Schritte Richtung Frieden

Schritte Richtung Frieden

Fünf Vorschläge zum Krieg gegen die Ukraine

von Werner Wintersteiner

In der Ukraine kämpfen die Menschen verzweifelt gegen die übermächtige russische Armee, die die Zivilbevölkerung nicht schont, Städte dem Erdboden gleichmacht und schreckliche Kriegsverbrechen begeht. Die USA, die NATO und viele europäische Staaten haben ihrerseits Russland den „totalen wirtschaftlichen und Finanzkrieg“1 erklärt, liefern ständig neues Kriegsmaterial und spielen vor unseren Augen das verlogene Stück des humanitären Militarismus. Die Gefahr eines Atomkriegs ist enorm gestiegen. Welchen Ausweg gibt es aus dieser Katastrophe?

Der Ukraine-Krieg müsste für alle, die ernsthaft etwas zu seiner Überwindung beitragen möchten, zunächst ein Anlass zur Selbstkritik sein. Das gilt auch für Friedensforschung und Friedensbewegung: Haben wir die Situation nicht falsch eingeschätzt? Sind wir nicht von der Brutalität der russischen Kriegsführung überrascht? Haben wir angesichts unserer berechtigten und nach wie vor notwendigen Kritik an der Expansionspolitik der NATO als Konfliktfaktor nicht eine ebenso differenzierte Kritik der russischen Politik oft vernachlässigt? Haben wir uns ausreichend bemüht, ein geopolitisches Gesamtbild zu zeichnen? Hat sich die Friedensforschung nicht zu sehr in Detailfragen verstrickt und damit die große Gesamtfrage des Weltfriedens aus den Augen verloren? Haben wir geopolitische Rivalitäten der Großmächte, die Weltkriegsgefahr, die Emanzipationskämpfe des Globalen Südens, die Klimakatastrophe, die Covid-19-Pandemie usw. ausreichend als Phänomene einer Polykrise dargestellt, aus der es friedenspolitische Auswege braucht?

Nun hat der Krieg selbst neue Realitäten geschaffen, die Fronten und die Gefühle verhärtet und unermesslichen Schaden für alle angerichtet. Und wir beobachten auch bei uns eine verstörende Aufrüstung der Kriegsarsenale und der Seelen. Vollkommene Simplifizierungen des komplexen Konflikts werden als fundierte Analysen verkauft. Die breite Solidarität mit den Geflüchteten ist vielleicht die einzige positive Entwicklung. Sie zu stärken und längerfristig zu erhalten ist eine wichtige Aufgabe der Zivilgesellschaft. Doch darüber hinaus muss an Schritten hin zum Frieden gearbeitet werden. Dazu fünf Vorschläge.

1. Gewaltfreie Strategien im Konflikt unterstützen und propagieren

Es gilt, die bestehenden gewaltfreien Widerstandsaktivitäten in der Ukraine wie auch in Russland und Belarus nach Kräften zu unterstützen und bei uns bekannt zu machen (vgl. McCarthy 2022). In ihrer berechtigten Gegenwehr gegen die russische Aggression setzt die ukrainische Regierung ganz auf den militärischen Widerstand und offensichtlich kann sie sich dabei auf eine breite Mehrheit der Bevölkerung stützen. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch gewaltfreie Aktionen gibt, über die bei uns allerdings nur sporadisch und ohne ihren Zusammenhang darzustellen berichtet wird (siehe dazu den Beitrag von Stadtmann in diesem Heft, S. 15). Bei allem Respekt vor dem Recht der ukrainischen Bevölkerung, selbst zu entscheiden, wie sie ihre Verteidigung gestaltet, ist es doch die Aufgabe der Friedensforschung, mit ihrem Wissen und ihren Einschätzungen an diesen Konflikt heranzugehen. Dazu gehört nicht zuletzt die Erkenntnis vom strategischen Wert gewaltfreier Aktionen, wie er etwa in dem inzwischen klassischen Buch »Why Civil Resistance Works« von Maria Stephan und Erica Chenoweth (2011) nachgewiesen wird. In dieser Studie über 100 Jahre »regime change« wird nachgewiesen, dass Gewaltfreiheit deutlich erfolgreicher und nachhaltiger als ein bewaffneter Aufstand ist, wenn es um die Überwindung diktatorischer Regimes geht. Dabei kommen Methoden wie öffentlicher Protest, Mahnwachen, Sit-ins, Blockaden, Streiks oder Ziviler Ungehorsam zum Einsatz. Das entspricht zwar nicht direkt der heutigen Situation der Ukraine, wo derzeit der Widerstand gegen eine ausländische Invasion im Vordergrund steht, dennoch behalten viele Erkenntnisse der Forschung über Gewaltfreiheit ihre Gültigkeit.

Beide Autorinnen arbeiten auch seit einigen Jahren mit Friedenskräften in der Ukraine zusammen (Kroc Institute 2022). Und Organisationen wie die 2019 gegründete »Ukrainische Pazifistische Bewegung« haben den Mut, sich gegen die herrschende Stimmung zu wenden, die Kriegslogik prinzipiell abzulehnen und sich für die derzeit unpopuläre friedliche Lösung einzusetzen. Yurii Sheliazhenko, Sekretär der Bewegung und Vorstandsmitglied des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung, stellt sich mit allen Kräften gegen die russische Invasion, aber er sieht auch den größeren Kontext, in dem die Ukraine als Schlachtfeld in der Konkurrenz zwischen den USA und Russland dient (Democracy Now 2022).

Wenn heute Ukrainer*innen auf Gewaltfreiheit setzen, verfolgen sie damit mehrere Ziele: Zunächst geht es darum, die militärische Invasion zu verlangsamen und zu stören. Ferner sollen Zivilist*innen geschützt, Gewalt gegen sie soll hintangehalten und Zeit gewonnen werden, die ihnen eine Flucht ermöglicht. Den russischen Streitkräften und der Bevölkerung in Russland soll die Illegitimität ihres Krieges bewusst gemacht werden, und das Desertieren russischer Soldaten ist ein erklärtes Ziel. Letztlich kann wohl nur Widerstand in Russland selbst auf die Dauer eine Verhaltensänderung des Putin-Regimes bewirken. Aber noch immer ist die Mehrheit der russischen Bevölkerung von Putins Argument, er müsse sich gegen die Aggression des von Faschisten geführten Nachbarstaates wehren, mehr oder minder überzeugt.2 Deswegen ist es auch sehr wichtig, die sehr mutigen und beharrlichen Proteste in Belarus und Russland zu unterstützen.

2. Kritik der »Aufrüstung der Seelen«

Auch wenn der ukrainische Widerstand gegen die russische Invasion berechtigt ist, müssen wir uns vor Augen halten, dass das Land systematisch Kriegspropaganda betreibt und wir fast ausschließlich seine Sichtweise vermittelt bekommen. Doch je härter der Krieg geführt wird, je mehr der jeweilige Gegner dämonisiert wird, desto schwieriger wird es, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Das gilt auch für das Klima bei uns. Alle Konfliktparteien, auch die jeweiligen Feinde, dürfen nicht dämonisiert, sondern müssen wieder re-humanisiert werden. Das betrifft die Sprache, das Etikettieren des Anderen und die gewählten Narrative. Und das führt zu kritischen Fragen, ob es wirklich sinnvoll ist, auch alle kulturellen und kommunikativen Kontakte zu Russland abzubrechen.

3. Zivilgesellschaftliche Dialoge zwischen den »Feinden«

Die zivilgesellschaftliche Konfliktbearbeitung darf nicht unterschätzt werden. So schlägt Sheliazhenko eine „unabhängige öffentliche Kommission von Expert*innen“ (Sheliazhenko 2022) zur Mediation in diesem Krieg vor. Doch der Frieden in der Ukraine ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf. Politische Vereinbarungen werden für einen dauerhaften Frieden nicht ausreichen. Es bedarf auch eines gesellschaftlichen Dialogs innerhalb der Ukraine wie zwischen der Ukraine und Russland. Die Zivilgesellschaft kann dazu wichtige Kommunikationskanäle schaffen bzw. tut dies bereits. Auch die von Herbert C. Kelman entwickelten »Interactive Problem Solving Workshops« (Kelman 2017) auf Track 2 oder auch auf Track 3 Ebene könnten dazu als Modell genommen werden. Sie sind ein Weg, in einer geschützten Atmosphäre intellektuelle Energien für kreative Lösungen freizusetzen.

4. Kritik der Militarisierung unserer Gesellschaften

Massives Aufrüsten, Stärkung der NATO und ein offener Militarismus sowie ökonomische Abkoppelung von Russland – das ist die »Lehre«, die die politische Klasse unisono aus dem Krieg zieht. Aber die Welt wird durch ein neues Wettrüsten sicher nicht friedlicher. Die hektischen Rufe nach mehr Waffen lenken auch davon ab, genauer zu untersuchen, warum Putin keinen großen Widerstand von EU und NATO erwartet hat. Grund war nicht eine unzulängliche Bewaffnung, sondern Putin hat gesehen, wie leicht es war, die politische Klasse und führende Wirtschaftskapitän*innen in Europa in sein System einzubinden und damit zu korrumpieren. Schließlich wurde ja auch die heute bedauerte Abhängigkeit Westeuropas von fossiler Energie aus Russland nach der Besetzung der Krim und der Ausrüstung der Rebell*innen im Donbas noch verstärkt. Statt einer Rüstungsspirale und Militarisierung brauchen wir vielmehr die politische Entschlossenheit, die Demokratie mit demokratischen Mitteln zu verteidigen.

5. Langfristige Friedensperspektiven für ganz Europa

Ausrüstung der Ukraine mit immer mehr und effizienteren Waffen, flankiert von einem »totalen Wirtschaftskrieg«, der Russland isolieren und seine Wirtschaft nahezu lahmlegen soll; die Reduzierung Russlands auf einen Paria-Staat, wie Joe Biden forderte (Dreisbach 2022) – das ist die rein militärische Logik, die die USA und die westlichen Staaten verfolgen. Aber wie soll das je in einen Friedensschluss münden? Ein zerrüttetes, atombewaffnetes Riesenreich Russland wäre sicher kein Beitrag zu einem stabilen Frieden. Die Grundidee jeder Friedenslösung, eine Lösung für alle beteiligten Seiten, rückt ganz aus dem Blickwinkel.

Die gewaltfreie Option denkt hingegen über den unmittelbaren Konflikt hinaus und bezieht den komplexen Gesamtkontext ein. Dazu gehört auch ein Nachdenken darüber, wie wir dazu beitragen können, die afrikanische Lebensmittelkrise abzufedern, die durch diesen europäischen Krieg ausgelöst wird. Und die Kritik an der Konflikteskalation durch die NATO, ohne deswegen Putins Russland aus seiner Verantwortung für diesen Krieg zu entlassen. Eine langfristige Friedensoption sollte nicht nur eine neutrale Position der Ukraine enthalten, sondern sie braucht eine größere europäische Lösung. Alle Anstrengungen sollten darauf gerichtet werden, heute das zu schaffen, was nach 1989 versäumt wurde, nämlich eine europäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur. Es wäre die Verwirklichung dessen, was Michail Gorbatschow mit dem schönen Bild vom „gemeinsamen europäischen Haus“ intendiert hat.

So bleibt festzuhalten: „Um den Krieg zu stoppen ist es wichtig, den Diskurs der Angst zu überwinden zugunsten eines Diskurses der Hoffnung für eine bessere Zukunft. Denn die Angst führt zu Gewalt, die Hoffnung aber zu Frieden“ (Sheliazhenko 2022).

Anmerkungen

1) So der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire am 1.3.2022 (zitiert nach: Le Monde Diplomatique (franz. Ausgabe), April 2022, S. 28).

2) Eine Umfrage in Russland im März 2022, die nach Alter und Informationskanälen für die Urteilsfindung der Interviewten fragt, kommt zu folgendem Ergebnis: Die Unterstützung für Putins Krieg steigt rasant mit dem Alter und der damit assoziierten ausschließlichen Nutzung staatlicher Informationsquellen: von nur 29 % unter den 18- bis 24-Jährigen zu 72 % unter den Russen über 51 Jahren (Aleksashenko 2022).

Literatur

Aleksashenko, S. (2022): What do polls say? Behind the Iron Curtain Blog, 13.3.2022.

McCarthy, E. (2022): 5 ways to support courageous nonviolent resistance in Ukraine. Waging Nonviolence, 5.3.2022.

Chenoweth, E.; Stephan, M. J. (2011): Why civil resistance works. The strategic logic of nonviolent conflict. New York: Columbia University Press.

Democracy Now (2022): Ukrainian pacifist in Kyiv: Reckless militarization led to this war. All sides must recommit to peace. Interview mit Yurii Sheliazhenko. 1.3.2022.

Kroc Institute (2022): Civil resistance in Ukraine and the region. Webinar vom 22.3.2022.

Sheliazhenko, Y. (2022): Putin, Biden and Zelenskyy, take peace talks seriously! Videobeitrag auf YouTube, 7.3.2022.

Kelman, H. C. (2017): Resolving deep-rooted conflicts. Essays on the theory and practice of interactive problem-solving. Hrsg. von Werner Wintersteiner und Wilfried Graf. London: Routledge.

Dreisbach, S. (2022): „Putin wird ein Paria sein auf internationaler Bühne“. FAZ, 24.02.2022.

Werner Wintersteiner, Univ.-Prof. i.R. Dr., ist Gründer und ehemaliger Leiter des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Eine längere Fassung dieses Beitrages ist Anfang April auf dem Blog von W&F erschienen: Wintersteiner, W. (2022): Der unterschätzte Widerstand. 6.4.2022.

Nicht anerkennen, nicht kooperieren

Nicht anerkennen, nicht kooperieren

Soziale Verteidigung in militärisch eroberten Städten

von Ulrich Stadtmann

Soziale Verteidigung ist ein nicht-militärisches Verteidigungskonzept. Es beruht auf zivilem Widerstand, dynamischer Weiterarbeit ohne Kollaboration und internationaler nicht-militärischer Unterstützung, wie z.B. Sanktionen. Letzteres findet im Ukrainekrieg neben militärischen Maßnahmen statt. Spontaner ziviler Widerstand zeigt sich dort oftmals in militärisch besetzen Städten. Angesichts einer nicht auszuschließenden Ausweitung des Krieges auch auf NATO-Staaten stellt sich für demokratische Gesellschaften die Frage, inwieweit z.B. Städte mit ihrer Zivilbevölkerung in militärische Kampfhandlungen einbezogen oder besser durch Soziale Verteidigung geschützt werden sollen.

In diesem Winter eskalierte die Lage in Europa durch den Truppenaufmarsch Russlands an den ukrainischen Grenzen und mündete am 24. Februar 2022 im Angriffskrieg gegen die ganze Ukraine. Dagegen verteidigt sie sich militärisch und hat damit eine schnelle Besetzung der Hauptstadt Kiew verhindert. Auch weitere Städte werden durch das nationale Militär verteidigt. Einige wurden eingekesselt, andere auch militärisch eingenommen. Für die Menschen in den belagerten Städten ist die Versorgungslage katastrophal. Zum Leben und Überleben braucht es Nahrung, Wasser, Wohnungen, Strom, Heizung und Krankenhäuser. Wenn eine Stadt im Kriegsverlauf zur Ruine wird, in der die Menschen umkommen, ist dort das zerstört, was verteidigt werden soll.

In den Städten der Ukraine, die von Russland besetzt sind, geht der Widerstand jedoch weiter. Es gibt die Bilder von zivilem Widerstand mit Demonstrationen auf Straßen und Plätzen.1 Dort erleben die russischen Truppen täglich, dass sie nicht erwünscht sind. Ihre propagandistisch geprägte Selbstwahrnehmung, sie seien zur Befreiung gekommen, zerbricht an der Wirklichkeit. Ebenso wie die militärische Verteidigung zielt auch der zivile Widerstand auf die Schwächung der Kampfmoral der russischen Truppen und soll auf Russland insgesamt einwirken.

Städte als Zellen des zivilen Widerstands

Das primäre Ziel Russlands scheint trotz der massiven Raketenangriffe nicht zu sein, Städte in Ruinenlandschaften zu verwandeln; vermutlich sollte eigentlich die Beherrschung der Ukraine angestrebt werden. Deshalb müsste die russische Regierung ein Interesse daran haben, möglichst funktionierende Städte zu kontrollieren. Die Zerstörung der Städte ist dann eher ein Kollateralschaden, der sich aus dem militärischen Kampf ergibt, aber sie wird auch gezielt zur Einschüchterung der Bevölkerung betrieben. Mit der militärischen Besetzung einer Stadt ist jedoch noch nicht die Kontrolle über sie erreicht (vgl. Verschwele 2022). Dazu ist die Besatzung auf die Stadtverwaltung, den Handel und die Wirtschaftsunternehmen sowie die Unterstützung durch deren Personal angewiesen. Auf diesen Voraussetzungen beruht Soziale Verteidigung: Eine Zusammenarbeit fände nur soweit statt, wie sie für die Lebensgrundlagen einer Stadt und die Interessen der Bevölkerung erforderlich ist.

In der Sozialen Verteidigung wird diese von Theodor Ebert entwickelte Idee als „Dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration“ (Ebert 1981) bezeichnet und geht über die öffentlichen Proteste des zivilen Widerstands auf Straßen und Plätzen hinaus. Die Lebensmittelversorgung und die Müllabfuhr, aber auch Polizei und Justiz, Kindergärten und Schulen werden gebraucht und sollten aufrecht erhalten werden. Nach dem Vorbild früherer historischer Fälle von Widerstand gegen Besatzung (z.B. Norwegen im 2. Weltkrieg und Finnland als Teil Russlands vor dem 1. Weltkrieg) strebt Soziale Verteidigung aber danach, alles weiter so auszuführen, wie es schon vor dem Krieg selbstbestimmt gemacht wurde.

Schon vor über 100 Jahren gab es von 1899 bis 1905 in Finnland, das seit 1809 eine autonome Region Russlands war, verschiedene Formen des zivilen Widerstands. „Der Widerstand war gewaltfrei und seine Grundsätze waren: ‚nicht gehorchen, nicht anerkennen, nicht zusammenarbeiten‘. Aus Protest gegen die Russifizierungspolitik des Zaren Nikolaus II. führten viele Beamte die Befehle des russischen Generalgouverneurs nicht aus“ (Hänninen, zitiert nach Arajärvi 2022, S. 3). Reetta Hänninen hat sich in ihrer Masterarbeit über diese Ereignisse auf Akten der Ordnungspolizei der russischen Verwaltung gestützt. Für die Vorsitzende des Bund für Soziale Verteidigung (BSV) Outi Arajärvi, die die Arbeit auf deutsch zusammenfasste, ähnelte dieser Widerstand sehr der Sozialen Verteidigung: „Von überall im Lande gab es Berichte über ungehorsame, widerspenstige und aufsässige Beamte der Post, Zoll, Verwaltung, Banken und Eisenbahn. Befehle wurden missdeutet, missachtet oder das Gegenteil wurde ausgeführt“ (ebd., S. 5).

Jede moderne Stadt- oder auch Staatsverwaltung kann jeden Tag bestens ohne neue Beschlüsse eines Stadtrates oder auch lange Zeit ohne eine neue Regierung arbeiten, wie in Zeiten einer lang andauernden Regierungsneubildung immer wieder zu sehen ist. Also versucht sie, unter einer Besatzung weiter gemäß den alten Grundlagen zu arbeiten und widersetzt sich allen neuen Anordnungen. Die Absetzung oder der Austausch einer Stadtregierung wird keine Herrschaft im Sinne der Besatzer*innen schaffen, wenn sie auf breiten Widerstand stoßen. Denn dann müssen sie auch auf untergeordneten Ebenen dafür sorgen, ihre Befehle durchzusetzen. Das erfordert personalintensive direkte Auseinandersetzungen von Mensch zu Mensch, bei denen das Besatzungsregime mit einer weiteren Demoralisierung seiner Truppen rechnen muss, denn sie werden immer wieder damit konfrontiert, dass sie als Besatzer*innen nicht erwünscht sind.

Wie schwierig es ist, eine Stadt zu beherrschen, die sich im zivilen Widerstand befindet, drückt sich aktuell wohl auch im folgenden Beispiel aus: In der besetzten ukrainischen Stadt Melitopol sollte der festgenommene Bürgermeister zur Kollaboration gezwungen werden, musste aber letztlich wieder freigelassen werden und wurde gegen neun gefangene russische Soldaten der Jahrgänge 2002 und 2003 ausgetauscht (vgl. Gnauck 2022). Die militärische Kapitulation einer Stadt bedeutet deshalb in keiner Weise das Ende des Widerstands. Es ist vielmehr der Wechsel von einer militärischen Kampfform, die in erster Linie ein Territorium verteidigt, zu einer Verteidigung des sozialen Gefüges einer städtischen Zivilgesellschaft.

Nach dem Völkerrecht wäre es auch möglich, eine Stadt zur »Offenen Stadt« zu erklären, die nicht militärisch verteidigt wird und deshalb nicht bombardiert werden darf. Diese Schutzfunktion sollte völkerrechtlich auch auf Städte ausgeweitet werden, die sich nur mit zivilem Widerstand ohne Kollaboration verteidigen.

Soziale Verteidigung klar von militärischen Kampfhandlungen trennen

Die Soziale Verteidigung zielt darauf ab, vorrangig das Leben der Zivilbevölkerung und die Infrastruktur einer Stadt zu schützen und darauf aufbauend durch zivilen Widerstand die Kosten für das angreifende Regime in die Höhe zu treiben. Einerseits soll es möglichst keinen Nutzen aus der Besetzung ziehen können und andererseits einen hohen Personaleinsatz zu finanzieren haben. Damit soll das Regime Gefahr laufen, durch eine Demoralisierung seiner eigenen Truppen vor Ort und an der »Heimatfront« den bisherigen Machtbereich aufs Spiel zu setzen. Es muss damit rechnen, dass seine Machtbasis gespalten wird und ein Umsturz droht, so dass es letztlich nichts hinzugewonnen, sondern alles verloren hat.

Ein solches Kosten-Nutzen-Kalkül kann durch internationale Sanktionsmaßnahmen im Rahmen eines nicht-militärischen Eingreifens unterstützt werden, wie es derzeit vor allem durch die Länder der EU und der NATO praktiziert wird. Die Sanktionen treffen jedoch nicht nur die Verantwortlichen des Aggressors – und diese vielleicht noch am wenigsten. Sie beeinträchtigen vor allem die Zivilbevölkerung und zudem noch die Bevölkerung nicht beteiligter Länder, z.B. durch Nahrungsmittelknappheit. Deshalb sollten sie zum einen zielgerichtet sein, um die Kriegsmaschinerie ins Stocken zu bringen. Zum anderen muss klar gegenüber den einflussreichen Kreisen und der Bevölkerung in Russland signalisiert werden, dass die Beeinträchtigungen aufgehoben werden, sobald die russischen Truppen aus der Ukraine abgezogen werden. Sanktionen sollen keine Bestrafungsaktionen sein. Sie sollten vielmehr darauf angelegt sein, einen positiven Anreiz zu geben und dazu beitragen, den Krieg zu beenden.

Die nicht-militärischen Maßnahmen sowohl in der Ukraine als auch international finden derzeit parallel zur militärischen Verteidigung statt, die vom Ausland mit Waffenlieferungen unterstützt wird. Zudem scheinen zur ukrainische Verteidigung auch militärische Kampfhandlungen in den besetzten Gebieten zu gehören (vgl. FAZ 2022). Hierbei kann dann eine durchaus problematische Überschneidung mit dem zivilen Widerstand entstehen. Zwar dürfte die Besatzung es schwer haben, Kollaborierende zu finden und sie als Marionetten einzusetzen, weil sie damit zur Zielscheibe für bewaffnete Widerstandskämpfer*innen werden. Andererseits werden auch die zivilen Kämpfer*innen leichter zu militärischen Zielscheiben, wenn Soldat*innen sich nicht sicher sein können, ob die Zivilbevölkerung nur als Deckung für eine Guerilla genutzt wird, die gegen sie agiert. Eine klare Trennung der Bereiche, in denen militärisch operiert wird, von denen des zivilen Widerstands ist deshalb eine wichtige Grundlage für Soziale Verteidigung.

Im Kalten Krieg des letzten Jahrhunderts wurde die Ergänzung einer militärischen Landesverteidigung um eine Soziale Verteidigung der Städte im Rahmen von Konzepten defensiver Verteidigung diskutiert. Die dänische Regierung hatte zu Beginn der 70er Jahren eine Studie in Auftrag gegeben über die Möglichkeiten von Sozialer Verteidigung (Boserup und Mack 1974). Litauen hat schon 1991 zivilen Widerstand in seine Militärstrategie aufgenommen und im Jahr 2016 als NATO-Mitglied erneuert. Dabei wurden auch zwei Handbücher über die »Formen und Grundsätze des zivilen Widerstands« im Rahmen der Landesverteidigung herausgegeben (vgl. Bartkowski 2021).

Nach der Erfahrung des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine lässt sich auch ein Krieg auf NATO-Gebiet nicht ausschließen, der zumindest zu Beginn konventionell geführt und hoffentlich nicht auf die atomare Ebene eskalieren würde. Ein Atomkrieg in Mitteleuropa würde alles zerstören, was verteidigt werden soll. Das gilt aber für einen konventionellen Krieg in den Städten und dicht besiedelten Gebieten mit ihrer Industrie ebenso. Mindestens in diesen Bereichen sollte deshalb besser eine Soziale Verteidigung vorbereitet werden.

Nichtkooperieren will gelernt sein

Im Jahr 1988 trafen sich über 1.000 Menschen zu einem Kongress über Soziale Verteidigung. Der aus dem Kongress hervorgegangene Bund für Soziale Verteidigung (BSV) veranstaltete 30 Jahre später erneut eine Tagung über Soziale Verteidigung. Die Geschäftsführerin Christine Schweitzer stellte dazu fest, dass „seit dem bewaffneten Konflikt in der Ukraine 2014 […] zunehmend wieder von der Gefahr eines Krieges in Europa gesprochen“ wird (BSV 2018, S. 6). Angesichts dieser Situation hielt sie es für notwendig, wieder zu überlegen „was ohne Gewalt getan werden kann, falls Prävention und Konfliktbearbeitung versagen und es zum Schlimmsten kommt“ (BSV 2018, S. 28).

Das Gründungsmitglied des BSV und der Grünen Roland Vogt erinnerte auf derselben Tagung an seine Forderung aus der Gründungsphase des BSV zu Beginn der 90er Jahre nach einem »Ministerium für Abrüstung, Konversion und Soziale Verteidigung« (BSV 2018, S. 9). Ein solches Ministerium hätte sicherlich das Wissen um die Möglichkeiten von Sozialer Verteidigung institutionell verankert, bis hinunter auf die lokale Ebene einer jeden Stadt. Auch wenn Soziale Verteidigung spontan angewendet werden kann, wäre eine gedankliche und praktische Vorbereitung sicherlich sinnvoll.

Neben Protestformen, die die Größe des Widerstands zeigen und den Zusammenhalt stärken sollen, müsste die im Konzept der Sozialen Verteidigung angelegte „Dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration (Ebert 1981) treten, die das alltägliche Handeln der Menschen an den Arbeitsstellen leiten soll. Es wäre das Gegenteil von Streik, den es nur in den Bereichen gäbe, die dem Aggressor dienen. Ein entsprechendes »Manöver« könnte in Stadtverwaltungen von Städten durchgeführt sowie wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden, um daraus Handlungsempfehlungen für den »Ernstfall« zu erhalten. Bisher wurde darüber nicht nachgedacht, weil kaum jemand mit der Möglichkeit der Wiederkehr eines Krieges nach Mitteleuropa gerechnet hat. Angesichts der zerstörten Städte in der Ukraine auf der einen Seite und der besetzten Städte auf der anderen, stellt sich jedoch auch in Deutschland die Frage, mit welchen Verteidigungsformen die eigene Stadt geschützt werden soll. Die Städte, die sich für eine Soziale Verteidigung aussprechen, wären besonders geeignet für die Durchführung solch exemplarischer Übungen in Sozialer Verteidigung.

Potential ziviler Widerstandsbereitschaft nutzen

Ein Jahr nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges in den Separatistengebieten hatte das Internationale Soziologische Institut in Kiew eine repräsentative Umfrage in der Ukraine durchgeführt zur Frage, wie die Menschen handeln wollen, wenn es zu einem Angriff auf ihre Stadt und zu deren Besetzung käme. Ein Drittel wusste keine Antwort, 15 % wollten fliehen, 25 % wollten sich militärisch wehren und mehr als 25 % sprachen sich für zivilen Widerstand aus (Bartkowski 2021). Eine derart hohe zivile Kampfbereitschaft bietet ein Potential, das bisher bei allen Verteidigungsplanungen ungenutzt bleibt.

In der Ukraine entscheidet derzeit eher der Zufall des Kriegsverlaufs darüber, ob eine Stadt militärisch besetzt wird und es zu spontanem zivilen Widerstand kommt, wie in Cherson, oder ob eine Stadt belagert und zerstört wird, wie Mariupol. Ein Einwohner Chersons wurde am 24. März mit den Worten zitiert: „Niemand hier wolle so leben wie in Mariupol (Verschwele 2022).

Die Frage, wie die eigene Stadt verteidigt wird, sollte die Zivilbevölkerung demokratischer Staaten vor einem Krieg diskutieren, um die Entscheidung darüber nicht später allein den Militärs zu überlassen. Die Debatte darüber, die eigene Stadt durch Soziale Verteidigung zu schützen, muss jetzt geführt werden und nicht erst, wenn man von einem Krieg im eigenen Land überrascht wird.

Anmerkung

1) Siehe dazu die Sammlung an Beispielen auf der Homepage des Bund für Soziale Verteidigung: soziale-verteidigung.de/artikel/ziviler-widerstand-gegen-krieg-ukraine.

Literatur

Arajärvi, O. (2022): Nicht gehorchen, nicht anerkennen, nicht zusammenarbeiten. „Passiver Widerstand“ in Finnland Anfang des 20. Jh. Hintergrund- und Diskussionspapier No. 78. Minden: Bund für Soziale Verteidigung.

Bartkowski, M. (2021): Ukrainians vs. Putin. Potential for nonviolent civilian-based defense. Minds of the Movement Blog, International Center on Nonviolent Conflict, 27.12.2021.

Boserup, A.; Mack, A. (1974): Krieg ohne Waffen? Studie über Möglichkeiten und Erfolge sozialer Verteidigung. Reinbek: Rowohlt Verlag.

Bund für Soziale Verteidigung (BSV) (Hrsg.) (2018): Schnee von gestern oder Vision für Morgen – Neue Wege Sozialer Verteidigung? Dokumentation der BSV-Jahrestagung, April 2018. Erschienen als Hintergrund- und Diskussionspapier No. 58. Minden: BSV.

Ebert, Th. (1981): Dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration. Graswurzel Revolution 56/1981, S. 28-30.

FAZ (2022): Ukrainer melden Teilrückzug russischer Verbände. FAZ online, 25.03.2022 (aktualisiert: 05:51 Uhr).

Gnauck, G. (2022): „Ich bitte die ganze Ukraine um Entschuldigung“. FAZ, 19.03.2022.

Verschwele, L. (2022): Leben in Cherson unter russischer Herrschaft – Ihre Stadt ist besetzt – aber sie sind nicht besiegt. Der Spiegel, 24.03.2022.

Ulrich Stadtmann ist Dipl. Politologe und Vorstandsmitglied im Bund für Soziale Verteidigung (BSV).

Statthalter in Zeiten von Krieg und Frieden

Statthalter in Zeiten von Krieg und Frieden

Die Rolle der »Comités de Autodefensa Civil« in Peru

von Eva Willems

Die gängige Einteilung in Opfer und Täter*innen, die das Handeln in Kriegszeiten beschreibt, übersieht oft die Ambivalenzen der zivilen Beteiligung an bewaffneten Konflikten. Ein Blick auf die bäuerlichen Gemeinschaften, die während des internen bewaffneten Konflikts in Peru (1980-2000) in zivilen Selbstverteidigungskomitees organisiert waren, gibt Aufschluss über einige dieser Zweideutigkeiten. Die Selbstverteidigungskomitees trugen dazu bei, das tägliche Leben über die rein militärischen Angelegenheiten hinaus zu organisieren, einschließlich Strategien zur Wiedereingliederung ehemaliger Kämpfer*innen des »Leuchtenden Pfads«.

1980 nahm die maoistische Rebellengruppe »Leuchtender Pfad« (Sendero Luminoso) in der Region Ayacucho in Peru ihren bewaffneten Kampf auf, um die Zentralregierung zu stürzen und ein kommunistisches Regime zu errichten. Der Aufstand des Leuchtenden Pfads wurde von den staatlichen Streitkräften mit einer brutalen Kampagne der Aufstandsbekämpfung beantwortet. Nach Angaben der Wahrheits- und Versöhnungskommission (CVR), die nach der politischen Wende im Jahr 2000 eingesetzt wurde, wurden während des Konflikts ca. 69.000 Peruaner*innen getötet oder verschwanden (CVR 2003a). Im Laufe dieses internen bewaffneten Konflikts entstand im Apurímac-Tal, im nördlichen subtropischen Wald der Region Ayacucho, ein weiterer nichtstaatlicher bewaffneter Akteur, der sich den maoistischen Aufständischen entgegenstellte: die zivilen Selbstverteidigungskomitees (»Comités de Autodefensa Civil« oder CADs). Mit dem Gesetzesdekret 741 aus dem Jahr 1991 wurden die CADs als juristische Personen anerkannt und ihre Erlaubnis zum Gebrauch von Schusswaffen formalisiert. Bis 1993 registrierte die Armee 1.564 CADs mit 61.450 Mitgliedern und 5.583 Schusswaffen für das gesamte Departement Ayacucho (Del Pino 1996, S. 181). Die CADs spielten schließlich eine entscheidende Rolle im Kampf an der Seite der staatlichen Streitkräfte, um die militärische Niederlage des Leuchtenden Pfades im Apurímac-Tal zu erreichen. Nach dem Ende des internen bewaffneten Konflikts wurde keine Entwaffnungs- oder Demobilisierungsstrategie eingeführt, und einige CADs fungieren heute noch als lokale Sicherheitskräfte auf der Grundlage des oben genannten Rechtsrahmens.

Auf die peruanischen CADs lässt sich am besten die von Jentzsch, Kalyvas und Schubiger aufgestellte Definition von Milizen anwenden: „bewaffnete Gruppen, die neben regulären Sicherheitskräften operieren oder unabhängig vom Staat arbeiten, um die lokale Bevölkerung vor Aufständischen zu schützen“ (2015, S. 755). Obwohl in der Vergangenheit in Konflikten auf der ganzen Welt Anti-Rebellen-Milizen aufgetaucht sind, werden sie nur selten untersucht, da die Verbreitung nichtstaatlicher bewaffneter Akteure meist aus der Perspektive der Rebellen betrachtet wird. Milizen werden in der Regel entweder als staatsnahe paramilitärische Gruppen oder als staatlich geförderte bewaffnete Beteiligung von Zivilist*innen an Militäroperationen betrachtet. Ein solcher Ansatz birgt jedoch die Gefahr, den autonomen Charakter und die antistaatlichen Eigenschaften einiger Milizen zu verschleiern. Gleichzeitig besteht in der Konflikt- und Postkonfliktforschung die Tendenz, die Handlungsformen während Kriegen in exklusiven Kategorien von Zivilist*innen und Kombattant*innen oder Opfern und Täter*innen zu beschreiben. Die genaue Art und die Beweggründe für die Beteiligung von Zivilist*innen an bewaffneten Konflikten – sei es in Form von Kollaboration, Widerstand oder Selbstverteidigung – sind noch immer mangelhaft konzipiert.

Auch im Postkonflikt-Peru ist die Rolle der CADs sowohl unterbelichtet als auch umstritten. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission kam zu dem Schluss, dass „bei keinem anderen Akteur des Krieges die Grenze zwischen Täter und Opfer, zwischen Held und Schurke, so dünn und durchlässig ist wie bei den Selbstverteidigungskomitees“ (CVR 2003b, S. 74). Dieser Artikel, der auf meiner Doktorarbeit basiert1, beleuchtet die Ambivalenzen der zivilen Beteiligung an bewaffneten Konflikten, indem er ein Gegengewicht zur einseitigen Fokussierung auf den destruktiven Charakter der Milizen schafft (Fumerton 2018, S. 63; Willems 2020). Dies geschieht, indem ich zeige, wie die CADs das tägliche Leben während des Krieges über die rein militärischen Angelegenheiten hinaus regelten, beispielsweise durch die Verwaltung öffentlicher Dienstleistungen, die Aufrechterhaltung des sozialen Zusammenhalts und die Reintegration ehemaliger Kämpfer*innen des Leuchtenden Pfads. Die Ergebnisse sind eingebettet in verschiedene Episoden der Feld- und Archivforschung im Tal des Apurímac-Flusses, die zwischen 2015 und 2021 durchgeführt wurden.

Entstehung bäuerlicher Selbstverteidigung

Während des internen bewaffneten Konflikts änderte sich die Governance-Struktur der bäuerlichen Gesellschaft im Apurímac-Tal drastisch. Während die unterscheidungslose Aufstandsbekämpfung der staatlichen Streitkräfte der unmittelbare Auslöser für die Organisation der bäuerlichen Selbstverteidigung war, hinterließ die Strategie des Leuchtenden Pfads aus Angriffen auf bestehende Regierungs- und Autoritätsstrukturen ein »Governance-Vakuum«, das von den CADs gefüllt wurde (Fumerton 2018, S. 68). Inmitten des Kreuzfeuers begannen die Bäuer*innen, eine alternative und starke lokale Regierungs- und Verwaltungsstruktur aufzubauen. Bis zum Beginn des Krieges hatten viele Bäuer*innen verstreut auf ihrem Land oder in kleinen Weilern gelebt. Wie ein ehemaliger CAD-Kommandant im Bezirk Pichari beschreibt:

„Damals [vor dem Krieg] lebten wir alle getrennt in unserem Haus auf unserem Land. Es gab kein Dorf, das war nicht so wie jetzt. Jeder von uns lebte auf seinem Land.“ (Interview der Autorin 2018)

Um der durch den Konflikt verursachten zunehmenden Unsicherheit zu begegnen, beschlossen die Bäuer*innen an verschiedenen Orten, sich in befestigten Siedlungskernen, den so genannten »zivilen Antisubversionsstützpunkten«, zu sammeln und die Selbstverteidigung in Form von Patrouillen zu organisieren. Ab 1984 entstand im gesamten Apurímac-Tal ein Netz ziviler Selbstverteidigungskomitees mit einem zentralen Hauptquartier in der Stadt Pichiwillca.

Milizverwaltung auch jenseits militärischer Belange

Die Organisation in streng bewachten Stützpunkten oder Selbstverteidigungskomitees ermöglichte es den Bäuer*innen, die Bewegung von Personen auf ihrem Gebiet zu kontrollieren. Pro Familie war mindestens ein Mitglied verpflichtet, sich an den Selbstverteidigungsaufgaben zu beteiligen. Für das Verlassen oder Betreten der Stützpunkte aus anderen Gründen als der Arbeit auf dem Land war eine schriftliche Genehmigung erforderlich.

Auf dem Höhepunkt des Konflikts im Apurímac-Tal in den späten 1980er Jahren beteiligte sich fast jedes aktive Mitglied der Gemeinschaft an Aufgaben im Zusammenhang mit der Selbstverteidigung. Folglich verschmolzen die Gemeinde und die CAD de facto zu einer einzigen Einheit. Die Selbstverteidigungskomitees verteidigten somit die Interessen der Gemeinschaft, was eine ihrer organisatorischen Stärken war, da es ihre Legitimität erhöhte. Die Funktion der zivilen Selbstverteidigungskomitees, die eindeutig in einem Kriegskontext entstanden, ging über die Kriegsangelegenheiten hinaus, da die CADs die wichtigsten Organisatoren des täglichen Lebens im Apurímac-Tal wurden. Sowohl die Archivunterlagen der Selbstverteidigungskomitees als auch die Interviews mit ehemaligen Milizionär*innen und Gemeindemitgliedern deuten darauf hin, dass die CADs während des internen bewaffneten Konflikts weitreichend und systematisch in die Verwaltung der bäuerlichen Gemeinden eingriffen. Dazu gehörten die Verwaltung öffentlicher Dienstleistungen wie der Gesundheitsversorgung, die Organisation von Freizeitaktivitäten wie Fußballturnieren, sowie die Koordinierung der inner- und zwischengemeindlichen Solidarität, beispielsweise die Hungerhilfe oder die Versorgung von Waisen und Witwen. Dazu kamen der Umgang mit Kleinkriminalität, häuslicher Gewalt oder lokalen Konflikten um Land.

Reintegration durch Reue

So wurden die CADs durch die Regelung sowohl kriegsbezogener als auch anderer alltäglicher Angelegenheiten zu wichtigen Trägern der sozialen Ordnung: Inmitten des Kriegschaos institutionalisierte die Bevölkerung durch die Selbstverteidigungskomitees Strategien für das Überleben und Zusammenleben. Das wichtigste Beispiel dafür ist die Praxis des »arrepentimiento« (»Reue«), das die Wiedereingliederung ehemaliger Kämpfer*innen des Leuchtenden Pfades in die Gemeinschaft und das Selbstverteidigungskomitee umfasste. Das bedeutete, dass Mitglieder des Leuchtenden Pfades, die von den CADs gefangen genommen wurden, nicht an die staatlichen Streitkräfte ausgeliefert wurden, sondern die Möglichkeit erhielten, durch eine schriftliche Erklärung Reue zu zeigen, manchmal gefolgt von einer öffentlichen körperlichen Bestrafung. Indem sie ihre Loyalität gegenüber der Gemeinschaft durch aktive Teilnahme an der Selbstverteidigung unter Beweis stellten, konnten die »arrepentidos« anschließend Vertrauen gewinnen oder wiederherstellen. Um ihren Wiedereingliederungsprozess zu erleichtern, bürgten Landbesitzer*innen für die arrepentidos, indem sie ihnen Zugang zu einem Stück Land gewährten oder ihnen eine Anstellung als Lohnarbeiter*innen auf ihrem eigenen Land anboten. Sobald die Gemeinschaft beschlossen hatte, dass sie bleiben konnten, wurden die arrepentidos (wieder) in das Zivilregister eingetragen. Ein ehemaliges CAD-Mitglied beschreibt diesen Prozess wie folgt:

„Es gab zum Beispiel immer wieder Personen, die auf [arrepentidos] trafen, während sie auf ihrem Land arbeiteten, und sie brachten diese dann zur Selbstverteidigungs-Einheit, und die informierten sie, dass sie einen arrepentido gefunden hätten. Und dann haben sie [die arrepentidos] gestanden […], aber die Selbstverteidigung hat verziehen.“ (Interview der Autorin 2018)

Die arrepentidos hätten auch ehemalige Mitglieder derselben Gemeinde sein können, aber aufgrund des Kriegsverlaufs und der Rekrutierungsstrategie des Leuchtenden Pfads landeten viele von ihnen in Gemeinden, aus denen sie nicht stammten. Ein Forschungsteilnehmer berichtet zum Beispiel, wie die arrepentidos aus dem Hochland kamen, um im subtropischen Apurímac-Tal Zuflucht zu suchen:

„Oft kamen sie aus dem Hochland, viele Leute mit ihrer weißen Fahne, die ein Baby trugen, andere gerade erst erwachsen geworden, oder auch eine hochschwangere Frau. Und das Kommando wartete auf sie und wir riefen: ‚Kommen die terrucos [Terroristen], oder was?‘ – ‚Nein, das sind arrepentidos‘, das sagten sie damals. Sie kamen in Herden, wie Tiere, in jedes Dorf.“ (Interview der Autorin 2018)

Die Praxis des »arrepentimiento« kann sowohl als Kampf- als auch als Überlebensstrategie gesehen werden. Der Drang der Bäuer*innen, sich vor den staatlichen Kräften vom Leuchtenden Pfad zu distanzieren, war einer der Hauptgründe für die Existenz der Selbstverteidigungskomitees. Indem sie auf ihre eigenen Wiedereingliederungsstrategien zurückgriffen, anstatt ihre zu Guerriller@s gewordenen Nachbar*innen an die staatlichen Streitkräfte oder die Justiz auszuliefern, vermieden die bäuerlichen Gemeinschaften, als »rote Zone« abgestempelt zu werden, die mit den maoistischen Aufständischen sympathisiert hätten. Gleichzeitig motivierte die Notwendigkeit, die fragile Koexistenz zwischen den Gemeindemitgliedern aufrechtzuerhalten, und die Möglichkeit, wertvolle Informationen über die Position des Leuchtenden Pfads zu erhalten, die Bauern zur Wiedereingliederung der ehemaligen Gueriller@s.

Das durch die Existenz der Selbstverteidigungskomitees verbesserte Sicherheitsgefühl milderte zudem – bis zu einem gewissen Grad – das Gefühl der gegenseitigen Angst und des Misstrauens zwischen den Dorfbewohner*innen, was wiederum das soziale Kapital der Bevölkerung für die Wiedereingliederung stärkte. Darüber hinaus wurde ein großer Teil der arrepentidos vom Leuchtenden Pfad zwangsrekrutiert. Diesen Rekrut*innen, die unter sehr schlechten Bedingungen in Lagern des Leuchtenden Pfades tief im Wald lebten, wurde bei ihrer Rückkehr in die Gemeinschaft oft mit Mitgefühl begegnet. Ein ehemaliger CAD-Kommandant ist gerührt, wenn er sich an die arrepentidos erinnert:

Dort [beim Leuchtenden Pfad] waren die Beteiligten bescheidene Leute, es waren keine vorbereiteten Leute. Es waren bescheidene Bauern, arme Mocositos [rotznasige Kinder]. Sie wurden rekrutiert. Was hatten sie sich zuschulden kommen lassen? Also konnten wir sie auch nicht töten. Das Einzige, was uns blieb, war zu versuchen, sie zu retten. […] Wenn ich mich daran erinnere, was [geschehen ist], so viel Kummer… [fängt an zu weinen]. Wir brachten sie sehr krank, wie hätten wir sie töten können? Man musste sie retten.“ (Interview der Autorin 2018)

Die Bedeutung von Wiedereingliederungsstrategien als grundlegendem Element der Regierungsführung der CADs zeigt, dass die Bevölkerung in einem Kriegskontext, der Druck auf die bestehenden Strukturen der Sicherheit und des sozialen Zusammenhalts ausübt, ein Bedürfnis nach der Gestaltung von Gemeinschaftsbeziehungen hatte.

Schlussfolgerung

Die Zivilbevölkerung wird meist als Opfer dargestellt, das in bewaffneten Konflikten ins Kreuzfeuer der Kriegsparteien gerät. Damit wird die Komplexität ihrer Beteiligung an oder ihre Reaktionen auf Kriegsgewalt und Unsicherheit übersehen. Die CADs waren zwar in der Tat bewaffnete Akteure, die bis zu einem gewissen Grad zur Spirale der Kriegsgewalt beitrugen, aber ihre Rolle unterschied sich grundlegend von der der staatlichen Streitkräfte oder des Leuchtenden Pfads. Ein besseres Verständnis der Art und Weise, wie Milizen während des Krieges für die Regierungsführung sorgen, kann uns nicht nur helfen, bestimmte Konfliktdynamiken besser zu verstehen, sondern auch Erkenntnisse über den Wiederaufbau nach einem Konflikt liefern. Die Untersuchung der (post-)konfliktiven Rolle von bäuerlichen Selbstverteidigungsmilizen wie den CADs – die kein ausschließlich peruanisches Phänomen sind – kann uns helfen, unser Verständnis darüber zu erweitern, wer als konfliktverändernde Akteure während eines bestimmten Konflikts und seiner Folgen gelten kann. Während sich die traditionellen Ansätze zur Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration (DDR) hauptsächlich darauf konzentriert haben, durch die Arbeit mit den Täter*innen wieder Sicherheit zu erlangen, hat das opferzentrierte Feld der Transitional Justice dabei versagt, die potenzielle Rolle bewaffneter Akteure bei der Erleichterung von Prozessen der Reintegration, des sozialen Wiederaufbaus und der Koexistenz (nach dem Konflikt) anzuerkennen. Die Erforschung der Rolle von Milizen beim Wiederaufbau nach Konflikten muss daher eine Brücke zwischen diesen beiden Bereichen schlagen und die vielfältigen Schattierungen von Opfer- und Täter*innenschaft berücksichtigen, die für bewaffnete Konflikte und deren Folgen charakteristisch sind.

Anmerkung

1) Finanziert von der Forschungsstiftung Flandern und dem Sonderforschungsfonds der Universität Gent.

Literatur

CVR (2003a): Informe Final. Lima.

CVR (2003b): Informe Final, Tomo 4. Lima.

Del Pino, P. (1996): Tiempos de Guerra y de Dioses: Ronderos, Evangélicos y Senderistas en el valle del Río Apurímac. In: Degregori, C. I. (Hrsg.): Las rondas campesinas y la derrota de sendero luminoso. Instituto de Estudios Peruanos, S. 117-88.

Fumerton, M. (2018): Beyond counterinsurgency: Peasant militias and wartime social order in Peru’s civil war. European Review of Latin American and Caribbean Studies 105, S. 61-86.

Jentzsch, C.; Kalyvas, S. N.; Schubiger, L. I. (2015): Militias in civil wars. Journal of Conflict Resolution 59 (5), S. 755-69.

Willems, E. (2020): Open secrets & hidden heroes: Violence, citizenship and transitional justice in (post-)conflict Peru. Ghent: Ghent University.

Dr. Eva Willems ist PostDoc Forscherin am ZfK Marburg. Ihre Dissertation zu »Transitional Justice in (Post-)Conflict Peru« wurde 2020 mit den Christiane-Rajewsky-Preis der AFK und dem Romain-Yakemtchouk-Preis der Königlich Belgischen Akademie für Überseestudien ausgezeichnet.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

Unabhängig vor und nach 1989


Unabhängig vor und nach 1989

Entwicklungen der Friedensbewegung in Ostdeutschland

von Alexander Leistner

In den turbulenten Gedenkjahren 2019 und 2020, als sich Friedliche Revolution und Wiedervereinigung zum 30. Mal jährten, spielte die Geschichte und Gegenwart der Friedensbewegung im Osten Deutschlands keine Rolle. Bei solchen Gelegenheiten wird deutlich, dass kollektives Erinnern häufig in Zäsuren denkt und im Fall der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR deren Bedeutung auf den ­Beitrag zum Untergang der SED-Diktatur reduziert wird. Dabei werden deren Anliegen ebenso verdeckt, wie das Fortleben der Bewegung nach 1989.

Die Geschichte der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR vor und nach 1989 ist in vielerlei Hinsicht die Geschichte einer eigenständigen Bewegung (vgl. Leistner 2016). Eigenständig gegenüber der Friedensbewegung in Westdeutschland, weil ihre angesichts scharfer Repression unwahrscheinliche und riskante (Schatten)-Existenz verschiedene Besonderheiten mit sich brachte. Eigenständig auch innerhalb eines Staates, der sich selbst als »Friedensstaat« verstand, weshalb die Aktiven viel Wert auf die Selbstbezeichnung »unabhängig« legen mussten. Die Besonderheiten der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR werden schon bei einem ersten oberflächlichen Blick sichtbar. Die Erinnerung an die bundesdeutsche Friedensbewegung ist geprägt von den bildträchtigen Massendemonstrationen wie bspw. 1983 im Bonner Hofgarten. In der Erinnerung an die unabhängige Friedensbewegung in der DDR fehlen dem gesamtdeutschen kollektiven Gedächtnis dagegen tief eingeprägte Bilder und Aktionen. Allenfalls Symbole werden in der Erinnerung wachgerufen, wie der Slogan »Schwerter zu Pflugscharen« nebst zugehörigem Aufnäher, oder Orte, wie die Leipziger Nikolaikirche als Raum für die Friedensgebete und Ausgangsort für die großen Proteste auf dem Leipziger Innenstadtring 1989. Das Fehlen öffentlichkeitswirksamer Bilder verweist auch auf das Fehlen einer DDR-weiten Öffentlichkeit. Mit der Ausnahme einiger westlicher Journalist*innen, kirchlicher und subkultureller Kreise sowie anderer an den Rand gedrängter Milieus hatten die Gruppen kaum eine Möglichkeit, die allgemeine Bevölkerung auf die eigene Existenz, geschweige denn die eigenen Inhalte, aufmerksam zu machen.

Entstehung einer Bewegung im Schatten

Die unabhängige Friedensbewegung formierte sich unter dem Dach und im Schutz- und Kommunikationsraum von Teilen der Evangelischen Kirche, die – als einzige von der SED unabhängige Großorganisation in der DDR – in eine (teilweise ungewollte) politische Stellvertreterrolle für kritische Gruppen hineinrutschte. Es hatte aber auch inhaltliche Gründe für diese Entwicklung, da in den ostdeutschen Landeskirchen recht früh nach der Staatsgründung eigenständige friedensethische Positionen entwickelt und in den folgenden Jahren mehr oder minder offensiv vertreten worden waren, sofern sie nicht kirchenpolitischen Rücksichtnahmen zum Opfer fielen. Hinzu kamen organisatorische Gründe, da die ersten Friedensarbeitskreise und Friedensseminare der 1970er Jahre an der kirchlichen Basis gegründet wurden und sich „auf die theologische Arbeit in den Kirchen und die legalen kirchlichen Strukturen“ (Neubert 1997, S. 299) stützen konnten. An vielen Stellen zählten auch Pfarrer*innen und kirchliche Mitarbeitende zu den Hauptakteur*innen. Schließlich rekrutierten sich die Gruppen anfänglich vor allem aus kirchlichen und kirchennahen Kreisen.

Der Protest, der sich ab Anfang der 1970er Jahre in diesem Schutzraum artikulieren konnte, war vergleichsweise still und, gemessen an freien Gesellschaften, unspektakulär. Dafür persönlich umso riskanter. Ein Beispiel soll das veranschaulichen. Am Abend des 13. Februar 1982 – dem Jahrestag der Bombardierung Dresdens – saß die 17jährige Annette »Johanna« Ebischbach (später Johanna Kalex) bei ihren Eltern wie unter Hausarrest.1 Im West-Radio hörte sie, dass sich weit über 5000 Menschen in der Kreuzkirche und an der Ruine der Frauenkirche versammelten. Der Anstoß dazu war von Johanna und Freund*innen aus der Dresdner Hippieszene ausgegangen. Aufwühlende Monate lagen hinter ihr. Sie hatte stundenlange Stasi-Verhöre und Ermittlungen wegen »Herbeiführung einer illegalen Zusammenrottung«, für die bis zu acht Jahre Haft drohten, über sich ergehen lassen müssen. Was war passiert?

Persönliche Risiken: die Gruppe Wolfspelz

Die Erinnerung an die Bombardierung der Stadt war staatlich dominiert und von der Kalten-Kriegs-Propaganda gefärbt: von »angloamerikanischem Bombenterror« war die Rede. Im »Friedensstaat« DDR entstanden unterdessen unabhängige Friedensgruppen und in Dresden trafen sich Jugendliche, die von einem Frieden ohne Soldaten träumten und dafür auch aktiv wurden. Sie formulierten einen Aufruf, sich am Jahrestag der Bombardierung mit Kerzen an der Frauenkirche zu versammeln. Sie vervielfältigten ihn erst mühsam mittels Schreibmaschinendurchschlägen, später illegal im Ausbildungsbetrieb einer Mitstreiterin. Über Berlin, Leipzig und andere Städte verteilte er sich in alle Winkel der Republik – intensiv beobachtet von der Stasi, die erheblichen Druck auf die Jugendlichen ausübte. In ihrer Not wandten sie sich hilfesuchend an die lokale Kirchenleitung, die einen Kompromiss aushandelte. Um verbotene Ansammlungen zu verhindern, wurden die Menschen zu einem kirchlich organisierten Friedensforum in der Kreuzkirche umgeleitet. Die Jugendlichen hatten auf diese Veranstaltung nur noch wenig Einfluss. Die Wirkung des Aufrufs war immens. Tausende kamen, obwohl die Stasi alle Zufahrtswege nach Dresden kontrollierte und Unzählige an der Anreise hinderte (vgl. Neubert 1997, S 395f.) Auf Zettel konnten die Jugendlichen in der Kirche Fragen schreiben, die unter Applaus verlesen wurden – ein unschätzbarer Moment von Öffentlichkeit in der Diktatur (vgl. Büscher et al. 1982, S. 264ff.). Es ging in den Fragen um die Verweigerung des Wehrdiensts, um Forderungen nach einem »Sozialen Friedensdienst« als Alternative zur Wehrpflicht, um die atomaren Bedrohungen des Kalten Krieges. Hunderte zogen anschließend mit Kerzen zur Ruine der Frauenkirche. Die Berichte in den Westmedien über diese unerhört große Veranstaltung machten für die landesweit verstreuten Friedensaktivist*innen sichtbar, dass sie eine Bewegung mit einer wachsenden Mobilisierungsbasis waren. Das Forum markiert aber auch den Beginn einer Distanzierung zwischen den Kirchen und den engagierten Gruppen, die auf diesen Schutz angewiesen waren. Als der sächsische Bischof die junge Hippieschar als „Wölfe im Schafspelz“ bezeichnete, benannte die sich in »anarchistische Gruppe Wolfspelz« um und suchte eigene Wege.

Wurzeln und Strömungen der Bewegung bis 1989

Die Wurzeln der Bewegung reichen weit zurück und sind eng gebunden an die Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Die DDR entstand als Kriegsfolgengesellschaft auf den Trümmern des »Dritten Reichs«. Die neuen SED-Machthaber*innen regierten eine Bevölkerung, die in großen Teilen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus nicht wenige von ihnen noch als »Volksschädlinge« angesehen hatte. Als Folge des Arbeiteraufstands von 1953 wurde das System der militarisierten, nach innen und außen gerichteten Herrschaftssicherung stalinistischer Prägung weiter gefestigt. Das Militär und die Militarisierung prägten das gesellschaftliche Leben, weshalb in der Forschung von der DDR auch als »militarisierte Organisationsgesellschaft« (vgl. Leistner 2016, S. 162ff.) gesprochen wird.

Zugleich war die Gesellschaft mentalitätsgeschichtlich betrachtet eine der »kleinen Leute« – geprägt von habitueller Konformität, mit nur wenigen Nischen für eine alternative Lebensführung und resistente oder renitente Sozialmilieus. Im Kontrast dazu hatte sich die Friedensbewegung in den 1980er Jahren als heterogenes, konfliktreiches, sich generational überlagerndes und zeitlich versetztes Nebeneinander von vier Strömungen ausdifferenziert, die sich idealtypisch folgendermaßen unterscheiden lassen:

  • Als »Kriegsablehnungsbewegung« der seit den 1970er Jahren entstandenen unabhängigen Friedensbewegung. Diese arbeitete teilweise seit Jahrzehnten, sie regte thematisch sich ausdifferenzierende Gruppengründungen an und hatte mit ihrer Haltung radikaler Gewaltablehnung einen entscheidenden Anteil am friedlichen Verlauf des Revolutionsherbstes. Getragen wurden diese Gruppen anfangs vor allem von Wehrdienstverweigerern und den sogenannten Bausoldaten.2 Anfänglich kreisten die Themen vor allem um Fragen von Wehrdienstverweigerung und zivilen Ersatzdiensten. Das Spektrum erweiterte sich rasch hin zu Ursachen der Eskalationslogik atomarer Bedrohung und, spätestens mit der Einführung des Wehrunterrichts 1978, um die innere Militarisierung der Gesellschaft. Die Gruppen arbeiteten kontinuierlich und entwickelten Arbeitsmaterialien zur Friedenserziehung und zur einseitigen Abrüstung.
  • Die aus dem real existierenden Sozialismus ausgebürgerten Utopien lebten, genährt von den weltweiten Aufbrüchen der 1960er Jahre und besonders dem Prager Frühling, in großen Teilen der Friedensbewegung als »Reformbewegung« fort, die für einen besseren Sozialismus und 1989 für einen »Dritten Weg« stritten.
  • Gegen die Zukunftslosigkeit, die Konformität und die kleinbürgerliche Enge der Gesellschaft der »kleinen Leute« entwickelte sich eine jugendkulturelle Rebellion. Diese vom Lebenshunger getriebene »Emanzipationsbewegung« suchte Nischen für alternative Lebensformen und Freiräume in einem Land, das sie als Gefängnis erlebten: „Sechs Stunden hoch, vier Stunden breit“.
  • Noch deutlicher wurde die Kluft zu den reformsozialistischen Idealen der älteren Aktivist*innen Ende der 1980er Jahre, als die anschwellende »Protestbewegung« die verschiedenen Gruppen noch stärker politisierte – wie es sich etwa in der Gründung der »Initiative für Frieden und Menschenrechte« ausdrückte. Diese Politisierung markiert eine Wende hin zu mehr Konfrontations- und Risikobereitschaft all jener, die mit der DDR abgeschlossen hatten. Damit war der Weg bereitet für den Zusammenbruch der SED-Diktatur im Herbst 1989, der seinen Ausgang in den Friedensgebeten nahm.

Für den Fortgang der Ereignisse ist kaum zu überschätzen, wie stark die seit Jahren aktiven Gruppen seit Mitte der 1980er Jahre eine alternative Öffentlichkeit herstellten und durch riskante Aktionen in die Öffentlichkeit drängten; dadurch prägten sie die Sprache und Kultur der Revolution. Deren Nachdenklichkeit, Klarheit und Friedlichkeit ließen keinen Raum für Gewalt und Racheszenarien an jenen, die über Nacht ihre uneingeschränkte Macht verloren hatten.

Friedensbewegung nach 1989

War der Weg der Friedensbewegung mit der deutschen Einheit zu Ende? Es verblieben friedensbewegte Engagierte und Gruppen, die sich durch Vereinsgründungen oder neue Aufgabenschwerpunkte stabilisieren konnten. Auffällig ist zunächst die Marginalisierung der Friedensbewegung nach 1989 überall in der ehemaligen DDR. Zwischen 1989 und 1993 verschwanden in Ostberlin, Dresden, Leipzig und Halle weit mehr als die Hälfte dieser Zusammenschlüsse (vgl. Rucht/Blattert/Rink 1997, S. 75). Als Folgeprojekte, in Konkurrenz oder anlassbezogen, entstanden seit 1989 eine sehr begrenzte Zahl heterogener und unterschiedlich stabiler Projektgruppen innerhalb der nunmehr gesamtdeutschen Friedensbewegung:

  • Aktions- bzw. Protestgruppen, die sich über Netzwerkmobilisierung anlassbezogen bilden – etwa angesichts des zweiten Golfkriegs und aller folgenden protest­auslösenden Kriege;
  • Aktionsgruppen, die regelmäßig ritualisierte Protestaktionen organisieren und durchführen – den jährlichen Ostermarsch, das Friedensgebet zum Anti­kriegs­tag, die herbstliche Friedensdekade in den Kirchengemeinden;
  • Problembezogene Protestgruppen, deren Bezugsproblem dauerhaft »vor der eigenen Haustür« liegt – z.B. die Initiativen gegen die Truppenübungsplätze in der Colbitz-Letzlinger-Heide und in der Kyritz-Ruppiner Heide;
  • Schließlich die Professionalisierung hin zur Friedensarbeit, die es erlaubt, das Friedensengagement zum Beruf zu machen – z.B. der 1990 gegründete »Friedenskreis Halle« oder das 1990 aus der Ökumenischen Versammlung heraus entstandene »Ökumenische Informationszentrum« in Dresden.

Sichtbar ist die Rolle von Akteur*innen und Konzepten der DDR-Friedensbewegung bei der Durchsetzung und Etablierung von Instrumenten »Ziviler Konfliktbearbeitung« wie dem »Zivilen Friedensdienst« als konkreter Alternative zu Formen militärischer Intervention. Dessen Etablierung wurde Mitte der 1990er Jahre u.a. von der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg angestoßen, die ersten Ausbildungskurse von Trainer*innen mit eigener Geschichte in der DDR-Friedensbewegung durchgeführt.

Ebenso ist das Engagement in Protestnetzwerken sichtbar, etwa gegen Bundeswehrstandorte. Gruppen und Akteure der DDR-Friedensbewegung gehörten zum organisatorischen Kern der langjährigen Proteste gegen die Truppenübungsplätze in der Colbitz-Letzlinger Heide und das Tiefflugübungs- und Bombenabwurfgelände in der Kyritz-Ruppiner Heide. Gerade der Protest gegen letztgenanntes »Bombodrom« wurde über Jahre zu einem lokalen Kristallisationspunkt der Friedensbewegung, in seiner Funktion dem Wendland für die Anti-Atomkraft-Bewegung nicht unähnlich. Gegründet wurde die Bürger­initiative von lokalen friedensbewegten Pfarrer*innen und Roland Vogt, damals Bevollmächtigter des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg für den Abzug der Sowjetischen Streitkräfte und für Konversion. Zwischen 1992 und dem endgültigen Rückzug der Bundeswehr im Jahr 2010 wurden kontinuierlich Protestaktionen durchgeführt, teils durch die Bürgerinitiativen vor Ort, teils durch antimilitaristische Gruppen, die – nicht ohne Konflikte – stärker auf Aktionen zivilen Ungehorsams drängten (vgl. Hoch/Nehls 2000).

Nicht zuletzt waren und sind Aktive der ehemaligen Friedensbewegung der DDR in inhaltlichen Auseinandersetzungen um friedenspolitische Selbstverständnisse und die Zukunft des politischen Pazifismus engagiert. Die Militärinterventionen Deutschlands in den frühen 2000er Jahren führten zu intensiv ausgetragenen Konflikten in der Bewegung. Paradigmatisch dafür steht die Debatte um einen Artikel des ehemaligen grünen Staatsministers Ludger Volmer von 2002, der der Friedensbewegung in ihrer Ablehnung einer Militärinvasion einen „abstrakt-gesinnungsethischen Pazifismus“ (Volmer 2002) vorwarf, der über einen „Nachkriegspazifismus der fünfziger und sechziger Jahre“ nicht hinausreiche und als Bewertungsmaßstab für die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen untauglich sei. Diese Frontstellung zwischen dem Rigorismus eines »gesinnungsethischen« und dem Pragmatismus eines »politischen Pazifismus«, die Volmer in dem Artikel zuspitzte, prägte selbst seit Jahren die friedensethischen Selbstverständigungsdebatten, in denen Vertreter der ehemaligen DDR-Friedensbewegung eine prominente Stellung einnahmen. So betonte der ehemalige Dresdner Superintendent Christof Ziemer, dass beide Haltungen aufeinander angewiesen seien: der »weisheitliche Pazifismus«, der die Zusammenarbeit mit dem Militär nicht ablehnt und die rigorose Gewaltablehnung eines »prophetischen Pazifismus« (vgl. Ziemer 1999).

Kirchliche Friedensarbeit nach 1989

Auch innerhalb der Kirchen blieb das Friedensthema umstritten. Der Kirchenhistoriker Klaus Fitschen sieht denn auch den politischen Protestantismus ostdeutscher Prägung seit 1989 zunehmend in der Defensive (Fitschen 2013). Trotz Kosovo-Krieg und Afghanistan-Einsatz verabschiedete die EKD erst 2007, den friedensethischen Debatten hinterherhinkend, eine Friedensdenkschrift (»Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen«), in der die friedensethischen Positionen des bundesdeutschen Protestantismus konkretisiert wurden. Bis dahin gab es nur die Denkschrift der EKD-West von 1981 und Stellungnahmen des DDR-Kirchenbundes, wobei Letzterer 1983 mit seiner „Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung“ eine überaus deutliche friedenspolitische Position verabschiedet hatte, die 1987 in den wegweisenden Beschluss »Bekennen in der Friedensfrage« mündete. „Die Reaktionen auf die Friedensdenkschrift von 2007 waren sehr unterschiedlich. Friedrich Schorlemmer kritisierte: ‚Friedenspolitische Erkenntnisgewinne durch Christen in der DDR werden in der Denkschrift ignoriert, als habe es sie nicht gegeben’ […]. Damit sprach Schorlemmer das seit der Wiedervereinigung bestehende Unbehagen jener Kreise an, die sich mit ihrer pazifistischen Entschiedenheit an den Rand gedrängt sahen.“ (Fitschen 2013, S. 45)

Differenzierte Bewegung heute

Seit 1989 hat sich die Bewegung von einst stark ausdifferenziert. Es lassen sich wiederum idealtypisch drei Flügel unterscheiden, wenngleich es in den konkreten Gruppen Überschneidungen gibt.

  • Der protestorientierte Flügel vertritt die Position rigoroser Kriegsablehnung. Vertreter*innen beteiligten sich an riskanten und öffentlichkeitswirksamen Aktionen. Sie reisten Anfang der 1990er Jahre als lebende Schutzschilde in den Irak oder besetzten und entzäunten gewaltfrei das amerikanische Kommando-Zentrum für Europa (EUCOM) in Stuttgart oder den Atomwaffenstützpunkt in Büchel. Sie sind der Stachel im Fleisch einer kriegsgewöhnten Öffentlichkeit.
  • Für den diskursorientierten Flügel ist das Ringen um eine friedenspolitische Position angesichts der stark veränderten politischen Rahmenbedingungen charakteristisch. Er bemüht sich um eine Vermittlung zwischen Befürworter*innen militärischer Interventionen in Bürgerkriegsregionen und radikalen Gegner*innen militärischer Gewalt und um eine differenzierte Haltung in einer sicherheitspolitisch unübersichtlicheren Gegenwart.
  • Als Drittes unterscheide ich einen präventionsorientierten Flügel, der in gewisser Weise zwischen den beiden Polen steht. In ihm verbindet sich die Einsicht in die veränderte sicherheitspolitische Situation mit dem Drang, ganz praktisch etwas tun zu wollen. Eine entsprechende Konjunktur hatte denn auch das Thema »Zivile Konfliktbearbeitung im In- und Ausland« auch in der ostdeutschen Bewegung.

Wie ist die aktuelle Situation? Mit der Professionalisierung als staatlich finanzierte Entsendedienste ziviler Friedensfachkräfte hatten viele Initiativen zwischenzeitlich ihre friedenspolitische Bissigkeit verloren. Aber immer wieder beteiligten sich Gruppen und Organisationen an Kampagnen gegen Rüstungsexporte, für den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland oder zuletzt für »zivile Alternativen in Syrien«. Die Friedensbewegung hält Themen wach, die – obwohl drängend – häufig von der Bildfläche verschwunden sind. Beachtenswert ist dabei die langjährige Kontinuität des Engagements für zivile Konfliktbearbeitung auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens oder das Engagement gegen Rechtsextremismus. Die größte Leistung ist sicher der Beitrag der Friedensbewegung zur Friedlichen Revolution 1989, viel weniger sichtbar sind solche wie die erfolgreichen Proteste gegen das Bombodrom in Brandenburg: ein über Jahre geführter und breit verwurzelter Widerstand der damals noch jungen und nicht eben erfolgsverwöhnten Zivilgesellschaft in den neuen Ländern. Auch daran sollte – selbstbewusst – erinnert werden.

Anmerkungen

1) Eine etwas ausführlichere Biographie von Johanna Kalex und ihrem Wirken findet sich im Personenlexikon des Projektes »Jugendopposition in der DDR« von bpb und Robert Havemann Gesellschaft: www.jugendopposition.de

2) Bausoldaten waren eine Besonderheit des DDR-Rekrutierungssystems. Auf Druck religiöser Gruppen wurde der Dienst in waffenlosen Baueinheiten der NVA 1964 eingeführt. Er war neben Gefängnis die einzige Alternative für Kriegsdienstverweigerer.

Literatur

Büscher, W.; Wensierski, P.; Wolschner, K. (Hrsg.) (1982): Friedensbewegung in der DDR. Texte 1978–1982. Hattingen: edition transit.

Fitschen, K. (2013): Der politische Protestantismus in Ost und West zwanzig Jahre danach: eine missglückte Wiedervereinigung? In: Pickel, G.; Hidalgo, O. (Hrsg.): Religion und Politik im vereinigten Deutschland. Was bleibt von der Rückkehr des Religiösen? Wiesbaden: VS Verlag, S. 39–46.

Hoch, S.; Nehls, H. (2000): Bürgerinitiative FREIe HEIDe. Bombodrom – nein Danke! Berlin: Espresso Verlag.

Leistner, A. (2016): Soziale Bewegungen. Entstehung und Stabilisierung am Beispiel der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR. Konstanz: UVK.

Neubert, E. (1997): Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung.

Rucht, D.; Blattert, B; Rink, D. (1997): Soziale Bewegungen auf dem Weg zur Institutionalisierung. Zum Strukturwandel »alternativer« Gruppen in beiden Teilen Deutschlands. Frankfurt/M.: Campus.

Volmer, L. (2002): Was bleibt vom Pazifismus. Die alten Feindbilder haben ausgedient. Warum militärische Mittel nicht ganz verzichtbar sind. Frankfurter Rundschau, 7.1.2002.

Ziemer, C. (1999): Ein neues Gefühl von Sicherheit ist gefragt. Publik Forum, Nr. 14, S. 10.

Dr. Alexander Leistner, Soziologe, wohnt in Leipzig und leitet an der Universität Leipzig zwei Teilprojekte des BMBF-Forschungsverbundes »Das umstrittene Erbe von 1989« (www.erbe89.de).

Zivilklausel in NRW und überall


Zivilklausel in NRW und überall

von Senta Pineau

Die kürzliche Streichung der Zivilklausel aus dem Hochschulgesetz in Nordrhein-Westfalen und die Kampagne für deren Erhalt fallen zusammen mit dem zehnjährigen Jubiläum der Entstehung der so genannten Zivilklauselbewegung. Zeit für eine politische Bestandsaufnahme.

Wir schreiben das Jahr 2008. Milliarden Euro werden aus dem Stegreif zur Rettung von Banken verpulvert, während zuvor massiv Sozialabbau betrieben wurde. Die Unveränderbarkeit einer unerfreulichen Gesellschaft steht massiv in Frage.

In dieser Zeit kommt auf Einladung des Verteidigungsministeriums und der Commerzbank der »Celler Trialog« zusammen; es trifft sich die Crème de la Crème aus Wirtschaft, Bundeswehr und Politik. Die Teilnehmer*innen eint unter anderem das Ziel, „das Verständnis für die Auslandseinsätze der Bundeswehr verbreitern zu können“, die „Intensivierung der zivil-militärischen Zusammenarbeit“ voranzutreiben sowie gemeinsam darauf hinzuwirken, „dass der sicherheitspolitische Dialog auch in Forschung und Lehre, insbesondere an unseren Hochschulen, gestärkt wird“ (Celler Trialog 2008). Kurzum: In Celle soll der in der Bevölkerung verbreiteten Ablehnung militärischer Einsätze entgegengewirkt werden.

Auch die neoliberale Hochschulpolitik stößt zu dieser Zeit an Grenzen. Die Ökonomisierung von Bildung und Wissenschaft und das menschen- und wissenschaftsfeindliche Leitbild der »unternehmerischen Hochschule« geben 2009 Anlass für den bundesweiten Bildungsstreik. Der steigende Druck auf die Hochschulen und ihre Mitglieder, verwertungskonform zu studieren und zu forschen – im Zweifel für den Krieg –, führt zu einer Renaissance der kritischen Auseinandersetzung mit den gesellschaftspolitischen Zielen von Bildung und Wissenschaft. In Karlsruhe kommt es zu einer studentischen Abstimmung für die Ausweitung der Zivilklausel des ehemaligen Kernforschungszentrums auf die gesamte Uni. Es folgen weitere Abstimmungen, u.a. in Köln und Frankfurt. Dies ist der Beginn der »Zivilklauselbewegung«.

Krise heißt Entscheidung: für den Frieden

An der Uni Köln konstituierte sich 2010 der »Arbeitskreis Zivilklausel«. Es war gerade gelungen, in NRW die Gebührenfreiheit des Studiums zurückzuerkämpfen. Die Auseinandersetzung der Aktiven mit dem Sozialpakt der Vereinten Nationen, der die Gebührenfreiheit des Studiums politisch begründet, hatte dafür große Bedeutung. Darin heißt es, „dass die Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und des Bewusstseins ihrer Würde gerichtet sein und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten stärken muss“ und „dass die Bildung es jedermann ermöglichen muss, eine nützliche Rolle in einer freien Gesellschaft zu spielen, dass sie Verständnis, Toleranz und Freundschaft unter allen Völkern und allen rassischen, ethnischen und religiösen Gruppen fördern sowie die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Erhaltung des Friedens unterstützen muss“ (UN-Sozialpakt 1966, Artikel 13).

Der Anspruch, Wissenschaft und Bildung sollten dazu beitragen, als mündige Persönlichkeit Bedeutung zu erlangen für die Schaffung einer menschlichen, friedlichen Welt, war persönlich und politisch überzeugend und in Köln Grundlage für nachhaltiges Engagement.

Die Zivilklauselbewegung hing über die Jahre an der Arbeit eines kleinen Kreises von Aktiven. Umso bemerkenswerter ist, wie gut es ihr gelungen ist, politische Maßstäbe zu setzen. Hatten sich im Jahr 2009 zwölf Hochschulen einer friedlichen Wissenschaft verpflichtet, sind es mittlerweile über 60 (zivilklausel.de 2019).

In NRW wurde 2014 die Festschreibung der friedlichen Ausrichtung der Wissenschaft im Hochschulgesetz erkämpft: „Die Hochschulen entwickeln ihren Beitrag zu einer nachhaltigen, friedlichen und demokratischen Welt. Sie sind friedlichen Zielen verpflichtet und kommen ihrer besonderen Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung nach innen und außen nach. Das Nähere zur Umsetzung dieses Auftrags regelt die Grundordnung.“ (HZG NRW 2014) Alle staatlichen Hochschulen in NRW verpflichteten sich im Zuge dessen zu diesen Entwicklungsaufgaben.

Militärisch-industrieller Komplex ist »not amused«

Winter 2014: Gerhard Elsbacher vom Konzern MBDA Missile Systems beklagt auf einer Konferenz zur »Angewandte[n] Forschung für Verteidigung und Sicherheit«, die Geschäftsbedingungen hätten sich durch die Ausgrenzung militärischer Forschung an manchen Hochschulen aufgrund der Erfolge der Zivilklauselbewegung verschlechtert (Borchers 2014). Im Jahr 2016 beschließt das Bundeskabinett das »Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland«. Darin steht: „Die Bundesregierung wird daher insbesondere mit den Ländern, Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen sowie Hochschulen in einen ergebnisoffenen Dialog über die Verwendung von sog. Zivilklauseln treten.“ (Bundesregierung 2016)

Frühjahr 2017: Vor dem Hintergrund wachsender Kritik an den Aufrüstungsplänen der NATO sowie sich zuspitzender Konflikte um den Ausstieg aus der Braunkohle am Hambacher Forst kündigt die frisch gewählte CDU/FDP-Landesregierung von NRW an, sie wolle die Friedensklausel aus dem NRW-Hochschulgesetz streichen.

Die Zivilklausel wirkt

Auf eine Große Anfrage der Grünen im NRW-Landtag im Jahr 2018 wurden vier rüstungsrelevante Projekte gemeldet, die an Hochschulen in NRW nicht durchgeführt oder abgebrochen wurden (Landtag NRW 2018), weil Hochschulmitglieder durch die Zivilklausel ermutigt wurden, »Nein!« zu sagen. Darunter war eine Machbarkeitsstudie an der RWTH Aachen zum Bau einer Panzerfabrik in der Türkei, unter Beteiligung des Rüstungskonzerns Rheinmetall. Die RWTH äußerte sich wie folgt zu dem Projekt: „Rückblickend war es ein Fehler seitens des Auftragnehmers, überhaupt ein Ergebnis zur Verfügung zu stellen. Die RWTH fühlt sich nicht nur im Sinne der Gesetzgebung der friedlichen Forschung verpflichtet und betreibt keine Rüstungsforschung. Das betont die Hochschule mit aller Deutlichkeit. Entsprechend wurde der Auftrag auch vor Abschluss beendet.“ (RWTH Aachen 2017)

Daran wird deutlich: Zivilklauseln sind eine Ermutigung für Hochschulmitglieder, ihre Arbeit am Allgemeinwohl auszurichten und dafür politische Konfliktfähigkeit zu entwickeln.

Politische Offensive aus der Abwehr

Der abwegige Versuch von CDU/FDP, wachsende Ansprüche an eine demokratische, friedliche und nachhaltige Gestaltung der Welt technokratisch zu »streichen«, haben die Kölner Aktiven als Chance bewertet, den Spieß politisch umzudrehen und

  • durch Aufklärung neue öffentliche Aufmerksamkeit zu schaffen für die Aktualität und Notwendigkeit einer Wissenschaft, die zur Verwirklichung einer friedlichen, nachhaltigen und demokratischen Welt beiträgt,
  • die erkämpfte und viel zu wenig bekannte Zivilklausel im Hochschulgesetz und an allen Hochschulen in NRW hochschulintern und öffentlich bekannter zu machen,
  • die interessengeleitete Politik von Schwarz-Gelb zu entlarven und
  • die politischen Ambitionen und das Selbstbewusstsein der gesellschaftlichen Gegenkräfte zu stärken.

Der erste Schritt dahin war die Veranstaltungsreihe »Die Hochschule zwischen Aufklärung und Profitinteressen – Verantworung der Wissenschaft für Frieden, Demokratie und Nachhaltigkeit« an der Uni Köln im Wintersemester 2018, mit Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen der Gewerkschaft, der Friedensbewegung und der Umweltbewegung. Ihr folgte die Broschüre »Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Stimmen für den Erhalt der Zivilklausel in NRW« (Uni-Aktionsbündnis Köln et al. 2019), die mit einer Auflage von 11.000 Exemplaren große Verbreitung fand. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Volker Pispers, Dogan Akhanli, Vertreter*innen der DFG-VK, der GEW, der türkischen Akademiker für den Frieden, von Ende Gelände sowie der evangelischen Kirche kommen darin zu Wort und begründen, warum sie die Beibehaltung der Zivilklausel für gesellschaftlich erforderlich halten.

Mit der darauf folgenden Unterschriftenkampagne »Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Die Zivilklausel in NRW erhalten!« konnten die Aufklärungs- und Protestaktivitäten weiter entfaltet werden. Mehr als 90 Persönlichkeiten und Organisationen der Umweltbewegung, der Friedensbewegung, aus Gewerkschaft und Kultur sowie 60 Wissenschaftler*innen aus NRW forderten als Erstunterzeichner*innen die Beibehaltung der Zivilklausel im NRW-Hochschulgesetz. Innerhalb von zwei Monaten schlossen sich ihnen 11.000 Menschen an und stellten sich gemeinsam den politischen Herausforderungen der Zeit: „Wie gelingt es, dass kein Mensch mehr an Hunger sterben muss und Solidarität und demokratische Teilhabe gesellschaftlich umfassend verwirklicht werden? Was sind Ursachen für Krieg und Gewalt und was Voraussetzungen für ein gleichberechtigtes, friedliches Zusammenleben? Wie kann die globale Aufrüstung gestoppt, wie zivile Konfliktlösung und das Völkerrecht gestärkt werden? Welche ökonomischen Interessen stehen einer nachhaltigen Entwicklung entgegen, wie können natürliche Ressourcen geschont und produktiv gemacht statt verschwendet werden? Die gesellschaftliche Beantwortung dieser Fragen duldet keinen Aufschub, die Wissenschaft spielt hierfür eine zentrale Rolle.“ (Zivilklausel erhalten 2019)

Am 11. Juli 2019 beschloss die schwarz-gelbe Landesregierung das neue Hochschulgesetz. Darin enthalten: die Option für die Hochschulen in NRW, die Zivilklauseln aus ihren Grundordnungen zu streichen. In den Zentralen von CDU, FDP und Rheinmetall in Düsseldorf werden allerdings nicht die Korken geknallt haben, denn dieser Beschluss ist nicht mehr als ein Pyrrhussieg.

Eine zivile Entwicklung ist Angelegenheit aller

Mit der Kampagne für die Beibehaltung der Zivilklausel ist es gelungen, die Kritik an Rüstungsforschung sowie das Engagement für allgemeinwohlorientierte Hochschulen und friedensstiftende Wissenschaften politisch erheblich zu dynamisieren. Das Bündnis aus studentischer Bewegung, Friedensbewegung, Umweltbewegung, Gewerkschaften und kritischen Wissenschaftler*innen konnte ausgebaut werden, weil das Anliegen einer prinzipiellen gesellschaftlichen Veränderung leitend und somit verbindend war. So wurde der Angriff der Landesregierung auf kritische Wissenschaften und damit auf eine progressive Entwicklung der Welt mit erweiterten Ambitionen auf gesellschaftliche Veränderung und Solidarität auch über die Hochschulgrenzen hinaus beantwortet. Überdies wurde durch die Kampagne eine breite überregionale Berichterstattung zur NRW-Zivilklausel angestoßen. Die neuen Enthüllungen von SPIEGEL ONLINE machen am Beispiel der Forschung an deutschen Hochschulen für das US-Verteidigungsministerium die Tragweite der Versuche deutlich, die Wissenschaft für das weltweite Wettrüsten zu vereinnahmen (Himmelrath und Dambeck 2019).

Wie gegenwärtig das Erfordernis von Friedens- statt Kriegsforschung ist, wird auch an einer Stellungnahme des Wissenschaftsrates deutlich, der sich diesen Sommer nachdrücklich für eine Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung ausgesprochen hat (Wissenschaftsrat 2019).

Die Hegemonieverschiebung in den Hochschulen selbst ist auch beachtlich. Zum Beispiel hat der Senat der Hamburger Hochschule für angewandte Wissenschaften die NRW-Unterschriftenkampagne unterstützt und alle Hochschulmitglieder angeschrieben, damit sie es ihm gleich tun. Dadurch bekommen die Kämpfe für eine Zivilklausel für den Hamburger Hafen und im dortigen Landeshochschulgesetz ebenfalls Aufwind. In Berlin und Sachsen-Anhalt werden aktuell die Hochschulgesetze novelliert, die Einführung einer Zivilklausel nach NRW-Vorbild steht dort auf der Tagesordnung.

In NRW haben sich mittlerweile alle Universitäten zu den Zivilklauseln in ihren jeweiligen Grundordnungen bekannt. An vielen Orten ist die Diskussion über die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft neu aufgelebt. So gibt es an der TH Köln inzwischen eine Initiative für die Einführung einer umfassenderen Zivilklausel. In Bochum und Wuppertal wird beraten, die Zivilklausel mit einer Ethikkommission zu flankieren.

Die Zivilklausel ist zwar aus dem NRW-Hochschulgesetz gestrichen, Schwarz-Gelb hat damit den Kampf für demokratische, zivile und nachhaltige Forschung und Lehre aber lediglich in die einzelnen Hochschulen verlegt und trägt so ungewollt zu einer weiteren Politisierung bei. Dies ist angesichts der zusätzlichen Milliarden für Rüstungsforschung, die durch die anhaltende Militarisierung der Europäischen Union und das NATO-Aufrüstungsziel von 2 % locken, auch dringend erforderlich.

Geschichte wird gemacht

An jeder Stelle der Aufrüstungs- und Kriegskette kann diese gebrochen werden. Bei Google protestierten letztes Jahr mehrere tausend Mitarbeiter*innen dagegen, dem US-Militär zuzuarbeiten. In den letzten Monaten stellten sich Hafenarbeiter*innen in Italien, Spanien und Frankreich gegen den Transport von Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien. In Hamburg ist ein Volksentscheid für die Einführung einer Zivilklausel für den Hafen in Planung.

Das Engagement für die Zivilisierung menschlicher Arbeit trifft ein gesellschaftliches Erfordernis, das sich immer mehr Menschen zu eigen machen. Und tatsächlich brauchen wir Zivilklauseln nicht nur für Hochschulen, sondern ebenso für Häfen, Banken und Betriebe. Das restaurative Gebot der Zeit nach 1989, man solle »der Politik« das Politikmachen überlassen und das Leben auf den eigenen privaten Nahraum reduzieren, verliert zunehmend an einschüchternder Kraft. Hier zeigt sich ein gesellschaftlicher Umbruch, den jeder befeuern kann.

Literatur

Borchers, D. (2014): IT-Wehrforschung in Deutschland – Den Standort erhalten. heise online, 6. Februar 2014.

Die Bundesregierung (2016): Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland. Verabschiedet am 21.12.2016.

Celler Trialog (2008): Celler Appell. Abrufbar auf bundeswehr.de.

Generalversammlung der Vereinten Nationen (1966): Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt). Verabschiedet am 16. Dezember 1966.

Himmelrath, A.; Dambeck, H. (2019): Millionen vom Pentagon für deutsche Unis. SPIEGEL ONLINE, 22.6.2019.

HZG NRW 2014 – Hochschulzukunftsgesetz Nordrhein-Westfalen. Vom Landtag beschlossen am 16.9.2014.

Initiative Hochschulen für den Frieden – Ja zur Zivilklausel (2019): Liste aktueller Zivilklauseln. zivilklausel.de.

Landtag Nordrhein-Westfalen (2018): Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage 5 der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Drucksache 17/2612 vom 13.9.2018.

RWTH Aachen University (2017): Statement der RWTH Aachen zur Machbarkeitsstudie für ein Werk in Karasu, Türkei. Pressemitteilung vom 4.9.2017.

Uni-Aktionsbündnis Köln, Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, GEW Studis NRW (2019): Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Stimmen für den Erhalt der ­Zivilklausel im NRW-Hochschulgesetz. März 2019; uni-aktionsbuendnis.uni-koeln.de.

Wissenschaftsrat (2019): Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung. Drs. 7827-19 vom 12.7.2019.

Zivilklausel erhalten (2019): Die Zivilklausel in NRW erhalten! weact.campact.de, 15.5.2019.

Senta Pineau ist aktiv im Uni-Aktionsbündnis Köln, Mitgründerin des dortigen Arbeitskreises Zivilklausel und war von 2016 bis 2019 studentische Vertreterin im Senat der Universität. Sie ist Mitglied bei ver.di und in der SPD.

»House Demolitions«

»House Demolitions«

Eine szenische Darstellung ästhetischen Widerstandes in Palästina

von Tim Bausch

Die nachfolgende Erzählung und die damit verbundene Analyse sind Teil einer größeren Recherche, die sich auf Formen ästhetischen Widerstandes in Israel und Palästina konzentriert. Der Beitrag beschäftigt sich im Speziellen mit der ästhetischen Dimension von Hauszerstörungen und den damit verbundenen Widerstandspraktiken. Ästhetik wird hier nicht als Synonym für etwas Schönes/Ansehnliches verstanden, sondern vom ursprünglichen Wortsinn (aisthesis = sinnliche Empfindung) her gedacht.

Die in der folgenden Darstellung erwähnten Personen und Umstände sind real. Die Familie hat gebeten, auf eine Anonymisierung zu verzichten, und sucht die Öffentlichkeit.

I. Szene: Spätsommer 2019. Das Grundstück der Familie Qaisyeh liegt etwas abseits der palästinensischen Stadt Beit Jala. Das Anwesen besteht aus einem Restaurant, einem kleinen Garten und einem Wohnhaus, auf dessen Dach ein großes Holzkreuz wacht. Vor einigen Tagen erhielt die Familie einen amtlichen Bescheid über den Abriss der Gebäude. Nun finden sich die Angehörigen mit einem Vertreter des »Committee Against the Wall and Settlements in Bethlehem« zusammen. Während die
juristische Situation von den Anwesenden diskutiert wird, liegt eine paradoxe
Mischung aus Alltag und Ausnahmesituation in der Luft.

Raum und seine Ausgestaltung sind wesentliche Felder des israelisch-palästinensischen Konfliktes. So kam es, dass der Abriss von Wohnhäusern zum integralen Bestandteil der Auseinandersetzungen wurde. Die Gründe für den Abriss können unterschiedlich sein: als Strafaktion gegenüber Familien palästinensischer Attentäter*innen, als baurechtliches Resultat sicherheitspolitischer Einschränkungen oder schlicht aufgrund fehlender Baugenehmigungen (vgl. Hatz 2018, S. 5 f.).

Um diese Gemengelage zu verstehen, muss man wissen, dass das weitgehend von Israel besetzte Westjordanland in drei administrative Zonen (A, B, C) eingeteilt ist. In den A-Gebieten, die vornehmlich palästinensische Großstädte markieren, hat die Palästinensische Autonomiebehörde Handhabe über zivile und sicherheitsrelevante Angelegenheiten; in den B-Gebieten verfügt sie lediglich über die zivile Hoheit. Die C-Gebiete wiederum (ca. 65 % des Westjordanlandes) markieren die Ländereien rund um israelische Siedlungen. Hier hat die Palästinensische Autonomiebehörde, die als regierungsähnliche
Repräsentanz der Palästinenser*innen fungiert, keinerlei Befugnisse. Die C-Gebiete werden also vollumfänglich von Israel kontrolliert. Dort finden Abrissaktionen palästinensischer Wohnhäuser aufgrund fehlender Baugenehmigungen besonders häufig statt. Während die israelischen Siedlungen wachsen, ist es für Palästinenser*innen sehr schwierig, in diesen C-Gebieten Baugenehmigungen zu erlangen. Trotz fehlender Genehmigung entschließen sich manche Familien zum Hausbau. Dieser wird so zum widerständigen Akt per se. Das Haus der Familie Qaisyeh befindet in einer Region namens al-Makhrour, die in
eben einem solchen C-Gebiet liegt. Die israelische Siedlung Har Gilo ist nur wenige Kilometer entfernt.

Neben diesen politischen und rechtlichen Umständen hat der Komplex »Hauszerstörung/Wiederaufbau« auch eine ästhetische Dimension. Im Zuge des vorliegenden Beitrages wird jener ästhetischen Spur auf den Grund gegangen. Dabei wird unter Ästhetik eine Verschränkung von sinnlicher Darstellung und kognitiven Folgen verstanden (vgl. Baumgarten 1983). Ästhetik ist folglich ein Phänomenkomplex, der sowohl die eigentliche Darbietung als auch die individuellen und kollektiven Folgen in eine direkte Beziehung setzt. Ästhetik als solche erhebt den Anspruch, soziale Wirklichkeit auf eine besondere Art
und Weise darzustellen.

Ästhetischer Widerstand trägt wiederum ein starkes politisches Moment in sich, indem er das Bestehende negiert oder zumindest in Frage stellt. Sinnliche Welterzeugung ist folglich der Modus Operandi des ästhetischen Widerstandes: So kann das Unverfügbare (beispielsweise fehlende politische Rechte) erfahrbar gestaltet werden, es können politische Utopien verkörpert und Möglichkeitsräume für Ideen eröffnet werden.

II. Szene: Der Kampf der Familie dauert schon einige Jahre an. Teile des Anwesens wurden mehrfach wegen fehlender Baugenehmigungen abgerissen. Und so kommt es auch diesmal: Wenige Tage nach dem Zusammentreffen in der ersten Szene ziert das große Holzkreuz nicht mehr den Giebel des Wohnhauses, sondern steht wie ein stiller Zeuge vor dessen Trümmern (Abb. 1). Der staatlich verordnete Abriss konnte trotz juristischer Anstrengungen nicht aufgehalten werden. Nun stehen Hab und
Gut der Familie
aufgereiht auf dem Rasen. Daneben zwei Zelte, in denen die Familie vorerst nächtigen wird (Abb. 2). Und auch in dieser Szene ist die paradoxe Stimmung von Alltag und Ausnahmesituation zu spüren. Neben Wut und Trauer finden sich bereits Überlegungen zum Wiederaufbau. Während der Aufräumarbeiten wird gescherzt, die Stimmung ist wolkig bis heiter.

Wieso ist da trotz der familiären Katastrophe eine Spur Heiterkeit? Wieso wird über einen Wiederaufbau nachgedacht, wo doch bei ausbleibender Baugenehmigung die abermalige Zerstörung die logische Konsequenz sein dürfte?

Um das Phänomen der Hauszerstörungen und des ungenehmigten (Wieder-) Aufbaus zu verstehen, muss auf einen größeren Zusammenhang verwiesen werden: Während der gewaltvollen Auseinandersetzung zwischen Palästinenser*innen und Israelis, die mit der Gründung des israelischen Staates einhergingen, wurden knapp fünfhundert palästinensische Dörfer zerstört. Von den meisten dieser Dörfer sind heute nur noch die Reste der Grundmauern zu erkennen. Auch ehemals palästinensische Zentren, beispielsweise Jaffa, haben sich seitdem sehr verändert: Hochhäuser schossen empor, Straße wurden umbenannt, und ein
neuer Lifestyle hat Eingang in den Alltag gefunden. Kurz, die Landschaft hat eine neue Sichtbarkeitsordnung bekommen (vgl. Rancière 2002). Die Raumkomponente des Konfliktes wird folglich nicht nur durch die politische Geographie, sondern auch durch dessen ästhetische Gestaltung getragen. Den Konfliktakteuren geht es dabei auch um ihre eigene kulturelle Präsenz und Sichtbarkeit. So kann die (Nicht-mehr-) Existenz eines Olivenhains ebenso zum Konfliktfeld werden wie die Beschaffenheit einer Hausfassade. Dies gilt insbesondere für das so genannte Westjordanland. Während sich israelische
Siedlungen durch ihre Lage auf Anhöhen buchstäblich hervorheben, liegen palästinensische Dörfer oftmals in Tälern. Der Architekt und Aktivist Eyal Weizman (2012) bezeichnet solche Ordnungen auch als „Politik der Vertikalität“. In den C-Gebieten wirken die israelischen Siedlungen somit deutlich markanter als die Dörfer der Palästinenser*innen. Viele Palästinenser*innen verstehen dies bereits als visuelle Repräsentation einer spezifischen Machtordnung.

Widerständige Praktiken haben häufig das Ziel, die herrschende Sichtbarkeitsordnung zu stören. Und so sind palästinensische Häuser, insbesondere jene, die ohne Genehmigung entstehen/bestehen und dadurch die herrschende Sichtbarkeitsordnung stören, die ästhetische Grundierung eines politischen Widerstandsnarratives (vgl. Braverman 2007, S. 335). Für den Soziologen Hermann Pfütze (2018) hat ästhetischer Widerstand das Ziel, dem Zerstörerischen ein schöpferisches Potential entgegenzusetzen. In der palästinensischen Ideengeschichte hat dieses Entgegenstellen einen Begriff: »sumud«, was sich mit
Standhaftigkeit übersetzten lässt. Oder wie Hassan Breijieh vom »Committee Against the Wall and Settlements in Bethlehem« zu sagen pflegt: „Wo palästinensisches Leben ist, hat Okkupation keinen Raum. Also müssen wir Leben kreieren.“ In diesem Sinne fungiert jedes wiederaufgebaute palästinensische Haus als eine visuelle Metapher des »sumud« – der palästinensischen Standhaftigkeit.

Durch den Wiederaufbau wird die Gerichtsbarkeit der israelischen ­Besatzung negiert. Schließlich geht es den hier handelnden Palästinenser*innen weniger um Recht, sondern um Gerechtigkeit. Für sie sind die Verfügungen israelischer Gerichte ein illegitimes Verwaltungsinstrument der Besatzung. Die Palästinensische Autonomiebehörde kann bei dieser Auseinandersetzung kaum helfen, weshalb die widerständigen Akteure selbst tätig werden. Der Wiederaufbau ist also Selbsthilfe von unten mit dem Ziel, die eigene Existenz zu sichern und die damit verbundenen Ansprüche auch ästhetisch geltend zu
machen. Das, was augenscheinlich nicht verfügbar ist, also die Selbstbestimmung, wird mittels der ästhetischen Widerstandspraktik des Wiederaufbaus sinnlich erzeugt. Ästhetischer Widerstand ist, wie sich hier zeigt und eingangs bereits festgestellt wurde, eine Form der Welterzeugung. Darüber hinaus ist ästhetischer Widerstand auch immer ein Produzent von Empfindungen. Auch dies zeigt sich an der Geschichte der Familie Qaisyeh: Die Geschehnisse ziehen (Wirk-) Kreise und wecken so die Aufmerksamkeit verschiedenster Akteure.

III. Szene: Einige Tage nach dem Abriss: Das Kreuz wacht noch immer vor den Trümmern des Wohnhauses. Die Familie ist nicht allein. Verwandte, lokale Politiker und Geistliche sind anwesend. Die Tragik der Ereignisse erfährt mediale Aufmerksamkeit und die Familie Zuspruch.

Die Geschehnisse rund um eine Hauszerstörung erfolgen alles andere als klang- und sanglos. Auch wenn die israelischen Soldat*innen während des eigentlichen Aktes der Zerstörung das Terrain um das Anwesen absperren, versammeln sich Pressevertreter*innen in der Nähe. In den Tagen vor und nach der Zerstörung findet sich die Geschichte in sozialen Medien, wie Twitter und Facebook, wieder. Auch die Familie dokumentiert mit Handykameras den Abriss. Die daraus resultierenden Bilder fördern Trauer und Wut, wie in der Kommentarfunktion von Facebook deutlich wird. Aus dem Akt der Zerstörung folgt
also eine weitere ästhetische Ebene, sind die produzierten Bilder doch eindrücklich: Große Maschinen lassen die Gebäude wie Kartenhäuser zusammenfallen, aufgeregt versuchen sich die Bewohner*innen und Angehörigen den Abrissbirnen entgegen zu stellen und werden schließlich doch von israelischen Soldat*innen an die Seite gedrängt. Die Szenerie hat eine ritualisierte Theatralik (vgl. Goffman 2011). Ästhetik und Emotionen sind zwei Seiten einer Medaille. Ästhetik ist also eine Form der Welterzeugung, die in einer spezifischen Weltempfindung mündet.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die palästinensische Gesellschaft in unterschiedlichem Maße von der Okkupation betroffen ist. Okkupation kann konkret oder abstrakt sein. Privilegiertere Familien in Ramallah erfahren die Okkupation auf eine andere Weise als etwa Palästinenser*innen in den C-Gebieten. Geteilte Bilder können durch die hervorgerufene Anteilnahme Kollektivität fördern.

Ein weiteres Spezifikum des Ästhetischen wird hier sichtbar: Durch die Empfindungen/Emotionen, die mit den produzierten Bildern einhergehen, erwächst eine Mobilisierung, denn die Anteilnahme, die mit Hauszerstörungen einhergeht, geht über die palästinensische Gesellschaft hinaus: In aktivistisch-akademischen Diskursen (Stichwort »domicide«), von internationalen und nationalen (palästinensischen, aber auch israelischen) Nichtregierungsorganisationen und unterschiedlichsten Medien werden die Geschehnisse verarbeitet und multipliziert.

Das Beispiel der Hauszerstörungen ist nur eines von vielen, in denen Ästhetik eine signifikante Rolle in Konflikten spielt. Oftmals verbinden sich ästhetische Momente mit raumtheoretischen Fragen. Die Stadt Hebron kann hier als Beispiel angeführt werden. Mehrere israelische Siedlungen und (bewaffnete) Auseinandersetzungen zwischen dem israelischen Militär und dem palästinensischen Widerstand haben das Gesicht der Stadt verändert: Verschiedenste Sicherheitszonen und Kontrollpunkte entstanden, Häuser wurden geräumt und zerstört. Das von der Palästinensischen Autonomiebehörde geförderte
»Hebron Rehabilitation Committee« hingegen hat es sich zur Aufgabe gemacht, die palästinensische Architektur in der umkämpften Stadt zu erhalten und/oder wieder herzustellen. Am so genannten »Land Day« wiederum, der jährlich stattfindet und an staatliche Enteignungen seitens Israel erinnert, pflanzen viele Palästinenser*innen im Westjordanland Olivenbäume. Der Olivenbaum fungiert hier als Symbol für die palästinensische Verwurzelung mit dem Land. Und so zeigt sich, dass Ästhetik und ästhetischen Widerstandspraktiken in Konflikten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommt. Für die
Familie Qaisyeh ist im Übrigen klar, dass das alte Kreuz auch wieder auf ihrem neuen Haus stehen wird. Auf die Frage, was den Optimismus der Familie nährt, antwortet die Tochter: „Nun, wir sind eben Palästinenser.“

Literatur

Baumgarten, A.G (1983): Theoretische Ästhetik: die grundlegenden Abschnitte aus der
»Aesthetica«. Hamburg: F. Meiner.

Goffman, E. (2011): Wir spielen alle Theater – Die Selbstdarstellung im Alltag. München/Zürich: Piper.

Hatz, S. (2018): Selective or collective? Palestinian perceptions of targeting in house demolition. Conflict Management and Peace Science, 21 S., Online-Publikation 18.9.2018.

Pfütze, H. (2018): „Schönheit ist Personenschutz“. In: Bosch, A.; Pfütze, H. (Hrsg.): Ästhetischer Widerstand gegen Zerstörung und Selbstzerstörung. Wiesbaden: Springer VS, S. 9-25.

Rancière, J. (2002): Das Unvernehmen – Politik und Philosophie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Weizman, E. (2012): Hollow Land – Israel’s Architecture of Occupation. New York: Verso.

Tim Bausch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehrstuhles für Internationale Beziehungen an der Universität Jena. In seinem Disserationsprojekt arbeitet er zu ästhetischen Widerstandsformen vor dem Hintergrund spezifischer Herrschaftsformen.

Hybride Kriegführung in urbanen Zentren


Hybride Kriegführung in urbanen Zentren

Relevanz für die zivile Verteidigung

von Dirk Freudenberg

Der Anteil der Weltbevölkerung steigt stetig und wird bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts auf zehn Milliarden Menschen anwachsen. 2050 werden etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben, u.a. in 43 Megastädten mit jeweils mehr als zehn Millionen Einwohner*innen. Auch die deutschen Großstädte legen seit Jahren zu. Dabei ist insbesondere der im Urbanen lebende Bevölkerungsanteil abhängig von Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge und so genannten Kritischen Infrastrukturen. Aus sicherheitspolitischer Sicht ergeben sich daraus für den Autor Herausforderungen für die Zivile Verteidigung, insbesondere unter den Bedingungen hybrider Bedrohungen bzw. Hybrider Kriegführung.

Das Verständnis darüber, was hybride Bedrohungen ausmacht und was sie von anderen Phänomenen abgrenzt, ist in der Literatur uneinheitlich. Hybride Kriegführung zeichnet sich nach der hier vertretenen Sichtweise dadurch aus, dass der Schwerpunkt der »Wirkmittel« wie der angegriffenen Ziele im zivilen Bereich liegt, das heißt, die eingesetzten Mittel entstammen nicht dem »klassischen« militärischen Waffenarsenal, und sie erzeugen ihre Wirkung vor allem im zivilen Raum. Für klassische konventionelle militärische Kräfte und Fähigkeiten könnte sich somit eine »Leere des Gefechtsfeldes« ergeben, da sie nicht mit einem äquivalenten Gegner konfrontiert sind, sondern dieser sein Militär allenfalls begleitend offen einsetzt, um hybride Aktionen zu verschleiern, zu unterstützen oder abzusichern.

Der Schwerpunkt von Verwundbarkeiten und der darauf abzielenden Effektoren1 liegt damit eindeutig im zivilen Bereich. Allerdings ist die Abhängigkeit der Bevölkerung und der Wirtschaft in Deutschland von zivilen Kritischen In­frastrukturen2 in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen, sodass der Schutz Kritischer Infrastrukturen aus sicherheitspolitischer Sicht einen nationalen Sicherheitsfaktor darstellt. Hieraus erwächst die Forderung, Zivile Verteidigung3 nicht länger als eher lästiges Anhängsel einer vornehmlich militärischen Verteidigung, sondern als gleichwertigen Pfeiler einer Gesamtverteidigung anzusehen. Die Aufrechterhaltung des gesamtgesellschaftlichen Systems im Krisenfall verlangt danach, die Bedeutung der Zivilen Verteidigung anzuheben und ihre Fähigkeiten umfassend zu stärken.

Moderne Wirkmittel Hybrider Kriegführung

Zu den neuartigen Bedrohungen, welche die negative Kehrseite moderner Informationstechnologie darstellen, gehören Bedrohungen im und aus dem Cyberraum im Sinne krimineller oder kriegerischer Handlungen (Cyberwar). Es handelt sich hierbei um gezielte politisch oder ökonomisch motivierte Angriffe, bei denen die Informationstechnologie (IT) sowohl Ziel als auch Mittel zum Zweck sein kann. Beabsichtigt sind gewaltgleiche Auswirkungen auf Leben und Gesundheit der Bevölkerung oder auf die wirtschaftliche und/oder politische Handlungsfähigkeit eines Staats. Hier geht es um die Penetration, Lahmlegung oder sogar »Umdrehung« elektronisch gesteuerter Systeme eines Gegners, also seiner strategisch oder existenziell wichtigen Informatik, mit verheerenden Folgen für den Staatsapparat und seine Selbstbehauptung sowie für die Gesellschaft.

Von jedem beliebigen Punkt, egal ob auf dem Meer oder dem Land, in der Luft oder im Weltraum, sind Ziele im globalen virtuellen Cyberraum innerhalb von Sekunden erreichbar, bekämpfbar und ausschaltbar. Damit wird die räumliche Gewaltgrenze des Krieges weiter aufgelöst, der Krieg wird in diesem Szenario des Information Warfare ortlos, unsichtbar im räumlichen Nirgendwo, ohne zwischen der zivilen und der militärischen Sphäre zu unterscheiden. Ein Akteur kann seine konventionelle Unterlegenheit also durch asymmetrische Kriegführung kompensieren und auf elektronischem Wege Schäden an der Heimatfront des Gegners, insbesondere an dessen Kritischen Infrastrukturen, anrichten. Zudem ist die Anwesenheit des Störers oder Saboteurs am Anschlagsort nicht erforderlich – Angriffe können aus beliebiger Distanz über den Cyberraum erfolgen.

Dabei geht es vor allem darum, die Daten, die zum Betrieb eines militärischen oder zivilen Systems benötigt werden, zu manipulieren oder zu löschen; die materielle Zerstörung von Gütern oder Anlagen ist dazu nicht erforderlich. Im Extremfall können ganze Staaten lahmgelegt werden. Da keine physischen Schäden verursacht werden, können die kompromittierten Anlagen nach erfolgter Kapitulation relativ rasch wieder in Betrieb genommen werden. Dadurch bleiben die Auswirkungen auf das gesamtgesellschaftliche System und die Lage der Bevölkerung überschaubar.

In der Literatur wird ein solches Szenario als »digitaler Erstschlag« bezeichnet, eröffnet doch der Cyberwar die Option, mit einem »digitalen Enthauptungsschlag« eine rasche und totale Überlegenheit und einen »Sieg« zu erreichen. Das klassische militärische Prinzip des Erstschlags bekommt hierdurch – unbenommen der immer umfassenderen Aufklärung im konventionellen Bereich – eine neue Bedeutung.

Auswirkungen auf urbane Räume

Die Auswirkungen des Ausfalls Kritischer Infrastrukturen auf Großstädte und die Bevölkerung sind in einem solchen Fall, wie bereits punktuelle Störungen in Friedenszeiten zeigen, enorm. Ein digitaler Enthauptungsschlag ist absehbar nicht auf einzelne Stadtteile, Städte oder Regionen begrenzt, sondern führt zu großräumigen Ausfällen, welche unter Umständen das gesamte Staatsgebiet betreffen. Die Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge, d.h. die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen, werden in kürzester Zeit zusammenbrechen bzw. die Bevölkerung nicht mehr erreichen. Weicht die städtische Bevölkerung in der Folge in umliegende, unter Umständen weniger betroffene ländliche Gebiete aus, könnten die dort gegebenenfalls noch (rudimentär) funktionierenden Infrastrukturen und Ressourcen in kurzer Zeit überlastet werden und auch dort völlig zum Erliegen kommen.

Folgerungen

Gerade die hybriden Möglichkeiten im Cyberraum zeigen, dass die strikte Trennung von innerer und äußerer Sicherheit weiter unter Druck gerät, sich allmählich auflöst und rein militärische Risiken der Vergangenheit angehören. Dementsprechend sind Lösungsansätze, Schutz- und Abwehrmaßnahmen in entsprechender Vielfalt zu entwickeln. Hiervon sind auch die Phasen der Bedrohungsanalyse und der Planung des Umgangs mit den Herausforderungen betroffen. Die Einschätzung der (militärischen) Bedrohungen primär dem Militär zu überlassen, wie es die »Konzeption Zivile Verteidigung (KZV)« des Bundesinnenministeriums des Inneren von 2016 vorsieht, ist unter dem Gesichtspunkt der oben beschriebenen hybriden Bedrohungen inkonsequent. Vielmehr sind auch die Bereiche Territorialverteidigung, Heimatschutz und Zivilschutz einzubeziehen. Das könnte unter den Bedingungen hybrider Bedrohungen bedeuten, dass althergebrachte Krisenreaktionsmittel und -formen hinsichtlich ihrer Ausformungen und Zuständigkeiten nicht (mehr) passen oder nicht rechtzeitig und umfangreich genug zum Einsatz kommen können und damit zu spät Wirkung entfalten, um die Auswirkungen des hybriden Angriffs einzudämmen.

Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Fähigkeiten zur gesamtgesellschaftlichen Prävention bzw. die dazu erforderlichen nationalen Sicherheitsakteure einsatzorientiert aufzustellen und zu vernetzen. Das »Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Bundeswehr« von 2016 konstatiert, dass hybride Bedrohungen nach hybrider Analysefähigkeit sowie entsprechender Verteidigungsbereitschaft und -fähigkeit verlangen, was erhebliche Auswirkungen auf den Charakter und das Verständnis von Landes- und Bündnisverteidigung im 21. Jahrhundert hat. Bereits aus der abstrakten Gefährdungslage, das heißt der bloßen Denkbarkeit und damit Möglichkeit der Materialisierung einer Bedrohung, ergeben sich Anforderungen an eine effiziente zivil-militärische Gesamtverteidigung. Dies ergibt sich auch aus dem Umkehrschluss der ursprünglichen Begründung für die nachrangige Unterstützungsfunktion des Zivilschutzes, wonach der Zivilen Verteidigung in Krise und Krieg die entscheidende Unterstützungsrolle für die militärische Verteidigung zugewiesen wird, um vorrangig die Verteidigungsfähigkeit und Operationsfreiheit der Streitkräfte zu gewährleisten.

Diese Vorrangigkeit ist angesichts der hybriden Bedrohungen unter Umständen in dieser Einseitigkeit nicht mehr zu halten. Im Gegenteil: Der moderne Ansatz Hybrider Kriegführung gründet gerade auf der Überlegung, die grundlegenden Regeln des Krieges zu verändern, indem die Rolle der nicht-militärischen Mittel zur Erreichung politischer und strategischer Ziele wächst und die Wirkmacht der Waffengewalt übertrifft. Darüber hinaus erfordert die Ausrichtung hybrider Bedrohungen und Kriege auf nicht-militärische »Gravitationszentren« nicht notwendigerweise eine militärische Kriegs- bzw. Konfliktentscheidung. Die Forderung, den Stellenwert der Zivilen Verteidigung anzupassen, begründet sich daher u.a. darin, dass Angriffe mit hybriden Fähigkeiten möglicherweise die eigenen militärischen Fähigkeiten unterlaufen könnten und eine Abwehr und Reaktion gegebenenfalls (nur noch) mit zivilen Fähigkeiten und Wirkmitteln möglich ist. Diese Ansicht lässt sich auch verfassungsrechtlich begründen: Die Zivile Verteidigung ist gewissermaßen als notwendige Komponente der alleine zum äußeren Schutz wirksamen Gesamtverteidigung vom Verfassungsauftrag des Grundgesetzes mit erfasst, welcher eine wirksame bzw. effektive Verteidigung erfordert.

Wer den bisherigen Ausführungen zustimmt, muss zum Schluss kommen, dass Zivile Verteidigung, Zivilschutz und dementsprechend auch der umfassendere Bevölkerungsschutz im Rahmen einer Gesamtverteidigung neu zu bewerten und anzupassen und mit den Fähigkeiten und Mitteln der militärischen Verteidigung neu zu vernetzen sind.

Anmerkungen

1) Im militärischen Kontext ist ein Effektor eine Maßnahme, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Die Bandbreite von Effektoren reicht vom Flugblatt oder einer Falschmeldung bis zum Einsatz klassischer militärischer Waffen.

2) »Kritische Infrastrukturen« sind gemäß der Definition des Glossars des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe „Organisationen und Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden“ (bbk.bund.de).

3) Zivile Verteidigung ist nicht zu verwechseln mit Sozialer Verteidigung. Das Bundesministerium des Inneren definiert Zivile Verteidigung so: „[Sie] dient der Vorbereitung auf die Abwehr schwerwiegendster Gefahren für den Staat und seine Bürgerinnen und Bürger. Streng genommen geht es dabei um die Abwehr kriegsbedingter Gefahren und schwerster innerer Notstände. Es muss Vorsorge dafür getroffen werden, die Handlungsfähigkeit von Staat und Verwaltung gerade bei schwersten Krisen zu gewährleisten. Nur so kann bereits ihr Entstehen möglichst verhindert oder zumindest ihre Folgen bewältigt werden.“ (bmi.bund.de)

Dr. Dirk Freudenberg ist Referent im Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) und Dozent an der BBK-Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz in Bonn.

Aus Platzgründen erscheint dieser Artikel ohne den umfangreichen Literaturapparat. Das Manuskript mit Literaturhinweisen kann gerne bei redaktion@wissenschaft-­und-frieden.de angefordert werden.

Bewegte Forschung


Bewegte Forschung

Protest zwischen Wissenschaft und Politik

von Janina Rott und Max Schulte

Vom Protest der französischen Gelbwesten über die Besetzung zentraler Plätze im Arabischen Frühling oder bei Occupy bis zum Protest gegen Windkraftanlagen, von Demonstrationen gegen AfD-Veranstaltungen bis zu PEGIDA und dem Protest gegen Flüchtlingsunterkünfte – überall zeigt sich Protest. Die Autor*innen untersuchen Phänomene des Protests und der Protestakteure aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Dabei skizzieren sie zugleich, welches gesellschaftsverändernde, progressive Potential sowohl die Protestbewegungen wie die Bewegungsforschung in sich bergen.

Die Anerkennung von Protest als politisches Handlungsinstrument ist Teil eines längeren Rationalisierungs- und Normalisierungsprozesses (Neidhardt und Rucht 1993). So war es Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus üblich, Protest als irrationales Massenphänomen zu charakterisieren (exemplarisch Le Bon 1982): Die Masse sei verführbar und der*die Einzelne verliere in der Masse das Urteilsvermögen. Noch in den 1970er Jahren zählte man Protest zu den unkonventionellen Formen politischer Partizipation (Hoecker 2006, S. 10), zum Teil verbunden mit der Behauptung, es handele sich dabei um weniger legitime Handlungsformen. Am Ende dieses Normalisierungsprozesses wird die Legitimität nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt.

Interessant ist, dass der Begriff des Protests unscharf und wenig konzeptualisiert erscheint. Oft begnügt man sich – wie in der Einleitung zu diesem Artikel – mit Aufzählungen von Protestereignissen und -formen. Die große Bandbreite von Protestformen, -akteuren und -inhalten macht eine gemeinsame Einordnung schwierig, sowohl deskriptiv (welche Phänomene gehören dazu?) als auch normativ (welche Proteste sind legitim?). So treten derartige Fragen beispielsweise bei Protestereignissen, wie dem G20-Gipfel in Hamburg, deutlich zu Tage. Gründe genug, sich dem Phänomen des Protests und der ihn tragenden Akteure eingehender zu widmen. Wir tun dies mit dem Ziel vor Augen, am Ende nicht nur die wissenschaftliche Perspektive auf Protest deutlich gemacht zu haben, sondern das Ineinandergreifen von Wissenschaft und emanzipativem Potential zu skizzieren.

Protest und soziale Bewegungen

Eine grundlegende Definition von Protest verweist auf „kollektive, öffentliche Aktion nicht-staatlicher Träger, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringt und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden ist“ (Rucht 2003, S. 23). Zwei Fragen stellen sich im Anschluss: Was unterscheidet Protest mit dieser Definition und mit Blick auf die Phänomene, die wir oben benannt haben, von anderen Formen politischer Partizipation? Und wer sind die nicht-staatlichen Träger?

Wenn wir die Dimensionen politischer Partizipation betrachten (z.B. bei Hoecker 2006, S. 11), dann deckt Protest ein weites Spektrum unverfasster Partizipation ab. Gerade die große Bandbreite unterschiedlicher Aktions- und Organisationsformen zeichnet Protest aus. Die Aktionsformen können auf einem Kontinuum zwischen legal und illegal, zwischen gewaltlos und gewaltsam angesiedelt sein. Der individuelle Einstieg in den Protest ist niedrigschwellig, gleichzeitig aber oft mit hohem – auch körperlichem – Einsatz verbunden. Somit ist Protest in sehr unterschiedlicher Intensität möglich, von der genehmigten Mahnwache bis hin zur Blockade eines Castor-Transports.

Zu den maßgeblichen gesellschaftlichen Protestakteuren gehören die sozialen Bewegungen. Nicht weil sie die einzigen sind, die protestieren, sondern weil für sie Protest die „prägende Bewegungspraxis“ (Roth und Rucht 2008, S. 13) ist. Als »soziale Bewegung« verstehen wir das kollektive soziale Handeln für das gemeinsames Ziel, relevante Strukturen der Gesellschaft bzw. des Staates zu verändern oder zu verteidigen. Dabei muss eine Bewegung keineswegs auf einen Umbruch des gesamten Systems hinarbeiten, stattdessen können auch nur einzelne Elemente betroffen sein.

Um diese Ziele zu erreichen, weisen soziale Bewegungen eine gewisse Dauerhaftigkeit und Kontinuität auf. Sie sind daher permanent darum bemüht, weitere Menschen für die Bewegung zu mobilisieren und auch die bisherigen Mitglieder immer wieder zum aktiven Handeln zu motivieren. Sie müssen, wie es der Begriff schon sagt, ständig »in Bewegung bleiben«. Typisch dafür ist auch das Erzeugen eines starken Wir-Gefühls mittels (politischer) Symbolik, Mode, Umgangsformen, Sprache, Habitus etc. Aber wer engagiert sich in sozialen Bewegungen? Es sind nicht immer die, denen es am schlechtesten geht, die von außen gesehen am meisten Anlass zum Protest haben. Gerade wenn es um Proteste geht, die sich jenseits der sozialen Frage auf postmaterialistische Werte gründen, dann ist Protest oft ein Mittelschichtphänomen (Hellmann 1995, S. 144 ff.).

Des Weiteren zeichnen sich soziale Bewegungen durch eine geringe Rollenspezifikation aus, d.h. es gibt kaum festgeschriebene Rollen und somit auch keine feste Organisation. Auch wenn die verschiedenen Bewegungen durchaus einen unterschiedlichen Organisationsgrad aufweisen, ist dieser im Gegensatz zu formellen Organisationen (z.B. Vereine, Parteien) weitaus instabiler und unverbindlicher. Stattdessen gibt es in sozialen Bewegungen eine Vielfalt an Tendenzen, Organisationen und Aktionsansätzen (vgl. Beyer und Schnabel 2017, S. 13 ff.; Raschke 1991, S. 31 ff.).

Zusammenfassend lassen sich soziale Bewegungen somit als „Phänomene sozialen Handelns [definieren], bei denen sich Akteur*innen aufgrund der Unterstellung gemeinsamer Ziele zumindest diffus organisieren und für eine längere Zeit zu einem Kollektiv zusammenschließen, um mit institutionalisierter Entscheidungsgewalt ausgestattete individuelle oder kollektive Akteur*innen im Modus des Konflikts zu beeinflussen“ (Beyer und Schnabel 2017, S. 16).

Diese wissenschaftliche Definition grenzt sich sowohl von einem negativen Begriff von sozialen Bewegungen als irrationaler Masse (siehe Le Bon) als auch von einem emphatischen Bewegungsbegriff, der soziale Bewegungen als historische Akteure konzeptioniert, ab. Das öffnet den Blick auch für solche soziale Bewegungen, die nicht den klassischen Beispielen der Neuen Sozialen Bewegungen entsprechen, sondern z.B. einen autoritären Impetus haben.

Mit diesem Bild der Protestakteure und der großen Bedeutung, die der Mobilisierung zugeschrieben wird, stellt sich anschließend die Frage, wie diese Mobilisierung erklärt werden kann.

Antworten der Bewegungsforschung

Wenn wir von schlichten Ansätzen der Massenpsychologie oder der direkten Verbindung von Unzufriedenheit und Protest absehen, haben sich in der Bewegungsforschung in den letzten Jahrzehnten unterschiedliche Erklärungen für die Mobilisierungskraft sozialer Bewegungen herausgebildet.1

Eine ökonomisch geprägte Antwort auf die Frage der Mobilisierung ist – in starker Abgrenzung zur Massenpsychologie – der Ressourcenmobilisierungsansatz (McCarthy und Zald 1977). Hier wird, einfach formuliert, ein Bedingungsverhältnis zwischen den Ressourcen von Bewegungsorganisationen und ihrem Mobilisierungserfolg formuliert. Kurz gesagt: Mehr Ressourcen führen zu größerem Erfolg von Bewegungen. Erst der Zugang zu Ressourcen ermöglicht die Umwandlung von Unzufriedenheit in Mobilisierung. Die deutlichen Anleihen bei ökonomischen Begriffen und der Fokus auf Organisationen haben Kritik am Ressourcenmobilisierungsansatz hervorgerufen, weil wichtige Aspekte, wie die Umwelt der Bewegungen, die konkreten protestierenden Individuen und weniger strukturierte Protestphänomene, nur verkürzt einbezogen werden (Beyer und Schnabel 2017, S. 73 f). Trotz aller Kritik öffnet dieser Ansatz aber den Blick für die Rolle von Organisationen und für soziale Bewegungen als rational handelnde, strategische Akteure.

Ebenfalls in den 1970er Jahren wurde von unterschiedlichen Wissenschaftler*innen der »Political Opportunity Structures«-Ansatz (della Porta 2013) geprägt, der im Gegensatz zur Theorie der Ressourcenmobilisierung die Rolle der Strukturen betont. Die Vertreter*innen des Ansatzes gehen davon aus, dass die Konfiguration des politischen Systems Protest entweder erschwert oder begünstigt. Dabei ist interessant, dass nicht nur die repressive Haltung eines Staates hemmend auf Protest wirken kann, sondern auch eine große Offenheit der politischen Institutionen. Warum protestieren, wenn die Interessen bereits durch etablierte politische Akteure aufgegriffen werden? Der Effekt struktureller Bedingungen darf dabei aber nicht als determinierend verstanden werden, sondern eben als Gelegenheitsbedingungen, die von sozialen Bewegungen wahrgenommen und genutzt werden müssen. Kritisiert wird an diesem Ansatz, dass hier tendenziell ein kausaler Zusammenhang zwischen Bedingungen und Protest formuliert wird, der sich empirisch nicht zeigen lässt.

Eine dritte Antwort ist Ergebnis eines »cultural turn«, der auch die Bewegungsforschung beeinflusst hat. Hier werden weniger Strukturen oder Ressourcen als vielmehr die kulturelle Bedeutungsarbeit sozialer Bewegungen in den Blick genommen. Mit Rückgriff auf Goffman (1977) formulieren als erste Snow et al. (1986) die Idee, dass der Erfolg sozialer Bewegungen maßgeblich von der strategischen Prägung von Themen und Begriffen (Framing) abhängig ist. Über dieses Framing gelingt es Bewegungen – oder auch nicht –, die Öffentlichkeit und andere Akteure zu mobilisieren. Die Perspektive des Framing öffnet damit den Blick für die besondere Bedeutung medialer Vermittlungsprozesse für soziale Bewegungen. Problematisch ist, dass sich der Framing-Ansatz stark auf Bewegungseliten, denen das strategische Framing zugeschrieben wird, konzentriert und weniger strategisch handelnde Akteure ausblendet (Beyer und Schnabel 2017, S. 186 ff.).

Wie so oft kann keiner der skizzierten Ansätze die Mobilisierung sozialer Bewegungen ganz erklären. Diese Feststellung hat in den letzten Jahrzehnten zu Weiterentwicklungen und Synthesen geführt.

Spannungsfelder der Bewegungsforschung

Neben die theoretischen Erklärungsversuche für das Handeln sozialer Bewegungen tritt eine umfangreiche empirische Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld. Dabei steht die Praxis der Protestforschung angesichts ihres Gegenstands vor methodischen und normativen Spannungsfeldern. Wir gehen davon aus, dass diese von Forschenden der Friedensforschung wiedererkannt werden.

Forschungshindernisse

Aus der Praxis sozialer Bewegungen ergeben sich oft Hindernisse für konkrete Forschungen. Manches Protesthandeln findet versteckt statt, manche Bewegung möchte nicht (kritisch bzw. wissenschaftlich) beobachtet werden, z.T. schlägt Forscher*innen Feindseligkeit entgegen (z.B. PEGIDA). Auch die Auftraggeber*innen können zur Skepsis gegenüber Protestforschung beitragen, wenn z.B. der Verfassungsschutz antifaschistische Bewegungen oder ein Innenministerium Fußball-Ultras untersuchen lässt (vgl. Teune und Ullrich 2018).

„Der Protestforscher ist eher links bis linksliberal“

Die Protestforschung ist, wie im Zitat (Bratanovic 2017) angedeutet, durch eine häufig anzutreffende Affinität der Forscher*innen mit dem Gegenstand geprägt. Viele Forscher*innen verstehen sich selber als Teil von Bewegungen oder grenzen sich – im Fall rechtsextremer Bewegungen – explizit von diesen ab. Dies geht oft über die auch in anderen Disziplinen übliche normative Positionierung der Forschenden hinaus. Die Klärung der Positionierung zwischen Nähe und Distanz zum Gegenstand bedarf daher einer erhöhten Reflexion (Rucht 2014, S. 87 f.), wenn dieses Spannungsfeld produktiv ausgehalten und genutzt werden soll. Die Auseinandersetzungen mit Bewegungen wie PEGIDA oder G20 sind Beispiele dafür, dass Protestforschung immer auch Teil einer politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist, in der sich die Forscher*innen positionieren müssen.

Grenzen des legitimen Protests

Aus politischer und wissenschaftlicher Perspektive stellt sich die Frage nach Grenzen des Protests. Wann wird Protest nicht mehr als legitim erachtet und als Konsequenz daraus mit öffentlicher Ächtung und staatlicher Repression konfrontiert? Ist ziviler Ungehorsam eine legitime Form des Protests? Es ist wichtig festzuhalten, dass es auf diese Frage keine objektive Antwort gibt, sondern die Frage der Legitimität gesellschaftlich und wissenschaftlich umkämpft ist.

Wozu Protestforschung?

Die Bewegungsforschung zieht ihre Legitimation einerseits aus der wissenschaftlichen Praxis der Ergebnisproduktion. Andererseits versuchen Forschende aber als Konsequenz der eigenen Positionierung auch, bewegungsrelevantes Wissen zu produzieren. Das kann zu einem Konflikt mit dem eigenen Wissenschaftsverständnis führen. Stelle ich meine Nähe zur Bewegung über die Standards wissenschaftlicher Arbeit? Kann ich beide Interessen miteinander in Einklang bringen?

Emanzipatorisches Potential

Für uns steht am Ende dieses kurzen Streifzugs durch Protest und Protestforschung die Frage nach dem gesellschaftsverändernden, progressiven Potential von Bewegungen, aber auch der Bewegungsforschung. Wir sind als Forscher*innen und als Protestierende nicht nur an der Wissensproduktion interessiert, sondern verfolgen auch politische und gesellschaftliche Ziele. Wir gehen davon aus, dass gerade aus den Spannungsfeldern, in denen soziale Bewegungen und Protestforschung stecken, ein emanzipatorisches Potential erwächst, das wir hier andeuten.

Forschung

Die Forschung zu sozialen Bewegungen und Protest hat das Potential, sowohl für die einzelnen Forscher*innen als auch für Bewegungen gewinnbringend zu sein. Die intensive Auseinandersetzung mit Protestierenden, ihren Lebenswelten und politischen Forderungen ermöglicht Forscher*innen neue Zugänge zur eigenen politischen Partizipation und verweist darauf, das Forscher*innen keine objektiven Beobachter*innen sind. Gleichzeitig kann die Forschung zu Protest auch für soziale Bewegungen hilfreich sein. Das Wissen, das über Bewegungen generiert wird, kann für diese einen praktischen Mehrwert haben. So können erforschte Probleme in Zukunft von Bewegungen verbessert und Strategien entwickelt werden. Eine partizipative und aktionsorientierte Forschung ermöglicht die im besten Fall gemeinsame Theorieentwicklung von Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen.

Bewegungen

Ohne soziale Bewegungen als historischen Fortschrittsakteur zu verklären, sind sie und ihr Protest doch zentral für die Forderung nach einer besseren Welt. Protest hat einen Mehrwert, der in demokratischen ebenso wie in autokratischen politischen Systemen von großer Relevanz ist. So unterscheidet sich Protest, wie sich gezeigt hat, in seiner Form wesentlich von anderen Formen der Partizipation. Protest ermöglicht es, in Form von spontanem und nicht-institutionellem Handeln gesellschaftlich relevante Themenschwerpunkte zu setzen und den Diskurs zu verändern. Gleichzeitig wird dabei öffentlicher Druck ausgeübt, der die Legitimation staatlichen Handelns in Frage und somit auch auf den Prüfstand stellt, was wesentlich für die Legitimierung demokratischer Systeme ist. Gleichzeitig darf das damit einhergehende Risiko nicht übersehen werden. Protestakteure, die für autoritäre politische Forderungen eintreten, hat es immer gegeben und gibt es auch heute. Wir gehen daher davon aus, dass nicht alle sozialen Bewegungen ein emanzipatorisches Potential haben, es aber ohne soziale Bewegungen keine Emanzipation geben wird.

Anmerkungen

1) Unser Ziel ist hier vor allem eine Darstellung der grundlegenden Ideen und weniger eine Abbildung der Komplexität von Protestforschung. Ein Überblick findet sich z.B. bei Beyer und Schnabel 2017; Buechler 2011.

Literatur

Beyer, H.; Schnabel, A. (2017): Theorien sozialer Bewegungen – eine Einführung. Frankfurt/New York: Campus.

Bratanovic, D. (2017): „Der Protestforscher ist eher links bis linksliberal“ – Gespräch mit Peter Ullrich. Über die Widrigkeiten im Wissenschaftsbetrieb und die Gefahren der Vereinnahmung der eigenen Forschungen durch den Staat. junge Welt, 5.8.2017.

Buechler, S. M. (2011): Understanding social movements – theories from the classical era to the present. Boulder: Paradigm.

della Porta, D.(2013): Political opportunity/pol­itical opportunity structure. In: Snow, D.A. et al. (ed.): The Wiley-Blackwell encyclopedia of social and political movements. Wiley-Blackwell encyclopedias in social science, MA: Wiley, S. 956-961.

Goffmann, E. (1977): Rahmen-Analyse – Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hellmann, K. (1995): Systemtheorie und neue soziale Bewegungen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Hoecker, B. (2006): Politische Partizipation – systematische Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest – eine studienorientierte Einführung. Opladen: Barbara Budrich, S. 3-20.

Le Bon, G. (1982): Psychologie der Massen. Stuttgart: Kröner.

McCarthy, J.D.; Zald, M.N. (1977): Resource mobilization and social movements – A partial theory. American Journal of Sociology, Vol. 82, Nr. 6, S. 1212-1241.

Neidhardt, F.; Rucht, D. (1993): Auf dem Weg in die »Bewegungsgesellschaft«? Über die Stabilisierbarkeit sozialer Bewegungen. Soziale Welt, Vol. 44, Nr. 3, S. 305-326.

Raschke, J. (1991): Zum Begriff der sozialen Bewegung. In: Roth, R.; Rucht, D. (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 31-39.

Roth, R.; Rucht, D. (2008): Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945 – Ein Handbuch. Frankfurt/New York: Campus, S. 9-36.

Rucht, D. (2003): Bürgerschaftliches Engagement in sozialen Bewegungen und politischen Kampagnen. In: Enquete Kommission »Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements« (Hrsg.): Bürgerschaftliches Engagement in Parteien und Bewegungen. Opladen: Leske + Budrich, S. 17-155.

Rucht, D. (2014): Zum Stand der Forschung zu sozialen Bewegungen. In: Mittag, J.; Stadtland, H. (Hrsg.): Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in der Geschichtswissenschaft. Essen: Klartext, S. 67-86.

Snow, D.A. et al. (1986): Frame Alignment Processes, Micromobilization, and Movement Participation. American Sociological Review, Vol. 51, Nr. 4, S. 464-481.

Teune, S.; Ullrich, P. (2018): Protestforschung mit politischem Auftrag? Forschungsjournal soziale Bewegungen. Vol. 31, Nr. 1-2, S. 418-424.

Janina Rott und Max Schulte arbeiten an der Universität Münster und beschäftigen sich u.a. mit sozialen Bewegungen.

Partizipation der Friedensbewegung

Partizipation der Friedensbewegung

Radikal und pragmatisch

von Ulrich Wohland

Die Einflussmöglichkeiten der Friedensbewegung in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts scheinen bisweilen gering. Der Autor plädiert für einen optimistischeren Blick. Mit ihrer radikalen Opposition zum herrschenden Umgang mit Krieg und Waffen hat die Friedensbewegung eine starke Vision. Wenn sie, die Vision einer friedlichen Welt fest im Blick, pragmatisch die Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen einfordert, kann sie viel erreichen. Ohne eine solche Teilhabe gibt es keinen Wandel, und ohne radikale Positionen und entsprechende Aktionen gibt es keine
solche Teilhabe. Der Artikel zeigt, wie sich beides verbinden lässt.

Die aktuelle politische Situation ist durch die Akkumulation unterschiedlicher globaler Krisentendenzen gekennzeichnet. Eine konstruktiv-vorausschauende Bearbeitung durch politische Entscheidungsträger*innen ist kaum wahrnehmbar. Reaktives Agieren dominiert. Auch im Bereich von Krieg und Frieden werden die Krisentendenzen eher verschärft: durch verbale Aufrüstung und »neue« Feindbilder, hohe Militärausgaben und neue Rüstungsprojekte.

Die deutsche Zivilgesellschaft ist in den aktuellen Krisenbereichen unterschiedlich präsent und aktiv. Bei allen Fragen von Krieg und Frieden, Aufrüstung und Rüstungsexporten ist der Druck auf die Entscheidungsträger*innen vergleichsweise geringer als beim Thema Klima oder auch Migration. Die Aktiven innerhalb der Friedensbewegung mühen sich mit ihren Themen redlich ab. Sie sind aber kaum in der Lage, öffentliche Debatten wirksam in eine friedensbewegte Richtung zu drängen oder die Entscheidungsträger relevant unter Druck zu setzen.

Wie kann die Friedensbewegung mehr Einfluss auf friedenspolitische Fragen nehmen? Die Hindernisse sind großenteils extern und liegen im Problemfeld selbst. Es gibt aber auch interne, »hausgemachte« Begrenzungen, die wir Aktiven in der Friedensbewegung zu bearbeiten haben.

Der Diskurs über das Militärische

Zu den externen Faktoren zählt sicherlich, dass von staatlicher Seite alles, was militärische Aktivitäten betrifft, möglichst von öffentlichen Debatten und der öffentlichen Beteiligung abgeschirmt werden soll. So tagt, um nur ein Beispiel zu nennen, der Bundessicherheitsrat des Deutschen Bundestages geheim, seine Mitglieder sind der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt, und selbst dem Parlament gegenüber ist seine Arbeit weitgehend intransparent. Militärpolitischen Entscheidungen, wie der Verlängerung von Auslandseinsätzen der Bundewehr, geht im Parlament keine breite Debatte voraus. So
erscheinen die militärischen Aspekte der Außenpolitik gesellschaftlichen Diskursen weitgehend entrückt.

Neben den externen gibt es aber auch intern hemmende Faktoren. Die ausschlaggebende Begrenzung entsteht durch eine Art Selbstfesselung der Friedensbewegung: In großen Teilen nähert sich die Bewegung militär- und sicherheitspolitischen Fragestellungen mit einer Haltung prinzipieller Radikalopposition. Diese lautet z.B. „Mit diesem Staat ist kein Frieden zu machen“ oder „Raus aus der NATO“, „Keine Waffenexporte – egal wohin“, „Stopp aller Rüstungsproduktion“ usw. Vom moralisch-ethischen Standpunkt betrachtet ist an diesen Positionen wenig zu kritisieren. Mit
ihrer Tendenz, staatliches Handeln in diesem Politikfeld als Ganzes abzulehnen, schließt sie jedoch Partizipationsmöglichkeiten, also Möglichkeiten der Mitentscheidung, aus.

Bewegung in der Defensive

Solange eine starke Friedensbewegung als Soziale Bewegung auf der Straße sichtbar ist, kann sie mit einer oppositionellen und radikalen Nein-Haltung zu Themen wie NATO, Atomwaffen, Aufrüstung oder Waffenexporte in der politischen Debatte Druck erzeugen und Veränderung herbeiführen. Aktuell ist eine solche Bewegung jedoch nur rudimentär vorhanden. Statt mit einer breiten Bewegung, haben wir es mit unterschiedlichsten Friedensorganisationen zu tun, die sich vielfältigsten Problemfeldern widmen.1 Es gelingt nur begrenzt, sich auf gemeinsame Themen zu
einigen und breite Bevölkerungsschichten dafür – z.B. in Kampagnen – zu mobilisieren.

Der derzeitige Zustand der Friedensbewegung schränkt darum die Chancen, als Radikalopposition Gehör zu finden, stark ein. Als Soziale Bewegung ist sie aktuell nicht stark genug, Veränderungen zu bewirken, und deshalb in der Defensive. Sobald sich aber mehrere Organisationen zu Projekten und Kampagnen zusammenschließen, könnte aus der Defensive zumindest eine strategische Defensive werden. Das bedeutet 1. mit begrenzten Mitteln begrenzte Ziele anzustreben und 2. die Aktivitäten so zu wählen, dass sie zum (Wieder-) Aufbau einer Sozialen Bewegung beitragen. In dieser Situation ist es durchaus
hilfreich, vorhandene Beteiligungsinstrumente und Partizipationsräume zu nutzen. Solange uns Erfolge als Bewegung verwehrt bleiben, sollten wir die Möglichkeiten nutzen, die uns Kampagnen bieten, statt zu hoffen und abzuwarten, bis wir wieder die Stärke einer Bewegung erreicht haben, denn Kriege und Kriegsvorbereitung finden jetzt statt.

Welche Partizipationsmöglichkeiten gibt es, und wie lassen sie sich nutzen? Am Beispiel der Kampagnenarbeit soll dies im Folgenden exemplarisch aufgezeigt werden.

Partizipation und Mitbestimmung – ein mehrstufiger Prozess

Partizipation lässt sich verstehen als mehrstufige Einbeziehung von Individuen oder Organisationen in Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse. Auf der nächsthöheren Stufe erhöht sich jeweils der Partizipationsgrad. Die Beteiligungsstufen reichen vom bloßen Informieren über Formen der Mitbestimmung (z.B. Wahlrecht) bis hin zur echten Teilhabe an Entscheidungen, z.B. Bürgerentscheiden. In der repräsentativen Demokratie wird Partizipation zumeist als informieren, Meinung erfragen und wählen gehen begriffen. In einer beteiligungsorientierten Demokratie besteht hingegen die Möglichkeit der
echten Teilhabe an Entscheidungen. Die verschiedenen Stufen lassen sich bildlich als Beteiligungstreppe darstellen (siehe Abb. 1).

Die Geschichte der Demokratie seit der Französischen Revolution ist der beständige Versuch, Partizipationsmöglichkeiten zu erweitern und höhere Stufen gesellschaftlicher Beteiligung zu entwickeln, z.B. das Frauenwahlrecht oder die Möglichkeiten von Bürgerentscheiden, Volksentscheiden usw. Zivilgesellschaftliche Organisationen, z.B. »Mehr Demokratie e.V.«, begreifen deshalb die repräsentative Demokratie als eine vorläufige, „unvollendete Demokratie“ (Scheub 2017) und nicht als deren Endzustand.

Häufig blockieren oder verzögern etablierte Institutionen die Demokratisierung der Demokratie. Soziale Bewegungen können neue Beteiligungsformen einfordern und so die Demokratie beteiligungsorientiert weiterentwickeln. Auf diese Weise kann eine reale gesellschaftliche Veränderung im Sinne der engagierten Bürger*innen erreicht werden. Soziale Bewegungen streben in der Regel jedoch keine direkte Partizipation an den Entscheidungsprozessen an. Soziale Bewegungen sind eher visionär orientiert. Sie formulieren Ziele als gesellschaftliche Utopie und in der Regel in Opposition zu den realen
Verhältnissen. Anders orientieren sich so genannte Druckkampagnen.2 Sie verfolgen das Ziel einer pragmatischen Einflussnahme auf konkrete politische Entscheidungen. Die Durchführung von Kampagnen als Teil einer Sozialen Bewegung ermöglicht es, dass die Bewegung ihrer radikalen Vision und Position treu bleiben und zugleich mittels Kampagnen pragmatische Ziele verfolgen kann.

Um Entscheidungsprozesse wirkungsvoll zu beeinflussen, sollten sich Kampagnen am Kampagnenverständnis von M. Gandhi, M.L. King und C. Chavez orientieren: Mobilisierung und druckvolle Aktionen stehen hier nicht für sich, sondern zielen immer auf die Ermöglichung von Verhandlungen. Aktionen auf der Straße erzwingen das Gespräch am Verhandlungstisch. Stocken die Verhandlungen, muss der Mobilisierungsdruck, z.B. durch Boykotts, Streiks und Zivilen Ungehorsam, erhöht werden. In der aktuellen Praxis der Kampagnen der Friedensbewegung wird häufig nur mobilisiert, bisweilen Druck ausgeübt und
selten verhandelt. Letzteres überlässt man den repräsentativen Organen.

Welche Partizipationsräume können sich Soziale Bewegungen nun über Kampagnen erschließen? Betrachten wir hierfür das Phasenmodell gesellschaftlichen Wandels von Bill Moyer (Moyer 2015) und speziell sein Verständnis der Rollen, die die unterschiedlichen Akteursgruppen darin einnehmen. Besonders interessiert uns die Rolle der »Chance Agents« bzw. der Campaigner*innen: Sie sind die Agenten des Wandels. Sie betreiben gezielt die Transformation entweder eines begrenzten Unrechts oder Missstands oder auch einer gesellschaftlichen Krise hin zu einem demokratischeren, ökologischeren,
emanzipativeren Zustand.3 Entscheidend ist, in welchem Maß diese Agents Partizipationsmöglichkeiten erschließen.

Advocacy, Mobilizing und Organizing

Anhand der Zielsetzung lassen sich drei Modelle der Arbeit von Campaigner*innen unterscheiden: »Advocacy«, »Mobilizing« und »Organizing«. Diese Differenzierung stützt sich auf einen Vorschlag der Organizerin Jane McAlevey (2019, S. 34 ff). Das Advocacy-Modell wird von uns als Stellvertreter-Modus bezeichnet. In diesem Modus werden Campaigner*innen stellvertretend für Betroffene aktiv oder sie organisieren Personen, die stellvertretend aktiv werden, oft Prominente oder Expert*innen. Die Betroffenen selbst sind in diesem Fall eher Konsument*innen des Veränderungsprozesses. Der zweite
Modus ist der Mobilisierungsmodus (Mobilizing). Hier werden Betroffene mobilisiert, um ihr Anliegen in möglichst großen Massen protestierend und demonstrierend vorzubringen. In diesem Modus geht es um die Mobilisierung von (Gegen-) Macht. Die Aktiven sind Protestierende. Der dritte Modus ist der Beteiligungsmodus (Organizing). Hierbei geht es um das Organisieren von Aktivbürger*innen, den »Citoyens«. Ziel ist, die Bürger*innen tatsächlich an den Entscheidungen zu beteiligen.

Im Zuge einer sich immer mehr ausdifferenzierenden Zivilgesellschaft und der Gleichzeitigkeit vieler Sozialer Bewegungen im öffentlichen Raum werden die Modi Advocacy und Mobilizing zunehmend praktiziert. Aktuell findet Beteiligung in Sozialen Bewegungen bzw. Kampagnen vornehmlich über Soziale Medien statt, die stark mobilisierend, aber nicht automatisch organisierend wirken. Für eine Stärkung der Bewegungen hin zu echter Partizipation ist es nötig, mehr im Beteiligungs- bzw. Organizing-Modus aktiv zu werden. Um dies zu erreichen, gilt es, die folgenden drei Schritte zu gehen: 1. der
(Wieder-) Aufbau von vielen und dezentral organisierten Basisgruppen; 2. die Organisation vieler Aktionen, insbesondere Druckaktionen, z.B. Ziviler Ungehorsam, Boykott, Streiks usw., und 3. das wiederholte und permanente Dialogangebot, das in Verhandlungen münden soll, an denen die Aktiven beteiligt sind.

Die Voraussetzungen für den Beteiligungsmodus in Sozialen Bewegungen müssen von zwei Seiten her entwickelt werden: Die erste Voraussetzung ist der Aufbau von Basisgruppen als Fundament für den Aufbau von Beteiligung an der Macht. Hier gehen z.B. die Campaigner*innen in die Regionen, in die Städte und Kommunen, zu den Basisgruppen, und unterstützen diese bei der Entwicklung einer ziel- und druckorientierten Strategie für ihre Arbeit vor Ort. Die zweite Voraussetzung ist der Aufbau von Lobbyarbeit, wobei wir hier zwei Ebenen der Lobbyarbeit unterscheiden: das High-Level-Lobbying und das
Graswurzel-Lobbying.

Demokratische Partizipation durch Lobbying

Lobbyarbeit ist in Sozialen Bewegungen eher verpönt, wird sie doch mit Geldkoffern und Hinterzimmer-Gesprächen assoziiert. Zudem ist Lobbyarbeit durch Soziale Bewegungen, da sehr zeit- und personalaufwendig, ressourcenbedingt eher begrenzt realisierbar. Trotzdem kann eine wirksame Einflussnahme auf Entscheider*innen durch Lobbygespräche stattfinden, nämlich im Vorfeld direkter Verhandlungs- und Entscheidungssituation, auch wenn das Verhandlungsmandat letztendlich weiterhin bei den Entscheider*innen, z.B. den Parlamentsabgeordneten, verbleibt.

Zwei Formen der Lobbyarbeit sind zu unterscheiden: das High-Level-Lobbying und das Graswurzel-Lobbying. Das High-Level-Lobbying findet direkt in hoch angesiedelten Gremien, wie Ministerien, Parlamenten, Aktionärsversammlungen, Synoden oder Gewerkschaftskonferenzen etc., statt. Das Graswurzel-Lobbying hingegen geschieht in örtlichen Gliederungen von Parteien, Kirchen und geschäftlichen Strukturen. Es richtet sich beispielsweise an die Abgeordneten in ihren Wahlkreisen, an Gemeindeparlamente oder an Synodale, wenn es um Einflussnahmen in kirchlichen Zusammenhängen geht.

Ein Beispiel für diesen Ansatz: Der in Deutschland gesetzlich geregelte »Parlamentsvorbehalt«, also die jährlich notwendige Bestätigung jedes Auslandseinsatzes der Bundeswehr durch das Parlament, eröffnet Handlungsräume für beide Formen der Lobbyarbeit. Derzeit gibt es fünfzehn Auslandseinsätze der Bundeswehr und damit jährlich fünfzehnmal die reelle Chance, Regierungsentscheidungen über Krieg und Frieden direkt zu beeinflussen. Konkret hieße das, auf die Abgeordneten sowohl über das Instrument des High-Level-Lobbying im Parlament als auch über das Graswurzel-Lobbying vor Ort gezielt
Einfluss auszuüben, um sie zu einer Entscheidung gegen die Verlängerung bestehender oder die Genehmigung neuer Auslandseinsätze zu bewegen. Dieses Instrument wird bisher wenig genutzt.4

Beide Formen des Lobbying sind bisher in den friedenspolitischen Bewegungen und Kampagnen nur schwach entwickelt. Während das High-Level-Lobbying zunehmend mehr Anklang findet (gerade im Advocacy-Modell), aber durch das Fehlen finanzieller und personeller Ressourcen begrenzt ist, ist das Graswurzel-Lobbying wenig im Blickfeld der zivilgesellschaftlichen Basisgruppen vor Ort.

Partizipationsräume pragmatisch nutzen

Die Friedensbewegung kann ihre Wirkmacht relevant vergrößern, wenn sie sich nicht länger primär auf die Radikalopposition konzentriert, sondern stattdessen immer auch proaktiv vorhandene Partizipationsräume pragmatisch nutzt und sich der vorhandenen demokratischen Instrumente zur Partizipation gezielt bedient und diese weiterentwickelt. Druckkampagnen sind der Weg, radikal und pragmatisch zugleich.

Anmerkungen

1) Man muss sich vor Augen halten, dass aktuell die gesamte Mitgliedschaft der unterschiedlichen Friedensorganisationen zusammengezählt kaum mehr als 20.000 Personen umfassen dürfte (Schätzung des Autors). So zählen etwa die »großen« Friedensorganisationen DFG-VK ca. 3.500 Mitglieder, Versöhnungsbund Deutschland 950 Mitglieder und IPPNW ca. 6.000 Mitglieder. Hierbei sind Doppelmitgliedschaften noch gar nicht berücksichtigt. Zum Vergleich: Allein der BUND hat über 584.000 Mitglieder, Spender und Förderer (Stand 2016), Greenpeace
über 590.000 Mitglieder (Stand 2018) und attac immer noch über 29.000 (Stand April 2018). Die begrenzte Anzahl der Mitglieder ist in den meisten Friedensorganisationen jedoch kaum ein Thema. Dies ist vermutlich darin begründet, dass man sich immer noch als Soziale Bewegung fühlt und weniger als eine Vielzahl von Organisationen, die friedenspolitische Themen bearbeiten. Würde hier ein Umdenken einsetzen, könnten sich auch die Aktivitäten verändern, weg von der vermeintlichen Mobilisierung einer Sozialen Bewegung hin zum Aufbau einer Bewegung.

2) Der Autor unterscheidet zwischen Aufklärungskampagnen und Druckkampagnen. Erstere streben nach Verhaltens- und Bewusstseinsveränderung. Letztere zielen auf direkte Entscheidungen von Politik und Wirtschaft und damit auf strukturelle und gesetzliche Änderungen.

3) Die »Werkstatt für Gewaltfreie Aktion« entwickelte vor dem Hintergrund dieser Überlegungen eine Qualifizierung zur Campaigner*in und Moderator*in für friedenspolitische Kampagnen. Im Rahmen der »CampaPeace«-Ausbildung, wie sie mittlerweile in der vierten Staffel stattfindet, richtet sich das Augenmerk auch auf die Frage, welche Formen von Beteiligung und Partizipation durch Kampagnen und Soziale Bewegungen angestrebt und erzielt werden können. Der Schwerpunkt der Ausbildung liegt bei Druckkampagnen. Aufklärungskampagnen
ermöglichen einen geringeren Grad von Partizipation und zielen vor allem auf Bewusstseinsveränderung und die Veränderung von individuellem Verhalten. Druckkampagnen hingegen wollen Veränderungen auf einer strukturellen Ebene erreichen, etwa über neue Gesetze, eine Veränderung im Abstimmungsverhalten von Abgeordneten oder die Einflussnahme auf Konzernentscheidungen.

4) Eine Ausnahme bildet die Kampagne »Macht Frieden. Zivile Lösungen für Syrien« (macht-frieden.de), die das Instrumentarium des High-Level- und des Graswurzel-Lobbying intensiv nutzt.

Literatur

Arnstein, S. (1969): A Ladder of Citizen Participation. Journal of the American Institutes of Planers, Vol. 25, Nr. 4.

McAlevey, J (2019): Keine halben Sachen – Machtaufbau durch Organizing. Hamburg: VSA.

Moyer, B. (2005): Doing Democracy – The MAP Model for Organizing Social Movements. Gabriola Island, BC/Canada: New Society Publisher.

Scheub, U. (2017): Demokratie – Die Unvollendete. München: oekom.

Ulrich Wohland ist freier Mitarbeiter der »Werkstatt für gewaltfreie Aktion« und leitet die Ausbildung CampaPeace. Beruflich ist er Campaigner und Organizer für Gewerkschaften wie ver.di und IG Metall.

Der Autor dankt Claudia Funke, Renate Wanie und Ursula Gramm (Mitarbeiterinnen der »Werkstatt für Gewaltfreie Aktion«), die mich bei diesem Artikel in gewohnt professioneller Weise unterstützt haben.

Extraktivismus und Widerstand in Lateinamerika

Extraktivismus und Widerstand in Lateinamerika

Workshop am GCSC, Gießen, 26.-28. Juni 2018

von Richard Herzog

Der Workshop »Logics of Extractive Occupation and Collective Action in Latin America« wurde vom International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) Gießen gefördert und von María Cárdenas, Richard Herzog und Andrea Sempértegui organisiert. Der zweitägige Workshop bot eine gute Gelegenheit, über die Ausbreitung extraktiver Projekte und Praktiken, d.h. die (häufig auf Raubbau basierende) Gewinnung und den Export von Rohstoffen, in Lateinamerika zu diskutieren. Die interaktive und offene Atmosphäre war dem Erfahrungsaustausch förderlich. Eine zentrale Frage zog sich durch mehrere der Vorträge und Diskussionen: Inwieweit ist Frieden in zunehmend extraktivistischen Gesellschaften überhaupt möglich? Und um wessen Friedensverständnis handelt es sich dabei, und wer wird ausgeklammert?

Indigener Widerstand, damals und heute

Der Workshop befasste sich mit mehreren Regionen, mit einem Schwerpunkt auf Kolumbien, Ecuador und Mexiko, und untersuchte die Zeitspanne von der Kolonialzeit bis heute. Dr. Antje Gunsenheimer (Universität Bonn) diskutierte in ihrem Vortrag Maya-Gesellschaften in Yucatán, Mexiko, in der Kolonialzeit und der frühen Unabhängigkeitsperiode. Die spanische Kolonialregierung nutzte unterschiedliche Methoden, um indigene Bevölkerungen und ihre Arbeitsweisen zu kontrollieren. Oft vergessen wir, dass die Wurzeln extraktivistischer Gewaltszenarien in Lateinamerika bis zu den ersten spanischen Expeditionen im 15. Jahrhundert zurückreichen. Aber auch indigener Widerstand gegen die teils brutalen kolonialen Strategien zeigt sich in Yucatán – wie in anderen Regionen – von der Kolonialzeit über die Kastenkriege des 19. Jahrhunderts bis hin zum aktuellen Aktivismus.

Der Einfluss von Extraktivismus auf indigene Gruppen war auch der Fokus einer von zwei Skype-Konferenzen mit den Aktivist*innen Mallu Muniz (Minka Urbana Ecuador) und Kati Betancourt (Confederation of Ecuadorian Indigenous Nationalities). Sie beschrieben, dass ländlicher Widerstand gegen Extraktivismus in Ecuador oft von Indigenen – insbesondere von indigenen Frauen – getragen wird, die allerdings auf städtische Unterstützung angewiesen sind. Auch die Zerstörung der Regenwälder wurde hervorgehoben, durch die indigene Bezüge zur Natur zerbrechen – ebenfalls ein zentrales Problem in Kolumbien.

Konflikt, Post-Konflikt und Extraktivismus

Die kolumbianische Amazonas-Region wurde von Prof. Dr. Ernst Halbmayr (Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg) thematisiert. Es ging unter anderem um die Konsequenzen von Gewalt und Naturzerstörung durch staatliche und nicht-staatliche Akteure für indigene Gruppen, wie die Yukpa und die Barí. Extraktivismus zur Produktion von Palmöl und Drogen oder auch durch Viehwirtschaft kann auf jeweils sehr unterschiedliche Weise negative Konsequenzen haben. Zugleich waren indigene Menschen nicht in den jüngsten kolumbianischen Friedensprozess eingebunden, obwohl sie dazu seit 1991 berechtigt sind. Hier zeigt sich klar der Kontrast zwischen gesetzlichen Rechten und ihrer tatsächlichen Umsetzung in lateinamerikanischen Friedensprozessen.

Der Frieden in Kolumbien war auch ein Fokus der zweiten Skype-Konferenz mit dem Aktivisten Marino Córdoba (AFRODES). Er hob die Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Friedensabkommens von 2016 in einem weiterhin umkämpften Gebiet, dessen Rohstoffe von multinationalen Konzernen ausgebeutet werden, hervor. Betroffene indigene und afro-kolumbianische Gemeinden bleiben dabei größtenteils außen vor. Hinzu kommen regelmäßige Menschenrechtsverstöße, die organisierten Widerstand entscheidend erschweren.

Dr. Alke Jenns (Universität Freiburg) referierte über den Altillanura Masterplan (2012-2036) in Kolumbien. Laut ihr wird das Friedensabkommen dazu genutzt, die Ausbreitung extraktivistischer Projekte zu legitimieren. In diesem Fall sind besonders vormals von der FARC-Rebellengruppe kontrollierte Gebiete betroffen. Frieden wird dabei diskursiv mit Investitionsmöglichkeiten für internationales Kapital verknüpft. Diese Maßnahmen laufen wiederum indigenen Rechten über traditionelle Gemeindeterritorien zuwider.

Resümee

Die transzdisziplinäre Auslegung des Workshops konnte neue Perspektiven eröffnen. Um auf die eingangs gestellten Fragen zurückzukommen: In mehreren Diskussionen wurde die Verbindung von Extraktivismus, Friedensprozessen und der Ausgrenzung bestimmter Gruppen, deren Rechte staatlichen Interessen nicht entsprechen, betont. Besonders klar zeigte sich dies am Beispiel des kolumbianischen Friedensprozesses und dessen Exklusion afro-kolumbianischer und indigener Gemeinden. Außerdem wurde deutlich, wie solche aktuellen Entwicklungen oftmals auf historischen Prozessen von Landübernahme und Widerstand gegen diese aufbauen – sei es bei den yukatekischen Kastenkriegen oder bei der brutal durchgesetzten Kautschuk-Gewinnung im Amazonasgebiet des 19. Jahrhunderts.

In der abschließenden Podiumsdiskussion zwischen Teilnehmer*innen und Organisator*innen wurden auch Fragen nach einer engagierten Wissenschaft und nach möglichen Alternativen zum Extraktivismus aufgegriffen. Von den lateinamerikanischen Aktivist*innen wurde die Wichtigkeit einer stärkeren Verknüpfung von Aktivismus und akademischer Befassung mit dem Thema hervorgehoben. Diese Verknüpfung wurde von den Teilnehmer*innen bekräftigt und war letztlich ein wichtiger Bestandteil der Veranstaltung. Mit Blick auf die Zukunft wurden die Suche nach alternativen Besteuerungsmodellen in Lateinamerika wie auch die Wirksamkeit von Widerstand gegen Extraktivismus auf lokaler Ebene angesprochen. Die Veranstaltung endete angesichts bereits vorhandener politischer und wirtschaftlicher Opposition mit einem optimistischen Verweis auf Solidaritäts-Netzwerke.

Richard Herzog