land unterschiedlich, je nachdem, welche Politik eine Regierung gegenüber der privaten wehrtechnischen Industrie in ihrem Land verfolgte. Langfristig hat vielleicht die Entwicklung einer Sicherheitsindustrie außerhalb des traditionellen wehrtechnischen Sektors größere Konsequenzen: Die privatisierte Militärindustrie bietet outgesourcte Militärdienstleistungen an, die bislang vom militärischen Establishments erbracht wurde, und die Sicherheitsindustrie bietet Güter und Leistungen für die persönliche Sicherheit zwar primär im privaten Sektor an, aber zunehmend auch für die öffentliche Hand (Sköns, 2009).

Aus historischen Gründen sind wehrtechnische Unternehmen und Einrichtungen über das Land verteilt, und es gibt Gemeinden, die stark von der wehrtechnischen Industrie abhängen. Mit dem Wandel in Industrie und Sicherheit ändert sich auch das geographische Muster. Unternehmensschließungen stellen die Gemeinden vor große Probleme, da sich die Arbeitsplätze oft nicht leicht ersetzen lassen. Es gibt zwar Hinweise dafür, dass die hoch qualifizierten Mitarbeiter relativ rasch neue Arbeitsstellen finden, die sind aber in der Regel an anderem Ort und schlechter bezahlt. Die stärkere Internationalisierung der Lieferketten hat auch Konsequenzen für die geographische Verteilung von Produktion und Beschäftigung, sodass die Großunternehmer keine so große Rolle mehr für die traditionelle örtliche Wirtschaft spielen (Dunne und Sköns, 2010; Dunne, 2006).

All dies veränderte das Verhältnis von Staat und Industrie im Vergleich mit dem MIK der Kalte-Krieg-Zeit, die nationalen Regierungen spielen aber immer noch eine dominante Rolle, und es besteht weiterhin ein enges Verhältnis zwischen Regierung, Industrie und Militär. In Europa sind durch die Privatisierungswelle die direkten Beziehungen zum Staat loser geworden, die indirekten sind aber weiterhin wirkmächtig, wenn auch in mancher Hinsicht weniger sichtbar als in den USA. Das Gefüge eigennütziger Interessen hat sich gewandelt und ausgeweitet, als Lobbygruppe bleibt der MIK aber in allen Ländern einflussreich.

Kontinuität und Wandel

Die Theorien zum militärisch-industriellen Komplexes unterliegen einem Wandel, sie sind aber hilfreich, um zu verstehen, wie es das militärische Establishment in den USA und anderen entwickelten Industrieländern im Kalten Krieg schaffte, die Regierung zu beispiellosen Mittelzuweisungen zu bewegen. Auch die Militärausgaben und die Rüstungsproduktion nach dem Ende des Kalten Krieges lassen sich mit dem MIK gut erklären. Inzwischen hat sich der MIK gewandelt, nicht aber die Dynamik und der Einfluss eigennütziger Interessen.

Auf internationaler Ebene wächst die Dominanz der USA, die Verflechtungen zwischen den USA und Europa nehmen zu, und die Lieferketten dehnen sich geographisch aus. Die alten Rüstungsproduzenten bleiben dominant, obwohl auch sie sich umstrukturieren mussten und zu Systemintegratoren wurden, Unteraufträge an Unternehmen außerhalb der Rüstungsindustrie und in anderen Ländern vergeben werden und an die Stelle des militärischen Spin-offs der Spin-in getreten ist. Zahlreiche neue Unternehmen mischen auf dem neuen Sicherheitsmarkt mit, manchmal ohne selbst zu realisieren, dass sie in die Rüstungsproduktion verwickelt sind, weil ihre zivilen Produkte in Waffensysteme integriert werden. Wichtige neue Akteure sind auf den Plan getreten, und die alten Platzhirsche haben viele Firmen aufgekauft, um Expertise in neuen Bereichen zu erwerben.

In Europa hat sich der Markt gewandelt, aufgrund von Privatisierung und EU-Gesetzgebung aber auch das Verhältnis zwischen Staat und Industrie, das manchmal bedenklich eng und undurchsichtig ist. Ob sich daraus ein europäischer MIK entwickelt, wird sich weisen, dagegen sprechen eventuell die engen transatlantischen Beziehungen zwischen den USA und Großbritannien.

Bei allen Veränderungen zeichnet sich der MIK mit seinem Eigennutz und seinem Einfluss weiterhin durch eine beträchtliche Kontinuität aus. Im Grunde genommen wird der internationale Rüstungsmarkt nicht von einer ökonomischen sondern von einer politischen Logik gesteuert. Durch die Restrukturierung ist der MIK nicht weniger beherrschend und mächtig, wohl aber weniger sichtbar, unkontrollierbarer und internationaler geworden, was erhebliche Governance-Probleme aufwirft. Jeder Versuch, diesen Sektor zu kontrollieren und zu managen, bedarf in Zukunft eines internationalen Ansatzes.

Literatur

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J. Paul Dunne ist Professor für Wirtschaftswissenschaft an der University of the West of England in Bristol und an der University of Cape Town. Elisabeth Sköns ist Geschäftsführerin des Programms zu Militärausgaben und Waffenproduktion beim Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI). Übersetzt von Rüdiger Zimmermann und Regina Hagen

Der Aufstieg der Drohnen

Der Aufstieg der Drohnen

von Dave Webb

Am 18. September 2010 fand in London eine Tagung zu »Drone Wars« (Drohnenkriegen) statt. Sie wurde organisiert vom Internationalen Versöhnungsbund (Fellowship of Reconciliation) und brachte zum ersten Mal in Großbritannien Wissenschaftler, Forscher und Friedensaktivisten zusammen, um Fragen zu diskutieren, die sich aus dem zunehmenden Einsatz unbemannter Flugkörper – so genannter unmanned aerial vehicles (UAVs), im Deutschen auch »Drohnen« – durch Sicherheitskräfte und Militärs zu diskutieren. In etwa 45 Ländern werden knapp 300 unterschiedliche Drohnentypen für die unterschiedlichsten Einsatzzwecke vorgehalten oder entwickelt. Israel nutzt sie zur Aufklärung vor bewaffneten Angriffen auf den Libanon und Gaza. Die USA stationieren Tausende in allen Größen und Bauarten für eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten in Afghanistan und Pakistan und sind führend in der Entwicklung dieser Militärtechnologie.1 Drohnen machen immer häufiger Schlagzeilen, da sie in der Region Afghanistan-Pakistan erheblich zu zivilen Todesfällen beitragen.

Die Konferenz wurde von Chris Cole (Versöhnungsbund) eröffnet und geleitet. Der Versöhnungsbund führt seit einiger Zeit eine breitere Kampagne zur Aufklärung über die Nutzung von Drohnen durch Großbritannien. Seine neue Broschüre »Convenient Killing: Armed Drones and the ‚Playstation’ Mentality» (Bequemes Töten: Bewaffnete Drohnen und die ‚Playstation’-Mentalität) wurde auf der Konferenz vorgestellt. Vor kurzem deckte der Versöhnungsbund mit Hilfe des Informationsfreiheitsgesetzes auf, dass in den USA stationierte Piloten der britischen Luftwaffe mehr als 400 Drohneneinsätze in Afghanistan durchführten und in den ersten 17 Monaten seit der Stationierung der Reaper-Drohne im Jahr 2008 bereits 84 Raketen abschossen.

Noel Sharkey (Professor für Künstliche Intelligenz und Robotik an der Universität Sheffield) hielt einen erhellenden und zugleich beunruhigenden Vortrag über »Robotic Weapons: Where Next?« (Kampfroboter: Wohin als nächstes?). Es gab Workshops zum Einsatz von Drohnen durch Israel, zur Rechtmäßigkeit von Drohneneinsätzen und zur Drohnenforschung und –entwicklung durch die Firma BAE Systems. Eine Gruppe aus Wales berichtete über ihre Erfahrungen mit einer Kampagne, die sich gegen die Ausweitung von Drohnen-Testflügen in der Region wendet.

Schwerpunktthemen der Tagung waren u.a. die hohe Zahl getöteter Zivilisten durch Drohnenangriffe, der unrechtmäßige Einsatz von Drohnen für gezielte Tötungsaktionen der USA, die Möglichkeit, dass die Kriegsführung aufgrund der großen Distanz zwischen den Piloten vom tatsächlichen Gefechtsfeld immer mehr zum Computerspiel mutiert sowie die Besorgnis erregende Entwicklung künftiger Kampfrobotersysteme.

Die Problematik lässt sich an zwei Beispielen erläutern: Beim Einmarsch Israels in den Gaza im Winter 2008/2009 wurden mindestens 87 Zivilisten, viele davon Kinder, durch israelische Drohnen getötet. Der Bericht »Genau falsch: Zivilisten in Gaza durch israelische Drohnenraketen getötet«, von Human Rights Watch (Juni 2009), betont, dass Drohnenangriffe häufig gar keine entscheidende Rolle im Kampf- oder Verteidigungsgeschehen spielen, und kommt zum Schluss, dass es die israelischen Drohnenpiloten „versäumten, die nötige Vorsicht walten zu lassen“ und nicht ausreichend sicherstellten, dass es sich bei ihren Zielen nicht etwa um Zivilisten handelte.

In Pakistan wurden seit 2004 über 1.500 Menschen bei mehr als 165 Drohnenangriffen getötet, von denen 155 seit Januar 2008 ausgeführt wurden. Die meisten Opfer wurden zu Militanten erklärt, es gibt aber keine offiziellen Zahlen über getötete Zivilisten und Medienberichte sind weder zuverlässig, noch erzählen sie in der Regel die ganze Geschichte. So wurden im Juli vergangenen Jahres in Südwaziristan (Pakistan) mindestens 60 Menschen, die einer Beerdigung beiwohnten, Opfer eines Predator-Angriffs. Solche Angriffe heizen antiamerikanische Gefühle an und werden allgemein als Ausdruck für amerikanische Feigheit und eine ehrlose Kampfmentalität interpretiert. Die Folge: Sie taugen prima zur Rekrutierung neuer Terroristen.

Drohnen werden aber nicht nur vom Militär eingesetzt sondern auch vom US-Geheimdienst CIA, der schon 2004 heimlich die Firma Blackwater (heute Xe) damit beauftragte, hochrangige Al Kaida-Kommandanten in ihren geheimen Lagern in Pakistan und Afghanistan aufzuspüren und sie umzubringen. Das geschah zwar unter George W. Bush jun., setzte sich aber unter US-Präsident Obama fort. Im Oktober vergangenen Jahres warnte der UN-Sonderbeauftragte für Menschenrechte, Philip Alston, die USA, dass »gezielte Tötungen« wahrscheinlich unrechtmäßig seien. Er mahnte, die CIA müsse das Völkerrecht einhalten, das willkürliche Hinrichtungen verbietet.

Auch aktuelle und künftige Forschungsvorhaben und Pläne für Kampfroboter wurden auf der Tagung vorgestellt. Maschinen müssen in Zukunft verzögerungsfrei Entscheidungen über Aktionen, Zielpunkte und Feuerbefehle treffen und daher immer autonomer agieren können. 2003 hielt es das US Joint Forces Command in seiner Studie »Unmanned Effects: Taking the Human Out of the Loop« (Unbemannte Wirkungen: Den Menschen aus der Entscheidungsfindung raushalten) für denkbar, dass im Jahr 2025 vernetzte, autonome Kampfroboter im Gefechtsfeld die Norm seien.

Ein Ziel der Tagung war es, Campaignern und Forschern den Informations- und Ideenaustausch zu ermöglichen, z.B. zu der oben bereits erwähnten Kampagne in Wales (siehe www.bepj.org.uk). Unter anderem drehte sich die Diskussion um die Frage, wie die Medien zur Berichterstattung animiert werden können und wie sich die Behauptung, dass solche Technologien vor Ort neue Jobs schaffen, kontern lässt.

Es wurde vereinbart, die Zusammenarbeit zum Thema Drohnen fortzusetzen (Informationen unter www.for.org.uk).

Der Dringlichkeit des Themas ist wohl geschuldet, dass sich im September bzw. Oktober dieses Jahres in Europa zwei weitere Tagungen mit den Folgen von Forschung und Entwicklung für die Roboterkriegsführung befassen.

Ein Seminar, das am 11. Oktober in London stattfindet, wird vom Science Policy Centre der Royal Society durchgeführt und geht u.a. folgender Frage nach: »Controlling drone wars: time for restrictions on armed robots?« (Rüstungskontrolle bei Drohnen: Zeit für Beschränkungen bei bewaffneten Robotern?). Dabei geht es um ethische, juristische und politische Fragestellungen im Zusammenhang mit der Weiterverbreitung von Kampfrobotern. Auch der mögliche Trend zu autonom agierenden Systemen wird dort diskutiert.

Einige Tage früher organisiert das International Committee for Robot Arms Control (ICRAC) einen Workshop in Berlin. Das ICRAC fordert ein Rüstungskontrollregime ein, das die Stationierung autonomer Roboter im Krieg regelt und die Entscheidung über tödliche Gewaltanwendung nicht allein Maschinen überlässt (mehr Informationen unter www.icrac.co.cc).2

Der Einsatz von Robotern revolutioniert die Kriegsführung. Er ist eine Herausforderung für honoriges, ethisches und rechtmäßiges Verhalten in den Forschungslabors und auf dem Gefechtsfeld. Daher müssen wir uns dringend mit den permanenten technologischen Weiterentwicklungen befassen. Die Tagung in London und die anderen kurz danach geben hoffentlich den entsprechenden Anstoß.

Anmerkungen

1) Siehe Loring Wirbel, Kriegsführung mit Drohnen. In: W&F 3-2010, August 2010.

2) Anmerkung der Redaktion: Für W&F 1-2011, das sich schwerpunktmäßig mit moderner Kriegsführung befasst, schreibt Jürgen Altmann im Kontext dieser Tagung einen Artikel zur Rüstungskontrolle bei Robotern.

Dave Webb, Übersetzt von Regina Hagen

Kriegsführung mit Drohnen

Kriegsführung mit Drohnen

von Loring Wirbel

Im März 2010 berichtete Ronald Arkin vom Georgia Institute of Technology der Zeitschrift The Economist, seine Forschungsgruppe arbeite an der Software »Ethical Architecture« zur Steuerung unbemannter Flugkörper (Unpiloted Aerial Vehicles/UAVs, das sind so genannte Drohnen). Mit dem Programm sollen Drohnen in die Lage versetzt werden, während des Flugs unter ethischen Kriterien über einen bewaffneten Angriff zu entscheiden. Das scheint zunächst makaber, zeigt aber ein Bewusstsein für die ethischen Probleme, die durch Drohnenangriffe auf Menschen aufgeworfen werden, das die Regierung unter Barack Obama seit ihrem Amtsantritt im Januar 2009 vermissen ließ.

Am 14. Mai 2010 enthüllte die New York Times, dass die US-Regierung den radikalen Prediger Anwar al-Awlaki, der in den USA zur Welt kam, gezielt zum »Tod durch Drohne« freigegeben hat. Der US-Auslandsgeheimdienst Central Intelligence Agency (CIA) wurde zwar in den 1970er und 1980er Jahren durchweg für Mordversuche an Staatsführern wie Fidel Castro (Kuba) und Patrice Lumumba (Kongo) kritisiert, dennoch nimmt die CIA im Rahmen der Drohnenkriegsführung nach wie vor Personen ins Visier. Es ist absurd: Der US-Nachrichtendienst National Security Agency (NSA) darf die elektronische Kommunikation eines Verdächtigen erst nach einem aufwendigen Genehmigungsprozess abhören. Wenn die CIA einen Verdächtigen aber mit einer Drohne umbringen will, braucht sie dafür lediglich ein Genehmigungsverfahren des Nationalen Sicherheitsrates der USA.

Wie kam es, dass die Vereinigten Staaten wieder auf die freizügigen CIA-Praktiken aus der Mitte des 20. Jahrhunderts zurück griffen? Ein Grund ist wohl das Bestreben, in Irak und Afghanistan billig zu militärischen Erfolgen zu kommen. Ein weiterer Grund ist, dass im Pentagon und in den Geheimdiensten die Meinung vorherrscht, Drohnenangriffe verursachten weniger »Kollateralschäden« (getötete Zivilisten) als ausgedehnte Luftangriffe. Gekoppelt mit der relativ neuen Möglichkeit, robotische Flugkörper mit Hilfe von Mikroelektronik und weltraumgestützten Navigationssystemen zu steuern, führt dies fast zwangsläufig zur Aufwertung von Drohnen zum Kernelement der Kriegsführung.

Die Zuständigkeit für Drohnen bei bewaffneten Einsätzen ist nur schwer auszumachen, da das Verteidigungsministerium und die CIA inzwischen zur Genehmigung von bewaffneten Drohnenangriffen ein kompliziertes Verfahren auf drei Ebenen eingeführt haben. Einigermaßen transparent ist die Zuständigkeit der US-Luftwaffe für Dutzende von Drohnenflügen, die täglich über Konfliktzonen stattfinden. Dabei handelt es sich meist um unbewaffnete Aufklärungsflüge. Wenn der Einsatz Teil einer größeren, integrierten Offensive ist, kann die Luftwaffe auch bewaffnete Drohnenangriffe mit Hellfire-Raketen oder JDAM-Fliegerbomben anordnen. Allerdings wurde dem Pentagon schon bei den Angriffen auf Afghanistan im Oktober 2001 klar, dass es die traditionellen militärischen Einsatzregeln auf Grund der vielstufigen Befehlskette schwer machen, mit Drohnen auf Individuen zu zielen.

Ab 2002 leitete die CIA von ihren Basen in Djibouti und Katar aus viele bewaffnete Drohnenmissionen. Für die Geheimdienste war es einfacher, Flüge zum Ausschalten von islamistischen Kampfgruppen freizugeben, waren die Regeln für einen Raketeneinsatz doch weniger stringent, wenn die zuständige Behörde ihre Beteiligung an dem Einsatz gegenüber der Öffentlichkeit nicht zugab.

Seit aber Präsident Obama ins Weiße Haus einzog, ist sogar noch eine weitere Ebene der Drohnenzuständigkeit aufgetaucht, die es der nationalen Führung erlaubt, bestimmte Drohnenflüge einfach abzustreiten – diese Verschleierung der Befehlsgewalt bezeichnet die CIA gerne als »plausible Dementierbarkeit«. Nach Angaben des Journalisten Jeremy Scahill und etlicher anderer Quellen führt das Joint Special Operations Command (JSOC, streitkräfteübergreifendes Kommando für Sondereinsätze) unbestätigte bewaffnete Drohnenangriffe in Afghanistan, Pakistan und Irak durch. Diese Einsätze werden direkt von Blackwater durchgeführt (die Firma nennt sich inzwischen Xe), und zwar über die Tochtergesellschaften Blackwater Select Inc. und Total Intelligence Solutions Inc. Die Drohnen werden in Pakistan und Afghanistan von Basen gestartet, deren Existenz quer durch die militärischen Hierarchien abgeleugnet wird.

Seit CIA-Direktor Leon Panetta US-Präsident Obama im Februar 2009 neue Drohneneinsätze vorschlug, steigen die Zahlen von Drohnenangriffen und der dadurch verursachten Todesfälle von Zivilisten buchstäblich jeden Monat. Einige Analysten, denen das Potential von Drohnen erst in jüngerer Zeit bewusst wurde, nennen Obama inzwischen »Drohnenpräsident«. In Folge dessen stieg in den USA die Kritik an den Drohneneinsätzen, und sie geht sowohl von progressiven Gegnern des Kriegs als auch von konservativen Gegnern des Präsidenten aus. Aber gebührt Obama das zweifelhafte Verdienst, Erfinder der Drohnenkriegsführung zu sein? Ein kurzer Blick in die Geschichte unbemannter Flugkörper macht rasch klar, dass Drohnen bereits in der Amtszeit von Bill Clinton und George W. Bush jr. eine Rolle spielten. 2009/10 besteht der Unterschied darin, dass Obama Drohnen zu seiner »Waffe der Wahl« für Irak, Afghanistan und Pakistan gemacht hat.

Roboterplattformen und automatisierter Krieg

Drohnen werden von allen Staaten mit nennenswerten Streitkräften eingesetzt. Die allererste Variante eines unbemannten Flugkörpers war der Marschflugkörper V-1 der deutschen Wehrmacht, Drohnen wurden aber bis zum Vietnam-Krieg vor allem für die Schulung von Kampfpiloten genutzt. Bisweilen ergänzten sie auch die U2- und SR71-Spionageflüge über China und Vietnam. Als eine kostengünstige Alternative zu bemannten Flugzeugen gelten sie aber erst seit den 1990ern, als die Mikroelektronik so weit fortgeschritten war, dass leistungsfähige Radar-, Bildverarbeitungs- und Abhörelektronik auf Träger montiert werden konnten, die kleiner als ein kompakter Personenwagen waren.

Etwa zur selben Zeit war die Entwicklung »intelligenter Bomben« so weit fortgeschritten, dass es in den Bereich des Möglichen rückte, Hellfire-Raketen und JDAM-Fliegerbomben von unbemannten Plattformen abzufeuern, da sie nach dem Abschuss bis zu einem gewissen Maß zur intelligenten Zielfindung fähig waren. Als diese Technologien in den späten 1990er Jahren einsatzreif wurden, begann das Pentagon, die unterschiedliche Bestimmung der unbemannten Flugkörper bereits anhand der Namensgebung zu unterscheiden: die Serienbezeichnung RQ wurde für unbewaffnete Aufklärungsdrohnen gewählt, MQ für bewaffnete Angriffsdrohnen.

Routinemäßige Drohneneinsätze gab es zum ersten Mal bei den Bombenangriffen im Kosovo-Krieg, als US-Drohnen nach Taszar (Ungarn), Gjader (Albanien) und Tuzla (Bosnien) verlegt wurden, um Serbien mit einem Netz von Drohnen zu umgeben, die ständig auf Patrouille waren. Allerdings wurden diese unbemannten Flugkörper fast ausschließlich zur Aufklärung genutzt, da bewaffnete Drohnen erst im Jahr 2000 zur Verfügung standen.

Inzwischen reicht die Bandbreite verfügbarer Drohnen von handgestarteten Miniaturgeräten in der Größe einer Libelle bis zum Global Hawk, der etwa so groß wie ein Business Jet ist und pro Stück bis zu 60 Millionen US$ kostet. Drohnen finden sich in den Arsenalen von mehr als 40 Ländern, allerdings werden etwa 60% der Einsätze von den Vereinigten Staaten durchgeführt. Mit Drohnen werden weltweit inzwischen über fünf Milliarden US$ pro Jahr umgesetzt. Wurden 2003 über Irak, Afghanistan und Pakistan noch etwa 35.000 Flugstunden von US-Drohnen registriert, so wird für 2010 schon mit fast einer Milliarde Flugstunden gerechnet.

Als in den 1990er Jahren die ersten kleinen Drohnen aufkamen – darunter die Typen Hunter und Pioneer von TRW und QL-289 von Bombardier/Dornier –, waren noch keine autonomen Einsätze möglich, sondern die Steuerung erforderte eine erhebliche Mitwirkung von Piloten am Boden. Die zwei wichtigsten Plattformen aus den frühen Jahren der Afghanistan- und Irak-Kriege waren der in großen Höhen fliegende Global Hawk RQ-4, der von Northrop Grumman gebaut und ausschließlich zur Aufklärung eingesetzt wurde, sowie der tief fliegende Predator von General Atomics, der sich sowohl für RQ-Aufklärungseinsätze als auch für bewaffnete MQ-Einsätze eignet. Diese Systeme werden vom Boden aus von Piloten befehligt, deren Expertise mehr mit der eines erfahrenen Videospielers zu tun hat als mit der eines herkömmlichen Flugzeugpiloten. Die Schulungszentren, z.B. auf den Luftwaffenstützpunkten Creech (Nevada) und Holloman (New Mexico), ähneln Spielhallen – und tatsächlich streifen die Rekrutierungsbeauftragten der US-Luftwaffe und sogar der US-Armee seit dem Jahr 2000 auch durch Spielhallen, um zur Steuerung dieser Drohnen Teenager mit besonders flinker Auge-Hand-Koordination anzuheuern.

Als der Krieg gegen Ende des Jahrzehnts auf Pakistan übergriff, gab es von der bewaffneten Predator-Version bereits drei Generationen: den MQ-1 Predator A, den MQ-9 Predator B (auch Reaper genannt, = Sensenmann) sowie den Prototypen von Predator C (Avenger, = Rächer). Für einen bewaffneten Drohneneinsatz werden auf dem Boden bis zu 30 Kräfte gebraucht, und selbst für eine Aufklärungsdrohne noch bis zu 20. Die Zielsoftware für solche Systeme wurde ursprünglich mit dem Joystick von einem Laptop aus bedient, inzwischen gibt es auch schon Touchscreen-Ausführungen für kleine Endgeräte, z.B. für das iPhone. Das Training muss allerdings weiterhin von militärischen Spezialkräften durchgeführt werden, die mit GPS-gestützten Navigationswerkzeugen umgehen können, weshalb bei Einsätzen, die ausschließlich mit Drohnen arbeiten, auf einen »space cadre« (Weltraum-Kader) nicht verzichtet werden kann, also auf Experten, die mit militärischer Weltraumtechnologie vertraut sind.

Die gezielte Mitwirkung der Firma General Atomic an CIA-Einsätzen begann mit der Aufklärungsdrohne Gnat (Moskito), die von den ersten CIA-Teams genutzt wurde, als sie als Reaktion auf die Attentate vom 9. September begannen, in Afghanistan einzusickern. Am 7. Oktober 2001, also dem ersten Tag der Luftangriffe der »Allianz der Willigen« auf Afghanistan, konnte der Taliban-Führer Mullah Muhammad Omar dem CIA beim ersten Versuch, ihn zu töten, entkommen, weil die Erteilung der Abschussgenehmigung durch die Befehlshierarchie des Pentagon verzögert wurde. Daraufhin verlangte die CIA für ihre Einsätze weniger strikte Regeln. Am 15. November 2001 wurde bei einem gezielten Tötungseinsatz eines Predator Mohammed Atef getötet; im November 2002 meldete die CIA nach einem bewaffneten Großangriff mit Drohnen auf al Kaida Erfolg.

Als vor der Invasion in den Irak im Zuge des regionalen Truppenaufbaus neue CIA-Basen in Djibouti und Katar eingerichtet wurden, bekam die CIA ihre eigenen Predator-Drohnen, die getrennt von denen des Pentagon abgerechnet und inventarisiert wurden. Diese Aufrüstung wirft die Frage der Rechenschaftspflicht bei solchen Angriffen auf. Am 3. November 2002 beispielsweise wurde von der CIA-Basis in Djibouti ein Predator gestartet, der im Jemen eine Hellfire-Rakete auf ein Auto abfeuerte und alle sechs der al Kaida zugerechneten Insassen tötete. Die Regierung Bush behauptete, die CIA habe vor dem Abschuss der Hellfire keine Identitätsüberprüfung angefordert. Da sowohl die Bedeutung des Jemen als auch die der CIA-Basis in Djibouti in den Jahren 2009-10 erheblich zugenommen hat, ist die Frage angebracht, wo wohl die Verantwortung für künftige Angriffe liegen mag, die auf jemenitischem Hoheitsgebiet stattfinden.

Drohnen als Jäger und Killer

Während sich der erste Predator für den zielbestimmten Angriff eignete, handelt es sich beim neueren Predator B Reaper um den ersten so genannten »hunter-killer« (Jäger-Killer). Er kann zunächst im Aufklärungsmodus über einem Bereich kreisen und dann in den Angriffsmodus umschalten. Der neun Meter lange Reaper fliegt 400 km/h, überträgt bis zu zehn Echtzeit-Videobilder pro Sekunde und ist mit bis zu 14 Raketen und zwei 1.000 kg-Fliegerbomben bewaffnet. Die Bewaffnung geht dabei nicht zu Lasten der Aufklärungsmöglichkeit. Der Reaper begann vor zwei Jahren die erste Predator-Generation zu ersetzen, und schon 2009 bildete das Air Education and Training Command der US-Luftwaffe mehr Piloten für die bodengestützte Steuerung unbemannter Flugkörper aus, als für Einsätze mit herkömmlichen Flugzeugen.

Auch beim Einsatz von Kampfrobotern wie dem Predator spielen unbewaffnete Drohnen oder bodengestützte Elektronik bei der Zielfindung häufig eine wichtige Rolle. Den Global Hawk beispielsweise halten viele für ein reines Spionagesystem, da er in Höhen von 18.000 m oder mehr fliegt. Der Global Hawk kann aber durchaus Ziele erkunden, die später von einem Predator angegriffen werden. Aus diesem Grund wird der Global Hawk auch in anderen Regionen stationiert, z.B. zur Überwachung Nordkoreas.

Ein neues Folgesystem, RQ-170 Sentinel (Wächter), das den Spitznamen Beast of Kandahar (Bestie von Kandahar) trägt, wurde von Lockheed Martin Advanced Development Programs entwickelt und nutzt wie der B2-Bomber die Tarnkappentechnologie; d.h. der Sentinel kann überhaupt nur vom neuesten High-Tech-Radar erfasst werden. Da die afghanischen Taliban keine und selbst die pakistanischen Militärs nur über einfache Radarsysteme verfügen, ist davon auszugehen, dass mit Sentinel vor allem der Einsatz von Drohnen im pakistanischen Luftraum vor dem pakistanischen Militär geheim gehalten werden soll. Hartnäckig halten sich außerdem Gerüchte, es sei auch eine bewaffnete MQ-Version des Sentinel entwickelt und sogar stationiert worden.

Deshalb kommt dem Joint Special Operations Command (JSOC) eine besondere Bedeutung zu. Der investigative Journalist Jeremy Scahill schrieb im Dezember 2009 in der Zeitschrift The Nation, dass das JSOC in der pakistanischen Stadt Karachi eine Außenstelle aufgebaut hat, deren Existenz von offiziellen Stellen nicht bestätigt wird und die ausschließlich mit Angestellten der Sicherheitsfirmen Blackwater Select und Total Intelligence Solutions Inc. betrieben wird. Die dort stationierten Teams beteiligen sich an so genannten »extraordinary renditions« (eine vom US-Gesetz nicht gedeckte Überstellung von Personen an andere Länder, die z.B. Verhöre unter Anwendung von Folter durchführen; die Übersetzerin) sowie an Drohnen-Bombardements im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet. Die Recherchen von Scahill deckten sich mit den Aussagen mehrerer Artikel in der New York Times. Diese berichtete im August 2009, dass Blackwater in der Vergangenheit eine »Eingreiftruppe« steuerte, die vom Büro des damaligen US-Vizepräsidenten Dick Cheney eingerichtet worden war. Später war die Truppe auch für Einsätze mit bewaffneten Drohnen zuständig – zusätzlich zu den Drohnen, die die CIA ohnehin im Arsenal hatte.

Die CIA startet aber auch selbst unbemannte Flugkörper in Pakistan und Afghanistan, und zwar von Shamsi und Dschalalabad aus. Allerdings gerieten sie damit in Pakistan zunehmend in die Kritik, insbesondere, seitdem US-Präsident Obama und CIA-Direktor Panetta im vergangenen Januar einer Ausweitung des Programms zustimmten. Seither haben JSOC und Blackwater einige Führungsposten übernommen und starten Drohnen unter eigener Regie, nutzen dazu aber spezielle JSOC-Standorte in oder dicht an Waziristan und anderen pakistanischen Grenzprovinzen.

Diese Struktur zum Management von Drohnen ist vor dem Hintergrund der Pläne zu einem konventionellen »Prompt Global Strike« zu sehen. (Dies bezeichnet die Möglichkeit, jeden Punkt der Erde innerhalb von 30 Minuten mit konventionellen Waffen angreifen zu können; die Übersetzerin.) Diese Pläne der Obama-Regierung drangen im Mai 2010 im Kontext der Vertragsverhandlungen über nukleare Abrüstung mit Russland an die Öffentlichkeit. Global Strike selbst ist nichts Neues. Die Idee, ein Arsenal konventioneller Waffen für prompte Präzisionsschläge vorzuhalten, wurde im August 2003 beim Strategischen Kommando des US-Militärs in Omaha/Nebraska zum ersten Mal diskutiert, als die militärische Führung überlegte, die Zuständigkeit für Drohnen mit der für konventionell bewaffnete Minuteman III-Raketen zusammen zu legen. Seither wurde beim Strategischen Kommando ein Global Strike-Kommando angesiedelt, das die Obama-Regierung auch in einer Welt für entscheidend hält, in der die Rolle von Kernwaffen immer mehr zurück gefahren wird.

Die wachsende Bedeutung des Weltraums für militärische Operationen und die Zuständigkeit des Strategischen Kommandos für Drohneneinsätze ergab sich aus der Neuausrichtung der »strategischen Triade« durch den ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Die alte Triade bezog sich nur auf Kernwaffen und unterschied zwischen drei Kategorien strategischer (Kern-) Waffen bzw. Trägersysteme: land-, see- und luftgestützt (letzteres sind die Kernwaffenbomber). Die neue Triade umfasst nun die folgenden drei Bereiche:

Offensivwaffen einschließlich Drohnen, Flugzeuge, Schiffe und Raketen, wobei die Unterscheidung in nuklear und konventionell entfällt,

Defensivwaffen einschließlich Raketenabwehr und

Infrastruktur einschließlich der globalen und weltraumgestützten Aufklärungs- und Kommunikationsnetzwerke.

Das Strategische Kommando hat in allen drei Bereichen eine Schlüsselposition.

Im Frühjahr 2009 lieferte Lockheed Martin an das Strategische Kommando der USA ein Internet-Portal aus: Integrated Strategic Planning and Analysis Network Kollaborative Information Environment (ISPAN-CIE, Strategisches Planungs- und Analysenetzwerk – gemeinsame Informationsumgebung). Dieses Tool weist dem Global-Strike-Kommando sowie dem Weltraumkommando der US-Luftwaffe eine zentrale Rolle bei der Missions- und Zielplanung sämtlicher bewaffneter und unbewaffneter Drohnen zu, auch der Drohnen von JSOC, sowie eine gewisse indirekte Aufsicht bzw. sogar Kontrolle der unbemannten Flugkörper der CIA. Der Zugriff auf diese Werkzeuge gibt dem Strategischen Kommando der USA die Illusion, es seien nach wie vor Menschen in die Befehlskette eingebunden. General Kevin Chilton, der Oberkommandierende des Strategischen Kommandos, sagte, dieser »Befehlskreis« sei inzwischen auf Mikrosekunden verkürzt. Viele Kritiker, auch solche aus dem Militär, befürchten hingegen, dass die Verteilung der Einsatzregeln für bewaffnete Drohnen auf drei Ebenen in Kombination mit der Fähigkeit von Hunter-Killer-Drohnen, eigenständig den Zeitpunkt eines Angriffs auf ein bestimmtes Ziel festzulegen, letztlich dazu führt, dass bewaffnete Drohnenangriffe ohne jegliche menschliche Intervention stattfinden können.

Dies war jüngst der Auslöser für das Interesse der Medien für Roland Arkins Entwicklung einer »Drohnenbewusstsein«-Software. Das Pentagon hat ein Netz von Drohnen, bemannten Flugzeugen sowie Aufklärungs-, Navigations- und Kommunikationssatelliten in seine »einheitliche Luft- und Weltraum-Umgebung« eingebaut. Gemäß den Anforderungen für Prompt Global Strike muss dieses System in Krisenzeiten tatsächlich prompt, d.h. nahezu ohne Verzug, funktionieren. Das vernetzte System ist auf die Nutzung des Weltraums angewiesen und setzt quasi eine unilaterale Inanspruchnahme des Weltraums, wie sie 2006 in der Nationalen Weltraumpolitik der Regierung Bush zum ersten Mal formuliert wurde, voraus. Obwohl Peter Marquez vom Nationalen Sicherheitsrat 2009 von Präsident Obama mit der Ausarbeitung einer neuen multilateralen Weltraumpolitik beauftragt wurde, ist darüber noch nicht viel nach außen gedrungen. Wenn in der Strategie Kernwaffen zunehmend von Prompt Global Strike verdrängt werden und der Einsatz von Drohnen in Pakistan und Afghanistan immer üblicher wird, ist die unilaterale Weltraumnutzung damit impliziert.

Die Frage des Einsatzes von bewaffneten Drohnen wird sich sicherlich im Laufe des Jahres 2010 weiter zuspitzen, wenn Präsident Obama die Truppen in Afghanistan um 35.000 Soldaten aufstockt und eine bewaffnete Version der Drohne Sentinel in Pakistan stationiert wird und wenn vielleicht die weitgehend autonom agierende Kampfplattform auch noch um Tarnkappenmerkmale aufgerüstet wird. Die Kriegsführung mit Robotern ist bereits in vollem Gange.

Loring Wirbel lebt in Colorado Springs, dem Standort der Peterson Air Force, der u.a. das Nordkommando (NORAD) und die Weltraumkommandos der US-Luftwaffe und US-Armee beherbergt. Er schreibt seit mehr als 20 Jahren über Kommunikations-, Radar- und elektronische Aufklärungs- bzw. Spionagetechnologie und hat dabei häufig Militärdienstleister im Blick.
Übersetzt von Regina Hagen.

Jenseits von Irak und Afghanistan

Jenseits von Irak und Afghanistan

Die Marinestrategie des Exportweltmeisters Deutschland reicht weit in die Zukunft hinein

von Hermannus Pfeiffer

Die internationale Fachmesse zur maritimen Sicherheit und Verteidigung MS&D war ein voller Erfolg. Bereits im ersten Anlauf hat sich diese ungewöhnliche und in Deutschland einmalige Militärmesse erfolgreich durchgesetzt. „Die MS&D war der erwartete Magnet für die internationale Fachwelt“, freut sich Veranstalter Bernd Aufderheide. Aufderheide führt die Hamburg Messe und Congress GmbH, die dieses neue »Produkt« zusammen mit einer Fachzeitschrift, Bundesverteidigungs- und Wirtschaftministerium aus der Taufe hob.

Deutschland ist längst wieder eine Seemacht. Eine Tatsache, die selbst an der Waterkant von Bremen, Hamburg oder Rostock kaum wahrgenommen wird. Dabei ist die deutsche Containerflotte die größte auf den Weltmeeren: Jeder dritte Frachter der Globalisierung gehört hiesigem Kapital. Der Hamburger Hafen hat längst London, Tokio und New York weit hinter sich gelassen, und in Duisburg pulsiert der weltweit gigantischste Binnenschiffhafen. Der Schiffbau, eine Hightech-Branche auf Augenhöhe mit der Luft- und Raumfahrtindustrie, liegt in Europa auf Platz eins. Schiffbau ist übrigens weit mehr als (kriselnde) Werften im Norden: Wichtige Zulieferer wie MAN, MMG oder Siemens produzieren in Süd- oder Ostdeutschland.

Den neuen Kurs für einen beispiellosen Wachstumsprozess hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2000 mit seinen »Leitlinien zur Förderung der maritimen Wirtschaft« vorgegeben. Damit stellten sich Staat und Regierung an die Spitze des ehrgeizigen Projekts »Maritimer Komplex«, in das Unternehmen und Verbände, Maschinenbau- und Logistikindustrie, Zulieferfirmen, Banken, Dienstleister vom Reeder bis zum Makler, aber auch Hochschulen, Gewerkschaften und die Deutsche Marine eingebunden sind. Alle zwei Jahre feiert der Maritime Komplex sei Hochamt auf einer Nationalen Maritimen Konferenz, zuletzt im Frühjahr in Rostock mit Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Handel und Krieg hängen seit je eng zusammen. Und so könnte aus der merkantilen Seemacht bald eine militärische Seemacht auftauchen. Doch das bundesdeutsche Flottenprogramm und der damit einhergehende Rüstungsboom erregen bislang erstaunlich geringe Aufmerksamkeit. Dabei sind die neuen Hochtechnologie-Korvetten und Marathon-Fregatten die schlagkräftigsten und mit fünf Milliarden Euro teuersten Waffensysteme in der deutschen Geschichte. Die Kriegsmarine wird damit erstmals seit dem kaiserlichen Flottenprogramm um 1900 wieder ins Zentrum der Militärstrategie und der Außenpolitik gerückt. Damals endete der maritime Wahn im Weltkrieg.

Einblicke in aktuelle Strategiediskussionen erlaubte Anfang Oktober die erste internationale Konferenz und Fachmesse »Maritime Security & Defence« (MS&D) in Hamburg, die vom Bundesverteidigungs- und Wirtschaftministerium unterstützt wird. Ein Brennpunkt der Messe und einer parallel tagenden Expertenkonferenz war selbstverständlich die Piraterie. 2008 beliefen sich die Schäden für die Weltwirtschaft auf schätzungsweise elf Milliarden Euro und jede fünfte deutsche Reederei wurde bereits von Piraten-Angriffen getroffen. Mit dieser Warnung zeigt das Bundeswirtschaftsministerium jedoch gleichzeitig neue Chancen auf: „Angesichts der aktuellen Sicherheitslage hat unsere Industrie große Chancen zur Entwicklung von Abwehrsystemen in diesem Bereich“, eröffnete die Maritime Koordinatorin der Bundesregierung, Dagmar Wöhrl, die Fachmesse.

Auf ihrem Rundgang sah die CSU-Politikerin, dass Industrie und Wissenschaft einiges zu bieten haben. So sollen sich Reeder mit Glitschgel und Schallkanonen gegen Attacken von Seeräubern bewaffnen. Bei einem Angriff kann die Schiffscrew dann durch ein Schlauchsystem grüne und rote Flüssigkeiten versprühen, auf denen die Piraten ausrutschen. Oder die Mannschaft kann mit Knallkanonen bei den Angreifern ein unangenehmes Schwindelgefühl erzeugen.

Kreuzfahrtschiffe und einige Dutzend Frachter sollen mittlerweile mit solchen neuen Systemen ausgerüstet worden sein. Dazu trug auch Druck aus der Versicherungsbranche bei, die weit höhere Prämien von den Schiffseignern für gefährdete Routen verlangt. Für Konteradmiral Heinrich Lange reichen Glitschgel und Knallkanonen allerdings nicht aus: „Man sollte immer noch ein As in der Hinterhand haben.“ Dieses As könnte die Deutsche Marine sein. Den deutschen Militärs wurde auf der erstmals stattfindenden MS&D einiges Neue geboten. Die Industrie zeigte, was sie zu bieten hat.

Ein Trend: Unbemannte Fluggeräte und maritime Drohnen, die vollautomatisch fliegen, aufklären und schießen. Der sensorbestückte Hubschrauber »CamCopter« von Diehl kann im Unterschied zu den bisherigen Drohnen über dem Landziel in der Luft stehen bleiben, wird von einer Kontrollstation an Bord gesteuert und kann auf einer Korvette problemlos landen, versichert der Hersteller. Das Fluggerät wurde bereits bei der Deutschen Marine erfolgreich getestet. Die Technische Universität Clausthal-Zellerfeld stellte eine kleinere Hubschrauberdrohne serienreif vor. Sie könne gegebenenfalls auch bewaffnet werden, um beispielsweise Piratenangriffe abzuwehren. Die Fluggeräte suchen sich dabei ihr Ziel selbsttätig über Thermokameras.

Der zweite Trend: Bis vor kurzem konnten deutsche Kriegschiffe nur See- und Luftziele beschießen. Jetzt rücken Landziele für die Marine immer näher und damit ergeben sich ganz neue Möglichkeiten für eine weltweit operierende Krisenreaktionskraft. Lenkflugkörper von der Firma MBDA starten von U-Booten und Fregatten aus und weisen immer häufiger in Richtung Küste. MBDA, das zum Imperium des deutsch-französischen Flugzeugbauers EADS/Airbus gehört, sieht bei seinen Kunden denn auch einen „Trend zu Landzielen“. Und die neuesten See-Land-Raketen werden mit eigener Optik ausgerüstet. „Dann kann man dokumentieren, dass man keine Schule getroffen hat“, lobt ein Aussteller.

Der dritte Trend nimmt die Globalisierung beim militärischem Wort. Energie und Rohstoffe werden zukünftig immer häufiger im Meer gewonnen. Thyssen-Krupp Marine Systems hatte daher auf die Hamburg-Messe seine Modellstudien für 81 Meter lange Offshore-Korvetten mitgebracht. Deren Aufgabe könnte in naher Zukunft der militärische oder bundespolizeiliche Schutz von Ölplattformen im Atlantik oder von Windparks vor Rügen sein. Zu Thyssen-Krupp gehören die norddeutschen Werften Blohm+Voss, HDW und die Nordseewerke in Emden, in der zukünftig Offshore-Windkraftanlagen gebaut werden. Die Deutsche Marine sieht hier ein weiteres neues Betätigungsfeld heranwachsen.

Die multinationale Marine-Messe MS&D war zugleich eine internationale Verkaufsshow. Zu den Besuchern gehörten 22 Marinedelegationen von allen Kontinenten. „Die Partnerschaft zwischen Bundeswehr und Verteidigungsindustrie ist die Basis für ein erfolgreiches Exportgeschäft“, sagte Rüdiger Wolf, Staatsekretär von Bundesverteidigungsminister Jung. Und da die deutsche Werftindustrie gerade ökonomisch schwächelt, versichert die Maritime Koordinatorin der Bundesregierung, Dagmar Wöhrl, ihre Unterstützung. Alle Ressorts wurden aufgefordert, der „Zukunftsbranche“ zu helfen.

Die Marine wird mit Reparaturaufträgen und kleineren Bauaufträgen die Hochtechnologieindustrie stützen. Vielleicht wird ein seit längerem angedachter neuer Korvettentyp gegenüber den ursprünglichen Planungen vorgezogen. Marine-Vizechef Lange will jedoch keine Schnellschüsse: Kriegsschiffe »leben« drei Jahrzehnte und länger. Und außerdem war die vergangene Legislaturperiode wohl die erfolgreichste in der Geschichte der Marinebeschaffung: zwei U-Boote, der dritte Einsatzgruppenversorger und vier neuartige Fregatten wurden für die kommenden Jahre bewilligt. Fünf neuartige Korvetten wurden außerdem zu Wasser gelassen.

Der alten, wie absehbar der neuen Bundesregierung geht es allerdings um mehr als um eine industriepolitische Hightech-Strategie, wie sie auch im Automobilbau oder der Luftfahrtindustrie angewandt wird. Es geht vor allem um Deutschlands künftige geopolitische Rolle in der Welt. Als „Exportweltmeister und rohstoffarmes Land, das von Importen abhängt“ sei das „Arteriensystem der Weltwirtschaft“ und damit die Marine von grundsätzlicher Bedeutung, versicherte Admiral Lange. So steckten in jedem Auto Teile, die in Dutzenden von Schiffstransporten nach Deutschland geliefert wurden, und am Ende wird das gebaute Auto wieder per Schiff aus Deutschland heraus transportiert. Vier der fünf Millionen hierzulande produzierten Automobile werden exportiert.

»Basis See«

Andere Betätigungsfelder hat die Marine längst für sich reklamiert. Inzwischen schafft die Marine Fakten für die künftige deutsche Außenpolitik. Anders als mancher Außen- und Sicherheitspolitiker in Berlin kämpft die Chefetage der Marine allerdings mit offenem Visier: Mit der Weiterentwicklung der Marine würden zwei Leitlinien verfolgt, heißt es aus dem Flottenkommando bei Flensburg.

Die internationale Krisenbewältigung werde zukünftig noch stärker auf gemeinsame Aktionen von Heer, Luftwaffe und Marine setzen. Und dabei soll die frei von Landesgrenzen und anderen Hemmnissen operierende Marine eine Schlüsselrolle spielen: Die See soll als Basis für zukünftige gemeinsame Operationen der Bundeswehr erschlossen werden. Der neue konzeptionelle Ansatz heißt darum »Basis See«. Gemeinsam mit den »Landratten« vom Heer arbeitet die Marineführung an ihrem Projekt »Führen von See«. Beispielsweise die Feuerunterstützung vom Meer aus gewinnt militärstrategisch dadurch zunehmende Bedeutung. Darum wird die Marine ihre Fähigkeiten ausbauen, so Admiral Nolting, „Kräfte an Land von See aus zu unterstützen“.1

Ihren zweiten Schwerpunkt sieht die Marine künftig im Schutz der Handelswege. Das klingt zunächst keineswegs originell. Aber fortan verteidigt die Marine nicht mehr allein den Ostseeraum und die Deutsche Bucht, sondern will die globalen Handelswege absichern. Da Deutschland hochgradig auf den Außenhandel und den Import von Rohstoffen angewiesen ist, befindet sich die Nation in einer „maritimen Abhängigkeit“, hebt Marineinspekteur Nolting hervor. Weltweit! Der oberste Marinesoldat kann sich auch in diesem Fall auf das »Weißbuch« der Bundesregiering stützen. Deutschland habe infolge der Globalisierung „besonderes Interesse an ungehindertem Warenaustausch“, und die sichere Energieversorgung sei von „strategischer Bedeutung“. Darum müsse die Marine „in großer Entfernung vor fremden Küsten“ operieren können, um Krisen und Konflikte „bereits am Ort ihres Entstehens einzudämmen und zu bewältigen“. Dazu soll sich die Marine im Zuge der Transformation der Bundeswehr zu einer »Expeditionary Navy« entwickeln – zu einer Expeditions-Marine.2

Zumindest assoziativ ist es da nicht mehr weit bis zur Kanonenboot-Politik vor dem Ersten Weltkrieg. Mit der Neuausrichtung wird eine deutsche Marine erstmals seit dem kaiserlichen Flottenprogramm vor einem Jahrhundert wieder ins Zentrum der Militärstrategie rücken. Und die Politik könnte noch tiefer ins Kielwasser von Marine und Industrie geraten, denn die neuen militärischen Möglichkeiten werden neue Begehrlichkeiten bei Politikern und NATO-Partnern wecken. Das Kreuzen vor fremden Küsten könnte zur Standardaufgabe der Bundeswehr werden. Eine weitreichende Globalisierung der deutschen Außenpolitik wäre Bedingung und Folge dieses Kurswechsels zugleich.

Was zunächst defensiv klingen mag, bedeutet, den Radius der Marine auszudehnen nach dem Motto des Hapag-Lloyd-Gründers Alfred Ballin: „Unser Feld ist die Welt“. Dabei sind die Weltmeere nicht so offen, wie sie mancher »Landratte« erscheinen mögen. Nicht allein am Horn von Afrika, sondern auch vor Gibraltar, Malakka oder im chinesischen Meer durchlaufen die blaue Meeresstraßen »Flaschenhälse«, die militärisch gesichert werden sollen.

Neue Kriegsschiffe

Auf der Konferenzmesse MS&D zeigten sich die Spitzenmilitärs zufrieden über technologische Entwicklungen für kommende Kriegsszenarien jenseits von Irak und Afghanistan: Unbemannte Hubschrauber, die selbständig entscheiden und auf jeder Korvette landen können, sehende Flugkörper, die vom U-Boot aus Landziele anpeilen und bahnbrechende Kriegsschiffe. Im kommenden Jahr werden die fünf neuen Korvetten K 130 einsatzbereit sein. Ursprünglich hatten sie bereits in diesem Herbst starten sollen, aber aufgrund technischer Probleme wurden sie zurück in die Werften von Thyssen-Krupp und Lürssen gerufen. Angeblich sollen sie nicht einmal die projektierte Geschwindigkeit erreicht haben, was den Werften kein gutes Zeugnis ausstellen würde. Wenn die Korvetten auf Vordermann gebracht sind, können sie global operieren und erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg Landziele beschießen. Damit entsteht ein qualitativ neues Drohpotential, schließlich liegen acht von zehn der größten Städte auf der Erde am Meer.

Voll zur Entfaltung werden die neuartigen militärischen Möglichkeiten durch weitere U-Boote und vor allem durch vier noch größere Fregatten F 125 kommen, mit deren Bau im Mai 2011 auf den Thyssen-Krupp-Werften begonnen wird. Diese Marathon-Fregatten werden sich extrem lange im Einsatzgebiet aufhalten können, vierundzwanzig Monate statt sechs. Sie benötigen nur 110 Besatzungsmitglieder anstatt der sonst für Schiffe dieser Größe üblichen 220 bis 240 und dies erlaubt ein Zwei-Besatzungen-Konzept. Statt des Schiffes wird regelmäßig die Besatzung gegen eine zweite ausgetauscht. Und während die alten Fregatten oft noch für die U-Boot-Bekämpfung gebaut wurden, sind die neuen speziell zur Bekämpfung asymmetrischer Ziele und Bedrohungen ausgerüstet und für sogenannte Stabilisierungseinsätze vorbestimmt.

Die Marine wird mit den neuen Fregatten und Waffensystemen die technischen Mittel dafür bekommen. Mit ihrem neuen, nur in Teilen bekannten Konzept »Zielvorstellungen Marine 2025+« hat sie zudem das langfristige taktisch-strategische Rüstzeug dafür. Darin hat die Deutsche Marine ihre zukünftigen Aufgaben analysiert und daraus neue Zielvorstellungen abgeleitet, als Grundlage für marine-interne Planungen. Ein zukünftiges ehrgeiziges Ziel ist Modularität. Schiffe sollen nur noch als Plattform dienen, die je nach Einsatzanforderung mit diversen standardisierten Modulen komplettiert werden. Mit Blick auf die laufenden Beschaffungen und Planungen sowie auf den Verteidigungshaushalt wird die Umsetzung der ehrgeizigen Ziele nur in kleinen Schritten, durch Festlegung von Prioritäten und Hinnahme von Kompromissen erfolgen können. Das weiß auch das Flottenkommando.

Politische Alternativen

Alle wesentlichen Wünsche der Marine wurden in der vergangenen Legislaturperiode erfüllt. Weißbuch, Korvetten, Fregatten und Waffensysteme für den Landbeschuss werden die Marine bald zu einem potentiellen Global-Player machen. Doch es ginge auch anders. Immer noch ist die Bundeswehr eine Parlamentsarmee.

In den aktuellen Koalitionsverhandlungen geht es zunächst nur darum, ob die Marine Polizeibefugnisse für die Seesicherheit erhält. Dazu wäre eine Änderung des Grundgesetzes notwendig. Alternativ könnte jedoch eine aufzubauende Bundespolizei-See diese Militarisierung nach Innen stoppen.

Weit wichtiger, die globale Ausdehnung der Seemacht sollte das Parlament beenden. Kernaufgabe der Marine muss wieder der militärische Schutz der heimischen Küste werden. Die Sicherheit Deutschlands sollte weder am Hindukusch noch am Horn von Afrika oder im chinesischen Meer verteidigt werden.

Eine Fachillustrierte titelte auf der Messe: „Deutsche Marine: The Way Ahead“ – Deutsche Marine auf dem Weg vorwärts. Mit „zufriedenen Gesichtern“ – so die Veranstalter – verließen 1.300 Teilnehmer aus allen Kontinenten und mehr als 60 Aussteller nach drei Tagen Hamburg. Die MS&D werde künftig das Forum für internationale Marinen, Politik und Industrie sein, hofft die Messegesellschaft.

Anmerkungen

1) Nolting, Wolfgang E., Maritime Sicherheit im Fokus der konzeptionellen Überlegungen, in Marine-Forum 3-2008 (Internetausgabe).

2) Bundesministerium der Verteidigung, Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr 2006, Berlin 2006, S.131ff.

Dr. Hermannus Pfeiffer ist Soziologe und Wirtschaftwissenschaftler und spürt in seinem gleichnamigen Buch der »Seemacht Deutschland« über ein Jahrtausend nach – von der Hanse bis zum heutigen Maritimen Komplex (Ch. Links Verlag).

Einführung

Einführung

Die Wiederkehr der Rüstungsdynamik und die Renuklearisierung der Welt

von Wolfgang Liebert

Der Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS) besteht seit mehr als zehn Jahren und versteht sich als Fachgesellschaft der naturwissenschaftlich orientierten Friedensforschung, die sich aufgrund eines neuen Schubs des wissenschaftlichen und politischen Engagements bereits seit zwei Jahrzehnten im Aufbau befindet. In der Regel verfolgen wir einen problemorientierten Ansatz. Naturwissenschaftliche und technische Bedingungsfaktoren von politisch brisanten Problemlagen stehen dabei im Fokus. Naturwissenschaftliche Detailarbeit, die sich immer wieder daraus ableitet, bleibt so rückgekoppelt an den außerwissenschaftlichen Ausgangspunkt und das Ziel, zu Problemlösungen in unserer wissenschaftlich-technisch durchwirkten Lebenswelt beizutragen. Damit ist auch eine eindeutige Anwendungsorientierung unserer Arbeit benannt: Politik und die interessierte Öffentlichkeit sollen von unabhängiger Seite (die meisten unserer aktiven Mitglieder arbeiten in Hochschulen oder auch in Instituten der Friedensforschung) nicht nur informiert sowie mit Analysen über Problemzusammenhänge versorgt werden, sondern es sollen auch Handlungsmöglichkeiten empfohlen werden.

Mit den folgenden zehn Beiträgen werden die Expertise und einige wesentliche Themenstellungen von FONAS in allgemein verständlich geschriebenen Aufsätzen vorgestellt. Einerseits hat dies exemplarischen Charakter. Andererseits haben die Artikel auch eine systematische Perspektive. Die Gemeinsamkeit besteht also nicht nur in ihrem Ursprung aus dem FONAS-Kreis, sondern findet seinen Ausdruck auch in einer gemeinsamen hochaktuellen Themenstellung.

Wir beobachten die Wiederkehr der Rüstungsdynamik. Die bestehenden Atomwaffenarsenale werden nicht nur – entgegen allen Abrüstungsversprechungen – instand gehalten, sie werden beständig modernisiert (so werden z.B. die Trägersysteme immer zielgenauer) und ihre militär-strategische Einsatzfähigkeit wird jenseits des Abschreckungspostulats technisch und politisch vorbereitet. Gleichzeitig mehren sich die brisanten Fälle nuklearer Proliferation und die Anzahl »virtueller Atomwaffenstaaten«. Die entscheidenden Wurzeln – neben regionalen Sicherheits- und Prestigeaspekten – werden immer noch nicht zureichend fokussiert: die mangelnde nukleare Abrüstung und die zivil-militärische Ambivalenz nuklearer Technologien und Materialien. Vielmehr wird heute ebenfalls von einer bevorstehenden Renaissance im zivilen Nuklearbereich geredet, ohne die Konsequenzen für die Waffenfrage angemessen zu thematisieren.

So könnte von einer bedrohlichen Renuklearisierung der Welt gesprochen werden. Eine alte Antwort aus den Zeiten der Rüstungsdynamik des Kalten Krieges ist der Aufbau von Raketenabwehrsystemen, der aktuell von den USA mit ersten Stationierungen vorangetrieben wird. Dies hat die Rüstungskontrolle bereits weiter in die Krise getrieben – und erste russische Reaktionen provoziert. Was sind die alten, bereits aufgekündigten, auslaufenden oder geschwächten Abkommen noch wert: ABM-Vertrag zur Raketenabwehr, START-Verträge zur nuklearen Abrüstung, KSE-Vertrag zur konventionellen Abrüstung in Europa, nuklearer Nichtverbreitungsvertrag, Biowaffen-Übereinkommen? Die Diagnose einer Renuklearisierung muss ergänzt werden durch eine Analyse der Dynamik im Bereich der Biotechnologie mit Folgen für mögliche – nunmehr vielleicht realistische – Biowaffenprogramme.

Neben dem Abklopfen übergreifender abrüstungs-, rüstungskontroll- und forschungspolitischer Leitlinien drängen sich zumindest die folgenden konkreten Fragen auf: Wie können nukleare Spaltmaterialien besser geschützt oder aus dem Verkehr gezogen werden? Wie wäre mit proliferationsförderlichen nuklearen Technologien umzugehen? Welche Chancen bestehen für verbesserte nukleare Verifikation und Safeguards? Ist Raketenabwehr die notwendige und funktionstüchtige Antwort auf Proliferationsgefahren? Kann der Bann von Biowaffen »wasserdichter« gemacht werden?

Wir haben als einen übergreifenden Ansatz unserer Arbeit »präventive Rüstungskontrolle« definiert und einige Pilotprojekte durchführen können. Damit ist die Vision verbunden, dass der Automatismus der Einführung von Technologien, deren Möglichkeiten erkannt und erforscht werden, in gewissem Sinne gebrochen werden muss; ebenso die fortgesetzte, unkorrigierte Nutzung von vorhandenen Technologien, deren Gefahrenpotenziale deutlich werden – Chancen für verbesserte Formen der Verifikation treten ggf. hinzu. Ein politischer Regelungsbedarf, der Beschaffungs- und Nutzungsentscheidungen vorgelagert sein muss – oder fortdauernde Nutzung betrifft – soll benennbar werden. Der Glaube an die Unausweichlichkeit der wissenschaftlich-technologischen Dynamik (oder gar Eigendynamik), ihre Alternativlosigkeit ist demgegenüber noch zu weit verbreitet.

Die Wiederkehr der Rüstungsdynamik zeigt sich auch in dem ungebrochenen Drang nach neuen waffentechnischen Möglichkeiten, die mit großem Aufwand wissenschaftlich erforscht werden. Aktuell gehören dazu: Laserwaffen, Weltraumwaffen und militärische Visionen in der Nanotechnologie. Letzteres Beispiel aus dem FONAS-Arbeitszusammenhang wird daher ebenfalls vorgestellt.

Dr. Wolfgang Liebert ist wissenschaftlicher Koordinator der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der TU Darmstadt und ist Vorsitzender des Forschungsverbundes Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS).