Frieden mit friedlichen Mitteln

Frieden mit friedlichen Mitteln

von Bernhard Nolz

In »Neue Wege zum Frieden« stellen Johan Galtung, Carl G. Jacobsen und Kai Frithjof Brand-Jacobsen TRANSCEND vor: eine Friedensphilosophie und einen Weg, sie in die Tat umzusetzen. TRANSCEND wird von den Autoren als eine Friedens- und Entwicklungsorganisation für Konflikttransformation mit friedlichen Mittel bezeichnet. Bernhard Nolz über die Bedeutung dieser Arbeit und auszugsweise vier Schwerpunkte vorstellend.

Wissensvermittlung und Persönlichkeitsbildung finden in sozialen Zusammenhängen und durch Medien statt. In einer aktuellen Medienerziehung, die zu einem wichtigen friedenspädagogischen Aufgabenfeld gehört, spielt eine kritische Analyse der elektronischen Medien eine ebenso wichtige Rolle wie – und das nicht erst seit »PISA« – die Wissensvermittlung durch das Medium Buch.

Für die Friedenserziehung ist die Auseinandersetzung mit der Macht und den Möglichkeiten der Medien insofern wichtig, als sich gerade in der Berichterstattung über den Bereich des Militärischen bzw. über Vorbereitung und Realisierung von Kriegen ein bedeutendes Manipulationsspektrum findet, das es zu durchschauen und kritisch offen zu legen gilt.

Eine solche Medienerziehung kann als Beitrag zur Schaffung einer Kultur des Friedens angesehen werden.

Friedenskultur orientiert sich an den Prinzipien der Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit, der Mitmenschlichkeit und Nachhaltigkeit:

  • Gewaltlosigkeit als Fähigkeit, sich kritisch und kreativ mit den verschiedenen Erscheinungsformen von Gewalt auseinander zu setzen – sei es physische, körperliche oder strukturelle oder kulturelle Gewalt – und jeweils Wege zur Beseitigung oder Minderung dieser Gewaltformen zu finden und zu gehen.
  • Gerechtigkeit als Sensibilität für Recht und Unrecht im Zusammenleben von Menschen untereinander und mit der Natur und Umwelt.
  • Mitmenschlichkeit als Sensibilität für die Andersartigkeit von Mitmenschen, für deren andere Anschauungen und Probleme, für deren (vielleicht verborgene, unausgesprochene) Bedürfnisse nach Verständnis und Verständigung.
  • Nachhaltigkeit als Sensibilität für Fragen nach einem verantwortungsvollen Umgang mit der Natur und Umwelt, mit nicht regenerierbaren und regenerierbaren Ressourcen unserer Erde.

Für die Entwicklung von Friedenserziehung und Friedenskultur ist das Buch »Neue Wege zum Frieden« ein ergiebiger Ratgeber. Im 2. Teil des Buches beschreibt Johan Galtung seine Konflikt-Transformations-Erfahrungen aus 45 Jahren. Galtung geht davon aus, dass man Konflikten nicht vorbeugen kann, wohl aber der Gewalt, so dass es darauf ankomme, die Konfliktenergie so zu lenken, dass sie eine gewaltfreie und transformierende Wirkung erhält. Diese Wirkungsweise soll an vier Beispielen, die »Neue Wege zum Frieden« entnommen wurden, dargestellt werden.

  • Mit Shir wird eine traditionelle Konfliktlösungsstruktur vorgestellt, die insbesondere verdeutlicht, welche Bedeutung seit allen Zeiten die Gender-Perspektive für die Realisierung gewaltfreier Lösungen von Konflikten haben kann.
  • In Friedensdienst beschreibt Galtung Überlegungen zur Beendigung der Wehrpflicht, die als staatlicher Zwangdienst beurteilt wird. Den Befürwortern der Wehrpflicht hält er die transformatorische Wirkung entgegen, die mit der Einführung eines freiwilligen Friedensdienstes verbunden wäre, weil durch das Prinzip der Freiwilligkeit dem allgemeinen Friedensprozess in der Gesellschaft neue Energien zugeführt werden können. Die Sensibilität für den Frieden scheint deutschen Politikern ab zu gehen, wenn sie stur an der Wehrpflicht festhalten wollen, einen Arbeitszwang eingeführt haben, wie es ihn zuletzt in der NS-Diktatur gab, und die Zwangsschrauben gegen MigrantInnen immer fester drehen.
  • Was wir heute Globalisierung nennen, bezeichnete Johan Galtung vor 40 bzw. 26 Jahren noch als Nord-Süd-Konflikt. Heute würde man auch nicht mehr von Unabhängigkeitskämpfen reden, sondern zur Kenntnis nehmen müssen, dass fast überall auf der Welt die politische »Befreiung« in eine zerstörerische Abhängigkeit durch die Industrieländer und ihre Unterdrückungsinstrumente wie Weltbank und Internationaler Währungsfond (IWF) gemündet ist. Galtungs Vorschläge beziehen sich auf die Überwindung der negativen Folgen der Globalisierung, die sich bis heute verschärft haben und die durch die Politik des Neoliberalismus auf die Bevölkerung der Industrieländer in Form von Sozialabbau und politischer Entrechtung zurück fallen. Johan Galtung weist »prophetisch« auf gewaltfreie Wege zur Konfliktlösung hin, die auf lokaler und regionaler Ebene zum Tragen kommen können und dem Abbau struktureller Gewaltverhältnisse eine positive Gestaltungsmöglichkeit entgegen halten.

Im Folgenden Textauszüge aus o.g. Buch von Johan Galtung zu diesen vier Punkten:

Shir – eine traditionelle Konfliktlösungsstruktur

Konflikt setzt menschliche und soziale, individuelle und kollektive Energie frei und baut sie auf. Die Frage ist, wie diese Energie in Richtungen gelenkt werden kann, die zu konstruktiven und nicht zu destruktiven Ergebnissen führen. Man sehe in die Gesichter, man sehe den Menschen in die Augen, wenn sie sich im Konflikt befinden: Einige sehen matt und apathisch aus, die Augen anderer leuchten vor Aktionsbereitschaft. Die Frage ist, aktionsbereit zu welcher Aktion: zum Kampf auf dem Schlachtfeld oder zum Ersteigen der Gipfel menschlicher Kreativität?

… Wir jedoch suchen einen Weg, wie Menschen gemeinsam kreativ werden können wie z.B. im »Shir« in Somalia.

»Shir« ist eine traditionelle Konfliktlösungsstruktur: Alle reifen Männer der in einen Konflikt verwickelten Klans treffen sich. Frauen, Kinder und junge heißblütige Krieger sind ausgeschlossen. Die Männer lagern sich während des heißen, trockenen Tages unter den Dornenbäumen. Sie schwatzen und trinken Tee. Sie verbringen auch viele Stunden damit, Kat zu kauen, die leicht euphorisierende Droge, die am Horn von Afrika angebaut wird. Sie rauchen, begrüßen einander, freuen sich, alte Freunde – und alte Feinde zu treffen. An irgendeinem Punkt, nehmen die Dinge Gestalt an. Die verschiedenen Teile, die das Hauptproblem bilden, um dessentwillen der »Shir« zusammengerufen wurde, zerfallen in Stücke, weil langsam ein Klima entstand, das einer Lösung förderlich ist. Das Ergebnis ist richtiger Frieden, ein Frieden von innen, ein Frieden, der nichts mit den von den UN organisierten eiligen Konferenzen in Hotels mit Klimaanlage in Addis Abeba gemeinsam hat.

Kurz gesagt: ein Konfliktmarkt, bis an seine Ränder mit Dialogen gefüllt!

Wir nehmen nicht an, dass es einfach wäre, das in diesem Kapitel beschriebene Modell umzusetzen. Wir wollen betonen, dass große intellektuelle Anstrengungen notwendig sind, um fruchtbare Konfliktperspektiven zu entwickeln. Allerdings sollte der intellektuelle Aspekt durch keine Aufmerksamkeit auf das Emotionale und das Unterbewusste, wie man sie auch rechtfertigen mag, geschmälert werden, ganz gleich ob Konflikte eine ausreichende Anzahl von Menschen mit den notwendigen Talenten mobilisieren oder nicht. Das Urteil des 20. Jahrhunderts über den Krieg ist ein schallendes Nein. Wir müssen noch viel lernen und tun, um Konflikte besser zu handhaben.

Friedensdienst

Eine TRANSCEND-Perspektive aus den Jahren 1959 und 1964:

Diagnose

Die Pflicht zum Militärdienst, die 1505 von Machiavelli vorgeschlagen worden war, wurde zuerst 1793 von Frankreich als die Kehrseite der Bürgerrechte eingeführt: Die Pflicht, sein Leben zu geben, wenn der Staat dazu aufrief. Als logische Konsequenz des militärischen Herangehens an Konflikte, das tief in der europäischen Tradition verwurzelt ist, war die Wehrpflicht auch eine Konsequenz der wachsenden Demokratisierung (Teilnahme des »demos«) für Männer. Die Wehrpflicht wirft eine Reihe von Fragen auf:

  • Gibt es eine »militärische Lösung« eines Konflikts?
  • Gibt es eine Alternative für die, die aus irgendeinem Grund »nein« sagen?
  • Könnte die Alternative ein Friedens- oder Entwicklungsdienst sein?
  • Was würde ein solcher Dienst genau enthalten?
  • Wie ist es mit der weiblichen Hälfte der Bevölkerung?

Die Antwort auf die erste Frage bedingt die Antwort auf die folgenden vier. Sie reflektiert die Trennung zwischen Bellizisten (Kriegsbefürwortern) und Pazifisten:

Bellizisten: Es gibt keine Alternative. Wenn ein Kriegsdienstverweigerer-Status akzeptiert wird, soll er nicht attraktiver als der Militärdienst sein und Risiken enthalten. Die Bellizisten sind geteilter Meinung in der Frage, ob Frauen Posten im Militär bekleiden sollten oder nicht.

Pazifisten: Eine Alternative zur Wehrpflicht zu haben ist Menschenrecht. Es sollte auch einen Friedens- bzw. Entwicklungsdienst geben, der allen offen steht, auch Frauen.

Das Staatsmonopol auf Gewalt macht den Staat nicht nur zum Organisator von Militärmacht, sondern auch zu einer Kraft, diejenigen, die es ablehnen, Militärdienst zu leisten, zu exekutieren (als Deserteure), zu verfolgen und ins Gefängnis zu sperren oder ihnen das Recht auf eine Alternative zuzugestehen. Dadurch wird das Problem vom formalen Standpunkt aus zu einem Problem zwischen Staat und Bürger und von einem evolutionären Standpunkt aus zu einem Problem, das neue Wege öffnet, dem Friedensprozess ganzflächig neue Energien zuzuführen.

Prognose

Die Prognose ist positiv, weil es absurd ist, jungen Menschen, die dem Frieden dienen wollen, das Recht dazu zu verweigern (Absurdität: Eine tiefe Diskrepanz zwischen erklärten Zielen und der Realität). In manchen Ländern mag es im Wesentlichen eine Frage der genügend großen Zahl von Kriegsdienstverweigerern sein, nicht nur eine Alternative mit allgemeiner Anziehungskraft zu formulieren, sondern auch diesen Ansatz mit zivilem Ungehorsam zu begleiten, den die Alternative darstellt.

Therapie

Seit den späten 50er bzw. den frühen 60er Jahren ist ein »Friedenskorps«, das nicht nur so heißt, von Wichtigkeit. Es verbindet fünf Aspekte miteinander:

  • Das Friedenskorps leistet Entwicklungsdienst für die Bedürftigsten der Weltgemeinschaft,
  • sein Dienst soll auf Gegenseitigkeit beruhen, nicht nur in Richtung von den reichen zu den armen Ländern; ein Hin- und Herfließen von menschlichen und sozialen Entwicklungsdiensten im Austausch mit technischen Diensten,
  • die Menschen, die diesen Dienst tun, können auch als Konflikt-Lösungs-Korps, bestehend aus Jungen und Alten, Männern und Frauen, dienen; sie sollen sich integer in die Konfliktgebiete begeben, ihre guten Dienste als Zeugen, Helfer bei Konfliktlösung und Versöhnung, beim Aufbau sozialer Netzwerke und der Bestärkung zum Frieden, Errichten von Friedenszonen usw. leisten,
  • Internationalisierung des Korps (wie die Freiwilligen der Vereinten Nationen), womit vermieden wird, dass es zu Propagandazwecken für nur ein Land benutzt wird,
  • Offenhalten für alle: Für Junge und Alte, Männer und Frauen.

Das würde nicht nur sicherstellen, dass Kriegsdienstverweigerer ihre Zeit nicht vergeuden und dass sie das Problem ihrer zunehmenden Polarisierung und Marginalisierung durch die Regierung lösen, sondern es würde auch andere Menschen für einen alternativen, gewaltfreien Dienst für den Frieden als Menschenrecht mobilisieren.

Nord-Süd-Konflikt

Eine TRANSCEND-Perspektive aus den Jahren 1964 und 1978

Diagnose

Was diesen riesigen Komplex zu einem Konflikt-Komplex macht, ist nicht der Umstand, dass einige Menschen reich und einige arm sind, dass die Grundbedürfnisse der einen erfüllt werden und die der anderen nicht, sondern dass einige Menschen deshalb arm sind, weil andere reich sind und umgekehrt. Das nennt man Ausbeutung (oder sanfter ausgedrückt: Unfairness), und es ist allgegenwärtig. Dadurch wird weder Armut noch Reichtum erklärt. Viele andere Faktoren sind am Werk: Einer ist harte Arbeit, ein anderer Gier, aber ein dritter Faktor ist sicherlich der Mangel an Rücksicht und die damit verbundene Ausbeutung.

Der Mangel an Rücksicht ist tief in dem Ökonomismus als Ideologie eingewurzelt, die das Wirtschaftswachstum als Risikobereitschaft unter Bedingungen, die nur der Freie Markt bietet, erklärt, wobei man hofft, durch das Schaffen von Arbeitsplätzen die Wirkung bzw. Verteilung nach unten weiterzuleiten.

Unter gewissen Bedingungen geschieht das tatsächlich, besonders in den Ländern an der Spitze der Weltwirtschaft. Aber die Nebenwirkungen sind für gewöhnlich negativ für die Armen und positiv für die Reichen, denn z.B. sind die Fähigkeiten von jemandem, der das Rohmaterial für den Export ausgräbt, viel weniger gefordert als die eines Menschen, der mit den Problemen der Verarbeitung von Rohmaterial zu ringen hat. Anforderung, Training im Zusammenarbeiten, Verschmutzung und Abnahme der Ressourcen, all diese unsymmetrisch verteilten Nebenwirkungen wirtschaftlicher Aktivität fügen sich zu einem unsymmetrischen Austausch zusammen, der die solide Grundlage bildet, auf der sich die westliche Überlegenheit aufbaut. Da die Wirtschafts-»Wissenschaft« der Grund dafür ist, ist genau sie der Ort, wo die Heilmittel gefunden werden müssen: In einer alternativen Wirtschaft; sie zu schaffen ist eine wichtige intellektuelle Herausforderung. Viele Menschen arbeiten daran. Inzwischen geht die westliche wirtschaftliche Globalisierung weiter, nachdem der rote und der grüne Sozialismus auf Kosten einer ständig wachsenden Ungleichheit überall auf der Welt fürs Erste besiegt sind. Der geschaffene Reichtum kann nicht einmal die reichen Gesellschaften gegen Arbeitslosigkeit, Elend und Krise schützen.

Prognose

Es wird in vielen Gesellschaften Wirtschaftswachstum geben, d.h. durchschnittlich eine Aufwärtsbewegung in der Welt und in vielen Gesellschaften, und es wird eine ständig zunehmende Ungleichheit zwischen reichen und armen Ländern und reichen und armen Menschen in den meisten Ländern geben, wenn die Ideologie des Ökonomismus (Neoliberalismus, Neoklassizismus) tiefer in der Praxis verwurzelt sein wird. In vielen Teilen der südlichen bzw. Dritten Welt wird das zu noch massiverem Elend, zu Gewalt und Migration führen. Im Norden wird es zu massiver Arbeitslosigkeit führen.

Therapie

Wenn man die von der Natur gesetzten Grenzen bedenkt, ist klar, dass der Lebensstandard der reichsten Menschen für die meisten unerreichbar und vielleicht auch nicht wünschbar ist. Aber eine anständige Lebensgrundlage für alle ist eine vollkommen realistische Vorstellung. Dafür ist die Einhaltung einiger Richtlinien notwendig:

  • Alternative Wirtschaft: Das Augenmerk der Wirtschaft vom Wachstum weg und auf die Bedürfniserfüllung aller zu richten, eingeschlossen das offensichtliche »Verinnerlichen der Äußerlichkeiten« (d.h. das, was bisher aus dem Ausland kam, wird im Inland hergestellt) und Bedenken aller Nebenwirkungen.
  • Selbstständigkeit I: Die lokale Produktion der Mittel des Grundbedarfs anregen, besonders auf den Gebieten Ernährung, Kleidung, Obdach, Gesundheitsfürsorge und Erziehung, und über die Notwendigkeiten hinaus zu normalen Konsumgütern fortschreiten, wobei Herausforderungen angenommen, Verschmutzung durch Transport reduziert, Ressourcen besser genutzt und die Nachhaltigkeit geschützt werden.
  • Selbstständigkeit II: Darüber hinaus, Handel mit Partnern auf derselben Ebene, um Abhängigkeiten zu vermeiden. Gemeint ist Süd-Süd-Handel und Süd-Süd-Zusammenarbeit aller Art.
  • Gegenseitige Entwicklungshilfe: Aus demselben Grund soll Entwicklungshilfe nur von solchen Partnern (Ländern) angenommen werden, die ihrerseits bereit sind, im Tausch Entwicklungshilfe anzunehmen. Arme Länder können menschliche und soziale Hilfe im Austausch gegen technische und wirtschaftliche Hilfe anbieten, was Fairness aufbaut.

Vieles davon hängt von der sehr ungleichen Fähigkeit der Zivilgesellschaft ab, d.h. der lokalen Behörden und der NGOs.

Unabhängigkeitskämpfe

Eine TRANSCEND-Perspektive aus den Jahren 1970-1975

Diagnose

Unter dieser allgemeinen Überschrift wurde ein Forschungsprojekt in dem Gebiet, das damals Südrhodesien war, durchgeführt: Teilweise über die Wirkung der Wirtschaftssanktionen gegen die weiße Minderheitsregierung (vier Prozent) nach der einseitigen Unabhängigkeitserklärung (UDI) im November 1965 und teilweise über die allgemeine Strategie eines Kampfes um Unabhängigkeit, in diesem Fall gegen den Kolonialismus der weißen Siedler mit ihrem Anspruch auf Zivilisationsmissionierung, der ihre offensichtlich wirtschaftlichen Interessen krönte. Der Konflikt war dreiseitig; die drei Parteien waren die weißen Siedler, die schwarze Mehrheit (geteilt, aber nicht in dieser Hinsicht) und die sanktionierenden Länder, besonders England. Das Ziel der Siedler war der Status quo durch UDI, das Ziel der schwarzen Mehrheit war eine Mehrheitsregierung, und das Ziel Englands war es, den Prozess zu regeln, indem es das aus dem Ruder gelaufene weiße Regime dazu brachte, sich dem »Mutterland« zu fügen.

Prognose

Die Prognose war, dass die Wirtschaftssanktionen nicht ausreichen würden, um das Regime aus dem Sattel zu heben, teilweise weil die Republik Südafrika und das weiße Siedler-Regime desjenigen Gebietes, das damals die portugiesischen Kolonien Angola und Mozambique umfasste, zur Hilfe kommen würden und teilweise, weil Wirtschaftssanktionen die Tendenz haben, die Ziele der Sanktionierten zu stärken und Innovationen zu stimulieren. Aber wichtiger war eine andere Prognose: Dass die schwarzen Freiheitskämpfer die Herren werden wollten und durch ihre eigene Befreiung eine andere Art von Beziehung hervorbringen würden, die nicht mehr so war wie die Beziehung zwischen England und dem Weißen Rhodesien. Anders gesagt: Die Freiheitskämpfer würden lieber ihren Kampf aufnehmen als darauf warten, dass die Wirtschaftssanktionen greifen würden. Der Kampf war ein gewaltsamer Guerillakampf, kein Kampf mit friedlichen Mitteln. Zu dieser Zeit waren Wirtschaftssanktionen zwar wenigstens weniger gewaltsam, aber dafür fast völlig wirkungslos.

Therapie

Der Lösungsvorschlag war ein Freiheitskampf mit völlig gewaltfreien Mitteln. Konflikttransformation und Kreativität kamen nicht in Frage: Kolonialismus kann nicht, ebenso wenig wie Sklaverei, transformiert werden, er muss abgeschafft werden. Es gibt keinen Raum für Kompromisse. Die einzige Frage war, wie und wann man sich über untergeordnete Probleme einigen würde, z.B. darüber, welche Garantien den Siedlern gegeben werden konnten, die als Bürger Zimbabwes im Land bleiben wollten.

Führende weiße Sicherheitsfachleute gaben zu verstehen, dass das, was sie am meisten fürchteten, eben solche massive Gewaltfreiheit war, z.B. in Form eines gewaltfreien Marsches auf Salisbury (jetzt Harare), womöglich von Frauen und Kindern. Sie meinten, sie könnten mit Guerillas umgehen, aber nicht mit massiver Gewaltfreiheit.

Die Reaktion der Freiheitskämpfer brachte einen anderen Aspekt zu Tage: Den Konflikt über die Eigentümerschaft der Befreiung. Der Kampf um Unabhängigkeit ist auch ein Kampf der Männlichkeit, der Selbstbestätigung, wenn nötig mit Gewalt, kein »weiblicher Kampf wie Gandhis«. Verhandlungen haben auch deshalb ihre Grenzen, weil sie die andere Seite des Kolonialismus, die Erniedrigung, das Elend von Generationen unter weißer Herrschaft, nicht berücksichtigen. Dazu kommt noch die Darstellung von Macho-Tapferkeit als Schlüssel zur Macht, wenn der Kampf vorüber ist und die schwarze Mehrheit herrscht.

Dieselbe Reaktion war in der Akhali-Bewegung für den Sikh-Staat Khalistan, der von New Delhi unabhängig sein sollte, zu beobachten: Singh heißt Löwe! Und in der kurdischen Bewegung für kurdische Autonomie: Das Problem war nicht Wirksamkeit oder Effizienz, sondern: Wer übernimmt in einem festen Patriarchat die Macht, wenn der Kampf vorbei ist, Männer oder Frauen.

Das Problem ist allgemein. Traditionelle Gewaltmittel beansprucht die Kriegerkaste für sich allein. Klasse und Geschlecht bleiben bestimmend, auch wenn die Akteure wechseln. Beim üblichen gewaltsamen Kampf überlebt das Patriarchat. Die Herausforderung besteht darin, Unterdrückung, Gewalt und Patriarchat gleichzeitig zu überwinden. Wahrlich eine riesige Aufgabe.

Literatur

Johan Galtung, Carl G. Jacobsen, Kai Frithjof Brand-Jacobsen: Neue Wege zum Frieden. Konflikte aus 45 Jahren: Diagnose, Prognose, Therapie, herausgegeben vom Bund für Soziale Verteidigung, Minden 2003, 391 S., 15,90 Euro

Bernhard Nolz ist Vorsitzender des Bundes für Soziale Verteidigung (BSV), Sprecher der Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF), Geschäftsführer des Zentrums für Friedenskultur (ZFK) Siegen, Träger des Aachener Friedenspreises, Träger des Preises für Zivilcourage der Solbach-Freise-Stiftung.

Die 68er und die Gewaltfrage

Die 68er und die Gewaltfrage

von Wolfgang Sternstein

Im Zuge der aufgeregten, von durchsichtigen politischen Interessen geleiteten öffentlichen Debatte über die Vergangenheit grüner Bundesminister ist das Jahr 68 und seine Folgen erneut ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Dabei fällt das Urteil über die StudentInnenrevolte, für die das Jahr 68 als Chiffre steht, noch immer – je nach politischem Standort – höchst unterschiedlich aus. Das liegt nicht zuletzt an den sehr verschiedenen Vorstellungen, die die Urteilenden mit dem Symboljahr 68 verbinden. Die einen assoziieren mit ihm Krawall auf den Straßen, demonstrierende Studierende, die Ho Tschi Minh-, Guevara-, Lenin-, Luxemburg- und Liebknecht-Portraits im Laufschritt durch die Straßen trugen und »Amis raus aus Vietnam« skandierten. Sie erinnern sich an Sitzblockaden, um die Auslieferung der Bildzeitung zu verhindern, an umgestürzte und brennende Lieferwagen und die Parole »Enteignet Springer«, an Steine und Brandflaschen werfende Demonstranten, kurzum, an einen Aufruhr, der geradewegs in den Terror der Rote Armee Fraktion (RAF) und der Revolutionären Zellen (RZ) hineinzuführen schien. Die anderen assoziieren mit 68 den Aufstand der Jugend gegen die verkrusteten, autoritären Strukturen der bundesdeutschen Gesellschaft, den Kampf gegen Notstandsgesetze und Vietnamkrieg, gegen Kapitalismus und Imperialismus. Für sie bedeutet 68 ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Demokratisierung, Liberalisierung und Modernisierung der Republik.
Welches dieser so unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Bilder trifft die Wirklichkeit oder sind womöglich beide falsch, zumindest einseitig? Haben das Jahr 68 und seine Folgen eher zur Demokratisierung der Bundesrepublik beigetragen oder eher zur Aufrüstung der staatlichen Machtapparate, insbesondere der Polizei, des Verfassungsschutzes und des Bundeskriminalamts, zu Gesinnungsschnüffelei und Berufsverboten sowie zur Demontage von Grundrechten im Zuge der Terrorismusbekämpfung? Um diese Frage beantworten zu können, erscheint es mir unumgänglich, einen Blick auf die Vorgeschichte des Jahres 68 zu werfen.

Meines Erachtens bestimmen zwei Traditionslinien die Ereignisse jener Zeit, die vom Juni 1967 bis zum Oktober 1969 reicht: Die Traditionslinie der gewaltfreien und die der gewaltsamen Emanzipationsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt. Die erstere wird repräsentiert durch den Unabhängigkeitskampf Indiens unter Führung von M.K. Gandhi, die letztere durch den Unabhängigkeitskampf Chinas unter Führung Mao Zedongs.

Werfen wir zunächst einen Blick auf das von Gandhi in Südafrika im Kampf gegen die Entrechtung der indischen Minderheit entwickelte Konzept der gewaltfreien Aktion als einer Methode der Konfliktlösung. Gandhi bricht radikal mit der machiavellistischen bzw. jesuitischen Maxime: Der Zweck heiligt die Mittel, und wenn er sie schon nicht heiligt, so rechtfertigt oder entschuldigt er sie zumindest. Positiv formuliert: Zweck und Mittel, Weg und Ziel müssen übereinstimmen, soll der Zweck erfüllt, das Ziel erreicht werden. Daraus folgt: Die Demokratie kann letztlich nur durch demokratische, der Frieden nur durch friedliche und eine gewaltfreie Gesellschaft nur durch gewaltfreie Mittel erkämpft oder verteidigt werden. Sollte sich diese Prämisse als richtig erweisen – Gandhi war aufgrund seiner zahlreichen »Experimente mit der Wahrheit« von ihrer Richtigkeit überzeugt – so ergibt sich daraus eine radikale Absage an die revolutionäre Gewalt als Mittel zur Überwindung personaler und struktureller Gewaltverhältnisse. Desgleichen ist jeder Versuch, Gewalt durch die Androhung von Gegengewalt in Schranken zu halten oder sie durch den Einsatz von Gegengewalt zu überwinden, langfristig betrachtet, zum Scheitern verurteilt. Er führt nur zur Vermehrung und Verewigung der Gewalt.

Im Gegensatz dazu ist die gewaltfreie Aktion für Gandhi eine universale Methode der Konfliktlösung. Sie kann, vorausgesetzt es handelt sich wirklich um Gewaltfreiheit, bei Konflikten auf allen gesellschaftlichen Ebenen, angefangen bei persönlichen Konflikten, wie sie jeder von uns kennt, über Gruppenkonflikte bis zu regionalen, nationalen und internationalen Konflikten mit Aussicht auf Erfolg angewandt werden. Desgleichen kann sie bei Konflikten unterschiedlichster Art eingesetzt werden, wie Gandhi durch seine zahlreichen Kampagnen demonstrierte, so zum Beispiel im Kampf gegen Ausbeutung (Textilarbeiter in Ahmedabad, Indigobauern in Tschamparan), gegen Diskriminierung (rassistische Diskriminierung der Inder in Südafrika, religiöse und soziale Diskriminierung der Unberührbaren und der Frauen in Indien) und last not least gegen politische Unterjochung, wirtschaftliche Ausbeutung und kulturelle Entfremdung durch das britische Kolonialregime.

In all diesen Emanzipationskämpfen setzt Gandhi auf eine Strategie der Eskalation gewaltfreier, direkter Aktionen als Mittel zur Dramatisierung des Unrechtszustandes, den es zu beseitigen gilt. Er greift dabei auf das von den euro-amerikanischen Emanzipationsbewegungen entwickelte methodische Instrumentarium zurück: Organisation der Betroffenen, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Petitionen, Versammlungen, Protestmärsche, Mahnwachen, Streiks, Boykotte und andere Formen der Nichtzusammenarbeit, ziviler Ungehorsam und – als äußerstes aber auch wirksamstes Mittel – das Fasten bis zum Tode.

Gandhi lehnt Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung aber nicht nur aufgrund religiöser und ethischer Motive, sondern ebensosehr aufgrund pragmatischer und taktischer Überlegungen ab. Wenn die Zweck-Mittel-Relation gilt, dann ist Gewalt als Mittel zur Überwindung von Gewalt schlicht untauglich. Weiterhin werden durch den bewussten Verzicht auf Gegengewalt zwei taktische Ziele erreicht: Die Eskalation von Gewalt und Gegengewalt wird effektiv verhindert und für die Öffentlichkeit wird sichtbar, von wem die Gewalt ausgeht. Auf diese Weise wird öffentliche Sympathie für die Sache der Gewaltfreien mobilisiert. Selbst in einem Staat mit Medienzensur wirkt der bewusste und überlegte Gewaltverzicht auf die unmittelbar Beteiligten, vielleicht sogar stärker als in der manipulierten, veröffentlichten Meinung einer mit Informationsmüll zugeschütteten Gesellschaft.

Was die religiösen und ethischen Motive für Gandhis Strategie der gewaltfreien Aktion anbelangt, so definiert er Gewaltfreiheit nicht nur negativ als Gewaltverzicht, sondern positiv als eine schöpferische, aufbauende und heilende Kraft, die die Gewalt überwindet. Diese Kraft nennt er Satjagraha, was so viel heißt wie Festhalten an der Wahrheit, Kraft der Wahrheit, Kraft der Liebe oder der Seele. Martin Arnold hat dafür im Anlehnung an Albert Schweitzer den Begriff »Gütekraft« vorgeschlagen.1 Gewaltfreiheit in diesem Sinn besteht in der Fähigkeit, Gewalt hinzunehmen ohne zurückzuschlagen, aber auch ohne zurückzuweichen, um sie auf diese Weise zu überwinden. Die Kette der Gewalttaten, die sich in Aktion und Reaktion, Angriff und Verteidigung durch die Geschichte hinzieht, gelangt auf diese Weise an ein Ende. Wie ich an anderer Stelle zu zeigen versuchte, verbindet Gandhis Strategie der gewaltfreien Aktion die positiven Aspekte des Bellizismus und des Pazifismus und vermeidet ihre negativen.2Ich muss es bei dieser stark vereinfachten und deshalb zu mancherlei Missverständnissen Anlass gebenden Darstellung von Gandhis Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion bewenden lassen und verweise auf die einschlägige Literatur.3Von Gandhi führt eine direkte Linie zu Martin Luther King und zur amerikanischen Bürgerrechtsbewegung.4 King übernahm nicht nur Gandhis Methoden und passte sie den amerikanischen Verhältnissen an, er machte sich auch die ihnen zugrundeliegende Haltung zu eigen und verband sie – er war ja Baptistenpfarrer – mit dem jesuanischen Gebot der Nächsten- und Feindesliebe. Die Kampagnen der Bürgerrechtsbewegung, z.B. die »sit ins« in rassengetrennten Bussen und Restaurants, die »go ins« in Parkanlagen, die Weißen vorbehalten waren, den Busboykott von Montgomery oder den Kaufhausboykott von Birmingham im Einzelnen darzustellen erübrigt sich, zumal es dazu eine umfangreiche Literatur gibt.

Von King und der Bürgerrechtsbewegung führt die Traditionslinie weiter zur Revolte der amerikanischen Studenten, insbesondere an der kalifornischen Eliteuniversität Berkeley, in den Jahren 1965 und 66 sowie der Widerstandsbewegung gegen den Vietnamkrieg, der sich übrigens auch King vor seiner Ermordung 1968 anschloss. Die Studentenbewegung erweiterte das Repertoire der gewaltfreien Methoden um das »teach in«, das ist die Versammlung interessierter und engagierter Studenten auf dem Campus, um in einem »herrschaftsfreien Diskurs« (Habermas) den Konflikt zu erörtern und gegebenenfalls weitere Aktionen zu beschließen. Die Widerstandsbewegung gegen den Vietnamkrieg erweiterte das Aktionsinstrumentarium durch den Aufruf zur Fahnenflucht und durch symbolische Zerstörungsakte, wie das Verbrennen von Einberufungsbescheiden mit Napalm durch die Brüder Philip und Daniel Berrigan u.a.

Von den USA sprang der Funke der Rebellion schließlich auf den europäischen Kontinent über, namentlich auf Paris, Berlin und Frankfurt. Auf dem langen Weg von Indien über die USA nach Europa wurde das von Gandhi entwickelte gewaltfreie Aktionskonzept allerdings weitgehend entleert und verwässert. Die direkten Aktionsmethoden entarteten zu Ritualen der gezielten Provokation durch »begrenzte Regelverletzungen«. Selbst das »teach in« degenerierte zur reinen Agitationsveranstaltung, wie der Verfasser aus leidvoller Erfahrung weiß. Die Staatsgewalt, deren autoritäre Strukturen die Weimarer Republik und das »Dritte Reich« im Wesentlichen unbeschädigt überdauert hatten, ließ sich dann auch leicht provozieren. So kam es nach den Schüssen auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 zu einer verhängnisvollen Gewalteskalation. Zwar wurde in der Szene noch subtil zwischen »Gewalt gegen Sachen«,5 die zu bejahen, und »Gewalt gegen Personen«, die abzulehnen sei, unterschieden, doch mit der »Schlacht am Tegeler Weg« im November 1968 in Berlin überflutete die Welle der Gegengewalt diesen niedrigen Damm der Selbstbeschränkung. Zum ersten Mal wurden bei dieser »Schlacht« Polizisten – im Szenejargon verächtlich »Bullen« genannt – durch Steinwürfe in die Flucht geschlagen, wobei 130 Beamte zum Teil erheblich verletzt wurden. Publikationen der Außerparlamentarischen Opposition (APO) feierten die Schlacht am Tegeler Weg als großen Sieg. Endlich hätten die Demonstranten einmal die Bullen gejagt, statt von ihnen gejagt zu werden. In Wahrheit leitete gerade dieser vermeintliche Triumph den Niedergang der 68er Revolte ein. Die Gemäßigten wandten sich ab, die Radikalen gerieten in die gesellschaftliche Isolation. Da die APO durch das Attentat auf Dutschke keine integrierende Führergestalt mehr besaß, zersplitterte sie in zahlreiche Fraktionen, die sich teilweise erbittert bekämpften. Da gab es – um nur die Hauptgruppen zu nennen – die Jungsozialisten (Jusos) und die Jungdemokraten (Judos), die die kapitalistische Gesellschaft der Bundesrepublik durch »systemüberwindende Reformen« in eine sozialistische überführen wollten, die dogmatische Linke der K-Gruppen sowie die undogmatische Linke der Spontis und Autonomen, die die Konfrontation mit der Polizei suchten und schließlich die Terroristen der Rote Armee Fraktion (RAF) und der Revolutionären Zellen (RZ), die sich als Vorhut der Weltrevolution in den kapitalistischen Metropolen verstanden. Die Methoden der direkten Aktion waren am Ende nicht mehr als leere Hülsen, die nun mit revolutionärem Inhalt gefüllt wurden.

Ich komme damit auf die zweite Traditionslinie der APO, die sich schon bald gegenüber der ersten durchsetzen sollte, zu sprechen. Es handelt sich, wie bereits angedeutet, um den revolutionären Befreiungskampf in den Ländern der Dritten Welt, insbesondere den der Kommunistischen Partei Chinas unter Führung Mao Zedongs.

Die Parallelität der beiden Traditionslinien in ihren Anfängen ist frappant, handelt es sich doch um die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Erde, um eine sich über Jahrzehnte hinziehende Auseinandersetzung unter der Leitung bedeutender Führerpersönlichkeiten, die schließlich nahezu zeitgleich den Sieg errang: In Indien und Pakistan 1947, in China 1949. Aber nicht Gandhis Konzept der gewaltfreien Aktion wurde zum Paradigma der revolutionären Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, sondern das Konzept des revolutionären Befreiungskrieges. Es fiel, an die spezifischen Verhältnisse der jeweiligen Länder angepasst, in Asien (Nordkorea, Nordvietnam, Kambodscha), Lateinamerika (Kuba, Nicaragua) und Afrika (Algerien, Mosambik, Angola, Simbabwe) auf fruchtbaren Boden.

Es erübrigt sich, auf Maos Konzept des revolutionären Befreiungskrieges, das sich im Wesentlichen auf eine Guerillakriegsstrategie stützt, näher einzugehen, da es als bekannt vorausgesetzt werden kann. In den sechziger und siebziger Jahren übertrug Mao die Strategie der Eroberung der Städte vom Lande aus, mit der er die Macht in China errungen hatte, auf die Weltsituation. Die »Weltstädte« Nordamerika, Europa und Japan sollten von den »Weltdörfern« Asien, Lateinamerika und Afrika aus erobert werden.6Der Sowjetunion hatte Mao in diesem weltrevolutionären Drama ursprünglich die Rolle eines Bundesgenossen zugedacht. Sie verweigerte sich indes mit dem Hinweis auf die unabsehbaren Folgen eines atomaren Weltkriegs. Deshalb wurde sie von Mao zum Feind erklärt und als revisionistisch und sozialfaschistisch verunglimpft. Durch die Grenzkonflikte am Ussuri und Amur eskalierte der Konflikt bis an die Schwelle eines Bruderkrieges zwischen den sozialistischen Staaten.7

Die 68er verstanden sich – zumindest was ihre radikalsten Protagonisten Dutschke, Rabehl, Cohn-Bendit und Krahl anbetraf – als Teil dieser weltrevolutionären Bewegung. Mit der Rechtfertigung revolutionärer Gewalt, die ja von der Prämisse ausgeht, es sei möglich, die strukturelle Gewalt der bestehenden Macht- und Besitzverhältnisse durch Gewalt zu überwinden, hatten sie, wie schon die Klassiker des Marxismus, keine Probleme. Gewalt galt ihnen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als unvermeidlich, sei es im Angriff auf die Machtpositionen der Herrschenden oder, nach dem Sieg der Revolution, zu ihrer Verteidigung, d.h. zur Repression der als konterrevolutionär qualifizierten inneren und äußeren »Feinde«.

In den industriellen Metropolen – also auch in der Bundesrepublik – lehnten sie den Einsatz revolutionärer Gewalt jedoch aus taktischen Gründen ab, jedenfalls solange sich in ihnen keine revolutionäre Situation herausgebildet hatte. Dutschkes oft zitierte Parole vom »langen Marsch durch die Institutionen« steht dazu nicht im Widerspruch. Er meinte damit keineswegs den Marsch in die politischen und gesellschaftlichen Machtpositionen der Bundesrepublik, um sie aus den Zentren der Macht heraus zu revolutionieren. Vielmehr dachte er an eine Art Kulturrevolution durch die Verbreitung revolutionären Bewusstseins in den gesellschaftlichen Institutionen Familie, Schule, Hochschule und Betrieb, um eine revolutionäre Massenbewegung ins Leben zu rufen, die im Bündnis mit den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt die Weltrevolution zum Siege führt. Der »lange Marsch« ist demzufolge Teil einer revolutionären Doppelstrategie, die sich jeder, und sei es auch nur taktischen, Integration in die bestehenden Machtstrukturen verweigert.8

Die Zeit nach 68 ist in der Bundesrepublik gekennzeichnet durch ein zähes Ringen der Anhänger der gewaltlosen und der gewaltsamen Traditionslinie. Nachdem der Aufschwung der weltrevolutionären Bewegung Ende der siebziger Jahren in die Krise geraten war und die linken Gewaltbefürworter durch den Terror der RAF und der RZ diskreditiert waren, schlug die Stunde der Befürworter der gewaltfreien Aktion. Sie setzten sich nach und nach in den neuen sozialen Bewegungen durch, namentlich in der Bürgerinitiativen-, der Ökologie- und der Friedensbewegung. Am heftigsten tobte und tobt der Kampf bis heute in der Anti-AKW-Bewegung.

Ich kehre damit zur eingangs formulierten Frage zurück: Haben die Gewaltdebatte der 68er zur Demokratisierung und Liberalisierung der Bundesrepublik beigetragen oder eher zu ihrer Entdemokratisierung und Entliberalisierung? Aufgrund der von mir geschilderten Janusköpfigkeit der Bewegung fällt mein Urteil zwiespältig aus. Soweit sie an die gewaltfreie Traditionslinie anknüpften, ist es positiv, soweit sie an die gewaltsame Traditionslinie anknüpften, ist es negativ. Der Kampf zwischen den beiden Linien bestimmt bis zum heutigen Tag das Bild der bundesdeutschen Protest- und Widerstandsszene und er wird es wohl auch in Zukunft tun.

Anmerkungen

1) Arnold, Martin und Knittel, Gudrun (Hg.): Gütekraft erforschen. Sonderheft der Zeitschrift »gewaltfreie aktion«, Vierteljahreshefte für Frieden und Gerechtigkeit, Heft 121.

2) W & F 4/99-1/00, S. 17-21.

3) Sternstein, Wolfgang: Satjagraha – den Feind in einen Freund verwandeln. Gandhis Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion. In: Der Mensch. Kindlers Enzyklopädie, Bd. 9, S. 658-675. Gandhi, M.K.: Die Lehre vom Schwert und andere Aufsätze aus den Jahren 1917-22. Oberwil bei Zug, o. J. Ebert, Theodor: Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg. Frankfurt am Main und Hamburg 1970. Jochheim, Gernot: Die gewaltfreie Aktion. Idee und Methoden, Vorbilder und Wirkungen. Hamburg und Zürich 1984.

4) King, Martin Luther: Freiheit! Der Aufbruch der Neger Nordamerikas. München 1968, S. 64 ff.

5) Ich halte diesen Begriff für höchst problematisch und würde ihn gerne durch den der Sachbeschädigung ersetzen, denn die demonstrative Zerstörung einer Sache, beispielsweise einer Waffe oder von Teilen eines Waffensystems, kann unter bestimmten Bedingungen eine gewaltfreie Aktion sein. Ich habe mich an derartigen Aktionen selbst beteiligt.

6) Gäng, Peter und Reiche, Reimut: Modelle der kolonialen Revolution. Beschreibung und Dokumente. Frankfurt am Main 1967. Bechtoldt, Heinrich: Chinas Revolutionsstrategie. Mit der Dritten Welt gegen Russland und Amerika. München 1969.

7) Salisbury, Harrison E.: Krieg zwischen Russland und China. Frankfurt am Main 1970.

8) Kraushaar, Wolfgang: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur. Hamburg 2000, S. 81 ff.

Dr. Wolfgang Sternstein lebt als Friedens- und Konfliktforscher in Stuttgart. Er ist in der Ökologie-, Anti-AKW- und Friedensbewegung aktiv und saß wegen gewaltfreier Aktionen mehrfach im Gefängnis.

Protest und Gewalt

Protest und Gewalt

Aus dem Tagebuch eines Jungpädagogen

von Bernhard Nolz

Die Gewalt geht von der Straße aus. Das ist das Bild, das gegenwärtig mal wieder in den Medien vermittelt wird, geht es um den Rückblick auf die Generation der 68er. Es scheint so, als ob ein Steinwurf wichtiger wäre als der Abwurf einer Bombe. Nur vordergründig steht der Außenminister im Mittelpunkt, in Wirklichkeit geht es um eine Korrektur des Geschichtsbildes. Es wird abgelenkt von der »Gewalt von oben«, von Notstandsgesetzen, Hunderttausendfacher Bespitzelung, von Berufsverboten; verschwiegen wird der Hintergrund der Protestbewegung: Die unbewältigte Vergangenheit, die Zusammenarbeit mit faschistischen Diktaturen in Spanien, Portugal, Griechenland und anderswo, der Völkermord der USA in Vietnam, Bildungsnotstand und Repression im Inneren. Der Tagebuchauszug von Bernhard Nolz aus dem Jahr 1971 ist nicht mehr als eine Momentaufnahme, allerdings eine, die sich zu diesem Zeitpunkt genauso in vielen deutschen (nicht nur Klein-)Städten abgespielt haben könnte.

7. Juni 1971: Bis zehn vor eins habe ich Schule. Dann rüber auf den Marktplatz. Ich wollte pünktlich sein, um ihn auszupfeifen. Seit ein paar Tagen war der Widerständler in mir erwacht.

Etwa 60 Leute hatten sich vor dem Lkw-Anhänger, der der CDU von einem Wurstfabrikanten zur Verfügung gestellt worden war, aufgestellt. Der CDU-Vorsitzende von Trappenkamp/Schlewig-Holstein trat an das Rednerpult, das er von vier Schülern aus der Schule hatte herbei schaffen lassen, um von ganzem Herzen Dank zu sagen, dass der Herr Bundeskanzler in dieser schwierigen Lage die Zeit gefunden hätte, der Bevölkerung Mut zuzusprechen. Er begrüße den Herrn Bundeskanzler a.D. Dr. Hans Georg Kiesinger ganz herzlich.

Beifall der Mehrheit, Markus und ich pfiffen. Für mich war es keine Frage, dass man Kiesinger auspfeifen musste, was immer er sagen würde, weil er Nazi gewesen war. Ehemalige Mitglieder der NSDAP waren für mich als Repräsentanten eines demokratischen Staates unerträglich und der Nazi-Propagandist Kiesinger schon lange.

„Denken Sie an Ihr Amt“, hatte mir mein Schulleiter geraten, als ich mit ihm über den bevorstehenden Besuch des Ex-Bundeskanzlers gesprochen hatte und dabei offengelassen, ob er mein Amt als 1. stellvertretender Bürgermeister oder mein Amt als Lehrer meinte. Sollte mir das Amt des Vertreters eines demokratischen Gemeinwesens verbieten, einem aktiven Repräsentanten der Nazi-Diktatur meine Missachtung zu zeigen?

Kiesinger nahm die Pfiffe scheinbar gelassen hin und begann mit seiner Rede. „Sehr geehrte Damen und Herren! Sie leben in einem glücklichen Land, das gesund und stabil ist, weil es seit mehr als zwanzig Jahren von der CDU regiert wird, und so soll es in Schleswig-Holstein auch bleiben. Auf Grund meiner leidvollen Erfahrungen als Bundeskanzler einer Koalitionsregierung mit der SPD weiß ich, wozu die Sozialdemokraten, die jetzt in Bonn regieren, fähig sind.“An dieser Stelle rufe ich das erste Mal: „Nazi!“ Ich hatte mir vorgenommen es nicht zu tun, sondern es beim Auspfeifen zu belassen. Warum, wusste ich selbst nicht genau. Vielleicht war es tatsächlich mein Amt als stellvertretender Bürgermeister oder meine Stellung als Lehrer, mit denen ich meine selbst verordnete Zurückhaltung rechtfertigen konnte. Dann überwiegen politische Empörung und die Lust am Zwischenruf, deren Wirkung ich in den unzähligen Gemeinderats- und Ausschusssitzungen zu schätzen gelernt hatte und ich nenne Kiesinger Nazi. Dieses eine Wort, eine polemische Verkürzung eines 67jährigen Lebenslaufes, entlarvt den Redner als Diffamierer und Verdränger.Kiesinger lässt sich scheinbar nichts anmerken und setzt seine Rede fort, doch wer genau hinsieht, kann feststellen, dass sich das Zittern des Redemanuskriptes, das er mit der linken Hand festhält, verstärkt hat. „Sie werden verstehen, welche Kraft es mich in den Jahren meiner Kanzlerschaft gekostet hat, die Zügel fest zu führen, damit die SPD nicht ständig ausbricht. Auf die CDU ist Verlass, sie bleibt in der Spur, dafür habe ich gesorgt und dafür sorgt hier im Norden mein Freund Helmut Lemke.“„Nazi! Nazi!“ rufe ich, denn das sind sie beide, der Offizier Lemke ritt für den Endsieg. Ist Kiesinger deshalb auf das Bild mit den Zügeln gekommen?„Wir wollen keine Krakeeler und Revoluzzer. Wir wollen ein vernünftiges, ruhiges Volk, das in Frieden und Freiheit leben und arbeiten kann.“Wieder pfeifen wir. Kiesinger deutet auf uns. „Wo die ihre Parolen herholen, entsteht die Großmacht China, sie ist atomar bewaffnet und kann ihre Raketen an jeden Punkt der Erde entsenden. Gegen diese Bedrohung gilt es, eine vorausschauende Friedenspolitik zu entwerfen. Nur die Christlich-Demokratische Union ist entsprechend gewappnet, unser Vaterland bis zu einer Wiedervereinigung geistig und militärisch zu verteidigen.“Wieder rufe ich Nazi und meine den Militaristen Kiesinger, der mich jetzt fixiert. „Solche unreifen Jünglinge wie der Schreihals dort träumen von der Weltrevolution und würden zu gern selbst an der Spitze stehen. Davor bewahre uns Gott! “

Kurzer Beifall und lange Pfiffe. Die meisten Zuhörer streben den zwei nebeneinander liegenden Türen des Rathauses entgegen, wo sich der zweite und dritte Teil des Bundeskanzler-Besuches abspielen soll. Die rechte Tür führt ins Rathaus. Dort soll sich Kiesinger im Goldenen Buch der Gemeinde verewigen. Ich war dagegen, aber einem Bundeskanzler a.D., auch wenn er Nazi und politisch abgehalftert sei, könne man das nicht verwehren, sagten sie mir. Alle neun CDU-Gemeindevertreter hatten sich eingefunden. Zu ihnen gesellten sich der Bürgermeister (SPD), der Bürgervorsteher (SPD) und fünf SPD-Gemeindevertreter. Links, in der Ratsschenke, sollte es anschließend Kiesinger zu Ehren Schweinshaxe mit Sauerkraut und Bauernbrot geben, dazu ein zünftiges Holsten-Bier.

Da ich durch keine der beiden Türen gehen will und Markus sich verabschiedet hatte, stehe ich alleine auf dem Marktplatz und bemerke, dass Kiesinger neben dem Anhänger stehen geblieben war und das Gedränge vor den Türen offenbar für eine kleine Verschnaufpause nutzte. Da rollt quer über den Marktplatz auf einem klapprigen Damenfahrrad ein etwa 15jähriges Mädchen mit blonden Haaren heran. Kurz vor Kiesinger springt es vom Rad, baut sich direkt vor Kiesinger auf und sagt, dass es ein Autogramm möchte. Ein Ruck geht durch Kiesinger, man merkt, wie er es genießt, von einem jungen Mädchen respektvoll behandelt zu werden. Aus der Jacketttasche seines Anzuges zieht er ein postkartengroßes Porträt, zückt seinen Füllfederhalter, unterschreibt die Karte und mit einer Geste, als wäre das Mädchen die wichtigste Person der Welt, überreicht er sie ihm.

„Jetzt habe ich etwas, womit ich mir den Arsch abwischen kann!“ sagt da das Mädchen.

Das weitere Geschehen habe ich wie eine Filmaufnahme in Zeitlupe in Erinnerung. Kiesinger schiebt, nachdem er die Karte übergeben hatte, die Kappe des Füllfederhalters über die Goldfeder und schraubt sie langsam zu. Als er den Satz des Mädchens hört, hält er inne und öffnet langsam den Mund, die Lippen formen sich zu einem stummen runden Loch. Das Mädchen wendet sich mit dem Autogramm in der Hand in Richtung seines Fahrrads, das von einem Mann in einem hellen Sommeranzug gehalten wird. Doch kaum hat es einen Schritt in Richtung des Mannes getan, lässt der das Fahrrad los und läuft auf das Mädchen zu. Fast hätten sie sich verfehlt, denn das Mädchen macht sich instinktiv klein. Doch der Mann ist gut trainiert, kann seinen Lauf stoppen und nutzt die zum Boden gerichtete Fluchtbewegung des Mädchens gezielt aus, indem er den linken Arm des Mädchens fasst und so verdreht, dass das Mädchen mit der rechten Schulter und mit der rechten Gesichtshälfte in voller Wucht auf die Betonplatten knallt. Wie im Triumpf zeigt der linke Arm des Mädchens, in dem es die Autogrammkarte hält, steil nach oben. Noch bevor der Kartengriff wegen der einsetzenden Schmerzen erschlafft, ist ein zweiter Mann in einem hellen Sommeranzug hinzu getreten und hat dem Mädchen die Autogrammkarte aus der Hand genommen. Dann tritt er zurück, schiebt die Karte in die Innentasche seiner Jacke, verschränkt die Arme hinter seinem Rücken und steht da, als sei nichts gewesen. Der andere »Leibwächter« des Kanzlers a. D., der das Mädchen auf den Beton gepresst hatte, lässt dieses jetzt los und achtlos liegen.

Erst dann komme ich bei dem Mädchen an. Beim Anblick der Szene hatte ich „Aufhören! Aufhören!“ geschrieen. Ich strecke dem Mädchen meinen Arm entgegen, doch diese Körperbewegung muss ihm eher wie eine anklagende Geste erschienen sein, als ein Hilfsangebot. Es springt auf, greift sein Fahrrad und fährt weg.

Hinter mir will plötzlich jemand wissen, was passiert sei. Kiesinger, der große grauhaarige Herr im dunkelblauen Anzug, der Staatsmann und Schöngeist, der Nazi und Bundeskanzler a.D., fasst es in einem Satz zusammen: Ein Mädchen habe sich mit einer Autogrammkarte von ihm den Arsch abwischen wollen!

Mehr war nicht gewesen, weiter in der Tagesordnung. Wieder reagierte Kiesinger mit einer Mischung aus Schweigen und Schönreden. Nach dem Ende der Nazi-Diktatur hatte er mit dem Schweigen derjenigen gerechnet, die, wenn sie die Obzönität seiner Taten erkennen, keine Worte mehr finden würden. Als Schweigen nicht mehr half, hat er alles schön geredet, wie er es bei den Nazis gelernt und praktiziert hatte.

Ihm war nicht daran gelegen, dass sein Abenteuer publik wurde. Eine weitere Nachahmerin einer Beate Klarsfeld konnte er genauso wenig gebrauchen wie die ständige Erinnerung an die braune Vergangenheit, die auch so mancher in Trappenkamp mit sich herumschleppte, wie ich bald erfahren sollte.

Beim offiziellen Empfang im Sitzungszimmer der Gemeindeverwaltung sei der Vorfall nicht erwähnt worden, höre ich später. Von jeder Eintragung ins Goldene Buch wird amtlicherseits ein Protokoll angefertigt. Zum Kiesinger-Empfang sind die Anwesenden aufgelistet. Dann heißt es: Begrüßung durch den Bürgervorsteher; Kurzvortrag des Bürgermeisters; Eintragung ins Goldene Buch; Anmerkungen des Bundeskanzlers a.D. Dr. Hans Georg Kiesinger zur politischen Lage. Trappenkamp, 7. Juni 1971, 13.40 – 14.02 Uhr. Am rechten unteren Rand des Dokuments – von eindeutig anderer Hand hinzugefügt – steht: Pg. 2633930.

Ich hatte mich auf die Bank neben der Ratsschenke gesetzt. Dort war ein ständiges Kommen und Gehen und somit die Aussicht groß, dass ich vielen Leute von dem unerhörten Vorfall berichten konnte. Fünf bis sechs hatten schon meinen Mitteilungsdrang über sich ergehen lassen müssen, wobei ich meinen Bericht auf die Brutalität der Kiesinger-Gorillas konzentrierte, der der ehrenwerte Staatsmann tatenlos zugesehen hatte, als mein Schulleiter aus der Ratsschenke kommend, direkt auf mich zusteuerte:

„Ich muss mit Ihnen sprechen. Da drinnen wird erzählt, dass Sie dem Mädchen 10 DM gegeben hätten. Sie hätten sich selbst die Hände nicht schmutzig machen wollen. In dem Mädchen hätten Sie ein williges Werkzeug gefunden!“ Ich lache ihn aus. „Ich kenne das Mädchen überhaupt nicht. Trauen Sie mir so was zu?“ „Ich nicht, aber die da drinnen,“ sagte er.

Wieder lache ich. „Wissen Sie was, wenn ich weiß, wer das Mädchen ist, werde ich es aufsuchen und ihm die 10 Mark geben, die hat es sich redlich verdient!“

Ich ahnte nicht, dass ich am nächsten Tag nicht einmal mehr schlappe fünf Mark zur Verfügung haben würde.

8. Juni 1971: In der Schule hat mich niemand auf den gestrigen Vorfall angesprochen. Am Nachmittag gehe ich zum Geldholen zu meiner Bank. „Tut uns leid“, sagt die Angestellte, „die Geschäftsleitung hat ihr Konto gesperrt. Es muss erst wieder ein Guthaben aufweisen.“ Ich gehe rüber in die Ratsschenke. Wie so oft frage ich vor der Bestellung, ob ich meine Zeche anschreiben lassen kann. Geht nicht, sagt die Wirtin, „ich muss dir Hausverbot erteilen, du weißt warum.“ Abends ruft mein Schulleiter an. „Ich soll es Ihnen nicht sagen, aber ich erzähle es Ihnen trotzdem: Der Verfassungsschutz war da und hat die Schulchronik mitgenommen. Machen Sie sich auf eine Visitation gefasst.“

9. Juni 1971: Gestern Abend, so berichtet mir ein Freund, hat ein bekannter Unternehmer aus Trappenkamp, der sich ständig mit seiner Nazi-Vergangenheit brüstet, in der Mitgliederversammlung des Tennisclubs, mich als Politikschwein und als einen von Moskau gesteuerten Provokateur bezeichnet, der aus Trappenkamp heraus getrieben werden müsse. Der Gemeindejustitiar hat mir geraten, ihn wegen übler Nachrede und Beamtenbeleidigung anzuzeigen. Der Bürgermeister hat sofort die Brisanz der Entgleisung geschnallt und dem Unternehmer klar gemacht, dass die Beleidigung eines Beamten (Lehrer) und eines Ehrenbeamten (stellvertretender Bürgermeister) strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen würde. Am Abend erhalte ich den Anruf des Unternehmers mit der Bitte um Entschuldigung. Wir vereinbaren ein Treffen mit Zeugen.

10. Juni 1971: Heute der Anruf des Bankdirektors. Alles sei nur ein Missverständnis gewesen. Zu spät, sage ich, ich habe ein Konto bei einer anderen Bank eröffnet. Auf dem Weg zur Post ruft die Wirtin der Ratsschenke hinter mir her: „Komm, ich habe einen auszugeben.“Am Nachmittag steht das Mädchen vor meiner Tür (ich bin SPD-Ortsvorsitzender). „Ich will in die SPD eintreten,“ sagt sie, „sie sind der einzige, der mir geholfen hat.“ Wir füllen das Aufnahmeformular aus.

Die Kiesinger-Worte sind Originalzitate.

Bernhard Nolz, Jg. 1944, von 1969 – 1994 Lehrer in Schleswig-Holstein. Seit 1994 Gesamtschullehrer in Siegen, Sprecher der Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF).

Türkei: Widerstand gegen Menschenrechtsverletzungen

Türkei: Widerstand gegen Menschenrechtsverletzungen

von Barbara Dietrich

Seit Dezember 1999 hat die Türkei in der EU Kandidatenstatus. Doch während mit sechs anderen Ländern Ost und Mitteleuropas bereits an Modalitäten und Zeitplänen für einen Beitritt gearbeitet wird, liegt der weitere Weg der Türkei in die EU noch im Dunkeln. Nur eine Minderheit unter den europäischen PolitikerInnen setzt sich dafür ein die Türkei aufzunehmen um damit Voraussetzungen zu schaffen für eine größere Akzeptanz der Menschenrechte, die große Mehrheit sieht allerdings in weniger Menschenrechtsverletzungen (und sicherlich auch in der Verbesserung einer Reihe ökonomischer Faktoren) die Voraussetzung für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei.
Vor diesem Hintergrund sind die Eindrücke von besonderem Interesse, die eine Delegation der IPPNW über die Menschenrechtsverletzungen und den Widerstand gegen selbige im April des Jahres gewann.1
Barbara Dietrich berichtet.

Die türkische Menschenrechtsstiftung (Türkiye Insan Haklari Vakfi) wurde im Jahr 1990 vom Menschenrechtsverein der Türkei mit Unterstützung Intellektueller und der Türkischen Ärztevereinigung gegründet, um Verletzungen der Menschenrechte zu dokumentieren. Zusätzlich wurden Zentren zur Behandlung und Rehabilitation von Folterüberlebenden in Ankara, Adana, Istanbul und Izmir etabliert, denen im Jahre 1998 eines in Diyarbakir folgte (2, S. 7 ff., 21). Außerdem implementiert die Stiftung ein weiteres sogenanntes »5-Städte-Projekt« in den Südost-Provinzen Gaziantep, Sanliurfa, Hatay, Malatya und Adyaman: Folterüberlebende, die nicht in Reichweite der bisher existierenden Zentren leben, sollen über die dort vorhandenen Hilfeangebote informiert und es soll ihnen soziale und finanzielle Unterstützung für Fahrtkosten und Unterkunft gewährt werden, wenn sie Hilfe in Anspruch nehmen wollen. (2, S. 8; 22).

MitarbeiterInnen in der Stiftung sind jeweils ÄrztInnen, PsychiaterInnen, SozialarbeiterInnen, RechtsanwältInnen, die den Folteropfern bei der Lösung ihrer medizinischen, psychischen und sozialen Probleme Hilfe leisten (9, S. 19; 15, S. 7f.; 2, S. 22). Das erste Gespräch mit der Patientin/dem Patienten wird von einem Arzt oder Sozialarbeiter durchgeführt, der alle einschlägigen Beschwerden aufnimmt. Anschließend folgt ein Gespräch mit einem Psychiater. Erweisen sich Untersuchungen als notwendig, die in dem jeweiligen Zentrum nicht durchführbar sind, wird die Patientin/derPatient an FachärztInnen überwiesen, welche die Untersuchungen kostenlos oder gegen Kostenerstattung durchführen und die jeweiligen Ergebnisse an das Zentrum rückvermitteln. Im Zentrum selbst wird schließlich individuell für jede Patientin/jeden Patienten ein Therapie- und Rehabilitationsplan aufgestellt. Nicht nur Folterüberlebende, sondern auch deren Angehörige, die mit den traumatischen Erfahrungen ihrer Verwandten konfrontiert sind, werden in die Arbeit einbezogen. Alle Kosten für Diagnose, Behandlung und Rehabilitation werden von der Stiftung getragen (0; 2, S. 22; 13, S. 6).

Seit Gründung der Stiftung bis Anfang 1998 haben landesweit insgesamt 4.010 Personen in den Zentren Hilfe wegen ihrer physischen, psychischen und sozialen Probleme gesucht (2, S. 7). Unmittelbar nach erlittener Folter kommen in das Zentrum in Izmir relativ wenige Patienten/innen, die meisten kommen etwa 6 Monate bis 2 Jahre später (0). Der ersten Gruppe von PatientInnen geht es meist darum, ein Alternativ-Gutachten zu bekommen zu der Frage, ob sie/er gefoltert worden ist. Sie können es in ihrem eigenen oder in einem Strafprozess gegen jemanden, der der Folter beschuldigt wird oder im Falle einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorlegen.

Der anderen Gruppe von PatientInnen geht es darum, medizinische/psychotherapeutische Behandlung im Zentrum oder durch es vermittelt zu bekommen (0).

Neben den beiden Aufgabenbereichen – Therapie für Folteropfer und Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen – unterstützt die Stiftung Forschungen und andere wissenschaftliche Aktivitäten: So fand im März 1999 z.B. in Istanbul ein internationales Symposium statt, auf dem ein Handbuch über Folterpraktiken, ihre Erforschung und Dokumentation beraten und als sogenanntes »Istanbul-Protokoll« verabschiedet wurde. Das Symposium war u.a. von der Stiftung vorbereitet und ausgerichtet worden. Derzeit wird angestrebt, dieses Handbuch als ein solches der Vereinten Nationen autorisieren zu lassen (14; 0; 2, S. 8).

Kurz vor unserem Besuch war in den Räumen der Menschenrechtsstiftung in Izmir eine Ausstellung über Folterpraktiken an PatientInnen des Zentrums gezeigt worden: Die Fotos dokumentieren die Folgen der falaka (Schläge auf die Fußsohlen), Spuren der Folter mit Elektroschocks, Wunden von ausgedrückten Zigaretten auf der Haut – es sind dies nur Beispiele für die in der Türkei angewandten Foltermethoden: In den Jahresberichten der Stiftung werden sie detailliert und ihrer Häufigkeit nach aufgelistet (2, S. 31-34).

Dabei wird die Definition von Folter zu Grunde gelegt, wie sie in der Tokyo-Deklaration des Weltärztebundes formuliert wurde: „Folter ist die vorsätzliche, systematische oder mutwillige Zufügung von körperlichen oder geistigen Leiden durch eine oder mehrere Personen, die nach eigenem Gutdünken oder auf Befehl irgendeiner Autorität handeln, um eine andere Person dazu zu zwingen, Informationen preiszugeben, ein Geständnis abzulegen oder zu irgendeinem anderen Zweck.“ (2, S. 22; Übers. d. Verf.).

Im Jahresbericht 1998 weisen die MitarbeiterInnen der Stiftung daraufhin, dass Folter in der Türkei nicht nur während der Untersuchungshaft und in den Gefängnissen praktiziert wird, sondern z.B. auch bei Razzien in Dörfern, bei Hausdurchsuchungen oder wenn die Polizei das Haus eines Verdächtigen besetzt und alle Anwesenden ausfragt bzw. festnimmt oder wenn Zivilpolizisten Personen entführen (2, S. 22).

Nach einem Besuch u.a. der Anti-Terror-Abteilung der Polizei in Istanbul im Jahre 1996 hatte das »Europäische Komitee zur Verhinderung von Folter« des Europarats festgestellt, dass dort schwere Formen von Folter angewendet werden: Schläge auf die Fußsohlen und Handflächen, Aufhängung an den Armen (31, S.1). Anlässlich eines Besuches dort Anfang 1999 fanden VertreterInnen des Komitees dieselben unerträglichen Foltermethoden vor (32, S. 6; 24). Von der Menschenrechtskommission des türkischen Parlaments wird Folter seitens der Polizei mittels Elektroschocks, Verprügeln, Abspritzen mit Wasserhochdruckschläuchen angegeben (23). Auch von amnesty international werden derartige Folterpraktiken sowie sexuelle Folter und Todesfälle als Folge von Folterungen bis 1999 bestätigt (16, S. 557 ff.; 17, S. 540 ff.; 20, S. 33).

Durch die Arbeit in den Zentren der Menschenrechtsstiftung wird nur ein Bruchteil all jener erfasst, die in der Türkei Opfer von Folter geworden sind: Man schätzt ihre Zahl auf etwa eine Million Personen (15, S. 4; 9, S. 20).

Nach Angaben von ÄrztInnen der Stiftung in Diyarbakir haben Folterungen im Polizeigewahrsam und in der Untersuchungshaft im letzten Jahr noch zugenommen: Sie werden von ihnen als „üblich“ bezeichnet (0). Im Jahresbericht 1998 der Stiftung heißt es : „Torture continued in a systematic manner“ (2, S.12, 15; s.a. S. 28). Amnesty international spricht in einem Bericht vom Juni 1999 ebenfalls von der „systematischen und weitverbreiteten Anwendung der Folter“ und anderen Menschenrechtsverletzungen, denen gemeinsam sei, dass die staatlichen Täter in der Regel nicht zur Rechenschaft gezogen würden (25, S. 28 f.) – eine Einschätzung, die von derselben Organisation im April diesen Jahres wiederholt wurde (20, S.32 f.). Selbst die Menschenrechtskommission des türkischen Parlaments spricht davon, dass Folter bei der türkischen Polizei „gängige Praxis“ sei (23). Ebenso urteilt die Rechtsanwältin Eren Keskin, Stellvertretende Vorsitzende des Menschenrechtsvereins der Sektion Istanbul und eine der führenden Menschen- und Bürgerrechtlerinnen in der Türkei: „Die Folter wird in der Türkei als Staatspolitik noch immer in systematischer Weise angewendet“ (21, S.104; s.a. 22).

Angesichts dieser klaren Aussagen von kompetenter Seite ist es unverständlich, dass die Kommission der Europäischen Union in ihrem »Bericht 1999 (…) über die Fortschritte der Türkei« resumiert, dass „Folterungen (…) zwar nicht mehr systematisch auftreten, aber weiterhin existieren“ (3, S. 12). Einige Zeilen später nimmt sie allerdings auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom Juli 1999 Bezug, in dem anhaltende Folter festgestellt wird und resümiert, dass sich die Lage in der Türkei „nicht wesentlich geändert (hat)“ ( 3, S. 12).

Die MitarbeiterInnen der Stiftung sind immer wieder staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. In Izmir beobachteten wir einen Strafprozess gegen den Gynäkologen und langjährigen Mitarbeiter des Zentrums, Dr. Zeki Uzun. Er war angeklagt, ohne Honorar bei zwei Frauen – Kurdinnen und Mitglieder der PKK – Abtreibungen vorgenommen und dadurch eine terroristische Organisation unterstützt zu haben (Art. 196 tStGB). Das Verfahren, das wir beobachteten, fand vor dem Staatssicherheitsgericht in Izmir statt und hatte den politischen Teil, also die Unterstützungshandlung zum Gegenstand. Es basierte auf Aussagen eines Mannes, der wegen seiner Mitgliedschaft in der PKK angeklagt war und durch seine Aussagen gegen Dr. Uzun, den er kannte, Strafreduzierung nach dem sogenannten »Reuegesetz« (28, S. 8; 29, S. 10 f.) erreichen wollte .

Die Staatssicherheitsgerichte (SSG) in der Türkei sind u.a. zuständig für Straftaten, welche „gegen die unteilbare Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk begangen werden“: Art. 143 TV (6, S. 363). Sie tagten jahrelang in der Besetzung mit zwei Zivil- und einem Militärrichter. In mehreren Urteilen der Jahre 1998/9 hatte der EGMR entschieden, dass die Beteiligung aktiver Militärrichter an Staatssicherheitsprozessen gegen das Recht der Angeklagten auf ein unabhängiges und unparteiliches Gericht verstoße, ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) also nicht gewährleistet sei (1, S. 341; 10, S. 24 ff.; 3, S.10; 5, SS.C 301/32 f).Die Verfassung der Türkei wurde daraufhin am 22. 6. 1999 geändert und die Militärrichter an den SSG durch zivile Richter ersetzt (3, S. 10).

Die Gerichtsverhandlung gegen Dr. Uzun war äußerst kurz: VerteidigerInnen und auch der Staatsanwalt (!) plädierten auf Freispruch vom Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Dr. Uzun selbst wies in einem knappen Schlusswort darauf hin, dass er seinen Beruf frei ausüben, PatientInnen ohne Ansehen der Person behandeln wolle. Die Urteilsverkündung wurde vertagt.

Zuvor, Ende Oktober 1999 war der Arzt von der Anti-Terror-Polizei Izmir in Handschellen in seine voll besetzte Krankenhaus-Praxis geführt und waren Patientenakten beschlagnahmt worden (0). Unter dem Verdacht der Unterstützung und Behandlung von Mitgliedern terroristischer Organisationen war er verhaftet und 6 Tage lang gefoltert worden. Dabei wurden ihm die detaillierten Berichte, die er über Folter an Patienten angefertigt hatte, vorgeworfen (0; 7, S. 46). Seine Anzeige gegen die Folterer hat er nach massiven Drohungen gegen seine Familie wieder zurückgezogen (0).

Ein weiterer Strafprozess fand vor einem SSG etwa 100 km von Izmir entfernt, in Aliaga statt. Ausgangspunkt dieses Prozesses war ein Massaker an Gefangenen im Zentralgefängnis von Ankara im September 1999, bei dem 10 Gefangene ermordet und viele verwundet worden waren. Eines der Opfer sollte einige Tage später in seinem Heimatdorf beerdigt werden. Der Trauergesellschaft, etwa 150 Personen, stellten sich auf dem Gang zum Friedhof Gendarmen in den Weg. Dr. Ayan bemühte sich, wie er uns sagte, die Gruppe ruhig zu halten. Bei dem Versuch weiterzugehen wurden die TeilnehmerInnen der Beerdigung von den Gendarmen brutal attackiert. 76 Personen wurden verhaftet, davon kamen 14 in Untersuchungshaft, unter ihnen Dr. Alp Ayan, Psychiater im Zentrum, Günseli Kaya und Berrin Esin Akan, Sekretärinnen der Stiftung.

Auch diese Verhandlung war nur von kurzer Dauer: Das örtliche SSG war von einem übergeordneten Gericht für zuständig erklärt worden, die diesbezügliche schriftliche Anordnung lag nicht vor, sodass auch dieser Prozess vertagt wurde. Damit verlängert sich für die Betroffenen das Warten in Angst und Ungewissheit und der Einsatz – Busmiete und -fahrt, verlorene Arbeitszeit etc. – war vergeblich. Außerdem werden beim nächsten Prozesstermin möglicherweise keine ausländischen BeobachterInnen teilnehmen.

So weit die mündlichen Informationen, die ich nunmehr ergänzen will durch Informationen aus einem urgent-action-Aufruf der Stiftung, in dem der vorausgegangene Verfahrensablauf detailliert geschildert wird:

Die Gendarmerie hatte in ihrem Protokoll behauptet, die festgenommenen BeerdigungsteilnehmerInnen hätten Widerstand geleistet und anlässlich der Beerdigung eines Mitglieds einer illegalen Organisation Propaganda für diese gemacht. Aus diesen Protokollen ergibt sich außerdem, dass Dr. Ayan und Frau Kaya – für ihre menschenrechtlichen Aktivitäten bekannt – als ProvokateurInnen identifiziert seien. Seitens des SSG in Izmir verlautete, die Inhaftierten müssten wegen Ungehorsams gegen eine rechtmäßige Anordnung zum Schutz der öffentlichen Ordnung angeklagt werden, worauf eine Strafe von 3 bis 6 Monaten stehe (Art. 526 tStGB). Als Ergebnis einer Anhörung vor dem Kriminalgerichtshof in Aliaga wurde entschieden, dass Dr. Ayan und Frau Kaya ebenso wie die 12 anderen Untersuchungsgefangenen vor das SSG gebracht werden müssten und nach Art. 32-3 des Versammlungs- und Demonstrationsgesetzes anzuklagen seien, der diejenigen mit Strafe bedroht, die auf die Entscheidung der Sicherheitskräfte, eine Versammlung aufzulösen, mit Zwang, Gewaltanwendung, Drohung, Angriff oder Widerstand reagieren. Zusätzlich sei eine Anklage wegen Unterstützung von Mitgliedern terroristischer Vereinigungen und Verbreitung von deren Propaganda (7-2 AntiTerrorGesetz) angezeigt. Das erste dieser beiden Delikte wird mit Gefängnis zwischen 3 und 5 Jahren, das letztere mit Gefängnis zwischen 1 und 5 Jahren bestraft (19, S. 48).

Beide Strafverfahren sind exemplarisch: Wenn ÄrztInnen strafrechtlich verfolgt werden, weil sie – ihren Berufspflichten folgend – PatientInnen ohne Rücksicht auf deren politische oder organisatorische Zugehörigkeit behandeln oder weil sie gutachtlich bestätigen, dass PatientInnen gefoltert worden sind oder sich weigern, Namen von Folterüberlebenden, die sie behandeln, herauszugeben (9, S. 8 f.), so will man sie wegen ihres Einsatzes für Folterüberlebende so hart wie möglich bestrafen, ihrem menschenrechtlichen Engagement damit ein Ende setzen. Die Staatsgewalt tut zudem ihr Möglichstes, der Stiftung Nähe zum Terrorismus anzuhängen (0; 7, S. 46; s.a. 9, S. 26 ff.).

Eine weitere einschneidende Art der beruflichen und politischen Repression ist die sogenannte Verbannung, eine Strafversetzung, die gegen staatliche Bedienstete im Gesundheitswesen dekretiert werden kann, z.B. wenn ihre Arbeit „aufgrund eines administrativen oder strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens als bedenklich angesehen wird“ und zwar ohne dass ein disziplinarischer oder Strafausspruch vorangegangen sein muss (00; 11, S.129). Solcherart Verbannungen erfolgen aufgrund beamtenrechtlicher (G Nr. 657) oder administrativer Bestimmungen oder – in den Notstandsgebieten (Ende 1999: Diyarbakir, Hakkari, Sirnak, Tunceli, Van; 18, S. 9) – auf Anordnung des Notstandsgouverneurs (0; 11, S. 129); sie sind zeitlich unbefristet und können von dem/r Betroffenen nicht angefochten werden (0).

Nach Informationen unserer Gesprächspartner in der Gewerkschaft für die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes – KESK- in Diyarbakir werden Verbannte öfter an Orte mit extrem nationalistisch gesonnener Bevölkerung »versetzt«. Die Betroffenen, die als »SeparatistInnen« gebrandmarkt sind, treffen dort auf ein offen aggressives Klima: Sie sind Beschimpfungen und Angriffen ausgesetzt; es gibt bereits eine Verbannung, die mit der Ermordung des Verbannten geendet hat (0; 26, S. 6).

Der Ort, an den jemand verbannt wird, kann weiter entfernt liegen oder von der Außenwelt abgeschnitten sein oder unterliegt ständiger polizeilicher Kontrolle, so dass sich der/die Verbannte nicht frei bewegen kann. Das Leben in Verbannung verläuft dann in weitgehender Isolation. Auch kann es sein, dass, wenn beide Eheleute verbannt werden, sie an verschiedenen Orten leben müssen (0). Verbannungen haben nach Einschätzung unserer Gesprächspartner im letzten Jahr noch zugenommen. Auch die Vorsitzenden der KESK werden regelmäßig kurze Zeit nach Beginn ihrer Tätigkeit in die Verbannung geschickt (0; 11, S. 131). Ohnehin unterliegt gewerkschaftliche Arbeit ständiger polizeilicher Kontrolle: Mitglieder werden willkürlich verhaftet oder bei Gesundheitskampagnen in umkämpften, also besonders gefährlichen Regionen eingesetzt, werden nicht befördert, gewerkschaftliche Veranstaltungen werden nicht erlaubt etc. (0; 27, S. 6).

Wichtig erscheint mir schließlich noch die Information über die »yesil card«, die Grüne Karte, die im Jahr 1992 für mittellose Personen mit Wohnsitz in der Türkei eingeführt worden ist und ihnen Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung sichern soll (8, S. 31) – eine Tatsache, die auch für abgelehnte AsylbewerberInnen, die aus der BRD in die Türkei abgeschoben werden, von Bedeutung sein kann.

Die Grüne Karte wird in der Praxis allerdings nicht wegen Bedürftigkeit, sondern aufgrund polizeilicher Recherchen nach Kriterien politischer Zuverlässigkeit und eher an Wohlhabende vergeben, so berichten unsere Gesprächspartner in Diyarbakir. In Diyarbakir selbst sind bisher 270.000 solcher yesil cards ausgegeben worden (0) – wiewohl die Stadt in den letzten Jahren – vor allem kriegsbedingt – einem immensen Bevölkerungszuwachs ausgesetzt war und mittlerweile 1,5 Mio. (27, S.7), möglicherweise sogar mehrere Millionen Einwohner hat (26, S.11).

Der Lagebericht Türkei des Auswärtigen Amtes vom September 1999 weiß lediglich von den gesetzlichen Vergabekriterien für die yesil card und davon zu berichten, dass „bei Ankunft in Ankara (…) die direkte medizinische Versorgung im Rahmen privatärztlicher (!; d. Verf.) Behandlung nach Klärung der Kostenfrage (!; d. Verf.) grundsätzlich (! ; d. Verf.) möglich ist“ (8, S.31).

Hier zeigt sich ein Grundproblem, das in den meisten unserer Gespräche auftrat und zu denken gab: Die Änderung der Gesetzgebung mit dem Ziel der inhaltlichen Demokratisierung ist mit Rücksicht auf den Kandidatenstatus, den die Türkei seit Dezember 1999 in der EU hat (24, S. D 3), und im Hinblick auf die Erfüllung der Kopenhagener (Aufnahme-)Kriterien (28) geboten und wird seitens der Regierung und des Parlaments der Türkei forciert (8, S. 20 f.; 3, S. 12 ff.; 30;). Die Durchsetzung der demokratischen Neuerungen ist damit allerdings noch keineswegs gewährleistet: Sie lässt auf sich warten.

Anmerkung

Die Reise begann mit einem Termin in Istanbul bei Insan Haklari Dernegi, dem türkischen Menschenrechtsverein, ging dann in den kurdischen Südosten nach Diyarbakir, wo 5 Tage lang Gespräche mit VertreterInnen verschiedener Ärzte- und Gesundheitsorganisationen geführt wurden. Abschließend wurden in Izmir einige Gerichtstermine beobachtet in Strafsachen gegen ÄrztInnen.

Der Bericht konzentriert sich auf die Menschenrechtsstiftung TIHV: Sie wird stellvertretend für andere Organisationen und ihre MitarbeiterInnen vorgestellt, die ebenfalls mit großem Mut, mit Zähigkeit und unter Inkaufnahme größter persönlicher Gefahren, auch für ihre Angehörigen, für die Verwirklichung der Menschenrechte in der Türkei kämpfen.

Anmerkungen

0) mündliche Information

1) Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, 3. Aufl., Bonn 1999

2) Human Rights Foundation of Turkey, Treatment and Rehabilitation Centers Report 1998, Ankara 1999

3) Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Regelmäßiger Bericht 1999 der Kommission über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt, Brüssel 13.10.1999

4) Die Staatssicherheitsgerichte müssen abgeschafft werden, in: Nützliche Nachrichten, 1/1999, S. 12

5) Europäisches Parlament, Entschließung zum Todesurteil gegen Herrn Öcalan und zur Zukunft der Kurdenfrage in der Türkei vom 22.7.1999, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften v. 18.10.1999, S. C 301/32 ff.

6) Christian Rumpf, Das türkische Verfassungssystem. Einführung mit vollständigem Verfassungstext, Wiesbaden 1996

7) Hüseyin Kandemir, TIHV-Ärzte werden selbst Folteropfer, in: kurdistan aktuell Nr. 76/77, Oktober-Dezember 99, S. 46f.

8) Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei, Bonn, 7.9.1999

9) Internationale Ärzte für die Verhütung eines Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW Deutschland), Ärztekammer Berlin, medico international, Krieg und Gesundheit in Türkei-Kurdistan, o.0., o. J. (1996)

10) Conseil de l'Europe, Case of Incal v. Turkey (41/1997/825/1031), Strasbourg, 9 June 1998

11) IPPNW, Ärztekammer Berlin, Genocide Watch, Kurdistan-Türkei. Medizin unter Kriegsbedingungen, Berlin, Göttingen 1996

12) Dialog Kreis (Hsg.), Parlamentarier der Türkei durchbrechen Tabu in der Kurdenfrage, 1. Aufl., Köln 1998

13) o.V., Die Türkische Menschenrechtsstiftung. Bericht des Vorstandes über die 4. ordentl. Versammlung der Gründungskommission am 30.1.1994

14) Manual on the Effective Investigation and Documentation of Torture and 0ther Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (The Istanbul Protocol), Submitted to the United Nations High Commissioner for Human Rights, August 9, 1999

15) Uta Klee, Waltraut Wirtgen, Bericht über die Informationsreise einer Ärztinnengruppe in die Türkei vom 11. bis 18. März 1998, o.0., o. J., Masch. Man.

16) amnesty international, Jahresbericht 1998, Frankfurt/M. 1998, S. 554 ff.

17) amnesty international, Jahresbericht 1999, Frankfurt/M. 1999, S. 538 ff.

18) 20 Jahre Kriegsrecht, in: Nützliche Nachrichten 4/1999, S. 9

19) Türk Insan Haklari Vakfi – Documentation Center, urgent action 99/06 v. 14.10.1999 – Human rights defenders under arrest, in: kurdistan aktuell Nr. 76/77, Oktober – Dezember 99, S. 48

20) amnesty international, Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe an jungen Frauen in Haft, in: Roja Kurdistane Nr. 16/April 2000, S. 32 f.

21) Eren Keskin, Nun ist das türkische Volk an der Reihe. Menschenrechte in der Türkei, in: Kurdistan Report 97, Nov./Dez. 1999-Januar 2000, S. 104

22) Kein Wandel in der Türkei. Menschenrechtlerin vermisst die Hilfe der EU, in: Frankfurter Rundschau, 2.5.2000

23) Türkische Parlamentarier kritisieren Polizei-Folter, in: Frankfurter Rundschau, 5. 5. 2000

24) Europäischer Rat (Helsinki), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 10. und 11. Dezember 1999

25) Holger Brecht, Schutz für die Täter, in: ai-Journal 6/1999, S. 28 ff.

26) Gesundheit und Krieg. Der Niedergang des Gesundheitssystems in den kurdischen Provinzen der Türkei, in: Roja Kurdistane Nr. 15, Okt. 1999, S. 11

27) Gisela Penteker, 4. Ärztinnen-Delegationsreise in die Türkei vom 12. bis 16. März 1999, Protokoll, Masch. Man., 12 S.

28) Helmut Oberdiek, Gutachtliche Stellungnahme in der Verwaltungsrechtssache A 3 K 10688/97, VG Stuttgart

29) Mehmet Sahin, Eine Reise durch die heißen Tage des letzten Sommers des Jahrtausends, in: Nützliche Nachrichten 3/1999, S. 7 ff.

30) Demirel mahnt Rücksicht auf Menschenrechte an, Frankfurter Rundschau, 16.5.2000; Sezer verlangt Reformen, Frankfurter Rundschau, 17. 5. 2000

31) Council of Europe, European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CTP), Public Statement on Turkey , 6 December 1996, CPT/Inf (96) 34

32) ders., Observations made by the delegation of the CTP which visited Turkey from 27 February to 3 march 1999, Strasbourg 4 May 1999, CTP/Inf (99) 17

Prof. Dr. Barbara Dietrich lehrt am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Wiesbaden

Ein Umweltschützer als Spion vor Gericht

Ein Umweltschützer als Spion vor Gericht

Der »Whistleblower« Nikitin

von Antje Bultmann

Alexandr Nikitin, ehemaliger Kapitän eines Atom-U-Bootes und Chefinspektor für die atomare Sicherheit bei der russischen Marine, kannte die Praktiken des Verteidigungsministeriums im Umgang mit Atommüll und machte sie öffentlich. Das bezahlte er mit 10 Monaten Gefängnis, Einzelhaft und acht Prozessen innerhalb von vier Jahren. Als er am 29. Dezember letzten Jahres überraschend freigesprochen wurde hatten ihn Haft und Verfolgung schwer gezeichnet. Antje Bultmann berichtet über die Arbeit des »Whistleblowers« und die Verfolgung.

Mindestens 394 Kernreaktoren wurden während des Kalten Krieges für die russische Marine gebaut. Ohne ein Entsorgungskonzept wurde inzwischen die erste und mehr als die Hälfte der zweiten Generation der Atom-Boote ausgemustert, Nuklearraketen wurden versenkt, tonnenweise landete Atommüll im Meer. Der Hafen von Murmansk gilt heute als »Friedhof russischer Atom-U-Boote«. Nachdem die russische Regierung jahrelang tatenlos zugesehen hatte wie die Gesundheit besonders der BewohnerInnen der Regionen Murmansk und Archangelsk immer stärker gefährdet wurde, viele Menschen an Krebs erkrankten oder missgebildete Kinder zur Welt brachten, beschloss Alexandr Nikitin an die Öffentichkeit zu gehen.

Nikitin suchte dafür auch die internationale Zusammenarbeit, denn er war sich bewusst, dass er nur so wirklich »Öffentlichkeit« erreichen würde. Gleichzeitig ging er davon aus, dass die atomare Verseuchung des Nordmeers nicht nur die Bevölkerung des eigenen Landes betreffe und es nur eine Frage der Zeit sei, bis auch Menschen in anderer Gegenden betroffen sein würden, beispielsweise in den Küstenregionen Norwegens. Schließlich verteilt sich das radioaktive Material im Meer unaufhaltsam weiter, es gelangt in die Nahrungskette und jedes Plutoniumpartikel kann zeitlich unbegrenzt Krebs hervorrufen.

Geheimprozess vor dem Kriegsgericht?

1995 verfasste Nikitin erstmals gemeinsam mit der norwegischen Umweltorganisation Bellona einen Bericht über diese tödliche Bedrohung im Eismeer. Bei Arbeitsbeginn an einem zweiten Bericht, im Februar 1996, schlug dann der russische Geheimdienst FSB zu. Nikitin wurde verhaftet und der Spionage und des Vaterlandsverrats angeklagt. Darauf stehen in Russland bis zu 15 Jahre Haft. Die Bedingungen unter denen Nikitin anfangs festgehalten wurde sprechen jeder Rechtsstaatlichkeit Hohn: Ein eigener Verteidiger wurde ihm anfangs verwehrt, Stunden lang wurde er verhört. Später berichtete Nikitin wie der Untersuchungsrichter Maximenkow ihn unter Druck setzte. Er habe ihm jedesmal erklärt: „Du hast keine Chance. Der Prozess wird geheim sein, mit unseren Anwälten, unserem Staatsanwalt und unserem Kriegsgericht.“

Erst nach Wochen entschied das Verfassungsgericht, dass der 42jährige das Recht auf einen eigenen Verteidiger habe. Doch weder Jurij Schmidt, ein Staranwalt in Petersburg, der den Fall dann übernahm, noch Nikitin selbst bekamen die 5.000 Seiten umfassende Anklageschrift zu sehen. Mitarbeiter der Bellona-Organisation, die der Verteidigung Entlastungsmaterial übergeben wollten, erhielten keine Einreisevisa. Zynisch stellte der Anwalt fest: „Der Geheimdienst bangt nach Ende des Kalten Krieges um seine Jobs und weil es so schwierig ist, Spione zu finden, werden aus Umweltschützern Vaterlandsverräter.“

Vor dem Obersten Gerichtshof in Moskau kam es dann zu einem langem Tauziehen um die Frage, ob der Fall vor das Kriegsgericht kommen soll oder vor ein Zivilgericht. Gegen den Willen des FSB übergaben die RichterInnen schließlich die Sache an ein Zivilgericht in Petersburg, das dann die Anklageschrift des FSB als „einseitig“ und „vage“ zurückwies. Die Anklageschrift sollte (vom Geheimdienst) nachgebessert werden.

Das war die Chance für die Verteidigung, Nikitin nach zehn Monaten aus der U-Haft unter Auflagen frei zu bekommen. Nikitin durfte St. Petersburg nicht verlassen und war durch die Haft schwer gezeichnet: Der groß gewachsene Mann war stark abgemagert, die Augen lagen in tiefen Höhlen, seine Haare waren ergraut.

Am 23. November 1999 begann vor dem Gericht in St. Petersburg der achte Prozess innerhalb von vier Jahren gegen den Umweltschützer. Wieder fand das Verfahren überwiegend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der Staatsanwalt berief sich auf einen – nachträglich verfassten – Geheimerlass, den weder der Angeklagte, noch die Verteidigung einsehen durften. Vorgeworfen wurde dem ehemaligen Marine-Offizier wie schon in früheren Verfahren, dass er sich illegal Zugang zur Bibliothek der Marine verschafft habe. Die Dokumente dort seien geheim, behauptet der russische Geheimdienst, der die Anklageschrift verfasst hat.

Wie der Anwalt Schmidt mitteilte, wurden „… über zehn verschiedene Sachverständige eingesetzt, etwa 100 Zeugen befragt. Um zu beweisen, dass Nikitin eine Spionagetätigkeit ausgeübt hat, wandte sich die Ermittlung an das Außensicherheitsamt, an das Außenministerium, an das Verteidigungsministerium, an die Atomenergiebehörde und andere Ämter und Behörden“. Den Nachweis der Verteidigung, dass die Informationen über den Skandal im Eismeer bereits vorher in mehreren Büchern und in der Presse veröffentlicht wurden, ignorierte das Gericht.

Mit welchen Methoden der Geheimdienst arbeitete belegt u.a. auch das Schicksal von Viktor Perovsky, einem Kollegen Nikitins, der als wichtiger Zeuge geladen war. Er wurde vom Geheimdienst zusammengeschlagen, seine Wohnung verwüstet und letztendlich wurde er im Gefängnis »umgedreht«: Perovsky mochte sich zur großen Überraschung und Enttäuschung Nikitins vor Gericht an nichts mehr erinnern.

Ein unerwarteter Freispruch

Am 29. Dezember 1999 konnte Nikitin trotzdem aufatmen. Das Gericht sprach den mutigen Umweltschützer unerwartet frei. Beigetragen hat dazu sicher die mutige und engagierte Verteidigung sowie auch die große internationale Öffentlichkeit. Der Prozess war von vielen VertreterInnen des US-Kongresses begleitet worden sowie von VertreterInnen der Konsulate Deutschlands, Dänemarks, Hollands, Norwegens, Schwedens, von amnesty international, Bellona und vielen anderen Nichtregierungsorganisationen. Das Verfahren galt als Indikator für Russlands Demokratiefähigkeit.

Nikitin kein Einzelfall

Auch andere »Whistleblower«, die nicht zuschauen wollten wie das Nordmeer verseucht wird, wurden für ihren Mut ins Gefängnis geworfen. So beispielsweise die Atom-U-Boot-Kapitäne Nikolaj Mormul und Nikolaj Tscherkassin. Mormul machte z.B. öffentlich, dass an der Andrejewa-Bucht seit Jahren Container radioaktiven Mülls unter freiem Himmel stehen, deren durchgerostete Deckel die Strahlung ungehindert austreten lassen. Um die Insel Semlja herum wurde der Atomschrott aus 30 Jahren sowjetischer Marine einfach ins Meer gekippt. Mormul informierte über zwei U-Boote, die mitsamt ihren Neutronenreaktoren einfach versenkt wurden, über einen Schlepper mit 2.000 Behältern radioaktiven Mülls und über 17.000 Behälter Atommüll, die alle im Eismeer landeten. Mormul, der früher einmal Chef der Nordmeerflotte war, berichtete auch von sogenannten Entflammungsvorkommnissen (sprich Feuerausbrüchen), die auf hoher See immer mal wieder in Atom-U-Booten vorkamen und -kommen.

So. z. B. 1972 auf K19. Das Boot hatte bereits 10 Jahre zuvor eine schwere Havarie zu beklagen gehabt, bei der etliche Seeleute verbrannten. Bei dem erneuten Brand hatten die Männer das Schott im Hektorpedoraum geschlossen, damit nicht alle Soldaten umkamen. Die todgeweihten Kameraden versuchten vergeblich auszubrechen, 28 Seeleute starben. Den Berichten zu Folge wurden alle Seeleute, die Havarien miterlebten, mit vorgeschobenen Begründungen »aus dem Verkehr gezogen«. Die Katastrophen sollten streng geheim bleiben, obwohl die russische Verfassung Geheimnisse im Umweltbereich ausschließt.

Auch der Marineoffizier und Reporter Grigorij Pasko wurde vor ein nicht öffentliches Militärgericht gestellt. Er hatte publiziert, dass in Wladiwostok radioaktiver Müll entsorgt wird. Als Geheimnisverrat betrachtete die russische Militärführung auch die aufsehenerregende Enthüllung des Chemikers Vil Mirzajanov. Er hatte sich an die Öffentlichkeit gewandt, weil in Russland weiterhin chemische Kampfstoffe entwickelt wurden, obwohl das Land einem internationalen Abkommen über den Abbau chemischer Waffen beigetreten war. Jelzins früherer Umweltberater Alexey Yablokov kritisierte die Einschätzungen über die Kontaminierung des Barentssees und des Kara-Meers durch Norwegen als zu optimistisch und bezeichnete eine Studie der internationalen Atomenergie-Behörde als „lächerlich“. Das kostete ihn seinen Job.

Nikitin, Mormul, Tscherkassin, Pasko, Yablokov sind Whistleblower. Ohne Ansehen ihrer Person haben sie es gewagt, gegen alle Repressionen »Geheimnisse«, (die eigentlich keine waren) an die Öffentlichkeit zu bringen. Inzwischen haben diese Whistleblower alle ihre Strafen für ihre »Zivilcourage« abgebüßt. Mirzajanov ist nach den Repressalien, denen er in Russland ausgesetzt war, in die USA ausgewandert.

Antje Bultmann ist aktiv in der deutschen Ethikschutz-Initiative, die Mitglied des Internationalen Netzwerks von Ingenieuren und Wissenschaftlern zum Schutz und zur Förderung von ethischem Engagement (INESPE) ist.

Herrschaft und Tabu – ein Systemvergleich

Herrschaft und Tabu – ein Systemvergleich

von Hans-Jürgen Fischbeck

Tausende bei den Montagsdemos in Leipzig ein paar Jahre später. Menschen thematisierten öffentlich ihre Unzufriedenheit mit dem System. Zivilcourage: Zumindest am Beginn der Bewegung war nicht erkennbar wie der Staatsapparat reagieren würde, welche Folgen das politische Engagement für die Einzelnen haben würde.
Hans-Jürgen Fischbeck, einst aktiv in der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung, befasst sich mit den unterschiedlichen Anforderungen an Zivilcourage gestern und heute unter den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen.

Ein Beispiel aus eigener Erfahrung: Am 13. Februar 1988 wurde die Ökumenische Versammlung der Kirchen der DDR in Dresden offiziell eröffnet mit 9 »Zeugnissen der Betroffenheit« von denen ich eines übernommen hatte. Erst am Vorabend erfuhren wir, dass das Westfernsehen davon berichten würde. Hätte ich dies vorher gewusst, hätte ich mein Zeugnis das ich im Namen der kirchlichen Oppositionsgruppe »Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung« ablegen wollte wesentlich vorsichtiger formuliert. Mir war klar, dass sich das Westfernsehen auf mein Votum »Von der Ungerechtigkeit auferlegter Abgrenzungen« stürzen würde. Sollte ich meinen Text deshalb über Nacht entschärfen? Ich tat es nicht und es kam wie erwartet. Die Wirkung war groß. Es war wie der Bruch eines Tabus. Selbstverständlich hat die Staatsmacht auf diese Herausforderung reagiert. Wenig später wurde ich in dem Forschungsinstitut in dem ich arbeitete zu einem »Kadergespräch« zitiert wo ich mich rechtfertigen musste. Ich beteuerte, dass ich lediglich nach bestem Wissen und Gewissen die Wahrheit gesagt habe. Mir wurde entgegen gehalten, ich hätte objektiv den Feinden der DDR gedient und damit meine Pflichten als Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften verletzt. Disziplinarische Konsequenzen wurden angedroht, aber nicht vollzogen, wie allgemein erwartet wurde. Anlässe dafür bot ich später noch genug.

Erst nach der Wende erfuhr ich die Hintergründe und – wie ich meine – das eigentliche Beispiel für Zivilcourage. Die Leitung der Akademie der Wissenschaften hatte von der Institutsleitung verlangt, dass ich zu entlassen sei. Der Direktor unseres Instituts, Prof. Gündel, selbstverständlich Mitglied der SED und damit gebunden an die strenge Parteidisziplin, weigerte sich dies zu tun und nutzte auch spätere Anlässe nicht um die angedrohten Konsequenzen zu ziehen. Während ich viel Anerkennung für mein Verhalten erfuhr, blieb sein Beispiel für Zivilcourage unbekannt.

Wahrheit und Macht

Dieses Beispiel illustriert einen allgemeinen Sachverhalt, nämlich das gespannte Verhältnis zwischen Wahrheit und Macht. Macht – genauer gesagt Herrschaft – verträgt die Wahrheit nicht. Macht hat, wer andere veranlassen kann etwas zu tun, was sie nicht wollen. Menschen wollen lieber Macht haben als sich ihr fügen. Der »Wille zur Macht« ist eine der wichtigsten Triebkräfte menschlichen Handelns. Umgekehrt lässt die Sehnsucht nach der letzten Gerechtigkeit herrschaftsfreien Zusammenlebens die Unterdrückten nicht los. In unserer Kultur fand diese Hoffnung ihren wohl stärksten Ausdruck in der Reich-Gottes-Verheißung der Bibel von den Propheten Israels bis hin zu dem, der wegen seines Eintretens für diese Wahrheit gekreuzigt wurde. In wohl keiner Szene der Weltgeschichte ist die Spannung zwischen Wahrheit und Macht so deutlich wie im Verhör Jesu durch Pilatus, in dem jener die berühmte zynische Frage stellte: „Was ist Wahrheit?“

Nun ist freilich zivilisiertes Zusammenleben ohne Machtausübung vorerst nicht möglich. Deren einzig akzeptable und legitimierte Form ist die demokratische weil sie auf einem zeitlich befristeten und rechenschaftspflichtigen gesellschaftlichen Mandat beruht. Aber auch in der Demokratie wollen Menschen an die Macht kommen oder sie behalten. Aus diesem Grunde geraten auch in der Demokratie Wahrheit und Macht immer wieder in Konflikt. Wo um der Macht willen gelogen oder geschwiegen wird, grenzt auch in der Demokratie legitime Macht an illegitime Herrschaft. Die stets unvollkommene Demokratie aber kann daran gemessen werden, in welchem Maß es möglich ist oder sogar geschützt und gefördert wird, gesellschaftlich relevante Wahrheit öffentlich zu sagen ohne dass besondere Zivilcourage nötig wäre, denn es gibt einen öffentlichen Anspruch darauf. In den USA und Großbritannien gibt es – anders als in Deutschland – Ansätze eines gesetzlichen Schutzes von Menschen, die im öffentlichen Interesse aus Gewissensgründen unbequeme Wahrheiten sagen. Dieses Defizit zu beheben, ist eines der Anliegen der Ethikschutz-Initiative.

Ohne Zweifel ist es in der Demokratie viel leichter gesellschaftlich relevante Wahrheit zu sagen als in diktatorischen Herrschaftsformen wie ich es lange genug erlebt habe. Die staatssozialistische Herrschaft der SED ist nicht zuletzt an der von ihr selbst erzeugten und alles durchdringenden öffentlichen Lüge erstickt, die sie zur Stützung ihrer Herrschaft aufrecht erhalten zu müssen glaubte. Illegitime Herrschaft braucht ihre Legitimationslüge und lebt davon. Ihr zu widersprechen ist nicht nur verboten, sondern tabu. Herrschaft, Lüge und Tabu gehören zusammen. Es darf einfach nicht gesagt werden: »Der Kaiser ist nackt.«

Zivilcourage heute

Im demokratischen Rechtsstaat sind Meinungs- und Gewissensfreiheit als Grundrechte garantiert. Ist Zivilcourage damit nicht mehr erforderlich? Dem ist nicht so – und zwar nicht nur wegen der schon erwähnten Unvollkommenheit jeder Demokratie, denn unsere Gesellschaft wird ja nicht nur durch die legitimierte institutionelle Macht des demokratischen Staates bestimmt, sondern mehr und mehr durch die nicht legitimierten und nicht rechenschaftspflichtigen Herrschaftsstrukturen des Eigentums. Insbesondere die Geldvermögen sind ja so beschaffen, dass sie exponentiell wachsen, sodass ihre Macht automatisch immer größer wird, denn Geld ist das Machtmittel schlechthin. Wer Geld hat hat Macht. Wer viel Geld hat hat viel Macht. Hier handelt es sich um erbrechtlich gesicherte postfeudale Herrschaft die im Begriff ist, sich die legitimierte politische Macht unterzuordnen bzw. zu kaufen. Auch staatliche Macht braucht Geld. Sie muss es sich durch Steuern holen. Der Steuerpflicht aber entziehen sich die großen (Geld)-Vermögen mehr und mehr. Dies ist nur ein Indiz dafür, dass die Politik ihr Primat verloren hat. Demokratie wird zweitrangig. „Politik löst sich in Technologie und Ökonomie auf.“ (Hans Mohr). Die heute bestimmenden Herrschaftsstrukturen sind die ökonomisch-kommerziellen. Vornehmlich hier ist Zivilcourage heute gefragt.

Meinungs- und Gewissensfreiheit gelten als Grundrechte nur im öffentlichen Recht gegenüber dem Staat, nicht aber in zivilrechtlichen Arbeitsverhältnissen. Hier herrschen Loyalitätspflichten und Direktionsrechte. In den Westen gegangene DDR-BürgerInnen, der Pflicht zur Staatsloyalität entronnen, fanden sich in privaten Unternehmen unvermutet neuen Loyalitätspflichten unterworfen. „Ich fühle mich wie in einer kleinen DDR“, berichtete einer von ihnen. Die nichtsdestoweniger gewonnene Freiheit besteht nun allerdings darin, den Arbeitgeber wechseln zu können, was im Staatskonzern DDR nicht möglich war. Wo aber ist diese Freiheit bei über zehnprozentiger Arbeitslosigkeit geblieben?

Zivilcourage heute ist also hauptsächlich in zivilen Arbeitsrechtsverhältnissen gefragt. Es gibt sie ebenso vielfältig wie die Sanktionen, die sie hervorruft. Nur wird sie nicht so wahr genommen wie sie es verdient. Die Macht des Geldes zeigt sich hier beispielsweise durch die Androhung zivilrechtlicher Prozesse um enorm hohe Streitwerte, in denen Unternehmen ganze Rechtsabteilungen und teure RechtsanwältInnen aufbieten können oder aber durch »positive Sanktionen« – etwa in Gestalt außertariflicher Zusatzrenten – als Lohn für das Wohlverhalten von VorruheständlerInnen. Diese Macht des Geldes ist meist größer als die Zivilcourage Einzelner, sodass nur wenig Verborgenes an die Öffentlichkeit gelangt.

Natürlich sind Lüge und Tabu Geschwister auch dieser Herrschaftsform. Dem Unisono der lobhudelnden Staatspropaganda der SED entspricht die Polyphonie – besser der Lärm – der freilich weit geschickteren PR zum Image-Aufbau und zur Image-Pflege der Firmen auf dem Markt, die man sich viel und immer mehr Geld kosten lässt. Der Staatsdoktrin der SED entspricht hier, was man »Corporate Identity« bzw. »Firmenphilosophie« nennt. Selbstverständlich ist PR ebenfalls eine Form der Selbstbelobigung. Hinter dem durch die Werbewirtschaft erzeugten vielfarbigen, im Grundton aber rosaroten Schleier – jeder weiß dass er eigentlich nicht stimmt – ist die Wahrheit nichtsdestoweniger kaum zu erkennen. Dazu kommt der postmoderne Konsens, dass es Wahrheit sowieso nicht gibt, sondern nur Interessen. Also was soll's? Jeder lügt und lobt sich selbst. Natürlich weiß man längst, dass unter diesen Umständen Glaubwürdigkeit ein »knappes Gut« geworden ist. Hier aber endet die Macht des Geldes. Glaubwürdigkeit lässt sich ausnahmsweise nicht kaufen.

Das Herrschaftstabu der SED war, dass ihre Politbürokratie »Volksdemokratie«, d.h. die Herrschaft der Arbeiterklasse sei. Das Herrschaftstabu des Eigentums ist die Negation überhaupt Herrschaft zu sein. So gelingt es, diese Herrschaft perfekt zu verschleiern, ja als gänzlich liberal zu deklarieren. Herrschaft selbst ist tabu. Über Geld spricht man nicht, man hat es. Die Vermögen und ihre EigentümerInnen sind durch das Bank- und Steuergeheimnis vor den Blicken der Öffentlichkeit geschützt. Dennoch lässt sich nicht verheimlichen, dass die privaten Geldvermögen unaufhörlich wachsen. Alle einschlägigen Statistiken zeigen: Überall auf der Welt werden die Reichen reicher, die Armen zahlreicher und ärmer. Das also lässt sich nicht verbergen. Dennoch wirkt hier das Tabu. Ein evidentes »Weil« darf nicht ausgesprochen werden: Die Reichen werden reicher weil die Armen zahlreicher und ärmer werden und umgekehrt. Wer es ausspricht wird »entlarvt« als »ideologisch befangen«. Immer finden sich genug Leute, die dieses Verdikt – publizistisch oder auch nur im Gespräch – unverzüglich aussprechen und die Diskussion damit beenden. Längst beteiligt sich die SPD an der Tabuisierung des Eigentums. Im Zuge ihrer »Modernisierung« geschieht das konsequenter als zuvor. Auch bei den Bündnisgrünen ist es kein Thema mehr, denn Wahlen lassen sich damit unter der Wirkung dieses Tabus nicht gewinnen, schon gar nicht in der »neuen Mitte«. So bleibt es Menschen mit Zivilcourage vorbehalten, trotz des herrschenden Tabus so oder so zu sagen: Auch dieser Kaiser ist nackt.

Dr. Hans Jürgen Fischbeck, Physiker, ist Studienleiter an der Evangelischen Akademie Mülheim/Ruhr.

Sich nicht vereinnahmen lassen

Sich nicht vereinnahmen lassen

von Dieter Lünse

Im Zuge der vielen innergesellschaftlichen Gewaltvorfälle in den letzten 10 Jahren ist selten versäumt worden Zivilcourage einzufordern. Die öffentlichen Aufrufe für mehr Mut im zivilen Umgang miteinander kommen meist spät und als Appelle von Gewalt abzulassen und Toleranz zu üben – sie betonen nur die moralische Seite. Zur Zivilcourage gehört aber auch, dass Werte die der Zivilcourage entgegen stehen in Frage gestellt werden, kurz: den Widerspruch zur Konformität zu pflegen.

Zivilcourage wird eingefordert bei Gewalt mit einem rassistischen oder sexistischem Hintergrund, bei Gewalt unter Jugendlichen in der Schule oder in der Öffentlichkeit. Doch erst nach unterlassener Hilfeleistung, nachdem viele Menschen weggesehen haben, wird öffentlich der Mut für ziviles Verhalten proklamiert, nicht vorher – obwohl sich in der Rekonstruktion vieler Fälle zeigt, dass oft durch ein anderes Verhalten die Gewalt hätte abgewendet werden könne. Die Mechanismen für couragiertes Handeln werden in der Öffentlichkeit kaum erläutert. Doch damit droht Zivilcourage zu einem moralischen, abstrakten Wert zu werden ohne Wirkung zu entfalten und zur Handlung anzuleiten.

Zivilcourage heißt nicht nur Hilfe für das Opfer, sie steht auch für prosoziales Verhalten, Nonkonformität und Verweigerung gegen autoritäres Auftreten. Zivilcourage zeigt wer gegen den Strom schwimmt. Zivilcourage erfordert Mut, Positionsstärke und die Überwindung von Angst.

In einer Gesellschaft die nur Werte postuliert ohne sie umzusetzen rücken Eigensinn statt Gemeinsinn, Egoismus statt Solidarität und Misstrauen statt Vertrauensbildung in den Vordergrund. Den moralischen Appellen folgt Tatenlosigkeit, Wegsehen droht zum Leitbild zu werden. Zivilcourage muss in Beziehung gesetzt werden zur Tendenz des Konsumismus, des Ich-verankerten Weltbezugs und einem Selbstverwirklichungstrieb. Die ellenbogenbewehrte Durchsetzung eigener Interessen ist die andere Erfahrung, die nicht nur in der Wirtschaftspolitik, sondern auch in der Bildungspolitik mehr gefördert wird als Zivilcourage. Viele LehrerInnen können darüber Auskunft geben. Die Fähigkeit anderen zuzuhören, sich selber zurück zu nehmen und Frustration zu ertragen geht in manchen Klassen gegen Null. Das Ausagieren emotionaler Befindlichkeiten ohne Rücksicht auf die Situation und die rücksichtslose Durchsetzung eigener Interessen gehören zur Schulwelt. Es fehlt den Schulen oft an Möglichkeiten gegenzusteuern und mit anderen Konzepten SchülerInnen wie auch LehrerInnen wieder aktiv zur Eigenverantwortung und Gestaltung der zivilen Formen an der Schule zu gewinnen.

In einer Welt, die stark auf individuelles Glück ausgerichtet ist, obsiegen die egoistischen Ziele. Das ellbogenbewehrte Verhalten bringt nicht nur VerliererInnen und mehr Gewalt hervor, es verschließt auch den Blick auf kooperative Lösungen.

Wenn statt Konkurrenz und GegnerInnenschaft kooperiert wird, steht meistens ein besseres Ergebnis am Ende. Die Kooperation steigert den sozialen Zusammenhalt, verbessert das Klima und gibt den Beteiligten mehr Sicherheit. Ganz anders verhält es sich, wenn Menschen für den eigenen Vorteil arbeiten und sich gegenseitig in ihren Leistungen messen. Sie versuchen nicht sich zu ergänzen, sondern setzen auf den Ausbau ihrer Stellung im sozialen System. Damit verändert sich nicht die Abhängigkeit von einander, nur die Stellung zueinander und der Kampf um Rangplätze. In der kooperativen Zusammenarbeit und Zusammenleben werden Aufgaben delegiert, so dass die oder der Beste sie erledigt ohne einen Bedeutungsverlust und Rangverlust für jemand anderes. In der Kooperation ist mehr Raum für die Arbeit an einer Sache. Dies setzt voraus, dass alle Beteiligten interessiert sind, Aufgaben und auch Verantwortung im Sinne eines gemeinsamen Zieles zu übernehmen.

Die Aufgaben, die Verantwortung und die Ziele auszuhandeln, aufeinander abzustimmen und in Handlungsschritte umzusetzen bedarf verschiedener Kompetenzen:

  • die Entwicklung einer stabilen Position;
  • ein hohes Maß an Phantasie und Kreativität die jemand befähigt sich in andere hinein zu versetzen;
  • der Mut zum Widerspruch auch gegen herrschende Tendenzen;
  • die Fähigkeit zur aktiven, gleichberechtigten Beziehung zu anderen Menschen;
  • das Einnehmen von Außenseiterpositionen um eine andere Sichtweise zur besseren und ausgeprägten Urteilsfähigkeit zu gewinnen;
  • die Fähigkeit den Witz sozial einzusetzen, eine Sache auf den Punkt zu bringen;
  • der Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen;
  • des Vertrauens in die Leistungen anderer;
  • in Fehlern eine Chance für Verbesserung und Lernen sehen, statt sie wertend einer Person anzulasten.

Menschen in diesen Kompetenzen auszubilden, ihnen die Möglichkeiten von Zivilcourage aufzuzeigen bedarf einer anderen Orientierung in der schulischen Bildung und in der Aus- und Fortbildung, es bedarf der kritischen Auseinandersetzung mit Werten, die Zivilcourage entgegen stehen: Von der einseitigen technologischen Perfektion hin zur Ausbildung in sozialen Kompetenzen ist der Blick zu wenden, damit Zivilcourage gezeigt werden kann und nicht einseitig als moralischer abstrakter Wert seiner Wirkung beraubt wird.

Dieter Lünse ist Dipl. Sozial-Ökonom und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation (ikm).

Arbeitslos: Mut finden sich zu wehren

Arbeitslos: Mut finden sich zu wehren

Johannes M. Becker im Gespräch mit Michael Aroff

von Johannes M. Becker und Michael Aroff

Ich treffe Michael Aroff in einem Internet-Café in Marburg. Wir kommen ins Gespräch.

Becker: Was treibt dich ins Internet-Café?

Aroff: Ich surfe im Internet, halte Kontakt mit ehemaligen Studienkollegen in Montpellier, suche Jobs, bewerbe mich, vertreibe mir halt die Zeit.

Was hast du studiert?

In Marburg zunächst Sozialwissenschaften, dann habe ich einen Abschluss in Frankreich an der Uni Montpellier gemacht, später in Gießen ein Lehramtsstudium beendet; Höheres Lehramt für Sozialkunde, Geographie und Französisch. Ende der 80er-Jahre habe ich in Frankreich als Soziologe promoviert. Damals war der universitäre Arbeitsmarkt schon weitgehend geschlossen. In Frankreich hatte ich dann eine auf zwei Jahre befristete Stelle in einem Forschungsprojekt. Als die auslief und nichts anderes in Aussicht stand, habe ich mich entschieden, es als »Freier« zu versuchen.

Was kann ich mir unter der Arbeit als »Freier« vorstellen?

Zuerst habe ich mich bei einigen hessischen Universitäten um Lehraufträge bemüht. Ja, lehren lassen wollten die mich – aber ohne Bezahlung! Wobei 55,30 DM für eine gelehrte Stunde auch mehr ein symbolischer Akt sind bei dem Aufwand, den man hat. Heute leite ich Sportstunden für ältere Menschen in Sportvereinen der Umgebung, gebe Französisch-Kurse an der Volkshochschule, mache manchmal (schlecht bezahlte) Übersetzungen – tja, was man halt ohne festen Job so macht. Gerade habe ich gehört, dass die neue, konservative Landesregierung von Hessen die Landeszuschüsse für die VHS um 30 Prozent kürzen will; dann wird mir vielleicht auch dieses Standbein wegfallen. So wird der Druck immer größer, eine Umschulung zu beginnen.

Was macht dir den Gedanken an eine Umschulung so schwer?

Ich habe nicht – u.a. im Ausland – studiert, zwei Diplome gemacht und drei Staatsexamen – und nicht die schlechtesten – und dann noch promoviert, damit ich jetzt das stupide Füttern von Computern lerne. Meine Ideen vom Leben waren eigentlich ganz andere. Wie meine älteren Geschwister, dachte ich, würde ich einmal einen lebenslangen Job haben, würde Wissenschaftler oder Lehrer werden, vielleicht mal ein Jahr ins Ausland gehen, vielleicht mal etwas Neues dazulernen, aber im Prinzip mit einer festen Anstellung leben. Die gegenwärtige Lage gibt mir nicht die geringste Möglichkeit mein Leben zu planen. Ich kann mich gerade selbst über Wasser halten.

Welche Perspektive siehst du denn für dich?

Ich habe mich, wenn ich das wirklich Mal zusammen zähle, wohl auf 100 Stellen beworben. Manchmal bekomme ich nicht mal eine Antwort. Ich habe mich auch bei den Entwicklungsdiensten erkundigt wegen Auslandsarbeit. Aber mit meinen Fächern kann niemand etwas anfangen. Um im Ausland unter halbwegs annehmbaren materiellen Bedingungen als Lehrer zu arbeiten, muss man im Schuldienst sein. Die Verlage sind völlig zu. Tja, manchmal kann man schon mutlos werden. Außerdem bin ich jetzt 33 Jahre alt. Das wird mir auch schon mal vorgehalten…

Und etwas ganz Neues ins Auge zu fassen?

Einige meiner Ex-KommilitonInnen, denen es ähnlich wie mir geht, haben Verlage gegründet, schreiben für Zeitungen und Zeitschriften, versuchen einen Fuß in den Rundfunk zu bekommen, haben Kneipen gekauft oder gepachtet. Doch nur Wenigen gelingt es mit der Situation klarzukommen, dass man alles, oder zumindest vieles von dem, was man sechs oder acht Jahre studiert hat, vergebens studiert hat. Und über die Bedingungen bspw. als Honorarkraft bei Zeitungen mit Zeilenhonoraren weit unter einer DM machen sich Außenstehende keine Vorstellung! Außerdem ist man völlig rechtlos als freier Mitarbeiter, nicht der Schimmer von sozialer Absicherung!

Einige wenige meiner Bekannten haben sich auch ganz zurück gezogen. Viele leben von den Einkünften ihrer LebenspartnerInnen. Ich könnte meine »Alten Herrschaften« anbaggern. Aber die haben mir schon das Studium finanziert. Zum Sozialamt könnte ich auch gehen. aber die würden sich das Geld von meinen Eltern zurückholen.

Hast du gehört von den Bemühungen anderer europäischer Regierungen, die Arbeitslosigkeit zu senken?

Ja, aus Frankreich vor allem. Aber das Hauptprogramm dort gilt wohl auch nur für Jugendliche unter 25 Jahren. Doch immerhin! Unsere rosa-grüne Regierung zählt heute zu den inaktivsten in der Frage der Arbeitsmarktpolitik. Überall werden die Möglichkeiten des zweiten Arbeitsmarktes eingeschränkt, die Bedingungen für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind für die meisten potenziellen Träger unrealisierbar geworden, wirklich sinnvolle Fortbildungsmaßnahmen werden nicht mehr finanziert usw.

Die Unis klagen auch nur über ihre Überlastung. Aber dass die mal was Wirksames tun würden! Heute lese ich in der Zeitung einen neuen Protest gegen die unzumutbare Situation bei den Marburger Politologen. Aber mit Zeitungsappellen wird man den Konservativen keine neuen Stellen abringen! Und die Studierenden, die einen Studienplatz ergattert haben, halten still. Anstatt den Lehrbetrieb lahmzulegen und ihre Studienbedingungen wirksam zu verbessern!

Auch die Arbeitslosen sind nicht in der Lage sich zu wehren. Hier in Marburg hat im vergangenen Jahr eine Initiative zusammen mit dem DGB zu Aktionen gegen die Kohl-Politik aufgerufen. Was meinst du, wie viele der 4.000 Arbeitslosen sind auf die Aufrufe gekommen? Nicht einmal drei Dutzend! Und kein Wissenschaftler unter ihnen. Die, die Arbeit haben, haben Angst sie zu verlieren. Und die, die keine haben, haben keinen Mut sich zu wehren, wohl auch häufig keinen Mut zu ihrer Lage zu stehen. Auch das ist übrigens in Frankreich ganz anders!