Protest als Katalysator für Transformation?

Protest als Katalysator für Transformation?

Der Einfluss von zivilem Protest auf sozial-ökologische Transformation in Regionalzentren

von Antonia Boeckle, Michael Volpert, Christina Warmann, Anna Weißenberger und Ulrike Zeigermann

Angesichts komplexer Herausforderungen wie Klimawandel und sozialer Ungleichheit hat in Deutschland der zivile Widerstand besonders unter jungen Menschen zugenommen. Dieser Beitrag diskutiert die Frage, ob und unter welchen Bedingungen ziviler Protest als Katalysator für gesellschaftliche Transformation dient. Anhand einer Fallstudie zum Regionalzentrum Würzburg wird gezeigt, wie ziviler Protest Nachhaltigkeitsentscheidungen und -strukturen in Städten fördern kann. Der Fokus des Beitrags liegt auf Dynamiken in den Bereichen Biodiversität, Bildung, Antidiskriminierung und Mobilität.

Angesichts komplexer Herausforderungen, wie dem Klimawandel oder sozialer Ungleichheit, die auch in Deutschland zunehmend spürbar sind, mehrte sich in den letzten Jahren der zivile Widerstand gegen eingeschlagene politische Pfade. Der Protest für eine sozial-ökologische Transformation wuchs insbesondere unter jungen Menschen (Fopp, Axelsson und Tille 2021). Kleinere Großstädte, sogenannte Regionalzentren, welche sich als überregionale Bildungs-, Kultur-, Verwaltungs-, Wirtschafts- und Wissenschaftsstandorte auszeichnen und einen überregionalen Versorgungs- und Entwicklungsauftrag erfüllen, spielen in diesem Kontext gesellschaftlichen Wandels eine besondere Rolle. Sie können einerseits als Zentren für Innovation verstanden werden, in denen zum Beispiel zivile Aktionsformen sozialer Bewegungen Impulse für Wandel geben. Andererseits wird im Zusammenhang mit zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung und Dringlichkeit der Probleme der Einfluss von zivilgesellschaftlichen Proteststrategien auf sozial-ökologische Transformationsbereiche, wie Biodiversität, nachhaltige Bildung, Antidiskriminierung oder Mobilität, hinterfragt und angezweifelt (Cattino und Reckien 2021). Vor diesem Hintergrund untersucht diese Studie anhand der Stadt Würzburg, ob und inwiefern ziviler Protest als Katalysator für gesellschaftliche sozial-ökologische Transformation dient.

Würzburg kann als typischer Fall eines Regionalzentrums in Deutschland betrachtet werden. Während zivilgesellschaftlicher Protest in nationalen politischen Veränderungsprozessen gut dokumentiert ist, fehlt es an detailliertem Wissen, wie diese Dynamiken auf lokaler Ebene in Städten funktionieren und wie sie in die breitere Agenda der nachhaltigen Stadt- und Regionalentwicklung integriert werden können.

Unser Beitrag basiert auf einer Studie, die mit einem qualitativen Forschungsansatz Protest- und Veränderungsdynamiken anhand eines Process Tracing1 in vier sozial-ökologischen Transformationsbereichen (Biodiversität, nachhaltige Bildung, Antidiskriminierung und Mobilität/Verkehr) untersucht. Damit werden die Mechanismen identifiziert, die in direktem Zusammenhang mit den beobachteten Veränderungen in den jeweiligen Transformationsbereichen in städtischen Kontexten stehen. Zudem ermöglicht die Methode es, die komplexen Interaktionen zwischen Protestgruppen, lokalen Behörden, Unternehmen und anderen relevanten Akteuren zu erfassen und zu analysieren. Basierend auf einer qualitativen Inhaltsanalyse von elf Expert*inneninterviews sowie Dokumenten- und Medienanalysen, vergleichen wir die Effekte von lokalem Protest hinsichtlich vier theoretisch hergeleiteter Analysekategorien: politische Entscheidungen, Institutionalisierung von Nachhaltigkeitsprinzipien, Bildung neuer Kooperationen und Netzwerke sowie gesellschaftliche Widerstände bzw. gegenteilige Reaktionen. Durch die Fokussierung auf spezifische Ereignisse kann nachvollzogen werden, wie und warum bestimmte Protestformen Einfluss auf politische Entscheidungen, Gesetzgebung und andere relevante Bereiche genommen haben.

Die umstrittene Rolle von Protest in sozial-ökologischen Transformationen

Öffentliche Beteiligung und Partizipation werden vielfach als positiv für informierte demokratische Prozesse bewertet, weil dadurch ein diverseres Spektrum an Perspektiven und Interessengruppen einbezogen und die Akzeptanz für die Entscheidungen gestärkt werden können. Diese unterschiedlichen Perspektiven werden teilweise sogar als Voraussetzung für Nachhaltigkeitspolitik betrachtet (Glass und Newig 2019). Die individuelle und kollektive Beteiligung reicht von unverbindlicher Zustimmung bis hin zur gewaltsamen Durchsetzung von Interessen. Dazwischen gibt es weitere Beteiligungsformen des legalen und illegalen Aktivismus und gewaltfreien Protests (siehe dazu auch Grimm in dieser Ausgabe, S. 6).

Die politische Debatte wie auch die wissenschaftliche Literatur sind unschlüssig hinsichtlich der Bewertung von zivilem legalen Protest für eine sozial und ökologisch transformative lokale Politik (Cattino und Reckien 2021). Zunächst deutet Protest auf eine Ablehnung politischer Entscheidungen und einen gesellschaftlichen Dissens über Probleme und deren Lösungsansätze hin. Gleichzeitig bedeutet diese Form der öffentlichen Beteiligung auch die Möglichkeit für Bürger*innen, zu einem gemeinsamen Verständnis komplexer Herausforderungen und potenzieller Lösungen zu gelangen, sich zu »vernetzen«, im Verlauf des Prozesses zu lernen, »politische Entscheidungen zu beeinflussen« und damit gesellschaftspolitische Änderungen zu bewirken (Chu, Anguelovski und Carmin 2016). Angenommene Vorteile zivilen Protests beziehen sich auf die Gerechtigkeit von Entscheidungsprozessen durch Einbeziehung vielfältiger gesellschaftlicher Perspektiven und Akteure, zivilgesellschaftliches Empowerment, langfristig eine größere Bereitschaft zur politischen Partizipation sowie vermehrte individuelle Verhaltensänderungen (Cloutier et al. 2015). »Nachhaltige Ansätze« können so mithilfe breiter gesellschaftlicher Akzeptanz in der lokalen Verwaltung »institutionalisiert« werden und dauerhaft zu stärkeren und widerstandsfähigeren Gemeinschaften führen. Insbesondere angesichts der Klimakrise und der damit verbundenen Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Transformation wird öffentliche Beteiligung daher oftmals als Katalysator oder gar Erfolgsbedingung für die sozial-ökologische Transformation der Gesellschaften durch polyzentrische Entscheidungsfindung angesehen (Ostrom 2010).

Es gibt jedoch auch Hinweise darauf, dass ziviler Protest den Status quo unterstützt. So deuten einige Studien darauf hin, dass die Beteiligung der Zivilgesellschaft zu schlechteren Ergebnissen und weniger transformativem Handeln führen kann (Wamsler et al. 2020). Diese Gefahr besteht insbesondere dann, wenn vorhandene ungleiche Machtverhältnisse durch gewaltfreien Protest verstärkt werden. Ein Beispiel liefert die Forschung zur Energiewende, die zeigt, dass lokale Proteste den Ausbau von Windkraft oftmals verhindern (Hoeft, Messinger-Zimmer und Zilles 2017). Beteiligung kann insofern auch »gegenteilige Reaktionen« mit Blick auf sozial-ökologische Transformationen hervorbringen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Fördert ziviler Protest Transformation oder verstärkt er eher den Status quo auf lokaler Ebene bzw. in Regionalzentren?

Protest als Katalysator für Netzwerke

In den von uns untersuchten Bereichen Biodiversität, nachhaltige Bildung, Antidiskriminierung und Mobilität ist gesellschaftlicher Protest zunächst als Ablehnung des Status quo zu verstehen. So gab es in der Stadt Würzburg Anfang der 2000er Jahre beispielsweise zunehmend rassistisch motivierte Übergriffe, die zu gesellschaftlicher Empörung führten, bei denen jedoch gleichzeitig Unterstützung, Beratung, Dokumentation und Vermittlung durch öffentliche Behörden ausblieben. Betroffene und zivilgesellschaftliche Akteure organisierten sich daraufhin in diversen Gruppierungen, um durch zivilen Protest auf der Straße, durch Schreiben und Aufforderungen an die lokale Politik und die Erarbeitung von Vorschlägen zur Sichtbarmachung und Lösung des Problems beizutragen. Als 2006 ein weiterer rassistischer Überfall in der Straßenbahn Aufsehen erregte, wurde der Protest verstärkt.

Die diversen zivilgesellschaftlichen Akteure tauschten sich inhaltlich aus und entwickelten ein gemeinsames Verständnis der komplexen Herausforderungen in Verbindung mit Inklusion, Diversität und Integration, das sie in einem sogenannten »Würzburger Modell« veröffentlichten. Dieses Würzburger Modell ist bis heute Referenzrahmen für Aktivitäten im Bereich Antidiskriminierung. Auf organisatorischer Ebene führte die Kooperation der zivilgesellschaftlichen Protestakteure 2006 zum Zusammenschluss und Vernetzung in einem Bündnis für Demokratie und Zivilcourage (WBDZ). Ziel des Bündnisses ist es nach eigenen Angaben bis heute „zu mehr Engagement für eine friedvolle Gemeinschaft auf[zu]rufen und Menschen dazu [zu] befähigen, sich zu gegebenem Anlass zu wehren bzw. anderen beizustehen“ (Bündnis für Zivilcourage 2024).

Nach Aussage der Interviewpartner*innen erlaubt der zivilgesellschaftliche Protest den Würzburger*innen insofern eine Form der politischen Beteiligung, die u.a. durch Workshops, Seminare und Informationsveranstaltungen zu einer gesteigerten Sensibilisierung für Diskriminierung und Ungerechtigkeit in der Stadtgesellschaft beitrug und 2011 zur Einrichtung einer unabhängigen Antidiskriminierungsstelle führte. Mit den frühen Erfolgen des Protests erfuhr das Bündnis ab 2012 eine deutliche Ausweitung auf knapp 100 Vereine. Diese engagieren sich bis heute und bewirkten u.a. 2021 die Einrichtungen einer digitalen Meldeplattform »Würzburg schaut hin« und einer jährlichen »Würzburger Woche gegen Rassismus«.

Die beschriebenen Prozesse illustrieren, wie Protest und die damit einhergehende Vernetzung zivilgesellschaftlicher Akteure zu gesellschaftlichen Veränderungen beitragen können. Gleichwohl muss einschränkend vermerkt werden, dass die »lokalen Veränderungen« und die Sichtbarkeit des Problems weiterhin im Vergleich zu anderen Themen politisch marginal bleiben und »Wandel nur sehr langsam« erfolgt. Ein wesentlicher Unterschied der Vernetzungsprozesse in den Transformationsbereichen besteht in ihrer thematischen Breite und den beteiligten Akteuren. Im Transformationsbereich Biodiversität ist das Netzwerk beispielsweise thematisch breiter aufgestellt und betrachtet den Biodiversitätsschutz als integralen Bestandteil des Klimaschutzes, während das Netzwerk im Bereich Mobilität und Verkehr stärker auf konkrete infrastrukturelle Maßnahmen und politische Entscheidungen fokussiert ist. Im Bildungsbereich wiederum ist die Netzwerkbildung stark durch Initiativen der Erwachsenenbildung geprägt.

Protest und politische Entscheidungen

Die Wirkung von zivilgesellschaftlichem Protest auf politische Entscheidungen variiert nach Thematik und strukturellen Bedingungen. Im föderalen System in Deutschland werden Politiken primär auf der Bundesebene formuliert und gegebenenfalls nachrangig auf Landesebene präzisiert. Die lokale Ebene dient maßgeblich der Implementierung dieser Entscheidungen, wobei dennoch Schwerpunkte gesetzt werden können. Entsprechend gilt es, durch Protest die zuständigen Entscheidungsträger*innen zu adressieren. »Verstärkungseffekte« im Falle von vielfältigen lokalen zivilgesellschaftlichen Initiativen, welche sich in einem Transformationsbereich engagieren, können hierbei erfolgreich sein.

Beispielhaft hierfür sind die Entwicklungen im Transformationsbereich Biodiversität. Dieser zielt auf den Schutz der biologischen Vielfalt von Pflanzen und Tieren ab. Die Biodiversitätspolitik wird durch internationale Ziele, nationale Gesetzgebungen und Strategien auf Landesebene definiert. Deshalb gilt es durch den lokalen Protest die Bundes- und Landesebene zu erreichen, um Entscheidungen zu beeinflussen. Dieser Bereich ist strukturell benachteiligt, weil die Natur nur indirekt über den Menschen repräsentiert werden kann und Interessen dadurch nur mittelbar politisch geäußert werden. In Würzburg wurden Biodiversitätsfragen, insbesondere in Bezug auf Stadtbegrünung, erst in den letzten fünf Jahren in der Stadtpolitik berücksichtigt. Das erfolgreiche bayerische Volksbegehren »Artenvielfalt – Rettet die Bienen« 2019 wurde auch von Umwelt- und Klimainitiativen in Würzburg unterstützt. Das Volksbegehren führte dazu, dass die städtische Begrünung in Würzburg, in Form von Straßenbegleitgrün, vorangetrieben wurde und im Jahr 2020 eine Biodiversitätsstelle im Landkreis Würzburg eingerichtet wurde. Zusätzlich trat die Stadt Würzburg im Frühling 2019 dem Bündnis »Kommunen für biologische Vielfalt« bei.

Protest und die Institutionalisierung lokaler Nachhaltigkeitspolitik

Zivilgesellschaftliches Engagement kann für spezifische Themen ein »Problembewusstsein schaffen« und, wie anhand der zuvor erwähnten unabhängigen Antidiskriminierungsstelle und Biodiversitätsberatungsstelle zu sehen ist, dazu führen, dass neue Themen in den lokalen Strukturen verankert werden. Auch im Bereich Bildung führte zivilgesellschaftliches Engagement in Würzburg dazu, dass neue nachhaltigkeitsrelevante Themen, Projekte und Veranstaltungen für verschiedene gesellschaftliche Zielgruppen verstetigt wurden. Beispielsweise wurden Projekte wie »Zukunft mit Klasse« und der »konsumkritische Stadtrundgang« ins Leben gerufen und in den Schulen respektive im Tourismusangebot der Stadt verankert. Das führte u.a. dazu, dass es Kooperatio­nen zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren und städtischen Bildungseinrichtungen gab und diese inzwischen in der Stadt Würzburg fest etabliert sind.

Unsere Analysen haben außerdem gezeigt, dass ziviler Protest dazu führen kann, dass »neue Formen der lokalen Entscheidungsfindung« etabliert werden, um zivilgesellschaftliche Perspektiven stärker in vorhandene Entscheidungsverfahren zu integrieren. Beispielhaft können die Aktivitäten von »Würzburg erneuerbar« angeführt werden. Diese zivilgesellschaftlichen Gruppierungen haben eine wesentliche Rolle bei der Etablierung von Gremien zur partizipativen Entscheidungsfindung über lokale Mobilitäts- und Klimakonzepte gespielt. Zu solchen Gremien zählt u.a. der Klimabeirat, der den Würzburger Stadtrat, seine Ausschüsse und die Stadtverwaltung in Angelegenheiten des kommunalen Klimaschutzes und der Klimaanpassung berät. Zudem gibt es den Radverkehrsbeirat, der sich aus Vertreter*innen der Stadtverwaltung, Stadträt*innen, Mobilitätsclubs, Initiativen und einer Fahrradexpert*in aus jedem Stadtteil zusammensetzt, um sicherzustellen, dass die Belange des Radverkehrs umfassend berücksichtigt werden. Beide Gremien sind auf Druck der Zivilgesellschaft entstanden und zeugen von einer lokalen Institutionalisierung nachhaltiger Themen und Prozesse. Sie ermöglichen einen »strukturierten Austausch zwischen Interessengruppen« und lokaler Politik und tragen dazu bei, dass »diverse gesellschaftliche Perspektiven« in transformativen Ansätzen berücksichtigt werden.

Gegenteilige Reaktionen auf zivilen Protest

Platzprobleme in der Innenstadt Würzburgs führen immer wieder zu Konflikten zwischen unterschiedlichen Verkehrsteilnehmer*innen. Zivilgesellschaftliche Gruppierungen und die Stadt wollen daher grundsätzlich gleichermaßen den Ausbau von ÖPNV, Rad- und Fußverkehr sowie die E-Mobilität und eine saubere Logistik fördern. Dennoch haben vereinzelte lokale Proteste in der Vergangenheit ambitionierte Maßnahmen für eine ökologische Verkehrswende verhindert. Prominentestes Beispiel ist in Würzburg die Initiative des interfraktionellen Bündnisses »Besser leben im Bischofshut«2, die 2022 auf einem großen außerhalb gelegenen Parkplatz Gebühren einführen wollte, um die Einnahmen davon zur Finanzierung einer für alle kostenlosen Straßenbahnnutzung in der Innenstadt zu verwenden. Diese Initiative wurde von einer »mächtigen Gegenbewegung« gekippt. Und nicht nur das: Ein Bürger*innenbegehren für kostenfreies Parken auf dem besagten Platz wurde eingereicht und erhielt große Zustimmung, obwohl davon nur vergleichsweise wenige Pendler*innen aus dem Umland profitieren.

Protest wirkt demnach nicht automatisch als Katalysator für sozial-ökologische Transformationen. In den Bereichen Antidiskriminierung und Biodiversität wurden auch »Tendenzen zu kurzfristigem, reaktivem Handeln« in Reaktion auf zivilgesellschaftlichen Protest deutlich, ohne dass langfristige, ambitionierte Veränderungsstrategien verfolgt worden wären. In solchen Fällen wiesen Interview­partner*innen jedoch darauf hin, dass integrative Ansätze basierend auf Dialog mit Bürger*innen vor Ort Konflikte minimieren und eine breitere Akzeptanz für sozial-ökologische Veränderungen schaffen können. Sie betonten, dass strukturierte deliberative Verfahren notwendig seien, um relevante Perspektiven in lokalen Entscheidungsprozessen zu berücksichtigen. Durch die Vernetzung lokaler Initiativen über Themen- und Ebenengrenzen hinweg kann ziviler Protest eine größere gesellschaftliche Sichtbarkeit und politische Wirkung entfalten.

Fazit

Am Beispiel zivilgesellschaftlichen Engagements in Würzburg zeigt unsere Analyse, dass ziviler Protest in Städten positive Auswirkungen auf nachhaltigkeitsbezogene Ziele und Entscheidungen haben kann, wenn er die Bildung von thematisch einschlägigen Netzwerken fördert, zur Entwicklung neuer Strukturen beiträgt und inklusive Entscheidungsprozesse unterstützt. Ziviler Protest kann insofern grundsätzlich als Katalysator für sozial-ökologische Transformationen in Regionalzentren verstanden werden, der nicht nur auf bestehende Probleme aufmerksam macht, sondern auch innovative Formen der Zusammenarbeit und Lösungsfindung fördern kann. Allerdings zeigen die Ereignisse insbesondere im Transformationsbereich Mobilität und Verkehr auch, dass es Bruchpunkte gesellschaftlicher Toleranz gibt und dass diese der transformativen Wirkung ziviler Interventionen auch Grenzen aufzeigen. Es zeigt sich ebenso, dass die politischen Entscheidungen in den Transformationsbereichen Antidiskriminierung, Mobilität und Verkehr, Biodiversität und Bildung bisher deutlich hinter den Forderungen des Protests zurückbleiben. Als reaktive Maßnahmen auf den Protest werden nur begrenzte finanzielle und personelle Ressourcen – bzw. im Bereich Biodiversität ökologische Nutzungsflächen – bereitgestellt, die häufig nicht langfristiger Natur sind.

Anmerkungen

1) Process Tracing ist eine qualitative Forschungsmethode, die in den Sozialwissenschaften verwendet wird, um die Entscheidungsprozesse und Kausalmechanismen hinter spezifischen Ereignissen (»Outcomes«) zu untersuchen. Dabei werden detaillierte und systematische Analysen von Fällen durchgeführt, um zu verstehen, wie bestimmte Ereignisse zu einem spezifischen Outcome geführt haben (Starke 2022, S. 2). Die Methode stützt sich auf die Identifizierung und Analyse von »Spuren« oder Beweisen, welche die Verbindung zwischen potenziellen Ursachen und ihren Wirkungen aufzeigen.

2) Die Bezeichnung »Bischofshut« bezieht sich auf die mittelalterliche Umgrenzung der Altstadt Würzburgs, welche an die Form eines Bischofshuts erinnert.

Literatur

Bündnis für Zivilcourage (2024): Über uns. Homepage des Würzburger Bündnis für Demokratie und Zivilcourage e.V. URL: zivilcourage-wuerzburg.de/ueber-uns/.

Cattino, M.; Reckien, D. (2021): Does public participation lead to more ambitious and transformative local climate change planning? Current Opinion in Environmental Sustainability 52, S. 100-110.

Chu, E.; Anguelovski, I.; Carmin, J.(2016): Inclusive approaches to urban climate adaptation planning and implementation in the Global South. Climate Policy 16(3), S. 372-392.

Cloutier, G.; Joerin, F.; Dubois, C.; Labarthe, M.; Legay, Ch.; Viens, D. (2015): Planning adaptation based on local actors’ knowledge and participation: a climate governance experiment. Climate Policy 15(4), S. 458-474.

Fopp, D.; Axelsson, I.; Tille, L. (2021): Gemeinsam für die Zukunft – Fridays For Future und Scientists For Future: Vom Stockholmer Schulstreik zur weltweiten Klimabewegung. Bielefeld: transcript Verlag.

Glass, L.-M.; Newig, J. (2019): Governance for achieving the Sustainable Development Goals: How important are participation, policy coherence, reflexivity, adaptation and democratic institutions? Earth System Governance 2, 100031.

Hoeft, Ch.; Messinger-Zimmer, S.; Zilles, J. (Hrsg.) (2017): Bürgerproteste in Zeiten der Energiewende: Lokale Konflikte um Windkraft, Stromtrassen und Fracking. Bielefeld: transcript Verlag.

Ostrom, E. (2010): Polycentric systems for coping with collective action and global environmental change. Global Environmental Change 20(4), S. 550-557.

Wamsler, C.; Alkan-Olsson, J.; Björn, H.; Falck, H.; Hanson, H.; Oskarsson, T.; Simonsson, E.; Zelmerlow, F. (2020): Beyond participation: When citizen engagement leads to undesirable outcomes for nature-based solutions and climate change adaptation. Climatic Change 158(2), S. 235-254.

Starke, P. (2022): Process Tracing in der Policy-Forschung. In: Wenzelburger, G.; Zohlnhöfer, R. (Hrsg.): Handbuch Policy-Forschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 1-26.

Antonia Boeckle ist Studentin der Sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung an der Universität Würzburg. Sie interessiert sich insbesondere für die ökologische Nachhaltigkeit und die Förderung von Biodiversität in Städten.
Michael Volpert ist Masterstudent der Sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung an der Universität Würzburg. Sein Studienschwerpunkt liegt auf der nachhaltigen Transformation von Unternehmen und Wirtschaftssektoren.
Christina Warmann studiert im Master Sozialwissenschaftliche Nachhaltigkeitsforschung an der Universität Würzburg und hat ihren Studienschwerpunkt auf soziale Nachhaltigkeit gelegt. Sie ist studentische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Quantitative Sozialforschung.
Anna Weißenberger interessiert sich als Masterstudentin der Sozialwissenschaftlichen Nachhhaltigkeitsforschung an der Universität Würzburg vor allem für die Transformation von Städten und für Umweltpolitik.
JProf. Dr. Ulrike Zeigermann ist Junior-Professorin für Sozialwissenschaftliche Nachhaltigkeitsforschung an der Universität Würzburg und assoziierte Forscherin am Centre Marc Bloch Berlin.

Lernen von den »Guardias«

Lernen von den »Guardias«

Integrale Sicherheit als Antwort auf multiple Gewaltphänomene in Kolumbien1

von María Cárdenas

Am Beispiel der »Guardias« und im Kontext des kolumbianischen Friedenskonsolidierungsprozesses soll dieser Beitrag Aufschluss darüber geben, wie Indigene, Afrokolumbianische und kleinbäuerliche Gemeinden inmitten von allgegenwärtiger Gewalt durch integrale Sicherheitssysteme kollektiven Selbstschutz praktizieren, um das (Über-)Leben ihrer Gemeinden und Ontologien zu sichern. Angesichts multipler planetarer Krisen bietet ihre Praxis wichtige Denkanstöße für die notwendige Überwindung des hegemonialen Verständnisses von (militarisierter) Sicherheit.

Die »Guardia Indígena«, die »Guardia Cimarrona« und die »Guardia Campesina« (kurz »Guardias«) sind heute die international bekanntesten gemeindebasierten und integralen Sicherheitssysteme in Kolumbien. Seit der Jahrtausendwende wurden sie von ihren Gemeinden gestärkt, um ihr territorio und ihre Bevölkerung vor bewaffneten Akteuren und ihrer gewaltsamen Vereinnahmung für extraktive Ökonomien zu schützen. So stellen sie sich illegalen Ökonomien ebenso in den Weg wie legalen und illegalen bewaffneten Akteuren und sind zum Teil beteiligt an der »Liberación de la Madre Tierra« – also an Initiativen, die die »Mutter Erde« aus z.B. Monokulturprojekten befreien wollen.2 Angesichts der Allgegenwärtigkeit der Gewalt stellen die Guardias seither gleichsam den bestmöglichen Schutz vor militärischer Gewalt dar, als auch eine unbewaffnete Alternative zu ihr. Gleichwohl wird ihre Arbeit häufig aus einer eurozentrischen Perspektive auf ein anthropozentrisches Verständnis von Sicherheit reduziert. Auch aus einer solchen Perspektive können die Guardias zwar Aufschlüsse über Alternativen zu militarisierter Sicherheit geben. Die ontologischen Konflikte, die der Gewalt gegen diese Gemeinden zugrundeliegen, werden hierdurch jedoch vernachlässigt. Ebenso wird das Potential unsichtbar, das integralen Sicherheitssystemen zur Überwindung jener multiplen (Un-)Sicherheitskrisen innewohnt, die durch die Moderne/Kolonialität hervorgerufen wurden (Escobar 2020).

Der Beitrag baut auf meiner ethnographischen Forschung mit Indigenen und Afrokolumbianischen Friedensaktivist:innen seit 2017 (u.a. Cárdenas 2023), sowie einer vom Deutsch Kolumbianischen Friedensinstitut (CAPAZ) unterstützten explorativen Studie von 20193 auf. Ziel ist es, mit Blick auf das Sicherheitsverständnis Indigener, Afrokolumbianischer und kleinbäuerlicher Gemeinden das hegemoniale Verständnis von Sicherheit neu zu betrachten. Der Beitrag ist auch ein Angebot, die hegemonialen Formen oder Versuche der Gewährleistung von Sicherheit zu reflektieren. Zu diesem Zweck werde ich im Folgenden die Arbeit der Guardias im Cauca näher in den Blick nehmen.

Hintergrund: Bewaffnete Gewalt und Morde im Cauca

Unsicherheit und Gewalt haben die südwestliche Region Cauca seit Jahrzehnten geprägt. Fast acht Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens hat die Frage der Sicherheit in dieser Region allerdings nicht an Bedeutung verloren, denn sowohl die Anzahl bewaffneter Akteure als auch die Gewalt gegen soziale und ethnische Organisationen und Aktivist:innen haben weiter zugenommen. Zwischen dem Tag der Unterzeichnung des Friedensabkommens 2016 bis zum 3.7.2024 wurden laut INDEPAZ in Kolumbien 1.621 soziale Führungspersönlichkeiten (líderes) ermordet (INDEPAZ 2024). Allein im Cauca waren es 324 ermordete soziale Aktivist:innen, von denen mehr als ein Drittel Indigene waren (128), gefolgt von Kleinbäuer:innen (79), und Afrokolumbianischen Aktivist:innen (32).4 Die unverhältnismäßige Gewalt gegen ländliche und insbesondere Indigene Führungspersonen ist vor allem auf ihren Widerstand gegen Wirtschaftsakteure und lokale Eliten zurückzuführen, die nach der Demobilisierung der FARC-EP um die ökonomische und sozio-politische Kontrolle der Region konkurrieren und eine Ausweitung der legalen und illegalen Wirtschaftsweisen in diesem Departement anstreben (Albarracín et al. 2022).

Teil integraler Sicherheitssysteme

Indigene, Afrokolumbianische und kleinbäuerliche Guardias können als integrale gemeinschaftliche Sicherheitssysteme verstanden werden, die temporär, semi-permanent oder permanent sein können und aus einem unbezahlten, unbewaffneten Dienst bestehen, den meist alle Mitglieder der Gemeinschaft mindestens einmal verrichten. Das Leitmotto der Guardias „Todos somos guardia“ („Wir alle sind Guardias“) bedeutet sowohl, dass die Arbeit der Guardia bzw. die damit verbundene Verantwortung nicht ausgelagert werden kann, als auch, dass jede:r – von den Älteren bis zu den Kindern – ein wichtiger Teil ist, um zum Schutz des territorio und dessen Gemeinschaft beizutragen. Hierdurch ist die Gruppe zumindest bei den semi-permanenten und temporären Guardias meist relativ heterogen, was Gender, Alter und familiäre Situation anbelangt.5 Die Gemeindemitglieder, die als Guardia dienen, tragen im Dienst zumeist den traditionellen bastón de mando – einen mit Bändern der Organisationsfarben verzierten Holzstab. Häufig tragen sie dazu auch ein Halstuch und eine Weste, auf denen das Logo der Organisation, der ihre Gemeinde angehört, sichtbar ist.

Da die Guardias Teil der politischen Autonomie der Gemeinden und dieser untergeordnet sind, werden sie auf Gemeindeebene organisiert. Ihre Organisation hängt also von ihrem jeweiligen gobierno propio ab (ihren autochthonen Formen politischer Selbstorganisation), sowie von dem sozio-ökologischen und politischen Kontext, in den sie eingebettet sind. Nicht nur angesichts der besonderen Gewaltbetroffenheit der Cauca-Region kann die Arbeit der dort ansässigen Guardias also nicht auf andere Kontexte übertragen werden.

Die Guardias sind zudem nur ein Element der gemeindebasierten Schutzmechanismen im heutigen Kolumbien, zu denen auch die planes de vida (Lebenspläne), medicina ancestral (traditionelle Medizin) und spiritueller Schutz (durch z.B. Taitas oder Thê’ Walas), sowie institutionalisierte Dialogforen zählen. Der Bekanntheitsgrad der Guardias hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie aus einem eurozentrischen Sicherheitsverständnis leichter zu greifen sind als z.B. die Wirkung von Thê’ Walas. Dies hat es einzelnen Guardias im Cauca ermöglicht, Zuwendungen von staatlichen und internationalen Stellen zu erhalten – eine Entwicklung, die manche Gemeinden aufgrund der damit (vermeintlich verbundenen oder wachsenden) Nähe zum eurozentrischen Sicherheitsverständnis bzw. ihrer Reduktion hierauf mit Sorge betrachten.

Der hier entwickelte Blick auf die Guardias im Cauca soll daher keinesfalls zu einer Generalisierung der Guardias und Reduktion ihrer Komplexität, Heterogenität und kontextspezifischen Ausprägung beitragen, denn diese hat in Kolumbien auch zu einer Dichotomie von Romantisierung vs. Kriminalisierung geführt. Ziel ist vielmehr, zu erörtern, welche Alternativen die Guardias in Kolumbien zu einer militärischen oder militarisierten Durchsetzung von Sicherheit eröffnen – auch in einem Kontext allgegenwärtiger Gewalt – und was wir von ihnen für das Verständnis von Sicherheit und seine Erreichung lernen können.

Der integrale Schutz des »Territorio«

Die Aufgabe der Guardias ist es, Sicherheit und Harmonie in einer integralen Weise zu fördern, die sich nicht auf physische Sicherheit oder den negativen Frieden beschränkt (Galtung 1972), sondern auf das abzielt, was häufig als »die Kontrolle des Territoriums« (control territorial) bezeichnet wird. Als territorio lässt sich zunächst vereinfacht das Leben und die Beziehungen der Lebewesen untereinander in einem gewissen Raum bezeichnen. Dieser Raum sollte jedoch nicht auf ein eurozentrisches, zweidimensionales Verständnis im Sinne einer Karte reduziert werden, sondern ist zum einen multidimensional und dynamisch, und beinhaltet zum anderen auch die vertikale, spirituelle und historische Dimension. Zudem ist es eng mit dem menschlichen Körper verschränkt.

Die Kontrolle des territorio beinhaltet also zwar auch das, was im eurozentrischen Sicherheitsverständnis als die Kontrolle über ein gewisses Stück Land verstanden wird: zu wissen, wer sich auf dem spezifischen Gelände aufhält, was diese Menschen tun und wieso. Im Kontext allgegenwärtiger Gewalt ist es wichtig, die Routen von bewaffneten Akteuren zu kennen, wann sie unberechtigterweise das Gelände durchqueren, und welche Beziehungen sie mit anderen Akteuren halten. Dies ermöglicht nicht nur eine sehr gute Kenntnis der Akteure der Region und ihrer Interessen (und trägt dadurch zum friedens- und sicherheitsrelevanten Wissensarchiv dieser Gemeinden bei), sondern es hat oft unmittelbar praktischen Nutzen. Beispielsweise wenn die Kenntnisse hierüber es diesen Gemeinden ermöglichen, zwangsrekrutierte Minderjährige wieder aus den Fängen von bewaffneten Akteure zu holen, illegalen Bergbau zu identifizieren, oder gar Bagger-Lader der Polizei zu übergeben.6 Juan Carabalí von der Nationalen Schutzeinheit (UNP)7 stellt klar:

„Man stellt sich die Guardias oft so vor, dass sie bewaffnet sind, aber das stimmt nicht. Der Guardia ist derjenige, der hinausgeht, um zu verhandeln, um einen Dia­log zu führen, um die Menschen, die [von bewaffneten Akteuren] getötet werden sollen, wegzubringen, um sie aus den Händen von bewaffneten Gruppen zu holen, die sie töten wollen. Ja, die afrokolumbianischen Gemeinschaften tun das die ganze Zeit, und die indigenen Gemeinschaften, die ganze Zeit.“ (Juan Carabalí, UNP, 23.4.2019).

Sicherheit wird hier also Carabalí zufolge nicht über Gewalt (oder die Androhung dieser) hergestellt, sondern über den Mut, ins Gespräch zu kommen und sich der Gewalt entgegenzustellen, sowie über die Autorität, mit der die Guardia ihr territorio verteidigt.

Die Arbeit der Guardias kann jedoch nicht auf den Umgang mit Gewaltkonfrontationen und ihre Verhandlungskapazitäten reduziert werden. Aufgrund des eingangs genannten Verständnisses von territorio besteht territoriale Kon­trolle auch darin, auf den Zustand bzw. die Gesundheit des Territoriums, der Pflanzen und der Tiere zu achten sowie auf den Zustand von Straßen, Zäunen und Brücken (Forschungsmemo vom 16.2.2019). Daher beinhaltet die territoriale Kontrolle neben dem Schutz der Natur auch die »Minga« – also die Gemeindearbeit (z.B. Renovierungs- und Reparaturarbeiten, Unterstützung bei der Ernte, die Reparatur eines Hauses, eines Zauns, eines Brunnens oder einer Brücke). Ebenso beinhaltet die Arbeit der Guardia zum Teil auch die Mediation bei Nachbarschafts- oder familiären Konflikten, sowie bei Streitigkeiten innerhalb der Gemeinschaft und mit den Nachbargemeinden (wobei dies je nach Gemeinde auch von anderen Ämtern und Rollen übernommen wird). Die Guardias erfüllen daher vielerorts auch Funktionen, um die Autonomie und Widerstandsfähigkeit der Gemeinde gegen die Kolonialität und ihre Gewalt zu stärken. Es handelt sich bei der Guardia damit also um einen Teil autonomer und integraler Sicherheitssysteme, in dem sich Menschen die Aufgabe teilen, das Pluriversum zu schützen – nach außen (bzgl. bewaffneter Akteure und Nachbargemeinden), nach innen (Gemeindekohäsion), als auch horizontal und vertikal (bzgl. des Schutzes des Territoriums bzw. der Natur, der Ahnen und des spirituellen Raums vor z.B. Extraktivismus) – oft auch mit ihrem eigenen Leben.

Dies macht auf einen weiteren Aspekt der Territorialkontrolle aufmerksam, der über ein eurozentrisches Sicherheitsverständnis hinausgeht. Es geht nämlich nicht nur um den Schutz einer bestimmten Gruppe von Menschen und gegebenenfalls ihres Besitzes, sondern auch um den Schutz der Natur in ihrem eigenen Recht8, sowie um den Schutz der Beziehungen und des Gleichgewichts zwischen Menschen, nicht-menschlichen Lebewesen und dem spirituellen Raum. Bei diesem nicht-westlichen Verständnis von »Sicherheit« geht es also auch um die Beziehungen zwischen Menschen und dem was wir unter Natur verstehen (also Flora und Fauna), ebenso wie um die spirituellen und emotionalen Beziehungen, die das Territorium beinhaltet, und um die Gesetze bzw. Regeln, denen diese folgen.

In wissenschaftlichen Debatten, insbesondere des »ontological turn« oder der »political ontology«, erhalten diese relationalen Möglichkeiten, die Welt in ihrer Pluriversalität zu verstehen, zunehmend an Bedeutung (vgl. FitzGerald 2021). Vor diesem Hintergrund lässt sich control territorial nicht nur als Teil von territorialen Kämpfen verstehen, sondern vielmehr sind territoriale Kämpfe, bzw. der Versuch das Territorium zu schützen, im Sinne von Arturo Escobar (2020) immer auch ontologische Kämpfe. Es geht bei den Guardias also um den Schutz des Pluriversums vor seiner Vernichtung durch ontologische Zerstörung, die die Monokulturen (hier nicht auf den Anbau beschränkt) der Moderne/Kolonialität nach sich ziehen. Die eingangs genannten vielfachen Morde in Kolumbien an Indigenen, Afrokolumbianischen oder kleinbäuerlichen Aktivist:innen weisen daher nicht nur auf die nekropolitische Dimension hin, die rassialisiertes Leben der kapitalistischen Logik unterwirft (Ruette-Orihuela et al. 2023), sondern auch auf die ontologische Dimension der Gewalt, da die Ermordeten als zentrale Akteure in der Aufrechterhaltung des widerständigen Wissens und in der Organisation des ontologischen Widerstands verstanden werden müssen.

Auswirkungen des Friedensabkommens seit 2016

Die Nationale Schutzeinheit UNP hat eingeräumt, dass sie auf der ländlichen Ebene sehr schwach ist. Vor allem bei Indigenen und Afrokolumbianischen Gemeinschaften sind die Sicherheitsmaßnahmen oft nicht in der Lage, Morde zu verhindern.9 Darüber hinaus gab es Fälle von Leibwächtern der UNP-Vertragspartner, denen paramilitärische Verbindungen nachgewiesen werden konnten.10 Vor diesem Hintergrund und mit dem Ziel, den rechtlichen Rahmen der autonomen Sicherheitsmechanismen auszuweiten – und damit auch ihre Möglichkeiten, Sicherheit integral zu stärken11 –, wurde das Recht auf autonome Sicherheitssysteme als Teil des ethnischen Kapitels auch in das kolumbianische Friedensabkommen von 2016 aufgenommen (vgl. Cárdenas 2019). Es garantiert unter anderem, dass „bei der Gestaltung und Umsetzung des Sicherheits- und Schutzprogramms für Gemeinschaften und Organisationen in den Gebieten eine ethnische und kulturelle Perspektive einbezogen wird. Die Stärkung der eigenen Sicherheitssysteme der ethnischen Völker, die national und international anerkannt sind, […] wird garantiert“.

Dies hatte weitreichende Folgen, von denen ich hier nur zwei nennen werde: Zum einen die politische und rechtliche Anerkennung der Afrokolumbianischen und Indigenen Guardias und damit die Anerkennung alternativer Konzeptualisierungen von Sicherheit. Das ist ein wichtiger politischer Erfolg für Indigene, aber auch Afrokolumbianische Gemeinden. Dieses nicht-anthropozentrische, integrale Verständnis von Sicherheit wurde zuletzt durch die erfolgreiche Initiative Afrokolumbianischer Gemeinschaften aus dem Nord-Cauca auch in einem Urteil der kolumbianischen Übergangsjustiz JEP erneuert: Dort wurde der Fluss Cauca als Opfer des bewaffneten Konflikts anerkannt und ihm das Recht auf Wiedergutmachung und Nicht-Wiederholung zugestanden. Es lässt sich also als Folge des ethnischen Kapitels ein Einfließen von nicht-eurozentrischen Ontologien in die kolumbianische Rechtsprechung feststellen.

Zum anderen wurden die Guardias in ihrer finanziellen, strukturellen und ideellen Form durch Sicherheitsinstitutionen wie die Nationale Schutzeinheit UNP gestärkt. 2019 arbeitete UNP mit 78 Kollektiven im ganzen Land zusammen, von denen die meisten Indigene und Schwarze Gemeinschaften waren, und individuell mit etwa 800 Indigenen und etwa 500 Afrokolumbianischen Aktivist:innen, die Personenschutz benötigten (Stand Februar 2019, Interview mit der UNP vom 23.4.2019). Die Maßnahmen umfassen materiellen (Westen, Walkie-Talkies usw.) und immateriellen Schutz (Ausbildung in ethnischen Rechten, in Menschenrechten und im humanitären Völkerrecht, usw.), aber auch spirituellen Schutz (zur Harmonisierung des Territoriums z.B.; ebd.). Diese Dynamik hat sicherlich zur größeren Sichtbarkeit der Guardias beigetragen.

Wenngleich im Cauca die »Guardia Indígena« besonders stark ist, hat in den letzten Jahren auch die Zahl der Afrokolumbianischen Gemeinderäte mit eigenen Guardias zugenommen hat. Laut Victor Hugo Moreno Mina (ACONC) gab es 2019 neunzehn Afrokolumbianische Guardias in den 43 Gemeinderäten im Cauca (Interview mit Victor Hugo Moreno Mina, 22.2.2019). Nach einem von der internationalen Zusammenarbeit finanzierten Workshop für interethnische Guardias im Jahr 2018 wurde in Cauca auch die interethnische Guardia gegründet, die sich aus Indigenen, Afrokolumbianischen und bäuerlichen Gruppen zusammensetzt, um voneinander zu lernen, sich gegenseitig zu stärken und z.B. bei der Überführung illegaler und bewaffneter Akteure zu kooperieren. Angesichts der Allgegenwärtigkeit von Gewalt durch zahlreiche legale und illegale bewaffnete Akteure und illegale Ökonomien im Cauca sowie der Nachlässigkeit bzw. Schwäche des Staates, dieser entgegenzutreten, erweisen sich die Guardias auch weiterhin als unverzichtbares Sicherheitssystem, aber auch als Symbol für den autonomen und integralen Aufbau von Frieden nach dem Friedensabkommen.

»Todos somos guardia« – wir alle sind »Guardia«

Dies hat Edgar Alberto Velasco Tumiña (Autoridades Indígenas del Sur Occidente – AISO) zufolge dazu geführt, dass „[die indigene Guardia] in vielen Teilen der Welt ein Beispiel für den Widerstand gegen den Krieg [ist]. [W]ir haben gelernt, unsere Angst zu verlieren, unsere Angst vor dem Krieg, vor den Streitkräften, und wir widersetzen uns den Landbesitzern, den multinationalen Konzernen und der Regierung selbst“.

Das Narrativ der Guardia als Verteidigerin des Territoriums und als Friedensstifterin hat verstärkt seit dem Abschluss des Friedensabkommens Bündnisse mit einer Vielzahl von Akteuren ermöglicht, die sich außerhalb ihrer Gemeinden und/oder ihres territorio befinden: mit der internationalen Zusammenarbeit, der Studierendenbewegung, den Umweltschutzbewegungen oder der städtischen Linken. In jüngerer Zeit ist die Schaffung der inter­ethnischen Guardia (bestehend aus »Guardia Indígena«, »Guardia Campesina« und »Guardia Cimarrona«) selbst ein Versuch, über territorios hinweg zusammenzuarbeiten und ethnische oder rassistische Gräben zu überbrücken.

Ein Beispiel für den symbolischen Stellenwert, den die Guardias über ihre Territorien hinaus erlangt haben, war ihre zentrale Rolle beim Nationalstreik von 2021, in dem sie sich mit der meist urbanen Bevölkerung solidarisierten und diese beim Schutz vor repressiver Gewalt durch staatliche Sicherheitsbehörden und Bürgerwehren unterstützten.12 Ihre wachsende Popularität und ihre Kooperation mit Akteuren aus dem urbanen Raum hat sie jedoch auch angreifbarer für Kriminalisierung und Diffamierung gemacht13.

Zusammen mit dem Anstieg von sich diversifizierenden und miteinander konkurrierenden Gewaltakteuren im Cauca, die die Gewaltsituation gegen ländliche Gemeinden verschärfen, hat sich die Arbeit der Guardias daher erschwert: In den ersten sechs Monaten des Jahres 2024 wurden bereits 89 soziale Aktivist:innen ermordet, viele davon wegen ihres Widerstands gegen den legalen und illegalen Extraktivismus. Eine der Guardias, die in diesem Zusammenhang ihr Leben verlor, war die Älteste und Nasa-Gouverneurin Carmelita Ascue Yule aus dem Cauca. Sie wurde am 16. März 2024 ermordet, als sie versuchte, Minderjährige aus ihrer Gemeinde vor der Zwangsrekrutierung durch eine Dissidentengruppe der FARC zu schützen.

Anmerkungen

1) Ausschnitte des vorliegenden Texts wurden bereits als Forumsbeitrag in Iberoamericana veröffentlicht, siehe Cárdenas 2020. Vielen Dank an David Scheuing und Astrid Juckenack für ihre Anmerkungen.

2) Siehe auch die Webpage der Bewegung unter liberaciondelamadretierra.org/de/.

3) Die Studie hatte den den Titel »Strengthening autonomy or the state? Die unterschiedliche Anerkennung der Guardias im Friedensabkommen und ihre Zusammenarbeit im Territorium im Rahmen des Post-Abkommens«.

4) Ibid. Im Vergleich hierzu macht die Indigene Bevölkerung laut der Volkszählung von 2018 lediglich rund 4.4 % und die Afrokolumbianische rund 9.34 % der Gesamtbevölkerung aus (vgl. DANE 2019, DANE 2023).

5) Frauen werden also nicht in die Sicherheit »integriert« (wie es aus einer euro- und androzentrischen Perspektive z.B. beim Militär der Fall ist), sondern als integraler Bestandteil der Gemeinschaft sind sie auch integraler Bestandteil ihres Schutzes (der nicht militärisch ist).

6) So erklärte Victor Hugo Moreno Mina (Asociación de Consejos Comunitarios del Norte del Cauca – ACONC) bei einem von mir begleiteten Vortrag an der Nationalen Polizeiakademie, dass die Guardia wiederholt den illegalen Bergbau in ihren Gebieten gestoppt und schwere Maschinen und Delinquenten der Polizei übergeben habe (Memo vom 01.11.2018).

7) Die UNP untersteht dem Innenministerium und ist für die Koordinierung und Durchführung des Schutzes von Personen oder Gruppen zuständig, deren Leben aufgrund ihrer Arbeit bedroht ist.

8) Dank der sozialen Kämpfe von Indigenen und Afrolateinamerikanischen Gemeinden wurden in Lateinamerika viele Teile der Natur (Flüsse, Berge etc.) als Rechtssubjekte anerkannt.

9) So Pablo Elías, Direktor der UNP, in CIEDH 2020, S. 5.

10) Siehe Comisión Colombiana de Juristas (2018).

11) Der rechtliche Rahmen der Guardia hängt vom allgemeinen rechtlichen Rahmen der Gemeinschaften ab: Für die Indigene und Afrokolumbianische Bevölkerung beruhen die ethnischen Rechte in Kolumbien auf dem Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation, das von Kolumbien durch das Gesetz 21 von 1991 gebilligt und in der Verfassung von 1991 sowie im Gesetz 70 von 1993 festgeschrieben wurde. Folglich hat die Guardia Campesina keinen rechtlichen Rahmen, während die Guardia Indígena (seit 2001) und die Guardia Cimarrona (seit 2013) ihren lokalen Behörden, entweder dem Cabildo oder dem Gemeinderat, unterstellt sind.

12) Im Rahmen des Nationalstreiks wurden über 80 Demonstrierende v.a. von staatlichen Sicherheitskräften ermordet (vgl. Prieto 2022). Zum Nationalstreik in Kolumbien von 2021 und seiner Gewalt, siehe Cortés und Cárdenas 2021.

13) Beispielsweise »verwechselte« Ex-Präsident Álvaro Uribe in einem Tweet während des stark polarisierten Klimas des Nationalstreiks von 2021 die Guardia der indigenen Organisation CRIC mit der ELN-Guerilla, siehe: El Espectador 2021.

Literatur

Albarracín, J. et al. (2022): Local competitive authoritarianism and post-conflict violence. An analysis of the assassination of social leaders in Colombia. International Interactions 49(2), S. 237-267.

Cárdenas, M. (2019): “Nicht ohne uns!” Der partizipative Friedensprozess in Kolumbien. W&F 2/2019, S. 13-16.

Cárdenas, M. (2020): Ampliación de derechos étnicos en el marco de la construcción de paz en Colombia. Paradojas del fortalecimiento de las guardias en el Cauca contemporáneo y post-acuerdo. Foro de debate – “Etnicidades en disputa: nuevos caminos, nuevos desafíos”. Iberoamericana 20(75), S. 221-227.

Cárdenas, M. (2023): Why peacebuilding is condemned to fail if it ignores ethnicization. The case of Colombia. Peacebuilding 11(2), S. 185-204.

Cortés, G.; Cárdenas, M. (2021): Die Zivilbevölkerung in Kolumbien darf uns nicht egal sein. Blogbeitrag Wissenschaft & Frieden, 18.5.2021.

Centro de Informacíon sobre Empresas y Derechos Humanos (CIEDH) (2020): Las personas defensoras de los derechos humanos y las empresas en Colombia. März 2020.

Comisión Colombiana de Juristas (2018): ¿Cuáles son los patrones? Asesinatos de Líderes Sociales en el Post Acuerdo. Bogota: Eigenverlag.

DANE (2019): Población indígena de Colombia: Resultados del Censo Nacional de Población y Vivienda 2018. Gobierno de Colombia, 16.9.2019.

DANE (2023): Visibilidad estadística población negra, afrocolombiana, raizal y palenquera. Gobierno de Colombia, 2023.

El Espectador (2021): Álvaro Uribe trina contra el CRIC, borra el mensaje y culpa a sus ayudantes. El Espectador, 5.5.2021.

Escobar, A, (2020): Thinking-feeling with the earth: Territorial struggles and the ontological dimension of the epistemologies of the south. In: De Sousa Santos, B.; Meneses, M. P. (Hrsg.): Knowledges born in the struggle: Constructing the epistemologies of the Global South. New York: Routledge, S. 41-57.

FitzGerald, G. (2021): Pluriversal peacebuilding: Peace beyond epistemic and ontological violence. E-International Relations, 27.11.2021.

Galtung, J. (1972): Gewalt, Frieden und Friedensforschung. In: Senghaas, D. (Hrsg.): Kritische Friedensforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 55-104.

INDEPAZ (2024): Visor de asesinato a personas lideres sociales y defensores de derechos humanos en Colombia. Datenbank, URL: indepaz.org.co/visor-de-asesinato-a-personas, abgerufen am 3.7.2024.

Prieto, L. V. (2022): Paro Nacional 2021: ¿En qué quedó?. Blogbeitrag Fundación Paz & Reconciliación (PARES), 28.4.2022.

Ruette-Orihuela, K. et al. (2023): Necropolitics, peacebuilding and racialized violence: The elimination of indigenous leaders in Colombia. Political Geography 105, 102934.

María Cárdenas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschung befasst sich mit dekolonialen Perspektiven, »Critical Race und Ethnic Studies« sowie der Frage, wie pluriversaler Frieden aufgebaut bzw. pluriversales Peacebuilding operationalisiert werden kann.

Gewaltfreie Frauenproteste in Südafrika

Gewaltfreie Frauenproteste in Südafrika

Widerstand im Spannungsfeld von Rassismus und Ungleichheit

von Rita Schäfer

Heutige Proteste für Geschlechtergerechtigkeit und gegen Femizide lassen sich nicht verstehen ohne historische Kontexte. Denn viele Protestformen, Bezugspunkte und Debatten reichen zurück in den gewaltfreien Widerstand schwarzer Frauen gegen das Apartheidregime. Auch dreißig Jahre nach dem Amtsantritt von Nelson Mandela als erster demokratisch gewählter Präsident 1994 sind zivilgesellschaftliche Proteste von Frauen* weiterhin verbreitet. Demonstrant*innen skandalisieren infrastrukturelle Missstände und die grassierende Korruption in staatlichen Einrichtungen. Eine Einordnung.

Nelson Mandela und seine Regierung des African National Congress (ANC), der als politische Partei aus einer der größten Anti-Apartheidorganisationen hervorgegangen war, versprachen nach demokratisch legitimierten Wahlen grundlegende Verbesserungen in allen Lebensbereichen, ein Ende der Militarisierung der ganzen Gesellschaft und der Gewalt von Polizei und Militär. Denn 1985 hatte das repressive Apartheidregime, das seit 1948 an der Macht war, den Ausnahmezustand verhängt. Dieser hatte bis 1994 bürgerkriegsähnliche Zustände in den Wohngebieten der Schwarzen zur Folge.

Kontext: Langer Weg zu Frauenrechten in Südafrika

Um Gewalt, Rassismus und Diskriminierung zu beenden, wurde auch die Gleichheit aller Südafrikaner*innen in der neuen Verfassung 1996 festgeschrieben. Alle Frauen galten nun endlich unabhängig von ihrem Ehestatus als vollwertige Rechtspersonen. Während der Apartheid und in den Jahrhunderten unter kolonialer Herrschaft waren schwarze Frauen unmündig gewesen; sexuelle Minderheiten wurden kriminalisiert. Damit sollte fortan Schluss sein (Schäfer 2008a, S. 221ff.).

Unter Bezug auf internationale Frauen- und Menschenrechtsabkommen verab­schiedete die ANC-Regierung in der Folge Gewaltschutzgesetze. Sie betrachtete allerdings geschlechtsspezifische Gewalt als eine Reaktion auf die Brutalität des Apartheidapparats und hoffte auf ein baldiges Ende: Vergewaltigungen und sexu­alisierte Folter hatten zur Taktik von Geheimpolizei und deren Handlangern gezählt, um Schwestern oder Freundinnen von Regime­gegnern und gewaltfrei protestierende Frauen zu demütigen.

Die so brutalisierten und von den rassistischen Gesetzen betroffenen Frauen hatten in den Jahren der Apartheid Streiks, Schweigemärsche, (Bus-)Boykotte, Petitio­nen und Versammlungen zur basisdemokratischen Selbstverwaltung organisiert. Diese Aktionen des zivilen Ungehorsams, die sie teilweise bei Treffen in kirchlichen Gemeindezentren und unter der Tarnung als christliche Frauengruppen geplant hatten, stärkten ihre Interessenvertretung, Koordinations- und Kommunikationskompetenzen sowie ihr politisches Denken und Selbstbewusstsein als tragende Säulen im Anti-Apartheidkampf.

Zwar waren – je nach zeitspezifischem Kontext – nicht alle Aktionen erfolgreich: So blieben Petitionen mit über 100.000 Unterschriften und ein friedlicher Massenprotest von über 20.000 Frauen vor dem Regierungssitz in Pretoria gegen repressive Ausweisdokumente (so genannte »Pässe«) 1956 erfolglos. Diese Pässe schränkten Aufenthalts- und Arbeitsmöglichkeiten schwarzer Frauen in den Städten drastisch ein. Dennoch bestärkte die Teilnahme an dieser friedlichen Großdemonstration am 9. August 1956 die Mitwirkenden. In Eigenregie – also ohne dominierende Männer – hatten Frauen unterschiedlicher Herkunft den größten Massenprotest gegen das rassistische Regime organisiert. Vor dem Machtzentrum der Apartheidregierung standen sie eine halbe Stunde lang schweigend, anschließend sangen sie kraftvoll Protestlieder in mehreren Lokalsprachen und die politische Hymne »Nkosi sikelel’ iAfrika« (Gott segne Afri­ka). Ihr Zusammenhalt ermutigte die Demon­strantinnen zu weiterem Widerstand, wie einige in späteren Jahrzehnten in Zeitzeuginnen-Interviews erläuterten (Walker 1991, S. 189ff.).1

Viele der Protestformen des zivilen Ungehorsams gingen unter anderem auf den Juristen und Pazifisten Mohandas Karamchand (Mahatma) Gandhi zurück, der zwischen 1893 und 1914 in Südafrika gearbeitet hatte. Schwarze Frauen organisierten ihren Widerstand aber situationsspezifisch und setzten eigene Akzente, etwa durch symbolreiche Lieder. Dafür nutzten sie Kirchenchöre subversiv.

Spezielle Frauenprobleme – etwa eheliche Gewalt – ordneten die Frauen im Widerstand dem umfassenden Anti-Apartheidkampf unter. Sie wollten dem Apartheidstaat keinen Anlass bieten, Spannungen in der schwarzen Gesellschaft auszunutzen. Denn ihre Analyse war, dass diese Gewaltformen infolge der Apartheid entstanden waren, etwa durch Zwangsumsiedlungen, strukturelle Ausbeutung und Repression, die schwarze Männer erniedrigte und ihr Maskulinitätsverständnis, etwa als sorgende und verantwortungsbewusste Familienvorstände, verhöhnte.

Da die in den 1990er Jahren eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) in Südafrika die Systematik und die zerstörerischen Absichten politisch motivierter Vergewaltigungen aber nicht erfasste, blieb es die Aufgabe von Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftlichen Frauenorganisationen, die Muster aufzudecken, zu dokumentieren und Reparationsforderungen daraus abzuleiten (Meintjes 2009, S. 101ff.).

Von Opfern zu Aktivist*innen

Apartheidopfer bzw. -überlebende gründeten im Kontext der TRC die Organisation »Khulumani Support Group« – das Zulu-Wort Khulumani bedeutet „laut sprechen, aussprechen“ bzw. „das Wort ergreifen“. Sowohl verbal als auch auf großen Stoffbändern meldeten sich Khulumani-Mitglieder zu Wort, schrieben gegen das erlittene Unrecht an und verlangten Reparationen. Sie bezeichneten Vergewaltigungen als rassistische Erniedrigungspraxis, mit der Apartheidsoldaten, -polizisten bzw. deren Schlägertrupps Frauenkörper geschunden hatten.

Überlebende malten ihre Gewalterfahrungen auf so genannte »Body Maps«, lebensgroße Bilder basierend auf Körpersilhouetten. Diese Methode aus HIV-/AIDS-Beratungen übertrugen Kunst- und Traumaexpert*innen auf die Bewältigungsarbeit mit Anti-Apartheidaktivistinnen, zumal etliche Vergewaltigte mit HIV infiziert worden waren. Solche Bilder erstellten sie in geschützten Räumen, wo sie sich gegenseitig dabei unterstützten, erlittenes Leid mit traditionellen und christlichen Symbolen für Krankheiten und Gewalt anzudeuten, etwa mit Schlangen in Frauenkörpern. Ihre Bilder wurden Teil eines selbstbestimmten Archivs visueller Erinnerungen.

Kollektiv gemalte Körper und Erinnerungsszenen nutzten frühere Anti-Apartheidaktivistinnen für ihren zivilgesellschaftlichen Protest, konkret ihre Reparationsforderungen. Öffentlichkeitswirksam organisierten ältere und verarmte schwarze Frauen 2022 und 2023/24 im Rahmen ihrer als »Galela« bezeichneten Kampagne – das Xhosa-Wort heißt übersetzt „Ausschüttung“ – wochen- bzw. monatelange Sleep-ins vor dem Verfassungsgericht in Johannesburg. Das Gerichtsgebäude steht symbolträchtig auf dem Gelände eines früheren Gefängnisses für politische Gefangene – mit nach Hautfarben und Geschlechtern getrennten Trakten. Diesen symbolischen Ort wählten die Aktivist*innen anlässlich nationaler Feiertage, an denen offiziell an Apartheidopfer und -gegner*innen gedacht wird, etwa am nationalen Frauen-, Jugend- und Menschenrechtstag. Unweit der früheren Zellen rollten sie mitgebrachte Decken aus und setzten durch ihre körperliche Präsenz vor diesem hohen Haus ein unübersehbares Zeichen ihres Leidens, das durch den verschleppten Zugang zu Reparationen noch nicht gelindert war (Steyn 2022).

Ihre Körper und künstlerischen Ausdrucksformen setzten sie gezielt als Mittel des zivilen Ungehorsams ein. Nur dürftig vor Kälte oder Hitze geschützt, forderten sie in selbstformulierten Liedern, auf handgeschriebenen Plakaten und Spruchbändern Zugang zu Reparationsgeldern aus einem speziell eingerichteten Präsidentenfond, den das Justizministerium verwaltet. Für die auf großen Stoffbildern angeprangerten Vergewaltigungen während der Apartheid war kein einziger Täter strafrechtlich belangt worden; Vergewaltiger und Auftraggeber hüllten sich während der TRC in Schweigen, mächtige Hintermänner dementierten die Verbrechen.

Dennoch zog der frühere ANC-­Präsident Thabo Mbeki (Amtszeit 1999-2008) einen Schlussstrich unter die Vergangenheitsaufarbeitung durch die TRC. Mbekis Nachfolger Jacob Zuma (Amtszeit 2009-2018) änderte das nicht. Er hatte den Geheimdienst im bewaffneten Untergrund geleitet. Vergewaltigungen durch diese Organisation blieben in der Arbeit der TRC eine Marginalie. Beim Thema Reparationen spielte auch die ANC-Regierung unter Cyril Ramaphosa (2018/19-2024) auf Zeit und verschanzte sich hinter Formalitäten. So blieb aus Sicht früherer Regimegegner*innen nur der gemeinsame zivilgesellschaftliche Protest als Ausweg (Seidman 2020).

Frauenfeindlichkeit und Homophobie

Es sind heutzutage jedoch nicht nur alte schwarze Frauen, die mit zivilem Ungehorsam die ANC-Regierung kritisieren. Jüngere skandalisieren weniger vergangene Fehler, sondern vielmehr gegenwärtige Strukturprobleme – und beziehen sich dabei immer wieder auf Aktionsformen vorangegangener Generationen, gehen aber auch über diese hinaus.

Die aktuellen Probleme lassen sich klar beziffern: Zwischen März 2018 und März 2019 dokumentierte die südafrikanische Polizei 2.771 Femizide, 3.445 versuchte Frauenmorde, 36.597 Vergewaltigungen und 82.728 gewalttätige Angriffe auf Frauen (Gouws 2022). Während der Corona-Pandemie stiegen die Zahlen weiter. 2022 wurden landesweit 3.843 Frauen ermordet. Allein im 2. Quartal 2023 registrierte die Polizei 13.090 Vergewaltigungen und 881 Femizide. Hinzu kommt eine Grauzone nicht dokumentierter Fälle. Vielerorts ist die Polizei untätig und die Justiz überfordert. Nur wenige Täter werden strafrechtlich verfolgt; milde Strafen und vielfache Straffreiheit befördern besitzergreifendes Sexualverhalten.

Dagegen protestieren vor allem schwarze junge Frauen, denn sie bilden die Mehrheit der Gewaltopfer bzw. -überlebenden. Im Unterschied zu Weißen können sie sich vielfach keine Häuser oder Wohnungen mit Sicherheitsanlagen leisten. Das betrifft vor allem verarmte Lesben. Deshalb skandalisieren sie Mehrfachdiskriminierungen aufgrund von Geschlechterhierarchien, Hautfarbe (race) und wirtschaftlicher Ungleichheit (class). Schwarze Lesben organisieren immer wieder Aktionen zivilen Ungehorsams, so bei der Pride in Johannesburg 2012, als sie sich in lila T-Shirts und umrahmt von Bannern mit Aufdrucken »Dying for jus­tice« und »No cause for celebration« zwischen die Feiernden auf die Straße legten, um die von weißen Schwulen dominierte Homosexuellenszene wachzurütteln, was während und nach der Pride Kontroversen zwischen verschiedenen Interessenvertreter*innen sexueller Minderheiten auslöste.

Am 1. August 2018 organisierten Frauenrechtsaktivist*innen, Mitarbeiter*innen von Frauenhäusern, lesbische/trans* Aktivist*innen und Engagierte in HIV/AIDS-Netzwerken große Demonstrationen in vielen Metropolen des Landes. In Kapstadt zogen sie vor das Parlamentsgebäude und in Pretoria vor den Regierungssitz. In Pretoria überreichten sie Präsident Cyril Ramaphosa ein Memorandum mit 24 Forderungen zur verbesserten Strafverfolgung von Vergewaltigern und Vermeidung der Reviktimisierung von Vergewaltigten durch Polizei oder Justiz sowie zu systematischen staatlichen Präventionsmaßnahmen. Die Zahl 24 bezog sich auf die Jahre seit den ersten demokratischen Wahlen und dem Amtsantritt von Präsident Nelson Mandela 1994 (Gouws 2018). Einzelne Frauen trugen blutrot getränkte südafrikanische Fahnen, um den ANC anzuprangern, der aus ihrer Sicht das Versprechen von Freiheit und Gleichheit gebrochen hatte.

Ihre Kritik verstärkten sie durch den Zeitpunkt ihrer Proteste: Den Beginn des nationalen Frauenmonats, der anlässlich des nationalen Frauentags am 9. August den Anti-Passprotest von Regimegegnerinnen 1956 zelebriert. In Sprechgesängen, die teilweise auf Lieder von 1956 Bezug nahmen, skandalisierten die Demons­trant*innen das Versagen staatlicher Institutionen und die Frauenverachtung vieler Männer. Dabei trugen sie selbstgestaltete Plakate, die an Ermordete erinnerten, und befestigten großformatige Fotos mit deren Namen an den Sicherheitszäunen von Regierungsgebäuden. Für diese Opfer hatte es weder Sicherheit noch Schutz gegeben.

Ihre Trauer brachten die Demonstrant*innen auch mit ihrer Kleidung zum Ausdruck: Schwarze T-Shirts mit blutroten Schriftzügen, die ihre Kampagne mit Forderungen nach einem Ende der Gewalt auf den Punkt brachten, unterstrichen wirkungsvoll ihre Einheit. Das Motto, also die klare Haltung gegen körperliche Übergriffe: „My body, not your crime scene“, hatten etliche auch auf ihre Haut geschrieben. Damit meinten sie nicht nur einzelne Täter, sondern Strukturprobleme. Südafrika war wie viele Staaten auf dem afrikanischen Kontinent ein Postkonfliktland; während der internationalen AWID-Frauenrechtskonferenz 2008 – also zehn Jahre zuvor – hatten Südafrikaner*innen gemeinsam mit ostafrikanischen Friedensaktivist*innen eine große Demonstration durch Kapstadt organisiert. Ihr Motto lautete: „Kein Krieg auf Frauenkörpern, denn die Gewaltraten in Südafrika waren so hoch wie sonst nur in Kriegsgebieten (Schäfer 2008b, S. 70ff.).

Mit ihrer Kampagne »#Total Shut Down« forderten die Anti-Gewaltaktivist*innen wie bei Generalstreiks während der Apartheid den Stillstand täglicher Aktivitäten, das hielten sie angesichts der dramatischen Ausmaße und Folgen der Gewalt für angemessen. Bei Sportveranstaltungen, die als Inbegriff maskuliner Selbstbestätigung galten, forderten sie Männer auf, ihre Solidarität mit Frauen zu beweisen, während der Proteste die Kinderversorgung und Hausarbeit zu übernehmen, aktiv gegen sexualisierte und andere Gewaltpraktiken vorzugehen und Tätern Paroli zu bieten. Beispielhaft für Solidaritätsbekundungen waren feministisch orientierte, zivilgesellschaftliche Gender-Organisationen, die am Einstellungswandel von Männern arbeiten, allen voran »Sonke Gender Justice«. Eine Schaltstelle der Frauenrechtsorganisationen war »People Opposition ­Women Abuse« (POWA), die seit Jahrzehnten Gewaltprävention und Opfer- bzw. Überlebendenhilfe verbindet. Etliche von jungen feministischen Aktivist*innen gestartete Social Media-Kampagnen wie #MenareTrash, #EndRapeCulture oder #WomenforChange erreichten breite urbane Bevölkerungskreise und erhöhten den zivilgesellschaftlichen Druck auf die Regierenden (Gouws 2018).

Damit erzielten sie gewisse Erfolge. Denn Präsident Cyril Ramaphosa, der selbst aus der Gewerkschaftsbewegung kam, regierte auf einige Forderungen der Protestierenden und lud Anfang November 2018 zahlreiche Vertreter*innen aus verschiedenen Gruppen und Organisationen zu einem Kongress ein. Er erklärte geschlechtsspezifische Gewalt und Femizide zur nationalen Krise und kündigte einen nationalen Strategieplan an, der Gelder für die Strafermittlungsbehörden, die Opfer- bzw. Überlebendenhilfe und die Prävention vorsehen sollte und 2020 veröffentlicht wurde. Während der Corona-Pandemie verhängte die ANC-Regierung einen strengen Lockdown, Präsident Ramaphosa bezeichnete geschlechtsspezifische Gewalt als zweite Pandemie, der mit einem Verbot des Alkoholverkaufs und besonderen Sozialhilfeleistungen für arme Menschen begegnet werden sollte. Solche Maßnahmen sollten häusliche Gewalt, etwa aus Finanznot, vermeiden. Dennoch belastete und schädigte diese viele Frauen weiterhin.

Die Gewaltschutzgesetze und das Strafrecht gegen Vergewaltiger und Frauenmörder wurden 2022 novelliert, dem folgte ein Gesetz gegen Hassgewalt. Ob diese Gesetzesnovellen und ein neuer nationaler Rat zu Gender-Gewalt reale Änderungen bringen, werden feministische Aktivist*innen weiter beobachten. In zivilem Ungehorsam als Protestform gegen Missstände haben sie Erfahrung – und sie werden den notwendigen Wandel sicherlich lautstark und sichtbar einfordern.

Anmerkung

1) Erinnerungen berühmter und weniger bekannter Aktivistinnen dokumentieren (Auto-)Biographien in unterschiedlichen Landessprachen, historische Fachpublikationen und elektronische Informationsportale zur Geschichte Südafrika wie »SAHA«, »SAHistory« und »Overcoming Apartheid«. Diese Portale richten sich an die interessierte Öffentlichkeit und Lehrkräfte sowie Schüler*innen in Sekundarschulen. An den Women’s March 1956 erinnern auch archivierte Poster, etwa ein ikonographisches Aktivistinnen-Porträt – gestaltet von der Künstlerin und früheren Untergrundkämpferin Judy Seidman (Lissoni 2019).

Literatur

Gouws, A. (2018): South Africa may finally be marching towards solutions to sexual violence. The Conversation, 08.08.2018.

Gouws, A. (2022): Rape is endemic in South ­Africa. Why the ANC governemnt keeps missing the mark. The Conversation, 04.08.2022.

Lissoni, A. (2019): Art as a weapon in South Afri­cas’ liberation struggle. The Conversation, 18.12.2019.

Meintjes, S. (2009): ‚Gendered truth’? Legacies of the South African Truth and Reconciliation Commission. African Journal of Conflict Resolution 9(2), S. 101-112.

Schäfer, R. (2008a): Im Schatten der Apartheid. Frauen-Rechtsorganisationen und geschlechtsspezifische Gewalt in Südafrika. 2. aktualisierte Auflage, Münster-Hamburg-Berlin: Lit-Verlag.

Schäfer, R. (2008b): Frauen und Kriege in Afrika. Eine Gender-Analyse. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel Verlag.

Seidman, J. (2020): The unfinished business of the TRC is killing us, say Apartheid’s victims. Daily Maverick, 08.11.2020.

Steyn, D. (2022): Nearly R2 billion for apartheid reparations is unspent. The President’s Fund is growing as apartheid victims wait. Ground up, 12.12.2022.

Walker, Ch. (1991): Women and resistance in South Africa. Cape Town: David Philip Publishers.

Dr. Rita Schäfer ist freiberufliche Afrikawissenschaftlerin mit Forschungsschwerpunkt Gender in Südafrika und lebt in Bonn/Bochum.

Keine wahre Revolution ohne feministische Vision

Keine wahre Revolution ohne feministische Vision

Das Beispiel der algerischen Bewegung El-Hirak

von Lilly Roll-Naumann

Eine revolutionäre Bewegung strebt klassischerweise den Sturz der Regierung oder des Staates an – so ein häufiges Narrativ. Dieses staats- und strukturfokussierte Verständnis von Revolution unterwandern Frauen und feministische Aktivist*innen. Sie bringen ein subversives und transformatives Potential in die Bewegungen, die Gesellschaft umfassend und nachhaltig zu verändern. Das Beispiel feministischer Stimmen in der algerischen revolutionären Bewegung El-Hirak verdeutlicht, inwiefern der revolutionäre Anspruch der Bewegung ohne diese Stimmen unvollständig bliebe.

Der Beginn der 2010er Jahre war im Nahen Osten und in Nord­afrika von einer beispiellosen Protestwelle revolutionärer Umwälzung geprägt. Für einen Moment schaute die ganze Welt mit Spannung auf die zivilen Proteste. Ähnlich schnell wurden die Bewegungen jedoch für gescheitert und die Demokratisierung in der Region für begraben erklärt, mit Schrecken wird besonders an die zum Teil noch andauernden Bürgerkriege gedacht. Eine Perspektive, die Erfolg und Scheitern von revolutionären Bewegungen binär, monokausal und linear misst, etwa an „schnellen, grundlegenden Veränderungen der Staats- und Klassenstrukturen einer Gesellschaft“ (Skocpol 1979, S. 4), versperrt jedoch den Blick auf subtilere Veränderungen wie beispielsweise das geschärfte Bewusstsein der Bürger*innen für die Macht kollektiven Handelns (Stephan und Charrad 2020, S. 6).

Acht Jahre nach den Bewegungen des sogenannten »Arabischen Frühlings«1 ereignete sich eine erneute starke Protestwelle in der Region – im Sudan, in Algerien, im Irak und im Libanon. Was bei näherer Betrachtung dieser Proteste auffällt und an die früheren Bewegungen erinnert, ist die Schlüsselrolle, die Frauen darin einnahmen – noch dazu unterschiedlichsten gesellschaftlichen Status und an der Spitze der Proteste. Doch ihre Rolle ging darüber hinaus, den friedlichen Charakter der Proteste aufrecht zu erhalten.2

Denn, wie die syrische revolutionäre Aktivistin Samer Yazbek weiß, „[d]er Sturz der Diktatoren quer durch die arabische Welt markiert den Beginn der wahren Revolution“ (2012, S. 6, Hervorhebung hinzugefügt). Diese liegt in der „Kontinuität des revolutionären Aktivismus, des revolutionären Bewusstseins und der revolutionären Kreativität von Frauen, so miriam cooke (2016, S. 43). Frauen und Feminist*innen verleihen Revolution eine Dimension, die das populäre Verständnis von revolutionärem Wandel im Sinne einer umfassenden und nachhaltigen Transformation von Gesellschaft und Mentalitäten vertieft. Ohne ihre Beteiligung sind zivile Widerstandsbewegungen mit revolutionär-transformatorischem Anspruch unvollständig.

Dies wurde auch in der algerischen revolutionären Bewegung El-Hirak deutlich, die im Februar 2019 aus Protest gegen die fünfte Amtszeit des seit 20 Jahren regierenden Präsidenten Abdelaziz Bouteflika begann und sich bald zu einer Bewegung entwickelte, die einen vollständigen Regimewechsel forderte. Die wöchentlichen Proteste hielten über ein Jahr lang an, bis die Covid-19-Pandemie und deren Instrumentalisierung durch das Regime die Bewegung von der Straße ins Internet verdrängte, wo sich die Verfolgung und Kriminalisierung von Aktivist*innen fortsetzte. Letztlich überdauerte das autoritäre Regime und konsolidierte sich, während die Bewegung heute weitreichend als stark geschwächt bis „verschwunden“ (Martinez und Boserup 2024) betrachtet wird.

Frauen im ganzen Land beteiligten sich in großem Umfang an der Protestbewegung. Einerseits war das in einem stark patriarchal geprägten Land, in dem Frauen auf vielen Ebenen der Gesellschaft marginalisiert werden, für viele eine Überraschung. Andererseits hat das Engagement algerischer Frauen eine lange Tradition, die schon bis zum anti-kolonialen Kampf zurückreicht. Die feministische Bewegung innerhalb des Hirak zeigte sich als politischer Akteur der revolutionären Bewegung sehr aktiv und verband den Kampf für Geschlechtergerechtigkeit mit dem Kampf für einen Regimewechsel.

Ich möchte am Beispiel des Hirak illustrieren, welche Rolle feministische Stimmen darin durch die Formulierung der Vision eines „Gesellschaftsprojekt[es]“ (B, 79) im Sinne einer umfassenden und nachhaltigen Transformation spielten. Der Kampf von Frauen und feministischen Aktivist*innen um die Akzeptanz ihrer Präsenz gegen Widerstände war gleichzeitig der Kampf für eine Vision, die der repräsentativen und inhaltlichen Selbstkonzeption der revolutionären Bewegung entsprach. Ihr Kampf garantierte, dass die Bewegung im Einklang mit ihrem ideellen Selbstbild blieb. Die Erkenntnisse basieren auf der Analyse von sieben Interviews mit vier algerischen feministischen Aktivistinnen innerhalb der Hirak-Bewegung zwischen Dezember 2019 und Januar 2020. Die Interviewdaten sind eingebettet in Beobachtungen aus einer sechsmonatigen Feldforschungsphase von Mai bis November 2019.

Doppelter Kampf um Akzeptanz in der Bewegung

Um den Kampf der revolutionären Bewegung an der Seite der männlichen Hälfte der Gesellschaft austragen zu können, mussten Frauen erst die Akzeptanz ihrer Präsenz im öffentlichen Raum und in der patriarchalen Gesellschaft erkämpfen. Meine Interviewpartnerin Manel B.3 bezeichnete das Verwandeln des Protestfreitags in einen „gemischte[n] Tag, an dem Frauen rausgehen und Männer auch rausgehen“, als eine „Niederlage des Konservatismus“ (B, 101). Dieser Akt des Widerstands gegen das Patriarchat erwies sich insbesondere in kleinen traditionellen Städten als außergewöhnlich, „wo die gemischte Gesellschaft zwar sichtbar, aber fast verboten ist“ (A III, 121). Die revolutionäre Präsenz von Frauen repräsentierte meinen Interviewpartnerinnen zufolge ihre „Entscheidung, vollwertige Bürger­innen zu sein und zu werden“ (ebd., 14). Ihre Forderungen waren somit dieselben wie die der Gesamtbewegung, „mit einer einzigen Besonderheit […]: als Bürgerinnen anerkannt zu werden und Gleichstellung konkretisiert zu sehen“ (D, 33). Die Wiederaneignung der Staatsbürgerschaft war Ausdruck eines inneren Prozesses der Selbsterkenntnis, infolgedessen Frauen ihre Teilnahme an einer Demonstration nicht mehr zur Debatte stellten und ihren Familien gegenüber impulsiv mit den Worten erklärten: „Ich bin eine Bürgerin, ich bin betroffen“ (B, 102). Dasselbe galt in Beziehung auf die Gesellschaft:

„Jedes Mal, wenn es einen Aufruf in den sozialen Medien gibt, in dem es heißt: ‚Frauen haben auf der Straße, im Hirak nichts zu suchen!‘, ‚Lass deine Schwester nicht rausgehen!‘, ‚Lass deine Tochter nicht rausgehen!‘ – und die Reaktion kommt sogar von Frauen, die gegen die feministische Bewegung sind. Die Reaktionen sind außergewöhnlich: ‚Nein! Nein! Nein!‘“ (ebd., 107)

Die feministische Bewegung kämpfte im Hirak ebenfalls einen „doppelten Kampf: einen Kampf für den allgemeinen Kampf, wo sich alle einig sind – den Kampf, wo wir das System weghaben wollen. [Und] den individuellen Kampf – nun, nicht individuell – den spezifischen Kampf der feministischen Bewegung. Unseren Kampf als Frauen“ (ebd., 73). So wurde etwa das »carré féministe«, der feministische Block im Protestmarsch in Algier, bedroht und angegriffen (A III, 31-36). Doch „[d]ie Angriffe begannen nicht auf der Straße“ (B, 75) und „nicht nur in dem, natürlich, was man über die islamistische Bewegung weiß, von Seiten der Konservativen, von Seiten der repressiven Machthaber – aber Achtung – sogar auch viel innerhalb dessen, was man für die demokratische Bewegung oder die progressive Bewegung hält“ (A III, 94).

Wie in der Vergangenheit wurde der feministischen Bewegung die historisch bekannte Ablenkungsphrase präsentiert, es sei „nicht der richtige Zeitpunkt“ (B, 58-61), mit der Frauen schon während des Aufbauprozesses der Nation nach dem Unabhängigkeitskrieg „geopfert wurden“ (ebd.). Dies wurde besonders deutlich, als ihre Bemühungen, Frauenrechte im Fahrplan für einen demokratischen Übergang zu verankern, innerhalb des entsprechenden zivilgesellschaftlichen Kollektivs blockiert wurden. Als der Begriff »Gleichberechtigung« unter dem Vorwand, einen politischen Konsens schaffen zu wollen, vollständig aus dem endgültigen Konsenstext der nationalen Konferenz »Consenus Élargi« gestrichen wurde (A III, 53), „handelte“ (ebd., 78) die feministische Bewegung. Vertreten durch eine Reihe von Frauenorganisationen, boykottierte sie die Konferenz in letzter Minute, was „die Mediatisierung und Sichtbarkeit der Forderungen der Frauen erhöhte“ (ebd., 76-79).

Manel B. beschrieb die in der Bevölkerung wachsende Akzeptanz der Selbstkonzeption der feministischen Bewegung im Hirak als ein erstes zentrales Ergebnis ihres doppelten Kampfes:

„Es gab eine Entwicklung […] Das Wort ‚Feminist*innen‘, in den Anfängen des Hirak war es wirklich: ‚Was ist das?‘, ‚Das ist eine fremde Hand!‘, ‚Das ist etwas, das aus dem Ausland kommt, aus dem Westen!‘, dies und das. Jetzt [sagen] alle, auch die, die uns hassen: ‚Die algerischen Feminist*innen.‘ Das war‘s.“ (ebd., 82)

Forderung nach Unabhängigkeit bleibt doppelt unerfüllt

Die revolutionäre Bewegung rahmte ihren Protest als den Kampf für eine zweite Unabhängigkeit durch einschlägige Sprechchöre, Banner und eine symbolische Omnipräsenz der algerischen Nationalflagge. Worte wie die eines Graffitis in Algier-Centre illustrierten dies: „1962 indépendance du sol, 2019 indépendance du peuple“ (1962 Unabhängigkeit des Bodens, 2019 Unabhängigkeit des Volkes). Die Bewegung brachte damit ihre Forderung nach Freiheit und Würde zum Ausdruck – dem uneingelösten Versprechen, das die Staatsbürgerschaft für das algerische Volk nach der Unabhängigkeit enthielt. Für Frauen blieb es in doppeltem Sinne unerfüllt. So wurden sie nach der Revolution zweifach um ihre vollwertige Staatsbürgerschaft betrogen – als Algerierinnen im neuen Staat und als Frauen. Während Frantz Fanon argumentierte, dass der algerische Unabhängigkeitskrieg die patriarchale Familienstruktur erschüttert hätte und das Ende der patriarchalen Strukturen markiere (1967, Kap. 3), widerlegen die tatsächlichen Ereignisse nach der Unabhängigkeit diese These. „Im Krieg waren wir alle gleich – erst danach wurde uns die Staatsbürgerschaft entzogen“, berichtete eine ehemalige »moudjahida« (weibliche Unabhängigkeitskämpferin, zitiert in Turshen 2002, S. 893). Eine „klassische Tendenz in Revolutionen“ (Bouatta 1997, S. 2) ist der Glaube, dass die Befreiung, die das Ziel einer bestimmten Revolution ist, weitere Freiheiten mit sich bringen würde, auch für Frauen. Für Algerien gilt: Zwar erhielten Frauen einige Positionen im Parlament und in anderen gesellschaftlichen Bereichen, doch blieben diese symbolisch. „Ein langsamer Rückschritt des weiblichen Zustands […] gipfelte in der Verabschiedung des Familiengesetzes im Juli 1984“ (ebd. 1994, S. 23). Dieser auf der islamischen Scharia basierende Gesetzestext verlieh Frauen einen untergeordneten Status gegenüber Männern. Cherifa Bouatta beschreibt dies als einen rechtlichen Dualismus, der den Status der Frauen „einerseits als Bürgerinnen gemäß der Verfassung, dem Strafgesetzbuch und der Arbeitsgesetzgebung“ und andererseits als „Minderjährige unter männlicher Vormundschaft gemäß dem Familiengesetzbuch“ institutionalisierte (1997, S. 6).

Die Forderung der feministischen Bewegung innerhalb des Hirak war somit eine historische. Entsprechend ordnete sich ihr Kampf in ein historisches Kontinuum (A III, 109) für den Wandel kämpfender algerischer Frauen ein: „Wir sprechen von einem Erbe des Kampfes der Frauen in Algerien. Sie sind Heldinnen, die Schlachten gegen den Kolonialismus geschlagen haben. Selbst während der Revolution haben sie ihre Gleichberechtigung durch ihre Präsenz hergestellt, sie haben sie demonstriert“ (A II, 45, zitiert nach Gedächtnisprotokoll). Meine Interview­partnerin Farida A. hob besonders zwei Etappen hervor: die Kämpfe gegen die koloniale Eroberung vor und während des Befreiungskriegs und den weiblichen und feministischen Widerstand gegen den islamistischen Terror der 1990er Jahre (ebd. III, 104-105; 119). Den Kampf von Frauen und Feminist*innen im Hirak konzipierte sie als dritte Etappe zur Illustration des historischen Kontinuums (ebd., 104). Indem die feministische Bewegung ihre revolutionäre Präsenz in einem historischen Kontinuum kämpfender algerischer Frauen konstruierte, unterstreicht sie die Legitimität der weiblichen Präsenz und der feministischen Forderung in der Hirak-Bewegung.

Keine wahre Revolution ohne Frauen und feministische Komponente

Die Präsenz von Frauen und die feministische Vision war für die Selbstkonzeption der revolutionären Bewegung in repräsentativer wie inhaltlicher Hinsicht essentiell. Für deren Selbstverständnis war es zentral, von „dem Volk“ auszugehen, da dieses im Mittelpunkt des identitätsstiftenden Narratives eines Kampfes für eine zweite Unabhängigkeit stand. Frauen und Feminist*innen waren es, die dafür sorgten, dass die Bewegung in Hinsicht auf Geschlecht tatsächlich „das Volk“ repräsentierte und nicht nur einen Teil davon. Hadjer D. beschrieb dies folgendermaßen:

„Es waren die Frauen, die etwas bewirkt haben […]. [Sie] haben dem Hirak durch ihre Präsenz eine andere Dimension verliehen. In einer konservativen Gesellschaft gibt es nicht nur Männer. […] Die Frauen sind da, sie sind auf der Straße, sie haben den öffentlichen Raum besetzt. Und es ist nicht der Hirak, der ihnen den öffentlichen Raum gegeben hat. (ebd., 28)

Die Hirak-Bewegung wurde auch als „la révolution citoyenne“ (die Bürgerrevolution, wortwörtlich: die bürgerliche Revolution) bezeichnet, was das Selbstverständnis der Bewegung als bürgerschaftliche Bewegung widerspiegelt. Dieses beinhaltet einerseits die Tatsache, dass sie von Bürger*innen geführt wurde – gegen den Widerstand eines Militärs, das sich „der Entstehung der Bürgerschaft widersetzt, indem es die Zivilgesellschaft erstickt“ (Addi 2012, S. 112) und inmitten der „sozialen Pathologie [eines] Staates, dessen „politisches System gegenüber der verantwortungsvollen Beteiligung der Bürger*innen verschlossen [ist]“ (Kedidir 2020, Abs. 6). Darüber hinaus umfasst es den Bürgersinn, den die Bewegung in ihrer Haltung und Praxis verkörperte. Farida A. sprach im Interview von dem „Geist der Bürgerrevolution“, der auf der Verhaltensebene wirkte und Mitglieder dazu anregte, „im Einklang [mit ihm] zu sein“ (ebd. III, 47). Sara C. konzipierte dies als neu entwickeltes „staatsbürgerliches Bewusstsein“ (ebd., 63), in dessen Sinne Mitglieder einen Wandel „im Einklang mit [ihren] aktuellen Ambitionen“ (ebd.) forderten: nicht nur auf der Ebene von Strukturen, sondern auch von Gesellschaft und Mentalität (ebd.). Grundlegend für diesen Bürgersinn war praktizierte Toleranz, die Frauen und Feminist*innen im revolutionären Raum lebten und durch ihre Präsenz einforderten:

Was passiert ist, ist, dass wir […] gezwungen waren, uns gegenseitig zu akzeptieren. Wir waren gezwungen, für die Sache toleranter zu werden. Zugegeben, es gibt frauenfeindliche Männer, es gab Konservative, es gibt Leute, die Islamisten sind, aber […] wir haben eine gemeinsame Sache zu erreichen. Das ist ein Wandel.“ (ebd., 40)

Zweites wesentliches Element des Bürgersinns und des zivilen Selbstverständnisses der Bewegung war die „berühmte silmiya [Friedlichkeit]“ (A III, 9): „Markenzeichen, Geburtsurkunde und Ausweis der algerischen Bewegung“ (ebd., 10). Die Vorstellung, dass Frauen eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung des friedlichen Charakters der Proteste spielten, ist weithin anerkannt (ebd., 11). So wurde die Präsenz von Frauen in der Bewegung einerseits als „wichtiges Mittel zur Aufrechterhaltung der (…) silmiya“ (ebd., 9) und andererseits als „massive Abschreckungswaffe gegen die Repression“ (ebd., 8) bezeichnet. In diesem Verständnis erwiesen Frauen sich als unerlässlich für das Überleben der revolutionären Bewegung durch ihre friedensstiftende Wirkung in die Bewegung hinein wie nach außen.

Die feministische Bewegung kämpfte dafür, dass die revolutionäre Bewegung „im Einklang mit dem Geist der Bürgerrevolution“ (ebd., 47) blieb. Mit dem Verweis auf die Forderung der Hirak-Bewegung nach Demokratie deckten die interviewten Aktivistinnen die Widersprüche zwischen den Forderungen der Demonstrant*innen und ihren Einstellungen und Verhaltensweisen auf:

„Viele sagen ‚El Djazaïr horra dimocratiya‘ – ‚Freies und demokratisches Algerien‘, aber ohne zu wissen, was diese Demokratie für einige bedeutet. Ist es möglich, eine Demokratie zu haben, während man Homosexuelle diskriminiert, während man Frauen diskriminiert, während man dieses oder jenes Mitglied der Gesellschaft diskriminiert?“ (B, 74)

Farida A. beschrieb im Interview einen vergleichbaren Erkenntnisprozess bei Männern, die im Einklang mit dem Geist der Bürgerrevolution [sein wollten und] urteilten […], dass sie nicht Meinungs- und Informationsfreiheit fordern […] und Frauen [gleichzeitig] ihre Unterstützung oder Solidarität verweigern konnten, die zu Unrecht angegriffen wurden, weil sie Gleichberechtigung forderten“ (ebd. III, 47). Die feministische Bewegung unterstrich, dass ihre Forderungen sich komplett in den demokratischen Geist der revolutionären Bewegung einordneten: „Die Forderungen sind dieselben. […] Wir wollen einen demokratischen Staat, es ist in diesem demokratischen Staat, dass Freiheit und Gleichheit garantiert werden müssen“ (D, 33). Entsprechend konstruierte sie ihre physische Präsenz in Form des »carré féministe« „ganz in die Bewegung eingeschrieben“ (A I, 92), wo sie zu einem Ort wurde, „der vereinend sein könnte […] und eine Bedeutung haben könnte in dieser Konstruktion der Staatsbürgerschaft für Frauen, natürlich, aber warum nicht auch Staatsbürgerschaft für Frauen und Männer zusammen“ (ebd. III, 30) – „um zu demonstrieren, dass die Frauenfrage [lacht], [nicht] nur den Frauen gehört“ (ebd., 50).

Die feministische Bewegung im Hirak verdeutlichte die Verwobenheit des revolutionären und des feministischen Kampfes, indem sie rhetorisch wie praktisch demonstrierte, dass die Forderung nach Gleichberechtigung in den revolutionären Anspruch eingebettet sein muss. Weibliche Handlungsmacht und der feministische Kampf wurden so praktisch vorgelebt und gleichzeitig zur Bedingung für die Erfüllung des demokratischen Versprechens der Hirak-Bewegung im revolutionären Prozess selbst sowie in der postrevolutionären Zukunft. Dieses Beispiel illustriert eindrucksvoll: Ohne feministische Perspektive weist das Verständnis zivilen Widerstands blinde Flecken auf, ebenso wie große gesellschafts-transformatorische Bewegungen ohne feministische Komponente inkonsequent und in sich unvollständig bleiben.

Anmerkungen

1) Die Bezeichnung »Arabischer Frühling« ist problematisch, da sie eine homogene arabische Bevölkerung in einer großen, ethnisch heterogenen Region suggeriert. Darüber hinaus impliziert die Metapher, dass die Menschen in der Region aus einem Winter ohne Widerstand und Anfechtungsmobilisierung aufgewacht seien (Beinin und Vairel 2013, S. 8f.).

2) In 99 % der mittels des »Women in Resis­tance«-Datensatzes untersuchten gewaltfreien Kampagnen waren Frauen an vorderster Front beteiligt. Je größer ihre zahlenmäßige Beteiligung, desto größer die Korrelation mit gewaltfreien Methoden, selbst in sehr repressiven Kontexten (Chenoweth 2019, S. 1f.).

3) Die Namen der Interviewpartnerinnen wurden geändert, um ihre Identität zu schützen.

Literatur

Addi, L. (2012): Algérie: Chroniques d’une expérience postcoloniale de modernisation. Algier: Barzakh.

Beinin, J.; Vairel, F. (2013): Introduction: The Middle East and North Africa beyond classical Social Movement Theory. In: Dies. (Hrsg.): Social movements, mobilization, and contestation in the Middle East and North Africa (2. Aufl.). Stanford: Stanford University Press, S. 1-29.

Bouatta, C. (1994): Feminine militancy: Moudjahidates during and after the Algerian War. In: Moghadam, V. M. (Hrsg.), Gender and national identity: Women and politics in Muslim societies. London: Zed Books, S. 18-39.

Bouatta, C. (1997): Evolution of the women’s movement in contemporary Algeria: Organization, objectives and prospects. The United Nations University, WIDER Working Papers 124.

Chenoweth, E. (2019): Women’s participation and the fate of nonviolent campaigns: A report on the Women in Resistance (WiRe) data set. Broomfield: One Earth Future Foundation.

cooke, m. (2016): Women and the Arab Spring: A transnational, feminist Revolution. In: Sadiqi, F. (Hrsg.): Women’s movements in post-“Arab Spring” North Africa. New York: Palgrave Macmillan US, S. 31-44.

Fanon, F. (1967 [1959]): A dying colonialism (Chevalier, H., Übers.). New York: Groove Press.

Kedidir, M. (2020): Le Hirak : Les marches pour la « reconnaissance ». Insaniyat 87, S. 93-110.

Martinez, L.; Boserup, R. A. (2024): Introduction – The disappearing of Algeria’s Hirak. In: Dies. (Hrsg.): The disappearing of Algeria’s Hirak. Paris: Les Dossiers du CERI, S. 8-19.

Skocpol, T. (1979): State and social revolutions. Cambridge: Cambridge University Press.

Stephan, R.; Charrad M. (2020): Introduction: Advancing women’s rights in the Arab world. In: Dies. (Hrsg.): Women rising: In and beyond the Arab Spring. New York: New York University Press, S. 1-12.

Turshen, M. (2002): Algerian women in the liberation struggle and the civil war: From active participants to passive victims. Social Research 69(3), S. 889-911.

Yazbek, S. (2012): A woman in the crossfire: Diaries of the Syrian Revolution. London: Haus Publishing.

Lilly Roll-Naumann, M.A. Peace and Conflict Studies, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Konfliktakademie »ConflictA« am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Sie forscht zu gewaltfreier Konflikttransformation, Dialog und Dialogformaten und lässt die Erkenntnisse in die eigene Trainings- und Formatentwicklung einfließen.

Kurzprofil: Konfliktakademie ConflictA

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Die Konfliktakademie »ConflictA« ist ein vom BMBF finanziertes Projekt am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld (seit 2023). Unter dem Leitsatz „Konflikte beforschen, besprechen, bearbeiten und daraus lernen“ entsteht in stetig wachsendem Austausch mit zivilgesellschaftlichen Akteuren ein Ort der Verständigung über gesellschaftliche Konflikte in Deutschland – auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Die ConflictA betrachtet, wie sich globale Krisen in lokale Konflikte übersetzen und wie gesellschaftliche Veränderungen in und durch Krisen und Konflikte verlaufen. Sie erforscht dabei u.a. Fragen nach den sozial-kulturellen und politisch-institutionellen Bedingungen gesellschaftlicher Konflikte und deren Aushandlung.

In einer transdisziplinären, partizipativen Arbeitsweise trägt die ConflictA dazu bei, Konfliktverständnis und -fähigkeit der Menschen in der Gesellschaft zu fördern. Sie entwickelt Ansätze der Konfliktbearbeitung und vermittelt Konfliktwissen und -kompetenz.

Dialogformate und Ansätze zur Jugendpartizipation sind dabei ebenso Teil der Konfliktakademie wie eine Befragung zu Konfliktverständnissen in der Bevölkerung oder die wissenschaftliche Begleitung kommunaler Konfliktbearbeitung.

Jenseits von NAVCO

Jenseits von NAVCO

Neue Datensätze zu zivilem Widerstand

von Julia Nennstiel

In der quantitativen Forschung zu zivilem Widerstand ebenso wie in friedensbewegten Bezugnahmen auf diese Forschung nimmt die von Chenoweth und Stephan publizierte Studie »Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict« (2011) und der ihr zugrundeliegende »Nonviolent and Violent Campaigns and Out­comes«-Datensatz (NAVCO) eine prominente Rolle ein. Doch stehen mittlerweile zahlreiche weitere Datensätze zur Verfügung, die sich zur quantitativen Untersuchung zivilen Widerstands eignen. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über diese Datensätze. Ein kritischer Vergleich mit NAVCO zeigt, dass die jüngeren Datensätze es ermöglichen, neue bewegungsrelevante Forschungsfragen zu zivilem Widerstand zu stellen und alte Fragen differenzierter zu bearbeiten.

Die Studie von Chenoweth und Stephan (2011) lässt sich wohl als ein »neuer Klassiker« der empirischen Forschung zu zivilem Widerstand bezeichnen. Sie beanspruchte, die Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands quantitativ zu prüfen – mit dem wohlbekannten und häufig zitierten Befund, dass „gewaltfreie Widerstandskampagnen fast doppelt so häufig kompletten oder partiellen Erfolg erzielten, wie ihre gewaltsamen Alternativen“ (ebd., S. 7). Als Kernstück des Projekts diente der NAVCO-Datensatz, der weltweit zwischen 1900 und 2006 erfolgte gewaltsame und gewaltfreie Widerstandskampagnen auflistete und deren jeweilige Dauer, Größe, ihren Ausgang u.a. erfasste.

Die Studie erhielt seither beachtliche wissenschaftlich-politische Aufmerksamkeit. Zum einen schien ihre quantitative Analyse der Forschung zu zivilem Widerstand eine bis dato nicht gegebene »methodische Wissenschaftlichkeit« im Sinne der US-amerikanisch geprägten empirischen Politikwissenschaft zu verleihen. Damit stieß sie eine Vielzahl neuer Untersuchungen zu zivilem Widerstand an, vor allem auch in Forschungskreisen, die sich dieser empirisch-quantitativen Schule verschrieben haben. Zum anderen fand die Studie von Chenoweth und Stephan weitreichende Resonanz unter (friedens-)politisch aktiven Menschen. Neben Klassikern der Gewaltfreiheit wie etwa Mohandas Gandhi oder Gene Sharp zitiert, dient sie als der empirische Nachweis der Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands. Als besonderer Vorzug erscheint dabei die durch den globalen Datensatz gewonnene Universalität und Generalität der Ergebnisse. Sowohl für empirische Forschung als auch für aktivistisch-politische Bezugnahmen dienen die NAVCO-Datensätze – welche mittlerweile aktualisiert (NAVCO 1.3 umfasst den Zeitraum 1900-2019) und um alternative Analyseeinheiten wie Widerstandskampagnen-Jahre (NAVCO 2.1, Chenoweth und Lewis 2013) sowie -Ereignisse (NAVCO 3.0, Chenoweth et al. 2018) erweitert worden sind – nach wie vor als Kernreferenz.

Diese Popularität verdeckt, dass mittlerweile eine ganze Bandbreite weiterer Datensätze vorhanden ist, die sich für empirische Untersuchungen über zivilen Widerstand nutzen lassen (vgl. Tabelle, S. 14). Viele dieser Datensätze sind im Vergleich zu NAVCO begrenzt hinsichtlich Zeitraum, Region oder Art der erfassten Widerstandsbewegungen – häufig ermöglichen sie aber differenziertere, vielseitigere oder methodisch sauberere Analysen als die NAVCO-Datensätze. Ohne die Notwendigkeit qualitativer Forschung zu zivilem Widerstand in Frage zu stellen, möchte ich mich im Folgenden auf diese neuen Datensätze fokussieren und ihre Bedeutung für bewegungsrelevante quantitative Forschung diskutieren.

Datensatz

Quelle

Kodierungseinheit

Geographie der Datenbank

Zeitlicher Umfang

Fallzahl

NAVCO 1.3

Chenoweth und Stephan 2011

Kampagnen

global

1900-2019

622

NAVCO 2.1

Chenoweth und Lewis 2013

Kampagnen-Jahre

global

1945-2013

(384 Kamp.)

NAVCO 3.0

Chenoweth et al. 2018

Ereignisse

26 Staaten (weltweit)

1990-2011

REVMOD

Acosta 2019

Organisations-Jahre

global

1940-2014

(536 Org.)

ARC

Butcher et al. 2022

Organisations-Jahre

Afrika

1990-2015

3,407 (1,426 Org.)

MMD

Clark und Regan 2013

Ereignisse

162 Staaten weltweit

1990-2020

SRDP

Cunningham et al. 2020

Organisations-Jahre

global

1960-2005

(1,124 Org.)

SMD

Griffiths 2015

Bewegungs-Jahre

global

1816-2011

1279 (315 Bew.)

SMD(b)

Griffiths und Wasser 2019

Bewegungen

global

1816-2011

315

STCNA

Griffiths 2021

Bewegungen

global

SCAD

Salehyan et al. 2012

Ereignisse

Afrika, Mittel- u. Südamerika

1990-2017

SDM

Sambanis et al. 2018

Bewegungen

global

1945-2012

464

MMAD

Weidmann und Rød 2019

Ereignisse

93 (nicht-demokratische) Staaten

2003-2019

MAROB

Wilkenfeld et al. 2011

Organisations-Jahre

West Asien und Nord Afrika

1980-2004

(118 Org.)

ACLED

Ereignisse

global

(abhängig je Staat, Beginn zwischen 1997 und 2020, bis Gegenwart)

Tabelle: Übersicht zur Verfügung stehender Bewegungsdatenbanken; Zusammenstellung: Julia Nennstiel

Erfolg/Misserfolg

Ein entscheidender Mangel der NAVCO-­Datensätze ist, dass sie den Ausgang einer Widerstandskampagne nur auf einer eindimensionalen Skala erfassen. Eine Kampagne hat entweder Erfolg, partiellen oder keinen Erfolg. Einige der neueren Datensätze bieten deutlich detailliertere Angaben über den Ausgang eines Widerstands.

Dies gilt etwa für das »Secessionist Movements Dataset« (Griffiths 2015) und das »Secessionist Methods Dataset« (Griffiths und Wasser 2019), sowie das »Self-Determination Movements Data­set« (Sambanis et al. 2018). Letzteres beispielsweise unterscheidet hinsichtlich Widerstandsbewegungen, die auf politische Selbstbestimmung abzielen, ob sie territoriale Gewinne, Zugang zu staatlicher Macht, kulturelle oder sonstige politische Zugeständnisse erzielt haben, oder aber Einschränkungen kultureller oder politischer Art erfahren. Die beiden erstgenannten Datensätze enthalten unter anderem Informationen darüber, ob die Forderungen einer Bewegung ignoriert, (verbal) abgelehnt oder gewaltsam unterdrückt wurden.

Mit solch einer nuancierten Unterscheidung verschiedener Arten des Ausgangs einer Widerstandsbewegung werden auch differenziertere Analysen der Wirksamkeit gewaltfreien (oder auch gewaltsamen) Widerstands möglich. Sie erlauben beispielsweise, genauer zu untersuchen, bei welchen Formen der Konflikt-»Lösung« die besondere Stärke gewaltfreien Widerstands liegt. Auch gestatten sie etwa (da die Datensätze für jede Bewegung ihren Ausgang bzw. Stand in Jahresabständen abzeichnen) zu analysieren, in welchen Sequenzen sich durch gewaltfreien Widerstand partielle Erfolge unterschiedlicher Art aufeinander aufbauen lassen. Dies erlaubt dabei auch Analysen der Gelingensbedingungen für die strategische Staffelung von Forderungen.

Organisation und Struktur

Weitere Datensätze rücken von dem Fokus der NAVCO-Datensätze auf gesamte Widerstandskampagnen (Chenoweth und Stephan 2011; Chenoweth und Lewis 2013) ab. Stattdessen werfen sie einen genaueren Blick auf an einem Widerstand beteiligte Gruppen und Organisationen. Damit ermöglichen sie eine differenziertere Einsicht in das Innenleben von Widerstandsbewegungen.

Zu den Datensätzen, die Organisationen, die an einer Widerstandsbewegung beteiligt sind, als Grundkodierungseinheit nehmen, zählen etwa das »Strategies of Resistance Data Project« (SRDP; Cunningham et al. 2020), das »Anatomy of Resistance Campaigns«-Dataset (ARC; Butcher et al. 2022), das von Acosta (2019) vorgestellte »Revolutionary and Militant Organizations Dataset« (REVMOD) sowie Wilkenfeld et al.’s (2011) »Minorities at Risk-Organizational Behavior«-Datenbank (MAROB). Das »Ethnic Groups in Contention Dataset« von Thurber (2018) hingegen gibt als hilfreiche Erweiterung für in NAVCO aufgelistete Widerstandskampagnen an, welche ethnische Gruppen jeweils beteiligt waren.

Eine Stärke dieser Datensätze liegt darin, dass sie es ermöglichen, die organisatorische Zusammensetzung eines Widerstands analytisch in den Blick zu bekommen. Beispielsweise lässt sich die Zahl der an einem zivilen Widerstand beteiligten organisatorischen Einheiten genau bestimmen. Darüber hinaus enthalten einige der genannten Datensätze Angaben zum Typ einer Organisation (Parteien, Gewerkschaften, religiöse Organisationen, Jugendorganisationen, Dachorganisationen, bewaffnete Gruppen bzw. Rebellgruppen etc.), zu ihrer sozialen Basis oder zu den in ihr vertretenen sozialen Gruppen (das gilt für ARC, REVMOD und MAROB) oder zu ihrer politischen bzw. ideologischen Position (gilt nur für MAROB).

Während die NAVCO-Datensätze verschiedene Formen der Diversität einer Kampagne, wenn überhaupt, lediglich binär (»ja«, »nein«) angeben (Chenoweth und Stephan 2011; Chenoweth und Lewis 2013), lässt sich dies anhand neuerer Datensätze systematischer und detaillierter erfassen. Damit kann etwa fundierter untersucht werden, in welcher Weise sich die ideologische oder soziale Diversität der beteiligten Organisationen auf die Erfolgschancen eines Widerstands, seine Widerstandsfähigkeit gegenüber Repression oder auf die Wahrscheinlichkeit von »gewalttätigen Flanken« auswirkt. Auch lässt sich der Frage nachgehen, wie die Zusammensetzung eines Widerstands potenziell bestimmte gewaltfreie Methoden oder Aktionen (siehe unten, Kapitel Strategien) erleichtern oder erschweren kann.

Über die allgemeine Zusammensetzung eines Widerstands hinaus erlauben es diese Datensätze teilweise sogar, inner-organisatorische Eigenschaften und Bedingungen zu erfassen und analytisch zu berücksichtigen. Dies ist eine Dimension, über die NAVCO tatsächlich keinerlei Informationen liefert. Dazu eignen sich beispielsweise Angaben über die Führungs- bzw. Entscheidungsstruktur der jeweiligen Organisation, ihren Grad der Zentralisierung, über Geschlecht und Amtsdauer ihrer Führung oder über ihre Offenheit (im ARC-Datensatz, REVMOD-Datensatz bzw. im MAROB-Datensatz). Werden diese Detailinformationen zu den beteiligten Organisationen dann für jede Widerstandskampagne bzw. -bewegung jeweils zusammengeführt, lassen sich Kenntnisse etwa darüber gewinnen, wie Organisationen welcher Art und Führungsstruktur als Fundament eines wirksamen oder resilienten zivilen Widerstands mehr oder weniger geeignet scheinen.

Darüber hinaus gestatten einige Datensätze auch systematischen Einblick in zwischen-organisatorische Verbindungen. Auch diese Dimension wird in den ­NAVCO-Datensätzen vollkommen ausgeklammert. Das gilt insbesondere für den ARC-Datensatz, der für jede kodierte Organisation auch diejenigen Organisationen angibt, mit denen formale Verbindungen bestehen und/oder gemeinsame Aktionen unternommen wurden, sowie ihre Beteiligung an institutionalisierten Netzwerken bzw. Dachorganisationen. Weniger detaillierte, aber dennoch unter Umständen hilfreiche Angaben bietet auch der REVMOD-Datensatz mit der Anzahl externer und interner »Verbündeter« einer Organisation. Der MAROB-Datensatz wiederum unterscheidet zahlreiche Varianten externer Unterstützung durch Diaspora-Gruppen, Drittstaaten, internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Mithilfe dieser Daten lässt sich etwa untersuchen, welche organisatorische Netzwerkstruktur den Widerstand gegen bestimmte Formen der Repression resilienter machen kann (vgl. Butcher et al. 2022). Dabei sei auch erwähnt, dass sich für eine solche Untersuchung erforderliche Daten zur Repression z.T. aus denselben Datensätzen gewinnen lassen (z.B. Daten zu gezielten Angriffen auf eine Organisationsführung aus dem REVMOD-Datensatz, zu juristischen und physischen Sanktionen gegen eine Organisation aus dem MAROB-Datensatz), oder alternativ aus eigenständigen Repressions-Ereignisdatensätzen (z.B. das »Ill-Treatment & Torture Data Collection Project« (Conrad et al. 2014) oder der »UCDP One-Sided Violence«-Datensatz (Eck und Hultman 2007; Davies et al. 2023)).

Schließlich bieten diese organisations-zentrierten Datensätze neben ihrem informativen Gehalt einen analytischen Vorteil gegenüber NAVCO dadurch, dass sie Widerstandsorganisationen (statt kampagnen) zur Grundkodierungseinheit nehmen: Sie ermöglichen es, auch solchen Widerstand einzubeziehen, der vor allem von einzelnen Organisationen getragen wird oder sich primär auf Widerstandsmethoden stützt, die weniger sichtbar sind als Proteste, und damit eventuell nicht den Umfang einer »großen« Widerstandskampagne erreicht, während sich NAVCO auf Letztere beschränkt (vgl. Cunningham et al. 2020). Gerade die Berücksichtigung der von NAVCO ignorierten Fälle aber kann wertvolle Hinweise geben, um den Weg eines kleinen (bzw. kleiner werdenden) Widerstands hin zu einer »großen« Kampagne in den Blick zu nehmen und zu untersuchen, unter welchen Umständen und durch welche Dynamiken (siehe unten) solch eine Entwicklung realistisch werden könnte.

Strategien

Eine weitere bedeutende Schwachstelle der NAVCO-Datensätze besteht darin, dass sie (neben dem Ausgang einer Widerstandskampagne, siehe oben) auch hinsichtlich der Gewaltfreiheit oder Gewaltsamkeit eines Widerstands lediglich eine binäre Unterscheidung bieten: die Kodierungen lauten »primär gewaltfrei« oder »primär gewaltsam« (Chenoweth und Stephan 2011; Chenoweth und Lewis 2013; für Kritik an diesem Vorgehen vgl. Anisin 2020). In Reaktion auf die Kritik führten folgende Kodierdurchgänge zur Einführung der – allerdings ebenfalls binären – Variable zu sogenannten »gewaltsamen Flanken«. Auch in dieser Hinsicht bieten einige neuere Datensätze einen deutlich differenzierteren Blick.

Zum einen ermöglichen diese eine präzisere Einordnung einer Widerstandskampagne auf einem Gewaltfreitheit/Gewaltsamkeits-Spektrum. Denn die oben genannten organisations-zentrierten Datensätze bieten Angaben zur Anwendung gewaltsamer und gewaltfreier Methoden seitens der einzelnen am Widerstand beteiligten Organisationen. Indem diese Angaben auf der Ebene der Widerstandskampagne zusammengeführt werden, lässt sich die genaue Kombination (oder der genaue »Mix«) gewaltsamer und gewaltfreier Ansätze innerhalb einer Kampagne deutlich nuancierter bestimmen. Dies eröffnet die Möglichkeit, zu untersuchen, wie sich z.B. die relative Anzahl und Größe an gewaltfrei- und gewaltsam operierenden Organisationen oder die Intensität der Vernetzung (s.o. Kapitel Organisation und Struktur) unterschiedliche Widerstandsstrategien verfolgender Organisationen auf eine Kampagne auswirken kann.

Darüber hinaus nehmen einige Datensätze gezielt eine feinere Unterteilung und nicht-binäre Kodierung verschiedener Widerstandsmethoden jenseits einer (eindimensionalen) Gewaltfreiheit/Gewaltsamkeits-Skala vor und eröffnen damit die Gelegenheit qualitativ differenzierterer Analysen. Beispielsweise unterscheidet der SRDP-Datensatz zwischen den fünf gewaltfreien Methodentypen von »Protest«, »politischer«, »wirtschaftlicher« oder »sozialer Nichtkooperation« und »gewaltfreier Intervention«, und gibt für jede am Widerstand beteiligte Organisation an, ob sie eine oder mehrere dieser Methoden in einem gegebenen Jahr anwandte. Einen etwas anderen Schwerpunkt setzend, erfasst das von Griffiths (2021) zusammenstellte »Secessionist Tactics of Compellence and Normative Appeal«-Dataset, welche diskursive Strategie eine Widerstandsbewegung anwandte und auf welche (internationalen) Normen bzw. Prinzipien sie sich zur Begründung und Untermauerung ihrer politischen Forderung berief. Mithilfe dieser Informationen lässt sich nicht nur die Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands für verschiedene Methoden und Ansätze im Einzelnen beleuchten. Sie lassen auch die Frage zu, welche unterschiedlichen (gewaltfreien) Methoden sich in welchen Kontexten oder auch Stadien eines Widerstands miteinander kombinieren lassen, und wie sich dies auf den Erfolg des Widerstands im Ganzen auswirkt.

Aktionen und Dynamiken

Viertens schließlich ermöglichen einige der alternativen Datensätze die Analyse von Widerstandsdynamiken in ihrer zeitlichen Dimension. Während die NAVCO (1.x und 2.x) Datensätze ganze Kampag­nen(-Jahre) zur Grundeinheit nehmen und die zeitliche Dimension lediglich in der Kodierung einzelner Variablen (Kampagnen-Beginn und Ende, Kampagnenerfolg) berücksichtigen, fokussieren einige jüngere Datensätze auf die einzelnen Widerstandsereignisse bzw. –aktionen (die gemeinsam eine Kampagne konstituieren). Diese listen systematisch Protest- oder andere Widerstandsaktionen in einem bestimmten Zeitraum auf und erfassen für jede dieser Aktionen bestimmte (sich je nach Datensatz leicht unterscheidende) Attribute. Einen ähnlichen Versuch unternimmt auch NAVCO 3.0 (dies macht sichtbar, dass den Ersteller*innen von NAVCO die Begrenztheit von und die Kritik an ihren Datensätzen bekannt und bewusst sind), allerdings nur für eine willkürliche Auswahl von 26 Staaten, und anhand von einer einzigen Nachrichtenquelle (Chenoweth et al. 2018).

Zu solchen umfangreicheren Ereignisdatensätzen zählen das »Mass Mobilization Protest«-Dataset (MMD) von Clark und Regan (2016) und die von Weidmann und Rød (2019) publizierte »Mass Mobilization in Autocracies Database« (MMAD). Sie beide erfassen unter anderem das Datum und den genaueren Ort einer Aktion, die mit ihr verbundene politische Forderung, die Teilnehmer*innenzahl, gegebenenfalls Gewaltanwendung seitens der Widerstandsakteure sowie die unmittelbare staatliche Reaktion auf die jeweilige Aktion (Repression bzw. Zugeständnisse). Nennenswert ist auch die »Social Conflict Analysis Database« (SCAD) von Salehyan et al. (2012), die im Gegensatz zu den vorangegangenen Datensätzen zwischen organisierten und spontanen Protestaktionen unterscheidet und vor allem jenseits von Protestaktionen auch General- und begrenzte Streiks mit einbezieht. Etwas weniger Variablen, dafür aber eine größere Zahl an Fällen, bietet hingegen das »Armed Conflict Location & Event Data«-Project (ACLED), das entgegen seiner Bezeichnung auch gewaltfreie Aktionen erfasst. Je nach der zu untersuchenden Forschungsfrage lassen sich diese Ereignisdatensätze zu Widerstandsaktionen sinnvoll kombinieren mit nach Tag spezifizierten Ereignisdaten zu Repressionsgeschehen, etwa aus dem SCAD oder ACLED, die neben Widerstandsereignissen auch Repressionsereignisse erfassen, oder auch aus anderen Datensätzen wie dem »MMAD Repressive Actors«-Dataset (Rød et al. 2023) oder der »Global Terrorism Database« (START 2022).

Diese Datensätze lassen somit eine Vielzahl neuer Fragen zu. Es könnte beantwortet werden, welche Aktionssequenzen tendenziell zu einer Vergrößerung des Widerstandes führen oder aber mit einer Verschärfung der Repression einherzugehen geneigt sind. Des Weiteren lässt sich auch genauer untersuchen, wie verschiedene Arten der gewaltfreien Eskalation – etwa in Form einer wachsenden Anzahl von Aktionen pro Tag, von Teilnehmenden pro Aktion oder auch eine geographische Ausweitung der Aktionen in weitere oder kleinere Städte – sich kurz- und mittelfristig auf eine zivile Widerstandsbewegung auswirken können. Hierzu gab es bislang maximal qualitative Einzelfallstudien – oftmals auch anthropologische Untersuchungen –, die so quantitativ ergänzt werden könnten.

Erwähnt sei an dieser Stelle auch, dass sich durch den ARC-Datensatz die Möglichkeit ergibt, die Analyse zeitlicher Widerstandsdynamiken mit der Analyse der organisatorischen Struktur eines Widerstands zu verknüpfen. Dieser Datensatz zeigt, an welchen Widerstandsaktionen bzw. -ereignissen aus dem MMD, SCAD oder dem ACLED-Datensatz eine gegebene Organisation erkennbar beteiligt war. Damit lässt sich etwa fragen, welche Rolle Organisationen verschiedener Art bei bestimmten Aktionen oder in einzelnen Phasen des Widerstandes spielen und zu welchen Konsequenzen dies im weiteren Verlauf führte.

Noch kein Fazit: Fehlende Anwendung

Neuere Datensätze zu gewaltfreiem und gewaltsamen Widerstand liefern vielerlei Informationen, die weit über die der vielzitierten NAVCO-Datensätze hinausreichen. Noch kann kein abschließendes Fazit gezogen werden, fehlt doch bislang die breitere empirische Anwendung dieser Datensätze auf hier angerissene Fragestellungen. Für künftige quantitative Studien bietet es sich an, vermehrt diese alternativen Datensätze zu nutzen, um alte (bislang nur anhand von NAVCO untersuchte) Fragen zu zivilem Widerstand differenzierter zu bearbeiten und neue – in Bezug auf die NAVCO-Datensätze (noch) nicht formulierbare – bewegungsrelevante Fragen zu stellen und anzugehen.

Literatur

Acosta, B. (2019): Reconceptualizing resistance organizations and outcomes: Introducing the Revolutionary and Militant Organizations dataset (REVMOD). Journal of Peace Research 56(5), S. 724-734.

Anisin, A. (2020): Debunking the myths behind nonviolent civil resistance. Critical Sociology 46(7-8), S. 1121-1139.

Butcher, C.; Braithwaite, J.; Pinckney, J.; Haugseth, E.; Bakken, I.; Wishman, M. (2022): Introducing the Anatomy of Resistance Campaigns (ARC) dataset. Journal of Peace Research 59(3), S. 449-460.

Chenoweth, E.; Stephan, M. (2011): Why civil resistance works: The strategic logic of nonviolent conflict. New York: Columbia Univ. Press.

Chenoweth, E.; Lewis, O. (2013): Unpacking nonviolent campaigns: Introducing the NAVCO 2.0 dataset. Journal of Peace Research 50(3), S. 415-423.

Chenoweth, E.; Pinckney, J.; Lewis, O. (2018): Days of rage: Introducing the NAVCO 3.0 dataset. Journal of Peace Research 55(4), S. 524-534.

Clark, D.; Regan, P. (2016): Mass Mobilization Protest Data, Harvard Dataverse. DOI: doi.org/10.7910/DVN/HTTWYL.

Conrad, C.; Haglund, J.; Moore, W. (2014): Torture allegations as events data: Introducing the Ill-Treatment and Torture (ITT) specific allegation data. Journal of Peace Research 51(3), S. 429-438.

Cunningham, K.; Dahl, M.; Frugé, A. (2020): Introducing the Strategies of Resistance Data Project. Journal of Peace Research 57(3), S. 482-491.

Davies, S.; Pettersson, T.; Öberg, M. (2023): Organized violence 1989-2022, and the return of conflict between states. Journal of Peace Research 60(4), S. 691-708.

Eck, K.; Hultman, L. (2007): One-sided violence against civilians in war: Insights from new fatality data. Journal of Peace Research 44(2), S. 233-246.

Griffiths, R. (2015): Between dissolution and blood: How administrative lines and categories shape secessionist outcomes. International Organization 69(3), S. 731-751.

Griffiths, R.; Wasser, L. (2019): Does violent secessionism work? Journal of Conflict Resolution 63(5), S. 1310-1336.

Griffiths, R. (2021): Secessionist strategy and tactical variation in the pursuit of independence. Journal of Global Security Studies 6(1), ogz082.

National Consortium for the Study of Terrorism and Responses to Terrorism (START) (2022): Global Terrorism Database 1970-2020. URL: start.umd.edu/gtd.

Rød, E.; Rustemeyer, J.; Otto, S. (2023): Introducing the MMAD Repressive Actors Dataset. Research & Politics 10(2). DOI: doi.org/10.1177/20531680231163384.

Salehyan, I.; Hendrix, C.; Hamner, J.; Case, C.; Linebarger, C.; Stull, E.; Williams, J. (2012): Social conflict in Africa: A new database. International Interactions 38(4), S. 503-511.

Sambanis, N.; Germann, M.; Schädel, A. (2018): SDM: A new dataset on self-determination movements with an application to the reputational theory of conflict. Journal of Conflict Resolution 62(3), S. 656-686.

Thurber, C. (2018): Ethnic barriers to civil resistance. Journal of Global Security Studies 3(3), S. 255-270.

Weidmann, N.; Rød, E. (2019): The internet and political protest in autocracies. Oxford: Oxford University Press.

Wilkenfeld, J.; Asal, V.; Pate, A. (2011): Minorities at Risk Organizational Behavior (MAROB) Middle East 1980-2004, Harvard Dataverse. DOI: doi.org/10.7910/DVN/STGELW.

Julia Nennstiel studierte an der Universität Manchester Internationale Beziehungen (M.A.) mit Schwerpunkt Kritische Sicherheits- und Militärstudien. Aktuell promoviert sie zur Rolle und dem Verhalten von Streit- und Sicherheitskräften in Kontexten ziviler Widerstandsbewegungen.

Radikal gewaltfrei

Radikal gewaltfrei

Zu den Wirkungsbedingungen disruptiver Proteste

von Jannis J. Grimm

Bewegungen weltweit wenden unterschiedliche Ausprägungen von zivilem Ungehorsam an, die zum Teil mit hegemonialen Formverständnissen von Protest brechen und ein radikales Element bergen. Gleichzeitig ist die Bewertung dieser Proteste geformt von liberalen Lesarten historischer Vorbilder. Radikaler und disruptiver Protest wird dadurch oft als Gegenpol zu gewaltfreiem und demokratischem Protest missverstanden. Doch eine historische Bestandsaufnahme zeigt, dass diese Unterscheidung weder zutreffend ist, noch geeignet, um über die Legitimität von zivilen Widerstandskämpfen zu entscheiden. Für die gesellschaftliche Wirksamkeit von Protest kann sie allerdings dramatische Auswirkungen haben.

Protest sieht nicht überall gleich aus und wirkt auch nicht überall auf dieselbe Art und Weise. Was in einem anderen Kontext als gewaltfreier Massenwiderstand gefeiert wird, würde hierzulande häufig als extrem disruptiv oder sogar gewaltsam und deshalb als illegitim verstanden. Hierfür liefern Volksaufstände wie 2022/23 im Iran oder 2010/11 in der arabischen Welt1 gute Beispiele, welche zwar überwiegend von friedlichem Protest bestimmt waren, jedoch allesamt auch mit teils sehr gewaltsamen Aktionen einhergingen – von Straßenschlachten, über Brandanschläge auf Regierungsgebäude und Polizeistationen, bis hin zu bewaffneter Gegenwehr. Der Zweck heiligt diese Mittel, mag man nun argumentieren und auf den autoritären Regimekontext verweisen, innerhalb dessen diese Proteste stattfanden und den selbige zu beseitigen suchten. Doch wenn dem so wäre, woher käme dann die Entrüstung über die »Klimakleber«, die mit deutlich weniger konfrontativen Mitteln im Grunde ja nur auf eines der größten Probleme unserer Zeit aufmerksam machen? Oder über die Proteste in Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung, welche sich mit überwiegend friedlichen Mitteln vor allem gegen eine seit Jahrzehnten fortbestehende Besatzungssituation richten und auf eine konsequente Anwendung des Völkerrechts pochen?

Prämissen des gewaltfreien Widerstands

Die unterschiedliche Wahrnehmung von sozialer Mobilisierung weltweit konfrontiert Aktivist*innen wie Protestforscher*innen mit der Frage, unter welchen Bedingungen disruptiver Protest – also Spielarten des zivilen Widerstands, welche mit Erwartungshaltungen an die Form von Protesten brechen und bei denen durch bewusste Störungen der öffentlichen Ordnung oder Unterbrechung alltäglicher Abläufe auf Anliegen aufmerksam gemacht werden soll – die Ziele sozialer Bewegungen befördert. Welches Verhältnis besteht also zwischen Disruption, Gewalt(-freiheit), Radikalität und sozialem Wandel? Ist Protest, um wirksam zu sein, auf maximale Irritations- und Störwirkung angewiesen, oder wird sein Potenzial hierdurch mitunter begrenzt? Ab wann werden zivilgesellschaftliche Akteure und ihre direkten Aktionen als zu radikal oder sogar als gewaltsam wahrgenommen und dadurch Mobilisierungspotenziale begrenzt?

Die medialen Kontroversen um die »Letzte Generation« und die Solidaritätsproteste mit Palästina haben diese Fragen hierzulande ins Zentrum der sozialen Bewegungsforschung gerückt. Sie bilden einen guten Ausgangspunkt, um die im Kontext historischer Massenbewegungen entwickelten Theorien des zivilen Widerstands und ihre Prämissen mit Blick auf Proteste der Gegenwart kritisch zu beleuchten.

Wie wenig andere Bewegungen stützte sich die Letzte Generation zur Legitimation ihrer Taktiken ganz explizit auf Theorien des zivilen Ungehorsams, und auch eine Reihe von Palästina-Solidaritätsgruppen zitieren die Arbeiten historischer Vordenker*innen des zivilen Widerstands, darunter vor allem Gene Sharp, Brian Martin und Erica Chenoweth. Ersterer inspirierte vor allem den Begriff des „politischen Jiu-Jitsu“ (Sharp 1973), der als grundlegender Wirkungsmechanismus zivilen Widerstands angenommen wird. Die Idee: Wenn es gelingt, durch gewaltfreie kollektive Aktionen überzogene Gegenreaktionen zu provozieren, ohne dass diese überzeugend legitimiert werden, dann schwächt dies die moralische Autorität derjenigen, die Repression ausüben. Wie beim Jiu-Jitsu nutzt man also die Energie des politischen Gegners für sich. Der moralische Schock, den die Öffentlichkeit über unverhältnismäßige Gewaltanwendung empfindet, so die Annahme, wird zum Mobilisierungsmechanismus.

Brian Martin (2007) prägte hierfür den Begriff des „backfire“, das heißt: Repression geht nach hinten los, erzeugt das Gegenteil des intendierten Effekts. Den empirisch belastbarsten Beleg für den von Sharp und Martin postulierten Wirkungszusammenhang lieferten schließlich Erica Chenoweth und Maria Stephan (2011). Mit ihrem NAVCO-Datensatz zu den Erfolgsbedingungen gewaltfreier und gewaltsamer Mobilisierungskampagnen im letzten Jahrhundert legten sie den Grundstein für das damals kontraintuitive, heute aber kaum noch hinterfragte Dogma von der Überlegenheit friedfertigen Protests gegenüber bewaffnetem Widerstand. Zwar hat diese Annahme in den jüngsten Jahren Kritik erfahren (Onken et al. 2021, für eine kritische Bestandsaufnahme unterschiedlicher Datenbanken zu quantitativer Bewegungsforschung siehe auch Nennstiel in dieser Ausgabe, S. 12) und ist jenseits von Volksaufständen in autoritären Kontexten nur schwach belegt, doch prägt sie weiterhin das Kalkül von Protestakteuren weltweit, die durch zivilen Ungehorsam gesellschaftlichen Wandel anstoßen wollen.

Aufmerksamkeit: Zur Notwendigkeit von Disruption

Die Arbeiten von Chenoweth und ihren Vorreiter*innen stellten eindrucksvoll frühere Paradigmen von der Effizienz bewaffneter Aufstandsbewegungen auf den Kopf: Historisch gesehen weisen gewaltfreie Kampagnen gegenüber gemischten und gewalttätigen eine annähernd doppelt so hohe Erfolgsrate auf, indem sie Loyalitätsbrüche innerhalb des Establishments erzeugen und die Kosten von Repression in die Höhe treiben. Dass diese Mechanismen auch bei kleineren sozialen Bewegungen greifen, setzt indes zumindest eine Grundbedingung voraus: Sie müssen überhaupt erst einmal als relevant wahrgenommen werden. Massenproteste erzeugen allein aufgrund ihrer hohen Beteiligung und ihres Medienechos zumeist ein gewisses Ausmaß an Disruption. Vor diesem Hintergrund liegt für Chenoweth und Co. auch der Schluss nahe, dass soziale Bewegungen alle Praktiken, die als gewaltsam interpretiert werden könnten, besser unterlassen sollten, um ihren Erfolg nicht zu gefährden. Demgegenüber haben es kollektive Aktionen unterhalb der Schwelle von Massenprotest deutlich schwerer, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Sie sind daher, ganz im Gegenteil, gerade auf Disruption angewiesen, um überhaupt eine Reaktion zu erzeugen.

Ebenso ist Chenoweths These, dass auch „radikale Flanken“ (Haines 2013) von Bewegungen ihren Protest gemäß den gesellschaftlichen Bedingungen für die Akzeptanz von Protest gestalten müssten, für solche kleineren Protestformen nur schwer haltbar – gerade, wenn man bedenkt, dass soziale Bewegungen den Diskurs über die Grenzen legitimen Widerstands mitprägen und durch ihr Handeln immer wieder neu formen, wie nicht zuletzt auch die historischen Vorreiter des zivilen Widerstands zeigen. Protestierende müssen hierfür dahin gehen, wo es einer Gesellschaft »weh tut« – und setzen sich damit auch dem Risiko aus, als gewaltsam empfunden zu werden.

Dies ist die Logik von zivilem Ungehorsam und radikalem Protest. Bürger*innen nehmen hier in Abgrenzung zu anderen Formen des Protests den Bruch von Gesetzen in Kauf, was eine höhere Risikobereitschaft voraussetzt. Dies geschieht meist in Form von direkter Aktion – also Maßnahmen wie Besetzungen, Boykotte, Nichterfüllung oder Sabotage, die darauf abzielen, durch direkt zugefügte Kosten unmittelbaren politischen Einfluss auf Gegenspieler*innen oder die breitere Gesellschaft zu nehmen. Ein Mindestmaß an Disruption ist dabei essenziell, vor allem bei themenspezifischen Protesten. Nur so verhindern Protestierende, schlichtweg ignoriert zu werden. Robin Celikates zufolge hängt die Wirkung gerade von zivilem Ungehorsam in entscheidendem Maße davon ab, wie effektiv das Konfrontationsmoment ist, das er erzeugt. Protest „kann nur dann als symbolischer Protest funktionieren, wenn er Momente der realen Konfrontation beinhaltet, Praktiken wie Blockaden und Besetzungen, die manchmal auch Gewaltelemente enthalten“ (Celikates 2016, S. 43).

Eine solche Verquickung von Disruption und zivilem Ungehorsam als einem zentralen Pfeiler demokratischer Praxis mag zunächst überraschen, läuft sie doch der allgemeinen Debatte zuwider, die vor allem vor der normativen Schablone liberaler Demokratievorstellungen geführt wird. Darin wird legitimer Protest zumeist auf legale und angemeldete Demonstrationen im Rahmen des geltenden Versammlungsrechts reduziert, oder aber in Anlehnung an liberale Auffassungen von zivilem Ungehorsam auf einen symbolischen Regelbruch mit appellativem Charakter an eine demokratische Mehrheitsgesellschaft. Doch wird diese gängige Sichtweise des zivilen Ungehorsams, welche über konfrontative Taktiken hinwegblendet, der empirischen Wirklichkeit nicht gerecht. Disruption bis hin zu Sachbeschädigung und Blockaden sind seit je her ein wesentlicher Bestandteil des zivilen Widerstands, etwa der indischen Freiheitsbewegung um Gandhi, der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King Jr. und der Suffragetten, kommen aber auch in gegenwärtigen Bewegungen wie »Occupy«, »Black Lives Matter« oder auch »Extinction Rebellion« und »Letzte Generation « in unterschiedlicher Ausprägung vor.

Candice Delmas plädiert vor diesem Hintergrund ganz explizit dafür, nicht nur »zivile« Protestformen als legitim wahrzunehmen, sondern auch »unzivile«, einschließlich Sabotage, der Zerstörung von Eigentum, der Anwendung von Gewalt zur Selbstverteidigung, verdeckter Guerilla-Aktionen, oder ungeplanter kollektiver Mobilisierungsformen wie Riots (Delmas 2018). Sie stellt die problematische Vorstellung von der Neutralität des Status quo und die Fehlannahme, es gäbe doch immer andere, zivilere und weniger disruptive Wege, Dissens auszudrücken, in den Mittelpunkt ihrer theoretischen Legitimation von zivilem Ungehorsam. Viele von Gewalt Betroffene, so Delmas, verfügten de facto über gar kein anderes Mittel, um auf soziale Missstände hinzuweisen – und schon gar nicht über effektivere. Eine prinzipielle Delegitimierung ihres Widerstands gelte es daher abzulehnen. Vielmehr sei für Bewegungen des zivilen Ungehorsams vor allem charakteristisch, dass es ihnen nicht nur darum gehe, ein bestehendes System der Ungerechtigkeit zu reformieren, sondern es grundlegend umzuwälzen. Ihre prinzipielle Ablehnung von Gewalt stellt dabei nicht etwa nur einen moralischen Appell an das Gewissen der schweigenden Mehrheit dar. Vielmehr setzen Bürgerrechtsaktivist*innen einem als gewaltsam und unmoralisch empfundenen System eine höhere eigene Moral entgegen.

Die jüngere kritische Forschung stellt vor diesem Hintergrund vor allem den antikolonialen Charakter von zivilen Widerstandsbewegungen heraus (Pineda 2022; Souza dos Santos 2024; Chabot und Vint­hagen 2015). Sie wirft dabei eine alternative Sichtweise auf: Ziviler Ungehorsam wird hier gefasst als eine transnationale und weltbildende Aktivität, die immer schon globale koloniale oder neokoloniale Herrschaftsstrukturen adressierte. So verstanden wird die binäre Unterscheidung zwischen Protest in demokratischen und nicht-demokratischen Staaten in Frage gestellt, die von liberalen Theorien des zivilen Ungehorsams vorangetrieben wird (Çıdam et al. 2020) – und damit die grundlegende Annahme, dass in diesen unterschiedlichen Regimekontexten eben auch unterschiedliche Formen des Widerstands legitim sind.

Diese alternative Konzeptualisierung des zivilen Ungehorsams erlaubt uns insbesondere, ungehorsame Praktiken in den Blick zu nehmen, die in demokratischen Gesellschaften stattfinden, ihren moralischen Appell aber nicht an diese Gesellschaften, sondern an eine transnationale Gemeinschaft richten – etwa militante anarchistische Netzwerke gegen Grenzen, Solidaritätsbewegungen mit staatenlosen Völkern oder internationale Boykottbewegungen. Darüber hinaus schließt sie auch disruptive Protestpraktiken außerhalb liberaldemokratischer Regime ein, die an eine lokale oder globale moralische Resonanzstruktur appellieren – von feministischem und queerem Aktivismus im Kontext patriarchaler Gesellschaften, über transnationale kurdische »Survivance«-Praktiken (Burç et al. 2022), bis hin zum illegalen Pflücken traditioneller Kräuter durch palästinensische Frauen als einer alltäglichen Widerstandshandlung gegen die israelische Besatzung (Manna 2022).

Verzicht auf Gewalt allein reicht nicht

Disruption ist also nicht nur rechtfertigbar, sondern essenziell. Gleichzeitig bildet Gewaltlosigkeit aber eine Voraussetzung für die von Sharp und Martin thematisieren Wirkungsmechanismen zivilen Ungehorsams – ein Dilemma? Nicht unbedingt. Denn vor diesem Hintergrund sind die Trainings in Deeskalation und Aggressionskontrolle zu verstehen, denen sich Bewegungen des zivilen Widerstands seit Generationen bewusst unterziehen. Ungehorsame sollen dadurch befähigt werden, entwürdigende Behandlung und im Zweifel auch physische Leiderfahrung zu ertragen. Denn Gegengewalt riskiert, den politischen Kampf direkt auf ein Spielfeld zu tragen, auf dem repressive Akteur*innen meist besser aufgestellt sind und über ein Monopol auf legitime Gewaltanwendung verfügen. Überdies verlieren zivilgesellschaftliche Akteure bei Gewaltanwendung in den Augen der Öffentlichkeit schnell die moralische Oberhand.

Denn gewaltsame Selbstverteidigung oder Vergeltung gegen brutale Repression untergräbt das moralische Schockempfinden und erzeugt im besten Fall den Eindruck eines Konflikts auf Augenhöhe, im schlechtesten rechtfertigt es noch schärfere Repressionen. Auch die langfristigen Effekte von zivilem Ungehorsam werden dadurch untergraben. Ziviler Ungehorsam will nicht nur Gesetze reformieren, sondern auch moralische Veränderungen bei seinem Publikum bewirken (Brownlee 2004). Christian Volk (2022) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass ziviler Ungehorsam als Beitrag zur Demokratisierung der sozialen Ordnung interpretierbar sein muss. Entscheidend ist dafür nicht zwangsläufig, dass Protest rein symbolischer Natur sein muss, oder »zivilisiert« bleibt. Sondern, so Robin Celikates (2016), dass er sich vor allem einer militärischen Logik verschließt, welche auf die Vernichtung eines (imaginierten) Feindes abzielt. Ist dies nicht der Fall, wird das Spiel mit der Moral riskant und läuft Gefahr, in einer Art sekundärem »backfire«-­Effekt, seinerseits nach hinten loszugehen und Protestbewegungen zu schaden. Die Frage ist insofern „ob die konkrete Aktion, die konkrete Protestbewegung so gestrickt ist, dass sie die Selbstlegitimierung, die mit dem Begriff einhergeht, auch erfüllt“ (Volk und Grimm 2023).

Ein gutes Beispiel hierfür boten zuletzt die Studierendenproteste an Berliner Universitäten gegen den Krieg in Gaza. Dort wiederholte sich ein Ausschnitt der Debatte um die »Klimakleber«, ob die Art des Protests den Anliegen der Protestierenden schadet. Anders als während der Straßenblockaden steht bei den Antikriegsdemonstrationen aber nicht primär das taktische Repertoire (also Hörsaalbesetzungen, Protestcamps etc.) im Vordergrund. Im Gegensatz zu den Klimaprotesten orientieren sich die Antikriegsdemonstrationen sehr viel stärker an konventionellen Protesttaktiken. Ihre Sit-ins und Demonstrationen sind größtenteils als angemeldete oder auch als spontane Demonstrationen verfassungsrechtlich von der Versammlungsfreiheit gedeckt, als kollektive Aktionen handelt es sich bei ihnen nicht um Gesetzesübertretungen. Der Gewaltvorwurf, der ihnen dennoch entgegengebracht wird, entzündet sich daher auch nicht an der Protestform, sondern vor allem an der Symbolik der Bewegung, die von Teilen der Gesellschaft als gewaltverherrlichend (oder zumindest relativierend) wahrgenommen wird.

Insbesondere die Reproduktion des roten Dreiecks, mit dem in Hamas-Propagandavideos Ziele der Qassam-Brigaden markiert werden, als Graffiti wurden in der deutschen Öffentlichkeit als Sympathiebekundung mit dem palästinensischen bewaffneten Kampf sowie als unverhohlene Drohung an Protestgegner verstanden. Die roten Dreiecke brachten auf Instagram zwar oberflächliche Zustimmung (Likes) von einem transnationalen Publikum, im unmittelbaren lokalen Kontext der Proteste untergruben sie aber den moralischen Anspruch der Demonstrierenden, verkomplizierten die Skandalisierung von Polizeigewalt bei der Räumung von Protestcamps und unterminierten letztlich das größere Anliegen der Demonstrierenden. Während die Blockaden von XR, der Letzten Generation oder der britischen Gruppe »Just Stop Oil« Ressentiments gegen die Gruppen selbst produzierten, aber das gesamtgesellschaftliche Problembewusstsein für den Klimawandel steigerten, stellte sich so ein indirekter Effekt bei den Gaza-Protesten nicht ein, da ihr Anliegen immer wieder in Sprache und Symbolik eingebettet war, die innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Resonanzstrukturen keinen Anschluss fanden.

Performative Gewaltfreiheit und Legalität allein reichen also nicht aus, um nicht als gewaltsam wahrgenommen zu werden. Das Beispiel zeigt insofern eindrucksvoll, wie selbst die Legitimität von »zivilisierten« Formen des Protests durch dessen Inhalt und Symbolik konterkariert werden können. Der auch durch mediale Skandalisierung verbreitete Eindruck, die Palästina-Proteste folgten einem dichotomen Freund-Feind-Schema, untergrub im Kontext der Studierendenproteste die breiteren Solidarisierungseffekte, auf welche die Demonstrierenden hofften. Mit Ausnahme der nicht inhaltlichen Solidaritätsbekundungen von Dozent*innen, die das Grundrecht auf Protest an Universitäten verteidigten, blieb der moralische Schock über Polizeigewalt auf dem Campus begrenzt. Auch ein positiver „radikaler Flankeneffekt” (Haines 2013) blieb aus. Hiermit beschreiben Protestforschende den Sympathiezuwachs für moderate Protestakteure, den radikale Taktiken bewirken können: Wenn man den Anliegen radikaler Akteure zustimmt, nicht aber ihren Methoden, kann dies das Engagement moderaterer Akteure für dasselbe Anliegen aufwerten. Diese werden fortan im Kon­trast zu den Radikalen als der vernünftigere Gegenpol wahrgenommen. Voraussetzung hierfür ist aber, dass die Öffentlichkeit klar zwischen beiden Flanken entscheiden kann. Dies war bei den Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg nicht der Fall, wo sich moderatere Protestierende vielerorts nicht explizit von kontroversen Aktionen distanzierten – entweder, um den internen Zusammenhalt der ohnehin stark unter Beschuss stehenden Bewegung nicht zu gefährden, oder auch, da vielen die Einordnung der Bewegungssymbolik als »gewaltsam« im Kontext der Völkerrechtsverletzungen und der extremen Gewalt in Gaza schlichtweg unpassend schien.

Form follows function

Das Beispiel zeigt indes, dass beim Nachdenken über Wirkungsbedingungen von disruptiven Protesten eine getrennte Betrachtung von moralischen und strategischen Fragen sowie eine Berücksichtigung ihres sozialen und geografischen Wirkungskontexts wichtig ist. Es mag richtig sein, dass die Skandalisierung gewisser Aspekte konkreter Protestaktionen – Sachbeschädigung, Graffiti, Verständnis für bewaffneten Kampf etc. – als »Gewalt« stark konstruiert ist. Auch mag sie in keinem Verhältnis stehen zu den Missständen, die der Protest zu adressieren sucht. Ebenfalls mag richtig sein, dass diese Missstände ohne solche medienwirksamen Elemente möglicherweise gar keine Aufmerksamkeit erhalten und dass ohne disruptiven Widerstand ein sehr gewaltvoller Status quo erhalten bleibt – im Kontext der Klima-Proteste das Ausbleiben effektiver Maßnahmen zur Begrenzung der Erderwärmung; im Kontext der Gaza-Proteste, dass weiter deutsche Waffen an eine Kriegspartei geliefert werden.

Doch ändert dies auf einer praktischen Ebene wenig an der negativen Resonanz gewisser Protestformen in einem sozialen Kontext, der eben jene Missstände ausblendet. Zu Ende gedacht: Disruption und sogar Gewalt mögen – wenn auch nicht ethisch – als Mittel bisweilen sogar durch einen Zweck rechtfertigbar sein. Aber diese Rechtfertigungsgrundlage zerbröckelt sofort, wenn die Mittel aufgrund ihres gesellschaftlichen Wirkungskontextes gar nicht in der Lage sind, diesem Zweck zu dienen. Oder schlimmer, wenn sie anderweitige Bemühungen zur Adressierung eben jener Missstände kompromittieren.

In diesem Falle ginge dann auch beim Versuch, durch provozierte Gegenreaktionen über Bande zu spielen, der Ball ins Leere. Repressionen können dann immer noch Protestteilnehmer*innen in ihrem individuellen Engagement bestärken, oder als kollektive Erfahrungen den Gruppenzusammenhalt einer Bewegung festigen. Aber sie zementieren dabei oft auch Grenzziehungen und bewegungsinterne Narrative, die Bewegungs-Outsider kaum noch mitnehmen und eine breitere gesellschaftliche »Rekrutierung« erschweren. Selbst Robin Celikates (2016), der die Notwendigkeit konfrontativer Momente für die Wirkungsweise von zivilem Ungehorsam betont, unterstreicht, dass Proteste nur dann als breitenwirksame Konfrontationen funktionieren, wenn sich seine Teilnehmer*innen der unabdingbaren symbolischen Dimension ihres Handelns bewusst werden – der Tatsache also, dass Protest immer auch eine Inszenierung ist, die eine Bühne braucht und ein Publikum sucht. Die gesellschaftliche Kontroverse um die Besetzung des Theaterhofs der Freien Universität Berlin zeigt, wie wörtlich diese Metapher zu verstehen ist. Am Ende entscheidet das Publikum darüber, wie gut die Show war.2

Unbeabsichtigte Folgen, begrenzte Kontrolle

Grundsätzlich bringen radikale Aktionen immer auch sekundäre Dynamiken mit sich. Hierzu zählt das Ausbrennen einer Bewegung, wenn immer mehr Mitstreitende von Repression oder Diffamierung belastet sind und jene, die selbst nicht betroffen sind, eine immer größere Organisationslast schultern müssen. Zudem binden juristische Auseinandersetzungen um Gesetzesübertritte im Kontext radikaler Aktionen die ohnehin meist knappen Ressourcen. Auch die Rekrutierung neuer Unterstützer*innen, um Abreibungseffekte zu kompensieren, wird durch fortgesetzte Repression erschwert. Darüber hinaus machen jene, die durch disruptive Taktiken eine überzogene Gegenreaktion auslösen, oft die schmerzliche Erfahrung, dass die provozierten Repressionen besser funktionieren als gedacht, indem sie Organisationsstrukturen zerschlagen, Sympathisant*innen abschrecken und langanhaltende Medienbilder bzw. Vorurteile prägen.

Dies erleben Bewegungen in autoritären Kontexten wie Ägypten, wo ein Massaker der Armee gegen islamistische Demonstrierende nicht etwa Solidaritätseffekte erzeugte, sondern den Weg für eine autokratische Restauration ebnete (Grimm 2022). Aber sie erleben es auch in demokratischen Zusammenhängen wie nach dem G20-Gipfel in Hamburg, als die Bilder brennender Barrikaden im Schanzenviertel den öffentlichen Diskurs zu den Gipfelprotesten prägten und damit der Skandalisierung von Polizeigewalt den Wind aus den Segeln nahmen (Malthaner und Teune 2023) – was sich bis heute beispielsweise in der weitgehend unkritischen Berichterstattung über die »Rondenbarg-Prozesse« als Aburteilung politischer Gewalttäter*innen zeigt, anstatt Taktik und Strategie der Polizei kritisch zu befragen.

Schließlich ist auch bewegungsinterne Radikalisierung als ein Effekt von Konfrontationen gut belegt, d.h. eine Hinwendung von Betroffenen zu Einstellungen, die bisherige politische Denk- und Handlungsmuster radikal in Frage stellen und mit den gängigen Erwartungen an das Verhalten von Protestbewegungen brechen. Dies kann durch eine Hinwendung zu physischer Gewaltanwendung geschehen, wie die Genese dutzender bewaffneter Widerstandsbewegungen – nicht zuletzt auch in der deutschen Geschichte – eindrucksvoll belegt. Die Fragmentierung anfangs friedfertiger Bewegungen und die Entstehung von bewaffneten Gruppen infolge staatlicher Repression, etwa während des arabischen Frühlings (Della Porta et al. 2018), zeigen die Herausforderungen für prinzipiell gewaltfreie Bewegungsakteure, solchen Tendenzen effektiv entgegenzuwirken.

Radikalisierung muss sich aber nicht zwingend in der Legitimierung von Gewalt als Mittel des politischen Kampfes äußern. Im Gegenteil kann gerade die Entscheidung, gewaltfrei zu bleiben, viel radikaler sein als der Griff zur Waffe, wie die Forschung zur amerikanischen Bürgerrechtsbewegung aufzeigt. In einem Kontext, der geprägt war von gewaltsamer Unterdrückung, Ausbeutung und der klandestinen Gewalt rassistischer Milizen, stellte gerade die Schwarze Friedfertigkeit einen Bruch mit den etablierten Konfliktmodi dar (Pineda 2021). Radikalisierung lässt sich in dieser Perspektive also vor allem als eine gegenhegemoniale Tendenz beschreiben – eine Definition, mit dem sich auch viele gegenwärtige radikale Bewegungen besser fassen lassen als über ihr Verhältnis zu physischer Gewalt. Beliebte journalistische Nachfragen nach dem Radikalisierungspotenzial sozialer Bewegungen – etwa nach der »Klima-RAF« – gehen insofern auch am Ziel vorbei. Denn man müsste antworten: Radikalisierung ja, aber Gewalt nein – radikal gewaltfrei eben.

Fazit: Das transformative Potenzial radikaler Proteste

Gewaltzuschreibungen sind in gesellschaftlichen Debatten schnell bei der Hand, um Protest zu delegitimieren (Grimm et al. 2023). Gleichzeitig benennen theoretische Stichwortgeber*innen, wenn es um die Erfolgschancen radikaler Proteste geht, Gewaltlosigkeit als sine qua non des zivilen Ungehorsams. Vor diesem Hintergrund erfordert ein Nachdenken über Wirkungsbedingungen von Protesten, dass die Mechanismen aufgearbeitet werden, nach denen diese Gewaltzuschreibungen erfolgen – und bewegungsinterne wie innerwissenschaftliche Selbstreflexion darüber, unter welchen Bedingungen diese Zuschreibungen gesellschaftlich unkritisch übernommen werden, um Proteste als »radikal« zu diskreditieren.

Aktionen des zivilen Ungehorsams und die Disruptionen, die sie erzeugen, sind bewusst darauf ausgerichtet, sedimentierte Vorstellungen und Ordnungsmechanismen der Realität zu destabilisieren, durch die soziale Missstände reproduziert werden. Sie zielen darauf ab, ihr Publikum zu treffen, herauszufordern und es mit der Frage zu konfrontieren, was es bereit ist zu tun, um diese Missstände zu adressieren. Die Störung und der Schock-Effekt, den sie erzeugen, sind (meist) nicht die Folge einer schlecht durchdachten Strategie, sondern Teil der Aktion. Ziel ist es, eine als absurd empfundene gesellschaftliche Situation zu beleuchten: Etwa die Tatsache, dass die Proteste für einen Waffenstillstand im Nahen Osten mehr mediales Echo erzeugen als das Leid in Gaza; oder dass unsere Gesellschaft um die Dringlichkeit der Klimakrise weiß, aber keinen massiven politischen Kurswechsel einfordert.

Die Wahrnehmung von direkten Aktionen, radikalem Protest, zivilem Ungehorsam – auch die Wahrnehmung von Sachbeschädigungen (großer und kleiner) und der Übertretung von Grenzen ist stark kontextabhängig. Was als Disruption gelesen und empfunden wird, hängt wesentlich von den Skandalisierungsnarrativen und institutionellen Logiken einer Gesellschaft und ihrer Herrschaftsapparate ab, nicht allein von der Protestpraxis an sich. Es hängt auch davon ab, wie viele Menschen durch diese Aktionen kritisiert werden und wie stark sie mit hegemonialen Meinungs- und Handlungsmustern brechen. Disruptive Proteste, die uns kollektiv in die Verantwortung nehmen oder den Spiegel vorhalten – uns konfrontieren mit unserem individuellen Beitrag zum Klimawandel oder mit den Dissonanzen zwischen der deutschen Staatsräson und dem Bekenntnis zu einer völkerrechtszentrierten Weltordnung – haben es grundsätzlich schwerer als themenspezifische Mobilisierung mit engem Adressat*innenkreis.

Klar ist jedoch, dass gerade diese Formen des Protests eine wichtige demokratische Impulsfunktion ausüben, indem sie die Gesellschaft herausfordern und Themen auf die Agenda setzen, die innerhalb institutionalisierter demokratischer Arenen unzureichend Gehör finden. Dieses transformative Potenzial von radikalem gewaltfreiem Protest gilt es zu erkennen, statt zivilgesellschaftliche Anliegen aufgrund ihrer Form oder Symbolik abzulehnen, ohne sich mit ihren Inhalten auseinanderzusetzen.

Anmerkungen

1) vgl. W&F 4/2011 »Arabellion«

2) Unter diesem Gesichtspunkt passen auch die anfänglichen Aktionen der Letzten Generation, die sogenannten Bildattacken, perfekt in eine Kultureinrichtung: Zu anderen Zeiten hätten man sie möglicherweise sogar als Performance Art gefeiert.

Literatur

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Della Porta, D.; Donker, T.H.; Hall, B.; Poljarevic, E.; Ritter, D. (Hrsg.) (2018): Social movements and civil war. When protests for democratization fail. London: Routledge.

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Manna, J. (2022): Foragers. 2K Video, 64min. URL: jumanamanna.com/Foragers.

Martin, B. (2007): Justice ignited. The dynamics of backfire. Lanham: Rowman & Littlefield.

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Souza dos Santos, E. (2024): On militant democracy, (un)civil disobedience, and the right to resistance. DOI: dx.doi.org/10.2139/ssrn.4765599.

Volk, Ch. (2022): Protest und Demokratie. Vorlesung gehalten am 12.12.2022 im Rahmen der Ringvorlesung „Auseinandersetzungen über und in liberale(n) Ordnungen: Zur Kritik und Zukunft des liberalen Skripts.“, FU Berlin, URL: youtube.com/watch?v=LNFkQU6nXI0.

Volk, Ch.; Grimm, J. (2023): Über den demokratischen Gestus von Aktionen des zivilen Ungehorsams im Regime der Unruhe. Forschungsjournal Soziale Bewegungen 36(2), S. 298-313.

Dr. Jannis Julien Grimm leitet die Forschungsgruppe »Radical Spaces« am Zentrum für Interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung (INTERACT) der Freien Universität Berlin.

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Zu diesem Artikel bringt unser Partnerpodcast »Fokus Frieden« im Oktober eine Folge. Hier vorab schon in die Podcast-Serie reinhören: www.podcast.de/podcast/1513467/fokus-frieden

Schritte Richtung Frieden

Schritte Richtung Frieden

Fünf Vorschläge zum Krieg gegen die Ukraine

von Werner Wintersteiner

In der Ukraine kämpfen die Menschen verzweifelt gegen die übermächtige russische Armee, die die Zivilbevölkerung nicht schont, Städte dem Erdboden gleichmacht und schreckliche Kriegsverbrechen begeht. Die USA, die NATO und viele europäische Staaten haben ihrerseits Russland den „totalen wirtschaftlichen und Finanzkrieg“1 erklärt, liefern ständig neues Kriegsmaterial und spielen vor unseren Augen das verlogene Stück des humanitären Militarismus. Die Gefahr eines Atomkriegs ist enorm gestiegen. Welchen Ausweg gibt es aus dieser Katastrophe?

Der Ukraine-Krieg müsste für alle, die ernsthaft etwas zu seiner Überwindung beitragen möchten, zunächst ein Anlass zur Selbstkritik sein. Das gilt auch für Friedensforschung und Friedensbewegung: Haben wir die Situation nicht falsch eingeschätzt? Sind wir nicht von der Brutalität der russischen Kriegsführung überrascht? Haben wir angesichts unserer berechtigten und nach wie vor notwendigen Kritik an der Expansionspolitik der NATO als Konfliktfaktor nicht eine ebenso differenzierte Kritik der russischen Politik oft vernachlässigt? Haben wir uns ausreichend bemüht, ein geopolitisches Gesamtbild zu zeichnen? Hat sich die Friedensforschung nicht zu sehr in Detailfragen verstrickt und damit die große Gesamtfrage des Weltfriedens aus den Augen verloren? Haben wir geopolitische Rivalitäten der Großmächte, die Weltkriegsgefahr, die Emanzipationskämpfe des Globalen Südens, die Klimakatastrophe, die Covid-19-Pandemie usw. ausreichend als Phänomene einer Polykrise dargestellt, aus der es friedenspolitische Auswege braucht?

Nun hat der Krieg selbst neue Realitäten geschaffen, die Fronten und die Gefühle verhärtet und unermesslichen Schaden für alle angerichtet. Und wir beobachten auch bei uns eine verstörende Aufrüstung der Kriegsarsenale und der Seelen. Vollkommene Simplifizierungen des komplexen Konflikts werden als fundierte Analysen verkauft. Die breite Solidarität mit den Geflüchteten ist vielleicht die einzige positive Entwicklung. Sie zu stärken und längerfristig zu erhalten ist eine wichtige Aufgabe der Zivilgesellschaft. Doch darüber hinaus muss an Schritten hin zum Frieden gearbeitet werden. Dazu fünf Vorschläge.

1. Gewaltfreie Strategien im Konflikt unterstützen und propagieren

Es gilt, die bestehenden gewaltfreien Widerstandsaktivitäten in der Ukraine wie auch in Russland und Belarus nach Kräften zu unterstützen und bei uns bekannt zu machen (vgl. McCarthy 2022). In ihrer berechtigten Gegenwehr gegen die russische Aggression setzt die ukrainische Regierung ganz auf den militärischen Widerstand und offensichtlich kann sie sich dabei auf eine breite Mehrheit der Bevölkerung stützen. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch gewaltfreie Aktionen gibt, über die bei uns allerdings nur sporadisch und ohne ihren Zusammenhang darzustellen berichtet wird (siehe dazu den Beitrag von Stadtmann in diesem Heft, S. 15). Bei allem Respekt vor dem Recht der ukrainischen Bevölkerung, selbst zu entscheiden, wie sie ihre Verteidigung gestaltet, ist es doch die Aufgabe der Friedensforschung, mit ihrem Wissen und ihren Einschätzungen an diesen Konflikt heranzugehen. Dazu gehört nicht zuletzt die Erkenntnis vom strategischen Wert gewaltfreier Aktionen, wie er etwa in dem inzwischen klassischen Buch »Why Civil Resistance Works« von Maria Stephan und Erica Chenoweth (2011) nachgewiesen wird. In dieser Studie über 100 Jahre »regime change« wird nachgewiesen, dass Gewaltfreiheit deutlich erfolgreicher und nachhaltiger als ein bewaffneter Aufstand ist, wenn es um die Überwindung diktatorischer Regimes geht. Dabei kommen Methoden wie öffentlicher Protest, Mahnwachen, Sit-ins, Blockaden, Streiks oder Ziviler Ungehorsam zum Einsatz. Das entspricht zwar nicht direkt der heutigen Situation der Ukraine, wo derzeit der Widerstand gegen eine ausländische Invasion im Vordergrund steht, dennoch behalten viele Erkenntnisse der Forschung über Gewaltfreiheit ihre Gültigkeit.

Beide Autorinnen arbeiten auch seit einigen Jahren mit Friedenskräften in der Ukraine zusammen (Kroc Institute 2022). Und Organisationen wie die 2019 gegründete »Ukrainische Pazifistische Bewegung« haben den Mut, sich gegen die herrschende Stimmung zu wenden, die Kriegslogik prinzipiell abzulehnen und sich für die derzeit unpopuläre friedliche Lösung einzusetzen. Yurii Sheliazhenko, Sekretär der Bewegung und Vorstandsmitglied des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung, stellt sich mit allen Kräften gegen die russische Invasion, aber er sieht auch den größeren Kontext, in dem die Ukraine als Schlachtfeld in der Konkurrenz zwischen den USA und Russland dient (Democracy Now 2022).

Wenn heute Ukrainer*innen auf Gewaltfreiheit setzen, verfolgen sie damit mehrere Ziele: Zunächst geht es darum, die militärische Invasion zu verlangsamen und zu stören. Ferner sollen Zivilist*innen geschützt, Gewalt gegen sie soll hintangehalten und Zeit gewonnen werden, die ihnen eine Flucht ermöglicht. Den russischen Streitkräften und der Bevölkerung in Russland soll die Illegitimität ihres Krieges bewusst gemacht werden, und das Desertieren russischer Soldaten ist ein erklärtes Ziel. Letztlich kann wohl nur Widerstand in Russland selbst auf die Dauer eine Verhaltensänderung des Putin-Regimes bewirken. Aber noch immer ist die Mehrheit der russischen Bevölkerung von Putins Argument, er müsse sich gegen die Aggression des von Faschisten geführten Nachbarstaates wehren, mehr oder minder überzeugt.2 Deswegen ist es auch sehr wichtig, die sehr mutigen und beharrlichen Proteste in Belarus und Russland zu unterstützen.

2. Kritik der »Aufrüstung der Seelen«

Auch wenn der ukrainische Widerstand gegen die russische Invasion berechtigt ist, müssen wir uns vor Augen halten, dass das Land systematisch Kriegspropaganda betreibt und wir fast ausschließlich seine Sichtweise vermittelt bekommen. Doch je härter der Krieg geführt wird, je mehr der jeweilige Gegner dämonisiert wird, desto schwieriger wird es, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Das gilt auch für das Klima bei uns. Alle Konfliktparteien, auch die jeweiligen Feinde, dürfen nicht dämonisiert, sondern müssen wieder re-humanisiert werden. Das betrifft die Sprache, das Etikettieren des Anderen und die gewählten Narrative. Und das führt zu kritischen Fragen, ob es wirklich sinnvoll ist, auch alle kulturellen und kommunikativen Kontakte zu Russland abzubrechen.

3. Zivilgesellschaftliche Dialoge zwischen den »Feinden«

Die zivilgesellschaftliche Konfliktbearbeitung darf nicht unterschätzt werden. So schlägt Sheliazhenko eine „unabhängige öffentliche Kommission von Expert*innen“ (Sheliazhenko 2022) zur Mediation in diesem Krieg vor. Doch der Frieden in der Ukraine ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf. Politische Vereinbarungen werden für einen dauerhaften Frieden nicht ausreichen. Es bedarf auch eines gesellschaftlichen Dialogs innerhalb der Ukraine wie zwischen der Ukraine und Russland. Die Zivilgesellschaft kann dazu wichtige Kommunikationskanäle schaffen bzw. tut dies bereits. Auch die von Herbert C. Kelman entwickelten »Interactive Problem Solving Workshops« (Kelman 2017) auf Track 2 oder auch auf Track 3 Ebene könnten dazu als Modell genommen werden. Sie sind ein Weg, in einer geschützten Atmosphäre intellektuelle Energien für kreative Lösungen freizusetzen.

4. Kritik der Militarisierung unserer Gesellschaften

Massives Aufrüsten, Stärkung der NATO und ein offener Militarismus sowie ökonomische Abkoppelung von Russland – das ist die »Lehre«, die die politische Klasse unisono aus dem Krieg zieht. Aber die Welt wird durch ein neues Wettrüsten sicher nicht friedlicher. Die hektischen Rufe nach mehr Waffen lenken auch davon ab, genauer zu untersuchen, warum Putin keinen großen Widerstand von EU und NATO erwartet hat. Grund war nicht eine unzulängliche Bewaffnung, sondern Putin hat gesehen, wie leicht es war, die politische Klasse und führende Wirtschaftskapitän*innen in Europa in sein System einzubinden und damit zu korrumpieren. Schließlich wurde ja auch die heute bedauerte Abhängigkeit Westeuropas von fossiler Energie aus Russland nach der Besetzung der Krim und der Ausrüstung der Rebell*innen im Donbas noch verstärkt. Statt einer Rüstungsspirale und Militarisierung brauchen wir vielmehr die politische Entschlossenheit, die Demokratie mit demokratischen Mitteln zu verteidigen.

5. Langfristige Friedensperspektiven für ganz Europa

Ausrüstung der Ukraine mit immer mehr und effizienteren Waffen, flankiert von einem »totalen Wirtschaftskrieg«, der Russland isolieren und seine Wirtschaft nahezu lahmlegen soll; die Reduzierung Russlands auf einen Paria-Staat, wie Joe Biden forderte (Dreisbach 2022) – das ist die rein militärische Logik, die die USA und die westlichen Staaten verfolgen. Aber wie soll das je in einen Friedensschluss münden? Ein zerrüttetes, atombewaffnetes Riesenreich Russland wäre sicher kein Beitrag zu einem stabilen Frieden. Die Grundidee jeder Friedenslösung, eine Lösung für alle beteiligten Seiten, rückt ganz aus dem Blickwinkel.

Die gewaltfreie Option denkt hingegen über den unmittelbaren Konflikt hinaus und bezieht den komplexen Gesamtkontext ein. Dazu gehört auch ein Nachdenken darüber, wie wir dazu beitragen können, die afrikanische Lebensmittelkrise abzufedern, die durch diesen europäischen Krieg ausgelöst wird. Und die Kritik an der Konflikteskalation durch die NATO, ohne deswegen Putins Russland aus seiner Verantwortung für diesen Krieg zu entlassen. Eine langfristige Friedensoption sollte nicht nur eine neutrale Position der Ukraine enthalten, sondern sie braucht eine größere europäische Lösung. Alle Anstrengungen sollten darauf gerichtet werden, heute das zu schaffen, was nach 1989 versäumt wurde, nämlich eine europäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur. Es wäre die Verwirklichung dessen, was Michail Gorbatschow mit dem schönen Bild vom „gemeinsamen europäischen Haus“ intendiert hat.

So bleibt festzuhalten: „Um den Krieg zu stoppen ist es wichtig, den Diskurs der Angst zu überwinden zugunsten eines Diskurses der Hoffnung für eine bessere Zukunft. Denn die Angst führt zu Gewalt, die Hoffnung aber zu Frieden“ (Sheliazhenko 2022).

Anmerkungen

1) So der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire am 1.3.2022 (zitiert nach: Le Monde Diplomatique (franz. Ausgabe), April 2022, S. 28).

2) Eine Umfrage in Russland im März 2022, die nach Alter und Informationskanälen für die Urteilsfindung der Interviewten fragt, kommt zu folgendem Ergebnis: Die Unterstützung für Putins Krieg steigt rasant mit dem Alter und der damit assoziierten ausschließlichen Nutzung staatlicher Informationsquellen: von nur 29 % unter den 18- bis 24-Jährigen zu 72 % unter den Russen über 51 Jahren (Aleksashenko 2022).

Literatur

Aleksashenko, S. (2022): What do polls say? Behind the Iron Curtain Blog, 13.3.2022.

McCarthy, E. (2022): 5 ways to support courageous nonviolent resistance in Ukraine. Waging Nonviolence, 5.3.2022.

Chenoweth, E.; Stephan, M. J. (2011): Why civil resistance works. The strategic logic of nonviolent conflict. New York: Columbia University Press.

Democracy Now (2022): Ukrainian pacifist in Kyiv: Reckless militarization led to this war. All sides must recommit to peace. Interview mit Yurii Sheliazhenko. 1.3.2022.

Kroc Institute (2022): Civil resistance in Ukraine and the region. Webinar vom 22.3.2022.

Sheliazhenko, Y. (2022): Putin, Biden and Zelenskyy, take peace talks seriously! Videobeitrag auf YouTube, 7.3.2022.

Kelman, H. C. (2017): Resolving deep-rooted conflicts. Essays on the theory and practice of interactive problem-solving. Hrsg. von Werner Wintersteiner und Wilfried Graf. London: Routledge.

Dreisbach, S. (2022): „Putin wird ein Paria sein auf internationaler Bühne“. FAZ, 24.02.2022.

Werner Wintersteiner, Univ.-Prof. i.R. Dr., ist Gründer und ehemaliger Leiter des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Eine längere Fassung dieses Beitrages ist Anfang April auf dem Blog von W&F erschienen: Wintersteiner, W. (2022): Der unterschätzte Widerstand. 6.4.2022.

Nicht anerkennen, nicht kooperieren

Nicht anerkennen, nicht kooperieren

Soziale Verteidigung in militärisch eroberten Städten

von Ulrich Stadtmann

Soziale Verteidigung ist ein nicht-militärisches Verteidigungskonzept. Es beruht auf zivilem Widerstand, dynamischer Weiterarbeit ohne Kollaboration und internationaler nicht-militärischer Unterstützung, wie z.B. Sanktionen. Letzteres findet im Ukrainekrieg neben militärischen Maßnahmen statt. Spontaner ziviler Widerstand zeigt sich dort oftmals in militärisch besetzen Städten. Angesichts einer nicht auszuschließenden Ausweitung des Krieges auch auf NATO-Staaten stellt sich für demokratische Gesellschaften die Frage, inwieweit z.B. Städte mit ihrer Zivilbevölkerung in militärische Kampfhandlungen einbezogen oder besser durch Soziale Verteidigung geschützt werden sollen.

In diesem Winter eskalierte die Lage in Europa durch den Truppenaufmarsch Russlands an den ukrainischen Grenzen und mündete am 24. Februar 2022 im Angriffskrieg gegen die ganze Ukraine. Dagegen verteidigt sie sich militärisch und hat damit eine schnelle Besetzung der Hauptstadt Kiew verhindert. Auch weitere Städte werden durch das nationale Militär verteidigt. Einige wurden eingekesselt, andere auch militärisch eingenommen. Für die Menschen in den belagerten Städten ist die Versorgungslage katastrophal. Zum Leben und Überleben braucht es Nahrung, Wasser, Wohnungen, Strom, Heizung und Krankenhäuser. Wenn eine Stadt im Kriegsverlauf zur Ruine wird, in der die Menschen umkommen, ist dort das zerstört, was verteidigt werden soll.

In den Städten der Ukraine, die von Russland besetzt sind, geht der Widerstand jedoch weiter. Es gibt die Bilder von zivilem Widerstand mit Demonstrationen auf Straßen und Plätzen.1 Dort erleben die russischen Truppen täglich, dass sie nicht erwünscht sind. Ihre propagandistisch geprägte Selbstwahrnehmung, sie seien zur Befreiung gekommen, zerbricht an der Wirklichkeit. Ebenso wie die militärische Verteidigung zielt auch der zivile Widerstand auf die Schwächung der Kampfmoral der russischen Truppen und soll auf Russland insgesamt einwirken.

Städte als Zellen des zivilen Widerstands

Das primäre Ziel Russlands scheint trotz der massiven Raketenangriffe nicht zu sein, Städte in Ruinenlandschaften zu verwandeln; vermutlich sollte eigentlich die Beherrschung der Ukraine angestrebt werden. Deshalb müsste die russische Regierung ein Interesse daran haben, möglichst funktionierende Städte zu kontrollieren. Die Zerstörung der Städte ist dann eher ein Kollateralschaden, der sich aus dem militärischen Kampf ergibt, aber sie wird auch gezielt zur Einschüchterung der Bevölkerung betrieben. Mit der militärischen Besetzung einer Stadt ist jedoch noch nicht die Kontrolle über sie erreicht (vgl. Verschwele 2022). Dazu ist die Besatzung auf die Stadtverwaltung, den Handel und die Wirtschaftsunternehmen sowie die Unterstützung durch deren Personal angewiesen. Auf diesen Voraussetzungen beruht Soziale Verteidigung: Eine Zusammenarbeit fände nur soweit statt, wie sie für die Lebensgrundlagen einer Stadt und die Interessen der Bevölkerung erforderlich ist.

In der Sozialen Verteidigung wird diese von Theodor Ebert entwickelte Idee als „Dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration“ (Ebert 1981) bezeichnet und geht über die öffentlichen Proteste des zivilen Widerstands auf Straßen und Plätzen hinaus. Die Lebensmittelversorgung und die Müllabfuhr, aber auch Polizei und Justiz, Kindergärten und Schulen werden gebraucht und sollten aufrecht erhalten werden. Nach dem Vorbild früherer historischer Fälle von Widerstand gegen Besatzung (z.B. Norwegen im 2. Weltkrieg und Finnland als Teil Russlands vor dem 1. Weltkrieg) strebt Soziale Verteidigung aber danach, alles weiter so auszuführen, wie es schon vor dem Krieg selbstbestimmt gemacht wurde.

Schon vor über 100 Jahren gab es von 1899 bis 1905 in Finnland, das seit 1809 eine autonome Region Russlands war, verschiedene Formen des zivilen Widerstands. „Der Widerstand war gewaltfrei und seine Grundsätze waren: ‚nicht gehorchen, nicht anerkennen, nicht zusammenarbeiten‘. Aus Protest gegen die Russifizierungspolitik des Zaren Nikolaus II. führten viele Beamte die Befehle des russischen Generalgouverneurs nicht aus“ (Hänninen, zitiert nach Arajärvi 2022, S. 3). Reetta Hänninen hat sich in ihrer Masterarbeit über diese Ereignisse auf Akten der Ordnungspolizei der russischen Verwaltung gestützt. Für die Vorsitzende des Bund für Soziale Verteidigung (BSV) Outi Arajärvi, die die Arbeit auf deutsch zusammenfasste, ähnelte dieser Widerstand sehr der Sozialen Verteidigung: „Von überall im Lande gab es Berichte über ungehorsame, widerspenstige und aufsässige Beamte der Post, Zoll, Verwaltung, Banken und Eisenbahn. Befehle wurden missdeutet, missachtet oder das Gegenteil wurde ausgeführt“ (ebd., S. 5).

Jede moderne Stadt- oder auch Staatsverwaltung kann jeden Tag bestens ohne neue Beschlüsse eines Stadtrates oder auch lange Zeit ohne eine neue Regierung arbeiten, wie in Zeiten einer lang andauernden Regierungsneubildung immer wieder zu sehen ist. Also versucht sie, unter einer Besatzung weiter gemäß den alten Grundlagen zu arbeiten und widersetzt sich allen neuen Anordnungen. Die Absetzung oder der Austausch einer Stadtregierung wird keine Herrschaft im Sinne der Besatzer*innen schaffen, wenn sie auf breiten Widerstand stoßen. Denn dann müssen sie auch auf untergeordneten Ebenen dafür sorgen, ihre Befehle durchzusetzen. Das erfordert personalintensive direkte Auseinandersetzungen von Mensch zu Mensch, bei denen das Besatzungsregime mit einer weiteren Demoralisierung seiner Truppen rechnen muss, denn sie werden immer wieder damit konfrontiert, dass sie als Besatzer*innen nicht erwünscht sind.

Wie schwierig es ist, eine Stadt zu beherrschen, die sich im zivilen Widerstand befindet, drückt sich aktuell wohl auch im folgenden Beispiel aus: In der besetzten ukrainischen Stadt Melitopol sollte der festgenommene Bürgermeister zur Kollaboration gezwungen werden, musste aber letztlich wieder freigelassen werden und wurde gegen neun gefangene russische Soldaten der Jahrgänge 2002 und 2003 ausgetauscht (vgl. Gnauck 2022). Die militärische Kapitulation einer Stadt bedeutet deshalb in keiner Weise das Ende des Widerstands. Es ist vielmehr der Wechsel von einer militärischen Kampfform, die in erster Linie ein Territorium verteidigt, zu einer Verteidigung des sozialen Gefüges einer städtischen Zivilgesellschaft.

Nach dem Völkerrecht wäre es auch möglich, eine Stadt zur »Offenen Stadt« zu erklären, die nicht militärisch verteidigt wird und deshalb nicht bombardiert werden darf. Diese Schutzfunktion sollte völkerrechtlich auch auf Städte ausgeweitet werden, die sich nur mit zivilem Widerstand ohne Kollaboration verteidigen.

Soziale Verteidigung klar von militärischen Kampfhandlungen trennen

Die Soziale Verteidigung zielt darauf ab, vorrangig das Leben der Zivilbevölkerung und die Infrastruktur einer Stadt zu schützen und darauf aufbauend durch zivilen Widerstand die Kosten für das angreifende Regime in die Höhe zu treiben. Einerseits soll es möglichst keinen Nutzen aus der Besetzung ziehen können und andererseits einen hohen Personaleinsatz zu finanzieren haben. Damit soll das Regime Gefahr laufen, durch eine Demoralisierung seiner eigenen Truppen vor Ort und an der »Heimatfront« den bisherigen Machtbereich aufs Spiel zu setzen. Es muss damit rechnen, dass seine Machtbasis gespalten wird und ein Umsturz droht, so dass es letztlich nichts hinzugewonnen, sondern alles verloren hat.

Ein solches Kosten-Nutzen-Kalkül kann durch internationale Sanktionsmaßnahmen im Rahmen eines nicht-militärischen Eingreifens unterstützt werden, wie es derzeit vor allem durch die Länder der EU und der NATO praktiziert wird. Die Sanktionen treffen jedoch nicht nur die Verantwortlichen des Aggressors – und diese vielleicht noch am wenigsten. Sie beeinträchtigen vor allem die Zivilbevölkerung und zudem noch die Bevölkerung nicht beteiligter Länder, z.B. durch Nahrungsmittelknappheit. Deshalb sollten sie zum einen zielgerichtet sein, um die Kriegsmaschinerie ins Stocken zu bringen. Zum anderen muss klar gegenüber den einflussreichen Kreisen und der Bevölkerung in Russland signalisiert werden, dass die Beeinträchtigungen aufgehoben werden, sobald die russischen Truppen aus der Ukraine abgezogen werden. Sanktionen sollen keine Bestrafungsaktionen sein. Sie sollten vielmehr darauf angelegt sein, einen positiven Anreiz zu geben und dazu beitragen, den Krieg zu beenden.

Die nicht-militärischen Maßnahmen sowohl in der Ukraine als auch international finden derzeit parallel zur militärischen Verteidigung statt, die vom Ausland mit Waffenlieferungen unterstützt wird. Zudem scheinen zur ukrainische Verteidigung auch militärische Kampfhandlungen in den besetzten Gebieten zu gehören (vgl. FAZ 2022). Hierbei kann dann eine durchaus problematische Überschneidung mit dem zivilen Widerstand entstehen. Zwar dürfte die Besatzung es schwer haben, Kollaborierende zu finden und sie als Marionetten einzusetzen, weil sie damit zur Zielscheibe für bewaffnete Widerstandskämpfer*innen werden. Andererseits werden auch die zivilen Kämpfer*innen leichter zu militärischen Zielscheiben, wenn Soldat*innen sich nicht sicher sein können, ob die Zivilbevölkerung nur als Deckung für eine Guerilla genutzt wird, die gegen sie agiert. Eine klare Trennung der Bereiche, in denen militärisch operiert wird, von denen des zivilen Widerstands ist deshalb eine wichtige Grundlage für Soziale Verteidigung.

Im Kalten Krieg des letzten Jahrhunderts wurde die Ergänzung einer militärischen Landesverteidigung um eine Soziale Verteidigung der Städte im Rahmen von Konzepten defensiver Verteidigung diskutiert. Die dänische Regierung hatte zu Beginn der 70er Jahren eine Studie in Auftrag gegeben über die Möglichkeiten von Sozialer Verteidigung (Boserup und Mack 1974). Litauen hat schon 1991 zivilen Widerstand in seine Militärstrategie aufgenommen und im Jahr 2016 als NATO-Mitglied erneuert. Dabei wurden auch zwei Handbücher über die »Formen und Grundsätze des zivilen Widerstands« im Rahmen der Landesverteidigung herausgegeben (vgl. Bartkowski 2021).

Nach der Erfahrung des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine lässt sich auch ein Krieg auf NATO-Gebiet nicht ausschließen, der zumindest zu Beginn konventionell geführt und hoffentlich nicht auf die atomare Ebene eskalieren würde. Ein Atomkrieg in Mitteleuropa würde alles zerstören, was verteidigt werden soll. Das gilt aber für einen konventionellen Krieg in den Städten und dicht besiedelten Gebieten mit ihrer Industrie ebenso. Mindestens in diesen Bereichen sollte deshalb besser eine Soziale Verteidigung vorbereitet werden.

Nichtkooperieren will gelernt sein

Im Jahr 1988 trafen sich über 1.000 Menschen zu einem Kongress über Soziale Verteidigung. Der aus dem Kongress hervorgegangene Bund für Soziale Verteidigung (BSV) veranstaltete 30 Jahre später erneut eine Tagung über Soziale Verteidigung. Die Geschäftsführerin Christine Schweitzer stellte dazu fest, dass „seit dem bewaffneten Konflikt in der Ukraine 2014 […] zunehmend wieder von der Gefahr eines Krieges in Europa gesprochen“ wird (BSV 2018, S. 6). Angesichts dieser Situation hielt sie es für notwendig, wieder zu überlegen „was ohne Gewalt getan werden kann, falls Prävention und Konfliktbearbeitung versagen und es zum Schlimmsten kommt“ (BSV 2018, S. 28).

Das Gründungsmitglied des BSV und der Grünen Roland Vogt erinnerte auf derselben Tagung an seine Forderung aus der Gründungsphase des BSV zu Beginn der 90er Jahre nach einem »Ministerium für Abrüstung, Konversion und Soziale Verteidigung« (BSV 2018, S. 9). Ein solches Ministerium hätte sicherlich das Wissen um die Möglichkeiten von Sozialer Verteidigung institutionell verankert, bis hinunter auf die lokale Ebene einer jeden Stadt. Auch wenn Soziale Verteidigung spontan angewendet werden kann, wäre eine gedankliche und praktische Vorbereitung sicherlich sinnvoll.

Neben Protestformen, die die Größe des Widerstands zeigen und den Zusammenhalt stärken sollen, müsste die im Konzept der Sozialen Verteidigung angelegte „Dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration (Ebert 1981) treten, die das alltägliche Handeln der Menschen an den Arbeitsstellen leiten soll. Es wäre das Gegenteil von Streik, den es nur in den Bereichen gäbe, die dem Aggressor dienen. Ein entsprechendes »Manöver« könnte in Stadtverwaltungen von Städten durchgeführt sowie wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden, um daraus Handlungsempfehlungen für den »Ernstfall« zu erhalten. Bisher wurde darüber nicht nachgedacht, weil kaum jemand mit der Möglichkeit der Wiederkehr eines Krieges nach Mitteleuropa gerechnet hat. Angesichts der zerstörten Städte in der Ukraine auf der einen Seite und der besetzten Städte auf der anderen, stellt sich jedoch auch in Deutschland die Frage, mit welchen Verteidigungsformen die eigene Stadt geschützt werden soll. Die Städte, die sich für eine Soziale Verteidigung aussprechen, wären besonders geeignet für die Durchführung solch exemplarischer Übungen in Sozialer Verteidigung.

Potential ziviler Widerstandsbereitschaft nutzen

Ein Jahr nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges in den Separatistengebieten hatte das Internationale Soziologische Institut in Kiew eine repräsentative Umfrage in der Ukraine durchgeführt zur Frage, wie die Menschen handeln wollen, wenn es zu einem Angriff auf ihre Stadt und zu deren Besetzung käme. Ein Drittel wusste keine Antwort, 15 % wollten fliehen, 25 % wollten sich militärisch wehren und mehr als 25 % sprachen sich für zivilen Widerstand aus (Bartkowski 2021). Eine derart hohe zivile Kampfbereitschaft bietet ein Potential, das bisher bei allen Verteidigungsplanungen ungenutzt bleibt.

In der Ukraine entscheidet derzeit eher der Zufall des Kriegsverlaufs darüber, ob eine Stadt militärisch besetzt wird und es zu spontanem zivilen Widerstand kommt, wie in Cherson, oder ob eine Stadt belagert und zerstört wird, wie Mariupol. Ein Einwohner Chersons wurde am 24. März mit den Worten zitiert: „Niemand hier wolle so leben wie in Mariupol (Verschwele 2022).

Die Frage, wie die eigene Stadt verteidigt wird, sollte die Zivilbevölkerung demokratischer Staaten vor einem Krieg diskutieren, um die Entscheidung darüber nicht später allein den Militärs zu überlassen. Die Debatte darüber, die eigene Stadt durch Soziale Verteidigung zu schützen, muss jetzt geführt werden und nicht erst, wenn man von einem Krieg im eigenen Land überrascht wird.

Anmerkung

1) Siehe dazu die Sammlung an Beispielen auf der Homepage des Bund für Soziale Verteidigung: soziale-verteidigung.de/artikel/ziviler-widerstand-gegen-krieg-ukraine.

Literatur

Arajärvi, O. (2022): Nicht gehorchen, nicht anerkennen, nicht zusammenarbeiten. „Passiver Widerstand“ in Finnland Anfang des 20. Jh. Hintergrund- und Diskussionspapier No. 78. Minden: Bund für Soziale Verteidigung.

Bartkowski, M. (2021): Ukrainians vs. Putin. Potential for nonviolent civilian-based defense. Minds of the Movement Blog, International Center on Nonviolent Conflict, 27.12.2021.

Boserup, A.; Mack, A. (1974): Krieg ohne Waffen? Studie über Möglichkeiten und Erfolge sozialer Verteidigung. Reinbek: Rowohlt Verlag.

Bund für Soziale Verteidigung (BSV) (Hrsg.) (2018): Schnee von gestern oder Vision für Morgen – Neue Wege Sozialer Verteidigung? Dokumentation der BSV-Jahrestagung, April 2018. Erschienen als Hintergrund- und Diskussionspapier No. 58. Minden: BSV.

Ebert, Th. (1981): Dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration. Graswurzel Revolution 56/1981, S. 28-30.

FAZ (2022): Ukrainer melden Teilrückzug russischer Verbände. FAZ online, 25.03.2022 (aktualisiert: 05:51 Uhr).

Gnauck, G. (2022): „Ich bitte die ganze Ukraine um Entschuldigung“. FAZ, 19.03.2022.

Verschwele, L. (2022): Leben in Cherson unter russischer Herrschaft – Ihre Stadt ist besetzt – aber sie sind nicht besiegt. Der Spiegel, 24.03.2022.

Ulrich Stadtmann ist Dipl. Politologe und Vorstandsmitglied im Bund für Soziale Verteidigung (BSV).

Statthalter in Zeiten von Krieg und Frieden

Statthalter in Zeiten von Krieg und Frieden

Die Rolle der »Comités de Autodefensa Civil« in Peru

von Eva Willems

Die gängige Einteilung in Opfer und Täter*innen, die das Handeln in Kriegszeiten beschreibt, übersieht oft die Ambivalenzen der zivilen Beteiligung an bewaffneten Konflikten. Ein Blick auf die bäuerlichen Gemeinschaften, die während des internen bewaffneten Konflikts in Peru (1980-2000) in zivilen Selbstverteidigungskomitees organisiert waren, gibt Aufschluss über einige dieser Zweideutigkeiten. Die Selbstverteidigungskomitees trugen dazu bei, das tägliche Leben über die rein militärischen Angelegenheiten hinaus zu organisieren, einschließlich Strategien zur Wiedereingliederung ehemaliger Kämpfer*innen des »Leuchtenden Pfads«.

1980 nahm die maoistische Rebellengruppe »Leuchtender Pfad« (Sendero Luminoso) in der Region Ayacucho in Peru ihren bewaffneten Kampf auf, um die Zentralregierung zu stürzen und ein kommunistisches Regime zu errichten. Der Aufstand des Leuchtenden Pfads wurde von den staatlichen Streitkräften mit einer brutalen Kampagne der Aufstandsbekämpfung beantwortet. Nach Angaben der Wahrheits- und Versöhnungskommission (CVR), die nach der politischen Wende im Jahr 2000 eingesetzt wurde, wurden während des Konflikts ca. 69.000 Peruaner*innen getötet oder verschwanden (CVR 2003a). Im Laufe dieses internen bewaffneten Konflikts entstand im Apurímac-Tal, im nördlichen subtropischen Wald der Region Ayacucho, ein weiterer nichtstaatlicher bewaffneter Akteur, der sich den maoistischen Aufständischen entgegenstellte: die zivilen Selbstverteidigungskomitees (»Comités de Autodefensa Civil« oder CADs). Mit dem Gesetzesdekret 741 aus dem Jahr 1991 wurden die CADs als juristische Personen anerkannt und ihre Erlaubnis zum Gebrauch von Schusswaffen formalisiert. Bis 1993 registrierte die Armee 1.564 CADs mit 61.450 Mitgliedern und 5.583 Schusswaffen für das gesamte Departement Ayacucho (Del Pino 1996, S. 181). Die CADs spielten schließlich eine entscheidende Rolle im Kampf an der Seite der staatlichen Streitkräfte, um die militärische Niederlage des Leuchtenden Pfades im Apurímac-Tal zu erreichen. Nach dem Ende des internen bewaffneten Konflikts wurde keine Entwaffnungs- oder Demobilisierungsstrategie eingeführt, und einige CADs fungieren heute noch als lokale Sicherheitskräfte auf der Grundlage des oben genannten Rechtsrahmens.

Auf die peruanischen CADs lässt sich am besten die von Jentzsch, Kalyvas und Schubiger aufgestellte Definition von Milizen anwenden: „bewaffnete Gruppen, die neben regulären Sicherheitskräften operieren oder unabhängig vom Staat arbeiten, um die lokale Bevölkerung vor Aufständischen zu schützen“ (2015, S. 755). Obwohl in der Vergangenheit in Konflikten auf der ganzen Welt Anti-Rebellen-Milizen aufgetaucht sind, werden sie nur selten untersucht, da die Verbreitung nichtstaatlicher bewaffneter Akteure meist aus der Perspektive der Rebellen betrachtet wird. Milizen werden in der Regel entweder als staatsnahe paramilitärische Gruppen oder als staatlich geförderte bewaffnete Beteiligung von Zivilist*innen an Militäroperationen betrachtet. Ein solcher Ansatz birgt jedoch die Gefahr, den autonomen Charakter und die antistaatlichen Eigenschaften einiger Milizen zu verschleiern. Gleichzeitig besteht in der Konflikt- und Postkonfliktforschung die Tendenz, die Handlungsformen während Kriegen in exklusiven Kategorien von Zivilist*innen und Kombattant*innen oder Opfern und Täter*innen zu beschreiben. Die genaue Art und die Beweggründe für die Beteiligung von Zivilist*innen an bewaffneten Konflikten – sei es in Form von Kollaboration, Widerstand oder Selbstverteidigung – sind noch immer mangelhaft konzipiert.

Auch im Postkonflikt-Peru ist die Rolle der CADs sowohl unterbelichtet als auch umstritten. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission kam zu dem Schluss, dass „bei keinem anderen Akteur des Krieges die Grenze zwischen Täter und Opfer, zwischen Held und Schurke, so dünn und durchlässig ist wie bei den Selbstverteidigungskomitees“ (CVR 2003b, S. 74). Dieser Artikel, der auf meiner Doktorarbeit basiert1, beleuchtet die Ambivalenzen der zivilen Beteiligung an bewaffneten Konflikten, indem er ein Gegengewicht zur einseitigen Fokussierung auf den destruktiven Charakter der Milizen schafft (Fumerton 2018, S. 63; Willems 2020). Dies geschieht, indem ich zeige, wie die CADs das tägliche Leben während des Krieges über die rein militärischen Angelegenheiten hinaus regelten, beispielsweise durch die Verwaltung öffentlicher Dienstleistungen, die Aufrechterhaltung des sozialen Zusammenhalts und die Reintegration ehemaliger Kämpfer*innen des Leuchtenden Pfads. Die Ergebnisse sind eingebettet in verschiedene Episoden der Feld- und Archivforschung im Tal des Apurímac-Flusses, die zwischen 2015 und 2021 durchgeführt wurden.

Entstehung bäuerlicher Selbstverteidigung

Während des internen bewaffneten Konflikts änderte sich die Governance-Struktur der bäuerlichen Gesellschaft im Apurímac-Tal drastisch. Während die unterscheidungslose Aufstandsbekämpfung der staatlichen Streitkräfte der unmittelbare Auslöser für die Organisation der bäuerlichen Selbstverteidigung war, hinterließ die Strategie des Leuchtenden Pfads aus Angriffen auf bestehende Regierungs- und Autoritätsstrukturen ein »Governance-Vakuum«, das von den CADs gefüllt wurde (Fumerton 2018, S. 68). Inmitten des Kreuzfeuers begannen die Bäuer*innen, eine alternative und starke lokale Regierungs- und Verwaltungsstruktur aufzubauen. Bis zum Beginn des Krieges hatten viele Bäuer*innen verstreut auf ihrem Land oder in kleinen Weilern gelebt. Wie ein ehemaliger CAD-Kommandant im Bezirk Pichari beschreibt:

„Damals [vor dem Krieg] lebten wir alle getrennt in unserem Haus auf unserem Land. Es gab kein Dorf, das war nicht so wie jetzt. Jeder von uns lebte auf seinem Land.“ (Interview der Autorin 2018)

Um der durch den Konflikt verursachten zunehmenden Unsicherheit zu begegnen, beschlossen die Bäuer*innen an verschiedenen Orten, sich in befestigten Siedlungskernen, den so genannten »zivilen Antisubversionsstützpunkten«, zu sammeln und die Selbstverteidigung in Form von Patrouillen zu organisieren. Ab 1984 entstand im gesamten Apurímac-Tal ein Netz ziviler Selbstverteidigungskomitees mit einem zentralen Hauptquartier in der Stadt Pichiwillca.

Milizverwaltung auch jenseits militärischer Belange

Die Organisation in streng bewachten Stützpunkten oder Selbstverteidigungskomitees ermöglichte es den Bäuer*innen, die Bewegung von Personen auf ihrem Gebiet zu kontrollieren. Pro Familie war mindestens ein Mitglied verpflichtet, sich an den Selbstverteidigungsaufgaben zu beteiligen. Für das Verlassen oder Betreten der Stützpunkte aus anderen Gründen als der Arbeit auf dem Land war eine schriftliche Genehmigung erforderlich.

Auf dem Höhepunkt des Konflikts im Apurímac-Tal in den späten 1980er Jahren beteiligte sich fast jedes aktive Mitglied der Gemeinschaft an Aufgaben im Zusammenhang mit der Selbstverteidigung. Folglich verschmolzen die Gemeinde und die CAD de facto zu einer einzigen Einheit. Die Selbstverteidigungskomitees verteidigten somit die Interessen der Gemeinschaft, was eine ihrer organisatorischen Stärken war, da es ihre Legitimität erhöhte. Die Funktion der zivilen Selbstverteidigungskomitees, die eindeutig in einem Kriegskontext entstanden, ging über die Kriegsangelegenheiten hinaus, da die CADs die wichtigsten Organisatoren des täglichen Lebens im Apurímac-Tal wurden. Sowohl die Archivunterlagen der Selbstverteidigungskomitees als auch die Interviews mit ehemaligen Milizionär*innen und Gemeindemitgliedern deuten darauf hin, dass die CADs während des internen bewaffneten Konflikts weitreichend und systematisch in die Verwaltung der bäuerlichen Gemeinden eingriffen. Dazu gehörten die Verwaltung öffentlicher Dienstleistungen wie der Gesundheitsversorgung, die Organisation von Freizeitaktivitäten wie Fußballturnieren, sowie die Koordinierung der inner- und zwischengemeindlichen Solidarität, beispielsweise die Hungerhilfe oder die Versorgung von Waisen und Witwen. Dazu kamen der Umgang mit Kleinkriminalität, häuslicher Gewalt oder lokalen Konflikten um Land.

Reintegration durch Reue

So wurden die CADs durch die Regelung sowohl kriegsbezogener als auch anderer alltäglicher Angelegenheiten zu wichtigen Trägern der sozialen Ordnung: Inmitten des Kriegschaos institutionalisierte die Bevölkerung durch die Selbstverteidigungskomitees Strategien für das Überleben und Zusammenleben. Das wichtigste Beispiel dafür ist die Praxis des »arrepentimiento« (»Reue«), das die Wiedereingliederung ehemaliger Kämpfer*innen des Leuchtenden Pfades in die Gemeinschaft und das Selbstverteidigungskomitee umfasste. Das bedeutete, dass Mitglieder des Leuchtenden Pfades, die von den CADs gefangen genommen wurden, nicht an die staatlichen Streitkräfte ausgeliefert wurden, sondern die Möglichkeit erhielten, durch eine schriftliche Erklärung Reue zu zeigen, manchmal gefolgt von einer öffentlichen körperlichen Bestrafung. Indem sie ihre Loyalität gegenüber der Gemeinschaft durch aktive Teilnahme an der Selbstverteidigung unter Beweis stellten, konnten die »arrepentidos« anschließend Vertrauen gewinnen oder wiederherstellen. Um ihren Wiedereingliederungsprozess zu erleichtern, bürgten Landbesitzer*innen für die arrepentidos, indem sie ihnen Zugang zu einem Stück Land gewährten oder ihnen eine Anstellung als Lohnarbeiter*innen auf ihrem eigenen Land anboten. Sobald die Gemeinschaft beschlossen hatte, dass sie bleiben konnten, wurden die arrepentidos (wieder) in das Zivilregister eingetragen. Ein ehemaliges CAD-Mitglied beschreibt diesen Prozess wie folgt:

„Es gab zum Beispiel immer wieder Personen, die auf [arrepentidos] trafen, während sie auf ihrem Land arbeiteten, und sie brachten diese dann zur Selbstverteidigungs-Einheit, und die informierten sie, dass sie einen arrepentido gefunden hätten. Und dann haben sie [die arrepentidos] gestanden […], aber die Selbstverteidigung hat verziehen.“ (Interview der Autorin 2018)

Die arrepentidos hätten auch ehemalige Mitglieder derselben Gemeinde sein können, aber aufgrund des Kriegsverlaufs und der Rekrutierungsstrategie des Leuchtenden Pfads landeten viele von ihnen in Gemeinden, aus denen sie nicht stammten. Ein Forschungsteilnehmer berichtet zum Beispiel, wie die arrepentidos aus dem Hochland kamen, um im subtropischen Apurímac-Tal Zuflucht zu suchen:

„Oft kamen sie aus dem Hochland, viele Leute mit ihrer weißen Fahne, die ein Baby trugen, andere gerade erst erwachsen geworden, oder auch eine hochschwangere Frau. Und das Kommando wartete auf sie und wir riefen: ‚Kommen die terrucos [Terroristen], oder was?‘ – ‚Nein, das sind arrepentidos‘, das sagten sie damals. Sie kamen in Herden, wie Tiere, in jedes Dorf.“ (Interview der Autorin 2018)

Die Praxis des »arrepentimiento« kann sowohl als Kampf- als auch als Überlebensstrategie gesehen werden. Der Drang der Bäuer*innen, sich vor den staatlichen Kräften vom Leuchtenden Pfad zu distanzieren, war einer der Hauptgründe für die Existenz der Selbstverteidigungskomitees. Indem sie auf ihre eigenen Wiedereingliederungsstrategien zurückgriffen, anstatt ihre zu Guerriller@s gewordenen Nachbar*innen an die staatlichen Streitkräfte oder die Justiz auszuliefern, vermieden die bäuerlichen Gemeinschaften, als »rote Zone« abgestempelt zu werden, die mit den maoistischen Aufständischen sympathisiert hätten. Gleichzeitig motivierte die Notwendigkeit, die fragile Koexistenz zwischen den Gemeindemitgliedern aufrechtzuerhalten, und die Möglichkeit, wertvolle Informationen über die Position des Leuchtenden Pfads zu erhalten, die Bauern zur Wiedereingliederung der ehemaligen Gueriller@s.

Das durch die Existenz der Selbstverteidigungskomitees verbesserte Sicherheitsgefühl milderte zudem – bis zu einem gewissen Grad – das Gefühl der gegenseitigen Angst und des Misstrauens zwischen den Dorfbewohner*innen, was wiederum das soziale Kapital der Bevölkerung für die Wiedereingliederung stärkte. Darüber hinaus wurde ein großer Teil der arrepentidos vom Leuchtenden Pfad zwangsrekrutiert. Diesen Rekrut*innen, die unter sehr schlechten Bedingungen in Lagern des Leuchtenden Pfades tief im Wald lebten, wurde bei ihrer Rückkehr in die Gemeinschaft oft mit Mitgefühl begegnet. Ein ehemaliger CAD-Kommandant ist gerührt, wenn er sich an die arrepentidos erinnert:

Dort [beim Leuchtenden Pfad] waren die Beteiligten bescheidene Leute, es waren keine vorbereiteten Leute. Es waren bescheidene Bauern, arme Mocositos [rotznasige Kinder]. Sie wurden rekrutiert. Was hatten sie sich zuschulden kommen lassen? Also konnten wir sie auch nicht töten. Das Einzige, was uns blieb, war zu versuchen, sie zu retten. […] Wenn ich mich daran erinnere, was [geschehen ist], so viel Kummer… [fängt an zu weinen]. Wir brachten sie sehr krank, wie hätten wir sie töten können? Man musste sie retten.“ (Interview der Autorin 2018)

Die Bedeutung von Wiedereingliederungsstrategien als grundlegendem Element der Regierungsführung der CADs zeigt, dass die Bevölkerung in einem Kriegskontext, der Druck auf die bestehenden Strukturen der Sicherheit und des sozialen Zusammenhalts ausübt, ein Bedürfnis nach der Gestaltung von Gemeinschaftsbeziehungen hatte.

Schlussfolgerung

Die Zivilbevölkerung wird meist als Opfer dargestellt, das in bewaffneten Konflikten ins Kreuzfeuer der Kriegsparteien gerät. Damit wird die Komplexität ihrer Beteiligung an oder ihre Reaktionen auf Kriegsgewalt und Unsicherheit übersehen. Die CADs waren zwar in der Tat bewaffnete Akteure, die bis zu einem gewissen Grad zur Spirale der Kriegsgewalt beitrugen, aber ihre Rolle unterschied sich grundlegend von der der staatlichen Streitkräfte oder des Leuchtenden Pfads. Ein besseres Verständnis der Art und Weise, wie Milizen während des Krieges für die Regierungsführung sorgen, kann uns nicht nur helfen, bestimmte Konfliktdynamiken besser zu verstehen, sondern auch Erkenntnisse über den Wiederaufbau nach einem Konflikt liefern. Die Untersuchung der (post-)konfliktiven Rolle von bäuerlichen Selbstverteidigungsmilizen wie den CADs – die kein ausschließlich peruanisches Phänomen sind – kann uns helfen, unser Verständnis darüber zu erweitern, wer als konfliktverändernde Akteure während eines bestimmten Konflikts und seiner Folgen gelten kann. Während sich die traditionellen Ansätze zur Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration (DDR) hauptsächlich darauf konzentriert haben, durch die Arbeit mit den Täter*innen wieder Sicherheit zu erlangen, hat das opferzentrierte Feld der Transitional Justice dabei versagt, die potenzielle Rolle bewaffneter Akteure bei der Erleichterung von Prozessen der Reintegration, des sozialen Wiederaufbaus und der Koexistenz (nach dem Konflikt) anzuerkennen. Die Erforschung der Rolle von Milizen beim Wiederaufbau nach Konflikten muss daher eine Brücke zwischen diesen beiden Bereichen schlagen und die vielfältigen Schattierungen von Opfer- und Täter*innenschaft berücksichtigen, die für bewaffnete Konflikte und deren Folgen charakteristisch sind.

Anmerkung

1) Finanziert von der Forschungsstiftung Flandern und dem Sonderforschungsfonds der Universität Gent.

Literatur

CVR (2003a): Informe Final. Lima.

CVR (2003b): Informe Final, Tomo 4. Lima.

Del Pino, P. (1996): Tiempos de Guerra y de Dioses: Ronderos, Evangélicos y Senderistas en el valle del Río Apurímac. In: Degregori, C. I. (Hrsg.): Las rondas campesinas y la derrota de sendero luminoso. Instituto de Estudios Peruanos, S. 117-88.

Fumerton, M. (2018): Beyond counterinsurgency: Peasant militias and wartime social order in Peru’s civil war. European Review of Latin American and Caribbean Studies 105, S. 61-86.

Jentzsch, C.; Kalyvas, S. N.; Schubiger, L. I. (2015): Militias in civil wars. Journal of Conflict Resolution 59 (5), S. 755-69.

Willems, E. (2020): Open secrets & hidden heroes: Violence, citizenship and transitional justice in (post-)conflict Peru. Ghent: Ghent University.

Dr. Eva Willems ist PostDoc Forscherin am ZfK Marburg. Ihre Dissertation zu »Transitional Justice in (Post-)Conflict Peru« wurde 2020 mit den Christiane-Rajewsky-Preis der AFK und dem Romain-Yakemtchouk-Preis der Königlich Belgischen Akademie für Überseestudien ausgezeichnet.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

Unabhängig vor und nach 1989


Unabhängig vor und nach 1989

Entwicklungen der Friedensbewegung in Ostdeutschland

von Alexander Leistner

In den turbulenten Gedenkjahren 2019 und 2020, als sich Friedliche Revolution und Wiedervereinigung zum 30. Mal jährten, spielte die Geschichte und Gegenwart der Friedensbewegung im Osten Deutschlands keine Rolle. Bei solchen Gelegenheiten wird deutlich, dass kollektives Erinnern häufig in Zäsuren denkt und im Fall der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR deren Bedeutung auf den ­Beitrag zum Untergang der SED-Diktatur reduziert wird. Dabei werden deren Anliegen ebenso verdeckt, wie das Fortleben der Bewegung nach 1989.

Die Geschichte der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR vor und nach 1989 ist in vielerlei Hinsicht die Geschichte einer eigenständigen Bewegung (vgl. Leistner 2016). Eigenständig gegenüber der Friedensbewegung in Westdeutschland, weil ihre angesichts scharfer Repression unwahrscheinliche und riskante (Schatten)-Existenz verschiedene Besonderheiten mit sich brachte. Eigenständig auch innerhalb eines Staates, der sich selbst als »Friedensstaat« verstand, weshalb die Aktiven viel Wert auf die Selbstbezeichnung »unabhängig« legen mussten. Die Besonderheiten der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR werden schon bei einem ersten oberflächlichen Blick sichtbar. Die Erinnerung an die bundesdeutsche Friedensbewegung ist geprägt von den bildträchtigen Massendemonstrationen wie bspw. 1983 im Bonner Hofgarten. In der Erinnerung an die unabhängige Friedensbewegung in der DDR fehlen dem gesamtdeutschen kollektiven Gedächtnis dagegen tief eingeprägte Bilder und Aktionen. Allenfalls Symbole werden in der Erinnerung wachgerufen, wie der Slogan »Schwerter zu Pflugscharen« nebst zugehörigem Aufnäher, oder Orte, wie die Leipziger Nikolaikirche als Raum für die Friedensgebete und Ausgangsort für die großen Proteste auf dem Leipziger Innenstadtring 1989. Das Fehlen öffentlichkeitswirksamer Bilder verweist auch auf das Fehlen einer DDR-weiten Öffentlichkeit. Mit der Ausnahme einiger westlicher Journalist*innen, kirchlicher und subkultureller Kreise sowie anderer an den Rand gedrängter Milieus hatten die Gruppen kaum eine Möglichkeit, die allgemeine Bevölkerung auf die eigene Existenz, geschweige denn die eigenen Inhalte, aufmerksam zu machen.

Entstehung einer Bewegung im Schatten

Die unabhängige Friedensbewegung formierte sich unter dem Dach und im Schutz- und Kommunikationsraum von Teilen der Evangelischen Kirche, die – als einzige von der SED unabhängige Großorganisation in der DDR – in eine (teilweise ungewollte) politische Stellvertreterrolle für kritische Gruppen hineinrutschte. Es hatte aber auch inhaltliche Gründe für diese Entwicklung, da in den ostdeutschen Landeskirchen recht früh nach der Staatsgründung eigenständige friedensethische Positionen entwickelt und in den folgenden Jahren mehr oder minder offensiv vertreten worden waren, sofern sie nicht kirchenpolitischen Rücksichtnahmen zum Opfer fielen. Hinzu kamen organisatorische Gründe, da die ersten Friedensarbeitskreise und Friedensseminare der 1970er Jahre an der kirchlichen Basis gegründet wurden und sich „auf die theologische Arbeit in den Kirchen und die legalen kirchlichen Strukturen“ (Neubert 1997, S. 299) stützen konnten. An vielen Stellen zählten auch Pfarrer*innen und kirchliche Mitarbeitende zu den Hauptakteur*innen. Schließlich rekrutierten sich die Gruppen anfänglich vor allem aus kirchlichen und kirchennahen Kreisen.

Der Protest, der sich ab Anfang der 1970er Jahre in diesem Schutzraum artikulieren konnte, war vergleichsweise still und, gemessen an freien Gesellschaften, unspektakulär. Dafür persönlich umso riskanter. Ein Beispiel soll das veranschaulichen. Am Abend des 13. Februar 1982 – dem Jahrestag der Bombardierung Dresdens – saß die 17jährige Annette »Johanna« Ebischbach (später Johanna Kalex) bei ihren Eltern wie unter Hausarrest.1 Im West-Radio hörte sie, dass sich weit über 5000 Menschen in der Kreuzkirche und an der Ruine der Frauenkirche versammelten. Der Anstoß dazu war von Johanna und Freund*innen aus der Dresdner Hippieszene ausgegangen. Aufwühlende Monate lagen hinter ihr. Sie hatte stundenlange Stasi-Verhöre und Ermittlungen wegen »Herbeiführung einer illegalen Zusammenrottung«, für die bis zu acht Jahre Haft drohten, über sich ergehen lassen müssen. Was war passiert?

Persönliche Risiken: die Gruppe Wolfspelz

Die Erinnerung an die Bombardierung der Stadt war staatlich dominiert und von der Kalten-Kriegs-Propaganda gefärbt: von »angloamerikanischem Bombenterror« war die Rede. Im »Friedensstaat« DDR entstanden unterdessen unabhängige Friedensgruppen und in Dresden trafen sich Jugendliche, die von einem Frieden ohne Soldaten träumten und dafür auch aktiv wurden. Sie formulierten einen Aufruf, sich am Jahrestag der Bombardierung mit Kerzen an der Frauenkirche zu versammeln. Sie vervielfältigten ihn erst mühsam mittels Schreibmaschinendurchschlägen, später illegal im Ausbildungsbetrieb einer Mitstreiterin. Über Berlin, Leipzig und andere Städte verteilte er sich in alle Winkel der Republik – intensiv beobachtet von der Stasi, die erheblichen Druck auf die Jugendlichen ausübte. In ihrer Not wandten sie sich hilfesuchend an die lokale Kirchenleitung, die einen Kompromiss aushandelte. Um verbotene Ansammlungen zu verhindern, wurden die Menschen zu einem kirchlich organisierten Friedensforum in der Kreuzkirche umgeleitet. Die Jugendlichen hatten auf diese Veranstaltung nur noch wenig Einfluss. Die Wirkung des Aufrufs war immens. Tausende kamen, obwohl die Stasi alle Zufahrtswege nach Dresden kontrollierte und Unzählige an der Anreise hinderte (vgl. Neubert 1997, S 395f.) Auf Zettel konnten die Jugendlichen in der Kirche Fragen schreiben, die unter Applaus verlesen wurden – ein unschätzbarer Moment von Öffentlichkeit in der Diktatur (vgl. Büscher et al. 1982, S. 264ff.). Es ging in den Fragen um die Verweigerung des Wehrdiensts, um Forderungen nach einem »Sozialen Friedensdienst« als Alternative zur Wehrpflicht, um die atomaren Bedrohungen des Kalten Krieges. Hunderte zogen anschließend mit Kerzen zur Ruine der Frauenkirche. Die Berichte in den Westmedien über diese unerhört große Veranstaltung machten für die landesweit verstreuten Friedensaktivist*innen sichtbar, dass sie eine Bewegung mit einer wachsenden Mobilisierungsbasis waren. Das Forum markiert aber auch den Beginn einer Distanzierung zwischen den Kirchen und den engagierten Gruppen, die auf diesen Schutz angewiesen waren. Als der sächsische Bischof die junge Hippieschar als „Wölfe im Schafspelz“ bezeichnete, benannte die sich in »anarchistische Gruppe Wolfspelz« um und suchte eigene Wege.

Wurzeln und Strömungen der Bewegung bis 1989

Die Wurzeln der Bewegung reichen weit zurück und sind eng gebunden an die Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Die DDR entstand als Kriegsfolgengesellschaft auf den Trümmern des »Dritten Reichs«. Die neuen SED-Machthaber*innen regierten eine Bevölkerung, die in großen Teilen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus nicht wenige von ihnen noch als »Volksschädlinge« angesehen hatte. Als Folge des Arbeiteraufstands von 1953 wurde das System der militarisierten, nach innen und außen gerichteten Herrschaftssicherung stalinistischer Prägung weiter gefestigt. Das Militär und die Militarisierung prägten das gesellschaftliche Leben, weshalb in der Forschung von der DDR auch als »militarisierte Organisationsgesellschaft« (vgl. Leistner 2016, S. 162ff.) gesprochen wird.

Zugleich war die Gesellschaft mentalitätsgeschichtlich betrachtet eine der »kleinen Leute« – geprägt von habitueller Konformität, mit nur wenigen Nischen für eine alternative Lebensführung und resistente oder renitente Sozialmilieus. Im Kontrast dazu hatte sich die Friedensbewegung in den 1980er Jahren als heterogenes, konfliktreiches, sich generational überlagerndes und zeitlich versetztes Nebeneinander von vier Strömungen ausdifferenziert, die sich idealtypisch folgendermaßen unterscheiden lassen:

  • Als »Kriegsablehnungsbewegung« der seit den 1970er Jahren entstandenen unabhängigen Friedensbewegung. Diese arbeitete teilweise seit Jahrzehnten, sie regte thematisch sich ausdifferenzierende Gruppengründungen an und hatte mit ihrer Haltung radikaler Gewaltablehnung einen entscheidenden Anteil am friedlichen Verlauf des Revolutionsherbstes. Getragen wurden diese Gruppen anfangs vor allem von Wehrdienstverweigerern und den sogenannten Bausoldaten.2 Anfänglich kreisten die Themen vor allem um Fragen von Wehrdienstverweigerung und zivilen Ersatzdiensten. Das Spektrum erweiterte sich rasch hin zu Ursachen der Eskalationslogik atomarer Bedrohung und, spätestens mit der Einführung des Wehrunterrichts 1978, um die innere Militarisierung der Gesellschaft. Die Gruppen arbeiteten kontinuierlich und entwickelten Arbeitsmaterialien zur Friedenserziehung und zur einseitigen Abrüstung.
  • Die aus dem real existierenden Sozialismus ausgebürgerten Utopien lebten, genährt von den weltweiten Aufbrüchen der 1960er Jahre und besonders dem Prager Frühling, in großen Teilen der Friedensbewegung als »Reformbewegung« fort, die für einen besseren Sozialismus und 1989 für einen »Dritten Weg« stritten.
  • Gegen die Zukunftslosigkeit, die Konformität und die kleinbürgerliche Enge der Gesellschaft der »kleinen Leute« entwickelte sich eine jugendkulturelle Rebellion. Diese vom Lebenshunger getriebene »Emanzipationsbewegung« suchte Nischen für alternative Lebensformen und Freiräume in einem Land, das sie als Gefängnis erlebten: „Sechs Stunden hoch, vier Stunden breit“.
  • Noch deutlicher wurde die Kluft zu den reformsozialistischen Idealen der älteren Aktivist*innen Ende der 1980er Jahre, als die anschwellende »Protestbewegung« die verschiedenen Gruppen noch stärker politisierte – wie es sich etwa in der Gründung der »Initiative für Frieden und Menschenrechte« ausdrückte. Diese Politisierung markiert eine Wende hin zu mehr Konfrontations- und Risikobereitschaft all jener, die mit der DDR abgeschlossen hatten. Damit war der Weg bereitet für den Zusammenbruch der SED-Diktatur im Herbst 1989, der seinen Ausgang in den Friedensgebeten nahm.

Für den Fortgang der Ereignisse ist kaum zu überschätzen, wie stark die seit Jahren aktiven Gruppen seit Mitte der 1980er Jahre eine alternative Öffentlichkeit herstellten und durch riskante Aktionen in die Öffentlichkeit drängten; dadurch prägten sie die Sprache und Kultur der Revolution. Deren Nachdenklichkeit, Klarheit und Friedlichkeit ließen keinen Raum für Gewalt und Racheszenarien an jenen, die über Nacht ihre uneingeschränkte Macht verloren hatten.

Friedensbewegung nach 1989

War der Weg der Friedensbewegung mit der deutschen Einheit zu Ende? Es verblieben friedensbewegte Engagierte und Gruppen, die sich durch Vereinsgründungen oder neue Aufgabenschwerpunkte stabilisieren konnten. Auffällig ist zunächst die Marginalisierung der Friedensbewegung nach 1989 überall in der ehemaligen DDR. Zwischen 1989 und 1993 verschwanden in Ostberlin, Dresden, Leipzig und Halle weit mehr als die Hälfte dieser Zusammenschlüsse (vgl. Rucht/Blattert/Rink 1997, S. 75). Als Folgeprojekte, in Konkurrenz oder anlassbezogen, entstanden seit 1989 eine sehr begrenzte Zahl heterogener und unterschiedlich stabiler Projektgruppen innerhalb der nunmehr gesamtdeutschen Friedensbewegung:

  • Aktions- bzw. Protestgruppen, die sich über Netzwerkmobilisierung anlassbezogen bilden – etwa angesichts des zweiten Golfkriegs und aller folgenden protest­auslösenden Kriege;
  • Aktionsgruppen, die regelmäßig ritualisierte Protestaktionen organisieren und durchführen – den jährlichen Ostermarsch, das Friedensgebet zum Anti­kriegs­tag, die herbstliche Friedensdekade in den Kirchengemeinden;
  • Problembezogene Protestgruppen, deren Bezugsproblem dauerhaft »vor der eigenen Haustür« liegt – z.B. die Initiativen gegen die Truppenübungsplätze in der Colbitz-Letzlinger-Heide und in der Kyritz-Ruppiner Heide;
  • Schließlich die Professionalisierung hin zur Friedensarbeit, die es erlaubt, das Friedensengagement zum Beruf zu machen – z.B. der 1990 gegründete »Friedenskreis Halle« oder das 1990 aus der Ökumenischen Versammlung heraus entstandene »Ökumenische Informationszentrum« in Dresden.

Sichtbar ist die Rolle von Akteur*innen und Konzepten der DDR-Friedensbewegung bei der Durchsetzung und Etablierung von Instrumenten »Ziviler Konfliktbearbeitung« wie dem »Zivilen Friedensdienst« als konkreter Alternative zu Formen militärischer Intervention. Dessen Etablierung wurde Mitte der 1990er Jahre u.a. von der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg angestoßen, die ersten Ausbildungskurse von Trainer*innen mit eigener Geschichte in der DDR-Friedensbewegung durchgeführt.

Ebenso ist das Engagement in Protestnetzwerken sichtbar, etwa gegen Bundeswehrstandorte. Gruppen und Akteure der DDR-Friedensbewegung gehörten zum organisatorischen Kern der langjährigen Proteste gegen die Truppenübungsplätze in der Colbitz-Letzlinger Heide und das Tiefflugübungs- und Bombenabwurfgelände in der Kyritz-Ruppiner Heide. Gerade der Protest gegen letztgenanntes »Bombodrom« wurde über Jahre zu einem lokalen Kristallisationspunkt der Friedensbewegung, in seiner Funktion dem Wendland für die Anti-Atomkraft-Bewegung nicht unähnlich. Gegründet wurde die Bürger­initiative von lokalen friedensbewegten Pfarrer*innen und Roland Vogt, damals Bevollmächtigter des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg für den Abzug der Sowjetischen Streitkräfte und für Konversion. Zwischen 1992 und dem endgültigen Rückzug der Bundeswehr im Jahr 2010 wurden kontinuierlich Protestaktionen durchgeführt, teils durch die Bürgerinitiativen vor Ort, teils durch antimilitaristische Gruppen, die – nicht ohne Konflikte – stärker auf Aktionen zivilen Ungehorsams drängten (vgl. Hoch/Nehls 2000).

Nicht zuletzt waren und sind Aktive der ehemaligen Friedensbewegung der DDR in inhaltlichen Auseinandersetzungen um friedenspolitische Selbstverständnisse und die Zukunft des politischen Pazifismus engagiert. Die Militärinterventionen Deutschlands in den frühen 2000er Jahren führten zu intensiv ausgetragenen Konflikten in der Bewegung. Paradigmatisch dafür steht die Debatte um einen Artikel des ehemaligen grünen Staatsministers Ludger Volmer von 2002, der der Friedensbewegung in ihrer Ablehnung einer Militärinvasion einen „abstrakt-gesinnungsethischen Pazifismus“ (Volmer 2002) vorwarf, der über einen „Nachkriegspazifismus der fünfziger und sechziger Jahre“ nicht hinausreiche und als Bewertungsmaßstab für die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen untauglich sei. Diese Frontstellung zwischen dem Rigorismus eines »gesinnungsethischen« und dem Pragmatismus eines »politischen Pazifismus«, die Volmer in dem Artikel zuspitzte, prägte selbst seit Jahren die friedensethischen Selbstverständigungsdebatten, in denen Vertreter der ehemaligen DDR-Friedensbewegung eine prominente Stellung einnahmen. So betonte der ehemalige Dresdner Superintendent Christof Ziemer, dass beide Haltungen aufeinander angewiesen seien: der »weisheitliche Pazifismus«, der die Zusammenarbeit mit dem Militär nicht ablehnt und die rigorose Gewaltablehnung eines »prophetischen Pazifismus« (vgl. Ziemer 1999).

Kirchliche Friedensarbeit nach 1989

Auch innerhalb der Kirchen blieb das Friedensthema umstritten. Der Kirchenhistoriker Klaus Fitschen sieht denn auch den politischen Protestantismus ostdeutscher Prägung seit 1989 zunehmend in der Defensive (Fitschen 2013). Trotz Kosovo-Krieg und Afghanistan-Einsatz verabschiedete die EKD erst 2007, den friedensethischen Debatten hinterherhinkend, eine Friedensdenkschrift (»Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen«), in der die friedensethischen Positionen des bundesdeutschen Protestantismus konkretisiert wurden. Bis dahin gab es nur die Denkschrift der EKD-West von 1981 und Stellungnahmen des DDR-Kirchenbundes, wobei Letzterer 1983 mit seiner „Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung“ eine überaus deutliche friedenspolitische Position verabschiedet hatte, die 1987 in den wegweisenden Beschluss »Bekennen in der Friedensfrage« mündete. „Die Reaktionen auf die Friedensdenkschrift von 2007 waren sehr unterschiedlich. Friedrich Schorlemmer kritisierte: ‚Friedenspolitische Erkenntnisgewinne durch Christen in der DDR werden in der Denkschrift ignoriert, als habe es sie nicht gegeben’ […]. Damit sprach Schorlemmer das seit der Wiedervereinigung bestehende Unbehagen jener Kreise an, die sich mit ihrer pazifistischen Entschiedenheit an den Rand gedrängt sahen.“ (Fitschen 2013, S. 45)

Differenzierte Bewegung heute

Seit 1989 hat sich die Bewegung von einst stark ausdifferenziert. Es lassen sich wiederum idealtypisch drei Flügel unterscheiden, wenngleich es in den konkreten Gruppen Überschneidungen gibt.

  • Der protestorientierte Flügel vertritt die Position rigoroser Kriegsablehnung. Vertreter*innen beteiligten sich an riskanten und öffentlichkeitswirksamen Aktionen. Sie reisten Anfang der 1990er Jahre als lebende Schutzschilde in den Irak oder besetzten und entzäunten gewaltfrei das amerikanische Kommando-Zentrum für Europa (EUCOM) in Stuttgart oder den Atomwaffenstützpunkt in Büchel. Sie sind der Stachel im Fleisch einer kriegsgewöhnten Öffentlichkeit.
  • Für den diskursorientierten Flügel ist das Ringen um eine friedenspolitische Position angesichts der stark veränderten politischen Rahmenbedingungen charakteristisch. Er bemüht sich um eine Vermittlung zwischen Befürworter*innen militärischer Interventionen in Bürgerkriegsregionen und radikalen Gegner*innen militärischer Gewalt und um eine differenzierte Haltung in einer sicherheitspolitisch unübersichtlicheren Gegenwart.
  • Als Drittes unterscheide ich einen präventionsorientierten Flügel, der in gewisser Weise zwischen den beiden Polen steht. In ihm verbindet sich die Einsicht in die veränderte sicherheitspolitische Situation mit dem Drang, ganz praktisch etwas tun zu wollen. Eine entsprechende Konjunktur hatte denn auch das Thema »Zivile Konfliktbearbeitung im In- und Ausland« auch in der ostdeutschen Bewegung.

Wie ist die aktuelle Situation? Mit der Professionalisierung als staatlich finanzierte Entsendedienste ziviler Friedensfachkräfte hatten viele Initiativen zwischenzeitlich ihre friedenspolitische Bissigkeit verloren. Aber immer wieder beteiligten sich Gruppen und Organisationen an Kampagnen gegen Rüstungsexporte, für den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland oder zuletzt für »zivile Alternativen in Syrien«. Die Friedensbewegung hält Themen wach, die – obwohl drängend – häufig von der Bildfläche verschwunden sind. Beachtenswert ist dabei die langjährige Kontinuität des Engagements für zivile Konfliktbearbeitung auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens oder das Engagement gegen Rechtsextremismus. Die größte Leistung ist sicher der Beitrag der Friedensbewegung zur Friedlichen Revolution 1989, viel weniger sichtbar sind solche wie die erfolgreichen Proteste gegen das Bombodrom in Brandenburg: ein über Jahre geführter und breit verwurzelter Widerstand der damals noch jungen und nicht eben erfolgsverwöhnten Zivilgesellschaft in den neuen Ländern. Auch daran sollte – selbstbewusst – erinnert werden.

Anmerkungen

1) Eine etwas ausführlichere Biographie von Johanna Kalex und ihrem Wirken findet sich im Personenlexikon des Projektes »Jugendopposition in der DDR« von bpb und Robert Havemann Gesellschaft: www.jugendopposition.de

2) Bausoldaten waren eine Besonderheit des DDR-Rekrutierungssystems. Auf Druck religiöser Gruppen wurde der Dienst in waffenlosen Baueinheiten der NVA 1964 eingeführt. Er war neben Gefängnis die einzige Alternative für Kriegsdienstverweigerer.

Literatur

Büscher, W.; Wensierski, P.; Wolschner, K. (Hrsg.) (1982): Friedensbewegung in der DDR. Texte 1978–1982. Hattingen: edition transit.

Fitschen, K. (2013): Der politische Protestantismus in Ost und West zwanzig Jahre danach: eine missglückte Wiedervereinigung? In: Pickel, G.; Hidalgo, O. (Hrsg.): Religion und Politik im vereinigten Deutschland. Was bleibt von der Rückkehr des Religiösen? Wiesbaden: VS Verlag, S. 39–46.

Hoch, S.; Nehls, H. (2000): Bürgerinitiative FREIe HEIDe. Bombodrom – nein Danke! Berlin: Espresso Verlag.

Leistner, A. (2016): Soziale Bewegungen. Entstehung und Stabilisierung am Beispiel der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR. Konstanz: UVK.

Neubert, E. (1997): Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung.

Rucht, D.; Blattert, B; Rink, D. (1997): Soziale Bewegungen auf dem Weg zur Institutionalisierung. Zum Strukturwandel »alternativer« Gruppen in beiden Teilen Deutschlands. Frankfurt/M.: Campus.

Volmer, L. (2002): Was bleibt vom Pazifismus. Die alten Feindbilder haben ausgedient. Warum militärische Mittel nicht ganz verzichtbar sind. Frankfurter Rundschau, 7.1.2002.

Ziemer, C. (1999): Ein neues Gefühl von Sicherheit ist gefragt. Publik Forum, Nr. 14, S. 10.

Dr. Alexander Leistner, Soziologe, wohnt in Leipzig und leitet an der Universität Leipzig zwei Teilprojekte des BMBF-Forschungsverbundes »Das umstrittene Erbe von 1989« (www.erbe89.de).