Sich nicht vereinnahmen lassen

Sich nicht vereinnahmen lassen

von Dieter Lünse

Im Zuge der vielen innergesellschaftlichen Gewaltvorfälle in den letzten 10 Jahren ist selten versäumt worden Zivilcourage einzufordern. Die öffentlichen Aufrufe für mehr Mut im zivilen Umgang miteinander kommen meist spät und als Appelle von Gewalt abzulassen und Toleranz zu üben – sie betonen nur die moralische Seite. Zur Zivilcourage gehört aber auch, dass Werte die der Zivilcourage entgegen stehen in Frage gestellt werden, kurz: den Widerspruch zur Konformität zu pflegen.

Zivilcourage wird eingefordert bei Gewalt mit einem rassistischen oder sexistischem Hintergrund, bei Gewalt unter Jugendlichen in der Schule oder in der Öffentlichkeit. Doch erst nach unterlassener Hilfeleistung, nachdem viele Menschen weggesehen haben, wird öffentlich der Mut für ziviles Verhalten proklamiert, nicht vorher – obwohl sich in der Rekonstruktion vieler Fälle zeigt, dass oft durch ein anderes Verhalten die Gewalt hätte abgewendet werden könne. Die Mechanismen für couragiertes Handeln werden in der Öffentlichkeit kaum erläutert. Doch damit droht Zivilcourage zu einem moralischen, abstrakten Wert zu werden ohne Wirkung zu entfalten und zur Handlung anzuleiten.

Zivilcourage heißt nicht nur Hilfe für das Opfer, sie steht auch für prosoziales Verhalten, Nonkonformität und Verweigerung gegen autoritäres Auftreten. Zivilcourage zeigt wer gegen den Strom schwimmt. Zivilcourage erfordert Mut, Positionsstärke und die Überwindung von Angst.

In einer Gesellschaft die nur Werte postuliert ohne sie umzusetzen rücken Eigensinn statt Gemeinsinn, Egoismus statt Solidarität und Misstrauen statt Vertrauensbildung in den Vordergrund. Den moralischen Appellen folgt Tatenlosigkeit, Wegsehen droht zum Leitbild zu werden. Zivilcourage muss in Beziehung gesetzt werden zur Tendenz des Konsumismus, des Ich-verankerten Weltbezugs und einem Selbstverwirklichungstrieb. Die ellenbogenbewehrte Durchsetzung eigener Interessen ist die andere Erfahrung, die nicht nur in der Wirtschaftspolitik, sondern auch in der Bildungspolitik mehr gefördert wird als Zivilcourage. Viele LehrerInnen können darüber Auskunft geben. Die Fähigkeit anderen zuzuhören, sich selber zurück zu nehmen und Frustration zu ertragen geht in manchen Klassen gegen Null. Das Ausagieren emotionaler Befindlichkeiten ohne Rücksicht auf die Situation und die rücksichtslose Durchsetzung eigener Interessen gehören zur Schulwelt. Es fehlt den Schulen oft an Möglichkeiten gegenzusteuern und mit anderen Konzepten SchülerInnen wie auch LehrerInnen wieder aktiv zur Eigenverantwortung und Gestaltung der zivilen Formen an der Schule zu gewinnen.

In einer Welt, die stark auf individuelles Glück ausgerichtet ist, obsiegen die egoistischen Ziele. Das ellbogenbewehrte Verhalten bringt nicht nur VerliererInnen und mehr Gewalt hervor, es verschließt auch den Blick auf kooperative Lösungen.

Wenn statt Konkurrenz und GegnerInnenschaft kooperiert wird, steht meistens ein besseres Ergebnis am Ende. Die Kooperation steigert den sozialen Zusammenhalt, verbessert das Klima und gibt den Beteiligten mehr Sicherheit. Ganz anders verhält es sich, wenn Menschen für den eigenen Vorteil arbeiten und sich gegenseitig in ihren Leistungen messen. Sie versuchen nicht sich zu ergänzen, sondern setzen auf den Ausbau ihrer Stellung im sozialen System. Damit verändert sich nicht die Abhängigkeit von einander, nur die Stellung zueinander und der Kampf um Rangplätze. In der kooperativen Zusammenarbeit und Zusammenleben werden Aufgaben delegiert, so dass die oder der Beste sie erledigt ohne einen Bedeutungsverlust und Rangverlust für jemand anderes. In der Kooperation ist mehr Raum für die Arbeit an einer Sache. Dies setzt voraus, dass alle Beteiligten interessiert sind, Aufgaben und auch Verantwortung im Sinne eines gemeinsamen Zieles zu übernehmen.

Die Aufgaben, die Verantwortung und die Ziele auszuhandeln, aufeinander abzustimmen und in Handlungsschritte umzusetzen bedarf verschiedener Kompetenzen:

  • die Entwicklung einer stabilen Position;
  • ein hohes Maß an Phantasie und Kreativität die jemand befähigt sich in andere hinein zu versetzen;
  • der Mut zum Widerspruch auch gegen herrschende Tendenzen;
  • die Fähigkeit zur aktiven, gleichberechtigten Beziehung zu anderen Menschen;
  • das Einnehmen von Außenseiterpositionen um eine andere Sichtweise zur besseren und ausgeprägten Urteilsfähigkeit zu gewinnen;
  • die Fähigkeit den Witz sozial einzusetzen, eine Sache auf den Punkt zu bringen;
  • der Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen;
  • des Vertrauens in die Leistungen anderer;
  • in Fehlern eine Chance für Verbesserung und Lernen sehen, statt sie wertend einer Person anzulasten.

Menschen in diesen Kompetenzen auszubilden, ihnen die Möglichkeiten von Zivilcourage aufzuzeigen bedarf einer anderen Orientierung in der schulischen Bildung und in der Aus- und Fortbildung, es bedarf der kritischen Auseinandersetzung mit Werten, die Zivilcourage entgegen stehen: Von der einseitigen technologischen Perfektion hin zur Ausbildung in sozialen Kompetenzen ist der Blick zu wenden, damit Zivilcourage gezeigt werden kann und nicht einseitig als moralischer abstrakter Wert seiner Wirkung beraubt wird.

Dieter Lünse ist Dipl. Sozial-Ökonom und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation (ikm).

Arbeitslos: Mut finden sich zu wehren

Arbeitslos: Mut finden sich zu wehren

Johannes M. Becker im Gespräch mit Michael Aroff

von Johannes M. Becker und Michael Aroff

Ich treffe Michael Aroff in einem Internet-Café in Marburg. Wir kommen ins Gespräch.

Becker: Was treibt dich ins Internet-Café?

Aroff: Ich surfe im Internet, halte Kontakt mit ehemaligen Studienkollegen in Montpellier, suche Jobs, bewerbe mich, vertreibe mir halt die Zeit.

Was hast du studiert?

In Marburg zunächst Sozialwissenschaften, dann habe ich einen Abschluss in Frankreich an der Uni Montpellier gemacht, später in Gießen ein Lehramtsstudium beendet; Höheres Lehramt für Sozialkunde, Geographie und Französisch. Ende der 80er-Jahre habe ich in Frankreich als Soziologe promoviert. Damals war der universitäre Arbeitsmarkt schon weitgehend geschlossen. In Frankreich hatte ich dann eine auf zwei Jahre befristete Stelle in einem Forschungsprojekt. Als die auslief und nichts anderes in Aussicht stand, habe ich mich entschieden, es als »Freier« zu versuchen.

Was kann ich mir unter der Arbeit als »Freier« vorstellen?

Zuerst habe ich mich bei einigen hessischen Universitäten um Lehraufträge bemüht. Ja, lehren lassen wollten die mich – aber ohne Bezahlung! Wobei 55,30 DM für eine gelehrte Stunde auch mehr ein symbolischer Akt sind bei dem Aufwand, den man hat. Heute leite ich Sportstunden für ältere Menschen in Sportvereinen der Umgebung, gebe Französisch-Kurse an der Volkshochschule, mache manchmal (schlecht bezahlte) Übersetzungen – tja, was man halt ohne festen Job so macht. Gerade habe ich gehört, dass die neue, konservative Landesregierung von Hessen die Landeszuschüsse für die VHS um 30 Prozent kürzen will; dann wird mir vielleicht auch dieses Standbein wegfallen. So wird der Druck immer größer, eine Umschulung zu beginnen.

Was macht dir den Gedanken an eine Umschulung so schwer?

Ich habe nicht – u.a. im Ausland – studiert, zwei Diplome gemacht und drei Staatsexamen – und nicht die schlechtesten – und dann noch promoviert, damit ich jetzt das stupide Füttern von Computern lerne. Meine Ideen vom Leben waren eigentlich ganz andere. Wie meine älteren Geschwister, dachte ich, würde ich einmal einen lebenslangen Job haben, würde Wissenschaftler oder Lehrer werden, vielleicht mal ein Jahr ins Ausland gehen, vielleicht mal etwas Neues dazulernen, aber im Prinzip mit einer festen Anstellung leben. Die gegenwärtige Lage gibt mir nicht die geringste Möglichkeit mein Leben zu planen. Ich kann mich gerade selbst über Wasser halten.

Welche Perspektive siehst du denn für dich?

Ich habe mich, wenn ich das wirklich Mal zusammen zähle, wohl auf 100 Stellen beworben. Manchmal bekomme ich nicht mal eine Antwort. Ich habe mich auch bei den Entwicklungsdiensten erkundigt wegen Auslandsarbeit. Aber mit meinen Fächern kann niemand etwas anfangen. Um im Ausland unter halbwegs annehmbaren materiellen Bedingungen als Lehrer zu arbeiten, muss man im Schuldienst sein. Die Verlage sind völlig zu. Tja, manchmal kann man schon mutlos werden. Außerdem bin ich jetzt 33 Jahre alt. Das wird mir auch schon mal vorgehalten…

Und etwas ganz Neues ins Auge zu fassen?

Einige meiner Ex-KommilitonInnen, denen es ähnlich wie mir geht, haben Verlage gegründet, schreiben für Zeitungen und Zeitschriften, versuchen einen Fuß in den Rundfunk zu bekommen, haben Kneipen gekauft oder gepachtet. Doch nur Wenigen gelingt es mit der Situation klarzukommen, dass man alles, oder zumindest vieles von dem, was man sechs oder acht Jahre studiert hat, vergebens studiert hat. Und über die Bedingungen bspw. als Honorarkraft bei Zeitungen mit Zeilenhonoraren weit unter einer DM machen sich Außenstehende keine Vorstellung! Außerdem ist man völlig rechtlos als freier Mitarbeiter, nicht der Schimmer von sozialer Absicherung!

Einige wenige meiner Bekannten haben sich auch ganz zurück gezogen. Viele leben von den Einkünften ihrer LebenspartnerInnen. Ich könnte meine »Alten Herrschaften« anbaggern. Aber die haben mir schon das Studium finanziert. Zum Sozialamt könnte ich auch gehen. aber die würden sich das Geld von meinen Eltern zurückholen.

Hast du gehört von den Bemühungen anderer europäischer Regierungen, die Arbeitslosigkeit zu senken?

Ja, aus Frankreich vor allem. Aber das Hauptprogramm dort gilt wohl auch nur für Jugendliche unter 25 Jahren. Doch immerhin! Unsere rosa-grüne Regierung zählt heute zu den inaktivsten in der Frage der Arbeitsmarktpolitik. Überall werden die Möglichkeiten des zweiten Arbeitsmarktes eingeschränkt, die Bedingungen für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind für die meisten potenziellen Träger unrealisierbar geworden, wirklich sinnvolle Fortbildungsmaßnahmen werden nicht mehr finanziert usw.

Die Unis klagen auch nur über ihre Überlastung. Aber dass die mal was Wirksames tun würden! Heute lese ich in der Zeitung einen neuen Protest gegen die unzumutbare Situation bei den Marburger Politologen. Aber mit Zeitungsappellen wird man den Konservativen keine neuen Stellen abringen! Und die Studierenden, die einen Studienplatz ergattert haben, halten still. Anstatt den Lehrbetrieb lahmzulegen und ihre Studienbedingungen wirksam zu verbessern!

Auch die Arbeitslosen sind nicht in der Lage sich zu wehren. Hier in Marburg hat im vergangenen Jahr eine Initiative zusammen mit dem DGB zu Aktionen gegen die Kohl-Politik aufgerufen. Was meinst du, wie viele der 4.000 Arbeitslosen sind auf die Aufrufe gekommen? Nicht einmal drei Dutzend! Und kein Wissenschaftler unter ihnen. Die, die Arbeit haben, haben Angst sie zu verlieren. Und die, die keine haben, haben keinen Mut sich zu wehren, wohl auch häufig keinen Mut zu ihrer Lage zu stehen. Auch das ist übrigens in Frankreich ganz anders!