Ausblick auf den Ausnahmezustand


Ausblick auf den Ausnahmezustand

von Peter Ullrich

Dass der G20-Gipfel im Juli dieses Jahres eine komplexe Herausforderung für die Polizei darstellen würde, war klar. Erstens sollten der Gipfel und seine Teilnehmenden abgesichert werden. Zweitens mobilisierte ein breites Spektrum Protestierender zu einer Vielzahl von Demonstrationen, darunter große Bündnisdemonstrationen, und auch zu Blockaden. Entsprechend waren auch die Grundrechte der Protestierenden, insbesondere die Versammlungsfreiheit, zu sichern. Und drittens galt es, etwas normales Leben in Hamburg aufrecht zu erhalten.

Bereits im Vorfeld des Gipfels zeigte sich, dass die widersprüchlichen Anforderungen einseitig zugunsten eines möglichst reibungslosen Gipfelablaufs aufgelöst werden sollten. Während des Gipfels wurde die Stadt weitgehend lahm gelegt, der Nahverkehr ruhte teilweise, und v.a. die Demonstrierenden bekamen die Prioritätensetzung in ganzer Härte zu spüren.

Als Einsatzleiter war Hartmut Dudde bestimmt worden, dessen Einsätze schon mehrfach gerichtlich gerügt worden waren. Von Beginn an war das polizeiliche Konzept auf Verhinderung der Proteste ausgerichtet und von tiefen Eingriffen in das Versammlungsrecht geprägt. Dies materialisierte sich neben einer Vielzahl von Auflagen in einer 38 Quadratkilometer großen Verbotszone für Versammlungen. Trotz eines anders lautenden Gerichtsurteils wurden Protestcamps konsequent verhindert – ein juristischer Tabubruch. Für diese Linie erhielt Dudde deutliche Rückendeckung vom Hamburger Innensenator Andy Grote. Dies alles geschah auf Basis einer Protestdiagnose, die in der Behauptung gipfelte, über Hamburg würden 8.000 gewaltbereite »Störer« hereinbrechen.

Gegen dieses Bedrohungsszenario wurde ein bislang ungekanntes Maß an Personal und Technik aufgeboten. Bis zu 20.000 Beamt*innen waren im Einsatz, darunter diverse Sonderformationen, einschließlich auf den Antiterrorkampf spezialisierter, mit Schnellfeuergewehren ausgestatteter Sondereinsatzkommandos. Den Polizeikräften standen Wasserwerfer aus dem gesamten Bundesgebiet, Hundestaffeln, Reiterstaffeln, Hubschrauber und Panzer zur Verfügung. Hamburg wurde eine polizeiliche Technikshow der Superlative geboten, die verdeutlichte, das zukünftig Polizeientwicklung wohl vor allem Aufrüstung sein wird.

Abgesehen von einigen Versammlungen, die sie eher pragmatisch begleitete, machte die Polizei vom martialischen Aufgebot Gebrauch und ließ das Geschehen vielfach eskalieren, u.a. durch massiven Pfeffersprayeinsatz, gewalttätige Angriffe und Beschimpfungen auch gegen Unbeteiligte, Journalist*innen und Demosanitäter*innen, Provokationen gegen friedliche Versammlungen, Stigmatisierung nicht genehmer Anwält*innen und Verbreitung dubioser Informationen zur Stimmungsmache. Wiederholt erzeugte die Polizei Massenpaniken. Dass es dabei »nur« zu Verletzten kam, ist fast ein Wunder. Zu den späteren gewalttätigen Ausschreitungen, die das Anliegen der überwiegend entschlossen-friedlichen Proteste schnell aus den Medien verdrängten, trug dieses Auftreten sicherlich mit bei.

Die staatlichen Behörden sind gehalten, […] versammlungsfreundlich zu verfahren“, schrieb das Bundesverfassungsgericht 1985 mit dem Brokdorf-Beschluss der Polizei ins Stammbuch. Die Ereignisse von Hamburg zeigen erneut, dass die Gewährleistung dieser Vorgabe fragil ist. Ähnlich wie 2015 bei den Blockupy-Protesten gegen die Europäische Zentralbank in Frankfurt nahmen auch in Hamburg die zahlreichen Präventivmaßnahmen einen tendenziell repressiven Charakter an, und mit demonstrativem Machtgehabe wurde weiter eskaliert. Hamburg befand sich in einer Art Ausnahmezustand, der sowohl diskursiv-medial als auch einsatzstrategisch orchestriert war.

Der Ausnahmezustand ist definiert durch die Suspendierung der Rechtsbindung. Dies manifestierte sich in Hamburg in der von Beginn an grundrechtsfeindlichen Linie, im Ignorieren von Gerichtsentscheidungen, im exzessiven Durchgreifen im Verlauf des Gipfels sowie in der anschließenden Exkulpation allen Polizeihandelns durch Bundes- und Landespolitik, insbesondere durch den Hamburger Bürgermeister Scholz.

Daraus ergibt sich eine klare Forderung: Die Ereignisse vom Hamburg müssen umfassend und unabhängig aufgearbeitet werden. Und selbst wenn dieser Einsatz personelle und strafrechtliche Konsequenzen haben sollte – er bleibt ein äußerst düsteres Omen für die Zukunft der Versammlungsfreiheit.

Peter Ullrich, Dr. phil., Dr. rer. med., Soziologe und Kulturwissenschaftler, Ko-Leiter des Bereichs »Soziale Bewegungen, Technik, Konflikte« der TU Berlin sowie des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung. Er war mit dem Komitee für Grundrechte und Demokratie als Demonstrationsbeobachter in Hamburg.

Zivilklausel auf japanisch


Zivilklausel auf japanisch

Japanische Universitäten ächten Militärforschung

von Hartwig Hummel

Mit einer Zivilklausel verpflichtet sich eine Einrichtung, nicht für Rüstungszwecke, sondern nur für wissenschaftliche und friedliche Zwecke zu forschen. Eine lange Tradition hat die Selbstverpflichtung, keine Militärforschung zu betreiben, in Japan. Bereits 1950 fasste der Japanische Wissenschaftsrat einen entsprechenden Beschluss, und japanische Universitäten griffen dies auf. Unter der neoliberalen Regierung von Ministerpräsident Shinzô Abe gerät diese Selbstbeschränkung jetzt zunehmend unter Druck.

Kern des japanischen Antimilitarismus ist die japanische »Friedensverfassung« von 1947, die nach wie vor von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird (The Asahi Shimbun 3.5. 2016). Artikel 9 der japanischen Verfassung enthält den Verzicht Japans auf das Recht zur Kriegführung und das Verbot, Streitkräfte zu unterhalten. Die Verfassung wurde bis heute noch nie geändert, aber bereits in den 1950er Jahren von konservativen Regierungen insofern uminterpretiert, als das naturgegebene Recht zur Selbstverteidigung die Aufstellung von Selbstverteidigungsstreitkräften (jieitai), die nationale Rüstungsproduktion und das Militärbündnis mit den USA erlaube, allerdings ausschließlich zur »Selbstverteidigung« Japans. Dementsprechend erklärte sich Japan in den 1960er und 1970er Jahren offiziell für nuklearwaffenfrei, stoppte den Rüstungsexport, begrenzte die Militärausgaben auf das für die »Selbstverteidigung« notwendige Maß, unterließ militärische Auslandseinsätze und versprach, den Weltraum ausschließlich für friedliche Zwecke zu nutzen.1

Akademische Selbstverpflichtung gegen Militärforschung

Der akademische Bereich in Japan galt bislang als Bollwerk des japanischen Antimilitarismus. 1950 beschloss der Japanische Wissenschaftsrat (Nihon gakujutsu kaigi), der die Wissenschaft auf nationaler Ebene repräsentiert, die bis heute gültige akademische Selbstverpflichtung, keine Militärforschung zu betreiben. Neben der klaren Distanzierung vom Militär ist an diesem Beschluss auch bemerkenswert, dass sich der Japanische Wissenschaftsrat nicht als Wissenschaft Japans definiert, sondern als Teil einer kosmopolitischen Wissenschaftsgemeinschaft, die dem Weltfrieden und dem Wohl der gesamten Menschheit verpflichtet ist.

Gelegentlich wurden Verstöße gegen die Selbstverpflichtung, keine militärische Forschung zu betreiben, bekannt. Beispielsweise gab es Kooperationen japanischer Universitäten mit US-Militärinstitutionen während des Vietnamkriegs (1960er Jahre) und im Zuge der »Strategic Defense Initiative« (SDI, 1980er Jahre) und des anschließenden Raketenabwehrprogramms der USA sowie vereinzelt auch Kooperationen ziviler Forschungsinstitute mit dem japanischen Verteidigungsamt. Jedoch führte die Skandalisierung solcher Fälle durch die japanische Wissenschafts-Community regelmäßig zu einer Bekräftigung des Banns gegen Militärforschung.

Als beispielsweise bekannt wurde, dass die im Jahr 1966 in Japan durchgeführte Internationale Halbleiter-Konferenz durch militärische Stellen in den USA mitfinanziert worden war, beschloss die Japanische Physikalische Gesellschaft (Nihon butsurigakkai) 1967 auf einer außerordentlichen Generalversammlung, weder Unterstützung von militärischen Stellen anzunehmen noch mit militärischen Stellen zusammenzuarbeiten. Im selben Jahr verabschiedete der Japanische Wissenschaftsrat eine Resolution, in der er an seine Selbstverpflichtung von 1950 erinnerte, auf keinen Fall Forschung für militärische Zwecke zu betreiben. Die Resolution wiederholte, dass Wissenschaft dem Frieden und der Wohlfahrt der Menschen dienen müsse, und bezeichnete Militärforschung als Hindernis für den wissenschaftlichen Fortschritt (Ihara 2016).

Im Zusammenhang mit den Protesten gegen SDI wurde die Nagoya University mit ihrer »Peace Charter« von 1987 zu einer Vorreiterin des akademischen Antimilitarismus in Japan. Die »Peace Charta« erinnert ausdrücklich an die Selbstverpflichtung des Wissenschaftsrats von 1950, keinerlei Militärforschung zu betreiben. Bezeichnenderweise wurde sie nicht von Universitätsgremien beschlossen, sondern entstand aus einer Unterschriftensammlung, der sich der Großteil des Universitätspersonals, einschließlich des Präsidenten und aller Dekane, anschloss. Ein »Peace Charta«-Komitee führt seitdem die Tradition dieser universitären Friedensbewegung fort (Wada 2016).

Militarisierung unter der Regierung Abe

Im Zuge der Nuklearkatastrophe in Fukushima 2011 stürzte die von der Demokratischen Partei geführte Koalitionsregierung. Sie wurde im Dezember 2012 abgelöst durch die rechtskonservative Regierung unter Ministerpräsident Shinzô Abe, die neoliberale Wirtschafts- und Sozialreformen mit einer dezidierten Aufrüstungs- und Militarisierungspolitik verbindet. Die Abe-Regierung stellt dabei den akademischen Antimilitarismus ganz offen in Frage. Sie beschloss in ihren neuen verteidigungs- und forschungspolitischen Richtlinien, dass die staatlich geförderte Grundlagenforschung an Universitäten und zivilen Forschungsinstituten zukünftig auch einen Beitrag zur nationalen Sicherheit zu leisten habe. In dieser Situation sieht sich die japanische Wissenschaft herausgefordert, ihre Haltung zu ihrer bisherigen kategorischen Ablehnung jeglicher Militärforschung zu überdenken.

In der militärischen Sicherheitspolitik stellte die Abe-Regierung die bisherige Verfassungsinterpretation, dass im Rahmen der »Friedensverfassung« ausschließlich die eigene militärische Selbstverteidigung erlaubt sei, zur Disposition. Sie proklamierte am 1. Juli 2014 durch Kabinettsbeschluss für Japan das Recht auf »kollektive Selbstverteidigung«, d.h. den Einsatz der japanischen »Selbstverteidigungs-Streitkräfte« (jieitai) nicht nur zur eigenen Verteidigung, sondern auch zur »Verteidigung« eines Bündnispartners oder von UN-Missionen weltweit (Nippon.com 1.7.2014). Zur Umsetzung dieser neuen Sicherheitspolitik setzte die Abe-Regierung 2015 im Parlament gegen den erbitterten Widerstand der Oppositionsparteien und ungeachtet massiver öffentlicher Proteste ein Gesetzespaket für die nationale Sicherheit durch.

Im selben Jahr 2015 stellte die Regierung Abe auch den akademischen Bann gegen Militärforschung massiv in Frage, indem das japanische Verteidigungsministerium erstmals ein Förderprogramm zur Erforschung von Technologien für die nationale Sicherheit (anzen hoshô gijutsu kenkyû suishin seido) auflegte und ausdrücklich auch zivile Universitäten, Forschungsinstitute und Privatunternehmen zur Bewerbung aufrief. Dieses Pilotprogramm war im Haushaltsjahr 2015 mit 300 Mio. Yen (ca. 2,3 Mio. Euro) ausgestattet. Das Programmvolumen wurde im Haushaltsjahr 2016 auf 600 Mio. Yen verdoppelt. Für das Haushaltsjahr 2017 ist eine massive Ausweitung auf 11 Mrd. Yen (90,8 Mio. Euro) vorgesehen (ausführlich dazu Tarao 2016a; Kawamura 2016; Takeishi/Mizusawa/Sugihara 2016). Förderanträge dazu gingen bislang von mehreren Dutzend japanischer Universitäten ein; neun Universitäten erhielten 2015 und 2016 Förderungszusagen. Hintergrund dieser Entwicklung ist u.a. die mit kontinuierlichen Kürzungen der finanziellen Grundausstattung verbundene Reform der staatlichen Universitäten; diese sollen »effizienter« werden, sich auf ihre »Stärken« konzentrieren und einem ständigen Evaluationsdruck unterworfen werden (Takeuchi 2016).

Kontroversen über Forschung für das Militär

Das Förderprogramm des Verteidigungsministeriums löste heftige Kontroversen unter den japanischen Wissenschaftler*innen aus. Strittig war zunächst, ob es sich dabei überhaupt um Militärforschung handelt. Erfolgreiche Antragsteller verteidigten sich mit dem Hinweis, beim Förderprogramm des Verteidigungsministeriums handle es sich um Grundlagenforschung ohne direkten Bezug zu militärischen Anwendungen. Sie verwiesen außerdem auf den Zwang zur Drittmittelakquise, um die eigene Forschung fortsetzen zu können (Kawamura 2016; Normille 2017). Tatsächlich schreibt das Verteidigungsministerium in den »Anmerkungen« (hairyo) zur Ausschreibung für das Förderprogramm, Ziel sei die Förderung exzellenter Grundlagenforschung in ausgewählten Bereichen (vgl. dazu und zum Folgenden Kawamura 2016). Es handle sich nicht um direkte militärische Rüstungsforschung, da die Forschungsergebnisse breite Anwendung in zivilen Bereichen finden könnten. Und wie bei Grundlagenforschung üblich, sollten die Forschungsergebnisse „grundsätzlich öffentlich“ sein.

Militärkritische Wissenschaftler*innen argumentieren dagegen, dass es sich auf jeden Fall um Militärforschung handle, wenn die Finanzierung von militärischen Stellen stamme, egal ob vom japanischen Verteidigungsministerium oder von den US-Streitkräften. Eine genauere Analyse des aktuellen Förderprogramms des Verteidigungsministeriums und der darin festgelegten Förderbedingungen liefert zusätzliche Argumente für den militärischen Charakter dieser Forschungsförderung. Bereits aus der »Defense Production and Technology Infrastructure Strategy« (Bôei seisan gijutsu kiban senryaku) des Verteidigungsministeriums vom Juni 2014 geht klar hervor, dass die Grundlagenforschung deswegen gefördert wird, weil sie für die Entwicklung von militärischer Rüstung genutzt werden soll. Dementsprechend gab das Verteidigungsministerium auch ganz genau die 28 Forschungsfelder vor, für die Anträge gestellt werden konnten. In den »Verpflichtungen« (shibari) für die Antragsteller des Förderprogramms steht außerdem, dass das Verteidigungsministerium beabsichtige, Folgeforschungen zur Nutzung der Forschungsergebnisse für zukünftige Rüstungsprojekte durchzuführen. Im Hinblick auf die Publikation der Forschungsergebnisse werden die Antragsteller nicht unter Hinweis auf militärische Geheimhaltung, sondern unter Hinweis auf geistige Eigentumsrechte zur Zurückhaltung ermahnt. Schließlich verpflichten sich die geförderten Projekte, dem Verteidigungsministerium im Rahmen des »Projektmanagements« jederzeit Zugang zu den Forschungseinrichtungen zu ermöglichen und auch nach Ende des Förderzeitraums weiter mit dem Verteidigungsministerium zusammenzuarbeiten, z.B. zum Zwecke der Darstellung der Forschungsergebnisse auf Fachtagungen.

Widerstand gegen militärisches Forschungsprogramm

Angesichts des offenkundig militärischen Charakters des Förderprogramms stellen einige Wissenschaftler die Selbstverpflichtung der japanischen Wissenschaft in Frage, keine Militärforschung zu betreiben. Der prominenteste Fürsprecher einer Revision des 1950 vom Japanischen Wissenschaftsrat proklamierten Banns gegen Militärforschung ist ausgerechnet sein aktueller Vorsitzender, Prof. Takashi Onishi. Onishi hat dieses Amt seit 2011 inne. Er war bis 2013 Professor für Stadtplanung an der University of Tokyo (Tôkyô Daigaku), der renommiertesten japanischen Eliteuniversität, und ist seit 2014 Präsident der Toyohashi University of Technology, die pikanterweise unter den erfolgreichen Antragstellern der ersten Runde des Förderprogramms war. Onishi tritt öffentlich dafür ein, den Bann gegen Militärforschung aufzuheben und Forschung für Zwecke der (kollektiven) »Selbstverteidigung« zuzulassen. Er argumentiert, die »jieitai« seien ja bereits im Hinblick auf das Selbstverteidigungsrecht akzeptiert, und forderte, „es müsse erlaubt werden, dass Forscher an Universitäten und anderen Institutionen für Selbstverteidigungszwecke geeignete Grundlagenforschung durchführen“ (Tôkyô Shimbun 26.5.2016). Damit stieß er im Wissenschaftsrat jedoch auf heftigen Widerspruch. Der Präsident der Universität Kyôto, Jûichi Yamazawa, bestritt, dass es einen nationalen Konsens über die Aktivitäten der »jieitai« gebe. Andere Mitglieder des Wissenschaftsrats erklärten, Onishi gebe nicht die seit Langem bestehende Position des Wissenschaftsrats wieder (Tôkyô Shimbun 26.5.2016).

An einzelnen Universitäten kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, oft organisiert von den Gewerkschaften der Universitätsangestellten. Als beispielsweise an der Okayama Universität bekannt wurde, dass es 2015 eine (erfolglose) Bewerbung auf die erste Ausschreibungsrunde des Förderprogramms gegeben hatte, starteten zehn Professorinnen und Professoren dieser Universität eine Unterschriftenaktion gegen die Militärforschung, bei der in kurzer Zeit 9.000 Unterschriften gesammelt wurden. Daraufhin verzichtete die Universitätsleitung auf eine nochmalige Bewerbung. Auch an der Universität Tokyo kämpft die Universitätsgewerkschaft gegen die von der Universitätsleitung beabsichtigte Aufweichung des grundsätzlichen Banns gegen Militärforschung durch eine Einzelfallprüfung. Nach der Veröffentlichung der Ausschreibung des Verteidigungsministeriums drängte sie das Rektorat, eine etwaige Bewerbung der Universität wieder zurückzuziehen (Endô 2016). Die University of the Ryukyus in Okinawa, die sich seit langem im Kampf gegen US-Militärbasen engagiert, sprach sich trotz erheblicher Kürzungen der Forschungsmittel gegen eine Teilnahme am Förderprogramm aus. Die Niigata University und die Shiga Prefectural University erweiterten nach internen Protesten eine temporäre bzw. bedingte Nichtteilnahme am Förderprogramm zu einem generellen Boykott dieses Programms (vgl. Ikeuchi/Kodera 2016, Kap. 8).

Eine Gruppe von Wissenschaftlern um Satoru Ikeuchi, ein emeritierter Astrophysiker der Universität Nagoya, gründete im September 2016 die Japanese Coalition Against Military Research in Academia, die 25 Universitätsgewerkschaften und Antikriegsgruppen sowie hunderte von Einzelpersonen umfasst. Mitglieder dieser Initiative besuchten die Universitäten, die sich um eine Förderung durch das Verteidigungsministerium beworben hatten, und erinnerten sie an die Selbstverpflichtung des Japanischen Wissenschaftsrats, keine Militärforschung zu betreiben (Kawamura 2016; Normille 2017). Die Initiative befürchtet eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit durch die Militärforschung und verweist auf den Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes in den USA auf die dortige Wissenschaft. Sie warnt besonders die jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zur Kollaboration mit dem Militär gezwungen würden, ohne sich über deren Tragweite im Klaren zu sein. (Tarao 2016b) Immer wieder wird von dieser Initiative übrigens auf die Zivilklauselbewegung in Deutschland verwiesen, um zu zeigen, dass Japan mit seinem akademischen Antimilitarismus kein Sonderfall ist (Akai 2016).

Selbstverpflichtung gegen Militärforschung erneuert

Die öffentliche Mobilisierung gegen die Militärforschung an zivilen Hochschulen zeigte schnell Wirkung. Hatten sich auf die erste Ausschreibungsrunde des Verteidigungsministeriums im Sommer 2015 noch 109 Institutionen, davon 58 Universitäten, beworben, waren es in der zweiten Runde 2016 nur noch 44, darunter nur noch 23 Universitäten (Tarao 2016a). Der Präsident des Japanischen Wissenschaftsrats setzte daraufhin einen Sonderausschuss ein, der für die Generalversammlung im Frühjahr 2017 eine gemeinsame Position zur Frage der Militärforschung erarbeiten sollte (Ikeuchi et al. 2016). Der Sonderausschuss führte an mehreren Universitäten öffentliche Diskussionen durch. Am 7.3. 2017 veröffentlichte er seine Beschlussempfehlung: Der Japanische Wissenschaftsrat solle sich zu seinem „Erbe“ der Selbstverpflichtungen von 1950 und 1967 gegen Militärforschung bekennen. Das Förderprogramm des Verteidigungsministeriums werfe „viele Probleme“ auf und bedeute einen erheblichen Eingriff des Staates in die Wissenschaftsautonomie. Die Beteiligung am Förderprogramm des Verteidigungsministeriums solle nicht den individuellen Forscherinnen und Forschern überlassen werden, sondern alle Universitäten sollten Institutionen einrichten, um eine solche Beteiligung sorgfältig auch im Hinblick auf ihre ethische Tragbarkeit zu prüfen (The Mainichi 7.3.2017; The Asahi Shimbun 8.3.2017; The Japan Times 9.3.2017). Die meisten japanischen Wissenschaftler*innen stehen also weiterhin zu ihrer antimilitaristischen Tradition. Ihr Bekenntnis gegen Militärforschung sollte auch für die in dieser Hinsicht so zaghafte deutsche Wissenschaft Vorbild und Herausforderung sein.

Anmerkung

1) Zu den politischen Restriktionen der japanischen Militärpolitik während des Kalten Kriegs vgl. ausführlich Hummel 1992.

Literatur

Akai, J. (2016): Doitsu ni okeru gungaku kyôdô hantai no undô [Die Bewegung gegen eine militärisch-akademische Zusammenarbeit in Deutschland]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 52-60.

Endô, M. (2016): Gungaku kyôdô o habamu tame ni. Tôdai shokuso no torikumi o chûshin ni [Zur Verhinderung der militärisch-akademischen Zusammenarbeit unter besonderer Beachtung der Initiativen an der University of Tokyo]. In: Ikeuchi et al. 2016, S. 18-28.

Hummel, H. (1992): Japan – Schleichende Militarisierung oder Friedensmodell? Frankfurt a.M.: Haag und Herchen (Militärpolitik Dokumentation, Heft 88/89).

Ihara, S. (2016): Sengo, kagaku-sha wa gunji kenkyû to dô mukiatte kita ka [Wie haben Wissenschaftler nach dem Krieg gegen Militärforschung opponiert]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 17-26.

Ikeuchi, S.; Kawamura, Y.; Endô, M.; Toyoshima, K.; Nishikawa, J.; Akai, J. (Hrsg.) (2016): Gungaku kyôdô no shin tenkai: mondaiten o araidasu [Neuere Entwicklungen der militärisch-akademischen Kollaboration: Wo liegen die Probleme?]. JSA e magajin (2016)19, 25. Nov. 2016.

Ikeuchi, S. und Kodera, T. (Hrsg.) (2016): Heiki to daigaku. Naze gunji kenkyû o shite wa naranai ka [Waffen und Universitäten: Warum sollte keine Militärforschung betrieben werden?]. Tôkyô: Iwanami Shoten.

Kawamura, Y. (2016): Hiromaru gungaku kyôdô to sono haigo ni aru mono – anzen hoshô gijutsu kenkyû suishin seido to dai 5-ki kagaku gijutsu kihon keikaku [Die Ausbreitung der militärisch-akademischen Zusammenarbeit und ihre Hintergründe – Das »System for the Promotion of Security Technology Research« und der Fünfte »Science and Technology Basic Plan«]. In: Ikeuchi et al. 2016, S. 7-18.

Nippon.com (1.7.2014): Shûdanteki jieiken kôshi o gentei yônin – kakugi kettei [Begrenzte Akzeptanz des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung – Kabinettsbeschluss].

Normille, D. (2017): Japanese military entices academics to break taboo. Sciencemag.org, 24.1.2017.

Takeishi, R.; Mizusawa, K.; Sugihara, S. (2016): Bôeisho no kenkyû joseihi, 6 oku en –> 110 oku en rainendo yosanan [Ausgaben für Forschungsbeihilfen des Verteidigungsministeriums sollen von 600 Mio. Yen auf 11 Mrd. Yen steigen laut Haushaltsentwurf für das nächste Haushaltsjahr]. Asahi Shimbun Digital, 28 Dec 2016.

Takeuchi, S. (2016): Daigaku kaikaku ni matowaritsuku gungaku kyôdô – kenkyûshaban keizaiteki chôheisei [Militärisch-akademische Zusammenarbeit im Gefolge der Universitätsreform – ein ökonomisches Wehrpflichtsystem für Forscher]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 37-46.

Tarao, M. (2016a): Bôei-shô no senryaku – »anzen hoshô gijutsu kenkyû suishin seido« [Die Strategie des Verteidigungsministeriums – »System for the promotion of research on security technologies«]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 27-36.

Tarao, M. (2016b): Gungaku kyôdô hantai apîru shomei no kai [Unterschriftenkampagne für den Appell gegen militärisch-akademische Zusammenarbeit]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 81-84.

The Asahi Shimbun (3.5.2016): ASAHI POLL: Majority of voters feel no need to revise Constitution.

The Asahi Shimbun (8.3.2017): Scientists to keep ban on military research at universities.

The Japan Times (9.3.2017): Taking a stand on defense research.

The Mainichi (7.3.2017): Japan Science Council panel draft statement upholds rejection of military research.

Tôkyô Shimbun (26.5.2016, chôkan [Morgenausgabe]): Gakujutsu kaigi kaichô “jiei mokuteki no kenkyû kyoyô o”. Gunji hitei kara tenkan no kanôsei [Präsident des Wissenschaftsrats: „Forschung für die Selbstverteidigung sollte erlaubt werden“. Abkehr vom Bann gegen Militär möglich].

Wada, H. (2016): Nagoya daigaku ni okeru gungaku kyôdô kenkyû/kyôiku ni tsuite [Über die Kollaboration zwischen Wissenschaft und Militär in Forschung und Lehre an der Nagoya University]. In: Ikeuchi und Kodera 2016, S. 77-80.

Prof. Dr. Hartwig Hummel ist Professor für Europapolitik und Internationale Beziehungen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und hat sich dort für eine Zivilklausel eingesetzt.

Gewaltfreier Widerstand und urbaner Raum

Gewaltfreier Widerstand und urbaner Raum

von Markus Bayer und Janet Kursawe

Die Bilder ähneln sich: Protestierende Menschenmassen mit bunten Fahnen und Plakaten sammeln sich auf zentralen Straßen und Plätzen. Sie erheben Forderungen gegen Korruption, für ein Leben in Freiheit und Würde, für mehr Mitbestimmung oder gar für das Ende eines Regimes. Straßenproteste und Demonstrationen in urbanen Zentren – zumeist Hauptstädten – bewegen in den letzten Jahren Kontinente übergreifend zahlreiche Länder. Dieser Beitrag skizziert, warum Städte in diesem Kontext eine besondere Relevanz und Dynamik als Konfliktraum aufweisen. Anhand der drei von Gene Sharp eingeführten Kategorien gewaltfreien Widerstandes wird erläutert, wie die Stadt die gewaltfreie Konfliktaustragung begünstigt.

Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking und an der Nikolaikirche in Leipzig 1989, Proteste auf dem Platz der Befreiung in Kairo 2011, dem Taksim-Platz in Istanbul 2013 oder dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew 2013/14 wurden zu Symbolen eines globalen Phänomens: des gewaltfreien Widerstandes gegen korrupte und autokratische Regime. An sich ist weder das Phänomen des gewaltfreien Widerstandes noch seine symbiotische Beziehung mit Städten neu. Bereits die römischen Plebejer sollen ab dem Jahr 494 v.Chr. mehrfach Gewaltfreiheit als Methode eingesetzt haben: Sie streikten für mehr Rechte, indem sie die Stadt so lange verließen, bis ihre Forderungen erfüllt waren. Geschichten gewaltfreien Widerstandes liegen jedoch allzu oft unter den Erinnerungen an »glorreiche« Tode, Märtyrer und romantisierte gewaltsame Aufstände begraben. Trotz eines Aufschwungs, den die Forschung nach den überwiegend friedlichen Transitionen in Osteuropa und erneut im Zuge des »Arabischen Frühlings« erfährt, steht eine systematische Analyse des Verhältnisses von urbanem Raum und friedlichem Widerstand bislang aus.

Die Stadt als Konfliktraum

Seit 2007 leben nach Angaben der Vereinten Nationen erstmals in der Geschichte der Menschheit weltweit mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Was heute bereits global gilt, wird um 2050 auch auf die bislang vergleichsweise wenig urbanisierten Kontinente Asien und Afrika zutreffen. Dann werden in Asien 60% und auf dem afrikanischen Kontinent 56% der Bevölkerung in Städten leben. Weltweit wird der Anteil der urbanen Bevölkerung im Jahre 2050 66% betragen (UN DESA 2014, S.7 und S.20f.).

Damit wird auch die besondere Bedeutung städtischer Ballungsgebiete als Konflikträume wachsen. Städte wiesen von Anbeginn an ambivalente Gesichter auf und sind in mannigfaltiger Weise mit Konflikten und Gewalt verbunden. Zunächst erwuchsen sie selbst aus einer konfliktreichen und oft gewaltsamen Geschichte, in der die Landbevölkerung, von ihren Äckern vertrieben, in Massen in die Städte zog. Als dicht besiedelte Räume und Herbergen für eine kulturell meist sehr heterogene Bevölkerung entwickelten sich die Städter häufig zum Hort sozialer Konflikte und gewaltsamer Revolutionen. Als symbolische Zentren der Macht, als industrielle Produktionsstandorte oder als Verkehrsknotenpunkte wurden sie darüber hinaus häufig zu Schlachtfeldern in Kriegen und Bürgerkriegen. Zugleich gelten Städte als Orte der technologischen und sozialen Innovation, als Zentren kultureller Zivilisation und als Ursprung der Demokratie. Die Stadt lässt sich daher als Raum beständiger Aushandlungen und Konflikte beschreiben.

Außerdem ist sie eine Ansiedlung mit baulich symbolischem Zentrum und einer klaren Arbeitsteilung. Beide Aspekte sind für friedlichen Widerstand zentral. Als symbolträchtige Orte sind Städte Sitze von Regierungen und Verwaltungsapparaten; ihre Architektur spiegelt in Form von Plätzen, Verwaltungsgebäuden und Monumenten die gegenwärtigen Machtverhältnisse wider und legitimiert diese ihrerseits. Die in Städten herrschende Arbeitsteilung führt zu einer sozialen Differenzierung der Gesellschaft und zu einer erhöhten Interdependenz zwischen allen sozialen Gruppen: Wer selbst keine Nahrungsmittel produziert, ist auf den lokalen Markt angewiesen; wer in der Stadt lebt, braucht städtische Versorgungsbetriebe, Krankenhäuser, Infrastruktur. All dies erhöht die Notwendigkeit für Kooperation und freiwillige Gefolgschaft und eröffnet Räume für die Verweigerung eben jener.

Wo Macht ist, da ist auch Widerstand

Bis heute gibt es trotz vieler historischer Beispiele keinen einheitlichen Begriff für das Phänomen des gewaltfreien Widerstandes. Definitionsversuche beziehen sich (wie auch die Begriffe selbst) häufig auf die Negation von Gewalt. Dies ist problematisch, weil dadurch suggeriert wird, Gewalt sei das eigentliche Phänomen und gewaltfreier Widerstand nur die Abwesenheit derselben.

Allen Definitionsversuchen liegt die Annahme zugrunde, die Macht eines Herrschers oder einer Regierung sei kein unveränderliches Quantum, sondern auf die Zustimmung, den aktiven Gehorsam und die Mitwirkung der Bevölkerung angewiesen (Sharp 1973, S.9). Folglich zielen Akte des gewaltfreien Widerstandes auf den Entzug von Gehorsam ab. Seit Gandhi gilt ziviler Ungehorsam als kollektives Mittel in politischen Konflikten. Er grenzt sich von Gewalt ebenso ab wie von der herkömmlichen, legalen Politik, die besonders in autoritären Staaten nur begrenzte Möglichkeiten der Partizipation zulässt. Gewaltfreier Widerstand ist in diesem Sinne eine überlegt eingesetzte, nicht institutionelle Praxis, die bewusst gesellschaftliche Regeln verletzt und sich überwiegend in rechtlichen Graubereichen, zuweilen sogar in der Illegalität, abspielt. Er verzichtet bewusst auf den Einsatz physischer Gewalt gegen die politischen Gegner (Chenoweth and Cunningham 2013, S.273). Die Entscheidung für gewaltfreien Widerstand kann strategisch motiviert oder das Ergebnis prinzipieller Überzeugung sein.

Gewaltfreier Widerstand ist ein Massenphänomen, d.h. größere Menschenmassen müssen mobilisiert und dazu gebracht werden, einem Regime über längere Zeit die Gefolgschaft zu verweigern mit dem Ziel, einen Regierungs- oder Politikwechsel zu erzwingen. Partizipation wird damit zu einem Schlüssel des Erfolgs gewaltfreier Bewegungen (Chenoweth and Ulfelder 2015, S.3). Neben dem für einen breiten Teil der Bevölkerung wichtigen moralischen Faktor verweisen VertreterInnen gewaltfreien Widerstandes oft auf dessen »strategische« Vorteile: Gewaltfreier Widerstand ist massentauglicher als gewaltsamer Widerstand, der eine besondere Ausbildung und Bewaffnung voraussetzt und hohe Anforderungen an die physische Fitness und die Risiko- oder Opferbereitschaft der Kämpfer stellt. Friedliche Widerstandsbewegungen sind daher in der Regel deutlich heterogener (Zunes 2011, S.402) und im Durchschnitt etwa viermal so groß wie gewaltsame Widerstandsgruppen (Chenoweth/Stephan 2011, S.32). Da Sicherheitskräfte und Bürokraten des bekämpften Regimes durch gewaltfreie Bewegungen nicht physisch bedroht werden, fällt es ihnen leichter, den Gehorsam zu verweigern und die Seite zu wechseln (Chenoweth/Ulfelder 2015, S.3). Dieser Punkt ist für den Erfolg gewaltfreier Bewegungen von Bedeutung, da es ihnen gelingen muss, das bekämpfte Regime empfindlich zu treffen, um erfolgreich zu sein. Dazu ist es erforderlich, eine möglichst große Anzahl von Personen und Netzwerken zu mobilisieren, die über Kapazitäten (Zugang zu Ressourcen, Herrschaftswissen, etc.) verfügen, durch deren Verlust die Existenz des Regimes ins Wanken gerät.

Gewaltfreier Widerstand und urbaner Raum

Viele der Mechanismen friedlichen Widerstandes können sich ausschließlich in städtischen Ballungsgebieten effektiv entfalten. Zum einen ist aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte hier die Mobilisierung einfacher; zum anderen werden Proteste in (Haupt-) Städten durch die dort vorherrschenden guten Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten und die besondere symbolische Bedeutung des Ortes in der Regel medial schnell »sichtbar«, sodass sie ohne Zeitverlust auch an anderen Orten im In- und Ausland Nachahmer finden können.

Eine vernetzte wirtschaftliche Struktur mit organisierter Arbeit und hoher Arbeitsteilung, wie sie in modernen Großstädten vorherrscht, erleichtert zudem die Ausbreitung von Protesten auf andere soziale Gruppen, wie Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbände, die ihrerseits ein hohes Mobilisierungspotenzial aufweisen.

Im Versuch, gewaltfreien Widerstand begrifflich zu fassen, teilte Gene Sharp mögliche Aktionsformen in drei Kategorien bzw. Eskalationsstufen ein: Protest und Überzeugung, Verweigerung sowie gewaltfreie Intervention (Sharp 1969). Während die erste Stufe eine Kommunikation zwischen zwei Konfliktparteien herstellt und einen gesellschaftlichen Dissens verdeutlicht, zielt die zweite Stufe darauf ab, durch Akte der Verweigerung nicht zu den zuvor aufgezeigten Missständen beizutragen. Die letzte Stufe der Eskalation besteht in der gewaltfreien Intervention, die so ausgelegt sein soll, dass sie nicht ihrerseits zu Missständen beiträgt, sondern solche möglichst unterbindet. Wir zeigen im Folgenden, welche zentrale Rolle der städtische Raum dabei jeweils spielt.

Protest und Überzeugung: Symbolische Politik

Bei Protest und Überzeugung handelt es sich überwiegend um symbolische Gesten, um den politischen Gegner, die öffentliche Meinung oder die Opposition zu beeinflussen. Sharp zählt hierzu Protesttechniken, wie öffentliche Reden und Briefe, Karikaturen, Protestmärsche und Demonstrationen mit Zurschaustellung von Flaggen, Transparenten und Symbolen, die genau genommen keine Akte des Widerstandes, sondern der Kommunikation sind. Sie dienen dazu, auf Missstände hinzuweisen, Forderungen zu formulieren und Aufmerksamkeit zu schaffen, um Anhänger für weitere Aktionen zu mobilisieren. Sichtbarkeit ist in dieser Phase die wichtigste Bedingung. Forderungen müssen gehört, mobilisierte Menschenmassen müssen gesehen werden.

Die Stadt bietet hierfür den Raum und das Forum. Mit ihren dichten Kommunikationskanälen befördert sie einerseits die Sichtbarkeit von Protestbewegungen, erleichtert aber auch die Organisation und Mobilisierung der Opposition. In ländlichen, weit abgelegenen Gebieten mit eingeschränktem Zugang zu Internet und Mobilfunk und geringer Bevölkerungsdichte sowie wenig Präsenz internationaler Journalisten ist es kaum möglich, diese Sichtbarkeit herzustellen.

Verweigerung

Formen der Verweigerung gehen in der Regel über rein symbolische Gesten hinaus. Sharp unterteilt sie in soziale Verweigerung (wie etwa Boykott von und Rückzug aus sozialen Institutionen, Flucht in unzugängliche Gebiete oder den städtischen Untergrund), Boykotte (Bestreiken von Gütern und Leistungen), Streiks und politische Verweigerung (Boykott des politischen Systems durch Einstellen von Bürgerpflichten, wie Steuerzahlung, und Ablehnung des Wahlrechts). Auch für diese Aktionsformen gilt: je sichtbarer umso wirkungsvoller.

Eine besondere Bedeutung kommt dabei den ökonomischen Boykotten und Streiks zu. Ein illustratives Beispiel boten die iranischen Bazarhändler, die während der islamischen Revolution 1978/79 landesweit wochenlang mit der Schließung der Bazare gegen das Schah-Regime protestierten. Da der Bazar eine wichtige wirtschaftliche Säule des Iran ist, schwächte dieser Streik die finanzielle Kraft der Schah-Monarchie dramatisch. Während solcherart Verweigerungen in den Dörfern der Peripherie für ein Regime wegen ihrer marginalen Größe in der Regel zu verkraften sind, stellen sie im Zentrum nicht nur ökonomisch eine größere Herausforderung dar. Massenhafte Verweigerung von Gehorsam im Zentrum der Macht, wie etwa beim Generalstreik gegen den Kapp-Putsch in Deutschland 1918, symbolisiert für jedermann sichtbar, dass die Macht des Regimes nicht einmal mehr ausreicht, um die Gefolgschaft in der Hauptstadt zu gewährleisten, und zeigt damit eine Legitimitätskrise des Regimes an.

Gewaltfreie Intervention

Als direkteste Form des gewaltfreien Widerstandes ist die gewaltfreie Intervention die größte Herausforderung für ein bestehendes Regime. Hierzu zählen jene gezielten Aktionen von Bürgern, Staatsangestellten oder externen Akteuren, wie internationalen Organisationen oder anderen Staaten, die die Funktionsfähigkeit des Staates bedrohen bzw. seine Legitimität offen in Frage stellen. Die Bandbreite reicht von der Besetzung öffentlicher Räume und Plätze über die Etablierung alternativer ökonomischer Praktiken, wie Landnahme oder Schaffung neuer Märkte und Transportsysteme, bis hin zu politischen Interventionen, wie der gezielten Überlastung staatlicher Behörden oder der Errichtung paralleler Regierungen. Diese alternativen Praktiken sind an eine kritische Masse unzufriedener Menschen und den Austausch oppositioneller Ideen gebunden und richten sich u.a. direkt gegen die staatliche Infrastruktur, die zur Umsetzung einer bestimmten Politik notwendig ist. Daher entstehen sie vorrangig in städtischen Ballungsräumen bzw. den Hauptstädten.

Potenziale und Grenzen gewaltfreien Widerstandes

Nicht nur aus normativen Gründen ist Gewaltfreiheit der Gewalt vorzuziehen, auch ihre demokratisierende Langzeitwirkung spricht für friedliche Mittel des Widerstands. Denn die Revolte selbst führt zu einer Machtverteilung an viele statt an wenige einzelne, da sich große Massen und damit in der Regel breite Koalitionen aus unterschiedlichen Gruppen zu gemeinsamen Aktionen zusammenfinden. Die aus diesen Bewegungen hervorgehenden Institutionen und Gesellschaften sind daher pluralistischer und demokratischer als jene, die eine gewaltsame Entstehungsgeschichte aufweisen (Zunes 2011, S.402).

Allerdings gelingt es gewaltfreien Bewegungen oft nicht, ihr Mobilisierungspotenzial von urbanen Räumen zu entkoppeln, zu verbreitern und zu verstetigen. Die Bilanz der arabischen Proteste zeigt zudem, dass friedlicher Widerstand von gewaltsamen Akteuren vereinnahmt wird und zu gewaltsamem Konfliktaustrag und Krieg führen kann.

Eine weitere, ungewollte Facette gewaltfreien Widerstands zeigte sich auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Die Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen junger Frauen durch Dutzende in Gruppen auftretende Männer gehörten spätestens seit Januar 2011 zu den hässlichen Geschehnissen der dortigen Revolution. Die gewalt- und herrschaftsfreien Räume und Plätze, die sich die Protestbewegung erhoffte, konnten nicht aufrecht erhalten werden, sondern wurden von anderen Gruppen zu gewaltförmigen und kriminellen Zwecken ausgenutzt.

Die Proteste auf dem Kiewer Maidan machten zudem klar: Ein erheblicher Teil der friedlich Protestierenden verzichtete nur aus strategischen und nicht aus prinzipiellen Gründen auf Gewalt. Gewaltfreiheit bleibt damit an bestimmte situative Faktoren gebunden. Sind diese nicht gegeben, greifen vermeintlich gewaltfrei Protestierende zuweilen doch zu Gewalt, wie viele der ehemaligen Teilnehmer der Maidan-Proteste, die seither die militärischen Aktivitäten der ukrainischen Regierung in diversen ultra-nationalistischen Freiwilligenverbänden flankieren.

Das Potential friedlicher Bewegungen zeigt sich also vor allem dann, wenn größere Gruppen eine gesellschaftliche Transformation anstreben, ein konstruktives Programm zur Veränderung der Gesellschaft verfolgen – und vor allem aus Überzeugung auf gewaltsame Mittel verzichten.

Literatur

Erica Chenoweth and Maria J. Stephan (2011): Why Civil Resistance Works – The Strategic Logic of Nonviolent Conflict. New York: Columbia University Press.

Erica Chenoweth and Kathleen Gallagher Cunningham (2013): Understanding nonviolent resistance -An introduction. Journal of Peace Research 50(3), S.271-276.

Erica Chenoweth and Jay Ulfelder (2015): Can Structural Conditions Explain the Onset of Nonviolent Uprisings? Journal of Conflict Resolution, April, S.1-27.

Gene Sharp (1969): The Technique of Nonviolent Action. In: Adam Roberts (ed): Civilian resistance as a national defence – non-violent action against aggression. [New ed.]. Harmondsworth: Penguin (Pelican books), S.107-127.

Gene Sharp (1973): The Politics of Nonviolent Action – Part I: Power and Struggle. Boston: Porter Sargent Publishers.

United Nations Department of Economic and Social Affairs (UN DESA), Population Division (2014): World Urbanization Prospects. The 2014 Revision. Highlights.

Stephen Zunes (2011): Nonviolent Revolution in the Middle East. Peace Review – A Journal of Social Justice, 23(3), S.396-403.

Markus Bayer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt »Nonviolent Resistance and Democratic Consolidation« am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik der Universität Duisburg-Essen.
Dr. Janet Kursawe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin/Politikwissenschaftlerin (Friedens- und Konfliktforschung) am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) an der Universität Duisburg-Essen.

Spontan und gewaltsam?

Spontan und gewaltsam?

Riots als städtische Protestform

von Bettina Engels

Als Anfang 2008 weltweit die Nahrungsmittel- und Benzinpreise rasant stiegen, kam es in zahlreichen Städten, insbesondere in Afrika, zu Hungeraufständen und Demonstrationen gegen die hohen Lebenshaltungskosten. Burkina Faso ist hierfür ein Beispiel: Nach spontanen Riots in den größeren Städten des Landes griffen Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen das Thema auf und mobilisierten erfolgreich zu Streiks und anderen Protesten »gegen das teure Leben«. Riots erweisen sich als typische Proteste marginalisierter städtischer Bevölkerungsgruppen, die in etablierten Organisationen schwach vertreten sind.

Riots als spezifische Form des Protests marginalisierter sozialer Akteure treten besonders häufig in Städten auf. Sie wurden in den letzten Jahren intensiv diskutiert, etwa anlässlich der Riots in Großbritannien vom August 2011, in den französischen Banlieues im Oktober und November 2005 sowie in Stockholm 2013. Eine zentrale Kontroverse richtet sich auf die Frage, ob Riots als kollektives politisches Handeln zu verstehen sind oder ob sie potenziell kriminelle Akte ohne politische Ziele darstellen. Die Einstufung als »unpolitisch« oder »kriminell« delegitimiert Riots und legitimiert somit ein breites Spektrum repressiver und vermeintlich präventiver Maßnahmen. Riots als inhärent politisches Phänomen zu fassen betont hingegen ihre strukturellen Ursachen: ökonomische, politische und gesellschaftliche Prozesse, wie Marktliberalisierung, die Kommodifizierung sozialer Grundversorgung, Einschnitte im Bereich des Wohlfahrtsstaats und diskriminierende Praktiken von Verwaltung und Polizei.

In diesem Artikel argumentiere ich, dass Riots ein spezifisches Protestrepertoire marginalisierter sozialer Gruppen darstellen, die in Gewerkschaften, Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen schwach repräsentiert sind. Die Mobilisierung dieser »organisierten« oppositionellen Akteure auf der einen Seite und Riots auf der anderen Seite lassen sich dabei als komplementär verstehen. Ich illustriere dies am Beispiel der Hungeraufstände und gewerkschaftlichen Proteste gegen hohe Lebenshaltungskosten in Burkina Faso.

Die Debatte um Riots

Eine Sicht in der Debatte um Riots versteht diese als unpolitische, kriminelle Handlungen, insbesondere, wenn sie mit Plünderungen und physischer Gewalt einhergehen. Die Riots in London 2011 beispielsweise wurden teilweise als kriminell und explizit unpolitisch gerahmt (Lamble 2013). Auch die Riots in den französischen Banlieues in den 1990er Jahren sowie 2005 wurden als „städtische Gewalt“ und Teil eines „Dualismus von Stadt versus Banlieue“ konstruiert (Dikeç 2004, S.205). Über diese Konstruktion wurden repressive Politiken und Praktiken von Verwaltung und Sicherheitskräften legitimiert (beispielsweise die Ausweitung von Polizeibefugnissen, verdachtsunabhängige Kontrollen etc.).

Dem steht eine andere Perspektive auf Riots gegenüber, welche sie als explizit politische Phänomene beschreibt. Sie hebt die politischen Bedingungen und Kontexte hervor, aus denen heraus Riots entstehen: wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Strukturen, die bestimmte Gruppen systematisch ausschließen und marginalisieren. Riots werden als Reaktion auf soziale und wirtschaftliche Missstände verstanden, gelten dabei aber als unorganisiert. Diese Argumentationslinie entspricht einer marxistischen Perspektive, derzufolge Riots aus ungleichen ökonomischen und politischen Verhältnissen entstehen und auf sie reagieren; dabei wird jedoch betont, dass die berechtigte Wut und Frustration der an Riots Beteiligten von formellen Organisationen kanalisiert und organisiert werden müsse (Harvie and Milburn 2013, S.561). In der akademischen Debatte um Riots wurde diese Position dafür kritisiert, dass sie Politik als linearen Prozess verstünde (etwa Balibar 2007).

In Teilen der europäischen Linken hat der klassische marxistische Dualismus von Revolution und Riot – wobei Erstere als intentional und geplant, Letzterer als spontan und »unorganisiert« gilt – an Bedeutung verloren. Die dominante Stellung des weißen männlichen Proletariats als vermeintlich wichtigstes und womöglich einziges Subjekt sozialer Kämpfe wurde politisch unter anderem durch Studierenden-, Frauen-, queere und migrantische Bewegungen infrage gestellt, theoretisch durch feministische und poststrukturalistische Perspektiven.

Es handelt sich dabei keineswegs um eine neue Frage. Zu den ersten und einflussreichsten Autoren, die sich damit befassten, zählt etwa E.P. Thompson. In seiner »Moral Economy of the English Crowd« (1971) argumentierte er gegen eine Sicht auf Riots als vermeintlich unpolitisches Phänomen. Er zeigte, dass sich die Food Riots in Großbritannien im 18. Jahrhundert, anders als im Mainstream der Geschichtsschreibung dargestellt, auf konkrete Vorstellungen von Legitimität und Gerechtigkeit gründeten – der Export von Getreide in Zeiten von Hunger und Nahrungsmittelknappheit wurde als zutiefst ungerecht und moralisch unvertretbar gesehen –, die der Entwicklung kapitalistischer Märkte zu dieser Zeit entgegen standen. Thompson kritisierte, dass die Food Riots in behavioristischer Weise als von Emotionen und Instinkten getrieben beschrieben wurden. Mit dieser Darstellung ginge einher, den Riotern den Status als aktiv und politisch Handelnde abzusprechen (Thompson 1971, S.77).

Häufig werden Riots als durch zwei charakteristische Merkmale gekennzeichnet beschrieben: Spontaneität und physische Gewalt (Lupsha 1969). Spontaneität impliziert das Fehlen strategischer Planung und Organisation sowie die offene Ansprache von Adressat_innen, potenziellen Anhänger_innen, Unterstützer_innen und Verbündeten. Infolge dessen werden physische Gewalthandlungen, die mit Riots in Verbindung stehen, selten als taktisches Repertoire gefasst, sondern als Ausdruck von Emotionen und fehlender rationaler strategischer Planung (Gamson 1975). Die meisten Ansätze gehen allerdings von einem Mindestmaß an organisatorischer Struktur als notwendiger Bedingung für Protest aus. Die prominenteste Kritik an dieser konzeptuellen Verknüpfung von Bewegung und Organisation formulierten Frances Fox Piven und Richard Cloward:

„Die Betonung der bewußten Intention […] spiegelt die Verwechslung von Massenbewegungen mit formalisierten Organisationen, die in der Regel auf dem Höhepunkt der Bewegung auftauchen, wider – die Verwechslung zweier zwar ineinander verwobener, aber dennoch ganz verschiedener Phänomene. […] Die Gleichsetzung von Bewegung mit ihren Organisationen – die zudem voraussetzt, daß Proteste einen Führer, eine Satzung, ein legislatives Programm oder doch zumindest ein Banner haben müssen, bevor sie anerkannt werden – hat den Effekt, daß die Aufmerksamkeit von vielen Formen politischer Unruhe abgelenkt wird und diese per definitionem den verschwommenen Bereichen sozialer Probleme und abweichenden Verhaltens zugeordnet werden.“ (Piven and Cloward 1986 [1977], S.29-30).

Food Riots und Proteste »gegen das teure Leben« in Burkina Faso

Im Zuge des rasanten Anstiegs der Nahrungsmittel- und Benzinpreise protestierten 2008 in Dutzenden Städten weltweit – etwa in Kairo, Rabat, Mogadischu, Abidjan, Dakar, Nairobi, Port-au-Prince, Lima und Dhaka – Menschen mit Hungeraufständen, Demonstrationen und Streiks. Bei den Hungeraufständen handelte es sich meist um mehr oder weniger spontane, nicht angemeldete Demonstrationen. Vielerorts mobilisierten Gewerkschaften, Verbraucherverbände und Frauengruppen Tausende Menschen zu Demonstrationen, bei denen es teilweise zur Besetzung von Regierungsgebäuden oder zur Plünderung von Geschäften und Nahrungsmittellagern kam.

In Burkina Faso fanden Ende Februar 2008 innerhalb einer Woche in den meisten größeren Städten des Landes Hungeraufstände statt. Bei unangemeldeten bzw. nicht genehmigten Demonstrationen kam es zu umfangreichen Sachschäden an Tankstellen, öffentlichen und privaten Gebäuden. Bei Zusammenstößen zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften wurden zahlreiche Menschen verletzt und Hunderte festgenommen. Die Protagonist_innen waren größtenteils marginalisierte urbane Jugendliche; mehrheitlich junge Männer, die ohne regelmäßiges Einkommen im informellen Sektor ihr Überleben zu sichern versuchten.

Ende Februar 2008, am Tag der Hungeraufstände in der Hauptstadt Ouagadougou, versammelten sich die Gewerkschaftsspitzen. Sie kritisierten die von der Regierung angekündigten Maßnahmen als ungenügend und riefen andere zivilgesellschaftliche Organisationen zu einem Treffen am 6. März 2008 und zu einer zentralen Kundgebung in der Folgewoche auf. Am 12. März schlossen sich die großen Gewerkschaften mit Konsument_innen- und Berufsverbänden, Menschenrechtsorganisationen sowie Vereinigungen von Schüler_innen und Studierenden zur »Nationalen Koalition gegen das teure Leben, die Korruption, den Betrug, die Straflosigkeit und für die Freiheiten« (Coalition nationale de lutte contre la vie chère, la corruption, la fraude, l’impunité et pour les libertés, CCVC) zusammen.

Ab März 2008 war die CCVC, angeführt von den Gewerkschaften, federführend bei den Protesten gegen die hohen Lebenshaltungskosten. In der Koalition und ihren Mitgliedsorganisationen waren vor allem Mittelschichtsangehörige aus den Städten vertreten: Studierende, Schüler_innen weiterführender Schulen und abhängig Beschäftigte. Hingegen waren an den Food Riots zahlreiche Angehörige sozialer Gruppen beteiligt, die in den Gewerkschaften und den etablierten Bewegungsorganisationen schwach vertreten sind. Die Mobilisierung zu den Riots verlief in den informellen Netzwerken dieser Jugendlichen über persönlichen Kontakt und SMS, kaum über formale Organisationsstrukturen. Riots als typisches Protestrepertoire dieser Gruppen haben in den burkinischen Städten eine Tradition aus früheren Konflikten (Alexander & Pfaffe 2013; Engels 2015). Im Jahr 2006 kam es beispielsweise in Ouagadougou zu Riots, als die Regierung versuchte, eine Helmpflicht für Mopeds und Mofas durchzusetzen.

Die CCVC und ihre Mitgliedsorganisationen stellten die Riots als unkontrolliert und potenziell gewaltsam ihren eigenen Protestaktionen als friedlich, kontrolliert, gut organisiert und konform mit den Regularien des Versammlungsrechts gegenüber. In der Konstruktion sowohl der Gewerkschaften und Bewegungsorganisationen als auch ihrer staatlichen Gegenspieler (Regierung, Verwaltung, Sicherheitskräfte) besteht ein Dualismus von Marsch (marche) gegenüber Aufstand (émeute). Marsch meint eine geplante, dem Versammlungsrecht entsprechend angekündigte Demonstration, die von identifizierbaren Akteuren organisiert wird und ohne Probleme verläuft. Dabei sind mit Problemen vor allem Sachschäden und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstrant_innen gemeint. Demgegenüber werden Riots als spontane und unorganisierte Aktionen dargestellt, die potenziell mit Sachschäden verbunden sind (unabhängig davon, ob diese intendiert sind oder nicht). „Ein Riot ist es, wenn die Leute einfach rausgehen, um etwas kaputt zu machen“, erklärte ein Aktivist im Interview mit der Autorin, „eine Demonstration ist es, wenn es klare Ziele gibt.“

Die Gewerkschaften verweisen darauf, dass es zu den Aufständen, die mit einigen Sachschäden einhergingen, nicht gekommen wäre, wenn die Regierung sich nach früheren Protesten auf größere Zugeständnisse hinsichtlich Preiskontrollen und einer Erhöhung der Kaufkraft eingelassen hätte. Durch den Verweis auf die Riots wurden die Aktionen der Gewerkschaften und anderer Organisationen argumentativ aufgewertet – und zwar ebenso durch diese Organisationen selbst wie durch ihre staatlichen Gegenspieler. Die CCVC bezieht sich strategisch auf die Riots, um sich selbst als relevante Verhandlungspartnerin der Regierung zu positionieren. Bis 2008 sei die Regierung gegen sie gewesen, erklärte einer der führenden Aktivisten des Bündnisses im Interview. Nach den „spontanen Aufständen“ hätten die Vertreter des Staates verstanden, dass mit der CCVC die Proteste „unter Kontrolle [sind], und man weiß, wer die Verantwortlichen sind. Wenn wir demonstrieren, haben wir klare Forderungen“.

Im Anschluss an Herbert Haines (1984) lässt sich diese Strategie als „Flankeneffekt“ beschreiben. Haines analysiert, welche Folgen es für eine Bewegung hat, wenn sich Teile von ihr radikalisieren. Als negativen Flankeneffekt bezeichnet er, wenn infolge radikaler Aktionen die externe Unterstützung auch für die moderaten Flügel einer Bewegung schwindet. Demgegenüber ist ein positiver Flankeneffekt zu beobachten, wenn die Existenz radikaler Gruppen und ihre Aktivitäten die Verhandlungsposition der Moderaten stärken. Ein solcher Effekt kann eintreten, weil radikale Aktionen eine Krise verursachen, die zum Vorteil der Moderaten gelöst wird, oder weil radikale Gruppen eine Kontrastfolie bieten, gegenüber der die Forderungen und Strategien moderater Akteure diskursiv normalisiert und als „vernünftig“ dargestellt werden können (Haines 1984, S.32).

Letzteres ist bei den burkinischen Hungeraufständen und Protesten »gegen das teure Leben« der Fall. Die Hungeraufstände 2008 haben die Position der Gewerkschaften und anderer etablierter Organisationen im Machtkampf mit der Regierung verbessert. Der positive Flankeneffekt wird im burkinischen Beispiel nicht durch eine Radikalisierung innerhalb einer Bewegung hervorgerufen, sondern durch Riots – Aufstände von Angehörigen sozialer Gruppen, die in den entsprechenden Bewegungen und Organisationen wenig vertreten sind.

Insgesamt ist es der CCVC jedoch kaum gelungen, die große Gruppe der erwerbslosen Jugendlichen und im informellen Sektor Tätigen zu integrieren, die in den Riots eine zentrale Rolle einnahmen. Das Problem der Repräsentation und Organisierung solcher gesellschaftlich marginalisierter Gruppen ist linken Bewegungen und Gewerkschaften in Europa und Nordamerika vertraut; ihr Klientel sind ebenfalls die abhängig Beschäftigten, Studierenden und städtischen Mittelschichten, und auch sie sind kaum im subproletarischen Milieu, bei Wohnungslosen oder Illegalisierten verankert. Die Gewerkschaften in Burkina Faso sind sich dieses Problems sehr bewusst: „Auch deswegen haben wir die CCVC gegründet“, erklärte ein Verantwortlicher des Bündnisses.

Schlussbemerkung

Die Proteste gegen die hohen Lebenshaltungskosten in Burkina Faso sind ein Beispiel intensiver und erfolgreicher Mobilisierung durch ein breites Bündnis oppositioneller zivilgesellschaftlicher Gruppen. Sie sind aber auch ein Beispiel für die Ambivalenzen von Protest, insbesondere hinsichtlich der Frage von Repräsentation und Organisierung sowie des Verhältnisses von »organisiertem« und »unorganisiertem« kollektivem Handeln. Riots entziehen sich etablierten Mustern des Protests; in vielen Fällen verweigern Rioter entsprechende Interpretations- und Kommunikationsangebote, auch seitens linker Sympathisant_innen.

Im burkinischen Beispiel stellten die Riots eine Gelegenheit dar, welche die etablierten Protestakteure erfolgreich zur Mobilisierung nutzen konnten. Es gelang ihnen, über einen längeren Zeitraum hinweg ein hohes Maß an Mobilisierung aufrecht zu erhalten und die Regierung unter Druck zu setzen. Eine erfolgreiche Strategie war dabei die Konstruktion des Dualismus von Riots als unorganisiert, unkontrolliert und potenziell gewaltsam gegenüber den organisierten, kontrollierten und friedlichen Protesten der CCVC.

Eine solche Strategie muss nicht notwendigerweise auf der Annahme beruhen, dass jegliches politisches Handeln kollektiv und intentional, organisiert und kontrolliert ist sowie identifizierbare Akteure und offen formulierte Ziele und Forderungen aufweist. Die Food Riots von 2008 bestätigen vielmehr, was E.P. Thompson für jene feststellt, die mehr als 200 Jahre zuvor stattfanden: dass sie nicht notwendigerweise eines hohen Grads an Organisierung bedürfen. Riots und der organisierte Protest oppositioneller Organisationen stellen zwei Seiten derselben Medaille dar: unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Protestrepertoires, die sich gegen das gleiche strukturelle Problem wenden.

Literatur

Peter Alexander und Peter Pfaffe (2013): Social Relationships to the Means and Ends of Protest in South Africa’s Ongoing Rebellion of the Poor: The Balfour Insurrections. Social Movement Studies, 13(2), S.204-221.

Etienne Balibar (2007): Uprisings in the Banlieues. Constellations, 14(1), S.47-71.

Mustafa Dikeç (2004): Voices into noises – Ideological determination of unarticulated justice movements. Space andd Polity, 8(2), S.191-208.

Bettina Engels (2015): Different means of protest, same causes – Popular struggles in Burkina Faso. Review of African Political Economy, 42(143), S.92-106

William A. Gamson (1975): The Strategy of Social Protest. Homewood, IL: Dorsey.

Herbert H. Haines (1984): Black Radicalization and the Funding on Civil Rights – 1957-1970. Social Problems,(32), S.31-41.

David Harvie und Keir Milburn (2013): The Moral Economy of the English Crowd in the Twenty-First Century. The South Atlantic Quarterly, 112(3), S.559-567.

Sara Lamble (2013): The Quiet Dangers of Civilized Rage – Surveying the Punitive Aftermath of England’s 2011 Riots. The South Atlantic Quarterly, 112(3), S.577-585.

Peter A. Lupsha (1969): On Theories of Urban Violence. Urban Affairs Review, (4), S.273-296.

Frances Fox Piven and Richard A. Cloward (1986 [1977]): Aufstand der Armen. Frankfurt am Main: suhrkamp.

Edward Palmer Thompson (1971): The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century. Past and Present, 50, S.76-136.

Bettina Engels ist Juniorprofessorin für Empirische Konfliktforschung mit Schwerpunkt Subsahara-Afrika am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Gemeinsam mit Kristina Dietz leitet sie die Nachwuchsgruppe »Global Change – Local Conflicts?« (GLOCON; land-conflicts.net).

Gewaltfreiheit im Aktionskonsens

Gewaltfreiheit im Aktionskonsens

Dogma oder Handlungsmaxime?

von Renate Wanie

In den vorigen zwei Ausgaben von W&F entspann sich eine Debatte zwischen Vordenkern der Gewaltfreiheit über die Begriffe »Gewaltfreiheit« und «Gütekraft«. Sie verknüpften ihre Argumente mit der Frage, welcher Begriff das Konzept am besten transportiere und die Debatte um Gewalt und Gewaltfreiheit voranbringe. Die Autorin des vorliegenden Beitrags befasst sich nicht mit Begriffen sondern mit der Praxis, konkret: mit der Berücksichtigung – oder eben auch bewussten Nichtberücksichtigung – des Konzepts Gewaltfreiheit und seiner Ausprägungen in Aktionskonsensen aktueller Massenproteste. Sie verknüpft dies mit einem Plädoyer für das Konzept der Gewaltfreien Aktion.

Weltweit fanden in den letzten Jahren unter großer Medienaufmerksamkeit Massenproteste in Form der gewaltlosen Besetzung zentraler öffentlicher Plätze statt. Während der Revolution in Ägypten im Jahr 2011 setzten die Akteure dabei Formen der Gewaltfreien Aktion ein, wie Menschenketten in Alexandria, Sitzblockaden auf dem Tahrir-Platz oder Sternmärsche in Kairo. Auch die 2011 entstandene kapitalismuskritische Bewegung »Occupy«, an der sich zumeist junge AktivistInnen beteiligen, versteht sich als basisdemokratisch und gewaltfrei.

In Deutschland sprachen und sprechen sich ebenfalls viele Aktionskonsense eindeutig für Gewaltfreiheit aus: »Resist the war« (gegen den Irakkrieg 2003), »Gen-Dreck weg! « (Initiative gegen genmanipulierte Feldfrüchte), »x-tausendmal quer« (Blockaden gegen Castor-Transporte), »Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21« (Widerstand gegen das Bahnprojekt »S 21«) oder Netzwerk ZUGABe (Ziviler Ungehorsam, Gewaltfreie Aktion, Bewegung«). Das internationale Bündnis »NATO ZU« berief sich 2009 in Straßburg für seine Aktionen explizit auf das Konzept der Gewaltfreien Aktion. Dies galt auch für die musikalische Baggerblockade »Andante an der Kante« der Musik- und Aktionsgruppe »Lebenslaute« am rheinischen Braunkohlebergbau im August 2015.

Zu einer Verschiebung in Richtung eines nur taktischen Ansatzes bei der Planung von Aktionen in den sozialen Bewegungen kam es jedoch im Rahmen der Aktionsvorbereitungen vor dem Weltwirtschaftsgipfel der G8-Staaten in Heiligendamm 2007. Dazu zwei Thesen:

  • Die seit Heiligendamm verbreitete Anwendung des Begriffs »Ziviler Ungehorsam« als taktischen Ansatz reduziert das Konzept des zivilen Ungehorsams, das auf den Aufsatz »Resistance to Civil Government« von Henry David Thoreau (1849) zurückgeht, auf eine bloße Aktionsform. Das gesellschaftsverändernde Potenzial des Konzepts, wie es in den Theorien des Zivilen Ungehorsams entwickelt wurde, wird im taktischen Ansatz nicht genutzt, ja sogar unterlaufen.
  • Seit Heiligendamm ist es gängig geworden, auf Gewaltfreiheit als Teil des Aktionskonsenses zu verzichten. So hilfreich es auf den ersten Blick erscheint, mit der Absage an die Gewaltfreiheit möglicherweise größere Bündnisse schließen zu können, so problematisch ist es, wenn zugleich die komplexen Möglichkeiten sozialer Lernprozesse, wie sie mit gewaltfrei agierenden sozialen Bewegungen verbunden sind, nicht mehr thematisiert werden. Die Orientierung auf eine gewaltfreie Veränderung von Gesellschaft geht verloren, wenn z.B. die Eskalationsstufen Gewaltfreier Aktion nach Theodor Ebert (ders. 1968) ausgeschlossen werden.

Der neue Geist einer Protestkultur

In ihrer Auswertung der Proteste gegen den G8-Gipfel erklärten die Trainer und Aktivisten Marc Amann und Jonas (der Nachname ist nicht bekannt), das für den Widerstand gegründete TrainerInnen-Netzwerk »Trainings for G8« wolle zukünftig ohne »Dogmatismus« Aktionsunterstützung und Trainings anbieten. Als Beweggrund wurde genannt, dass es „innerhalb des (post-) autonomen Spektrums wenig bis keine Erfahrungen mit Aktionstrainings gab oder sogar eine große Ablehnung, u.a. weil sie mit Gewaltfreiheits-Dogmatismus verbunden wurden“. Für die postautonomen AktivistInnen stand jedoch fest, „dass für erfolgreiche Blockaden des G8-Gipfels in Heiligendamm Aktionstrainings unerlässlich sein würden“. Bis dahin seien „Aktionstrainings für Personen und Gruppen [nur, R.W] aus dem gewaltfreien Spektrum seit den 1980er Jahren ein fester Bestandteil von Aktionen und Kampagnen des Zivilem Ungehorsams“ gewesen (Marc Amann und Jonas 2008, S.62).

In den Aufrufen zu den G8-Protesten wurde die Vielfalt der Bewegungszusammenhänge, die spektrenübergreifende Mischung der Kampagne »Block G8« betont. Als Träger der Aktion wurden linke und globalisierungskritische Gruppen, Gewerkschaften und gewaltfreie Aktions- und kirchliche Gruppen aufgezählt. Ein Jahr später hieß es dann in der Gründungserklärung des TrainerInnen-Netzwerkes »skills for action«: „Ob schwarz oder bunt, wir lieben die Grau-Zonen […] Eine undogmatische Haltung zu Zivilem Ungehorsam, der Versuch über Gräben zu springen und die Zeichen der Zeit zu erkennen, das ist die Klammer, die uns verbindet.“ (Marc Amann und Jonas 2008, S.63) Eine explizite Aussage zur Gewaltfreiheit wurde abgelehnt, denn „die Kampagne Block G8 [ist] gerade der Beleg dafür, wie viel Kreativität und Entschlossenheit freigesetzt werden können, wenn die lähmenden Debatten um Gewalt und Gewaltfreiheit beiseite geschoben werden und AktivistInnen aus verschiedenen Spektren anfangen, praktisch zusammenzuarbeiten“ (Christoph Kleine 2008, S.40).

So haben sich in der Folge von Heiligendamm seit 2007 die Vorbereitung und Durchführung von Massen- oder Großaktionen verändert: Der Bezug auf Gewaltfreiheit fehlt seitdem häufig in Bündnissen der traditionellen Friedensbewegung mit Gruppen aus der Antikriegsbewegung, z.B. der »Interventionistischen Linken« (IL). Gewaltfreiheit wird als ideologisch aufgeladen problematisiert und nicht mehr in Bündnisaufrufe aufgenommen. Aktionen Zivilen Ungehorsams werden rein taktisch eingesetzt und legitimiert „als berechtigter Regelbruch“ (Martin Kaul 2012).

Gängige Aktionskonsense

Das Ziel vieler Aktionskonsense seit 2007 ist eine Bündnispolitik in einem möglichst breiten Spektrum – von der gewaltfreien Friedensbewegung bis hin zu linksradikalen Gruppierungen. Ein Vergleich mehrerer Aktionskonsense, z.B. »Block G8« 2007, der Proteste gegen die Petersberg-II-Konferenz in Bonn 2011, »Castor? Schottern!« 2010, »Dresden Nazifrei« 2011 und »Ende Gelände! Kohlebagger stoppen, Klima schützen« im rheinischen Braunkohlerevier im August 2015 macht die wesentlichen Aspekte deutlich:

  • Für wichtig erachtet wird neben der Vielfalt und Entschlossenheit „die Vermeidung von offensiven Bekenntnissen in der »Gewaltfrage«“ (Erklärung der Kampagne »Block 8« in Christoph Kleine 2008, S.6).
  • Für die Akzeptanz des Konzeptes von »Block G8« beispielsweise war es „zudem entscheidend, ein bewusst und betont solidarisches Verhältnis auch zu anderen Blockadekonzepten, wie [sie] etwa Materialblockaden oder aktive Gegenwehr gegen Polizeiangriffe beinhalteten, zu pflegen“ (Christoph Kleine 2008, S.40). Es wird keine öffentliche Kritik an gewaltvollen Aktionen anderer Gruppen formuliert.
  • Aktuell sei hier der Aktionskonsens von »Ende Gelände!« 2015 genannt: „Wir werden mit unseren Körpern blockieren, wir werden dabei keine Infrastruktur beschädigen. Die Sicherheit der Aktivist_innen sowie die der Arbeiter_innen hat oberste Priorität.“ (ende-gelände.org) Von Gewaltfreiheit ist hier nicht die Rede.

Tendenzen bei Aktionstrainings

Allein der Wunsch, gewaltfrei handeln zu wollen, reicht nicht aus. Gewaltfreies Handeln will geübt sein (Renate Wanie 2012b). Seit den 1970er/80er Jahren werden unterschiedliche Formen gewaltfreier Trainings praktiziert und traditionelle Aktionstrainings verändert. Zur Zeit sind Kurztrainings zur Vorbereitung von Massenblockaden, Stunden- und Tagestrainings, Aktionstrainings ohne konkrete Aktionsplanung (z.B. im S-21-Widerstand), (kurze) Train-the-Trainers-Ausbildungen gefragt. Eingeübt werden vor allem Sitzblockaden und das »Sich-Wegtragen-Lassen«, zunehmend das »Durchfließen« von Polizeiketten.

Im postautonomen Spektrum wendete sich nach den Erfahrungen mit dem Massenprotest in Heiligendamm die anfängliche Ablehnung von Aktionstrainings in die Erkenntnis, „[k]ollektive Handlungsfähigkeit wird sich nicht von alleine verbreiten oder nur theoretisch herbeireden lassen. […] Die G8-Mobilisierung hat gezeigt, wie wertvoll Aktionstrainings sind. In Zukunft wird es darauf ankommen, Aktionstrainings verstärkt auszubauen und auf unterschiedliche Situationen anzuwenden.“ (Amann 2008, S.63) Mit der Gründung des Trainingskollektivs »skills for action« wurde dieses Ziel umgesetzt. Im Unterschied zu den traditionellen Trainings in Gewaltfreier Aktion stehen Einheiten zur Auseinandersetzung mit und Einübung von aktiver Gewaltfreiheit, wie z.B. die Dialogbereitschaft mit dem politischen Gegner, nicht mehr auf dem Programm.

Gewaltfreiheit – harmlos, spaltend?

Im postautonomen Spektrum ist der Vorwurf verbreitet, mit der Kritik an der »Gewalt aus den eigenen Reihen« und dem Insistieren auf Gewaltfreiheit würde die Spaltung der Bewegung betrieben. Dem ist entgegenzuhalten, dass Steinewerfen die Friedens- und Antikriegsbewegung spaltet, ihre Glaubwürdigkeit untergräbt und Provokateuren der Polizei den Boden für ihr friedloses Handwerk bereitet – wie es in Straßburg 2009 geschah (Renate Wanie 2011).

Durch einen gewalttätigen, spektakulären Schlagabtausch wird Gewalt in der öffentlichen Berichterstattung zum dominanten Thema, verdeckt das eigentliche politische Anliegen und verschreckt die Bevölkerung anstatt sie zu gewinnen. Die Anwendung von Gewalt trägt überdies autoritären Charakter, denn der eigene Standpunkt wird verabsolutiert. Soziale Lernprozesse bei den AktivistInnen und in der Gesellschaft werden blockiert.

Was also soll man tun – breite Bündnisse anstreben, um beim Massenprotest im »solidarischen Miteinander« der herrschenden Politik zu widerstehen, oder in zwei räumlich getrennten Protestgruppen auftreten, die eine in einer dezidiert gewaltfreien und die andere in einer taktisch konzipierten Aktion?

Ziviler Ungehorsam und Gewaltfreie Aktion

Nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm konstatierte Christoph Kleine, bei künftigen Aktionen sollte es nicht um die radikalste aller Aktionsformen gehen, sondern um diejenige, „die am besten geeignet ist, mit vielen Menschen gemeinsam einen bewussten Schritt vom Protest zum Widerstand zu gehen“. Dazu gehörten kollektive Selbstermächtigung und der „berechtigte Regelübertritt“ durch Zivilen Ungehorsam, z.B. mit Sitzblockaden. Darin spiegele sich, „dass der Kapitalismus nicht im Rahmen der Spielregeln des bürgerlichen Staates“ zu überwinden sei, sondern nur durch den Aufbau einer gesellschaftlichen Gegenmacht. Diese theoretische Erkenntnis verfestige sich in der Praxis „in der gemeinsamen, grenzüberschreitenden Aktion“ (Kleine 2008, S.40).

Doch kann mit spektakulären Einzelaktionen alleine überhaupt gesellschaftliche Veränderung erreicht werden? Bekommt der Zivile Ungehorsam ohne Einbindung in ein Konzept bzw. eine Kampagne nicht einen inflationären und damit beliebigen Charakter? Taktische, möglichst radikale Aktionsformen, wie der »legitime Regelbruch« der Massenblockade, führen selbst wiederholt eingesetzt nicht unmittelbar zu sozialer oder gesellschaftlicher Veränderung. Ziviler Ungehorsam ist vielmehr nach gewaltfreiem Verständnis gerade dann legitim und wirksam, wenn zur Abwendung des Unrechts bereits eine Vielzahl eskalierender Aktionsformen angewendet worden sind.

Gewaltfreie AktivistInnen greifen aktiv in gesellschaftliche Konflikte ein. Dass sie auf Gewalt verzichten, bedeutet keineswegs, dass sie keine Macht- bzw. Druckmittel einsetzen. Sie artikulieren nicht nur Protest, sondern greifen kämpferisch und direkt ins bestehende gesellschaftliche System ein. Beispielsweise können gut vorbereitete Boykotts starke Mittel sein, um legitime menschenrechtliche oder ökologische Interessen durchzusetzen. Ein Beispiel war der Umsatzrückgang bei der Ölfirma Shell nach Boykottaufrufen, die sich 1995 gegen die Versenkung der Ölplattform »Brent Spar« richteten.

Im Unterschied zum taktischen Verständnis von Zivilem Ungehorsam bietet das Konzept der Gewaltfreien Aktion eine deutlich breite Palette sozialen Drucks an. Der Konflikt- und Friedensforscher Theodor Ebert unterscheidet Formen Gewaltfreier Aktion, auf drei verschiedenen Eskalationsstufen – je nach Analyse der politischen Situation, der Zielsetzung und der zu erwartenden Wirkungsweise. Demonstrationen z.B. liegen als Protestform auf der untersten Eskalationsstufe, Boykotts – eine Form legaler Nichtzusammenarbeit – auf der zweiten und Blockaden auf der höchsten. So bieten sich unterschiedliche Möglichkeiten, dem politischen Gegner öffentlich die Legitimation für sein Handeln zu entziehen und Druck aufzubauen. Gewaltfreie Aktionen beinhalten zugleich immer auch einen konstruktiven Gegenentwurf zum kritisierten gesellschaftlichen Zustand. „Gewaltfreie Aktionen sollten zugleich Lernfelder für weitergehende Gesellschaftsveränderung sein.“ (Wolfgang Hertle 2011)

Die Beweggründe zur Teilnahme an einer Gewaltfreien Aktion sind unterschiedlich, sie bewegen sich zwischen gewaltfrei-anarchistisch, religiös, humanistisch und pragmatisch. Es geht darum, die gewaltfreie Philosophie klar und durchaus überzeugend zu vermitteln, jedoch ohne Dogmatismus. Im Zentrum steht dabei nicht die Frage nach der Gewalt, sondern wie gesellschaftliche Veränderung wirksam wird. Gewaltfreiheit ist gleichzeitig politische Strategie und Handlungsmaxime in politischen Auseinandersetzungen.

Literaturverzeichnis

Marc Amann und Jonas (2008): Aktionstrainings – Selbstermächtigung durch Üben. In: Christoph Kleine (Hrsg.): Chef, es sind zu viele … – Die Block-G8-Broschüre. Selbstverlag.

Theodor Ebert (1968): Gewaltfreier Aufstand – Alternative zum Bürgerkrieg. Freiburg i.Br.: Waldkircher Verlagsgesellschaft, S.37.

Wolfgang Hertle (2011): Stärke durch Vielfalt – Einheit durch Klarheit. Rückblick auf Zivilen Ungehorsam und gewaltfreien Widerstand in Deutschland und Frankreich seit den 1970er Jahren und Schlussfolgerungen für die Zukunft. In: Reiner Steinweg und Ulrike Laubenthal (Hrsg.): Gewaltfreie Aktion – Erfahrungen und Analyse. Frankfurt: Brandes und Apsel, S.266.

Kampagne Block G8 (Hrsg.) (2008): Chef, es sind zu viele … – Die Block-G8-Broschüre. Selbstverlag.

Martin Kaul: „Trittbrettfahrer!“ – „Formfetischisten!“. Streitgespräch Ziviler Ungehorsam mit Tadzio Müller und Felix Kolb. tageszeitung, 26.1.2012, S.3.

Christoph Kleine (2008): Jenseits der Gewaltdebatte. In: Kampagne Block G9, op.cit., S.40.

Skills for Action – Netzwerk bewegungsorientierter Aktions-TrainerInnen: Über uns. skills-for-action.org.

Henry Thoreau (1973): Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays. Zürich: Diogenes.

Renate Wanie (2011): Neun Thesen für die Weiterarbeit nach Straßburg. In: Reiner Steinweg und Ulrike Laubenthal (Hrsg.): Gewaltfreie Aktion – Erfahrungen und Analyse. Frankfurt: Brandes und Apsel, S.254.

Renate Wanie (2012a): Ein »neuer Geist in der Protestkultur« und sein Verhältnis zur Gewaltfreien Aktion. In: Christine Schweitzer (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam und Gewaltfreie Aktionen in den Bewegungen. Berlin: AphorismA, S.14-22.

Renate Wanie (2012b): Gewaltfreie Aktion – ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse verändern. Zur Grundlage und Vorbereitung Gewaltfreier Aktion, nicht nur in Ägypten. In: Österreichisches Studienzentrum für Frieden- und Konfliktlösung (Hrsg.): Zeitenwende im arabischen Raum. Welche Antwort findet Europa? S.39.

Renate Wanie ist freie Mitarbeiterin in der »Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden«, Bildungsreferentin und Trainerin für Gewaltfreie Aktion, Vorstandsmitglied im Bund für Soziale Verteidigung und Co-Sprecherin der Kooperation für den Frieden.

Veränderungen? Nur von unten!

Veränderungen? Nur von unten!

von Paul Schäfer

Um es vorab zu sagen: Erfreulich ist das Ergebnis der Bundestagswahl 2013 nicht. Die Menschen in den besonders gebeutelten »Krisenländern«, wie Spanien, Portugal, Griechenland, dürften das Resultat eher als bedrohlich empfinden. Ein Ende der ihnen auferlegten Verarmungspolitik ist nicht in Sicht.

Dasselbe gilt aber auch für die hierzulande von Hartz IV, prekärer Beschäftigung und Hungerlöhnen Betroffenen sowie die von Altersarmut Bedrohten. Auch für sie ist eine Wende in ihren Lebensbedingungen nicht zu erwarten.

Die etwas freundlichere Lesart besagt: Schwarz/Gelb ist abgewählt, Frau Merkel muss sich einen anderen Koalitionspartner suchen. Wäre das nicht das kleinere Übel?

Dass Angela Merkel weiter regieren wird, scheint nach ihrem deutlichen Sieg außer Frage. Aber mit wem? Dies ist bei Abfassung dieser Zeilen noch offen. Aber ob es zu einer Koalition mit den Sozialdemokraten kommt (die wahrscheinlichere Variante) oder zur Premiere von Schwarz-Grün auf Bundesebene, die Prognose scheint nicht schwierig: Eine grundlegende Veränderung der Politik wird es nicht geben.

In der Außenpolitik gilt ohnehin der Grundsatz größtmöglicher Kontinuität. Dazu gleich mehr. Aber auch in den anderen Politikfeldern wird es bestenfalls zu moderaten Neujustierungen kommen. Es ist damit wenig wahrscheinlich, dass die tiefgreifenden Probleme, mit denen wir es zu tun haben, wirklich angegangen werden. Die Merkel-Regierung, aber auch Teile der Medien, haben sich erdenkliche Mühe gegeben, im Wahlkampf diese Themen notorisch unterzupflügen. Es galt die Devise: „Deutschland geht es gut. Das soll so bleiben.“ Die möglichen Partner der Kanzlerin bleiben derweil in Debatten über Personal und parteitaktische Vorteile stecken. Ein Politikwechsel scheint nicht angesagt.

Ein paar Kompromisse in der künftigen Regierungspolitik – ob schwarz/rot oder schwarz/grün – deuten sich an:

Ein stärkeres Engagement für die Finanztransaktionssteuer ist zu erwarten, eine energischere Regulierung der Finanzmärkte eher nicht. Die Situation im Euro-Raum bleibt fragil. Gesagt wird: CDU/CSU und SPD hätten die Krise 2008/2009 schon mal gemeistert, darauf könne man bauen. Das könnte sich als trügerisch erweisen. Und: Eine nochmalige Mobilisierung der öffentlichen Ressourcen für Banken- und Euro-Rettung wird so nicht gehen.

Die moderate Anhebung des Spitzensteuersatzes scheint möglich, um den Eindruck gerechterer Politik zu erwecken, eine konsequentere Umverteilungspolitik ist nicht zu erwarten. Damit ist wiederum in Frage gestellt, ob die eigentlich unausweichlichen Zukunftsinvestitionen getätigt werden können. Alle waren sich im Wahlkampf einig: Bei Bildung und Wissenschaft liegt Deutschland gravierend zurück, in der öffentlichen Infrastruktur ist der Sanierungs- und Ausbaubedarf erheblich, Gesundheitsversorgung und Pflege sind notorisch Not leidend. Das konservative Lager verweist aber gerne auf die sprudelnden Steuereinnahmen der letzten zwei Jahre, die man einfach in die Zukunft fortschreiben möchte. Das dürfte sich als großer Irrtum erweisen. Vielmehr ist mit erheblichen Auseinandersetzungen um die Öffentlichen Haushalte zu rechnen.

Mehr soziale Gerechtigkeit in der Arbeitswelt und für die Älteren dürfte ein unerfülltes Desiderat bleiben. Zwar sind Schritte in Richtung gesetzlicher Mindestlohn und weiterer Begrenzung von Leiharbeit und Werkverträgen vorstellbar. Aber – und das hat der zurückliegende Wahlkampf sehr deutlich gemacht – für eine Mehrheit des Bundestages ist eine prinzipielle Revision der Hartz-Gesetze ebenso tabu wie die Aussetzung der Rente erst ab 67. Jeder vierte Beschäftigte arbeitet inzwischen im Bereich unterbezahlter, extrem unsicherer Verhältnisse, aus dem es, wie sozialwissenschaftliche Studien gezeigt haben, kaum ein Entrinnen gibt. Diese große Personengruppe bleibt stigmatisiert und von kultureller, gesellschaftlicher Teilhabe weitgehend ausgeschlossen. Die geringe Wahlbeteiligung in diesen Sektoren trägt inzwischen demokratiegefährdende Züge. Soll das so weitergehen? Und was geschieht endlich, um der um sich greifenden Altersarmut zu begegnen? Auch hier wird es nur voran gehen, wenn sich mehr Widerspruch in der Gesellschaft regt.

Bleibt noch eins: Die Energiewende darf nicht gebremst werden. Nach den neuesten bedrohlichen Veröffentlichungen des Weltklimarates muss im Gegenteil der Ausbau der erneuerbaren Energien zügig vorangetrieben werden. Der Hinauswurf der FDP aus dem Bundestag hat hier zumindest Schlimmeres verhütet, aber ob der Kern des Energie-Einspeisungsgesetzes – der Vorrang der erneuerbaren Energien – gesichert und konsequent durchbuchstabiert wird und ob die Privilegien der besonders energiefressenden Unternehmen endlich angetastet werden, das steht in den Sternen.

Kommen wir zur Außenpolitik. Im Rückblick hat man den Eindruck, dass die letzte Bundesregierung in ihrer Außenpolitik nach 2009 in hohem Maße durch die »Euro-Krise« absorbiert wurde. Die Wirkung dieser Politik war buchstäblich verheerend. Sie hat namentlich in Südeuropa die Massenarbeitslosigkeit explodieren lassen, soziokulturelle Errungenschaften, z.B. bei der Altersversorgung, zurückgedreht und die zentrifugalen Tendenzen in der Europäischen Union gestärkt. Ein solidarisches Europa sieht sehr anders aus – und es muss von unten erkämpft werden.

Die Euro-Fokussierung der Merkel-Regierung hatte Folgen für die übrige internationale Politik, die als ambivalent bezeichnet werden dürfen. Bei bestimmten Konflikten, wie Libyen und Syrien, hat man sich wohltuend zurückgehalten. Die Kehrseite davon: Die Bundesrepublik ist als mitgestaltender und in der EU vorwärtstreibender Akteur weitgehend ausgefallen. Ein wirksames Profil war nicht zu erkennen, weder innerhalb der Vereinten Nationen noch innerhalb der Gemeinsamen Außenpolitik der EU. Neue Beiträge zur Lösung des Atomstreits mit dem Iran? Fehlanzeige. Energische Vermittlungsbemühungen im Palästina-Konflikt? Fehlanzeige. Neue Vorstöße in der Abrüstungspolitik? Fehlanzeige. Der vorgesehene Truppenabzug aus Afghanistan war eine US-Initiative, der die Bundesregierung anfangs nur zögerlich folgte. Negativ fiel die Regierung auf durch ihre Bemühungen um immer mehr Waffenausfuhren. Vor allem die angekündigten Panzer-Geschäfte mit Saudi-Arabien und Katar wurden zum öffentlichen Ärgernis.

Was also wird sich ändern?

Beginnen wir mit Erfreulichem: Niebel ist weg. Das dürfte zum Aufatmen beim entwicklungspolitisch engagierten Teil der Belegschaft des BMZ führen und mehr noch bei den vielen Nichtregierungsorganisationen, die unter den Vorgaben des Reserveoffiziers zu leiden hatten. Vor allem aber: Die Pervertierung der Entwicklungspolitik zur Außenwirtschaftsförderung kann gestoppt werden.

Daher keimt Hoffnung auf, dass die neue Bundesregierung andere Akzente in der Entwicklungspolitik setzen könnte. Anhebung der öffentlichen Entwicklungsausgaben (ODA-Quote), mehr Beschränkungen der EU-Agrarsubventionen, aktivere Beiträge innerhalb der UN-Institutionen. Das scheint nicht ausgeschlossen, steht aber unter Finanzierungsvorbehalt, d.h. es ist von der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung abhängig.

Die Hoffnung besteht, dass der »Aktionsplan für Zivile Krisenprävention« wieder mehr Beachtung finden wird. Dabei geht es den zivilgesellschaftlichen Gruppen darum, den bisherigen Maßnahmenkatalog durch die Aufstellung von Leitlinien fortzuentwickeln. VENRO, die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und andere haben zugleich darauf gedrängt, dass sich eine neue Prioritätensetzung auch institutionell niederschlagen müsse, zum Beispiel durch die Schaffung eines Rates für Friedensförderung. Das hatte durchaus Widerhall in den Wahlprogrammen der Oppositionsparteien, aber werden solche Positionen ihren Niederschlag im Regierungshandeln finden? Wird der Aktionsplan zur kategorischen Richtschnur deutscher Außen- und Entwicklungspolitik? Wohl kaum. Die Fixierung auf militärische Beiträge zur »Krisenbewältigung« ist viel zu stark, als dass hier jähe Wendungen zu erwarten sind. Ohne außerparlamentarischen Druck ist auch nicht zu erwarten, dass die Militäreinsätze auf den Prüfstand gestellt werden und die Bundeswehr-Kontingente aus den verschiedenen Schauplätzen so rasch als möglich zurückgeholt werden.

Was indes möglich erscheint ist, dass die Einrichtungen der zivilen Konfliktbearbeitung und der Friedensforschung mit mehr Fördermitteln und mit etwas mehr politischer Beachtung rechnen dürfen. Das große Füllhorn wird sich allerdings nicht über sie ergießen.

Unilaterale Abrüstungsschritte wird es nicht geben. Ein Verzicht auf die Beschaffung bewaffneter Drohnen ist eher unwahrscheinlich.

Vom weiteren öffentlichen Druck wird abhängen, ob in puncto Rüstungsexporte zumindest mehr Transparenz hergestellt werden kann. Das wäre ja eine Voraussetzung, um die besonders schändlichen Waffenausfuhren in Spannungsgebiete oder an despotische Regime unterbinden zu können. SPD und Grüne haben sich dazu verpflichtet, dass das Parlament bei brisanten Entscheidungen einbezogen werden muss. Die Grünen haben darüber hinaus – wie auch die LINKE – ein Gesetz gefordert, das die »Politischen Grundsätze« der Bundesregierung aus dem Jahre 2000, die zu einer restriktiven Rüstungsexportpolitik führen sollten, verbindlich machen soll. Hier sind wir gespannt, was kommen wird. Fest steht aber: Ohne die Fortsetzung der »Aktion Aufschrei« wird es nicht gehen!

Noch einmal zum Finanzierungsvorbehalt: Viel wird davon abhängen, wie sich die längst nicht ausgestandene »Euro-Krise« weiter entwickeln wird.

Und da wir weit davon entfernt sind, dass die auslösenden Faktoren der »Euro-Krise« – Deregulierung der Finanzmärkte, Spekulationsblasen an den Börsen, Leistungsbilanzunterschiede zwischen den EU-Mitgliedsstaaten, fehlende gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik – endlich gemeinschaftlich angegangen werden, bleibt grundlegende Skepsis angebracht.

Nur sollte daraus keine abwartende Nörgel-Haltung erwachsen, sondern mehr Elan und mehr Leidenschaft für ein sozial gerechteres und friedlicheres Europa. Das erscheint gerade mit Blick auf die Europawahlen im nächsten Jahr besonders vordringlich.

Nachbemerkung: In diesem Text wird davon ausgegangen, dass eine »rot-rot-grüne« Regierungskonstellation eher nicht kommen wird. Dennoch hat die Debatte über eine solche Option längst begonnen. Warum eigentlich nicht, fragen sich immer mehr Menschen. Es müsste dann aber tatsächlich um einen Politikwechsel gehen. Die Diskussion darüber wird uns die nächsten Monate begleiten.

Paul Schäfer war 1983-1990 verantwortlicher Redakteur von W&F; 2005-2013 war er Mitglied des Bundestages für die Partei »Die LINKE«.

Friedensnobelpreis für Manning

Friedensnobelpreis für Manning

von Jürgen Nieth

Vor drei Jahren veröffentlichte WikiLeaks zahlreiche Dokumente über US-amerikanische Kriegsverbrechen im Irak und in Afghanistan. Sie erinnern sich vielleicht an die Videoaufnahmen des Beschusses und Todes irakischer ZivilistInnen und JournalistInnen durch einen amerikanischen Kampfhubschrauber am 12. Juli 2007 in Bagdad. Insgesamt handelt es sich um 450.000 Dokumente: Direktmeldungen von den Fronten im Irak und in Afghanistan. Sie belegen über 100.000 Todesfälle und alleine für 2010 über 300 Fälle von Folter durch ausländische Einheiten im Irak.

Als WikiLeaks-Informant wurde am 26. Mai 2010 der damals 22-jährige Obergefreite des US-Heeres Bradley Mannings inhaftiert. Es folgte für ihn eine monatelange Einzelhaft in einer 1,8 mal 2,4 Meter großen Zelle. 23 Stunden am Tag musste Mannings sich in diesem Loch aufhalten. Er hatte keinen Zugang zu Nachrichten und aktuellen Informationen; Bettlaken und Kissen gab es nicht. Wiederholt wurde ihm seine Kleidung abgenommen, so dass er nachts stundenlang nackt in seiner Zelle ausharren musste, um anschließend auch noch nackt vor seiner Zelle anzutreten. Bedingungen, die vom UN-Sonderberichterstatter für Folter, Juan E. Mendez, als „grausam, unmenschlich und demütigend“ bezeichnet wurden.

Während das US-Verteidigungsministerium Manning 2011 auf seinen Geisteszustand untersuchen ließ und in der Öffentlichkeit versucht wurde, ihn als einen labilen, mit seiner Identität ringenden (homosexuellen) jungen Menschen darzustellen, zeigt sich Manning selbst als politisch und humanitär engagiert. Ende Februar 2013 bekannte er sich in zehn von 22 Anklagepunkten für schuldig und gestand die Übergabe von Material an WikiLeaks. Gleichzeitig legte er dar, dass seine Entscheidung gereift sei, als er im Februar 2010 über die Festnahme von 15 Irakern recherchiert habe. Oppositionelle, die die Öffentlichkeit über Korruption in der irakischen Regierung informiert hatten, seien dafür als Terroristen verfolgt worden. Seine Vorgesetzten hätten ihn angewiesen, das Thema fallen zu lassen. Konrad Ege zitiert Manning (Freitag, 05.04.13): „Ich wusste, wenn ich fortfuhr, der Polizei in Bagdad dabei zu helfen, politische Gegner von Premierminister al-Maliki zu identifizieren, würden die eingesperrt und sehr wahrscheinlich von einer polizeilichen Spezialeinheit gefoltert. Man würde sie eine lange Zeit nicht mehr sehen – wenn überhaupt.“ Das habe ihn deprimiert, und er habe in den USA eine Debatte anstoßen wollen über „Counterinsurgency-Operationen, bei denen die Menschen in den betroffenen Gebieten ignoriert werden“.

Im Fall einer Verurteilung könnte das Strafmaß allein für die von ihm gestandenen Taten bis zu 20 Jahre Gefängnis betragen. Weiterhin offen ist aber noch der schwerste Anklagepunkt: Kollaboration mit dem Feind. Die Staatsanwaltschaft beharrt auf diesem Punkt und hat dafür lebenslänglich gefordert. Das Gericht kann über die Anträge der Staatsanwaltschaft hinausgehen und dafür die Todesstrafe verhängen.

Es ist unwahrscheinlich, dass Manning sich dieses Risikos nicht bewusst war. Er wusste, dass kein Staat ein Interesse daran hat, dass die Grausamkeit seiner Kriege öffentlich wird. Das gilt für die USA ganz besonders. Zu dicht ist noch in Erinnerung, dass die Bilder des Vietnamkrieges zum »Einsturz der Heimatfront« beitrugen. Und Manning war im Irak stationiert, während des Krieges, in dem die USA Journalisten nur »embedded« zuließen, zwecks Kontrolle der Berichterstattung.

Ein Verschweigen oder Herunterspielen von Kriegsfolgen gibt es aber auch bei uns. Wenn es um die Begründung von Kriegseinsätzen geht, sind die Titelseiten der Tageszeitungen voll. Nach dem offiziellen Kriegsende, das in den letzten 20 Jahren nie mit dem Ende bewaffneter Auseinandersetzungen übereinstimmte, wird das Schlachtfeld medial weitgehend verlassen. Wäre es anders, würden die Kriegsfolgen, die Zerstörungen, die zerrütteten und gespaltenen Gesellschaften, die Kriminalität und das Nachkriegselend sichtbar, dann wäre der nächste Militäreinsatz viel schwerer zu vermitteln.

Manning hat einen Teil der Kriegsfolgen sichtbar gemacht. Mit den von ihm veröffentlichten Menschenrechtsverletzungen, den Bildern von Folter und Mord, hat er der Kriegspropaganda die Arbeit erschwert. Vielleicht geht die Tatsache, dass die USA in ihrer Kriegsbereitschaft in Libyen und Mali etwas zurückhaltender als üblich waren, auch auf diese Veröffentlichungen zurück.

2011 und 2012 wurde er für sein »Whistleblowing« für den Friedensnobelpreis nominiert. Bekommen hat er ihn nicht, und es ist auch nicht anzunehmen, dass das Nobelpreiskomitee 2013 dazu den Mut aufbringt. Aber vielleicht ist angesichts der vielen fragwürdigen Entscheidungen in Oslo ja auch der Alternative Nobelpreis die höhere Auszeichnung. Manning hat ihn verdient.

Ihr Jürgen Nieth

Widerstand – Gewalt – Umbruch

Widerstand – Gewalt – Umbruch

AFK-Jahreskolloquium 2012, 22.-24. März 2012, in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Villigst, in Schwerte

von Marika Gereke

Das Jahreskolloquium 2012 »Widerstand – Gewalt – Umbruch« der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) wurde in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Villigst organisiert und fand in deren Räumlichkeiten in Schwerte statt. Gefördert wurde die Tagung durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF), die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und den NOMOS-Verlag.

Vor dem Hintergrund des so genannten »arabischen Frühlings« befasste sich das diesjährige AFK-Kolloquium mit dem Thema »Widerstand, Gewalt, Umbruch – Bedingungen gesellschaftlichen Wandels«. Das komplexe Wechselspiel von Widerstand, Gewalt und Umbruch wurde in den Panels und Roundtables aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven und mit unterschiedlichen analytischen Herangehensweisen in den Blick genommen. Dabei wurde anhand vielfältiger Fragestellungen den Bedingungen gesellschaftlichen Wandels nachgegangen, und es wurde die Bedeutung und Legitimität von Gewalt und Widerstand in politischen Umbrüchen reflektiert.

Breit gefächerte Themen, Perspektiven und Methoden

Inhaltlich wurde das Jahreskolloquium mit einem Roundtable zur Bedeutung von Gewalt und Gewaltlosigkeit beim Widerstand gegen herrschende Regime eröffnet. Es griff ein bereits in den Anfängen der Friedens- und Konfliktforschung formuliertes Dilemma auf, indem es auch die Frage nach der Legitimität von Gewalt im Kontext gesellschaftlicher Umbrüche aufwarf. Hinsichtlich des Spannungsfeldes von Gewalt und Gewaltlosigkeit in Umbruchprozessen wurde Gewalt als kulturelles, sozialisiertes Phänomen diskutiert, die Motivationen und Erfolgsbedingungen von gewaltlosem Widerstand kontrovers erörtert sowie die Rolle der internationalen Gemeinschaft beleuchtet. Damit wandte sich bereits die Eröffnungsrunde einigen Aspekten zu, die im weiteren Verlauf der Tagung immer wieder aufgegriffen wurden.

Die Rolle der internationalen Gemeinschaft wurde insbesondere in vier theoretisch und methodisch kontrastierenden Beiträgen in den Blick genommen, die sich unter der Fragestellung »Wer will Peacebuilding?« mit Widerstand im Kontext internationaler Interventionen in Nachkriegsgesellschaften auseinandersetzten. Herausgearbeitet wurde anhand verschiedener empirischer Fallbeispiele, dass internationale Interventionen einerseits inhärent konfliktive Prozesse sind, die lokale Formen von Widerstand provozieren; andererseits wurde verdeutlicht, dass Peacebuilding-Maßnahmen auch auf die Etablierung lokaler Widerstandsfähigkeit abzielen müssten und in diesem Sinne die produktive Konfliktdynamik stärker beachten sollten. Übergreifend wurde festgehalten, dass in der Debatte um Peacebuilding die intervenierenden Akteure bislang bevorzugt und die lokalen Akteure sowie die widerständigen Bewegungen stärker berücksichtigt werden müssten.

Weitere Panels widmeten sich den Schwierigkeiten des Umgangs mit Gewalt in und nach Bürgerkriegen sowie den Herausforderungen, eine konstruktive Konfliktbearbeitung zu schaffen und gesellschaftliche Lernprozesse anzustoßen. Die Bewältigung von Bürgerkriegen, die durch eine soziokulturelle und räumliche Nähe der Konfliktparteien gekennzeichnet sind, sei ein komplexes Unterfangen, das vor allem eine Förderung der Fähigkeit zur konstruktiven Konfliktbearbeitung verlange. Gerade im Hinblick auf friedenspädagogische Projekte wurde jedoch konstatiert, dass über deren Wirkung bislang kaum Wissen existiere und lokale Gewaltakteure auf diese Weise nur schwer zu erreichen seien.

Welche Faktoren Akteure zu gewaltsamem oder gewaltlosem Widerstand verleiten und unter welchen Bedingungen Transformationsprozesse von Gewalt begleitet werden bzw. friedlich verlaufen, war Gegenstand mehrerer Panels. Diese Fragen wurden an unterschiedlichen empirischen Fällen – u.a. auch am Beispiel der ägyptischen Revolution – sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene analysiert. Dabei wurde insbesondere auch das Verhältnis von Struktur und Akteur problematisiert, dessen Dualität die auf der Tagung vorgestellten kulturwissenschaftlichen Zugänge mithilfe des Konzepts der Kultur aufbrechen möchten. Betont wurde jedoch, dass für ein umfassenderes Verständnis der erklärenden Faktoren weitere vergleichende Arbeiten im Sinne einer Friedensursachenforschung notwendig seien.

Darüber hinaus wurden widerständige Bewegungen aus einer Geschlechterperspektive beleuchtet, indem die feministische Spezifik der Frauenwiderstandscamps im Hunsrück, politische Akteurinnen in der palästinensischen Gesellschaft und die Biografien nordirischer Aktivistinnen in den Blick genommen wurden. Aus einer feministisch-postkolonialen Perspektive wurden zudem die diskursiven Darstellungen und (medialen) Inszenierungen von Krieg und Gewalt aufgezeigt. Hervorgehoben wurde, dass die theoretisch-analytischen Potenziale einer feministisch-postkolonialen Perspektive in der Friedens- und Konfliktforschung erst in jüngster Zeit erkannt würden und weiter verfolgt werden sollten.

Der nicht nur methodologisch bedeutsamen Grundsatzfrage »Wozu welche Friedenstheorie?« widmete sich ein Gespräch mit Dieter Senghaas. Ein zentraler Aspekt war dabei, inwiefern Theorie stets in einem bestimmten, zeitlich geprägten »Wirklichkeitsbild« gefangen sei. Daran anknüpfend wurde diskutiert, ob ein theoretischer Friedensentwurf, der die Zukunft in den Blick nehmen möchte, auf der Basis eines induktiven, an der Empirie orientierten Vorgehens entwickelt werden könne. In diesem Zusammenhang wurde auch auf potentielle Asymmetrien in der wissenschaftlichen Theoriebildung verwiesen und danach gefragt, inwiefern eine an der Empirie orientierte Theoriebildung bestimmte soziale Kategorien reproduziere.

Den Abschluss des Jahreskolloquiums bildete ein multidisziplinäres Roundtable, dessen Kernthematik nach den zukünftigen Entwicklungen und Chancen der politischen und sozialen Umbrüche in der Region Mittlerer Osten und Nordafrika (MENA) fragte. Einerseits wurde festgehalten, dass aus den Umbruchprozessen selbstbewusste und kritische BürgerInnen hervorgegangen seien und neue Debatten über die sozialen Verhältnisse geführt würden. Andererseits wurde betont, dass die zukünftige Entwicklung der MENA-Region schwer prognostizierbar sei und die Möglichkeit verschiedener Entwicklungspfade bestünde. Zugleich wurde am Beispiel Ägyptens darauf verwiesen, dass diese Widerstandsbewegung nur mit einem gewissen Gewaltpotential möglich gewesen sei und keine nachträgliche Romantisierung stattfinden solle. Gerade im Hinblick auf die Heterogenität der arabischen Länder wurde auch vor der Schaffung neuer Konstrukte gewarnt und eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle des »Westens« nahe gelegt.

Das Roundtable bildete einen sehr gelungenen Abschluss einer Tagung, deren Themenstellungen von den gesellschaftlichen Umbrüchen in der MENA-Region inspiriert waren und die damit aufgeworfene Fragen nicht nur theoretisch und konzeptionell bearbeiten konnte, sondern auch Bezüge zu aktuellen Entwicklungen herstellte.

Verleihung des Christiane-Rajewsky-Preises 2012

Den diesjährigen Christiane-Rajewsky-Preis erhielt Silja Klepp für ihre Dissertation »Europa zwischen Grenzkontrolle und Flüchtlingsrecht: Eine Ethnographie der Seegrenze auf dem Mittelmeer« (siehe S. Klepps Artikel in dieser Ausgabe von W&F). Gewürdigt wurde insbesondere das innovative Vorgehen der Preisträgerin, die mithilfe eines mehrdimensionalen, polyphonen Forschungsansatzes die Praktiken und Handlungslogiken der verschiedenen Akteure im europäischen Grenzraum erfasste. Zudem wurde hervorgehoben, dass Silja Klepps Arbeit ein wesentliches Anliegen der Friedens- und Konfliktforschung aufgreife, indem sie das tief greifende Spannungsfeld zwischen Grenzkontrollen und Flüchtlingsrechten transparent mache und die Notwendigkeit, die menschenrechtlichen Maßstäbe im europäischen Raum zurechtzurücken, einfordere.

Resümee

Die Tagung verdeutlichte, dass Widerstand, Gewalt und Umbruch komplexe Phänomene sind, die vielfältige Formen annehmen können und deren Dynamik und Prozesshaftigkeit berücksichtigt werden muss. Zugleich zeigte sie auf, dass die Analyse, Beurteilung und Erklärung dieser Phänomene immer auch einer Reflexion der zugrunde liegenden Bewertungsmaßstäbe bedarf. In diesem Sinne bot das AFK-Kolloquium 2012 den TeilnehmerInnen die Möglichkeit, vielfältige Blickweisen auf die Thematik »Widerstand – Gewalt – Umbruch« kennen zu lernen und Einblicke in aktuelle Forschungsfragen und -projekte der Friedens- und Konfliktforschung zu erhalten sowie sich aktiv in anregende fachliche Diskussionen einzubringen.

Ein ausführlicher Tagungsbericht mit den Beschreibungen aller Panels und Papers, die außerdem im virtuellen Paper-Room des Kolloquiums abrufbar sind, ist auf der AFK-Webseite afk-web.de zu finden.

Marika Gereke

Kugelhaufenreaktor und willkürlicher Mord

Kugelhaufenreaktor und willkürlicher Mord

Verleihung des Whistleblower-Preises 2011, 1. Juli 2011, Berlin

von Bernd Hahnfeld

Die Feier zur Vergabe des Whistleblower-Preises ist immer etwas Besonderes. Sind doch alle Beteiligten in seltener Weise rational und emotional in die Ereignisse einbezogen. Der Spannungsbogen reicht vom Erschrecken über das Ausmaß des vom Whistleblower aufgedeckten Missstandes und der Empörung über die Reaktionen seines gesellschaftlichen Umfeldes über die Bewunderung seines Mutes, seines konsequenten Handelns und seiner Beharrlichkeit bis zur Betroffenheit über seine Ausgrenzung und seine öffentliche Bloßstellung. Unausweichlich stellen sich die Fragen nach der eigenen Position in vergleichbaren Situationen, des Abwägens der Risiken eigenen aufmüpfigen Verhaltens und der moralischen Dimension des Alarmschlagens. Wer spürt nicht das Ausweglose der Situation, in der es keinen Wegweiser zum »richtigen« Verhalten gibt. Hut ab vor denen, die sich trauen, die Grenzbereiche menschlichen Verhaltens zu betreten und das Risiko in Kauf nehmen, neben wirtschaftlichen auch seelischen Schaden zu erleiden. Sie bringen die Kraft zum Widerstand und zum Sprung ins Ungewisse auf – ungeachtet des dafür zu zahlenden Preises der Isolation.

Die in den historischen Räumen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften festlich gestaltete Feier bot Gelegenheit, öffentlich Gefühle der Hochachtung und des Dankes zu bekunden, und damit die Chancen zur Abhilfe der aufgedeckten Missstände zu erhöhen.

Dank gilt auch jenen, die den Rahmen solcher Preisvergaben und damit ein Instrument der öffentlichen Anerkennung der Preisträger geschaffen haben, und denjenigen, welche die mühevolle Auswahl der Preisträger übernommen haben.

In diesem Jahr haben die deutsche Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) und die Vereinigung deutscher Wissenschaftler (VDW) den Preis an zwei Menschen vergeben, die beide unter hohen persönlichen Risiken bedrohliche Missstände aufgedeckt haben: das menschenverachtende Morden in einem ohnehin nicht zu rechtfertigenden Krieg und die wissenschaftlich begründete Aufdeckung einer verlogenen Sicherheitsideologie beim Betrieb der zivilen Nutzung der Atomkraft.

Mit dem seit 1999 alle zwei Jahre vergebenen Preis sind ausgezeichnet worden:

die (noch unbekannte) Person, die im April 2010 ein von den US-Behörden als Staatsgeheimnis gehütetes amtliches Dokumentationsvideo über ein von US-Soldaten am 12.7.2007 im Irak verübtes schweres Kriegsverbrechen der Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht hat, und

der Wissenschaftler Dr. Rainer Moormann, der seit mehreren Jahren mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Vorträgen, Stellungnahmen und in Interviews den Mythos der »inhärenten Sicherheit« des Kugelhaufen-Atomreaktors erschüttert hat.

Beides sind hochaktuelle und brisante Themen, wie das Ringen um einen dauerhaften Frieden im Irak und die Katastrophe von Fukushima vor Augen führen.

Der Mythos der inhärenten Sicherheit

Dr. Moormann hat 35 Jahre in der Kernforschungsanlage in Jülich wissenschaftlich gearbeitet, davon viele Jahre über die Sicherheit des Kugelhaufen-Atomreaktors (Hochtemperatur-Reaktor, HTR). Dieser Reaktortyp wird bis heute dafür gerühmt, dass eine Kernschmelze ausgeschlossen, mithin eine nukleare Katastrophe nicht zu befürchten sei. Dr. Moormann kam demgegenüber zu dem Schluss, dass mit der Kugelhaufen-HTR-Technologie andere, nicht weniger bedrohliche Störfälle möglich und Risiken mit katastrophalen Folgen für Mensch und Umwelt verbunden seien. Er veröffentlichte diese Erkenntnisse ebenso wie das unverantwortliche Vorgehen des Betreibers des Forschungsreaktors Jülich, dessen Mitarbeitern schon Ende der 1970er Jahre die riskanten überhöhten Betriebstemperaturen aufgefallen waren, die jedoch untätig geblieben waren und die Aufsichtsbehörden weiterhin mit – ihnen günstigen – Modellrechnungen zufrieden stellten.

Durch Untersuchungen Dr. Moormanns ist auch der dringende Verdacht zutage getreten, dass der Kernreaktor Jülich am 13. Mai 1978 nur knapp einem GAU mit verheerenden Folgen einer weiträumigen radioaktiven Verseuchung entgangen ist. Durch einen Haar-Riss waren 30 Tonnen Dampf und Wasser in den Reaktorraum gelangt. Es drohte die Entstehung großer Mengen eines hochexplosiven Wasserstoff-Kohlenmonoxyd-Gemischs und das Durchgehen des Reaktors wie in Tschernobyl. Radioaktiv hoch kontaminiertes Wasser trat aus und gelangte in das Grundwasser.

Der Kraftwerksbetreiber, das Kernforschungszentrum Jülich und die Aufsichtsbehörden haben die Öffentlichkeit über die Gefahrensituation nicht aufgeklärt. Erst 2011 hat das Forschungszentrum Jülich in einer Presseerklärung eingeräumt, dass die von Dr. Moormann festgestellten Fakten richtig seien, nicht jedoch seine Sicherheitsbedenken! Mit seiner öffentlichen Kritik störte Dr. Moormanns massiv die intensiven Bemühungen der »Atom-Community«, nach dem Atomausstieg Deutschlands diesen Reaktortyp weltweit zu exportieren.

Das Whistleblowing Dr. Moormanns hat Zweifel an der Atomaufsicht begründet. Es hat zudem die immensen Kosten der Entsorgung des 1988 stillgelegten Forschungsreaktors Jülich ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Diese sind von 39 Millionen DM in den 1990er Jahren auf vorläufig 600 Millionen Euro gestiegen und von den Steuerzahlern aufzubringen.

Dr. Moormann hat für seine Zivilcourage teuer bezahlt. Er wurde als Nestbeschmutzer diffamiert und als verrückt verleumdet. Sein Arbeitgeber versetzte ihn in eine andere Abteilung und forderte ihn auf, seine „nuklearfeindlichen Aktivitäten“ einzustellen. Seine Arbeitsgruppe im Forschungszentrum Jülich wurde aufgelöst.

Dr. Moormanns Whistleblowing und seine Orientierung am Gemeinwohl sind beispielhaft für verantwortliches wissenschaftliches Handeln. Dafür hat er den Whistleblower-Preis erhalten.

»Collateral Murder« vs. Völkerrecht

Erstmals in der Geschichte des Whistleblower-Preises ist dieser an eine unbekannte Person »Anonymus« vergeben worden. Zu Recht hat die Jury in der Anonymität des/der Preisträger/in kein Hindernis gesehen, weil sie die Tatsache des Whistleblowing als auszeichnungs- und ehrenswert angesehen hat. Der Preis wird hinterlegt und übergeben, sobald die Identität der Person feststeht.

Das durch die Zielerfassungskamera aufgezeichnete Bordvideo, das unter dem Namen »Collateral Murder« bekannt wurde, zeigt die gezielte und willkürliche Tötung von mindestens sieben Zivilpersonen durch die Besatzung eines US-Kampfhubschraubers am 17.7.2007 im Irak.1 Unter den Getöteten befanden sich zwei Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters. Deutlich wird, dass die Tötungsaktion der Hubschrauberbesatzung über Funk von der militärischen Einsatzleitung ausdrücklich genehmigt worden ist. Das Bordvideo dokumentiert den Mord und die begleitenden menschenverachtenden Kommentare der Täter. Es belegt zudem, dass die multinationalen Streitkräfte Presse und Öffentlichkeit über den Geschehensablauf belogen haben. Es beweist, dass die Vor-Ermittlungsverfahren der US Army gegen die beteiligten Soldaten 2007 niemals hätten eingestellt werden dürfen.

Die Preisträger-Jury hat die Rechtslage wie folgt dargestellt:

„Militärische Kampfhandlungen dürfen sich nach geltendem Recht (vgl. u.a. Art. 51 und 52 des I. Genfer Zusatzprotokolls) nur gegen die Streitkräfte des Gegners und andere militärische Ziele richten, nicht jedoch gegen die Zivilbevölkerung oder zivile Objekte. Unterschiedslose Angriffe sind verboten. Zivilpersonen, die nicht an Kampfhandlungen teilnehmen, sind von Soldaten – auch in Kampfgebieten – zu schonen und zu schützen. Sie dürfen weder angegriffen noch getötet, verwundet oder gefangen genommen werden. Repressalien gegen die Zivilbevölkerung sind verboten, ebenso u.a. Maßnahmen zur Einschüchterung oder Terrorisierung. Selbst bei einem Angriff auf ein militärisches Ziel sind alle erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um die Zivilbevölkerung, die sich im Bereich oder in unmittelbarer Nähe des zu bekämpfenden Objekts befindet, zu schonen. Wenn möglich, ist die Zivilbevölkerung vor einem Angriff zu warnen. Jeder einzelne Soldat ist persönlich für die Einhaltung dieser Regeln des sog. humanitären Völkerrechts verantwortlich. Vorgesetzte dürfen Befehle nur unter strikter Beachtung dieser Regeln erteilen. Wer diese Regeln des humanitären Völkerrechts, das auch im Völkergewohnheitsrecht seinen Niederschlag gefunden hat, verletzt, begeht ein Kriegsverbrechen, das sowohl nach nationalem als auch nach internationalem Recht als schwere Straftat zu verfolgen ist.“

Anstatt die beteiligten Soldaten wegen Mordes anzuklagen, vor Gericht zu stellen und zu bestrafen, verfolgt die US-Strafjustiz das Whistleblowing, d.h. die Person, die das Dienstvideo an Wikileaks weitergeleitet hat. Das US-Militär hat den im Juni 2010 verhafteten US-Soldaten Bradley Manning vor dem Kriegsgericht angeklagt, Geheimdokumente und das genannte Video an die Internetplattform Wikileaks weitergegeben zu haben.2

Es liegt im nationalen Interesse jedes demokratischen Rechtsstaates, schwerwiegende Rechtsverstöße staatlicher Amtsträger bekannt zu machen. Denn jede rechtsstaatliche Demokratie ist auf die Kontrolle der Amtsträger durch das Volk und durch die Medien angewiesen. Diese Kontrolle ist nur möglich, wenn die notwendigen Informationen zur Verfügung stehen. Es widerspricht deshalb dem öffentlichen Interesse in einer rechtsstaatlichen Demokratie, schwerwiegende Straftaten von Amtsträgern zu vertuschen und vor der Öffentlichkeit geheim zu halten.

Die Offenbarung von Vorgängen, die gegen das Grundgesetz, insbesondere gegen die Grundrechte oder gegen das Völkerrecht verstoßen, muss in Deutschland durch den Gesetzgeber von strafrechtlicher Verfolgung freigestellt werden. Die Rechtsprechung hat bereits jetzt die Möglichkeit, durch grundgesetz- und völkerrechtsfreundliche Gesetzesauslegung zu demselben Ergebnis zu kommen. Die Hessische Verfassung ist diesen Schritt bereits gegangen: Artikel 68 bestimmt, dass niemand zur Rechenschaft gezogen werden darf, der auf Tatsachen hinweist, die eine Verletzung von völkerrechtlichen Pflichten darstellen.

In einem begrüßenswerten ersten Schritt haben Ende Juni 2011 mehrere Fraktionen des Deutschen Bundestags Gesetzesinitiativen zum Whistleblower-Schutz beim Aufdecken von Korruptionen angekündigt. Der angestrebte Schutz darf sich jedoch nicht auf den Bereich der Korruption beschränken.

Dem Vernehmen nach hat sich Bradley Manning auf dem Dienstweg vergeblich an seine Vorgesetzten gewandt, um eine Aufklärung der auf dem Video dokumentierten Vorgänge zu erreichen. Er hatte jedoch nur die Aufforderung zu schweigen erhalten.

Wikileaks und andere Medien verdienen Anerkennung für ihre informationstechnische Professionalität und ihre mutigen Veröffentlichungen. Sie sind jedoch angewiesen auf Menschen, die Informationen über ihnen bekannt gewordene Missstände weitergeben. Aus diesem Grund haben VDW und IALANA den Whistleblower-Preis 2011 an die Person verliehen, die Wikileaks das Video über das Völkerrechtsverbrechen im Irak zugespielt hat.

Die musikalisch begleitete Preisverleihung vor zahlreichen Gästen und Mitgliedern von VDW und IALANA hat die Einmaligkeit und gesellschaftliche Bedeutung des Whistleblower-Preises eindrucksvoll vor Augen geführt. Der Preisträger Dr. Rainer Moormann erläuterte seine wissenschaftliche Arbeit und dankte mit warmherzigen Worten für die Auszeichnung. Die Aufführung des Videos »Collateral Murder« erschütterte alle Beteiligten und begründete die unmittelbare Akzeptanz der Preisverleihung an den (noch unbekannten) Informanten.

Anmerkungen

1) collateralmurder.com.

2) bradleymanning.org/news/releases/charge-sheet-html.

Bernd Hahnfeld

Gandhi und der Westen

Gandhi und der Westen

Eine Geschichte von Missverständnissen

von Wolfgang Sternstein

Vor sechzig Jahren, am 30. Januar 1948, wurde Gandhi von einem Hindu-Fanatiker erschossen. Die geradezu religiöse Verehrung, die er bei einem Teil seiner Landsleute, und das hohe Ansehen, das er in vielen Teilen der Welt genießt, können freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass er im eigenen Land wie auch im Westen nur selten verstanden wurde und noch seltener Nachfolger fand. Von den zahlreichen Missverständnissen, denen Gandhis Lehre und die Botschaft seines Lebens ausgesetzt waren, sollen nur die sieben wichtigsten angesprochen werden.

1. Gewaltfreiheit (Satjagraha) wird mit Friedlichkeit verwechselt

Wenn Nachrichtensprecher mitteilen, eine Demonstration sei »gewaltfrei« verlaufen, so meinen sie damit, sie sei ohne Gewalthandlungen verlaufen. Das war ursprünglich anders. Der Berliner Politologe Theodor Ebert prägte den Begriff Gewaltfreiheit, um damit Gandhis Prinzip und Methode der Satjagraha zu bezeichnen. Vor etwa hundert Jahren entdeckte Gandhi eine Methode der Konfliktaustragung, die er »Satjagraha« nannte: Festhalten an der Wahrheit, Kraft der Wahrheit, der Liebe oder der Seele (im Unterschied zu Körperkraft). Wahrheit ist für Gandhi ein anderes Wort für Gott; deshalb kann Satjagraha auch als die Kraft Gottes beschrieben werden, die in uns und durch uns wirkt.

Was hat es mit dieser Kraft auf sich? Es handelt sich, kurz gesagt, um die Fähigkeit, Böses mit Gutem zu vergelten, um es auf diese Weise zu überwinden. Dazu Gandhi selbst: „Immer und immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Gute Gutes hervorruft, das Böse aber Böses erzeugt. Wenn daher dem Ruf des Bösen kein Echo wird, so büßt es aus Mangel an Nahrung seine Kraft ein und geht zugrunde. Das Übel nährt sich nur von seinesgleichen. Weise Menschen, denen diese Tatsache klar geworden ist, vergalten daher nicht Böses mit Bösem, sondern immer nur mit Gutem und brachten dadurch das Böse zu Fall.“ (Kraus, 1959, S.134)

Das ist im Grunde nichts Neues. Gandhi meinte denn auch, er habe lediglich versucht, es in die Tat umzusetzen. Im abendländisch-christlichen Kulturraum kennen wir es aus der Bergpredigt Jesu von Nazareth. Es ist die Lehre von der Feindesliebe. Ihr Geltungsbereich wird jedoch im Christentum zumeist auf das Verhalten von Einzelnen beschränkt. Bei Konflikten zwischen Gruppen und Nationen gälten andere Gesetze, die Gewalt keineswegs ausschlössen. Gandhi widerspricht dieser Auffassung nachdrücklich. Das hat Martin Luther King klar erkannt, als er schrieb: „Ehe ich Gandhi gelesen hatte, glaubte ich, dass die Sittenlehre Jesu nur für das persönliche Verhältnis zwischen einzelnen Menschen gelte… Wenn aber Rassengruppen und Nationen in Konflikt kamen, schien mir eine realistischere Methode notwendig zu sein. Doch nachdem ich Gandhi gelesen hatte, sah ich ein, wie sehr ich mich geirrt hatte… Für Gandhi war die Liebe ein mächtiges Instrument für eine soziale und kollektive Umgestaltung.“ (King, 1968, S.74)

Gewaltfreiheit kann demnach organisiert und eingeübt werden und sie lässt sich in dieser Form bei Konflikten auf allen gesellschaftlichen Ebenen anwenden. Sie ist, kurz gesagt, eine konstruktive Alternative zur Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung. Damit ist gemeint, sie ersetzt etwas Schlechtes durch etwas Gutes, etwas Untaugliches durch etwas Taugliches. Die zu Grunde liegende Vorstellung ist, dass Gewalt wie ein Gift wirkt, das die persönlichen und gesellschaftlichen Beziehungen zerstört, das jedoch durch das Gegengift der Gewaltfreiheit neutralisiert werden kann.

Ich fürchte, der Versuch, die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Gewaltfreiheit wieder herzustellen, ist zum Scheitern verurteilt. Martin Arnold hat deshalb vorgeschlagen, »Satjagraha« mit »Gütekraft« zu übersetzen. Ich ziehe indes die Bezeichnung »Wahrheitskraft« vor, da sie weniger missverständlich ist und Gandhis »Satjagraha«, einer Verbindung der Sanskritwörter »satja« (Wahrheit) und »agraha« (festhalten, zupacken, angreifen), am nächsten kommt.

Bei Konflikten, in denen Wahrheitskraft zur Anwendung kommt, geht es folglich keineswegs friedlich zu. Entweder wird Gewalt in milderer Form des körperlichen Zwangs durch Polizisten, etwa bei der Räumung einer Sitzblockade, angewandt oder in massiver Form von Schlagstock- oder Tränengaseinsatz oder aber in Form von Tätlichkeiten von Seiten politischer Gegner. Für »Satjagrahis« (gewaltfreie Kämpfer) ist Gewaltanwendung allerdings in jedweder Form tabu.

2. Satjagraha wird mit Passivität gleichgesetzt

Man könnte dieses Missverständnis auch das »christliche« nennen, da es seine Wurzel im Christentum hat, wie es im Westen verstanden wird. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, der Christ solle dem Bösen nicht widerstehen. Er solle die Gewalt des Angreifers vielmehr bereitwillig erdulden nach dem Jesuswort: „Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“ (Mt 5, 39-41)

Ich halte die Auslegung, die unter Feindesliebe passives Erdulden der Gewalt versteht, für falsch. Was Jesus m.E. sagen will, wird klar, wenn wir im Text die Wörter »mit Gewalt« ergänzen: Du sollst dem Bösen nicht mit Gewalt widerstehen, du sollst ihm vielmehr widerstehen, indem du Böses mit Gutem vergiltst, um es auf diese Weise zu überwinden. Satjagraha (Wahrheitskraft) hat jedenfalls mit Passivität nichts zu tun. Sie ist vielmehr höchste Aktivität. Die Lehre von Nichtwiderstehen gegenüber dem Bösen, die sich auch bei Tolstoi findet, hat ihre Ursache meines Erachtens in einem falschen Verständnis des Lebens und der Lehre Jesu. Die christliche Dogmatik sieht in ihm das sündlose Opferlamm, das für unsere Sünden den Tod erlitt. Vorbild für diese Deutung ist das vierte Lied des zweiten Jesaja vom Gottesknecht: „Zu unserm Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt… Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf.“ (Jes 53, 5-7) Gandhi bestreitet die Deutung Jesu als sündloses Opferlamm. Er nennt ihn vielmehr einen Fürsten der Satjagraha und die christlichen Märtyrer Satjagrahis.

Im Katholizismus beschränkte man die hohen ethischen Forderungen der Bergpredigt als »evangelische Räte« auf den Klerus. Die Reformatoren, welche die Unterscheidung von Klerikern und Laien zugunsten eines »Priestertums aller Gläubigen« aufhoben, suchten das Problem auf ihre Weise zu lösen. So unterschied beispielsweise Luther im Christen eine Christperson von einer Weltperson. Als Christperson hat der Christ Jesu Gebot der Feindesliebe bedingungslos zu befolgen und die Gewalt des Feindes widerstandslos zu erdulden. In seiner Eigenschaft als Weltperson, die für den Schutz anderer verantwortlich ist, ist er berechtigt, ja verpflichtet, dem Bösen mit Gewalt zu wehren, da andernfalls das Gute vernichtet würde. Bei Max Weber erscheint dieses Denkmuster als Gegensatz von Gesinnungs- und Verantwortungsethik.

Für Gandhi ist diese Zweiteilung des Menschen völlig unannehmbar. Wer gewaltfrei oder wahrheitskräftig handelt, schützt damit sich und seine Angehörigen gleichermaßen. Dass er dabei riskiert, verletzt oder getötet zu werden, tut nichts zur Sache, denn dieses Risiko läuft der Soldat ja auch, sogar in weit höherem Maße, da einem Konflikt, bei dem beide Seiten Gewalt anwenden, eine Tendenz zur Eskalation innewohnt, während der gewaltfrei ausgetragene Konflikt eine Tendenz zur Deeskalation aufweist. Für Gandhi gilt: Wer an der Wahrheit festhält, kann nicht verlieren, selbst wenn er im Kampf sein Leben verliert. Wer dagegen die Wahrheit loslässt, hat schon verloren, selbst wenn er aus dem Kampf als Sieger hervorgehen sollte.

Es gilt also festzuhalten: Wahrheitskraft ist eine positive, aktive und aufbauende, ja eine schöpferische und heilende Kraft, die Gewalt in allen ihren Erscheinungsformen (i.S. Johan Galtungs) überwindet. Sie ist ein Drittes jenseits des Gegensatzes von Aktivität und Passivität, von Gewalt antun und Gewalt erleiden.

3. Satjagraha wird mit passivem Widerstand gleichgesetzt

Gandhi hat anfangs für seine Kampfmethode mangels eines besseren den Begriff passiver Widerstand gebraucht. Als ein Journalist den Widerstand der Inder gegen die Rassendiskriminierung in Südafrika als »Waffe der Schwachen« kennzeichnete, erkannte er die Untauglichkeit dieses Begriffs, der zu Missverständnissen geradezu einlud, und ersetzte ihn durch den Begriff Satjagraha. Um den Unterschied möglichst klar herauszuarbeiten unterschied er fortan eine »Gewaltlosigkeit der Starken« (Satjagraha) und eine »Gewaltlosigkeit der Schwachen« (passiver Widerstand). Wer passiven Widerstand leistet, verzichtet zwar auf verletzende und tötende Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung, nicht aber auf die Methoden des Zwangs und des politischen Drucks.

Verwirrend ist, das sich die Gewaltlosigkeit der Starken und die der Schwachen oftmals der gleichen Aktionsmethoden bedienen, nämlich der Aufkündigung der Zusammenarbeit in Form von Streik oder Boykott. Der Unterschied zeigt sich jedoch rasch, sobald der Gegner zur Gewalt greift, um den Widerstand zu brechen. Die »Gewaltlosigkeit der Schwachen« wird dann gewöhnlich zusammenbrechen oder in gewaltsamen Widerstand übergehen, die »Gewaltlosigkeit der Starken«, sofern es sich denn tatsächlich um solche handelt, wird die Gewalt des Gegners hinnehmen ohne Zurückweichen oder Zurückschlagen, um sie dadurch zu überwinden. Selbstverständlich kann es auch bei einem derartigen Kampf Tote und Verletzte geben; langfristig wird jedoch eine Verhandlungslösung erreicht, welche die legitimen Interessen aller Beteiligten berücksichtigt.

In ausgeprägter Form findet sich die Gleichsetzung von Wahrheitskraft und passivem Widerstand selbst bei dem Gandhi durchaus geistesverwandten Albert Schweitzer: „Er (Gandhi) meint, der passive Widerstand, im Geist der Hasslosigkeit der wahren Ahimsa (Nicht-Gewalt) durchgeführt, sei die Waffe, die ihm die Ethik zu führen erlaubt. Er irrt. Zwischen dem tätigen und dem passiven Widerstand ist nur ein ganz relativer Unterschied. Durch Zustände, die auf nicht-gewaltsame Weise geschaffen werden, soll ein Druck auf den Gegner ausgeübt und Nachgiebigkeit erzwungen werden. Als ein Angriff, der schwerer abzuwehren ist als der tätige, kann der passive Widerstand mehr Erfolg haben als dieser. Es ist aber auch Gefahr, dass diese versteckte und indirekte Anwendung von Gewalt mehr Erbitterung schafft als die offene. Ist passiver Widerstand anders geartet als aktiver? Nein: Er ist Gewalt.“ (Schweitzer, 2003, S.198)

Gandhi ist da ganz anderer Ansicht: „Zwischen passivem Widerstand und Satjagraha ist der Unterschied groß und grundsätzlich… Wenn wir weiterhin glauben und andere glauben lassen, wir seien schwach und hilflos und leisteten deshalb passiven Widerstand, dann würde unser Widerstand uns niemals stark machen, und bei der geringsten Gelegenheit würden wir unseren passiven Widerstand als eine Waffe des Schwachen aufgeben. Wenn wir dagegen Satjagrahis sind und Satjagraha leisten in dem Glauben, stark zu sein, so werden sich daraus zwei klare Folgen ergeben. Indem wir den Gedanken der Stärke nähren, werden wir von Tag zu Tag stärker. Mit dem Wachsen unserer Stärke wird auch unsere Satjagraha wirksamer, und wir werden nie nach einer Gelegenheit Ausschau halten, sie aufzugeben. Und während wiederum im passiven Widerstand kein Raum für Liebe ist, hat andererseits in der Satjagraha Hass nicht nur keinen Platz, sondern ist ein ausdrücklicher Verstoß gegen ihr leitendes Prinzip.“ (zit. nach Kraus, o.J., S.167)

4. Die religiös-philosophische Wurzel von Satjagraha wird nicht erkannt

Ich nenne dieses Missverständnis das wissenschaftliche, weil Sozialwissenschaftler mit Gandhis Satjagraha-Konzept naturgemäß Probleme haben. Zwar schließt Gandhis Formel »Gott ist die Wahrheit« auch philosophische Wahrheitsdefinitionen ein, doch nur, sofern sie eine metaphysische Dimension der Wirklichkeit anerkennen. Das ist beim wissenschaftlichen Wahrheitsbegriff definitionsgemäß nicht der Fall. Wird dem Satjagraha-Konzept die religiös-philosophische Wurzel abgeschnitten, stirbt es wie eine Pflanze, die man ihrer Wurzel beraubt. Die »Gewaltlosigkeit der Starken« verwandelt sich augenblicklich in die »Gewaltlosigkeit der Schwachen«, d.h. in verdünnte Gewalt oder passiven Widerstand. Diesem Missverständnis begegnet man u.a. bei Gene Sharp (1973) und Adam Roberts (1971), teilweise auch bei Theodor Ebert. Ihrer Ansicht nach hat Gandhi durch seine Askese und die religiöse Begründung von Satjagraha eine breite Akzeptanz seines Konzepts im Westen verhindert. Ich weiß nicht, was Gandhi auf diesen Vorwurf geantwortet hätte. Meine Antwort lautet: Billiger ist Satjagraha nun mal nicht zu haben. Wer nicht bereit ist, den Preis zu bezahlen, soll es lassen. Jesus von Nazareth sprach in einem ähnlichen Zusammenhang vom Schatz im Acker und der kostbaren Perle, die zu erwerben jeden Preis wert seien. (Mt 13, 44-46)

Heißt das, eine Satjagraha-Kampagne könne nur durch ausgebildete Satjagrahis mit Erfolg durchgeführt werden? Keineswegs. Die Erfolgsaussichten sind zwar desto größer, je mehr Satjagrahis sich daran beteiligen. Die zweitbeste Lösung aber ist die Verbindung einer gewaltfreien Führerschaft mit einer gewaltlosen Gefolgschaft. Von einer Kombination gewaltfreier und gewaltsamer Aktionsmethoden ist jedoch abzuraten, da sie auf gegensätzlichen Prinzipien beruhen. Gandhi und King hätten lange warten müssen, hätten sie ihre Kampagnen mit ausgebildeten Satjagrahis durchführen wollen. Gandhi stand überdies unter extremem Handlungszwang, denn in Indien war bereits eine Befreiungsbewegung entstanden, welche die Briten durch Attentate und Terroranschläge zu massiven Unterdrückungsmaßnahmen herausforderte. Ihr Gewaltverzicht zu predigen, ohne ihr eine konstruktive Alternative zur Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung anzubieten, hielt Gandhi für nutzlos, ja verwerflich. Eine gemischte Kampagne leidet freilich an der Schwäche, dass mit dem Tod der charismatischen Führergestalt die treibende Kraft für den gewaltfreien Kampf versiegt. Das war sowohl in Indien als auch in den USA der Fall.

5. Satjagraha wird mit moralischem Zwang gleichgesetzt

Karl Jaspers schreibt in seinem 1958 erschienenen Buch zur Nuklearkriegsdrohung: „Es wird berichtet von der Verwandlung der Atmosphäre in Indien durch Gandhi. Statt der Liberalität verbreitete sich ein allgemeiner Zwang des Fürwahrhaltenmüssens. Diese Gewaltlosigkeit, die zwar auf physische Gewalt verzichtet, übt eine andere aus, die unerträglich werden kann… Gandhis Selbstdisziplin erfolgt nicht ohne innere Gewaltsamkeit. Diese wird bei den ihm Folgenden anders, weil fanatisch. Solche Gewaltsamkeit gegen sich selbst aber ist keineswegs Läuterung, nicht freies Zu-sich-selbst-Kommen. Daher ist, wer sich selbst vergewaltigt, zur Vergewaltigung anderer bereit. Solche Vergewaltigung anderer durch moralischen Druck ist ein Element in Gandhis Wirksamkeit.“ (a.a.O., S.66)

Für Gandhi, wenn ich ihn recht verstehe, bedeutet Satjagraha etwas Drittes jenseits des Gegensatzes von (egoistischer) Liebe und Hass, und mit »Brahmatscharja« (Streben nach dem Göttlichen) meint er etwas Drittes jenseits des Gegensatzes von Trieb-Ausleben und Trieb-Unterdrücken. Bei Sigmund Freud hätte Jaspers durchaus den Schlüssel zum Verständnis von Gandhis Askese finden können. Freud erkannte klar die Kultur schaffende Wirkung der Triebsublimation. Er sieht in den Kulturleistungen des Menschen sublimierte Triebenergie am Werk. Was Gandhi von uns Normalsterblichen unterschied, war seine für viele Menschen erschreckende und abstoßende Radikalität. Er gibt sich mit der relativen Sublimierung der Triebenergie nicht zufrieden. Ihm geht es um nichts Geringeres als die vollständige Triebsublimation, nicht nur des Sexualtriebs, sondern sämtlicher Triebe, um sie in geistige Energie umzuwandeln und zum Wohl der Menschheit einzusetzen: „Brahmatscharja bedeutet nicht nur physische Selbstkontrolle. Es bedeutet völlige Kontrolle über alle Sinne. So ist ein unreines Denken ein Bruch von Brahmatscharja, ebenso Ärger. Alle Kraft kommt von der Erhaltung und Sublimierung der Vitalität, die für die Erzeugung von Leben verantwortlich ist. Wird diese Vitalität gespart, statt verschwendet zu werden, so wird sie in schöpferische Energie der höchsten Art verwandelt… Bei jemandem, der große Menschenmassen zu gewaltfreier Aktion zu organisieren hat, muss die vollständige von mir beschriebene Kontrolle versucht und verwirklicht werden.“ (zit. nach Kraus, o.J., S.79)

6. Satjagraha ist angeblich nur gegen moralisch ansprechbare Gegner einsetzbar

Deshalb habe Gandhi die Engländer besiegen können, einem Hitler oder Stalin gegenüber sei Wahrheitskraft jedoch zum Scheitern verurteilt. Diesem Argument liegt die Vorstellung zugrunde, Wahrheitskraft beruhe auf einem moralischen Appell oder der Anwendung moralischen Drucks. Gandhi hat dieser Auffassung vehement widersprochen. Wahrheitskraft ist für ihn nicht subtile oder verdünnte Gewalt, sondern das Gegenteil von Gewalt. Sie schafft die Gewalt sozusagen wieder aus der Welt und zwar nach der schlichten Dreisatzregel: Wo wenig Gewalt ist, genügt auch wenig Gewaltfreiheit, um sie zu neutralisieren, wo viel Gewalt ist, bedarf es viel Gewaltfreiheit und wo sehr viel Gewalt ist, bedarf es sehr viel Gewaltfreiheit, um sie wieder aus der Welt zu schaffen (vgl. Gandhi, 1996, S.59).

Selbstverständlich kann auch ein gewaltfreier Kampf verloren gehen, doch nur, wenn die Satjagrahis resignieren, zum passiven Widerstand übergehen oder zur Gewalt ihre Zuflucht nehmen. Solange sie an der Wahrheit festhalten, können sie nicht wirklich verlieren, selbst wenn sie im Kampf ihr Leben verlieren; denn das Festhalten an der Wahrheit ist Sieg, das Loslassen der Wahrheit ist Niederlage. Die Erfolgsaussichten (im traditionellen Sinn des Wortes) eines gewaltfreien Kampfes sind allerdings umso größer, je mehr Menschen sich bereit finden, ihr Leben im Kampf einzusetzen und je besser sie vorbereitet und organisiert sind. Gandhi sieht hier bei allen Unterschieden in Zielen und Mitteln eine gewisse Parallele zum bewaffneten Kampf. Wie eine gewaltfreie »Schlacht« aussehen könnte, hat er mit dem Versuch, die Dharasana-Salzwerke im Zuge der Unabhängigkeitskampagne von 1930/31 zu erobern, vorexerziert (vgl. Fischer, 1951, S.286ff.). Diese Schlacht ging zwar verloren, da es den Satjagrahis nicht gelang, die Salzwerke zu erobern. Im Unabhängigkeitskampf Indiens spielte sie jedoch eine wichtige Rolle und trug durch indirekte Wirkungen zu seinem Erfolg bei.

Die Engländer waren übrigens keineswegs Menschenfreunde, die den rückständigen Indern die Segnungen der modernen Zivilisation bringen wollten. Sie waren rücksichtslose Kolonialisten, deren Hauptziel darin bestand, den indischen Subkontinent wirtschaftlich auszubeuten und in politischer Abhängigkeit zu halten. Sie bevorzugten allerdings das System indirekter Herrschaft, d.h. sie zogen eine Schicht von Indern heran, die dieses Geschäft für sie besorgten und daran kräftig verdienten. Dieser »Kompradorenbourgeoisie« gehörte der in London zum Rechtsanwalt ausgebildete Gandhi ja ursprünglich ebenfalls an.

Der relativ gewaltlose Verlauf des indischen Unabhängigkeitskampfes ist meines Erachtens auf die deeskalierende Wirkung der Gewaltfreiheit zurückzuführen. Hier wird folglich auf das Konto der Engländer verbucht, was in Wahrheit dem Konto Gandhis gutgeschrieben werden muss.

7. Die Zweck-Mittel-Kongruenz wird außer Acht gelassen

Ein Hauptargument gegen das Satjagraha-Konzept lautet, es sei außerstande, ein Land gegen einen militärischen Angreifer zu verteidigen. Gandhi bestritt diese Behauptung. Als Indien 1942 durch eine japanische Invasion bedroht war, entwickelte er in Grundzügen das Konzept einer Sozialen Verteidigung, das auf den Methoden des gewaltfreien und gewaltlosen Kampfes beruht. Richtig ist allerdings, dass Gewaltfreiheit ein denkbar ungeeignetes Mittel ist, Reichtum, Macht und Privilegien zu erwerben oder als Staat fremde Länder zu erobern sowie die Rohstoffversorgung des eigenen Landes zu sichern und den Zugang zu fremden Märkten und Transportwegen offen zu halten. Wer diese Ziele verfolgt, muss zu direkter oder indirekter Gewalt greifen. Andererseits gilt: Wer Frieden, Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechte erkämpfen oder verteidigen will, sollte zu gewaltfreien Methoden greifen. Mit Gewalt wird er sein Ziel niemals erreichen. Zwischen Mittel und Zweck, Weg und Ziel besteht ein ebenso enger Zusammenhang wie zwischen Samen und Pflanze. Die weit verbreitete Ansicht, die auch Max Webers Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik zugrunde liegt, dass nämlich der gute Zweck die bösen Mittel heilige, zumindest aber rechtfertige oder entschuldige, lässt Gandhi nicht gelten.

Das Missverständnis besteht in diesem Fall darin, Wahrheitskraft für eine Aktionsmethode zu halten, die für beliebige Ziele einsetzbar ist. Es ist zwar richtig, dass sie auf allen gesellschaftlichen Ebenen von der persönlichen bis zur globalen Ebene mit Aussicht auf Erfolg eingesetzt werden kann, vorausgesetzt, die von mir genannten Bedingungen sind erfüllt. Das heißt aber nicht, dass sie für beliebige Ziele einsetzbar ist. Was in den Augen der Kritiker der gravierendste Nachteil von Satjagraha ist, ist m.E. ihr größter Vorzug – vorausgesetzt, die angestrebten Ziele sind wirklich rein.

Schlussbemerkung

Wahrheitskraft im Kleinen wie im Großen Maßstab ist m.E. das Einzige, was die hilflos am Abgrund der Selbstvernichtung entlang taumelnde Menschheit noch retten kann. Doch, nüchtern betrachtet, ist das Verhängnis kaum abzuwenden. Es ist wie in der griechischen Tragödie. Es gibt einen Rettungsweg, der Held aber sieht ihn nicht, und selbst wenn er ihn sähe, könnte er ihn nicht gehen.

Literatur

Fischer, L. (1951): Das Leben des Mahatma Gandhi. München.

Gandhi, M. (1996): Für Pazifisten. Münster.

Jaspers, K. (1958): Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. München.

King, M.L. (1968): Freiheit! Der Aufbruch der Neger Nordamerikas. München.

Kraus, F. (Hrsg.) (o.J.): Vom Geist des Mahatma. Ein Gandhi-Brevier. Zürich.

Roberts, A. (Hrsg.) (1971): Gewaltloser Widerstand gegen Aggressoren. Probleme, Beispiele, Strategien. Göttingen.

Schweitzer, A. (2003): Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze, herausgegeben von Claus Günzler u.a. München.

Sharp, G. (1973): The Politics of Nonviolent Action. Boston.

Dr. Wolfgang Sternstein lebt als Konflikt- und Friedensforscher und Bewegungsaktivist in Stuttgart.