Zivilklausel in NRW und überall


Zivilklausel in NRW und überall

von Senta Pineau

Die kürzliche Streichung der Zivilklausel aus dem Hochschulgesetz in Nordrhein-Westfalen und die Kampagne für deren Erhalt fallen zusammen mit dem zehnjährigen Jubiläum der Entstehung der so genannten Zivilklauselbewegung. Zeit für eine politische Bestandsaufnahme.

Wir schreiben das Jahr 2008. Milliarden Euro werden aus dem Stegreif zur Rettung von Banken verpulvert, während zuvor massiv Sozialabbau betrieben wurde. Die Unveränderbarkeit einer unerfreulichen Gesellschaft steht massiv in Frage.

In dieser Zeit kommt auf Einladung des Verteidigungsministeriums und der Commerzbank der »Celler Trialog« zusammen; es trifft sich die Crème de la Crème aus Wirtschaft, Bundeswehr und Politik. Die Teilnehmer*innen eint unter anderem das Ziel, „das Verständnis für die Auslandseinsätze der Bundeswehr verbreitern zu können“, die „Intensivierung der zivil-militärischen Zusammenarbeit“ voranzutreiben sowie gemeinsam darauf hinzuwirken, „dass der sicherheitspolitische Dialog auch in Forschung und Lehre, insbesondere an unseren Hochschulen, gestärkt wird“ (Celler Trialog 2008). Kurzum: In Celle soll der in der Bevölkerung verbreiteten Ablehnung militärischer Einsätze entgegengewirkt werden.

Auch die neoliberale Hochschulpolitik stößt zu dieser Zeit an Grenzen. Die Ökonomisierung von Bildung und Wissenschaft und das menschen- und wissenschaftsfeindliche Leitbild der »unternehmerischen Hochschule« geben 2009 Anlass für den bundesweiten Bildungsstreik. Der steigende Druck auf die Hochschulen und ihre Mitglieder, verwertungskonform zu studieren und zu forschen – im Zweifel für den Krieg –, führt zu einer Renaissance der kritischen Auseinandersetzung mit den gesellschaftspolitischen Zielen von Bildung und Wissenschaft. In Karlsruhe kommt es zu einer studentischen Abstimmung für die Ausweitung der Zivilklausel des ehemaligen Kernforschungszentrums auf die gesamte Uni. Es folgen weitere Abstimmungen, u.a. in Köln und Frankfurt. Dies ist der Beginn der »Zivilklauselbewegung«.

Krise heißt Entscheidung: für den Frieden

An der Uni Köln konstituierte sich 2010 der »Arbeitskreis Zivilklausel«. Es war gerade gelungen, in NRW die Gebührenfreiheit des Studiums zurückzuerkämpfen. Die Auseinandersetzung der Aktiven mit dem Sozialpakt der Vereinten Nationen, der die Gebührenfreiheit des Studiums politisch begründet, hatte dafür große Bedeutung. Darin heißt es, „dass die Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und des Bewusstseins ihrer Würde gerichtet sein und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten stärken muss“ und „dass die Bildung es jedermann ermöglichen muss, eine nützliche Rolle in einer freien Gesellschaft zu spielen, dass sie Verständnis, Toleranz und Freundschaft unter allen Völkern und allen rassischen, ethnischen und religiösen Gruppen fördern sowie die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Erhaltung des Friedens unterstützen muss“ (UN-Sozialpakt 1966, Artikel 13).

Der Anspruch, Wissenschaft und Bildung sollten dazu beitragen, als mündige Persönlichkeit Bedeutung zu erlangen für die Schaffung einer menschlichen, friedlichen Welt, war persönlich und politisch überzeugend und in Köln Grundlage für nachhaltiges Engagement.

Die Zivilklauselbewegung hing über die Jahre an der Arbeit eines kleinen Kreises von Aktiven. Umso bemerkenswerter ist, wie gut es ihr gelungen ist, politische Maßstäbe zu setzen. Hatten sich im Jahr 2009 zwölf Hochschulen einer friedlichen Wissenschaft verpflichtet, sind es mittlerweile über 60 (zivilklausel.de 2019).

In NRW wurde 2014 die Festschreibung der friedlichen Ausrichtung der Wissenschaft im Hochschulgesetz erkämpft: „Die Hochschulen entwickeln ihren Beitrag zu einer nachhaltigen, friedlichen und demokratischen Welt. Sie sind friedlichen Zielen verpflichtet und kommen ihrer besonderen Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung nach innen und außen nach. Das Nähere zur Umsetzung dieses Auftrags regelt die Grundordnung.“ (HZG NRW 2014) Alle staatlichen Hochschulen in NRW verpflichteten sich im Zuge dessen zu diesen Entwicklungsaufgaben.

Militärisch-industrieller Komplex ist »not amused«

Winter 2014: Gerhard Elsbacher vom Konzern MBDA Missile Systems beklagt auf einer Konferenz zur »Angewandte[n] Forschung für Verteidigung und Sicherheit«, die Geschäftsbedingungen hätten sich durch die Ausgrenzung militärischer Forschung an manchen Hochschulen aufgrund der Erfolge der Zivilklauselbewegung verschlechtert (Borchers 2014). Im Jahr 2016 beschließt das Bundeskabinett das »Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland«. Darin steht: „Die Bundesregierung wird daher insbesondere mit den Ländern, Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen sowie Hochschulen in einen ergebnisoffenen Dialog über die Verwendung von sog. Zivilklauseln treten.“ (Bundesregierung 2016)

Frühjahr 2017: Vor dem Hintergrund wachsender Kritik an den Aufrüstungsplänen der NATO sowie sich zuspitzender Konflikte um den Ausstieg aus der Braunkohle am Hambacher Forst kündigt die frisch gewählte CDU/FDP-Landesregierung von NRW an, sie wolle die Friedensklausel aus dem NRW-Hochschulgesetz streichen.

Die Zivilklausel wirkt

Auf eine Große Anfrage der Grünen im NRW-Landtag im Jahr 2018 wurden vier rüstungsrelevante Projekte gemeldet, die an Hochschulen in NRW nicht durchgeführt oder abgebrochen wurden (Landtag NRW 2018), weil Hochschulmitglieder durch die Zivilklausel ermutigt wurden, »Nein!« zu sagen. Darunter war eine Machbarkeitsstudie an der RWTH Aachen zum Bau einer Panzerfabrik in der Türkei, unter Beteiligung des Rüstungskonzerns Rheinmetall. Die RWTH äußerte sich wie folgt zu dem Projekt: „Rückblickend war es ein Fehler seitens des Auftragnehmers, überhaupt ein Ergebnis zur Verfügung zu stellen. Die RWTH fühlt sich nicht nur im Sinne der Gesetzgebung der friedlichen Forschung verpflichtet und betreibt keine Rüstungsforschung. Das betont die Hochschule mit aller Deutlichkeit. Entsprechend wurde der Auftrag auch vor Abschluss beendet.“ (RWTH Aachen 2017)

Daran wird deutlich: Zivilklauseln sind eine Ermutigung für Hochschulmitglieder, ihre Arbeit am Allgemeinwohl auszurichten und dafür politische Konfliktfähigkeit zu entwickeln.

Politische Offensive aus der Abwehr

Der abwegige Versuch von CDU/FDP, wachsende Ansprüche an eine demokratische, friedliche und nachhaltige Gestaltung der Welt technokratisch zu »streichen«, haben die Kölner Aktiven als Chance bewertet, den Spieß politisch umzudrehen und

  • durch Aufklärung neue öffentliche Aufmerksamkeit zu schaffen für die Aktualität und Notwendigkeit einer Wissenschaft, die zur Verwirklichung einer friedlichen, nachhaltigen und demokratischen Welt beiträgt,
  • die erkämpfte und viel zu wenig bekannte Zivilklausel im Hochschulgesetz und an allen Hochschulen in NRW hochschulintern und öffentlich bekannter zu machen,
  • die interessengeleitete Politik von Schwarz-Gelb zu entlarven und
  • die politischen Ambitionen und das Selbstbewusstsein der gesellschaftlichen Gegenkräfte zu stärken.

Der erste Schritt dahin war die Veranstaltungsreihe »Die Hochschule zwischen Aufklärung und Profitinteressen – Verantworung der Wissenschaft für Frieden, Demokratie und Nachhaltigkeit« an der Uni Köln im Wintersemester 2018, mit Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen der Gewerkschaft, der Friedensbewegung und der Umweltbewegung. Ihr folgte die Broschüre »Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Stimmen für den Erhalt der Zivilklausel in NRW« (Uni-Aktionsbündnis Köln et al. 2019), die mit einer Auflage von 11.000 Exemplaren große Verbreitung fand. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Volker Pispers, Dogan Akhanli, Vertreter*innen der DFG-VK, der GEW, der türkischen Akademiker für den Frieden, von Ende Gelände sowie der evangelischen Kirche kommen darin zu Wort und begründen, warum sie die Beibehaltung der Zivilklausel für gesellschaftlich erforderlich halten.

Mit der darauf folgenden Unterschriftenkampagne »Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Die Zivilklausel in NRW erhalten!« konnten die Aufklärungs- und Protestaktivitäten weiter entfaltet werden. Mehr als 90 Persönlichkeiten und Organisationen der Umweltbewegung, der Friedensbewegung, aus Gewerkschaft und Kultur sowie 60 Wissenschaftler*innen aus NRW forderten als Erstunterzeichner*innen die Beibehaltung der Zivilklausel im NRW-Hochschulgesetz. Innerhalb von zwei Monaten schlossen sich ihnen 11.000 Menschen an und stellten sich gemeinsam den politischen Herausforderungen der Zeit: „Wie gelingt es, dass kein Mensch mehr an Hunger sterben muss und Solidarität und demokratische Teilhabe gesellschaftlich umfassend verwirklicht werden? Was sind Ursachen für Krieg und Gewalt und was Voraussetzungen für ein gleichberechtigtes, friedliches Zusammenleben? Wie kann die globale Aufrüstung gestoppt, wie zivile Konfliktlösung und das Völkerrecht gestärkt werden? Welche ökonomischen Interessen stehen einer nachhaltigen Entwicklung entgegen, wie können natürliche Ressourcen geschont und produktiv gemacht statt verschwendet werden? Die gesellschaftliche Beantwortung dieser Fragen duldet keinen Aufschub, die Wissenschaft spielt hierfür eine zentrale Rolle.“ (Zivilklausel erhalten 2019)

Am 11. Juli 2019 beschloss die schwarz-gelbe Landesregierung das neue Hochschulgesetz. Darin enthalten: die Option für die Hochschulen in NRW, die Zivilklauseln aus ihren Grundordnungen zu streichen. In den Zentralen von CDU, FDP und Rheinmetall in Düsseldorf werden allerdings nicht die Korken geknallt haben, denn dieser Beschluss ist nicht mehr als ein Pyrrhussieg.

Eine zivile Entwicklung ist Angelegenheit aller

Mit der Kampagne für die Beibehaltung der Zivilklausel ist es gelungen, die Kritik an Rüstungsforschung sowie das Engagement für allgemeinwohlorientierte Hochschulen und friedensstiftende Wissenschaften politisch erheblich zu dynamisieren. Das Bündnis aus studentischer Bewegung, Friedensbewegung, Umweltbewegung, Gewerkschaften und kritischen Wissenschaftler*innen konnte ausgebaut werden, weil das Anliegen einer prinzipiellen gesellschaftlichen Veränderung leitend und somit verbindend war. So wurde der Angriff der Landesregierung auf kritische Wissenschaften und damit auf eine progressive Entwicklung der Welt mit erweiterten Ambitionen auf gesellschaftliche Veränderung und Solidarität auch über die Hochschulgrenzen hinaus beantwortet. Überdies wurde durch die Kampagne eine breite überregionale Berichterstattung zur NRW-Zivilklausel angestoßen. Die neuen Enthüllungen von SPIEGEL ONLINE machen am Beispiel der Forschung an deutschen Hochschulen für das US-Verteidigungsministerium die Tragweite der Versuche deutlich, die Wissenschaft für das weltweite Wettrüsten zu vereinnahmen (Himmelrath und Dambeck 2019).

Wie gegenwärtig das Erfordernis von Friedens- statt Kriegsforschung ist, wird auch an einer Stellungnahme des Wissenschaftsrates deutlich, der sich diesen Sommer nachdrücklich für eine Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung ausgesprochen hat (Wissenschaftsrat 2019).

Die Hegemonieverschiebung in den Hochschulen selbst ist auch beachtlich. Zum Beispiel hat der Senat der Hamburger Hochschule für angewandte Wissenschaften die NRW-Unterschriftenkampagne unterstützt und alle Hochschulmitglieder angeschrieben, damit sie es ihm gleich tun. Dadurch bekommen die Kämpfe für eine Zivilklausel für den Hamburger Hafen und im dortigen Landeshochschulgesetz ebenfalls Aufwind. In Berlin und Sachsen-Anhalt werden aktuell die Hochschulgesetze novelliert, die Einführung einer Zivilklausel nach NRW-Vorbild steht dort auf der Tagesordnung.

In NRW haben sich mittlerweile alle Universitäten zu den Zivilklauseln in ihren jeweiligen Grundordnungen bekannt. An vielen Orten ist die Diskussion über die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft neu aufgelebt. So gibt es an der TH Köln inzwischen eine Initiative für die Einführung einer umfassenderen Zivilklausel. In Bochum und Wuppertal wird beraten, die Zivilklausel mit einer Ethikkommission zu flankieren.

Die Zivilklausel ist zwar aus dem NRW-Hochschulgesetz gestrichen, Schwarz-Gelb hat damit den Kampf für demokratische, zivile und nachhaltige Forschung und Lehre aber lediglich in die einzelnen Hochschulen verlegt und trägt so ungewollt zu einer weiteren Politisierung bei. Dies ist angesichts der zusätzlichen Milliarden für Rüstungsforschung, die durch die anhaltende Militarisierung der Europäischen Union und das NATO-Aufrüstungsziel von 2 % locken, auch dringend erforderlich.

Geschichte wird gemacht

An jeder Stelle der Aufrüstungs- und Kriegskette kann diese gebrochen werden. Bei Google protestierten letztes Jahr mehrere tausend Mitarbeiter*innen dagegen, dem US-Militär zuzuarbeiten. In den letzten Monaten stellten sich Hafenarbeiter*innen in Italien, Spanien und Frankreich gegen den Transport von Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien. In Hamburg ist ein Volksentscheid für die Einführung einer Zivilklausel für den Hafen in Planung.

Das Engagement für die Zivilisierung menschlicher Arbeit trifft ein gesellschaftliches Erfordernis, das sich immer mehr Menschen zu eigen machen. Und tatsächlich brauchen wir Zivilklauseln nicht nur für Hochschulen, sondern ebenso für Häfen, Banken und Betriebe. Das restaurative Gebot der Zeit nach 1989, man solle »der Politik« das Politikmachen überlassen und das Leben auf den eigenen privaten Nahraum reduzieren, verliert zunehmend an einschüchternder Kraft. Hier zeigt sich ein gesellschaftlicher Umbruch, den jeder befeuern kann.

Literatur

Borchers, D. (2014): IT-Wehrforschung in Deutschland – Den Standort erhalten. heise online, 6. Februar 2014.

Die Bundesregierung (2016): Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland. Verabschiedet am 21.12.2016.

Celler Trialog (2008): Celler Appell. Abrufbar auf bundeswehr.de.

Generalversammlung der Vereinten Nationen (1966): Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt). Verabschiedet am 16. Dezember 1966.

Himmelrath, A.; Dambeck, H. (2019): Millionen vom Pentagon für deutsche Unis. SPIEGEL ONLINE, 22.6.2019.

HZG NRW 2014 – Hochschulzukunftsgesetz Nordrhein-Westfalen. Vom Landtag beschlossen am 16.9.2014.

Initiative Hochschulen für den Frieden – Ja zur Zivilklausel (2019): Liste aktueller Zivilklauseln. zivilklausel.de.

Landtag Nordrhein-Westfalen (2018): Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage 5 der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Drucksache 17/2612 vom 13.9.2018.

RWTH Aachen University (2017): Statement der RWTH Aachen zur Machbarkeitsstudie für ein Werk in Karasu, Türkei. Pressemitteilung vom 4.9.2017.

Uni-Aktionsbündnis Köln, Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, GEW Studis NRW (2019): Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Stimmen für den Erhalt der ­Zivilklausel im NRW-Hochschulgesetz. März 2019; uni-aktionsbuendnis.uni-koeln.de.

Wissenschaftsrat (2019): Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung. Drs. 7827-19 vom 12.7.2019.

Zivilklausel erhalten (2019): Die Zivilklausel in NRW erhalten! weact.campact.de, 15.5.2019.

Senta Pineau ist aktiv im Uni-Aktionsbündnis Köln, Mitgründerin des dortigen Arbeitskreises Zivilklausel und war von 2016 bis 2019 studentische Vertreterin im Senat der Universität. Sie ist Mitglied bei ver.di und in der SPD.

»House Demolitions«

»House Demolitions«

Eine szenische Darstellung ästhetischen Widerstandes in Palästina

von Tim Bausch

Die nachfolgende Erzählung und die damit verbundene Analyse sind Teil einer größeren Recherche, die sich auf Formen ästhetischen Widerstandes in Israel und Palästina konzentriert. Der Beitrag beschäftigt sich im Speziellen mit der ästhetischen Dimension von Hauszerstörungen und den damit verbundenen Widerstandspraktiken. Ästhetik wird hier nicht als Synonym für etwas Schönes/Ansehnliches verstanden, sondern vom ursprünglichen Wortsinn (aisthesis = sinnliche Empfindung) her gedacht.

Die in der folgenden Darstellung erwähnten Personen und Umstände sind real. Die Familie hat gebeten, auf eine Anonymisierung zu verzichten, und sucht die Öffentlichkeit.

I. Szene: Spätsommer 2019. Das Grundstück der Familie Qaisyeh liegt etwas abseits der palästinensischen Stadt Beit Jala. Das Anwesen besteht aus einem Restaurant, einem kleinen Garten und einem Wohnhaus, auf dessen Dach ein großes Holzkreuz wacht. Vor einigen Tagen erhielt die Familie einen amtlichen Bescheid über den Abriss der Gebäude. Nun finden sich die Angehörigen mit einem Vertreter des »Committee Against the Wall and Settlements in Bethlehem« zusammen. Während die
juristische Situation von den Anwesenden diskutiert wird, liegt eine paradoxe
Mischung aus Alltag und Ausnahmesituation in der Luft.

Raum und seine Ausgestaltung sind wesentliche Felder des israelisch-palästinensischen Konfliktes. So kam es, dass der Abriss von Wohnhäusern zum integralen Bestandteil der Auseinandersetzungen wurde. Die Gründe für den Abriss können unterschiedlich sein: als Strafaktion gegenüber Familien palästinensischer Attentäter*innen, als baurechtliches Resultat sicherheitspolitischer Einschränkungen oder schlicht aufgrund fehlender Baugenehmigungen (vgl. Hatz 2018, S. 5 f.).

Um diese Gemengelage zu verstehen, muss man wissen, dass das weitgehend von Israel besetzte Westjordanland in drei administrative Zonen (A, B, C) eingeteilt ist. In den A-Gebieten, die vornehmlich palästinensische Großstädte markieren, hat die Palästinensische Autonomiebehörde Handhabe über zivile und sicherheitsrelevante Angelegenheiten; in den B-Gebieten verfügt sie lediglich über die zivile Hoheit. Die C-Gebiete wiederum (ca. 65 % des Westjordanlandes) markieren die Ländereien rund um israelische Siedlungen. Hier hat die Palästinensische Autonomiebehörde, die als regierungsähnliche
Repräsentanz der Palästinenser*innen fungiert, keinerlei Befugnisse. Die C-Gebiete werden also vollumfänglich von Israel kontrolliert. Dort finden Abrissaktionen palästinensischer Wohnhäuser aufgrund fehlender Baugenehmigungen besonders häufig statt. Während die israelischen Siedlungen wachsen, ist es für Palästinenser*innen sehr schwierig, in diesen C-Gebieten Baugenehmigungen zu erlangen. Trotz fehlender Genehmigung entschließen sich manche Familien zum Hausbau. Dieser wird so zum widerständigen Akt per se. Das Haus der Familie Qaisyeh befindet in einer Region namens al-Makhrour, die in
eben einem solchen C-Gebiet liegt. Die israelische Siedlung Har Gilo ist nur wenige Kilometer entfernt.

Neben diesen politischen und rechtlichen Umständen hat der Komplex »Hauszerstörung/Wiederaufbau« auch eine ästhetische Dimension. Im Zuge des vorliegenden Beitrages wird jener ästhetischen Spur auf den Grund gegangen. Dabei wird unter Ästhetik eine Verschränkung von sinnlicher Darstellung und kognitiven Folgen verstanden (vgl. Baumgarten 1983). Ästhetik ist folglich ein Phänomenkomplex, der sowohl die eigentliche Darbietung als auch die individuellen und kollektiven Folgen in eine direkte Beziehung setzt. Ästhetik als solche erhebt den Anspruch, soziale Wirklichkeit auf eine besondere Art
und Weise darzustellen.

Ästhetischer Widerstand trägt wiederum ein starkes politisches Moment in sich, indem er das Bestehende negiert oder zumindest in Frage stellt. Sinnliche Welterzeugung ist folglich der Modus Operandi des ästhetischen Widerstandes: So kann das Unverfügbare (beispielsweise fehlende politische Rechte) erfahrbar gestaltet werden, es können politische Utopien verkörpert und Möglichkeitsräume für Ideen eröffnet werden.

II. Szene: Der Kampf der Familie dauert schon einige Jahre an. Teile des Anwesens wurden mehrfach wegen fehlender Baugenehmigungen abgerissen. Und so kommt es auch diesmal: Wenige Tage nach dem Zusammentreffen in der ersten Szene ziert das große Holzkreuz nicht mehr den Giebel des Wohnhauses, sondern steht wie ein stiller Zeuge vor dessen Trümmern (Abb. 1). Der staatlich verordnete Abriss konnte trotz juristischer Anstrengungen nicht aufgehalten werden. Nun stehen Hab und
Gut der Familie
aufgereiht auf dem Rasen. Daneben zwei Zelte, in denen die Familie vorerst nächtigen wird (Abb. 2). Und auch in dieser Szene ist die paradoxe Stimmung von Alltag und Ausnahmesituation zu spüren. Neben Wut und Trauer finden sich bereits Überlegungen zum Wiederaufbau. Während der Aufräumarbeiten wird gescherzt, die Stimmung ist wolkig bis heiter.

Wieso ist da trotz der familiären Katastrophe eine Spur Heiterkeit? Wieso wird über einen Wiederaufbau nachgedacht, wo doch bei ausbleibender Baugenehmigung die abermalige Zerstörung die logische Konsequenz sein dürfte?

Um das Phänomen der Hauszerstörungen und des ungenehmigten (Wieder-) Aufbaus zu verstehen, muss auf einen größeren Zusammenhang verwiesen werden: Während der gewaltvollen Auseinandersetzung zwischen Palästinenser*innen und Israelis, die mit der Gründung des israelischen Staates einhergingen, wurden knapp fünfhundert palästinensische Dörfer zerstört. Von den meisten dieser Dörfer sind heute nur noch die Reste der Grundmauern zu erkennen. Auch ehemals palästinensische Zentren, beispielsweise Jaffa, haben sich seitdem sehr verändert: Hochhäuser schossen empor, Straße wurden umbenannt, und ein
neuer Lifestyle hat Eingang in den Alltag gefunden. Kurz, die Landschaft hat eine neue Sichtbarkeitsordnung bekommen (vgl. Rancière 2002). Die Raumkomponente des Konfliktes wird folglich nicht nur durch die politische Geographie, sondern auch durch dessen ästhetische Gestaltung getragen. Den Konfliktakteuren geht es dabei auch um ihre eigene kulturelle Präsenz und Sichtbarkeit. So kann die (Nicht-mehr-) Existenz eines Olivenhains ebenso zum Konfliktfeld werden wie die Beschaffenheit einer Hausfassade. Dies gilt insbesondere für das so genannte Westjordanland. Während sich israelische
Siedlungen durch ihre Lage auf Anhöhen buchstäblich hervorheben, liegen palästinensische Dörfer oftmals in Tälern. Der Architekt und Aktivist Eyal Weizman (2012) bezeichnet solche Ordnungen auch als „Politik der Vertikalität“. In den C-Gebieten wirken die israelischen Siedlungen somit deutlich markanter als die Dörfer der Palästinenser*innen. Viele Palästinenser*innen verstehen dies bereits als visuelle Repräsentation einer spezifischen Machtordnung.

Widerständige Praktiken haben häufig das Ziel, die herrschende Sichtbarkeitsordnung zu stören. Und so sind palästinensische Häuser, insbesondere jene, die ohne Genehmigung entstehen/bestehen und dadurch die herrschende Sichtbarkeitsordnung stören, die ästhetische Grundierung eines politischen Widerstandsnarratives (vgl. Braverman 2007, S. 335). Für den Soziologen Hermann Pfütze (2018) hat ästhetischer Widerstand das Ziel, dem Zerstörerischen ein schöpferisches Potential entgegenzusetzen. In der palästinensischen Ideengeschichte hat dieses Entgegenstellen einen Begriff: »sumud«, was sich mit
Standhaftigkeit übersetzten lässt. Oder wie Hassan Breijieh vom »Committee Against the Wall and Settlements in Bethlehem« zu sagen pflegt: „Wo palästinensisches Leben ist, hat Okkupation keinen Raum. Also müssen wir Leben kreieren.“ In diesem Sinne fungiert jedes wiederaufgebaute palästinensische Haus als eine visuelle Metapher des »sumud« – der palästinensischen Standhaftigkeit.

Durch den Wiederaufbau wird die Gerichtsbarkeit der israelischen ­Besatzung negiert. Schließlich geht es den hier handelnden Palästinenser*innen weniger um Recht, sondern um Gerechtigkeit. Für sie sind die Verfügungen israelischer Gerichte ein illegitimes Verwaltungsinstrument der Besatzung. Die Palästinensische Autonomiebehörde kann bei dieser Auseinandersetzung kaum helfen, weshalb die widerständigen Akteure selbst tätig werden. Der Wiederaufbau ist also Selbsthilfe von unten mit dem Ziel, die eigene Existenz zu sichern und die damit verbundenen Ansprüche auch ästhetisch geltend zu
machen. Das, was augenscheinlich nicht verfügbar ist, also die Selbstbestimmung, wird mittels der ästhetischen Widerstandspraktik des Wiederaufbaus sinnlich erzeugt. Ästhetischer Widerstand ist, wie sich hier zeigt und eingangs bereits festgestellt wurde, eine Form der Welterzeugung. Darüber hinaus ist ästhetischer Widerstand auch immer ein Produzent von Empfindungen. Auch dies zeigt sich an der Geschichte der Familie Qaisyeh: Die Geschehnisse ziehen (Wirk-) Kreise und wecken so die Aufmerksamkeit verschiedenster Akteure.

III. Szene: Einige Tage nach dem Abriss: Das Kreuz wacht noch immer vor den Trümmern des Wohnhauses. Die Familie ist nicht allein. Verwandte, lokale Politiker und Geistliche sind anwesend. Die Tragik der Ereignisse erfährt mediale Aufmerksamkeit und die Familie Zuspruch.

Die Geschehnisse rund um eine Hauszerstörung erfolgen alles andere als klang- und sanglos. Auch wenn die israelischen Soldat*innen während des eigentlichen Aktes der Zerstörung das Terrain um das Anwesen absperren, versammeln sich Pressevertreter*innen in der Nähe. In den Tagen vor und nach der Zerstörung findet sich die Geschichte in sozialen Medien, wie Twitter und Facebook, wieder. Auch die Familie dokumentiert mit Handykameras den Abriss. Die daraus resultierenden Bilder fördern Trauer und Wut, wie in der Kommentarfunktion von Facebook deutlich wird. Aus dem Akt der Zerstörung folgt
also eine weitere ästhetische Ebene, sind die produzierten Bilder doch eindrücklich: Große Maschinen lassen die Gebäude wie Kartenhäuser zusammenfallen, aufgeregt versuchen sich die Bewohner*innen und Angehörigen den Abrissbirnen entgegen zu stellen und werden schließlich doch von israelischen Soldat*innen an die Seite gedrängt. Die Szenerie hat eine ritualisierte Theatralik (vgl. Goffman 2011). Ästhetik und Emotionen sind zwei Seiten einer Medaille. Ästhetik ist also eine Form der Welterzeugung, die in einer spezifischen Weltempfindung mündet.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die palästinensische Gesellschaft in unterschiedlichem Maße von der Okkupation betroffen ist. Okkupation kann konkret oder abstrakt sein. Privilegiertere Familien in Ramallah erfahren die Okkupation auf eine andere Weise als etwa Palästinenser*innen in den C-Gebieten. Geteilte Bilder können durch die hervorgerufene Anteilnahme Kollektivität fördern.

Ein weiteres Spezifikum des Ästhetischen wird hier sichtbar: Durch die Empfindungen/Emotionen, die mit den produzierten Bildern einhergehen, erwächst eine Mobilisierung, denn die Anteilnahme, die mit Hauszerstörungen einhergeht, geht über die palästinensische Gesellschaft hinaus: In aktivistisch-akademischen Diskursen (Stichwort »domicide«), von internationalen und nationalen (palästinensischen, aber auch israelischen) Nichtregierungsorganisationen und unterschiedlichsten Medien werden die Geschehnisse verarbeitet und multipliziert.

Das Beispiel der Hauszerstörungen ist nur eines von vielen, in denen Ästhetik eine signifikante Rolle in Konflikten spielt. Oftmals verbinden sich ästhetische Momente mit raumtheoretischen Fragen. Die Stadt Hebron kann hier als Beispiel angeführt werden. Mehrere israelische Siedlungen und (bewaffnete) Auseinandersetzungen zwischen dem israelischen Militär und dem palästinensischen Widerstand haben das Gesicht der Stadt verändert: Verschiedenste Sicherheitszonen und Kontrollpunkte entstanden, Häuser wurden geräumt und zerstört. Das von der Palästinensischen Autonomiebehörde geförderte
»Hebron Rehabilitation Committee« hingegen hat es sich zur Aufgabe gemacht, die palästinensische Architektur in der umkämpften Stadt zu erhalten und/oder wieder herzustellen. Am so genannten »Land Day« wiederum, der jährlich stattfindet und an staatliche Enteignungen seitens Israel erinnert, pflanzen viele Palästinenser*innen im Westjordanland Olivenbäume. Der Olivenbaum fungiert hier als Symbol für die palästinensische Verwurzelung mit dem Land. Und so zeigt sich, dass Ästhetik und ästhetischen Widerstandspraktiken in Konflikten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommt. Für die
Familie Qaisyeh ist im Übrigen klar, dass das alte Kreuz auch wieder auf ihrem neuen Haus stehen wird. Auf die Frage, was den Optimismus der Familie nährt, antwortet die Tochter: „Nun, wir sind eben Palästinenser.“

Literatur

Baumgarten, A.G (1983): Theoretische Ästhetik: die grundlegenden Abschnitte aus der
»Aesthetica«. Hamburg: F. Meiner.

Goffman, E. (2011): Wir spielen alle Theater – Die Selbstdarstellung im Alltag. München/Zürich: Piper.

Hatz, S. (2018): Selective or collective? Palestinian perceptions of targeting in house demolition. Conflict Management and Peace Science, 21 S., Online-Publikation 18.9.2018.

Pfütze, H. (2018): „Schönheit ist Personenschutz“. In: Bosch, A.; Pfütze, H. (Hrsg.): Ästhetischer Widerstand gegen Zerstörung und Selbstzerstörung. Wiesbaden: Springer VS, S. 9-25.

Rancière, J. (2002): Das Unvernehmen – Politik und Philosophie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Weizman, E. (2012): Hollow Land – Israel’s Architecture of Occupation. New York: Verso.

Tim Bausch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehrstuhles für Internationale Beziehungen an der Universität Jena. In seinem Disserationsprojekt arbeitet er zu ästhetischen Widerstandsformen vor dem Hintergrund spezifischer Herrschaftsformen.

Hybride Kriegführung in urbanen Zentren


Hybride Kriegführung in urbanen Zentren

Relevanz für die zivile Verteidigung

von Dirk Freudenberg

Der Anteil der Weltbevölkerung steigt stetig und wird bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts auf zehn Milliarden Menschen anwachsen. 2050 werden etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben, u.a. in 43 Megastädten mit jeweils mehr als zehn Millionen Einwohner*innen. Auch die deutschen Großstädte legen seit Jahren zu. Dabei ist insbesondere der im Urbanen lebende Bevölkerungsanteil abhängig von Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge und so genannten Kritischen Infrastrukturen. Aus sicherheitspolitischer Sicht ergeben sich daraus für den Autor Herausforderungen für die Zivile Verteidigung, insbesondere unter den Bedingungen hybrider Bedrohungen bzw. Hybrider Kriegführung.

Das Verständnis darüber, was hybride Bedrohungen ausmacht und was sie von anderen Phänomenen abgrenzt, ist in der Literatur uneinheitlich. Hybride Kriegführung zeichnet sich nach der hier vertretenen Sichtweise dadurch aus, dass der Schwerpunkt der »Wirkmittel« wie der angegriffenen Ziele im zivilen Bereich liegt, das heißt, die eingesetzten Mittel entstammen nicht dem »klassischen« militärischen Waffenarsenal, und sie erzeugen ihre Wirkung vor allem im zivilen Raum. Für klassische konventionelle militärische Kräfte und Fähigkeiten könnte sich somit eine »Leere des Gefechtsfeldes« ergeben, da sie nicht mit einem äquivalenten Gegner konfrontiert sind, sondern dieser sein Militär allenfalls begleitend offen einsetzt, um hybride Aktionen zu verschleiern, zu unterstützen oder abzusichern.

Der Schwerpunkt von Verwundbarkeiten und der darauf abzielenden Effektoren1 liegt damit eindeutig im zivilen Bereich. Allerdings ist die Abhängigkeit der Bevölkerung und der Wirtschaft in Deutschland von zivilen Kritischen In­frastrukturen2 in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen, sodass der Schutz Kritischer Infrastrukturen aus sicherheitspolitischer Sicht einen nationalen Sicherheitsfaktor darstellt. Hieraus erwächst die Forderung, Zivile Verteidigung3 nicht länger als eher lästiges Anhängsel einer vornehmlich militärischen Verteidigung, sondern als gleichwertigen Pfeiler einer Gesamtverteidigung anzusehen. Die Aufrechterhaltung des gesamtgesellschaftlichen Systems im Krisenfall verlangt danach, die Bedeutung der Zivilen Verteidigung anzuheben und ihre Fähigkeiten umfassend zu stärken.

Moderne Wirkmittel Hybrider Kriegführung

Zu den neuartigen Bedrohungen, welche die negative Kehrseite moderner Informationstechnologie darstellen, gehören Bedrohungen im und aus dem Cyberraum im Sinne krimineller oder kriegerischer Handlungen (Cyberwar). Es handelt sich hierbei um gezielte politisch oder ökonomisch motivierte Angriffe, bei denen die Informationstechnologie (IT) sowohl Ziel als auch Mittel zum Zweck sein kann. Beabsichtigt sind gewaltgleiche Auswirkungen auf Leben und Gesundheit der Bevölkerung oder auf die wirtschaftliche und/oder politische Handlungsfähigkeit eines Staats. Hier geht es um die Penetration, Lahmlegung oder sogar »Umdrehung« elektronisch gesteuerter Systeme eines Gegners, also seiner strategisch oder existenziell wichtigen Informatik, mit verheerenden Folgen für den Staatsapparat und seine Selbstbehauptung sowie für die Gesellschaft.

Von jedem beliebigen Punkt, egal ob auf dem Meer oder dem Land, in der Luft oder im Weltraum, sind Ziele im globalen virtuellen Cyberraum innerhalb von Sekunden erreichbar, bekämpfbar und ausschaltbar. Damit wird die räumliche Gewaltgrenze des Krieges weiter aufgelöst, der Krieg wird in diesem Szenario des Information Warfare ortlos, unsichtbar im räumlichen Nirgendwo, ohne zwischen der zivilen und der militärischen Sphäre zu unterscheiden. Ein Akteur kann seine konventionelle Unterlegenheit also durch asymmetrische Kriegführung kompensieren und auf elektronischem Wege Schäden an der Heimatfront des Gegners, insbesondere an dessen Kritischen Infrastrukturen, anrichten. Zudem ist die Anwesenheit des Störers oder Saboteurs am Anschlagsort nicht erforderlich – Angriffe können aus beliebiger Distanz über den Cyberraum erfolgen.

Dabei geht es vor allem darum, die Daten, die zum Betrieb eines militärischen oder zivilen Systems benötigt werden, zu manipulieren oder zu löschen; die materielle Zerstörung von Gütern oder Anlagen ist dazu nicht erforderlich. Im Extremfall können ganze Staaten lahmgelegt werden. Da keine physischen Schäden verursacht werden, können die kompromittierten Anlagen nach erfolgter Kapitulation relativ rasch wieder in Betrieb genommen werden. Dadurch bleiben die Auswirkungen auf das gesamtgesellschaftliche System und die Lage der Bevölkerung überschaubar.

In der Literatur wird ein solches Szenario als »digitaler Erstschlag« bezeichnet, eröffnet doch der Cyberwar die Option, mit einem »digitalen Enthauptungsschlag« eine rasche und totale Überlegenheit und einen »Sieg« zu erreichen. Das klassische militärische Prinzip des Erstschlags bekommt hierdurch – unbenommen der immer umfassenderen Aufklärung im konventionellen Bereich – eine neue Bedeutung.

Auswirkungen auf urbane Räume

Die Auswirkungen des Ausfalls Kritischer Infrastrukturen auf Großstädte und die Bevölkerung sind in einem solchen Fall, wie bereits punktuelle Störungen in Friedenszeiten zeigen, enorm. Ein digitaler Enthauptungsschlag ist absehbar nicht auf einzelne Stadtteile, Städte oder Regionen begrenzt, sondern führt zu großräumigen Ausfällen, welche unter Umständen das gesamte Staatsgebiet betreffen. Die Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge, d.h. die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen, werden in kürzester Zeit zusammenbrechen bzw. die Bevölkerung nicht mehr erreichen. Weicht die städtische Bevölkerung in der Folge in umliegende, unter Umständen weniger betroffene ländliche Gebiete aus, könnten die dort gegebenenfalls noch (rudimentär) funktionierenden Infrastrukturen und Ressourcen in kurzer Zeit überlastet werden und auch dort völlig zum Erliegen kommen.

Folgerungen

Gerade die hybriden Möglichkeiten im Cyberraum zeigen, dass die strikte Trennung von innerer und äußerer Sicherheit weiter unter Druck gerät, sich allmählich auflöst und rein militärische Risiken der Vergangenheit angehören. Dementsprechend sind Lösungsansätze, Schutz- und Abwehrmaßnahmen in entsprechender Vielfalt zu entwickeln. Hiervon sind auch die Phasen der Bedrohungsanalyse und der Planung des Umgangs mit den Herausforderungen betroffen. Die Einschätzung der (militärischen) Bedrohungen primär dem Militär zu überlassen, wie es die »Konzeption Zivile Verteidigung (KZV)« des Bundesinnenministeriums des Inneren von 2016 vorsieht, ist unter dem Gesichtspunkt der oben beschriebenen hybriden Bedrohungen inkonsequent. Vielmehr sind auch die Bereiche Territorialverteidigung, Heimatschutz und Zivilschutz einzubeziehen. Das könnte unter den Bedingungen hybrider Bedrohungen bedeuten, dass althergebrachte Krisenreaktionsmittel und -formen hinsichtlich ihrer Ausformungen und Zuständigkeiten nicht (mehr) passen oder nicht rechtzeitig und umfangreich genug zum Einsatz kommen können und damit zu spät Wirkung entfalten, um die Auswirkungen des hybriden Angriffs einzudämmen.

Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Fähigkeiten zur gesamtgesellschaftlichen Prävention bzw. die dazu erforderlichen nationalen Sicherheitsakteure einsatzorientiert aufzustellen und zu vernetzen. Das »Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Bundeswehr« von 2016 konstatiert, dass hybride Bedrohungen nach hybrider Analysefähigkeit sowie entsprechender Verteidigungsbereitschaft und -fähigkeit verlangen, was erhebliche Auswirkungen auf den Charakter und das Verständnis von Landes- und Bündnisverteidigung im 21. Jahrhundert hat. Bereits aus der abstrakten Gefährdungslage, das heißt der bloßen Denkbarkeit und damit Möglichkeit der Materialisierung einer Bedrohung, ergeben sich Anforderungen an eine effiziente zivil-militärische Gesamtverteidigung. Dies ergibt sich auch aus dem Umkehrschluss der ursprünglichen Begründung für die nachrangige Unterstützungsfunktion des Zivilschutzes, wonach der Zivilen Verteidigung in Krise und Krieg die entscheidende Unterstützungsrolle für die militärische Verteidigung zugewiesen wird, um vorrangig die Verteidigungsfähigkeit und Operationsfreiheit der Streitkräfte zu gewährleisten.

Diese Vorrangigkeit ist angesichts der hybriden Bedrohungen unter Umständen in dieser Einseitigkeit nicht mehr zu halten. Im Gegenteil: Der moderne Ansatz Hybrider Kriegführung gründet gerade auf der Überlegung, die grundlegenden Regeln des Krieges zu verändern, indem die Rolle der nicht-militärischen Mittel zur Erreichung politischer und strategischer Ziele wächst und die Wirkmacht der Waffengewalt übertrifft. Darüber hinaus erfordert die Ausrichtung hybrider Bedrohungen und Kriege auf nicht-militärische »Gravitationszentren« nicht notwendigerweise eine militärische Kriegs- bzw. Konfliktentscheidung. Die Forderung, den Stellenwert der Zivilen Verteidigung anzupassen, begründet sich daher u.a. darin, dass Angriffe mit hybriden Fähigkeiten möglicherweise die eigenen militärischen Fähigkeiten unterlaufen könnten und eine Abwehr und Reaktion gegebenenfalls (nur noch) mit zivilen Fähigkeiten und Wirkmitteln möglich ist. Diese Ansicht lässt sich auch verfassungsrechtlich begründen: Die Zivile Verteidigung ist gewissermaßen als notwendige Komponente der alleine zum äußeren Schutz wirksamen Gesamtverteidigung vom Verfassungsauftrag des Grundgesetzes mit erfasst, welcher eine wirksame bzw. effektive Verteidigung erfordert.

Wer den bisherigen Ausführungen zustimmt, muss zum Schluss kommen, dass Zivile Verteidigung, Zivilschutz und dementsprechend auch der umfassendere Bevölkerungsschutz im Rahmen einer Gesamtverteidigung neu zu bewerten und anzupassen und mit den Fähigkeiten und Mitteln der militärischen Verteidigung neu zu vernetzen sind.

Anmerkungen

1) Im militärischen Kontext ist ein Effektor eine Maßnahme, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Die Bandbreite von Effektoren reicht vom Flugblatt oder einer Falschmeldung bis zum Einsatz klassischer militärischer Waffen.

2) »Kritische Infrastrukturen« sind gemäß der Definition des Glossars des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe „Organisationen und Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden“ (bbk.bund.de).

3) Zivile Verteidigung ist nicht zu verwechseln mit Sozialer Verteidigung. Das Bundesministerium des Inneren definiert Zivile Verteidigung so: „[Sie] dient der Vorbereitung auf die Abwehr schwerwiegendster Gefahren für den Staat und seine Bürgerinnen und Bürger. Streng genommen geht es dabei um die Abwehr kriegsbedingter Gefahren und schwerster innerer Notstände. Es muss Vorsorge dafür getroffen werden, die Handlungsfähigkeit von Staat und Verwaltung gerade bei schwersten Krisen zu gewährleisten. Nur so kann bereits ihr Entstehen möglichst verhindert oder zumindest ihre Folgen bewältigt werden.“ (bmi.bund.de)

Dr. Dirk Freudenberg ist Referent im Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) und Dozent an der BBK-Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz in Bonn.

Aus Platzgründen erscheint dieser Artikel ohne den umfangreichen Literaturapparat. Das Manuskript mit Literaturhinweisen kann gerne bei redaktion@wissenschaft-­und-frieden.de angefordert werden.

Bewegte Forschung


Bewegte Forschung

Protest zwischen Wissenschaft und Politik

von Janina Rott und Max Schulte

Vom Protest der französischen Gelbwesten über die Besetzung zentraler Plätze im Arabischen Frühling oder bei Occupy bis zum Protest gegen Windkraftanlagen, von Demonstrationen gegen AfD-Veranstaltungen bis zu PEGIDA und dem Protest gegen Flüchtlingsunterkünfte – überall zeigt sich Protest. Die Autor*innen untersuchen Phänomene des Protests und der Protestakteure aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Dabei skizzieren sie zugleich, welches gesellschaftsverändernde, progressive Potential sowohl die Protestbewegungen wie die Bewegungsforschung in sich bergen.

Die Anerkennung von Protest als politisches Handlungsinstrument ist Teil eines längeren Rationalisierungs- und Normalisierungsprozesses (Neidhardt und Rucht 1993). So war es Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus üblich, Protest als irrationales Massenphänomen zu charakterisieren (exemplarisch Le Bon 1982): Die Masse sei verführbar und der*die Einzelne verliere in der Masse das Urteilsvermögen. Noch in den 1970er Jahren zählte man Protest zu den unkonventionellen Formen politischer Partizipation (Hoecker 2006, S. 10), zum Teil verbunden mit der Behauptung, es handele sich dabei um weniger legitime Handlungsformen. Am Ende dieses Normalisierungsprozesses wird die Legitimität nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt.

Interessant ist, dass der Begriff des Protests unscharf und wenig konzeptualisiert erscheint. Oft begnügt man sich – wie in der Einleitung zu diesem Artikel – mit Aufzählungen von Protestereignissen und -formen. Die große Bandbreite von Protestformen, -akteuren und -inhalten macht eine gemeinsame Einordnung schwierig, sowohl deskriptiv (welche Phänomene gehören dazu?) als auch normativ (welche Proteste sind legitim?). So treten derartige Fragen beispielsweise bei Protestereignissen, wie dem G20-Gipfel in Hamburg, deutlich zu Tage. Gründe genug, sich dem Phänomen des Protests und der ihn tragenden Akteure eingehender zu widmen. Wir tun dies mit dem Ziel vor Augen, am Ende nicht nur die wissenschaftliche Perspektive auf Protest deutlich gemacht zu haben, sondern das Ineinandergreifen von Wissenschaft und emanzipativem Potential zu skizzieren.

Protest und soziale Bewegungen

Eine grundlegende Definition von Protest verweist auf „kollektive, öffentliche Aktion nicht-staatlicher Träger, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringt und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden ist“ (Rucht 2003, S. 23). Zwei Fragen stellen sich im Anschluss: Was unterscheidet Protest mit dieser Definition und mit Blick auf die Phänomene, die wir oben benannt haben, von anderen Formen politischer Partizipation? Und wer sind die nicht-staatlichen Träger?

Wenn wir die Dimensionen politischer Partizipation betrachten (z.B. bei Hoecker 2006, S. 11), dann deckt Protest ein weites Spektrum unverfasster Partizipation ab. Gerade die große Bandbreite unterschiedlicher Aktions- und Organisationsformen zeichnet Protest aus. Die Aktionsformen können auf einem Kontinuum zwischen legal und illegal, zwischen gewaltlos und gewaltsam angesiedelt sein. Der individuelle Einstieg in den Protest ist niedrigschwellig, gleichzeitig aber oft mit hohem – auch körperlichem – Einsatz verbunden. Somit ist Protest in sehr unterschiedlicher Intensität möglich, von der genehmigten Mahnwache bis hin zur Blockade eines Castor-Transports.

Zu den maßgeblichen gesellschaftlichen Protestakteuren gehören die sozialen Bewegungen. Nicht weil sie die einzigen sind, die protestieren, sondern weil für sie Protest die „prägende Bewegungspraxis“ (Roth und Rucht 2008, S. 13) ist. Als »soziale Bewegung« verstehen wir das kollektive soziale Handeln für das gemeinsames Ziel, relevante Strukturen der Gesellschaft bzw. des Staates zu verändern oder zu verteidigen. Dabei muss eine Bewegung keineswegs auf einen Umbruch des gesamten Systems hinarbeiten, stattdessen können auch nur einzelne Elemente betroffen sein.

Um diese Ziele zu erreichen, weisen soziale Bewegungen eine gewisse Dauerhaftigkeit und Kontinuität auf. Sie sind daher permanent darum bemüht, weitere Menschen für die Bewegung zu mobilisieren und auch die bisherigen Mitglieder immer wieder zum aktiven Handeln zu motivieren. Sie müssen, wie es der Begriff schon sagt, ständig »in Bewegung bleiben«. Typisch dafür ist auch das Erzeugen eines starken Wir-Gefühls mittels (politischer) Symbolik, Mode, Umgangsformen, Sprache, Habitus etc. Aber wer engagiert sich in sozialen Bewegungen? Es sind nicht immer die, denen es am schlechtesten geht, die von außen gesehen am meisten Anlass zum Protest haben. Gerade wenn es um Proteste geht, die sich jenseits der sozialen Frage auf postmaterialistische Werte gründen, dann ist Protest oft ein Mittelschichtphänomen (Hellmann 1995, S. 144 ff.).

Des Weiteren zeichnen sich soziale Bewegungen durch eine geringe Rollenspezifikation aus, d.h. es gibt kaum festgeschriebene Rollen und somit auch keine feste Organisation. Auch wenn die verschiedenen Bewegungen durchaus einen unterschiedlichen Organisationsgrad aufweisen, ist dieser im Gegensatz zu formellen Organisationen (z.B. Vereine, Parteien) weitaus instabiler und unverbindlicher. Stattdessen gibt es in sozialen Bewegungen eine Vielfalt an Tendenzen, Organisationen und Aktionsansätzen (vgl. Beyer und Schnabel 2017, S. 13 ff.; Raschke 1991, S. 31 ff.).

Zusammenfassend lassen sich soziale Bewegungen somit als „Phänomene sozialen Handelns [definieren], bei denen sich Akteur*innen aufgrund der Unterstellung gemeinsamer Ziele zumindest diffus organisieren und für eine längere Zeit zu einem Kollektiv zusammenschließen, um mit institutionalisierter Entscheidungsgewalt ausgestattete individuelle oder kollektive Akteur*innen im Modus des Konflikts zu beeinflussen“ (Beyer und Schnabel 2017, S. 16).

Diese wissenschaftliche Definition grenzt sich sowohl von einem negativen Begriff von sozialen Bewegungen als irrationaler Masse (siehe Le Bon) als auch von einem emphatischen Bewegungsbegriff, der soziale Bewegungen als historische Akteure konzeptioniert, ab. Das öffnet den Blick auch für solche soziale Bewegungen, die nicht den klassischen Beispielen der Neuen Sozialen Bewegungen entsprechen, sondern z.B. einen autoritären Impetus haben.

Mit diesem Bild der Protestakteure und der großen Bedeutung, die der Mobilisierung zugeschrieben wird, stellt sich anschließend die Frage, wie diese Mobilisierung erklärt werden kann.

Antworten der Bewegungsforschung

Wenn wir von schlichten Ansätzen der Massenpsychologie oder der direkten Verbindung von Unzufriedenheit und Protest absehen, haben sich in der Bewegungsforschung in den letzten Jahrzehnten unterschiedliche Erklärungen für die Mobilisierungskraft sozialer Bewegungen herausgebildet.1

Eine ökonomisch geprägte Antwort auf die Frage der Mobilisierung ist – in starker Abgrenzung zur Massenpsychologie – der Ressourcenmobilisierungsansatz (McCarthy und Zald 1977). Hier wird, einfach formuliert, ein Bedingungsverhältnis zwischen den Ressourcen von Bewegungsorganisationen und ihrem Mobilisierungserfolg formuliert. Kurz gesagt: Mehr Ressourcen führen zu größerem Erfolg von Bewegungen. Erst der Zugang zu Ressourcen ermöglicht die Umwandlung von Unzufriedenheit in Mobilisierung. Die deutlichen Anleihen bei ökonomischen Begriffen und der Fokus auf Organisationen haben Kritik am Ressourcenmobilisierungsansatz hervorgerufen, weil wichtige Aspekte, wie die Umwelt der Bewegungen, die konkreten protestierenden Individuen und weniger strukturierte Protestphänomene, nur verkürzt einbezogen werden (Beyer und Schnabel 2017, S. 73 f). Trotz aller Kritik öffnet dieser Ansatz aber den Blick für die Rolle von Organisationen und für soziale Bewegungen als rational handelnde, strategische Akteure.

Ebenfalls in den 1970er Jahren wurde von unterschiedlichen Wissenschaftler*innen der »Political Opportunity Structures«-Ansatz (della Porta 2013) geprägt, der im Gegensatz zur Theorie der Ressourcenmobilisierung die Rolle der Strukturen betont. Die Vertreter*innen des Ansatzes gehen davon aus, dass die Konfiguration des politischen Systems Protest entweder erschwert oder begünstigt. Dabei ist interessant, dass nicht nur die repressive Haltung eines Staates hemmend auf Protest wirken kann, sondern auch eine große Offenheit der politischen Institutionen. Warum protestieren, wenn die Interessen bereits durch etablierte politische Akteure aufgegriffen werden? Der Effekt struktureller Bedingungen darf dabei aber nicht als determinierend verstanden werden, sondern eben als Gelegenheitsbedingungen, die von sozialen Bewegungen wahrgenommen und genutzt werden müssen. Kritisiert wird an diesem Ansatz, dass hier tendenziell ein kausaler Zusammenhang zwischen Bedingungen und Protest formuliert wird, der sich empirisch nicht zeigen lässt.

Eine dritte Antwort ist Ergebnis eines »cultural turn«, der auch die Bewegungsforschung beeinflusst hat. Hier werden weniger Strukturen oder Ressourcen als vielmehr die kulturelle Bedeutungsarbeit sozialer Bewegungen in den Blick genommen. Mit Rückgriff auf Goffman (1977) formulieren als erste Snow et al. (1986) die Idee, dass der Erfolg sozialer Bewegungen maßgeblich von der strategischen Prägung von Themen und Begriffen (Framing) abhängig ist. Über dieses Framing gelingt es Bewegungen – oder auch nicht –, die Öffentlichkeit und andere Akteure zu mobilisieren. Die Perspektive des Framing öffnet damit den Blick für die besondere Bedeutung medialer Vermittlungsprozesse für soziale Bewegungen. Problematisch ist, dass sich der Framing-Ansatz stark auf Bewegungseliten, denen das strategische Framing zugeschrieben wird, konzentriert und weniger strategisch handelnde Akteure ausblendet (Beyer und Schnabel 2017, S. 186 ff.).

Wie so oft kann keiner der skizzierten Ansätze die Mobilisierung sozialer Bewegungen ganz erklären. Diese Feststellung hat in den letzten Jahrzehnten zu Weiterentwicklungen und Synthesen geführt.

Spannungsfelder der Bewegungsforschung

Neben die theoretischen Erklärungsversuche für das Handeln sozialer Bewegungen tritt eine umfangreiche empirische Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld. Dabei steht die Praxis der Protestforschung angesichts ihres Gegenstands vor methodischen und normativen Spannungsfeldern. Wir gehen davon aus, dass diese von Forschenden der Friedensforschung wiedererkannt werden.

Forschungshindernisse

Aus der Praxis sozialer Bewegungen ergeben sich oft Hindernisse für konkrete Forschungen. Manches Protesthandeln findet versteckt statt, manche Bewegung möchte nicht (kritisch bzw. wissenschaftlich) beobachtet werden, z.T. schlägt Forscher*innen Feindseligkeit entgegen (z.B. PEGIDA). Auch die Auftraggeber*innen können zur Skepsis gegenüber Protestforschung beitragen, wenn z.B. der Verfassungsschutz antifaschistische Bewegungen oder ein Innenministerium Fußball-Ultras untersuchen lässt (vgl. Teune und Ullrich 2018).

„Der Protestforscher ist eher links bis linksliberal“

Die Protestforschung ist, wie im Zitat (Bratanovic 2017) angedeutet, durch eine häufig anzutreffende Affinität der Forscher*innen mit dem Gegenstand geprägt. Viele Forscher*innen verstehen sich selber als Teil von Bewegungen oder grenzen sich – im Fall rechtsextremer Bewegungen – explizit von diesen ab. Dies geht oft über die auch in anderen Disziplinen übliche normative Positionierung der Forschenden hinaus. Die Klärung der Positionierung zwischen Nähe und Distanz zum Gegenstand bedarf daher einer erhöhten Reflexion (Rucht 2014, S. 87 f.), wenn dieses Spannungsfeld produktiv ausgehalten und genutzt werden soll. Die Auseinandersetzungen mit Bewegungen wie PEGIDA oder G20 sind Beispiele dafür, dass Protestforschung immer auch Teil einer politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist, in der sich die Forscher*innen positionieren müssen.

Grenzen des legitimen Protests

Aus politischer und wissenschaftlicher Perspektive stellt sich die Frage nach Grenzen des Protests. Wann wird Protest nicht mehr als legitim erachtet und als Konsequenz daraus mit öffentlicher Ächtung und staatlicher Repression konfrontiert? Ist ziviler Ungehorsam eine legitime Form des Protests? Es ist wichtig festzuhalten, dass es auf diese Frage keine objektive Antwort gibt, sondern die Frage der Legitimität gesellschaftlich und wissenschaftlich umkämpft ist.

Wozu Protestforschung?

Die Bewegungsforschung zieht ihre Legitimation einerseits aus der wissenschaftlichen Praxis der Ergebnisproduktion. Andererseits versuchen Forschende aber als Konsequenz der eigenen Positionierung auch, bewegungsrelevantes Wissen zu produzieren. Das kann zu einem Konflikt mit dem eigenen Wissenschaftsverständnis führen. Stelle ich meine Nähe zur Bewegung über die Standards wissenschaftlicher Arbeit? Kann ich beide Interessen miteinander in Einklang bringen?

Emanzipatorisches Potential

Für uns steht am Ende dieses kurzen Streifzugs durch Protest und Protestforschung die Frage nach dem gesellschaftsverändernden, progressiven Potential von Bewegungen, aber auch der Bewegungsforschung. Wir sind als Forscher*innen und als Protestierende nicht nur an der Wissensproduktion interessiert, sondern verfolgen auch politische und gesellschaftliche Ziele. Wir gehen davon aus, dass gerade aus den Spannungsfeldern, in denen soziale Bewegungen und Protestforschung stecken, ein emanzipatorisches Potential erwächst, das wir hier andeuten.

Forschung

Die Forschung zu sozialen Bewegungen und Protest hat das Potential, sowohl für die einzelnen Forscher*innen als auch für Bewegungen gewinnbringend zu sein. Die intensive Auseinandersetzung mit Protestierenden, ihren Lebenswelten und politischen Forderungen ermöglicht Forscher*innen neue Zugänge zur eigenen politischen Partizipation und verweist darauf, das Forscher*innen keine objektiven Beobachter*innen sind. Gleichzeitig kann die Forschung zu Protest auch für soziale Bewegungen hilfreich sein. Das Wissen, das über Bewegungen generiert wird, kann für diese einen praktischen Mehrwert haben. So können erforschte Probleme in Zukunft von Bewegungen verbessert und Strategien entwickelt werden. Eine partizipative und aktionsorientierte Forschung ermöglicht die im besten Fall gemeinsame Theorieentwicklung von Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen.

Bewegungen

Ohne soziale Bewegungen als historischen Fortschrittsakteur zu verklären, sind sie und ihr Protest doch zentral für die Forderung nach einer besseren Welt. Protest hat einen Mehrwert, der in demokratischen ebenso wie in autokratischen politischen Systemen von großer Relevanz ist. So unterscheidet sich Protest, wie sich gezeigt hat, in seiner Form wesentlich von anderen Formen der Partizipation. Protest ermöglicht es, in Form von spontanem und nicht-institutionellem Handeln gesellschaftlich relevante Themenschwerpunkte zu setzen und den Diskurs zu verändern. Gleichzeitig wird dabei öffentlicher Druck ausgeübt, der die Legitimation staatlichen Handelns in Frage und somit auch auf den Prüfstand stellt, was wesentlich für die Legitimierung demokratischer Systeme ist. Gleichzeitig darf das damit einhergehende Risiko nicht übersehen werden. Protestakteure, die für autoritäre politische Forderungen eintreten, hat es immer gegeben und gibt es auch heute. Wir gehen daher davon aus, dass nicht alle sozialen Bewegungen ein emanzipatorisches Potential haben, es aber ohne soziale Bewegungen keine Emanzipation geben wird.

Anmerkungen

1) Unser Ziel ist hier vor allem eine Darstellung der grundlegenden Ideen und weniger eine Abbildung der Komplexität von Protestforschung. Ein Überblick findet sich z.B. bei Beyer und Schnabel 2017; Buechler 2011.

Literatur

Beyer, H.; Schnabel, A. (2017): Theorien sozialer Bewegungen – eine Einführung. Frankfurt/New York: Campus.

Bratanovic, D. (2017): „Der Protestforscher ist eher links bis linksliberal“ – Gespräch mit Peter Ullrich. Über die Widrigkeiten im Wissenschaftsbetrieb und die Gefahren der Vereinnahmung der eigenen Forschungen durch den Staat. junge Welt, 5.8.2017.

Buechler, S. M. (2011): Understanding social movements – theories from the classical era to the present. Boulder: Paradigm.

della Porta, D.(2013): Political opportunity/pol­itical opportunity structure. In: Snow, D.A. et al. (ed.): The Wiley-Blackwell encyclopedia of social and political movements. Wiley-Blackwell encyclopedias in social science, MA: Wiley, S. 956-961.

Goffmann, E. (1977): Rahmen-Analyse – Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hellmann, K. (1995): Systemtheorie und neue soziale Bewegungen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Hoecker, B. (2006): Politische Partizipation – systematische Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest – eine studienorientierte Einführung. Opladen: Barbara Budrich, S. 3-20.

Le Bon, G. (1982): Psychologie der Massen. Stuttgart: Kröner.

McCarthy, J.D.; Zald, M.N. (1977): Resource mobilization and social movements – A partial theory. American Journal of Sociology, Vol. 82, Nr. 6, S. 1212-1241.

Neidhardt, F.; Rucht, D. (1993): Auf dem Weg in die »Bewegungsgesellschaft«? Über die Stabilisierbarkeit sozialer Bewegungen. Soziale Welt, Vol. 44, Nr. 3, S. 305-326.

Raschke, J. (1991): Zum Begriff der sozialen Bewegung. In: Roth, R.; Rucht, D. (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 31-39.

Roth, R.; Rucht, D. (2008): Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945 – Ein Handbuch. Frankfurt/New York: Campus, S. 9-36.

Rucht, D. (2003): Bürgerschaftliches Engagement in sozialen Bewegungen und politischen Kampagnen. In: Enquete Kommission »Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements« (Hrsg.): Bürgerschaftliches Engagement in Parteien und Bewegungen. Opladen: Leske + Budrich, S. 17-155.

Rucht, D. (2014): Zum Stand der Forschung zu sozialen Bewegungen. In: Mittag, J.; Stadtland, H. (Hrsg.): Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in der Geschichtswissenschaft. Essen: Klartext, S. 67-86.

Snow, D.A. et al. (1986): Frame Alignment Processes, Micromobilization, and Movement Participation. American Sociological Review, Vol. 51, Nr. 4, S. 464-481.

Teune, S.; Ullrich, P. (2018): Protestforschung mit politischem Auftrag? Forschungsjournal soziale Bewegungen. Vol. 31, Nr. 1-2, S. 418-424.

Janina Rott und Max Schulte arbeiten an der Universität Münster und beschäftigen sich u.a. mit sozialen Bewegungen.

Partizipation der Friedensbewegung

Partizipation der Friedensbewegung

Radikal und pragmatisch

von Ulrich Wohland

Die Einflussmöglichkeiten der Friedensbewegung in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts scheinen bisweilen gering. Der Autor plädiert für einen optimistischeren Blick. Mit ihrer radikalen Opposition zum herrschenden Umgang mit Krieg und Waffen hat die Friedensbewegung eine starke Vision. Wenn sie, die Vision einer friedlichen Welt fest im Blick, pragmatisch die Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen einfordert, kann sie viel erreichen. Ohne eine solche Teilhabe gibt es keinen Wandel, und ohne radikale Positionen und entsprechende Aktionen gibt es keine
solche Teilhabe. Der Artikel zeigt, wie sich beides verbinden lässt.

Die aktuelle politische Situation ist durch die Akkumulation unterschiedlicher globaler Krisentendenzen gekennzeichnet. Eine konstruktiv-vorausschauende Bearbeitung durch politische Entscheidungsträger*innen ist kaum wahrnehmbar. Reaktives Agieren dominiert. Auch im Bereich von Krieg und Frieden werden die Krisentendenzen eher verschärft: durch verbale Aufrüstung und »neue« Feindbilder, hohe Militärausgaben und neue Rüstungsprojekte.

Die deutsche Zivilgesellschaft ist in den aktuellen Krisenbereichen unterschiedlich präsent und aktiv. Bei allen Fragen von Krieg und Frieden, Aufrüstung und Rüstungsexporten ist der Druck auf die Entscheidungsträger*innen vergleichsweise geringer als beim Thema Klima oder auch Migration. Die Aktiven innerhalb der Friedensbewegung mühen sich mit ihren Themen redlich ab. Sie sind aber kaum in der Lage, öffentliche Debatten wirksam in eine friedensbewegte Richtung zu drängen oder die Entscheidungsträger relevant unter Druck zu setzen.

Wie kann die Friedensbewegung mehr Einfluss auf friedenspolitische Fragen nehmen? Die Hindernisse sind großenteils extern und liegen im Problemfeld selbst. Es gibt aber auch interne, »hausgemachte« Begrenzungen, die wir Aktiven in der Friedensbewegung zu bearbeiten haben.

Der Diskurs über das Militärische

Zu den externen Faktoren zählt sicherlich, dass von staatlicher Seite alles, was militärische Aktivitäten betrifft, möglichst von öffentlichen Debatten und der öffentlichen Beteiligung abgeschirmt werden soll. So tagt, um nur ein Beispiel zu nennen, der Bundessicherheitsrat des Deutschen Bundestages geheim, seine Mitglieder sind der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt, und selbst dem Parlament gegenüber ist seine Arbeit weitgehend intransparent. Militärpolitischen Entscheidungen, wie der Verlängerung von Auslandseinsätzen der Bundewehr, geht im Parlament keine breite Debatte voraus. So
erscheinen die militärischen Aspekte der Außenpolitik gesellschaftlichen Diskursen weitgehend entrückt.

Neben den externen gibt es aber auch intern hemmende Faktoren. Die ausschlaggebende Begrenzung entsteht durch eine Art Selbstfesselung der Friedensbewegung: In großen Teilen nähert sich die Bewegung militär- und sicherheitspolitischen Fragestellungen mit einer Haltung prinzipieller Radikalopposition. Diese lautet z.B. „Mit diesem Staat ist kein Frieden zu machen“ oder „Raus aus der NATO“, „Keine Waffenexporte – egal wohin“, „Stopp aller Rüstungsproduktion“ usw. Vom moralisch-ethischen Standpunkt betrachtet ist an diesen Positionen wenig zu kritisieren. Mit
ihrer Tendenz, staatliches Handeln in diesem Politikfeld als Ganzes abzulehnen, schließt sie jedoch Partizipationsmöglichkeiten, also Möglichkeiten der Mitentscheidung, aus.

Bewegung in der Defensive

Solange eine starke Friedensbewegung als Soziale Bewegung auf der Straße sichtbar ist, kann sie mit einer oppositionellen und radikalen Nein-Haltung zu Themen wie NATO, Atomwaffen, Aufrüstung oder Waffenexporte in der politischen Debatte Druck erzeugen und Veränderung herbeiführen. Aktuell ist eine solche Bewegung jedoch nur rudimentär vorhanden. Statt mit einer breiten Bewegung, haben wir es mit unterschiedlichsten Friedensorganisationen zu tun, die sich vielfältigsten Problemfeldern widmen.1 Es gelingt nur begrenzt, sich auf gemeinsame Themen zu
einigen und breite Bevölkerungsschichten dafür – z.B. in Kampagnen – zu mobilisieren.

Der derzeitige Zustand der Friedensbewegung schränkt darum die Chancen, als Radikalopposition Gehör zu finden, stark ein. Als Soziale Bewegung ist sie aktuell nicht stark genug, Veränderungen zu bewirken, und deshalb in der Defensive. Sobald sich aber mehrere Organisationen zu Projekten und Kampagnen zusammenschließen, könnte aus der Defensive zumindest eine strategische Defensive werden. Das bedeutet 1. mit begrenzten Mitteln begrenzte Ziele anzustreben und 2. die Aktivitäten so zu wählen, dass sie zum (Wieder-) Aufbau einer Sozialen Bewegung beitragen. In dieser Situation ist es durchaus
hilfreich, vorhandene Beteiligungsinstrumente und Partizipationsräume zu nutzen. Solange uns Erfolge als Bewegung verwehrt bleiben, sollten wir die Möglichkeiten nutzen, die uns Kampagnen bieten, statt zu hoffen und abzuwarten, bis wir wieder die Stärke einer Bewegung erreicht haben, denn Kriege und Kriegsvorbereitung finden jetzt statt.

Welche Partizipationsmöglichkeiten gibt es, und wie lassen sie sich nutzen? Am Beispiel der Kampagnenarbeit soll dies im Folgenden exemplarisch aufgezeigt werden.

Partizipation und Mitbestimmung – ein mehrstufiger Prozess

Partizipation lässt sich verstehen als mehrstufige Einbeziehung von Individuen oder Organisationen in Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse. Auf der nächsthöheren Stufe erhöht sich jeweils der Partizipationsgrad. Die Beteiligungsstufen reichen vom bloßen Informieren über Formen der Mitbestimmung (z.B. Wahlrecht) bis hin zur echten Teilhabe an Entscheidungen, z.B. Bürgerentscheiden. In der repräsentativen Demokratie wird Partizipation zumeist als informieren, Meinung erfragen und wählen gehen begriffen. In einer beteiligungsorientierten Demokratie besteht hingegen die Möglichkeit der
echten Teilhabe an Entscheidungen. Die verschiedenen Stufen lassen sich bildlich als Beteiligungstreppe darstellen (siehe Abb. 1).

Die Geschichte der Demokratie seit der Französischen Revolution ist der beständige Versuch, Partizipationsmöglichkeiten zu erweitern und höhere Stufen gesellschaftlicher Beteiligung zu entwickeln, z.B. das Frauenwahlrecht oder die Möglichkeiten von Bürgerentscheiden, Volksentscheiden usw. Zivilgesellschaftliche Organisationen, z.B. »Mehr Demokratie e.V.«, begreifen deshalb die repräsentative Demokratie als eine vorläufige, „unvollendete Demokratie“ (Scheub 2017) und nicht als deren Endzustand.

Häufig blockieren oder verzögern etablierte Institutionen die Demokratisierung der Demokratie. Soziale Bewegungen können neue Beteiligungsformen einfordern und so die Demokratie beteiligungsorientiert weiterentwickeln. Auf diese Weise kann eine reale gesellschaftliche Veränderung im Sinne der engagierten Bürger*innen erreicht werden. Soziale Bewegungen streben in der Regel jedoch keine direkte Partizipation an den Entscheidungsprozessen an. Soziale Bewegungen sind eher visionär orientiert. Sie formulieren Ziele als gesellschaftliche Utopie und in der Regel in Opposition zu den realen
Verhältnissen. Anders orientieren sich so genannte Druckkampagnen.2 Sie verfolgen das Ziel einer pragmatischen Einflussnahme auf konkrete politische Entscheidungen. Die Durchführung von Kampagnen als Teil einer Sozialen Bewegung ermöglicht es, dass die Bewegung ihrer radikalen Vision und Position treu bleiben und zugleich mittels Kampagnen pragmatische Ziele verfolgen kann.

Um Entscheidungsprozesse wirkungsvoll zu beeinflussen, sollten sich Kampagnen am Kampagnenverständnis von M. Gandhi, M.L. King und C. Chavez orientieren: Mobilisierung und druckvolle Aktionen stehen hier nicht für sich, sondern zielen immer auf die Ermöglichung von Verhandlungen. Aktionen auf der Straße erzwingen das Gespräch am Verhandlungstisch. Stocken die Verhandlungen, muss der Mobilisierungsdruck, z.B. durch Boykotts, Streiks und Zivilen Ungehorsam, erhöht werden. In der aktuellen Praxis der Kampagnen der Friedensbewegung wird häufig nur mobilisiert, bisweilen Druck ausgeübt und
selten verhandelt. Letzteres überlässt man den repräsentativen Organen.

Welche Partizipationsräume können sich Soziale Bewegungen nun über Kampagnen erschließen? Betrachten wir hierfür das Phasenmodell gesellschaftlichen Wandels von Bill Moyer (Moyer 2015) und speziell sein Verständnis der Rollen, die die unterschiedlichen Akteursgruppen darin einnehmen. Besonders interessiert uns die Rolle der »Chance Agents« bzw. der Campaigner*innen: Sie sind die Agenten des Wandels. Sie betreiben gezielt die Transformation entweder eines begrenzten Unrechts oder Missstands oder auch einer gesellschaftlichen Krise hin zu einem demokratischeren, ökologischeren,
emanzipativeren Zustand.3 Entscheidend ist, in welchem Maß diese Agents Partizipationsmöglichkeiten erschließen.

Advocacy, Mobilizing und Organizing

Anhand der Zielsetzung lassen sich drei Modelle der Arbeit von Campaigner*innen unterscheiden: »Advocacy«, »Mobilizing« und »Organizing«. Diese Differenzierung stützt sich auf einen Vorschlag der Organizerin Jane McAlevey (2019, S. 34 ff). Das Advocacy-Modell wird von uns als Stellvertreter-Modus bezeichnet. In diesem Modus werden Campaigner*innen stellvertretend für Betroffene aktiv oder sie organisieren Personen, die stellvertretend aktiv werden, oft Prominente oder Expert*innen. Die Betroffenen selbst sind in diesem Fall eher Konsument*innen des Veränderungsprozesses. Der zweite
Modus ist der Mobilisierungsmodus (Mobilizing). Hier werden Betroffene mobilisiert, um ihr Anliegen in möglichst großen Massen protestierend und demonstrierend vorzubringen. In diesem Modus geht es um die Mobilisierung von (Gegen-) Macht. Die Aktiven sind Protestierende. Der dritte Modus ist der Beteiligungsmodus (Organizing). Hierbei geht es um das Organisieren von Aktivbürger*innen, den »Citoyens«. Ziel ist, die Bürger*innen tatsächlich an den Entscheidungen zu beteiligen.

Im Zuge einer sich immer mehr ausdifferenzierenden Zivilgesellschaft und der Gleichzeitigkeit vieler Sozialer Bewegungen im öffentlichen Raum werden die Modi Advocacy und Mobilizing zunehmend praktiziert. Aktuell findet Beteiligung in Sozialen Bewegungen bzw. Kampagnen vornehmlich über Soziale Medien statt, die stark mobilisierend, aber nicht automatisch organisierend wirken. Für eine Stärkung der Bewegungen hin zu echter Partizipation ist es nötig, mehr im Beteiligungs- bzw. Organizing-Modus aktiv zu werden. Um dies zu erreichen, gilt es, die folgenden drei Schritte zu gehen: 1. der
(Wieder-) Aufbau von vielen und dezentral organisierten Basisgruppen; 2. die Organisation vieler Aktionen, insbesondere Druckaktionen, z.B. Ziviler Ungehorsam, Boykott, Streiks usw., und 3. das wiederholte und permanente Dialogangebot, das in Verhandlungen münden soll, an denen die Aktiven beteiligt sind.

Die Voraussetzungen für den Beteiligungsmodus in Sozialen Bewegungen müssen von zwei Seiten her entwickelt werden: Die erste Voraussetzung ist der Aufbau von Basisgruppen als Fundament für den Aufbau von Beteiligung an der Macht. Hier gehen z.B. die Campaigner*innen in die Regionen, in die Städte und Kommunen, zu den Basisgruppen, und unterstützen diese bei der Entwicklung einer ziel- und druckorientierten Strategie für ihre Arbeit vor Ort. Die zweite Voraussetzung ist der Aufbau von Lobbyarbeit, wobei wir hier zwei Ebenen der Lobbyarbeit unterscheiden: das High-Level-Lobbying und das
Graswurzel-Lobbying.

Demokratische Partizipation durch Lobbying

Lobbyarbeit ist in Sozialen Bewegungen eher verpönt, wird sie doch mit Geldkoffern und Hinterzimmer-Gesprächen assoziiert. Zudem ist Lobbyarbeit durch Soziale Bewegungen, da sehr zeit- und personalaufwendig, ressourcenbedingt eher begrenzt realisierbar. Trotzdem kann eine wirksame Einflussnahme auf Entscheider*innen durch Lobbygespräche stattfinden, nämlich im Vorfeld direkter Verhandlungs- und Entscheidungssituation, auch wenn das Verhandlungsmandat letztendlich weiterhin bei den Entscheider*innen, z.B. den Parlamentsabgeordneten, verbleibt.

Zwei Formen der Lobbyarbeit sind zu unterscheiden: das High-Level-Lobbying und das Graswurzel-Lobbying. Das High-Level-Lobbying findet direkt in hoch angesiedelten Gremien, wie Ministerien, Parlamenten, Aktionärsversammlungen, Synoden oder Gewerkschaftskonferenzen etc., statt. Das Graswurzel-Lobbying hingegen geschieht in örtlichen Gliederungen von Parteien, Kirchen und geschäftlichen Strukturen. Es richtet sich beispielsweise an die Abgeordneten in ihren Wahlkreisen, an Gemeindeparlamente oder an Synodale, wenn es um Einflussnahmen in kirchlichen Zusammenhängen geht.

Ein Beispiel für diesen Ansatz: Der in Deutschland gesetzlich geregelte »Parlamentsvorbehalt«, also die jährlich notwendige Bestätigung jedes Auslandseinsatzes der Bundeswehr durch das Parlament, eröffnet Handlungsräume für beide Formen der Lobbyarbeit. Derzeit gibt es fünfzehn Auslandseinsätze der Bundeswehr und damit jährlich fünfzehnmal die reelle Chance, Regierungsentscheidungen über Krieg und Frieden direkt zu beeinflussen. Konkret hieße das, auf die Abgeordneten sowohl über das Instrument des High-Level-Lobbying im Parlament als auch über das Graswurzel-Lobbying vor Ort gezielt
Einfluss auszuüben, um sie zu einer Entscheidung gegen die Verlängerung bestehender oder die Genehmigung neuer Auslandseinsätze zu bewegen. Dieses Instrument wird bisher wenig genutzt.4

Beide Formen des Lobbying sind bisher in den friedenspolitischen Bewegungen und Kampagnen nur schwach entwickelt. Während das High-Level-Lobbying zunehmend mehr Anklang findet (gerade im Advocacy-Modell), aber durch das Fehlen finanzieller und personeller Ressourcen begrenzt ist, ist das Graswurzel-Lobbying wenig im Blickfeld der zivilgesellschaftlichen Basisgruppen vor Ort.

Partizipationsräume pragmatisch nutzen

Die Friedensbewegung kann ihre Wirkmacht relevant vergrößern, wenn sie sich nicht länger primär auf die Radikalopposition konzentriert, sondern stattdessen immer auch proaktiv vorhandene Partizipationsräume pragmatisch nutzt und sich der vorhandenen demokratischen Instrumente zur Partizipation gezielt bedient und diese weiterentwickelt. Druckkampagnen sind der Weg, radikal und pragmatisch zugleich.

Anmerkungen

1) Man muss sich vor Augen halten, dass aktuell die gesamte Mitgliedschaft der unterschiedlichen Friedensorganisationen zusammengezählt kaum mehr als 20.000 Personen umfassen dürfte (Schätzung des Autors). So zählen etwa die »großen« Friedensorganisationen DFG-VK ca. 3.500 Mitglieder, Versöhnungsbund Deutschland 950 Mitglieder und IPPNW ca. 6.000 Mitglieder. Hierbei sind Doppelmitgliedschaften noch gar nicht berücksichtigt. Zum Vergleich: Allein der BUND hat über 584.000 Mitglieder, Spender und Förderer (Stand 2016), Greenpeace
über 590.000 Mitglieder (Stand 2018) und attac immer noch über 29.000 (Stand April 2018). Die begrenzte Anzahl der Mitglieder ist in den meisten Friedensorganisationen jedoch kaum ein Thema. Dies ist vermutlich darin begründet, dass man sich immer noch als Soziale Bewegung fühlt und weniger als eine Vielzahl von Organisationen, die friedenspolitische Themen bearbeiten. Würde hier ein Umdenken einsetzen, könnten sich auch die Aktivitäten verändern, weg von der vermeintlichen Mobilisierung einer Sozialen Bewegung hin zum Aufbau einer Bewegung.

2) Der Autor unterscheidet zwischen Aufklärungskampagnen und Druckkampagnen. Erstere streben nach Verhaltens- und Bewusstseinsveränderung. Letztere zielen auf direkte Entscheidungen von Politik und Wirtschaft und damit auf strukturelle und gesetzliche Änderungen.

3) Die »Werkstatt für Gewaltfreie Aktion« entwickelte vor dem Hintergrund dieser Überlegungen eine Qualifizierung zur Campaigner*in und Moderator*in für friedenspolitische Kampagnen. Im Rahmen der »CampaPeace«-Ausbildung, wie sie mittlerweile in der vierten Staffel stattfindet, richtet sich das Augenmerk auch auf die Frage, welche Formen von Beteiligung und Partizipation durch Kampagnen und Soziale Bewegungen angestrebt und erzielt werden können. Der Schwerpunkt der Ausbildung liegt bei Druckkampagnen. Aufklärungskampagnen
ermöglichen einen geringeren Grad von Partizipation und zielen vor allem auf Bewusstseinsveränderung und die Veränderung von individuellem Verhalten. Druckkampagnen hingegen wollen Veränderungen auf einer strukturellen Ebene erreichen, etwa über neue Gesetze, eine Veränderung im Abstimmungsverhalten von Abgeordneten oder die Einflussnahme auf Konzernentscheidungen.

4) Eine Ausnahme bildet die Kampagne »Macht Frieden. Zivile Lösungen für Syrien« (macht-frieden.de), die das Instrumentarium des High-Level- und des Graswurzel-Lobbying intensiv nutzt.

Literatur

Arnstein, S. (1969): A Ladder of Citizen Participation. Journal of the American Institutes of Planers, Vol. 25, Nr. 4.

McAlevey, J (2019): Keine halben Sachen – Machtaufbau durch Organizing. Hamburg: VSA.

Moyer, B. (2005): Doing Democracy – The MAP Model for Organizing Social Movements. Gabriola Island, BC/Canada: New Society Publisher.

Scheub, U. (2017): Demokratie – Die Unvollendete. München: oekom.

Ulrich Wohland ist freier Mitarbeiter der »Werkstatt für gewaltfreie Aktion« und leitet die Ausbildung CampaPeace. Beruflich ist er Campaigner und Organizer für Gewerkschaften wie ver.di und IG Metall.

Der Autor dankt Claudia Funke, Renate Wanie und Ursula Gramm (Mitarbeiterinnen der »Werkstatt für Gewaltfreie Aktion«), die mich bei diesem Artikel in gewohnt professioneller Weise unterstützt haben.

Extraktivismus und Widerstand in Lateinamerika

Extraktivismus und Widerstand in Lateinamerika

Workshop am GCSC, Gießen, 26.-28. Juni 2018

von Richard Herzog

Der Workshop »Logics of Extractive Occupation and Collective Action in Latin America« wurde vom International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) Gießen gefördert und von María Cárdenas, Richard Herzog und Andrea Sempértegui organisiert. Der zweitägige Workshop bot eine gute Gelegenheit, über die Ausbreitung extraktiver Projekte und Praktiken, d.h. die (häufig auf Raubbau basierende) Gewinnung und den Export von Rohstoffen, in Lateinamerika zu diskutieren. Die interaktive und offene Atmosphäre war dem Erfahrungsaustausch förderlich. Eine zentrale Frage zog sich durch mehrere der Vorträge und Diskussionen: Inwieweit ist Frieden in zunehmend extraktivistischen Gesellschaften überhaupt möglich? Und um wessen Friedensverständnis handelt es sich dabei, und wer wird ausgeklammert?

Indigener Widerstand, damals und heute

Der Workshop befasste sich mit mehreren Regionen, mit einem Schwerpunkt auf Kolumbien, Ecuador und Mexiko, und untersuchte die Zeitspanne von der Kolonialzeit bis heute. Dr. Antje Gunsenheimer (Universität Bonn) diskutierte in ihrem Vortrag Maya-Gesellschaften in Yucatán, Mexiko, in der Kolonialzeit und der frühen Unabhängigkeitsperiode. Die spanische Kolonialregierung nutzte unterschiedliche Methoden, um indigene Bevölkerungen und ihre Arbeitsweisen zu kontrollieren. Oft vergessen wir, dass die Wurzeln extraktivistischer Gewaltszenarien in Lateinamerika bis zu den ersten spanischen Expeditionen im 15. Jahrhundert zurückreichen. Aber auch indigener Widerstand gegen die teils brutalen kolonialen Strategien zeigt sich in Yucatán – wie in anderen Regionen – von der Kolonialzeit über die Kastenkriege des 19. Jahrhunderts bis hin zum aktuellen Aktivismus.

Der Einfluss von Extraktivismus auf indigene Gruppen war auch der Fokus einer von zwei Skype-Konferenzen mit den Aktivist*innen Mallu Muniz (Minka Urbana Ecuador) und Kati Betancourt (Confederation of Ecuadorian Indigenous Nationalities). Sie beschrieben, dass ländlicher Widerstand gegen Extraktivismus in Ecuador oft von Indigenen – insbesondere von indigenen Frauen – getragen wird, die allerdings auf städtische Unterstützung angewiesen sind. Auch die Zerstörung der Regenwälder wurde hervorgehoben, durch die indigene Bezüge zur Natur zerbrechen – ebenfalls ein zentrales Problem in Kolumbien.

Konflikt, Post-Konflikt und Extraktivismus

Die kolumbianische Amazonas-Region wurde von Prof. Dr. Ernst Halbmayr (Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg) thematisiert. Es ging unter anderem um die Konsequenzen von Gewalt und Naturzerstörung durch staatliche und nicht-staatliche Akteure für indigene Gruppen, wie die Yukpa und die Barí. Extraktivismus zur Produktion von Palmöl und Drogen oder auch durch Viehwirtschaft kann auf jeweils sehr unterschiedliche Weise negative Konsequenzen haben. Zugleich waren indigene Menschen nicht in den jüngsten kolumbianischen Friedensprozess eingebunden, obwohl sie dazu seit 1991 berechtigt sind. Hier zeigt sich klar der Kontrast zwischen gesetzlichen Rechten und ihrer tatsächlichen Umsetzung in lateinamerikanischen Friedensprozessen.

Der Frieden in Kolumbien war auch ein Fokus der zweiten Skype-Konferenz mit dem Aktivisten Marino Córdoba (AFRODES). Er hob die Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Friedensabkommens von 2016 in einem weiterhin umkämpften Gebiet, dessen Rohstoffe von multinationalen Konzernen ausgebeutet werden, hervor. Betroffene indigene und afro-kolumbianische Gemeinden bleiben dabei größtenteils außen vor. Hinzu kommen regelmäßige Menschenrechtsverstöße, die organisierten Widerstand entscheidend erschweren.

Dr. Alke Jenns (Universität Freiburg) referierte über den Altillanura Masterplan (2012-2036) in Kolumbien. Laut ihr wird das Friedensabkommen dazu genutzt, die Ausbreitung extraktivistischer Projekte zu legitimieren. In diesem Fall sind besonders vormals von der FARC-Rebellengruppe kontrollierte Gebiete betroffen. Frieden wird dabei diskursiv mit Investitionsmöglichkeiten für internationales Kapital verknüpft. Diese Maßnahmen laufen wiederum indigenen Rechten über traditionelle Gemeindeterritorien zuwider.

Resümee

Die transzdisziplinäre Auslegung des Workshops konnte neue Perspektiven eröffnen. Um auf die eingangs gestellten Fragen zurückzukommen: In mehreren Diskussionen wurde die Verbindung von Extraktivismus, Friedensprozessen und der Ausgrenzung bestimmter Gruppen, deren Rechte staatlichen Interessen nicht entsprechen, betont. Besonders klar zeigte sich dies am Beispiel des kolumbianischen Friedensprozesses und dessen Exklusion afro-kolumbianischer und indigener Gemeinden. Außerdem wurde deutlich, wie solche aktuellen Entwicklungen oftmals auf historischen Prozessen von Landübernahme und Widerstand gegen diese aufbauen – sei es bei den yukatekischen Kastenkriegen oder bei der brutal durchgesetzten Kautschuk-Gewinnung im Amazonasgebiet des 19. Jahrhunderts.

In der abschließenden Podiumsdiskussion zwischen Teilnehmer*innen und Organisator*innen wurden auch Fragen nach einer engagierten Wissenschaft und nach möglichen Alternativen zum Extraktivismus aufgegriffen. Von den lateinamerikanischen Aktivist*innen wurde die Wichtigkeit einer stärkeren Verknüpfung von Aktivismus und akademischer Befassung mit dem Thema hervorgehoben. Diese Verknüpfung wurde von den Teilnehmer*innen bekräftigt und war letztlich ein wichtiger Bestandteil der Veranstaltung. Mit Blick auf die Zukunft wurden die Suche nach alternativen Besteuerungsmodellen in Lateinamerika wie auch die Wirksamkeit von Widerstand gegen Extraktivismus auf lokaler Ebene angesprochen. Die Veranstaltung endete angesichts bereits vorhandener politischer und wirtschaftlicher Opposition mit einem optimistischen Verweis auf Solidaritäts-Netzwerke.

Richard Herzog

Ausblick auf den Ausnahmezustand


Ausblick auf den Ausnahmezustand

von Peter Ullrich

Dass der G20-Gipfel im Juli dieses Jahres eine komplexe Herausforderung für die Polizei darstellen würde, war klar. Erstens sollten der Gipfel und seine Teilnehmenden abgesichert werden. Zweitens mobilisierte ein breites Spektrum Protestierender zu einer Vielzahl von Demonstrationen, darunter große Bündnisdemonstrationen, und auch zu Blockaden. Entsprechend waren auch die Grundrechte der Protestierenden, insbesondere die Versammlungsfreiheit, zu sichern. Und drittens galt es, etwas normales Leben in Hamburg aufrecht zu erhalten.

Bereits im Vorfeld des Gipfels zeigte sich, dass die widersprüchlichen Anforderungen einseitig zugunsten eines möglichst reibungslosen Gipfelablaufs aufgelöst werden sollten. Während des Gipfels wurde die Stadt weitgehend lahm gelegt, der Nahverkehr ruhte teilweise, und v.a. die Demonstrierenden bekamen die Prioritätensetzung in ganzer Härte zu spüren.

Als Einsatzleiter war Hartmut Dudde bestimmt worden, dessen Einsätze schon mehrfach gerichtlich gerügt worden waren. Von Beginn an war das polizeiliche Konzept auf Verhinderung der Proteste ausgerichtet und von tiefen Eingriffen in das Versammlungsrecht geprägt. Dies materialisierte sich neben einer Vielzahl von Auflagen in einer 38 Quadratkilometer großen Verbotszone für Versammlungen. Trotz eines anders lautenden Gerichtsurteils wurden Protestcamps konsequent verhindert – ein juristischer Tabubruch. Für diese Linie erhielt Dudde deutliche Rückendeckung vom Hamburger Innensenator Andy Grote. Dies alles geschah auf Basis einer Protestdiagnose, die in der Behauptung gipfelte, über Hamburg würden 8.000 gewaltbereite »Störer« hereinbrechen.

Gegen dieses Bedrohungsszenario wurde ein bislang ungekanntes Maß an Personal und Technik aufgeboten. Bis zu 20.000 Beamt*innen waren im Einsatz, darunter diverse Sonderformationen, einschließlich auf den Antiterrorkampf spezialisierter, mit Schnellfeuergewehren ausgestatteter Sondereinsatzkommandos. Den Polizeikräften standen Wasserwerfer aus dem gesamten Bundesgebiet, Hundestaffeln, Reiterstaffeln, Hubschrauber und Panzer zur Verfügung. Hamburg wurde eine polizeiliche Technikshow der Superlative geboten, die verdeutlichte, das zukünftig Polizeientwicklung wohl vor allem Aufrüstung sein wird.

Abgesehen von einigen Versammlungen, die sie eher pragmatisch begleitete, machte die Polizei vom martialischen Aufgebot Gebrauch und ließ das Geschehen vielfach eskalieren, u.a. durch massiven Pfeffersprayeinsatz, gewalttätige Angriffe und Beschimpfungen auch gegen Unbeteiligte, Journalist*innen und Demosanitäter*innen, Provokationen gegen friedliche Versammlungen, Stigmatisierung nicht genehmer Anwält*innen und Verbreitung dubioser Informationen zur Stimmungsmache. Wiederholt erzeugte die Polizei Massenpaniken. Dass es dabei »nur« zu Verletzten kam, ist fast ein Wunder. Zu den späteren gewalttätigen Ausschreitungen, die das Anliegen der überwiegend entschlossen-friedlichen Proteste schnell aus den Medien verdrängten, trug dieses Auftreten sicherlich mit bei.

Die staatlichen Behörden sind gehalten, […] versammlungsfreundlich zu verfahren“, schrieb das Bundesverfassungsgericht 1985 mit dem Brokdorf-Beschluss der Polizei ins Stammbuch. Die Ereignisse von Hamburg zeigen erneut, dass die Gewährleistung dieser Vorgabe fragil ist. Ähnlich wie 2015 bei den Blockupy-Protesten gegen die Europäische Zentralbank in Frankfurt nahmen auch in Hamburg die zahlreichen Präventivmaßnahmen einen tendenziell repressiven Charakter an, und mit demonstrativem Machtgehabe wurde weiter eskaliert. Hamburg befand sich in einer Art Ausnahmezustand, der sowohl diskursiv-medial als auch einsatzstrategisch orchestriert war.

Der Ausnahmezustand ist definiert durch die Suspendierung der Rechtsbindung. Dies manifestierte sich in Hamburg in der von Beginn an grundrechtsfeindlichen Linie, im Ignorieren von Gerichtsentscheidungen, im exzessiven Durchgreifen im Verlauf des Gipfels sowie in der anschließenden Exkulpation allen Polizeihandelns durch Bundes- und Landespolitik, insbesondere durch den Hamburger Bürgermeister Scholz.

Daraus ergibt sich eine klare Forderung: Die Ereignisse vom Hamburg müssen umfassend und unabhängig aufgearbeitet werden. Und selbst wenn dieser Einsatz personelle und strafrechtliche Konsequenzen haben sollte – er bleibt ein äußerst düsteres Omen für die Zukunft der Versammlungsfreiheit.

Peter Ullrich, Dr. phil., Dr. rer. med., Soziologe und Kulturwissenschaftler, Ko-Leiter des Bereichs »Soziale Bewegungen, Technik, Konflikte« der TU Berlin sowie des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung. Er war mit dem Komitee für Grundrechte und Demokratie als Demonstrationsbeobachter in Hamburg.

Zivilklausel auf japanisch


Zivilklausel auf japanisch

Japanische Universitäten ächten Militärforschung

von Hartwig Hummel

Mit einer Zivilklausel verpflichtet sich eine Einrichtung, nicht für Rüstungszwecke, sondern nur für wissenschaftliche und friedliche Zwecke zu forschen. Eine lange Tradition hat die Selbstverpflichtung, keine Militärforschung zu betreiben, in Japan. Bereits 1950 fasste der Japanische Wissenschaftsrat einen entsprechenden Beschluss, und japanische Universitäten griffen dies auf. Unter der neoliberalen Regierung von Ministerpräsident Shinzô Abe gerät diese Selbstbeschränkung jetzt zunehmend unter Druck.

Kern des japanischen Antimilitarismus ist die japanische »Friedensverfassung« von 1947, die nach wie vor von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird (The Asahi Shimbun 3.5. 2016). Artikel 9 der japanischen Verfassung enthält den Verzicht Japans auf das Recht zur Kriegführung und das Verbot, Streitkräfte zu unterhalten. Die Verfassung wurde bis heute noch nie geändert, aber bereits in den 1950er Jahren von konservativen Regierungen insofern uminterpretiert, als das naturgegebene Recht zur Selbstverteidigung die Aufstellung von Selbstverteidigungsstreitkräften (jieitai), die nationale Rüstungsproduktion und das Militärbündnis mit den USA erlaube, allerdings ausschließlich zur »Selbstverteidigung« Japans. Dementsprechend erklärte sich Japan in den 1960er und 1970er Jahren offiziell für nuklearwaffenfrei, stoppte den Rüstungsexport, begrenzte die Militärausgaben auf das für die »Selbstverteidigung« notwendige Maß, unterließ militärische Auslandseinsätze und versprach, den Weltraum ausschließlich für friedliche Zwecke zu nutzen.1

Akademische Selbstverpflichtung gegen Militärforschung

Der akademische Bereich in Japan galt bislang als Bollwerk des japanischen Antimilitarismus. 1950 beschloss der Japanische Wissenschaftsrat (Nihon gakujutsu kaigi), der die Wissenschaft auf nationaler Ebene repräsentiert, die bis heute gültige akademische Selbstverpflichtung, keine Militärforschung zu betreiben. Neben der klaren Distanzierung vom Militär ist an diesem Beschluss auch bemerkenswert, dass sich der Japanische Wissenschaftsrat nicht als Wissenschaft Japans definiert, sondern als Teil einer kosmopolitischen Wissenschaftsgemeinschaft, die dem Weltfrieden und dem Wohl der gesamten Menschheit verpflichtet ist.

Gelegentlich wurden Verstöße gegen die Selbstverpflichtung, keine militärische Forschung zu betreiben, bekannt. Beispielsweise gab es Kooperationen japanischer Universitäten mit US-Militärinstitutionen während des Vietnamkriegs (1960er Jahre) und im Zuge der »Strategic Defense Initiative« (SDI, 1980er Jahre) und des anschließenden Raketenabwehrprogramms der USA sowie vereinzelt auch Kooperationen ziviler Forschungsinstitute mit dem japanischen Verteidigungsamt. Jedoch führte die Skandalisierung solcher Fälle durch die japanische Wissenschafts-Community regelmäßig zu einer Bekräftigung des Banns gegen Militärforschung.

Als beispielsweise bekannt wurde, dass die im Jahr 1966 in Japan durchgeführte Internationale Halbleiter-Konferenz durch militärische Stellen in den USA mitfinanziert worden war, beschloss die Japanische Physikalische Gesellschaft (Nihon butsurigakkai) 1967 auf einer außerordentlichen Generalversammlung, weder Unterstützung von militärischen Stellen anzunehmen noch mit militärischen Stellen zusammenzuarbeiten. Im selben Jahr verabschiedete der Japanische Wissenschaftsrat eine Resolution, in der er an seine Selbstverpflichtung von 1950 erinnerte, auf keinen Fall Forschung für militärische Zwecke zu betreiben. Die Resolution wiederholte, dass Wissenschaft dem Frieden und der Wohlfahrt der Menschen dienen müsse, und bezeichnete Militärforschung als Hindernis für den wissenschaftlichen Fortschritt (Ihara 2016).

Im Zusammenhang mit den Protesten gegen SDI wurde die Nagoya University mit ihrer »Peace Charter« von 1987 zu einer Vorreiterin des akademischen Antimilitarismus in Japan. Die »Peace Charta« erinnert ausdrücklich an die Selbstverpflichtung des Wissenschaftsrats von 1950, keinerlei Militärforschung zu betreiben. Bezeichnenderweise wurde sie nicht von Universitätsgremien beschlossen, sondern entstand aus einer Unterschriftensammlung, der sich der Großteil des Universitätspersonals, einschließlich des Präsidenten und aller Dekane, anschloss. Ein »Peace Charta«-Komitee führt seitdem die Tradition dieser universitären Friedensbewegung fort (Wada 2016).

Militarisierung unter der Regierung Abe

Im Zuge der Nuklearkatastrophe in Fukushima 2011 stürzte die von der Demokratischen Partei geführte Koalitionsregierung. Sie wurde im Dezember 2012 abgelöst durch die rechtskonservative Regierung unter Ministerpräsident Shinzô Abe, die neoliberale Wirtschafts- und Sozialreformen mit einer dezidierten Aufrüstungs- und Militarisierungspolitik verbindet. Die Abe-Regierung stellt dabei den akademischen Antimilitarismus ganz offen in Frage. Sie beschloss in ihren neuen verteidigungs- und forschungspolitischen Richtlinien, dass die staatlich geförderte Grundlagenforschung an Universitäten und zivilen Forschungsinstituten zukünftig auch einen Beitrag zur nationalen Sicherheit zu leisten habe. In dieser Situation sieht sich die japanische Wissenschaft herausgefordert, ihre Haltung zu ihrer bisherigen kategorischen Ablehnung jeglicher Militärforschung zu überdenken.

In der militärischen Sicherheitspolitik stellte die Abe-Regierung die bisherige Verfassungsinterpretation, dass im Rahmen der »Friedensverfassung« ausschließlich die eigene militärische Selbstverteidigung erlaubt sei, zur Disposition. Sie proklamierte am 1. Juli 2014 durch Kabinettsbeschluss für Japan das Recht auf »kollektive Selbstverteidigung«, d.h. den Einsatz der japanischen »Selbstverteidigungs-Streitkräfte« (jieitai) nicht nur zur eigenen Verteidigung, sondern auch zur »Verteidigung« eines Bündnispartners oder von UN-Missionen weltweit (Nippon.com 1.7.2014). Zur Umsetzung dieser neuen Sicherheitspolitik setzte die Abe-Regierung 2015 im Parlament gegen den erbitterten Widerstand der Oppositionsparteien und ungeachtet massiver öffentlicher Proteste ein Gesetzespaket für die nationale Sicherheit durch.

Im selben Jahr 2015 stellte die Regierung Abe auch den akademischen Bann gegen Militärforschung massiv in Frage, indem das japanische Verteidigungsministerium erstmals ein Förderprogramm zur Erforschung von Technologien für die nationale Sicherheit (anzen hoshô gijutsu kenkyû suishin seido) auflegte und ausdrücklich auch zivile Universitäten, Forschungsinstitute und Privatunternehmen zur Bewerbung aufrief. Dieses Pilotprogramm war im Haushaltsjahr 2015 mit 300 Mio. Yen (ca. 2,3 Mio. Euro) ausgestattet. Das Programmvolumen wurde im Haushaltsjahr 2016 auf 600 Mio. Yen verdoppelt. Für das Haushaltsjahr 2017 ist eine massive Ausweitung auf 11 Mrd. Yen (90,8 Mio. Euro) vorgesehen (ausführlich dazu Tarao 2016a; Kawamura 2016; Takeishi/Mizusawa/Sugihara 2016). Förderanträge dazu gingen bislang von mehreren Dutzend japanischer Universitäten ein; neun Universitäten erhielten 2015 und 2016 Förderungszusagen. Hintergrund dieser Entwicklung ist u.a. die mit kontinuierlichen Kürzungen der finanziellen Grundausstattung verbundene Reform der staatlichen Universitäten; diese sollen »effizienter« werden, sich auf ihre »Stärken« konzentrieren und einem ständigen Evaluationsdruck unterworfen werden (Takeuchi 2016).

Kontroversen über Forschung für das Militär

Das Förderprogramm des Verteidigungsministeriums löste heftige Kontroversen unter den japanischen Wissenschaftler*innen aus. Strittig war zunächst, ob es sich dabei überhaupt um Militärforschung handelt. Erfolgreiche Antragsteller verteidigten sich mit dem Hinweis, beim Förderprogramm des Verteidigungsministeriums handle es sich um Grundlagenforschung ohne direkten Bezug zu militärischen Anwendungen. Sie verwiesen außerdem auf den Zwang zur Drittmittelakquise, um die eigene Forschung fortsetzen zu können (Kawamura 2016; Normille 2017). Tatsächlich schreibt das Verteidigungsministerium in den »Anmerkungen« (hairyo) zur Ausschreibung für das Förderprogramm, Ziel sei die Förderung exzellenter Grundlagenforschung in ausgewählten Bereichen (vgl. dazu und zum Folgenden Kawamura 2016). Es handle sich nicht um direkte militärische Rüstungsforschung, da die Forschungsergebnisse breite Anwendung in zivilen Bereichen finden könnten. Und wie bei Grundlagenforschung üblich, sollten die Forschungsergebnisse „grundsätzlich öffentlich“ sein.

Militärkritische Wissenschaftler*innen argumentieren dagegen, dass es sich auf jeden Fall um Militärforschung handle, wenn die Finanzierung von militärischen Stellen stamme, egal ob vom japanischen Verteidigungsministerium oder von den US-Streitkräften. Eine genauere Analyse des aktuellen Förderprogramms des Verteidigungsministeriums und der darin festgelegten Förderbedingungen liefert zusätzliche Argumente für den militärischen Charakter dieser Forschungsförderung. Bereits aus der »Defense Production and Technology Infrastructure Strategy« (Bôei seisan gijutsu kiban senryaku) des Verteidigungsministeriums vom Juni 2014 geht klar hervor, dass die Grundlagenforschung deswegen gefördert wird, weil sie für die Entwicklung von militärischer Rüstung genutzt werden soll. Dementsprechend gab das Verteidigungsministerium auch ganz genau die 28 Forschungsfelder vor, für die Anträge gestellt werden konnten. In den »Verpflichtungen« (shibari) für die Antragsteller des Förderprogramms steht außerdem, dass das Verteidigungsministerium beabsichtige, Folgeforschungen zur Nutzung der Forschungsergebnisse für zukünftige Rüstungsprojekte durchzuführen. Im Hinblick auf die Publikation der Forschungsergebnisse werden die Antragsteller nicht unter Hinweis auf militärische Geheimhaltung, sondern unter Hinweis auf geistige Eigentumsrechte zur Zurückhaltung ermahnt. Schließlich verpflichten sich die geförderten Projekte, dem Verteidigungsministerium im Rahmen des »Projektmanagements« jederzeit Zugang zu den Forschungseinrichtungen zu ermöglichen und auch nach Ende des Förderzeitraums weiter mit dem Verteidigungsministerium zusammenzuarbeiten, z.B. zum Zwecke der Darstellung der Forschungsergebnisse auf Fachtagungen.

Widerstand gegen militärisches Forschungsprogramm

Angesichts des offenkundig militärischen Charakters des Förderprogramms stellen einige Wissenschaftler die Selbstverpflichtung der japanischen Wissenschaft in Frage, keine Militärforschung zu betreiben. Der prominenteste Fürsprecher einer Revision des 1950 vom Japanischen Wissenschaftsrat proklamierten Banns gegen Militärforschung ist ausgerechnet sein aktueller Vorsitzender, Prof. Takashi Onishi. Onishi hat dieses Amt seit 2011 inne. Er war bis 2013 Professor für Stadtplanung an der University of Tokyo (Tôkyô Daigaku), der renommiertesten japanischen Eliteuniversität, und ist seit 2014 Präsident der Toyohashi University of Technology, die pikanterweise unter den erfolgreichen Antragstellern der ersten Runde des Förderprogramms war. Onishi tritt öffentlich dafür ein, den Bann gegen Militärforschung aufzuheben und Forschung für Zwecke der (kollektiven) »Selbstverteidigung« zuzulassen. Er argumentiert, die »jieitai« seien ja bereits im Hinblick auf das Selbstverteidigungsrecht akzeptiert, und forderte, „es müsse erlaubt werden, dass Forscher an Universitäten und anderen Institutionen für Selbstverteidigungszwecke geeignete Grundlagenforschung durchführen“ (Tôkyô Shimbun 26.5.2016). Damit stieß er im Wissenschaftsrat jedoch auf heftigen Widerspruch. Der Präsident der Universität Kyôto, Jûichi Yamazawa, bestritt, dass es einen nationalen Konsens über die Aktivitäten der »jieitai« gebe. Andere Mitglieder des Wissenschaftsrats erklärten, Onishi gebe nicht die seit Langem bestehende Position des Wissenschaftsrats wieder (Tôkyô Shimbun 26.5.2016).

An einzelnen Universitäten kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, oft organisiert von den Gewerkschaften der Universitätsangestellten. Als beispielsweise an der Okayama Universität bekannt wurde, dass es 2015 eine (erfolglose) Bewerbung auf die erste Ausschreibungsrunde des Förderprogramms gegeben hatte, starteten zehn Professorinnen und Professoren dieser Universität eine Unterschriftenaktion gegen die Militärforschung, bei der in kurzer Zeit 9.000 Unterschriften gesammelt wurden. Daraufhin verzichtete die Universitätsleitung auf eine nochmalige Bewerbung. Auch an der Universität Tokyo kämpft die Universitätsgewerkschaft gegen die von der Universitätsleitung beabsichtigte Aufweichung des grundsätzlichen Banns gegen Militärforschung durch eine Einzelfallprüfung. Nach der Veröffentlichung der Ausschreibung des Verteidigungsministeriums drängte sie das Rektorat, eine etwaige Bewerbung der Universität wieder zurückzuziehen (Endô 2016). Die University of the Ryukyus in Okinawa, die sich seit langem im Kampf gegen US-Militärbasen engagiert, sprach sich trotz erheblicher Kürzungen der Forschungsmittel gegen eine Teilnahme am Förderprogramm aus. Die Niigata University und die Shiga Prefectural University erweiterten nach internen Protesten eine temporäre bzw. bedingte Nichtteilnahme am Förderprogramm zu einem generellen Boykott dieses Programms (vgl. Ikeuchi/Kodera 2016, Kap. 8).

Eine Gruppe von Wissenschaftlern um Satoru Ikeuchi, ein emeritierter Astrophysiker der Universität Nagoya, gründete im September 2016 die Japanese Coalition Against Military Research in Academia, die 25 Universitätsgewerkschaften und Antikriegsgruppen sowie hunderte von Einzelpersonen umfasst. Mitglieder dieser Initiative besuchten die Universitäten, die sich um eine Förderung durch das Verteidigungsministerium beworben hatten, und erinnerten sie an die Selbstverpflichtung des Japanischen Wissenschaftsrats, keine Militärforschung zu betreiben (Kawamura 2016; Normille 2017). Die Initiative befürchtet eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit durch die Militärforschung und verweist auf den Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes in den USA auf die dortige Wissenschaft. Sie warnt besonders die jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zur Kollaboration mit dem Militär gezwungen würden, ohne sich über deren Tragweite im Klaren zu sein. (Tarao 2016b) Immer wieder wird von dieser Initiative übrigens auf die Zivilklauselbewegung in Deutschland verwiesen, um zu zeigen, dass Japan mit seinem akademischen Antimilitarismus kein Sonderfall ist (Akai 2016).

Selbstverpflichtung gegen Militärforschung erneuert

Die öffentliche Mobilisierung gegen die Militärforschung an zivilen Hochschulen zeigte schnell Wirkung. Hatten sich auf die erste Ausschreibungsrunde des Verteidigungsministeriums im Sommer 2015 noch 109 Institutionen, davon 58 Universitäten, beworben, waren es in der zweiten Runde 2016 nur noch 44, darunter nur noch 23 Universitäten (Tarao 2016a). Der Präsident des Japanischen Wissenschaftsrats setzte daraufhin einen Sonderausschuss ein, der für die Generalversammlung im Frühjahr 2017 eine gemeinsame Position zur Frage der Militärforschung erarbeiten sollte (Ikeuchi et al. 2016). Der Sonderausschuss führte an mehreren Universitäten öffentliche Diskussionen durch. Am 7.3. 2017 veröffentlichte er seine Beschlussempfehlung: Der Japanische Wissenschaftsrat solle sich zu seinem „Erbe“ der Selbstverpflichtungen von 1950 und 1967 gegen Militärforschung bekennen. Das Förderprogramm des Verteidigungsministeriums werfe „viele Probleme“ auf und bedeute einen erheblichen Eingriff des Staates in die Wissenschaftsautonomie. Die Beteiligung am Förderprogramm des Verteidigungsministeriums solle nicht den individuellen Forscherinnen und Forschern überlassen werden, sondern alle Universitäten sollten Institutionen einrichten, um eine solche Beteiligung sorgfältig auch im Hinblick auf ihre ethische Tragbarkeit zu prüfen (The Mainichi 7.3.2017; The Asahi Shimbun 8.3.2017; The Japan Times 9.3.2017). Die meisten japanischen Wissenschaftler*innen stehen also weiterhin zu ihrer antimilitaristischen Tradition. Ihr Bekenntnis gegen Militärforschung sollte auch für die in dieser Hinsicht so zaghafte deutsche Wissenschaft Vorbild und Herausforderung sein.

Anmerkung

1) Zu den politischen Restriktionen der japanischen Militärpolitik während des Kalten Kriegs vgl. ausführlich Hummel 1992.

Literatur

Akai, J. (2016): Doitsu ni okeru gungaku kyôdô hantai no undô [Die Bewegung gegen eine militärisch-akademische Zusammenarbeit in Deutschland]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 52-60.

Endô, M. (2016): Gungaku kyôdô o habamu tame ni. Tôdai shokuso no torikumi o chûshin ni [Zur Verhinderung der militärisch-akademischen Zusammenarbeit unter besonderer Beachtung der Initiativen an der University of Tokyo]. In: Ikeuchi et al. 2016, S. 18-28.

Hummel, H. (1992): Japan – Schleichende Militarisierung oder Friedensmodell? Frankfurt a.M.: Haag und Herchen (Militärpolitik Dokumentation, Heft 88/89).

Ihara, S. (2016): Sengo, kagaku-sha wa gunji kenkyû to dô mukiatte kita ka [Wie haben Wissenschaftler nach dem Krieg gegen Militärforschung opponiert]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 17-26.

Ikeuchi, S.; Kawamura, Y.; Endô, M.; Toyoshima, K.; Nishikawa, J.; Akai, J. (Hrsg.) (2016): Gungaku kyôdô no shin tenkai: mondaiten o araidasu [Neuere Entwicklungen der militärisch-akademischen Kollaboration: Wo liegen die Probleme?]. JSA e magajin (2016)19, 25. Nov. 2016.

Ikeuchi, S. und Kodera, T. (Hrsg.) (2016): Heiki to daigaku. Naze gunji kenkyû o shite wa naranai ka [Waffen und Universitäten: Warum sollte keine Militärforschung betrieben werden?]. Tôkyô: Iwanami Shoten.

Kawamura, Y. (2016): Hiromaru gungaku kyôdô to sono haigo ni aru mono – anzen hoshô gijutsu kenkyû suishin seido to dai 5-ki kagaku gijutsu kihon keikaku [Die Ausbreitung der militärisch-akademischen Zusammenarbeit und ihre Hintergründe – Das »System for the Promotion of Security Technology Research« und der Fünfte »Science and Technology Basic Plan«]. In: Ikeuchi et al. 2016, S. 7-18.

Nippon.com (1.7.2014): Shûdanteki jieiken kôshi o gentei yônin – kakugi kettei [Begrenzte Akzeptanz des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung – Kabinettsbeschluss].

Normille, D. (2017): Japanese military entices academics to break taboo. Sciencemag.org, 24.1.2017.

Takeishi, R.; Mizusawa, K.; Sugihara, S. (2016): Bôeisho no kenkyû joseihi, 6 oku en –> 110 oku en rainendo yosanan [Ausgaben für Forschungsbeihilfen des Verteidigungsministeriums sollen von 600 Mio. Yen auf 11 Mrd. Yen steigen laut Haushaltsentwurf für das nächste Haushaltsjahr]. Asahi Shimbun Digital, 28 Dec 2016.

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Prof. Dr. Hartwig Hummel ist Professor für Europapolitik und Internationale Beziehungen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und hat sich dort für eine Zivilklausel eingesetzt.

Gewaltfreier Widerstand und urbaner Raum

Gewaltfreier Widerstand und urbaner Raum

von Markus Bayer und Janet Kursawe

Die Bilder ähneln sich: Protestierende Menschenmassen mit bunten Fahnen und Plakaten sammeln sich auf zentralen Straßen und Plätzen. Sie erheben Forderungen gegen Korruption, für ein Leben in Freiheit und Würde, für mehr Mitbestimmung oder gar für das Ende eines Regimes. Straßenproteste und Demonstrationen in urbanen Zentren – zumeist Hauptstädten – bewegen in den letzten Jahren Kontinente übergreifend zahlreiche Länder. Dieser Beitrag skizziert, warum Städte in diesem Kontext eine besondere Relevanz und Dynamik als Konfliktraum aufweisen. Anhand der drei von Gene Sharp eingeführten Kategorien gewaltfreien Widerstandes wird erläutert, wie die Stadt die gewaltfreie Konfliktaustragung begünstigt.

Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking und an der Nikolaikirche in Leipzig 1989, Proteste auf dem Platz der Befreiung in Kairo 2011, dem Taksim-Platz in Istanbul 2013 oder dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew 2013/14 wurden zu Symbolen eines globalen Phänomens: des gewaltfreien Widerstandes gegen korrupte und autokratische Regime. An sich ist weder das Phänomen des gewaltfreien Widerstandes noch seine symbiotische Beziehung mit Städten neu. Bereits die römischen Plebejer sollen ab dem Jahr 494 v.Chr. mehrfach Gewaltfreiheit als Methode eingesetzt haben: Sie streikten für mehr Rechte, indem sie die Stadt so lange verließen, bis ihre Forderungen erfüllt waren. Geschichten gewaltfreien Widerstandes liegen jedoch allzu oft unter den Erinnerungen an »glorreiche« Tode, Märtyrer und romantisierte gewaltsame Aufstände begraben. Trotz eines Aufschwungs, den die Forschung nach den überwiegend friedlichen Transitionen in Osteuropa und erneut im Zuge des »Arabischen Frühlings« erfährt, steht eine systematische Analyse des Verhältnisses von urbanem Raum und friedlichem Widerstand bislang aus.

Die Stadt als Konfliktraum

Seit 2007 leben nach Angaben der Vereinten Nationen erstmals in der Geschichte der Menschheit weltweit mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Was heute bereits global gilt, wird um 2050 auch auf die bislang vergleichsweise wenig urbanisierten Kontinente Asien und Afrika zutreffen. Dann werden in Asien 60% und auf dem afrikanischen Kontinent 56% der Bevölkerung in Städten leben. Weltweit wird der Anteil der urbanen Bevölkerung im Jahre 2050 66% betragen (UN DESA 2014, S.7 und S.20f.).

Damit wird auch die besondere Bedeutung städtischer Ballungsgebiete als Konflikträume wachsen. Städte wiesen von Anbeginn an ambivalente Gesichter auf und sind in mannigfaltiger Weise mit Konflikten und Gewalt verbunden. Zunächst erwuchsen sie selbst aus einer konfliktreichen und oft gewaltsamen Geschichte, in der die Landbevölkerung, von ihren Äckern vertrieben, in Massen in die Städte zog. Als dicht besiedelte Räume und Herbergen für eine kulturell meist sehr heterogene Bevölkerung entwickelten sich die Städter häufig zum Hort sozialer Konflikte und gewaltsamer Revolutionen. Als symbolische Zentren der Macht, als industrielle Produktionsstandorte oder als Verkehrsknotenpunkte wurden sie darüber hinaus häufig zu Schlachtfeldern in Kriegen und Bürgerkriegen. Zugleich gelten Städte als Orte der technologischen und sozialen Innovation, als Zentren kultureller Zivilisation und als Ursprung der Demokratie. Die Stadt lässt sich daher als Raum beständiger Aushandlungen und Konflikte beschreiben.

Außerdem ist sie eine Ansiedlung mit baulich symbolischem Zentrum und einer klaren Arbeitsteilung. Beide Aspekte sind für friedlichen Widerstand zentral. Als symbolträchtige Orte sind Städte Sitze von Regierungen und Verwaltungsapparaten; ihre Architektur spiegelt in Form von Plätzen, Verwaltungsgebäuden und Monumenten die gegenwärtigen Machtverhältnisse wider und legitimiert diese ihrerseits. Die in Städten herrschende Arbeitsteilung führt zu einer sozialen Differenzierung der Gesellschaft und zu einer erhöhten Interdependenz zwischen allen sozialen Gruppen: Wer selbst keine Nahrungsmittel produziert, ist auf den lokalen Markt angewiesen; wer in der Stadt lebt, braucht städtische Versorgungsbetriebe, Krankenhäuser, Infrastruktur. All dies erhöht die Notwendigkeit für Kooperation und freiwillige Gefolgschaft und eröffnet Räume für die Verweigerung eben jener.

Wo Macht ist, da ist auch Widerstand

Bis heute gibt es trotz vieler historischer Beispiele keinen einheitlichen Begriff für das Phänomen des gewaltfreien Widerstandes. Definitionsversuche beziehen sich (wie auch die Begriffe selbst) häufig auf die Negation von Gewalt. Dies ist problematisch, weil dadurch suggeriert wird, Gewalt sei das eigentliche Phänomen und gewaltfreier Widerstand nur die Abwesenheit derselben.

Allen Definitionsversuchen liegt die Annahme zugrunde, die Macht eines Herrschers oder einer Regierung sei kein unveränderliches Quantum, sondern auf die Zustimmung, den aktiven Gehorsam und die Mitwirkung der Bevölkerung angewiesen (Sharp 1973, S.9). Folglich zielen Akte des gewaltfreien Widerstandes auf den Entzug von Gehorsam ab. Seit Gandhi gilt ziviler Ungehorsam als kollektives Mittel in politischen Konflikten. Er grenzt sich von Gewalt ebenso ab wie von der herkömmlichen, legalen Politik, die besonders in autoritären Staaten nur begrenzte Möglichkeiten der Partizipation zulässt. Gewaltfreier Widerstand ist in diesem Sinne eine überlegt eingesetzte, nicht institutionelle Praxis, die bewusst gesellschaftliche Regeln verletzt und sich überwiegend in rechtlichen Graubereichen, zuweilen sogar in der Illegalität, abspielt. Er verzichtet bewusst auf den Einsatz physischer Gewalt gegen die politischen Gegner (Chenoweth and Cunningham 2013, S.273). Die Entscheidung für gewaltfreien Widerstand kann strategisch motiviert oder das Ergebnis prinzipieller Überzeugung sein.

Gewaltfreier Widerstand ist ein Massenphänomen, d.h. größere Menschenmassen müssen mobilisiert und dazu gebracht werden, einem Regime über längere Zeit die Gefolgschaft zu verweigern mit dem Ziel, einen Regierungs- oder Politikwechsel zu erzwingen. Partizipation wird damit zu einem Schlüssel des Erfolgs gewaltfreier Bewegungen (Chenoweth and Ulfelder 2015, S.3). Neben dem für einen breiten Teil der Bevölkerung wichtigen moralischen Faktor verweisen VertreterInnen gewaltfreien Widerstandes oft auf dessen »strategische« Vorteile: Gewaltfreier Widerstand ist massentauglicher als gewaltsamer Widerstand, der eine besondere Ausbildung und Bewaffnung voraussetzt und hohe Anforderungen an die physische Fitness und die Risiko- oder Opferbereitschaft der Kämpfer stellt. Friedliche Widerstandsbewegungen sind daher in der Regel deutlich heterogener (Zunes 2011, S.402) und im Durchschnitt etwa viermal so groß wie gewaltsame Widerstandsgruppen (Chenoweth/Stephan 2011, S.32). Da Sicherheitskräfte und Bürokraten des bekämpften Regimes durch gewaltfreie Bewegungen nicht physisch bedroht werden, fällt es ihnen leichter, den Gehorsam zu verweigern und die Seite zu wechseln (Chenoweth/Ulfelder 2015, S.3). Dieser Punkt ist für den Erfolg gewaltfreier Bewegungen von Bedeutung, da es ihnen gelingen muss, das bekämpfte Regime empfindlich zu treffen, um erfolgreich zu sein. Dazu ist es erforderlich, eine möglichst große Anzahl von Personen und Netzwerken zu mobilisieren, die über Kapazitäten (Zugang zu Ressourcen, Herrschaftswissen, etc.) verfügen, durch deren Verlust die Existenz des Regimes ins Wanken gerät.

Gewaltfreier Widerstand und urbaner Raum

Viele der Mechanismen friedlichen Widerstandes können sich ausschließlich in städtischen Ballungsgebieten effektiv entfalten. Zum einen ist aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte hier die Mobilisierung einfacher; zum anderen werden Proteste in (Haupt-) Städten durch die dort vorherrschenden guten Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten und die besondere symbolische Bedeutung des Ortes in der Regel medial schnell »sichtbar«, sodass sie ohne Zeitverlust auch an anderen Orten im In- und Ausland Nachahmer finden können.

Eine vernetzte wirtschaftliche Struktur mit organisierter Arbeit und hoher Arbeitsteilung, wie sie in modernen Großstädten vorherrscht, erleichtert zudem die Ausbreitung von Protesten auf andere soziale Gruppen, wie Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbände, die ihrerseits ein hohes Mobilisierungspotenzial aufweisen.

Im Versuch, gewaltfreien Widerstand begrifflich zu fassen, teilte Gene Sharp mögliche Aktionsformen in drei Kategorien bzw. Eskalationsstufen ein: Protest und Überzeugung, Verweigerung sowie gewaltfreie Intervention (Sharp 1969). Während die erste Stufe eine Kommunikation zwischen zwei Konfliktparteien herstellt und einen gesellschaftlichen Dissens verdeutlicht, zielt die zweite Stufe darauf ab, durch Akte der Verweigerung nicht zu den zuvor aufgezeigten Missständen beizutragen. Die letzte Stufe der Eskalation besteht in der gewaltfreien Intervention, die so ausgelegt sein soll, dass sie nicht ihrerseits zu Missständen beiträgt, sondern solche möglichst unterbindet. Wir zeigen im Folgenden, welche zentrale Rolle der städtische Raum dabei jeweils spielt.

Protest und Überzeugung: Symbolische Politik

Bei Protest und Überzeugung handelt es sich überwiegend um symbolische Gesten, um den politischen Gegner, die öffentliche Meinung oder die Opposition zu beeinflussen. Sharp zählt hierzu Protesttechniken, wie öffentliche Reden und Briefe, Karikaturen, Protestmärsche und Demonstrationen mit Zurschaustellung von Flaggen, Transparenten und Symbolen, die genau genommen keine Akte des Widerstandes, sondern der Kommunikation sind. Sie dienen dazu, auf Missstände hinzuweisen, Forderungen zu formulieren und Aufmerksamkeit zu schaffen, um Anhänger für weitere Aktionen zu mobilisieren. Sichtbarkeit ist in dieser Phase die wichtigste Bedingung. Forderungen müssen gehört, mobilisierte Menschenmassen müssen gesehen werden.

Die Stadt bietet hierfür den Raum und das Forum. Mit ihren dichten Kommunikationskanälen befördert sie einerseits die Sichtbarkeit von Protestbewegungen, erleichtert aber auch die Organisation und Mobilisierung der Opposition. In ländlichen, weit abgelegenen Gebieten mit eingeschränktem Zugang zu Internet und Mobilfunk und geringer Bevölkerungsdichte sowie wenig Präsenz internationaler Journalisten ist es kaum möglich, diese Sichtbarkeit herzustellen.

Verweigerung

Formen der Verweigerung gehen in der Regel über rein symbolische Gesten hinaus. Sharp unterteilt sie in soziale Verweigerung (wie etwa Boykott von und Rückzug aus sozialen Institutionen, Flucht in unzugängliche Gebiete oder den städtischen Untergrund), Boykotte (Bestreiken von Gütern und Leistungen), Streiks und politische Verweigerung (Boykott des politischen Systems durch Einstellen von Bürgerpflichten, wie Steuerzahlung, und Ablehnung des Wahlrechts). Auch für diese Aktionsformen gilt: je sichtbarer umso wirkungsvoller.

Eine besondere Bedeutung kommt dabei den ökonomischen Boykotten und Streiks zu. Ein illustratives Beispiel boten die iranischen Bazarhändler, die während der islamischen Revolution 1978/79 landesweit wochenlang mit der Schließung der Bazare gegen das Schah-Regime protestierten. Da der Bazar eine wichtige wirtschaftliche Säule des Iran ist, schwächte dieser Streik die finanzielle Kraft der Schah-Monarchie dramatisch. Während solcherart Verweigerungen in den Dörfern der Peripherie für ein Regime wegen ihrer marginalen Größe in der Regel zu verkraften sind, stellen sie im Zentrum nicht nur ökonomisch eine größere Herausforderung dar. Massenhafte Verweigerung von Gehorsam im Zentrum der Macht, wie etwa beim Generalstreik gegen den Kapp-Putsch in Deutschland 1918, symbolisiert für jedermann sichtbar, dass die Macht des Regimes nicht einmal mehr ausreicht, um die Gefolgschaft in der Hauptstadt zu gewährleisten, und zeigt damit eine Legitimitätskrise des Regimes an.

Gewaltfreie Intervention

Als direkteste Form des gewaltfreien Widerstandes ist die gewaltfreie Intervention die größte Herausforderung für ein bestehendes Regime. Hierzu zählen jene gezielten Aktionen von Bürgern, Staatsangestellten oder externen Akteuren, wie internationalen Organisationen oder anderen Staaten, die die Funktionsfähigkeit des Staates bedrohen bzw. seine Legitimität offen in Frage stellen. Die Bandbreite reicht von der Besetzung öffentlicher Räume und Plätze über die Etablierung alternativer ökonomischer Praktiken, wie Landnahme oder Schaffung neuer Märkte und Transportsysteme, bis hin zu politischen Interventionen, wie der gezielten Überlastung staatlicher Behörden oder der Errichtung paralleler Regierungen. Diese alternativen Praktiken sind an eine kritische Masse unzufriedener Menschen und den Austausch oppositioneller Ideen gebunden und richten sich u.a. direkt gegen die staatliche Infrastruktur, die zur Umsetzung einer bestimmten Politik notwendig ist. Daher entstehen sie vorrangig in städtischen Ballungsräumen bzw. den Hauptstädten.

Potenziale und Grenzen gewaltfreien Widerstandes

Nicht nur aus normativen Gründen ist Gewaltfreiheit der Gewalt vorzuziehen, auch ihre demokratisierende Langzeitwirkung spricht für friedliche Mittel des Widerstands. Denn die Revolte selbst führt zu einer Machtverteilung an viele statt an wenige einzelne, da sich große Massen und damit in der Regel breite Koalitionen aus unterschiedlichen Gruppen zu gemeinsamen Aktionen zusammenfinden. Die aus diesen Bewegungen hervorgehenden Institutionen und Gesellschaften sind daher pluralistischer und demokratischer als jene, die eine gewaltsame Entstehungsgeschichte aufweisen (Zunes 2011, S.402).

Allerdings gelingt es gewaltfreien Bewegungen oft nicht, ihr Mobilisierungspotenzial von urbanen Räumen zu entkoppeln, zu verbreitern und zu verstetigen. Die Bilanz der arabischen Proteste zeigt zudem, dass friedlicher Widerstand von gewaltsamen Akteuren vereinnahmt wird und zu gewaltsamem Konfliktaustrag und Krieg führen kann.

Eine weitere, ungewollte Facette gewaltfreien Widerstands zeigte sich auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Die Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen junger Frauen durch Dutzende in Gruppen auftretende Männer gehörten spätestens seit Januar 2011 zu den hässlichen Geschehnissen der dortigen Revolution. Die gewalt- und herrschaftsfreien Räume und Plätze, die sich die Protestbewegung erhoffte, konnten nicht aufrecht erhalten werden, sondern wurden von anderen Gruppen zu gewaltförmigen und kriminellen Zwecken ausgenutzt.

Die Proteste auf dem Kiewer Maidan machten zudem klar: Ein erheblicher Teil der friedlich Protestierenden verzichtete nur aus strategischen und nicht aus prinzipiellen Gründen auf Gewalt. Gewaltfreiheit bleibt damit an bestimmte situative Faktoren gebunden. Sind diese nicht gegeben, greifen vermeintlich gewaltfrei Protestierende zuweilen doch zu Gewalt, wie viele der ehemaligen Teilnehmer der Maidan-Proteste, die seither die militärischen Aktivitäten der ukrainischen Regierung in diversen ultra-nationalistischen Freiwilligenverbänden flankieren.

Das Potential friedlicher Bewegungen zeigt sich also vor allem dann, wenn größere Gruppen eine gesellschaftliche Transformation anstreben, ein konstruktives Programm zur Veränderung der Gesellschaft verfolgen – und vor allem aus Überzeugung auf gewaltsame Mittel verzichten.

Literatur

Erica Chenoweth and Maria J. Stephan (2011): Why Civil Resistance Works – The Strategic Logic of Nonviolent Conflict. New York: Columbia University Press.

Erica Chenoweth and Kathleen Gallagher Cunningham (2013): Understanding nonviolent resistance -An introduction. Journal of Peace Research 50(3), S.271-276.

Erica Chenoweth and Jay Ulfelder (2015): Can Structural Conditions Explain the Onset of Nonviolent Uprisings? Journal of Conflict Resolution, April, S.1-27.

Gene Sharp (1969): The Technique of Nonviolent Action. In: Adam Roberts (ed): Civilian resistance as a national defence – non-violent action against aggression. [New ed.]. Harmondsworth: Penguin (Pelican books), S.107-127.

Gene Sharp (1973): The Politics of Nonviolent Action – Part I: Power and Struggle. Boston: Porter Sargent Publishers.

United Nations Department of Economic and Social Affairs (UN DESA), Population Division (2014): World Urbanization Prospects. The 2014 Revision. Highlights.

Stephen Zunes (2011): Nonviolent Revolution in the Middle East. Peace Review – A Journal of Social Justice, 23(3), S.396-403.

Markus Bayer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt »Nonviolent Resistance and Democratic Consolidation« am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik der Universität Duisburg-Essen.
Dr. Janet Kursawe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin/Politikwissenschaftlerin (Friedens- und Konfliktforschung) am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) an der Universität Duisburg-Essen.

Spontan und gewaltsam?

Spontan und gewaltsam?

Riots als städtische Protestform

von Bettina Engels

Als Anfang 2008 weltweit die Nahrungsmittel- und Benzinpreise rasant stiegen, kam es in zahlreichen Städten, insbesondere in Afrika, zu Hungeraufständen und Demonstrationen gegen die hohen Lebenshaltungskosten. Burkina Faso ist hierfür ein Beispiel: Nach spontanen Riots in den größeren Städten des Landes griffen Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen das Thema auf und mobilisierten erfolgreich zu Streiks und anderen Protesten »gegen das teure Leben«. Riots erweisen sich als typische Proteste marginalisierter städtischer Bevölkerungsgruppen, die in etablierten Organisationen schwach vertreten sind.

Riots als spezifische Form des Protests marginalisierter sozialer Akteure treten besonders häufig in Städten auf. Sie wurden in den letzten Jahren intensiv diskutiert, etwa anlässlich der Riots in Großbritannien vom August 2011, in den französischen Banlieues im Oktober und November 2005 sowie in Stockholm 2013. Eine zentrale Kontroverse richtet sich auf die Frage, ob Riots als kollektives politisches Handeln zu verstehen sind oder ob sie potenziell kriminelle Akte ohne politische Ziele darstellen. Die Einstufung als »unpolitisch« oder »kriminell« delegitimiert Riots und legitimiert somit ein breites Spektrum repressiver und vermeintlich präventiver Maßnahmen. Riots als inhärent politisches Phänomen zu fassen betont hingegen ihre strukturellen Ursachen: ökonomische, politische und gesellschaftliche Prozesse, wie Marktliberalisierung, die Kommodifizierung sozialer Grundversorgung, Einschnitte im Bereich des Wohlfahrtsstaats und diskriminierende Praktiken von Verwaltung und Polizei.

In diesem Artikel argumentiere ich, dass Riots ein spezifisches Protestrepertoire marginalisierter sozialer Gruppen darstellen, die in Gewerkschaften, Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen schwach repräsentiert sind. Die Mobilisierung dieser »organisierten« oppositionellen Akteure auf der einen Seite und Riots auf der anderen Seite lassen sich dabei als komplementär verstehen. Ich illustriere dies am Beispiel der Hungeraufstände und gewerkschaftlichen Proteste gegen hohe Lebenshaltungskosten in Burkina Faso.

Die Debatte um Riots

Eine Sicht in der Debatte um Riots versteht diese als unpolitische, kriminelle Handlungen, insbesondere, wenn sie mit Plünderungen und physischer Gewalt einhergehen. Die Riots in London 2011 beispielsweise wurden teilweise als kriminell und explizit unpolitisch gerahmt (Lamble 2013). Auch die Riots in den französischen Banlieues in den 1990er Jahren sowie 2005 wurden als „städtische Gewalt“ und Teil eines „Dualismus von Stadt versus Banlieue“ konstruiert (Dikeç 2004, S.205). Über diese Konstruktion wurden repressive Politiken und Praktiken von Verwaltung und Sicherheitskräften legitimiert (beispielsweise die Ausweitung von Polizeibefugnissen, verdachtsunabhängige Kontrollen etc.).

Dem steht eine andere Perspektive auf Riots gegenüber, welche sie als explizit politische Phänomene beschreibt. Sie hebt die politischen Bedingungen und Kontexte hervor, aus denen heraus Riots entstehen: wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Strukturen, die bestimmte Gruppen systematisch ausschließen und marginalisieren. Riots werden als Reaktion auf soziale und wirtschaftliche Missstände verstanden, gelten dabei aber als unorganisiert. Diese Argumentationslinie entspricht einer marxistischen Perspektive, derzufolge Riots aus ungleichen ökonomischen und politischen Verhältnissen entstehen und auf sie reagieren; dabei wird jedoch betont, dass die berechtigte Wut und Frustration der an Riots Beteiligten von formellen Organisationen kanalisiert und organisiert werden müsse (Harvie and Milburn 2013, S.561). In der akademischen Debatte um Riots wurde diese Position dafür kritisiert, dass sie Politik als linearen Prozess verstünde (etwa Balibar 2007).

In Teilen der europäischen Linken hat der klassische marxistische Dualismus von Revolution und Riot – wobei Erstere als intentional und geplant, Letzterer als spontan und »unorganisiert« gilt – an Bedeutung verloren. Die dominante Stellung des weißen männlichen Proletariats als vermeintlich wichtigstes und womöglich einziges Subjekt sozialer Kämpfe wurde politisch unter anderem durch Studierenden-, Frauen-, queere und migrantische Bewegungen infrage gestellt, theoretisch durch feministische und poststrukturalistische Perspektiven.

Es handelt sich dabei keineswegs um eine neue Frage. Zu den ersten und einflussreichsten Autoren, die sich damit befassten, zählt etwa E.P. Thompson. In seiner »Moral Economy of the English Crowd« (1971) argumentierte er gegen eine Sicht auf Riots als vermeintlich unpolitisches Phänomen. Er zeigte, dass sich die Food Riots in Großbritannien im 18. Jahrhundert, anders als im Mainstream der Geschichtsschreibung dargestellt, auf konkrete Vorstellungen von Legitimität und Gerechtigkeit gründeten – der Export von Getreide in Zeiten von Hunger und Nahrungsmittelknappheit wurde als zutiefst ungerecht und moralisch unvertretbar gesehen –, die der Entwicklung kapitalistischer Märkte zu dieser Zeit entgegen standen. Thompson kritisierte, dass die Food Riots in behavioristischer Weise als von Emotionen und Instinkten getrieben beschrieben wurden. Mit dieser Darstellung ginge einher, den Riotern den Status als aktiv und politisch Handelnde abzusprechen (Thompson 1971, S.77).

Häufig werden Riots als durch zwei charakteristische Merkmale gekennzeichnet beschrieben: Spontaneität und physische Gewalt (Lupsha 1969). Spontaneität impliziert das Fehlen strategischer Planung und Organisation sowie die offene Ansprache von Adressat_innen, potenziellen Anhänger_innen, Unterstützer_innen und Verbündeten. Infolge dessen werden physische Gewalthandlungen, die mit Riots in Verbindung stehen, selten als taktisches Repertoire gefasst, sondern als Ausdruck von Emotionen und fehlender rationaler strategischer Planung (Gamson 1975). Die meisten Ansätze gehen allerdings von einem Mindestmaß an organisatorischer Struktur als notwendiger Bedingung für Protest aus. Die prominenteste Kritik an dieser konzeptuellen Verknüpfung von Bewegung und Organisation formulierten Frances Fox Piven und Richard Cloward:

„Die Betonung der bewußten Intention […] spiegelt die Verwechslung von Massenbewegungen mit formalisierten Organisationen, die in der Regel auf dem Höhepunkt der Bewegung auftauchen, wider – die Verwechslung zweier zwar ineinander verwobener, aber dennoch ganz verschiedener Phänomene. […] Die Gleichsetzung von Bewegung mit ihren Organisationen – die zudem voraussetzt, daß Proteste einen Führer, eine Satzung, ein legislatives Programm oder doch zumindest ein Banner haben müssen, bevor sie anerkannt werden – hat den Effekt, daß die Aufmerksamkeit von vielen Formen politischer Unruhe abgelenkt wird und diese per definitionem den verschwommenen Bereichen sozialer Probleme und abweichenden Verhaltens zugeordnet werden.“ (Piven and Cloward 1986 [1977], S.29-30).

Food Riots und Proteste »gegen das teure Leben« in Burkina Faso

Im Zuge des rasanten Anstiegs der Nahrungsmittel- und Benzinpreise protestierten 2008 in Dutzenden Städten weltweit – etwa in Kairo, Rabat, Mogadischu, Abidjan, Dakar, Nairobi, Port-au-Prince, Lima und Dhaka – Menschen mit Hungeraufständen, Demonstrationen und Streiks. Bei den Hungeraufständen handelte es sich meist um mehr oder weniger spontane, nicht angemeldete Demonstrationen. Vielerorts mobilisierten Gewerkschaften, Verbraucherverbände und Frauengruppen Tausende Menschen zu Demonstrationen, bei denen es teilweise zur Besetzung von Regierungsgebäuden oder zur Plünderung von Geschäften und Nahrungsmittellagern kam.

In Burkina Faso fanden Ende Februar 2008 innerhalb einer Woche in den meisten größeren Städten des Landes Hungeraufstände statt. Bei unangemeldeten bzw. nicht genehmigten Demonstrationen kam es zu umfangreichen Sachschäden an Tankstellen, öffentlichen und privaten Gebäuden. Bei Zusammenstößen zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften wurden zahlreiche Menschen verletzt und Hunderte festgenommen. Die Protagonist_innen waren größtenteils marginalisierte urbane Jugendliche; mehrheitlich junge Männer, die ohne regelmäßiges Einkommen im informellen Sektor ihr Überleben zu sichern versuchten.

Ende Februar 2008, am Tag der Hungeraufstände in der Hauptstadt Ouagadougou, versammelten sich die Gewerkschaftsspitzen. Sie kritisierten die von der Regierung angekündigten Maßnahmen als ungenügend und riefen andere zivilgesellschaftliche Organisationen zu einem Treffen am 6. März 2008 und zu einer zentralen Kundgebung in der Folgewoche auf. Am 12. März schlossen sich die großen Gewerkschaften mit Konsument_innen- und Berufsverbänden, Menschenrechtsorganisationen sowie Vereinigungen von Schüler_innen und Studierenden zur »Nationalen Koalition gegen das teure Leben, die Korruption, den Betrug, die Straflosigkeit und für die Freiheiten« (Coalition nationale de lutte contre la vie chère, la corruption, la fraude, l’impunité et pour les libertés, CCVC) zusammen.

Ab März 2008 war die CCVC, angeführt von den Gewerkschaften, federführend bei den Protesten gegen die hohen Lebenshaltungskosten. In der Koalition und ihren Mitgliedsorganisationen waren vor allem Mittelschichtsangehörige aus den Städten vertreten: Studierende, Schüler_innen weiterführender Schulen und abhängig Beschäftigte. Hingegen waren an den Food Riots zahlreiche Angehörige sozialer Gruppen beteiligt, die in den Gewerkschaften und den etablierten Bewegungsorganisationen schwach vertreten sind. Die Mobilisierung zu den Riots verlief in den informellen Netzwerken dieser Jugendlichen über persönlichen Kontakt und SMS, kaum über formale Organisationsstrukturen. Riots als typisches Protestrepertoire dieser Gruppen haben in den burkinischen Städten eine Tradition aus früheren Konflikten (Alexander & Pfaffe 2013; Engels 2015). Im Jahr 2006 kam es beispielsweise in Ouagadougou zu Riots, als die Regierung versuchte, eine Helmpflicht für Mopeds und Mofas durchzusetzen.

Die CCVC und ihre Mitgliedsorganisationen stellten die Riots als unkontrolliert und potenziell gewaltsam ihren eigenen Protestaktionen als friedlich, kontrolliert, gut organisiert und konform mit den Regularien des Versammlungsrechts gegenüber. In der Konstruktion sowohl der Gewerkschaften und Bewegungsorganisationen als auch ihrer staatlichen Gegenspieler (Regierung, Verwaltung, Sicherheitskräfte) besteht ein Dualismus von Marsch (marche) gegenüber Aufstand (émeute). Marsch meint eine geplante, dem Versammlungsrecht entsprechend angekündigte Demonstration, die von identifizierbaren Akteuren organisiert wird und ohne Probleme verläuft. Dabei sind mit Problemen vor allem Sachschäden und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstrant_innen gemeint. Demgegenüber werden Riots als spontane und unorganisierte Aktionen dargestellt, die potenziell mit Sachschäden verbunden sind (unabhängig davon, ob diese intendiert sind oder nicht). „Ein Riot ist es, wenn die Leute einfach rausgehen, um etwas kaputt zu machen“, erklärte ein Aktivist im Interview mit der Autorin, „eine Demonstration ist es, wenn es klare Ziele gibt.“

Die Gewerkschaften verweisen darauf, dass es zu den Aufständen, die mit einigen Sachschäden einhergingen, nicht gekommen wäre, wenn die Regierung sich nach früheren Protesten auf größere Zugeständnisse hinsichtlich Preiskontrollen und einer Erhöhung der Kaufkraft eingelassen hätte. Durch den Verweis auf die Riots wurden die Aktionen der Gewerkschaften und anderer Organisationen argumentativ aufgewertet – und zwar ebenso durch diese Organisationen selbst wie durch ihre staatlichen Gegenspieler. Die CCVC bezieht sich strategisch auf die Riots, um sich selbst als relevante Verhandlungspartnerin der Regierung zu positionieren. Bis 2008 sei die Regierung gegen sie gewesen, erklärte einer der führenden Aktivisten des Bündnisses im Interview. Nach den „spontanen Aufständen“ hätten die Vertreter des Staates verstanden, dass mit der CCVC die Proteste „unter Kontrolle [sind], und man weiß, wer die Verantwortlichen sind. Wenn wir demonstrieren, haben wir klare Forderungen“.

Im Anschluss an Herbert Haines (1984) lässt sich diese Strategie als „Flankeneffekt“ beschreiben. Haines analysiert, welche Folgen es für eine Bewegung hat, wenn sich Teile von ihr radikalisieren. Als negativen Flankeneffekt bezeichnet er, wenn infolge radikaler Aktionen die externe Unterstützung auch für die moderaten Flügel einer Bewegung schwindet. Demgegenüber ist ein positiver Flankeneffekt zu beobachten, wenn die Existenz radikaler Gruppen und ihre Aktivitäten die Verhandlungsposition der Moderaten stärken. Ein solcher Effekt kann eintreten, weil radikale Aktionen eine Krise verursachen, die zum Vorteil der Moderaten gelöst wird, oder weil radikale Gruppen eine Kontrastfolie bieten, gegenüber der die Forderungen und Strategien moderater Akteure diskursiv normalisiert und als „vernünftig“ dargestellt werden können (Haines 1984, S.32).

Letzteres ist bei den burkinischen Hungeraufständen und Protesten »gegen das teure Leben« der Fall. Die Hungeraufstände 2008 haben die Position der Gewerkschaften und anderer etablierter Organisationen im Machtkampf mit der Regierung verbessert. Der positive Flankeneffekt wird im burkinischen Beispiel nicht durch eine Radikalisierung innerhalb einer Bewegung hervorgerufen, sondern durch Riots – Aufstände von Angehörigen sozialer Gruppen, die in den entsprechenden Bewegungen und Organisationen wenig vertreten sind.

Insgesamt ist es der CCVC jedoch kaum gelungen, die große Gruppe der erwerbslosen Jugendlichen und im informellen Sektor Tätigen zu integrieren, die in den Riots eine zentrale Rolle einnahmen. Das Problem der Repräsentation und Organisierung solcher gesellschaftlich marginalisierter Gruppen ist linken Bewegungen und Gewerkschaften in Europa und Nordamerika vertraut; ihr Klientel sind ebenfalls die abhängig Beschäftigten, Studierenden und städtischen Mittelschichten, und auch sie sind kaum im subproletarischen Milieu, bei Wohnungslosen oder Illegalisierten verankert. Die Gewerkschaften in Burkina Faso sind sich dieses Problems sehr bewusst: „Auch deswegen haben wir die CCVC gegründet“, erklärte ein Verantwortlicher des Bündnisses.

Schlussbemerkung

Die Proteste gegen die hohen Lebenshaltungskosten in Burkina Faso sind ein Beispiel intensiver und erfolgreicher Mobilisierung durch ein breites Bündnis oppositioneller zivilgesellschaftlicher Gruppen. Sie sind aber auch ein Beispiel für die Ambivalenzen von Protest, insbesondere hinsichtlich der Frage von Repräsentation und Organisierung sowie des Verhältnisses von »organisiertem« und »unorganisiertem« kollektivem Handeln. Riots entziehen sich etablierten Mustern des Protests; in vielen Fällen verweigern Rioter entsprechende Interpretations- und Kommunikationsangebote, auch seitens linker Sympathisant_innen.

Im burkinischen Beispiel stellten die Riots eine Gelegenheit dar, welche die etablierten Protestakteure erfolgreich zur Mobilisierung nutzen konnten. Es gelang ihnen, über einen längeren Zeitraum hinweg ein hohes Maß an Mobilisierung aufrecht zu erhalten und die Regierung unter Druck zu setzen. Eine erfolgreiche Strategie war dabei die Konstruktion des Dualismus von Riots als unorganisiert, unkontrolliert und potenziell gewaltsam gegenüber den organisierten, kontrollierten und friedlichen Protesten der CCVC.

Eine solche Strategie muss nicht notwendigerweise auf der Annahme beruhen, dass jegliches politisches Handeln kollektiv und intentional, organisiert und kontrolliert ist sowie identifizierbare Akteure und offen formulierte Ziele und Forderungen aufweist. Die Food Riots von 2008 bestätigen vielmehr, was E.P. Thompson für jene feststellt, die mehr als 200 Jahre zuvor stattfanden: dass sie nicht notwendigerweise eines hohen Grads an Organisierung bedürfen. Riots und der organisierte Protest oppositioneller Organisationen stellen zwei Seiten derselben Medaille dar: unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Protestrepertoires, die sich gegen das gleiche strukturelle Problem wenden.

Literatur

Peter Alexander und Peter Pfaffe (2013): Social Relationships to the Means and Ends of Protest in South Africa’s Ongoing Rebellion of the Poor: The Balfour Insurrections. Social Movement Studies, 13(2), S.204-221.

Etienne Balibar (2007): Uprisings in the Banlieues. Constellations, 14(1), S.47-71.

Mustafa Dikeç (2004): Voices into noises – Ideological determination of unarticulated justice movements. Space andd Polity, 8(2), S.191-208.

Bettina Engels (2015): Different means of protest, same causes – Popular struggles in Burkina Faso. Review of African Political Economy, 42(143), S.92-106

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Bettina Engels ist Juniorprofessorin für Empirische Konfliktforschung mit Schwerpunkt Subsahara-Afrika am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Gemeinsam mit Kristina Dietz leitet sie die Nachwuchsgruppe »Global Change – Local Conflicts?« (GLOCON; land-conflicts.net).