Weniger tödliche Soldaten?
Die Wirkmittel der Weltinnenpolitik
von Jonna Schürkes und Christoph Marischka (Informationsstelle Militarisierung e.V.)
Beilage zu Wissenschaft und Frieden 4/2009
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden
zum Anfang | »Schurkenpopulationen« statt »Schurkenstaaten«
oder: Weniger letale Waffen: Mittel und Ausdruck eines globalen Bürgerkrieges
Eine Studie des Beratungsunternehmens PriceWaterhouseCoopers zur Rüstungsindustrie im 21. Jahrhundert aus dem Jahre 2005 empfiehlt den Weltmächten, ihre Rüstungsausgaben drastisch zu erhöhen und damit dem US-amerikanischen Budget anzupassen.1 Ansonsten, so die Studie, würde die US-amerikanische Rüstungsindustrie langfristig eine Monopolstellung einnehmen. Schon heute seien die Rüstungsfirmen, welche die anderen Großmächte beliefern, kaum noch konkurrenzfähig, und es bestehe die Tendenz, dass diese von der US-Rüstungsindustrie mit ihren vollen Auftragsbüchern aufgekauft würden. Geopolitisch würden sich die USA somit den Status eines unangefochtenen Hegemons erkaufen, da sie als einzige fähig wären, neue Waffensysteme zu entwickeln und sich auf Angriffskriege vorzubereiten. Alle anderen Staaten würden langfristig über keine autonome Rüstungsindustrie mehr verfügen, da zumindest einzelne Produktionsschritte oder Know-How in US-amerikanischen Firmen verortet wären. Würden die USA einen Angriff planen oder auch nur erwägen, könnte verhindert werden, dass sich der betreffende Staat zur Verteidigung rüstet.
Die Alternative zu diesem als »Americanisation« bezeichneten Szenario trägt den Titel »Interdependence«. Dieses geht eben davon aus, dass alle Großmächte ihre Rüstungsausgaben drastisch erhöhen. Dies würde auch den restlichen Rüstungsunternehmen die Möglichkeit geben, durch Firmenzusammenschlüsse und -aufkäufe konkurrenzfähig zu bleiben. Diese Zusammenschlüsse müssten notwendig alle nationalen Grenzen überwinden und würden zu einem weltweiten Rüstungsmarkt führen, in dem Know-How und die einzelnen Produktionsschritte über den gesamten Globus verteilt sind. Diese Interdependenz führe dazu, dass die Staaten keine Kriege mehr führen können.2 Rüsten für den Weltfrieden also?
So utopisch – oder besser: dystopisch – diese Szenarien auch sind, so verweisen sie doch deutlich auf Verschiebungen im internationalen Konfliktgeschehen: Militärische Auseinandersetzungen finden immer weniger zwischen Staaten statt als zwischen der internationalen Staatengemeinschaft und irregulären Truppen oder der Bevölkerung an sich. 2001/2002 wurde innerhalb weniger Wochen eine neue Regierung in Afghanistan installiert, auf deren Einladung hin sich die Staatengemeinschaft seither unter UN-Mandat darum bemüht, deren Staatsgewalt gegen vielerlei Widerstände auf das gesamte Territorium Afghanistans auszudehnen. Auch im Irak bestand der eigentliche Krieg nicht darin, die Regierung zu stürzen und die irakische Armee zu besiegen, sondern gemeinsam mit eilig aufgestellten neuen irakischen Sicherheitskräften verschiedene irreguläre Kräfte auszuschalten, aufzureiben oder einzubinden und die neue »öffentliche Ordnung« militärisch landesweit durchzusetzen. Vor Somalia übernimmt die »internationale Gemeinschaft« die Funktion einer Küstenwache auf Bitten einer Regierung, die zwar von der »internationalen Gemeinschaft« anerkannt wird, die aber trotz deren militärischer Unterstützung nur kleine Gebiete Somalias kontrolliert und lediglich in Luxushotels im benachbarten Djibouti zusammentreffen kann – in Sichtweite der Militärbasen, von denen aus die Piratenjagd in somalischen Gewässern durch NATO und EU koordiniert wird. Die UN haben die internationalen Streitkräfte ebenfalls auf Bitten der Pseudo-Regierung mittlerweile auch dazu ermächtigt, Polizeiaktionen gegen Piraten und deren UnterstützerInnen an Land durchzuführen.
Die Liste der »Schurken-Staaten« ist kürzer geworden. Übrig sind fast nur noch Nordkorea und der Iran. Nicht immer ist der Regime-Change so blutig verlaufen wie in Afghanistan und Irak. Viele Regierungen sind – sicherlich auch unter dem Eindruck der Interventionen im Irak und Afghanistan – in die »internationale Gemeinschaft« »zurückgekehrt«, indem sie sich am «Krieg gegen den Terror« beteiligt haben. Pakistan, Jemen und einige Sahara-Staaten mussten dafür das Risiko in Kauf nehmen, Bürgerkriege auszulösen, wenn auch in sehr unterschiedlicher Intensität. Libyen verlor seinen Schurken-Status, indem es sich in die europäische Migrationspolitik hat einbinden lassen und verschärft gegen Transitmigranten vorgeht. Im Gegenzug für die Rückkehr in die »internationale Gemeinschaft« erhielten die meisten Staaten Waffenlieferungen, vor allem aber auch Polizeiausrüstung und -ausbildung. Denn an die Stelle der »Schurkenstaaten« sind »Schurkenpopulationen« getreten.
Die neuen Bedrohungen, auf welche die internationalen Streitkräfte durch den erweiterten Sicherheitsbegriff ausgerichtet werden, gehen nicht mehr primär von Staaten und deren Armeen aus, sondern von vage definierten Bevölkerungsgruppen: (Cyber-)Terrorismus, Organisierte Kriminalität, Migration, Pandemien und Aufstände. In einer sehr grundlegenden Veröffentlichung des EU-eigenen Instituts für Strategische Studien (EUISS) vom September 2009 schreibt dessen Direktor beispielsweise: „Da sich die Herausforderungen von der relativ klar begrenzten staatlichen Verteidigung weg verschieben in vorwiegend ökonomische, soziale und ökologische Sphären, so argumentieren viele, wie Tomas Ries in diesem Band, müssten Sicherheitsbedenken und -optionen ebenso ausgreifend definiert werden, wodurch sich die Reichweite für den gerechtfertigten, legitimen Einsatz der militärischen Instrumente der EU erweitert.“ 3 Tomas Ries schreibt in diesem Buch etwa über die Notwendigkeit von „Abschottungsoperationen, [um] die globalen Reichen von den Spannungen und Problemen der Armen ab[zu]sichern. Da der Anteil der Weltbevölkerung, die in Elend und Frustration leben, erheblich bleiben wird, werden die Spannungen und Spill-Over-Effekte zwischen ihrer Welt und der der Reichen weiter zunehmen. Weil wir wahrscheinlich dieses Problem bis 2020 nicht an seiner Wurzel gelöst haben werden, […] müssen wir unsere Barrieren verstärken.“ 4
Weniger letale Waffen (WLW)5 sind angesichts dieser Prognose Mittel und Ausdruck eines globalen Bürgerkrieges, in dem Polizei und Militär gegen Terroristen, Piraten, Aufständische, Migranten und Demonstranten vorgehen, um die »öffentliche Sicherheit und Ordnung« aufrechtzuerhalten oder durchzusetzen. Dabei verschwimmen zunehmend die Aufgaben von Polizei und Streitkräften und damit gleicht sich auch die Art der Ausrüstung einander an.
Aufgrund der Komplexität und des Umfangs des Themas haben wir uns dazu entschlossen, in diesem Dossier ausschließlich die Bewaffnung der Streitkräfte mit WLW zu behandeln. Dabei sind wir vor allem der Fragen nachgegangen, welches Konfliktbild der Forderung nach WLW zugrunde liegt, wie der Einsatz dieser Waffen durch Streitkräfte aussieht und welche Akteure die Entwicklung und den Einsatz von WLW vorantreiben. Die Forschungen an WLW erstrecken sich auf (a) kinetische Waffen wie Holz- oder Gummigeschosse, (b) chemische Waffen und Materialtechnologien, diese reichen von Tränengas und Beruhigungsmitteln bis hin zu Schaum-, Klebe- und Gleitstoffen, (c) Technologien gerichteter Energie, insbesondere Laser- und Mikrowellenwaffen, (d) akustische Waffen, die Kommunikation verhindern, Ohrenschmerzen, Übelkeit und Orientierungslosigkeit hervorrufen sollen, (e) elektrische Waffen, wie Schilder und Knüppel oder Schusswaffen, welche Stromstöße aussenden und (f) Sperranlagen, zu denen Zäune und Stacheldraht gehören.6 In nahezu jeder dieser Kategorien wird auch an Waffensystemen geforscht, die nicht auf den Einsatz gegen Menschen ausgerichtet sind, sondern Infrastrukturen, Fahrzeuge und Waffensysteme zerstören oder vorübergehend außer Funktion setzen sollen. Da diese jedoch kaum qualitative Unterschiede zu den Zielen und zur Anwendung herkömmlicher Waffen in herkömmlichen Konflikten aufweisen, werden sie in diesem Dossier keine Rolle spielen. Bei den WLW, welche für den Einsatz gegen Menschen konzipiert sind, besteht für die technologische Weiterentwicklung aus militärischer Sicht jedoch kaum Bedarf: So spannend und vielleicht auch faszinierend die technologischen Möglichkeiten zwischen Schrei und Schuss, von Fangnetzen, Schaum-, Schall-, und Mikrowellenkanonen sein mögen, spielen diese in den Strategien der Aufstandsbekämpfung bislang eine marginale Rolle gegenüber herkömmlichen Feuerwaffen, Knüppeln, Tränengas und Stacheldraht, deren Anwendung gegenwärtig intensiv trainiert und verfeinert wird. Auch die Fortentwicklungen dieser Strategien betreffen eher Fragen der Aufklärung, der integrierten zivil-militärischen Lagebilder und der Koordination ziviler und militärischer Kräfte, als das mittlerweile technologisch Machbare, an dem in wenigen militärischen Speziallabors, v.a. aber durch die Sicherheitsindustrie, mit dem stetigen Verweis auf deren Eignung für zukünftig unausweichliche Friedenseinsätze, intensiv geforscht wird.
Anmerkungen
1) PricewaterhouseCoopers (2005): The Defence Industry in the 21st Century – Thinking Global … or thinking American?.
2) Walter Husemann: Was bringt die Zukunft? M&A in der Verteidigungsindustrie, in: Strategie und Technik, Juli 2007.
3) Álvaro de Vasconcelos (2009): What ambitions for European defence in 2020?, EUISS.
4) Tomas Ries: The globalising security environment and the EU, in: Vasconcelos 2009.
5) Im offiziellen Sprachgebrauch werden Wirkmitteln, die den Gegner eher kampfunfähig machen oder vertreiben als töten sollen, häufig als »nichtletale Waffen« (NLW) bezeichnet. Dabei handelt es sich jedoch um eine irreführende und verharmlosende Wortwahl, da fast alle diese Zwangsmittel – je nach Umständen und Dosierung – eine tödliche Wirkung entfalten können. Deshalb verwenden wir in diesem Dossier Ausdruck »Weniger letale Waffen«.
6) Naval Studies Board/ Committee for an Assessment of Non-Lethal Weapons Science and Technology, National Academies Press, 2003.
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Weniger letale Waffen in »kleinen« Kriegen
Es gibt Waffen, die dürfen Soldaten zwar gegen Zivilisten anwenden, nicht aber gegen Soldaten befeindeter Armeen. Hierzu zählt Tränengas, das entsprechend dem Chemiewaffenübereinkommen von 1992 zwar zur „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“, nicht aber in internationalen bewaffneten Konflikten angewandt werden darf.1 Diese Regelung mag zunächst überraschen, geht man doch allgemein davon aus, dass die Befugnisse von Soldaten im Friedensfall gegenüber dem Krieg deutlich eingeschränkt seien, und überhaupt, dass im Frieden eher eine Rechtsordnung, im Krieg hingegen tendenziell eine Gewaltordnung vorherrscht. Wenn man internationales Recht hingegen als Ergebnis und Prozess der Aushandlung zwischen Staaten über den Umgang miteinander begreift, erscheint die zunächst paradoxe Regelung schon einleuchtender. Für den Umgang miteinander wurde der Einsatz chemischer Kampfstoffe ausgeschlossen. Beim Umgang mit der eigenen Bevölkerung und gemeinsamen friedenserzwingenden Maßnahmen in Drittstaaten hingegen wollte man auf das Tränengas nicht verzichten.
Tatsächlich ist das internationale Konfliktgeschehen heute durch Letzteres geprägt: innerstaatliche Konflikte und multilaterale »Friedensmissionen« unter UN-Mandat. Selbst der aktuelle ISAF-Einsatz in Afghanistan, in dessen Rahmen regelmäßig afghanische Dörfer bombardiert werden, zählt völkerrechtlich zu letzter Kategorie.2 Streng genommen dürften ISAF Soldaten, nicht aber Soldaten unter OEF-Mandat Tränengas gegen Aufständische einsetzen. Da Deutschland gegenwärtig keine Soldaten im Rahmen von OEF mandatiert hat, sind die knapp 8.000 deutschen Soldaten in Auslandseinsätzen allesamt in multilateralen und UN-mandatierten »Friedenseinsätzen« und unterliegen nach Ansicht der Regierung nicht dem Kriegsvölkerrecht. Ihre Aufgabe ist die Beobachtung von Waffenstillstandsabkommen, die Unterbindung von Waffenlieferungen und eben die Durchsetzung oder »Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung«. Sie haben dementsprechend noch nicht einen einzigen Kriegsgefangenen gemacht und unterhalten hierfür auch keinerlei Infrastruktur. Stattdessen helfen sie beim Aufbau staatlicher Institutionen (v.a. Militär und Polizei), unterbinden oder zerschlagen Demonstrationen und nehmen Kriminelle fest, zu denen eben auch »violent troublemakers«, Piraten und Terroristen zählen, die sie der Justiz der verbündeten Staaten, die sie häufig zuvor selbst mit aufgebaut haben, übergeben.
In der US-Army wurden die Einsatzregeln und Strategien für solche »Friedenseinsätze« bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem von der Marine unter dem Begriff »Small Wars« – definiert als „Einsätze, bei denen die Konfliktparteien nicht auf beiden Seiten aus regulären Truppen bestehen“ – entwickelt. Als Grundlage diente eine Monografie von Colonel C.E. Callwell mit dem gleichnamigen Titel aus dem Jahre 1896 sowie das »Small Wars Manual« des US-Marinekorps von 1940, die beide überwiegend auf Erfahrungen aus den britischen Kolonialkriegen und US-amerikanischen Interventionen in Zentralamerika und der Karibik basieren und das moderne Völkerrecht noch nicht berücksichtigen konnten. Mit der Joint Doctrine 3-07 des gemeinsamen Generalstabs der USA von 1995 wurde der Begriff des »Small Wars« durch »Military Operations other than War« (MOOTW) ersetzt, für alle Teilstreitkräfte konzeptualisiert und der aktuellen Konfliktlage sowie dem modernen Völkerrecht angepasst, ohne jedoch definitorisch wesentlich von dem der »Small Wars« abzuweichen.3
Hintergrund dieser Fortentwicklung waren zweifelsfrei die neue weltpolitische Lage nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes sowie die vorangegangenen Bemühungen um »Peacekeeping« und »Peaceenforcement« in Bosnien-Herzegowina und Somalia. Die gleichen Rahmenbedingungen führten auch dazu, dass die Zahl der UN-mandatierten Militäreinsätze Anfang der 1990er sprunghaft anstieg und ihr Mandat immer »robuster« wurde. War es beim klassischen »Peacekeeping« Aufgabe der Soldaten, lediglich den bereits ausgehandelten Waffenstillstand zwischen zwei Konfliktparteien zu überwachen und durften sie hierbei nur zur Selbstverteidigung Waffengewalt anwenden, dehnten sich mit den so genannten dritten und vierten Generationen des »Peacekeeping« die Aufgabenbereiche immer weiter in Richtung Aufbau staatlicher Institutionen und Durchsetzung bzw. Aufrechterhaltung »öffentlicher Sicherheit und Ordnung« aus. Gleichzeitig wurde dem Einverständnis aller beteiligten Konfliktparteien als Voraussetzung für einen UN-mandatierten Einsatz immer weniger Beachtung geschenkt.
Die Mandate für die Soldaten werden »robuster«, ihre Spielräume für den Waffeneinsatz also größer, während ihre Neutralität zunehmend in Frage steht. Begründet wird dies mit dem „Versagen der internationalen Gemeinschaft“ v.a. in Srebrenica und Ruanda und dem Anspruch, Aufgabe der UN-Soldaten solle es sein, ZivilistInnen zu schützen, was eben auch intensive Kampfhandlungen erfordert oder zu solchen führen kann. Die Suche nach angemessenen Einsatzregeln für das »unmögliche Mandat«, ZivilistInnen zu schützen, ohne deshalb mutmaßliche Milizionäre, Banditen, Piraten und Terroristen gleich präventiv erschießen zu müssen und damit eine Eskalation des Konfliktes und die Gefährdung der intervenierenden Truppe zu riskieren, führte humanitär argumentierende Think-Tanks bezeichnenderweise wiederum zum »Small Wars Manual« und zur MOOTW-Doktrin der US Army.4
Nun scheinen gerade weniger letale Waffen (WLW) das »unmögliche Mandat« möglich zu machen. Daher erstaunt es nicht, dass ebenfalls in der ersten Hälfte der 1990er Jahre die NATO mit der Forschung an WLW begann. WLW sind nicht darauf ausgelegt, Personen zu töten, sondern sollen Personen oder Menschenmengen von bestimmten Handlungen abhalten oder zu bestimmten Handlungen zwingen. Auch innerhalb einer breiteren Öffentlichkeit fand die Ausrüstung von UN-Soldaten mit WLW bald prominente Unterstützung, verspricht sie doch, „die Lücke zwischen Schrei und Schuss“ 5 zu schließen und das gesamte Spektrum der Gewaltanwendung, das in MOOTW und mittlerweile ebenso in UN-Mandaten vorgesehen ist, zu einem Kontinuum werden zu lassen, das jederzeit entsprechend der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit angewandt werden könne. Auch innerhalb der US-Army besteht die Ansicht, dass WLW den „Zielkonflikt zwischen Erfüllung des Einsatzauftrags, Schutz der eigenen Einheiten und der Sicherheit von Nichtkombattanten“ entschärfen könnte.6
Aus den Reihen der NATO und des US-Militärs ist aber auch eine breite Skepsis und Ablehnung von WLW zu vernehmen. Vom militärischen Standpunkt aus gesehen besteht eines der herausragenden Merkmale und die größte Herausforderung in »Small Wars« und MOOTW nämlich gerade in der Komplexität dieser Konfliktkonstellationen, der Unklarheit über den Status der »Gegner« und der eigenen Befugnisse. Diese Grauzonen, die den einzelnen Soldaten und Kommandeuren der unteren Ebene schwere Entscheidungen – im Grunde über Krieg und Frieden – abverlangen und durchaus eskalierend wirken können, drohen sich durch die Ausrüstung mit WLW und durch Einsatzregeln, die deren Anwendung in Abgrenzung zur tödlichen Gewalt regeln, zu erweitern. Die jüngsten Diskussionen um von Bundeswehrsoldaten getötete Zivilisten und mutmaßliche Taliban zeigen, wie schwer es für Soldaten in solchen Missionen ist, allein zwischen zwei Optionen zu entscheiden, was nicht erleichtert wird, wenn eine dritte Option hinzukommt. Eine Befürchtung, die offensichtlich von der Politik ernst genommen wird, denn den meisten Armeen (auch der Bundeswehr) ist der Einsatz von WLW bislang nur in Situationen erlaubt, in denen auch die Anwendung tödlicher Gewalt zulässig wäre. Die zweite Befürchtung der Militärs hinsichtlich WLW, die von vielen zivilen Organisationen geteilt wird, bezieht sich auf die Gefahr eines neuen Wettrüstens – einerseits natürlich insbesondere in Bezug auf chemische und biologische Waffen, deren Weiterentwicklung sich nach der Legalisierung von Tränengas und ähnlichen Stoffen kaum noch verhindern lassen wird.7 Andererseits aber auch hinsichtlich der Auf- und Ausrüstung nichtstaatlicher Akteure mit solchen, welche die Grauzonen um den Kombattantenstatus weiter vergrößern könnte.8 Eine Befürchtung, die sich insbesondere durch aktuelle Diskussionen um die Piratenbekämpfung und die Bewaffnung der Handelsschifffahrt mit WLW sowie durch die intensive Lobbyarbeit von Forschung und Industrie für Einsatz und Fortentwicklung von WLW bereits zu bestätigen scheint.
Wenn von Neutralität keine Rede mehr ist: Weniger Letale Waffen in Friedensmissionen
Das zunehmende Interesse an Forschung und Entwicklung von WLW fällt mit der Zunahme von UN-mandatierten Einsätzen zusammen. De facto gibt es kaum (noch) UN-mandatierte Friedenseinsätze, in denen sämtliche Konfliktparteien dem Einsatz einer internationalen Truppe zustimmen und in denen die Mission der Soldaten ohne Waffengewalt über die Selbstverteidigung hinaus erfüllbar scheint. In diesen Situationen gibt es keinen Frieden oder auch nur Waffenstillstand, der gehalten werde könnte, sondern dieser »Frieden« muss erst durchgesetzt werden. Die Truppen werden auf Ersuchen oder mit Zustimmung einzelner Konfliktparteien entsandt, was an sich schon dafür sorgt, dass die Truppen nicht als neutraler Akteur zwischen verschiedenen Konfliktparteien vermitteln, sondern dass sie selbst zu einer Konfliktpartei werden, die daher auch Angriffen ausgesetzt sind.
Das »robuste Mandat« erlaubt Soldaten in UN-mandatierten Einsätzen, Waffengewalt auch zur Erreichung der Missionsziele einzusetzen. Die Legalität solcher Einsätze ist zwar durch die Zustimmung der Staatengemeinschaft gewährleistet, ihre Legitimität in den Augen der Gesellschaften sowohl im Einsatzland als auch in den Ländern, die für den Einsatz Soldaten entsenden, jedoch kritisch. Die teilweise gewaltsame Durchsetzung einer neuen öffentlichen Ordnung gegen Widerstände von bewaffneten und zivilen Gruppen, die heute häufig das eigentliche Einsatzziel darstellt, wird legitimiert durch den Schutz von Zivilisten, dem hierdurch (und durch die von den Militärs häufig beklagte »media coverage«) eine erhöhte Priorität zukommt.9 Gleichzeitig überschätzen gerade Gesellschaften, in denen die Gegenwart von bewaffneten Soldaten nicht zum Alltag gehört, die Möglichkeiten, hierdurch alltägliche Gewalt einzudämmen, während sie das Maß an Gewalt, dass nötig wäre, um in Situationen allgemeiner Unsicherheit, Übergriffe, Vertreibungen usw. einzudämmen, enorm unterschätzen.10 Hier wird die oben erwähnte Komplexität sichtbar, die Grenzen zwischen dem eigentlichen Einsatzziel und dem Schutz von ZivilistInnen verschwimmen. Die Legitimität, die über Erfolg oder Misserfolg des gesamten Einsatzes entscheiden kann, erfordert einerseits ein Mindestmaß an Gewaltanwendung, andererseits erfordert sie auch die Gewaltanwendung in Situationen, die mit dem eigentlichen Einsatzziel kaum zu tun haben. Eine der Gefahren, die aus dieser Komplexität erwachsen können, wird seit dem US-/UN-Einsatz in Somalia Anfang der 1990er als »mission creep« bezeichnet – die kontinuierliche Ausweitung des militärischen Auftrags bis hin zur völligen Unerfüllbarkeit, die häufig in der Katastrophe mündet. Im Falle der UNOSOM/UNITAF-Einsätze in Somalia wurden zwischen 1992 und 1995 letztlich 7.000-10.000 ZivilistInnen durch UN-mandatierte Soldaten getötet – in der »Schlacht von Mogadischu« im Oktober 1993 mehrere hundert an einem einzigen Tag – nachdem sich zuvor das Mandat beständig erweitert hatte.11 Durch die zahlreichen toten Zivilisten verlor der Einsatz an Legitimität und die internationalen Truppen gerieten in die Defensive, bis sie sich bis März 1995 vollends zurückzogen. Um ihren Rückzug abzusichern, setzten die US-Soldaten erstmals WLW im Rahmen eines UN-Einsatzes ein, daneben wurde auf bezahlte somalische Söldner und Milizen zurückgegriffen.
Seither beziehen sich Befürworter der Ausrüstung von Peacekeeping Missionen mit WLW häufig auf das Scheitern der UN-Einsätze in Somalia. Mit ihnen – so wird argumentiert – hätte sowohl die hohe Anzahl an getöteten somalischen Zivilisten als auch der Tod zahlreicher US- und UN-Soldaten verhindert werden können.12
Tatsächlich ist jedoch anzuzweifeln, ob der Einsatz nicht letaler Waffen deeskalierend wirkt. Ihr Einsatz ist – wie auch im Fall Somalias – nur in Situationen zulässig, in denen auch die Anwendung letaler Waffen erlaubt wäre. Das sind typischerweise Situationen, in denen feindselige bewaffnete Kräfte anwesend sind und die UN-mandatierten Soldaten entweder einer konkreten Gefahr ausgesetzt sind oder sich dieser durch die Anwendung von Waffengewalt auch weniger letaler Art zumindest aussetzen würden. Aus Gründen des Eigenschutzes würden sich die Soldaten tendenziell für den Einsatz konventioneller Waffen entscheiden, der aber die Legitimität und damit den Erfolg des Einsatzes gefährden kann. Deshalb wird von ihnen verlangt, wenn möglich weniger letale Waffen einzusetzen. Die erhöhte Gefährdung, die hieraus für sie erwächst, kann sie dazu bewegen, WLW auf einer niedrigeren Eskalationsstufe einzusetzen. Major Hall vom US Marinekorps beschreibt die Gefahren eines solchen Szenarios in einem Artikel, in dem er sich gegen die Verwendung nicht letaler Waffen in Friedenseinsätzen ausspricht: „Gehen wir davon aus, dass ein US-Soldat sein Ziel [mit weniger letalen Waffen] getroffen hat, ohne Zivilisten verletzt zu haben. […] Die Kameraden des Getroffenen hören den Schuss einer Waffe und sehen, wie ihr Kamerad zu Boden geht. Sie wissen nicht, dass er mit nichtletaler Munition getroffen wurde. Alles, was sie wissen ist, dass einer von ihnen von einer Waffe getroffen worden ist. In der Menge bricht Panik aus und dutzende von zuvor versteckten Waffen erscheinen und die Soldaten werden mit tödlicher Munition beschossen. Und nun antworten die Soldaten – entsprechend ihrer Pflicht sich selbst zu verteidigen – mit tödlicher Munition. Was ein Versuch war, eine gefährliche Situation zu vermeiden, ist zu einer Kampfhandlung eskaliert, mit zahlreichen toten Zivilisten und Bewaffneten“.13 Dass eine einzige derartige Eskalation einen Einsatz zum Misserfolg machen kann, hat sich am Beispiel Somalia überdeutlich gezeigt.
Die Forschungsprojekte der NATO und der Balkan als ihr Testfeld
Während UNOSOM II wurde von der Konferenz der Nationalen Rüstungsdirektoren der NATO eine Arbeitsgruppe damit beauftragt, sich grundlegend mit der Möglichkeit der militärischen Nutzung von WLW auseinander zu setzen. Seither wird in der Forschungs- und Technologieorganisation der NATO intensiv an diesem Thema geforscht. In deren Berichten wird der Einsatz von WLW bei Friedenseinsätzen empfohlen. Dennoch wurden sie bisher nicht in die NATO Strategien und Doktrinen aufgenommen. Cees M. Coops vom NATO Defense College sieht die Ursachen hierfür darin, dass die Folgen des Einsatzes von WLW nicht ausreichend erforscht sind und internationalen Abkommen den Einsatz von verschiedenen Arten von WLW verbieten. Bei NATO-Einsätzen kommt hinzu, dass die unterschiedlichen Einheiten jeweils dem nationalen Recht unterstehen und damit der Einsatz von WLW nicht allen gleichermaßen erlaubt oder verboten ist. Die Lösung dieser Probleme sieht Coops zum einen in einer Änderung der internationalen Abkommen, zum anderen in der Angleichung der nationalen Gesetzgebung der NATO Mitglieder bezüglich des militärischen Einsatzes von WLW. Und schließlich seien verschiedene der oben genannten Probleme durch klare Einsatzregeln (Rules of Engagement) zur Nutzung von WLW zu lösen.14
Damit bestätigt er nach über zehn Jahren, in denen Industrie und Teile der Politik den Einsatz von WLW insbesondere bei Friedenseinsätzen intensiv propagiert und vorangetrieben haben, was eine Expertengruppe bereits 1996 im Rahmen eines von der »Defence Research Group« der NATO organisierten Seminars festgestellt haben: Nicht die technischen Möglichkeiten schränken den Gebrauch von WLW ein, sondern Fragen hinsichtlich des internationalen Rechts, der Doktrin, der konkreten Einsatzregeln und der Ausbildung der Soldaten beim Umgang mit WLW.15 Diese Fragen verweisen auf grundsätzliche Skepsis beim Militär gegenüber der Ausrüstung mit WLW16 sowie grundsätzlichen Unvereinbarkeiten von militärischer »Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung«.
All diese Probleme des internationalen Rechts, der unterschiedlichen nationalen Rechtslagen, der Ausbildung und der Weiterentwicklung der Doktrinen lassen sich nur durch regelmäßige, intensive und umfassende Übungen und auch Einsätze bewältigen, wie sie vor allem auf dem Balkan im Rahmen von KFOR und SFOR/EUFOR stattfinden. Hier entstand eine Art neue Truppengattung, die CRC-Züge, die speziell für Crowd and Riot-Control, den Umgang mit potenziell gewalttätigen Menschenmengen, aufgestellt wurden und hier wurden bereits massenweise Soldaten im Umgang mit WLW wie Helm, Schild, Knüppel, Pfefferspray und Tränengas ausgebildet. Hier bewies sich auch die Tauglichkeit von Gendarmerie-Kräften für Friedenseinsätze, da diese sowohl unter militärischem wie auch unter zivilem Kommando (etwa im Rahmen von Rechtsstaatsmissionen) mit örtlichen Polizeikräften auf Streife geschickt oder mit der Auflösung von Demonstrationen betraut werden können.17 Der Bundeswehreinsatz im Kosovo diente als Anlass für Deutschland, das Durchführungsgesetz zum Chemiewaffenübereinkommen zu lockern und erstmals Feldjäger mit polizeilichen Aufgaben gegenüber Zivilisten zu betrauen.18 Im Kosovo und in Bosnien Herzegowina wurde mit unterschiedlichen Mandaten experimentiert und diese miteinander kombiniert. So hat sich bei Übungen im Kosovo gegenwärtig folgende Strategie zum Schutz von internationalen Institutionen gegen antikoloniale Proteste durchgesetzt. Es werden zwei Gebiete definiert, eine blaue Zone, in die Protestierende notfalls eindringen können und eine rote Zone, die in jedem Fall verteidigt werden muss. Die erste Verteidigungslinie stellt grundsätzlich die verhältnismäßig schwache (und oft auch gegen die eigenen Landsleute wenig motivierte) kosovarische Polizei. Ist diese überfordert, kommen die Gendarmerie-Kräfte der EU-Rechtsstaatsmission EULEX sowie WLW zum Einsatz. Können auch diese ein Eindringen in die blaue Zone nicht verhindern, verteidigen die CRC-Kräfte der KFOR unter NATO-Kommando notfalls auch unter Gebrauch konventioneller Schusswaffen das Eindringen in die rote Zone, nachdem sie zuvor schon beispielsweise durch das demonstrative Einfliegen von Panzern und andere Show-of-Force-Maßnahmen die Protestierenden einschüchtern sollten. Mittlerweile spielt auch die Aufklärung über die Stimmung in der Bevölkerung, möglicherweise anstehende Proteste und mutmaßlichen Rädelsführer eine zunehmende Rolle und die entsprechende Zusammenarbeit mit lokalen und internationalen Informanten, den Abteilungen für operative Informationen und die Anwendung geeigneter Informationstechnologien werden trainiert. Auch die Zusammenarbeit mit zivilen Einrichtungen wie der Feuerwehr soll sich in diesem Rahmen einspielen und die Soldaten, die bei den Übungen die Protestierenden mimen, sollen hierdurch ein Gespür dafür entwickeln, welche Dynamiken sich unter dem Einfluss von Adrenalin und Sprechchören in Menschenmengen entfalten, um diese besser einschätzen zu können. Erschreckend ist, dass hierbei Szenarien und Konstellationen durchgespielt werden, wie sie durchaus auch innerhalb der EU bei Massenprotesten vorkommen, und dass Begriffe wie NGOs, Demonstranten, Randalierer usw. in den Übungsprogrammen weit gehend synonym verwandt werden.19 Französische Gendarmerieeinheiten lösen in Absprache mit der französischen Feuerwehr unter Beobachtung von deutschen Polizisten und dem Schutz von NATO-Soldaten eine Demonstration im Tränengasnebel auf – für die Proteste gegen den NATO-Gipfel 2009 in Strasbourg wurde offensichtlich im Kosovo geübt.
Auch wenn die Berichte zum Kosovo tatsächlich vermitteln, es handele sich um eine große Aufstandsbekämpfungsübung, so wird diese jedoch nicht nur geübt, sondern auch tatsächlich betrieben. Vor allem seit der Kosovo sich – mit Unterstützung vieler europäischer Regierungen – für unabhängig erklärte, wachsen die Spannungen zwischen der albanischen und serbischen Bevölkerung. Aber auch die Präsenz der internationalen Truppen, die im Kosovo einen von der EU abhängigen Staat errichten sollen, löst bei allen Bevölkerungsgruppen im Kosovo Protest aus. Diese Demonstrationen werden zunehmend durch EULEX, KFOR und die kosovoarische Polizei aufgelöst. Da es hierbei ganz offensichtlich nicht mehr um den Schutz der Zivilisten – der das internationale Mandat begründet –, sondern um die Durchsetzung einer neuen »öffentlichen Sicherheit und Ordnung« geht und sich (jedenfalls in den Demonstrationen) kaum noch irreguläre bewaffnete Kräfte aufhalten, ist die Legitimität des Einsatzes besonders prekär. Deshalb wird vorwiegend auf WLW zurückgegriffen, auch wenn der Einsatz von Schusswaffen – beispielsweise zum Eigenschutz – zulässig wäre.
Aufrüstung an Bord: Piraterie als Chance der Sicherheitsindustrie
Neben diesem im doppelten Wortsinn nahe liegenden Anwendungsgebiet für WLW wird deren Einsatz auch im Kampf gegen die Piraterie insbesondere von der Industrie gegenwärtig intensiv erwogen. Die Konfliktkonstellation ist insgesamt ähnlich: Soldaten der internationalen Gemeinschaft stehen auf der Grundlage eines UN-Mandates sowie des internationalen Seerechts in einem unübersichtlichen Umfeld sowohl Zivilisten (v.a. Fischern und Flüchtlingen) als auch nicht-staatlichen Akteuren gegenüber, die nicht als Kombattanten, sondern allenfalls als Kriminelle zu behandeln sind. Der regelmäßige Einsatz tödlicher Gewalt würde die Legitimität des teuren Einsatzes, der im Grunde nur Werften und Reedern nützt, weiter untergraben und jeder Einzelfall wirft komplizierte rechtliche Fragen auf. Deshalb lässt sich die NATO mittlerweile über die Möglichkeit der Verwendung weniger letaler Waffen zur Piratenabwehr informieren.20 Besonders die Möglichkeit, mithilfe des »Active Denial Systems« Piraten zu vertreiben, hat es der NATO scheinbar angetan. Bei verschiedenen Gelegenheiten hat sie sich von dem Hersteller Raytheon darüber informieren lassen, inwieweit dieser Mikrowellen-Strahler, der demjenigen, der diesen Strahlen ausgesetzt wird, starke Schmerzen zufügen soll, auch auf Schiffen angewendet werden kann.21 Auch die US-Marine hält WLW zur Bekämpfung von Piraten durchaus für geeignet.22 Doch die fehlende Ausrüstung mit WLW und der im Verhältnis zu den Forderungen der Reedereien eher restriktive Einsatz konventioneller Waffen durch die Seestreitkräfte ist nicht der primäre Grund, weshalb die Angriffe der Piraten seit der Präsenz der internationalen Seestreitkräfte nicht nur nicht abgenommen, sondern tatsächlich zugenommen haben.23
Die Piraten haben schlicht ihren Aktionsradius erweitert und somit ist es aufgrund der Größe des Einsatzgebietes und des immensen Aufkommens an Seeverkehr unmöglich, alle Handelsschiffe zu begleiten oder auch nur in Korridoren die notwendige Präsenz aufrecht zu erhalten, um jedem angegriffenen Schiff rechtzeitig zur Hilfe zu kommen. Die Begleitung aller Schiffe in der Region sei schlicht nicht möglich, ließ ein Sprecher der Atalanta Kommandozentrale nach der Entführung der MS Victoria verlauten.24 Eine Position, die auch von der deutschen25 und der US-Marine vertreten wird. Pentagon-Sprecher Geoff Morrell erklärte im November 2008 unmissverständlich: „Alle Länder der Welt könnten Schiffe ihrer Marine dorthin entsenden, aber so löst man dieses Problem nicht“.26
Aus diesem Grund wird von den Reedereien daher gefordert, sie sollten sich selbst verstärkt um den Schutz ihrer Schiffe kümmern. Wie dies jedoch aussehen soll, darüber ist man sich keineswegs einig. General Petraeus, Kommandeur des US-Central Command, forderte kürzlich die Reedereien dazu auf, das Angebot privater Sicherheitskräfte zu nutzen oder die eigenen Seeleute zu bewaffnen. Der Vorsitzende des Verbands Deutscher Reeder, Hans-Heinrich Nöll, wiederum sähe es gerne, wenn Soldaten an Bord der zivilen Schiffe mitfahren würden, diese hätten „eine noch größere Abschreckungswirkung als Marineschiffe allein, die in der Piratenregion patroulieren“.27 Die Reedereien lehnen jedoch mehrheitlich die Präsenz von Soldaten oder bewaffneten Seeleuten an Bord ab, da dies sowohl die Mannschaft als auch die Schiffe und ihr Ladung zusätzlich gefährden würde.
Die Versicherungen, der Verband Deutscher Reeder und das IMB raten den Reedern daher, eigene nichtletale Sicherheitsmaßnahmen gegen Piraten einzusetzen. Die Versicherung Münchner Rück veröffentlichte bereits 2006 eine Broschüre unter dem Titel: »Piraterie – Bedrohung auf See«28, in der sie den Reedereien empfiehlt, ihre Schiffe mit verschiedenen WLW auszustatten. Hier zeigt sich, dass WLW auch die Trennung zwischen unbewaffneter und bewaffneter Schifffahrt aufheben können. Die Ausrüstung mit konventionellen Waffen wird abgelehnt, die Verwendung nichtletaler wird sogar empfohlen.
Es muss zwischen zwei verschiedenen Arten von WLW, die zur Abwehr von Piraten geeignet sein könnten, unterschieden werden: jene, die verhindern sollen, dass die Piraten an Bord kommen und solche, die sie auf Distanz halten sollen. Zu den ersten gehören Elektrozäune an der Reling, Gleitschaum oder Glasscherben an Bord oder die Abwehr der Piraten mit Wasserschläuchen. Diese Wirkmittel provozieren jedoch, dass sich die Piraten besser bewaffnen und durch die Drohung, das Schiff beispielsweise mit Raketenwerfern zu beschießen, durchsetzen, an Bord gelassen zu werden. Waffen, die Piraten auf Distanz halten sollen, hingegen bergen die Gefahr, dass sie regelmäßig gegen zivile Schiffe zum Einsatz gebracht werden, da auf größere Distanz kaum zwischen Flüchtlingen, Fischern und Piraten unterschieden werden kann. Zu dieser Art von WLW gehört das »Long Range Acoustic Device«, eine so genannte Akustikkanone, die auf mehrere hundert Meter Entfernung hochfrequente akustische Signale mit einer immensen Lautstärke emittieren kann, was starke Ohrschmerzen verursacht und jegliche Kommunikation unmöglich macht. Im November 2005 habe das Kreuzfahrtschiff »Seabourn Spirit« einen Piratenangriff mithilfe einer solchen Akustikkanone verhindert, heißt es in der Broschüre der Münchener Rück. Verschiedene Reeder scheinen die Anschaffung dieser Waffe in Erwägung zu ziehen.29
Dass auch die Reedereien bei der Anschaffung von WLW noch zögerlich sind, mag angesichts der Vehemenz, mit der die Anbieter von WLW auf diesen zivilen Markt drängen, überraschen. Alleine im September und Oktober 2009 haben mindestens fünf große Konferenzen und Messen zum Thema maritime Sicherheit stattgefunden, die sich explizit mit dem Thema Piraterie beschäftigen und bei denen immer auch die Möglichkeiten nichtletaler Waffen für zivile Schiffe diskutiert bzw. derartige Waffen vorgestellt werden.30 Es ist absehbar, dass die Highways des Welthandels wie der Golf von Aden oder die Straße von Malakka künftig von Handelsschiffen passiert werden, welche die jeweils ansässige Bevölkerung durch WLW – möglicherweise bedient durch hierfür angeheuerte Sicherheitskräfte – auf Distanz halten. Eine Form der „Abschottungsoperationen, [um] die globalen Reichen von den Spannungen und Problemen der Armen ab[zu]sichern“, die alltäglich und privatisiert stattfinden wird. Die Ausrüstung von privaten Sicherheitskräften und kriminellen Vereinigungen mit WLW wird jedoch auch an Land schnell vollzogen und unkontrollierbar werden, wenn ein legaler ziviler Markt einmal geschaffen ist. Dieser gefährdet dann wiederum das Gewaltmonopol der internationalen Gemeinschaft, das diese mit aller Kraft verteidigen wird.
Anmerkungen
*) So der erste Satz aus den Erörterungen von Major Hall zu „Einsatzregeln und nicht-letalen Waffen – eine tödliche Kombination?“; er spielt darauf an, dass US-Marines seit Ende des Kalten Krieges zunehmend in so genannten Friedensmissionen eingesetzt werden.
1) Hans Wolfram Kessler: Krieg ohne Tränen? Reizstoff für die Bundeswehr: Zur Änderung des deutschen Ausführungsgesetzes zum Chemiewaffenübereinkommen, in: Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften 1/2005; S.4-10.
2) Auch wenn hier durch die bewusste und enge Verknüpfung mit dem OEF-Einsatz, der auf Artikel V des NATO-Vertrages beruht, quasi zeitgleich ein internationaler bewaffneter Konflikt vorliegt, in dem aber wiederum den Kämpfern der Al Kaida und der Taliban der Kombattantenstatus aberkannt wird. Ob und wie das Kriegsvölkerrecht zur Anwendung kommt, obliegt der (gemeinsamen) Einsatzführung von ISAF und OEF.
3) Major Allen S. Ford identifiziert lediglich zwei Unterschiede in den Definitionen von Small Wars und MOOTW: Während beide auf die Verzahnung von diplomatischen und militärischen Mitteln verweisen, integriert MOOTW explizit auch den Einsatz kommunikativer und wirtschaftlicher Strategien. Außerdem seien MOOTW im Gegensatz zu Small Wars konzeptionell nicht auf das Ausland beschränkt, sondern auch im Inland möglich. Vgl: Allen S. Ford (2003): The Small War Manual an Marine Corps Military Operations other than War Doctrine, thesis presented to the Faculty of the U.S. Army Command and General Staff College, Fort Leavenworth.
4) Victoria K. Holt & Tobias C. Berkman (2006): The Impossible Mandate? Military Preparedness, the Responsibility to Protect and Modern Peace Operations, Henry L. Stimson Center.
5) Olaf Arndt & Ronald Düker: Eine andere Gewalt ist möglich, Telepolis, 06.06.2007.
6) Commandant of the Marine Corps (1998): Joint Concept for Non-Lethal Weapons.
7) Jan van Aken (2004): Stillschweigende Aushöhlung des C-Waffen-Verbots? Zur geplanten Ausstattung der Bundeswehr mit Tränengas, NDR-Sendereihe »Streitkräfte und Strategien«, 4.9.2004.
8) David A. Koplow (2006): Non-Lethal Weapons – The Law and Policy of Revolutionary Technologies for the Military and Law Enforcement, Cambridge University Press.
9) Deshalb wird auch dem Umgang mit Medien gerade in den Doktrinen für Friedenseinsätze bzw. MOOTW eine erhebliche Bedeutung beigemessen. In der MOOTW-Doktrin von 1995 heißt es beispielsweise: „Media reporting influences public opinion, which may affect the perceived legitimacy of an operation and ultimately influence the success or failure of the operation“.
10) Christoph Marischka: Illusionen der Allmacht, in: AUSDRUCK, Dezember 2008.
11) Major D. B. Hall (1997): Rules of Engagement and Non-Lethal Weapons: A Deadly Combination?, Marine Corps University Command and Staff College.
12) Council on Foreign Relations (1995): Report of an Independent Task Force. Non-Lethal Technologies: Military Operations and Implications.
13) Major D. B. Hall (1997): Rules of Engagement and Non-Lethal Weapons: A Deadly Combination?.
14) Cees M. Coops (2008): NATO and the challenge of non-lethal weapons. Research Paper, NATO Defense College.
15) Nick Lewer: Research Report #1 des Bradford Non-Lethal Weapons Research Project (BNLWRP), November 1997.
16) So wird von Seiten der Militärs stets betont, dass eine Ausrüstung mit WLW nur komplementär zur Ausrüstung mit konventionellen Waffen erfolgen dürfe, da diese zentral für den Selbstschutz und auch die Identität von Soldaten seien. Deshalb werden strenge Kriterien für WLW benannt, welche die Einsatzfähigkeit der Soldaten gewährleisten sollen: Sie dürfen nicht zu viel wiegen oder sperrig sein, kaum Aufwand bei der Instandhaltung und der Ausbildung der Anwender verursachen, da all dies aus militärischer Sicht zu Lasten der konventionellen Waffensysteme geht. Vgl. etwa: Joint Concept for Non-Lethal Weapons des US-Marine Corps von 1998.
17) Die positiven Erfahrungen mit Gendarmerie-Einheiten, insbesondere der italienischen Carabinieri, auf dem Balkan sind sicherlich als ein Faktor anzusehen, dass die EU sich mittlerweile in zahlreichen Ländern der Dritten Welt darum bemüht, im Rahmen von Sicherheitssektorreformen den Aufbau von Gendarmerieeinheiten zu befördern und dass etwa die USA (GPOI) sowie Italien im Auftrag der G8 (COESPU) diese Gendarmeriekräfte für den Einsatz in Friedenseinsätzen ausbilden.
18) Siehe Kessler 2005, sowie den Beitrag »Weniger letale Waffen bei der Bundeswehr« in diesem Dossier.
19) Bezeichnend auch, dass selbst das Militär auf der anderen Seite die Begriffe Soldaten, Sicherheitskräfte, Gendarmen und Polizisten kaum noch von einander abgrenzt.
20) So beispielsweise auf einem Workshop der NATO Naval Armaments Group im Juni 2009; URL: http://www.nato.int/structur/AC/141/pdf/PS-A/Land%20Armaments,%20NATO%20Defence%20Investment.pdf
21) Auf einem weiteren Workshop der NATO Naval Armaments Group zum Thema Counter Piracy Equipment and Technologies, Juni 2009; URL: http://www.nato.int/structur/AC/141/pdf/S-B/Raytheon.pdf
22) Radiation weapon may help fight pirates, Navytimes vom 04.11.08.
23) Christoph Marischka: Eskalation am Golf von Aden, in: AUSDRUCK, August 2009.
24) Atalanta-Sprecher: »MV Victoria« fuhr nicht in geschütztem Konvoi, PR Inside vom 06.05.09.
25) So beispielsweise der derzeitige Befehlshaber der Flotte, Lutz Feldt (vgl. Somalia: »Die Mission Atalanta wird noch lange dauern«, Die Zeit vom 03.08.09) und sein Vorgänger Hans-Joachim Stricker (vgl. Mission Atalanta: »Militärische Mittel lösen das Piraten-Problem nicht«, Die Zeit vom 05.05.09).
26) DoD News Briefing with Geoff Morrell from the Pentagon, 19.11.08.
27) Reeder wollen Bundeswehr an Bord holen, tagesschau.de vom 10.07.09.
28) Münchner Rück (2006): Piraterie – Bedrohung auf See.
29) Piraten-Abwehr: Schmierfett und Schallkanonen, Stern vom 24.11.08.
30) Auf der »Handelsblatt Konferenz zur Sicherheitspolitik« waren sich Vertreter von Reedereien und Versicherung Mitte September 2009 darin einig, dass die Schiffe selbst in die Lage gebracht werden müssten, Piratenangriffe abwehren zu können. Wie eine solche Abwehr aussehen könnte, zeigten Hersteller nichtletaler Waffen auf der parallel stattfindenden Ausstellung. Ende September fand in Washington DC. die »Maritime Security and Anti-Piracy« Konferenz statt, an der sowohl Vertreter der Marineoperationen im Golf von Aden (also vor allem NATO und EU) und Schiffseigner als auch private Anbieter von Produkten und Dienstleistungen zur Abwehr von Piraten teilnahmen. Auch bei der »Maritime Security and Defense«-Konferenz, die Ende September/Anfang Oktober in Hamburg stattfand, trafen sich Militärs mit Vertretern aus der Politik (beispielsweise dem Staatssekretär des BMVg Rüdiger Wolf) sowie Vertreterr der Sicherheitsindustrie (beispielsweise der Hersteller des LRAD), um gemeinsam über die Möglichkeiten zur Bekämpfung der Piraterie zu beraten. Auch hier gibt es neben der Konferenz eine Messe, auf der verschiedene Sicherheitsunternehmen ihre Produkte und Dienstleistungen präsentieren können. Ein ähnliches Programm hat die »Maritime Security Expo 2009« im Oktober 2009 in Kalifornien, deren Schwerpunktthema ebenfalls die Piratenabwehr ist.
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Die Lücke zwischen Schrei und Schuss
Doug Beason, selbst mit der Entwicklung von Strahlenwaffen beschäftigt, formulierte für den britischen Strategie-Thinktank RUSI (Royal United Services Institute for Defence and Security Studies) ein mögliches Einsatzszenario von WLW: In Neu-Delhi formiert sich ein Demonstrationszug durch die Armenviertel und wächst auf dem Weg zur US-amerikanischen Botschaft beständig an. Einige Teilnehmer sind bewaffnet und sie haben Frauen und Kinder unter sich. So dringt der Mob aufs Botschaftsgelände vor. Die USA hätten sich geschworen, nie wieder eine ihrer Auslandsvertretungen überrennen zu lassen, aber die Marines, die zu ihrer Verteidigung die Gewehre bereits in den Anschlag gebracht haben, zögern noch zu schießen. Nicht weil es unmoralisch wäre, auf eine überwiegend unbewaffnete Menge das Feuer zu eröffnen, sondern weil dies in Sekunden das Verhältnis der USA zu einem ihrer wichtigsten Verbündeten, Indien, um Jahrzehnte zurückwerfen könnte. WLW, die im Normalfall lediglich unerträgliche Schmerzen, Atemnot oder vorübergehende Blindheit hervorrufen, seien die perfekte Lösung für derartige Probleme. Ein Toter oder gleich mehrere können einer Regierung für Jahrzehnte als moralischer Makel anhaften, zu diplomatischen Verwicklungen führen oder die Proteste auch weiter anheizen. Doug Beason wirbt für die folgende Alternative: das »Active Denial System«, eine Mikrowellenwaffe, die in einem bestimmten Winkel eingesetzt bei allen Menschen das Gefühl schwerer Verbrennungen erzeugt. „Bisher hatten [die Einsatzkräfte] nur zwei Optionen: die Aufständischen anzuschreien und zu bitten, anzuhalten oder auf sie zu schießen. Eine einfache, binäre Entscheidung. Schreien oder Schießen, angeschrien zu werden oder zu sterben. Heute gibt es eine dritte Option.“ Und weiter: „…Ein tiefes Brummen erfüllt den Raum, als ob sich ein gigantischer Ofen vor ihnen eröffnet hätte. Innerhalb von Sekunden wird der Schmerz unerträglich. Sie können nicht nachdenken, sie können nur reagieren. Nach weniger als einer Minute sind die Straßen frei und das Gelände ist unwirklich ruhig.“ Übrigens: Der Artikel von Beason trägt den Titel: »Changing the Way Future Wars Will Be Fought« – frei übersetzt: »Das Gesicht der kommenden Kriege«.1 Was Beason die dritte Option nennt, ist die „Lücke zwischen Schrei und Schuss“.2
Zum Thema weniger letaler Waffen (WLW) hat die Fraktion DIE LINKE Anfang Mai 2008 eine Kleine Anfrage im Bundestag gestellt. In ihrer Antwort zeigte sich die Bundesregierung kaum gewillt, über die Forschung, Herstellung und Nutzung von WLW in Deutschland und bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr Auskunft zu geben.
Die Funktion von WLW aus Sicht der Bundesregierung
„NLW [nicht-letale Wirkmittel, offizieller Sprachgebrauch der Bundeswehr, C.M.] sind vorgesehen zur angemessenen Reaktion auf Gewalttätigkeiten aller Art und jeglichen Eskalationsniveaus. […] Ohne NLW stehen den Streitkräften nur die Alternativen Passivverhalten und Einsatz konventioneller soldatischer Bewaffnung zur Verfügung“ schrieb die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Linksfraktion.3 Trotzdem teilt die Regierung nicht die Auffassung vieler ExpertInnen, darunter der des 19. Ausschuss für Technikfolgenabschätzung4, dass „die Verfügbarkeit nicht-letaler Waffen die Hemmschwelle für den Einsatz von Zwangsmitteln senken kann, da ein größeres Spektrum an Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung steht“.5 Dies würde nicht zutreffen, da WLW erst dann zum Einsatz kämen, wenn von der Gegenseite bereits irgendeine Form von Gewalt ausgegangen sei, die aus der Sicht der Bundesregierung auch den Einsatz tödlicher Gewalt legitimieren würde: „Die Anwendung von solchen Wirkmitteln ist jedoch ausdrücklich Situationen auf höherer Eskalationsstufe vorbehalten, bei denen zum Beispiel auch ein Schusswaffengebrauch gerechtfertigt wäre.“
Damit erklärt die Bundesregierung im Grunde, dass sie bereit ist, Soldaten im Ausland Demonstrationen niederschießen zu lassen. Denn „der Einsatz NLW wird konzeptionell ausschließlich auf Crowd and Riot Control (CRC) bei Einsätzen der Bundeswehr im Ausland beschränkt. CRC umfasst alle Verfahren, Kräfte, Mittel und Maßnahmen von Streitkräften im Einsatz zur Verhinderung oder Auflösung von/zur Einflussnahme auf Ansammlungen von Menschen, von denen Gewalt ausgeht oder Gewaltanwendung ausgehen kann.“ An anderer Stelle heißt es: „Ziel der CRC ist es, Menschenmengen auf Distanz zu halten, zu lenken und sofern erforderlich aufzulösen. Die zum Einsatz kommenden Mittel sollen wirksam die eigenen Handlungsmöglichkeiten erweitern, um die Fähigkeit zu einer abgestuften Eskalation und Deeskalation der eingesetzten Zwangsmittel zu eröffnen und gewalttätigen Aktionen wirksam zu begegnen. Damit soll insbesondere die Schwelle zum Einsatz letaler Wirkmittel erheblich erhöht werden.“
WLW in und aus Deutschland
Die deutsche Forschung zu WLW begann spätestens 1993, als das Verteidigungsministerium die DASA mit einer Untersuchung zu WLW beauftragte. Im Anschluss an eine Präsentation der Forschungsergebnisse ergingen drei Forschungsaufträge insbesondere zu akustischen Waffen an das Fraunhofer Institut für Chemische Technologie (ICT), welches seit dem auch Tests mit Fangnetzen, Schaumstoffen und Wirbelgeneratoren als WLW und zahlreiche Arbeitsseminare und Konferenzen zu diesem Thema durchführte.6 Im Dezember 1996 warnte der Ausschuss für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung davor, dass WLW das (Kriegs-)Völkerrecht unterlaufen, zu einem neuen Wettrüsten führen und die Schwelle zur Anwendung von Gewalt auch bei Friedenseinsätzen durchaus erhöhen können.7 Das Fraunhofer ICT initiierte 1998 die Gründung der European Working Group NLW, der es in Person von Dr. Ing. Klaus-Dieter Thiel vorsteht. Das Institut arbeitet eigenen Angaben zufolge sowohl mit dem Verteidigungsministerium als auch der Rüstungsindustrie eng zusammen.8 Das BMVg ist der wichtigste Geldgeber des Instituts; gemeinsam mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung stellt es 50% seiner Mittel zur Verfügung.9
2001 veranstaltete es in Ettlingen das erste European Symposium NLW, nach eigenen Angaben „das größte europäische Symposium auf dem NLW-Sektor“. Seither treffen sich alle zwei Jahre bei diesem Symposium WLW-»Experten« aus Politik und Wissenschaft sowie Vertreter der Rüstungsindustrie und des Militärs. Themen des diesjährigen Symposiums waren u.a. WLW zur Crowd and Riot Control in Auslandeinsätzen, der Schutz von Handelsschiffen vor Piraterieangriffen, der Stand der Forschung und Diskussion innerhalb der NATO und der European Defence Agency, rechtliche Fragen bezüglich des Einsatzes von WLW sowie die Vorstellung verschiedener mehr oder weniger neuer Technologien in diesem Bereich. Der ehemalige Ministerialdirigent Krüger-Sprengel, ein Dauergast in Ettlingen, sprach zu den rechtlichen Implikationen von WLW (»Non-lethal weapons and disarmament«) und vertrat die Meinung, dass angesichts der sich verändernden Form des Krieges WLW nicht durch Verbote und weit reichende Regelungen durch internationale Abrüstungsabkommen zurückgehalten werden sollten.10 Auch waren Vertreter des BMVg und der Bundeswehr – wie auch die Jahre zuvor – als Redner geladen. Dem ungeachtet und obwohl das BMVg der wichtigste Geldgeber des Instituts ist, gab die Bundesregierung in der Antwort zur Kleinen Anfrage an, das Symposium werde von dem BMVg weder personell noch finanziell unterstützt.
Die Bundesregierung gibt jedoch an, dass Forschungsaufträge zu WLW an das Fraunhofer ICT vergeben wurden ebenso wie an die Universität der Bundeswehr in München und die Universitäten in Düsseldorf und Witten/Herdecke. Auch „Unternehmen der nationalen wehrtechnischen Industrie (Rheinmetall, Diehl BGT, EADS)“ wurden mit der Forschung an WLW beauftragt. Neben den Unternehmen, die im Regierungsauftrag forschen, gibt es in Deutschland zahlreiche weitere. Laut einem Bericht des Amtes zur Bewertung von Technikfolgen des Europäischen Parlaments11 waren im Jahr 2000 nach Frankreich in keinem europäischen Land mehr Produzenten und Vertriebe von WLW angesiedelt als in Deutschland. Alleine 21 deutsche Firmen boten bereits damals chemische Reizstoffe, 13 Elektroschockwaffen und zehn kinetische Waffen an. Die deutsche Botschaft London blockierte seinerzeit die Beantwortung eines Fragebogens von Amnesty International UK zu WLW durch die entsprechenden Ministerien. Eine umfassende Liste über den Bestand, Export und Verwendung von WLW zu erstellen, würde unangemessene Kosten verursachen. Der damalige Bericht des Amtes zur Bewertung von Technikfolgen des Europäischen Parlaments zeigte sich irritiert über diese Antwort, da die Bundesregierung zumindest für chemische Reizstoffe ohnehin eine entsprechende Liste im Rahmen des Chemiewaffenabkommens für die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) bereithalten müsste.12
Ähnlich wenig auskunftsfreudig zeigte sich die Bundesregierung bei der Beantwortung der Kleinen Anfrage. Auf die Frage, welche deutschen Unternehmen nach Kenntnis der Bundesregierung an der Forschung, Entwicklung und Herstellung von WLW beteiligt sind, gab die Bundesregierung ausschließlich Rheinmetall, Diehl BGT und EADS an, obwohl beispielsweise die Firma Carl Hoernecke Chemische Fabrik eigenen Angaben zufolge bereits zum Zeitpunkt der Anfrage Reizgase an die Bundeswehr liefert13 und die Bundesregierung demzufolge darüber informiert sein müsste, dass dieses Unternehmen an WLW forscht oder diese zumindest herstellt. Auch über den Export von WLW wollte die Bundesregierung keine Angaben machen.
WLW bei der Bundeswehr
Innerhalb der Bundeswehr ist insbesondere die Wehrtechnische Dienststelle für Schutz- und Sondertechnik (WTD 52) für die Entwicklung und Erprobung von WLW zuständig. Im Jahr 2004 gab diese als Aufgabenschwerpunkt die Ermittlung des „Erstausstattungsbedarf[s] der Streitkräfte für den Einsatz NLW bei friedenserhaltenden Maßnahmen“ an.14 Die WTD 52 forscht an mechanischen, elektrischen, chemischen, akustischen, optischen und energetischen WLW. Die WTD 52 gibt auch an, dass bereits „einzelne NLW […] bei der Truppe in Gebrauch“ sind.15
Erstmals 2001 genehmigte der damalige Verteidigungsminister den Einsatz von Impulswaffen im Kosovo (40mm-Hartschaumstoffgeschosse) und die Innenministerkonferenz empfahl im gleichen Jahr die Erprobung von Elektroimpulswaffen durch die Polizei im Inland. Nach den März-Unruhen 2004 im Kosovo, als die Bundeswehrsoldaten Vertreibungen und Brandschatzungen durch militante Albaner nicht verhindern konnten, wurde festgestellt, dass die Bundeswehr außer über Gummiwuchtgeschosse „unterhalb der Schwelle des Einsatzes von Schusswaffen zurzeit nur über begrenzte Mittel zur angemessenen Reaktion und stufenweisen Eskalation [verfüge]. Insbesondere fehlen Möglichkeiten, Menschenmengen auf Distanz zu halten, zu kanalisieren oder aufzulösen, falls physische Absperrungen oder Warnschüsse nicht zum Erfolg führen.“ 16 In der Folge wurde das deutsche Ausführungsgesetz zum Chemiewaffenübereinkommen dahingehend geändert, dass die Bundeswehr in ihren Auslandseinsätzen neben der vorhandenen Bewaffnung auch Reizstoffe und Pfefferspray einsetzen kann.
Seither ist die Bundeswehr auf dem Balkan und in Afghanistan mit Pfefferspray in zwei verschiedenen Ausführungen mit unterschiedlichen Reichweiten (RSG4 bzw. RSG8) sowie 40mm-Patronen und Granaten, die Tränengas (laut Bundesregierung: „Reizstoffrauch“) freisetzen, ausgerüstet. Diese werden entweder von Granatpistolen oder auch per Anbaugerät vom Sturmgewehr G36 abgefeuert. Der Umfang der entsprechenden Bestände ist jedoch als Verschlusssache eingestuft, weshalb die Regierung keine Angaben hierüber macht. Die Anschaffung von flüssigem CS ist geplant, um dieses durch auf Fahrzeugen montierte bzw. rückentragbare Reizstoffwerfer, über welche die Bundeswehr bereits verfügt, einsetzen zu können. Darüber hinaus verfügen zumindest die CRC-Züge auch über Schlagstöcke und Schilder und die Feldjäger über Wasserwerfer. In ihrer Antwort auf die kleine Anfrage behauptete die Bundesregierung zwar, es seien „keine Wasserwerfer bei deutschen Einsatzkontingenten im Ausland stationiert“. Auf der Homepage der Bundeswehr hingegen sind Bilder eines „Anti-Aufruhr-Trainings“ in Prizren zu sehen, bei denen ein Wasserwerfer, geschützt durch deutsche Soldaten mit Schlagstöcken und Schildern, einen Strahl abfeuert. Auch widersprechen verschiedene Pressemeldungen der Aussage der Bundesregierung. So berichtete die Tagesschau im Mai 2005: „Seit knapp einem Jahr verfügt die Bundeswehr im Kosovo auch über entsprechende Waffen gegen Gewalttäter in einem Protestzug: Gummigeschosse, Tränengasgranaten, Wasserwerfer“. 17 Auch die »Neue Westfälische« berichtete von Übungen mit Wasserwerfern in Kosovo: „Um einen Ernstfall zu demonstrieren, sind am Sonntagmorgen etwa 100 Soldaten aus Augustdorf im »Camp Casablanca« nördlich von Prizren angetreten. Kompaniechef Jan T. erklärt die »Bedrohungslage«: Gewalttätige Demonstranten müssen in Schach gehalten und zur Ruhe gebracht werden. […] Anders als früher sind die Soldaten mit dem so genannten CRC (Crowd-Riot-Control, Kontrolle von Massen-Aufständen)-System ausgerüstet. Diese Ausrüstung besteht aus verschiedenen Waffen, die alle nicht tödlich sind, den Gegner aber außer Gefecht setzen. Je nach Eskalationsgrad werden Tränengas, Pfefferspray, Gummigeschosse, Wasserwerfer und Schlagstöcke gegen Angreifer eingesetzt. Erst im schlimmsten Fall – und immer erst nach entsprechendem Befehl – greifen die Soldaten zur Schusswaffe.“ 18
Die Ausbildung „der für Einsätze der Bundeswehr vorgesehenen Kräfte“ im Umgang mit WLW erfolgt durch die Feldjäger „im Rahmen der einsatzvorbereitenden Ausbildung für Konfliktverhütung und Krisenbewältigung (EAKK) … und erfolgt für die jeweiligen Kräfte grundsätzlich anlassbezogen an den Ausbildungseinrichtungen »Gefechtsübungszentrum Heer« (Letzlingen),19 dem VN-Ausbildungszentrum der Bundeswehr (Wildflecken), dem Ausbildungszentrum Grundlagenausbildung der Luftwaffe (Germersheim), dem Zentrum »EinsAusbÜbSanDstBw« (nur RSG4) in Feldkirchen und der Schule für Feldjäger und Stabsdienst in der Bundeswehr in Sonthofen.“ Dabei verschweigt die Regierung – wie so vieles –, dass die Ausbildung im Rahmen der Auslandseinsätze durch zahlreiche Übungen im Einsatzland weitergeführt wird. Als besonderes Testfeld erweist sich hier der Balkan; insbesondere im Kosovo scheinen CRC-Übungen nahezu wöchentlich stattzufinden.20 Die Übungen sind u.a. notwendig, um den Umgang mit für Soldaten eher untypischen Einsatzmitteln wie Schildern (gegen Steinwürfe) zu trainieren. Die Schilder müssen beim Besteigen des Hubschraubers in einer bestimmten Weise getragen werden, damit sich der Luftzug der Rotoren nicht in ihnen verfängt.
Seit Anfang 2009 werden die meisten Übungen zu CRC, bei denen auch WLW eingesetzt werden, gemeinsam von der Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union im Kosovo (EULEX), der KFOR und kosovarischen Sicherheitskräfte durchgeführt. In der Stadt Kosovska-Mitrovica, die aus einem serbischen und einem kosovarischen Teil besteht, wird von KFOR und EULEX regelmäßig Tränengas eingesetzt – mal um Demonstrationen der albanischen, mal der serbischen Bevölkerung aufzulösen, bevor diese eine »yellow line« überschreiten, welche Serben und Albaner voneinander trennen soll. Inwieweit auch Bundeswehrsoldaten daran beteiligt sind, ist unklar. Die Bundesregierung erklärte in ihrer Antwort auf die kleine Anfrage der Linken zwar lapidar: „NLW wurden, abgesehen zu Ausbildungszwecken, durch deutsche Kräfte bislang nicht eingesetzt.“ Dem widersprechen jedoch zahlreiche Presseberichte und Aussagen aus dem Umfeld der Bundeswehr selbst: Einem Bericht der Zeitschrift »Das Parlament« zufolge wurde z.B. im Kosovo bereits 2005 Pfefferspray durch die deutschen KFOR Soldaten eingesetzt und zwar aus eher lapidarem Anlass: „Zum Beispiel neulich, als zwei Streithähne mit Mistgabeln aufeinander losgingen und damit das halbe Dorf in Tumult zu stürzen drohten – nach einer Prise Pfefferspray herrschte Ruhe. Die deutschen Soldaten seien dem Bericht zufolge sogar besser mit WLW ausgerüstet, als die Einsatzkräfte anderer Nationen.“ 21 Johann Höcherl, Professor an der Universität der Bundeswehr, erklärte auf dem 4. European Symposium on Non-Lethal Weapons im Jahr 2007: „Als Konsequenz aus den neuen Szenarien, in denen Teile der deutschen Armee eingesetzt werden, wurde nicht-tödliche Munition, basierend auf Impuls und Energie, die auf das Ziel übertragen werden, zu Aufstandsbekämpfungszwecken eingeführt, die sich bislang sehr bewährt hat.“ 22 Die Verwendung von WLW wird laut Bundesregierung zwar nach eigenen Angaben „im Rahmen des Bestandsnachweises“ registriert, doch die Bestände sind eben Verschlusssache und damit nicht überprüfbar. Ferner lässt sich aus den Beständen etwa an Pfefferspray oder flüssigem CS wenig über konkrete Einsätze erfahren, da sich die verbrauchten Mengen schlecht wie bei anderer Munition in einzelnen Patronen angeben lassen. Auch hier zeigt sich, dass der Einsatz von WLW weniger kontrollierbar ist und somit durchaus auch die Gefahr besteht, dass die Einsatzschwelle durch WLW sinken kann.
Auch die so genannten »Quick Reaction Force«, die im Sommer 2008 nach Afghanistan verlegt wurde, ist der Bundeswehr und verschiedenen Presseberichten zufolge mit WLW ausgestattet und soll diese anwenden, um „gewaltbereite Menschenmengen … unter Kontrolle zu bringen“.23 Auch hier zeigte sich die Bundesregierung unwillig, den entsprechenden Umfang zu konkretisieren.
Keinerlei Angaben machte die Bundesregierung außerdem zur Ausrüstung der Spezialeinheiten des KSK mit WLW, da „zu operationellen Einzelheiten von Einsätzen der Spezialkräfte der Bundeswehr […] grundsätzlich keine Stellung genommen“ werde. Von einer Bewaffnung mit Gas-, Blend- und Rauchgranaten ist aber, betrachtet man das Aufgabenspektrum des KSK,24 in jedem Falle auszugehen. Sie würde nach wie vor dem Chemiewaffenübereinkommen eklatant widersprechen, da auch nach dessem novellierten deutschen Ausführungsgesetz der Einsatz chemischer Kampfstoffe auf Unruhebekämpfung beschränkt ist. Diese ist aber explizit nicht Aufgabe des KSK.
Intransparent und verantwortungslos
Zu den rechtlichen Implikationen der Forschung und des Einsatzes WLW scheint sich die Bundesregierung ohnehin kaum Gedanken zu machen. So hat schon die Änderung des deutschen Ausführungsgesetzes zum Chemiewaffenübereinkommen dessen Wirkung auf internationaler Ebene geschwächt, indem sich die Bundesregierung damit den Staaten anschloss, die das an sich absolute Verbot von Chemiewaffen in kriegerischen Auseinandersetzungen auf diesem Wege zu umgehen versuchen. Da die internationale Sicherheitsarchitektur ohnehin zunehmend auf asymmetrische Bedrohungen und »neue Kriege« abzielt, also CRC in den Mittelpunkt des aktuellen Aufgabenspektrums rückt, diese aber nach Auffassung der Bundesregierung auch im Ausland eine Ausnahme vom Chemiewaffenverbot darstellt, wird es hiermit de facto entkräftet. Obendrein hat es die Bundesregierung unterlassen, die unter diesen »Ausnahmebedingungen« eingesetzten Wirkstoffe zu spezifizieren und zu beschränken und sie hat jüngst erneut zum Ausdruck gebracht, dass sie dies auch nicht vorhat. „Durch das Fehlen konkreter Definitionen schafft die Neuregelung ein gewisses Maß an rechtlicher Unsicherheit für den RCA-Einsatz (Riot Control Agents). Die Auslegung des CWÜ wird letztlich auf die Ebene der militärischen Einsatzregeln übertragen“, urteilte der Jurist Hans Wolfram Kessler nach der Änderung des Gesetzes.25 Auch Jan von Aken kritisierte diese in der NDR-Sendung »Streitkräfte und Strategien« scharf: „Sobald Sie sich bei den Chemiewaffen auf eine Eskalationsstufe begeben, egal wie niedrig die ist, dann bereiten Sie damit die weitere chemische Eskalation vor. Man muss wissen, dass in der Geschichte jeder Einsatz von tödlichen Nervengasen, von tödlichen Chemiewaffen immer mit Tränengas angefangen hat. Ob das nun der Irak war unter Saddam Hussein, ob das im Ersten Weltkrieg die Deutschen waren, es fängt immer mit Tränengas an, unterste Eskalationsstufe, aber in dem Moment, wo sie im Krieg Gas einsetzen, ist es nicht mehr zu stoppen und am Ende werden sie bei den tödlichen Gasen landen.“ 26
Auf die Frage, ob die Bundesregierung einen weiteren Regelungsbedarf für den Umgang mit WLW auf internationaler Ebene sieht, antwortete diese: „Nein. Auf NATO- und EU-Ebene sind Arbeitsgruppen zu NLW tätig, die eventuell auch neue Regelungen als Empfehlungen an die Mitgliedsstaaten herausgeben. Diese Regelungen sind aber nicht von der Bundesregierung veranlasst.“ Hierzu muss erwähnt werden, dass die angesprochenen Gremien eben nicht mit der Eindämmung und Kontrolle von WLW beauftragt sind, sondern eher Lobbying für diese betreiben. Vorsitzender der European Working Group Non-Lethal Weapons ist beispielsweise der bereits erwähnte Klaus-Dieter Thiel vom Frauenhofer ICT, einem der größten Institute zur Entwicklung von WLW in Europa. Sein Stellvertreter ist Massimo Annati von der italienischen Marine, ein regelmäßiger Autor der Zeitschrift »Military Technology« und angesehener Vordenker moderner Kriegstechnologie. Thiel ist ebenfalls Mitautor einer der wichtigsten NATO-Studien zu WLW27 und Vorsitzender der »International Virtual Non-Lethal Weapons Platform«, einer Internetseite, auf der sich verschiedene Wissenschaftler über WLW austauschen sollen.
Eigentlich müssten Forschung, Produktion, Export und Einsatz von WLW restriktiv gehandhabt werden. Die Bundesregierung räumt zwar ein, dass viele der WLW in Deutschland unter das Waffengesetz fallen, weigert sich aber konsequent, eine Aufstellung zu liefern, welche dieser Waffen exportiert werden. Die Begründung hierfür besteht darin, dass WLW nach Auffassung der Bundesregierung generell nicht unter das Kriegswaffenkontrollgesetz fallen. Deshalb liege ihr „keine statistische Aufbereitung zu Genehmigungen der Ausfuhr von »WLW« bzw. entsprechender Komponenten und Technologien vor. Die Struktur der dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) vorliegenden Datenbestände gestattet keine automatisierte Recherche im Sinne der gestellten Frage“. Das heißt, dass nicht nur Schlagstöcke, sondern auch Wasserwerfer aus dem Hause Daimler oder kinetische Waffen, wie sie Heckler & Koch herstellt, an diktatorische Regime ausgeliefert werden können, ohne dass die Öffentlichkeit hierüber etwas erfährt. Die deutsche Außenwirtschaftsverordnung nimmt für die Länder Somalia, DR Congo, Liberia, Simbabwe, Birma, Côte d’Ivoire, Sudan und Usbekistan „nichtletale militärische Ausrüstung“ von den jeweiligen Waffenembargos der UN aus, sofern sie nur „für humanitäre oder Schutzzwecke“ bestimmt sind. In diesen Fällen jedoch bedarf der Export einer Genehmigung durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA). Auch hier sieht die Bundesregierung keinen weiteren Regelungsbedarf.
Eine ähnliche Haltung zeigt die Bundesregierung, wenn es um die Verwendung von WLW im Inland geht. Obwohl mittlerweile auch die Polizei in Deutschland zunehmend mit WLW, darunter Elektroschockpistolen, ausgerüstet wird, existiert im Geschäftsbereich des Innenministeriums keine einzige Richtlinie oder Verordnung, die den Einsatz von WLW regelt.
Das perfekte Werkzeug für Diktatoren
Die deutsche Regierung finanziert die Forschung und Entwicklung weniger letaler Waffen, weil sie diese für »Verteidigungsaufgaben«, „dort […] wo Risiken und Bedrohungen für die Sicherheit Deutschlands und seiner Verbündeten entstehen“ für geeignet erachtet. Bei solchen »Friedensmissionen«, die ja vermeintlich den Export von Demokratie befördern sollen, ist der Einsatz von WLW vorgesehen, „um Menschenmengen auf Distanz zu halten, zu lenken und sofern erforderlich aufzulösen“.
Die Wirkprinzipien dieser Waffen sind Schmerz und Angst. Obwohl sie in Deutschland meist unter das Waffengesetz fallen, ist ihr Export selbst dann legal, wenn es sich explizit um militärische Ausrüstung handelt, die in Länder exportiert wird, die aufgrund von Menschenrechtsverletzungen mit einem UN-Embargo belegt sind. Entsprechend widerspricht die Bundesregierung der Auffassung des UN-Ausschusses gegen Folter, dass der Einsatz von Elektroschockpistolen beispielsweise Folter sei.
Wie jedoch WLW in manchen Ländern dazu genutzt werden, unliebsame Stimmen unhörbar zu machen, zeigt aktuell das Vorgehen des derzeitigen Machthabers Roberto Micheletti in Honduras, der sich im Juni 2009 an die Macht putschte. Der ehemalige Präsident Zelaya ist inzwischen wieder nach Honduras zurückgekehrt und hält sich seither in der brasilianischen Botschaft in Tegucigalpa auf. Polizei und Militär setzten offenbar sowohl gegen die Demonstranten, die gegen den Putsch und die neue Regierung auf die Straßen gehen, als auch gegen Zelaya selbst WLW ein. Zelaya berichtete davon, die Botschaft sei mit einem Gas beschossen worden, das Übelkeit verursache.28 Zudem wird die Botschaft offenbar mithilfe eines LRAD beschallt.29
Anmerkungen
1) Doug Beason (2006): The E-Bomb: Changing the Way Future Wars Will Be Fought, in: Rusi Defence Systems 9:1, S.90-93.
2) Olaf Arndt & Ronald Düker: Eine andere Gewalt ist möglich, Telepolis vom 06.06.2007.
3) Antwort der Bundesregierung auf BT-Drucksache 16/9050 vom 2.Mai 2008. Alle weiteren Zitate, sofern nicht anders gekennzeichnet, sind der Drucksache entnommen.
4) BT-Drucksache 13/6449.
5) BT-Drucksache 16/9050.
6) Landmine Action (2001): Tödliche Alternativen. Wie die Antipersonenminen ersetzt werden.
7) BT-Drucksache 13/6449.
8) Fraunhofer ICT: Institutsgeschichte; URL: http://www.ict.fraunhofer.de/Institutsprofil/Institutsgeschichte/index.jsp.
9) Fraunhofer ICT (2009): Jahresbericht 2008/09.
10) Friedhelm Krüger-Sprengel (2009): Non-Lethal Weapons and Disarmament.
11) European Parliament (2000): Crowd Control Technologies – An Assessment Of Crowd Control Technology, Options For The European Union (EP/1V/B/STOA/99/14/01), Working Paper der Omega Foundation.
12) Ebd.
13) Hoernecke Sicherheitstechnik. Sicherheit durch Qualität – Internationale Referenzen, www.tw1000.com.
14) Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung (2004): Das BWB und die Dienststellen in der Transformation, BMVg.
15) »Die Dienststellen der BWB«, in: Strategie und Technik, Dezember 2008.
16) BT-Drucksache 15/3599.
17) »Kosovo: Gefährlicher Job für die Bundeswehr«, tagesschau.de vom 23.06.05.
18) »Soldaten sorgen für Sicherheit«, Neue Westfälische vom 3./4.12.2005.
19) Vgl. hierzu: Johannes Plotzky: Kriege üben mit Serco GmbH und SAAB, IMI-Analyse 2005/032, in: AUSDRUCK, Dezember 2005.
20) Dies ergibt eine Auswertung der wöchentlich erscheinenden Feldzeitung der Bundeswehr für das Kosovo, Maz & More.
21) Thiele, Christian: Überwiegend ruhig, aber nicht stabil, in: Das Parlament Nr. 21, 2005.
22) Johan G. Höcherl: Pressure measurements at impact of kinetic energy ammunitions, Beitrag auf dem 4. European Symposium on Non-Lethal Weapons.
23) BMVg: Quick Reaction Force – Eine Schnelle Eingreiftruppe der ISAF, bundeswehr.de vom 18.01.2008.
24) Claudia Haydt: Kommando Spezialkräfte: »Mit der Lizenz zum Töten«, IMI-Analyse 2008/006, in: AUSDRUCK, Februar 2008.
25) Hans Wolfram Kessler: Krieg ohne Tränen? Reizstoff für die Bundeswehr: Zur Änderung des deutschen Ausführungsgesetzes zum Chemiewaffenübereinkommen, in: Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften 1/2005; S.4-10.
26) Streitkräfte und Strategien vom 5.04.08, URL: http://www.ndrinfo.de/programm/sendungen/streitkraeftesendemanuskript68.pdf .
27) NATO Research and Technology Organisation (2006): The Human Effects of Non-Lethal Technologies. The Final Report of NATO RTO HFM-073.
28) Atacan los golpistas hondureños la embajada de Brasil con gases tóxicos, La Jornada vom 26.09.09; URL: http://www.jornada.unam.mx/2009/09/26/index.php?section=mundo&article=020n1mun.
29) »Cañón sónico« para revoltosos, La Tribuna vom 24.09.09; URL: http://www.latribuna.hn/web2.0/?p=44108.
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Übungen von EULEX und KFOR im Kosovo
Crowd and Riot Control« ist inzwischen eine der Hauptaufgaben der verschiedenen internationalen Truppen im Kosovo. Die Unruhen im März 2004, als Kosovo-Albaner vor allem die serbische Bevölkerung angriffen und die KFOR die Ausschreitungen nicht verhindern konnte, werden häufig als Begründung für die Notwendigkeit von Übungen zur »Crowd and Riot Control« herangezogen. Allerdings sind Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Gruppen im Kosovo kaum noch Grundlage der Übungsszenarien, welche meist den Einsatz von WLW beinhalten. Vielmehr wird die Niederschlagung von Protesten gegen die internationalen Organisationen geübt. Im Folgenden dokumentieren wir einige Beispiele von solchen Übungen, die vorwiegend der Feldzeitung der Bundeswehr im Kosovo »Maz & More« und dem »KFOR Chronicle« entnommen sind.
April 2006
Novo Selo – Das Hauptquartier der Multinationalen Task Force Nord war am 6. April Schauplatz eines eindrucksvollen Übungsszenarios für CRC. Dänische, französische, griechische, belgische und luxemburgische [KFOR-]Truppen mussten eine demonstrierende Menge in Schach halten, die aus marokkanischen Soldaten bestand, welche glaubwürdig die Störenfriede spielten.
Die Sicherheitskräfte blockierten mehrere Straßen, um die Bewegungsfreiheit der Demonstranten einzuschränken. Die Randalierer riefen und schrien und begannen letztlich, Wasserflaschen auf die Soldaten zu werfen, die ruhig in Formation verharrten und sich mit ihren Schildern schützten. Schritt für Schritt drängten Einheiten in voller CRC-Ausrüstung, unterstützt von gepanzerten Fahrzeugen, die gewalttätige Menge in die Randgebiete der fiktiven Stadt. Als die beiden Gruppen dann zusammenstießen, eskalierte die Situation. Die Randalierer setzten Autos und Barrikaden in Brand, um die Sicherheitskräfte daran zu hindern, ihnen zu folgen. Tränengasgranaten, abgefeuert aus 100 Metern Distanz, regneten auf die Demonstranten nieder, sodass einige ob ihres Fehlverhaltens in Tränen ausbrachen. Offensichtlich hatten sie die Entschlossenheit der multinationalen Einsatzkräfte unterschätzt. Unbeeindruckt von Molotov-Cocktails, die auf sie geworfen wurden, durchbrachen gepanzerte Fahrzeuge das Inferno aus Flammen und Rauch. Die Niederlage ins Gesicht geschrieben flohen diejenigen Demonstranten, die eine Gelegenheit dazu hatten, bereitwillig, während viele andere verhaftet wurden. Major Heimo Gruber: Demonstrators sow the wind and reaped the whirlwind during CRC Training »Hideous Hydra« in Camp Novo Selo (KFOR Chronicle, 30.4.2006).
Dezember 2008
Eine Phalanx aus Schutzschildern und Helmvisieren. Aus Atemschutzmasken heraus starre, entschlossene Blicke. Ein rhythmisches »klock, klock, klock« ist zu hören, als die italienischen Carabinieri im Takt des Vorwärtsmarschierens die Schlagstöcke an den Rand ihrer Schutzschilder schlagen. Die Situation eskaliert. Denn der Postenkette stehen wütende »Demonstranten« gegenüber, deren ungezügelte Gewalt den Polizisten [sic!] entgegenschlägt. Flaschen fliegen, Protestschilder zerbrechen, Holzlatten schlagen auf die Helme – ein Szenario, das nicht erfunden ist. Seit den so genannten Märzunruhen im Jahr 2004 ist klar, dass die KFOR-Soldaten nicht nur militärisch für Ruhe und Ordnung sorgen müssen, sondern auch in Situationen, wie man sie eher früher vom 1. Mai in Berlin her kennt und die einem Polizeieinsatz gleichen. Dafür gibt es die MSU (Multinational Specialized Unit), eine Spezialeinheit [der KFOR] mit erweiterten polizeilichen Befugnissen, speziell ausgebildet für »Riot Control«, das Eindämmen von »Aufruhr«. Die geschilderte Situation ist diesmal fiktiv: Die MSU übt auf einem alten Rollfeld der Luftwaffe der ehemaligen Jugoslawischen Volksarmee am Flughafen bei Pristina, dem Feldlager Vrelo. […] Das Ziel sei gewesen, die Zusammenarbeit der 84 italienischen Carabinieri und 50 portugiesischen MSU-Soldaten mit ihren 32 Fahrzeugen zu üben, erklärte der Einsatzleiter, Maggiore (Major) Roberte Arcieri. Eine Besonderheit: Die portugiesische Verstärkung wurde mit französischen und amerikanischen Hubschraubern eingeflogen. Erfolgreich sei die Übung gewesen, sagt Maggiore Arcieri, „wir haben ja hart dafür trainiert. Und wir konnten den Soldaten nun zeigen, was sie in der Realität erwartet“. Hauptmann Karsten Dyba: Üben für den Ernstfall (Maz & More 501; Dezember 2008).
Januar 2009
„Wir haben Euch was mitgebracht“, rufen die »Demonstranten« im Sprechchor. Auf ein Zeichen der Schiedsrichter bewegen sie sich auf eine Postenkette der EULEX zu. Diese drängen mit eigenen Kräften die Demonstranten ab, einzelne Störer werden isoliert und abgeführt. Pfeifend ziehen sich die Rollenspieler zurück. „Wir wollen keine EULEX“ erklingt der Schlachtgesang. „Die sind nicht schlecht“, schmunzelt Adjutant Chef (Oberstabsfeldwebel) Patrick T. von der EULEX-Mission. Er steht mit seinen Kameraden in voller Einsatzmontur hinter mehreren Gruppenfahrzeugen. Mehrere Monate war der Gendarm als Angehöriger der MSU (multinationale Spezialeinheit) im Feldlager Prizren stationiert, seit Mitte Dezember gehört er zur EULEX. Neben ihm bereiten rumänische Bereitschaftspolizisten ihre Granatpistolen vor. „Anders als vor einigen Wochen in Vrelo wird heute jedoch kein Tränengas eingesetzt“, beruhigt Hauptmann W. „Bei unseren Übungen in Frankreich nutzen wir nur echtes Tränengas“, bestätigt Patrick T.; „das hat noch nie jemandem geschadet.“ Stattdessen haben die deutschen Rollenspieler ihren Gegnern Darstellungskörper zur Verfügung gestellt. Diese werden gleich zum Einsatz kommen, da die zurückflutenden Rollenspieler eine Barrikade »errichten«. Französische Feuerwehrleute stecken auf Befehl des Übungsleiters mehrere aufeinander geschichtete Autowracks in Brand. Eine kleine Beobachtung am Rand: Einige Wracks tragen MSU und EULEX-Aufkleber und wurden bei Verkehrsunfällen oder echten Einsätzen demoliert… Hauptmann Stephan Schmidt: Das Chaos auf Bestellung – Deutsche Grenadiere als Rollenspieler im Norden des Kosovos (Maz & More 506; Januar 2009).
Februar 2009
Ein Schusswechsel rund ums Krankenhaus in der Ortsmitte von Malisevo: Ein Clan-Chef, der zur ärztlichen Versorgung im Krankenhaus weilt, hatte auf Kosovo-Polizisten geschossen, die ihn festnehmen wollten. Die Polizisten sperren das Krankenhaus ab, während sich vor dem Gebäude Demonstranten versammeln, um die Freilassung des Verdächtigen zu fordern. Die aufgebrachte Menge ruft: „Lasst unseren Bruder frei“ und „Freiheit, Freiheit“. Die Situation ist sehr angespannt, Flaschen fliegen und die Demonstranten versuchen, auf das Krankenhausgelände vorzudringen. Dies war das Szenario, das der Übung zugrunde lag.
Der Bevölkerung zu zeigen „was unsere Stärke ist“, dies sei das Ziel der Übung gewesen, erklärte der Sprecher des Einsatzbataillons Dulje, der österreichische Major Pierre Kugelweis. Das sei auch der Grund gewesen, warum die Übung nicht wie gewöhnlich in einem Feldlager oder auf einem Übungsplatz stattgefunden hat, sondern im öffentlichen Raum. Ohne das Szenario vorzuüben, testete der Übungsleiter Oberstleutnant Manfred Hofer, die Fähigkeit der beteiligten Einheiten zusammen zu agieren, und zwar nach dem Prinzip der gestaffelten Reaktion zur Kontrolle von Menschenmengen und Ausschreitungen (Crowd and Riot Control, CRC). So soll die Kosovo-Polizei erstverantwortlich handeln, erklärte Major Kugelweis, dahinter folgen die EULEX-Spezialeinheiten und erst in der dritten Reihe als sogenannter »Third-Line-Responder« die KFOR-Kräfte. […] Bei der Übung in Malisevo war schließlich doch davon ausgegangen worden, dass der kosovarische CRC-Zug nicht ausreicht, um die Ausschreitungen am Krankenhaus unter Kontrolle zu bringen, weshalb er durch rund 20 EULEX-Polizisten der rumänischen Jandameria verstärkt wurde. Erst in der dritten Reihe standen schließlich österreichische Soldaten des Einsatzbataillons Dulje den Demonstranten gegenüber, die übrigens auch von österreichischen Rollenspielern dargestellt wurden. Im Einsatz waren zudem rund 30 Schweizer, darunter ein Scharfschützentrupp, ein Österreichischer Hundeführertrupp und von deutscher Seite ein Lautsprechertrupp, ein Greiftrupp der Feldjäger und ein Feldjäger-Dokumentationstrupp mit Videokamera. Greif- und Hundeführertrupp übten dabei, den Rädelsführer des Aufruhrs aus der Menge zu »picken«. „Der Hund nimmt meistens den, der vor der ersten Reihe steht“, erklärt Stabswachtmeister Manfred H., der sich von dem dreijährigen belgischen Schäferhund »Burdy« beißen ließ. Eingepackt in einen Schutzanzug hatte er lediglich ein paar Schrammen und blaue Flecken zugetragen, „aber das bin ich schon gewohnt“, sagte er. Der Hund habe bei einem CRC-Szenario einen bedeutenden Vorteil: „Wenn wir ihn mit Maulkorb schicken, ist es rechtlich noch kein Waffengebrauch, macht aber Eindruck…“ Hauptmann Karsten Dyba: Den Rädelsführer beißt der Hund – öffentliche CRC-Übung beweist Einsatzbereitschaft der Kosovo-Polizei (Maz & More 507; Februar 2009).
März 2009
Propagandagraffiti, Diebstahl und Zerstörung von KFOR- und EUFOR-Einrichtungen zeugen von einer starken Störung der Beziehungen der Bevölkerung zur internationalen Gemeinschaft. Die Stimmung ist angeheizt. Vor dem türkischen Feldlager Sultan Murat haben sich Demonstranten eingefunden. Im Feldlager bereiten sich unterdessen türkische Soldaten, unterstützt von Polizisten der Kosovo-Polizei, einer polnischen Polizeieinheit der EULEX und Greiftrupps der Feldjäger darauf vor, die Demonstration aufzulösen. Schnell werden ein innerer Bereich (»Red Box«) und ein äußerer Bereich (»Blue Box«) markiert.
In der Blue Box wird versucht, jeden Versuch eines Eindringens durch nicht-lethale [sic] Wirkmittel (NLW), also solche, die keine tödlichen Verletzungen nach sich ziehen sollen, abzuwehren. NLW sind beispielsweise das Reizstoffsprühgerät, dessen Inhalt aus Chili-, Peperoni-Schoten und spanischem Pfeffer gewonnen wird, sowie Schlagstock, Schild und Gummigeschosse. Jedes Eindringen in die Red Box zieht einen möglichen Schusswaffengebrauch nach sich. Bewaffnet mit Kanthölzern, Knüppeln und Steinimitationen gehen die Rollenspieler auf die Postenkette zu. Steine fliegen durch die Luft. Dann fliegen Rauchkörper. Nebel breitet sich aus. Die Soldaten rücken, gedeckt durch Gewehrschützen, vor bis zur Grenze der Blue Box. Aber die Einpeitscher unter den Demonstranten provozieren immer weiter. Ein Auto wird in Brand gesteckt. Die Feuerwehr kann die Zerstörung des Fahrzeugs nicht verhindern. Vereinzelte, in die Blue Box eindringende Rädelsführer werden durch einen schnellen Zugriff der Eingreiftrupps der deutschen Feldjäger gepackt und abtransportiert. Die Postenkette wehrt alle Angriffe ab… Oberstabsfeldwebel Harry Höft: Die »Red Box« bleibt unangetastet (Maz & More Nr. 514; März 2009).
April 2009:
Die Übung basierte auf folgendem Szenario: In den letzten Jahren hat es keine größeren Unruhen in der Umgebung von Prizren gegeben. Aber eine bestimmte Nichtregierungsorganisation, die für ihre kompromisslose Haltung bekannt ist, hat ihre Aktivitäten und Propaganda in der Region intensiviert. Aufgrund der jüngsten politischen Ereignisse hat diese NGO in den größeren Städten eine Reihe von Demonstrationen gegen die internationale Gemeinschaft organisiert.
Unsere Aufklärung setzte uns davon in Kenntnis, dass eine große Demonstration in unserem Verantwortungsbereich stattfinden würde. Es wurde angenommen, dass eine gewalttätige Gruppe versuchen würde, in das regionale Hauptquartier einer internationalen Organisation einzudringen, um deren Angehörige anzugreifen […].
Diesem Szenario entsprechend fand die »Southern Home Saber Crowd and Riot Control«-Übung am 14. Mai mit der kosovarischen Polizei, der »Regional Operations Support Unit«, der EULEX-Polizei und der KFOR […] statt.
Entsprechend dem Konzept der »Blue and Red Box« nahm die CRC-Einheit der KFOR in der roten Box Aufstellung, während die blaue Box von der kosovarischen Polizei und der EULEX gesichert wurde. In erster Reihe war zunächst die kosovarische Polizei für die Verteidigung des geschützten Objekts zuständig, EULEX sollte in zweiter Reihe Verantwortung übernehmen.
Als die Demonstranten auf die rote Box zukamen, übernahm die CRC-Einheit der KFOR die Aufgabe des Schutzes in ihrer Funktion als dritte Verteidigungsreihe. Die Hauptaufgabe der Übung bestand in der Koordination der Einheiten und in der sukzessiven Übergabe der Verantwortung von der kosovarischen Polizei zu EULEX und von dieser an die KFOR […]. [Um die Soldaten, welche die Demonstranten simulierten, zu schützen] trugen diese CRC-Uniformen und der Einsatz von Tränengas wurde durch Rauchbomben simuliert.
Während der Übung wurden alle möglichen Ereignisse, mit denen CRC-Einheiten konfrontiert sein können, durchgespielt. Ein verletzter Soldat wurde mit einem Rettungshubschrauber abtransportiert, ein Greiftrupp wurde eingesetzt, um einen Provokateur festzusetzen, die Hundestaffel, um die Menge in Schach zu halten […]. First Lt. Hasan Tahsin Vanli: Turkish Contingent is at the Service of Kosovo (KFOR Chronicle, 30.4.2009).
Der Tag begann mit einer friedlichen Demonstration während des ersten Szenarios. Soldaten der Alpha-Einheit wurden Portugiesen gegenübergestellt, welche als »first responder« versuchten, die Demonstranten mit Worten zu beruhigen. Als die Verhandlungen scheiterten, wurden diese durch französische Einheiten ausgewechselt, welche eingesetzt wurden, um die Menge niederzuhalten. Die französischen Soldaten begannen Tränengas (CS) zu verschießen, um die widerspenstige Menge aufzulösen. Der richtige Umgang mit Tränengas ist ebenso ein kritisches Element der Crowd Control wie das Evakuieren von Verwundeten. Die Beobachter, welche die Übung bewerten sollten, zeigten ihre Anerkennung der Leistung, als die Übung beendet wurde. „Als die Franzosen kamen, um den Portugiesen zu helfen, begannen sie alle mit CS einzunebeln“, berichtet Joshua Navarro. „Sie machten es uns unmöglich, etwas zu tun, weil sie immer weiter Gas versprühten.“
In einer zweiten Phase wurden die Soldaten [welche die Randalierer spielten] angewiesen, sich nicht zurückzuhalten und alles gegen die Sicherheitskräfte zu geben. Sie sammelten Stöcke, halbvolle Wasserflaschen und was immer sie finden konnten, um es bei den bevorstehenden Auseinandersetzungen zu verwenden. Die Einheiten preschten vorwärts, um die Franzosen noch einmal anzugreifen. Wiederum stieg eine Mauer aus Tränengas empor und herbeigeführter Stacheldraht wurde ausgelegt, um die Angreifer davon abzuhalten, zu nah zu kommen. Doch Mutter Natur stand auf deren Seite: Als der Wind drehte, das Tränengas verwehte und der Stacheldraht entfernt wurde, schienen die Randalierer die Oberhand zu gewinnen. In die Defensive gedrängt, setzten die Franzosen ein Fahrzeug ein, um den Mob zurück zu drängen. Verschiedene Techniken kamen während der Übung zum Einsatz, um abzuschätzen, welche effektiv und welche weniger erfolgreich sind. Spc. Darriel Swatts: Controlling the Riots before it controls you (KFOR Chronicle, 30.4.2009).
Während der März-Unruhen im Kosovo im Jahr 2004 hatte eine Gruppe von Grenadieren, die das Erzengelkloster schützen sollten, mit einer solchen Situation gar nicht rechnen können und war dafür auch nicht ausgestattet. Sie zogen ab, um das Leben der Mönche zu retten und mussten die Klosteranlage den Aufständischen überlassen. Heute wäre das anders: Die Übung »Southern Landing Saber« des Einsatzbataillons ist die Antwort darauf. Innerhalb kurzer Zeit sperrt die vierte Kompanie des Einsatzbataillons die Straße ins Bistrica-Tal mit Checkpoints, um Zeit zu gewinnen bis Verstärkung kommt – aus der Luft. Mit ihren Hubschraubern fliegt die gemischte Heeresfliegerabteilung »Merkur« deutsche und österreichische CRC-Kräfte ins Tal. Auch für die Piloten ist es eine Herausforderung in dem engen Tal im Minutentakt Soldaten abzusetzen. Diese sperren den Zugang zum Kloster ab, als die Lage eskaliert. Doch selbst von brennenden Autoreifen und Molotowcocktails lassen sie sich nicht abschrecken. Mit dem Einsatz von Tränengas lösen sie schließlich die gewalttätige Demonstration auf.
Wie ein landender Säbel, 12.03.2009, http://www.einsatz.bundeswehr.de
Juni 2009
Am 17. und 18. Juni 2009 fand bei den Feldlagern in Vrelo (MNTF C) und Novo Selo (MNTF N) die Crowd and Riot Control-Übung »Balkan Hawk« statt, die größte Übung diesen Jahres. Ziel dieser Übung war es, ein sicheres Umfeld aufrecht zu erhalten und die Einrichtungen der EULEX sowie die kosovarischen Institutionen vor gewalttätigen Übergriffen zu schützen. Ebenso wichtig war es aber auch, die Pläne der Randalierer und ihre Bewegungen im Vorfeld zu enthüllen und zu registrieren.
Das Übungsszenario basierte auf tatsächlichen Ereignissen. Das Parlament der EU hatte beschlossen, Geld, das nach einer Pressemitteilung im Frühjahr in den Bau zweier Krankenhäuser fließen sollte, umzuwidmen, um damit ein Recycling-Zentrum einzurichten. Am Tag nach dieser Bekanntmachung berichteten kosovarische Radio- und Fernsehstationen von Zivilisten, die hierüber enttäuscht und wütend waren. In Reaktion auf die Nachrichten rief eine Vereinigung der Krankenhausangestellten (HWA) für den 17. Juni zu Demonstrationen und Aktionen gegen die EU, EULEX und das Ministerium für Umwelt und Raumplanung im Camp Vrelo auf.
Soldaten des tschechischen Kontingents mit CRC-Ausrüstung und gepanzerten Fahrzeugen standen bereit, um die französische Gendarmerie im Bedarfsfall zu unterstützen. Die Randalierer warfen halbvolle Plastikflaschen und Stöcke auf die Polizei, steckten Gegenstände in Brand und riefen der Gendarmerie aggressive Parolen entgegen. Der Einsatz von Tränengas war untersagt. Zugleich transportierten US-amerikanische Helikopter Verstärkung ins Einsatzgebiet – eine Abteilung der Multinational Specialized Unit (MSU).
Informationen gingen ein, nach denen die HWA-Aktivisten das EU-Verwaltungsbüro in Novo Selo angreifen wollten. Nachdem der erste Hubschrauber (Super Puma) mit einer Gruppe Soldaten der taktischen Reserve der KFOR ankam, lieferten drei Helikopter des Typs »Black Hawk« einer nach dem anderen drei französische Schützenpanzer (Véhicule blindé Léger, VBL) an Hängeseilen ab. Die Verhandlungen scheiterten, woraufhin es zu Zusammenstößen kam. Die KFOR (französische Soldaten) intervenierte, um die Situation zu stabilisieren.
Im Ergebnis lernten die Teilnehmer wertvolle Lektionen, um auf Situationen vorbereitet zu sein, in denen sie mit wütenden Menschenmengen konfrontiert sind, um zu antizipieren, was der Mob tun wird. Nicht zuletzt konnten sie ihre Techniken zur Crowd and Riot Control zu trainieren. Lieutenant Colonel Vadym Tymoshenko: The Balkan Hawk 2009 CRC Exercises (KFOR Cronicle, 30.6.2009).
August 2009
Nach einer gefühlten Ewigkeit in der Postenkette in der schweren CRC-Ausrüstung rann den Soldaten der Schweiß in Bächen unter dem Helm hervor in die Uniform. Die Darsteller der gewalttätigen Demonstranten überzeugten vollkommen. Selbst als unbeteiligter Beobachter bekam man die besondere Brisanz der Situation zu spüren, wenn etwa der Einsatz von Reizgas simuliert wurde, um die Gewalttäter abzuwehren, oder ein wahrer Hagelsturm von Wasserflaschen auf die Einsatzkräfte niederging.
Beeindruckend ebenfalls war der reibungslose Einsatz anderer Truppengattungen. So wurden Soldaten der Truppe für Operative Information im Feldlager Casablanca eingesetzt, um Botschaften des militärischen Führers vor Ort über Lautsprecher an die Demonstranten zu übermitteln. Ein Bild, das ebenfalls einen starken Eindruck hinterließ, waren die sechs Helikopter der Gemischten Heeresfliegerstaffel aus dem Feldlager in Toplicane, die gemeinsam mit deutschen Feldjägern Teilnehmer einer Tagung von internationalen zivilen Organisationen aus Suva Reka evakuierten. Stark auch der Einsatz von Piloten aus Deutschland, der Schweiz und Österreich, die sowohl Truppen ins Erzengelkloster einflogen als auch Zivilpersonen aus dem Feldlager Casablanca und der Ortschaft Zociste evakuierten.
Leutnant Tobias Strahl: Southern Rising Readiness – Die multinationale Einsatztruppe Süd ist gut ausgerüstet (Maz & More Nr. 533; August 2009).