Das Mali-Desaster


Das Mali-Desaster

von Jürgen Nieth

„Die EU droht dem Krisenland Mali für den Fall eines Einsatzes der russischen Söldnerfirma Wagner mit einem Ende der Unterstützung. Dann wäre eine ‚rote Linie überschritten, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nach Beratungen der Außenminister.“ (ZDF-Text, 18.10.21, 22:22 Uhr). Ein mögliches Ende des Bundeswehrengagements, bei einem Einsatz russischer Söldner in Mali, hatte Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer bereits Mitte September angedacht. Es geht dabei um die deutsche Beteiligung an der »Europäischen Ausbildungsmission« (EUTM) und dem Einsatz im Rahmen der Vereinten Nationen (MINUSMA).

Daniel Lücking kommentiert das im nd (21.09.21, S. 2): „Mali erlebte in den vergangenen Jahren zwei Putsche, wird derzeit von einer Militärregierung geführt. All das während seit vielen Jahren laufender UN- und EU-Militäreinsätze. Grund für einen Abzug von Truppen waren die Putsche nie. Nun aber reichen Gerüchte um einen angeblich von Bamako geplanten Einsatz russischer Söldner, um laut über ein Ende des deutschen Engagements nachzudenken.“ Und für Sabine Kebir ist die „Empörung des Westens über einen Einsatz russischer Söldner in Mali […] ebenso wenig glaubhaft, wie es in Bezug auf Libyen oder Syrien ist. Bedient man sich doch selbst in eben diesen Ländern nicht nur etlicher Private Military Contractors, sondern zugleich zehntausender Söldner.(Freitag, 30.09.21, S. 9)

Der Militäreinsatz

„Im Rahmen der beiden Mali-Mandate sind derzeit etwa 1.220 Soldaten der Bundeswehr eingesetzt, jedoch ohne Kampfauftrag. Frankreich hatte 2014 die Operation Barkhane gestartet, um den islamistischen Terror zu bekämpfen. Zuletzt hatte sie eine Stärke von 5.000 Soldaen. Das gesamte Personal der MINUSMA liegt bei mehr als 18.000, darunter mehr als 12.000 Soldaten.“ (Claudia Bröll in FAZ, 28.09.21, S. 11) Über die Ziele der Einsätze gehen die Meinungen auseinander. Dazu Denis Tull in NZZ (22.09.2021, S. 59): „Der französische Präsident Macron sagt klar: Wir machen hier nur Terrorismusbekämpfung. Schaut man aber auf die Strategien der anderen europäischen Länder, die vor Ort präsent sind, sieht es anders aus. Was die deutsche Regierung etwa über die Ziele ihres Einsatzes schreibt, kommt der Staatsbildung sehr nahe.“ Für Ruslan Trad (Tagesspiegel 18.10.21, S. 9) stehen geopolitische Fragen im Mittelpunkt. Für ihn „ist die Sahelzone auch für die Sicherheit der EU und anderer Teile Afrikas von entscheidender Bedeutung […]. Die Region ist aber auch für Russland interessant, dort liegen Diamanten- und Goldminen, auf die es der Kreml abgesehen hat. Für die europäische Präsenz auf dem Kontinent werden die Herausforderungen immer größer.“ Die ökonomischen Interessen der alten Kolonialmacht Frankreich in der Region bleiben unerwähnt.

Krisenland Mali

Der Sahelstaat ist viermal größer als Deutschland und hat fast 20 Mio. Einwohner*innen. Er ist einer der ärmsten Staaten der Welt, das jährliche Durchschnittseinkommen beträgt laut Weltbank 830 US $ im Jahr, rund 70 Prozent der Bevölkerung gelten als Analphabet*innen.

„Seit mindestens fünf Jahren beobachten wir eine kontinuierliche Verschlechterung der Sicherheitslage in Mali und im gesamten Sahel,“ schreibt Denis Tull (s.o.). „Die Zahl der Anschläge jihadistischer Gruppierungen nimmt zu, die Zahl der Vertriebenen ist stark angestiegen, vielerorts gibt es nur noch eine Art Rumpfstaat, der die städtischen Gebiete kontrolliert.“ Katrin Gänsler (taz 20.09.21, S. 9) zitiert einen Beobachter aus Bamako: „Selbst eine Million Soldat*innen könnten diesen Staat nicht überwachen […]. Erfolgreiche Terrorbekämpfung ginge deshalb nur über die Politik. Seit den 1990er Jahren habe die Korruption aller Regierungen stetig zugenommen und sich überall im öffentlichen Leben etabliert.“ In derselben taz schreibt Christine Longin, die EU-Ausbildungsmission „habe bislang 15.000 malische Soldaten geschult […] Der Erfolg gilt als mäßig.

In dieser Situation hat die Militärregierung in Bamako den Einsatz russischer Söldner ins Gespräch gebracht. Denis Tull (s.o.) sieht darin primär ein „politisches Manöver […]. Für die Militärführung könnte es unter anderem darum gehen, sich etwas mehr Freiraum zu schaffen.“ Ähnlich sieht das Claudia Bröll (FAZ): „Die Militärjunta verspricht zwar bis Februar 2022 Wahlen und einen Übergang zu einer zivilen Regierung. Doch sind bisher keine verstärkten Bemühungen in diese Richtung erkennbar […]. Das Kalkül könnte darin bestehen, einen Verzicht auf einen Vertrag (mit dem Söldnerunternehmen) anzubieten, wenn die internationale Gemeinschaft eine Verschiebung der Wahlen akzeptiere. Auch für Sabine Kebir (s.o.) geht es möglicherweise nur um eine „warnende Botschaft“.

Wie weiter

Für Denis Tull (NZZ 22.09.2021, S. 5) ist ein baldiges Ende des Einsatzes nicht zu erwarten. Wahrscheinlich ist aber eine substantielle Verkleinerung zumindest der französischen Operation Barkhane. Und dies kann durchaus eine Chance sein […]. Vielleicht schafft das mehr Freiräume für Lösungen, die zwar nicht immer den Vorstellungen der Europäer entsprechen werden, die möglicherweise aber besser funktionieren.

Nachdem Kramp-Karrenbauer drohte, eine „Präsenz der Russen gefährde die Fortführung der Bundeswehr-Missonen in Mali, forderte der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich eine generelle Prüfung, ob der Einsatz deutscher Soldaten dort noch sinnvoll sei […]. Mützenich stellte infrage, ob mit der Übergangsregierung in Bamako, die seit einem zweiten Militärputsch amtiert, überhaupt der Übergang in demokratische Verhältnisse noch zu erreichen sei“, schreibt die FAZ (18.09.21, S. 4). Die Verteidigungsministerin ist nur noch wenige Tage im Amt, dann liegt die Richtlinienkompetenz bei einem sozial­demokratischen Kanzler. Ändert sich etwas bei den Militäreinsätzen? Kaum anzunehmen, dass die neue Regierung Sabine Kebir folgt, die im Freitag (s.o.) schlussfolgert:„Wenn der Dschihadismus ernsthaft bekämpft werden soll, liegt eine militärische und ökonomische Kooperation mit Russland und China durchaus nahe – nicht nur im Sahel.

Zitierte Presseorgane: FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, Freitag – Der Freitag, nd – neues deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, Tagesspiegel – Der Tagesspiegel, taz – die tageszeitung, ZDF-Ticker

Deutschlands Verantwortung im UN-Sicherheitsrat


Deutschlands Verantwortung im UN-Sicherheitsrat

von Lisa Heemann und Patrick Rosenow

Bild Lisa Heemann
Bild Patrick Rosenow

Seit dem 1. Januar 2019 sitzt Deutschland für zwei Jahre als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Das wichtigste Gremium der Weltorganisation mit fünf ständigen und zehn nichtständigen Mitgliedstaaten ist für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit hauptverantwortlich zuständig und steht vor enormen Herausforderungen. Nicht nur die Krisen und Konflikte in Syrien, der Ukraine oder in Venezuela sorgen für eine starke Konfrontation innerhalb des Rates. Einige Mitgliedstaaten stellen sogar die bisherige multilaterale und regelbasierte Weltordnung grundsätzlich infrage – diesbezüglich ist der Sicherheitsrat aufgrund seines Regelwerks aber nahezu handlungsunfähig.

Die Erwartungen der UN-Mitgliedstaaten an die Bundesrepublik sind sehr hoch: Mit 184 von 193 Stimmen erzielte Deutschland im letzten Jahr in der UN-Generalversammlung ein sehr hohes Wahlergebnis. Deutschland wird als »Brückenbauer« gehandelt – zwischen den USA auf der einen und China und Russland auf der anderen Seite, z.B. im Syrien- und Ukraine-Konflikt oder bei den Spannungen zwischen den USA und Iran.

In der Mehrzahl seiner Sitzungen befasst sich der Rat mit »Alltagsgeschäften«, wie der Verlängerung von Friedensmissionen oder Sanktionen. Die Themen Abrüstung, Krisenprävention, Klimawandel und Menschenrechte sollten jedoch stärker in seinen Fokus rücken– dies sind auch für die Bundesrepublik relevante Themen. Der Vorsitz des Sicherheitsrates rotiert im monatlichen Wechsel, und der Vorsitz bestimmt maßgeblich die Agenda. Deutschland und Frankreich werden zum ersten Mal im März (Frankreich) und April (Deutschland) dieses Jahres im Rat eine Art »Doppelpräsidentschaft« führen. Sie hegen den Anspruch, mit einer starken und gemeinsamen europäischen Stimme zu sprechen, allerdings fällt in diese Zeit voraussichtlich der »Brexit«, der Ausstieg des ständigen Sicherheitsratsmitgliedes Großbritannien aus der Europäischen Union. Dies könnte die Zusammenarbeit erheblich erschweren.

Bei alledem darf nicht vergessen werden: Der Sicherheitsrat muss auf aktuelle Krisen und Konflikte sehr kurzfristig reagieren können. Gerade dann muss Deutschland bei Abstimmungen eine klare Position beziehen – entweder für oder gegen etwas – und darf sich nicht, wie im Fall Libyen 2011, mit einer Enthaltung aus der Affäre ziehen. Die Bundesregierung ist gefordert, sich auf solche Situationen vorzubereiten, indem sie die nötigen finanziellen und personellen Ressourcen für eine kohärente Außenpolitik zur Verfügung stellt.

Aufgrund der komplexen Gemengelage sollte die Bundesregierung überlegen, die Entscheidungsstrukturen und Weisungen durch das Auswärtige Amt gegenüber der Ständigen Vertretung in New York zu vereinfachen. Mehr Handlungsfreiraum für den Ständigen Vertreter im Sicherheitsrat könnte sowohl die Sichtbarkeit der Bundesrepublik als Brückenbauer erhöhen als auch bei Konfliktthemen ein konstruktives Verhandlungsklima in einem polarisierten Rat fördern.

Die deutsche Öffentlichkeit zeigt großes Interesse an außenpolitischen Themen, lehnt aber mehrheitlich ein stärkeres militärisches Engagement ab. Das Beharren auf völkerrechtlichen Regeln und die Angst vor Abenteuern mit unkalkulierbaren Risiken sind groß. Letzteres gilt allerdings nicht für Einsätze mit Mandat des UN-Sicherheitsrats. Wenn die Diskussion über Blauhelm-Einsätze zusammen mit der über die strategischen außenpolitischen Interessen und die Werte Deutschlands geführt würde, wäre Deutschland besser auf die fordernde Mitarbeit im Sicherheitsrat vorbereitet. Aus diesem Grund muss die deutsche Öffentlichkeit immer wieder über die Möglichkeiten und Grenzen der Vereinen Nationen und des Sicherheitsrats informiert werden.

Eine Reform des Sicherheitsrats, seiner Zusammensetzung ebenso wie des Vetorechts, bleibt hingegen bis auf Weiteres unrealistisch und damit auch der Anspruch Deutschlands auf einen ständigen Sitz im Rat. Europa ist – gemessen an der Weltbevölkerung – in dem Gremium ohnehin schon deutlich überrepräsentiert. Die fünf ständigen Mitglieder sind überdies zu keiner Reform bereit, und die möglichen Kandidaten für einen ständigen Sitz sind sich untereinander auch nicht einig. Deutschland sollte daher seine Ressourcen besser auf die kontinuierliche Reform der Arbeitsmethoden und ihre Transparenz konzentrieren sowie sich für konstruktive Debatten im Rat einsetzen.

Dr. Lisa Heemann ist Generalsekretärin der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN).
Patrick Rosenow ist leitender Redakteur der Zeitschrift VEREINTE NATIONEN, die von der DGVN herausgegeben wird.

Abschied vom Handelsstaat?

Abschied vom Handelsstaat?

Erfahrungen mit der japanischen Blauhelmpolitik

von Hartwig Hummel

Im folgenden Artikel sollen die Entwicklung der Blauhelmdebatte in Japan und ihre Hintergründe näher beleuchtet werden, die aufgrund der Parallelen für die deutsche Debatte von besonderem Interesse sein dürften. Dabei geht es um die Frage, ob die Handelsstaatslogik grundsätzlich weiter gilt oder der in Deutschland sich abzeichnende neue Interventionismus unvermeidlich ist.

Japan und Deutschland gelten als prototypische »Handelsstaaten«1, als Länder, die nicht mehr an den Sinn einer Außenpolitik mit militärischen Mitteln glauben, das Militär deshalb strikt auf Verteidigungsfunktionen beschränken und statt dessen auf den Sachzwang zur zivilisierten Kooperation angesichts weltwirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Problemverflechtungen und Interdependenzen bauen. In den 80er Jahren schien es noch, daß ein langwieriger und schmerzhafter geschichtlicher Lernprozeß – von der »späten« Industrialisierung über den Imperialismus bis zur Niederlage im Zweiten Weltkrieg – in beiden Ländern zur Durchsetzung der Handelsstaatslogik geführt hatte.

Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Proklamation einer »Neuen Weltordnung« stand nun plötzlich die militärische Eindämmung von Regionalkrisen und bedrohlichen »neuen Waffenstaaten« des Südens à la Irak auf der politischen Tagesordnung des Nordens. Beide Länder zwang der zweite Golfkrieg zu einer Grundsatzdebatte über die zukünftige Außen- und Militärpolitik. In beiden Ländern stand die weitere Gültigkeit der Handelsstaatsorientierung auf dem Spiel: sollen und können die bestehenden militärpolitischen Restriktionen weiter aufrechterhalten werden? Oder zeigt der Golfkrieg nicht vielmehr, daß (begrenzte) Kriege wieder gewinnbar und als politisches Instrument nützlich und damit legitimierbar geworden sind? Diese Grundsatzdebatte konkretisierte sich in beiden Ländern schnell auf die Frage nach einem Auslandseinsatz der Streitkräfte bei multinationalen Interventionen vorzugsweise unter dem Dach der Vereinten Nationen (»Blauhelme«).

Japan als Handelsstaat: Kapitulation als soziales Lernen2

Die japanische Politik basierte bis 1945 auf dem Slogan »fukoku kyohei« (reiches Land, starke Armee), also der Verknüpfung eines militärisch starken Staates – nach außen und nach innen – mit der erfolgreichen nachholenden Industrialisierung und Modernisierung Japans. Die Kapitulation Japans 1945 bedeutete das Ende des historischen japanischen Militarismus und die gesellschaftliche Diskreditierung der Militärlogik: Der Krieg hatte Japan international isoliert, eine militärische Eroberungspolitik erwies sich angesichts der Kosten und Opfer des Krieges als unsinnig und ein militärischer Schutz war im Zeitalter des Luftkrieges und der Atombomben unmöglich geworden.

Diese Einsicht prägte die neue Verfassung Japans von 1946. In der Präambel wird ein machtpolitisches Denken abgelehnt und auf die »Gemeinschaft der friedliebenden Völker« als Grundlage der japanischen Sicherheitspolitik verwiesen; damit wird eine Orientierung auf das System der Vereinten Nationen nahegelegt. Artikel 9 der Verfassung verbietet die Aufrechterhaltung von Streitkräften und Kriegspotential in Japan. Die Verfassung wurde ursprünglich auf starken Druck der US-Militärregierung gegen die widerstrebende bürokratische Elite Japans verabschiedet. Spätestens mit dem Beginn des Korea-Krieges verlor die US-Regierung aber das Interesse an der Demilitarisierung Japans und verlangte die Wiederbewaffnung, freilich unter ihrer Kontrolle im Rahmen des bilateralen Sicherheitsvertrags von 1951.

Die Yoshida-Doktrin

Die Wiederbewaffnung Japans wurde zwar von einigen rechten Politikern begrüßt, doch vom seit Ende der 40er Jahre bis 1993 allein regierenden, auf Bürokratie und Wirtschaft sich stützenden konservativ-liberalen Block nur sehr zögerlich umgesetzt und von den Sozialisten und den Gewerkschaften erbittert bekämpft. Praktisch maßgebend wurde die nach dem damaligen Ministerpräsidenten benannte »Yoshida-Doktrin«, d.h. die Konzentration auf die wirtschaftliche Entwicklung bei weitgehender außenpolitischer Zurückhaltung. Nach den Massenprotesten von 1960 gegen den Sicherheitsvertrag mit den USA und dem Rücktritt des nationalistischen Ministerpräsidenten Kishi (ehemaliges Mitglied im Kriegskabinett) setzte sich die Handelsstaatslogik endgültig durch.

Die folgenden Regierungen konzentrierten sich auf die Förderung der exportorientierten Wirtschaft. Außenpolitisch verhielt sich die japanische Diplomatie äußerst zurückhaltend und folgte im allgemeinen der Linie der USA. Dem Militär wurden jedoch enge Grenzen gesetzt:

  • strenge zivile (politische) Kontrolle des Militärs und Verzicht auf die Wehrpflicht
  • Verbot des Auslandseinsatzes der Streitkräfte und der Beteiligung an kollektiven Verteidigungsbündnissen
  • Beschränkung der Bewaffnung und Stärke der Streitkräfte auf Defensivkapazitäten (keine weitreichenden Waffen oder Transportmittel, keine militärische Nutzung des Weltraums, Begrenzung des Militärhaushalts auf 1<0> <>% des Bruttosozialprodukts)
  • Verbot von Stationierung, Besitz und Herstellung von Nuklearwaffen in Japan
  • Verbot des Rüstungsexports.

Je nach den politischen Kräfteverhältnissen zwischen rechten Falken und Rüstungslobby auf der einen Seite und den wirtschaftsliberalen Tauben und zivilen Großkonzernen auf der anderen Seite und je nach Druck der US-Regierung zu stärkerem militärischem Engagement Japans wurden diese Restriktionen verschärft oder gelockert. Versuche, die Restriktionen aufzugeben, stießen aber sofort auf den erbitterten Widerstand der parlamentarischen Linken und der öffentlichen Meinung, die mit großer Mehrheit hinter der Friedensverfassung stand, auf die Kritik der mißtrauischen Nachbarländer und die Zurückhaltung der Großkonzerne, die ihre Geschäfte nicht durch politische Streitereien stören lassen wollten. In den USA wurde diese japanische Außenpolitik zwar als »Trittbrettfahren« beschimpft, als Abwälzen der militärischen Kosten der Sicherung der japanischen Wirtschaftsexpansion auf die USA, doch letztlich im Rahmen der übergeordneten strategischen Interessen während des Ost-West-Konflikts geduldet.

Japan und das Ende des Kalten Kriegs

In den 80er Jahren wurde angesichts der wirtschaftlichen Probleme US-amerikanischer Unternehmen und des US-Staates die Handelspolitik der USA generell und besonders gegenüber Japan immer konfrontativer. Auch die strategisch motivierte Zurückhaltung gegenüber Japan entfiel mit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Zudem forderten einige Länder Ost- und Südostasiens, Japan solle nach dem teilweisen Rückzug der USA nun regionale Ordnungsfunktionen übernehmen. Die USA verlangten von Japan eine weltpolitische Lastenteilung (»burden sharing«). Daraufhin erhöhte Japan die finanzielle Unterstützung für Flüchtlingshilfe und Wiederaufbauprogramme, schaltete sich diplomatisch in die Beilegung der Konflikte in Afghanistan und zwischen dem Iran und dem Irak ein und entsandte dorthin auch einige zivile Waffenstillstandsbeobachter. Japanische Zivilisten beteiligten sich an den UN-Übergangsverwaltungen in Namibia (UNTAG) und Kambodscha (UNTAC).3

Auch innenpolitisch geriet der Handelsstaat Japan in eine Krise. Die korruptionsanfällige Monopolherrschaft der LDP und die lähmende Regulierung von Wirtschaft und Gesellschaft durch die Bürokratie wurden immer stärker kritisiert. 1989 verlor die LDP ihre parlamentarische Mehrheit im Oberhaus. Die Strukturen des politischen System erwiesen sich zudem als ungeeignet, auf die außenpolitischen Herausforderungen angemessen zu reagieren (schwache Position des Ministerpräsidenten, kleiner außenpolitischer Apparat, Rivalitäten zwischen Parteifraktionen der LDP und zwischen Ministerien, Obstruktionstaktik der Opposition).

Die Golfkrise und das PKO-Gesetz

Die Golfkrise 1990/91 zwang Japan schließlich zu einer Grundsatzdiskussion, insbesondere zur Auseinandersetzung mit der zukünftigen Rolle des Militärs. Die japanische Regierung wurde durch die USA massiv bedrängt, nicht nur indirekt, also finanziell und durch die Bereitstellung der US-Basen in Japan, sondern auch direkt und personell zur Golfkriegsallianz beizutragen. Zunächst wollte sich die Regierung vor einer klaren Entscheidung drücken: im Januar 1991 wurden durch juristische Tricks japanische Militärflugzeuge für die Evakuierung von Flüchtlingen aus der Golfregion bereitgestellt, die dann aber gar nicht mehr gebraucht wurden, und im Sommer 1991 beteiligte sich ein japanischer Minenräumverband von 500 Mann ohne klare rechtliche Grundlage an der Minenräumung im Golf. Erst im Juni 1992 billigte das japanische Parlament das Gesetz zur Beteiligung an friedenserhaltenden Maßnahmen der Vereinten Nationen (»PKO-Gesetz«). Die Regierung war damit zweimal Ende 1990 und Ende 1991 im Parlament gescheitert. Erst ein wesentlich restriktiverer Gesetzentwurf der LDP konnte mit Hilfe von zwei kleineren Oppositionsparteien gegen den erbitterten Widerstand der Sozialisten und Kommunisten verabschiedet werden.

Nach dem PKO-Gesetz darf die japanische Regierung bis zu 2000 Soldaten und Zivilisten zu UN-Einsätzen entsenden, allerdings nur zu friedenserhaltenden Maßnahmen, nicht aber zu Kampfeinsätzen. Bedingungen für die japanische Beteiligung sind ein Waffenstillstand und die Zustimmung aller Konfliktparteien. Sind diese Bedingungen nicht mehr gegeben, muß das japanische Kontingent abgezogen werden. Die japanischen Soldaten dürfen leichte Waffen tragen, die ausschließlich zur Selbstverteidigung bestimmt sind. Auf Drängen der Opposition sind Aufgaben mit militärischem Charakter (z.B. Trennung und Entwaffnung der Konfliktparteien) vorerst nicht erlaubt. Außerdem müßte das japanische Parlament jedem PKO-Einsatz mit militärischem Charakter zustimmen. Gegenwärtig können also japanische Soldaten nur im Logistikbereich (z.B. Kommunikationseinrichtungen, medizinische Versorgung, bestimmte Arten von Transporten) eingesetzt werden. Das PKO-Gesetz muß 1995 einer Überprüfung unterzogen werden.

Die Golfkrise löste ein außenpolitisches Umdenken aus. Die »Nationalisten« wollen nun eine Revision der Nachkriegsordnung (Verfassungsänderung, Aufhebung der Unterordnung unter die USA) und plädieren für eine militärische Selbständigkeit und unabhängige Aufrüstung der »Mittelmacht/Großmacht« Japan – zum Teil bis hin zur nuklearen Bewaffnung. Sie befürworten die Gleichrangigkeit der führenden westlichen Industrieländer und daher eine größere außenpolitische Selbständigkeit Japans auch gegenüber der niedergehenden Weltmacht USA. Der konservativ-liberale »mainstream« sieht Japan weiterhin als Handelsstaat. Die wirtschaftlichen Interessen Japans seien nur in einer kooperativen Beziehung mit den anderen westlichen Industrieländern, vor allem den USA, zu sichern, allerdings müsse Japan zukünftig mehr Aufgaben übernehmen. Die japanischen Streitkräfte werden weniger militärisch begründet, sondern eher als Preis betrachtet, um die Allianz mit den USA (und damit auch den Zugang zum US-Markt) zu erhalten. Im Sinne einer »umfassenden Sicherheit« soll sich die japanische Außenpolitik aber vor allem auf Wirtschaftshilfe stützen. Die »Antimilitaristen« sind sich einig in der Unterstützung der japanischen »Friedensverfassung« als Überwindung des japanischen Militarismus und als Versöhnungsgeste gegenüber den Nachbarländern. Noch bis zum Parteitag im September 1994 lehnten die Sozialisten eine nationale militärische Verteidigung und das Militärbündnis mit den USA ab. Während Nationalisten und »mainstream« eine Beteiligung an UN-Einsätzen befürworten, akzeptieren die Antimilitaristen wenn überhaupt nur eine zivile Beteiligung, möglichst durch ein von den Streitkräften getrenntes ziviles japanisches Friedenscorps.

Blauhelmeinsätze und Regierungswechsel

Im September 1992 schickte die japanische Regierung auf der Grundlage des »PKO-Gesetzes« ein japanisches Kontingent von etwa 600 Soldaten und 75 Zivilpolizisten zur UNTAC, der UN-Mission in Kambodscha, hauptsächlich für den Straßenbau und die Logistik. Gleichzeitig wurden drei Offiziere als Wahlbeobachter nach Angola geschickt, aber gegen den Protest der UNO aus Sicherheitsgründen nach kurzer Zeit wieder zurückberufen. Angesichts der wieder aufflammenden Kämpfe in Kambodscha forderten die Oppositionsparteien unter Berufung auf das PKO-Gesetz den Abzug der japanischen Blauhelme. Anfang April 1993 wurden ein japanischer Wahlhelfer, Anfang Mai ein japanischer Zivilpolizist getötet und acht weitere verletzt. Obwohl in Japan die vorzeitige Rückkehr der japanischen Blauhelme gefordert wurde, beendete die Regierung den Kambodscha-Einsatz planmäßig erst im September 1993. Bitten um Beteiligung an den UN-Einsätzen im ehemaligen Jugoslawien und in Somalia lehnte die japanische Regierung ab. Im Mai 1993 wurden dagegen 53 japanische Soldaten zur UN-Mission in Mosambik (ONUMOZ) geschickt und übernahmen dort logistische Aufgaben.

Bei den Unterhauswahlen am 18.7.93 verlor die LDP ihre bisherige parlamentarische Mehrheit. Die neuen konservativen Parteien, die sich von der LDP abgespaltet hatten, bildeten zusammen mit den bisherigen nichtkommunistischen Oppositionsparteien die Koalitionsregierung Hosokawa. Trotz tiefreichender politischer Meinungsunterschiede einigte der Wunsch nach überfälligen politischen Reformen die Koalitionsparteien. In der Militärpolitik reichten die Positionen vom Antimilitarismus der sozialistischen Linken bis zur Forderung konservativer Politiker (z.B. Ozawa), japanische Soldaten sollten sich an multinationalen Kampfeinsätzen zur Sicherung des Weltfriedens beteiligen. Die Koalition einigte sich auf die Beibehaltung des Status quo. Einige der bisherigen politischen Bremsen gegen eine Ausweitung militärischer Aktivitäten verloren jedoch an Wirkung. Die Kritik der Sozialisten an der PKO-Politik wurde leiser, nachdem sie bei den Wahlen empfindliche Einbussen hinnehmen mußten und wegen ihrer Teilnahme an der Regierungskoalition vor einer innerparteilichen Zerreißprobe standen. Die Anerkennung der japanischen Kriegsschuld durch Ministerpräsident Hosokawa half, den Widerstand in den asiatischen Nachbarländern gegen eine japanische PKO-Beteiligung abzubauen. Schließlich schwächte sich der kontrollierende Einfluß der US-Regierung auf die japanische Militärpolitik ab, den sie bisher über ihre Verbindungen zur LDP ausübte.

Ernsthafte Spannungen zwischen den Koalitionspartnern wurden im Zusammenhang mit der Krise um Nordkorea Anfang 1994 sichtbar. Die konservativen Parteien der Koalitionsregierung forderten eine Stärkung der Krisenmanagement-Kapazitäten und eine aktive Beteiligung der japanischen Marine bei der militärischen Durchsetzung etwaiger Sanktionen des UN-Sicherheitsrats gegen Nordkorea. Die Sozialisten lehnten dies strikt ab. Aus diesem und anderen Gründen verließen sie die Koalition, die unter Hata bis zum Sommer als Minderheitenkabinett weiterregierte.

Ende Juni 1994 trat die Hata-Regierung zurück. Überraschend bildeten Sozialisten und LDP zusammen mit der Sakigake-Partei eine Große Koalition. Die LDP verlangten von den Sozialisten als Bedingung für Koalition und Ministerpräsidentenamt u.a. die Akzeptanz des militärpolitischen Status quo, insbesondere die Anerkennung der Verfassungsmäßigkeit der Streitkräfte und des Sicherheitsvertrags mit den USA sowie die Akzeptanz japanischer Blauhelme. Auf ihrem Parteitag am 3.9.94 verabschiedeten die Sozialisten nach heftiger Debatte ein neues militärpolitisches Programm. Darin heißt es, daß Japan sich aktiv an solchen UN-Friedensmissionen beteiligen soll, die keine Gewaltanwendung beinhaltet. Befürwortet wurde eine Änderung der UN-Charta, um stehende, multinational zusammengesetzte UN-Friedenskräfte unter einheitlichem Kommando aufzustellen. Auch Japan solle einen Beitrag zu diesen Friedenskräfte leisten. Außerdem fordern die Sozialisten die gesetzliche Festschreibung der bestehenden militärpolitischen Restriktionen.

Nach anfänglicher Zurückhaltung griff die neue Regierung die Idee wieder auf, für Japan einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu fordern. Außenminister Kono meldete in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung am 27.9.94 offiziell diese Forderung an, machte aber den Vorbehalt, daß Japan sich nicht an militärischen Aktionen beteiligen werde, weil dies die japanische Verfassung verbiete. Japan werde sich jedoch weiterhin an nichtmilitärischen Aspekten von UN-Friedensmissionen nach dem Beispiel der Einsätze in Kambodscha oder Mosambik beteiligen.

Aufgeschreckt durch die Massenflucht aus Ruanda in die Nachbarländer schickte die japanische Regierung im September 1994 mit Billigung der Sozialisten 470 Soldaten, davon 100 Luftwaffenangehörige, zu einem humanitären Hilfseinsatz nach Zaire und Kenia. Eine japanische Beteiligung an der Militärintervention in Haiti lehnte die japanische Regierung dagegen ab. Für das Frühjahr 1995 ist ein Einsatz japanischer Waffenstillstandsbeobachter auf den Golan-Höhen geplant.

Die Zukunft Deutschlands und Japans als Handelsstaaten

Sowohl in Deutschland als auch in Japan scheint die Blauhelmpolitik auf den ersten Blick Tendenzen zu einer Militarisierung zu belegen. Erstmals werden bewaffnete Einheiten der Streitkräfte außerhalb der Landesgrenzen eingesetzt, nachdem die gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Schranken gefallen sind. Beide Länder halten sich in der Außenpolitik nicht mehr zurück, sondern streben einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat an und wollen damit letztlich über den Einsatz von UN-Blauhelmen mitbestimmen. Das Mißtrauen der Nachbarländer und der Widerstand der Öffentlichkeit gegen Auslandseinsätze ist geschwunden. Blauhelmeinsätze scheinen militärischen Maßnahmen in der Außenpolitik wieder einen Sinn zu geben.

Eine nähere Betrachtung zeigt aber keine Abkehr Japans von der Handelsstaatslogik. Unter den neuen Verhältnissen stellte sich der »Pazifismus in einem Land« der Yoshida-Doktrin oder des früheren Parteiprogramms der Sozialisten als hinderlicher Isolationismus heraus und machte einem Konsens zu einer aktiveren Außenpolitik Platz. Dabei wird die Militärlogik allerdings weiterhin als unsinnig angesehen, was das Unbehagen an den von den USA initiierten Militärinterventionen in Somalia und Haiti belegt, an denen sich Japan nicht beteiligt hat. Das PKO-Gesetz schließt folgerichtig die Anwendung militärischer Gewalt aus. Möglicherweise wird es 1995 revidiert werden, aber dann vor allem deshalb, weil einige Bestimmungen nicht zur Realität von Blauhelmeinsätzen passen. Die eher symbolischen Einsätze japanischer Blauhelme werden in Japan primär bündnispolitisch und damit letztlich wirtschaftspolitisch begründet: die Handelsstreitigkeiten mit den USA und anderen westlichen Industrieländern sollen nicht noch weiter angeheizt werden. Eine Beteiligung am Entscheidungsprozeß des UN-Sicherheitsrates macht daher einen ganz anderen Sinn als oben angedeutet: eine unsinnige Militarisierung der doch für die Weltordnung so wichtigen UNO soll gebremst und die innenpolitsch weiterhin umstrittenen Kosten und Opfer der japanischen Beteiligung sollen minimiert werden. Funktion und Image der Streitkräfte haben sich in Japan durch die Blauhelmeinsätze im Grunde nicht verändert: sie werden weiterhin sozusagen als technisches Hilfswerk beim Katastrophenschutz angesehen. Aus dem politischen Entscheidungsprozeß schließlich bleiben sie weiterhin ausgeklammert.

Japan erweist sich somit auch in der PKO-Frage als prototypischer Handelsstaat. Die deutsche Politik scheint sich dagegen zunehmend in Richtung auf eine gesamtdeutsche oder gesamteuropäische Weltpolizistenrolle zu entwickeln und sich dadurch immer mehr am »machtstaatlichen« und immer weniger am »handelsstaatlichen« Denken zu orientieren.

Handelsstaatslogik und strukturelle Gewalt

Über die Handelsstaat-Debatte hinaus sollte eine grundsätzliche friedenspolitische Bewertung der Blauhelmpolitik Deutschlands und Japans aber an einem ganz anderen Punkt ansetzen: Der Grund für eine verstärkte außenpolitische Rolle der Handelsstaaten liegt in deren Wirtschaftsexpansion. Diese ist auf die Aufrechterhaltung der »neuen Weltordnung« angewiesen, einer Weltordnung, die nach wie vor auf asymmetrischen Machtverhältnissen und Lebenschancen beruht und insofern durch strukturelle Gewalt im Sinne Galtungs4 geprägt ist. UN-Blauhelme sind nichts anderes als Teil des »residualen Militärpotential« der verbündeten Handelsstaaten zum Schutz vor den militärischen Machtstaaten im Sinne von Rosecrance und letztlich Teil dieser strukturellen Gewalt.

Anmerkungen

1) Klassisch: Rosecrance, Richard: Der Neue Handelsstaat. Frankfurt/M., 1987. Zurück

2) Ausführliche Literaturhinweise in: Hummel, Hartwig: Japanische Blauhelme. Von der Golfkriegsdebatte zum »PKO-Gesetz«, in: INEF-Report, Heft 3/1992, 2. aktualisierte und verbesserte Auflage, Duisburg, 1994; Hummel, Hartwig: Japan: Schleichende Militarisierung oder Friedensmodell?, in: Militärpolitik Dokumentation, Heft 88/89, Frankfurt/M., 1992. Zurück

3) Yasushi Akashi, ein japanischer UNO-Beamter, erhielt zudem die Leitung von UNTAC und danach von UNPROFOR. Zurück

4) Galtung, Johan, 1969: Violence, Peace and Peace Research, in: Journal of Peace Research 6 (1969), 167-191. Zurück

Dr. Hartwig Hummel war bis 1993 als Politikwissenschaftler am Zentralinstitut für Ostasienwissenschaften der Universität-GH-Duisburg tätig und arbeitet jetzt am Seminar für Politikwissenschaft und Soziologie der TU Braunschweig.

Selbstbestimmung für Sahrauis?

Selbstbestimmung für Sahrauis?

Gefährdet die UNO ihre Beschlüsse und Prinzipien?

von Ralf Mattes

Die Staaten des Maghreb (Algerien, Libyen, Marokko, Mauretanien und Tunesien) sind, was ihre territorialen Grenzen und zum größten Teil ihre gesellschaftspolitische Entwicklung betrifft, ein Produkt des europäischen Kolonialismus. Bedingt durch diese Situation ergeben sich trotz der Arabischen Maghreb-Union, die am 17.2.1989 in Marrakesch gegründet wurde, eine Reihe von Problemen und zwischenstaatlichen Konflikten auf politischer, ökonomischer und militärischer Ebene.

Einer der zentralsten und augenfälligsten Konflikte in dieser Region ist der Befreiungskampf des Sahrauischen Volkes unter der Führung ihrer politischen Organisation Frente Polisario (Frente Popular para la Liberacion de Saguia el Hamra y Rio de Oro: Volksfront für die Befreiung von Saqiya al-Hamra und Rio de Oro) gegen die militärische und administrative Okkupation ihres staatlichen Territoriums Mitte der siebziger Jahre durch Marokko. Mit Ausnahme Tunesiens sind alle Staaten der Maghreb-Union mehr oder weniger in diesen postkolonialen Konflikt involviert.

Die überstürzte und unkontrollierte Dekolonialisation der ehemaligen Spanisch-Westsahara durch die spanischen Kolonialherren verleitete Marokko und Mauretanien, ihre schon seit den 60er Jahren proklamierten Annektionspläne umzusetzen. Nachdem beide Nationen ihre territorialen Interessen abgestimmt hatten, begann die systematische Besetzung des Gebietes. Der marokkanische König Hassan II entsandte heimlich erste Armeeeinheiten in das schwer zu kontrollierende Areal im Norden der Westsahara und veranstaltete am 6. November 1975 ein logistisch und inhaltlich vom Staatsapparat organisiertes Medienspektakel. 350.000 Marokkaner überschritten »spontan« die Grenzen der Spanisch-Westsahara. Diese offiziell als »Grüner Marsch« bezeichnete Demonstration des marokkanischen Machtanspruches wurde als Verbrüderung des durch die Kolonialzeit geteilten marokkanischen Volkes dargestellt. Hinter den Kulissen wurde am 14. November 1975 ein trilaterales Abkommen in Madrid unterzeichnet, in dem Mauretanien und Marokko ihre territorialen Ansprüche absteckten und Spanien die billige Versorgung mit Phosphat, dem wichtigsten Exportrohstoff der West-Sahara garantiert wurde. Die Ausbeutung der größten Phosphatlagerstätten der Welt bei Bou Craa im Norden der Westsahara sollte ohne Beteiligung der einheimischen Bevölkerung geschehen. Arbeitskräfte aus Marokko sollten die in ihrem eigenen Land bestehende Massenarbeitslosigkeit verringern. Durch den Zuzug der Familien in das extrem dünn besiedelte Gebiet erhoffte sich die marokkanische Regierung eine Entschärfung der wachsenden sozialen und ökonomischen Probleme, die durch die Überbevölkerung entstanden waren. Die zu erwartenden Profite sollten in die Kassen Königs Hassan II sowie einiger internationaler Konzerne fließen.

Am 26. Februar 1976 endete offiziell die spanische Herrschaft, zwei Tage vor dem vereinbarten Termin. Das Sahrauische Volk durfte nicht selbst über seine eigene Zukunft bestimmen. Die Frente Polisario, die schon zuvor gegen die spanische Besatzung gekämpft hatte, rief am darauffolgenden Tag, dem 27. Februar, durch den provisorischen sahrauischen Nationalrat die Demokratische Republik Sahara (DARS) aus.

Die anschließende Okkupation des ehemaligen Kolonialgebietes (die nördlichen 2/3 durch Marokko, das südliche Drittel durch Mauretanien) stellten einen eklatanten Bruch der in der Charta der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) manifestierten Unverletzlichkeit der Kolonialgrenzen dar.

Zunächst konzentrierte die Frente Polisario ihre militärischen Aktionen gegen das militärisch und ökonomisch schwache Mauretanien – mit Erfolg, denn am 10. Juli 1978 stürzte ein Militärputsch den mauretanischen Staatspräsidenten Mokhtar Ould Daddah, der sein Land durch diesen Konflikt ruinierte. Am 5. August 1979 unterzeichneten schließlich der stellvertretende Generalsekretär der Frente Polisario Bachir Mustapha Sayed und der Vize-Präsident des regierenden Militärrats von Mauretanien, Ahmed Salem Ould Sidi einen formellen Friedensvertrag.

Dadurch veränderte sich die politische und militärische Konstellation des Konflikts. Marokko besetzte sofort die restlichen Gebiete der Westsahara und wurde nun zum einzig verbleibenden, aber übermächtigen Gegner der Frente Polisario. Mauretanien muß seitdem die diplomatische Balance zwischen Marokko und Algerien, dem Verbündeten der Befreiungsorganisation, halten.

Die militärische Situation

Die großen Anfangserfolge der sahrauischen Armee (Ejercito de Liberacion Popular Sahraui), die bis Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre weite Teile des ehemaligen Spanisch-Westsahara, aufgrund ihrer besseren Ortskenntnisse sowie ihrer Guerilla-Taktik kontrollierte, wurden durch eine immer weiter voranschreitende massive Präsenz der marokkanischen Streitkräfte gestoppt. Hassan II entledigte sich dadurch auch unliebsamer, oppositioneller und ihm schon durch mehrere gescheiterte Putschversuche innenpolitisch gefährlich werdender Offiziere, indem er sie zum Einsatz an die »Nationale Front« befahl und dort band. Des weiteren ließ der marokkanische Diktator seine Truppen Befestigungswälle aus Sand und Steinen errichten und »dank« westlicher Militärhilfe mit elektronischen Bodenfrühwarnsystemen und Minenfeldern ausstatten, so daß sich bis Mitte der 80er Jahre allmählich eine militärische Pattsituation herauskristallisierte. Die insgesamt sechs marokkanischen Befestigungswälle umschließen rund zwei Drittel des Territoriums der ehemaligen Kolonie, ein Drittel wird von der Sahrauischen Befreiungsfront kontrolliert, die sogenannten befreiten Gebiete.

Die diplomatische Situation

Die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) wurde seit ihrer Proklamation 1976 von insgesamt 74 Staaten (Stand 1991) völkerrechtlich anerkannt. Den wichtigsten diplomatischen Erfolg gegenüber Marokko konnte die Frente Polisario 1984 erringen. Auf der 20. Gipfelkonferenz der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) in Addis Abeba (Äthopien) wurde die DARS als 51. Vollmitglied aufgenommen, worauf Marokko die Organisation verließ. Das seit 1983 jedes Jahr wieder verabschiedete Grundsatzpapier (OAU-Resolution 104 AHG) welches das Recht der sahrauischen Bevölkerung auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung anerkannte, wurde 1985 inhaltlich von den Vereinten Nationen übernommen. 1989 stimmte sogar Marokko der Resolution auf der UN-Vollversammlung zu.

Der sich mittlerweile abzeichnende internationale Konsens zur Lösung des Konflikts mündete in den UN/OAU-Friedensplan für die ehemalige Spanisch-Westsahara, mit dessen Durchführung der Generalsekretär der Vereinten Nationen beauftragt wurde, und dem 1988 beide kriegführenden Parteien im Prinzip zustimmten.

Der UN/OAU-Friedensplan

Der ursprüngliche, vom Weltsicherheitsrat am 29. April 1991 gebilligte Zeitplan des UN/OAU-Friedensplanes sah neben einem Waffenstillstand, der Stationierung von MINURSO (Mission der Vereinten Nationen für die Organisation eines Referendums in der West-Sahara) Verwaltungs- und Logistik-Einheiten, der Stationierung von UN-Blauhelmen sowie dem Austausch der Kriegsgefangenen die Erstellung einer Liste der für das Referendum stimmberechtigten Personen vor. Als Grundlage der Wählerlisten sollte der von der spanischen Kolonialverwaltung 1974 erstellte Zensus dienen. Einen Tag später, am 30. April stimmt das Führungsgremium der Frente Polisario sowie die Regierung der DARS dem Friedensplan zu. Das Finanzbudget für die Durchführung des Referendums passiert am 17. Mai die UN-Vollversammlung, einen Tag später erklärt sich Marokko bereit, ebenfalls den Plan anzunehmen. In Genf vereinbarten am 30. Juni Vertreter beider Konfliktparteien einen Waffenstillstand, der am 6. September 1991 – der sogenannte D-Day – in Kraft treten soll, und von dem alle weiteren terminlichen Schritte bis zum Referendum abhängen. Im Juni 1991 werden schließlich die Listen der im spanischen Zensus erfaßten Stimmberechtigten sowie die Regeln für die Beantragung zur Aufnahme in die Wählerlisten veröffentlicht. Für Mitte Juli wurde das Ende der Antragsfrist festgesetzt. Bis August 1991 sollte der Großteil der MINURSO-Einheiten eingetroffen sein.

Ab dem D-Day, 6. September 1991, sollte die Reduzierung der marokkanischen Truppen auf 65.000 Mann beginnen. (Derzeit sind nach marokkanischen Angaben 167.000 Mann in der West-Sahara stationiert; die Frente Polisario verfügt über rund 30.000 Kämpfer.) Überdies sollten die Konfliktparteien ihre verbleibenden Einheiten auf vorgegebene Standorte zurückziehen. Des weiteren wurde vereinbart, mit der Ausgabe von Ausweiskarten durch eine Identifizierungskommission zu beginnen sowie Einsprüche gegen das Verfahren und Beschwerden zu behandeln. CIVPOL-Kräfte (Zivilpolizei der MINURSO) sowie das Infanteriebattaillon der MINURSO sollten zur Verstärkung eintreffen. Gesetze und Maßnahmen, die das Referendum behindern, sollten außer Kraft gesetzt und eine Amnestie für zurückkehrende Flüchtlinge verkündet werden. Der UN-Generalsekretär sollte Mitte November über die endgültige Wahlliste entscheiden. Bis Januar 1992 wurde festgesetzt, soll die Repatriierung der sahrauischen Flüchtlinge aus den Lagern bei Tindouf in Algerien abgeschlossen sein und die Referendums-Kampagne beginnen. Ende Januar sollte endlich die Abstimmung durchgeführt werden. Anschließend, nach Bekanntgabe des Ergebnisses, für dessen Umsetzung gesorgt werden und die MINURSO abziehen.

Der Streit um den Zensus

All diese Schritte zur Umsetzung des UN/OAU-Friedensplans sind in groben zeitlichen Verzug geraten. Die marokkanische Regierung läßt nichts unversucht, das Referendum hinauszuzögern und die Bedingungen für die organisatorische Durchführung unmöglich zu machen. Mitte 1993, also eineinhalb Jahre nachdem das Referendum hätte stattfinden sollen, ist ein endgültiger Termin noch lange nicht in Sicht.

Der Hauptgrund für die Verzögerung ist nach wie vor der Streit um die Kriterien für die Aufnahme in die Wahllisten und der Versuch der marokkanischen Regierung, diese zu ihren Gunsten zu umgehen bzw. eine Erweiterung der Wahlberechtigung auf marokkanische Staatsbürger, die in der Westsahara leben, zu erreichen.

Wahlberechtigt sollten nach UN/OAU-Friedensplan alle Sahrauis sein, die 1974 im Zensus von den spanischen Behörden registriert und 18 Jahre und älter sind und zur Zeit im Territorium leben oder außerhalb, sei es als Flüchtlinge oder aus anderen Gründen. Damit auch Sahrauis an dem Referendum teilnehmen können, die zwar auf dem Territorium der Westsahara leben, jedoch 1974 nicht erfaßt wurden, richtete die MINURSO die Identifizierungskommission ein. Genau hier setzt der Plan Hassan II, die Abstimmung zugunsten Marokkos zu entscheiden, an. Neben den schon seit langem in der Westsahara arbeitenden Marokkanern karrt die marokkanische Regierung tausende von Menschen in die besetzten Gebiete und erklärt sie kurzerhand zu Sahrauis – insgesamt rund 350.000 Menschen (inklusive Soldaten), die zum Teil in Zeltlagern mit dem zynischen Namen »Camps de l`Unite« leben.

Die Frente Polisario würde hingegen drei Kriterien zur Ergänzung des Zensus um Personen, die 1974 nicht berücksichtigt wurde, akzeptieren, von denen mindestens eine erfüllt sein müßte:

a) ein enges Familienmitglied (Vater, Mutter, Sohn, Tochter) muß in der Liste von 1974 registriert sein;

b) die Person muß im Jahr des Zensus im Territorium ansässig gewesen sein;

c) die Person ist im Territorium geboren, und zwar als Sohn/Tochter eines Vaters, der ebenfalls im Gebiet der Westsahara geboren wurde.

Die seltsame Definition des marokkanischen Königs, daß alle, die im Augenblick in der Westsahara leben, auch Sahrauis seien und am Referendum teilnehmen dürften, lehnt die Frente Polisario entschieden und zu recht ab. Doch hier kommt die UNO Hassan II entgegen. Sie erweiterte die Kriterien für eine Aufnahme in die Wahllisten um zwei entscheidende Punkte. Zusätzlich zu den im Zensus erfaßten Personen dürfen am Referendum Personen teilnehmen, deren Vater im Territorium geboren ist, die vor dem 1.12.1974 im Territorium gelebt haben sowie entweder sechs Jahre in Folge oder zwölf Jahre mit Unterbrechungen in der Westsahara ansässig waren. Diese Neu-Definition der Kriterien – vor allem die Erweiterung um Personen, die eine gewisse Zeit in der Westsahara gelebt haben – spielt Hassan II einen großen Trumpf in die Hand. Er muß schließlich nur genügend Untertanen in den besetzten Gebiete ansiedeln, das Referendum um mittlerweile nur noch vier bis fünf Jahre verzögern und letztendlich die Volksabstimmung durchführen.

Dieser wohl entscheidende Punkt verzögert die Durchführung des Friedensplans. Hassan II spielt auf Zeit, seine wohl besseren Kontakte zu den Vereinten Nationen und seine politische, ökonomische und militärische Orientierung zur Weltmacht USA halten ihm den Rücken frei. Der UN-Sonderbeauftragte für die Westsahara, der Schweizer Diplomat Johannes Manz, legte Ende 1991 sein Mandat nieder, da Marokko allen formalen Zusicherungen zum Trotz die Vorbereitungen eines Referendums in einer Weise behindere, die schließlich den Rücktritt aufdrängten. Sein Nachfolger wurde der ehemalige Außenminister von Pakistan, Sahabzada Yaqub-Khan, der dem marokkanischem König nachweislich in entscheidenden Fragen des Konfliktes zugeneigt ist.

Hassan II gibt sich schon jetzt siegesgewiß. Zum 16. Jahrestag des »Grünen Marsches« erklärte er: „Ich versichere erneut mit Nachdruck, daß das konfirmative Referendum, so Gott es will, uns die Ergebnisse liefert, die wir erwarten und erhoffen. Das Spiel um das Referendum ist gewonnen. Die Sahara ist marokkanisch. Es stimmt, daß es noch einige Nachbesserungen gibt, die wir bezüglich der Kriterien machen müssen, die festlegen, ob eine Person Sahraui ist und an der Abstimmung teilnehmen darf oder nicht. Abgesehen davon, Gott sei es gedankt, läuft alles so, wie wir es wünschen und wie wir es akzeptieren.“ (Sahara-Info der Gesellschaft der Freunde des Sahrauischen Volkes e.V., April 1992, 13. Jahrgang, Nr.1)

Darüberhinaus wird den Mitarbeitern der MINURSO sowie den Militärbeobachtern der UNO die Arbeit so gut wie unmöglich gemacht. Sie stehen unter ständiger Beobachtung und Kontrolle der marokkanischen Polizei und des Geheimdienstes. Unter der Überschrift „Die Westsahara vor dem Referendum – UNO-Truppen im goldenen Käfig des marokkanischen Königs“ erschien in der Neuen Züricher Zeitung vom 8.12.1991 ein Artikel des Schweizer Journalisten Michael M. Roman, in dem er die Situation der MINURSO-Mitarbeiter folgendermaßen beschreibt: óDie Offiziere und die Kommandostellen der Minurso sind in den beiden Luxushotels von Laayoune einquartiert. Über den beiden der UNO vorbehaltenen Hotels weht nicht das UNO-Emblem, sondern die marokkanische Flagge. Die fabrikneuen Fahrzeuge der Minurso leuchten in Weiss, doch auch hier fehlt jeglicher Hinweis auf die UNO. Jegliche Kommunikation mit den Minurso-Angehörigen wird von der marokkanischen Polizei unterbunden. … Er sei schon weit in der Welt herumgekommen, meint ein Minurso-Mitglied, aber so etwas habe er noch nie erlebt. Jeder Schritt werde von der Polizei überwacht, jedes Gespräch abgehört – sogar das Satellitentelefon sei von den Marokkanern angezapft worden. Einen Polizisten auf rund 150 Einwohner, vermutet ein UNO-Angehöriger, gebe es zur Zeit in der Westsahara.“ Aber nicht nur das: Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung ziehen Repressalien für letztere nach sich.

Der marokkanische König Hassan II hält alle Trümpfe in der Hand. Seine Truppen beherrschen den Großteil der Westsahara durch ihre weit den Polisario-Kämpfern überlegene Militärtechnik. Internationale Konzerne, die sich an der Ausbeutung der Bodenschätze in den besetzten Gebieten beteiligen sowie befreundete Regierungen allen voran die Vereinigten Staaten helfen Hassan II, den Konflikt für sich zu entscheiden.

Auf die Bindung von EG-Finanzhilfen für Marokko an die Beachtung von Menschenrechten und die Respektierung des Friedensplans reagiert die marokkanische Führung mit dem Hinweis, daß die Verhandlungen zur Erneuerung des Fischereiabkommens mit der EG für die Fanggebiete vor der Küste Marokkos und der Westsahara die Gelegenheit bieten werden, diese Haltung zu ändern. Auf Druck Spaniens, das wirtschaftlich am meisten von einer Aussetzung des Fischereiabkommens betroffen wäre, gewährt die EG weiterhin Finanzhilfen.

Die Situation der Frente Polisario

Ein Sieg in diesem Konflikt für die Frente Polisario und das sahrauische Volk scheint immer aussichtsloser zu werden. Die diplomatischen und militärischen Erfolge werden durch die Nachgiebigkeit der Vereinten Nationen gegenüber der marokkanischen Regierung langsam zunichte gemacht. Hinzu kommt eine stetige politische und diplomatische Annäherung der algerischen Regierung an die marokkanische. Die Führung in Algier, bisher treuester Verbündeter der Sahrauis, dokumentierte diese Politik mit dem Eintritt in die von Marokko angeregte Maghreb-Union. Im August 1992 begrüßte deshalb der Präsident der DARS und gleichzeitige Generalsekretär der Frente Polisario, Mohamed Abdelaziz, das Ausscheiden des algerischen Innenministers Larbi Belcheir, der eine nach Aussage der Frente Polisario zu pro-marokkanische Politik betrieben habe. Bisher mischte sich die Frente Polisario nicht in die Innenpolitik Algeriens ein, auf deren Territorium sich die großen Flüchtlingslager der Befreiungsorganisation bei Tindouf in der südwest-algerischen Wüste mit rund 170.000 Menschen befinden. Doch wenn sich die Politik Algeriens zu sehr an Marokko anlehnen würde, könnte die Polisario ihren einzigen Fürsprecher von internationaler und vor allem lokaler Bedeutung verlieren. Die militärische Stärke verhinderte einen Übergriff auf die sahrauischen Flüchtlingslager, die durch ihre autonome Organisation die Keimzelle für die DARS darstellen. Die Frente Polisario ist deshalb auf eine Konfrontationspolitik zwischen den beiden Nachbarstaaten angewiesen. Der Kurswechsel in Algier mag hauptsächlich der Grund sein, daß der Polisario eine heimliche Unterstüzung der islamisch-fundamentalistischen F.I.S. nachgesagt wird, da die Fundamentalisten keinen Hehl aus ihrer bedingslosen Ablehnung des feudalistischen marokkanischen Königreiches machen. Des weiteren häufen sich die Berichte, daß es innerhalb der Führung der Befreiungsorganisation zu Richtungskämpfen gekommen sei, die ein geschlossenes Vorgehen bei den weiteren Verhandlungen über die Souveränität der DARS in Frage stellen. Die Zeit läuft gegen die Freiheit des sahrauischen Volkes und ihr Recht auf Selbstbestimmung. Es ist für die Frente Polisario überlebenswichtig geworden aus ihrer gegenwärtigen defensiven diplomatischen Position in die Offensive zu gehen. Sie muß die Vereinten Nationen drängen, kompromißloser in ihrer Angelegenheit gegen die marokkanische Regierung vorzugehen.

Perspektiven

Doch eine friedliche Lösung wird es vielleicht nicht geben. Während meines Aufenthaltes in den sahrauischen Flüchtlingslagern im Oktober 1992 hatte ich die Gelegenheit mit dem Generalsekretär der UJSARIO (Union de la Juventud de Saguiat el Hamra y Rio de Oro), Ahmed Mulay Ali, zu sprechen. Für die Zukunft konnte sich Ahmed Mulay Ali nur zwei Alternativen vorstellen: Frieden, wenn Hassan II und die UNO sich an den Kriterien der Polisario für die Wahllisten orientieren; Krieg, der Bewegung in die augenblicklich stagnierenden Verhandlungen bringen würde und immer stärker gerade von den jugendlichen Kämpfern gefordert wird.

Für die UNO stellt sich letztendlich die Frage ob sie politisch willens ist, ihre eigenen Beschlüsse ernst zu nehmen und das Referendum trotz der marokkanischen Schikanen durchzusetzen. Ansonsten muß sie sich wieder einmal vorwerfen lassen, nichts anderes zu sein als ein Spielball US-amerikanischer Interessen. Zu diesen Interessen zählen auch die Erdölvorkommen, die schon in den sechziger Jahren von Ölkonzernen erforscht wurden und deren Nutzungsrechte alle sechs Jahre stillschweigend verlängert werden.

Über die Zukunft des sahrauischen Volkes und der Demokratischen Arabischen Republik Sahara entscheidet nicht allein das Referendum in der Wüste, die Entscheidung, ob ein Volk in der Dritten Welt über sich selbstbestimmen darf, wird in Washington, Brüssel, Tokio und Bonn sowie in den Vorstandsetagen der multinationalen Konzerne getroffen. Eine bittere Erkenntnis, nicht nur für das sahrauische Volk.

Ralf Mattes ist Student der politischen Wissenschaften in München. Er war als Mitglied der Juso-Bundeskommission »Entwicklungspolitik« auf Einladung der Jugendorganisation der Polisario im Oktober '92 in der Westsahara.

Friedenserhaltende Operationen

Friedenserhaltende Operationen

Rechtliche und politische Grundlagen von Blauhelm-Einsätzen in Norwegen und Japan

von Wolfgang Biermann

Seit 1987 wird in der Bundesrepublik diskutiert, ob und wenn ja in welcher Form die BRD sich an Operationen der UN beteiligen soll. Insbesondere seit der Vereinigung wird der Ruf nach der Verantwortung, dem das neue Deutschland gerecht werden muß, immer lauter. Unter der Chiffre »Verantwortung« verbergen sich jedoch ganz unterschiedliche politische Motivationen und es resultieren ganz verschiedene Forderungen daraus. An dem einen Ende des Spektrums wird jegliche Beteiligung der Bundeswehr an UN-Einsätzen abgelehnt und dem Einsatz deutscher Soldaten eine zivile Komponente zur Unterstützung der UN entgegengesetzt. Die entgegengesetzte Position fordert eine Beteiligung der Bundeswehr an multilateralen Kampfeinsätzen, da die BRD heute die Sicherung des Weltfriedens nicht mehr ausschließlich anderen Staaten überlassen könne.
Eine Mittelposition befürwortet eine Beteiligung der Bundeswehr an Peace-Keeping Operationen (sog. Blauhelm-Missionen), will aber die Beteiligung an Kampfeinsätzen (sog. Friedensschaffende Maßnahmen nach Kap. VII der UN-Charta) nicht zulassen. Im Folgenden beschreibt Wolfgang Biermann am Beispiel von Japan und Norwegen, wie ein solcher »Kompromiß« umgesetzt werden kann. Norwegen ist neben Österreich und den anderen skandinavischen Staaten der wichtigste Ansprechpartner der UN für Peace-Keeping Operationen. Norwegische Soldaten beteiligen sich seit fast 30 Jahren an Blauhelm-Missionen (Die Beteiligung von norwegischen Soldaten ist allerdings nicht prinzipiell auf Peace-Keeping Operationen begrenzt.) In Japan hingegen wurde im letzten Jahr nach langer Diskussion und mit knapper Mehrheit das sog. »International Peace Coooperation Law« verabschiedet, welches eine – unter sehr restriktiv festgelegten Kriterien – Beteiligung japanischer Soldaten an UN-Peace-Keeping Operationen erlaubt. Die ersten japanischen Soldaten sind bereits an der Kambodscha-Mission der UN beteiligt. (C. Thomas)

Japan

Die Diskussion um sog. »out-of-Area«-Einsätze in Japan und in der Bundesrepublik weisen einige Parallelen auf. So gibt es nicht nur historische Gemeinsamkeiten zwischen dem japanischen und deutschen Militarismus, sondern auch die Debatte wird bzw. wurde in den letzten Jahren mit einer ähnlichen Rollenverteilung zwischen Regierung und Öffentlichkeit und ähnlichen Argumenten wie in der Bundesrepublik geführt. Die japanische Nachkriegsverfassung ist jedoch noch weitaus restriktiver als das deutsche Grundgesetz. Art. 9 der Verfassung legt fest, daß das japanische Volk auf immer auf das souveräne Recht einer Nation, Krieg zu führen, sowie die Androhung von Gewalt als Mittel zur Lösung internationaler Streitigkeiten verzichtet. Dementsprechend wird das Verfassungsziel formuliert, keine Land-, See- oder Luftstreitkräfte zu unterhalten (Dies wurde allerdings nicht eingehalten).

Das Peace-Keeping-Gesetz

Am 15. Juni 1992 verabschiedete das japanische Parlament ein „International Peace Cooperation Law“, welches unter sehr eingeschränkten Bedingungen japanischen Soldaten die Teilnahme an UN-Blauhelmaktionen erlaubt. Dieses Gesetz war mit den Stimmen der konservativ-liberalen Regierungspartei und der buddhistischen Partei, gegen den anhaltenden Widerstand der sozialdemokratischen und sozialistischen Opposition, verabschiedet worden.

Das Gesetz erlaubt die Teilnahme an friedenserhaltenden Maßnahmen und humanitären Operationen der Vereinten Nationen bzw. ihrer Unterorganisationen, die im einzelnen aufgeführt sind (z. B. UNHCR, UNEP, UNDP, UNICEF, WHO usw.).

In dem fast 60 Seiten umfassenden Gesetzeswerk wird bis ins einzelne festgelegt, an welcher Art von Operationen die japanischen Streitkräfte teilnehmen können; von der Beobachtung von Waffenstillständen bis zum Einsammeln von Waffen unter der Kontrolle der Vereinten Nationen, Hilfe beim Austausch von Kriegsgefangenen, Überwachung von Wahlen, Anleitung beim Aufbau von Polizei und anderen Verwaltungen sowie zahlreichen andere humanitäre Maßnahmen. Die japanischen Teilnehmer dürfen nur leichte Waffen zur Selbstverteidigung tragen.

In einer besonderen Festlegung verlangt das Gesetz ein erneutes Gesetzgebungsverfahren für die o. g. stärker militärisch geprägten friedenserhaltenden Maßnahmen (z. B. Beobachtung von Waffenstillständen, Stationierung in Pufferzonen, Einsammeln von Waffen usw.).

Jede Beteiligung Japans an Peace-Keeping Operations (PKO) setzt die Zustimmung der Konfliktparteien bzw. des Stationierungslandes, das Zustandkommen eines Waffenstillstandes, die Abwesenheit an „jeglicher Parteilichkeit gegenüber einer der Parteien in einem bewaffneten Konflikt“ usw. (Art. III (1)) voraus.

Die Beteiligung an UN-Aktionen muß sofort beendet werden, wenn die genannten Bedingungen nicht erfüllt sind (Art. VIII 1. (6), Art. VI (13)).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß das japanische Blauhelmgesetz restriktiver ist, als beispielsweise der SPD-Gesetzesentwurf für eine Grundgesetzänderung.

Auf der Basis der geschilderten Einschränkungen und Voraussetzungen ist die japanische Regierung dem Gesetz zufolge jedoch frei, ohne parlamentarische Entscheidung Soldaten zur Beteiligung an UN-Aktionen zu entsenden. Voraussetzung dafür ist, daß die japanische Regierung einen Vertrag mit der UN („International Peace Cooperation Asignment“) oder einer ihrer humanitären Hilfsorganisationen abgeschlossen hat.

Eine Verfassungsänderung wird in Japan zwar diskutiert, erscheint aber aussichtslos. Das restriktive Blauhelmgesetz wird mehrheitlich als vereinbar mit dem am Anfang zitierten Art. 9 der japanischen Verfassung angesehen.

Der japanische Außenminister will langfristig Japan auch für »enforcement«, also für sog. Kampfeinsätze nach Kap. VII der UN-Charta öffnen. Wie stark aber die historisch bedingte Zurückhaltung in der japanischen Elite ausgeprägt ist, zeigt die Äußerung des japanischen Ministerpräsidenten Meyazawa in einem Journalistengespräch während seiner Asienreise am 17. Januar. Er war wiederholt gefragt worden, ob Japan nicht auch an friedeserzwingenden Aktionen der Vereinten Nationen teilnehmen wolle. Unter Bezug auf den Zweiten Weltkrieg meinte Meyazawa dazu: „Unter welcher Flagge auch immer, solche Aktivitäten sind mit Sicherheit als Anwendung von Gewalt zu betrachten. Da sehe ich das Problem.“

Norwegen

Anfangs muß festgehalten werden, daß Norwegen hier stellvertretend für alle anderen skandinavischen Staaten angesehen werden kann.

Die norwegische Regierung hat im Herbst 1985 sich auf folgende Definition von Peace-Keeping Operations geeinigt.

„Um die Tendenz zur Fehlinterpretation des Wortes »Friedenserhaltung« und um Mißverständnisse über die Rolle und Verantwortlichkeiten derer zu vermeiden, die den friedenserhaltenden Dienst ausführen, wird »Friedenserhaltung« im Kontext von UN-Operationen wie folgt definiert: „Die Verhinderung, Eindämmung, Abbau und Beendigung von Feindseligkeiten zwischen oder innerhalb von Staaten mit Hilfe der friedlichen Intervention einer dritten Partei, die international organisiert und geführt wird und multinationale Verbände von Soldaten, Polizisten und Zivilangehörigen einsetzt, um den Frieden wiederherzustellen und zu erhalten.“

Diese Definition ist auch von den anderen skandinavischen, Staaten offiziell angenommen worden.

Im Gegensatz zu Norwegen, wird in der deutschen Diskussion über Peace-Keeping Operationen der zivile und rein polizeiliche Anteil häufig außer acht gelassen. Darüberhinaus wird bei dem militärischen Anteil oft übersehen, daß auch das Konzept des traditionellem Peace-Keeping zwei Formen von Verteidigung also Waffengewalt einschließt: Selbstverteidigung (Self-defence) und Auftragsverteidigung (Mission Defence), allerdings unter striktester Anwendung des Prinzips der Neutralität im Konflikt und des niedrigst möglichen Niveaus von Gewaltanwendung im Notfall (z.B. möglichst Vermeidung von Tötung bei der Verwendung von Schußwaffen, vergleichbar den Regeln im Polizeirecht). Der restriktive Waffengebrauch dient dem Ziel der De-Eskalation. Ein weiteres typisches Merkmal der »rules of engagement« bei Peace-Keeping ist die offene, demonstrative Präsenz der UN-Soldaten – im Unterschied zu üblichen Tarnung bei militärischen Kampfeinsätzen.

Rechtslage

Die norwegische Verfassung (vom 17. Mai 18141) erlaubt grundsätzlich keine Out-of-Area-Operationen unter dem Kommando anderer Staaten. Die übereinstimmende Verfassungsinterpretation aller Parteien des norwegischen Parlaments (Stortinget) besagt, daß diese Vorschrift erstens für Verteidigungsoperationen unter NATO-Kommando und zweitens für die Teilnahme an friedenserhaltenden Maßnahmen unter UN-Kommando nicht zutrifft.

Eine rechtliche Grundlage für die Beteiligung Norwegens an PKO der UN gibt es seit 1963 durch den Parlamentsbeschluß Nr. 61 zur Aufstellung einer kurzfristig einsetzbaren Bereitschaftstruppe von 1.300 Mann. Sie ist speziell für UN-Einsätze ausgebildet, aus der Kommandostruktur der norwegischen Streitkräfte ausgegliedert und beim Verlassen norwegischen Territoriums ausschließlich der UN unterstellt.

Inzwischen ist die Standby-Truppe der norwegischen Armee, die für diese UN-Einsätze zur Verfügung steht, auf 2.000 Mann erhöht worden. Bei einer gesamten Präsenzstärke von 18.000 Soldaten ist das prozentual ein sehr hoher Anteil.

Parlamentarische Verfahren

Die Entscheidung zur Teilnahme an UN-Aktionen erfolgt wenig legalistisch. Nach der Verfassung entscheidet der König (die Regierung) über die Entsendung militärischen Personals. Für UN-Peace-Keeping hat sich ein Konsultationsverfahren eingebürgert, für andere militärische Einsätze ist ein Parlamentsbeschluß üblich.

Nach einer Anfrage des UN-Generalsekretärs beim norwegischen Außenministerium kann die norwegische Regierung nach Rücksprache mit dem Verteidigungsausschuß und dem außenpolitischen Ausschuß des Stortinget die UN-Truppe bereitstellen. Die politische Einflußnahme des Parlamentsplenums erfolgt durch die jährliche Festlegung der Haushaltsmittel für konkrete UN-Einsätze. Die laufenden Kosten für die Ausbildung und Bereitstellung der Truppe sind in einem festen Posten des Verteidigungshaushalts vorgesehen.

Bei UN-Einsätzen bekommt Norwegen etwa ein Drittel der Personalkosten von der UN zurückerstattet.

Trotz des reinen Konsultationsrechte des Parlamentes führt die Regierung Blauhelmeinsätze nur auf der Basis eines prinzipiellen Konsenses mit den Mitgliedern des Außen- und Verteidigungsausschusses durch.

Struktur der UN-Bereitschaftstruppen

Norwegen unterscheidet zwischen drei Kategorien von Blauhelmeinheiten:

1. Die militärischen Friedenstruppen, Beobachtergruppen sowie Militärpolizisten, die – nach Abschluß des Grundwehrdienstes – aus den Streitkräften rekrutiert werden. Ihre Ausbildung und Rekrutierung erfolgt unter Leitung einer eigens für die UN ausgegliederten Kommandostruktur des Landesverteidigungskommmandos.

2. Zivile Polizeieinheiten für UN-Einsätze; sie werden unter Leitung der norwegischen Polizei rekrutiert und speziell für UN-Zwecke ausgebildet.

3. Humanitäre und Katastrophenschutzeinheiten, die von einer ständig einsetzbaren »zivilen Bereitschaftsruppe« des NOREPS (Norwegian Emergency Preparedness System) ausgebildet werden.

Die norwegische Regierung hat inzwischen eine »Sondereinheit Umwelt« gebildet, die dem neueingerichteten »United Nations Center For Urgent Environmental Assistance« zur Verfügung gestellt wird. Norwegen hat als erstes Land einen konkreten Vertrag mit dem UNCUEA über die Bereitstellung von Soforthilfe im Umweltbereich abgeschlossen.

Alle drei Typen von UN-Bereitschaftstruppen werden vom Außenministerium in direkter Zusammenarbeit mit der UN koordiniert und zusammengestellt.

Ausbildung, Rekrutierung und Koordination

Die norwegischen UN-Bereitschaftstruppen rekrutieren sich zu 78 % aus Reservisten und zu 22 % aus Berufssoldaten, überwiegend Offizieren. Der Anteil von Frauen beträgt etwa 5 %.

Aufgrund des bei UN-Einsätzen üblichen Rotationsprinzips (Wechsel nach 6 Monaten Einsatz) muß die 2.000-Mann-starke ständige UN-Einsatztruppe über ein ausreichend ausgebildetes Reservistenpotential verfügen. Sie werden halbjährlich zu mehrwöchigen Ausbildungskursen einberufen und müssen sich für mindestens zwei Jahre verpflichten, innerhalb von 48 Stunden (Offiziere) bzw. 7 Tagen (Mannschaften) einsatzbereit zu sein. Sie erhalten dafür eine monatliche Aufwandsentschädigung. Beim Einsatz erhalten sie ein zweites steuerfreies Monatsgehalt.

Der militärische Teil wird seit 1964 gemeinsam von Norwegen, Dänemark, Schweden und Finnland als »Nordic UN Stand-by Force« koordiniert und ausgebildet. In den skandinavischen Verteidigungsministerien gibt es jeweils Beauftragte für finanzielle und politische Angelegenheiten. Den Führungen der Streitkräfte sind jeweils Büros oder Abteilungen zugeordnet, die ihre Arbeit untereinander koordinieren.

Halbjährlich treffen sich die Verteidigungsminister der vier Länder zur Abstimmung der Peace-Keeping-Missionen. Die Abstimmung der Ausbildungsprogramme wie auch die Koordination des Einsatzes skandinavischer Soldaten bei UN-Friedenstruppen wird über das gemeinsame »Skandinavische Komitee für militärische Angelegenheiten der UN« (NORSAFN) koordiniert.

Alle vier skandinavischen Staaten legen großen Wert auf strengste Selektion und Ausbildung des Personals für UN-Einsätze. Sämtliche Bewerber werden psychologisch, gesundheitlich, in bezug auf Ausbildung und Qualifikation untersucht. Von vornherein werden Bewerber ausgeschlossen, die nationalistische, rassistische oder religiöse Vorurteile haben.

Die Grundausbildung für UN-Offiziere beträgt 13 Wochen, für einen Berufssoldaten fünf Wochen. Die Offiziersausbildung wird arbeitsteilig von den vier skandinavischen Ländern gemeinsam durchgeführt. So wird das Stabsoffizierstraining in Schweden (UNSOC), die Logistikausbildung in Norwegen (UNLOC), die Militärpolizeiausbildung in Dänemark (UNIMILPOC) und die militärischen Beobachter in Finnland (UNMOC) ausgebildet.

Ausbildungsziel von Peace-Keeping-Soldaten wird folgendermaßen beschrieben: „UN-Soldaten können sich nicht auf ihre Feuerkraft verlassen, sondern sie müssen andere überzeugen, ihre Waffen nicht einzusetzen. In gewisser Weise sind sie ihren Gegnern überlegen, weil sie gewohnt sind, friedliche Lösungen und praktikable Kompromisse im Konfliktfall zu suchen. Der Schwerpunkt der Ausbildung liegt in der Fähigkeit, vor Ort und manchmal allein Probleme zu lösen und komplizierte Situationen zu beherrschen. Diese Problemlösungsfähigkeit der Offiziere wird in den geplanten Einsatzgebieten bis zum äußersten auf die Probe gestellt.“ Eines der Kriterien für die Entscheidung über den Einsatz an Lehrgangsteilnehmern und Teilnehmerinnen liegt in der Beurteilung der auszubildenden UN-Soldaten, „wie sie und ihre Untergebenen unter äußerstem Druck reagieren.“ (Zitate aus den Trainingsrichtlinien der norwegischen Streitkräfte)

Weiterentwicklung von Peace-Keeping

In dem jüngsten Weißbuch der norwegischen Regierung wird darauf hingewiesen, daß die norwegischen Peace-Keeping-Streitkräfte auf die neuen Formen von PKO vorbereitet werden sollen.

Die weitere Spezialisierung in der Ausbildung der norwegischen Peace-Keeping-Soldaten erfolgt in Absprache mit dem UN-Sekretariat für Peace-Keeping Operations (Golding-Office). Danach wurde Norwegen gebeten, die Unterstützungs- und Nachschubkomponente von Peace-Keeping Operationen stärker zu entwickeln. Hier liege ein besonderer Bedarf für zukünftige UN-Missionen.

Darüber hinaus bereitet sich Norwegen auch auf Einsätze im Rahmen der KSZE und möglicherweise auch für die NATO vor, soweit die NATO PKOs im Auftrag der UN durchführt.

Zur Verbesserung der Ausbildung und Rekrutierung will Norwegen eine »Informations- und Datenbank für Peace-Keeping« aufbauen, um kurzfristig der UN das richtige militärische und zivile Personal für PKO zur Verfügung zu stellen.

Norwegens Verhältnis zu militärischen Zwangsmaßnahmen der UN

Die UN-Bereitschaftstruppen sind und bleiben grundsätzlich spezialisiert auf das Spektrum von friedenserhaltenden UN-Maßnahmen, was in den individuellen Rekrutierungsverträgen festgelegt ist. Die UN-Bereitschaftstruppen werden nicht für Kampfeinsätze eingesetzt.

Grundsätzlich fühlt sich Norwegen zwar auch an UN-Beschlüsse über Zwangsmaßnahmen gebunden, behält sich aber in jedem Einzelfall die eigene Entscheidung über das »Ob« und »Wie« der Beteiligung vor. Für die Beteiligung an UN-Zwangsmaßnahmen wird nur freiwilliges Personal (mit individuellen Verträgen) aus den regulären Streitkräften zur Verfügung gestellt. Die Beteiligung an Zwangsmaßnahmen setzt eine parlamentarische Mehrheitsentscheidung voraus.

Auch in Zukunft will Norwegen sich bei Kampfeinsätzen aber auf Versorgungs-, Kommunikations- und Sanitätseinheiten beschränken. Dies ist Konsens zwischen den die norwegische Minderheitsregierung unterstützenden Parteien.

Vergleich der Militärausgaben und der Veranlagung für UN-Peace-Keeping, ausgewählte Staaten, 1991
Staaten Militärausgaben Peacekeeping
Veranlagung Verhältnis
Tschechoslowakei 723 3.2 223:1
Japan 32,100 55.9 574:1
Mexiko 662 .9 717:1
Bundesrepublik 39,900 46.0 868:1
Frankreich 41,400 37.8 1,096:1
Nigeria 234 .2 1,191:1
Großbritannien 42,300 29.4 1,441:1
Welt 921,500 491.0 1,877:1
USA 304,500 151.0 2,016:1
China 12,000 4.8 2,520:1
Brasilien 4,900 1.4 3,441:1
Russland 224,100 60.3 3,714:1
Indien 7,200 .4 19,816:1
Israel 4,500 .2 21,82:1
Pakistan 2,800 .059 47,522:1
Syrien 4,500 .039 114,562:1
Äthiopien 896 .005 182,485:1
Quelle: Renner, Michael: Critical Juncture. The Future of Peacekeeping, Worldwatch Paper, May 1993, S.50 (Übersetzung C. Thomas) (Mill.
US-Dollar)

Anmerkungen

1) Historisch bezieht sich die norwegische Verfassungsbestimmung auf das Verbot der Beteiligung an Söldnerheeren im letzten Jahrhundert. Zurück

Wolfgang Biermann, SPD, ist Redakteur der Zeitschrift »Frieden und Abrüstung. Informationen und Dokumente aus der internationalen Friedensdiskussion«

Eingebettete Gewalt

Eingebettete Gewalt

Der Bürgerkrieg in Darfur

von Kurt Beck

Am 31. Juli 2007 hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einstimmig die lange erwartete Resolution 1769 zur Situation in Darfur verabschiedet. Die Resolution, ursprünglich schärfer gefasst und mit Sanktionsmöglichkeiten gegen die Regierung des Sudans versehen, dann aber nach Widerstand der sudanesischen Regierung und ihrer Verbündeten, hauptsächlich Chinas, entschärft, ermächtigt die Vereinten Nationen, eine Blauhelmtruppe zur Unterstützung des Friedensprozesses und zum Schutz von Zivilpersonen nach Darfur zu entsenden.

Die zunächst auf ein Jahr befristete Mission (UNAMID) soll 26.000 Personen (knapp 20.000 Militär und ca. 6.000 Polizei) umfassen und bis Ende des Jahres die 7.000 Mann starke Truppe der Afrikanischen Union (AMIS), welche seit Herbst 2004 in Darfur stationiert ist, vollständig assimiliert haben. Im Vergleich zur Beobachtermission der Afrikanischen Union verfügt UNAMID über ein weiter gehendes Mandat, ist etwa ausdrücklich aufgefordert, auch mit militärischer Gewalt zum Schutz von Zivilpersonen vorzugehen.1 Damit keimt erneut die Hoffnung auf Beilegung eines der blutigsten Bürgerkriege in Afrika, der seit 2003 über 2 Mio der 7 Mio Darfuris zur Flucht gezwungen und bis zu 300.000 das Leben gekostet haben soll.

Um die genozidale und rassistische Dimension hervorzuheben, haben einige Beobachter den Darfurkonflikt zehn Jahre nach dem Völkermord in Ruanda als »Ruanda im Zeitlupe« bezeichnet. »Südsudan im Zeitraffer« wäre treffender, wenn auch weniger dramatisch. Gewiss, es hat blutige Massaker unter den Ethnien Fur und Masalit gegeben, z.B. Massenexekutionen an mehreren hundert wahllos zusammengetriebenen Bauern im Wadi Salih in den südwestlichen Vorbergen des Jabal Marra. Regierungstruppen und Milizen haben tausende, vermutlich zehntausende Zivilisten getötet. Mädchen und Frauen wurden massenhaft vergewaltigt, Kinder geraubt, zehntausende Stück Vieh weggetrieben, Moscheen geschändet, Dörfer und Ernten verbrannt, Brunnen und öffentliche Gebäude zerstört. Was sich in Darfur ereignet, kann kaum anders denn als ethnische Säuberung durch Zerstörung, Vertreibung und Töten begriffen werden.2 Dennoch ist die große Mehrzahl der Opfer nicht in einem gewaltigen Blutrausch abgeschlachtet worden wie in Ruanda, sondern sie sind aufgrund von Unterernährung und Krankheiten ums Leben gekommen. Einige Kommentatoren haben daher von Genozid durch Auszehrung gesprochen.

Aufstandsunterdrückung und Vernichtungsfeldzug

Ende 2002 kamen vereinzelte Gerüchte über eine Rebellenorganisation namens »Darfur Liberation Front« im Jabal Marra-Bergland im Herzen der Region Darfur auf. Im Frühling schließlich wurde bekannt, dass die Rebellen, nun unter dem Namen »Sudan Liberation Movement/Army« und JEM (Justice and Equality Movement), einige kleinere Städte im Gebiet der Fur im Jabal Marra-Massiv und im Gebiet der Zaghawa nahe der Grenze zum Tschad erobert hatten. Ende April 2003 gelang es ihnen sogar, El Fasher, die alte Hauptstadt Darfurs einzunehmen und die Stadt einige Tage zu halten. Dies waren keine tribalen Konflikte oder das Werk von Banditen, sondern ein Aufstand und eine öffentliche Kriegserklärung an die Regierung in Khartum.

Die Reaktion aus Khartum kam spät, dafür aber brutal. Obwohl ein großer Teil der Regierungstruppen im Bürgerkrieg gegen die »Sudan Peoples’ Liberation Army« (SPLA) im Süden des Landes gebunden war, hatte die Armee bis Juli 2003 genügend Truppen verlegt, um eine groß angelegte Offensive in Norddarfur zu beginnen. Angesichts der Bomberangriffe auf Dörfer und der systematischen Zerstörung von Siedlungen der Fur und Zaghawa wurde bald deutlich, dass die Kriegsführung einer Strategie der verbrannten Erde folgte. Die zweite Strategie sollte sich allerdings als weit verheerender erweisen. Sie bestand darin, arabische Milizen, die seither der Weltöffentlichkeit unter dem Namen Janjawid bekannt wurden, zu rekrutieren und zu bewaffnen. Diese Strategie ist von einem Beobachter treffend als Aufstandsunterdrückung auf die billige Art beschrieben worden3 – auf die schmutzige Art wäre auch eine treffende Bezeichnung, denn die Kriegsführung der Janjawid lässt sich nur in Termini eines ungehemmten Vernichtungsfeldzugs gegen die Ethnien begreifen, aus denen sich die Rebellengruppen rekrutieren. Zum Verständnis der Entwicklung ist ein Blick auf den politischen Kontext und die Geschichte hilfreich.4

Darfur, ein marginalisiertes Grenzland

Darfur ist die westlichste Region der Republik Sudan, flächenmäßig etwa so groß wie Frankreich, mit einer Bevölkerung von rund 7 Mio. Einwohnern allerdings sehr dünn besiedelt. Es hat gemeinsame Grenzen mit dem Südsudan im Süden, mit der zentralafrikanischen Republik im Südwesten, im Westen mit dem Tschad und ganz im Norden mit Libyen. Diese Grenzen sind Teil des Konflikts. Sowohl der Südsudankonflikt hatte seine Auswirkungen, als auch die Politik Libyens, das seit den achtziger Jahren die unzufriedenen Abenteurer aus der ganzen Sahelregion in seine Islamische Legion rekrutierte, um damit in die regionalen Konflikte zu intervenieren.

Der nördliche Teil Darfurs ist Wüste. Hier leben Kamelnomaden, arabische Nomaden wie die nördlichen Rizaiqat und nichtarabische Nomaden wie die Zaghawa, deren Siedlungsgebiete sich weit über die Grenze in den Tschad ziehen. Der Norden Darfurs leidet wie die ganze Sahelregion unter Austrocknung und Desertifikation. Auch dies ist Teil des Problems, denn die Nomaden drängen seit Mitte der 1980er Jahre mit ihren Herden auf die fetteren Weiden Zentraldarfurs, was zu erheblichen Ressourcenkonflikten mit den dortigen Bauern geführt hat.

Zentral- und Westdarfur erhalten genügend Niederschläge für Hirseanbau und Gartenbau. Hier leben die bäuerlichen Ethnien Fur, ferner die Masalit, deren Gebiete sich im Tschad fortsetzen, die Berti und einige weitere nichtarabische Ethnien. Seit den 1980er Jahren fand dort in den begünstigten Lagen eine massive landwirtschaftliche Expansion statt, in deren Folge auch Wanderwege von Nomaden versperrt, Weiden unzugänglich gemacht und der Zugang zu Brunnen erschwert wurden, und dies gerade in einer Zeit, in der die Nomaden Norddarfurs ihre Herden vor den Dürren retten wollten.

Der Süden Darfurs ist für Rinderzucht und Hirseanbau geeignet. Hier befindet sich das Gebiet der unter der Bezeichnung Baqqara (Rinderleute) zusammengefassten Rizaiqat, Maaliya und Beni Halba sowie Salamat, letztere in ihrer Mehrheit bereits über der Grenze zur Zentralafrikanischen Republik. Historische Migrationen und nachbarschaftliches Zusammenleben haben allerdings dazu geführt, dass alle diese Ethnien zu einem gewissen Maß miteinander vermischt lebten, zumindest bis in die 1980er Jahre, bevor nach einer langen Periode relativen Friedens die großen Stammeskriege ausbrachen. Ferner brachten die Wanderungen der Nomaden eine gewisse Mobilität in die Siedlungsstruktur.

Diese Wanderungen verursachen immer wieder Reibungen, sei es wegen Flurschäden oder gestohlenen Tieren, und massive Verlagerungen wie 1983/4 infolge mangelnden Regens oder schlechter Weide haben immer wieder die Gefahr gewaltsamer Ressourcenkonflikte heraufbeschworen. Die Gesellschaft der Savanne hat nie konfliktfrei funktioniert; individuelle gewaltsame Konflikte und manches Mal Stammeskriege gehörten als ein integraler Teil zur Sozialstruktur der Savanne. Aber es existierten eben auch politische und rechtliche Institutionen, um die aufkommenden Konflikte zu zähmen. Von Fall zu Fall mögen diese Institutionen sehr alt sein, sicher ist aber, dass die englische Kolonialverwaltung sie im Rahmen ihrer Eingeborenenverwaltung in den 1920er Jahren in der Form von Stammesgerichtsbarkeit und intertribalen Verhandlungen regularisierte und dass sie bis in die 1980er Jahre die kleine alltägliche Gewalt in der Savanne zwar nicht verhinderten, aber doch allgemein akzeptiere Verfahren zu ihrer Eindämmung bereitstellten und – dies ist der springende Punkt – einer militärischen Eskalation vorbeugten. Letztliche Voraussetzung dafür war aber immer der Rückhalt durch die Macht des Staats.

Der Staat und die Savanne – die Wiederkehr der Vorgeschichte

Selbst wenn man nicht bis in pharaonische und meroitische Zeiten zurückgeht, ist der Staat doch eine alte Institution im Sudan. Das Sultanat Darfur (ca. 1650 bis 1916) und westlich davon das Sultanat Masalit fügten sich in die Kette der Staaten in der afrikanischen Savanne, die von Westafrika bis zum äthiopischen Hochland reichte, alle mehr oder weniger auf dem Handel, insbesondere dem Sklavenhandel nach Nordafrika und die Levante gegründet. Historisch lag das Sultanat Darfur mit seinem Zentrum im Jabal Marra in Konkurrenz mit einer ganzen Abfolge von östlichen Nachbarn am Nil, angefangen vom Schwarzen Sultanat der Funj (1501-1820), über den ägyptischen Kolonialstaat (1820-1881) und den mahdistischen Staat (1882-1898) bis zum anglo-ägyptischen Kolonialstaat (1898-1955). Erst im Ersten Weltkrieg wurde Darfur in den anglo-ägyptischen Sudan integriert.

Keiner dieser Staaten sollte mit einem modernen Nationalstaat verwechselt werden. Dennoch ist diese Art von Vorgeschichte lehrreich für ein Verständnis des aktuellen Konflikts. Die Staaten besaßen ihre Machtzentren am Fuß des Jabal Marra oder am Zusammenfluss des Weißen und des Blauen Nils, aber auf dem Land nahm die Macht ihrer Herrscher mit zunehmender Entfernung von den Zentren schnell ab. Die Savannen bildeten ein tribales Grenzgebiet zwischen den Staaten, das nur sehr punktuell durch Allianzen mit lokalen Kriegsherren, die im Austausch wiederum Anerkennung als Stammesführer erhielten, und durch militärische Kampagnen regiert wurde. Stammesführer und ihre Kavallerien waren aus einer Reihe von Gründen nützlich: um die eigenen Handelsrouten zu schützen, um die der konkurrierenden Nachbarn zu stören, um das Grenzgebiet im Vorfeld des Staates abzuschirmen, um die tribalen Allianzpartner der Konkurrenten in Schach zu halten und Krieg in das Vorfeld des konkurrierenden Staats zu tragen. Aber diese Allianzen waren immer zweischneidig, denn Stammesführer und ihre Milizen beschränkten sich nie auf Gewaltausübung im Namen des Staats. Sie hatten ganz im Gegenteil ihre eigenen lokalen Ambitionen, u. a. Brunnen und Weidegebiete zu erobern, Vieh und Sklaven zu rauben, und dies mit Rückendeckung, aber bei Gelegenheit auch gegen den Willen ihrer Sultane.

Damit soll nicht impliziert sein, dass die Janjawid von heute umstandslos einer ungebrochenen Tradition in der Savanne folgen. Denn erstens blüht die Gewalt heute in einer historisch unvorstellbaren Dimension. Und zweitens hat der Staat, angefangen mit der kolonialen Pazifizierung und der Einrichtung der Eingeborenenverwaltung, über mehrere koloniale und postkoloniale Verwaltungsreformen hinweg bewiesen, dass die Gewalt im Grenzland des Staats zähmbar ist. Aber dies gilt eben nur, solange der Staat den politischen Willen und die Ressourcen dazu tatsächlich auch besitzt. Das Gegenteil ist heute der Fall! Der Staat hat seinen mit Mühe errungenen Anspruch auf das Monopol legitimer Gewaltausübung aufgegeben, die lokalen Verwaltungen in Darfur sind nach der Abschaffung der auf die Kolonialzeit zurückgehenden Verwaltungsinstitutionen im Jahr 1982 und der finanziellen Ausblutung derjenigen Institutionen, die ihren Platz einnehmen sollten, geschwächt. Wiewohl formell innerhalb staatlicher Grenzen, sind die Savannen doch wieder offen für die Gewalt aus den benachbarten Staaten. Die zeitgenössischen Sultane, ob sie nun in Tschad, Libyen oder Sudan herrschen oder die Herrschaft an sich reißen wollen, haben wieder begonnen, Allianzpartner in der Savanne für ihre Kriege zu sammeln. Und zu den Allianzpartnern der sudanesischen Regierung gehören die Janjawid.5

Das historische Muster kommt wieder zum Vorschein, seit sich die Struktur der gewaltoffenen Grenze seit den frühen 1980er Jahren wieder ausgebildet hat. Die tschadischen Bürgerkriege wurden weitgehend auf darfurischem Gebiet ausgefochten, angefangen mit dem Sturz der Regierung Goukouni im Juni 1982 durch Hissène Habre mithilfe der Zaghawa aus dem sudanesischen Grenzland und Gadhafis Rekrutierung für seine islamische Legion aus den arabischen Ethnien. Im Dezember 1990 stürzte Idriss Déby seinerseits die Regierung Habre. Zur selben Zeit versuchte die SPLA eine zweite Front in Darfur zu etablieren und die tribalen Milizen, welche die sudanesische Zentralregierung gegen die SPLA ausgerüstet hatte, wandten sich auch Darfur zu. Seit 2005 sammeln sich wieder die tschadischen Rebellen mit Unterstützung der sudanesischen Regierung im darfurischen Grenzland6. Die tschadische Regierung dagegen unterstützt gezielt darfurische Rebellenmilizen, die aus den Flüchtlingslagern im Tschad rekrutieren und im Gegenzug die arabischen tschadischen Rebellenmilizen binden sollen. Angehörige arabischer Ethnien wie Mahamid und Salamat, aus dem Tschad und der Zentralafrikanischen Republik vertrieben, besiedeln inzwischen Gebiete in Darfur, aus denen vorher die arabischen Milizen Fur und Masalit vertrieben haben, u. a. das Gebiet der Massaker im Wadi Salih.

In der gesamten Region werden wieder die Konflikte zwischen den Herrschern und den Prätendenten auf die Herrschaft ausgefochten. Der Krieg ist von den Herrschern als Stellvertreterkrieg oder als Aufstandsunterdrückung auf die billige Art gedacht, wird aber eben auch mit lokalen Ambitionen geführt. Das Grenzland hat sich zu einem Schlachtfeld entwickelt, auf dem allerhand Kriegerbanden agieren, seien dies Regierungstruppen oder Rebellen, dörfliche und nomadische Milizen, oder einfach nur Banditen oder Banden von Stammeskriegern, welche die Gelegenheit wahrnehmen, straflos ihre kleinen Kriege und Raubzüge unter dem Schirm der großen Konflikte zu führen. Eingebettete Gewalt könnte man dies wegen der Dynamik mehrfach ineinander verschachtelter Konflikte nennen.

Ethnizität, Tribalismus, Rassismus

Besonders blutig werden diese Konflikte, wenn sie gebündelt und auf einen ideologischen Generalnenner gebracht werden. Der Gesamteffekt all dieser Entwicklungen – Dürre, Migrationen und Ressourcenkonflikte, importierte Gewalt, Schwächung der lokalen Verwaltungen – war ein erster Ausbruch von ethnischer Gewalt in den späten 1980er Jahren. Ethnizität ist unter gewissen Umständen leicht anfällig für Militarisierung, zumindest bietet ethnische Zugehörigkeit ein ideales Rekrutierungsmuster. Darfur zur Zeit der Renaissance der Fur in den 1980er Jahren bietet ein Lehrbuchbeispiel für politische Ethnizität und die Ausbildung eines militanten Tribalismus. Ähnlich exemplarisch – diesmal für Rekrutierung über religiöse Zugehörigkeit – ist der Südsudankonflikt. Aber im Gegensatz zu dem jihadistisch dargestellten Bürgerkrieg im Südsudan fehlen in Darfur, wo sich alle zum Islam bekennen, dafür die Voraussetzungen. Mit der Bündelung der ethnischen Antagonismen in ein Lager der Zurqa (Schwarze, mit einem Beiklang von Sklaven) und ein Lager der Araber blüht heute in Darfur jedoch der Rassismus. Auf der einen Seite stehen die Ethnien, die im Sudan als afrikanisch gelten und auf der anderen Seite diejenigen, die als arabisch gelten.

Nach der Unabhängigkeit des Sudans wurde Darfur durch Verwaltungsbeamte aus der politischen Elite des Niltals regiert. Intellektuelle aus Darfur betrachteten dies als internen Kolonialismus in Termini einer alten Opposition zwischen der einheimischen marginalisierten Bevölkerung und den besser entwickelten Gebieten des zentralen Niltals.7 Schon in den 1960er Jahren meldeten sich die ersten Organisationen zu Wort, die eine stärkere Berücksichtigung darfurischer Interessen forderten, die frühen 1980er Jahre sahen eine Reihe von Streiks und Demonstrationen in den darfurischen Städten und schließlich setzte die Zentralregierung 1981 einen Darfuri als Gouverneur ein. Der Gouverneur stammte aus der Ethnie der Fur, als sein Stellvertreter wurde der zahlenmäßigen Bedeutung der Ethnien entsprechend ein Zaghawi bestellt.

Im politischen Bewusstsein der Savanne erlebte damit die alte Herrschaft der Fur eine Renaissance. Was folgte, war eine massive Tribalisierung der Verwaltung. Dies war auch die Zeit der Expansion der Landwirtschaft am Jabal Marra. Dann aber kamen die Dürren bei Zaghawa und arabische Nomaden und der Zuzug der Herden aus dem Norden mit den begleitenden Ressourcenkonflikten. Die Fur-Bauern verteidigten ihre Felder, Nomaden versuchten Zugang zu Weiden und Wasserstellen zu erzwingen. Milizen formierten sich, die Zaghawa setzten auf ihre tschadischen Beziehungen, die Fur wandten sich an Armee und Polizei. Zwischen 1983 und 1987 herrschte praktisch Kriegszustand zwischen Fur und Zaghawa. Die Fur beriefen sich auf ihre einheimischen Landrechte aus der Zeit des Sultanats, die Nomaden forderten ihren nie ganz unumstrittenen, aber gewohnheitsmäßigen freien Zugang als sudanesische Bürger. Im Verlauf des Konflikts wurden Siedlungen der Zaghawa niedergebrannt und mehrere ihrer Führer von den Sicherheitskräften der Fur exekutiert. Und die arabischen Nomaden, von der darfurischen Verwaltung ausgeschlossen und von den Weiden ausgesperrt, mussten erbittert zusehen, wie ihre Tiere verendeten und ihre Lager von darfurischen Sicherheitskräften zerstört wurden. Sie wandten sich zunächst an die Regierung in Khartum und als von dort keine Hilfe kam, setzten sie auf die libysche Karte. In dieser Zeit formierte sich unter dem Einfluss der Heimkehrer aus der Islamischen Legion und ihrer panarabischen Ideologie die arabische Sammlungsbewegung und zum ersten Mal kam die Rede von Darfur als Teil eines arabischen oder eines schwarzen Gürtels in der Savanne auf. Im Jahr 1987 schließlich brach der Krieg der arabischen Milizen gegen die Fur aus, ein gebündelter Stammeskrieg unter Führung der arabischen Sammlungsbewegung, und daher lokal als „Krieg der Stämme“ bezeichnet. 1989 folgte eine Friedenskonferenz in Darfur, aber inzwischen waren die Kontrahenten klar in ethnischen Lagern aufgestellt, die Kriegsbeute, Darfur, wurde immer mehr unter rassistischen Gesichtspunkten betrachtet. Es ging nicht mehr nur um kleine Ressourcenkonflikte, auch nicht mehr um Stammeskriege, sondern um die Vorherrschaft entweder der Afrikaner oder der Araber über ganz Darfur.

Auch nach den Friedensvereinbarungen von 1989 setzte sich der Konflikt, wenn auch auf niedrigem Niveau, fort, intensivierte sich jedoch gegen Ende der neunziger Jahre insbesondere zwischen Masalit und arabischen Nomaden an der Grenze zum Tschad. Es wurde bald deutlich, dass die neue Zentralregierung des Sudans, 1989 durch einen Putsch an die Macht gekommen, mit ihrer islamistisch-arabischen Ideologie die rassistische Interpretation des Konflikts in Darfur weiter schürte. Die von der Militärregierung eingesetzten Kommissare aus dem Niltal bauten auf die Unterstützung der arabischen Ethnien und unterstützten sie ihrerseits. In dieser Zeit bereits entstand der militärisch-politische Komplex aus Milizen, Geheimdiensten und Armee. Arabische Milizen im Gebiet der Masalit konnten ungehindert Dörfer der Bauern überfallen und genossen sogar bei Gelegenheit die Unterstützung der Armee.

Schließlich vereinigten sich 2002 Milizen der Fur, der Masalit und der Zaghawa zur Darfur Liberation Front und begannen wie bereits geschildert ihre Rebellion gegen die Zentralregierung. Zu deren Ausbruch gerade zu diesem Zeitpunkt mag beigetragen haben, dass die Zentralregierung immer mehr als Feind der afrikanischen Bevölkerung in Darfur galt und der Moment, als gerade die Friedensverhandlungen zwischen der Zentralregierung und der SPLA aus dem Südsudan begannen, als besonders günstig erachtet wurde, um auch Darfur mit seinen Problemen einen Platz am Verhandlungstisch zu erzwingen. Wenn dies die politische Überlegung war, dann beruhte sie auf einer dramatischen Fehleinschätzung der Zentralregierung, die, statt Interesse an einer politischen Lösung zu zeigen, über ihren politisch-militärischen Komplex zur Strategie der Aufstandsunterdrückung auf die billige Art griff und damit den Vernichtungsfeldzug gegen die afrikanischen Ethnien Darfurs eröffnete.

Die Ausbreitung des Konflikts

Lange schon hat sich der Darfurkonflikt auf den Tschad ausgedehnt. Um die 300.000 Flüchtlinge aus den afrikanischen Ethnien Darfurs leben seit 2003/4 in Lagern und in Siedlungen im östlichen Tschad. Arabische Milizen haben sie häufig über die Grenze verfolgt. Und die Janjawid rekrutieren sich neben den nördlichen Rizaiqat wesentlich aus arabischen Nomaden, die aus dem Tschad zugewandert sind und inzwischen begonnen haben, sich in den entvölkerten Gebieten Westdarfurs niederzulassen. 2005 begannen sich im östlichen Tschad bewaffnete Rebellengruppen gegen die Regierung Deby zu formieren. Seit Oktober 2005 waren Teile der Armee, auch aus dem innersten Kreis seiner hauptsächlich aus Zaghawa bestehenden Regierung, offenbar aus Unzufriedenheit über die Verteilung des neuen Ölreichtums im Tschad zu den Rebellen übergelaufen. Im April 2006 versuchten sie aus dem darfurischen Grenzland heraus die Hauptstadt N’Djamena zu erobern, wurden aber mit Unterstützung der französischen Armee zurückgeschlagen und haben seither eine Reihe von Niederlagen erlitten, sich aber mit Unterstützung der Janjawid und der sudanesischen Armee im Grenzland zwischen der Zentralafrikanischen Republik, Sudan und Tschad eingenistet, wo sie inzwischen als integraler Teil des Konflikts agieren.

Im April 2004 unterzeichneten die Rebellen und die sudanesische Regierung einen von der tschadischen Regierung und der Afrikanischen Union vermittelten Waffenstillstandsvertrag im Hinblick auf spätere Friedensverhandlungen, aber keine Seite hielt sich lange an ihn, am wenigsten die arabischen Milizen. Nach lange hingezogenen Verhandlungen, die immer wieder durch Nachrichten von Überfällen und Kämpfen unterbrochen wurden, kam es schließlich zu einem Abkommen zwischen der sudanesischen Regierung und einer der Rebellengruppen im April 2006.

Aber bereits während der Verhandlungen hatten sich die Rebellengruppen in eine Vielzahl von unabhängig voneinander operierenden Milizen aufgespalten. Vorher überspielte Interessengegensätze waren aufgebrochen, Feldkommandeure hatten sich gegen ihre Führer im Exil aufgelehnt, Milizen hatten unkontrolliert zu marodieren begonnen; ferner hatten sich Rebellenorganisationen entlang ethnischer Linien gespalten und neue Organisationen waren aufgetaucht, um ebenfalls einen Platz am Verhandlungstisch zu beanspruchen. Dazu kommt, dass inzwischen die arabischen Milizen, hochgerüstet wie sie sind, wieder damit begonnen haben, ihre kleinen Kriege gegeneinander auszufechten. Heute, nach der Unterzeichnung des Abkommens erscheint der Konflikt unkontrollierbarer denn je. Jetzt besteht neue Hoffnung, dass die UNAMID-Mission die Gewalt in Darfur einzudämmen vermag.

Anmerkungen

1) Resolution 1769 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, siehe www.un.org/News/Press/docs/2007/sc9089.doc.htm. Der AMIS-Einsatz beruhte auf der Resolution 1556 des Sicherheitsrats von 30. Juli 2004, siehe www.un.org/Depts/german/sr/sr_03-04/sinf59final.pdf.

2) Die Ereignisse sind gut dokumentiert durch mehrere Berichterstattermissionen der Vereinten Nationen, durch AMIS und durch die Tätigkeit internationaler Menschenrechtsorganisationen, v. a. Human Rights Watch: Darfur in Flames. Atrocities in Western Sudan. New York 2004; Human Rights Watch: Darfur Destroyed. Ethnic Cleansing by Government and Militia Forces in Western Sudan. New York 2004; Human Rights Watch: Empty Promises? Continuing Abuses in Darfur. New York 2004; Human Rights Watch: „If We Return, We Will Be Killed“. Consolidation of Ethnic Cleansing in Darfur, Sudan. New York 2004; Human Rights Watch: Entrenching Impunity. Government Responsibility for International Crimes in Darfur. New York 2005; Amnesty International: Darfur – Rape as a Weapon of War, London 2004.

3) De Waal, Alex: Counterinsurgency on the Cheap, London Review of Books 26/15, vom 5.8.2004.

4) Für eine detailliertere Darstellung der Ereignisse und der Hintergründe sei verwiesen auf eine Reihe von ausführlicheren Veröffentlichungen: El Battahani, Ata: Ideologische, expansionistische Bewegungen und historische indigene Rechte in der Region Darfur, Sudan. Vom Massenmord zum Genozid. Zeitschrift für Genozidforschung 5, 2004, 8-51; Beck, Kurt: Die Massaker in Darfur. Zeitschrift für Genozidforschung 5, 2004, 52-80; De Waal, Alex und Julie Flint (2005): A Short History of a Long War. London (Zed Books); Prunier, Gérard (2005): Darfur, The Ambiguous Genozide. London (Hurst).

5) Die sudanesische Regierung hat das vor der Weltöffentlichkeit immer bestritten. Sie hat insofern Recht, als sie selbst nur unabhängige Banden Janjawid nennt. Die arabischen Nomadenmilizen, welche die Weltöffentlichkeit als Janjawid bezeichnet, sind inzwischen Teil der Volksmilizen (Peoples Defense Forces), welche die islamistische Regierung nach ihrem Putsch gegründet hat, um eine Sturmtruppe neben und als Gegengewicht zur Armee zu haben, oder Teil der leichten Grenztruppen (Border Intelligence Guard), die wiederum nicht in die Armeehierarchie eingeordnet, sondern direkt dem Direktor der militärischen Abwehr unterstellt sind. Die Volksmiliz und selbstverständlich die militärische Abwehr sind innerhalb des Sudans unantastbar.

6) Human Rights Watch (2006): Violence Beyond Borders. The Human Rights Crisis in Eastern Chad. New York; Human Rights Watch (2007): „They Came Here to Kill Us“. Militia Attacks and Ethnic Targeting of Civilians in Eastern Chad. New York.

7) Ein spätes Produkt dieser Sicht ist das anonyme Black Book, das im Jahr 2000 im Sudan unter der Hand zirkulierte und in dem die Autoren die Marginalisierung Darfurs durch Statistiken belegen. Eine englische Übersetzung findet sich unter www.sudanjem.com/sudan-alt/english/books/books.htm.

Prof. Dr. Kurt Beck ist Professor für Ethnologie an der Universität Bayreuth

Weniger tödliche Soldaten?

Weniger tödliche Soldaten?

Die Wirkmittel der Weltinnenpolitik

von Jonna Schürkes und Christoph Marischka (Informationsstelle Militarisierung e.V.)

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 4/2009
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden

zum Anfang | »Schurkenpopulationen« statt »Schurkenstaaten«

oder: Weniger letale Waffen: Mittel und Ausdruck eines globalen Bürgerkrieges

Eine Studie des Beratungsunternehmens PriceWaterhouseCoopers zur Rüstungsindustrie im 21. Jahrhundert aus dem Jahre 2005 empfiehlt den Weltmächten, ihre Rüstungsausgaben drastisch zu erhöhen und damit dem US-amerikanischen Budget anzupassen.1 Ansonsten, so die Studie, würde die US-amerikanische Rüstungsindustrie langfristig eine Monopolstellung einnehmen. Schon heute seien die Rüstungsfirmen, welche die anderen Großmächte beliefern, kaum noch konkurrenzfähig, und es bestehe die Tendenz, dass diese von der US-Rüstungsindustrie mit ihren vollen Auftragsbüchern aufgekauft würden. Geopolitisch würden sich die USA somit den Status eines unangefochtenen Hegemons erkaufen, da sie als einzige fähig wären, neue Waffensysteme zu entwickeln und sich auf Angriffskriege vorzubereiten. Alle anderen Staaten würden langfristig über keine autonome Rüstungsindustrie mehr verfügen, da zumindest einzelne Produktionsschritte oder Know-How in US-amerikanischen Firmen verortet wären. Würden die USA einen Angriff planen oder auch nur erwägen, könnte verhindert werden, dass sich der betreffende Staat zur Verteidigung rüstet.

Die Alternative zu diesem als »Americanisation« bezeichneten Szenario trägt den Titel »Interdependence«. Dieses geht eben davon aus, dass alle Großmächte ihre Rüstungsausgaben drastisch erhöhen. Dies würde auch den restlichen Rüstungsunternehmen die Möglichkeit geben, durch Firmenzusammenschlüsse und -aufkäufe konkurrenzfähig zu bleiben. Diese Zusammenschlüsse müssten notwendig alle nationalen Grenzen überwinden und würden zu einem weltweiten Rüstungsmarkt führen, in dem Know-How und die einzelnen Produktionsschritte über den gesamten Globus verteilt sind. Diese Interdependenz führe dazu, dass die Staaten keine Kriege mehr führen können.2 Rüsten für den Weltfrieden also?

So utopisch – oder besser: dystopisch – diese Szenarien auch sind, so verweisen sie doch deutlich auf Verschiebungen im internationalen Konfliktgeschehen: Militärische Auseinandersetzungen finden immer weniger zwischen Staaten statt als zwischen der internationalen Staatengemeinschaft und irregulären Truppen oder der Bevölkerung an sich. 2001/2002 wurde innerhalb weniger Wochen eine neue Regierung in Afghanistan installiert, auf deren Einladung hin sich die Staatengemeinschaft seither unter UN-Mandat darum bemüht, deren Staatsgewalt gegen vielerlei Widerstände auf das gesamte Territorium Afghanistans auszudehnen. Auch im Irak bestand der eigentliche Krieg nicht darin, die Regierung zu stürzen und die irakische Armee zu besiegen, sondern gemeinsam mit eilig aufgestellten neuen irakischen Sicherheitskräften verschiedene irreguläre Kräfte auszuschalten, aufzureiben oder einzubinden und die neue »öffentliche Ordnung« militärisch landesweit durchzusetzen. Vor Somalia übernimmt die »internationale Gemeinschaft« die Funktion einer Küstenwache auf Bitten einer Regierung, die zwar von der »internationalen Gemeinschaft« anerkannt wird, die aber trotz deren militärischer Unterstützung nur kleine Gebiete Somalias kontrolliert und lediglich in Luxushotels im benachbarten Djibouti zusammentreffen kann – in Sichtweite der Militärbasen, von denen aus die Piratenjagd in somalischen Gewässern durch NATO und EU koordiniert wird. Die UN haben die internationalen Streitkräfte ebenfalls auf Bitten der Pseudo-Regierung mittlerweile auch dazu ermächtigt, Polizeiaktionen gegen Piraten und deren UnterstützerInnen an Land durchzuführen.

Die Liste der »Schurken-Staaten« ist kürzer geworden. Übrig sind fast nur noch Nordkorea und der Iran. Nicht immer ist der Regime-Change so blutig verlaufen wie in Afghanistan und Irak. Viele Regierungen sind – sicherlich auch unter dem Eindruck der Interventionen im Irak und Afghanistan – in die »internationale Gemeinschaft« »zurückgekehrt«, indem sie sich am «Krieg gegen den Terror« beteiligt haben. Pakistan, Jemen und einige Sahara-Staaten mussten dafür das Risiko in Kauf nehmen, Bürgerkriege auszulösen, wenn auch in sehr unterschiedlicher Intensität. Libyen verlor seinen Schurken-Status, indem es sich in die europäische Migrationspolitik hat einbinden lassen und verschärft gegen Transitmigranten vorgeht. Im Gegenzug für die Rückkehr in die »internationale Gemeinschaft« erhielten die meisten Staaten Waffenlieferungen, vor allem aber auch Polizeiausrüstung und -ausbildung. Denn an die Stelle der »Schurkenstaaten« sind »Schurkenpopulationen« getreten.

Die neuen Bedrohungen, auf welche die internationalen Streitkräfte durch den erweiterten Sicherheitsbegriff ausgerichtet werden, gehen nicht mehr primär von Staaten und deren Armeen aus, sondern von vage definierten Bevölkerungsgruppen: (Cyber-)Terrorismus, Organisierte Kriminalität, Migration, Pandemien und Aufstände. In einer sehr grundlegenden Veröffentlichung des EU-eigenen Instituts für Strategische Studien (EUISS) vom September 2009 schreibt dessen Direktor beispielsweise: „Da sich die Herausforderungen von der relativ klar begrenzten staatlichen Verteidigung weg verschieben in vorwiegend ökonomische, soziale und ökologische Sphären, so argumentieren viele, wie Tomas Ries in diesem Band, müssten Sicherheitsbedenken und -optionen ebenso ausgreifend definiert werden, wodurch sich die Reichweite für den gerechtfertigten, legitimen Einsatz der militärischen Instrumente der EU erweitert.“ 3 Tomas Ries schreibt in diesem Buch etwa über die Notwendigkeit von „Abschottungsoperationen, [um] die globalen Reichen von den Spannungen und Problemen der Armen ab[zu]sichern. Da der Anteil der Weltbevölkerung, die in Elend und Frustration leben, erheblich bleiben wird, werden die Spannungen und Spill-Over-Effekte zwischen ihrer Welt und der der Reichen weiter zunehmen. Weil wir wahrscheinlich dieses Problem bis 2020 nicht an seiner Wurzel gelöst haben werden, […] müssen wir unsere Barrieren verstärken.“ 4

Weniger letale Waffen (WLW)5 sind angesichts dieser Prognose Mittel und Ausdruck eines globalen Bürgerkrieges, in dem Polizei und Militär gegen Terroristen, Piraten, Aufständische, Migranten und Demonstranten vorgehen, um die »öffentliche Sicherheit und Ordnung« aufrechtzuerhalten oder durchzusetzen. Dabei verschwimmen zunehmend die Aufgaben von Polizei und Streitkräften und damit gleicht sich auch die Art der Ausrüstung einander an.

Aufgrund der Komplexität und des Umfangs des Themas haben wir uns dazu entschlossen, in diesem Dossier ausschließlich die Bewaffnung der Streitkräfte mit WLW zu behandeln. Dabei sind wir vor allem der Fragen nachgegangen, welches Konfliktbild der Forderung nach WLW zugrunde liegt, wie der Einsatz dieser Waffen durch Streitkräfte aussieht und welche Akteure die Entwicklung und den Einsatz von WLW vorantreiben. Die Forschungen an WLW erstrecken sich auf (a) kinetische Waffen wie Holz- oder Gummigeschosse, (b) chemische Waffen und Materialtechnologien, diese reichen von Tränengas und Beruhigungsmitteln bis hin zu Schaum-, Klebe- und Gleitstoffen, (c) Technologien gerichteter Energie, insbesondere Laser- und Mikrowellenwaffen, (d) akustische Waffen, die Kommunikation verhindern, Ohrenschmerzen, Übelkeit und Orientierungslosigkeit hervorrufen sollen, (e) elektrische Waffen, wie Schilder und Knüppel oder Schusswaffen, welche Stromstöße aussenden und (f) Sperranlagen, zu denen Zäune und Stacheldraht gehören.6 In nahezu jeder dieser Kategorien wird auch an Waffensystemen geforscht, die nicht auf den Einsatz gegen Menschen ausgerichtet sind, sondern Infrastrukturen, Fahrzeuge und Waffensysteme zerstören oder vorübergehend außer Funktion setzen sollen. Da diese jedoch kaum qualitative Unterschiede zu den Zielen und zur Anwendung herkömmlicher Waffen in herkömmlichen Konflikten aufweisen, werden sie in diesem Dossier keine Rolle spielen. Bei den WLW, welche für den Einsatz gegen Menschen konzipiert sind, besteht für die technologische Weiterentwicklung aus militärischer Sicht jedoch kaum Bedarf: So spannend und vielleicht auch faszinierend die technologischen Möglichkeiten zwischen Schrei und Schuss, von Fangnetzen, Schaum-, Schall-, und Mikrowellenkanonen sein mögen, spielen diese in den Strategien der Aufstandsbekämpfung bislang eine marginale Rolle gegenüber herkömmlichen Feuerwaffen, Knüppeln, Tränengas und Stacheldraht, deren Anwendung gegenwärtig intensiv trainiert und verfeinert wird. Auch die Fortentwicklungen dieser Strategien betreffen eher Fragen der Aufklärung, der integrierten zivil-militärischen Lagebilder und der Koordination ziviler und militärischer Kräfte, als das mittlerweile technologisch Machbare, an dem in wenigen militärischen Speziallabors, v.a. aber durch die Sicherheitsindustrie, mit dem stetigen Verweis auf deren Eignung für zukünftig unausweichliche Friedenseinsätze, intensiv geforscht wird.

Anmerkungen

1) PricewaterhouseCoopers (2005): The Defence Industry in the 21st Century – Thinking Global … or thinking American?.

2) Walter Husemann: Was bringt die Zukunft? M&A in der Verteidigungsindustrie, in: Strategie und Technik, Juli 2007.

3) Álvaro de Vasconcelos (2009): What ambitions for European defence in 2020?, EUISS.

4) Tomas Ries: The globalising security environment and the EU, in: Vasconcelos 2009.

5) Im offiziellen Sprachgebrauch werden Wirkmitteln, die den Gegner eher kampfunfähig machen oder vertreiben als töten sollen, häufig als »nichtletale Waffen« (NLW) bezeichnet. Dabei handelt es sich jedoch um eine irreführende und verharmlosende Wortwahl, da fast alle diese Zwangsmittel – je nach Umständen und Dosierung – eine tödliche Wirkung entfalten können. Deshalb verwenden wir in diesem Dossier Ausdruck »Weniger letale Waffen«.

6) Naval Studies Board/ Committee for an Assessment of Non-Lethal Weapons Science and Technology, National Academies Press, 2003.

zum Anfang | The World at Peace is a very Dangerous Place*

Weniger letale Waffen in »kleinen« Kriegen

Es gibt Waffen, die dürfen Soldaten zwar gegen Zivilisten anwenden, nicht aber gegen Soldaten befeindeter Armeen. Hierzu zählt Tränengas, das entsprechend dem Chemiewaffenübereinkommen von 1992 zwar zur „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“, nicht aber in internationalen bewaffneten Konflikten angewandt werden darf.1 Diese Regelung mag zunächst überraschen, geht man doch allgemein davon aus, dass die Befugnisse von Soldaten im Friedensfall gegenüber dem Krieg deutlich eingeschränkt seien, und überhaupt, dass im Frieden eher eine Rechtsordnung, im Krieg hingegen tendenziell eine Gewaltordnung vorherrscht. Wenn man internationales Recht hingegen als Ergebnis und Prozess der Aushandlung zwischen Staaten über den Umgang miteinander begreift, erscheint die zunächst paradoxe Regelung schon einleuchtender. Für den Umgang miteinander wurde der Einsatz chemischer Kampfstoffe ausgeschlossen. Beim Umgang mit der eigenen Bevölkerung und gemeinsamen friedenserzwingenden Maßnahmen in Drittstaaten hingegen wollte man auf das Tränengas nicht verzichten.

Tatsächlich ist das internationale Konfliktgeschehen heute durch Letzteres geprägt: innerstaatliche Konflikte und multilaterale »Friedensmissionen« unter UN-Mandat. Selbst der aktuelle ISAF-Einsatz in Afghanistan, in dessen Rahmen regelmäßig afghanische Dörfer bombardiert werden, zählt völkerrechtlich zu letzter Kategorie.2 Streng genommen dürften ISAF Soldaten, nicht aber Soldaten unter OEF-Mandat Tränengas gegen Aufständische einsetzen. Da Deutschland gegenwärtig keine Soldaten im Rahmen von OEF mandatiert hat, sind die knapp 8.000 deutschen Soldaten in Auslandseinsätzen allesamt in multilateralen und UN-mandatierten »Friedenseinsätzen« und unterliegen nach Ansicht der Regierung nicht dem Kriegsvölkerrecht. Ihre Aufgabe ist die Beobachtung von Waffenstillstandsabkommen, die Unterbindung von Waffenlieferungen und eben die Durchsetzung oder »Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung«. Sie haben dementsprechend noch nicht einen einzigen Kriegsgefangenen gemacht und unterhalten hierfür auch keinerlei Infrastruktur. Stattdessen helfen sie beim Aufbau staatlicher Institutionen (v.a. Militär und Polizei), unterbinden oder zerschlagen Demonstrationen und nehmen Kriminelle fest, zu denen eben auch »violent troublemakers«, Piraten und Terroristen zählen, die sie der Justiz der verbündeten Staaten, die sie häufig zuvor selbst mit aufgebaut haben, übergeben.

In der US-Army wurden die Einsatzregeln und Strategien für solche »Friedenseinsätze« bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem von der Marine unter dem Begriff »Small Wars« – definiert als „Einsätze, bei denen die Konfliktparteien nicht auf beiden Seiten aus regulären Truppen bestehen“ – entwickelt. Als Grundlage diente eine Monografie von Colonel C.E. Callwell mit dem gleichnamigen Titel aus dem Jahre 1896 sowie das »Small Wars Manual« des US-Marinekorps von 1940, die beide überwiegend auf Erfahrungen aus den britischen Kolonialkriegen und US-amerikanischen Interventionen in Zentralamerika und der Karibik basieren und das moderne Völkerrecht noch nicht berücksichtigen konnten. Mit der Joint Doctrine 3-07 des gemeinsamen Generalstabs der USA von 1995 wurde der Begriff des »Small Wars« durch »Military Operations other than War« (MOOTW) ersetzt, für alle Teilstreitkräfte konzeptualisiert und der aktuellen Konfliktlage sowie dem modernen Völkerrecht angepasst, ohne jedoch definitorisch wesentlich von dem der »Small Wars« abzuweichen.3

Hintergrund dieser Fortentwicklung waren zweifelsfrei die neue weltpolitische Lage nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes sowie die vorangegangenen Bemühungen um »Peacekeeping« und »Peaceenforcement« in Bosnien-Herzegowina und Somalia. Die gleichen Rahmenbedingungen führten auch dazu, dass die Zahl der UN-mandatierten Militäreinsätze Anfang der 1990er sprunghaft anstieg und ihr Mandat immer »robuster« wurde. War es beim klassischen »Peacekeeping« Aufgabe der Soldaten, lediglich den bereits ausgehandelten Waffenstillstand zwischen zwei Konfliktparteien zu überwachen und durften sie hierbei nur zur Selbstverteidigung Waffengewalt anwenden, dehnten sich mit den so genannten dritten und vierten Generationen des »Peacekeeping« die Aufgabenbereiche immer weiter in Richtung Aufbau staatlicher Institutionen und Durchsetzung bzw. Aufrechterhaltung »öffentlicher Sicherheit und Ordnung« aus. Gleichzeitig wurde dem Einverständnis aller beteiligten Konfliktparteien als Voraussetzung für einen UN-mandatierten Einsatz immer weniger Beachtung geschenkt.

Die Mandate für die Soldaten werden »robuster«, ihre Spielräume für den Waffeneinsatz also größer, während ihre Neutralität zunehmend in Frage steht. Begründet wird dies mit dem „Versagen der internationalen Gemeinschaft“ v.a. in Srebrenica und Ruanda und dem Anspruch, Aufgabe der UN-Soldaten solle es sein, ZivilistInnen zu schützen, was eben auch intensive Kampfhandlungen erfordert oder zu solchen führen kann. Die Suche nach angemessenen Einsatzregeln für das »unmögliche Mandat«, ZivilistInnen zu schützen, ohne deshalb mutmaßliche Milizionäre, Banditen, Piraten und Terroristen gleich präventiv erschießen zu müssen und damit eine Eskalation des Konfliktes und die Gefährdung der intervenierenden Truppe zu riskieren, führte humanitär argumentierende Think-Tanks bezeichnenderweise wiederum zum »Small Wars Manual« und zur MOOTW-Doktrin der US Army.4

Nun scheinen gerade weniger letale Waffen (WLW) das »unmögliche Mandat« möglich zu machen. Daher erstaunt es nicht, dass ebenfalls in der ersten Hälfte der 1990er Jahre die NATO mit der Forschung an WLW begann. WLW sind nicht darauf ausgelegt, Personen zu töten, sondern sollen Personen oder Menschenmengen von bestimmten Handlungen abhalten oder zu bestimmten Handlungen zwingen. Auch innerhalb einer breiteren Öffentlichkeit fand die Ausrüstung von UN-Soldaten mit WLW bald prominente Unterstützung, verspricht sie doch, „die Lücke zwischen Schrei und Schuss“ 5 zu schließen und das gesamte Spektrum der Gewaltanwendung, das in MOOTW und mittlerweile ebenso in UN-Mandaten vorgesehen ist, zu einem Kontinuum werden zu lassen, das jederzeit entsprechend der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit angewandt werden könne. Auch innerhalb der US-Army besteht die Ansicht, dass WLW den „Zielkonflikt zwischen Erfüllung des Einsatzauftrags, Schutz der eigenen Einheiten und der Sicherheit von Nichtkombattanten“ entschärfen könnte.6

Aus den Reihen der NATO und des US-Militärs ist aber auch eine breite Skepsis und Ablehnung von WLW zu vernehmen. Vom militärischen Standpunkt aus gesehen besteht eines der herausragenden Merkmale und die größte Herausforderung in »Small Wars« und MOOTW nämlich gerade in der Komplexität dieser Konfliktkonstellationen, der Unklarheit über den Status der »Gegner« und der eigenen Befugnisse. Diese Grauzonen, die den einzelnen Soldaten und Kommandeuren der unteren Ebene schwere Entscheidungen – im Grunde über Krieg und Frieden – abverlangen und durchaus eskalierend wirken können, drohen sich durch die Ausrüstung mit WLW und durch Einsatzregeln, die deren Anwendung in Abgrenzung zur tödlichen Gewalt regeln, zu erweitern. Die jüngsten Diskussionen um von Bundeswehrsoldaten getötete Zivilisten und mutmaßliche Taliban zeigen, wie schwer es für Soldaten in solchen Missionen ist, allein zwischen zwei Optionen zu entscheiden, was nicht erleichtert wird, wenn eine dritte Option hinzukommt. Eine Befürchtung, die offensichtlich von der Politik ernst genommen wird, denn den meisten Armeen (auch der Bundeswehr) ist der Einsatz von WLW bislang nur in Situationen erlaubt, in denen auch die Anwendung tödlicher Gewalt zulässig wäre. Die zweite Befürchtung der Militärs hinsichtlich WLW, die von vielen zivilen Organisationen geteilt wird, bezieht sich auf die Gefahr eines neuen Wettrüstens – einerseits natürlich insbesondere in Bezug auf chemische und biologische Waffen, deren Weiterentwicklung sich nach der Legalisierung von Tränengas und ähnlichen Stoffen kaum noch verhindern lassen wird.7 Andererseits aber auch hinsichtlich der Auf- und Ausrüstung nichtstaatlicher Akteure mit solchen, welche die Grauzonen um den Kombattantenstatus weiter vergrößern könnte.8 Eine Befürchtung, die sich insbesondere durch aktuelle Diskussionen um die Piratenbekämpfung und die Bewaffnung der Handelsschifffahrt mit WLW sowie durch die intensive Lobbyarbeit von Forschung und Industrie für Einsatz und Fortentwicklung von WLW bereits zu bestätigen scheint.

Wenn von Neutralität keine Rede mehr ist: Weniger Letale Waffen in Friedensmissionen

Das zunehmende Interesse an Forschung und Entwicklung von WLW fällt mit der Zunahme von UN-mandatierten Einsätzen zusammen. De facto gibt es kaum (noch) UN-mandatierte Friedenseinsätze, in denen sämtliche Konfliktparteien dem Einsatz einer internationalen Truppe zustimmen und in denen die Mission der Soldaten ohne Waffengewalt über die Selbstverteidigung hinaus erfüllbar scheint. In diesen Situationen gibt es keinen Frieden oder auch nur Waffenstillstand, der gehalten werde könnte, sondern dieser »Frieden« muss erst durchgesetzt werden. Die Truppen werden auf Ersuchen oder mit Zustimmung einzelner Konfliktparteien entsandt, was an sich schon dafür sorgt, dass die Truppen nicht als neutraler Akteur zwischen verschiedenen Konfliktparteien vermitteln, sondern dass sie selbst zu einer Konfliktpartei werden, die daher auch Angriffen ausgesetzt sind.

Das »robuste Mandat« erlaubt Soldaten in UN-mandatierten Einsätzen, Waffengewalt auch zur Erreichung der Missionsziele einzusetzen. Die Legalität solcher Einsätze ist zwar durch die Zustimmung der Staatengemeinschaft gewährleistet, ihre Legitimität in den Augen der Gesellschaften sowohl im Einsatzland als auch in den Ländern, die für den Einsatz Soldaten entsenden, jedoch kritisch. Die teilweise gewaltsame Durchsetzung einer neuen öffentlichen Ordnung gegen Widerstände von bewaffneten und zivilen Gruppen, die heute häufig das eigentliche Einsatzziel darstellt, wird legitimiert durch den Schutz von Zivilisten, dem hierdurch (und durch die von den Militärs häufig beklagte »media coverage«) eine erhöhte Priorität zukommt.9 Gleichzeitig überschätzen gerade Gesellschaften, in denen die Gegenwart von bewaffneten Soldaten nicht zum Alltag gehört, die Möglichkeiten, hierdurch alltägliche Gewalt einzudämmen, während sie das Maß an Gewalt, dass nötig wäre, um in Situationen allgemeiner Unsicherheit, Übergriffe, Vertreibungen usw. einzudämmen, enorm unterschätzen.10 Hier wird die oben erwähnte Komplexität sichtbar, die Grenzen zwischen dem eigentlichen Einsatzziel und dem Schutz von ZivilistInnen verschwimmen. Die Legitimität, die über Erfolg oder Misserfolg des gesamten Einsatzes entscheiden kann, erfordert einerseits ein Mindestmaß an Gewaltanwendung, andererseits erfordert sie auch die Gewaltanwendung in Situationen, die mit dem eigentlichen Einsatzziel kaum zu tun haben. Eine der Gefahren, die aus dieser Komplexität erwachsen können, wird seit dem US-/UN-Einsatz in Somalia Anfang der 1990er als »mission creep« bezeichnet – die kontinuierliche Ausweitung des militärischen Auftrags bis hin zur völligen Unerfüllbarkeit, die häufig in der Katastrophe mündet. Im Falle der UNOSOM/UNITAF-Einsätze in Somalia wurden zwischen 1992 und 1995 letztlich 7.000-10.000 ZivilistInnen durch UN-mandatierte Soldaten getötet – in der »Schlacht von Mogadischu« im Oktober 1993 mehrere hundert an einem einzigen Tag – nachdem sich zuvor das Mandat beständig erweitert hatte.11 Durch die zahlreichen toten Zivilisten verlor der Einsatz an Legitimität und die internationalen Truppen gerieten in die Defensive, bis sie sich bis März 1995 vollends zurückzogen. Um ihren Rückzug abzusichern, setzten die US-Soldaten erstmals WLW im Rahmen eines UN-Einsatzes ein, daneben wurde auf bezahlte somalische Söldner und Milizen zurückgegriffen.

Seither beziehen sich Befürworter der Ausrüstung von Peacekeeping Missionen mit WLW häufig auf das Scheitern der UN-Einsätze in Somalia. Mit ihnen – so wird argumentiert – hätte sowohl die hohe Anzahl an getöteten somalischen Zivilisten als auch der Tod zahlreicher US- und UN-Soldaten verhindert werden können.12

Tatsächlich ist jedoch anzuzweifeln, ob der Einsatz nicht letaler Waffen deeskalierend wirkt. Ihr Einsatz ist – wie auch im Fall Somalias – nur in Situationen zulässig, in denen auch die Anwendung letaler Waffen erlaubt wäre. Das sind typischerweise Situationen, in denen feindselige bewaffnete Kräfte anwesend sind und die UN-mandatierten Soldaten entweder einer konkreten Gefahr ausgesetzt sind oder sich dieser durch die Anwendung von Waffengewalt auch weniger letaler Art zumindest aussetzen würden. Aus Gründen des Eigenschutzes würden sich die Soldaten tendenziell für den Einsatz konventioneller Waffen entscheiden, der aber die Legitimität und damit den Erfolg des Einsatzes gefährden kann. Deshalb wird von ihnen verlangt, wenn möglich weniger letale Waffen einzusetzen. Die erhöhte Gefährdung, die hieraus für sie erwächst, kann sie dazu bewegen, WLW auf einer niedrigeren Eskalationsstufe einzusetzen. Major Hall vom US Marinekorps beschreibt die Gefahren eines solchen Szenarios in einem Artikel, in dem er sich gegen die Verwendung nicht letaler Waffen in Friedenseinsätzen ausspricht: „Gehen wir davon aus, dass ein US-Soldat sein Ziel [mit weniger letalen Waffen] getroffen hat, ohne Zivilisten verletzt zu haben. […] Die Kameraden des Getroffenen hören den Schuss einer Waffe und sehen, wie ihr Kamerad zu Boden geht. Sie wissen nicht, dass er mit nichtletaler Munition getroffen wurde. Alles, was sie wissen ist, dass einer von ihnen von einer Waffe getroffen worden ist. In der Menge bricht Panik aus und dutzende von zuvor versteckten Waffen erscheinen und die Soldaten werden mit tödlicher Munition beschossen. Und nun antworten die Soldaten – entsprechend ihrer Pflicht sich selbst zu verteidigen – mit tödlicher Munition. Was ein Versuch war, eine gefährliche Situation zu vermeiden, ist zu einer Kampfhandlung eskaliert, mit zahlreichen toten Zivilisten und Bewaffneten“.13 Dass eine einzige derartige Eskalation einen Einsatz zum Misserfolg machen kann, hat sich am Beispiel Somalia überdeutlich gezeigt.

Die Forschungsprojekte der NATO und der Balkan als ihr Testfeld

Während UNOSOM II wurde von der Konferenz der Nationalen Rüstungsdirektoren der NATO eine Arbeitsgruppe damit beauftragt, sich grundlegend mit der Möglichkeit der militärischen Nutzung von WLW auseinander zu setzen. Seither wird in der Forschungs- und Technologieorganisation der NATO intensiv an diesem Thema geforscht. In deren Berichten wird der Einsatz von WLW bei Friedenseinsätzen empfohlen. Dennoch wurden sie bisher nicht in die NATO Strategien und Doktrinen aufgenommen. Cees M. Coops vom NATO Defense College sieht die Ursachen hierfür darin, dass die Folgen des Einsatzes von WLW nicht ausreichend erforscht sind und internationalen Abkommen den Einsatz von verschiedenen Arten von WLW verbieten. Bei NATO-Einsätzen kommt hinzu, dass die unterschiedlichen Einheiten jeweils dem nationalen Recht unterstehen und damit der Einsatz von WLW nicht allen gleichermaßen erlaubt oder verboten ist. Die Lösung dieser Probleme sieht Coops zum einen in einer Änderung der internationalen Abkommen, zum anderen in der Angleichung der nationalen Gesetzgebung der NATO Mitglieder bezüglich des militärischen Einsatzes von WLW. Und schließlich seien verschiedene der oben genannten Probleme durch klare Einsatzregeln (Rules of Engagement) zur Nutzung von WLW zu lösen.14

Damit bestätigt er nach über zehn Jahren, in denen Industrie und Teile der Politik den Einsatz von WLW insbesondere bei Friedenseinsätzen intensiv propagiert und vorangetrieben haben, was eine Expertengruppe bereits 1996 im Rahmen eines von der »Defence Research Group« der NATO organisierten Seminars festgestellt haben: Nicht die technischen Möglichkeiten schränken den Gebrauch von WLW ein, sondern Fragen hinsichtlich des internationalen Rechts, der Doktrin, der konkreten Einsatzregeln und der Ausbildung der Soldaten beim Umgang mit WLW.15 Diese Fragen verweisen auf grundsätzliche Skepsis beim Militär gegenüber der Ausrüstung mit WLW16 sowie grundsätzlichen Unvereinbarkeiten von militärischer »Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung«.

All diese Probleme des internationalen Rechts, der unterschiedlichen nationalen Rechtslagen, der Ausbildung und der Weiterentwicklung der Doktrinen lassen sich nur durch regelmäßige, intensive und umfassende Übungen und auch Einsätze bewältigen, wie sie vor allem auf dem Balkan im Rahmen von KFOR und SFOR/EUFOR stattfinden. Hier entstand eine Art neue Truppengattung, die CRC-Züge, die speziell für Crowd and Riot-Control, den Umgang mit potenziell gewalttätigen Menschenmengen, aufgestellt wurden und hier wurden bereits massenweise Soldaten im Umgang mit WLW wie Helm, Schild, Knüppel, Pfefferspray und Tränengas ausgebildet. Hier bewies sich auch die Tauglichkeit von Gendarmerie-Kräften für Friedenseinsätze, da diese sowohl unter militärischem wie auch unter zivilem Kommando (etwa im Rahmen von Rechtsstaatsmissionen) mit örtlichen Polizeikräften auf Streife geschickt oder mit der Auflösung von Demonstrationen betraut werden können.17 Der Bundeswehreinsatz im Kosovo diente als Anlass für Deutschland, das Durchführungsgesetz zum Chemiewaffenübereinkommen zu lockern und erstmals Feldjäger mit polizeilichen Aufgaben gegenüber Zivilisten zu betrauen.18 Im Kosovo und in Bosnien Herzegowina wurde mit unterschiedlichen Mandaten experimentiert und diese miteinander kombiniert. So hat sich bei Übungen im Kosovo gegenwärtig folgende Strategie zum Schutz von internationalen Institutionen gegen antikoloniale Proteste durchgesetzt. Es werden zwei Gebiete definiert, eine blaue Zone, in die Protestierende notfalls eindringen können und eine rote Zone, die in jedem Fall verteidigt werden muss. Die erste Verteidigungslinie stellt grundsätzlich die verhältnismäßig schwache (und oft auch gegen die eigenen Landsleute wenig motivierte) kosovarische Polizei. Ist diese überfordert, kommen die Gendarmerie-Kräfte der EU-Rechtsstaatsmission EULEX sowie WLW zum Einsatz. Können auch diese ein Eindringen in die blaue Zone nicht verhindern, verteidigen die CRC-Kräfte der KFOR unter NATO-Kommando notfalls auch unter Gebrauch konventioneller Schusswaffen das Eindringen in die rote Zone, nachdem sie zuvor schon beispielsweise durch das demonstrative Einfliegen von Panzern und andere Show-of-Force-Maßnahmen die Protestierenden einschüchtern sollten. Mittlerweile spielt auch die Aufklärung über die Stimmung in der Bevölkerung, möglicherweise anstehende Proteste und mutmaßlichen Rädelsführer eine zunehmende Rolle und die entsprechende Zusammenarbeit mit lokalen und internationalen Informanten, den Abteilungen für operative Informationen und die Anwendung geeigneter Informationstechnologien werden trainiert. Auch die Zusammenarbeit mit zivilen Einrichtungen wie der Feuerwehr soll sich in diesem Rahmen einspielen und die Soldaten, die bei den Übungen die Protestierenden mimen, sollen hierdurch ein Gespür dafür entwickeln, welche Dynamiken sich unter dem Einfluss von Adrenalin und Sprechchören in Menschenmengen entfalten, um diese besser einschätzen zu können. Erschreckend ist, dass hierbei Szenarien und Konstellationen durchgespielt werden, wie sie durchaus auch innerhalb der EU bei Massenprotesten vorkommen, und dass Begriffe wie NGOs, Demonstranten, Randalierer usw. in den Übungsprogrammen weit gehend synonym verwandt werden.19 Französische Gendarmerieeinheiten lösen in Absprache mit der französischen Feuerwehr unter Beobachtung von deutschen Polizisten und dem Schutz von NATO-Soldaten eine Demonstration im Tränengasnebel auf – für die Proteste gegen den NATO-Gipfel 2009 in Strasbourg wurde offensichtlich im Kosovo geübt.

Auch wenn die Berichte zum Kosovo tatsächlich vermitteln, es handele sich um eine große Aufstandsbekämpfungsübung, so wird diese jedoch nicht nur geübt, sondern auch tatsächlich betrieben. Vor allem seit der Kosovo sich – mit Unterstützung vieler europäischer Regierungen – für unabhängig erklärte, wachsen die Spannungen zwischen der albanischen und serbischen Bevölkerung. Aber auch die Präsenz der internationalen Truppen, die im Kosovo einen von der EU abhängigen Staat errichten sollen, löst bei allen Bevölkerungsgruppen im Kosovo Protest aus. Diese Demonstrationen werden zunehmend durch EULEX, KFOR und die kosovoarische Polizei aufgelöst. Da es hierbei ganz offensichtlich nicht mehr um den Schutz der Zivilisten – der das internationale Mandat begründet –, sondern um die Durchsetzung einer neuen »öffentlichen Sicherheit und Ordnung« geht und sich (jedenfalls in den Demonstrationen) kaum noch irreguläre bewaffnete Kräfte aufhalten, ist die Legitimität des Einsatzes besonders prekär. Deshalb wird vorwiegend auf WLW zurückgegriffen, auch wenn der Einsatz von Schusswaffen – beispielsweise zum Eigenschutz – zulässig wäre.

Aufrüstung an Bord: Piraterie als Chance der Sicherheitsindustrie

Neben diesem im doppelten Wortsinn nahe liegenden Anwendungsgebiet für WLW wird deren Einsatz auch im Kampf gegen die Piraterie insbesondere von der Industrie gegenwärtig intensiv erwogen. Die Konfliktkonstellation ist insgesamt ähnlich: Soldaten der internationalen Gemeinschaft stehen auf der Grundlage eines UN-Mandates sowie des internationalen Seerechts in einem unübersichtlichen Umfeld sowohl Zivilisten (v.a. Fischern und Flüchtlingen) als auch nicht-staatlichen Akteuren gegenüber, die nicht als Kombattanten, sondern allenfalls als Kriminelle zu behandeln sind. Der regelmäßige Einsatz tödlicher Gewalt würde die Legitimität des teuren Einsatzes, der im Grunde nur Werften und Reedern nützt, weiter untergraben und jeder Einzelfall wirft komplizierte rechtliche Fragen auf. Deshalb lässt sich die NATO mittlerweile über die Möglichkeit der Verwendung weniger letaler Waffen zur Piratenabwehr informieren.20 Besonders die Möglichkeit, mithilfe des »Active Denial Systems« Piraten zu vertreiben, hat es der NATO scheinbar angetan. Bei verschiedenen Gelegenheiten hat sie sich von dem Hersteller Raytheon darüber informieren lassen, inwieweit dieser Mikrowellen-Strahler, der demjenigen, der diesen Strahlen ausgesetzt wird, starke Schmerzen zufügen soll, auch auf Schiffen angewendet werden kann.21 Auch die US-Marine hält WLW zur Bekämpfung von Piraten durchaus für geeignet.22 Doch die fehlende Ausrüstung mit WLW und der im Verhältnis zu den Forderungen der Reedereien eher restriktive Einsatz konventioneller Waffen durch die Seestreitkräfte ist nicht der primäre Grund, weshalb die Angriffe der Piraten seit der Präsenz der internationalen Seestreitkräfte nicht nur nicht abgenommen, sondern tatsächlich zugenommen haben.23

Die Piraten haben schlicht ihren Aktionsradius erweitert und somit ist es aufgrund der Größe des Einsatzgebietes und des immensen Aufkommens an Seeverkehr unmöglich, alle Handelsschiffe zu begleiten oder auch nur in Korridoren die notwendige Präsenz aufrecht zu erhalten, um jedem angegriffenen Schiff rechtzeitig zur Hilfe zu kommen. Die Begleitung aller Schiffe in der Region sei schlicht nicht möglich, ließ ein Sprecher der Atalanta Kommandozentrale nach der Entführung der MS Victoria verlauten.24 Eine Position, die auch von der deutschen25 und der US-Marine vertreten wird. Pentagon-Sprecher Geoff Morrell erklärte im November 2008 unmissverständlich: „Alle Länder der Welt könnten Schiffe ihrer Marine dorthin entsenden, aber so löst man dieses Problem nicht“.26

Aus diesem Grund wird von den Reedereien daher gefordert, sie sollten sich selbst verstärkt um den Schutz ihrer Schiffe kümmern. Wie dies jedoch aussehen soll, darüber ist man sich keineswegs einig. General Petraeus, Kommandeur des US-Central Command, forderte kürzlich die Reedereien dazu auf, das Angebot privater Sicherheitskräfte zu nutzen oder die eigenen Seeleute zu bewaffnen. Der Vorsitzende des Verbands Deutscher Reeder, Hans-Heinrich Nöll, wiederum sähe es gerne, wenn Soldaten an Bord der zivilen Schiffe mitfahren würden, diese hätten „eine noch größere Abschreckungswirkung als Marineschiffe allein, die in der Piratenregion patroulieren“.27 Die Reedereien lehnen jedoch mehrheitlich die Präsenz von Soldaten oder bewaffneten Seeleuten an Bord ab, da dies sowohl die Mannschaft als auch die Schiffe und ihr Ladung zusätzlich gefährden würde.

Die Versicherungen, der Verband Deutscher Reeder und das IMB raten den Reedern daher, eigene nichtletale Sicherheitsmaßnahmen gegen Piraten einzusetzen. Die Versicherung Münchner Rück veröffentlichte bereits 2006 eine Broschüre unter dem Titel: »Piraterie – Bedrohung auf See«28, in der sie den Reedereien empfiehlt, ihre Schiffe mit verschiedenen WLW auszustatten. Hier zeigt sich, dass WLW auch die Trennung zwischen unbewaffneter und bewaffneter Schifffahrt aufheben können. Die Ausrüstung mit konventionellen Waffen wird abgelehnt, die Verwendung nichtletaler wird sogar empfohlen.

Es muss zwischen zwei verschiedenen Arten von WLW, die zur Abwehr von Piraten geeignet sein könnten, unterschieden werden: jene, die verhindern sollen, dass die Piraten an Bord kommen und solche, die sie auf Distanz halten sollen. Zu den ersten gehören Elektrozäune an der Reling, Gleitschaum oder Glasscherben an Bord oder die Abwehr der Piraten mit Wasserschläuchen. Diese Wirkmittel provozieren jedoch, dass sich die Piraten besser bewaffnen und durch die Drohung, das Schiff beispielsweise mit Raketenwerfern zu beschießen, durchsetzen, an Bord gelassen zu werden. Waffen, die Piraten auf Distanz halten sollen, hingegen bergen die Gefahr, dass sie regelmäßig gegen zivile Schiffe zum Einsatz gebracht werden, da auf größere Distanz kaum zwischen Flüchtlingen, Fischern und Piraten unterschieden werden kann. Zu dieser Art von WLW gehört das »Long Range Acoustic Device«, eine so genannte Akustikkanone, die auf mehrere hundert Meter Entfernung hochfrequente akustische Signale mit einer immensen Lautstärke emittieren kann, was starke Ohrschmerzen verursacht und jegliche Kommunikation unmöglich macht. Im November 2005 habe das Kreuzfahrtschiff »Seabourn Spirit« einen Piratenangriff mithilfe einer solchen Akustikkanone verhindert, heißt es in der Broschüre der Münchener Rück. Verschiedene Reeder scheinen die Anschaffung dieser Waffe in Erwägung zu ziehen.29

Dass auch die Reedereien bei der Anschaffung von WLW noch zögerlich sind, mag angesichts der Vehemenz, mit der die Anbieter von WLW auf diesen zivilen Markt drängen, überraschen. Alleine im September und Oktober 2009 haben mindestens fünf große Konferenzen und Messen zum Thema maritime Sicherheit stattgefunden, die sich explizit mit dem Thema Piraterie beschäftigen und bei denen immer auch die Möglichkeiten nichtletaler Waffen für zivile Schiffe diskutiert bzw. derartige Waffen vorgestellt werden.30 Es ist absehbar, dass die Highways des Welthandels wie der Golf von Aden oder die Straße von Malakka künftig von Handelsschiffen passiert werden, welche die jeweils ansässige Bevölkerung durch WLW – möglicherweise bedient durch hierfür angeheuerte Sicherheitskräfte – auf Distanz halten. Eine Form der „Abschottungsoperationen, [um] die globalen Reichen von den Spannungen und Problemen der Armen ab[zu]sichern“, die alltäglich und privatisiert stattfinden wird. Die Ausrüstung von privaten Sicherheitskräften und kriminellen Vereinigungen mit WLW wird jedoch auch an Land schnell vollzogen und unkontrollierbar werden, wenn ein legaler ziviler Markt einmal geschaffen ist. Dieser gefährdet dann wiederum das Gewaltmonopol der internationalen Gemeinschaft, das diese mit aller Kraft verteidigen wird.

Anmerkungen

*) So der erste Satz aus den Erörterungen von Major Hall zu „Einsatzregeln und nicht-letalen Waffen – eine tödliche Kombination?“; er spielt darauf an, dass US-Marines seit Ende des Kalten Krieges zunehmend in so genannten Friedensmissionen eingesetzt werden.

1) Hans Wolfram Kessler: Krieg ohne Tränen? Reizstoff für die Bundeswehr: Zur Änderung des deutschen Ausführungsgesetzes zum Chemiewaffenübereinkommen, in: Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften 1/2005; S.4-10.

2) Auch wenn hier durch die bewusste und enge Verknüpfung mit dem OEF-Einsatz, der auf Artikel V des NATO-Vertrages beruht, quasi zeitgleich ein internationaler bewaffneter Konflikt vorliegt, in dem aber wiederum den Kämpfern der Al Kaida und der Taliban der Kombattantenstatus aberkannt wird. Ob und wie das Kriegsvölkerrecht zur Anwendung kommt, obliegt der (gemeinsamen) Einsatzführung von ISAF und OEF.

3) Major Allen S. Ford identifiziert lediglich zwei Unterschiede in den Definitionen von Small Wars und MOOTW: Während beide auf die Verzahnung von diplomatischen und militärischen Mitteln verweisen, integriert MOOTW explizit auch den Einsatz kommunikativer und wirtschaftlicher Strategien. Außerdem seien MOOTW im Gegensatz zu Small Wars konzeptionell nicht auf das Ausland beschränkt, sondern auch im Inland möglich. Vgl: Allen S. Ford (2003): The Small War Manual an Marine Corps Military Operations other than War Doctrine, thesis presented to the Faculty of the U.S. Army Command and General Staff College, Fort Leavenworth.

4) Victoria K. Holt & Tobias C. Berkman (2006): The Impossible Mandate? Military Preparedness, the Responsibility to Protect and Modern Peace Operations, Henry L. Stimson Center.

5) Olaf Arndt & Ronald Düker: Eine andere Gewalt ist möglich, Telepolis, 06.06.2007.

6) Commandant of the Marine Corps (1998): Joint Concept for Non-Lethal Weapons.

7) Jan van Aken (2004): Stillschweigende Aushöhlung des C-Waffen-Verbots? Zur geplanten Ausstattung der Bundeswehr mit Tränengas, NDR-Sendereihe »Streitkräfte und Strategien«, 4.9.2004.

8) David A. Koplow (2006): Non-Lethal Weapons – The Law and Policy of Revolutionary Technologies for the Military and Law Enforcement, Cambridge University Press.

9) Deshalb wird auch dem Umgang mit Medien gerade in den Doktrinen für Friedenseinsätze bzw. MOOTW eine erhebliche Bedeutung beigemessen. In der MOOTW-Doktrin von 1995 heißt es beispielsweise: „Media reporting influences public opinion, which may affect the perceived legitimacy of an operation and ultimately influence the success or failure of the operation“.

10) Christoph Marischka: Illusionen der Allmacht, in: AUSDRUCK, Dezember 2008.

11) Major D. B. Hall (1997): Rules of Engagement and Non-Lethal Weapons: A Deadly Combination?, Marine Corps University Command and Staff College.

12) Council on Foreign Relations (1995): Report of an Independent Task Force. Non-Lethal Technologies: Military Operations and Implications.

13) Major D. B. Hall (1997): Rules of Engagement and Non-Lethal Weapons: A Deadly Combination?.

14) Cees M. Coops (2008): NATO and the challenge of non-lethal weapons. Research Paper, NATO Defense College.

15) Nick Lewer: Research Report #1 des Bradford Non-Lethal Weapons Research Project (BNLWRP), November 1997.

16) So wird von Seiten der Militärs stets betont, dass eine Ausrüstung mit WLW nur komplementär zur Ausrüstung mit konventionellen Waffen erfolgen dürfe, da diese zentral für den Selbstschutz und auch die Identität von Soldaten seien. Deshalb werden strenge Kriterien für WLW benannt, welche die Einsatzfähigkeit der Soldaten gewährleisten sollen: Sie dürfen nicht zu viel wiegen oder sperrig sein, kaum Aufwand bei der Instandhaltung und der Ausbildung der Anwender verursachen, da all dies aus militärischer Sicht zu Lasten der konventionellen Waffensysteme geht. Vgl. etwa: Joint Concept for Non-Lethal Weapons des US-Marine Corps von 1998.

17) Die positiven Erfahrungen mit Gendarmerie-Einheiten, insbesondere der italienischen Carabinieri, auf dem Balkan sind sicherlich als ein Faktor anzusehen, dass die EU sich mittlerweile in zahlreichen Ländern der Dritten Welt darum bemüht, im Rahmen von Sicherheitssektorreformen den Aufbau von Gendarmerieeinheiten zu befördern und dass etwa die USA (GPOI) sowie Italien im Auftrag der G8 (COESPU) diese Gendarmeriekräfte für den Einsatz in Friedenseinsätzen ausbilden.

18) Siehe Kessler 2005, sowie den Beitrag »Weniger letale Waffen bei der Bundeswehr« in diesem Dossier.

19) Bezeichnend auch, dass selbst das Militär auf der anderen Seite die Begriffe Soldaten, Sicherheitskräfte, Gendarmen und Polizisten kaum noch von einander abgrenzt.

20) So beispielsweise auf einem Workshop der NATO Naval Armaments Group im Juni 2009; URL: http://www.nato.int/structur/AC/141/pdf/PS-A/Land%20Armaments,%20NATO%20Defence%20Investment.pdf

21) Auf einem weiteren Workshop der NATO Naval Armaments Group zum Thema Counter Piracy Equipment and Technologies, Juni 2009; URL: http://www.nato.int/structur/AC/141/pdf/S-B/Raytheon.pdf

22) Radiation weapon may help fight pirates, Navytimes vom 04.11.08.

23) Christoph Marischka: Eskalation am Golf von Aden, in: AUSDRUCK, August 2009.

24) Atalanta-Sprecher: »MV Victoria« fuhr nicht in geschütztem Konvoi, PR Inside vom 06.05.09.

25) So beispielsweise der derzeitige Befehlshaber der Flotte, Lutz Feldt (vgl. Somalia: »Die Mission Atalanta wird noch lange dauern«, Die Zeit vom 03.08.09) und sein Vorgänger Hans-Joachim Stricker (vgl. Mission Atalanta: »Militärische Mittel lösen das Piraten-Problem nicht«, Die Zeit vom 05.05.09).

26) DoD News Briefing with Geoff Morrell from the Pentagon, 19.11.08.

27) Reeder wollen Bundeswehr an Bord holen, tagesschau.de vom 10.07.09.

28) Münchner Rück (2006): Piraterie – Bedrohung auf See.

29) Piraten-Abwehr: Schmierfett und Schallkanonen, Stern vom 24.11.08.

30) Auf der »Handelsblatt Konferenz zur Sicherheitspolitik« waren sich Vertreter von Reedereien und Versicherung Mitte September 2009 darin einig, dass die Schiffe selbst in die Lage gebracht werden müssten, Piratenangriffe abwehren zu können. Wie eine solche Abwehr aussehen könnte, zeigten Hersteller nichtletaler Waffen auf der parallel stattfindenden Ausstellung. Ende September fand in Washington DC. die »Maritime Security and Anti-Piracy« Konferenz statt, an der sowohl Vertreter der Marineoperationen im Golf von Aden (also vor allem NATO und EU) und Schiffseigner als auch private Anbieter von Produkten und Dienstleistungen zur Abwehr von Piraten teilnahmen. Auch bei der »Maritime Security and Defense«-Konferenz, die Ende September/Anfang Oktober in Hamburg stattfand, trafen sich Militärs mit Vertretern aus der Politik (beispielsweise dem Staatssekretär des BMVg Rüdiger Wolf) sowie Vertreterr der Sicherheitsindustrie (beispielsweise der Hersteller des LRAD), um gemeinsam über die Möglichkeiten zur Bekämpfung der Piraterie zu beraten. Auch hier gibt es neben der Konferenz eine Messe, auf der verschiedene Sicherheitsunternehmen ihre Produkte und Dienstleistungen präsentieren können. Ein ähnliches Programm hat die »Maritime Security Expo 2009« im Oktober 2009 in Kalifornien, deren Schwerpunktthema ebenfalls die Piratenabwehr ist.

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Die Lücke zwischen Schrei und Schuss

Doug Beason, selbst mit der Entwicklung von Strahlenwaffen beschäftigt, formulierte für den britischen Strategie-Thinktank RUSI (Royal United Services Institute for Defence and Security Studies) ein mögliches Einsatzszenario von WLW: In Neu-Delhi formiert sich ein Demonstrationszug durch die Armenviertel und wächst auf dem Weg zur US-amerikanischen Botschaft beständig an. Einige Teilnehmer sind bewaffnet und sie haben Frauen und Kinder unter sich. So dringt der Mob aufs Botschaftsgelände vor. Die USA hätten sich geschworen, nie wieder eine ihrer Auslandsvertretungen überrennen zu lassen, aber die Marines, die zu ihrer Verteidigung die Gewehre bereits in den Anschlag gebracht haben, zögern noch zu schießen. Nicht weil es unmoralisch wäre, auf eine überwiegend unbewaffnete Menge das Feuer zu eröffnen, sondern weil dies in Sekunden das Verhältnis der USA zu einem ihrer wichtigsten Verbündeten, Indien, um Jahrzehnte zurückwerfen könnte. WLW, die im Normalfall lediglich unerträgliche Schmerzen, Atemnot oder vorübergehende Blindheit hervorrufen, seien die perfekte Lösung für derartige Probleme. Ein Toter oder gleich mehrere können einer Regierung für Jahrzehnte als moralischer Makel anhaften, zu diplomatischen Verwicklungen führen oder die Proteste auch weiter anheizen. Doug Beason wirbt für die folgende Alternative: das »Active Denial System«, eine Mikrowellenwaffe, die in einem bestimmten Winkel eingesetzt bei allen Menschen das Gefühl schwerer Verbrennungen erzeugt. „Bisher hatten [die Einsatzkräfte] nur zwei Optionen: die Aufständischen anzuschreien und zu bitten, anzuhalten oder auf sie zu schießen. Eine einfache, binäre Entscheidung. Schreien oder Schießen, angeschrien zu werden oder zu sterben. Heute gibt es eine dritte Option.“ Und weiter: „…Ein tiefes Brummen erfüllt den Raum, als ob sich ein gigantischer Ofen vor ihnen eröffnet hätte. Innerhalb von Sekunden wird der Schmerz unerträglich. Sie können nicht nachdenken, sie können nur reagieren. Nach weniger als einer Minute sind die Straßen frei und das Gelände ist unwirklich ruhig.“ Übrigens: Der Artikel von Beason trägt den Titel: »Changing the Way Future Wars Will Be Fought« – frei übersetzt: »Das Gesicht der kommenden Kriege«.1 Was Beason die dritte Option nennt, ist die „Lücke zwischen Schrei und Schuss“.2

Zum Thema weniger letaler Waffen (WLW) hat die Fraktion DIE LINKE Anfang Mai 2008 eine Kleine Anfrage im Bundestag gestellt. In ihrer Antwort zeigte sich die Bundesregierung kaum gewillt, über die Forschung, Herstellung und Nutzung von WLW in Deutschland und bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr Auskunft zu geben.

Die Funktion von WLW aus Sicht der Bundesregierung

„NLW [nicht-letale Wirkmittel, offizieller Sprachgebrauch der Bundeswehr, C.M.] sind vorgesehen zur angemessenen Reaktion auf Gewalttätigkeiten aller Art und jeglichen Eskalationsniveaus. […] Ohne NLW stehen den Streitkräften nur die Alternativen Passivverhalten und Einsatz konventioneller soldatischer Bewaffnung zur Verfügung“ schrieb die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Linksfraktion.3 Trotzdem teilt die Regierung nicht die Auffassung vieler ExpertInnen, darunter der des 19. Ausschuss für Technikfolgenabschätzung4, dass „die Verfügbarkeit nicht-letaler Waffen die Hemmschwelle für den Einsatz von Zwangsmitteln senken kann, da ein größeres Spektrum an Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung steht“.5 Dies würde nicht zutreffen, da WLW erst dann zum Einsatz kämen, wenn von der Gegenseite bereits irgendeine Form von Gewalt ausgegangen sei, die aus der Sicht der Bundesregierung auch den Einsatz tödlicher Gewalt legitimieren würde: „Die Anwendung von solchen Wirkmitteln ist jedoch ausdrücklich Situationen auf höherer Eskalationsstufe vorbehalten, bei denen zum Beispiel auch ein Schusswaffengebrauch gerechtfertigt wäre.“

Damit erklärt die Bundesregierung im Grunde, dass sie bereit ist, Soldaten im Ausland Demonstrationen niederschießen zu lassen. Denn „der Einsatz NLW wird konzeptionell ausschließlich auf Crowd and Riot Control (CRC) bei Einsätzen der Bundeswehr im Ausland beschränkt. CRC umfasst alle Verfahren, Kräfte, Mittel und Maßnahmen von Streitkräften im Einsatz zur Verhinderung oder Auflösung von/zur Einflussnahme auf Ansammlungen von Menschen, von denen Gewalt ausgeht oder Gewaltanwendung ausgehen kann.“ An anderer Stelle heißt es: „Ziel der CRC ist es, Menschenmengen auf Distanz zu halten, zu lenken und sofern erforderlich aufzulösen. Die zum Einsatz kommenden Mittel sollen wirksam die eigenen Handlungsmöglichkeiten erweitern, um die Fähigkeit zu einer abgestuften Eskalation und Deeskalation der eingesetzten Zwangsmittel zu eröffnen und gewalttätigen Aktionen wirksam zu begegnen. Damit soll insbesondere die Schwelle zum Einsatz letaler Wirkmittel erheblich erhöht werden.“

WLW in und aus Deutschland

Die deutsche Forschung zu WLW begann spätestens 1993, als das Verteidigungsministerium die DASA mit einer Untersuchung zu WLW beauftragte. Im Anschluss an eine Präsentation der Forschungsergebnisse ergingen drei Forschungsaufträge insbesondere zu akustischen Waffen an das Fraunhofer Institut für Chemische Technologie (ICT), welches seit dem auch Tests mit Fangnetzen, Schaumstoffen und Wirbelgeneratoren als WLW und zahlreiche Arbeitsseminare und Konferenzen zu diesem Thema durchführte.6 Im Dezember 1996 warnte der Ausschuss für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung davor, dass WLW das (Kriegs-)Völkerrecht unterlaufen, zu einem neuen Wettrüsten führen und die Schwelle zur Anwendung von Gewalt auch bei Friedenseinsätzen durchaus erhöhen können.7 Das Fraunhofer ICT initiierte 1998 die Gründung der European Working Group NLW, der es in Person von Dr. Ing. Klaus-Dieter Thiel vorsteht. Das Institut arbeitet eigenen Angaben zufolge sowohl mit dem Verteidigungsministerium als auch der Rüstungsindustrie eng zusammen.8 Das BMVg ist der wichtigste Geldgeber des Instituts; gemeinsam mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung stellt es 50% seiner Mittel zur Verfügung.9

2001 veranstaltete es in Ettlingen das erste European Symposium NLW, nach eigenen Angaben „das größte europäische Symposium auf dem NLW-Sektor“. Seither treffen sich alle zwei Jahre bei diesem Symposium WLW-»Experten« aus Politik und Wissenschaft sowie Vertreter der Rüstungsindustrie und des Militärs. Themen des diesjährigen Symposiums waren u.a. WLW zur Crowd and Riot Control in Auslandeinsätzen, der Schutz von Handelsschiffen vor Piraterieangriffen, der Stand der Forschung und Diskussion innerhalb der NATO und der European Defence Agency, rechtliche Fragen bezüglich des Einsatzes von WLW sowie die Vorstellung verschiedener mehr oder weniger neuer Technologien in diesem Bereich. Der ehemalige Ministerialdirigent Krüger-Sprengel, ein Dauergast in Ettlingen, sprach zu den rechtlichen Implikationen von WLW (»Non-lethal weapons and disarmament«) und vertrat die Meinung, dass angesichts der sich verändernden Form des Krieges WLW nicht durch Verbote und weit reichende Regelungen durch internationale Abrüstungsabkommen zurückgehalten werden sollten.10 Auch waren Vertreter des BMVg und der Bundeswehr – wie auch die Jahre zuvor – als Redner geladen. Dem ungeachtet und obwohl das BMVg der wichtigste Geldgeber des Instituts ist, gab die Bundesregierung in der Antwort zur Kleinen Anfrage an, das Symposium werde von dem BMVg weder personell noch finanziell unterstützt.

Die Bundesregierung gibt jedoch an, dass Forschungsaufträge zu WLW an das Fraunhofer ICT vergeben wurden ebenso wie an die Universität der Bundeswehr in München und die Universitäten in Düsseldorf und Witten/Herdecke. Auch „Unternehmen der nationalen wehrtechnischen Industrie (Rheinmetall, Diehl BGT, EADS)“ wurden mit der Forschung an WLW beauftragt. Neben den Unternehmen, die im Regierungsauftrag forschen, gibt es in Deutschland zahlreiche weitere. Laut einem Bericht des Amtes zur Bewertung von Technikfolgen des Europäischen Parlaments11 waren im Jahr 2000 nach Frankreich in keinem europäischen Land mehr Produzenten und Vertriebe von WLW angesiedelt als in Deutschland. Alleine 21 deutsche Firmen boten bereits damals chemische Reizstoffe, 13 Elektroschockwaffen und zehn kinetische Waffen an. Die deutsche Botschaft London blockierte seinerzeit die Beantwortung eines Fragebogens von Amnesty International UK zu WLW durch die entsprechenden Ministerien. Eine umfassende Liste über den Bestand, Export und Verwendung von WLW zu erstellen, würde unangemessene Kosten verursachen. Der damalige Bericht des Amtes zur Bewertung von Technikfolgen des Europäischen Parlaments zeigte sich irritiert über diese Antwort, da die Bundesregierung zumindest für chemische Reizstoffe ohnehin eine entsprechende Liste im Rahmen des Chemiewaffenabkommens für die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) bereithalten müsste.12

Ähnlich wenig auskunftsfreudig zeigte sich die Bundesregierung bei der Beantwortung der Kleinen Anfrage. Auf die Frage, welche deutschen Unternehmen nach Kenntnis der Bundesregierung an der Forschung, Entwicklung und Herstellung von WLW beteiligt sind, gab die Bundesregierung ausschließlich Rheinmetall, Diehl BGT und EADS an, obwohl beispielsweise die Firma Carl Hoernecke Chemische Fabrik eigenen Angaben zufolge bereits zum Zeitpunkt der Anfrage Reizgase an die Bundeswehr liefert13 und die Bundesregierung demzufolge darüber informiert sein müsste, dass dieses Unternehmen an WLW forscht oder diese zumindest herstellt. Auch über den Export von WLW wollte die Bundesregierung keine Angaben machen.

WLW bei der Bundeswehr

Innerhalb der Bundeswehr ist insbesondere die Wehrtechnische Dienststelle für Schutz- und Sondertechnik (WTD 52) für die Entwicklung und Erprobung von WLW zuständig. Im Jahr 2004 gab diese als Aufgabenschwerpunkt die Ermittlung des „Erstausstattungsbedarf[s] der Streitkräfte für den Einsatz NLW bei friedenserhaltenden Maßnahmen“ an.14 Die WTD 52 forscht an mechanischen, elektrischen, chemischen, akustischen, optischen und energetischen WLW. Die WTD 52 gibt auch an, dass bereits „einzelne NLW […] bei der Truppe in Gebrauch“ sind.15

Erstmals 2001 genehmigte der damalige Verteidigungsminister den Einsatz von Impulswaffen im Kosovo (40mm-Hartschaumstoffgeschosse) und die Innenministerkonferenz empfahl im gleichen Jahr die Erprobung von Elektroimpulswaffen durch die Polizei im Inland. Nach den März-Unruhen 2004 im Kosovo, als die Bundeswehrsoldaten Vertreibungen und Brandschatzungen durch militante Albaner nicht verhindern konnten, wurde festgestellt, dass die Bundeswehr außer über Gummiwuchtgeschosse „unterhalb der Schwelle des Einsatzes von Schusswaffen zurzeit nur über begrenzte Mittel zur angemessenen Reaktion und stufenweisen Eskalation [verfüge]. Insbesondere fehlen Möglichkeiten, Menschenmengen auf Distanz zu halten, zu kanalisieren oder aufzulösen, falls physische Absperrungen oder Warnschüsse nicht zum Erfolg führen.“ 16 In der Folge wurde das deutsche Ausführungsgesetz zum Chemiewaffenübereinkommen dahingehend geändert, dass die Bundeswehr in ihren Auslandseinsätzen neben der vorhandenen Bewaffnung auch Reizstoffe und Pfefferspray einsetzen kann.

Seither ist die Bundeswehr auf dem Balkan und in Afghanistan mit Pfefferspray in zwei verschiedenen Ausführungen mit unterschiedlichen Reichweiten (RSG4 bzw. RSG8) sowie 40mm-Patronen und Granaten, die Tränengas (laut Bundesregierung: „Reizstoffrauch“) freisetzen, ausgerüstet. Diese werden entweder von Granatpistolen oder auch per Anbaugerät vom Sturmgewehr G36 abgefeuert. Der Umfang der entsprechenden Bestände ist jedoch als Verschlusssache eingestuft, weshalb die Regierung keine Angaben hierüber macht. Die Anschaffung von flüssigem CS ist geplant, um dieses durch auf Fahrzeugen montierte bzw. rückentragbare Reizstoffwerfer, über welche die Bundeswehr bereits verfügt, einsetzen zu können. Darüber hinaus verfügen zumindest die CRC-Züge auch über Schlagstöcke und Schilder und die Feldjäger über Wasserwerfer. In ihrer Antwort auf die kleine Anfrage behauptete die Bundesregierung zwar, es seien „keine Wasserwerfer bei deutschen Einsatzkontingenten im Ausland stationiert“. Auf der Homepage der Bundeswehr hingegen sind Bilder eines „Anti-Aufruhr-Trainings“ in Prizren zu sehen, bei denen ein Wasserwerfer, geschützt durch deutsche Soldaten mit Schlagstöcken und Schildern, einen Strahl abfeuert. Auch widersprechen verschiedene Pressemeldungen der Aussage der Bundesregierung. So berichtete die Tagesschau im Mai 2005: „Seit knapp einem Jahr verfügt die Bundeswehr im Kosovo auch über entsprechende Waffen gegen Gewalttäter in einem Protestzug: Gummigeschosse, Tränengasgranaten, Wasserwerfer“. 17 Auch die »Neue Westfälische« berichtete von Übungen mit Wasserwerfern in Kosovo: „Um einen Ernstfall zu demonstrieren, sind am Sonntagmorgen etwa 100 Soldaten aus Augustdorf im »Camp Casablanca« nördlich von Prizren angetreten. Kompaniechef Jan T. erklärt die »Bedrohungslage«: Gewalttätige Demonstranten müssen in Schach gehalten und zur Ruhe gebracht werden. […] Anders als früher sind die Soldaten mit dem so genannten CRC (Crowd-Riot-Control, Kontrolle von Massen-Aufständen)-System ausgerüstet. Diese Ausrüstung besteht aus verschiedenen Waffen, die alle nicht tödlich sind, den Gegner aber außer Gefecht setzen. Je nach Eskalationsgrad werden Tränengas, Pfefferspray, Gummigeschosse, Wasserwerfer und Schlagstöcke gegen Angreifer eingesetzt. Erst im schlimmsten Fall – und immer erst nach entsprechendem Befehl – greifen die Soldaten zur Schusswaffe.“ 18

Die Ausbildung „der für Einsätze der Bundeswehr vorgesehenen Kräfte“ im Umgang mit WLW erfolgt durch die Feldjäger „im Rahmen der einsatzvorbereitenden Ausbildung für Konfliktverhütung und Krisenbewältigung (EAKK) … und erfolgt für die jeweiligen Kräfte grundsätzlich anlassbezogen an den Ausbildungseinrichtungen »Gefechtsübungszentrum Heer« (Letzlingen),19 dem VN-Ausbildungszentrum der Bundeswehr (Wildflecken), dem Ausbildungszentrum Grundlagenausbildung der Luftwaffe (Germersheim), dem Zentrum »EinsAusbÜbSanDstBw« (nur RSG4) in Feldkirchen und der Schule für Feldjäger und Stabsdienst in der Bundeswehr in Sonthofen.“ Dabei verschweigt die Regierung – wie so vieles –, dass die Ausbildung im Rahmen der Auslandseinsätze durch zahlreiche Übungen im Einsatzland weitergeführt wird. Als besonderes Testfeld erweist sich hier der Balkan; insbesondere im Kosovo scheinen CRC-Übungen nahezu wöchentlich stattzufinden.20 Die Übungen sind u.a. notwendig, um den Umgang mit für Soldaten eher untypischen Einsatzmitteln wie Schildern (gegen Steinwürfe) zu trainieren. Die Schilder müssen beim Besteigen des Hubschraubers in einer bestimmten Weise getragen werden, damit sich der Luftzug der Rotoren nicht in ihnen verfängt.

Seit Anfang 2009 werden die meisten Übungen zu CRC, bei denen auch WLW eingesetzt werden, gemeinsam von der Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union im Kosovo (EULEX), der KFOR und kosovarischen Sicherheitskräfte durchgeführt. In der Stadt Kosovska-Mitrovica, die aus einem serbischen und einem kosovarischen Teil besteht, wird von KFOR und EULEX regelmäßig Tränengas eingesetzt – mal um Demonstrationen der albanischen, mal der serbischen Bevölkerung aufzulösen, bevor diese eine »yellow line« überschreiten, welche Serben und Albaner voneinander trennen soll. Inwieweit auch Bundeswehrsoldaten daran beteiligt sind, ist unklar. Die Bundesregierung erklärte in ihrer Antwort auf die kleine Anfrage der Linken zwar lapidar: „NLW wurden, abgesehen zu Ausbildungszwecken, durch deutsche Kräfte bislang nicht eingesetzt.“ Dem widersprechen jedoch zahlreiche Presseberichte und Aussagen aus dem Umfeld der Bundeswehr selbst: Einem Bericht der Zeitschrift »Das Parlament« zufolge wurde z.B. im Kosovo bereits 2005 Pfefferspray durch die deutschen KFOR Soldaten eingesetzt und zwar aus eher lapidarem Anlass: „Zum Beispiel neulich, als zwei Streithähne mit Mistgabeln aufeinander losgingen und damit das halbe Dorf in Tumult zu stürzen drohten – nach einer Prise Pfefferspray herrschte Ruhe. Die deutschen Soldaten seien dem Bericht zufolge sogar besser mit WLW ausgerüstet, als die Einsatzkräfte anderer Nationen.“ 21 Johann Höcherl, Professor an der Universität der Bundeswehr, erklärte auf dem 4. European Symposium on Non-Lethal Weapons im Jahr 2007: „Als Konsequenz aus den neuen Szenarien, in denen Teile der deutschen Armee eingesetzt werden, wurde nicht-tödliche Munition, basierend auf Impuls und Energie, die auf das Ziel übertragen werden, zu Aufstandsbekämpfungszwecken eingeführt, die sich bislang sehr bewährt hat.“ 22 Die Verwendung von WLW wird laut Bundesregierung zwar nach eigenen Angaben „im Rahmen des Bestandsnachweises“ registriert, doch die Bestände sind eben Verschlusssache und damit nicht überprüfbar. Ferner lässt sich aus den Beständen etwa an Pfefferspray oder flüssigem CS wenig über konkrete Einsätze erfahren, da sich die verbrauchten Mengen schlecht wie bei anderer Munition in einzelnen Patronen angeben lassen. Auch hier zeigt sich, dass der Einsatz von WLW weniger kontrollierbar ist und somit durchaus auch die Gefahr besteht, dass die Einsatzschwelle durch WLW sinken kann.

Auch die so genannten »Quick Reaction Force«, die im Sommer 2008 nach Afghanistan verlegt wurde, ist der Bundeswehr und verschiedenen Presseberichten zufolge mit WLW ausgestattet und soll diese anwenden, um „gewaltbereite Menschenmengen … unter Kontrolle zu bringen“.23 Auch hier zeigte sich die Bundesregierung unwillig, den entsprechenden Umfang zu konkretisieren.

Keinerlei Angaben machte die Bundesregierung außerdem zur Ausrüstung der Spezialeinheiten des KSK mit WLW, da „zu operationellen Einzelheiten von Einsätzen der Spezialkräfte der Bundeswehr […] grundsätzlich keine Stellung genommen“ werde. Von einer Bewaffnung mit Gas-, Blend- und Rauchgranaten ist aber, betrachtet man das Aufgabenspektrum des KSK,24 in jedem Falle auszugehen. Sie würde nach wie vor dem Chemiewaffenübereinkommen eklatant widersprechen, da auch nach dessem novellierten deutschen Ausführungsgesetz der Einsatz chemischer Kampfstoffe auf Unruhebekämpfung beschränkt ist. Diese ist aber explizit nicht Aufgabe des KSK.

Intransparent und verantwortungslos

Zu den rechtlichen Implikationen der Forschung und des Einsatzes WLW scheint sich die Bundesregierung ohnehin kaum Gedanken zu machen. So hat schon die Änderung des deutschen Ausführungsgesetzes zum Chemiewaffenübereinkommen dessen Wirkung auf internationaler Ebene geschwächt, indem sich die Bundesregierung damit den Staaten anschloss, die das an sich absolute Verbot von Chemiewaffen in kriegerischen Auseinandersetzungen auf diesem Wege zu umgehen versuchen. Da die internationale Sicherheitsarchitektur ohnehin zunehmend auf asymmetrische Bedrohungen und »neue Kriege« abzielt, also CRC in den Mittelpunkt des aktuellen Aufgabenspektrums rückt, diese aber nach Auffassung der Bundesregierung auch im Ausland eine Ausnahme vom Chemiewaffenverbot darstellt, wird es hiermit de facto entkräftet. Obendrein hat es die Bundesregierung unterlassen, die unter diesen »Ausnahmebedingungen« eingesetzten Wirkstoffe zu spezifizieren und zu beschränken und sie hat jüngst erneut zum Ausdruck gebracht, dass sie dies auch nicht vorhat. „Durch das Fehlen konkreter Definitionen schafft die Neuregelung ein gewisses Maß an rechtlicher Unsicherheit für den RCA-Einsatz (Riot Control Agents). Die Auslegung des CWÜ wird letztlich auf die Ebene der militärischen Einsatzregeln übertragen“, urteilte der Jurist Hans Wolfram Kessler nach der Änderung des Gesetzes.25 Auch Jan von Aken kritisierte diese in der NDR-Sendung »Streitkräfte und Strategien« scharf: „Sobald Sie sich bei den Chemiewaffen auf eine Eskalationsstufe begeben, egal wie niedrig die ist, dann bereiten Sie damit die weitere chemische Eskalation vor. Man muss wissen, dass in der Geschichte jeder Einsatz von tödlichen Nervengasen, von tödlichen Chemiewaffen immer mit Tränengas angefangen hat. Ob das nun der Irak war unter Saddam Hussein, ob das im Ersten Weltkrieg die Deutschen waren, es fängt immer mit Tränengas an, unterste Eskalationsstufe, aber in dem Moment, wo sie im Krieg Gas einsetzen, ist es nicht mehr zu stoppen und am Ende werden sie bei den tödlichen Gasen landen.“ 26

Auf die Frage, ob die Bundesregierung einen weiteren Regelungsbedarf für den Umgang mit WLW auf internationaler Ebene sieht, antwortete diese: „Nein. Auf NATO- und EU-Ebene sind Arbeitsgruppen zu NLW tätig, die eventuell auch neue Regelungen als Empfehlungen an die Mitgliedsstaaten herausgeben. Diese Regelungen sind aber nicht von der Bundesregierung veranlasst.“ Hierzu muss erwähnt werden, dass die angesprochenen Gremien eben nicht mit der Eindämmung und Kontrolle von WLW beauftragt sind, sondern eher Lobbying für diese betreiben. Vorsitzender der European Working Group Non-Lethal Weapons ist beispielsweise der bereits erwähnte Klaus-Dieter Thiel vom Frauenhofer ICT, einem der größten Institute zur Entwicklung von WLW in Europa. Sein Stellvertreter ist Massimo Annati von der italienischen Marine, ein regelmäßiger Autor der Zeitschrift »Military Technology« und angesehener Vordenker moderner Kriegstechnologie. Thiel ist ebenfalls Mitautor einer der wichtigsten NATO-Studien zu WLW27 und Vorsitzender der »International Virtual Non-Lethal Weapons Platform«, einer Internetseite, auf der sich verschiedene Wissenschaftler über WLW austauschen sollen.

Eigentlich müssten Forschung, Produktion, Export und Einsatz von WLW restriktiv gehandhabt werden. Die Bundesregierung räumt zwar ein, dass viele der WLW in Deutschland unter das Waffengesetz fallen, weigert sich aber konsequent, eine Aufstellung zu liefern, welche dieser Waffen exportiert werden. Die Begründung hierfür besteht darin, dass WLW nach Auffassung der Bundesregierung generell nicht unter das Kriegswaffenkontrollgesetz fallen. Deshalb liege ihr „keine statistische Aufbereitung zu Genehmigungen der Ausfuhr von »WLW« bzw. entsprechender Komponenten und Technologien vor. Die Struktur der dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) vorliegenden Datenbestände gestattet keine automatisierte Recherche im Sinne der gestellten Frage“. Das heißt, dass nicht nur Schlagstöcke, sondern auch Wasserwerfer aus dem Hause Daimler oder kinetische Waffen, wie sie Heckler & Koch herstellt, an diktatorische Regime ausgeliefert werden können, ohne dass die Öffentlichkeit hierüber etwas erfährt. Die deutsche Außenwirtschaftsverordnung nimmt für die Länder Somalia, DR Congo, Liberia, Simbabwe, Birma, Côte d’Ivoire, Sudan und Usbekistan „nichtletale militärische Ausrüstung“ von den jeweiligen Waffenembargos der UN aus, sofern sie nur „für humanitäre oder Schutzzwecke“ bestimmt sind. In diesen Fällen jedoch bedarf der Export einer Genehmigung durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA). Auch hier sieht die Bundesregierung keinen weiteren Regelungsbedarf.

Eine ähnliche Haltung zeigt die Bundesregierung, wenn es um die Verwendung von WLW im Inland geht. Obwohl mittlerweile auch die Polizei in Deutschland zunehmend mit WLW, darunter Elektroschockpistolen, ausgerüstet wird, existiert im Geschäftsbereich des Innenministeriums keine einzige Richtlinie oder Verordnung, die den Einsatz von WLW regelt.

Das perfekte Werkzeug für Diktatoren

Die deutsche Regierung finanziert die Forschung und Entwicklung weniger letaler Waffen, weil sie diese für »Verteidigungsaufgaben«, „dort […] wo Risiken und Bedrohungen für die Sicherheit Deutschlands und seiner Verbündeten entstehen“ für geeignet erachtet. Bei solchen »Friedensmissionen«, die ja vermeintlich den Export von Demokratie befördern sollen, ist der Einsatz von WLW vorgesehen, „um Menschenmengen auf Distanz zu halten, zu lenken und sofern erforderlich aufzulösen“.

Die Wirkprinzipien dieser Waffen sind Schmerz und Angst. Obwohl sie in Deutschland meist unter das Waffengesetz fallen, ist ihr Export selbst dann legal, wenn es sich explizit um militärische Ausrüstung handelt, die in Länder exportiert wird, die aufgrund von Menschenrechtsverletzungen mit einem UN-Embargo belegt sind. Entsprechend widerspricht die Bundesregierung der Auffassung des UN-Ausschusses gegen Folter, dass der Einsatz von Elektroschockpistolen beispielsweise Folter sei.

Wie jedoch WLW in manchen Ländern dazu genutzt werden, unliebsame Stimmen unhörbar zu machen, zeigt aktuell das Vorgehen des derzeitigen Machthabers Roberto Micheletti in Honduras, der sich im Juni 2009 an die Macht putschte. Der ehemalige Präsident Zelaya ist inzwischen wieder nach Honduras zurückgekehrt und hält sich seither in der brasilianischen Botschaft in Tegucigalpa auf. Polizei und Militär setzten offenbar sowohl gegen die Demonstranten, die gegen den Putsch und die neue Regierung auf die Straßen gehen, als auch gegen Zelaya selbst WLW ein. Zelaya berichtete davon, die Botschaft sei mit einem Gas beschossen worden, das Übelkeit verursache.28 Zudem wird die Botschaft offenbar mithilfe eines LRAD beschallt.29

Anmerkungen

1) Doug Beason (2006): The E-Bomb: Changing the Way Future Wars Will Be Fought, in: Rusi Defence Systems 9:1, S.90-93.

2) Olaf Arndt & Ronald Düker: Eine andere Gewalt ist möglich, Telepolis vom 06.06.2007.

3) Antwort der Bundesregierung auf BT-Drucksache 16/9050 vom 2.Mai 2008. Alle weiteren Zitate, sofern nicht anders gekennzeichnet, sind der Drucksache entnommen.

4) BT-Drucksache 13/6449.

5) BT-Drucksache 16/9050.

6) Landmine Action (2001): Tödliche Alternativen. Wie die Antipersonenminen ersetzt werden.

7) BT-Drucksache 13/6449.

8) Fraunhofer ICT: Institutsgeschichte; URL: http://www.ict.fraunhofer.de/Institutsprofil/Institutsgeschichte/index.jsp.

9) Fraunhofer ICT (2009): Jahresbericht 2008/09.

10) Friedhelm Krüger-Sprengel (2009): Non-Lethal Weapons and Disarmament.

11) European Parliament (2000): Crowd Control Technologies – An Assessment Of Crowd Control Technology, Options For The European Union (EP/1V/B/STOA/99/14/01), Working Paper der Omega Foundation.

12) Ebd.

13) Hoernecke Sicherheitstechnik. Sicherheit durch Qualität – Internationale Referenzen, www.tw1000.com.

14) Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung (2004): Das BWB und die Dienststellen in der Transformation, BMVg.

15) »Die Dienststellen der BWB«, in: Strategie und Technik, Dezember 2008.

16) BT-Drucksache 15/3599.

17) »Kosovo: Gefährlicher Job für die Bundeswehr«, tagesschau.de vom 23.06.05.

18) »Soldaten sorgen für Sicherheit«, Neue Westfälische vom 3./4.12.2005.

19) Vgl. hierzu: Johannes Plotzky: Kriege üben mit Serco GmbH und SAAB, IMI-Analyse 2005/032, in: AUSDRUCK, Dezember 2005.

20) Dies ergibt eine Auswertung der wöchentlich erscheinenden Feldzeitung der Bundeswehr für das Kosovo, Maz & More.

21) Thiele, Christian: Überwiegend ruhig, aber nicht stabil, in: Das Parlament Nr. 21, 2005.

22) Johan G. Höcherl: Pressure measurements at impact of kinetic energy ammunitions, Beitrag auf dem 4. European Symposium on Non-Lethal Weapons.

23) BMVg: Quick Reaction Force – Eine Schnelle Eingreiftruppe der ISAF, bundeswehr.de vom 18.01.2008.

24) Claudia Haydt: Kommando Spezialkräfte: »Mit der Lizenz zum Töten«, IMI-Analyse 2008/006, in: AUSDRUCK, Februar 2008.

25) Hans Wolfram Kessler: Krieg ohne Tränen? Reizstoff für die Bundeswehr: Zur Änderung des deutschen Ausführungsgesetzes zum Chemiewaffenübereinkommen, in: Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften 1/2005; S.4-10.

26) Streitkräfte und Strategien vom 5.04.08, URL: http://www.ndrinfo.de/programm/sendungen/streitkraeftesendemanuskript68.pdf .

27) NATO Research and Technology Organisation (2006): The Human Effects of Non-Lethal Technologies. The Final Report of NATO RTO HFM-073.

28) Atacan los golpistas hondureños la embajada de Brasil con gases tóxicos, La Jornada vom 26.09.09; URL: http://www.jornada.unam.mx/2009/09/26/index.php?section=mundo&article=020n1mun.

29) »Cañón sónico« para revoltosos, La Tribuna vom 24.09.09; URL: http://www.latribuna.hn/web2.0/?p=44108.

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Übungen von EULEX und KFOR im Kosovo

Crowd and Riot Control« ist inzwischen eine der Hauptaufgaben der verschiedenen internationalen Truppen im Kosovo. Die Unruhen im März 2004, als Kosovo-Albaner vor allem die serbische Bevölkerung angriffen und die KFOR die Ausschreitungen nicht verhindern konnte, werden häufig als Begründung für die Notwendigkeit von Übungen zur »Crowd and Riot Control« herangezogen. Allerdings sind Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Gruppen im Kosovo kaum noch Grundlage der Übungsszenarien, welche meist den Einsatz von WLW beinhalten. Vielmehr wird die Niederschlagung von Protesten gegen die internationalen Organisationen geübt. Im Folgenden dokumentieren wir einige Beispiele von solchen Übungen, die vorwiegend der Feldzeitung der Bundeswehr im Kosovo »Maz & More« und dem »KFOR Chronicle« entnommen sind.

April 2006

Novo Selo – Das Hauptquartier der Multinationalen Task Force Nord war am 6. April Schauplatz eines eindrucksvollen Übungsszenarios für CRC. Dänische, französische, griechische, belgische und luxemburgische [KFOR-]Truppen mussten eine demonstrierende Menge in Schach halten, die aus marokkanischen Soldaten bestand, welche glaubwürdig die Störenfriede spielten.

Die Sicherheitskräfte blockierten mehrere Straßen, um die Bewegungsfreiheit der Demonstranten einzuschränken. Die Randalierer riefen und schrien und begannen letztlich, Wasserflaschen auf die Soldaten zu werfen, die ruhig in Formation verharrten und sich mit ihren Schildern schützten. Schritt für Schritt drängten Einheiten in voller CRC-Ausrüstung, unterstützt von gepanzerten Fahrzeugen, die gewalttätige Menge in die Randgebiete der fiktiven Stadt. Als die beiden Gruppen dann zusammenstießen, eskalierte die Situation. Die Randalierer setzten Autos und Barrikaden in Brand, um die Sicherheitskräfte daran zu hindern, ihnen zu folgen. Tränengasgranaten, abgefeuert aus 100 Metern Distanz, regneten auf die Demonstranten nieder, sodass einige ob ihres Fehlverhaltens in Tränen ausbrachen. Offensichtlich hatten sie die Entschlossenheit der multinationalen Einsatzkräfte unterschätzt. Unbeeindruckt von Molotov-Cocktails, die auf sie geworfen wurden, durchbrachen gepanzerte Fahrzeuge das Inferno aus Flammen und Rauch. Die Niederlage ins Gesicht geschrieben flohen diejenigen Demonstranten, die eine Gelegenheit dazu hatten, bereitwillig, während viele andere verhaftet wurden. Major Heimo Gruber: Demonstrators sow the wind and reaped the whirlwind during CRC Training »Hideous Hydra« in Camp Novo Selo (KFOR Chronicle, 30.4.2006).

Dezember 2008

Eine Phalanx aus Schutzschildern und Helmvisieren. Aus Atemschutzmasken heraus starre, entschlossene Blicke. Ein rhythmisches »klock, klock, klock« ist zu hören, als die italienischen Carabinieri im Takt des Vorwärtsmarschierens die Schlagstöcke an den Rand ihrer Schutzschilder schlagen. Die Situation eskaliert. Denn der Postenkette stehen wütende »Demonstranten« gegenüber, deren ungezügelte Gewalt den Polizisten [sic!] entgegenschlägt. Flaschen fliegen, Protestschilder zerbrechen, Holzlatten schlagen auf die Helme – ein Szenario, das nicht erfunden ist. Seit den so genannten Märzunruhen im Jahr 2004 ist klar, dass die KFOR-Soldaten nicht nur militärisch für Ruhe und Ordnung sorgen müssen, sondern auch in Situationen, wie man sie eher früher vom 1. Mai in Berlin her kennt und die einem Polizeieinsatz gleichen. Dafür gibt es die MSU (Multinational Specialized Unit), eine Spezialeinheit [der KFOR] mit erweiterten polizeilichen Befugnissen, speziell ausgebildet für »Riot Control«, das Eindämmen von »Aufruhr«. Die geschilderte Situation ist diesmal fiktiv: Die MSU übt auf einem alten Rollfeld der Luftwaffe der ehemaligen Jugoslawischen Volksarmee am Flughafen bei Pristina, dem Feldlager Vrelo. […] Das Ziel sei gewesen, die Zusammenarbeit der 84 italienischen Carabinieri und 50 portugiesischen MSU-Soldaten mit ihren 32 Fahrzeugen zu üben, erklärte der Einsatzleiter, Maggiore (Major) Roberte Arcieri. Eine Besonderheit: Die portugiesische Verstärkung wurde mit französischen und amerikanischen Hubschraubern eingeflogen. Erfolgreich sei die Übung gewesen, sagt Maggiore Arcieri, „wir haben ja hart dafür trainiert. Und wir konnten den Soldaten nun zeigen, was sie in der Realität erwartet“. Hauptmann Karsten Dyba: Üben für den Ernstfall (Maz & More 501; Dezember 2008).

Januar 2009

„Wir haben Euch was mitgebracht“, rufen die »Demonstranten« im Sprechchor. Auf ein Zeichen der Schiedsrichter bewegen sie sich auf eine Postenkette der EULEX zu. Diese drängen mit eigenen Kräften die Demonstranten ab, einzelne Störer werden isoliert und abgeführt. Pfeifend ziehen sich die Rollenspieler zurück. „Wir wollen keine EULEX“ erklingt der Schlachtgesang. „Die sind nicht schlecht“, schmunzelt Adjutant Chef (Oberstabsfeldwebel) Patrick T. von der EULEX-Mission. Er steht mit seinen Kameraden in voller Einsatzmontur hinter mehreren Gruppenfahrzeugen. Mehrere Monate war der Gendarm als Angehöriger der MSU (multinationale Spezialeinheit) im Feldlager Prizren stationiert, seit Mitte Dezember gehört er zur EULEX. Neben ihm bereiten rumänische Bereitschaftspolizisten ihre Granatpistolen vor. „Anders als vor einigen Wochen in Vrelo wird heute jedoch kein Tränengas eingesetzt“, beruhigt Hauptmann W. „Bei unseren Übungen in Frankreich nutzen wir nur echtes Tränengas“, bestätigt Patrick T.; „das hat noch nie jemandem geschadet.“ Stattdessen haben die deutschen Rollenspieler ihren Gegnern Darstellungskörper zur Verfügung gestellt. Diese werden gleich zum Einsatz kommen, da die zurückflutenden Rollenspieler eine Barrikade »errichten«. Französische Feuerwehrleute stecken auf Befehl des Übungsleiters mehrere aufeinander geschichtete Autowracks in Brand. Eine kleine Beobachtung am Rand: Einige Wracks tragen MSU und EULEX-Aufkleber und wurden bei Verkehrsunfällen oder echten Einsätzen demoliert… Hauptmann Stephan Schmidt: Das Chaos auf Bestellung – Deutsche Grenadiere als Rollenspieler im Norden des Kosovos (Maz & More 506; Januar 2009).

Februar 2009

Ein Schusswechsel rund ums Krankenhaus in der Ortsmitte von Malisevo: Ein Clan-Chef, der zur ärztlichen Versorgung im Krankenhaus weilt, hatte auf Kosovo-Polizisten geschossen, die ihn festnehmen wollten. Die Polizisten sperren das Krankenhaus ab, während sich vor dem Gebäude Demonstranten versammeln, um die Freilassung des Verdächtigen zu fordern. Die aufgebrachte Menge ruft: „Lasst unseren Bruder frei“ und „Freiheit, Freiheit“. Die Situation ist sehr angespannt, Flaschen fliegen und die Demonstranten versuchen, auf das Krankenhausgelände vorzudringen. Dies war das Szenario, das der Übung zugrunde lag.

Der Bevölkerung zu zeigen „was unsere Stärke ist“, dies sei das Ziel der Übung gewesen, erklärte der Sprecher des Einsatzbataillons Dulje, der österreichische Major Pierre Kugelweis. Das sei auch der Grund gewesen, warum die Übung nicht wie gewöhnlich in einem Feldlager oder auf einem Übungsplatz stattgefunden hat, sondern im öffentlichen Raum. Ohne das Szenario vorzuüben, testete der Übungsleiter Oberstleutnant Manfred Hofer, die Fähigkeit der beteiligten Einheiten zusammen zu agieren, und zwar nach dem Prinzip der gestaffelten Reaktion zur Kontrolle von Menschenmengen und Ausschreitungen (Crowd and Riot Control, CRC). So soll die Kosovo-Polizei erstverantwortlich handeln, erklärte Major Kugelweis, dahinter folgen die EULEX-Spezialeinheiten und erst in der dritten Reihe als sogenannter »Third-Line-Responder« die KFOR-Kräfte. […] Bei der Übung in Malisevo war schließlich doch davon ausgegangen worden, dass der kosovarische CRC-Zug nicht ausreicht, um die Ausschreitungen am Krankenhaus unter Kontrolle zu bringen, weshalb er durch rund 20 EULEX-Polizisten der rumänischen Jandameria verstärkt wurde. Erst in der dritten Reihe standen schließlich österreichische Soldaten des Einsatzbataillons Dulje den Demonstranten gegenüber, die übrigens auch von österreichischen Rollenspielern dargestellt wurden. Im Einsatz waren zudem rund 30 Schweizer, darunter ein Scharfschützentrupp, ein Österreichischer Hundeführertrupp und von deutscher Seite ein Lautsprechertrupp, ein Greiftrupp der Feldjäger und ein Feldjäger-Dokumentationstrupp mit Videokamera. Greif- und Hundeführertrupp übten dabei, den Rädelsführer des Aufruhrs aus der Menge zu »picken«. „Der Hund nimmt meistens den, der vor der ersten Reihe steht“, erklärt Stabswachtmeister Manfred H., der sich von dem dreijährigen belgischen Schäferhund »Burdy« beißen ließ. Eingepackt in einen Schutzanzug hatte er lediglich ein paar Schrammen und blaue Flecken zugetragen, „aber das bin ich schon gewohnt“, sagte er. Der Hund habe bei einem CRC-Szenario einen bedeutenden Vorteil: „Wenn wir ihn mit Maulkorb schicken, ist es rechtlich noch kein Waffengebrauch, macht aber Eindruck…“ Hauptmann Karsten Dyba: Den Rädelsführer beißt der Hund – öffentliche CRC-Übung beweist Einsatzbereitschaft der Kosovo-Polizei (Maz & More 507; Februar 2009).

März 2009

Propagandagraffiti, Diebstahl und Zerstörung von KFOR- und EUFOR-Einrichtungen zeugen von einer starken Störung der Beziehungen der Bevölkerung zur internationalen Gemeinschaft. Die Stimmung ist angeheizt. Vor dem türkischen Feldlager Sultan Murat haben sich Demonstranten eingefunden. Im Feldlager bereiten sich unterdessen türkische Soldaten, unterstützt von Polizisten der Kosovo-Polizei, einer polnischen Polizeieinheit der EULEX und Greiftrupps der Feldjäger darauf vor, die Demonstration aufzulösen. Schnell werden ein innerer Bereich (»Red Box«) und ein äußerer Bereich (»Blue Box«) markiert.

In der Blue Box wird versucht, jeden Versuch eines Eindringens durch nicht-lethale [sic] Wirkmittel (NLW), also solche, die keine tödlichen Verletzungen nach sich ziehen sollen, abzuwehren. NLW sind beispielsweise das Reizstoffsprühgerät, dessen Inhalt aus Chili-, Peperoni-Schoten und spanischem Pfeffer gewonnen wird, sowie Schlagstock, Schild und Gummigeschosse. Jedes Eindringen in die Red Box zieht einen möglichen Schusswaffengebrauch nach sich. Bewaffnet mit Kanthölzern, Knüppeln und Steinimitationen gehen die Rollenspieler auf die Postenkette zu. Steine fliegen durch die Luft. Dann fliegen Rauchkörper. Nebel breitet sich aus. Die Soldaten rücken, gedeckt durch Gewehrschützen, vor bis zur Grenze der Blue Box. Aber die Einpeitscher unter den Demonstranten provozieren immer weiter. Ein Auto wird in Brand gesteckt. Die Feuerwehr kann die Zerstörung des Fahrzeugs nicht verhindern. Vereinzelte, in die Blue Box eindringende Rädelsführer werden durch einen schnellen Zugriff der Eingreiftrupps der deutschen Feldjäger gepackt und abtransportiert. Die Postenkette wehrt alle Angriffe ab… Oberstabsfeldwebel Harry Höft: Die »Red Box« bleibt unangetastet (Maz & More Nr. 514; März 2009).

April 2009:

Die Übung basierte auf folgendem Szenario: In den letzten Jahren hat es keine größeren Unruhen in der Umgebung von Prizren gegeben. Aber eine bestimmte Nichtregierungsorganisation, die für ihre kompromisslose Haltung bekannt ist, hat ihre Aktivitäten und Propaganda in der Region intensiviert. Aufgrund der jüngsten politischen Ereignisse hat diese NGO in den größeren Städten eine Reihe von Demonstrationen gegen die internationale Gemeinschaft organisiert.

Unsere Aufklärung setzte uns davon in Kenntnis, dass eine große Demonstration in unserem Verantwortungsbereich stattfinden würde. Es wurde angenommen, dass eine gewalttätige Gruppe versuchen würde, in das regionale Hauptquartier einer internationalen Organisation einzudringen, um deren Angehörige anzugreifen […].

Diesem Szenario entsprechend fand die »Southern Home Saber Crowd and Riot Control«-Übung am 14. Mai mit der kosovarischen Polizei, der »Regional Operations Support Unit«, der EULEX-Polizei und der KFOR […] statt.

Entsprechend dem Konzept der »Blue and Red Box« nahm die CRC-Einheit der KFOR in der roten Box Aufstellung, während die blaue Box von der kosovarischen Polizei und der EULEX gesichert wurde. In erster Reihe war zunächst die kosovarische Polizei für die Verteidigung des geschützten Objekts zuständig, EULEX sollte in zweiter Reihe Verantwortung übernehmen.

Als die Demonstranten auf die rote Box zukamen, übernahm die CRC-Einheit der KFOR die Aufgabe des Schutzes in ihrer Funktion als dritte Verteidigungsreihe. Die Hauptaufgabe der Übung bestand in der Koordination der Einheiten und in der sukzessiven Übergabe der Verantwortung von der kosovarischen Polizei zu EULEX und von dieser an die KFOR […]. [Um die Soldaten, welche die Demonstranten simulierten, zu schützen] trugen diese CRC-Uniformen und der Einsatz von Tränengas wurde durch Rauchbomben simuliert.

Während der Übung wurden alle möglichen Ereignisse, mit denen CRC-Einheiten konfrontiert sein können, durchgespielt. Ein verletzter Soldat wurde mit einem Rettungshubschrauber abtransportiert, ein Greiftrupp wurde eingesetzt, um einen Provokateur festzusetzen, die Hundestaffel, um die Menge in Schach zu halten […]. First Lt. Hasan Tahsin Vanli: Turkish Contingent is at the Service of Kosovo (KFOR Chronicle, 30.4.2009).

Der Tag begann mit einer friedlichen Demonstration während des ersten Szenarios. Soldaten der Alpha-Einheit wurden Portugiesen gegenübergestellt, welche als »first responder« versuchten, die Demonstranten mit Worten zu beruhigen. Als die Verhandlungen scheiterten, wurden diese durch französische Einheiten ausgewechselt, welche eingesetzt wurden, um die Menge niederzuhalten. Die französischen Soldaten begannen Tränengas (CS) zu verschießen, um die widerspenstige Menge aufzulösen. Der richtige Umgang mit Tränengas ist ebenso ein kritisches Element der Crowd Control wie das Evakuieren von Verwundeten. Die Beobachter, welche die Übung bewerten sollten, zeigten ihre Anerkennung der Leistung, als die Übung beendet wurde. „Als die Franzosen kamen, um den Portugiesen zu helfen, begannen sie alle mit CS einzunebeln“, berichtet Joshua Navarro. „Sie machten es uns unmöglich, etwas zu tun, weil sie immer weiter Gas versprühten.“

In einer zweiten Phase wurden die Soldaten [welche die Randalierer spielten] angewiesen, sich nicht zurückzuhalten und alles gegen die Sicherheitskräfte zu geben. Sie sammelten Stöcke, halbvolle Wasserflaschen und was immer sie finden konnten, um es bei den bevorstehenden Auseinandersetzungen zu verwenden. Die Einheiten preschten vorwärts, um die Franzosen noch einmal anzugreifen. Wiederum stieg eine Mauer aus Tränengas empor und herbeigeführter Stacheldraht wurde ausgelegt, um die Angreifer davon abzuhalten, zu nah zu kommen. Doch Mutter Natur stand auf deren Seite: Als der Wind drehte, das Tränengas verwehte und der Stacheldraht entfernt wurde, schienen die Randalierer die Oberhand zu gewinnen. In die Defensive gedrängt, setzten die Franzosen ein Fahrzeug ein, um den Mob zurück zu drängen. Verschiedene Techniken kamen während der Übung zum Einsatz, um abzuschätzen, welche effektiv und welche weniger erfolgreich sind. Spc. Darriel Swatts: Controlling the Riots before it controls you (KFOR Chronicle, 30.4.2009).

Während der März-Unruhen im Kosovo im Jahr 2004 hatte eine Gruppe von Grenadieren, die das Erzengelkloster schützen sollten, mit einer solchen Situation gar nicht rechnen können und war dafür auch nicht ausgestattet. Sie zogen ab, um das Leben der Mönche zu retten und mussten die Klosteranlage den Aufständischen überlassen. Heute wäre das anders: Die Übung »Southern Landing Saber« des Einsatzbataillons ist die Antwort darauf. Innerhalb kurzer Zeit sperrt die vierte Kompanie des Einsatzbataillons die Straße ins Bistrica-Tal mit Checkpoints, um Zeit zu gewinnen bis Verstärkung kommt – aus der Luft. Mit ihren Hubschraubern fliegt die gemischte Heeresfliegerabteilung »Merkur« deutsche und österreichische CRC-Kräfte ins Tal. Auch für die Piloten ist es eine Herausforderung in dem engen Tal im Minutentakt Soldaten abzusetzen. Diese sperren den Zugang zum Kloster ab, als die Lage eskaliert. Doch selbst von brennenden Autoreifen und Molotowcocktails lassen sie sich nicht abschrecken. Mit dem Einsatz von Tränengas lösen sie schließlich die gewalttätige Demonstration auf.

Wie ein landender Säbel, 12.03.2009, http://www.einsatz.bundeswehr.de

Juni 2009

Am 17. und 18. Juni 2009 fand bei den Feldlagern in Vrelo (MNTF C) und Novo Selo (MNTF N) die Crowd and Riot Control-Übung »Balkan Hawk« statt, die größte Übung diesen Jahres. Ziel dieser Übung war es, ein sicheres Umfeld aufrecht zu erhalten und die Einrichtungen der EULEX sowie die kosovarischen Institutionen vor gewalttätigen Übergriffen zu schützen. Ebenso wichtig war es aber auch, die Pläne der Randalierer und ihre Bewegungen im Vorfeld zu enthüllen und zu registrieren.

Das Übungsszenario basierte auf tatsächlichen Ereignissen. Das Parlament der EU hatte beschlossen, Geld, das nach einer Pressemitteilung im Frühjahr in den Bau zweier Krankenhäuser fließen sollte, umzuwidmen, um damit ein Recycling-Zentrum einzurichten. Am Tag nach dieser Bekanntmachung berichteten kosovarische Radio- und Fernsehstationen von Zivilisten, die hierüber enttäuscht und wütend waren. In Reaktion auf die Nachrichten rief eine Vereinigung der Krankenhausangestellten (HWA) für den 17. Juni zu Demonstrationen und Aktionen gegen die EU, EULEX und das Ministerium für Umwelt und Raumplanung im Camp Vrelo auf.

Soldaten des tschechischen Kontingents mit CRC-Ausrüstung und gepanzerten Fahrzeugen standen bereit, um die französische Gendarmerie im Bedarfsfall zu unterstützen. Die Randalierer warfen halbvolle Plastikflaschen und Stöcke auf die Polizei, steckten Gegenstände in Brand und riefen der Gendarmerie aggressive Parolen entgegen. Der Einsatz von Tränengas war untersagt. Zugleich transportierten US-amerikanische Helikopter Verstärkung ins Einsatzgebiet – eine Abteilung der Multinational Specialized Unit (MSU).

Informationen gingen ein, nach denen die HWA-Aktivisten das EU-Verwaltungsbüro in Novo Selo angreifen wollten. Nachdem der erste Hubschrauber (Super Puma) mit einer Gruppe Soldaten der taktischen Reserve der KFOR ankam, lieferten drei Helikopter des Typs »Black Hawk« einer nach dem anderen drei französische Schützenpanzer (Véhicule blindé Léger, VBL) an Hängeseilen ab. Die Verhandlungen scheiterten, woraufhin es zu Zusammenstößen kam. Die KFOR (französische Soldaten) intervenierte, um die Situation zu stabilisieren.

Im Ergebnis lernten die Teilnehmer wertvolle Lektionen, um auf Situationen vorbereitet zu sein, in denen sie mit wütenden Menschenmengen konfrontiert sind, um zu antizipieren, was der Mob tun wird. Nicht zuletzt konnten sie ihre Techniken zur Crowd and Riot Control zu trainieren. Lieutenant Colonel Vadym Tymoshenko: The Balkan Hawk 2009 CRC Exercises (KFOR Cronicle, 30.6.2009).

August 2009

Nach einer gefühlten Ewigkeit in der Postenkette in der schweren CRC-Ausrüstung rann den Soldaten der Schweiß in Bächen unter dem Helm hervor in die Uniform. Die Darsteller der gewalttätigen Demonstranten überzeugten vollkommen. Selbst als unbeteiligter Beobachter bekam man die besondere Brisanz der Situation zu spüren, wenn etwa der Einsatz von Reizgas simuliert wurde, um die Gewalttäter abzuwehren, oder ein wahrer Hagelsturm von Wasserflaschen auf die Einsatzkräfte niederging.

Beeindruckend ebenfalls war der reibungslose Einsatz anderer Truppengattungen. So wurden Soldaten der Truppe für Operative Information im Feldlager Casablanca eingesetzt, um Botschaften des militärischen Führers vor Ort über Lautsprecher an die Demonstranten zu übermitteln. Ein Bild, das ebenfalls einen starken Eindruck hinterließ, waren die sechs Helikopter der Gemischten Heeresfliegerstaffel aus dem Feldlager in Toplicane, die gemeinsam mit deutschen Feldjägern Teilnehmer einer Tagung von internationalen zivilen Organisationen aus Suva Reka evakuierten. Stark auch der Einsatz von Piloten aus Deutschland, der Schweiz und Österreich, die sowohl Truppen ins Erzengelkloster einflogen als auch Zivilpersonen aus dem Feldlager Casablanca und der Ortschaft Zociste evakuierten.

Leutnant Tobias Strahl: Southern Rising Readiness – Die multinationale Einsatztruppe Süd ist gut ausgerüstet (Maz & More Nr. 533; August 2009).

Zwei Jahre nach dem Machtwechsel in Haiti

Zwei Jahre nach dem Machtwechsel in Haiti

Eine vorläufige Bilanz der internationalen Intervention

von Alexander King

General Urano Bacellar war Oberkommandeur der »Mission des Nations Unies pour la Stabilisation en Haïti« (MINUSTAH), der UN-Blauhelme, die seit dem 01. Juni 2004 in Haiti stationiert sind. Sein plötzlicher Tod am 07. Januar 2006 warf ein kurzes, grelles Schlaglicht auf eine Krise, die sonst eher im Schatten der internationalen Aufmerksamkeit steht. Auch wenn Bacellar offensichtlich durch eigene Hand starb – die MINUSTAH ist Teil eines andauernden gewaltsamen Konflikts.

Bis zu Bacellars Tod hatte die MINUSTAH bereits neun Tote in ihren Reihen zu beklagen.

Die Mission umfasst rund 9.300 Mann »uniformiertes Personal«, davon 7.500 Soldaten und 1.800 Polizisten. Ihr militärischer Teil steht unter brasilianischem Oberkommando. Der Missionschef ist ein Chilene: Juan Gabriel Valdés. Am militärischen Teil der MINUSTAH sind vor allem lateinamerikanische (neben Brasilien mit über 1.000 Mann noch Uruguay, Argentinien, Chile, Peru, Bolivien, Ecuador und Guatemala) und asiatische Staaten (Jordanien mit dem größten Kontingent von ca. 1.500, sowie Nepal, Sri Lanka, Philippinen, Malaysia und Jemen) beteiligt. An der Polizeimission nehmen außerdem zahlreiche afrikanische Staaten, aber auch die USA, Frankreich, Russland und China teil. Das Mandat der MINUSTAH wurde erstmals am 30. April 2004 in der Resolution des UN-Sicherheitsrats 1542 (2004) nach Artikel VII der UN-Charta erteilt. Ihr waren drei Aufgaben gestellt: Die Vorbereitung und Durchführung von demokratischen Wahlen, die Herstellung von Sicherheit und Stabilität sowie die Etablierung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Am 14. Februar 2006 wurde das Mandat zuletzt in der Resolution 1658 (2006) des UN-Sicherheitsrates um ein weiteres halbes Jahr bis Mitte August verlängert.

Zur Vorgeschichte

Am 29. Februar 2004 wurde der haitianische Präsident Jean-Bertrand Aristide außer Landes geflogen. Ob er freiwillig ging oder nur dem Druck der US-Soldaten folgte, die ihn in seiner Residenz in der Hauptstadt Port-au-Prince abholten, wird bis heute kontrovers diskutiert. Aristide sah sich zu diesem Zeitpunkt mit Aufständischen konfrontiert, die nahezu das gesamte Land überrannt hatten und nun vor den Toren der Hauptstadt standen. Der gewaltsame Machtwechsel wurde durch die Intervention einer multinationalen Eingreiftruppe am 1. März 2004 unter dem Oberkommando der USA und unter Beteiligung von Frankreich, Kanada und Chile flankiert. Der UN-Sicherheitsrat erteilte hierzu noch am selben Tag in der Resolution 1529 (2004) das Mandat, welches später auf die UN-Blauhelme überging.

Der Machtwechsel in Haiti war offensichtlich mit internationaler Beteiligung vorbereitet worden. Seit Herbst 2000, als Aristide in Haiti, genau wie Bush in den USA, in höchst umstrittenen Wahlen zum Präsidenten seines Landes gewählt wurde, hatten sich die US-amerikanisch-haitianischen Beziehungen deutlich verschlechtert. Während in Haiti eine politische Krise schwelte, die u.a. mit Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Senatswahlen im Mai 2000 zusammenhing, investierte die Bush-Administration in den Machtwechsel im Nachbarland – allein im Jahr 2003 – rund 1 Mill. US$. (Time, 15. März 2004)

Die US-Regierung konnte dabei leicht an berechtigtem Unmut über den zunehmenden Einsatz repressiver Mittel zur Herrschaftssicherung unter Aristide und an Enttäuschung über nicht eingelöste soziale Versprechen anknüpfen. Das US-amerikanische International Republican Institute (IRI) bemühte sich um ideologische Aufrüstung der haitianischen Opposition – unter anderem durch die Abhaltung von Seminaren, zu denen sie deren Vertreter nach Santo Domingo, der Hauptstadt der benachbarten Dominikanischen Republik, einlud. Dabei schwor das IRI die Regierungsgegner auf einen unversöhnlichen Kurs gegenüber Aristide ein, was erheblich zur Destabilisierung der Lage in Haiti beitrug. Auch ehemalige haitianische Militärs, die nach Auflösung der Armee durch Aristide 1995 in Opposition zu dessen Regierung oder ins Exil gegangen waren und deren aktives Eingreifen in den Konflikt schließlich zum Sturz der Regierung führte, hatten sich im Vorfeld der Revolte monatelang regelmäßig in Santo Domingo getroffen, um den Umsturz zu planen. Sie tagten im selben Hotel, in dem auch die Seminare für die zivile Opposition abgehalten wurden. (New York Times, 29. Januar 2006, vgl. auch KING 2004)

Die Interimregierung

Nach dem Umsturz setzte die US-Regierung eine Interimsregierung in Haiti ein, die an wichtigen Positionen mit US-Exilanten besetzt wurde. Aufgabe der Interimregierung sollte es sein, Wahlen und damit die Rückkehr zu einer verfassungsmäßigen Ordnung vorzubereiten. Neuer Regierungschef wurde Gérard Latortue, der zuvor fast 20 Jahre in den USA gelebt und dort eine Diplomatenkarriere durchlaufen hatte. Die Interimsregierung, deren Amtszeit nach den Wahlen vom 7. Februar 2006 ausläuft, hatte von Beginn an drei Probleme: Erstens fehlte ihr der Rückhalt in der Bevölkerung. Ihre Mitglieder waren weitgehend unbekannt und sie regierte ohne demokratische Legitimation. Zweitens wurde ihre Legitimität international angezweifelt. Die Gemeinschaft der Karibischen Staaten CARICOM suspendierte die Mitgliedschaft Haitis, weil sie in den Umständen des Regierungswechsels und der Beteiligung westlicher Staaten daran einen gefährlichen Präzedenzfall sah. Drittens hatte die Interimsregierung offensichtlich Schwierigkeiten, die Probleme der Menschen so anzupacken, wie diese es von ihr erwarteten. Das schlechte Krisenmanagement im Zusammenhang mit den beiden Flutkatastrophen im Frühjahr und Herbst 2004 wurde weithin als Zeichen für die große Distanz zwischen der Regierung und der Bevölkerung gedeutet. Symptomatisch für diese Entfremdung steht die Aussage von Lartortue, er beabsichtige nach dem Auslaufen seines Mandats sofort wieder nach Miami zurückzukehren. (Spiegel, 06. Februar 2006)

MINUSTAH als Stabilisator?

Haiti wurde kein sichererer Ort durch die internationale Einmischung. Die Gewalt eskalierte nach dem Sturz von Aristide. Seit Februar 2004 kamen über 1.600 Menschen gewaltsam ums Leben, darunter 78 Polizisten. Es gab bislang keinerlei ernsthafte Bemühung für die Einsammlung und Verschrottung von Handfeuerwaffen, von denen sich laut Amnesty International (Presseerklärung vom 28. Juli 2005) rund 200.000 in privatem Besitz befinden. Im Rahmen des Entwaffnungsprogramms der UNO, das seit Mai 2005 läuft, wurden lediglich 250 Waffen abgegeben. (Tagesspiegel, 08. Januar 2006) Offenbar gelangen immer neue Waffen – zum Teil auf legalem Weg im Rahmen lizenzierter Importe aus den USA – nach Haiti, wo sie in die Bewaffnung von Banden umgeleitet werden. (Oxfam, Januar 2006) Der allgemeinen Aufrüstung steht eine 5.000 Mann starke Nationalpolizei gegenüber, die einerseits nicht in der Lage ist, kriminelle Gewalt zu sanktionieren, und die andererseits in Teilen selbst in Gewalt und Korruption verstrickt ist. Bewohner von Belair, einem Slum im Zentrum der Hauptstadt, berichten davon, dass sie brutalster Gewalt von allen Seiten, einschließlich der Polizei ausgesetzt sind. (Oxfam, Januar 2006) Straflosigkeit – l’impunité – ist zu einem gängigen Begriff in Haiti geworden, der den Zustand vollkommener Rechtsfreiheit und das Ausgeliefertsein der Bewohner beschreibt.

Die MINUSTAH konnte die Gewalt nicht stoppen, im Gegenteil: Sie war von Beginn ihrer Mission an ein Teil des Problems. Der soziale Frust, der Unmut vor allem der ärmeren Bevölkerung über den Sturz »ihres« Präsidenten Aristide, der damit verbundene Protest gegen die UN-Besatzung und die hohe kriminelle Gewalt bilden vor allem in den Slums der Hauptstadt eine explosive Mischung. Cité Soleil ist ein solcher Unruheherd. Dort leben fast 500.000 Menschen in Armut. Die jordanischen UN-Soldaten, die dort für Ordnung sorgen sollen, sprechen nur arabisch und können die Bewohner nicht verstehen. Sie kennen die Strukturen nicht, in denen sie sich bewegen. Sie meiden den Kontakt zu den Menschen. Es kommt zu tödlichen Missverständnissen. Bei der Jagd auf Bandenanführer nimmt die MINUSTAH den Tod zahlreicher Unschuldiger in Kauf. (Spiegel, 06. Februar 2006) Dies alles führte dazu, dass die Slumbewohner die MINUSTAH als Bedrohung empfinden: „Wir haben weder zu essen noch zu trinken und die UNO schießt auf uns. Sie pferchen uns hier ein und behandeln uns wie wilde Tiere“ wird ein Anwohner zitiert. (The Economist, 04. Februar 2006)

Der Bourgeoisie hingegen ist die MINUSTAH zu »nachsichtig«. Die Handelskammer von Port-au-Prince rief im Januar einen »Generalstreik« aus und millionenschwere Geschäftsleute organisierten einen Sitzstreik vor dem UN-Hauptquartier, um ihrer Forderung nach einem energischeren Vorgehen der MINUSTAH gegen die so genannten Schimären Nachdruck zu verleihen. (Haïti Progrès, 18. Januar 2006) So nennen sie die Banden, denen sie eine Verbindung zum alten Lavalas-Regime unterstellen und die die Bewohner der vornehmen Halbhöhen- und Höhenlagen zunehmend durch Entführungen in Angst und Schrecken versetzen. Allein seit April 2005 wurden 1.900 Entführungen gemeldet. Diese gehen zwar meist glimpflich aus, verfehlen ihre psychologische Wirkung auf die Mittel- und Oberschichten jedoch nicht.

Die Wahlen: Chaotische Vorbereitung und spektakulärer Verlauf

Vorbereitung und Durchführung der Wahlen verliefen unter äußerst fragwürdigen Umständen, fanden aber ein gutes Ende. Ursprünglich auf den 13. November 2005 angesetzt, wurden die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zunächst auf den 20. November, dann – vage – auf Ende Dezember, schließlich auf den 8. Januar 2006 verschoben, nur um dann wiederum abgesagt zu werden. Letztlich fanden sie am 7. Februar 2006 statt. Die Verschiebungen hatten unterschiedlichste Gründe: Die Registrierung der Wähler verlief schleppend, bei der Herstellung und Verteilung der Wahlausweise, die in Mexiko angefertigt wurden, gab es ebenfalls Verzögerungen und auch die Einreichung der fälligen Unterstützerunterschriften für die Kandidaturen konnte nicht fristgerecht abgeschlossen werden.

Haitianische Medien (zum Beispiel Haïti en Marche, 31. Dezember 2005) vermuteten aber auch politische Hintergründe – vor allem hinter den zuletzt vorgenommenen Terminverschiebungen, die zeitlich mit dem Aufstieg eines Kandidaten zusammenfielen, der das Missfallen der USA, der Wahlkommission und der haitianischen Geschäftswelt erregte: René Préval, ehemaliger Präsident (1996 bis 2001) und politischer Partner von Aristide in der Bewegung (später Partei) Lavalas. Die Veröffentlichung einer Umfrage, nach der Préval mit großem Vorsprung vor seinen über 30 Mitwerbern führte, löste ein mittleres Erdbeben in der politischen Elite des Landes aus. Die gleiche Umfrage brachte zutage, dass 80 Prozent der Befragten der Meinung waren, die Regierung sei „auf einem falschen Weg“, nur 9 Prozent fanden, die Situation in Haiti hätte sich seit nach dem Sturz Aristides verbessert. (Haïti en Marche 12. Dez. 2005)

Die bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien fürchteten nun um ihren sicher geglaubten Triumph. Der Sozialdemokrat Micha Gaillard hatte noch im September 2005 erklärt, die Präsidentschaft müsse unter allen Umständen den »demokratischen« Kräften vorbehalten bleiben – und schloss die Repräsentanten früherer Lavalas-Regierungen ausdrücklich davon aus. (Haïti en Marche, 24. Sept. 2005)

Aber das Wählerpotenzial von Lavalas – wenn auch zersplittert – ist nach wie vor das einzige nennenswerte Elektorat in der haitianischen Gesellschaft. René Préval trat zwar nicht als Lavalas-Kandidat, sondern mit der neuen Formation Lespwa (kreolisch: Hoffnung) an, sprach aber genau jene Wahlbevölkerung – die Bewohner der Slums und die Bauern – an, die bislang in jeder freien Wahl die Mehrheit erbrachte. Der Wahlsieg von René Préval fiel denn auch deutlich aus: 51,2 Prozent im ersten Wahlgang. Sein nächster Verfolger, der Christdemokrat Leslie Manigat, erhielt 12 Prozent, Charles Baker, der Kandidat der Geschäftswelt, rund 8 Prozent. Für den sozialdemokratischen Kandidaten Serge Gilles votierten lediglich drei Prozent.

Das Politikangebot der Bourgeoisie, das mit internationaler Unterstützung (zum Beispiel durch die Konrad-Adenauer-Stiftung, die Friedrich-Ebert-Stiftung und das o.g. IRI) und nach europäischem Vorbild aufgebaut worden war, wurde auch in dieser Wahl von der Bevölkerung nicht angenommen. Die Enttäuschung der Bourgeoisie darüber könnte sich noch als konfliktträchtig erweisen. Charles Baker, ihr glückloser Kandidat, drohte bereits: „Wenn er [gemeint ist Préval] Präsident wird, bricht Chaos aus. Wir werden uns selbst verteidigen.“ Die Erfahrung lehrt, dass dies eine ernst zunehmende Warnung ist. Die Geschäftsleute drohten bereits im letzten Jahr, eigene bewaffnete Milizen aufzustellen, um die „Lavalas-Banditen zu töten“. (Haiti Information Projekt, 12. Juni 2005)

Ein anderes Haiti ist möglich

Die MINUSTAH war die falsche Antwort auf die Probleme Haitis. Haiti braucht Unterstützung auf seinem Weg in eine demokratische und zivile Zukunft. Die Absicht, Soldaten aus anderen Ländern der Dritten Welt nach Haiti zu schicken, blieb ein hilfloser Versuch. Der Aufbau ziviler Strukturen sollte sinnvoller Weise nicht von militärischen Apparaten begleitet werden. Soldaten aus Jordanien, den Philippinnen oder Sri Lanka können in Orten wie Cité Soleil »Freund« und »Feind« nicht unterscheiden. Kriminelle Banden bewegten sich ohne Einschränkung vor ihren Augen, während Zivilpersonen in ihr Visier gerieten. Haiti braucht:

Einen zivilen Aufbau

Die Polizei muss gestärkt und ein ziviles Programm zur Entwaffnung der Banden und Milizen muss entwickelt werden. Zu den vielen Versäumnissen der internationalen Präsenz in Haiti seit 2004 gehört, dass ausgerechnet in dieser Hinsicht keinerlei Fortschritte erzielt werden konnten. Gerade vor dem Hintergrund der oben angedeuteten möglichen Konflikte wäre dies aber die erste Voraussetzung für Frieden und Entwicklung in Haiti. Im Zuge der Bildung einer neuen, demokratisch legitimierten Regierung muss auch der mittelfristige Abzug der MINUSTAH vorbereitet werden. Diejenigen in der MINUSTAH und in der Nationalpolizei, die für den Tod ziviler Personen verantwortlich sind, müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Das wäre ein erster glaubwürdiger Beitrag zum Aufbau eines Rechtsstaats und ein Zeichen gegen die allgemeine Straflosigkeit.

Eine wirtschaftspolitische Umkehr

Die bisherige Fokussierung auf die exportorientierte Produktion in den Sweatshops entlang der dominikanischen Grenze und auf Zollabbau und Freihandel ist kein Konzept für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung. Die Löhne in den Sweatshops sind gering, Kaufkraft bildet sich kaum und der Mehrwert aus dieser Produktion wird ausschließlich im Ausland realisiert. Der Produktionsinput wird aus Importen bezogen. Eine Rückkopplung an die heimische Wirtschaft gibt es nicht. Die Zollsenkungen der 80er und 90er Jahre haben Haiti in ein wirtschaftliches Chaos geführt. (vgl. dazu KING 2005) Die Handwerksbetriebe und Landwirte des Landes müssen gestützt werden, statt sie einem aussichtslosen Wettbewerb gegen Billigimporte aus den USA und anderen Nachbarstaaten auszusetzen. Binnenmärkte müssen geschützt werden, um die Ernährungs- und Versorgungssouveränität im Land wiederherzustellen.

Stärkung staatlicher Strukturen

Das Paradigma der Privatisierung und Liberalisierung wurde Haiti jahrzehntelang von den multilateralen Banken oktroyiert. Die Folge: Ein schwacher Staat, der seinen Aufgaben nicht nachkommen kann. Staatliche Institutionen müssen finanziell und materiell besser ausgestattet, Personal im Öffentlichen Dienst muss – entgegen der Politik der 90er Jahre – aufgestockt und besser bezahlt werden.

Regionale Integration

Die Chancen, die sich durch die zunehmende politische und ökonomische Integration Lateinamerikas eröffnen, sollten auch Haiti zugänglich werden. Bislang stand Haiti außen vor, da in Port-au-Prince die US-Regierung den Ton angab. Das brasilianische Oberkommando in Haiti als ein Zeichen regionaler Integration zu deuten, käme dagegen einem Missverständnis gleich. Darin spiegelt sich lediglich eine neue machtpolitische Asymmetrie wider. Die brasilianische Regierung versucht, sich in Haiti für den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu empfehlen. Stattdessen gilt es, einige viel versprechende Ansätze der Zeit vor 2004 – zum Beispiel in der Zusammenarbeit mit Kuba und Venezuela auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet – wieder aufzunehmen. Ein Angebot der venezolanischen Regierung, Haiti in seine Initiative PetroCaribe (Energieabkommen Venezuelas mit rohstoffarmen Nachbarstaaten mit dem Ziel einer solidarischen Sicherstellung der möglichst autonomen Energieversorgung der Region) aufzunehmen, liegt bereits vor.

Literatur

King, A. (2004): 200 Jahre Haiti – 500 Jahre Globalisierung. Zum 200. Jahrestag der haitianischen Unabhängigkeitserklärung und zu den Hintergründen der aktuellen Krise in Haiti: Krisenjahr 2004. In: Z. – Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Nr. 58. Juni 2004. S. 177-183.

King, A. (2005): Räumliche Mobilität in Haiti zwischen Paysannerie und Weltmarkt. Wandel der Beziehungen zwischen Land, Stadt und Ausland unter dem Einfluss der Globalisierung am Beispiel des Verflechtungsraums von Cap-Haïtien. Tübingen. (= Tübinger Beiträge zur Geographischen Lateinamerikaforschung. Heft 27).

OXFAM (2006): The call for tough arms controls. Voices from Haiti. www.oxfam.org/en/files/doc_controlarms_haiti_060109/download

Dr. Alexander King ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Heike Hänsel. Seit 1996 beschäftigte er sich in mehreren Forschungsprojekten in Haiti mit Globalisierungsfolgen und Entwicklungsfragen. Im Herbst 2006 wird eine Dokumentation von King und Christine Scherzinger über unterschiedliche Fassetten der Globalisierung in der Karibik als Ergebnis einer Exkursion nach Trinidad & Tobago und Haiti erscheinen. Homepage (im Aufbau): www.geo-haiti.de

Fragwürdiger Frieden

Fragwürdiger Frieden

Die UN und die Westsahara

von Jürgen Nieth

Seit 30 Jahren hält Marokko die Westsahara völkerrechtswidrig besetzt. Die UN vermittelten vor 17 Jahren einen Waffenstillstand, der seitdem von UN-Blauhelmen überwacht wird. Ein fragwürdiger Frieden, denn die Probleme wurden in diesen Jahren nicht gelöst: Marokko verweigert nach wie vor dem Volk der Sahrauis die Selbstbestimmung, und die Mehrheit der Sahrauis lebt in Algerien in Flüchtlingslagern. Demokratische Proteste gegen diesen Zustand werden durch die marokkanische Polizei und Armee regelmäßig brutal niedergeschlagen. In dieser Situation findet unter den Sahrauis die Forderung nach Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes viele offene Ohren.

In der Nähe von Tindouf im Südwesten Algeriens, nahe der Grenzen zu Marokko, der Westsahara und Mauretanien, in einem der trockensten Gebiete der Sahara, leben 160.000 Flüchtlinge in großen Zeltstädten. Sahrauis, die hierhin vor dreißig Jahren vor den in die Westsahra einmarschierenden marokkanischen Truppen geflohen sind oder – und das dürfte schon die Mehrheit sein – hier geboren wurden. Im Lagerbild dominieren Frauen und Kinder,1 die meisten Männer sind in der Frente Polisario, der bewaffneten Befreiungsfront für die Westsahara. Sie leben überwiegend in den befreiten Gebieten, dem östlichen Teil der Westsahara, der an Mauretanien und Algerien grenzt und aus nichts als Wüste besteht. Der westliche Teil der Westsahara, mit seinen Bodenschätzen wie Öl, Eisen, Kupfer, mit einem der größten Phosphatvorkommen der Erde und mit der Atlantikküste und damit dem Zugang zu ertragreichen Fischgründen, ist von Marokko besetzt (siehe Karte S. 32).

Die gescheiterte Dekolonialisierung

Zu Beginn der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts können immer mehr ehemalige Kolonien in Afrika ihre nationale Unabhängigkeit durchsetzen. Nicht so die Kolonien der – damals noch – faschistischen Diktaturen Portugal und Spanien. Erst Mitte der siebziger Jahre ziehen sich Portugiesen und Spanier aus »ihren« afrikanischen Kolonien zurück. Aber für die ehemalige spanische Kolonie Westsahara – etwa so groß wie Deutschland – heißt das nicht Unabhängigkeit, sondern neue Besetzung. 1975 teilen Marokko und Mauretanien die Westsahara unter sich auf und Zehntausende Sahrauis flüchten vor den marokkanischen Truppen nach Algerien. Die Frente Polisario nimmt daraufhin den bewaffneten Kampf gegen die Invasionstruppen auf und proklamiert 1976 die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS), die in den Folgejahren von 72 Staaten anerkannt wird.

Der bewaffnete Kampf der Polisario ist in den ersten Jahren erfolgreich. 1979 gibt Mauretanien nach einem Waffenstillstandsabkommen seine Gebietsansprüche auf und zieht sich zurück. Darauf besetzt Marokko auch den südlichen Teil der Westsahara. 1981 steht Marokko vor der militärischen Niederlage, die es mit massiver US-amerikanischer und französischer Rüstungshilfe sowie dem Bau einer »Mauer« – eine 1.200 km lange Befestigungsanlage quer durch die Wüste aus Sandwällen, Mauern, Stacheldraht, einem 200 m breiten verminten Streifen und elektronischen Sicherungsanlagen – verhindern kann.

Interventionen der UN

Die erste Resolution der UN für die Unabhängigkeit der Westsahara stammt aus dem Jahr 1965. Damals wird die Westsahara auf die Liste der Länder gesetzt, die es zu entkolonialisieren gelte. Drei Jahre später fordern die Vereinten Nationen erfolglos Spanien auf, ein Referendum einzuleiten, dass die Selbstbestimmung des Landes garantiert. 1979 verurteilen die Vereinten Nationen die marokkanische Besetzung der Westahara, sie erkennen die Polisario als rechtmäßigen Vertreter des sahrauischen Volkes an. Zwei Positionen, die ein Jahr später in eine Resolution der UN-Vollversammlung aufgenommen werden, verbunden mit dem Aufruf zu direkten Verhandlungen zwischen Marokko und der Frente Polisario. In den Folgezeit wird diese Position fast jährlich in Resolutionen unterstrichen, ergänzt durch die Forderung nach Waffenstillstand und nach einem Referendum.

Doch wie schon Spanien 1968 ignoriert auch Marokko die von den UN gesetzten Termine. Erst 1988 akzeptieren Marokko und die Polisario einen UN-Friedensplan, der einen Waffenstillstand und die Durchführung eines Referendums vorsieht, indem die Bewohner der Westsahara über ihre Unabhängigkeit entscheiden sollen. Doch an der Frage, wer denn hier abstimmen darf, scheiden sich die Geister, und so wird das Referendum Jahr für Jahr verschoben. 1999 einigt man sich zwar auf die Bestimmung der Wahlberechtigten, Marokko blockiert aber trotzdem die Durchführung eines Referendums.

Nicht internationaler Druck auf Marokko – das sich nach wie vor auf die politische Unterstützung der USA und Frankreichs verlassen kann – ist die Folge, sondern ein Aufweichen der UN-Positionen. Obwohl der Internationale Gerichtshof sich schon 1975 mit der Westsahara befasst und jegliche Gebietsansprüche Marokkos und Mauretaniens als historisch nicht begründet zurückgewiesen hat, legt James Baker, einst US-Außenminister unter George Bush, sen. und von 1997 bis 2004 UN-Sondergesandter für die Westsahara, 2002 einen Plan vor, der entgegen den ursprünglichen UN-Positionen die Eingliederung der Westsahara in das Königreich Marokko vorsieht und den Sahrauis nur noch eine nicht näher definierte Autonomie verspricht. Ökonomischer Hintergrund: Kurz vorher gab es Berichte über riesige Erdölvorkommen vor der Küste der Westsahara, und die Erdölkonzerne McGee (USA) und Total S.A. (FR) hatten Prospektionsverträge mit der marokkanischen Regierung abgeschlossen.

Der Baker-Plan findet im Sicherheitsrat keine Mehrheit, stärkt aber durch seine Existenz die Position Marokkos. Ein modifizierter Plan Bakers (Baker-Plan II), der eine „begrenzte Autonomie unter eigener Verwaltung für vier bis fünf Jahre“ vorsieht, der dann ein Referendum folgen soll, findet dann 2003 auch die internationale Zustimmung.

Eine jahrzehntelange Einwanderung von Marokkanern in die Westsahara hat inzwischen die Sahrauis zur Minderheit im eigenen Land gemacht: 2005 wird die Zahl der Marokkaner, die in der Westsahara leben auf 400.000 geschätzt, die der Sahrauis auf 140.000 – hinzu kommen 160.000 in den Flüchtlingslagern. Bei einem Referendum kommt es also sehr darauf an, wer abstimmen darf. Der Baker-Plan II sieht vor: Alle Sahrauis, alle von Sahrauis abstammenden, und alle, die seit 1999 in der Westsahara leben. Der letzte Punkt dürfte einer Besatzungsmacht zahlreiche Manipulationsmöglichkeiten bieten.

Für die Sahrauis wird es also mit jedem Jahr schwerer, ein Referendum mit dem Ziel nationaler Unabhängigkeit zu gewinnen. Trotzdem stimmt die Polisario zu. Marokko aber lehnt den Plan ab, es ist offensichtlich nicht einmal zu einer begrenzten Autonomielösung bereit.

Dass die UN trotz der völkerrechtlich eindeutigen Lage und trotz der wiederholten Brüskierungen durch Marokko selbigem immer mehr entgegenkommt liegt wohl auch daran, dass eine wachsende Zahl von Regierungen das »Problem Westsahara« nur noch als Belastung betrachtet:

  • Seit 1991 überwachen 230 UN-Blauhelme die Einhaltung der Waffenstillstandsvereinbarungen. Das Mandat für die MINURSO (Mission des nations unies pour le referendum au Sahara occidental) wird seit Jahren immer wieder verlängert – seit 2002 immer nur um jeweils wenige Monate. Der längste UN-Einsatz nach Zypern und Palästina kostet bisher über 600 Millionen US-Dollar.2
  • Seit 30 Jahren liefern die Vereinten Nationen Lebensmittelhilfe in die Flüchtlingslager. Nicht ausreichend, nicht einmal 1.200 Kalorien pro Tag und Person und dies nicht immer regelmäßig und in vollem Umfang. Ohne NGOs, die mit Lebensmitteln und Medikamenten helfen, wäre das für die Menschen in den Lagern »zum Leben zu wenig, aber zum sterben zu viel«. International wird die geringe Lebensmittelhilfe der UN-Organisationen aber offensichtlich als eine Last empfunden.
  • Seit dem Waffenstillstand – d.h. seit nunmehr 17 Jahren – sind die Sahauris aus den Schlagzeilen verschwunden. Die Sahauris sind ein kleines Volk, gerade mal 300.000 Menschen, eine Größenordnung die vernachlässigbar scheint.

Vor diesem Hintergrund neigt wohl eine wachsende Zahl der Staaten dazu, dass dann, wenn sich die ursprünglichen, völkerrechtsmäßig abgesicherten Positionen – angesichts der unterschiedlichen Interessenlagen im Sicherheitsrat – nicht durchsetzen lassen, notfalls irgendein Kompromiss gefunden werden muss. Auch wenn der zu Lasten der Sahauris geht.

Das mag man Realpolitik nennen, doch diese Realpolitik ist nicht nur rechtlich und moralisch Kritik würdig, sie beinhaltet auch reale Gefahren.

Ziviler Widerstand oder bewaffneter Kampf

Die offizielle Politik der Regierung der DARS und der Führung der Frente Polisario setzt darauf, dass die UN-Resolutionen durchgesetzt werden und internationaler Druck Marokko doch noch zum Rückzug aus der Westsahara zwingt. Die bewaffneten Einheiten der Polisario sind wohl in erster Linie ein politisches Druckmittel. Es ist kaum vorstellbar, dass die Polisario angesichts einer hochausgerüsteten und zahlenmäßig weit überlegenen marokkanischen Armee, die sich u. U. amerikanischer Satelliten zur Gefechtsfeldbeobachtung bedienen kann, die offene militärische Auseinandersetzung sucht. Dass die Regierung der DARS und die führenden Funktionäre der Polisario keine Neuauflage des bewaffneten Kampfes wollen, unterstreicht auch die Tatsache, dass die Polisario – trotz des gewaltsamen Vorgehens der Marokkaner gegen sahrauische Demonstranten – im August 2005 als »Friedensgeste« die letzten 404 marokkanischen Kriegsgefangenen freigelassen hat. Kriegsgefangene, die sie zum Teil seit über 20 Jahren in ihrer Gewalt hatte.3

Die Stimmung an der Basis, vor allem unter der Jugend, ist aber eine andere. Die Perspektivlosigkeit des Lebens in Flüchtlingslagern, die Frustration über die als »Untätigkeit« oder »Umfallen« wahrgenommene Politik der UN befördern die Tendenz zum aktiven Widerstand, und das heißt für viele: Bewaffneter Kampf.

Manche Beobachter befürchten bereits, dass in der Maghrebregion ein neuer Stützpunkt islamistischer Fundamentalisten entstehen könnte. Die Situation in den sahrauischen Flüchtlingslagern widerspricht dem. Auch nach 30 Jahren Lager sind die Sahrauis sehr stolz und selbstbewusst. Es gibt keine nennenswerte Emigration. Sie haben unter diesen widrigen Umständen demokratische Strukturen aufgebaut, von der Nahrungsmittelverteilung bis hin zu Wahlen, und soziale Strukturen, die eine medizinische und schulische Grundversorgung beinhalten. Mädchen und Jungen werden gemeinsam unterrichtet. Aufgeklärte Frauen bestimmen den Alltag: Sie stellen Bürgermeisterinnen, es gibt Frauenbeauftragte, ein großer Teil der Ärztinnen hat in Kuba studiert, Lehrerinnen vor allem in Spanien und Algerien. Ehen könne geschieden werden, die Frau behält dann das materiell Wichtigste, das Zelt. Gegen einen islamistischen Fundamentalismus spricht auch die Geschichte der Polisario, die sich Anfang der 70er Jahre als antikoloniale und sozialistische Bewegung gründete. Trotzdem besteht die Gefahr, dass der Fundamentalismus angesichts einer Hoffnungslosigkeit in den Lagern an Einfluss gewinnt, dass islamistische Gruppen neben den Strukturen der Polisario entstehen und operieren.

Bleibt die Internationale Staatengemeinschaft bei ihrer Politik der »Resolutionen ohne Folgen« und kommt es nicht zu einer Verstärkung des Drucks auf Marokko mit dem Ziel einer zivilen Lösung des Konflikts, dann wird jede Regierung der Sahrauis zum Handeln gezwungen. Ein erster Schritt ist die Verstärkung der Protestaktionen in den besetzten Gebieten der Westsahara und in Marokko. Marokko reagiert mit äußerster Härte: Am 28. Juni 2005 werden drei Jugendliche zu insgesamt 50 Jahren Haft verurteilt. Ihr Vergehen: Sie sollen „Es lebe der Friede“ und „Es lebe die Unabhängigkeit“ gerufen sowie ein Hoch auf die Befreiungsbewegung Polisario ausgebracht haben, während sie die anrückende Polizei mit Steinen empfangen.4 In Folgeprozessen werden 21 weitere Personen nach Protestaktionen zu insgesamt 124 Jahren Haft verurteilt. Noch machen diese Protestaktionen einen unkoordinierten Eindruck, doch nach der brutalen Unterdrückung der demokratischen Proteste durch marokkanisches Militär sprechen auch Vertreter der Polisario von einer beginnenden »Intifada«.

Sollten in dieser Situation Befürworter von bewaffneten (Selbstmord-)Anschlägen an Einfluss gewinnen, dann wird wieder von der wachsenden Gefahr des Terrorismus gesprochen werden. Und mit Sicherheit werden weder der marokkanische König und seine militärische Kaste, noch deren Unterstützer in Paris und Washington einsehen, dass sie diese »Terroristen« produziert haben.

Und die Vereinten Nationen? Sie können dann vielleicht auf eine jahrelange erfolgreiche Waffenstillstandskontrolle zurückblicken. Ein fragwürdiger Frieden, in dem die wirklichen Probleme nicht konsequent angepackt und gelöst wurden. Das Ergebnis: Eine neue Krisenregion!

UN-Militäreinsätze und deutsche Beteiligung

Auf den beiden folgenden Seiten veröffentlichen wir eine Weltkarte, die die gegenwärtigen UN-Militäreinsätze und die deutsche Beteiligung verzeichnet. Erstellt wurde die Karte vom »Berliner Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF)«.

Das ZIF wurde im April 2002 in engem Zusammenwirken von Bundesregierung und Bundestag gegründet. Seine Aufgabe ist es, zur Stärkung internationaler ziviler Kapazitäten zur Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung durch insbesondere die folgenden Maßnahmen beizutragen:

  • Training von zivilen Fach- und Führungskräften für internationale Friedens- und Beobachtungseinsätze, die von den Vereinten Nationen (UNO), der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Europäischen Union (EU) oder anderen internationalen Einrichtungen beschlossen oder durchgeführt werden.
  • Aufbau und Pflege einer Reserve von deutschem zivilen Fach- und Führungspersonal zur schnellen und gezielten Bereitstellung für solche Einsätze.
  • Rekrutierung, Betreuung und Nachbetreuung des eingesetzten Personals.
  • Unabhängige wissenschaftliche Analyse, Erarbeitung von Lessons Learned und Best Practices, Beratung und Information, Durchführung von Seminaren und Konferenzen etc.

Das ZIF ist eine gemeinnützige GmbH. Gesellschafter ist die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Auswärtige Amt. Geschäftsführer ist Dr. Winrich Kühne.

Nähere Informationen: Zentrum für Internationale Friedenseinsätze, Ludwigkirchplatz 3-4, 10719 Berlin, Tel.: 030-5200565-0, www.zif-berlin.org

Anmerkungen

1) Der Autor besuchte 2001 die Flüchtlingslager der Sahrauis im Südwesten Algeriens und Einheiten der Frente Polisario in den befreiten Gebieten der Westsahara.

2) Axel Goldau: Westsahra weit entfernt von Unabhängigkeit, in Neues Deutschland, 17. Mai 2004

3) Polisario lässt die letzten marokkanischen Gefangenen frei, FAZ 19.08.2005

4) Reiner Wandler: Hohe Haftstrafen in der Westsahara, in Tageszeitung vom 30.06.2005; Leo Wieland: Es gärt in der Westsahara, FAZ 18.07.2005

Jürgen Nieth ist verantwortlicher Redakteur von Wissenschaft und Frieden