Jesus‘ Weg zum Frieden!

Jesus‘ Weg zum Frieden!

Soziales Leben guatemaltekischer Jugendlicher in Zeiten der Gewalt

von Sara Seifried

Die Gewaltrate in Guatemala ist hoch, auch zwanzig Jahre nach dem Bürgerkrieg. Das hat Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft, führt zu einer Kultur der Angst und zum Rückzug ins private Leben. Für junge Menschen ist das besonders einschneidend, denn es sind zwar oft junge Männer die Täter, aber eben auch die Opfer der Gewalt. Welche Konsequenzen hat dies für ihren Alltag, wie gestalten sie ihre Freizeit und ihr soziales Leben? Dies hat Sara Seifried erkundet.

Es ist Samstagabend. Nach einem langen Tag zu Hause macht sich eine junge Frau bereit, um wegzugehen. Schon den ganzen Tag hat sie sich hierauf gefreut. Vielleicht wird auch der attraktive Junge wieder dort sein? Sie nimmt die schöne Bluse aus dem Schrank, die Haare sind perfekt geglättet und verbreiten einen frischen Duft. Um 20 Uhr wird sie abgeholt. Ihre Eltern haben trotz der hohen Gewaltrate in der Nachbarschaft, der häufigen Frauenmorde und obwohl sie den Begleiter ihrer Tochter kaum kennen, keine Bedenken und wünschen ihrer Tochter einen schönen Abend, als sie ins Auto steigt. Nach kurzer Fahrt halten sie vor einem großen Garagentor. Man hört die Musik bereits von außen, und sie sind nicht die einzigen, die auf den Eingang zusteuern. Es ist Samstagabend, Zeit für den Gottesdienst der jungen »evangélicos«.

Kirchenbesuche sind Alltag für viele junge Erwachsene in Guatemala. In einem Staat, der in den westlichen Medien vorwiegend dann Erwähnung findet, wenn es um fragwürdige Politik oder das unaufhörliche Morden im Zuge des so genannten Drogenkrieges geht, scheint die Fokussierung auf christliche Nächstenliebe auf den ersten Blick paradox: Denn welchen Stellenwert kann das religiöse Leben haben, wenn gleichzeitig ein Menschenleben so wenig wert zu sein scheint?

Die Medien berichten seit Jahren über die vielen Gewaltopfer. Obwohl das zentralamerikanische Land den blutigen Bürgerkrieg vor bald 20 Jahren beendet hat, ist die Gewaltrate seither nicht rückläufig. Guatemala gilt, gemessen an den Homizidraten, als eines der gewalttätigsten Länder der Welt (Global Peace Index 2012). Im Gegensatz zu den Bürgerkriegsjahren mit ihrer politisch motivierten Gewalt dominiert heute jedoch die Gewaltkriminalität. Hierfür werden vor allem der Drogenhandel, die Bandenkriminalität sowie fehlende staatliche Strukturen der Strafverfolgung verantwortlich gemacht (vgl. u.a. Zinecker 2006). Die daraus resultierende, scheinbar willkürliche Gewalt und eine niedrige Hemmschwelle zur Gewaltanwendung führen zu einer großen Verunsicherung in der guatemaltekischen Bevölkerung. Dies wirkt sich auch auf das soziale Zusammenleben aus. So herrscht verbreitet gegenseitiges Misstrauen, ein Verhaltensmuster, welches die Bürgerkriegszeit überdauert hat.1 Dennoch versuchen die Menschen auch unter diesen erschwerten Bedingungen, sich einen Alltag zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Junge Erwachsene sind bei der Gestaltung ihres Alltags angesichts der hohen Gewaltintensität besonders gefordert, da sich viele ihre altersgemäßen Verhaltensmuster eigentlich im öffentlichen Raum abspielen, der als besonders gefährlich gilt. So stellen scheinbar einfache Unterfangen wie die Cliquenbildung oder die Zusammenkunft mit einem Mädchen bzw. einem Jungen ernstzunehmende Herausforderungen dar.

Alltägliche Gewalt und jugendlicher Alltag

Junge Erwachsene sind in vielfacher Weise und in besonderem Maße von der neuen Gewalt in Guatemala betroffen. So stellen junge Männer nicht nur die häufigste Tätergruppe dar, sondern fallen den Verbrechen auch am häufigsten zum Opfer (vgl. u.a. Moser und McIlwaine 2004).

Die Jugendgewalt ist ein spezifisches Merkmal des neuen Gewaltphänomens in Guatemala (vgl. hierzu u.a. Winton 2005). Straßengangs, so genannte »maras«, die vorwiegend in größeren Städten präsent sind, gelten heute als eines der wichtigsten sozialen Probleme in Zentralamerika. In ihnen finden perspektivlose Jugendliche eine Art Bruderschaft und Loyalität, die sie in der breiten Gesellschaft nicht antreffen. Diese Jugendgangs werden von der Regierung für eine Vielzahl an Delikten verantwortlich gemacht, die von Gewaltanwendung bei Rivalitätskämpfen bis hin zur Schutzgelderpressung reichen. Während die Bandenkriminalität vorwiegend ein urbanes Phänomen ist, sind junge Erwachsene in einem eher ländlichen Umfeld hauptsächlich aufgrund des Drogenhandels von der neuen Gewalt betroffen.

Die diesem Artikel zugrunde liegende Feldforschung hat gezeigt, dass im kleinstädtischen Kontext die jugendliche Lebenswelt maßgeblich durch den Drogenhandel beeinflusst wird. Dies in zweifacher Weise: Einerseits bietet der Drogenhandel insbesondere für Jugendliche, die auf dem beschränkten Arbeitsmarkt meist keine Anstellung finden, eine Einkommensquelle. In der Kleinstadt sind die Chancen für Schulabgänger, eine feste, bezahlte Anstellung zu finden, schlecht. Die wenigen Mittelschulen bieten nur eine kleine Auswahl an Ausbildungsschwerpunkten an, weshalb jedes Jahr zahlreiche Sekretärinnen, Lehrerinnen und Buchhalterinnen die Schule verlassen, für die es keinen Arbeitsmarkt gibt. Für Jugendliche wird es in dieser Lebensphase zunehmend schwierig, sich von den Eltern zu emanzipieren. Nicht selten sehen junge Erwachsenen deshalb in der Drogenökonomie eine wirtschaftliche Perspektive und in der Beteiligung am Drogenhandel – wenn auch nur als Kleinstakteur – die Gelegenheit, sich in absehbarer Zeit eine eigene Existenz aufzubauen. Das kriminelle Verhalten eines Teils der Jugendlichen führt gleichzeitig zu einer Stigmatisierung und Kriminalisierung der ganzen Gruppe. Eine junge Frau kommentierte dies wie folgt: „ Die Jungen wollen nicht mehr so hart arbeiten. Deshalb mischen sie dort mit, und was dabei herauskommt, ist die Gewalt. Heute gibt es den Spruch »Besser ein Jahr wie ein König leben, als zehn wie ein Armer«. Tja, an diesen Punkt sind sie gelangt!“ (Seifried 2012, S.62). Durch die aktive Mitwirkung der jungen Erwachsenen am Drogenmarkt werden sie auch zu Akteuren der damit verbundenen Drogengewalt.

Selbst ohne direkte Beteiligung am Drogenhandel wird die jugendliche Lebenswelt allerdings schon durch die bloße Präsenz des Drogenmarktes beeinflusst. Insbesondere wurden die Möglichkeiten der Jugendlichen zur Gestaltung ihres sozialen Lebens in den letzten Jahren stark eingeschränkt.

Das soziale Leben: von der Straße ins Innere des Hauses

Was also bedeutet Alltag für einen guatemaltekischen Jugendlichen in der Kleinstadt, und welches sind die Themen, die ihn im Hinblick auf sein soziales Leben beschäftigen? Letztere unterscheiden sich kaum von den Bedürfnissen der Jugendlichen in Europa oder anderswo: Wichtig ist die Freizeit mit Freunden und die Suche nach einem Partner. Der Alltag sieht jedoch anders aus. Junge Erwachsene im kleinstädtischen Kontext, insbesondere junge Frauen, sind einer starken Kontrolle des elterlichen Heims ausgesetzt. Es ist üblich, dass sich ein Großteil der Freizeit um das Elternhaus herum ansiedelt und strikten moralischen Regeln unterworfen ist. Nicht nur die Eltern, sondern allgemein die Gemeinschaft beobachten das Verhalten der Jugendlichen, um diese vor den vielen Gefahren im öffentlichen Raum zu bewahren. Diese große soziale Kontrolle ist jedoch nur teilweise erfolgreich und führt dazu, dass Aktivitäten mit Freunden sowie Liebeleien oftmals im Geheimen und unter großem Planungsaufwand stattfinden. An neutralen Orten, fern der kontrollierten Sphäre des eigenen Zuhauses, wird Alkohol getrunken, und es werden die ersten sexuellen Erfahrungen gemacht.

Dieser öffentliche und neutrale Raum allerdings hat sich im Verlauf der letzten Jahre stark verändert. Gewaltausbrüche häufen sich, und der Machtkampf im Drogenhandel wird vermehrt auch in der Öffentlichkeit ausgetragen. Am helllichten Tage kommt es zu Schießereien auf öffentlichen Plätzen, und der enge kleinstädtische Kontext macht es zunehmend schwierig, sich der Gefahr zu entziehen. Sinnbild dieser Veränderung ist die Straße. Aufgrund der zunehmenden Gefährdung hat sich das soziale Leben bzw. der soziale Alltag in den letzten Jahren von der Straße ins Innere des Hauses verschoben. Während noch vor wenigen Jahren die Menschen abends vor ihren Häusern saßen und sich mit ihren Nachbarn austauschten, bleiben jetzt die Haustüren abends geschlossen. Die Straße hat ihre Bedeutung als sozialer Treffpunkt eingebüßt und wird nun als gefährlicher Raum wahrgenommen. Dies hat zur Folge, dass sich die sozialen Kontakte der Menschen nur noch auf wenige Sphären reduzieren: Die Schul- und Arbeitskollegen gewinnen am Tag und das eigene Haus nach Einbruch der Dunkelheit an Bedeutung. Die Möglichkeiten für Jugendliche, sich außerhalb der elterlichen oder schulischen Kontrolle einen sozialen Alltag aufzubauen, sind dadurch erheblich eingeschränkt.

Kulturelles Leben ohne Schönheitsköniginnen und Tanzfeste?

Für junge Erwachsene wirkt sich dies u.a. in Hinblick auf kulturelle Veranstaltungen aus. Monatliche Tanzfeste galten lange Jahre als die wichtigsten und traditionsreichsten kulturellen Anlässe. Diese boten den jungen Leuten eine der seltenen Gelegenheiten, in einem ungezwungenen Umfeld zusammen einen Abend zu verbringen und sich näher kennen zu lernen. Ebenso bedeutend waren für viele junge Guatemaltekinnen die Anlässe rund um die Wahlen der diversen Schönheitsköniginnen. Sie boten den gut behüteten jungen Frauen eine Plattform, sich ganz offiziell von ihrer Schokoladenseite zu zeigen und damit für einen Moment die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch auch hier sind schleichend Veränderungen aufgetreten: Zunehmend tauchten Schusswaffen in den Tanzlokalen auf, woraufhin die Eltern die Teilnahme verboten. Seit etwa drei Jahren finden diese Tanzabende daher kaum mehr statt.

Auch wenn dies den Eindruck vermitteln könnte, dass die kleinstädtische Jugend Guatemalas ihr soziales Leben fast komplett eingebüßt hat, so bestehen dennoch weiterhin Freundesnetzwerke und es finden Hochzeiten statt. Das soziale Leben junger Erwachsener findet unter den erschwerten Umständen also anderswo statt.

Evangelikale Kirchen als Ort der Vergemeinschaftung

Guatemala sieht sich, entsprechend der allgemeinen Tendenz in Lateinamerika, mit einer starken Ausbreitung evangelikaler Kirchen konfrontiert und verfügt mittlerweile über eine der größten evangelikalen Bevölkerungen in Lateinamerika (Freston 1993; Steigenga und Cleary 2007). Insbesondere junge Menschen fühlen sich von diesen neuen Kirchen angezogen und nehmen in der Folge die dafür typischen Lebensweisen an. Dies zeigt das Beispiel von Laura.2 Früher war sie eine leidenschaftliche Tänzerin, die jeden Tanzabend besuchte und es liebte, mit ihren Freundinnen ein paar geheime Gläser Rum zu trinken. Die »evangélicos« waren für sie eine andere Welt, deren Lebensweise für sie nicht nachvollziehbar. Heute besucht sie selbst eine solche Gemeinde. Sie sagt, dass sie innerhalb der Kirche alles findet, was sie braucht: Freunde, Familie und ein soziales Netz, das sie trägt. Ebenfalls pragmatisch sieht es Mariana. Noch vor ein paar Jahren war auch sie keinem Fest abgeneigt. Heute verlässt sie ihr Haus nur, um zur Arbeit zu gehen oder die Kirche zu besuchen. Für sie bietet der Besuch des Gottesdienstes die seltene Gelegenheit, soziale Kontakte zu pflegen. Zudem erhöhen sich für die allein erziehende Mutter dadurch die Chancen, mittels Einbindung in ein festes kirchliches Netzwerk mittelfristig einen neuen Partner zu finden, was ansonsten schwierig wäre.

Früher war der Katholizismus auch in dieser Kleinstadt stark verankert, er verliert aber zunehmend an Anhängern, während sich die Menschen den neuen evangelikalen Kirchen, meist Pfingstgemeinden, zuwenden. Diese vermitteln den Gläubigen ein stärkeres Gefühl von Sicherheit und entsprechen damit einem wichtigen Bedürfnis. Zum einen aufgrund ihrer moralischen Lebensweise: Im Gegensatz zu den Katholiken verzichten die »evangélicos« auf Alkohol und andere narkotisierende Substanzen, und sie entsagen der weltlichen Musik, die sich in ihren Augen zu häufig um Sex und unsittliche Themen dreht. Sie wählen ihr Umfeld mit Bedacht aus und verurteilen jegliche Form von Gewalt: So geht in ihren Augen der Katholik, nachdem er getötet hat, in die Kirche und beichtet. Der gute Christ hingegen töte gar nicht erst. Bewegen sich Jugendliche in diesem Umfeld, genießen sie ein größeres Vertrauen seitens der Familie und des Umfelds. Zum anderen ist im Kontext der allgemeinen Unsicherheit die starke Einbindung in die religiöse Gemeinschaft für viele Gläubige ein wichtiges Anliegen. So ist es fast täglich möglich, an einem Gottesdienst oder einem Gruppentreffen teilzunehmen. Es finden auch nicht-religiöse Aktivitäten, wie gemeinsame Mittagessen oder Ausflüge, statt. Damit springt die Kirche auch dort ein, wo zuvor andere soziale Treffpunkte vorhanden waren. Die Kirche wird zu einem Ort, an dem »gute Christen« einander treffen und regelmäßig Zeit miteinander verbringen. Für Jugendliche schaffen evangelikale Kirchen somit einen neuen – und aufgrund der alltäglichen Gewalt beinahe alternativlosen – Raum, in dem sie Kontakte mit Gleichaltrigen knüpfen und vertiefen können.

Die Ausbreitung der evangelikalen Kirchen scheint in Guatemala ungebremst. Für viele junge Menschen, die ihre Lebensziele noch nicht verwirklicht sehen, sind diese Gemeinschaften ein Fels in der Brandung und erreichen sie mit ihren Angeboten zum richtigen Zeitpunkt. Denn sie füllen eine Lücke, die sich in den letzten Jahren aufgrund der gewalttätigen Vorkommnisse und der Veränderung des öffentlichen Raumes auftat und die die Jugendlichen in ihrer Selbstverwirklichung stark einschränkt. Ob ihre Hinwendung zu den »neuen« Kirchen aus religiöser Überzeugung, aus pragmatischen Überlegungen oder aus Zufall stattfindet, scheint für sie selbst keine Rolle zu spielen. Denn das Resultat ist dasselbe: Sie werden gute Christen, und diese töten nicht. Damit schaffen sie sich ihr sicheres Guatemala – wenn auch nur im Privaten.

Literatur

Cárdenas, María und Philipp Schultheiss (2013): Das zerrissene Geflecht der Seele. Langzeitfolgen des Konflikts in Guatemala. Wissenschaft & Frieden 2-2013, S.6-9.

Freston, Paul (1993): Pentecostalism in Latin America: Characteristics and Controversies. Social Compass 45 (3), S.335-358.

Global Peace Index 2012: Guatemala; www.visionofhumanity.org/gpi-data>.

Moser, Caroline O.N. und Cathy McIlwaine (2004): Encounters with Violence in Latin America. Urban Poor Perceptions from Colombia and Guatemala. New York and London: Routledge

Seifried, Sara (2011): La gente tiene el espíritu de salir adelante! Krise und Migration. Der Umgang mit neuer Unsicherheit im peri-urbanen Guatemala. (unveröffentlichte Masterarbeit).

Steigenga Timothy J. and Edward L. Cleary (eds.) (2007): Conversion of a Continent. New Brunswick: Rutgers.

Winton, Ailsa (2005): Youth, Gangs and Violence: Analysing the Social and Spatial Mobility of Young People in Guatemala City. Children’s Geographies 3 (2), S.167-184.

Zinecker, Heidrun (2006): Gewalt im Frieden. Formen und Ursachen der Nachkriegsgewalt in Guatemala. Frankfurt a.M.: HSFK-Report 8/2006.

Anmerkungen

1) Zu den Langzeitfolgen des bewaffneten Konflikts in Guatemala vgl. María Cárdenas und Philipp Schultheiss: Das zerissene Geflecht der Seele. Langzeitfolgen des Konflikts in Guatemala. W&F 2-2013, S.6-9.

2) Der Artikel beruht auf Ergebnissen einer zweimonatigen Feldforschung der Autorin im Frühjahr 2011 im Rahmen ihrer Masterarbeit »Krise und Migration. Der Umgang mit neuer Unsicherheit im peri-urbanen Guatemala«. In dessen Verlauf wurden qualitative Einzelinterviews, Experteninterviews und Gruppendiskussionen in Schulen durchgeführt.

Sara Seifried ist Sozialanthropologin M.A. und arbeitet als Doktorandin am Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern. Ihre Schwerpunkte sind Konflikt- und Gewaltanthropologie, Vertrauen, evangelikale Kirchen und die Nutzung öffentlicher Räume in Zentralamerika.

Der Innenminister kann’s nicht lassen

Der Innenminister kann's nicht lassen

von Walter Popp

Am 8. März hat das Bundeskabinett den Entwurf eines »Gesetzes zur Ergänzung des Katastrophenschutzgesetzes und anderer Vorschriften (Katastrophenschutzergänzungsgesetz – KatSErgG)« verabschiedet. Wenn der neue Innenminister Schäuble es sich nicht anders überlegt, wird der Gesetzentwurf noch im Frühjahr in den Bundestag eingebracht werden. Das geplante Katastrophenschutzergänzungsgesetz hat mit Katastrophen nur den Namen gemein. Es bezieht sich nämlich ausschließlich auf den sogenannten »erweiterten Katastrophenschutz«, darunter wird aber seit den sechziger Jahren der Zivilschutz verstanden. Zivilschutz wiederum ist Bestandteil der Zivilen Verteidigung und damit auch der Gesamtverteidigung. Das Katastrophenschutzergänzungsgesetz ist also nichts als ein verbrämtes Zivilschutzgesetz. Etwas anderes könnte der Bund auch gar nicht regeln, da er nach dem Grundgesetz lediglich für den Verteidigungsbereich die Gesetzgebungskompetenz hat. Für die Katastrophen im Frieden sind dagegen ausschließlich die Länder zuständig.

Schon 1980 hatten alle Bundestagsparteien (also damals auch die SPD) beschlossen, die Zivilschutzgesetzgebung zu vereinheitlichen und zu novellieren. Seitdem gab es mehrere Anläufe dazu: die SPD/FDP-Regierung versuchte es mit einem Gesundheitssicherstellungsgesetz, die CDU-Regierung danach mit verschiedenen Entwürfen für ein Zivilschutzgesetz. Alle diese Anläufe scheiterten bisher: teils lag es am Widerstand in der Bevölkerung, teils am Widerstand betroffener Institutionen und Organisationen (z.B. der Hilfsorganisationen wie DRK, Johanniter-Unfall-Hilfe usw.), teils an mangelnder Finanzierbarkeit. Gerade letzteres zwang die jetzige Bundesregierung, nun endgültig auf ihre jahrelang gehegten Pläne für eine allgemeine Bunkerbaupflicht zu verzichten.

Der Entwurf des Katastrophenschutzergänzungsgesetzes

So ist das jetzt vorliegende Katastrophenschutzergänzungsgesetz abgespeckt auf das gegenwärtig Machbare. Dem Anspruch der Bundestagsresolution von 1980 wird es auf keinen Fall mehr gerecht: lediglich Veränderungen am Katastrophenschutzgesetz von 1968 und am Beamtenrechtsrahmengesetz sind noch vorgesehen.

Wesentliche Inhalte des geplanten Gesetzes sind:

  1. Eine allgemeine Zivilschutzdienstpflicht – »persönliche Hilfeleistungen« nennt sich das im Gesetz – soll eingeführt werden, wie es sie schon als Luftschutzdienstpflicht unter den Nazis gab. Demnach können alle Männer und Frauen zwischen 18 und 60 Jahren zur Hilfe im Zivilschutz zwangsverpflichtet werden. Dies erscheint sehr fragwürdig im Hinblick auf das Grundgesetz, denn nach der Verfassung dürfen Frauen im Verteidigungsfall nur im Bereich des Gesundheitswesens eingesetzt werden. Ohnehin ist die Regelung im Gesetz für praktische Vorbereitungen der Zivilschützer wenig hilfreich: die Heranziehung ist nur im »Einsatzfall« – sprich im Krieg – möglich, sie darf zehn Tage im Vierteljahr nicht überschreiten.
  2. umfangreichsten Passagen des Gesetzes beziehen sich auf das Gesundheitswesen. Die Katastrophenschutzbehörden werden demnach beauftragt, die „gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung im Verteidigungsfalle zu planen“. So sollen sie „Nutzungs- und Erweiterungsmöglichkeiten der vorhandenen Einrichtungen“ – sprich Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte, Apotheken, Rettungsdienste usw. – ermitteln, ebenso den „voraussichtlichen personellen und sächlichen Bedarf“ und all dies nach oben „melden“. Eine enge Abstimmung mit dem Sanitätswesen der Bundeswehr wird vorgeschrieben. Die Ärztekammern, Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenhäuser werden zur Mitarbeit verpflichtet. Ebenso müssen die niedergelassenen Ärzte, die Krankenhäuser und Apotheken den Katastrophenschutzbehörden „auf Verlangen Auskünfte“ erteilen sowie „das Betreten ihrer Geschäfts- und Betriebsräume“ dulden. Die Krankenhäuser müssen Alarmpläne für den Kriegsfall erstellen. Darüberhinaus können alle geplanten Maßnahmen der "Umstellung des Gesundheitswesens" – sprich Zwangsräumungen von Betten, Triage in den Aufnahmestationen usw. – bereits im Frieden angeordnet werden; erforderlich ist dazu nur, daß die Bundesregierung eine außenpolitische »Krise« sieht, die ja bekanntlich grundgesetzlich nicht definiert ist.

Gerade zur Planung des Gesundheitswesens für den Kriegsfall muß jedoch kritisch angemerkt werden: eine derartige Planung ist nur möglich, wenn bestimmte Szenarien vorgegeben werden. Bis zum heutigen Tag hat noch keine Bundesregierung derartiges gewagt. Führende Katastrophenschützer sind sich einig, daß auch in Zukunft keine Bundesregierung derartiges wagen wird. Es hätte nämlich zur Folge, daß tatsächlich ein »realistischer« Bedarf an Gütern und Personalbedarf für den Kriegsfall ermittelt werden könnte, der dann allerdings vom Bund finanziert und angeschafft werden müßte.

    Schließlich wird das Beamtenrechtsrahmengesetz geändert, damit auch die Beamten im Kriege zu Hilfsmaßnahmen zwangsverpflichtet werden können, was bisher nur nach dem Arbeitssicherstellungsgesetz für Arbeiter und Angestellte möglich war.

  1. Darüberhinaus werden die Feuerwehren zur Mitwirkung im Zivilschutz zwangsverpflichtet. Das THW und der Bundesverband für den Selbstschutz werden zu nicht selbständigen Bundesanstalten umgewandelt, die dem Innenminister unterstehen. Beim Bundesinnenminister soll ein Beirat eingerichtet werden, der in Fragen des Zivilschutzes beraten soll.

Wie schon im Katastrophenschutzgesetz von 1968 können im Spannungs- und Verteidigungsfall Zwangsevakuierungen angeordnet werden, ebenso Sperrungen bestimmter Gebiete. Dafür sollen die Länder und Gemeinden die „erforderlichen Vorbereitungen und Maßnahmen“ treffen. Freilich muß auch hier die Kritik gelten, daß derartiges ohne realistische Szenarien nicht möglich ist.

Vergleicht man das vorliegende Gesetz mit Entwürfen aus den letzten Jahren, so muß festgestellt werden: Viele ältere Pläne wurden aufgegeben. Die Bunkerbaupflicht, in der Öffentlichkeit unbeliebt und auf Bundesebene nicht finanzierbar, wurde völlig fallengelassen. Der Anspruch, das Zivilschutzrecht neu zu regeln und zu vereinheitlichen, wurde ebenfalls aufgegeben zugunsten von Gesetzeskorrekturen. Die Zivilschutzdienstpflicht ist in der gegenwärtigen Planung verfassungsrechtlich sehr fragwürdig insofern, als sie eine Einbeziehung der Frauen vorsieht. Sie ist nach der augenblicklichen Planung ohnehin nur ein Torso: Zwangsverpflichtungen erst im Kriegsfall – und dann auch nur für zehn Tage – gibt natürlich keinen Sinn, um eine derartige Zivilschutzdienstpflicht überhaupt zu begründen. So darf man annehmen, daß der Innenminister in den weiteren Beratungen auch auf diesen Punkt verzichten könnte, sollten sich hier wesentliche Streitereien entzünden.

Erfassung und Verplanung des Gesundheitswesens

Entscheidend an dem neuen Gesetz bleibt die Erfassung der Beamten für den Krieg, die bisher – rein rechtlich gesehen – noch nicht möglich war. Der wichtigste Inhalt des neuen Gesetzes ist jedoch die völlige Erfassung und Verplanung des Gesundheitswesens für den Krieg, wie sie durch das Gesetz möglich wird. Nicht daß die vorgeschriebene »Planung« einen Sinn geben würde – ohne realistische Szenarien kann natürlich auch kein Bedarf ermittelt werden – jedoch ist die grundsätzliche Militarisierung des Gesundheitswesens so erst einmal festgeschrieben. Immerhin ist das Gesundheitswesen der letzte kriegsrelevante gesellschaftliche Bereich, der in den Notstandsgesetzen der sechziger Jahre nicht erfaßt worden ist. So scheint es den Zivilschützern im Augenblick zu genügen, daß die Lücke formal geschlossen wird. Wenn die Ausgestaltung auch in den nächsten Jahren noch nicht möglich sein wird, so planen sie doch allemal auf Jahre, ja Jahrzehnte. Genauere Ausgestaltungen der Gesundheitsplanungen – wie auch Konkretisierungen und Ausweitungen der Zivilschutzdienstpflicht – können dann von den Zivilschützern angegangen werden, wenn das gesamtgesellschaftliche Klima dafür geeignet erscheint. Insofern planen die Militärs und die konservativen Kreise mit langer Hand.

So ist der jetzt vorliegende Gesetzentwurf auf das augenblicklich im Parlament Machbare beschränkt. Die FDP tut sich sogar noch dick damit, daß sie die Bunkerbaupflicht herausgeworfen hat und die Zivilschutzdienstpflicht einschränken konnte. Wenn die Gesetzesvorlage noch scheitern soll, dann können dies nur zwei Dinge bewirken:

  • Die Bundesregierung könnte sich gezwungen sehen, sich im letzten Teil ihrer Legislaturperiode auf die Angelegenheiten zu konzentrieren, die ihr unbedingt wichtig erscheinen. Ob dazu ein Rahmengesetz für den Zivilschutz gehört, darf bezweifelt werden;
  • Die Öffentlichkeit müßte der Bundesregierung klar machen, daß sie dieses Gesetz ablehnt: immerhin führt das Gesetz zu einer weiteren Militarisierung der Gesellschaft. Es steht damit in direktem Gegensatz zu den augenblicklich international möglichen Fortschritten in der Abrüstung.

Entscheidend wird also sein, inwieweit die Friedensbewegung es schafft, den Gesetzentwurf in die Öffentlichkeit zu tragen. Die IPPNW hat dazu mehrere Materialien erarbeitet, die allesamt kostenlos und in beliebiger Zahl bei ihrer Geschäftsstelle (6501 Heidesheim, Bahnhofstr. 24) bestellt werden können:

  • Eine Broschüre „Das Katastrophenschutzergänzungsgesetz ist so unredlich wie ehedem der Entwurf des Zivilschutzgesetzes“
  • ein Faltblatt „Geschichte eines großen Flops“ liefert die wesentlichen Kritikpunkte kurz und publikumswirksam verarbeitet.

Dr. Walter Popp ist Arzt in Essen und Mitglied des Vorstandes der bundesdeutschen IPPNW-Sektion.

Warum nehmen die Krankheiten zu, obwohl die Medizin immer besser wird?

Warum nehmen die Krankheiten zu, obwohl die Medizin immer besser wird?

von Edith Schieferstein

Kann, darf ein Mediziner sich in der Friedensdiskussion zu Wort melden? Ist er nicht etwa verpflichtet, sich als Arzt jeglicher politischer Rede zu enthalten? Muß er nicht seine Kunst frei von aller Ideologie ausüben? Ist eine Wissenschaft wie die Medizin geeignet, einen Beitrag zu leisten im Streit um die Frage, auf welche Weise der Friede am besten zu gewährleisten wäre?

In der Brockhaus-Enzyklopädie von 1973 ist die Medizin definiert als „die Wissenschaft von gesunden und kranken Lebewesen, von Ursachen, Erscheinungen, Auswirkungen ihrer Krankheiten, deren Erkennung, Heilung und Verhütung.“

Nach einer Aufzählung der naturwissenschaftlichen Grundlagen der Medizin heißt es dann weiter: „Der Humanmedizin dient außer dem naturwissenschaftlichen Fundament als Erkenntnisquelle die Beobachtung des Menschen als eines leib-seelischen Organismus in gesunden und kranken Tagen und seiner Stellung in seiner natürlichen, seiner kulturellen und sozialen Umwelt.“

Schon diese knappe Beschreibung bejaht die eingangs gestellten Fragen.

Die Beschäftigung mit ärztlicher Berufsethik führt zum Eid des Hippokrates, den wir heute nicht mehr schwören, dessen Inhalt jedoch in unserer Berufsordnung seinen Niederschlag findet. Gesetze und Verordnungen legen den Arzt im Tun und Lassen seines beruflichen Alltags weitgehend fest. Diese können aber nicht alles das umsetzen, was sich an ethischem Gewicht in jenem alten Eid findet, in dem der Arzt zum Beispiel schwört, „Schädigung und Unrecht von den Patienten abzuwehren“ und seine „Kunst lauter und redlich zu bewahren.“

Charles Lichtenthaeler, der ein hervorragendes Buch über den Eid des Hippokrates geschrieben hat, betont den hohen sittlichen Wert und meint, der Eid lehre die Ärzte, „zwischen äußerer und innerer Freiheit zu unterscheiden“. Er schreibt:

„Verstoßen staatliche Satzungen gegen die ungeschriebenen Gesetze, so zeigt unser Text nämlich, was getan oder gemieden werden sollte, um zu nützen und nicht zu schaden, auch wenn es heute nicht immer getan oder gemieden werden kann. Versagt das öffentliche Gewissen, so bleibt dem Arzt sein eigenes Gewissen, seine eigene innere Stimme erhalten und findet im hippokratischen Eid eine überzeitliche Norm.“

Die alten Ärzte wußten sehr genau, daß Gesundheit in enger Beziehung zur Umwelt stand, die Diätetik stand rangmäßig vor der Pharmakologie und der Chirurgie. Und Diätetik beinhaltete nicht nur Essen und Trinken, sondern die gesamte menschliche Lebensökonomie. Die antike Medizin beschäftigte sich auf das Intensivste mit der Erhaltung der Gesundheit. Dieser Teilbereich der Medizin heißt heute PRÄVENTION. Mitten in der modernen Medizin mit all ihren Errungenschaften wird der Ruf nach Prävention immer unüberhörbarer. HEINRICH SCHIPPERGES fragt in der Einführung in sein 1985 erschienenes Buch HOMO PATIENS: „Warum nehmen die Krankheiten zu, obschon die Medizin immer besser wird?“

Wir können weiterfragen: Was muß die Medizin unternehmen, um aus der Sackgasse eines grandiosen Reparaturbetriebes umzukehren? Kann ihr das gelingen, ohne daß sie sich aus ihrem Elfenbeinturm hinausbewegt?

An wissenschaftlicher Qualität fehlt es ja nicht: längst sind die Zusammenhänge zwischen Lebensführung und Kreislaufzustand, zwischen Arbeitswelt und bestimmten Erkrankungen, zwischen Arzneimitteln und Wirkungen wie Nebenwirkungen, zwischen Umweltzerstörung und Qualität von Luft und Wasser bis auf das Feinste erforscht. Aber: Werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse im Sinne einer echten Prävention zum Nutzen des Menschen umgesetzt?

Können, dürfen wir uns z.B. damit zufrieden geben, wenn es „Grenzwerte“ für sicher pathogene Substanzen gibt? Wenn eine durch berufliche Noxen entstandene Krankheit eine „entschädigungspflichtige Berufserkrankung“ geworden ist?

Auch die Wirkung moderner Waffen auf die Menschheit ist wissenschaftlich bearbeitet. Die Tragödie von Hiroshima und Nagasaki hat sozusagen als groteske Versuchsanordnung aufgezeigt, daß „moderne Waffentechnologie“ Wahnsinn ist.

Die Bomben fielen vor mehr als vier Jahrzehnten, ihre verheerenden Folgen auf Leben und Gesundheit der Menschen sowie ihrer Umwelt sind wissenschaftlich aufgearbeitet und publiziert. Seitdem fordern Menschen in aller Welt und nicht zuletzt Wissenschaftler aller Fakultäten Abkehr von solchen Massentötungsmitteln. Ihre Rufe verhallen jedoch ohne Wirkung. Seit der Zündung der ersten Atombombe ist es zu einer ständigen Produktion und Anhäufung von Atomwaffen gekommen. Es gibt heute weltweit 50.000 Hiroshimabomben.

HIROSHIMA 13 KT-BOMBE
Bevölkerung 245.000
Verwundete 100.000
Tote 75.000
Ärzte 30 (150)
Med. Personal 126 (1780)

Im März 1983 legte die Weltgesundheitsorganisation einen Bericht über die „Auswirkungen eines Atomkrieges auf Gesundheit und Gesundheitsdienste“ vor. Er war erstellt worden von einer internationalen Expertengruppe aus Physikern, Strahlenmedizinern und -biologen, Radiopathologen, Internisten, Genetikern und Epidemiologen unter dem Vorsitz von Professor Bergström vom Karolinska-Institut Stockholm. Diese Wissenschaftler hatten das umfangreiche Material aus den Atombombenexplosionen über Hiroshima und Nagasaki sowie aus den Atombombentests der Supermächte ausgewertet und sich dann mit drei möglichen Szenarien befaßt:

  1. Die Zündung einer 1 Megatonnen-Bombe über einer großen Stadt würde mehr als eineinhalb Millionen Menschen töten und eine ebenso große Zahl von Menschen verletzen.
  2. Ein „begrenzter“ Atomkrieg mit kleinen taktischen nuklearen Waffen mit einer Sprengkraft von insgesamt 20 Megatonnen, die auf militärische Ziele in einem relativ dicht bevölkerten Gebiet abgefeuert würden, würde ungefähr 9 Millionen Tote und Schwerverletzte fordern, davon mehr als 8 Millionen Zivilpersonen.
  3. Ein totaler Atomkrieg, bei dem mindestens die Hälfte der Schätzungen zufolge gegenwärtig vorhandenen nuklearen Arsenale zum Einsatz käme (mit einer Sprengkraft von insgesamt etwa 10.000 Megatonnen), würde mehr als 1 Milliarde Tote und 1 Milliarde Verletzte fordern. Etwa die Hälfte der Weltbevölkerung fiele einem solchen Krieg unmittelbar zum Opfer.

Ein Jahr zuvor hatte die Päpstliche Akademie der Wissenschaften eine Versammlung von Vorsitzenden wissenschaftlicher Akademien und Wissenschaftlern aus aller Welt einberufen, die sich mit dem gleichen Thema befaßte und dem Papst im September 1982 ihre „Erklärung über die Vermeidung eines Atomkriegs“ vorlegte. Darin heißt es:

„Die Wissenschaft kann der Welt keinen echten Schutz gegen die Folgen eines Atomkrieges anbieten. Es besteht keine Aussicht auf eine ausreichende Steigerung der Wirksamkeit der Schutzmaßnahmen, um Städte zu schützen, da selbst eine einzige Kernwaffe eine massive Zerstörung anrichten kann. Es besteht keine Aussicht, daß die Masse der Bevölkerung gegen einen atomaren Großangriff geschützt oder daß die Vernichtung der kulturellen, ökonomischen und industriellen Grundlage der Gesellschaft verhindert werden könnte. Der Zusammenbruch der sozialen Ordnung und die Zahl der Opfer wird so umfangreich sein, daß von keinem medizinischen Verfahren erwartet werden kann, mehr als einem geringfügigen Bruchteil der Fälle gewachsen zu sein.“ Es folgt natürlich die Forderung nach Abrüstung, nach Vernichtung aller tödlichen Waffen.

Wie steht es nun mit der MEDIZIN UND IHRER VERANTWORTUNG FÜR DEN MENSCHEN?

Bedeutende Ärztinnen und Ärzte aller Länder in West und Ost haben an den erwähnten Studien mitgearbeitet, haben auf den Irrwitz der Tötungsmaschinerie hingewiesen, immer wieder ihre Achtung, ihre Abschaffung verlangt.

Hat die Medizin damit ihre Schuldigkeit getan? Gemessen am bisherigen Erfolg ihrer Bemühungen wohl kaum. RUDOLF VIRCHOW rief vor mehr als einem Jahrhundert angesichts der Probleme seiner Zeit aus: „Soll die Medizin ihre große Aufgabe wirklich erfüllen, so muß sie in das politische und soziale Leben eingreifen!“

Ich um, ächte aufzeigen, wie alltäglich die Auseinandersetzung um ethische ärztliche Grundfragen sein kann. Wie schleichend die Droge sein kann, die Verantwortungsgefühl verletzt. Die Rede ist von KATASTROPHENMEDIZIN. Was ist das: „Katastrophenmedizin“? Eine exakte Definition zu liefern ist deswegen nicht möglich, weil es deren mehrere gibt und weil es eher Beschreibungen sind, die wir in der Literatur finden. Ich möchte die Medizinstudenten nachdrücklich bitten, ihre akademischen Lehrer in dem Unterrichtsfach immer wieder nach einer solchen Definition zu fragen und die Antworten miteinander zu vergleichen.

In der Bundesrepublik Deutschland taucht die Katastrophenmedizin Ende der 70er Jahre vermehrt auf, im Juli 1980 gründete sich die „Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin“. Ihre Aufgabe beschreibt sie folgendermaßen:

  • wissenschaftliche und praktische Belange der Katastrophenmedizin zu för
  • notwendige interdisziplinäre und gebietsübergreifende Beziehungen der Katastrophenmedizin herzustellen und zu vertiefen,
  • sowie Kontakte zu in- und ausländischen medizinischen Gesellschaften, Organisationen, Verbänden und staatlichen Einrichtungen, die sich mit dem Katastrophenschutz befassen, herzustellen und zu pflegen.

HEBERER definiert 1983 die Katastrophenmedizin als „interdisziplinäre Notfallmedizin“, allerdings sieht er an gleicher stelle „Triage als unumgängliche ärztliche Aufgabe“. In allen Definitionen wird von einem MASSENANFALL VON VERLETZTEN ausgegangen und Triage gefordert. Gelehrt wird eine Sichtung und Einteilung der Verletzten in verschiedene Kategorien. Es wird gesagt, Triage sei Teil des ärztlichen Alltags und bedeute nichts anderes als das Setzen von Prioritäten. So weit, so gut. Die Bundesärztekammer wählt in ihrem Tätigkeitsbericht 1985 folgende Definition:

„Katastrophenmedizin ist Teil des Katastrophenschutzes und fällt als Friedensaufgabe in der Bundesrepublik Deutschland im Sinne der Artikel 35 und 74 GG in die Zuständigkeit der Länder. Sie ist gekennzeichnet vom Mißverhältnis der Hilfsbedürftigen und der zur Hilfe Fähigen mit den entsprechenden materiellen und organisatorischen Ressourcen.“ Interessanterweise findet sich in dieser Schrift auf derselben Seite folgende Auslassung:

„Die sogenannte Kriegsmedizin findet als WORTSCHÖPFUNG kein konkretes Korrelat. Sie wird jedoch von bestimmten Gruppen gerne verallgemeinernd, allerdings zu Unrecht, für bestimmte ärztliche Tätigkeitsbereiche benutzt, die irgendwie mit dem Katastrophen-, Zivilschutz oder dem Verteidigungsfall in Zusammenhang gebracht werden könnten.“

Nicht von ungefähr folgen diese Aussagen der Bundesärztekammer ihren vorangegangenen; denn der Verdacht, daß Ärzte sich mittels „katastrophenmedizinischer Übungen“ auf Kriegssituationen vorbereiten sollen, bleibt bestehen.

Es wird keinen Arzt geben, der nicht Katastrophenschutz bejaht. Über die seit jeher bestehenden Katastrophenschutzgesetze der Länder hat es nie kontroverse Diskussionen gegeben. Es wird auch keinen Arzt geben, der nicht die Verpflichtung zu ständiger Fortbildung in Notfallmedizin anerkennt, d.h. Fortbildung in der Fähigkeit, medizinische Notfälle möglichst rasch und möglichst gut zu versorgen. Es wird auch keinen Arzt geben, der nicht Prioritäten setzt, wenn er mehrere Kranke oder Verletzte vor sich hat. Nur: bei genauem Hinsehen sieht die „Katastrophenmedizin“ anders aus als interdisziplinäre Notfallmedizin. Vordergründig soll sie, wie die Bundesärztekammer bei Katastrophen in Friedenszeiten zur Anwendung kommen. Die Lehrbücher widerlegen diese Aussage. In dem 1980 erschienenen Lehrbuch KATASTROPHENMEDIZIN von LANZ/ROSSETTI heißt es in der Einleitung:

„Es geht darum, unsere heutige und die kommende Ärztegeneration auf jene geistige und praktische Umstellung vorzubereiten, die Katastrophe und Krieg, Massenanfall und Beschränkungen aller Art erfordern würden.“ An einer anderen Stelle des Buches wird dann zugegeben:

„Katastrophenbedingungen im Sinne unserer Definition, daß die lokalen Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung nicht mehr ausreichen, gelten für alle drei Verantwortungsbereiche „Schadenzone“, „Transport“ und „Hospitalisationsraum“ mit Sicherheit nur im Kriege.“

Auch das Prioritätensetzen, als weiche die Triage deklariert wird, entpuppt sich als Problem. Während bisher gilt, daß der Patient zuerst behandelt wird, der ärztliche Hilfe am nötigsten hat, sollen dann andere Maßstäbe gesetzt werden. Über die Triage ist 1984 ein ganzes Lehrbuch erschienen, es heißt TRIAGE IM KATASTROPHENFALL, ÄRZTLICHE SOFORTMASSNAHMEN IM KATASTROPHENGEBIET“, herausgegeben von R. KIRCHHOFF, als Anschrift des Herausgebers wird diejenige der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin angegeben.

Beim Anblick dieses Bildes müssen wir uns fragen, um welche Art Katastrophe es sich dabei handeln kann. Der Verfasser stellt denn auch fest: „Die bekannteste Katastrophe ist der Krieg.“ Folgende Abbildung (Dia 3) zeigt ein Merkmal moderner Kriege: immer mehr Zivilpersonen fallen ihnen zum Opfer. Kirchhoff macht sich sogar um noch nicht stattgefundene Situationen Gedanken. Zitat: „In den dichtbesiedelten Gebieten Europas müßte in einem Kriegsfall mit Verhältnissen von 1:20 bis 1:100 gerechnet werden.“

KATASTROPHENMEDIZIN IST OPTIMIERTE MASSENMEDIZIN, wird hier definiert, KIRCHHOFF geht von einem Massenanfall von Verletzten, Kranken oder anderweitig Geschädigten aus und erläutert, es wird sich hierbei handeln um Verletzte Verwundete, Verstrahlte, Kranke und psychisch Gestörte. Und dann wird Klartext gesprochen: „Bei der Akut- und Definitivbehandlung dieser Personen ist die Kollektivprognose die ärztliche Entscheidungsgrundlage für die Individualbehandlung, d.h. es müssen unter Katastrophenbedingungen bei einem Massenanfall von Geschädigten Prioritäten festgelegt werden. Dieser Vorgang wird als Triage bezeichnet.“ Dann folgt die Beschreibung der Triagekategorien mit für Katastrophe oder Krieg angenommener Verteilung:

Was bedeuten nun diese Behandlungskategorien? T1 umfaßt Personen, die unmittelbar vitalbedrohlich verletzt sind und bei denen eine Überlebenswahrscheinlichkeit besteht. Dies ist etwas völlig Neues, bisher Undenkbares die ärztliche Behandlung abhängig zu machen von der Überlebenswahrscheinlichkeit. Natürlich sterben stündlich Menschen an unheilbaren Krankheiten, nicht zuletzt auch nach schweren Unfällen, trotz ärztlicher Bemühungen. Ärzte sind vertraut mit Sterben und Tod. Aber Sterbenlassen ohne Intervention, das ist neu.

  • Kategorie T1 (immediate treatment) 20 %
  • Kategorie T2 (delayed treatment) 20 %
  • Kategorie T3 (minimal treatment) 40 %
  • Kategorie T4 (exspectant treatment) 20 %

Die beiden mittleren Behandlungskategorien machen keine Probleme in unserem Kontext. Es handelt sich bei T2 um Patienten, bei denen durch Sofortbehandlung Lebensgefahr abgewendet und deren Definitivbehandlung aufgeschoben werden kann. T3 werden Patienten zugerechnet, die kleine ungefährliche Verletzungen erlitten haben oder ungefährlich erkrankt sind. Zur buchstäblich letzten Kategorie wieder ein Zitat:

„Geschädigte der Behandlungskategorie T4 haben unter Katastrophenbedingungen mit Massenanfall kaum Überlebensaussichten. Hier sollte eine abwertende Behandlung eingeleitet werden. Unter Bedingungen des Massenanfalls sind Reanimationsbemühungen kontraindiziert.“ Andere Katastrophenmediziner bezeichnen diese Gruppe auch als HOFFNUNGSLOSE.

Und dieses Einteilen, Sortieren, Sichten, Triagieren, Selektieren von Patienten wird bereits in Turnhallen an geschminkten Bundeswehrsoldaten geübt, allerdings noch nicht überall. An genau ausgeteilten Handlungsanleitungen fehlt es nicht.

Wenn zwei Ärzte auf viele Unfallopfer treffen, sollen sie also nicht Lagerung, Wiederbelebung und Blutstillung üben, sondern sichten. „Erst nach Eintreffen mehrerer Ärzte können neben der Triage lebensrettende Eingriffe erfolgen“, trug der Verfasser auf der 2. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin 1983 vor. Ein forscher Kollege, der auch feststellt: „Erfolgreich läßt sich die verantowrtliche Aufgabe, die dem ärztlichen Einsatzleiter oder den Triageärztengestellt ist, nur durchführen, wenn alle Mitarbeiter ein auf Erfahrung beruhendes Führungsprinzip diskussionslos anerkennen.“!!

Es versteht sich von selbst, daß diese Art Medizin seit 1945 niemals zur Anwendung kam in Europa, auch nicht bei Katastrophen wie etwa dem Bombenattentat auf dem Münchner Oktoberfest 1980. Damals konnten nahezu 200 Verletzte innerhalb von 45 Minuten einer adäquaten medizinischen Versorgung zugeführt werden. Die Organisation unseres Rettungswesens reichte aus. Die Verletzten wurden nicht selektiert, sondern notfallmedizinisch versorgt. Der uralte ärztlich-ethische Grundsatz, dem Schwerstverletzten zuerst zu helfen, blieb unangetastet.

Aus dem bisher Gesagten oder genauer Zitierten ist ersichtlich, daß diese Ethik in der sogenannten Katastrophenmedizin verlassen wird. Weil etwa 10.000 deutsche Ärztinnen und Ärzte sich weigern, diese zweifelhafte Kunst zu erlernen, haben sie sich auseinanderzusetzen mit Angriffen. Politiker und Standesvertreter werfen ihnen Verweigerung ärztlicher Hilfeleistung vor, Angstverbreitung unter den Patienten, ein ärztlicher Standesfunktionär meinte auf der Internationalen Wehrmedizinischen Tagung 1982 in Baden-Baden schlicht, ein Arzt, der sich seiner Fortbildungspflicht auf diesem Sektor entziehe, „hat seinen Beruf verfehlt. Er hat das Recht, sich Arzt zu nennen, verwirkt und muß mit dem Entzug der Approbation rechnen.“

Vor dem Hintergrund der vorliegenden Gesetzentwürfe – auf Bundesebene das Zivilschutzgesetz, auf Landesebene logisch nicht nachvollziehbare Veränderungen am Katastrophenschutzgesetz – wird die Auseinandersetzung an Schärfe eher zunehmen. Dennoch wird kein Arzt umhinkönnen, sein ärztliches Gewissen zu verteidigen gegen alle Bestrebungen, ganz allmählich und scheinbar unter logischen Überlegungen zu lernen, dem Wohl des einzelnen Patienten andere Werte überzuordnen. Er wird daran denken müssen, daß es schon einmal eine Zeit gab in Deutschland, da gegenüber der VOLKSGESUNDHEIT der Einzelne keine Rolle mehr spielte. Wie klingt vor einem solchen Hintergrund das Zitat aus dem Lehrbuch von 1984, in dem gefordert wird, daß die KOLLEKTIVPROGNOSE ärztliche Entscheidungsprundlage für die Individualbehandlung sein soll…

Alexander MITSCHERLICH, der nach der erschütternden Erfahrung als Beobachter der Nürnberger Ärzteprozesse nach Gründen für die Widerstandslosigkeit der Ärzte gegen die damalige Staatsführung suchte, sah einen Grund im unreflektierten Gehorsam. Er schrieb:

„Auf dem Wege über die soldatische Pflichterfüllung erfolgte hier die Usurpation des Arztturns und der humanen Verpflichtung.“ Und: „Was soeben noch wissenschaftliches Forschungsergebnis war, verwandelte sich unversehens in ein Hilfsmittel der Kriegsführung.“ Er beschreibt, „wie all diese Wandlungen im Verhältnis Arzt-Staat sich Schritt um Schritt ganz langsam, mit guten Gründen motiviert, einschleichen. Wegstück um Wegstück wird durch Kompromisse die Handlungsfreiheit des Einzelnen eingeengt, bis er dann in jener Konfliktsituation steht, die er letztlich selbst durch sein bisheriges Nachgeben heraufbeschwor und die ihn dann in jedem Falle schuldig werden läßt.“

Und an die Wissenschaftler der Nachkriegszeit gewendet, schrieb er: „Sie werden gezwungen, ihre Forschungsergebnisse nicht nur wissenschaftlich einzuordnen, sondern auf ihre geschichtliche Auswirkung zu achten.“

Auch nach 1984 wird die Medizin ihre Verantwortung für den Menschen wahrnehmen müssen.

Zitierte Literatur:

Charles Lichtenthaeler: Der Eid des Hippokrates. Deutscher Ärzte Verlag, Köln 1984
Heinrich Schipperges: Homo patiens. Piper, München 1985
WHO-Studie: Auswirkungen eines Atomkrieges auf Gesundheit und Gesundheitswesen (Effects of Nuclear War an Health and Health Services). World Health Organization, Genf 1984, Deutsches Ärzteblatt, Heft 7 vom 15. Februar 1985, S. 421-424. Zu beziehen auch bei „Appell Gesundheitwesen für den Frieden“, Luetkeallee 41, 2000 Hamburg 70
Bestrebungen und Ziele der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin e.V., Deutsches Ärzteblatt, Heft 25 vom 24. Juni 1983
Bundesärztekammer: Tätigkeitsbericht 1985, S. 143, Deutscher Ärzte Verlag, Köln-Löwenich
Lanz/Rossetti: Katastrophenmedizin. Enke Verlag, Stuttgart 1980
Kirchhoff (Hrsg.): Triage im Katastrophenfall. Notfallmedizin, Band 9, Perimed Fachbuch-Verlagsgesellschaft, Erlangen 1984
G. Heberer, K. Pehr, F. Ungeheuer: Katastrophenmedizin, eine Standortbestimmung. J. F. Bergmann Verlag, München 1984, S. 99
A. Mitscherlich u. F. Mielke: Wissenschaft ohne Menschlichkeit. Psyche 36, S. 1075-1109, 1982

Dr. Edith Schieferstein, Betriebsärztin in Tübingen. Gründungsmitglied der bundesdeutschen IPPNW-Sektion

Denkschrift Katastrophenmedizin

Denkschrift Katastrophenmedizin

von Edith Schieferstein

Publikationen können schillernd oder nichtssagend sein wie Menschen, deren Vorgeschichte und Charakter man nicht kennt. Man liest sie durch (sieht sie an) und legt sie beiseite (geht an ihnen vorüber). Mit Kenntnis von Vorgeschichte und Charakter dagegen können sie zuweilen fesseln. Die „Denkschrift über die Rechte und Pflichten des Arztes in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der medizinischen Versorgung bei Katastrophen im Frieden und ihre Berücksichtigung in den Katastrophenschutzgesetzen“1 ist ein gutes Beispiel dafür.

Hier die Vorgeschichte: nachdem der Entwurf eines „Gesundheitssicherstellungsgesetzes“ der SPD/FDP-Regierung wie auch der „Entwurf eines Gesundheitsschutzgesetzes“ der CDU/CSU 2 nicht zuletzt auf Druck der Friedensbewegung, insbesondere der Ärzteinitiativen gegen den Krieg, zurückgezogen worden sind, droht auch dem jetzt vorliegenden „Entwurf eines Zivilschutzgesetzes“3 das Schubladenbegräbnis wegen mangelnder Akzeptanz. Was liegt da näher als der Versuch der Bundesärztekammer – einer Arbeitsgemeinschaft der westdeutschen Landesärztekammern ohne jede legislative Kompetenz, von oben herab, die Ärzteschaft auf Katastrophenmedizin einzuschwören. Ein Mittel zu diesem Zweck war die Erarbeitung der Denkschrift. Im „Tätigkeitsbericht 85“4 der Bundesärztekammer liest sich das so: „Nach längeren Vorarbeiten im Wissenschaftlichen Beirat wurde von diesem eine „Denkschrift über die Rechte und Pflichten des Arztes in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der medizinischen Versorgung im Frieden und ihre Berücksichtigung in den Katastrophenschutzgesetzen“ verabschiedet. Nach redaktioneller Überarbeitung wurde diese Denkschrift im Ausschuß und der Ständigen Konferenz ,Sanitätswesen im Katastrophen-, Zivilschutz und in der Bundeswehr' eingehend beraten und dem Vorstand der Bundesärztekammer zur Meinungsbildung und Beschlußfassung im April 1985 vorgelegt.“

Anfang März 1985 war die Denkschrift der Sektion BRD der IPPNW bekanntgeworden. Auf der letzten Seite des Entwurfs stand ein Satz, der die Stoßrichtung der Schrift auf einen Punkt brachte: „Da die Aus- und Fortbildung in Katastrophenmedizin nicht berufsrechtlich begründet werden kann, muß sie vom Gesetzgeber im allgemeinen Interesse angeordnet werden, falls er sich ärztlich erfahrener Hilfe bei Katastrophen versichern will.“ Mit Schreiben vom 7. März 1985 intervenierte die IPPNW und bat dringend um ein Gespräch, bevor die Schrift zur Beschlußfassung komme. Ende März kam die Antwort. Die Denkschrift liege dem Vorstand der Bundesärztekammer bereits vor, und das Gespräch könne nicht stattfinden. In einem früheren Gespräch „hat sich doch eigentlich gezeigt, daß in dieser Beziehung grundsätzlich unterschiedliche Standpunkte bestehen. Dieses würde sich durch ein erneutes Gespräch nicht ändern.“ Obwohl auf dem 88. Deutschen Ärztetag im Mai 1985 in Travemünde die Debatte über Zivilschutz und Katastrophenmedizin mit Erfolg abgewürgt werden konnte, war der Konflikt programmiert. Stand doch der oben zitierte Satz in zu krassem Gegensatz zu einer Stelle im „Tätigkeitsbericht 85“ im Zusammenhang mit dem „Entwurf eines Zivilschutzgesetzes“ (EZSG). Zitat: „Die Bundesärztekammer begrüßt, daß nunmehr von einer gesetzlichen Regelung einer speziellen ärztlichen Pflichtfortbildung Abstand genommen wurde. Die Regelung der ärztlichen Fortbildung ist Aufgabe der Ärztekammern, und zwar auch für Notfall- und Katastrophenmedizin.“ In Travemünde wurde noch IPPNW-Mitgliedern vorgehalten, sie hätten die Denkschrift (die im allen Delegierten zugeschickten Tätigkeitsbericht zitiert war) angeblich durch eine Indiskretion erhalten, aber der Protest nahm seine Bahn. So intervenierte die Landesärztekammer Baden-Württemberg mit Erfolg, und der Ruf nach dem Gesetzgeber verschwand aus dem Druckwerk. Verschwunden ist auch eine Diffamierung der Ärzteinitiativen, die bereits die „Vorbemerkung“ zierte: „Dadurch würde auch erreicht werden, daß die derzeitigen Gegner der Katastrophenmedizin ihren rechtlichen Pflichten nachkommen. Mit ziemlicher Gewißheit würde dann die Mehrzahl dieser Ärzte bei der Bekämpfung einer Katastrophe mitwirken.“ Vermutlich war selbst den Verfassern bange vor dieser publizierten Unwahrheit. Wir haben immer wieder betont, daß wir in keinem Fall, auch nicht im Krieg, sofern wir überleben, Hilfe versagen werden. In der Frankfurter Erklärung verpflichten wir uns: „Ich halte alle Maßnahmen und Vorkehrungen für gefährlich, die auf das Verhalten im Kriegsfall vorbereiten sollen. Ich lehne deshalb als Arzt jede Schulung oder Fortbildung in Kriegsmedizin ab und werde mich daran nicht beteiligen. Das ändert nichts an meiner Verpflichtung und Bereitschaft, in allen Notfällen medizinischer Art meine Hilfe zur Verfügung zu stellen und auch weiterhin meine Kenntnisse in der Notfallmedizin zu verbessern.“ In der Katastrophenmedizin jedoch sollen wir einüben, Verletzte, Vergiftete, Verstrahlte, Kranke zu sortieren. Die Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin, die sich trotz des Bestehens mehrerer unfall- und notfallmedizinischer Fachgesellschaften im Juli 1980 konstituiert hat, lehrt das ausdrücklich. Tscherne et al. 5 propagieren Zurückstellung lebensrettender Sofortmaßnahmen für den Fall, daß nur zwei Ärzte am Katastrophenort zur Verfügung stehen (Abb. 1), sie beschreiben auch Sichtungskategorien (Tabelle). Solche Einteilungen finden sich in zahlreichen Büchern und Publikationen katastrophenmedizinischer Art. Es gelingt auch nicht mehr, die Konsequenz der Triage zu verschleiern. So beschloß die Vertreterversammlung der baden-württembergischen Landesärztekammer 1985: „Die Vertreterversammlung der Landesärztekammer betont, daß auch bei der Sichtung die Kriterien ärztlich-ethischen Handelns beachtet werden müssen d.h. den Schwerstbetroffenen mit Überlebenschance zuerst einer Behandlung zuzuführen.“ Demgegenüber wurde kürzlich vom 89. Deutschen Ärztetag ein entsprechender Antrag 6 (Wortlaut: „Der 89. Deutsche Ärztetag bekräftigt das Grundprinzip ärztlicher Hilfe: Dem Schwerstkranken wird zuerst geholfen! Dieses Prinzip behält auch bei Katastrophen seine Gültigkeit.“) mit überwältigender Mehrheit abgelehnt.

Vor diesem Hintergrund gerät der zweite Abschnitt der Denkschrift unter der Überschrift „Rechtsfragen zur Ausübung der Heilkunde im Katastrophenfall“ nicht nur mehr schillernd, sondern eher verrückt. Da ist von Aufklärungspflicht gegenüber dem Patienten die Rede, von Einwilligung in ärztliche Eingriffe nach vorheriger Aufklärung und Information. Dies bei einem Zeitaufwand von 1 bis 3 Minuten pro Verletztem.

Von Schweigepflicht ist die Rede, wo doch die Anhänger für persönliche Daten und Diagnosen schon gedruckt sind. Und der Satz: „Mit der Behandlungsaufnahme verpflichtet sich der Arzt zu ordnungsgemäßer sorgfältiger Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst“ führt die ganze Lehre von der „Katastrophenmedizin“ ad absurdum. Oder ist damit gemeint, daß wir bei der Dringlichkeitsstufe 4 (s. Tabelle) die Behandlung gar nicht erst aufnehmen? Andererseits steht laut Koslowski hier „die Schmerzbekämpfung als humane Forderung im Vordergrund“, und „solche Schwerstverletzungen sind besonders sorgfältig zu beobachten, um jede Besserung des Zustandes zur Behandlung nutzen zu können“.

Die Bundesärztekammer muß sich fragen lassen, was alles sie uns wie lange noch zumuten will. Neuerdings werden die ungeliebten EZSG-Details auf Ländergesetze abgewälzt. Was im Bundestag und in der Bevölkerung keine Akzeptanz findet, soll in Länderparlementen den Abgeordneten untergejubelt werden. So will etwa das Musterländle sein Katastrophenschutzgesetz ändern, der Entwurf sieht u.a. vor, daß die Landesärztekammern ihre Mitglieder mit Namen, Alter, Gebietsbezeichnung und Wohnort melden und in regelmäßigen Abständen Änderungen den zuständigen Behörden berichten 7 Noch erhebt die Landesärztekammer Einspruch, die Bezirksärztekammer Südwürttemberg hat am 7.6.86 die analogen Paragraphen im EZSG in der vorliegenden Form einstimmig abgelehnt. Es ist noch nicht aller Tage Abend. Es bleibt die Hoffnung, daß möglichst viele Ärzte sich mit dem Problem auseinandersetzen, sich dort informieren, wo die sogenannte Katastrophenmedizin beschrieben und diskutiert wird: in den entsprechenden Lehrbüchern, Kongreßbänden und Publikationen. Da ist unschwer der Duktus auszumachen: „Es geht darum, unsere heutige und die kommende Ärztegeneration auf jene geistige und praktische Umstellung vorzubereiten, die Katastrophe und Krieg, Massenanfall und Beschränkungen aller Art erfordern würden“, heißt es bei R. Lanz, und weiter: „Es geht darum, Richtlinien und Faustregeln zu vermitteln. Zeitfaktor und Infrastruktur bilden zusätzliche Grundlagen für die betreffenden Entscheide. Diese haben sich fortlaufend den gegebenen Verhältnissen anzupassen. So muß z.B. eine dringlich indizierte, aber aufwendige Laparotomie nach thermonuklearer Katastrophe wegen vieler einfacher, aber ebenso dringlicher Extremitätenversorgungen unterbleiben. Diese Notwendigkeit stellt die genaue Umkehr der normalen ärztlichen Gewohnheiten dar und muß das Gesetz, zuerst für den Schwerverlebten zu sorgen, bewußt verletzen.“8 Das hieße, eine ärztliche Ethik für den Frieden, eine andere ärztliche Ethik für den Krieg bzw. für die Katastrophe zu verinnerlichen. Und einzuüben, wenn die Zwangsfortbildung gesetzlich verankert wird. Es ist der Denkschrift und uns allen zu wünschen, daß sie zur Nachdenk-Schrift gerät.

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Sichtungskategorien
Erste Dringlichkeit Behandlungspriorität 1
Zweite Dringlichkeit Transportpriorität 2
Dritte Dringlichkeit Wartefälle: Leichtverletzte 3
Vierte Dringlichkeit Wartefälle: Hoffnungslose 4
1 bis 2 Ärzte: primäre Aufgabe = SICHTUNG
Mehrere Ärzte: SICHTUNG + LEBENSRETTENDE SOFORTMASSNAHMEN

Anmerkungen

1 „Denkschrift Katastrophenmedizin“, hrsg. von der Bundesärztekammer, Febr. 86 im Deutschen Ärzteblatt.Zurück

2 „Entwurf eines Gesetzes über die gesundheitliche Versorgung im Rahmen des Zivilschutzgesetzes“ (Gesundheitsschutzgesetz – GesG 1982; Bundestagsdrucksache 9/1448 vom 10.3.82).Zurück

3 „Entwurf eines Zivilschutzgesetzes“ (EZSG), Drucksache ZV 2-741 200/1a, Stand: 7.2.85.Zurück

4 Tätigkeitsbericht 85, Febr. 85, Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, Köln Löwenich.Zurück

5 H. Tscherne, H.-J. Oestern, E. G. Suren: „Der Schwerverletzte – Diagnostik und Klassifizierung“; in: „Katastrophenmedizin“, hrsg. von G. Heberer, K. Peter, E. Ungeheuer, Bergmann Verlag, München 1984.Zurück

6 Ärztetags-Drucksache Nr. III-20 v. 1.5.86.Zurück

7 „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Landeskatastrophenschutzgesetzes“, Stand 1.8.85; Innenministerium Ba-Wü, AZ: V 14060/104.Zurück

8 R. Lanz, M. Rosetti: „Katastrophenmedizin“, Enke Verlag. Stuttgart 1980.Zurück

Frau Dr. med. Schieferstein ist Betriebsärztin in Tübingen, Gründungsmitglied der Sektion BRD der IPPNW und dort 1984 Mitglied des Beirats.

Das neue Zivilschutzgesetz: Unser Beitrag zur Friedenssicherung?

Das neue Zivilschutzgesetz: Unser Beitrag zur Friedenssicherung?

von Heinz Bauer

Wie man hört, rüstet Frankreich seine Atomraketen mit einer Reichweite von 120 km, die im nächsten Krieg Baden- Württemberg zerstören würden, auf Raketen um, die künftig bis Hessen und Bayern reichen werden; die USA tauschen täglich 5 veraltete Sprengköpfe gegen 8 moderne aus, bauen neue Interkontinental-Raketen vom Typ MX und produzieren neue chemische Waffen; die Sowjets ihrerseits haben zusätzlich zu ihren mehr als 400 SS 20 Raketen in den letzten beiden Jahren weitere Atomraketen mit europäischer Reichweite in der DDR und der CSSR stationiert und bauen ebenfalls neue Interkontinental-Raketen; die Belgier lassen seit einigen Wochen Cruise Missiles in ihrem Land stationieren, und in Holland will ein verzweifelter Bauer die Neutralität wahren, indem er auf seinem Grundstück eine SS 20 stationieren lassen will. Und was machen wir, d.h. was macht unsere Bundesregierung angesichts von mehr als 50.000 Atomsprengköpfen in Ost und West, in einer Atmosphäre des Krenzzugsdenkens, wo vom Reich des Bösen die Rede ist, das es zu vernichten gilt?

Nun, in dieser Situation überlegt die Bundesregierung eine Beteiligung am unvorstellbar kostenaufwendigen Weltraumrüstungsprogramm SDI der USA, vor allem aber plant sie den Schutz der Zivilbevölkerung,- für einen Krieg denke ich, mit dem sie wohl rechnet. Sie stellt sich dabei auf die Randzone ein, den kleinen Bereich, der von einem Atomkrieg so weit verschont bleiben soll, daß vielleicht 5 % der Bevölkerung überleben. Um deren Überleben zu sichern, werden seit nunmehr 5 Jahren Pläne erwogen, das ganze Land in ein Zivilschutz-Eldorado zu verwandeln, nämlich durch generalstabsmäßige Organisation des gesamten Gesundheitswesens.

Im Sommer 1980 wurde der Entwurf eines Gesundheitssicherstellungsgesetzes bekannt, der den Anlaß für eine inzwischen bundesweite Bewegung innerhalb der Medizinerschaft gab, die sich zum Ziel setzte, vor der Hoffnung zu warnen, daß durch gesundheitspolitische Maßnahmen das Überleben in einem nächsten Krieg garantiert werden könne. In jenem Entwurf sollte das gesamte Gesundheitswesen bis zu den Krankenschwestern und den verwaisten Praxisräumen des Arztes im Ruhestand für den „besonderen Verteidigungsfall“ erfaßt und generalstabsmäßig organisiert werden. Das angestrebte Gesetz sah unter anderem vor, alle Ärzte zu sogenannten katastrophenmedizinischen Übungen zu verpflichten, Übungen, deren eigentliches Ziel von Ärzten bald aufgedeckt wurde, Vorkehrungen nämlich, den Militärs in einem künftigen Atomkrieg eine optimale medizinische Versorgung und Schutz zu garantieren, ohne daß man solche Möglichkeiten für die Zivilbevölkerung sah. Was unter dem „besonderen Verteidigungsfall“ zu verstehen ist, konnte man den Kommentaren zum Gesetzentwurf entnehmen: der Atomkrieg! Offensichtlich ging der Gesetzgeber, ebenso wie viele Politiker, Strategen und Militärs, davon aus, daß ein nächster Krieg, nämlich ein Krieg zwischen den Supermächten auf europäischem Boden, ein Atomkrieg sein würde, zumal damalige US-amerikanische Strategien von einem auf Europa begrenzbaren Atomkrieg sprachen, und die NATO wegen einer angeblichen konventionellen Überlegenheit des Ostblocks im Konfliktfall den Ersteinsatz von Atomwaffen vorsah – und immer noch vorsieht!

Katastrophenmedizinische Übungen sahen unter anderem das Erlernen einer Triage unter Kriegsbedingungen vor, d.h. die Aussonderung und Nichtbehandlung von Patienten, denen unter Kriegsbedingungen nicht mehr zu helfen wäre, Patienten also, denen man in Friedenszeiten die schnellste und gründlichste Versorgung angedeihen ließe. Diese Katastrophenmedizin wurde folgerichtig als Kriegsmedizin entlarvt und Tausende von Ärzten haben deshalb bislang erklärt, daß sie sich derartigen Übungen verweigern werden.

Obwohl dieser erste Gesetzentwurf von der ärztlichen Standesorganisation befürwortet und von ärztlicher Seite verschiedentlich gefordert wurde, den „Verweigerern“ die ärztliche Approbation zu entziehen, wurde er noch 1982 von der SPD/ FDP-Regierung zurückgezogen. Die Begründung des damals zuständigen Staatssekretärs: In einem Atomkrieg gibt es keine medizinische Versorgung.“

Wohl unter dem Druck der öffentlichen Kritik ließ auch die jetzige Regierung einen neuen Entwurf zu einem sogenannten „Gesundheitsschutzgesetz“ mit ähnlichem Inhalt wie das Sicherstellungsgesetz in der Schublade, versucht nun aber neuerdings mit dem Entwurf zu einem Zivilschutzgesetz, unter Verwendung weniger verdächtiger Formulierungen, dasselbe Ziel zu erreichen. Die Tarnkappe ist aber allzu durchsichtig, da mit anderen Worten dasselbe gefordert wird wie zuvor.

Wohl gibt es Unterschiede zu früher, z. B. der, daß im Gesetzentwurf von 1982 „dem Grundsatz der freiwilligen und ehrenamtlichen Tätigkeit vorrangig Rechnung zu tragen“ war, wohingegen nach dem jetzigen Entwurf alle Männer über 18 Jahren herangezogen werden können (§ 30), und zwar nach denselben Modalitäten, die im Wehrpflichtgesetz § 44 für die Vorführung und Zuführung von Soldaten vorgesehen sind.

Sehr viel kürzer formuliert als in früheren Entwürfen regelte Abschnitt 4 mit den § § 20-25 im Prinzip die Erfassung des gesamten Gesundheitswesens, wie dies in vorangehenden Entwürfen der Fall war. Demnach werden Ärztekammern verpflichtet, die Durchführung des Gesetzes zu unterstützen (§ 23, Abs. 3), sind Pläne zur Bewältigung eines Massenanfalls von Verletzten im Verteidigungsfall aufzustellen (§ 25 ), Hilfskrankenhäuser sollen eingerichtet werden (§ 21), und schließlich ist die „Einsatzbereitschaft“ herzustellen (§ 25, Abs. 1). Hinter letzterem Kürzel verbirgt sich all das, was in den vorangehenden Entwürfen mit Katastrophenmedizin bezeichnet und als Kriegsmedizin kritisiert worden war, eine harmlose Formulierung für ein Unternehmen, welches das gesamte Gesundheitswesen militarisieren und letztlich dem kriegführenden Militär unterstellen will. Denn „Zivilisten haben im nächsten Krieg keine Chance“, wie ein Militärausbilder in Kriegs-(Katastrophen)-Medizin erklärte. Nach allem, was über moderne Kriegsstrategie und -folgen bekannt ist, können solche Maßnahmen, wenn überhaupt, nur der kämpfenden Truppe nützen.

Der zivile Bundesbürger aber, der ja nach § 1, Abs. 5 über dieses Gesetz aufgeklärt werden soll, wird zunächst den Eindruck haben, es gehe um ihn, wenn er hören wird, was alles für den Bau und den Betrieb von Schutzräumen vorgesehen ist (Abschnitt 3). Nicht nur sollen Tiefgaragen und U-Bahnen als Schutzräume hergerichtet und Schutzbauwerke aus dem letzten Weltkrieg wieder hergestellt werden (im Jahre 1984 wurden dafür nahezu 80 Mio. DM aufgewendet), sondern dem Bürger werden steuerliche Vergünstigungen zugesagt, falls er sich selbst einen Hausschutzraum zulegt. Diesen Anreiz hält man aber offenbar für wenig werbewirksam und hat deshalb bereits vorgesehen, den Schutzraumbau für Neubauten zwingend vorzuschreiben. Wie ernst man es mit diesen Schutzräumen meint, geht aus § 42 hervor, nachdem mit einer Strafe bis zu 100.000 DM bedroht wird, wer z.B. einen Schutzraum beseitigt oder verändert. – Noch bedrohlicher erscheint mir allerdings die Absicht (§ 4), das Gemeindegebiet in Wohnbereiche einzuteilen und „Beratungsstellen“ einzurichten, die u. a. die Anordnungen zu selbstschutzmäßigem Verhalten überwachen sollen. Das erinnert an den Blockwart oder den Ortsgruppenleiter aus dem Reich, das 1000 Jahre währen sollte. Dem nützte solches bekanntlich wenig, genauso wenig wie der aus Kindern und Großvätern bestehende Volkssturm jener Zeit, der einem einfällt, wenn man in § 133 c liest, daß auch Ruhestandsbeamte reaktiviert werden können, wenn es erforderlich erscheint. Die abzusehende Effektivität solcher Pläne erinnert mich an den Panzergraben im Westwall, den wir als Kinder mit Müttern und Großeltern viele Meter tief ausgehoben haben. Er hat bekanntlich keinen einzigen Panzer aufgehalten.

Welche Spiegelfechterei und Augenwischerei hier betrieben wird, läßt der Gesetzentwurf selbst deutlich werden: Nach § 24 ermittelt die zuständige Behörde den zusätzlichen Bedarf an Personal, den sie dem Arbeitsamt meldet (!) und auch den Bedarf an Ausstattung sowie Sanitätsmaterial, für dessen Deckung sie planerische Vorsorge trifft! In der Begründung zum 2. Gesetzentwurf wird es noch deutlicher:

„Durch das Gesetz entstehen unmittelbar keine zusätzlichen Kosten (Abschn. 4)“, und weiter: „Das Konzept der Ausbildung von 600.000 Helfern im Zivilschutz konnte man als Finanzierungsmasse nicht einmal ansatzweise umsetzen. Wesentliche Fortschritte beim Ausbau können wohl auch in den nächsten Jahren nicht erwartet werden.“

Ein solches Gesetz ist demnach nicht viel mehr als eine Attrappe. Es ist nicht nur aus finanziellen und technischen Gründen nichts wert, es ist vor allem aus psychologischen Gründen unsinnig, absurd und der Sache des Friedens abträglich. Entweder wird es nämlich von der Bevölkerung auch im Ansatz nicht umgesetzt, da die Menschen nicht permanent mit dem Bewußtsein der „Zivilgeschützten“ herumlaufen wollen, oder aber es wird von der Bevölkerung akzeptiert mit der Folge, daß die psychologischen Voraussetzungen für Abrüstung und internationale Verständigung immer schlechter werden, da eine solche zivilschutzmäßige Mobilmachung nur mit der Pflege eines Feindbildes aufrechterhalten werden kann. Von Entspannung wird dann niemand mehr reden. Wie aber ist ein solches Gesetz aus medizinischer Sicht einzustufen, was gibt es her, wenn man es auf seinen theoretischen Nutzen für den „besonderen Verteidigungsfall“ abklopft, den Atomkrieg, auf den wir uns nach Meinung von US-Admiral a. D. Eugen Carroll vorbereiten, und der nach US-Admiral Gene la Rocque fast unvermeidlich ist.

Um den Wert eines solchen Gesetzes zu beurteilen, kann man sich zunächst einmal die Folgen von Atombombenexplosionen vor Augen halten, worauf hier im Detail verzichtet werden soll, da diese oft genug beschrieben und allseits bekannt geworden sind.

Eine mögliche Hilfe für die zahllosen Verletzten, Verbrannten und Verstrahlten müßte vor Ort erfolgen, da wegen der Zerstörung der Zufahrtswege und der drahtlosen Kommunikation an einen Abtransport in Krankenhäuser nicht zu denken wäre. Abgesehen davon, daß in der Bundesrepublik in Friedenszeiten pro 100 Einwohner ein Krankenbett zur Verfügung steht, wären zudem die meisten Krankenhäuser zerstört oder nur teilweise funktionsfähig. Schließlich muß man in Rechnung stellen, daß die Zahl der Ärzte, Krankenpfleger und anderer Personen im Gesundheitswesen genauso dezimal wäre, wie die übrige Bevölkerung. Das bedeutet, daß die meisten Verletzten, die in Friedenszeiten z. B. bei einer zivilen Unfallkatastrophe bei gleichen Verletzungen eine gute Überlebenschance hätten, hier hoffnungslos verloren sind.

Dieses Dilemma würde überdies ins Unermeßliche dadurch gesteigert, daß ein großer Teil der Verletzten Schäden erlitten hätte, die selbst in Friedenszeiten in diesem Ausmaß nicht annähernd bewältigt werden könnten, was vor allem für die Patienten mit Verbrennungen und die radioaktiv Bestrahlten gilt. Bei der ungeheuren Hitzeentwicklung wären großflächige Verbrennungen dritten Grades keine Seltenheit. Solche Verbrennungen kann man nur in Spezialbetten und -räumen behandeln, von denen es nach dem Stand vom Dezember 1984 in Hessen 5 in der Bundesrepublik 116 und in Westeuropa ca. 1500 gibt. Welche Möglichkeiten der Versorgung solcher Patienten bestehen, haben wir in den letzten Monaten nach dem Einsatz von Senfgas und dem Nervengas Tabun im iran/ irakischen Krieg erlebt. Zur Versorgung der Verletzten mußte man Krankenhäuser aus mehreren europäischen Ländern und aus Japan in Anspruch nehmen.

Wie steht es mit einer möglichen Behandlung der Strahlenverseuchten? Nun, auch Prof. Messerschmidt, Wehrmediziner und Befürworter von Zivilschutzgesetzen, konstatiert im 1982 vom Bundesinnenminister herausgegebenen Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall, daß unter den Bedingungen des Atomkriegs eine optimale Versorgung von Strahlenverletzten nicht mehr möglich ist. – Zu den Möglichkeiten in Friedenszeiten sei nur angemerkt, daß das Gießener Universitätsklinikum über 4 entsprechende Betten verfügt.

Trotz dieser desolaten Folgen würden wahrscheinlich Menschen überleben, auch bei einem Atomwaffeneinsatz noch größeren Ausmaßes, wie er von vielen Experten im Falle eines Atomkrieges für unvermeidbar gehalten wird. Was sind nun die Überlebensbedingungen für die möglichen 5 %, die sich dann nach George Bush als Sieger bezeichnen können?

Was wird sie erwarten, wenn sie ihren Atombunker verlassen, zu dessen Bau die Firma NAU mit folgendem Slogan wirbt: „Und der Vorteil, daß dieser Schutzraum auch ein sicherer Tresorraum ist, sollte nicht verkannt werden. Egal, was Sie lieben und schützen wollen. Ihr Urlaub wird noch schöner, wenn Sie wissen, wie sicher ihr Eigentum verwahrt ist. Lassen Sie den Schutzraum lebendig werden als Spiel- und Bastelraum, als Weinkeller und Lagerraum. Und als Partykeller ist er sowieso der Knüller. Nicht erst auf den Erstfall warten. Im Frieden schon nützen. Ganz abgesehen von den Abschreibungsmöglichkeiten“ (die dann auf der letzten Seite ausführlich dargelegt werden).

Beim Verlassen des Friedens- Partykellers nach allgemeinem Rat nicht früher als 14 Tage nach der Atombombenexplosion (die also für ein einmaliges Ereignis gehalten wird) – werden die Überlebenden vor wahrscheinlich unlösbaren Problemen stehen. Die inzwischen in Verwesung übergegangenen Leichen von Menschen und Tieren im Freien werden Nährboden für Krankheitserreger darstellen, die auf Grund der zerstörten hygienischen Anlagen bald von Tieren, vor allem von Insekten, auf den Menschen direkt übertragen oder aber in Nahrungsmittel und das Wasser gelangen. Krankheiten wie Cholera, Ruhr, Typhus und Paratyphus sowie Hepatitis A werden sich in einem Maße ausbreiten, wie wir das bisher nicht kennen. Einen Schutz gegen diese Erkrankungen wird es genauso wenig geben, wie eine ausreichende Therapie, da die erforderlichen Medikamente in der Regel nicht zur Verfügung stehen werden. Auf die psychischen Auswirkungen einer solchen desolaten Situation sei nur kurz verwiesen.

Zu dem möglichen Wert von durch das Gesetz vorgeschriebenen Schutzräumen, die vor solchen Gefährdungen schützen sollen, sei lediglich aus dem Manifest des Bundes Deutscher Architekten zitiert: „Diese (die Architekten) sind dagegen, durch den Bau von Atomschutzbunkern an der Illusion mitzuwirken, daß im Falle eines Atomschlages menschliches Leben überhaupt geschützt werden kann.“ Sie stellen fest, daß ein solcher Bunker in der Nahzone einer A-Bomben-Explosion dem Druck nicht gewachsen ist, daß in der nächsten Zone die Insassen durch den Feuersturm ersticken oder verschmoren, und daß in einer weit größeren Zone ein Bunkerschutz gegen direkte Einwirkungen überflüssig ist und von den weiteren Folgen – wie oben geschildert – auch nicht schützt. Auch in einer UNO-Studie zu Kernwaffen wird festgestellt: „Zur Zeit kann kein Zivilschutzsystem einen prinzipiell zuverlässigen Schutz für die Bevölkerung bereitstellen.“ Angesichts dieser kompetenten Urteile scheint dann auch die Existenz und Tätigkeit einer Organisation wie des Bundesverbandes (nach dem neuen Gesetz: Bundesanstalt) für Selbstschutz absurd, der durch Aufklärung der Bevölkerung zur Realisierung der besprochenen Gesetze beitragen soll, u. a., indem er die Zivilisten lehrt, wie sie sich selbst schützen können, z. B. durch Verfügbarkeit von Axt und Pickel im Keller, von Lebensmittelvorräten für 14 Tagen, Handapotheke und Dokumente sowie einen größeren Vorrat an Streichhölzern für den zu erwartenden Stromausfall.

Daß Schutz und medizinische Versorgung in einem künftigen Krieg nicht möglich sind, ist nicht nur die Meinung von „linken Propagandisten, ideologisch ambivalenten Profilneurotikern und gewissenhaften Sektierern“, wie Herr Deneke, der Geschäftsführer der Bundesärztekammer, die Ärzte einmal genannt hat, die vor Atomkrieg warnen, sondern dies ist auch die Meinung der Bundesärztekammer selbst, die verlauten ließ: „Ein ABC-Krieg übersteigt aber das Maß jeglicher Katastrophe, alleine schon deshalb, weil es angesichts der unermeßlichen Schäden niemals eine organisierte Hilfe geben kann“; und es ist schließlich die Meinung der Welt-Gesundheits-Organisation (WHO), deren internationale Kommission unter dem Vorsitz von Prof. Sune Bergström festgestellt hat, daß es auf der Erde kein Gesundheitsversorgungssystem gibt, das ausgerüstet oder in der Lage wäre, die Verletzten oder Sterbenden während eines Atomkrieges zu versorgen.

Kein Arzt wird sich der ethischen Verpflichtung zur Hilfe in jedem Fall entziehen, insbesondere nicht der Einsicht in die Notwendigkeit der speziellen .Ausbildung für die individualmedizinische Behandlung bei zivilen Katastrophenfällen. Diese war bei den bisherigen größeren Katastrophen in der Bundesrepublik immer gegeben. Die katastrophenmedizinischen Unternehmungen, zu denen das Gesundheitswesen gesetzlich verpflichtet werden soll, sind aber so eindeutig auf den Kriegsfall ausgerichtet, daß sie solange als unethisch abzulehnen sind, wie nicht die größten Anstrengungen zur Verhinderung eines Krieges geleistet werden, in dem es sowieso keine medizinische Versorgung mehr geben würde.

Eine internationale Gruppe des Aspen- Instituts, der so illustre Politiker wie J. Callaghan, B. Kreisky, G. Kennan, Helmut Schmidt, E. Heath, R. Trudeau, R. S. McNamara sowie C. R. Vance angehören, hat denn auch Ende vergangenen Jahres festgestellt: „Die erste Pflicht der Staatsmänner ist die Verhinderung eines Krieges“, und „die Abschreckung muß und kann wahrscheinlich nicht bis in alle Ewigkeit funktionieren“, d. h. daß nicht die Vorbereitungen auf den Eventualfall eines Krieges das Gebot der Stunde sind, sondern die Verbesserung des Zustandes der internationalen politischen Beziehungen. Der angesehene General a. D. Graf von Baudissin wird noch konkreter: „In dieser politischen Landschaft kann der plötzliche Ausbau von Schutzräumen ausgerechnet in der Bundesrepublik nur als Vorausinvestition für einen Angriffskrieg angesehen, jedenfalls ausgelegt werden“ (…) „Er widerlegte die Ernsthaftigkeit der Kriegsverhütungspolitik.“

Es bleibt die Frage nach Sinn und Zweck solcher Gesetzgebung. Wenn man davon ausgeht, daß der Bundesregierung bekannt ist, was hier ausgeführt ist, muß man dann annehmen, daß die Regierung und die gesetzgebende Institution bereits an die Unvermeidbarkeit eines Atomkriegs glauben, und daß das angestrebte Gesetz Teil einer Vogel- Strauß- Politik darstellt, oder gar reine Alibifunktion hat, um die durch einen drohenden Krieg irritierte und geängstigte Bevölkerung zu beruhigen und in Sicherheit zu wiegen? Für den gesunden Menschenverstand, den der zweifache Nobelpreisträger Linus Pauling so oft zur Friedenssicherung beschwört, ist es schwer, eine andere Erklärung zu finden. Solange aber die Verteidigungsfähigkeit unseres Staatswesens auf Waffen beruht, deren Einsatz unseren kollektiven Selbstmord bedeuten würde, ist es unredlich, von den Möglichkeiten eines Zivilschutzes zu reden.

Dr. Heinz Bauer ist Professor am FB Humanmedizin der Universität Gießen.

Der Schutz des Zivilen?

Der Schutz des Zivilen?

von Wolfgang Send

„Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode.“ (Shakespeare, Hamlet) Nicht frei von tiefer Sorge kann eine Bestandsaufnahme sein, die sich vor dem Hintergrund des Entwurfs zu einem neuen Zivilschutzgesetz um absehbare Entwicklungen Gedanken machen will. Aber auch bittere Erinnerungen aus der Geschichte müssen auftauchen, wenn eine Bundesregierung unter dem Motto „Zivilschutz ist Friedensdienst und kein Akt der Kriegsvorbereitung“ glauben machen machte, daß zivile Techniken aus dem Gesamtrahmen der Politik herausgelöst und isoliert bewertet werden können.

Nichts belegt einen solchen untauglichen Versuch besser als ein unlängst erschienenes Buch von Raul Hilberg: „Sonderzüge nach Auschwitz“. Dieser im Dumjahn-Verlag im letzten Jahr erschienene Dokument zur deutschen Eisenbahngeschichte ist Mahnung und Warnung an jeden Deutschen, auf der Hut zu sein vor Leuten, die von Pflichtbewußtsein und wertneutralen Aufgaben des Staates reden. In diesem Sinne ist auch militärische und zivile Verteidigung nicht an sich gut oder verwerflich, sondern ihre ethische Bewertung richtet sich nach dem Bewußtsein und dem politischen Handeln der Verantwortlichen, die die für diese Aufgaben geschaffenen Institutionen mit Geist und Leben erfüllen. Es sind wir Bürger unseres Staates, die wir jeder an seiner Stelle den Maßstab anlegen und beurteilen müssen.

Um was geht es im einzelnen? Die Bundesregierung plant die Novellierung des Zivilschutzgesetzes, wobei eine Reihe von bereits bestehenden Gesetzen und Verordnungen in einem Gesetz zusammengefaßt werden soll. Allerdings enthält der Entwurf einige Neuerungen, die auf erhebliche Kritik gestoßen sind. Eine Übersicht über das Gesetz mit der Heraushebung der markanten Kritikpunkte sei kurz vorangestellt:

Referentenentwurf eines Zivilschutzgesetzes (EZSG) Grundlagen des Zivilschutzes

Schutzmaßnahmen

  • Warnung vor Gefahren
  • Selbstschutz
  • Bau und Betrieb von Schutzräumen
  • Aufenthaltsregelung

§ 17 Bestimmung des Aufenthaltsortes

§ 18 Evakuierung im Spannungs und Verteidigungsfall

3. Hilfeleistung durch den erweiterten Katastrophenschutz

4. Maßnahmen im Gesundheitswesen

5. Dienst im Zivilschutz, Ausbildung und Ausstattung

§ 38 Heranziehung im Spannungs- und Verteidigungsfall

6. Durchführung des Zivilschutzes

7. Übergangs- und Schloßvorschriften.

Kopfschütteln befällt einen, wenn man nach langen Jahren der Tätigkeit im Zivil- und Katastrophenschutz die weit verbreitete Ahnungslosigkeit sieht, mit der ein nach Umfragen nicht unerheblicher Teil der Öffentlichkeit sich an die Hoffnung auf Sicherheit durch Schutzbauten klammert. Die Zeiten sind vorbei, als vor Bombern aus England mit Zielrichtung Ruhrgebiet noch so rechtzeitig gewarnt werden konnte, daß ein Aufsuchen von Schutzräumen noch möglich war und Erfolge zeitigte. Auf perfide Weise wird das Gesetz der Wahrscheinlichkeit mißbraucht, um der Bevölkerung das Gefühl trügerischer Sicherheit durch Schutzraumbau zu vermitteln. Das Vertrauen mißbrauchend ist die Art der Aufklärung deswegen, weil sie verschweigt, daß der Schutz eben immer an die notwendige Entfernung von Kampfhandlungen gebunden ist. Dort, wo die Bombe fällt, hilft auch der Schutzraum nicht, was allerdings auch schon im Zweiten Weltkrieg bisweilen eintrat: die Bunker in den großen Städten waren voller Leichen, wo Sauerstoffmangel und hohe Außentemperaturen sie zu Menschenfallen machten. Eine Mittelklassebombe mit der Ausbeute von einer Million Tonnen Sprengkraft TNT macht Hamburg, Frankfurt oder München nicht mehr allein zu einem Feuermeer, sie löscht die Städte aus. In der Summe und als Staatsziel mag Bunkerbau je nach Umfang der Kampfhandlungen den Unterschied zwischen dem totalen Zusammenbruch und Untergang oder einem mühsamen Wiederaufbau in einer trostlosen Welt ausmachen. Welches groteske Mißverständnis von Demokratie aber ist es, eine Entscheidung von so epochaler und vielleicht globaler Tragweite, wie sie der Einsatz von Atomwaffen darstellt überhaupt noch zum Katalog rechtsstaatlichen Handelns zu zählen.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es in Artikel 1 unseres Grundgesetzes. „Sie zu wahren und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Vor allem aber müßte es Aufgabe eines Zivilschutzgesetzes sein, die Prinzipien des humanitären Völkerrechts mit aller Entschlossenheit gegenüber Bedenken von Militärstrategen durchzusetzen und gesetzlich zu verankern. Nichts dergleichen geschieht; nicht einmal die Zusatzprotokolle von 1977 zur IV. Genfer Konvention von 1949 sind bisher vom Parlament ratifiziert worden – ein beschämendes Zeichen für ein Land, das soviel Unglück in die Welt gebracht hat. Diese Zusatzprotokolle sind ein Meilenstein in der Entwicklung des humanitären Völkerrechts, und sie verdienen die volle Aufmerksamkeit aller, die nach rechtsstaatlichen Hebeln suchen, um eine sich wie ein Krebsgeschwür immer tiefer in die Gesellschaft hineinfressende und ausufernde Verteidigungsplanung auf Ziele und Inhalte korrigieren zu können.

Die konzentrierten Luftangriffe auf deutsche Großstädte im Zweiten Weltkrieg waren aus militärischer Sicht das Ärgste, was man seinem Feind antun konnte. Eine Waffentechnik hat seither Fortschritte gemacht, die in Hiroshima und Nagasaki noch in den „Kinderschuhen“ steckte. In welchem Kriegsbild mit den Waffen von gestern und vorgestern sollen denn Luftangriffe auf deutsche Großstädte stattfinden, so daß die Bevölkerung noch Zeit hat, in nennenswertem Umfang Schutzräume aufzusuchen, die dann auch noch ausreichend Schutz bieten sollen? Es geht ja auch nicht um irgendwelche Bunker oder besser Schutzräume, die vielleicht gerade noch dem Trümmerkegel des eigenen Hauses standhalten. Nein – die sogenannten Mehrzweckbauten in den großen Städten, die so manche Stadtväter in der Entscheidung zwischen einer Tiefgarage mit Atomwaffenschutz oder überhaupt keiner angesichts leerer Stadtsäckel haben mit Bundeshilfe erbauen lassen, sollen für das Ärgste ausgelegt sein, was der Feind uns heute antun kann. Möge nie die Gelegenheit kommen, die Probe auf's Exempel machen zu müssen, um die Bunkerbauer widerlegt zu sehen. Die Bundesrepublik ist auch nicht irgendein Land, dessen Regierung mit welcher Aussicht auf Erfolg auch immer die Bevölkerung nach bestem Wissen und Gewissen vor den Torheiten seines Nachbarn schützen möchte. Vieles spricht dafür, daß zumindest die Bundesrepublik in jedem zukünftigen Krieg in Mitteleuropa mit ihrem ganzen Territorium Zentrum der Kampfhandlungen sein und folglich kein Stein auf dem anderen bleiben wird. Keine politische Handlung ist frei von Mißdeutungen, und letztlich ist der bekundete Wille, welchen Zielen eine politische Handlung dienen soll, Maßstab der Bewertung. In diesem Sinne wird man auch der gegenwärtigen Bundesregierung mangelnden Friedenswillen nicht vorwerfen wollen. Daß wir aber unser Land immer voller stopfen lassen mit Atomwaffen, sie selbst als Option der Kriegsführung für unverzichtbar halten, erst dies macht unsere militärischen Planer zu potentiellen Völkermördern und verkehrt ein humanitäres Anliegen zum perversen Zweckbündnis mit politischen Vabanquespielern.

Es kann nicht unsere Aufgabe als Deutsche sein, die wir zweimal in diesem Jahrhundert auf russischem Boden gestanden haben, uns in maßloser Überhöhung unserer eigenen Bedrohung durch die heutige Sowjetunion zum willfährigen Schießplatzwart unseres Verbündeten USA zu machen.

Gerade gegenüber der Sowjetunion haben wir noch die moralische Pflicht uns den militärischen Konsequenzen blinder Abneigung zwischen den beiden großen Mächten zur Wehr setzen. Es sollte den Gegnern jeder Art von Zivilschutz allerdings auch des Nachdenkens wert sein, daß Zivilschutz mit einer überzeugenden Friedenspolitik keineswegs als Bedrohung empfunden werden muß, wie dies das Beispiel neutraler Länder um uns herum zeigt. Es kommt wohl wirklich auf den bekundeten politischen Willen an.

Wenn bei uns jemals zivile und militärische Verteidigung zu einem ausgewogenen Verhältnis zueinander kommen sollten, wie es die Parteiprogramme aller großen Parteien in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten fordern, dann wird sich in der Verteidigungspolitik unseres Landes einiges ändern müssen. Ein „Ermächtigungsgesetz für den Innenminister“ nannte der Geschäftsführer des Deutschen Feuerwehrverbandes, Reinhard Voßmeier den Entwurf des neuen Zivilschutzgesetzes. Der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Botho Prinz zu Sayn- Wittgenstein, sieht existentielle Grundsätze seiner Organisation, insbesondere den Grundsatz der Freiwilligkeit berührt. Der Gesetzentwurf werde dem Auftrag nicht gerecht, die Gesamtsituation des Zivilschutzes in der Bundesrepublik entscheidend zu verbessern. Darüber hinaus lasse der Entwurf wichtige humanitäre völkerrechtliche Regelungen der Genfer Rotkreuz- Abkommen unberücksichtigt, und er stellt fest: Bei wirklichkeitsnaher Betrachtung einer möglichen Konfliktsituation wird davon auszugehen sein, daß breitgefächerte, zentral gelenkte Zivilschutzmaßnahmen in aller Regel nicht wirksam werden können, sondern daß jede Stadt und jedes Dorf auf sich selbst gestellt sein wird.

Wozu, so muß man sich fragen, dient also ein Gesetzentwurf, der von allen betroffenen gesellschaftlichen Gruppen – nicht nur den beiden erwähnten – mehr oder weniger stark abgelehnt wird, da er die eigentlichen humanitären Anliegen gar nicht im Auge hat? Der Gedanke ist naheliegend, daß er Ausfluß von militärstrategischen Neuorientierungen innerhalb des NATO-Bündnisses ist. Dafür spricht, daß die angekündigte Gesetzesvorlage zur Ratifizierung der erwähnten Zusatzprotokolle mit dem ausdrücklichen Vorbehalt erfolgen soll, daß Atomwaffen nicht zu den unterschiedslos wirkenden und somit verbotenen Waffen gezählt werden, wie Staatsminister Dr. Alois Mertes in einem Interview kürzlich zu verstehen gab.

Sichert also das Gesetz den Schutz des Zivilen? – Leider tut es dies nicht.

Dr. rer. nat. Wolfgang Send, Greitweg 48 a, 3400 Göttingen. Der Autor ist nebenamtlicher Leiter der Einsatzeinheiten des Technischen Hilfswerks (THW) in Göttingen und gehört dem Katastrophenabwehrstab der Stadt Göttingen an. Hauptberuflich ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DFVLR) im Forschungszentrum Göttingen.

Operation „Charlie“

Operation „Charlie“

von Redaktion

Gleichsam im Gegenzug zu den verheerenden Prognosen der 100 amerikanischen Wissenschaftler hat die Bundesnotstandsbehörde der Vereinigten Staaten von Amerika (Federal Emergency Management Agency = FEMA in Verbindung mit dem United States Department of Agriculture (USDA) die Öffentlichkeit zu beruhigen versucht: In einer im Dezember vergangenen Jahres publizierten Studie zu Problemen der Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung nach einem Nuklearangriff kommen die Behörden zu dem Ergebnis, daß die „Balance“ zwischen überlebender Bevölkerung und noch nutzbaren Versorgungsmitteln gewahrt sei. Die Entwicklung eines umfassenden Zivilschutzprogrammes (Integrated Emergency Management System) vorausgesetzt, könnten 80% der US-amerikanischen Bevölkerung eine atomare Auseinandersetzung überleben.

Die ökologischen Folgen eines Atomkrieges werden von FEMA ignoriert. Die Studie selbst ist nur ein Glied in der Kette ähnlich fataler Auslassungen dieser Institution. Wir beschäftigen uns mit ihr, um die Denkstrukturen führender Strategen in der gegenwärtigen US-Administration darzustellen und um zu zeigen, daß in der Tat der nächste Krieg dort in Betracht gezogen und vorbereitet wird.1

Schon bei der ersten Lektüre der FEMA Studie erschreckt die Sprache der Militärstrategen und Technokraten. Betrachtet werden vier verschiedene Fälle des Notstandes: Energieverknappung, Naturkatastrophen, Transportunterbrechungen und eben Atomkrieg (der als das schlimmste der genannten Übel klassifiziert wird). Diese Zusammenstellung bereits ist bezeichnend. Für den Fall eines Atomkrieges wird mit zwei Simulationsmodellen gearbeitet. Im ersten Beispiel wird ein Atomschlag auf militärische Einrichtungen betrachtet, im zweiten die Folgen eines Angriffes auf militärische und zivile Einrichtungen der USA. Daß diese Studien, UNCLEX genannt (unclassified exercise), mit Kosenamen versehen werden, ist üblich. Fall 1 heißt dann „Mike“, Fall 2 „Charlie“. Das eingesetzte nukleare Potential wird mit jeweils 6000 Megatonnen und 1200 Waffen angenommen.

Wo die grausamsten Dinge „vermenschlicht“ werden, ist die Verdinglichung der Menschen nicht weit.

Aus den Tagen des Vietnamkrieges sind uns noch die Meldungen über „Killing rates“ im Ohr. Die Notstandsbehörde arbeitet mit „survival-rates“. Und da kommt heraus, daß der Mensch ein höchst anfälliges Wesen ist. Schweine und Schafe haben bessere Überlebensaussichten.

Schwein müßte man sein!

Resource Percent Potentially Surviving
Population 46
Beef Cattle 57
Swine 64
Sheep and Lamb 68
Dairy Cattle 55
Broiler Chicken 54
Layer Chicken 53
Turkeys 62
Livestock an Poultry Availability and Population Survival at D+60 Days (UNCLEX „Charlie“ Attack)

Überhaupt: der Mensch. In der kruden, quantifizierenden Betrachtungsweise der Atomkriegsstrategen kommen die Menschen mit ihren Leiden, ihren Qualen nicht vor. Arbeit ist ein Produktionsfaktor, dessen Verlustquote durch einen atomaren Krieg auf eine Prozentzahl gebracht werden kann. Da die Manager des Notstands aber doch auf die Gefolgschaft der Menschen angewiesen sind, wird diesen Tröstung zuteil. Die Überlebenden (die angenommene Prozentzahl beträgt 45% der amerikanischen Bevölkerung) haben nicht zu befürchten, daß ihnen die Lebensmittel ausgehen. Aus rasche Gesundung des Landes steht zu hoffen. Im Falle des abgeschlossenen Zivilschutzprogramms 1988 erwartet FEMA 80 Prozent Überlebende. Die hierfür vorgesehene Evakuierung der Stadtbevölkerung soll in einer Woche bewerkstelligt werden (vgl. Flugzeit der Pershing…)

Aber die Ironie des Schicksals will es, daß je mehr Menschen überleben, ihre Versorgungsprobleme immer unlösbarer werden. „Ironically, the relatively favorable balance between population and livestock and poultry survival rates expected under current Civil Defense capabilities could disappear under an effective crisis relocation effort.“(S. 13) Aber für diesen Fall kündigt FEMA Problemlösungen an. „Research is underway“, heißt es da auf amerikanisch.

Die Annahmen der Behörden basieren auf der Unterstellung, bei den USA handele es sich um eine Überflußgesellschaft. Das Problem der grassierenden Armut, die durch „reaganomics“ rapide voranschreitet, wird als nicht existent weggewischt. Aber auch das Schicksal weiterer Millionen Menschen interessiert nicht: an mehreren Stellen des Papiers wird auf bestehende Produktionsüberschüsse über den inländischen Bedarf hinaus hingewiesen. Sie liegen bei Getreide, z.B. bei über 50 % des Inlandverbrauches. FEMA zieht daraus den Schluß, daß eine erhebliche Einschränkung der Agrarproduktion nicht gleichermaßen auf die US-Bevölkerung durchschlage. Im Klartext: Die brutale Verelendung vieler Völker der Dritten Welt, die von US-Importen abhängig sind, ist für diesen Fall einprogrammiert. Im folgenden dokumentieren wir die wichtigsten Aussagen der Studie von FEMA und USDA:

Die Nahrungsmittelversorgung nach einem Atomkrieg

Auswirkungen auf das Vieh

Auch wenn das Vieh minimalen Schutz vor den Folgen eines Atomwaffeneinsatzes habe, könne es Druckwelle und radioaktiven Niederschlag „besser überleben“ als Menschen. die Versorgungsbalance sei also gewahrt.

Auswirkungen auf Getreide

Die Hauptbedrohung für das Getreide sei radioaktiver Befall. Dabei seien zwei Phasen zu unterscheiden: in der frühen und mittleren Wachstumsphase zwischen dem 1. Juni und dem 1. August sei das Getreide besonders „sensibel“. „Attacks during the non-growing season would not be expected to affect future yields directly … Only a June 1st attack would be likely to seriously threaten yield of major crops and even then the reduced yields would not necessarily threaten survival.“(S. 9)

Auswirkungen auf die Farmarbeit

„Casualty rates would vary widely by area with the heaviest casualties taking place in the urban areas (…) The rural population, in contrast, would fare relatively weil. Nearly 80 percent of the rural Population could still be alive at D+60 days.“ (S. 9) Verknappung der Farmarbeit wird daher nicht als kritischer Faktor angesehen, auch wenn das Problem der radioaktiven Strahlung beachtet werden müsse?! Die Abhängigkeit von „Gastarbeitern“ in der Obst- und Gemüseernte wird nicht als Problem erwartet nach einem Nuklearangriff. „These workers should survive at least as wen as the U.S. rural Population, and the Department of Labor sees no reason why they would not continue to participate in US. harvests.“(S. 10)

Auswirkungen auf andere „Inputs“:

70 bis 80 % der Kapazitäten der Düngemittelproduktion würden erhalten bleiben.

„Thus except for short-term interruptions in production because of the attack, which could probably be tolerated, fertilizer ist not expected to be a Problem.“(S. 10) Allerdings sei es wichtig, schnell die Produktion fortzusetzen, weil sich sonst die Erträge bei Korn und Weizen um 40 bis 50% reduzieren könnten.

Energie

Es wird davon ausgegangen, daß 30 bis 40% der Raffinerien und 60% der Elektrizitätswerke weiter existieren. Zwar könnte der im Gefolge eines Atomschlags auftretende elektromagnetische Impuls die Kapazitäten der Stromversorgung reduzieren. „However, defense electric power planners are confident that there will be adequate power for the reduced needs of a post attack economy.“ Die größte Bedrohung stelle ein Stromausfall über mehrere Wochen hinweg dar, der bspw. die Bewässerung unterbrechen könne. Solche Unterbrechungen, die drei Tage oder mehr andauern könnten, würden die Ernte bedrohlich reduzieren. Etwa 50% der Kartoffeln, der Früchte und des Gemüses wachsen auf bewässertem Land. Und weiter?

Pestizide und andere Chemikalien

50-60 % der „Vorangriffskapazität“ werden angenommen. Da aber weit über den Inlandsbedarf produziert werde, seien keine gravierenden Probleme zu erwarten. Auch wenn nicht übersehen werden dürfe, daß Insekten augenscheinlich gegenüber Radioaktivitat weniger anfällig wären als das Getreide. Mit Engpässen bei der medikamentösen Versorgung sei zu rechnen. „Nevertheless, es könnte sein, daß wir nach einem Nuklearangriff zwischen der Behandlung von Menschen und Tieren zu wählen hätten.“(S. 12)

Landwirtschaftliche Maschinen

Harte Verluste – Kapazitäten auf 55 % verringert.

Nahrungsmittelindustrie

Es wird erwartet, daß die Einrichtungen der Nahrungsmittelindustrie einen nuklearen Angriff im gleichen Maß überstehen würde, wie die Bevölkerung bei gegenwärtigen zivilen Schutzmöglichkeiten. Von daher „Balance“ recht günstig. Man beachte, daß viele Verarbeitungseinrichtungen besser abschneiden als die allgemeine Bevölkerung (s. Chart 10).

Versorgung mit Arbeitskräften

„Es ist eine Faustregel, daß die Verwendbarkeit von Arbeitern, die die weiterexistierenden Einrichtungen bedienen werden, 30 % geringer sein wird als vor dem Angriff, Wenn sich die Verletzten erholt haben, fallen die Fehlbeträge auf 10 %. Es ist schwierig die gesamte Wirkung dieser Fehlbeträge einzuschätzen, aber sie müssen nicht unüberwindbare Probleme darstellen. Längere Arbeitszeit und Produktionsspezialisierung könnten über augenblickliche Mängel hinweghelfen.“(S. 10)

In diesem Stil werden des weiteren Probleme der Verpackung und des Transports abgehandelt. Da die Nahrungsmittelvorräte in den einzelnen Haushalten – aufgefüllt durch geborgene Mittel aus zerstörten Einrichtungen – für zwei Monate und mehr reichen würden, könnte der durchschnittliche Kalorienverbrauch pro Tag auf weit über 2000 Kalorien angesetzt werden. Bleibt nur noch das Problem, daß ein Teil jener, die zu sterben verurteilt seien, noch für eine gewisse Zeit Konsumenten bleiben würden.

Food Processing Facility Availability, D+60

Industries with over 60 % Availability

  • Poultry Dressing
  • Poultry and Egg Processing
  • Butter
  • Cheese
  • Condensed Milk
  • Canned Fruits and Vegetables
  • Frozen Fruits and Vegetables
  • Prepared Animal Foods
  • Cane Sugar
  • Beet Sugar
  • Chocolate and Cocoa Products
  • Soybean Oil Mills
  • Wines

Industries with less than 35 % Availability

  • Sausage and prepared Meat Products
  • Ice Cream
  • Fluid Milk
  • Pickles, Sauces, Salad Dressings
  • Rice Milling
  • Pet Food
  • Bread and Bakery Products
  • Cookies and Crackers
  • Cane Sugar Refining
  • Candy
  • Shortening, Margarine, etc.
  • Malt Beverages
  • Malt
  • Soft Drinks
  • Flavorings
  • Canned Seafoods
  • Fresh or frozen Seafoods
  • Coffee
  • Macaroni, Spaghetti, Noodles
  • Food Preparations, N.E.C.

Anmerkungen

1 Vgl. Scheer, Robert, Und brennend stürzen Vögel vom Himmel, München 1983, insbes. S. 187 ff. Zurück

Die Verwundbarkeit der technischen Zivilisation

Die Verwundbarkeit der technischen Zivilisation

von Gerhard Knies

Leistungsfähigkeit und Stärke der Industriegesellschaften kommen zustande durch eine hochentwickelte zivile Infrastruktur. Fabriken, Kraftwerke, Kommunikationssysteme, Maschinen, Fahrzeuge, Verkehrswege, Bildungseinrichtungen, Dienstleistungsunternehmen, Ent- und Versorgungssysteme für Nahrung, Wasser und Gebrauchsgüter, Gerichte, Parlamente, Verwaltungen usw. bilden ein hoch entwickeltes und wirkungsvoll vernetztes System zur effizienten Realisierung unserer Lebensbedingungen. Diese zivile Infrastruktur ist äußerst verletzbar. Unser Autor geht ein auf die Stabilitätsbedingungen und Möglichkeiten zum Abbau der Verwundbarkeit.
Die Herausbildung einer zivilen Infrastruktur ist in unterschiedlichen Gesellschaften oder Kulturkreisen verschieden weit fort geschritten. Doch ihr Aufbau findet in Gesellschaften aller Kulturen statt, weltumspannend, kontinuierlich, Tag für Tag. Die technische Zivilisation hält weltweiten Einzug. Elektrifizierung und Alphabetisierung sind ihre Kennzeichen. Satelliten transportieren sie in jeden Winkel der Erde.

Mit der zivilen Infrastruktur verstärken wir unser Handeln, mit ihr versorgen wir unsere Lebensbedürfnisse. Jeder arbeitet zunehmend spezialisierter und effektiver. Jeder profitiert von den Fähigkeiten anderer. Das macht uns leistungsfähig und voneinander abhängig – wie die Organe eines Körpers. Die Fähigkeit zur Selbstversorgung wird schon gar nicht mehr erlernt. Wozu auch? Wir wollen nicht zurück zur Entwicklungsstufe von Einzellern. Die zivile Infrastruktur verstärkt unsere Kommandos, gibt uns alles was wir brauchen, und alles ist in Ordnung.

Doch sie kann auch anders.

Zum Ersten: Wenn sie ausfällt. Ohne Strom steht fast alles still. Verkehrsampeln, Tankstellen, Ladenkassen, Fernsehen, Küche und Computer… Zählen sie einmal nach, was an ihrem heutigen Tagesablauf ohne Elektrizität funktioniert hätte. Ohne die Funktionen der zivilen Infrastruktur ist die Gesellschaft paralysiert.

Zum Zweiten: Wenn sie explodiert. Ich erinnere an Flugzeugabstürze, an den spektakulären Brand in der holländischen Feuerwerksfabrik, an den Unfall von Seveso oder den von Tschernobyl. Wir sind umgeben von Risikopotenzialen. Durch sie ist die Gesellschaft bis zur Letalität verwundbar.

Zum Dritten: Wenn sie zur (Zer-)Störung missbraucht wird. Ich erinnere an den 11. September, an die Milzbrandbriefe. Dann sprechen wir von Terrorismus.

Stabilitätsbedingungen

Eine technologisch hochentwickelte Zivilisation erfordert drei Betriebsvoraussetzungen:

1. Redundanzen und Notsysteme gegen Ausfälle

2. Frühwarnsysteme zur Vereitelung und Containment zur Schadensbegrenzung von Explosionen

3. Abwesenheit von Missbrauch.

Die Betriebsvoraussetzungen 1 und 2 sind im Wesentlichen technischer und organisatorischer Natur. Sie werden mit der zivilisatorischen Entwicklung ebenfalls weiter entwickelt. Der TÜV überprüft sie regelmäßig und sichert die Robustheit gegen betriebsbedingte Störungen wie Materialfehler. Im Verkehr helfen Leitplanken, Knautschzonen, Airbags, Gurte und Rettungshubschrauber bei menschlichem Versagen.

Solche Absicherungen sind jedoch nicht ausgelegt für die Einwirkung militärischer Gewalt. Das würde unerträglich teuer. Hochentwickelte Gesellschaften sind viel zu verwundbar, als dass sie sich den Einsatz militärischer Gewalt im eigenen Lande noch leisten könnten. Sie müssen ihre Konflikte und Rivalitäten anders austragen – es sei denn, sie sind zum Selbstmord bereit (wie Deutschland im 3. Reich). Also durch Verhandlungen oder durch Stellvertreterkriege. So ist der Kalte Krieg zwischen den militärischen Supermächten im Ost-West-Konflikt geführt worden, bis einer aufgegeben hat.

Die Betriebsvoraussetzung 3 betrifft die Intention der Nutzer der zivilen Infrastruktur. Denn sie eröffnet ungeheure Missbrauchsmöglichkeiten für Terrorakte. Die Abwesenheit von Missbrauchsabsichten muss politisch hergestellt werden.

Abwesenheit von Terror durch Beherrschung von Terroristen

Eine Abschreckung von Terroristen ist nicht verlässlich. Anders als im Kalten Krieg ist der Abzuschreckende vorher nicht direkt erkennbar. Ein geschickter Terrorist kann unerkannt in Deckung bleiben – wenn er es denn will. Und was soll einen Selbstmordattentäter noch abschrecken?

Reagieren auf vollzogenen Terror kommt zu spät. Systeme zur Schadensbegrenzung oder zur Tatvereitelung kann jeder halbwegs intelligente Terrorist bei der Auswahl seiner Methoden einkalkulieren und ebenfalls ausschalten.

Nicht unsinnig ist eine Früherkennung von potenziellen Terroristen bzw. von geplanten Terrorakten. Doch eine Sicherheit gibt das nicht. Wenn die Anstrengungen zur Vereitelung von Anschlägen aber als Alternative für Anstrengungen zur Vermeidung terroristischer Motivierungen gesehen werden, könnte das sogar zum Gegenteil führen. Denn die Kunst des Containments von Risiken ist das Trojanische Pferd für dieselben. Ohne die mehrfachen Druckbehälter und Not-Abschaltsysteme wären Kernkraftwerke nicht genehmigungsfähig. Je mehr wir das Restrisiko verkleinern können, desto größere Primärrisiken leisten wir uns.

Abbau der Verwundbarkeit

Einen Rückbau der zivilen Infrastruktur, die Rückkehr zur primitiven und armen Gesellschaft von Selbstversorgern wird es nicht geben.

Eine »Härtung« der Gesellschaft gegen terroristischen Missbrauch ihrer Infrastruktur ist, wie das Beispiel der Milzbrandbriefe zeigt, ein vollständig aussichtsloses Unterfangen. Was nutzt eine Fähigkeit zur Abwehr von Raketen, wenn die eigene Post die Biobomben verteilt? Und selbst wenn wie in diesem Falle die Verteilung von Briefen eingestellt würde, gibt es andere Wege wie z.B. Wasserleitungen.

Andere raten, die Abhängigkeit vom Ausland zu verringern, also den Prozess der globalen Vernetzung umzukehren. Doch ein Zurück in die nationale Selbstversorgung und Isolation gibt es nicht. Wo beginnt das Ausland? Außerdem: Terror muss nicht von außen kommen. Was würde denn der Abbau internationaler Verflechtungen bringen? Nationale Autarkie – besonders auf dem Sektor von Rohstoffen und Energie – war schon immer eine Vorbedingung für oder gar eine Vorbereitung von nationaler Aggressivität. Das wären falsche Signale an die Völkergemeinschaft.

Internationale Verflechtungen und Abhängigkeiten dagegen fördern wechselseitiges Wohlverhalten. Verbundsysteme verbinden. Beispielsweise bieten angesichts der globalen Bedrohung durch einen Klimawandel erneuerbare Energien hervorragende Möglichkeiten der globalen Kooperation zum Vorteil aller. Eine erdweite Kooperation zur optimalen Nutzung erneuerbarer Energien, so als ob es keine Grenzen gäbe, wäre wirkungsvoll gegen den Klimawandel, entwicklungsfördernd für viele strukturschwache Länder und völkerverbindend.

Natürlich kann man Terroristen die Nutzung einiger Optionen erschweren. Aber wer glaubt schon von sich sagen können, er könne die Phantasie entschlossener Terroristen im Voraus erfassen? Ich glaube nicht, dass Terroranschläge wegen »einer« günstigen Gelegenheit verübt werden. Gelegenheiten gibt es wie Sand am Meer. Die Beispiele, die wir kennen, beruhen auf motiviertem und überlegtem Handeln. Entscheidend scheint mir, Motivierungen zu Terrorakten zu vermeiden oder zu vermindern.

Vermeidung von Terrorismus

Hier muss man letztlich die Gründe kennen, die zu terroristischen Aktionen führen können. Da wird es keinen erschöpfenden Katalog geben. Aber sicherlich dürften solche Motivierungen provoziert werden durch krasse, ungerechte Unterschiede beim Zugang zu den natürlichen Lebensgrundlagen der Erde oder durch Unterdrückung schwacher und kleiner Völker durch zivilisatorisch Starke. Wenn der westliche ökonomische Fundamentalismus die Globalisierung weiter als ökologische, soziale und kulturelle Brandrodung der Erde betreibt, um Vorteile für Wenige durch Schäden für Viele zu erzeugen, wird weltweit Verbitterung erzeugt. Ich glaube, dass die Reichen dieser Erde, seien es Individuen oder Völker, die ihren Wohlstand der verwundbaren Hochtechnologie-Zivilisation und einigen globalen Ungerechtigkeiten verdanken, sich selbst etwas Gutes tun, wenn sie globales Sozialverhalten entwickeln. Warum sollten sie nicht ein paar begrenzte Abstriche an ihren Privilegien vornehmen, wenn sie sich dafür eine sicherere Zukunft einhandeln? Globale Gerechtigkeit und globales Sozialverhalten scheinen mir die wichtigsten »Waffen« gegen Terrorismus zu sein. Doch beide kommen nicht von selbst. Es gilt, sie zu organisieren. Wenn die Anschläge des 11. September dazu die Bereitschaft herbei führen sollten, wären die 5.000 Menschen in den WTC Türmen nicht ganz umsonst gestorben.

Wie lassen sich globale Gerechtigkeit und globales Sozialverhalten organisieren?

Ich denke, dass die internationalen Klimakonferenzen dazu ein interessantes Muster abgeben. Es gibt mehrere Parallelen zwischen dem globalen Klimaterror Nord gegen Süd und dem hier diskutierten Revancheterror Süd gegen Nord, bzw. Rest der Welt gegen die Dominanz des Westens:

Identifikation einer globalen Gefährdung

  • Der globale Klimawandel gefährdet die natürlichen Lebensgrundlagen, z.B. durch Anstieg der Meeresspiegel.
  • Globale Ungerechtigkeit gefährdet die zivilisatorischen Lebensbedingungen, z.B. durch terroristische (Re-)Aktionen.

Die Unmöglichkeit nationaler Absicherung

  • Kein Land kann das Klima in seinem Souveränitätsgebiet autonom schützen.
  • Kein Land kann sich gegen terroristische Attacken im Alleingang schützen, weder gegen deren Ausführung noch gegen deren Folgen.

Globale Organisation des Schutzes

  • Klimaschutz-Allianz möglichst aller Völker mit vereinbarten Maßnahmen.
  • Anti-Terror-Allianz möglichst aller Völker mit vereinbarten Maßnahmen.

Die Klimaschutz-Allianz wird unter der Ägide der UNO auf internationalen Klimakonferenzen aufgebaut. Die neue Anti-Terror-Allianz betreibt unter der Führung der USA in erster Linie eine Beseitigung der Täter vom 11. September – nach der Tat. Der Hydra wird der Kopf abgeschlagen und die UNO übernimmt die Organisation einer neuen Regierung in Afghanistan. Das ist richtig, aber nicht genug, genau so wenig wie die geplante Trockenlegung einiger Geldkanäle. Dann geht das Geld andere Wege.

Was die Menschheit anpacken muss, wird deutlicher bei einer Übertragung dieser Reaktion gegen den Terrorismus auf die Klimasituation: Wenn man den von der Versenkung durch ansteigenden Meeresspiegel bedrohten OASIS-Staaten auf den Pazifik-Inseln dasselbe Recht auf nationale Selbstverteidigung zubilligen würde, wie es die USA jetzt gegen die Taliban in Anspruch nehmen, dann wären die OASIS-Länder jetzt aufgerufen, eine weltweite Allianz gegen den globalen Klimaterror zu organisieren, Sofortmaßnahmen zur Beseitigung des Klimaterroristen Nr.1, der USA-Regierung, zu ersinnen und zu vollziehen und die USA unter UNO-Verwaltung zu stellen.

Man sieht, wie weit wir noch von Gleichheit vor dem Recht, globaler Gerechtigkeit und globalem Sozialverhalten entfernt sind. Es gilt noch das Recht des Stärkeren und nicht die Stärke des Rechts. An die Stelle der Solidarität mit den USA muss die Solidarität mit der Menschheit als ganzer treten.

Herstellung von globaler Gerechtigkeit und zwischenstaatlichem Sozialverhalten

Am 11. September wurde uns vor geführt, wie sehr wir Menschen auf »einer Erde« aber in »verschiedenen Welten« leben. Auszurichten wäre eine Konferenz möglichst aller Völker der Erde, auf der zu sprechen wäre über die Ursachen von Terror, über präventive Gegenmaßnahmen, über die friedliche Koexistenz von Völkern unterschiedlicher Kulturen und unterschiedlichen technologischen Entwicklungsstandes, über Definition und Herstellung globaler Gerechtigkeit sowie über die Erzwingung von globalem Sozialverhalten. Eine solche globale Gerechtigkeitskonferenz würde sich sicherlich über viele Jahrzehnte hinziehen. Sie muss sich auch befassen mit der Beschränkung nationaler Souveränität und dem Umgang mit Schurkenstaaten und mit Supermächten. Sie könnte aber der Anfang dafür sein, die Existenzvoraussetzungen für die Dauerhaftigkeit der technischen Zivilisation zu schaffen, denn: Unsere Hochtechnologie-Zivilisation ist wie Dynamit für Terrorismus – also sollten wir uns so organisieren, dass wir keinen provozieren.

Dr. rer. nat. Gerhard Knies ist Physiker auf dem Gebiet der Elementarteilchen-Forschung. 1995 hat er den Hamburger Klimaschutz-Fonds (HKF) mitgegründet (http://www.klimaschutz.com).