Ziviler Widerstand in Kolumbien

Ziviler Widerstand in Kolumbien

von Bettina Reis

Eine Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen ist notwendig – aber Frieden beinhaltet mehr als die Abwesenheit von Krieg. Zivile Widerstandsinitiativen in Kolumbien intervenieren nicht nur im bewaffneten Konflikt, sie wehren sich gegen ein System von Ungleichheit und Ausgrenzung, indem die Armen immer ärmer werden, sie engagieren sich im Kampf um demokratische und soziale Menschenrechte. Ein Kampf, der viele Opfer fordert und der doch außerhalb der betroffenen Regionen kaum Beachtung findet.

Die Friedensforscherin Esperanza Hernández Delgado, hat indigene, afrokolumbianische und kleinbäuerliche Widerstandsinitiativen in Kolumbien untersucht. Die wesentlichen Merkmale des zivilen Widerstandes fasst sie in sieben Punkten zusammen:

  • Ziviler Widerstand ist das Ergebnis eines Prozesses, der Organisation und Planung beinhaltet, er ist keine spontane Ausdrucksform von kurzer Dauer.
  • Ziviler Widerstand ist eine kollektive Aktion, es geht nicht um eine individuelle Option.
  • Ziviler Widerstand gibt Antwort auf unterschiedliche Ausprägungen von Gewalt. Er ist nicht nur eine Reaktion auf die Gewalt des bewaffneten Konflikts, sondern agiert auch in Bezug auf strukturelle und politische Gewalt.
  • Ziviler Widerstand hat seinen Ursprung in der Zivilbevölkerung. Es geht nicht um Initiativen von lokalen, regionalen oder nationalen Regierungen oder von bewaffneten Akteuren.
  • Ziviler Widerstand ist eine gewaltfreie – jedoch nicht notwendigerweise pazifistische – Antwort.
  • Ziviler Widerstand bedeutet Nicht-Kollaboration mit Gewaltakteuren.
  • Ziviler Widerstand stützt sich auf moralische Kraft, die ihn legitimiert.1

Ziviler Widerstand ist also ein aktives Verhalten in Bezug auf den bewaffneten Kampf sowie auf den ihm ursächlich zugrunde liegenden sozialen Konflikt; in Kolumbien auf ein strukturell verankertes System von Ungleichheit, Ausgrenzung und Verarmung. Das aktive Verhalten vollzieht sich dabei in unterschiedlichen Handlungsfeldern: Im Falle des bewaffneten Konfliktes ist es die direkte Auseinandersetzung mit den staatlichen und nicht-staatlichen bewaffneten Akteuren. Dabei werden grundlegende Normen des Humanitären Völkerrechts, wie die Unterscheidung von Kombattanten und Zivilpersonen, eingefordert. Oft geht es auch um die Achtung von Territorialrechten durch die bewaffneten Akteure. Es wird gefordert, dass Kollektivland von indigenen und afrokolumbianischen Minderheiten oder humanitäre Räume zivilgesellschaftlicher Gruppen nicht angetastet werden.

Frieden ist mehr als Nicht-Krieg

Initiativen des zivilen Widerstandes sind Ausdruck einer Friedenskonzeption, die die traditionelle Auffassung von Frieden als Abwesenheit von Krieg überwinden. „Der Aufbau des Friedens ist dabei eng mit der sozialen Inklusion, einer realen Anerkennung der ethnischen und kulturellen Diversität und den Rechten der Völker, dem Ausüben von Autonomie und Selbstbestimmung der Gemeinden, der Entwicklung von Wirtschaftsmodellen gemäß den Kulturen und eigenen Bedürfnissen, der Vertiefung von Demokratie, Dialog und der friedlichen Konfliktlösung verbunden,“ stellt Hernández Delgado fest.2 Die strukturelle Gewalt und die Auswirkungen des eskalierenden bewaffneten Konfliktes auf die Zivilbevölkerung sind die wichtigsten Ursachen für die Entwicklung von zivilen Widerstandsinitiativen, folgert sie in ihrer Studie über Basis-Friedensinitiativen.

Die kolumbianischen Widerstandsinitiativen, die gewaltfrei versuchen, ihre Menschenrechte durchzusetzen, haben gemeinsame Merkmale, sind aber auch sehr unterschiedlich. Es gibt Basis-Friedensinitiativen, die aus dem Spektrum von kleinbäuerlichen, indigenen und afrokolumbianischen Bewegungen kommen. In einigen Fällen sind sie eine Reaktion auf Fluchtsituationen und Organisationsprozesse von internen Vertriebenen. Andere Initiativen haben in ihrer Zusammensetzung einen gemischten Charakter. Im Frauen-Friedensnetzwerk Ruta Pacífica de las Mujeres (Frauen-Friedensroute) arbeiten 350 Organisationen aus verschiedenen Landesteilen zusammen. Die Koordinatorinnen kommen aus der mittelständischen NGO-Frauenszene. Es will eine feministische Perspektive des Pazifismus, der Gewaltlosigkeit und des Widerstands stärken. Es entstand 1996 als Antwort auf die Situation von Frauen in den Konfliktregionen und ist seit 2000 Teil des internationalen Netzwerkes der Frauen in Schwarz.3

All diese Initiativen lehnen militärische Lösungen ab, fordern eine Verhandlungslösung des bewaffneten Konfliktes und wehren sich gegen eine zunehmende Militarisierung des Alltags. Das Frauen-Friedensnetzwerk führt unterschiedliche Protestaktionen und Bildungsmaßnahmen für Frauen durch, bei denen die Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes und von Gewalt auf Frauen in Kolumbien analysiert werden.

Bei vielen sozialen Organisationen verschieben sich die Schwerpunkte der Arbeit infolge der Konfliktentwicklung in ihrer Region. Lebensbedrohliche Situationen, hervorgerufen durch Massaker, Morde, Verschwindenlassen und Zwangsvertreibungen, mindern die Möglichkeiten, den ursprünglichen Zielen nachzugehen und erfordern eine Konzentration der kollektiven Energien auf Überlebenssicherung. Beispielhaft für einen solchen Prozess ist die Organización Femenina Popular (OFP), eine über zwanzig Jahre alte Frauen-Basisorganisation in der Erdölstadt Barrancabermeja, die in den letzten Jahren der gewaltsamen Vereinnahmung der sozialen Organisationen in der Region des Magdalena Medio durch rechtsextreme Paramilitärs Widerstand leistete. Da die paramilitärische Intervention die Kontrolle der Bevölkerung und die Zerstörung der sozialen Organisationen anstrebte, war ein wichtiger Aspekt des Widerstandsprozesses, Räume – wie Frauen- und Flüchtlingszentren – trotz des Drucks nicht aufzugeben und Autonomie zu erhalten. Eine Arbeit, die ein hohes Maß an Zivilcourage erforderte.

Kampf um das Recht auf Land

Bedeutende zivile Widerstandsprozesse entwickelten sich aufgrund von gewaltsamen Vertreibungen an der Pazifikküste und in der Bananenanbauregion Urabá im Nordwesten Kolumbiens. Dort wurden ab Mitte der 1990er Jahre, mittels gemeinsam von Armee und Paramilitärs durchgeführten Militäroperationen, Tausende von kleinbäuerlichen Familien vertrieben. Im Pazifik-Tiefland wurde vor allem die afrokolumbianische Bevölkerung Opfer dieses brutalen Vertreibungsprozesses, bei dem über hundert Personen ermordet wurden. Die afrokolumbianischen Gemeinschaften befanden sich in dieser Zeit in einem Prozess der Umsetzung kollektiver Landrechte. Ihr Anspruch auf unveräußerbares Kollektivland geht auf eine Verfassungsreform von 1991 zurück. Ihre Rechte auf Territorium und Selbstbestimmung kreuzen sich heute aber mit »modernen« Entwicklungsplänen für die kolumbianische Pazifik-Region und den Interessen der Holz- und Agroindustrie.4

Die afrokolumbianischen Gemeinden beantworteten die Aggression mit unterschiedlichen Formen des zivilen Widerstandes. Einige Gruppen zogen sich tiefer in den Urwald zurück, wechselten ständig ihre Aufenthaltsorte und bauten auf kleinen, versteckten Flecken Bananen und Maniok an. Hunde und Hähne wurden getötet, damit durch ihr Bellen und Krähen nicht die Präsenz von Menschen verraten wurde.

Die Mehrheit der drangsalierten Bevölkerung verließ ihr Heimatgebiet und verbrachte Monate in Flüchtlingslagern, die von der Kirche und internationalen Hilfsorganisationen versorgt wurden. Trotz extrem traumatischer Erfahrungen – bei den Terroraktionen wurde Gemeindemitgliedern der Schädel mit Steinen zertrümmert, anderen der Kopf mit einer Machete abgeschlagen um dann damit Fußball zu spielen – begannen die internen Vertriebenen sich erneut zu organisieren. Sie versuchten, in ihrer Heimatregion, wenn auch nicht in ihrem direkten Heimatgebiet, zu bleiben und wanderten nicht in die Städte ab. Sie loteten Möglichkeiten der Rücksiedlung aus und planten diese in organisierter Form.

Bei den Widerstandsaktivitäten geht es in erster Linie darum, das konstitutionelle Recht auf Land nicht aufzugeben. Die gewaltsame und unrechtmäßige Übereignung des Territoriums ist das eigentliche Ziel der Vertreibungen. Territorium ist dabei zu verstehen als geographischer und kultureller Lebensraum, der kleinbäuerliche Landwirtschaft und Subsistenz ermöglicht. Im allgemeinen werden die Militäroperationen mit dem Kampf gegen die linksgerichteten Guerillagruppen begründet. Die Zivilbevölkerung in einer Region mit Guerilla-Einfluss wird von der Armee und den sie unterstützenden paramilitärischen Gruppen als Basis der Guerilla gesehen. Illegaler Einschlag durch Holzfirmen und das Anlegen von Ölpalmplantagen unmittelbar nach den Vertreibungen im Pazifik-Gebiet belegen aber, dass wirtschaftliche Interessen mit der staatlichen Aufstandsbekämpfung gekoppelt waren.5

Rücksiedlungen von Binnenflüchtlingen müssen nach UN-Richtlinien freiwillig sein. Die Sicherheitsvoraussetzungen für die Rückkehr in ein Heimatgebiet sind oft nicht gegeben, wenn es von den bewaffneten Akteuren weiter umkämpft ist. In vielen Fällen bietet sich die Armee als Schutz bei Rücksiedlungen an, auch dann, wenn sie direkt oder indirekt – durch Tolerierung der Paramilitärs – an den Menschenrechtsverletzungen und Vertreibungen beteiligt war. Eine Tätergruppe bekommt damit nicht nur eine Schutzfunktion sondern auch die Kontrollfunktion.

Basis-Friedensinitiativen, die in die Kategorie des zivilen Widerstands eingeordnet werden können, wehrten sich dagegen. Sie forderten für ihre Rücksiedlung zwar staatliche Präsenz und Unterstützung, aber nur die von zivilen Behörden. Militär und Polizei wurden aufgefordert, außerhalb der Wohn- und Arbeitsgebiete Schutz zu bieten, das heißt, die illegalen bewaffneten Gruppen (Paramilitärs und Guerilla) zu bekämpfen und die Zivilbevölkerung nicht in militärische Operationen einzubeziehen.

Die afrokolumbianischen Gemeinschaften vom Cacarica-Fluss im Pazifik-Tiefland, die sich im Flüchtlingslager als »Gemeinden für Selbstbestimmung, Leben und Würde des Cacarica-Beckens« (CAVIDA)6 konstituierten, arbeiteten für ihre Rücksiedlung einen komplexen Forderungskatalog aus, den sie mit dem Staat verhandelten. Teil ihrer Forderung war ein sog. Justiz-Haus (Casa de la Justicia), in dem Menschenrechtsbehörden und Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten sollten. Wenn (zivile) Staatsbedienstete in einer abgelegenen Landgemeinde präsent sind, ist deren Verhalten leichter transparent zu machen, das Argument der Zusammenarbeit mit illegalen bewaffneten Gruppen schnell entkräftet. Vertreter der Defensoría del Pueblo, der Ombudsstelle, können in Konfliktsituationen auf legaler Basis mit irregulären bewaffneten Gruppen in Kontakt treten. Die Gemeinden hatten auch beschlossen, keine direkten Kontakte zu Paramilitärs und Guerilla aufzunehmen, sondern falls erforderlich, diese nur über die dafür zuständigen Institutionen, wie das Internationale Rote Kreuz, herzustellen. Trotz dieser den Rechtsstaat stärkenden und die Legitimierung irregulärer Gruppen einschränkenden Vorschläge blieben die Gemeinden weiter Opfer von staatlich verantworteten Menschenrechtsverletzungen.

Die Einrichtung von humanitären Räumen

Die zivilen Widerstandsprozesse von Vertriebenen-Gruppen in der Region Urabá und dem Pazifik-Tiefland sind als »Friedensgemeinden« bekannt, ähnliche Mechanismen wenden jedoch auch indigene und afrokolumbianische Organisationen an. Die Vertriebenen-Gruppen bilden im Laufe ihres Organisierungsprozesses eine neue kollektive Identität heraus, die sich auch in ihren Namen ausdrückt. So bezeichnet sich eine kleinbäuerliche Gemeinde, die aus dem Weiler La Balsita im Kreis Dabeiba vertrieben wurde, als Gemeinde für Leben und Arbeit La Balsita.7 Die Vertriebenen vom Jiguamiandó-Fluss sprechen von sich als Gemeinden im Widerstand.

Infolge des Eskalierens des bewaffneten Konfliktes und zunehmender Verrohung rückte in den letzten Jahren die Einforderung der im Humanitären Völkerrecht verankerten Schutzprinzipien in Bezug auf die Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt vieler Aktionen. Sich als Zivilpersonen gegenüber regulären und irregulären Truppen neutral zu verhalten und sie nicht zu unterstützen, ist im eigentlichen Sinne keine Neutralität, sondern eine bewusste Positionierung zivilgesellschaftlicher Gruppen im Krieg. Es bedeutet eine aktive Umsetzung des Prinzips der Unterscheidung von KombattantInnen und ZivilistInnen und des Schutzes der Zivilbevölkerung, die das Völkerrecht für einen innerstaatlichen Konflikt vorschreibt.8 Die Mitglieder der Friedensgemeinde von San José de Apartadó (Urabá, Dept. Antioquia), die sich im März 1997 gründete, verpflichten sich mit ihrer Unterschrift in einem Ausweis, keine Waffen zu tragen und Bewaffneten keine Informationen zu geben.9

Nach Artikel 13, Protokoll II, genießt die Zivilbevölkerung Schutz vor den von Kampfhandlungen ausgehenden Gefahren. Dieser Artikel wird u.a. durch die Einrichtung von humanitären Räumen umgesetzt. Dabei handelt es sich um abgegrenzte Gebiete, zu denen bewaffneten Akteuren der Zutritt untersagt wird. Je nach Selbstverständnis der Gruppe oder Gemeinde, werden diese Orte als »Friedensgemeinde« oder »humanitäre Zone« sichtbar gemacht. Es sind selbst verwaltete Räume, die Regeln des Zusammenlebens werden von den zivilgesellschaftlichen Gruppen bestimmt. Diese Initiativen zum Schutz und zur Selbstbestimmung gehen von den Gemeinden aus, es sind keine externe, von staatlichen oder humanitären Akteuren vorgeschlagene Hilfsangebote. Die Gemeinden wollen verhindern, dass sie durch die Präsenz bewaffneter Akteure in ihren Wohn- und Arbeitsgebieten zur Zielscheibe des jeweiligen Gegners werden. Auch ist ihr Vorgehen eine anti-militaristische Antwort auf eine Kriegspolitik, die die Grenzen zwischen Zivilem und Militärischem verwischt, sowie auf das Verhalten aller bewaffneter Akteure, die versuchen die Zivilbevölkerung für militärische Ziele zu instrumentalisieren. Die Friedensinitiativen werden in einigen Fällen vor Ort von nationalen und internationalen Menschenrechts- und Friedensorganisationen begleitet, was ihren Aktionsradius erweitert.

Der Kampf gegen Straflosigkeit.

Eine weitere Komponente vieler Widerstandsinitiativen ist der Kampf gegen Straflosigkeit. Über Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen wird Buch geführt, diese werden öffentlich gemacht. Dabei finden nationale und internationale Instrumente des Menschenrechtsschutzes Anwendung. Das öffentlich machen von Menschenrechtsverletzungen durch Opfergruppen und sie begleitende Menschenrechtsorganisationen ist während eines Krieges mit einem hohen Risiko verbunden.

Das Engagement der meisten Gruppen, die zivilen Widerstand leisten, gilt nicht nur dem Widerstand gegen den Krieg, es hat einen weitergehenden emanzipatorischen Ansatz. Oft werden auf der Mikroebene gemeinschaftliche Formen des Zusammenlebens und Arbeitens praktiziert, auf der Makroebene reihen sich die Initiativen in den Kampf gegen die negativen Auswirkungen der Globalisierung und des neoliberalen Wirtschaftsmodells ein. Sie engagieren sich als politische Subjekte, aus der Perspektive der Opfer. Es ist ein ziviler und unbewaffnet geführter Kampf um die demokratische Transformation Kolumbiens, der im In- und Ausland von den Medien weitgehend ignoriert wird, obwohl er viele Menschenleben kostet.

Anmerkungen

1) Hernández-Delgado, Esperanza: Resistencia civil artesana de paz. Experiencias indígenas, afrodescendientes y campesinas. Bogotá: Editorial Pontificia Universidad Javeriana 2004, S. 32f.

2) Hernández-Delgado, Esperanza: s. o., S. 33.

3) Frauensolidarität in Kriegsgebieten. Seit neun Jahren besteht das kolumbianische Frauen-Friedensnetzwerk Ruta Pacífica de las Mujeres. In: ila 290, Nov. 2005, S. 43-44.

4) Diözesanstelle Weltkirche Trier, Arbeitsgruppe Menschenrechtsarbeit Kolumbien und Entwicklungspolitisches Landesnetzwerk Rheinland-Pfalz e.V. (Hg.): Kolumbien: Megaprojekte am Pazifik und der Weg zum Ethnozid. Auszüge einer Veröffentlichung der Kommission Leben, Gerechtigkeit und Frieden des Bistums Quibdó, Kolumbien. Trier 2004.

5) Ein Vertreter der Widerstandsgemeinde vom Jiguamiandó-Fluss im Pazifik-Tiefland Kolumbiens berichtet. In: ila 273, März 2004, S.43-45

6) Spanisch: Comunidades de Autodeterminación, Vida y Dignidad del Cacarica, CAVIDA

7) Comunidad de Vida y Trabajo La Balsita – Dabeiba

8) Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer nicht int. bewaffneter Konflikte (Protokoll II)

9) Zur Geschichte dieser Friedensgemeinde siehe: Gruppe Krisalida (Hg.): Eine Friedensinsel, die man nicht mehr zerstören kann. Aufzeichnungen eines Gesprächs mit Luis Eduardo Guerra Guerra, Friedensgemeinde von San José de Apartadó. Bonn, Februar 2006 (http://www.kolumbien-aktuell.ch/alledokumenten/06-02-21GedenkschriftLuisEduardoGuerra.pdf); Reis, Bettina: Eine gefährdete Friedensinsel. Internationale Mission besucht Friedensgemeinde von San José de Apartadó in Kolumbien. In: ila Nr. 292, Febr. 2006 (http://www.ila-web.de/artikel/ila292/sanjosedeapartado.htm)

Bettina Reis, Soziologin, ist bei der Lateinamerika-Zeitschrift ila für Kolumbien verantwortlich.

Der Neoliberalismus und die Volksbewegungen

Der Neoliberalismus und die Volksbewegungen

Wohin geht die Entwicklung in Lateinamerika?

von Dieter Boris

Lateinamerika ist in den letzten Jahren in Bewegung geraten. Sogar hier zu Lande hat man davon Notiz genommen, wenn auch spärlich. Und es gibt eine gewisse Hinwendung, ein gewisses gesteigertes Interesse an diesen Prozessen, die sich dort offenbar abzeichnen. Stichworte: Venezuela, Uruguay, Brasilien, Argentinien, Bolivien, Ecuador. Aber was passiert dort wirklich? Gewiss, Bewegung lässt sich feststellen. Einige Präsidenten neoliberaler Provenienz sind aus ihren Ämtern vertrieben worden. Zeitweise waren erhebliche soziale Bewegungen zu beobachten. Der antineoliberale Diskurs ist stärker geworden oder, anders gesagt, der Neoliberalismus als Diskurs ist nicht mehr allein herrschend. Es gibt Neuansätze, aber die Frage ist, wie ist das Verhältnis von Kontinuität und Bruch, sind wirklich neue Verhältnisse zu konstatieren; sind diese neuen Mitte-Links-Regierungen der Anfang von etwas grundsätzlich Anderem oder nur die modifizierte Fortsetzung des Alten?

Als Ausgangspunkt für die neoliberale Hegemonie in den Ländern Lateinamerikas (Ausnahme Kuba) ist die Schuldenkrise Anfang der achtziger Jahre zu sehen. Diese wiederum war Ausdruck einer gewissen Erschöpfung des bisherigen Entwicklungsmodells, das auf Importsubstitutionen beruhte, also Ersatz von Importen und Binnenmarkt-Zentrierung einschloss. Damit ist eine gewisse Krisensituation bezeichnet, aus der neue Wege der Weiterentwicklung gesucht wurden. Natürlich wirkte dabei auch der Druck von außen mit, also die Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF), die Auflagen und Pressionen ausländischer Gläubiger und vor allen Dingen der so genannte berühmt-berüchtigte Konsens von Washington, der eine Skizze neoliberaler Politikmodelle beinhaltete. Diesem Druck von außen entsprach eine interne Machtverschiebung dahingehend, dass nun bestimmte Kapitalfraktionen, wie das Export- und Importkapital, die Finanzfraktion, aber auch technokratische Fraktionen gegenüber den binnenmarktorientierten Teilen der Bourgeoisie und anderen Bevölkerungssegmenten die Überhand gewannen. Das neue Programm der neoliberalen Politik, d. h. Öffnung nach außen, Privatisierung, Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, Liberalisierung der Preise usw., dieser ganze Katalog wurde nun in fast allen Ländern Lateinamerikas mehr oder minder radikal und intensiv umgesetzt. Das Versprechen derjenigen, die dieses Rezept verordneten, war, dass damit die Hoch- oder Hyperinflation – ein Übel der vorherigen Entwicklung – ausgeschaltet, die Stagnation im ökonomischen Bereich überwunden, die Arbeitslosigkeit reduziert und die Polarisierung der Gesellschaft vermindert werden könne. Mit der Umsetzung neoliberaler Politik ging das Versprechen der Wohlfahrtsteigerung einher. Tatsächlich waren in der Anfangsphase dieser neoliberalen Politik auch bestimmte Erfolge zu verzeichnen, z.B. haben sich die neoliberalen Regierungen immer auf die Fahnen geschrieben, die Hoch- oder Hyperinflation, manchmal von mehreren tausend Prozent im Jahr, relativ effektiv und schnell bekämpft zu haben. In der Tat kam es in den ersten Jahren auch zu einem gewissen Wiederanstieg der Wachstumsprozesse, vor allen Dingen Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre.

Bewegungen gegen die neoliberale Hegemonie waren zunächst sehr schwach. Es kam zwar manchmal wie bei der Regierungsübernahme in Peru oder auch in Venezuela zu spontanen Aufständen, zu Unmutsäußerungen der Bevölkerung über die Preisanstiege. Im Grunde genommen waren das aber sehr sporadische, vorübergehende Ereignisse. Es gelang vielen neoliberalen Präsidenten dann doch, sich durch- und die neoliberale Politik umzusetzen.

Länder- und phasenweise war das natürlich sehr unterschiedlich. In einigen Fällen war diese neoliberale Politik so erfolgreich, dass sie eine zumindest passive Zustimmung der Beherrschten fand, so dass manche Präsidenten nach der ersten Regierungsperiode mit großen Mehrheiten wiedergewählt wurden. Fujimori in Peru z.B. wurde Mitte der neunziger Jahre mit über fünfzig Prozent wiedergewählt, Menem mit ca. fünfzig Prozent. In der ersten Phase, Ende der achtziger bis zur zweiten Hälfte der neunziger Jahre, kann in bestimmten Ländern tatsächlich von so etwas wie einer neoliberalen Hegemonie, d. h. einer Zustimmung großer Teile der Beherrschten zu diesem Modell, gesprochen werden. Das hängt auch damit zusammen, dass etwa gewisse Entbürokratisierungen durchgeführt wurden, manchmal den Kommunen mehr Gewicht zugemessen wurde, dass auf kommunaler Ebene gewählt werden konnte oder dass die Importe billiger geworden waren.

Hintergründe des Akzeptanz- verlustes neoliberaler Regime

Die ersten Risse und Brüche dieser neoliberalen Hegemonie zeigten sich schon in der ersten Hälfte der neunziger Jahre. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an den Aufstand der Zapatisten am 1. Januar 1994. Die eigentliche Häufung von Protesten gegen die neoliberale Herrschaft erfolgte aber erst Ende der neunziger Jahre und vor allen Dingen mit Beginn des neuen Jahrhunderts.

Welche Faktoren führten zum Akzeptanzverlust der neoliberalen Herrschaft? Man kann feststellen, dass nach den gestiegenen Wachstumsraten Anfang der neunziger Jahre in der zweiten Hälfte in den meisten Ländern eine Stagnationsphase einsetzte. Es kam auch zu großen Krisen und langwierigen Rezessionen, wie in Argentinien von 1998 bis 2001. Es ereigneten sich eine Reihe von Finanzkrisen, die mehr oder minder tiefgreifende Wirkungen entfalteten: Finanzkrise in Mexiko 1994 und 1995, Finanz- und Währungskrisen in Brasilien Anfang 1999, Argentinien eigentlich dauernd seit 2000 bis 2002.

Die Arbeitslosigkeit stieg im Laufe dieser Krisen weiter an. Der informelle Sektor, die prekären Arbeitsverhältnisse multiplizierten sich. In manchen Ländern betrafen sie mehr als die Hälfte der Arbeitenden. Die sozioökonomische Polarisierung, also Einkommenspolarisierung, Differenzierung, Auseinanderdriften von Armut und Reichtum, nahm ungeahnte Dimensionen an. Zu all diesen ökonomischen und sozialen Defiziten der neoliberalen Politik und Herrschaft gesellten sich verschiedene institutionelle Schwächen wie das Versagen von Justiz, Polizei und der Parteien, teilweise auch der gesteuerten Medien. Es kam zu einer gewissen Unzufriedenheit mit der formalen Demokratie, die in einer Reihe von Ländern ja erst Anfang der achtziger Jahre – nach den Diktaturen der siebziger Jahren – erreicht worden war.

Zu den Momenten, die die Unzufriedenheit mit dem neoliberalen Modell gefördert haben, zählt auch das Ansteigen der Gewaltkriminalität im Alltag. Hinzu kam ein Phänomen, das Lateinamerika früher nicht gekannt hatte. Lateinamerika war immer ein Einwanderungskontinent gewesen, was sich aber in den neunziger Jahren ins Gegenteil kehrte. Einzelne Länder wurden geradezu für ihre Auswandererströme bekannt. Fast 20 % der Uruguayos leben heute im Ausland. Es gab die berühmten Bilder, auf denen ausreisewillige Argentinier Botschaften belagern. Die nach Spanien fliehenden Ecuadorianer und Ecuardorianerinnen sind notorisch, die Migrationsströme aus Zentralamerika, den karibischen Ländern und Mexiko in die USA ohnehin bekannt.

Die wachsende Unzufriedenheit mit dem Neoliberalismus und die Erkenntnis, dass die Versprechen, die mit ihm einhergegangen waren, immer weniger erfüllt wurden, führte dazu, dass es in manchen Ländern zu spontanen Aktionen kam, dass Präsidenten durch mobilisierte Massen weggefegt wurden. Das fängt schon 1997 in Ecuador mit Bucarám an, der als geistig umnachtet vom Parlament abgesetzt und dann von der Massenbewegung ins Exil getrieben wurde. Es traf auch andere Präsidenten, 2000 nochmals in Ecuador, dann in Argentinien, wo der gewählte Präsident Fernando de la Rúa völlig diskreditiert und blamiert das Regierungsgebäude in einem Hubschrauber verlassen musste, weil er im Dezember 2001 einen Einsatz der Polizei befohlen hatte, bei dem 40 Tote zu beklagen waren.

In anderen Ländern waren es eher Wahlen, die zu einer Umkehr führten wie in Brasilien, Uruguay und teilweise auch in Peru.

Neue und alte soziale Bewegungen

An den Aktivitäten gegen die neoliberalen Regime waren alte soziale Bewegungen, d. h. solche, die schon vor diesen Krisenzeiten existiert hatten, beteiligt, aber auch Bewegungen, die erst damals entstanden sind. In Argentinien bildeten sich z.B. ganz neue Bewegungen wie die der Piqueteros, die Arbeitslosenbewegung, die Stadtteilversammlungen, die Tauschbörsen, die Bewegung der besetzten Betriebe etc. All das sind Bewegungen, die es in dieser Form in den achtziger und neunziger Jahren noch nicht gegeben hatte.

Wie sind diese neuen Bewegungen einzuschätzen? Zunächst ist überraschend, dass sie sich überhaupt gebildet haben und eine solche Pressions- und Schubkraft entwickeln konnten. Denn die sozialen Bewegungen in Lateinamerika erlebten nach dem Rückzug der Militärdiktaturen und der Erringung der formalen Demokratie einen Rückgang. Fast überall konnte man beobachten, dass Bewegungen, die im Kampf gegen die Militärdiktatur einen Aufschwung erlebt hatten und sehr wichtig gewesen waren bei der Verdrängung der Militärs von der politischen Herrschaft, einen Rückgang erlebten. Das hängt mit vielen Dingen zusammen, unter anderem damit, dass viele ihrer Leute in Regierungs- oder Parteiämter kamen, dass das gemeinsame Feindbild eines Militärdiktators nun fehlte, dass mit bestimmten Maßnahmen seitens der neuen formalen Demokratien Bewegungen befriedigt wurden.

Sodann war die Revitalisierung dieser sozialen Bewegungen auch deshalb erstaunlich, weil sich unter dem Neoliberalismus Sozialstrukturen, die vorher vorhanden gewesen waren, verändert hatten. Verändert in dem Sinne, dass es jetzt wesentlich mehr Angehörige des informellen Sektors bzw. in prekären Arbeitsverhältnissen gab und eine gewisse Atomisierung der Sozialstruktur stattfand. Große Kollektive, die in Großbetrieben oder auch in Dienstleistungsbetrieben vorhanden gewesen waren, wurden im Zuge neoliberaler Politik zerschlagen oder extrem reduziert. Die Ansätze einr kollektiven Oppositions- und Widerstandsbewegung wurden dadurch sehr erschwert.

Aus diesen beiden Gründen ist es erstaunlich und bedenkenswert, dass es überhaupt wieder zu einem Aufschwung dieser sozialen Bewegung ab Ende der neunziger Jahre kommen konnte.

Sicher war entscheidend, dass ab einem bestimmten Punkt die Differenzen und Atomisierungstendenzen überdeckt wurden von dem gemeinsamen Protest gegen die neoliberalen Herrschaftsformen. Es kam zu Bündnissen zwischen Teilen der Mittelschichten und den Unterschichten. In Argentinien wurde das auf dem Höhepunkt der Krise 2001 – 2002 ganz deutlich, als sich die Cacerolazos, die Töpfe schlagenden Mittelschichtsangehörigen, die an ihre Konten wollten, mit den Piqueteros, den Arbeitslosen- und Gewerkschaftsbewegungen, verbündeten.

Wichtig war auch bei der Entstehung dieser neuen Protestbewegung, dass es in den meisten Ländern eine Bewegung gab, die voran schritt, die eine Vorreiterrolle einnahm. In manchen Ländern waren es die indigenen Bewegungen, vor allem in Ecuador und Bolivien. Im Schatten der indigenen Bewegung aktivierten sich dann auch die Gewerkschaftsbewegung, die Bewegungen der Cocaleros und der Minenarbeiter sowie der im Erziehungsbereich Arbeitenden.

In Argentinien lag die Vorreiterrolle bei den schon erwähnten Piqueteros, den neu gebildeten Arbeitslosenbewegungen. Interessanterweise sind sie im Nordwesten Argentiniens entstanden. Hier hatte die Privatisierung großer Unternehmen, z.B. der Raffinerien in Neuquén und Salta, ganze Regionen in die Arbeitslosigkeit gestürzt. In der Folge kam es zu Bündnissen zwischen Mittel- und Unterschichten, an denen sich auf lokaler und regionaler Ebene sogar Regierungsoffizielle beteiligten. In der tiefsten Provinz bildeten sich die ersten Keime dieser Arbeitslosenbewegung heraus, die dann erst relativ spät das Zentrum des Landes, den Großraum Buenos Aires erreichte. Dann aber spielte diese Arbeitslosenbewegung eine dominierende Rolle, der sich andere Bewegungen wie die Stadtteil-, die Frauen- und die Menschenrechtsbewegung anschlossen.

Ähnliches kann man auch für Brasilien konstatieren, wo der Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra, die Landlosenbewegung, eine gewisse Vorreiterrolle hatte. Man kann generell sagen, dass bei diesen Bewegungen der territoriale Aspekt wichtiger ist als der betriebliche. Bei den alten sozialen Bewegungen waren immer die betrieblichen Kerne wichtig, weil im Betrieb eben viele Menschen zusammengefasst waren, große Gruppen an einem Ort kommunizieren konnten. Das ist durch die Dispersion und die Atomisierung im Zuge des Neoliberalismus erschwert worden; von daher war das territoriale Organisationsprinzip eine logische Schlussfolgerung aus dieser Entwicklung. Das heißt: Stadtviertel schließen sich zusammen, Piqueteros, Arbeitslose blockieren an bestimmten Punkten der Stadt Verkehrsknoten und erheben Forderungen, nicht um den Produktionsprozess still zu legen, aus dem sie ja heraus gefallen sind, sondern den Zirkulationsprozess. Damit werden der übrigen Gesellschaft neue Signale vermittelt.

Überwindung des Neoliberalismus – Chancen und Probleme

Wie sind die neuen Regime in Lateinamerika – die allgemein als Mitte-Links-Regierungen bezeichnet werden – einzustufen? Wird mit ihnen das Zeitalter nach dem Neoliberalismus eingeläutet oder nur ein postneoliberales Zeitalter. Der von mir geschätzte Kollege Hans-Jürgen Burchardt hat ein Buch veröffentlicht mit dem Titel »Nach dem Neoliberalismus«. Ich würde sagen, das ist ein sehr hoffnungsfroher Titel, aber so weit sind wir noch nicht. Es ist eben das Problem, dass unsere Hoffnungen, Erwartungen und Wünsche uns gelegentlich ein Schnippchen schlagen. Notwendig ist eine genaue Analyse, um die Relativität dieser Fortschritte bei der Ablehnung des Neoliberalismus exakt und richtig einschätzen zu können.

Ganz klar ist, dass mit den Regierungswechseln in mehreren Ländern Lateinamerikas in Richtung Mitte-Links ein Schritt nach vorne gemacht wurde. Die monolithische, erstickende pensée unique, pensamiento unico, das Einheitsdenken wurde durchbrochen, es gibt neben dem Neoliberalismus jetzt auch andere Diskurse. Das ist natürlich ein wichtiger Fortschritt, und damit haben sich die Handlungsbedingungen der Linken (im weitesten Sinne) verbessert. Aber die Situation ist eben keineswegs eindeutig. Der Neoliberalismus ist in den meisten Ländern bei weitem nicht zu Grabe getragen und hat auch da, wo er oberflächlich gekappt ist, noch sehr tiefgreifende und festsitzende Wurzeln. Dem Prestige- und Legitimationsverlust des neoliberalen Diskurses in der Öffentlichkeit, in der Kultursphäre und anderen Bereichen, stehen noch feste Bastionen in der Wirtschaftspolitik und zum Teil auch in der militärpolitischen Orientierung entgegen. Atilio Borón, ein wichtiger argentinischer Politologe, der auch Vorsitzender der CLACSO ist, umreißt diese Ambivalenz mit den Worten: „Gegenwärtig ist ein bemerkenswertes Auseinanderklaffen zwischen einer unübersehbaren Schwächung neoliberaler Impulse in den Bereichen Kultur, öffentliches Bewusstsein und Politik einerseits und zur gleichen Zeit deren eingewurzelter Fortdauer auf dem entscheidendem Terrain der Wirtschaft und des policy making andererseits festzustellen.“ In der Wirtschaftspolitik wird die Unabhängigkeit der Zentralbank, ein Leitdogma des Neoliberalismus, anerkannt, der Kniefall vor dem IWF wird vollzogen usw. Auf der anderen Seite redet man in wichtigen Bereichen der Politik eher antineoliberal. In Brasilien und in Uruguay sind diese Erscheinungen ganz deutlich. Diese Ambivalenz gilt es zu analysieren. Vielleicht ist es ja so, wie Anibal Quijano, ein peruanischer Soziologe, es formulierte, dass mit dem Verfall neoliberaler Hegemonie keineswegs automatisch antikapitalistische Kräfte nach vorne gekommen sind, sondern dass möglicherweise nur eine neue Form bürgerlicher Hegemonie angestrebt wird.

Eine neue Form bürgerlicher Hegemonie, die vielleicht eine etwas modifizierte Einbindung in den Weltmarkt anstrebt, vielleicht mit sozialen Beimengungen, aber keineswegs schon einen Schritt in Richtung der Überwindung des Kapitalismus darstellt.

Diese ambivalente Situation wird auch innerhalb der Linken der betroffenen Länder sehr unterschiedlich eingeschätzt. So wird z.B. das Phänomen Chávez und die »Bolivarianische Revolution« innerhalb der Linken Venezuelas außerordentlich kontrovers diskutiert. Innerhalb Argentiniens gibt es selbst unter Marxisten polar entgegengesetzte Auffassungen zu Kirchner und seiner Politik.

Vielleicht kann ich das am Fall des argentinischen Präsidenten Kirchner exemplifizieren. Kirchner hat eine ziemliche Wende gegenüber der Politik seiner Vorgänger vollzogen. Er hat eine neue Menschenrechtspolitik eingeschlagen, dafür gesorgt, dass die Amnestiegesetze oder Selbstamnestiegesetze aufgehoben und Veränderungen im Justizbereich durchgesetzt wurden. Auch eine außenpolitische Wende hat stattgefunden. Der Mercosur, das Integrationsbündnis der südamerikanischen Staaten, soll ein neues Gesicht erhalten. Auf der anderen Seite aber versucht derselbe Kirchner, die sozialen Bewegungen zu spalten, etwa die Piqueterobewegung: manche sind die guten und manche die schlechten Piqueteros. Auch Kirchner plädiert dafür, dass die Exportpolitik und der bürgerliche Wiederaufbau gestützt wird. Er macht daraus keinen Hehl, er sagt offen, wir wollen ein »país en serio«, einen seriösen ernsthaften Kapitalismus. Für die Linke stellt sich damit die Frage, ob sie eine diametrale Oppositionspolitik gegen diese Kirchner-Linie machen muss. Ist Kirchner, wie James Petras, Maristella Svampa und andere Linke sagen, der Typus des besonders raffinierten, neuen Konservativen, den es zu bekämpfen gilt, oder muss man der Kirchner-Regierung mit kritischer Distanz und zeitweisen Bündnissen begegnen?

Nirgendwo ist eine antikapitalistische sofortige Umwälzung in Sicht. Von daher erscheint auch die Frage der distanzierten Unterstützung dieser Mitte-Links-Regierungen in einem anderen Licht. Gerade die Tatsache, dass eine Linke z. B. in Argentinien, in Venezuela oder anderswo, in einer kompakten, konzentrierten, entschlossenen Form überhaupt nicht vorhanden ist, welche systemtranszendierende Qualitäten hätte, zeigt, dass der Prozess einer weitreichenden Umwandlung dieser Gesellschaften und Ökonomien wahrscheinlich ein sehr langfristiger Prozess ist. Kurz- und mittelfristig ist wohl nicht von einer grundlegenden Veränderung auszugehen. Das bedeutet, dass mit der Ablehnung und sukzessiven Zurückdrängung des neoliberalen Modells auch ein Lernprozess einhergehen muss, eine Suche nach neuen Formen der politischen Vergesellschaftung, nach neuen Formen auch von ökonomischen Handlungsweisen. Also genau das, was in Lateinamerika jetzt als Sektor der solidarischen Ökonomie bezeichnet wird, ein genossenschaftlicher, solidarischer Sektor. Alternative Wirtschaftsformen fallen nicht vom Himmel oder sind nicht schon da, sie sind nichts was man einfach von der Stange nehmen könnte, sondern sie müssen langwierig entwickelt, für sie muss Bewusstsein entfaltet werden. Das ist ein sehr langwieriger Prozess sowohl auf ökonomischer und auf politischer Ebene, aber vor allen Dingen auch auf der Ebene der politischen Kultur. Eine ganz neue politische Kultur muss erlernt werden, die von dem Vertikalismus, also hierarchischen Beziehungen, die auch in der Linken durchaus verbreitet sind, wegkommt und die Horizontalität, die Autonomie der einzelnen Bewegungen, Toleranz für pluralistische Ansätze in unterschiedlichen Bewegungen und die Konzentration dieser unterschiedlichen Bewegungen auf einen Punkt hin anstrebt.

Aufgrund der Schwäche der Linken in den meisten Ländern Lateinamerikas können solche Prozesse der schrittweisen Zurückdrängung des Neoliberalismus eine Chance besitzen. Auf Seiten der Linken gilt es, diese Prozesse als Lernphase und Akkumulation eigener Kräfte zu reflektieren und mit Politikvorschlägen und Alternativen zu begleiten, bis dann irgendwann eine gerechtere Ordnung durchgesetzt werden kann.

Literatur:

Boris, D./St. Schmalz/A. Tittor (Hg.) (2005): Lateinamerika: Verfall neoliberaler Hegemonie?, Hamburg: VSA Verlag.

Burchardt, H.J. (2004): Zeitenwende. Politik nach dem Neoliberalismus, Stuttgart: Schmetterling Verlag.

Lateinamerika-Jahrbuch Nr. 29 (2005): Neue Optionen lateinamerikanischer Politik, Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot

Das Argument, Nr. 262 (H. 4/2005): Links-Regierungen unterm Neoliberalismus, Hamburg: Argument Verlag.

Dr. Dieter Boris, Professor für Soziologie an der Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Probleme der Entwicklung/Unterentwicklung, Weltwirtschaft, Soziologie und Ökonomie Lateinamerikas

Neuordnung der deutschen Rüstungsforschung

Neuordnung der deutschen Rüstungsforschung

Proteste der Beschäftigten

von Dietrich Schulze

Im Gefolge der Anschläge des 11. September haben die Bestrebungen neuen Auftrieb erhalten, zivile Forschung für militärische Zwecke in Dienst zu nehmen. Gemäß den neuen verteidigungspolitischen Richtlinien sind die Mittel des Verteidigungsetats auf die Befähigung der Bundeswehr zu weltweiten Militäreinsätzen umzuorientieren. Mit GALILEO wird der militärischen Nutzung des Weltraums Schubkraft verliehen werden. Die gerade unterzeichnete EU-Verfassung sieht eine permanente Aufrüstung unter Einschluss der Forschung vor. Der Plan, die Institute der Forschungsgesellschaft für Angewandte Naturwissenschaften (FGAN) 1 und das Institut für Technische Physik des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) 2 in die Fraunhofergesellschaft(FhG)3 einzugliedern, wird ausdrücklich mit den verteidigungspolitischen Richtlinien und der beabsichtigten Nutzung von zivil/militärischen Synergieeffekten begründet. Wie reagieren darauf die in der staatlich finanzierten, außeruniversitären Forschung Beschäftigten? Gibt es Gegenkräfte gegen die Militarisierungspläne? Treten diese der Militarisierung sichtbar entgegen? Hat die Entspannungs- und Friedenspolitik der 1970er Jahre im Bewusstsein der Forscher Spuren hinterlassen? Haben die auch früher schon propagierten »dual use«-Konzepte Wirkungen gezeitigt? Ist die bisher überwiegend praktizierte organisatorische Trennung von ziviler und militärischer Forschung in der staatlichen Forschung ein Militarisierungshemmnis? Die nachfolgende praxisbezogene Betrachtung aus Anlass der beabsichtigten Eingliederung staatlicher Rüstungsforschung in die Fraunhofergesellschaft beleuchtet einen Teilsektor der Forschung, kann aus Platzgründen aber nicht auf Details der geplanten Fusion eingehen.

Im Mai 2003 wurde eine Analyse des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg)4 über die Neuordnung der Rüstungsforschung fertig gestellt, wonach die vom BMVg grundfinanzierten Institute der FGAN und das DLR-Institut ITP in die Fraunhofergesellschaft (FhG) eingegliedert werden sollen. Der FhG-Vorstand reagierte zurückhaltend, da lediglich eine Übergangsfinanzierung für die einzugliedernden Institute angeboten wurde. Der Gesamtbetriebsrat (GBR) der FhG erinnerte an den mühsamen Konversionsprozess, frühere Militärforschung in der FhG ganz oder teilweise zur zivilen, wirtschaftsnahen Forschung hinzuführen. Er bezweifelt, dass sich die fusionierten Militärforschungs-Institute mittelfristig behaupten und ihren Industrieanteil einwerben können (FhG-Finanzierungsmodell: je ein Drittel Industriefinanzierung, öffentliche Aufträge, Grundfinanzierung). Er weist auf negative Erfahrungen mit der noch nicht abgeschlossenen Integration der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (GMD)5 hin. Außerdem befürchtet er Überkapazitäten und damit einen Abbau von Arbeitsplätzen. Die behaupteten Synergien seien für die FhG nicht erkennbar.

Die FhG hat einen Militärforschungsanteil von ca. 7 %, der sich auf die fünf genannten Institute konzentriert. Das mag erklären, warum vom Gesamtbetriebsrat keine rüstungskritischen Anmerkungen zu hören waren.

Diskussion an der Basis

Anders entwickelt sich die Diskussion an der Basis. Zwei der zur Fusion anstehenden Institute, das FhG-Institut IITB in Karlsruhe und das FGAN-Institut FOM in Ettlingen bei Karlsruhe sollen zu einem gemeinsamen Institutszentrum weiterentwickelt werden. Das Thema Pro und Contra Fusion hat hier eine buchstäblich hautnahe Relevanz und wurde im zuständigen ver.di-Fachbereich mit Mitgliedern aus allen betroffenen und auch anderen Bereichen der Forschung behandelt. Nach kontroversen Diskussionen wurde geklärt, dass es weder vom FGAN-Vorstand noch aus dem Kreis der FGAN-Beschäftigten Konversionsabsichten weg von der Militärforschung gibt. Deswegen wurde schließlich die Fusion abgelehnt. Die Ablehnung wird mit eingangs genannten politischen Entwicklungen und den Gefahren einer Verbreiterung von »dual-use« begründet. Die Stellungnahme6 wurde im Mai 2004 an die zuständigen Bundesminister gerichtet, ohne dass diese bis jetzt darauf geantwortet hätten.

Gegen Fusion mit Militärforschung

Der Betriebsrat des Forschungszentrums Karlsruhe unterstützte die ver.di-Stellungnahme und legte sie zur Beschlussfassung der Konferenz der Arbeitsgemeinschaft der Betriebs- und Personalräte der außeruniversitären Forschungseinrichtungen (AGBR) vom 25.-27. Oktober 2004 in der DLR Berlin-Adlershof vor. Die AGBR, die 50.000 Beschäftigte in der außeruniversitären Forschung vertritt, fasste dann folgenden Beschluss.

„Die AGBR-Konferenz lehnt die Eingliederung der FGAN-Institute und des DLR-Instituts ITP in die Fraunhofergesellschaft ab. Wir sehen dafür keine sachliche Notwendigkeit. Die behaupteten Synergieeffekte sind nicht erkennbar. Bei einer Fusion besteht die Gefahr einer stärkeren Ausrichtung auf militärische Forschung in der FhG und der Vermischung von ziviler und militärischer Forschung. Gegen einen solchen maximierten militärischen Nutzen ziviler Forschung (dual use) hat sich die AGBR in ihren Thesen bereits 1994 ausgesprochen. Auch der letzte ver.di-Bundeskongress hat diese Position aufgrund eines konkreten Anlasses bestätigt. Die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn, hat sich klar und eindeutig gegen »dual use« positioniert. In einem Gespräch mit der AGBR im Mai 1999 hat sie die ,Transparenz und Abgrenzung zwischen militärischer und ziviler Forschung‘ bekräftigt.“

Erneut werden Ministerin Bulmahn und Minister Struck um Stellungnahme gebeten.

In der AGBR-Konferenz waren Delegierte der Betriebs- und Personalräte aus allen angeschlossenen Forschungsgemeinschaften – Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren (HGF), Fraunhofergesellschaft, Max-Planck-Gesellschaft, Leibniz-Gemeinschaft und FGAN – vertreten. Die DLR ist das einzige Zentrum innerhalb der auf zivile Forschung ausgerichteten HGF (früher Großforschungseinrichtungen), in der auch militärische Forschung betrieben wird.

Im AGBR-Beschluss, in dem bewusst keine Rede von den aktuellen politischen Entwicklungen und Militarisierungsplänen ist, wird immerhin im Konsens festgehalten, dass das Militärische nicht verstärkt werden und vom Zivilen getrennt bleiben soll.

Betriebsrätethese gegen Militarisierung und »dual use«

Hierin zeigt sich der ungebrochene Wille, das Zivile zu beschützen, aber auch ein Rückgang an politischer Klarheit bzw. an Konsequenz aus den eigenen Erkenntnissen. Zehn Jahre zuvor drückte sich das Bewusstsein der Betriebs- und Personalräte in den AGBR-Thesen7 »Forschung in gesellschaftlicher Verantwortung« noch so aus:

„Der Anteil staatlicher Forschungsförderung für die Militärforschung sowie das politische Bestreben, militärische Anforderungen bei zivilen Entwicklungen möglichst frühzeitig mit zu berücksichtigen (dual use), führt zu gesellschaftlich und sozial unverträglichen Schwerpunktsetzungen. Die Militarisierung der Forschung steht den Forderungen nach Demokratisierung, Offenlegung und Transparenz entgegen und behindert die notwendige Ausweitung internationaler Zusammenarbeit. Die Lösung regionaler und globaler Haushaltsprobleme erfordert eine grundsätzliche Neuorientierung der Forschungsförderung auf zivile Zwecke (Konversion von Wissenschaft und Forschung). Die weltpolitischen Entwicklungen gebieten die Abschaffung von Militärforschung und den Ausstieg aus der Rüstungsproduktion bei Erhalt der Arbeitsplätze durch Konversionsprogramme.“

In Anwendung der These nahm die AGBR-Konferenz drei Jahre später aufgrund einer Raumfahrt-Strukturänderung mit »dual-use«-Charakter Stellung.8 Es ist offensichtlich, dass die These nach dem Tabubruch 1999 »Nie wieder Krieg von deutschem Boden« eine noch bedeutend größere Berechtigung erlangt hat. Wer hätte es sich träumen lassen, dass eine SPD-geführte Bundesregierung mit bündnisgrünem Koalitionspartner die Bundeswehr in einen Angriffskrieg schickt und dass Bundeskanzler Schröder auch noch stolz darauf ist, das gesellschaftliche Tabu gegen »Militärisches« generell gebrochen zu haben.

2003: Gewerkschaft gegen »dual use«

Dem oben angeführten Beschluss des ver.di-Bundeskongresses (19.-25. Oktober 2003)liegt ein Schriftwechsel9 des Betriebsrats des Forschungszentrums Karlsruhe mit dem HGF-Präsidenten zugrunde. Der Beschluss hat folgenden Wortlaut:

„Die Gewerkschaft ver.di bekräftigt die Forderung, dass die Forschungstätigkeit in den öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen der Helmholtz-Gemeinschaft (HGF – früher Großforschungseinrichtungen) wie bisher auf zivile Forschung beschränkt bleibt. Die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA rechtfertigen nicht die Ausweitung auf militärische oder zivil-militärische Forschung (dual use). ver.di lehnt dies ab und wird diese Ablehnung gegenüber der Bundesregierung nachdrücklich vertreten. Die ver.di-Vertrauensleute und die ver.di-Betriebs- und Personalräte werden ermutigt, gegen bekannt werdende Forschungs- und Entwicklungsprojekte dieser Art Protest zu erheben. ver.di sagt ihnen und den Beschäftigten, die sich weigern an derartigen Projekten mitzuarbeiten, öffentlichkeitswirksame und gegebenenfalls rechtliche Unterstützung zu.“

Trennung zivil/militärisch und »dual use«

Im AGBR-Beschluss wird im Zusammenhang mit Äußerungen von Ministerin Bulmahn die Ablehnung von »dual use« in einem Atemzug mit der Trennung von ziviler und militärischer Forschung gebraucht. Ist das korrekt?

Die Antwort auf die Frage mag sich aus dem Studium der Literatur10 ergeben, die sich mit der zivil-militärischen Ambivalenz der Forschung und Technik befasst, aber auch aus der Forschungspraxis.

Meine These: Die organisatorische Trennung von ziviler und militärischer Forschung ist eine wichtige und notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Vermeidung von »dual use«. Je weniger Militärforschung erlaubt wird, umso besser können »dual use«-Konzepte vermieden werden.

Wie die AGBR-These besagt, ist »dual use« in der Forschung das Bestreben, militärische Anforderungen bei zivilen Entwicklungen möglichst frühzeitig mit zu berücksichtigen. Es ist demnach möglich, die zivilen Forschungsziele so zu setzen und die Organisation so zu wählen, dass nur solche Forschung zum Zuge kommt, die von vornherein einen hohen militärischen Nutzen verspricht. Ein Beispiel für technische Forschungs- und Entwicklungsprojekte: die USA haben für die Fusionsforschung deswegen den Trägheitseinschluss (lasergetriebene Fusion, NIF Livermore) gewählt, weil dieser im Gegensatz zum Magneteinschluss (Tokamak, ITER) einen militärischen Nutzen versprach. Ein Gutteil der Forschung ist hingegen Grundlagenforschung, die per se späteren zivilen und militärischen Nutzen ermöglicht. Welche Grundlagenforschung kann aus Erwägung eines nicht gewollten militärischen Nutzens eingeschränkt werden? Ein fast aussichtsloses Unterfangen!

Nun zur Trennung. Dafür gibt es ein bekanntes Beispiel, die technische Anwendung der Kernspaltung. Durch Auflage der Alliierten war Kernwaffenforschung berechtigterweise auf deutschem Boden verboten und Kernforschung ausschließlich für zivile Anwendungen erlaubt. In den Satzungen aller kerntechnischen und ehemals kerntechnischen Forschungseinrichtungen ist dieses Gebot »Forschung ausschließlich für friedliche Zwecke« (Zivilklausel) auch heute noch gültig, und zwar für alle Arten von Forschung.

Diese verordnete Trennung hat das Selbstverständnis des Forschungspersonals bis heute positiv geprägt. Hier zwei direkte Beweise für dieses Selbstverständnis, nur an ziviler Forschung arbeiten zu wollen und nicht bloß deswegen, weil Kernwaffenforschung verboten ist.

SDI Ablehnung

Als US-Präsident Reagan am 23. März 1983 das SDI-Programm (Laserwaffen gegen Atomraketen) verkündete, gedachte auch die Fa. Siemens, sich ein Stück aus dem Milliarden-Dollar-Kuchen heraus zu schneiden. In diesem Zusammenhang tauchte Ministerialdirektor Dr. Borst, Leiter der BMFT-Abteilung für Grundsatzfragen, im Mai 1986 bei einer AGBR-Konferenz auf und warb allen Ernstes für eine Teilnahme der staatlichen Großforschung mit dem Argument, dass SDI der Verteidigung diene und das BMFT darin keine Verletzung der Zivilklausel sehe. Die betroffenen Forscher sahen das ganz anders. Für sie waren die angeblichen Abwehrwaffen Kriegswaffen, die obendrein als Angriffswaffen eingesetzt werden können. Damals unterzeichneten über 1.000 MitarbeiterInnen in den Großforschungseinrichtungen eine Selbstverpflichtung, sich einer Teilnahme an der SDI-Forschung zu verweigern. Aus der groß angelegten SDI-Forschung wurde nichts. Einige Wenige in Stuttgart machten allerdings mit, u. a. das jetzt zur Fusion anstehende DLR-Institut ITP.

Ein zweites Beispiel für das Selbstverständnis »ausschließlich Zivilforschung«. Die Bundestagsgruppe der Unionsfraktion im Forschungsausschuss beantragte im Oktober 1993 den folgenden Bundestagsbeschluss: „Die faktische Trennung zwischen ziviler und militärischer Forschung ist zu überdenken (Stichwort ‚dual use’). Die sich daraus ergebenden Folgerungen sind dem Deutschen Bundestag bis Mitte nächste Jahres vorzulegen.“ Dagegen erhob sich in den staatlichen Forschungseinrichtungen und in Universitäten erheblicher Protest. Die Delegiertenversammlung (Sprecher der wissenschaftlichen Beschäftigten) des damaligen Kernforschungszentrums (heute Forschungszentrum Karlsruhe) überbrachte MdB Lenzer (CDU) ihre Ablehnung in Bonn persönlich. Fast 100 Unterzeichner wandten sich mit dem Appell11 »NEIN zu ‚dual use’. Nein zur Militarisierung der Forschung. Wissenschaft und Forschung müssen dem weltweiten Frieden und der Verbesserung der Lebensbedingungen dienen« an die Öffentlichkeit. Das CDU/CSU-Projekt wurde fallengelassen, was Herrn Lenzer nicht daran hinderte vier Jahre später das gleiche im Zusammenhang mit dem Bau des Euro-Fighter12 zu verlangen. Forderungen nach Aufhebung der Trennung ziehen sich übrigens wie ein roter Faden durch die wehrwirtschaftliche Literatur. Treibender Faktor ist die Luft- und Raumfahrtindustrie (LRI). Tatsache ist jedenfalls, dass die damalige Opposition die Forderung nach Aufrechterhaltung der Trennung unterstützt hat und »dual use« als generelles Prinzip bis heute nicht etabliert werden konnte.

Nicht bestritten werden kann, dass prinzipiell das erlangte Wissen – z.B. kerntechnisches – militärisch missbrauchbar ist. Es ist aber eine Frage des gesellschaftlichen Konsenses, eben das nicht tun zu wollen und auch nicht zu tun. Dass dabei die Zusammenarbeit mit Forschungspersonal aus Ländern, die z.B. keinen Verzicht auf Atomwaffenanwendungen erklärt haben, hochproblematisch ist, liegt auf der Hand. Der Widerspruch zwischen der berechtigten Förderung der internationalen Zusammenarbeit und einer Vermeidung des Missbrauchs kann letztlich nur in einer waffenfreien Welt gelöst werden, in der zwischenstaatliche Konflikte ausschließlich mit zivilen Mitteln gelöst werden (s. AGBR-These).

In einem Einzelfall13 kam es 1997 mit Unterstützung des BMBF trotz Zivilklausel zu einer wehrtechnischen Forschungskooperation zwischen dem Heinrich Hertz-Institut in Berlin und einem industriellen Auftraggeber. Dabei wurde mit List (Zivilklausel wegen gleichzeitig ziviler Anwendungen nicht verletzt!), Zuckerbrot (Zusatzmittel für Arbeitsplatzsicherung) und Peitsche (Androhung von betriebsbedingten Kündigungen) gearbeitet. Nach anhaltender Ablehnung durch den Betriebsrat wurde die Kooperation eingestellt.

Organisatorische Trennung zivil/militärisch

Nach diesen Überlegungen kann die eingangs gestellte Frage, ob die organisatorische Trennung ein Militarisierungshemmnis ist, eindeutig bejaht werden. Insofern ist der AGBR-Beschluss gegen die Eingliederung von Militärforschung in die FhG durchaus beachtlich. Wenn sich Ministerin Bulmahn an ihr Versprechen von vor fünf Jahren gegenüber der AGBR hält, müssen die Fusionspläne beerdigt werden.

Was mit hoher Wahrscheinlichkeit vorerst weiter Blühen und Gedeihen wird, sind die europäischen Aufrüstungspläne, die nicht zuletzt mit neuen deutschen Weltmachtambitionen zu tun haben. Es sind keine Zufälle, wenn Minister Struck glaubt, Deutschland am Hindukusch verteidigen zu müssen und wenn per EU-Verfassung eine »Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung« (Europäische Verteidigungsagentur), bis vor kurzem noch wahrheitsgetreuer »Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten« geschaffen wird, das die permanente EU-Aufrüstung und die globale Kriegsführungsfähigkeit14 organisieren soll. Dazu passt nahtlos die Auffassung des scheidenden EU-Forschungskommissars Busquin15, der die verstärkte Förderung von Sicherheitstechnologien für unbedingt notwendig erachtet und für den „die Trennung von ziviler und militärischer Forschung obsolet (ist). Diese rigide Trennung halte ich schon lange nicht mehr für sinnvoll“.

Gegen erneute Entwicklung zu »erfinderischen Zwergen«

Werden sich die deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erneut als ein „Geschlecht von erfinderischen Zwergen“ (Brecht: Das Leben des Galilei) erweisen und sich zu willigen Vollstreckern einer unfriedlichen Außen- und Innenpolitik machen lassen?

Dagegen sprechen geschichtliche Erfahrungen. Nicht nur die Entspannungs- und Friedenspolitik der 1970er Jahre, sondern auch die Erkenntnisse über die Verstrickung großer Teile der deutschen Forschung in die Nazi-Verbrechen haben Spuren im Bewusstsein hinterlassen. Das kann nicht nur mit der starken Beteiligung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an der Protestbewegung gegen die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen (»Mainzer Appell«) belegt werden, sondern auch anhand von Diskussionen über Grundsatzfragen der Forschung. Eine solche fand im Oktober 1997 zwischen der AGBR und dem HGF-Direktorium über die Einführung einer Zivilklausel in der HGF-Satzung statt. Das wurde zwar vom Direktorium abgelehnt, weil damit die DLR aus der HGF herausfallen würde. Es bestand jedoch ein klarer Konsens, dass die Beschäftigten das unabdingbare Recht haben, über die Forschungsziele eine öffentliche politische Diskussion zu führen. Der Direktor aus dem Medizinforschungsbereich hatte gute Gründe für so ein elementares Recht, weil die Wissenschaftler in der Vorläuferorganisation seines Instituts16 für den faschistischen Staat Hirnforschung an Euthanasie-Opfern betrieben hatten.

Die geschichtlichen Lehren sind die eine Seite. Die andere ist, dass die ökonomische Abhängigkeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ständig zunimmt. Stichworte: wachsende Zahl an Zeitverträgen, sachgrundlose Befristungen; Personalkürzungen; Drohungen mit betriebsbedingten Kündigungen; Aushöhlung der wissenschaftlichen Mitwirkung, die in den 1970er Jahren unter dem bekannten Kanzlerwort »Mehr Demokratie wagen!« eingeführt worden waren.

Der verstärkt nach dem 11.September 2001 diskutierte und praktizierte erweiterte Sicherheitsbegriff17 läuft auf die Verschmelzung von militärischen Maßnahmen mit ziviler Konfliktlösung hinaus, womit machtpolitische Zwecke als hilfsbereite Entwicklungsbeiträge getarnt werden. Eine Fortentwicklung dieses Instrumentariums würde eine vollständige Militarisierung aller gesellschaftlichen Bereiche und der gesamten Innen- und Außenpolitik nach sich ziehen.

Öffentlicher Druck der Friedensbewegung notwendig

Es mag hoffnungsvoll stimmen, dass am 15. Februar 2003 zehn Millionen Menschen in fünf Kontinenten gegen den Irakkrieg auf den Beinen waren, dass die Weltsozialforen18 immer größeren Zuspruch erlangen und die Bestrebungen für Volksabstimmungen gegen die vorgelegte EU-Verfassung anhalten. Denn eins ist klar: Ohne öffentliche Diskussionen über die Forschungsziele und ohne einen ausreichenden Druck der deutschen und internationalen Friedensbewegung von außen, werden die inneren Zivilforschungskräfte – von Ausnahmen abgesehen – kaum in der Lage sein, einer ungewünschten Beteiligung an »dual use«- und/oder an Militärforschungsprogrammen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen.

Anmerkungen

1) Die FGAN betreibt drei Forschungsinstitute in Wachtberg bei Bonn (FHR – Forschungsinstitut für Hochfrequenzphysik und Radartechnik, FKIE – Forschungsinstitut für Kommunikation, Informationsverarbeitung und Ergonomie) und in Ettlingen (FOM – Forschungsinstitut für Optronik und Mustererkennung). Die FGAN betreibt militärische Forschung auf den Gebieten der Sensorik, Elektronik, Kommunikation und Informatik mit dem Schwerpunkt Aufklärungs- und Führungssysteme.

2) Das DLR-Institut für Technische Physik in Stuttgart betreibt militärische Laserforschung.

3) Fünf der 58 Fraunhofer-Institute befassen sich mit Militärforschung: mit BMVg-Grundfinanzierung die Institute für Angewandte Festkörperphysik (IAF) und für Kurzzeitdynamik (Ernst-Mach-Institut EMI) in Freiburg, das Institut für Chemische Technologie (ICT) in Pfinztal, das Institut für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen (INT) in Euskirchen sowie mit BMVg-Einzelzuwendungen das Institut für Informations- und Datenverarbeitung (IITB) in Karlsruhe. IAF, ICT, EMI und INT haben sich 2002 im Verbund »Verteidigungsforschung und Wehrtechnik« organisiert, dem das IITB mittlerweile auch beigetreten ist.

4) Analyse und Empfehlung zur Neuordnung der Grundfinanzierten Forschung und Technologie im Rüstungsbereich des BMVg, Ministerialrat Wolff, 31. Mai 2003.

5) Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (früher in der HGF); bei der GMD gab immer wieder Proteste gegen Militärforschungspläne, z.B. 1995/96 gegen eine Kooperation mit der Informations- und Medienzentrale der Bundeswehr (elektronische Kriegführung).

6) http://www.fzk.de/br > Allgemeine Infos > Juni 2004 …. Zivil-/ Militärforschung > BR unterstützt ver.di „Gegen Eingliederung ….

7) http://www.agbr.de/papiere/thesen.html

8) http://www.agbr.de/papiere/dualuse.html

9) http://www.fzk.de/br > Allgemeine Infos > Zum Thema Militärforschung & HGF-Tradition Zivilforschung.

10) W. Liebert, R. Rilling, J. Scheffran (Hrsg.), Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik – Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz, Marburg, BdWi-Verlag 1992, u.a. mit einem Beitrag von Edelgard Bulmahn, der jetzigen Bundesministerin für Bildung und Forschung.

11) Bild der Wissenschaft, August 1994.

12) CDU/CSU-Pressedienst 17.02.1997.

13) Das Heinrich-Hertz-Institut wurde inzwischen wie die GMD in die FhG integriert.

14) Informationsstelle Militarisierung e.V. http://www.imi-online.de

15) VDI-Nachrichten 16.01.2004.

16) MDC – Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin, früher Institut für Hirnforschung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft.

17) Aktionsplan der Bundesregierung Mai 2004 „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“; FR 15.01.2004: „Nationale Interessen definieren“.

18) Rede Arundhati Roy in Mumbai, Januar 2004. http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Globalisierung/roy2.html

Dr. Ing. Dietrich Schulze ist Betriebsratsvorsitzender des Forschungszentrums Karlsruhe, Beiratsmitglied der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative für Frieden und Zukunftsfähigkeit und Bezirksvorstandsmitglied der Gewerkschaft ver.di, Mittelbaden-Nordschwarzwald

Ziviler Ungehorsam

Ziviler Ungehorsam

Menschenrechtliches Aufbegehren im Rechtsstaat

von Arnold Köpcke-Duttler

Wie die Anerkennung einer moralischen Pflicht zum Rechtsgehorsam gehört die Feststellung der Grenzen dieser Pflicht und einer eventuellen Pflicht zu Ungehorsam und Widerstand zum Jahrtausende alten Nachdenken über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft (Staat). Allerdings taten und tun sich »beamtete« Nachdenker – d.h. die meisten – recht schwer mit dem zweiten Teil dieses Junktims. Man befürchtet vor allem, der Rückzug auf das Gewissen könne die sogenannte Kulturleistung des staatlichen Gewaltmonopols gefährden. Auch die Erfindung des »zivilen Ungehorsams« durch H.D. Thoreau konnte diese Befürchtungen kaum beschwichtigen. Der Verfasser des vorliegenden Beitrags beleuchtet vor diesem Hintergrund die Beziehung zwischen zivilem Ungehorsam und Rechtsordnung.

Um was es beim zivilen Ungehorsam im Kern geht, kann man kaum prägnanter zum Ausdruck bringen als mit den Worten Henry David Thoreaus (1817-1862): „Wenn aber das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Gesetz. Mach dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten.“1

Die Umwandlung dieser persönlichen Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen in ein Mittel des politischen Kampfes ist im Wesentlichen Mohandas K. Gandhi (1869-1948) zu verdanken. Auf Gandhi geht auch die allgemeine Verbreitung des Ausdrucks »ziviler Ungehorsam« zurück, der zuvor nur im Zusammenhang mit dem Werk und der Lehre von Thoreau verwendet wurde und ursprünglich wahrscheinlich eine improvisierte Titelei seines posthumen Verlegers war.2 Gandhi fand im Übrigen bei Thoreaus nicht seine originäre Inspiration, wohl aber die Bestätigung dessen, was er bereits (in Südafrika) praktizierte – und eine ergiebige Zitatenquelle im Rahmen seiner Kampagnen. Mit der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und dem Protest gegen den Vietnam-Krieg erreichte der zivile Ungehorsam seine bisherige Höchstkonjunktur. Martin Luther King (1929-1968) war schon als Student durch den Text von Thoreau in einen ersten Kontakt mit der Theorie des gewaltfreien Widerstands gekommen. In der „direkten gewaltfreien Aktion“, von der er lieber sprach, um nicht den Aspekt der Gesetzesübertretung zu betonen, fand er drei zentrale Dimensionen des Lebens: Selbstfindung in der Dialektik von Selbstveränderung und Änderung der Lebensbedingungen, Dufindung in Anteilnahme und Geschwisterlichkeit und Hoffnung aus der Erkenntnis von Unfertigkeit und Unvollendetheit.3

Diese kurze Genealogie des Zivilen Ungehorsams ist im Folgenden zunächst insbesondere im Hinblick auf den Beitrag Gandhis zu ergänzen und zu vertiefen. In den beiden anschließenden Teilen des Beitrags sollen dann Fragen der Beziehung zum einfachgesetzlichen Recht und zum Verfassungsrecht thematisiert werden.

Gandhi und die Gewalt des Staates

Anregungen zu Gewaltfreiheit und Kooperationsverweigerung gegenüber der politischen Macht erhielt Gandhi auch von Lew N. Tolstois (1828-1910) christlichem Anarchismus und dessen Lehre vom Widerstehen im Nicht-Widerstehen.4 In der Nachfolge des russischen Dichters und Pädagogen heißt es auch bei Gandhi, der Staat verkörpere die Gewalt in einer konzentrierten und organisierten Form.5 Die Armee, die Polizei, die Gerichte werden als gewaltvolle Institutionen kritisiert. Zugleich proklamiert Gandhi, dass das Gewissen und das Gesetz Gottes über aller weltlichen Autorität stehen, auch über dem Urteil der Mehrheit. Die Spiritualität von »satyagraha«, der machtlosen Macht der Wahrheit und des Leidens, verband er im Wissen um die Unaufhebbarkeit der Gewalt mit einem selbstlosen Handeln und Nicht-Handeln. Ebenso wie Thoreau galt ihm die Regierung als beste, die am wenigsten regiert, vielleicht sogar nicht regiert. Diese Idee einer »aufgeklärten Anarchie« (Michael Blume) nannte Gandhi auch »ramaraj«: Herrschaft Gottes auf Erden. Dazu gehört auch, dem Gesetz den Gehorsam zu verweigern, wenn es zum Arm des Unrechts gegen einen anderen Menschen wird. Blume fasst Gandhis Hoffen und Handeln gegen alle Formen der Gewalt zusammen: Macht gehe nicht nur aus gesetzgebenden Versammlungen hervor; der Zivile Ungehorsam wird als Schatzkammer der Macht gesehen, genauer: einer machtlosen Macht.6

Politisch gesprochen geht es um aufgeklärte, gewaltfreie Herrschaftskritik, um den zivilen Ungehorsam als Menschenrecht und Menschenpflicht zugleich. Ein wahrer Demokrat sei, wer auf gewaltfreiem Weg seine Freiheit, die seines Landes und die der Menschheit verteidige. Solange der Mensch ein Mensch sei, müsse er sich hüten, das Recht auf zivilen Ungehorsam aufzugeben. Diese Form des Ungehorsams wird von jedem kriminellen Ungehorsam unterschieden. Versuche, den zivilen Ungehorsam zu unterdrücken, betrachtet Gandhi als gewaltförmiges Bestreben, die Freiheit des Gewissens einzusperren. Die Erkenntnis des »satyagrahi«, des gewissensbestimmt und gewaltfrei Ungehorsamen, dass der zivile Ungehorsam zur (heiligen) Pflicht wird, wenn der Staat selber gesetzwidrig agiert oder seine Gesetze rechtswidrig sind, ist für manche Juristen schwer zu ertragen. Gandhi zufolge kann das Recht auf zivilen Ungehorsam aber nicht aufgegeben werden ohne Verlust der Selbstachtung. Der gewaltfrei Ungehorsame verstoße öffentlich gegen ein Gesetz, dessen Befolgung er als menschliche Schmach erachte, und nehme die Strafe für diesen Bruch ruhig auf sich. Die Einsicht in ein Gesetz, nicht die Furcht vor ihm, geben Gandhi also einen Maßstab, wobei der Ungehorsam als Ausdruck der Stärke verstanden und verbunden wird mit dem Glauben an die Wirkkraft des unschuldigen Leidens. Der Zivile Ungehorsam ist gezeichnet von Mut und Tapferkeit und von strikter Disziplin: Den Horizont bildet ein konstruktives Programm gegen die Gewalt der alten Gesellschaft und des Staates, seine Stärke beruht auf der Gewaltfreiheit in Gedanken, Worten und Taten.

Eine eingehendere Diskussion, ob Gandhis Selbstdisziplin nicht mit Gewalt gegen sich selbst erfolgte und ob er mit seinem Fasten nicht Zwang ausübte, kann hier nicht geführt werden. Gandhi stellte sich jedoch diesen Fragen, wobei er die Kraft des Selbst-Leidens von einem gegen sich selbst gewandten Zwang unterschied und beide von jenem Zwang, der in der Ausübung verletzender Macht gegen eine Person liegt, die zu einem bestimmten Verhalten gedrängt wird. Wer das Ziel des Fastens als egoistisch bestimmt ansehe, solle sich weigern, diesem Motiv nachzugeben, sich der Ausübung des Zwangs enthalten.

Ziviler Ungehorsam und Rechtsnormen

Der Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann hat mit einem Seitenblick auf Martin Luther King gemahnt, Gewaltlosigkeit und Frieden seien nicht mittels Gewalt zu haben. Jedes ungeduldige Erzwingenwollen der Gewaltlosigkeit und des Friedens bedeute eine Niederlage für die Sache.7 Skeptisch gegenüber einer Vergeistigung des Gewaltbegriffs im Strafrecht – insbesondere dann, wenn sie sich immer weiter ausdehnt –, deutet Kaufmann darauf, dass mit Gewalt zwar nicht unbedingt ein rohes, wohl aber ein aggressives Verhalten gemeint sei, durch das Leib oder Leben der angegriffenen Person beeinträchtigt oder unmittelbar geschädigt werde. Ein bloßes Dasitzen stelle keine Gewalt dar.8 Falls eine demonstrierende Gruppe, die, um sich Gehör zu verschaffen, die ganze Breite einer Fahrbahn einnehme, Gewalt ausübe, sei auch eine Fronleichnamsprozession ein Gewaltakt. Jeder Mensch werde das als unsinnig bezeichnen. Kaufmann beurteilt Sitzstreiks von Gegnern der Nachrüstung, passiven Widerstand gegen die Stationierung von Raketen nicht als gewalttätige Nötigung, nicht als Entfaltung körperlicher Kraft gegen andere Menschen. Hellsichtig weist er nach, dass die Rechtsprechung – selbstwidersprüchlich – bei Vergewaltigung nie nur auf die Wirkung beim Opfer, auf das Empfinden der Frau abgestellt habe.

Diese Kritik einer selektiven Wahrnehmung von Gewalt bedeutet freilich keine Zustimmung zu rohem Handeln und zur Leugnung der Opferperspektive; vielmehr geht es um ein neues Durchdenken des Gewaltbegriffs auf dem Feld des Strafrechts: Ein passives, nicht-aggressives Verhalten ist keine Gewalt im strafrechtlichen Sinn. In einem tiefer gehenden Sinn konnte Gandhi auch Spuren der Gewalt z.B. in einem Sitzstreik von Studenten entdecken, die andere Menschen durch ihr Verhalten zwingen, sie – wider Willen – zu verletzen oder körperlich zu bedrängen. Eine solch hohe Empfindlichkeit gegenüber subtilen Formen der Gewalt mag Gandhi besessen haben; doch für das Strafrecht als äußerliche Regelung menschlicher Freiheitssphären ist dieser Maßstab zu hoch angesetzt.

Kaufmann bezweifelt die menschliche Fähigkeit, einen Zustand völliger Gewaltlosigkeit zu erlangen; dieser sei eine unerreichbare Utopie.9 Doch die Unerreichbarkeit ist wie bei Gandhi gerade der Anreiz dafür, die Gewalt – auch die subtile – weiter zu begrenzen. Kaufmann fügt an, einen (Rechts-) Staat, in dem die Gerechtigkeit vollständig verwirklicht sei, könne es ebenfalls nicht geben. In einem Rechtsstaat sei die Anwendung von Gewalt nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen erlaubt: Notwehr, Nothilfe, Widerstand gegen unrechtmäßige Staatsgewalt. Der Rechtsphilosoph bekräftigt in seinem Buch »Gerechtigkeit – der vergessene Weg zum Frieden«, gegen rechtmäßige Akte von Staatsorganen sei Gewalt niemals erlaubt, auch nicht in der schillernd »ziviler Ungehorsam« genannten Form. Diesen Standpunkt vertritt er gerade deshalb, weil er den Unrechtsstaat des Nationalsozialismus erlebt hat und den Widerstand dagegen von Protestaktionen zu unterscheiden weiß. Er plädiert vor allein für gewaltfreie Methoden der Konfliktlösung im zwischenstaatlichen Bereich.

In seiner »Rechtsphilosophie« hat Kaufmann seine Ablehnung des Zivilen Ungehorsams korrigiert. Entgegen jenem Positivismus, der jedes Gesetz für geltendes Recht erachtet, zeigt er, dass positives »Recht« auch Nicht-Recht, gesetzliches Unrecht, sein kann. Unterschieden wird dann zwischen dem Widerstand, dem Recht auf Widerstand, gegen einen Unrechtsstaat und der Kritik an einzelnen ungültigen Gesetzen in einem Rechtsstaat. Im ersten Fall gehe es um den Widerstand gegen eine illegitime Obrigkeit („großer Widerstand“), im zweiten um den Widerstand im Rechtsstaat, den zivilen Ungehorsam („kleiner Widerstand“).10

Das Widerstandsrecht in einem Unrechtsstaat, den Widerstand gegen eine Tyrannis erörtere ich hier nicht.11 Ich gebe nur zu bedenken, dass die Entgegensetzung »hier Rechtsstaat, dort Unrechtsstaat« eine Simplifizierung darstellt, dass kein Rechtsstaat der Gefahr einer Perversion zum Unrechtsstaat entronnen ist, dass jede Obrigkeit Unrecht verschuldet. Bei einem Widerstandsrecht im Rechtsstaat, insbesondere beim Zivilen Ungehorsam, nimmt Kaufmann Gandhis Anspruch auf, dieser Ungehorsam habe gewaltlos zu sein; der Ungehorsame müsse die ihm zugeteilte Strafe annehmen.

Ist nun der Zivile Ungehorsam etwas Rechtswidriges, etwas Gesetzwidriges? Diese Frage bejaht Kaufmann. Mit John Rawls wird bei zivilem Ungehorsam gegenüber einer rechtmäßigen demokratischen Gewalt von einem Pflichtenkonflikt gesprochen – einem Konflikt zwischen der Pflicht, sich den von dem Gesetzgeber (der Mehrheit) beschlossenen Gesetzen zu fügen, und der Pflicht, Ungerechtigkeiten zu widerstehen. Rawls definiert den zivilen Ungehorsam als öffentliche, gewaltfreie, gewissensbestimmte, gesetzwidrige Handlung, die eine Änderung der Gesetze oder der Politik der Regierenden herbeiführen soll.12 Als Ungehorsam gegenüber dem Gesetz innerhalb der Gesetzestreue bewege er sich an deren Rand. Das Gesetz wird gebrochen gemäß dem Sinn von Gerechtigkeit. Die Treue zum Gesetz wird deutlich in dem öffentlichen und gewaltfreien Charakter der Handlung und in der Bereitschaft, die gesetzlichen Folgen auf sich zu nehmen.

Andere sehen den zivilen Ungehorsam dann als grundrechtlich gerechtfertigt an, wenn er sich gegen schwerwiegendes Unrecht richtet, gewaltlos und verhältnismäßig ist.13 Wie sein Lehrer Gustav Radbruch spricht Kaufmann klarer von einem gesetzlichen Unrecht, dem widersprochen werden soll. Auch im Rechtsstaat gebe es Akte erlaubter (und gebotener?) Auflehnung gegen Unrecht, begründet im „Widerstandsrecht der kleinen Münze.“14

Der zivile Ungehorsam sucht nach einem übergesetzlichen Recht in seinen Akten praktischer Vernunft, in seinem der Angst abgerungenen Mut, der Tapferkeit, die mit den Tugenden der Klugheit, der Gerechtigkeit und des Maßes verbunden ist. Der Zivile Ungehorsam soll menschenfreundlich sein, anders als der große, heroische und oft scheiternde Widerstand ist er beständig zu tun, damit der große Widerstand nicht nötig wird. Deutlich wird darin, dass das Widerstehen ein Grundzug des Rechts selber werden, dass der leidende Gehorsam zum Ungehorsam transzendieren kann. Das Widerstehen gehört von innen zum Recht selber. Das kann in Handlungen wie Sitzblockaden deutlich werden, die in der Strafrechtsprechung viel zu oft noch als Nötigung geahndet werden. Doch fehlt hier der Raum, Einzelheiten der Rechtsprechung näher nachzugehen.

Ziviler Ungehorsam und Verfassungsrecht

Auf der verfassungsrechtlichen Ebene wird dem zivilen Ungehorsam nur geringe Aufmerksamkeit zugewandt. Mit der sog. Notstandsverfassung wurde in das Grundgesetz ein Art. 20 Abs. 4 aufgenommen, ein positiviertes Recht auf Widerstand gegen jeden, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik zu beseitigen. Ein solches limitiertes Recht verdankt sich einem menschenrechtlichen Irrtum, denn das Recht auf Widerstand kann gerade nicht positiv festgelegt werden, sondern entzieht sich dieser Bestimmung. Versuchen, Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes als Legalisierung des zivilen Ungehorsams zu deuten,15 halten manche Staatsrechtler entgegen, damit würde einer Reprimitivierung des Rechts und einem kulturellen Rückschritt Bahn gebrochen. Andere betonen, auf Grund der Sonderstellung des Widerstandsrechts (in der Beschränkung des Art. 20 Abs. 4) erfasse dieses gerade nicht den zivilen Ungehorsam. Einer Norm des positiven Rechts aus Gewissensgründen die Gefolgschaft zu verweigern, sei schon wegen der Inkaufnahme der Rechtsfolgen eine Bestätigung der positiven Rechtsordnung im Ganzen. Als politischer Appell zu deren punktueller Verbesserung könne solche Widerständigkeit zwar moralisch legitim, nicht aber verfassungsrechtlich legal sein. Der zivile Ungehorsam entbehre definitionsgemäß jeder Rechtfertigung durch das Recht; als symbolischer Akt könne er allenfalls eine moralische Rechtfertigung finden. Als öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte Handlung schließe er den vorsätzlichen Bruch einzelner Rechtsnormen ein, ohne dass der Handelnde der Rechtsordnung als ganzer den Gehorsam versage.16

Dieser schnellen Verbannung in den Bereich der Moralität ist zu entgegnen, dass der gewaltfreie öffentliche Protest gegen ein schwerwiegendes Unrecht und die Kritik eines öffentlichen Missstandes gehalten sind von der Unabgegoltenheit und Verletzbarkeit der Menschenrechte.17 Im Wissen darum, dass das Grundgesetz kein lückenloses Schutzsystem bilden kann, begründet der Rechtsphilosoph Ralf Dreier die Rechtfertigung des zivilen Ungehorsams so. „Wer allein oder gemeinsam mit anderen öffentlich, gewaltlos und aus politisch-moralischen Gründen den Tatbestand einer Verbotsnorm erfüllt, handelt grundrechtlich gerechtfertigt, wenn er dadurch gegen schwerwiegendes Unrecht protestiert und sein Protest verhältnismäßig ist.“18 Der Protest gegen ein schwerwiegendes Unrecht und die Kritik eines öffentlichen Missstandes bekunden ein Element direkter Demokratie und die Fehlbarkeit einer repräsentativen Staatsordnung.

Der Rechtsstaat, der seine eigene Unvollkommenheit ignoriert, verkehrt sich in autoritären Legalismus. Ohne ihrerseits einem elitären Gestus zu verfallen, sollten die gewaltfrei Ungehorsamen zeigen, dass die Grundregeln eines menschlichen Zusammenlebens nicht verwirklicht sind, ihre öffentliche Verwirklichung noch aussteht. Die begrenzte Regelverletzung deutet auf die Gefahr, dass auch ein Rechtsstaat – gewissermaßen gegen sich selbst – seine Grundlagen vergessen und ignorieren und Züge einer Unrechtsordnung annehmen kann. Angesichts dieser Gefahr zeigt der skeptisch nach Zivilität Suchende, dass ein öffentlicher Raum der Bildung der Menschlichkeit nicht einfach feststeht. Im Horizont kritischer Vernunft klagt der gewaltfreie Ungehorsam die Offenheit der Demokratie ein, erinnert an die Unabgegoltenheit der politischen Idee der Demokratie als Macht der Selbstregierung. Deutlich wird im zivilen Ungehorsam, dass der Sinn für die Antastbarkeit der Menschenrechte stets wach zu halten ist angesichts der Gefahr, die Demokratie in Selbstgerechtigkeit zu einer Staatsform unter anderen erstarren zu lassen und den offenen Prozess der Demokratisierung zu verdinglichen.

Anmerkungen

1) Thoreau, H.D. (1973): Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays. Zürich, Diogenes, S. 18.

2) Mellon, C. (o.J.): Die Geschichte eines Begriffes von Thoreau bis in unsere Tage. In Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam – Traditionen, Konzepte, Erfahrungen, Perspektiven. Sensbachtal, Herausgeber, S. 47ff.

3) vgl. Schultz, H.J. (1982): Martin Luther King. In H.J. Schultz (Hrsg.): Liebhaber des Friedens. Stuttgart, Kreuz, S. 326f.

4) Tolstoi seinerseits dienten das Vorbild und die Schriften Thoreaus dazu, seine eigenen Ideen zu illustrieren; vgl. Mellon, C. (o.J.), s. Anm. 2.

5) vgl. Tolstoi, L.N. (1893): Das Reich Gottes ist inwendig in euch. Religionskritische und gesellschaftskritische Schriften. Bd. 9. München, Diederichs.

6) Blume, M. (1987): Satyagraha. Wahrheit und Gewaltfreiheit, Yoga und Widerstand bei M.K. Gandhi. Gladenbach, Hinder & Deelmann, S. 110f.

7) Kaufmann, A. (1986): Gerechtigkeit – der vergessene Weg zum Frieden. München, Piper, S. 87; Kaufmann, A. (1984) Martin Luther King – Gedanken zum Widerstandsrecht. In ders., Rechtsphilosophie im Wandel: Stationen eines Weges. Köln, Heymanns, S. 251ff.

8) Das bekannte Urteil des Landgerichts Köln vom 31.10.1968, seine Aufhebung durch den Bundesgerichtshof am 8. August 1969 und die weitere Judikatur können hier nicht zusammengefasst werden.

9) Kaufmann, A. (1984): Gesetz und Evangelium. In R. Hauser (Hrsg.): Gedächtnisschrift für Peter Noll. Zürich, Schulthess, S. 61 ff. Hier geht es um die Tugend der Epikie (Billigkeit), die das Gesetz berichtigt in Fällen, in denen es wegen seiner Allgemeinheit vor dem Anspruch der Menschlichkeit versagt.

10) Kaufmann, A. (1991): Vom Ungehorsam gegen die Obrigkeit: Aspekte des Widerstandsrechts von der antiken Tyrannis bis zum Unrechtsstaat unserer Zeit, vom leidenden Gehorsam bis zum zivilen Ungehorsam im modernen Rechtsstaat. Heidelberg, Decker und Müller.

11) s. Köpcke-Duttler, A. & Metz, G. (Hrsg.) (1988): Vom Recht des Widerstehens: neue Perspektiven zu einem alten Dilemma. Mit einem Vorw. von Arthur Kaufmann. Frankfurt/M., Haag und Herchen.

12) Rawls, J. (1979): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 399 ff.

13) Dreier, R. (1983): Widerstand und ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. In P. Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 54 ff.

14) Kaufmann, A. (1984): Das Widerstandsrecht der kleinen Münze. In W. Krawietz (Hrsg): Objektivierung des Rechtsdenkens. Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo. Berlin, Duncker und Humblot, S. 85ff.

15) Z.B. Dreier, R. (1991): Recht – Staat – Vernunft. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 39f.

16) Dolzer, R. (1992): Der Widerstandsfall. In J. Isensee & P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII. Heidelberg, Müller, S. 469 f.

17) Köpcke-Duttler, A. (o. J.): Ziviler Ungehorsam. In Komitee für Grundrechts und Demokratie (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam – Traditionen, Konzepte, Erfahrungen, Perspektiven Sensbachtal, Herausgeber, S. 313 ff.

18) Dreier, R. (1983): Widerstandsrecht und ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. In P. Glotz (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 60; vgl. a. Jürgen Habermas, J. (1983): Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, ebd. S. 5

Prof. Dr. Arnold Köpcke-Duttler ist Rechtsanwalt und Diplom-Pädagoge.

Separation Fence Intifada

Separation Fence Intifada

Gewaltfrei gegen die Besatzung

von Aviv Lavie

Die Bilder vom Einsatz der israelischen Armee in Palästina, von zerstörten Wohngebieten, verwundeten und getöteten Palästinensern gehören für uns schon fast zur Normalität der täglichen Berichterstattung, genauso wie die grausamen Aufnahmen von durch Selbstmordattentäter getöteten Israelis und von Straßenkämpfen. In der Wahrnehmung des israelisch-palästinensischen Konflikts dominiert die Gewalt, doch es gibt auch den anderen Widerstand, den unbewaffneten, den zivilen Protest gegen die Besatzung. Er hat bisher keine großen Erfolge aufzuweisen, aber er existiert und er wächst. Eine der Formen des zivilen unbewaffneten Protests ist die »Separation Fence Intifada«, bei der schon Hunderte von Palästinensern verletzt wurden, ebenso wie zahlreiche israelische Unterstützer. Aviv Lavie über eine Protestform, die vielleicht viel erfolgreicher wäre, wenn sie international eine größere Beachtung finden würde.

Es ist beinahe zur täglichen Routine geworden: Morgens wachen die Einwohner, deren Dörfer sich auf der geplanten Route des Trennungszaunes1 befinden, von dem durchdringenden metallischen Lärm der Bulldozer auf, die umringt von Sicherheitskräften, Armee und Grenzpolizeitruppen in ihr Gebiet eindringen. Die Dorfbewohner gehen dann vollzählig auf ihr Land hinaus: Männer und Frauen, Junge und Alte. Sie positionieren sich vor den Soldaten, schwenken Fahnen, singen, versuchen zu den gigantischen Maschinen vorzudringen oder setzen sich auf den Boden um diese zu blockieren. (…)

Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) spielt bei diesen Protesten in der jüngsten Zeit nur eine sehr geringe Rolle. Sie hat zwar die Palästinenser dazu ermutigt, gegen den Zaun zu protestieren während in Den Haag der Internationale Gerichtshof im Februar 2004 die Rechtmäßigkeit des Zaunes debattierte, der aktuelle Aufstand aber begann von unten.

Legitimer Widerstand

Was steckt hinter dieser neuen, weit verbreiteten Form des Kampfes, der ohne Schusswaffen ausgetragen wird? Nach Ayid Murar aus Budrus – ein Dorf in der Nähe von Bet Shean, wo der Verlauf des Zaunes als Folge des Protests der Bewohner und diplomatischen Drucks in Richtung der Grenze von 1967 verlegt wurde – haben die Palästinenser gute Gründe bei zivilem Widerstand zu bleiben. „Unser Kampf richtet sich nicht gegen Juden und nicht gegen Israelis und nicht einmal gegen Soldaten – er richtet sich gegen die Besatzung. Wir wollen nicht, dass Menschen auf der anderen Seite getötet werden. Die Besatzung ist ein großes Problem und die Palästinenser können damit nicht allein fertig werden. Sie brauchen die Hilfe der arabischen Staaten, der Regierungen weltweit und um diese zu bekommen, müssen die Palästinenser eine Form der Auseinandersetzung finden, die in den Augen der Welt legitim ist. Wir können bereits einen Zuwachs der Unterstützung und des Interesses für das was hier passiert auf der ganzen Welt verzeichnen. Anfänglich waren wir ein marginales Phänomen – selbst in der arabischen Presse – aber nun sorgen wir für Schlagzeilen.“

Murar und sein Bruder Naim, ein früherer Angestellter des palästinensischen Innenministeriums, haben seit Jahren enge Beziehungen zu israelischen Friedensaktivisten. Sie sind ein ausgezeichnetes Beispiel für einen neuen Typus lokaler Führer, die Schlüsselpositionen in der ersten Reihe der aktuellen Auseinandersetzungen einnehmen. In Israel sieht man jedoch misstrauisch auf ihre Aktivitäten. Anfang Februar 2004 wurden beide Brüder innerhalb weniger Tage vom Shin Beth, dem Inlandsgeheimdienst, verhaftet, auf Grundlage von „Geheimdiensterkenntnissen, die sie der Unterstützung von Terrorismus beschuldigen.“2

Obwohl es bis heute nur in Budrus gelang, durch die Proteste den Verlauf des Zaunes zu ändern, ist Ayid Murar überzeugt, dass dies der richtige Weg ist: „Wir müssen die gesamte palästinensische Bevölkerung in den Kampf gegen die Besatzung involvieren – Frauen, Kinder und die Alten – und diese können an einem gewalttätigen Kampf nicht teilnehmen,“ sagt er. (…) „Wir wissen auch, dass ein gewaltfreier Widerstand mehr Druck auf die Israelis ausübt. Wenn es um bewaffnete Individuen und Schießereien geht, dann kann ein Jeep mit Soldaten damit fertig werden. Wenn die Armee es mit Zivilisten zu tun hat, dann muss sie eine viel größere Anzahl von Soldaten bereitstellen, um damit fertig zu werden. Schließlich können sie nicht ohne weiteres auf diese schießen – das hoffe ich wenigstens.“

Ghassan Adoni aus Beit Sahour ist einer der Begründer des International Solidarity Movement (ISM). Diese Organisation unterstützt gewaltfreien Protest und versucht den Widerstand gegen die Besatzung zu internationalisieren. Seine Ideen haben große Popularität erlangt. „Mit der Meinung, dass gewaltfreier Protest erst jetzt begonnen hat, stimme ich nicht überein. Es gab ihn bereits seit Dezember 2000 und er fand zum Beispiel in Form des Abbaus von Straßensperren mit bloßen Händen statt. Es ist jedoch wahr, dass gewaltfreier Widerstand heute deutlich verbreiteter ist. Ich bin froh, dass dies der Fall ist, aber der Widerstand ist immer noch zu passiv, zu sehr reaktiv. Die Dorfbewohner protestieren, wenn die Bulldozer auftauchen und nicht als Teil eines umfassenden Kampfes gegen die Besatzung. Der Kampf sollte umfassend sein und nicht aufhören, bis der Zaun fällt. Der wirkliche Test wird sein, ob jedes Dorf noch Teil des Kampfes sein wird, auch nachdem der Zaun gebaut ist. Ehe dies nicht geschehen ist, kann ich nicht sagen, dass es ein Erfolg ist.“

Einer der führenden Aktivisten im Dorf Hirbata ist der 34jährige Aziz Armani. Auf den Einwand, dass die aktuelle Auseinandersetzung keine eindrucksvollen Ergebnisse vorzuweisen habe, entgegnet er, es habe „hier und da Erfolge gegeben, wenn auch nicht einen großen Erfolg, den man vorzeigen kann. Wir stehen wehrlos einer gewaltigen Macht gegenüber. Dabei ist es die Hauptsache, dass wir das Gefühl haben, etwas zu tun – wenn nicht für uns, dann für die nachfolgenden Generationen. Selbst wenn wir den Zaun nur um zwei Meter verschieben können, dann ist das etwas. Ich denke, dieser Kampf gibt uns viel Kraft, er gehört zu keiner Organisation, nicht zu Hamas und nicht zur Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde, ihn führt die Bevölkerung. Jedes Dorf hat für diesen Kampf einen Rat der verantwortlich ist und sich gewissenhaft darum kümmert, dass die Demonstrationen nicht gewalttätig werden. Wir kämpfen nicht gegen die Bürger von Tel Aviv – wir kämpfen gegen die Bulldozer.“

Israelis gegen den Zaun

Eine der zentralen Charakteristika des neuen Widerstands ist die Kooperation zwischen Israelis und Palästinensern. Palästinenser betonen bei jeder Gelegenheit, dass sie daran interessiert sind diese Kooperation voranzutreiben, weil sie ein Interesse daran haben die öffentliche Meinung in Israel zu beeinflussen und mehr noch, weil sie hoffen, dass die Anwesenheit von Israelis die Reaktion der Soldaten mäßigt. Einer der israelischen Aktivisten erklärt, dass dies auch umgekehrt gilt. Die Anwesenheit von Israelis mäßigt auch die palästinensische Seite. „Unsere Anwesenheit leistet einen wichtigen Beitrag zur Gewaltfreiheit,“ erklärt der Aktivist. „Wir drängen schon während der Koordination vor den Demonstrationen in diese Richtung. Wenn jemand Steine wirft, dann versuchen wir nicht demjenigen eine Predigt zu halten, aber es gibt immer jemanden, der dies für uns tut. Sie machen ihm entschieden klar, dass er damit aufhören soll. Ich habe das Gefühl, dass sie ihr Versprechen uns gegenüber einhalten und uns nicht gefährden wollen.“

Die israelische Armee (IDF) beurteilt die Beteiligung von Israelis allerdings ganz anders. Das Büro des Armeesprechers erklärte gegenüber dem Ha‘aretz. „Leider fungieren eine Handvoll israelischer Aktivisten und Ausländer als Agitatoren und verwandeln Demonstrationen in gewalttätige Unruhen.“

Yonatan Polack einer der zentralen Aktivisten von »Anarchists against the Wall« hat an vielen Protestaktivitäten teilgenommen, er beschreibt den Umgang der israelischen Armee mit dem Protest gegen den Zaun. „Es gibt eine allmähliche aber unaufhaltsame Eskalation von Seiten der Armee gegenüber Zivilisten, die an gewaltfreien Demonstrationen teilnehmen. Ich habe viel Zeit in den besetzten Gebieten verbracht und ich habe häufig beobachtet wie Unruhen und Demonstrationen niedergeschlagen werden, aber das was hier passiert ist neu. Es entsteht der Eindruck, dass es keine Regeln für das Vorgehen gibt. Sie feuern Gummigeschosse, setzen Tränengas ein und sie schießen auf Füße und Köpfe. Drei Palästinenser wurden in Biddu bereits getötet und der Tag an dem ein Israeli getötet wird nähert sich. Natürlich ist es für einen Palästinenser nicht weniger schlimm getötet zu werden als für einen Israeli. Aber es zeigt die Eskalation des Gewalteinsatzes. Bei jeder Demonstration spreche ich über Megaphon mit den Soldaten und erkläre ihnen, dass dies eine friedliche Demonstration von Palästinensern, Israelis und internationalen Teilnehmern ist – und die Kugeln pfeifen um meine Ohren. Zuerst dachten wir, dass Kameras sie abschrecken würden. Dann dachten wir, die Anwesenheit von Israelis wäre abschreckend, aber heute gibt es nichts mehr, was die Soldaten abschreckt. Selbst wenn die Armee überzeugt davon wäre, dass das was wir tun eine Provokation ist – obwohl aus meiner Sicht natürlich der Bau des Zaunes auf palästinensischem Land die Provokation ist – ist dieses Vorgehen nicht zu vertreten. In einer Demokratie muss man provozieren dürfen, ohne dass auf einem geschossen wird.“

Jenseits von Schwarz und Weiß

Wie in jeder Auseinandersetzung dreht sich auch hier die Kontroverse um die Frage, wer begonnen hat. Wie kann es passieren, dass Demonstrationen die von den Organisatoren als gewaltfrei bezeichnet werden, sich zu Ereignissen mit Dutzenden von Verwundeten entwickeln – überwiegend durch den massiven Einsatz von Gummigeschossen? Ein leitender Offizier der israelischen Armee bezweifelt die friedliche Darstellung einer gewaltfreien Intifada. „Ich weiß von keiner friedlichen Demonstration, bei der die Menschen dastanden und sangen, die dann damit endete, dass wir Gummigeschosse abfeuerten,“ führt er aus. „Wir haben uns selbst klare Leitlinien gegeben, mit denen wir unterscheiden zwischen Demonstrationen und Unruhen. In dem Moment in dem versucht wird Ausrüstung oder Soldaten anzugreifen, ist es eine Unruhe und unsere Reaktion darauf verschärft sich …“

Die Filme, die bei vielen Demonstrationen aufgenommen wurden, zeigen eine große Diskrepanz zwischen diesen Instruktionen und ihrer konkreten Umsetzung. Immer wieder dokumentiert die Kamera massiven Beschuss durch zahlreiche Soldaten in Richtung der Demonstranten, die manchmal dutzende oder hunderte von Metern entfernt sind. Eines ist sicher, der Beschuss gilt nicht einzelnen »Rädelsführern«. Was das Werfen der Steine betrifft, so ist es schwierig festzustellen, was zuerst da ist, die Steine oder die Gummigeschosse. Die Sachlage scheint von Dorf zu Dorf unterschiedlich zu sein. „In manchen Fällen werfen zwei oder drei Kinder aus einer Entfernung von 100 Metern Steine und es ist offensichtlich, dass dies symbolisch ist und niemanden verletzen kann,“ erklärt Dr. Kobi Snitz, der Mathematik an der Ben-Gurion Universität im Negev lehrt und an zahlreichen Demonstrationen teilgenommen hat. „Manchmal wird drei Stunden lang kein Stein geworfen und plötzlich verlieren die Soldaten die Geduld – sie stehen stundenlang in der Sonne – und sie beginnen Blendgranaten und Tränengas zu werfen und dann bricht ein Sturm los. [Manche] Dörfer haben ein Komitee das versucht, die Kinder unter Kontrolle zu halten, aber das ist schwierig.“

Snitz sieht die Eskalation als das Ergebnis einer gezielten Politik – wenn nicht auf der politischen Ebene, dann bei der Militärführung. „Es gibt jeden Tag Demonstrationen mit hunderten oder tausenden von Teilnehmern. Wer zehn Soldaten an einen solchen Ort schickt und ihnen erzählt, »Was auch immer passiert (Demonstranten) dürfen nicht in die Nähe der Bulldozer kommen«, der weiß was das Ergebnis sein wird.(…) Damit verlagern sie effektiv die Verantwortung auf die einzelnen Soldaten.“

Ein leitender IDF-Offizier der verantwortlich ist für den Bereich, in dem die meisten Zwischenfälle der letzten Monate vorkamen, erklärt: „Die Situation in der letzten Zeit stellt zweifellos ein Dilemma für uns dar. Wenn auf dich geschossen wird, dann gibt es kein Dilemma, es ist eine schwarz/weiß Situation. In den Ereignissen über die wir sprechen, die nun beinahe jeden Tag auftreten, da gibt es aber viele Graustufen.“

Dreieinhalb Jahre Intifada und 37 Jahre Besatzung haben die israelische Öffentlichkeit blind gemacht gegenüber den Entwicklungen auf der anderen Seite, unfähig oder unwillig Feinheiten zu bemerken. Tatsächlich sieht die israelische Armee die Demonstranten nicht als bewaffnete Gangs, aber die gewaltsame Form des Auseinandertreibens der Demonstranten, kann von diesen als Hinweis darauf verstanden werden, dass auch gewaltfreier Protest sinnlos ist. Die Medien ignorieren die Demonstrationen fast vollständig und weil der tägliche Kampf auch gefährlich ist, nehmen nicht mehr als einige dutzend Israelis daran teil, die gelegentlich von Bewegungen wie Ta‘ayush (einer arabisch-jüdische Partnerschafts-Basisorganisation) und Gush Shalom verstärkt werden. „Die Botschaft, die Israel den Palästinensern schickt, die versuchen gewaltfrei zu protestieren, ist die, dass wir diesen Protest nicht wollen“, sagt einer der israelischen Demonstrationsteilnehmer. „Es ist wohl so, dass wir (Israelis) den gewalttätigen Protest vorziehen und dass wir nicht bereit sind Legitimität für irgendeine Form des Widerstands zuzugestehen. Seit Jahren haben wir die Palästinenser gefragt, warum sie nicht dem Pfad von Mahatma Gandhi folgen, aber wenn sie genau das tun, dann antworten wir mit Gummigeschossen und Tränengas. Im Moment schießen wir auf das palästinensische Friedenslager.“

Anmerkungen

1) Die Terminologie »Zaun« trifft die Natur der Sperranlagen in der Westbank zwar äußerst ungenau, vor allem in der Nähe von Siedlungen handelt es sich um ca. 8 Meter hohe Betonwände und 150 Meter breite komplexe Sicherungsanlagen. Hier wurde der vom Autor benutzte Begriff »Zaun« übernommen, da die Anlage in den israelischen Medien unter diesem Begriff behandelt wird.

2) Naim und Ayid Murar mussten nach einigen Wochen wieder freigelassen werden, da sich keinerlei Verdachtspunkte für die Anschuldigungen finden ließen.

Aviv Lavie, Journalist und Medienkritiker bei der israelischen Zeitschrift Ha‘aretz Der vorliegende Text ist die aktualisierte und gekürzte Fassung einer Reportage, die A.L. am 16.04.04 im Ha‘aretz-Magazin veröffentlich. Sie wurde von Claudia Haydt übersetzt.

Ziviler Widerstand im Kosovo

Ziviler Widerstand im Kosovo

von Christine Schweitzer

Zu den Selbstverständlichkeiten des »militärgläubigen« friedens- und sicherheitspolitischen Mainstreams gehört zweifelsohne, die Effektivität gewaltfreien zivilen Widerstands in Frage zu stellen. Auch wenn die Mainstreamer sich im Hinblick auf ihr eigenes Überzeugungs- und Wertesystem (und dessen Auswirkungen!) nicht annähernd vergleichbar kritisch gebärden, sollten VertreterInnen der aktiven Gewaltfreiheit sich diesen Fragen doch stellen. Gerade bei offensichtlichem Misserfolg kann ein »zweiter Blick«, eine nähere Untersuchung der Umstände und Bedingungen des Versagens, aufschlussreich und fruchtbar sein. In Form einer Art erweiterter Besprechung einer einschlägigen Monographie von H. Clark wirft Christine Schweitzer im Folgenden einen solchen »zweiter Blick« auf die Entwicklung im Kosovo zwischen 1989 und 1997.

Schon beinahe vergessen ist, dass der Kosovo1 nicht nur Schauplatz des ersten Kriegs der NATO ohne ein Mandat der Vereinten Nationen gewesen ist, sondern auch eins der eindrucksvollsten Beispiele zivilen Widerstandes in Europa darstellt. Ungefähr von Sommer 1989 bis Herbst 1997 versuchten die albanischen Kosovaren, durch ausschließlich gewaltfreie Mittel der serbischen Gleichschaltung nach Aufhebung der Autonomie 1989 zu entgehen und ihr Ziel der Unabhängigkeit des Kosovo durchzusetzen. Auf den ersten Blick scheint der zivile Widerstand im Kosovo keine Erfolgsgeschichte zu sein. Er blieb letztlich erfolglos, während der nachfolgende bewaffnete Kampf 1998-1999 dazu führte, dass die Kosovo-Albaner der Unabhängigkeit von Serbien ein Stück näher gekommen sind, wenngleich um den Preis vorübergehender Vertreibung und von Krieg. Ist dies also wieder ein Beleg dafür, dass Gewaltfreiheit doch nichts bringt?

Keine eindeutigen »Lehren aus der Geschichte«

So eindeutig sind die Lehren nicht, die aus dieser Geschichte gezogen werden können. Zum einen ist die Tatsache als solche beachtenswert, dass über sieben oder acht Jahre hinweg ziviler Widerstand von quasi einem ganzen Volk getragen und trotz zahlloser Provokationen und fortdauernder Menschenrechtsverletzungen durch die serbische Polizei aufrecht erhalten wurde. Und dies in einem zeitgeschichtlichen und kulturellen Umfeld, das wie wenig andere von Krieg und Gewalt geprägt war. (Man denke an die zeitgleichen Kriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina.) Dem von Präsident Ibrahim Rugova angeführten Widerstand gelang es, die Unterdrückung durch das serbische Regime nicht zum Alltag werden zu lassen und gleichzeitig das Ausbrechen eines Krieges zu verhindern zu einer Zeit, als die internationale Aufmerksamkeit in erster Linie auf Bosnien gerichtet war und deshalb wenig Hilfe und Unterstützung von Dritten erwartet werden konnte.

Zum Zweiten hatte der zivile Widerstand – vergleicht man ihn mit anderen historischen und gegenwärtigen Beispielen, die erfolgreicher waren – einige entscheidende inhärente Schwächen, die sein letztendliches Versagen im Grunde schon früh andeuteten. Dazu unten mehr.

Zum Dritten spielt auch in dieser Phase die sog. Internationale Gemeinschaft eine sehr unrühmliche Rolle. Sie versagte darin, den Ernst der Lage richtig einzuschätzen und erkannte den zivilen Widerstand nicht als Form der politischen Auseinandersetzung – es blieb ja scheinbar alles »friedlich«. Der Kosovo wurde allein als ein Problem der Menschenrechte, aber nicht als Schauplatz eines Unabhängigkeitskampfes gesehen. Druck zu handeln wurde erst empfunden, als 1998 die Kämpfe zwischen der erstarkten Kosovo-Befreiungsarmee (UCK) und dem serbischen Militär und der Sonderpolizei zu Hunderttausenden von Binnenflüchtlingen führten. Ein Druck, der bekanntlich dann zur NATO-Intervention und der anschließenden Unterstellung des Kosovo unter ein Quasi-Protektorat der UNO führte.

Aus all diesen Gründen lohnt es sich, die Phase des gewaltfreien Widerstandes näher zu betrachten. Hierzu ist 2003 eine exzellente Studie des englischen Aktivisten und Kosovo-Kenners Howard Clark in deutscher Sprache erschienen.2 Das Buch, das für die deutsche Ausgabe vom Autor mit einem neuen Nachwort versehen wurde, untersucht die Phase des zivilen (gewaltfreien) Widerstands der Kosovo-Albaner. Clark beschreibt die verschiedenen Stationen des Kampfes, die Stärke und das Potential dieser Bewegung, wie auch ihre Grenzen und Schwächen. Schließlich geht er auch auf das Versagen der internationalen Diplomatie ein und wagt in dem Nachwort einen Rückblick auf die Bewegung aus heutiger Sicht.

Besonderheiten des kosovo-albanischen Widerstands

Der Widerstand der Kosovo-Albaner konzentrierte sich auf die Schaffung paralleler Institutionen und wurde von praktisch der gesamten Bevölkerung mit getragen. Trotz seines letztendlichen Misserfolgs ist er ein beeindruckendes Beispiel dafür, über welch langen Zeitraum eine gewaltlose Strategie aufrechterhalten werden kann. Dabei war er anfangs durchaus nicht vorhersehbar. 1988 erwarteten die meisten Beobachter der Situation eine Intifada, nicht gewaltfreien Widerstand. Die Entscheidung für Gewaltfreiheit stellte eine rein pragmatische Entscheidung dar, wobei einige der Führer der Kosovo-Albaner mit den Theorien von Gandhi u. a. vertraut waren. Howard Clark macht vier Gründe für diese Entscheidung aus:

  • Erfahrung mit den Massendemonstrationen 1981, die mit viel Gewalt niedergeschlagen wurden;
  • ein Streik der Bergleute 1989, der viel Eindruck machte;
  • eine von StudentInnen initiierte Versöhnungsbewegung unter den Kosovaren, bei der 2.000 Familien bis 1993 das Ende der Blutrache verabredeten und
  • die Entwicklung von 1989 (Bürgerrevolutionen als »Erfolgsgeschichten«).

Der gewaltfreie Widerstand konzentrierte sich auf den Aufbau eines parallelen, von Albanern getragenen Systems. Öffentliche Aktionen (Demonstrationen z.B.) wurden nach 1991 als zu gefährlich betrachtet. Man fürchtete – im Nachhinein kann man sagen, zu Recht –, dem serbischen Regime einen Vorwand für gewaltsames Durchgreifen zu liefern. Das parallele System konzentrierte sich auf die drei Bereiche Schule, Gesundheitswesen und Regierung.

In den Schulen war im August 1990 ein serbisches Curriculum erlassen worden. Die albanischen LehrerInnen weigerten sich, der Lehrplanänderung Folge zu leisten und unterrichteten weiter gemäß dem alten Curriculum. Daraufhin entließen die serbischen Behörden alle Schuldirektoren und zahlten keine Löhne mehr aus. Zu Beginn des nächsten Schuljahres (September 1991) stand dann die Polizei vor den Schulen und verweigerte den albanischen SchülerInnen den Zutritt zu ihren Schulen. Daraufhin begann die albanische Führung mit dem Aufbau von Schattenschulen, die zuletzt von 220.000 SchülerInnen besucht wurden, die von 19.000 LehrerInnen unterrichtet wurden. (In der Mehrzahl handelte es sich hierbei um weiterführende Schulen, nachdem die Hauptschulen ein Jahr später wieder eröffnet wurden.) Ebenso wurde die albanisch-sprachige Universität in Pristina geschlossen; auch sie wurde illegal fortgeführt und hatte zuletzt 16.000 StudentInnen. Trotz dieser beeindruckenden Zahlen muss allerdings festgestellt werden, dass – zwangsläufig – die Qualität des Schul- und Universitätsunterrichts abfiel und dass der Schulbesuch vor allem von Mädchen wieder zurückging, nachdem der Gedanke, dass auch Mädchen formale Bildung genießen sollten, erst in den letzten Jahrzehnten hatte verankert werden können.

Ein zweiter Schwerpunkt lag auf dem Gesundheitswesen, nachdem die meisten albanischen ÄrztInnen ihre Arbeit in den Krankenhäusern verloren und die Behandlung grundsätzlich in serbischer Sprache erfolgen musste. Viele der entlassenen Ärzte engagierten sich, oftmals ehrenamtlich, bei der humanitären Organisation »Mutter Theresa«, die in erster Linie Ambulanzen aufbaute. Allerdings funktionierte das alternative Gesundheitssystem nicht besonders gut. Die Kindersterblichkeit stieg, viele Krankheiten (Lungenkrankheiten z.B.) stiegen ebenfalls drastisch an und auch hier wurden Frauen besonders Opfer, da Geburten nicht mehr in den Krankenhäusern, sondern zu Hause stattfanden und mit hohem Risiko behaftet waren.

Das dritte Hauptelement des Widerstandes war die Errichtung eines parallelen politischen Systems. Es fanden zweimal Wahlen zu einem kosovo-albanischen Parlament statt (das allerdings nie zusammentrat) und ein funktionierendes Verwaltungs- und Regierungssystem wurde eingerichtet.

Grenzen und Schwächen der Widerstandsbewegung

Allerdings, und dies kann als eine der zentralen Schwächen des Widerstandes angesehen werden und wohl als einer der Gründe, warum er letztlich zusammenbrach, fehlte eine Strategie, wie die Ziele – die Unabhängigkeit von Serbien/Republik Jugoslawien – aus eigener Kraft hätten erreicht werden können. Stattdessen setzte man von Anfang an auf die internationale Gemeinschaft, die dem Kosovo die Selbstständigkeit geben und durch die Stationierung von Truppen absichern sollte.

Eine zweite Schwäche des Widerstandes war seine Passivität. Der Alltag ging weiter, ohne dass Veränderungen sichtbar wurden und ohne dass besondere Akte des Widerstands durchgeführt werden konnten. Hier zeichnete sich erst 1997 eine Veränderung ab, als die StudentInnen in Pristina mit Demonstrationen für die Wiedereröffnung von Schulen und der Universität begannen. Zur gleichen Zeit begannen allerdings auch die gewaltsamen Aktivitäten der Kosovo-Befreiungsarmee, der anderen Antwort auf den Stillstand der politischen Entwicklung.

Ein drittes kritisches Element war das Fehlen jeglicher Dialogbereitschaft mit dem Gegner. Lange Zeit galt jeder Kontakt, auch zu serbischen Oppositionellen, als verratsverdächtig. Ebenso suchte man z.B. auch bei den Studentenprotesten 1997 vergeblich Transparente in serbischer Sprache.

Als Fazit lässt sich festhalten, dass der gewaltfreie Widerstand im Kosovo versagte, weil es ihm nicht gelang, den Konflikt (gewaltlos) so zu eskalieren, dass die Gegenseite gezwungen worden wäre, nach einer Lösung zu suchen. Dies schaffte erst die UCK, deren Terrorakte die serbische Polizei und das Militär zu massiven Gegenaktionen veranlasste, was dann seinerseits die internationale Gemeinschaft auf den Plan rief, die zuvor eher geneigt war, die Vorgänge im Kosovo als interne Angelegenheit Serbiens bzw. Jugoslawiens anzusehen. Die Frage des Status des Kosovo ist immer noch nicht geklärt – anstatt der Herren aus Belgrad haben jetzt die Vereinten Nationen und die NATO das Sagen, doch zweifeln nur wenige Beobachter daran, dass, was immer im Einzelnen die völkerrechtlichen Regelungen sein werden, der Kosovo gewiss nicht mehr nach Serbien zurückkehren wird.

Anmerkungen

1) »Kosovo« wird hier als die internationale Schreibweise des Namens benutzt. Im Albanischen heißt er »Kosova«.

2) Clark, Howard (2003): Ziviler Widerstand im Kosovo. Hrsg. Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung, Kassel, Weber & Zucht, 304 Seiten, 20 EUR.

Christine Schweitzer (Hamburg) arbeitet als Mitarbeiterin des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung an einer Studie über Interventionen im Raum des ehemaligen Jugoslawien und für die internationale NGO Nonviolent Peaceforce.

… immer noch von Gandhi lernen?

… immer noch von Gandhi lernen?

Ziviler Widerstand, non-violence, Gütekraft

von Martin Arnold

„Gegen die absolute Brutalität der Nazis war kein Widerstand möglich“ lautet eine populäre Feststellung. Der Historiker und Sozialpsychologe Jacques Semelin hat zahlreiche Beispiele des vielfältigen Kampfes »ohne Waffen gegen Hitler« untersucht, er nannte ihn »Zivilen Widerstand«. Seine Definition nahm Martin Arnold zum Anlass für eine konzeptionelle Betrachtung inhaltlich verwandter Begriffe und der dazu gehörenden Konfliktdynamik. Eine besondere Rolle spielt dabei das von Gandhi entwickelte Konfliktaustragungskonzept Gütekraft.

In einer Welt, in der eine Mentalität des Durchsetzens mit Gewalt in der Weltpolitik wie auf Schulhöfen immer deutlicher um sich greift, sind für einen zukunftsfähigen Weg des Zusammenlebens tragfähige Formen der Konfliktaustragung nötig. Der zivile Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft in ganz Europa ist bei uns kaum bekannt. Zusammen mit dahinter stehenden Traditionen bietet er aufschlussreiche Einsichten. Diese machen weiter führende Fragen der Friedens- und Konfliktforschung dringlich.

Ziviler Widerstand gegen die Herrschaft der Nationalsozialisten

Norwegen 1942: Nach der Eroberung des Landes durch die deutschen Truppen versuchte der Marionetten-Regierungschef Vidkun Quisling die norwegischen Lehrer zu zwingen, einer nazistischen Organisation beizutreten und in deren Sinne Unterricht zu geben. Doch Rassismus zu lehren war für die große Mehrheit nicht mit ihren Gewissen und die Fremdbestimmung nicht mit ihrer norwegischen Identität vereinbar. Viele wehrten sich aktiv und schickten einzeln eine Erklärung nach Oslo. An zwei Tagen trafen 4.000 davon bei Quisling ein. Dieser ließ über 1.000 Lehrpersonen festnehmen. Daraufhin meldeten sich weitere freiwillig fürs Gefängnis. Ihre Familien wurden von der Bevölkerung versorgt. Auch bei Zwangsarbeit in einem Konzentrationslager gaben sie nicht nach – mit Erfolg: Nach vielen Monaten aus den Lagern entlassen, konnten sie weiterhin ihren Unterricht geben. Quisling: „Die Lehrer haben für mich alles zerstört!“ (Semelin 1995:109)

Semelin stellt dar, mit welchen Zielen die Historie sich zunächst mit den bewaffneten Teilen des Widerstands gegen die Deutschen befasst hat. Z.B. gab es in Frankreich „vier »politische Lesarten« der Résistance“, mit denen durch Heroisierung von Politikern, die nach 1945 aktiv waren, aktuelle politische Interessen der Gaullisten, der Kommunisten und anderer bedient wurden (S. 48). Ohne die Bedeutung militärischer Aktivitäten zu schmälern, zeigt Semelin zahlreiche Formen und die wichtige Rolle des zivilen Massenwiderstands auf, die oft weniger spektakulär waren als militärische und auch deshalb leicht »vergessen« wurden. In vielen Ländern war er aber grundlegend und wirkungsvoll und verhinderte, dass die herrschenden Deutschen Faschisten ihre politischen Ziele – überhaupt oder in der geplanten Zeit – erreichten.

Semelin unterscheidet zwei Arten des zivilen Widerstands, je nach Mobilisierung durch die Bevölkerung oder durch Institutionen. Zur ersten gehören Demonstrationen, Streiks, ziviler Massen-Ungehorsam, Widerstand von Berufsgruppen sowie Bewegungen zur Unterstützung von Juden; er beschreibt Beispiele aus der Tschechoslowakei, Holland, Belgien, Frankreich, Norwegen, Luxemburg, Dänemark, Polen (Unterrichtswesen im Untergrund) und Deutschland (Rosenstraße). Bei institutioneller Mobilisierung hingegen waren die Träger des Widerstands staatliche Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen, die Proteste, begrenzte (wie in Finnland, Italien, Rumänien, Ungarn, Dänemark und Belgien) oder totale Nichtzusammenarbeit (wie in Norwegen und später in Dänemark) praktizierten.

Semelins Definition

Semelin definiert zivilen Widerstand als „Spontaner und unbewaffneter Kampf einer zivilen Gesellschaft gegen einen äußeren Aggressor“ (S. 53). Geplanten Widerstand nennt Semelin Verteidigung. Unbewaffnet spielt bei der Definition eine entscheidende Rolle. Semelin grenzt seine Forschung auf solche zivilen Handlungen ein, die nur zivilen, nicht militärischen Zielen dienten, wie z.B. „die Forderung nach der Unabhängigkeit von Institutionen von der Kontrolle durch die Besatzungsmacht oder der Schutz verfolgter Personen.“(S. 19). (Tätigkeiten ohne Waffen, die militärischen Zwecken dienen, wie z.B. Kundschafterdienste, untersucht Semelin nicht.) Diese Widerstandsform kommt nach Semelin dem »gewaltfreien Widerstand« nahe. Wenn sie allerdings in Ermangelung von Waffen gewählt wurde, ohne dass dem ein „Verzicht auf Gewalt als strategischem Mittel“ zu Grunde liegt, zieht Semelin die Bezeichnung »ziviler Widerstand« vor. (S. 58) Zur Unterscheidung von »gewaltfrei« wird dafür in Deutschland vielfach die Bezeichnung »gewaltlos« gewählt. Semelin hat sich auch mit der Tradition gründlich befasst (z.B. Mellon, Semelin 1994); ihr Ausgangspunkt ist »ahimsa«.

Ahimsa, Satjagrah, non-violence

Ahimsa (Sanskrit: a = Verneinung, himsa = Gewalt) bezeichnet eine Lebenshaltung und Einstellung, die seit mehr als 2.500 Jahren die unbedingte Achtung vor dem Leben aller Wesen fordert; sie ist das oberste Prinzip für die Anhänger des Jainismus. Jains und viele andere sind durch den Einfluss dieser indischen Religion VegetarierInnen. Ähnliche Anschauungen finden sich in allen großen Religionen. In Indien allerdings entwickelte sich die Bedeutung von ahimsa von der rein negativen Bedeutung »Nicht-Gewalt« weiter in die positive Richtung: Liebe zu allen Wesen.

Die Bekanntschaft mit Jains hatte großen Einfluss auf Mohandas K. Gandhi. Als indischer Rechtsanwalt hatte der später Mahatma (»große Seele«) Genannte seit 1893 in Südafrika mit rassistischen Diskriminierungen zu kämpfen. Er entwickelte die Nicht-Gewalt-Anschauungen dahin weiter, dass er Formen erfand, die Forderung auf akzeptable Art auch an diejenigen zu richten, unter deren Gewalt er zu leiden hatte, und zwar über den persönlichen Bereich hinaus wirksam auch in der Politik. Journalisten nannten seine Kampfart »passive resistance«. Diese Bezeichnung fand er irreführend, weil er, im Gegenteil, sehr aktiv war, und er nahm ein neues Wort dafür: Satjagrah. Das Sanskrit-Wort ist zusammengesetzt aus: satya = Sein, Wahrheit als Liebe und Güte, und agraha = gespannt sein, sich halten an, festhalten an, Kraft. Gandhi erklärte es als „Force which is born of Truth and Love“, Kraft, die aus Wahrheit und Liebe entspringt, und »soul force«, Seelenkraft (Gandhi 1972: 102, 105). Satjagrah schließt ahimsa ein. Gandhi nannte sie auf dem Hintergrund des indischen „ahimsa“ im Englischen »non-violence«. Das erkannte er später als Fehler, denn in der übrigen Welt, wo es keine ahimsa-Tradition gab, hatte »non-violent«, »gewaltlos«, natürlich meist die Bedeutung, etwas nicht zu tun, d. h. der Impuls aus der Kritik an »passive resistance« war verloren. Nur wer die Zusammenhänge kannte, wusste Bescheid und so ist es bis heute. Denn bis zur Erkenntnis seines Fehlers in den 1930er Jahren, waren die Aktivitäten, die er anleitete, weltweit mit »non-violent« und er als »Apostel der Gewaltlosigkeit« bezeichnet worden. Schon 1925 hatte dagegen sein Freund Romain Rolland vorgeschlagen, eine andere, besser zu Satjagrah passende Bezeichnung zu suchen.

Gewaltfreiheit

Neugieriggewordene stellten sich die Frage, wie es entgegen gewohnten Kampfweisen zum Abbau von Gewalt, auch von struktureller Gewalt, von Ungerechtigkeit, und zu wirksamer Verteidigung gegen gewaltsame Angriffe kommen konnte, ja überhaupt kommen kann. Es wurde eine Dynamik beschrieben, die zwingende Kraft entfalten kann. Mit der Studie des britischen Admirals Stephen King-Hall »Den Krieg im Frieden gewinnen« änderte sich der Diskurs von moralischen zu strategischen und militärischen Argumenten (Bogdonoff 1982). Damit ist ein bestimmter Traditionsstrang der Gandhi-Interpretation bezeichnet. Exponent ist Gene Sharp: »The Politics of Nonviolent Action« (1973). Satjagrah wird als reine Sozialtechnik gesehen, unabhängig von Einstellungen des Akteurs, als Methode, mit deren Mechanismen der Nichtzusammenarbeit bei konsequenter Anwendung jede Person ohne körperliche Verletzung zum Nachgeben gezwungen werden kann (non-violent coercion).

Als sich in Deutschland der öffentliche Sprachgebrauch bei »gewaltlos« stark von dem der Insider entfernt hatte und nur noch »keine Gewalt« meinte, führte Theodor Ebert Ende der 1960er Jahre den Begriff »Gewaltfreiheit« ein, um auch die innere Freiheit von Gewalt als Motivation für bestimmte Handlungsweisen auszudrücken. Dies entsprach Gandhis Unterscheidung zwischen der »Gewaltfreiheit der Starken« und der »Gewaltlosigkeit der Schwachen«, d. h. jener, die nur aus taktischen Gründen, z.B. weil sie keine Gewaltmittel haben, zu dieser Methode greifen. Die Unterscheidung wurde kaum allgemein aufgenommen. Im Lauf der Jahrzehnte hat sich nun der Vorgang wiederholt, dass ein Wort im öffentlichen Diskurs entgegen der ursprünglichen Bedeutung eingesetzt wird: Z.B. begründete ein Innenminister einen Gewalt-Einsatz der Polizei gegen Demonstrierende mit den Worten: „Bayern bleibt gewaltfrei.“ Mit der positiven Dynamik Satjagrah hat dieser Sprachgebrauch kaum noch etwas gemein, sie droht vergessen zu werden. Deshalb und weil unter „Gewalt“ sehr Unterschiedliches verstanden wird, scheinen „gewaltlos“ und „gewaltfrei“ immer weniger geeignet zu sein für sachliche Verständigung über die wohlfeile Bestätigung von Legitimität hinaus. Ausdrucksweisen wie ohne »körperliche / psychische / materielle« Schädigung oder Verletzung sagen klarer aus, was jeweils gemeint ist.

Gütekraft

Allerdings hatten Gandhi und viele andere (wie Martin Luther King: „strength to love“, „love-force“) eine Dynamik in Gang setzen können, die geeignet ist, Menschen von der Schädigung anderer abzubringen. Seit einigen Jahren wird in Deutschland für diese Dynamik das Wort Gütekraft gebraucht, im angelsächsischen Sprachraum truthforce (»Nonviolence« und »violence-free« sind andere Versuche. Nach den Erfahrungen mit »Gewaltfreiheit« ist zu vermuten, dass so dem Verflachen des Begriffsinhaltes kaum Einhalt zu bieten ist.) Ebenfalls von der negativen Bezeichnung abrückend, heißen eine kürzlich in den USA gesendete TV-Serie mit Beispielen aus der ganzen Welt und das zugehörige Buch »A Force More Powerful« (Ackermann, DuVall, 2000). Auch Johan Galtung bezeichnet die positive Seite der Gewaltfreiheit als Gütekraft (1999:39): „Sofern die sozio-psychologische Distanz zwischen den beiden (am Konflikt beteiligten) Seiten darauf basiert, dass das Gegenüber die eigene Seite entmenschlicht, dann wird gütekräftiges Vorgehen Außenstehende in einer Großen Gütekraftkette einbeziehen müssen. Einige der Vermittler werden viele soziale Charakteristika mit den Unterdrückten gemeinsam haben, andere werden ökonomisch, sozial und kulturell den Unterdrückern näher stehen.“

Galtung nennt hier einen soziologischen Aspekt der Funktionsweise der Gütekraft-Dynamik. Er setzt voraus, dass es einen – notfalls auch nur indirekten – Kontakt zum Gegner gibt. So wird durch bestimmte Vorgehensweisen – dazu kann auch Nichtzusammenarbeit gehören – (s. Ebert 1981: 37) eine Dynamik angestrebt, die nicht wie die der Gewalt in Destruktivität mündet, sondern in einen »Engelskreis« oder eine »Gütekraftspirale«, d. h. in der sich die Beziehung zwischen den Kontrahenten verbessert. Dies erfordert, dass in der Konfliktaustragung auch die eigenen Ziele dem Ziel der Verbesserung der gemeinsamen Verhältnisse untergeordnet, die eigenen Interessen eingeordnet werden, dass sich der Kampf nicht gegen Personen richtet sondern gegen ein bestimmtes Verhalten oder bestimmte Verhältnisse. Diese Dynamik und das zugehörige Konzept der Konfliktaustragung nannte Gandhi Satjagrah, Gütekraft. Gütekräftig vorgehen heißt, den Kampf zu führen als Einsatz für die Verbesserung der Verhältnisse für alle und Gegner konsequent und beharrlich auch gegen den bisherigen Augenschein als potenziell Verbündete für dieses Ziel zu behandeln. Das Konzept hat sich in vielen Konflikten auf allen Konfliktebenen bewährt, es spielt übrigens auch im familiären Alltag eine größere Rolle, als uns zumeist bewusst ist.

Unterschiedliche Konzepte

Von den Aktivitäten des zivilen Widerstands, die Semelin anführt, scheinen diejenigen besonders stark gewirkt zu haben, bei denen der Widerstand mit direktem Kontakt zu den Besatzern verbunden wurde, d. h. die nicht nur gewaltlos, sondern gütekräftig waren. Ohne solchen Kontakt scheinen die Erfolgsaussichten des zivilen Widerstands geringer oder sogar grundsätzlich gefährdet zu sein: Barbara Müller und Christine Schweitzer benennen Schwächen ziviler, gewaltloser Widerstandsaktivitäten, die durch Mangel an Dialogbereitschaft oder Nichtbeachtung der Gegnerseite bedingt waren: Das Konzept wurde in diesen Fällen nicht optimal angewendet. Burkhard Bläsis (2001) »grounded theory«, die er anhand von Interviews mit jahrzehntelang gütekräftig tätigen Personen entwickelte, bestätigt es: Gütekräftig vorgehen heißt Paroli bieten und zugleich Vertrauen aufbauen. Auch Robert Antoch (1999) nahm die psychologische Seite der Dynamik in den Blick und fand drei wichtige Faktoren: Entängstigung, Entfeindung und Ermutigung. Das ist mit Zwang, mit »non-violent coercion«, nicht erreichbar: Sharps enger Gewalt-Begriff meint wohl nur körperliche Schädigung. Gandhis ahimsa schließt dagegen auch andere Arten der Schädigung wie Beleidigung, Verleumdung oder totale soziale Isolierung als Erpressungsmittel aus. Das wirft Fragen auf.

Forschungsaufgaben

  • Wie wichtig ist »Kontakt zum Gegner« für die Stärke des Vorgehens? Sowohl beim Widerstand gegen Pershing II-Raketen z.B. in Mutlangen, als auch bei den Aktionen gegen Castortransporte im Wendland spielte die Frage, wie die Konzepte reine Gewaltfreiheit und Vielfalt zu einander stehen, eine wichtige Rolle: Welches ist wie wirksam? Können sie bei einer Aktion koexistieren, ohne sich zu stören?

Wie stark sind gütekräftige Vorgehensweisen, bei denen ohne Hass mit dem Gegner Kontakt aufgenommen wird, im Vergleich zu den als zivil oder gewaltlos oder vielfältig bezeichneten Widerstandskonzepten, bei denen aus beliebiger Motivation keine körperliche Gewalt angewendet wird?

Diese Fragen stellen sich nicht nur für Situationen des zivilen Widerstands, sondern spielen bei allen Konflikten eine fundamentale Rolle, gerade auch bei solchen, in denen eine Seite versucht, durch Schädigung der anderen Seite ihre Ziele zu erreichen. Für die Friedens- und Konfliktforschung stellen sich daher eine Reihe weiterer, auch grundlegender Fragen. Wenige sollen hier angedeutet werden.

  • Bei größeren Kollektiven kann die Verhaltensänderung indirekt verlaufen. Oft wurden Verantwortliche zwar nicht überzeugt, aber gaben nach, weil ihr Umfeld sich in diesem Prozess veränderte. Z.B. gab 1986 der philippinische Diktator Marcos nach intensiv vorbereiteten, gütekräftigen Aktivitäten auf, nicht »bekehrt«, aber entmachtet, als das Militär und die USA, weitgehend gütekräftig beeinflusst, ihn nicht mehr stützten (Goss-Mayr 2004). Vor allem wenn größere Kollektive beteiligt sind, ist die »Große Gütekraftkette«, von der Johan Galtung spricht, wichtig: Nicht nur die unmittelbar Verantwortlichen werden angesprochen, sondern die zunächst gleichgültige, stumme, daher die Verhältnisse stabilisierende Öffentlichkeit wird durch gütekräftige, dramatisierende, den Konflikt deutlich machende Ansprache als Verbündete gegen das Unrecht gewonnen. In der Bewegungsforschung wird hier von einem »Spiel über die Bande« gesprochen (Roth, 2004). Ein Vergleich von dem, was mit Martin Luther King durch gütekräftiges Vorgehen, und dem, was z.B. mit Malcolm X oder den »Black Power«- Bewegungen mit anderen Konzepten erreicht wurde, sowie eine genauere Analyse der Ursachen könnte sehr nützlich sein, natürlich auch auf andere Konflikte bezogene Vergleiche (Ackermann, DuVall 2000: 457-468).
  • Die Erwartungen, mit denen im Konflikt Kontakt aufgenommen wird, stellen, wie Forschungen zu »selffulfilling prophecy« vermuten lassen, wichtige Weichen, wie sich die Beziehungsdynamik entwickelt. Offenbar sind unbewusste Einstellungen relevant. D. h. Vorgehensweise und Methodik funktionieren nicht einfach als beliebig anwendbare »Technik«. Wie aber funktionieren sie dann? Ist vielleicht die »Haltung« wesentlich? Was daran ist lernbar, was nicht? Wie kann es gelernt werden? In welchem Verhältnis steht die innere Einstellung von gütekräftig Handelnden zur zugehörigen Methodik?
  • Es gibt verschiedene Ausgestaltungen des Gütekraft-Konzepts, die oftmals religiös formuliert worden sind. Das Konzept des Hindus Gandhi ist z.B. nicht identisch mit dem des Baptisten King, dem des Moslems Abdul Ghaffar Khan oder dem des Sozio-Anarchisten Bart de Ligt usw. Gegenwärtig fördert die Deutsche Stiftung Friedensforschung ein Forschungsprojekt an der Universität Siegen indem die unterschiedlichen Konzepte gegeneinander abgeglichen werden und in dem untersucht wird, was sich unter welchen Voraussetzungen übertragen lässt.

Fazit

In den weltweiten Erfahrungen mit gütekräftigem Vorgehen liegt ein Schatz, den bewusster zu heben für Gesellschaft und Politik dringlich ist. In der konsequenten Betrachtung der anderen Seite als gleichwertig, wie im Gütekraft-Konzept entwickelt, dürfte ein Schlüssel für die Lösung von Konflikten liegen – im Großen wie im Kleinen.

Literatur

Ackerman, Peter / DuVall, Jack (2000): A Force More Powerful. A Century of Nonviolent Conflict, New York.

Antoch, Robert (1999): Kraft der Liebe. In: Arnold, Knittel (Hrsg.), 1999, S. 58-64

Arnold, Martin und Knittel, Gudrun (Hrsg.) (1999): Gütekraft erforschen. Kraft der Gewaltfreiheit, Satjagraha, Strength to love, Minden, Gewaltfreie Aktion, 31. Jg., H. 121, online:

Berg, Birgit (1999): Vom Gewaltkult zur Gütekraft. Beispiele und Aspekte einer neubenannten Qualität. In: Arnold, Knittel (Hrsg.) 1999, S. 17-30.

Bläsi, Burkhard. (2001): Konflikttransformation durch Gütekraft. Interpersonale Veränderungsprozesse. Münster, Hamburg, Berlin, London.

Bogdonoff, Phil (1982): Civilian-Based Defense – A Short History. www.blancmange.net/tmh/articles/cbdhist.html

Ebert, Theodor (1981): Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg. Waldkirch.

Galtung, Johan (1999): Mohandas K. Gandhis Realpolitik. In: Arnold, Knittel (Hrsg.) 1999, S. 35-41.

Gandhi, Mohandas K. (1928): Satyagraha in South Africa. Ahmedabad.

Goss-Mayr, Hildegard (2004): Die Kraft der Gewaltfreiheit am Beispiel der Philippinen. In: Gewaltfreie Aktion, i.E.

Mellon, Christian / Semelin, Jacques (1994): La non-violence. Paris

Roth, Roland (2004): Erfolgsbedingungen sozialer Bewegungen heute, Vortrag vom 08.05.04, Bremen, Archiv Aktiv.

Semelin, Jacques (1995): Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa, Frankfurt a.M.

Sharp, Gene (1973): The Politics of Nonviolent Action, Boston.

Martin Arnold ist Pfarrer. Er arbeitet z. Zt. an einem Forschungsprojekt der Universität Siegen zu den verschiedenen Gütekraft-Modellen. Die deutsche Arbeitsgruppe Gütekraft wurde von ihm mitgegründet: Siehe auch www.guetekraft.net

Frieden mit friedlichen Mitteln

Frieden mit friedlichen Mitteln

von Bernhard Nolz

In »Neue Wege zum Frieden« stellen Johan Galtung, Carl G. Jacobsen und Kai Frithjof Brand-Jacobsen TRANSCEND vor: eine Friedensphilosophie und einen Weg, sie in die Tat umzusetzen. TRANSCEND wird von den Autoren als eine Friedens- und Entwicklungsorganisation für Konflikttransformation mit friedlichen Mittel bezeichnet. Bernhard Nolz über die Bedeutung dieser Arbeit und auszugsweise vier Schwerpunkte vorstellend.

Wissensvermittlung und Persönlichkeitsbildung finden in sozialen Zusammenhängen und durch Medien statt. In einer aktuellen Medienerziehung, die zu einem wichtigen friedenspädagogischen Aufgabenfeld gehört, spielt eine kritische Analyse der elektronischen Medien eine ebenso wichtige Rolle wie – und das nicht erst seit »PISA« – die Wissensvermittlung durch das Medium Buch.

Für die Friedenserziehung ist die Auseinandersetzung mit der Macht und den Möglichkeiten der Medien insofern wichtig, als sich gerade in der Berichterstattung über den Bereich des Militärischen bzw. über Vorbereitung und Realisierung von Kriegen ein bedeutendes Manipulationsspektrum findet, das es zu durchschauen und kritisch offen zu legen gilt.

Eine solche Medienerziehung kann als Beitrag zur Schaffung einer Kultur des Friedens angesehen werden.

Friedenskultur orientiert sich an den Prinzipien der Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit, der Mitmenschlichkeit und Nachhaltigkeit:

  • Gewaltlosigkeit als Fähigkeit, sich kritisch und kreativ mit den verschiedenen Erscheinungsformen von Gewalt auseinander zu setzen – sei es physische, körperliche oder strukturelle oder kulturelle Gewalt – und jeweils Wege zur Beseitigung oder Minderung dieser Gewaltformen zu finden und zu gehen.
  • Gerechtigkeit als Sensibilität für Recht und Unrecht im Zusammenleben von Menschen untereinander und mit der Natur und Umwelt.
  • Mitmenschlichkeit als Sensibilität für die Andersartigkeit von Mitmenschen, für deren andere Anschauungen und Probleme, für deren (vielleicht verborgene, unausgesprochene) Bedürfnisse nach Verständnis und Verständigung.
  • Nachhaltigkeit als Sensibilität für Fragen nach einem verantwortungsvollen Umgang mit der Natur und Umwelt, mit nicht regenerierbaren und regenerierbaren Ressourcen unserer Erde.

Für die Entwicklung von Friedenserziehung und Friedenskultur ist das Buch »Neue Wege zum Frieden« ein ergiebiger Ratgeber. Im 2. Teil des Buches beschreibt Johan Galtung seine Konflikt-Transformations-Erfahrungen aus 45 Jahren. Galtung geht davon aus, dass man Konflikten nicht vorbeugen kann, wohl aber der Gewalt, so dass es darauf ankomme, die Konfliktenergie so zu lenken, dass sie eine gewaltfreie und transformierende Wirkung erhält. Diese Wirkungsweise soll an vier Beispielen, die »Neue Wege zum Frieden« entnommen wurden, dargestellt werden.

  • Mit Shir wird eine traditionelle Konfliktlösungsstruktur vorgestellt, die insbesondere verdeutlicht, welche Bedeutung seit allen Zeiten die Gender-Perspektive für die Realisierung gewaltfreier Lösungen von Konflikten haben kann.
  • In Friedensdienst beschreibt Galtung Überlegungen zur Beendigung der Wehrpflicht, die als staatlicher Zwangdienst beurteilt wird. Den Befürwortern der Wehrpflicht hält er die transformatorische Wirkung entgegen, die mit der Einführung eines freiwilligen Friedensdienstes verbunden wäre, weil durch das Prinzip der Freiwilligkeit dem allgemeinen Friedensprozess in der Gesellschaft neue Energien zugeführt werden können. Die Sensibilität für den Frieden scheint deutschen Politikern ab zu gehen, wenn sie stur an der Wehrpflicht festhalten wollen, einen Arbeitszwang eingeführt haben, wie es ihn zuletzt in der NS-Diktatur gab, und die Zwangsschrauben gegen MigrantInnen immer fester drehen.
  • Was wir heute Globalisierung nennen, bezeichnete Johan Galtung vor 40 bzw. 26 Jahren noch als Nord-Süd-Konflikt. Heute würde man auch nicht mehr von Unabhängigkeitskämpfen reden, sondern zur Kenntnis nehmen müssen, dass fast überall auf der Welt die politische »Befreiung« in eine zerstörerische Abhängigkeit durch die Industrieländer und ihre Unterdrückungsinstrumente wie Weltbank und Internationaler Währungsfond (IWF) gemündet ist. Galtungs Vorschläge beziehen sich auf die Überwindung der negativen Folgen der Globalisierung, die sich bis heute verschärft haben und die durch die Politik des Neoliberalismus auf die Bevölkerung der Industrieländer in Form von Sozialabbau und politischer Entrechtung zurück fallen. Johan Galtung weist »prophetisch« auf gewaltfreie Wege zur Konfliktlösung hin, die auf lokaler und regionaler Ebene zum Tragen kommen können und dem Abbau struktureller Gewaltverhältnisse eine positive Gestaltungsmöglichkeit entgegen halten.

Im Folgenden Textauszüge aus o.g. Buch von Johan Galtung zu diesen vier Punkten:

Shir – eine traditionelle Konfliktlösungsstruktur

Konflikt setzt menschliche und soziale, individuelle und kollektive Energie frei und baut sie auf. Die Frage ist, wie diese Energie in Richtungen gelenkt werden kann, die zu konstruktiven und nicht zu destruktiven Ergebnissen führen. Man sehe in die Gesichter, man sehe den Menschen in die Augen, wenn sie sich im Konflikt befinden: Einige sehen matt und apathisch aus, die Augen anderer leuchten vor Aktionsbereitschaft. Die Frage ist, aktionsbereit zu welcher Aktion: zum Kampf auf dem Schlachtfeld oder zum Ersteigen der Gipfel menschlicher Kreativität?

… Wir jedoch suchen einen Weg, wie Menschen gemeinsam kreativ werden können wie z.B. im »Shir« in Somalia.

»Shir« ist eine traditionelle Konfliktlösungsstruktur: Alle reifen Männer der in einen Konflikt verwickelten Klans treffen sich. Frauen, Kinder und junge heißblütige Krieger sind ausgeschlossen. Die Männer lagern sich während des heißen, trockenen Tages unter den Dornenbäumen. Sie schwatzen und trinken Tee. Sie verbringen auch viele Stunden damit, Kat zu kauen, die leicht euphorisierende Droge, die am Horn von Afrika angebaut wird. Sie rauchen, begrüßen einander, freuen sich, alte Freunde – und alte Feinde zu treffen. An irgendeinem Punkt, nehmen die Dinge Gestalt an. Die verschiedenen Teile, die das Hauptproblem bilden, um dessentwillen der »Shir« zusammengerufen wurde, zerfallen in Stücke, weil langsam ein Klima entstand, das einer Lösung förderlich ist. Das Ergebnis ist richtiger Frieden, ein Frieden von innen, ein Frieden, der nichts mit den von den UN organisierten eiligen Konferenzen in Hotels mit Klimaanlage in Addis Abeba gemeinsam hat.

Kurz gesagt: ein Konfliktmarkt, bis an seine Ränder mit Dialogen gefüllt!

Wir nehmen nicht an, dass es einfach wäre, das in diesem Kapitel beschriebene Modell umzusetzen. Wir wollen betonen, dass große intellektuelle Anstrengungen notwendig sind, um fruchtbare Konfliktperspektiven zu entwickeln. Allerdings sollte der intellektuelle Aspekt durch keine Aufmerksamkeit auf das Emotionale und das Unterbewusste, wie man sie auch rechtfertigen mag, geschmälert werden, ganz gleich ob Konflikte eine ausreichende Anzahl von Menschen mit den notwendigen Talenten mobilisieren oder nicht. Das Urteil des 20. Jahrhunderts über den Krieg ist ein schallendes Nein. Wir müssen noch viel lernen und tun, um Konflikte besser zu handhaben.

Friedensdienst

Eine TRANSCEND-Perspektive aus den Jahren 1959 und 1964:

Diagnose

Die Pflicht zum Militärdienst, die 1505 von Machiavelli vorgeschlagen worden war, wurde zuerst 1793 von Frankreich als die Kehrseite der Bürgerrechte eingeführt: Die Pflicht, sein Leben zu geben, wenn der Staat dazu aufrief. Als logische Konsequenz des militärischen Herangehens an Konflikte, das tief in der europäischen Tradition verwurzelt ist, war die Wehrpflicht auch eine Konsequenz der wachsenden Demokratisierung (Teilnahme des »demos«) für Männer. Die Wehrpflicht wirft eine Reihe von Fragen auf:

  • Gibt es eine »militärische Lösung« eines Konflikts?
  • Gibt es eine Alternative für die, die aus irgendeinem Grund »nein« sagen?
  • Könnte die Alternative ein Friedens- oder Entwicklungsdienst sein?
  • Was würde ein solcher Dienst genau enthalten?
  • Wie ist es mit der weiblichen Hälfte der Bevölkerung?

Die Antwort auf die erste Frage bedingt die Antwort auf die folgenden vier. Sie reflektiert die Trennung zwischen Bellizisten (Kriegsbefürwortern) und Pazifisten:

Bellizisten: Es gibt keine Alternative. Wenn ein Kriegsdienstverweigerer-Status akzeptiert wird, soll er nicht attraktiver als der Militärdienst sein und Risiken enthalten. Die Bellizisten sind geteilter Meinung in der Frage, ob Frauen Posten im Militär bekleiden sollten oder nicht.

Pazifisten: Eine Alternative zur Wehrpflicht zu haben ist Menschenrecht. Es sollte auch einen Friedens- bzw. Entwicklungsdienst geben, der allen offen steht, auch Frauen.

Das Staatsmonopol auf Gewalt macht den Staat nicht nur zum Organisator von Militärmacht, sondern auch zu einer Kraft, diejenigen, die es ablehnen, Militärdienst zu leisten, zu exekutieren (als Deserteure), zu verfolgen und ins Gefängnis zu sperren oder ihnen das Recht auf eine Alternative zuzugestehen. Dadurch wird das Problem vom formalen Standpunkt aus zu einem Problem zwischen Staat und Bürger und von einem evolutionären Standpunkt aus zu einem Problem, das neue Wege öffnet, dem Friedensprozess ganzflächig neue Energien zuzuführen.

Prognose

Die Prognose ist positiv, weil es absurd ist, jungen Menschen, die dem Frieden dienen wollen, das Recht dazu zu verweigern (Absurdität: Eine tiefe Diskrepanz zwischen erklärten Zielen und der Realität). In manchen Ländern mag es im Wesentlichen eine Frage der genügend großen Zahl von Kriegsdienstverweigerern sein, nicht nur eine Alternative mit allgemeiner Anziehungskraft zu formulieren, sondern auch diesen Ansatz mit zivilem Ungehorsam zu begleiten, den die Alternative darstellt.

Therapie

Seit den späten 50er bzw. den frühen 60er Jahren ist ein »Friedenskorps«, das nicht nur so heißt, von Wichtigkeit. Es verbindet fünf Aspekte miteinander:

  • Das Friedenskorps leistet Entwicklungsdienst für die Bedürftigsten der Weltgemeinschaft,
  • sein Dienst soll auf Gegenseitigkeit beruhen, nicht nur in Richtung von den reichen zu den armen Ländern; ein Hin- und Herfließen von menschlichen und sozialen Entwicklungsdiensten im Austausch mit technischen Diensten,
  • die Menschen, die diesen Dienst tun, können auch als Konflikt-Lösungs-Korps, bestehend aus Jungen und Alten, Männern und Frauen, dienen; sie sollen sich integer in die Konfliktgebiete begeben, ihre guten Dienste als Zeugen, Helfer bei Konfliktlösung und Versöhnung, beim Aufbau sozialer Netzwerke und der Bestärkung zum Frieden, Errichten von Friedenszonen usw. leisten,
  • Internationalisierung des Korps (wie die Freiwilligen der Vereinten Nationen), womit vermieden wird, dass es zu Propagandazwecken für nur ein Land benutzt wird,
  • Offenhalten für alle: Für Junge und Alte, Männer und Frauen.

Das würde nicht nur sicherstellen, dass Kriegsdienstverweigerer ihre Zeit nicht vergeuden und dass sie das Problem ihrer zunehmenden Polarisierung und Marginalisierung durch die Regierung lösen, sondern es würde auch andere Menschen für einen alternativen, gewaltfreien Dienst für den Frieden als Menschenrecht mobilisieren.

Nord-Süd-Konflikt

Eine TRANSCEND-Perspektive aus den Jahren 1964 und 1978

Diagnose

Was diesen riesigen Komplex zu einem Konflikt-Komplex macht, ist nicht der Umstand, dass einige Menschen reich und einige arm sind, dass die Grundbedürfnisse der einen erfüllt werden und die der anderen nicht, sondern dass einige Menschen deshalb arm sind, weil andere reich sind und umgekehrt. Das nennt man Ausbeutung (oder sanfter ausgedrückt: Unfairness), und es ist allgegenwärtig. Dadurch wird weder Armut noch Reichtum erklärt. Viele andere Faktoren sind am Werk: Einer ist harte Arbeit, ein anderer Gier, aber ein dritter Faktor ist sicherlich der Mangel an Rücksicht und die damit verbundene Ausbeutung.

Der Mangel an Rücksicht ist tief in dem Ökonomismus als Ideologie eingewurzelt, die das Wirtschaftswachstum als Risikobereitschaft unter Bedingungen, die nur der Freie Markt bietet, erklärt, wobei man hofft, durch das Schaffen von Arbeitsplätzen die Wirkung bzw. Verteilung nach unten weiterzuleiten.

Unter gewissen Bedingungen geschieht das tatsächlich, besonders in den Ländern an der Spitze der Weltwirtschaft. Aber die Nebenwirkungen sind für gewöhnlich negativ für die Armen und positiv für die Reichen, denn z.B. sind die Fähigkeiten von jemandem, der das Rohmaterial für den Export ausgräbt, viel weniger gefordert als die eines Menschen, der mit den Problemen der Verarbeitung von Rohmaterial zu ringen hat. Anforderung, Training im Zusammenarbeiten, Verschmutzung und Abnahme der Ressourcen, all diese unsymmetrisch verteilten Nebenwirkungen wirtschaftlicher Aktivität fügen sich zu einem unsymmetrischen Austausch zusammen, der die solide Grundlage bildet, auf der sich die westliche Überlegenheit aufbaut. Da die Wirtschafts-»Wissenschaft« der Grund dafür ist, ist genau sie der Ort, wo die Heilmittel gefunden werden müssen: In einer alternativen Wirtschaft; sie zu schaffen ist eine wichtige intellektuelle Herausforderung. Viele Menschen arbeiten daran. Inzwischen geht die westliche wirtschaftliche Globalisierung weiter, nachdem der rote und der grüne Sozialismus auf Kosten einer ständig wachsenden Ungleichheit überall auf der Welt fürs Erste besiegt sind. Der geschaffene Reichtum kann nicht einmal die reichen Gesellschaften gegen Arbeitslosigkeit, Elend und Krise schützen.

Prognose

Es wird in vielen Gesellschaften Wirtschaftswachstum geben, d.h. durchschnittlich eine Aufwärtsbewegung in der Welt und in vielen Gesellschaften, und es wird eine ständig zunehmende Ungleichheit zwischen reichen und armen Ländern und reichen und armen Menschen in den meisten Ländern geben, wenn die Ideologie des Ökonomismus (Neoliberalismus, Neoklassizismus) tiefer in der Praxis verwurzelt sein wird. In vielen Teilen der südlichen bzw. Dritten Welt wird das zu noch massiverem Elend, zu Gewalt und Migration führen. Im Norden wird es zu massiver Arbeitslosigkeit führen.

Therapie

Wenn man die von der Natur gesetzten Grenzen bedenkt, ist klar, dass der Lebensstandard der reichsten Menschen für die meisten unerreichbar und vielleicht auch nicht wünschbar ist. Aber eine anständige Lebensgrundlage für alle ist eine vollkommen realistische Vorstellung. Dafür ist die Einhaltung einiger Richtlinien notwendig:

  • Alternative Wirtschaft: Das Augenmerk der Wirtschaft vom Wachstum weg und auf die Bedürfniserfüllung aller zu richten, eingeschlossen das offensichtliche »Verinnerlichen der Äußerlichkeiten« (d.h. das, was bisher aus dem Ausland kam, wird im Inland hergestellt) und Bedenken aller Nebenwirkungen.
  • Selbstständigkeit I: Die lokale Produktion der Mittel des Grundbedarfs anregen, besonders auf den Gebieten Ernährung, Kleidung, Obdach, Gesundheitsfürsorge und Erziehung, und über die Notwendigkeiten hinaus zu normalen Konsumgütern fortschreiten, wobei Herausforderungen angenommen, Verschmutzung durch Transport reduziert, Ressourcen besser genutzt und die Nachhaltigkeit geschützt werden.
  • Selbstständigkeit II: Darüber hinaus, Handel mit Partnern auf derselben Ebene, um Abhängigkeiten zu vermeiden. Gemeint ist Süd-Süd-Handel und Süd-Süd-Zusammenarbeit aller Art.
  • Gegenseitige Entwicklungshilfe: Aus demselben Grund soll Entwicklungshilfe nur von solchen Partnern (Ländern) angenommen werden, die ihrerseits bereit sind, im Tausch Entwicklungshilfe anzunehmen. Arme Länder können menschliche und soziale Hilfe im Austausch gegen technische und wirtschaftliche Hilfe anbieten, was Fairness aufbaut.

Vieles davon hängt von der sehr ungleichen Fähigkeit der Zivilgesellschaft ab, d.h. der lokalen Behörden und der NGOs.

Unabhängigkeitskämpfe

Eine TRANSCEND-Perspektive aus den Jahren 1970-1975

Diagnose

Unter dieser allgemeinen Überschrift wurde ein Forschungsprojekt in dem Gebiet, das damals Südrhodesien war, durchgeführt: Teilweise über die Wirkung der Wirtschaftssanktionen gegen die weiße Minderheitsregierung (vier Prozent) nach der einseitigen Unabhängigkeitserklärung (UDI) im November 1965 und teilweise über die allgemeine Strategie eines Kampfes um Unabhängigkeit, in diesem Fall gegen den Kolonialismus der weißen Siedler mit ihrem Anspruch auf Zivilisationsmissionierung, der ihre offensichtlich wirtschaftlichen Interessen krönte. Der Konflikt war dreiseitig; die drei Parteien waren die weißen Siedler, die schwarze Mehrheit (geteilt, aber nicht in dieser Hinsicht) und die sanktionierenden Länder, besonders England. Das Ziel der Siedler war der Status quo durch UDI, das Ziel der schwarzen Mehrheit war eine Mehrheitsregierung, und das Ziel Englands war es, den Prozess zu regeln, indem es das aus dem Ruder gelaufene weiße Regime dazu brachte, sich dem »Mutterland« zu fügen.

Prognose

Die Prognose war, dass die Wirtschaftssanktionen nicht ausreichen würden, um das Regime aus dem Sattel zu heben, teilweise weil die Republik Südafrika und das weiße Siedler-Regime desjenigen Gebietes, das damals die portugiesischen Kolonien Angola und Mozambique umfasste, zur Hilfe kommen würden und teilweise, weil Wirtschaftssanktionen die Tendenz haben, die Ziele der Sanktionierten zu stärken und Innovationen zu stimulieren. Aber wichtiger war eine andere Prognose: Dass die schwarzen Freiheitskämpfer die Herren werden wollten und durch ihre eigene Befreiung eine andere Art von Beziehung hervorbringen würden, die nicht mehr so war wie die Beziehung zwischen England und dem Weißen Rhodesien. Anders gesagt: Die Freiheitskämpfer würden lieber ihren Kampf aufnehmen als darauf warten, dass die Wirtschaftssanktionen greifen würden. Der Kampf war ein gewaltsamer Guerillakampf, kein Kampf mit friedlichen Mitteln. Zu dieser Zeit waren Wirtschaftssanktionen zwar wenigstens weniger gewaltsam, aber dafür fast völlig wirkungslos.

Therapie

Der Lösungsvorschlag war ein Freiheitskampf mit völlig gewaltfreien Mitteln. Konflikttransformation und Kreativität kamen nicht in Frage: Kolonialismus kann nicht, ebenso wenig wie Sklaverei, transformiert werden, er muss abgeschafft werden. Es gibt keinen Raum für Kompromisse. Die einzige Frage war, wie und wann man sich über untergeordnete Probleme einigen würde, z.B. darüber, welche Garantien den Siedlern gegeben werden konnten, die als Bürger Zimbabwes im Land bleiben wollten.

Führende weiße Sicherheitsfachleute gaben zu verstehen, dass das, was sie am meisten fürchteten, eben solche massive Gewaltfreiheit war, z.B. in Form eines gewaltfreien Marsches auf Salisbury (jetzt Harare), womöglich von Frauen und Kindern. Sie meinten, sie könnten mit Guerillas umgehen, aber nicht mit massiver Gewaltfreiheit.

Die Reaktion der Freiheitskämpfer brachte einen anderen Aspekt zu Tage: Den Konflikt über die Eigentümerschaft der Befreiung. Der Kampf um Unabhängigkeit ist auch ein Kampf der Männlichkeit, der Selbstbestätigung, wenn nötig mit Gewalt, kein »weiblicher Kampf wie Gandhis«. Verhandlungen haben auch deshalb ihre Grenzen, weil sie die andere Seite des Kolonialismus, die Erniedrigung, das Elend von Generationen unter weißer Herrschaft, nicht berücksichtigen. Dazu kommt noch die Darstellung von Macho-Tapferkeit als Schlüssel zur Macht, wenn der Kampf vorüber ist und die schwarze Mehrheit herrscht.

Dieselbe Reaktion war in der Akhali-Bewegung für den Sikh-Staat Khalistan, der von New Delhi unabhängig sein sollte, zu beobachten: Singh heißt Löwe! Und in der kurdischen Bewegung für kurdische Autonomie: Das Problem war nicht Wirksamkeit oder Effizienz, sondern: Wer übernimmt in einem festen Patriarchat die Macht, wenn der Kampf vorbei ist, Männer oder Frauen.

Das Problem ist allgemein. Traditionelle Gewaltmittel beansprucht die Kriegerkaste für sich allein. Klasse und Geschlecht bleiben bestimmend, auch wenn die Akteure wechseln. Beim üblichen gewaltsamen Kampf überlebt das Patriarchat. Die Herausforderung besteht darin, Unterdrückung, Gewalt und Patriarchat gleichzeitig zu überwinden. Wahrlich eine riesige Aufgabe.

Literatur

Johan Galtung, Carl G. Jacobsen, Kai Frithjof Brand-Jacobsen: Neue Wege zum Frieden. Konflikte aus 45 Jahren: Diagnose, Prognose, Therapie, herausgegeben vom Bund für Soziale Verteidigung, Minden 2003, 391 S., 15,90 Euro

Bernhard Nolz ist Vorsitzender des Bundes für Soziale Verteidigung (BSV), Sprecher der Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF), Geschäftsführer des Zentrums für Friedenskultur (ZFK) Siegen, Träger des Aachener Friedenspreises, Träger des Preises für Zivilcourage der Solbach-Freise-Stiftung.

Ziviler Widerstand – eine Erfolgsstory?

Ziviler Widerstand – eine Erfolgsstory?

von Jürgen Nieth

Für unseren Autor Jørgen Johansen ist der zivile Widerstand in den letzten 30 Jahren erfolgreicher als der bewaffnete Kampf. Er – wie auch die meisten anderen AutorInnen in dieser Ausgabe – bezieht sich dabei vor allem auf den Kampf gegen ausländische Besatzung und für gesellschaftliche Veränderungen. Aber wie ist das mit dem zivilen Widerstand innerhalb einer Gesellschaft zur Durchsetzung politischer Ziele, von Reformen unterhalb der gesellschaftlichen Umwälzung? Wann wird hier Protest zum Widerstand und sind hier Erfolge messbar?

Werfen wir einen Blick auf die Friedensbewegung in unserem Land, ihre Entwicklung, die unterschiedlichen Aktionsformen, Erfolge und Misserfolge.

»Ohne mich« – skandierte die Bewegung gegen die Gründung der Bundeswehr und die Einbeziehung der BRD in eine (West-) Europäische Verteidigungs-Gemeinschaft (EVG). »Ohne mich«, das war die angekündigte Kriegsdienstverweigerung, Teil der Bewegung gegen die Remilitarisierung. Die staatliche Macht reagierte massiv. Eine Volksbefragung wurde verboten, die Initiatoren verfolgt und die Polizeieinsätze gegen Demonstranten waren durch äußerste Härte gekennzeichnet: 1952 wurde während einer Friedensdemonstration in Essen ein Demonstrant erschossen. Politisch erlitt die Friedensbewegung damals eine Niederlage: Die Bundeswehr wurde gegründet, der EVG-Vertrag ratifiziert – als kleiner Erfolg blieb, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gesetzlich festgeschrieben werden musste.

»Kampf dem Atomtod« – »Solidarität mit Vietnam«. Die Friedensbewegung der sechziger Jahre formulierte aktiver, die dominierende Protestform blieb die Demonstration, doch zugleich gab es zunehmend Aktionen des zivilen Ungehorsams: Sitzstreiks vor Kasernentoren und Straßenblockaden. Die meisten wurden gewaltsam aufgelöst und endeten mit einer Verurteilung der Protestierenden. Auch hier nur punktuelle Erfolge der Friedensbewegung: Der Griff der Bundeswehr nach Atomwaffen scheiterte. Die USA mussten sich aufgrund der weltweiten Proteste aus Vietnam zurückziehen.

»Aufstehen – Frieden braucht Bewegung«. Das »Tu selbst etwas« entspricht der Massenbewegung für den Frieden in den achtziger Jahren. Ideenreich und vielfältig sind deren Aktivitäten: Demonstrationen bis zur Beteiligung Hunderttausender, Kultur- und Sportveranstaltungen, Menschenketten, berufsspezifische Aktionen, Unterschriftensammlungen, Volksbefragungen, Aktionen des zivilen Ungehorsams, wie Blockaden und das Begehen von Militärgelände. Der staatliche Gewaltapparat reagiert widersprüchlich. Einerseits gibt es die Einkesselung von DemonstrantInnen, die gewaltsame Auflösung von Blockaden und die Verurteilung der Blockierenden. Andererseits werden später viele von ihnen rückwirkend freigesprochen und massive staatliche Gewalteinsätze – mit Wasserwerfer, Tränengas und Schlagstock – werden zur Ausnahme. Das hat zwei Ursachen:

• Die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung stimmt inhaltlich mit den Hauptforderungen der Friedensbewegung überein, sie ist gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen. Die Regierung hat in dieser Frage die Mehrheit verloren.

• Die Aktionen der Friedensbewegung haben eine »positiv-friedliche« Ausstrahlung. Auch bei den Aktionen des zivilen Ungehorsams wird deutlich, dass von den Protestierenden keine Gewalt ausgehen wird. Der Einsatz brutaler Gewalt von Seiten des Staates ist in dieser Situation nicht mehr legitimierbar.

Die vielfältigen Aktionsformen, deren sich die Friedensbewegung in den achtziger Jahren bediente, erleben in den Protesten gegen die beiden US-Interventionen im Irak – schwächerer bei den Balkankriegen – eine Renaissance.

Und die Erfolgsfrage? Der Sturz eines Regimes, die Befreiung von ausländischer Besatzung, sind messbare Erfolge. Ob angestrebte politische Veränderungen innerhalb eines Systems stattgefunden haben, weil eine Massenbewegung sich dafür eingesetzt hat, ist dagegen schwer feststellbar. Es bleibt aber die gut begründbare Annahme, dass die Entwicklung ohne die Friedensbewegung viel negativer verlaufen wäre.

Die Mittelstreckenraketen wurden stationiert und später wieder abgebaut. Die USA haben den Irak besetzt und sich damit weltweit isoliert. Die Bundeswehr steht am Hindukusch aber in der Verurteilung des Irakkrieges gibt es wie in der »Stationierungsfrage« eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen der Mehrheit der Bevölkerung und der Friedensbewegung.

Vielleicht ist das die entscheidende Messlatte: Der Gewinn der Meinungsführerschaft. Sie ist nicht die Garantie dafür, dass sich etwas verändert, aber sie ist die Voraussetzung für Veränderungen. Die Meinungsführerschaft zu behaupten und inhaltlich auszubauen – von der punktuellen zu einer umfassenden friedenspolitischen, dafür bedarf es zivilen Widerstands: Vielfältig, im Ziel übereinstimmend und gewaltfrei.

Jürgen Nieth

Globaler gewaltloser Widerstand

Globaler gewaltloser Widerstand

Überlegungen zur aktuellen Diskussion

von Barbara Müller

In ihrer Rede zum Auftakt des Weltsozialforums am 16.1.2004 in Mumbai, Indien, fordert Arundhati Roy mit Blick auf den Irak und auf die versammelte Gemeinschaft der Globalisierungskritiker: Wir müssen der globale Widerstand gegen die Besetzung werden. Warum? Weil, so Roy, Imperialismus und Neo-Liberalismus in Irak kulminieren. Ihr zentraler Angriffspunkt ist, die Legitimität der Besetzung anzugreifen. Ihr Ausgangspunkt ist der Boykott zweier U.S.-Firmen, die – stellvertretend für viele – angreifbar sind an jedem Ort der Welt, wo sie mit Niederlassungen vertreten sind oder sonst wie in Erscheinung treten. Roy zielt darauf ab, dass es letztlich zu einer massiven Nichtzusammenarbeit von denen kommt, die derzeit mit unterschiedlichsten Beiträgen dafür sorgen, dass die Besetzung des Irak funktioniert. Bekommt der gewaltlose Widerstand – der bisher vor allem national geführt wurde – jetzt eine globale Dimension?

Um Irrtümern vorzubeugen: Arundhati Roy geht es nicht um die Unterstützung des Widerstands, der sich aktuell im Irak gegen die Besatzung richtet. Von diesem grenzt sie sich eher ab. Der in der taz zitierte Satz: „Wenn wir wirklich gegen Imperialismus und Neoliberalismus sind, dann müssen wir nicht nur den Widerstand im Irak unterstützen, wir müssen selbst zum Widerstand im Irak werden“ findet sich in der schriftlichen Fassung der Rede nicht.

Unter Bezug auf Gandhis Salzmarsch und angesichts der Notwendigkeit, dass die Globalisierungsgegner einen Erfolg brauchen, möchte Roy die Waffen des gewaltlosen Kampfes schärfen. Dazu muss mehr geschehen als gegen den Krieg zu demonstrieren. Der Widerstand muss wirklich spürbar werden. Arundhati Roy denkt laut über den gewaltfreien Angriff auf »das Imperium« nach und sieht sich im Krieg. Wie ich es lese, im Krieg mit Imperialismus und Neo-Liberalismus. Ihr zentraler Satz ist daher für mich: „While our movement has won some important victories, we must not allow non-violent resistance to atrophy into ineffectual, feel-good, political theatre.“ (Hörig 2004; Roy 2004 – alle weiteren Bezüge auf Roy beziehen sich auf diesen Text)

Im Folgenden möchte ich den Fragen nachgehen: Welche Vorstellung von Widerstand hinter diesen fragmentarischen Hinweisen stehen könnten? Wer könnten die Träger dieses Widerstands sein? Welcher Strategien könnten sie sich bedienen? Welches Potenzial, welche Erfahrungen, welches konzeptionelle Wissen könnten sie nutzen? Welche Fallstricke lauern? Dies bleibt notwendigerweise ebenfalls kursorisch, fragmentarisch, angesichts der vielen offenen Fragen, die derzeit nicht beantwortbar sind.

Gewaltloser Widerstand – durch wen und mit welchem Ziel?

Gewaltloser Widerstand im Irak? Das wirft natürlich sofort die Frage auf: Wie soll das dort gehen? Aus dem Irak wird vor allem über gewaltsame Widerstandsakte berichtet, nur selten über Demonstrationen und friedlichen Protest. Auffällig ist die große und tiefe Zersplitterung der verschiedenen Bewegungen und Gruppen, die den Widerstand tragen. Dies lässt vermuten, dass sie nur eines eint, nämlich die Abwehr der militärischen Besetzung. Sind die Besatzer vertrieben oder ziehen sie sich unter Wahrung des Gesichts zurück, wird der Kampf um die Vorherrschaft beginnen, ein Bürgerkrieg ist nicht ausgeschlossen. Die Besatzung zu beenden und gleichzeitig die Weichen so zu stellen, dass die notwendige interne Auseinandersetzung ohne Blutvergießen vonstatten gehen kann, ist die derzeitige zivilisatorische Aufgabe. Kann ein globaler Widerstand gegen die Besatzung hierzu einen Beitrag leisten? Stellt er sich die Frage, was nach der Besetzung im Irak geschehen wird? Oder ist der Irak ein aktueller Kulminationspunkt, der aus dem Blickfeld des »globalen Widerstands« gerät, sobald die Besatzung dort »besiegt« ist? Wie viel Verantwortung für die Entwicklung im Irak übernimmt er? Und: Wer ist der globale Widerstand?

Die »Große Kette der Gewaltfreiheit«

Wer soll eigentlich Widerstand leisten? Sind es – wie immer – die Unterdrückten selber? Oder sind es nicht (auch) diejenigen, die den ausländischen Unterdrückern vom Gesellschaftskonzept her nahe stehen? Die eine viel geringere soziale Distanz zu überbrücken haben und die deshalb, weil sie den Herzen der Unterdrückern näher sind, deren »träge Gewissen« (Gandhi) leichter durch eigene gewaltlose Akte aufrütteln können? Johan Galtung hat dem gewaltlosen Kampf zu einer Strategie der »großen Kette der Gewaltlosigkeit« geraten. Er hat vor allem Entmenschlichung im Blick, die intensive Konflikte begleitet. „Es gibt nur geringes oder gar kein Verständnis füreinander, solange keine wechselseitige zuerkannte Menschlichkeit existiert.“ Dann kann Widerstand seitens der Opfer bei den Tätern sogar zur Verstärkung ihrer negativen Einstellungen und Reaktionen führen. So muss „Gewaltlosigkeit, um die unterdrückenden Strukturen zu zerstören, von anderen Personen als den Opfern (ausgeübt werden).“ Galtung zitiert ein altes Beispiel, das vielleicht wieder eine neue Aktualität erhalten könnte: „Das Ende des Vietnam-Krieges wurde zum großen Teil durch Gewaltlosigkeit erreicht – doch nicht durch die Vietnamesen, obwohl die demonstrativen Selbstmorde buddhistischer Mönche in den Pagoden eine Rolle spielten. Es wurde herbeigeführt durch die näher bei Washington lebenden Menschen, durch die »eigenen Leute«, welche die glaubhafte Gefahr heraufbeschworen, die Vereinigten Staaten von Amerika unregierbar zu machen.“ Galtungs Konzept von 1988 ist in aktuellen Auseinandersetzungen immer noch ein Thema und scheint sogar an Wirkungsmacht zu gewinnen. Auf einer sechswöchigen Studienreise durch Israel-Palästina interviewte Veronique Dudouer im Jahr 2003 zahlreiche AktivistInnen, darunter auch viele, die die erfolgreiche erste Intifada der 90er Jahre mitgemacht hatten. Diese hatte damals durch Kampagnen von Nicht-Zusammenarbeit Wirkung gezeigt. Seitdem hat sich viel geändert, wodurch sich die Abhängigkeit Israels von der Kooperation mit den Palästinensern verringert hat. Ehemalige Angriffspunkte sind verschwunden. Eine Steuerverweigerung gegenüber den (eigenen) Autonomiebehörden macht zum Beispiel wenig Sinn. Der Ersatz von Palästinensern durch Ausländer hat die Abhängigkeit Israels von deren Arbeitskraft verringert. Dudouers Gesprächspartner setzen nun genau auf Galtungs Konzept: „The only way for Palestinians to gain leverage on the Israeli government is through the »great chain of non-violence« (to use Galtung‘s concept), by using the relay of allies with more leverage, both in Israeli civil society and the international community.“ (Galtung 1988: 85, Dudouet 2004) Damit sind wir beim Handwerkszeug des gewaltlosen Widerstands.

Methoden des gewaltlosen Widerstands

Um eine erste, ganz grobe Unterscheidungsmöglichkeit zu geben, kann man sagen, dass gewaltloser Widerstand auf eigene Gewaltanwendung in der Auseinandersetzung verzichtet. Er bedient sich vielfältigster Methoden der »gewaltfreien Aktion« und damit Methoden des sozialen, politischen und oder wirtschaftlichen Kampfes, die sowohl zur gesellschaftlichen Veränderung (gewaltfreie Revolution, gewaltfreier Aufstand, People Power), als auch zur Bewahrung von Errungenschaften angewandt werden können. Protest und Nicht-Zusammenarbeit gehören dazu, auch Akte des bewussten Nicht-Handelns oder des Ungehorsams, ebenso wie das Aufzeigen von Alternativen, das »konstruktive Programm«. Fallstudien dokumentieren, dass das Handwerkszeug gewaltfreier Methoden in verschiedensten Kulturen und in allen Weltregionen beheimatet ist. (Bergfeldt 1993: 11, 19-33; Crow 1990; McManus 1991; Martin 2001; Ackerman 1994)

Wirkung durch Zwang oder durch Bekehrung?

Die Macht eines zivilen Widerstands ist aus den Wirkungsmechanismen der gewaltlosen Methoden zu erklären, deren wichtigste Zwang, Bekehrung und Überredung sind. Je nach dem Grad der Abhängigkeit des Konfliktgegners vom Akteur können gewaltlose Methoden auf eine vollständige Zwangswirkung ausgerichtet werden oder aber auf Zwang verzichten und allein auf die Bekehrung ausgerichtet werden. Wie am Beispiel Israel-Palästina dargestellt, greifen Methoden des Zwangs ins Leere, wenn die Abhängigkeit des Unterdrückers vom Opfer nicht gegeben ist oder nachlässt. Dann müssen Methoden mit anderer Wirkungsweise entwickelt werden, was die Anforderungen an die Methodenauswahl und das Vorgehen erheblich erhöht. Einerseits wird eine Konfliktlösung als umso tragfähiger bewertet, je mehr sie durch Bekehrung zustande gekommen ist. Das erfordert aber im Prozess der Konfliktaustragung einen möglichst engen Kontakt zum Kontrahenten. Die, Konfliktlösung muss weitestgehend zusammen mit dem Gegner gefunden werden. Das beinhaltet auch die Fähigkeit zur selbstkritischen Veränderung der eigenen Position und erfordert eine Konfliktaustragung auf möglichst niedrigem Eskalationsniveau. Andererseits lebt ein sozialer Boykott aber von der Abgrenzung. Eine Annäherung an den »Feind« gerät schnell in den Geruch des Verrats und der Kollaboration. Der gewaltlose Widerstand der Kosovo-Albaner hat vollständig auf die Abgrenzung gesetzt und seinen inneren Zusammenhalt damit über Jahre aufrecht erhalten können. Christine Schweitzer identifiziert gleichwohl in dem Unvermögen, eine Brücke zum »Feind« zu schlagen, eine der entscheidenden Schwachstellen dieser Strategie (siehe diese W&F-Ausgabe S. 20).

Hier unterscheiden sich eine pragmatische und die prinzipielle Herangehensweise an den gewaltlosen Widerstand, im Deutschen mit der Unterscheidung zwischen Gewaltfreiheit und Gewaltlosigkeit benannt. Das erste meint das Handeln aus einer prinzipiellen Überzeugung heraus, das zweite beschreibt schlicht den Verzicht auf direkte, physische Gewaltanwendung. Wer die gewaltlose Technik als die besser funktionierende ansieht, wird sich nicht automatisch Gedanken darüber machen, ob die Lösung am Ende auch den Gegner befriedigt. Viele der herausragendsten und bedeutsamsten Beispiele gewaltfreien Handelns – Prag 1968, die Anti-Vietnamkrieg-Bewegung, der Sturz von Präsident Marcos auf den Philippinen 1986, die Umstürze in Mittel- und Osteuropa 1989, die Demokratiebewegung in China 1989 und der Widerstand der Kosovo-Albaner 1989-1997, um nur einige der jüngeren Fälle zu nennen – würden in dieser Unterscheidung eher das Prädikat »gewaltlos« oder sogar nur »gewaltarm« verdienen. Das gleiche mag im übrigen auch für viele der AnhängerInnen der bekannten gewaltfreien Führer von Bewegungen – von Mohandas K. Gandhi über Martin Luther King bis zu Danilo Dolci und Cesar Chavez – gelten, auch wenn es diese Persönlichkeiten gewesen sind, die Gewaltfreiheit als prinzipiellen Ansatz begründeten. Gleichwohl kann es das Gesetz der Klugheit verlangen, Perspektiven des Gegners auch in sehr pragmatische eigene strategische Überlegungen einzubeziehen. Die Analyse des passiven Widerstands im Ruhrkampf 1923 hat deutlich gezeigt, wie stark die Wirksamkeit des Widerstands darunter gelitten hat, dass die deutsche Reichsregierung die berechtigten Aspekte auf der Seite der französischen und belgischen Gegenspieler nicht in Betracht gezogen hat. Das haben die deutschen Pazifisten in dieser Zeit klarer erkannt (Lakey 1979; Bergfeldt 1993: 40; Galtung 1987: 116, 179, 135-138; Müller 2000: 83f.; Müller 1996).

Konzeptionelle Entwicklung und Forschungsschwerpunkte

Es waren sowohl PraktikerInnen der gewaltfreien Aktion selber als auch WissenschaftlerInnen, die versuchten, durch Reflexion und konzeptionelle Arbeit das Potenzial dieser Verhaltensweisen für eine effiziente und konstruktivere Konfliktaustragung zu verstehen und zu nutzen. Unter den Praktikern kommt Mohandas K. Gandhi eine besondere Bedeutung zu. Die »Experimente mit der Wahrheit«, wie er seine sich ständig weiter entwickelnde, reflektierte Praxis der gewaltfreien Aktion nannte, ist bis heute ein Bezugspunkt für die theoretische aber auch praktische Auseinandersetzung geblieben. In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts entstand in Norwegen, England und der Bundesrepublik Deutschland ein Diskurszusammenhang, der gewaltlosen Widerstand als eine Alternative zur militärischen Verteidigung untersuchte. Mit dem Ende des vorherrschenden Bedrohungsszenarios des Kalten Krieges verebbte für mehrere Jahre die konzeptionelle Debatte in dieser Richtung, bis Robert Burrowes sie Mitte der 90er Jahre mit seinem Buch »The Strategy of Nonviolent Defense: A Gandhian Approach« wieder aufleben ließ. In dieser Zeit erschienen zudem mehrere Fallstudien, die sich in systematischer Weise mit den Rahmenbedingungen und Erfolgsbedingungen von zivilem Widerstand beschäftigten. Es war einmal der Widerstand gegen die Besetzung des Ruhrgebietes im Jahr 1923, den die Autorin untersuchte. Jacques Semelin arbeitete in einer vergleichenden Studie auf, was „gewaltfreie Aktion auf dem für sie ungünstigsten Feld“ zustande bringt, „dem der extremen Brutalität des Nationalsozialismus“. Den Widerstand im besetzten Dänemark im Zweiten Weltkrieg untersuchte Lennart Bergfeldt.

Aktuelle Forschungen in den letzten Jahren versuchen, gewaltlosen Widerstand als einen komplexen und dynamischen sozialen Prozess zu begreifen, die Dynamiken zu verstehen, die die Herausbildung von solch neuen Streitformen begünstigen, ferner die Interaktionen, die Bekehrung möglich machen sowie das Phänomen einer »Gütekraft«, das den positiven Wandel bewirkt. »Globale Bewegungen zivilen Ungehorsams« sind in den Forschungsfokus gerückt.1

Macht und Grenzen gewaltloser Aufstände

Im Kampf um Veränderung mit gewaltfreien Mitteln gehört Hildegard Goss-Mayr sicherlich zu denjenigen PraktikerInnen, die den größten Erfahrungsschatz gesammelt haben. Auch sie geht nach einem strategischen Konzept vor, das die prinzipielle Gewaltfreiheit in praktisches Handeln umgesetzt. Ihre Praxis führte sie u.a. in die Philippinen, wo sie in der Vorbereitung der gewaltfreien Bewegung und der Beratung von EntscheidungsträgerInnen ihren Anteil am gewaltlosen Umsturz im Frühjahr 1986 hatte (Goss-Mayr 1989).

Wenn die Stärke gewaltlosen Widerstands in dieser und zahlreichen anderen hocheskalierten Situationen inzwischen deutlich belegbar ist, dann gilt das nicht für die Sicherung solcher Siege. Aus der Sicht derer, die sich in Osteuropa und in den Philippinen in diesen Kämpfen an vorderster Stelle engagierten, haben sich die Erwartungen auf eine Veränderung der sozialen Bedingungen nicht erfüllt. Johan Galtung weist auf dieses Phänomen hin, wenn er vor der Gefahr des »geheimen Einverständnisses« warnt. Galtung spricht ja den Gruppen, die in großer sozialer Nähe zu den Unterdrückern stehen, eine erhebliche Chance zu, dem »gewalttätigen Treiben« Einhalt zu gebieten. Er fragt aber: „Damit taucht jedoch eine beunruhigende Frage auf. Ist es tatsächlich unverkennbar, dass das Ergebnis dieses Prozesses die Unterdrückten begünstigt? Oder begünstigt es etwa die dritte, die vermittelnde Partei?“ Seine Analyse von sieben Fallbeispielen, darunter die Philippinen, fällt ernüchternd aus: „Objektiv bleibt jedoch vieles genauso wie zuvor. Und die Unterdrückten haben den Kampf an irgendwelche anderen Beteiligten verloren“ (Galtung 1988: 92, s. a: Diokno 1991; Sormova 1991; Rawicz-Oledzka 1991).

Es ist unverkennbar, dass sich in der Auseinandersetzung mit der Globalisierung soziale Bewegungen konstituieren und weitestgehend auf gewaltfreie Handlungsformen zurückgreifen. Die Frage, wem nützt der gewaltfreie Kampf, ist damit noch nicht beantwortet. Für Arunhati Roy sollten es diejenigen sein, die weltweit von Armut und Ausgrenzung durch Globalisierung und im Irak von Unterdrückung und Besetzung betroffen sind. Die notwendigen Erfolge zu erzielen und dabei tatsächlich denjenigen zu nützen, für die gestritten wird, wäre ein wirklicher Durchbruch bei der Weiterentwicklung gewaltlosen Widerstands. Es ist der vielleicht nächste Schritt?

Literatur

Ackerman, Peter and Christopher Kruegler (1994): Strategic Nonviolent Conflict. The Dynamics of People Power in the Twentieth Century, Westport, CT: Praeger.

Bergfeldt, Lennart (1993): Experiences of Civilian Resistance. The Case of Denmark 1940-1945, Diss.

Bläsi, Burkhardt (2001): Konflikttransformation durch Gütekraft. Interpersonale Veränderungsprozesse, Lit Münster (Studien zur Gewaltfreiheit, Band 4).

Burrowes, Robert J. (1996): The Strategy of Nonviolent Defense: A Gandhian Approach, Albany NY, State University of New York Press.

Chabot, Sean (2002): Dynamics of Contentious Repertoires: The Gandhian Repertoire as »Truly New«, Paper, presented at Symposium on Nonviolent Research, Tromso, Centre for Peace Studies, Nov 28-30.

Crow, Ralph E. / Philip Grant / Saad E. Ibrahim (eds.) (1990): Arab Nonviolent Political Struggle in the Middle East, Boulder, Lynne Rienner.

Diokno, Maria Serena I. (1991): People Power: The Philippines, S. 24-30 in: Nonviolent Struggle and Social Defence. (Dokumentation der Bradford-Konferenz, 3.-7.4. 1990). Edited by Shelley Anderson and Janet Larmore, London.

Dudouet, Veronique (2004): Heading in the right direction, Peace News 2545.

Galtung, Johan (1987): Der Weg ist das Ziel. Gandhi und die Alternativbewegung, Wuppertal.

Galtung, Johan (1988): Die Prinzipien des gewaltlosen Protestes – Thesen über die »Große Kette der Gewaltlosigkeit«, S. 82-92 in: Dokumentation des Bundeskongresses »Wege zur Sozialen Verteidigung« vom 17.-19. Juni 1988. Hrsg. v. Bund für Soziale Verteidigung, Minden.

Goss-Mayr, Hildegard und Jean Goss (1989): Gewaltfreies Ringen um kleine Fortschritte, S. 39-41 in : gewaltfreie aktion Nr. 77/78/79.

Hörig, Rainer (2004): Kriegserklärung der Kämpferin, Auf dem Weltsozialforum in Bombay fordert die Autorin Arundhati Roy den Krieg der Globalisierungskritiker gegen das Establishment, in: taz Nr. 7261 vom 19.1.2004.

Lakey, George (1979): Sociological Mechanisms of Nonviolence: How It Works, S. 64-72 in: Nonviolent Action and Social Change. Hrsg. v. Severyn T. Bruyn und Paula M. Rayman. New York, London, Sydney, Toronto.

Martin, Brian / Wendy Varney / Adrian Vicers (2001): Political jiu-jitsu against Indonesian repression: studying lower-profile nonviolent resistance, Pacifica Review 13, 2001, p. 143-156.

Martin, Brian (2002), Nonviolence research: past and future. Paper, presented at Symposium on Nonviolent Research, Tromso, Centre for Peace Studies, Nov 28-30.

McManus, Philip and Gerald Schlabach (eds.) (1991): Relentless Persistence: Nonviolent Action in Latin America , Philadelphia, New Society Press.

Müller, Barbara (1995): Passiver Widerstand im Ruhrkampf. Eine Fallstudie zur gewaltlosen zwischenstaatlichen Konfliktaustragung und ihren Erfolgsbedingungen, Lit Münster (Studien zur Gewaltfreiheit Band 1).

Müller, Barbara (1996): Widerstand und Verständigungsbereitschaft. Eine pazifistische Alternative zur Diplomatie im Ruhrkampf und ihre Bedeutung, S. 103-119 in: Gewaltfreiheit. Pazifistische Konzepte im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Andreas Gestrich u.a., Lit Münster (Jahrbuch für Historische Friedensforschung Band 5).

Müller, Barbara (1996a): Zur Theorie und Praxis von Sozialer Verteidigung, Wahlenau 1996, (Arbeitspapier Nr. 3 IFGK).

Müller; Barbara und Christine Schweitzer (2000): Gewaltfreiheit als Dritter Weg zwischen Konfliktvermeidung und gewaltsamer Konfliktaustragung, S. 82-111 in: Konflikt und Gewalt. Ursachen – Entwicklungstendenzen – Perspektiven, Münster, Agenda-Verlag (Studien für europäische Friedenspolitik Band 5).

Parekh, Bhikhu (2004): Why Terror?, Prospect Magazine, Issue 98, May 2004, http://www.prospect-magazine.co.uk/start.asp?P_Article=12487.

Rawicz, Elzbieta (1991): A new style of Polish protest, S. 55-58 in: Nonviolent Struggle 1991. (S.o. Diokno).

Roy, Arundhati (2004): Do Turkeys Enjoy Thanksgiving? A Global Resistance to Empire; January 24, Fassung in: ZNet – 26.01.2004 16:27.

Sormova, Ruth / Michaela Neubauerova / Jan Kavan (1991): Czechoslovakia‘s nonviolent revolution, S. 36-42 in: Nonviolent Struggle 1991. (S.o. Diokno).

Vinthagen, Stellan (2002): Suggestions for a Social Construction Approach to Nonviolent Resistance, Paper, presented at Symposium on Nonviolent Research, Tromso, Centre for Peace Studies, Nov 28-30.

Vinthagen, Stellan (2002a): The Sociology of Nonviolent Action: The Social Construction of Global Movements of Civil Disobedience. Four abstracts from a coming dissertation. Paper, presented at Symposium on Nonviolent Research, Tromso, Centre for Peace Studies, Nov 28-30.

Anmerkungen

1) Ausführlich zur internationalen Konzeptentwicklung Sozialer Verteidigung siehe Parekh 2004, Theodor Ebert, Adam Roberts, Johan Galtung, Gene Sharp; Burrowes 1996; Martin 2002; Müller 1995; Müller 1996a, Semelin 1995: 18; Bergfeldt 1993: 7; Vinthagen 2002; Chabot 2002: 1 (Streitrepertoire); Bläsi 2001 (Interaktionskonzept); Arnold in dieser W&F-Ausgabe, S. 24ff (Gütekraft); Vinthagen, 2002a (globale soziale Bewegungen).

Dr. Barbara Müller ist Mitarbeiterin im Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung (IFGK).