Gewaltfreiheit im Aktionskonsens

Gewaltfreiheit im Aktionskonsens

Dogma oder Handlungsmaxime?

von Renate Wanie

In den vorigen zwei Ausgaben von W&F entspann sich eine Debatte zwischen Vordenkern der Gewaltfreiheit über die Begriffe »Gewaltfreiheit« und «Gütekraft«. Sie verknüpften ihre Argumente mit der Frage, welcher Begriff das Konzept am besten transportiere und die Debatte um Gewalt und Gewaltfreiheit voranbringe. Die Autorin des vorliegenden Beitrags befasst sich nicht mit Begriffen sondern mit der Praxis, konkret: mit der Berücksichtigung – oder eben auch bewussten Nichtberücksichtigung – des Konzepts Gewaltfreiheit und seiner Ausprägungen in Aktionskonsensen aktueller Massenproteste. Sie verknüpft dies mit einem Plädoyer für das Konzept der Gewaltfreien Aktion.

Weltweit fanden in den letzten Jahren unter großer Medienaufmerksamkeit Massenproteste in Form der gewaltlosen Besetzung zentraler öffentlicher Plätze statt. Während der Revolution in Ägypten im Jahr 2011 setzten die Akteure dabei Formen der Gewaltfreien Aktion ein, wie Menschenketten in Alexandria, Sitzblockaden auf dem Tahrir-Platz oder Sternmärsche in Kairo. Auch die 2011 entstandene kapitalismuskritische Bewegung »Occupy«, an der sich zumeist junge AktivistInnen beteiligen, versteht sich als basisdemokratisch und gewaltfrei.

In Deutschland sprachen und sprechen sich ebenfalls viele Aktionskonsense eindeutig für Gewaltfreiheit aus: »Resist the war« (gegen den Irakkrieg 2003), »Gen-Dreck weg! « (Initiative gegen genmanipulierte Feldfrüchte), »x-tausendmal quer« (Blockaden gegen Castor-Transporte), »Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21« (Widerstand gegen das Bahnprojekt »S 21«) oder Netzwerk ZUGABe (Ziviler Ungehorsam, Gewaltfreie Aktion, Bewegung«). Das internationale Bündnis »NATO ZU« berief sich 2009 in Straßburg für seine Aktionen explizit auf das Konzept der Gewaltfreien Aktion. Dies galt auch für die musikalische Baggerblockade »Andante an der Kante« der Musik- und Aktionsgruppe »Lebenslaute« am rheinischen Braunkohlebergbau im August 2015.

Zu einer Verschiebung in Richtung eines nur taktischen Ansatzes bei der Planung von Aktionen in den sozialen Bewegungen kam es jedoch im Rahmen der Aktionsvorbereitungen vor dem Weltwirtschaftsgipfel der G8-Staaten in Heiligendamm 2007. Dazu zwei Thesen:

  • Die seit Heiligendamm verbreitete Anwendung des Begriffs »Ziviler Ungehorsam« als taktischen Ansatz reduziert das Konzept des zivilen Ungehorsams, das auf den Aufsatz »Resistance to Civil Government« von Henry David Thoreau (1849) zurückgeht, auf eine bloße Aktionsform. Das gesellschaftsverändernde Potenzial des Konzepts, wie es in den Theorien des Zivilen Ungehorsams entwickelt wurde, wird im taktischen Ansatz nicht genutzt, ja sogar unterlaufen.
  • Seit Heiligendamm ist es gängig geworden, auf Gewaltfreiheit als Teil des Aktionskonsenses zu verzichten. So hilfreich es auf den ersten Blick erscheint, mit der Absage an die Gewaltfreiheit möglicherweise größere Bündnisse schließen zu können, so problematisch ist es, wenn zugleich die komplexen Möglichkeiten sozialer Lernprozesse, wie sie mit gewaltfrei agierenden sozialen Bewegungen verbunden sind, nicht mehr thematisiert werden. Die Orientierung auf eine gewaltfreie Veränderung von Gesellschaft geht verloren, wenn z.B. die Eskalationsstufen Gewaltfreier Aktion nach Theodor Ebert (ders. 1968) ausgeschlossen werden.

Der neue Geist einer Protestkultur

In ihrer Auswertung der Proteste gegen den G8-Gipfel erklärten die Trainer und Aktivisten Marc Amann und Jonas (der Nachname ist nicht bekannt), das für den Widerstand gegründete TrainerInnen-Netzwerk »Trainings for G8« wolle zukünftig ohne »Dogmatismus« Aktionsunterstützung und Trainings anbieten. Als Beweggrund wurde genannt, dass es „innerhalb des (post-) autonomen Spektrums wenig bis keine Erfahrungen mit Aktionstrainings gab oder sogar eine große Ablehnung, u.a. weil sie mit Gewaltfreiheits-Dogmatismus verbunden wurden“. Für die postautonomen AktivistInnen stand jedoch fest, „dass für erfolgreiche Blockaden des G8-Gipfels in Heiligendamm Aktionstrainings unerlässlich sein würden“. Bis dahin seien „Aktionstrainings für Personen und Gruppen [nur, R.W] aus dem gewaltfreien Spektrum seit den 1980er Jahren ein fester Bestandteil von Aktionen und Kampagnen des Zivilem Ungehorsams“ gewesen (Marc Amann und Jonas 2008, S.62).

In den Aufrufen zu den G8-Protesten wurde die Vielfalt der Bewegungszusammenhänge, die spektrenübergreifende Mischung der Kampagne »Block G8« betont. Als Träger der Aktion wurden linke und globalisierungskritische Gruppen, Gewerkschaften und gewaltfreie Aktions- und kirchliche Gruppen aufgezählt. Ein Jahr später hieß es dann in der Gründungserklärung des TrainerInnen-Netzwerkes »skills for action«: „Ob schwarz oder bunt, wir lieben die Grau-Zonen […] Eine undogmatische Haltung zu Zivilem Ungehorsam, der Versuch über Gräben zu springen und die Zeichen der Zeit zu erkennen, das ist die Klammer, die uns verbindet.“ (Marc Amann und Jonas 2008, S.63) Eine explizite Aussage zur Gewaltfreiheit wurde abgelehnt, denn „die Kampagne Block G8 [ist] gerade der Beleg dafür, wie viel Kreativität und Entschlossenheit freigesetzt werden können, wenn die lähmenden Debatten um Gewalt und Gewaltfreiheit beiseite geschoben werden und AktivistInnen aus verschiedenen Spektren anfangen, praktisch zusammenzuarbeiten“ (Christoph Kleine 2008, S.40).

So haben sich in der Folge von Heiligendamm seit 2007 die Vorbereitung und Durchführung von Massen- oder Großaktionen verändert: Der Bezug auf Gewaltfreiheit fehlt seitdem häufig in Bündnissen der traditionellen Friedensbewegung mit Gruppen aus der Antikriegsbewegung, z.B. der »Interventionistischen Linken« (IL). Gewaltfreiheit wird als ideologisch aufgeladen problematisiert und nicht mehr in Bündnisaufrufe aufgenommen. Aktionen Zivilen Ungehorsams werden rein taktisch eingesetzt und legitimiert „als berechtigter Regelbruch“ (Martin Kaul 2012).

Gängige Aktionskonsense

Das Ziel vieler Aktionskonsense seit 2007 ist eine Bündnispolitik in einem möglichst breiten Spektrum – von der gewaltfreien Friedensbewegung bis hin zu linksradikalen Gruppierungen. Ein Vergleich mehrerer Aktionskonsense, z.B. »Block G8« 2007, der Proteste gegen die Petersberg-II-Konferenz in Bonn 2011, »Castor? Schottern!« 2010, »Dresden Nazifrei« 2011 und »Ende Gelände! Kohlebagger stoppen, Klima schützen« im rheinischen Braunkohlerevier im August 2015 macht die wesentlichen Aspekte deutlich:

  • Für wichtig erachtet wird neben der Vielfalt und Entschlossenheit „die Vermeidung von offensiven Bekenntnissen in der »Gewaltfrage«“ (Erklärung der Kampagne »Block 8« in Christoph Kleine 2008, S.6).
  • Für die Akzeptanz des Konzeptes von »Block G8« beispielsweise war es „zudem entscheidend, ein bewusst und betont solidarisches Verhältnis auch zu anderen Blockadekonzepten, wie [sie] etwa Materialblockaden oder aktive Gegenwehr gegen Polizeiangriffe beinhalteten, zu pflegen“ (Christoph Kleine 2008, S.40). Es wird keine öffentliche Kritik an gewaltvollen Aktionen anderer Gruppen formuliert.
  • Aktuell sei hier der Aktionskonsens von »Ende Gelände!« 2015 genannt: „Wir werden mit unseren Körpern blockieren, wir werden dabei keine Infrastruktur beschädigen. Die Sicherheit der Aktivist_innen sowie die der Arbeiter_innen hat oberste Priorität.“ (ende-gelände.org) Von Gewaltfreiheit ist hier nicht die Rede.

Tendenzen bei Aktionstrainings

Allein der Wunsch, gewaltfrei handeln zu wollen, reicht nicht aus. Gewaltfreies Handeln will geübt sein (Renate Wanie 2012b). Seit den 1970er/80er Jahren werden unterschiedliche Formen gewaltfreier Trainings praktiziert und traditionelle Aktionstrainings verändert. Zur Zeit sind Kurztrainings zur Vorbereitung von Massenblockaden, Stunden- und Tagestrainings, Aktionstrainings ohne konkrete Aktionsplanung (z.B. im S-21-Widerstand), (kurze) Train-the-Trainers-Ausbildungen gefragt. Eingeübt werden vor allem Sitzblockaden und das »Sich-Wegtragen-Lassen«, zunehmend das »Durchfließen« von Polizeiketten.

Im postautonomen Spektrum wendete sich nach den Erfahrungen mit dem Massenprotest in Heiligendamm die anfängliche Ablehnung von Aktionstrainings in die Erkenntnis, „[k]ollektive Handlungsfähigkeit wird sich nicht von alleine verbreiten oder nur theoretisch herbeireden lassen. […] Die G8-Mobilisierung hat gezeigt, wie wertvoll Aktionstrainings sind. In Zukunft wird es darauf ankommen, Aktionstrainings verstärkt auszubauen und auf unterschiedliche Situationen anzuwenden.“ (Amann 2008, S.63) Mit der Gründung des Trainingskollektivs »skills for action« wurde dieses Ziel umgesetzt. Im Unterschied zu den traditionellen Trainings in Gewaltfreier Aktion stehen Einheiten zur Auseinandersetzung mit und Einübung von aktiver Gewaltfreiheit, wie z.B. die Dialogbereitschaft mit dem politischen Gegner, nicht mehr auf dem Programm.

Gewaltfreiheit – harmlos, spaltend?

Im postautonomen Spektrum ist der Vorwurf verbreitet, mit der Kritik an der »Gewalt aus den eigenen Reihen« und dem Insistieren auf Gewaltfreiheit würde die Spaltung der Bewegung betrieben. Dem ist entgegenzuhalten, dass Steinewerfen die Friedens- und Antikriegsbewegung spaltet, ihre Glaubwürdigkeit untergräbt und Provokateuren der Polizei den Boden für ihr friedloses Handwerk bereitet – wie es in Straßburg 2009 geschah (Renate Wanie 2011).

Durch einen gewalttätigen, spektakulären Schlagabtausch wird Gewalt in der öffentlichen Berichterstattung zum dominanten Thema, verdeckt das eigentliche politische Anliegen und verschreckt die Bevölkerung anstatt sie zu gewinnen. Die Anwendung von Gewalt trägt überdies autoritären Charakter, denn der eigene Standpunkt wird verabsolutiert. Soziale Lernprozesse bei den AktivistInnen und in der Gesellschaft werden blockiert.

Was also soll man tun – breite Bündnisse anstreben, um beim Massenprotest im »solidarischen Miteinander« der herrschenden Politik zu widerstehen, oder in zwei räumlich getrennten Protestgruppen auftreten, die eine in einer dezidiert gewaltfreien und die andere in einer taktisch konzipierten Aktion?

Ziviler Ungehorsam und Gewaltfreie Aktion

Nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm konstatierte Christoph Kleine, bei künftigen Aktionen sollte es nicht um die radikalste aller Aktionsformen gehen, sondern um diejenige, „die am besten geeignet ist, mit vielen Menschen gemeinsam einen bewussten Schritt vom Protest zum Widerstand zu gehen“. Dazu gehörten kollektive Selbstermächtigung und der „berechtigte Regelübertritt“ durch Zivilen Ungehorsam, z.B. mit Sitzblockaden. Darin spiegele sich, „dass der Kapitalismus nicht im Rahmen der Spielregeln des bürgerlichen Staates“ zu überwinden sei, sondern nur durch den Aufbau einer gesellschaftlichen Gegenmacht. Diese theoretische Erkenntnis verfestige sich in der Praxis „in der gemeinsamen, grenzüberschreitenden Aktion“ (Kleine 2008, S.40).

Doch kann mit spektakulären Einzelaktionen alleine überhaupt gesellschaftliche Veränderung erreicht werden? Bekommt der Zivile Ungehorsam ohne Einbindung in ein Konzept bzw. eine Kampagne nicht einen inflationären und damit beliebigen Charakter? Taktische, möglichst radikale Aktionsformen, wie der »legitime Regelbruch« der Massenblockade, führen selbst wiederholt eingesetzt nicht unmittelbar zu sozialer oder gesellschaftlicher Veränderung. Ziviler Ungehorsam ist vielmehr nach gewaltfreiem Verständnis gerade dann legitim und wirksam, wenn zur Abwendung des Unrechts bereits eine Vielzahl eskalierender Aktionsformen angewendet worden sind.

Gewaltfreie AktivistInnen greifen aktiv in gesellschaftliche Konflikte ein. Dass sie auf Gewalt verzichten, bedeutet keineswegs, dass sie keine Macht- bzw. Druckmittel einsetzen. Sie artikulieren nicht nur Protest, sondern greifen kämpferisch und direkt ins bestehende gesellschaftliche System ein. Beispielsweise können gut vorbereitete Boykotts starke Mittel sein, um legitime menschenrechtliche oder ökologische Interessen durchzusetzen. Ein Beispiel war der Umsatzrückgang bei der Ölfirma Shell nach Boykottaufrufen, die sich 1995 gegen die Versenkung der Ölplattform »Brent Spar« richteten.

Im Unterschied zum taktischen Verständnis von Zivilem Ungehorsam bietet das Konzept der Gewaltfreien Aktion eine deutlich breite Palette sozialen Drucks an. Der Konflikt- und Friedensforscher Theodor Ebert unterscheidet Formen Gewaltfreier Aktion, auf drei verschiedenen Eskalationsstufen – je nach Analyse der politischen Situation, der Zielsetzung und der zu erwartenden Wirkungsweise. Demonstrationen z.B. liegen als Protestform auf der untersten Eskalationsstufe, Boykotts – eine Form legaler Nichtzusammenarbeit – auf der zweiten und Blockaden auf der höchsten. So bieten sich unterschiedliche Möglichkeiten, dem politischen Gegner öffentlich die Legitimation für sein Handeln zu entziehen und Druck aufzubauen. Gewaltfreie Aktionen beinhalten zugleich immer auch einen konstruktiven Gegenentwurf zum kritisierten gesellschaftlichen Zustand. „Gewaltfreie Aktionen sollten zugleich Lernfelder für weitergehende Gesellschaftsveränderung sein.“ (Wolfgang Hertle 2011)

Die Beweggründe zur Teilnahme an einer Gewaltfreien Aktion sind unterschiedlich, sie bewegen sich zwischen gewaltfrei-anarchistisch, religiös, humanistisch und pragmatisch. Es geht darum, die gewaltfreie Philosophie klar und durchaus überzeugend zu vermitteln, jedoch ohne Dogmatismus. Im Zentrum steht dabei nicht die Frage nach der Gewalt, sondern wie gesellschaftliche Veränderung wirksam wird. Gewaltfreiheit ist gleichzeitig politische Strategie und Handlungsmaxime in politischen Auseinandersetzungen.

Literaturverzeichnis

Marc Amann und Jonas (2008): Aktionstrainings – Selbstermächtigung durch Üben. In: Christoph Kleine (Hrsg.): Chef, es sind zu viele … – Die Block-G8-Broschüre. Selbstverlag.

Theodor Ebert (1968): Gewaltfreier Aufstand – Alternative zum Bürgerkrieg. Freiburg i.Br.: Waldkircher Verlagsgesellschaft, S.37.

Wolfgang Hertle (2011): Stärke durch Vielfalt – Einheit durch Klarheit. Rückblick auf Zivilen Ungehorsam und gewaltfreien Widerstand in Deutschland und Frankreich seit den 1970er Jahren und Schlussfolgerungen für die Zukunft. In: Reiner Steinweg und Ulrike Laubenthal (Hrsg.): Gewaltfreie Aktion – Erfahrungen und Analyse. Frankfurt: Brandes und Apsel, S.266.

Kampagne Block G8 (Hrsg.) (2008): Chef, es sind zu viele … – Die Block-G8-Broschüre. Selbstverlag.

Martin Kaul: „Trittbrettfahrer!“ – „Formfetischisten!“. Streitgespräch Ziviler Ungehorsam mit Tadzio Müller und Felix Kolb. tageszeitung, 26.1.2012, S.3.

Christoph Kleine (2008): Jenseits der Gewaltdebatte. In: Kampagne Block G9, op.cit., S.40.

Skills for Action – Netzwerk bewegungsorientierter Aktions-TrainerInnen: Über uns. skills-for-action.org.

Henry Thoreau (1973): Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays. Zürich: Diogenes.

Renate Wanie (2011): Neun Thesen für die Weiterarbeit nach Straßburg. In: Reiner Steinweg und Ulrike Laubenthal (Hrsg.): Gewaltfreie Aktion – Erfahrungen und Analyse. Frankfurt: Brandes und Apsel, S.254.

Renate Wanie (2012a): Ein »neuer Geist in der Protestkultur« und sein Verhältnis zur Gewaltfreien Aktion. In: Christine Schweitzer (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam und Gewaltfreie Aktionen in den Bewegungen. Berlin: AphorismA, S.14-22.

Renate Wanie (2012b): Gewaltfreie Aktion – ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse verändern. Zur Grundlage und Vorbereitung Gewaltfreier Aktion, nicht nur in Ägypten. In: Österreichisches Studienzentrum für Frieden- und Konfliktlösung (Hrsg.): Zeitenwende im arabischen Raum. Welche Antwort findet Europa? S.39.

Renate Wanie ist freie Mitarbeiterin in der »Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden«, Bildungsreferentin und Trainerin für Gewaltfreie Aktion, Vorstandsmitglied im Bund für Soziale Verteidigung und Co-Sprecherin der Kooperation für den Frieden.

Veränderungen? Nur von unten!

Veränderungen? Nur von unten!

von Paul Schäfer

Um es vorab zu sagen: Erfreulich ist das Ergebnis der Bundestagswahl 2013 nicht. Die Menschen in den besonders gebeutelten »Krisenländern«, wie Spanien, Portugal, Griechenland, dürften das Resultat eher als bedrohlich empfinden. Ein Ende der ihnen auferlegten Verarmungspolitik ist nicht in Sicht.

Dasselbe gilt aber auch für die hierzulande von Hartz IV, prekärer Beschäftigung und Hungerlöhnen Betroffenen sowie die von Altersarmut Bedrohten. Auch für sie ist eine Wende in ihren Lebensbedingungen nicht zu erwarten.

Die etwas freundlichere Lesart besagt: Schwarz/Gelb ist abgewählt, Frau Merkel muss sich einen anderen Koalitionspartner suchen. Wäre das nicht das kleinere Übel?

Dass Angela Merkel weiter regieren wird, scheint nach ihrem deutlichen Sieg außer Frage. Aber mit wem? Dies ist bei Abfassung dieser Zeilen noch offen. Aber ob es zu einer Koalition mit den Sozialdemokraten kommt (die wahrscheinlichere Variante) oder zur Premiere von Schwarz-Grün auf Bundesebene, die Prognose scheint nicht schwierig: Eine grundlegende Veränderung der Politik wird es nicht geben.

In der Außenpolitik gilt ohnehin der Grundsatz größtmöglicher Kontinuität. Dazu gleich mehr. Aber auch in den anderen Politikfeldern wird es bestenfalls zu moderaten Neujustierungen kommen. Es ist damit wenig wahrscheinlich, dass die tiefgreifenden Probleme, mit denen wir es zu tun haben, wirklich angegangen werden. Die Merkel-Regierung, aber auch Teile der Medien, haben sich erdenkliche Mühe gegeben, im Wahlkampf diese Themen notorisch unterzupflügen. Es galt die Devise: „Deutschland geht es gut. Das soll so bleiben.“ Die möglichen Partner der Kanzlerin bleiben derweil in Debatten über Personal und parteitaktische Vorteile stecken. Ein Politikwechsel scheint nicht angesagt.

Ein paar Kompromisse in der künftigen Regierungspolitik – ob schwarz/rot oder schwarz/grün – deuten sich an:

Ein stärkeres Engagement für die Finanztransaktionssteuer ist zu erwarten, eine energischere Regulierung der Finanzmärkte eher nicht. Die Situation im Euro-Raum bleibt fragil. Gesagt wird: CDU/CSU und SPD hätten die Krise 2008/2009 schon mal gemeistert, darauf könne man bauen. Das könnte sich als trügerisch erweisen. Und: Eine nochmalige Mobilisierung der öffentlichen Ressourcen für Banken- und Euro-Rettung wird so nicht gehen.

Die moderate Anhebung des Spitzensteuersatzes scheint möglich, um den Eindruck gerechterer Politik zu erwecken, eine konsequentere Umverteilungspolitik ist nicht zu erwarten. Damit ist wiederum in Frage gestellt, ob die eigentlich unausweichlichen Zukunftsinvestitionen getätigt werden können. Alle waren sich im Wahlkampf einig: Bei Bildung und Wissenschaft liegt Deutschland gravierend zurück, in der öffentlichen Infrastruktur ist der Sanierungs- und Ausbaubedarf erheblich, Gesundheitsversorgung und Pflege sind notorisch Not leidend. Das konservative Lager verweist aber gerne auf die sprudelnden Steuereinnahmen der letzten zwei Jahre, die man einfach in die Zukunft fortschreiben möchte. Das dürfte sich als großer Irrtum erweisen. Vielmehr ist mit erheblichen Auseinandersetzungen um die Öffentlichen Haushalte zu rechnen.

Mehr soziale Gerechtigkeit in der Arbeitswelt und für die Älteren dürfte ein unerfülltes Desiderat bleiben. Zwar sind Schritte in Richtung gesetzlicher Mindestlohn und weiterer Begrenzung von Leiharbeit und Werkverträgen vorstellbar. Aber – und das hat der zurückliegende Wahlkampf sehr deutlich gemacht – für eine Mehrheit des Bundestages ist eine prinzipielle Revision der Hartz-Gesetze ebenso tabu wie die Aussetzung der Rente erst ab 67. Jeder vierte Beschäftigte arbeitet inzwischen im Bereich unterbezahlter, extrem unsicherer Verhältnisse, aus dem es, wie sozialwissenschaftliche Studien gezeigt haben, kaum ein Entrinnen gibt. Diese große Personengruppe bleibt stigmatisiert und von kultureller, gesellschaftlicher Teilhabe weitgehend ausgeschlossen. Die geringe Wahlbeteiligung in diesen Sektoren trägt inzwischen demokratiegefährdende Züge. Soll das so weitergehen? Und was geschieht endlich, um der um sich greifenden Altersarmut zu begegnen? Auch hier wird es nur voran gehen, wenn sich mehr Widerspruch in der Gesellschaft regt.

Bleibt noch eins: Die Energiewende darf nicht gebremst werden. Nach den neuesten bedrohlichen Veröffentlichungen des Weltklimarates muss im Gegenteil der Ausbau der erneuerbaren Energien zügig vorangetrieben werden. Der Hinauswurf der FDP aus dem Bundestag hat hier zumindest Schlimmeres verhütet, aber ob der Kern des Energie-Einspeisungsgesetzes – der Vorrang der erneuerbaren Energien – gesichert und konsequent durchbuchstabiert wird und ob die Privilegien der besonders energiefressenden Unternehmen endlich angetastet werden, das steht in den Sternen.

Kommen wir zur Außenpolitik. Im Rückblick hat man den Eindruck, dass die letzte Bundesregierung in ihrer Außenpolitik nach 2009 in hohem Maße durch die »Euro-Krise« absorbiert wurde. Die Wirkung dieser Politik war buchstäblich verheerend. Sie hat namentlich in Südeuropa die Massenarbeitslosigkeit explodieren lassen, soziokulturelle Errungenschaften, z.B. bei der Altersversorgung, zurückgedreht und die zentrifugalen Tendenzen in der Europäischen Union gestärkt. Ein solidarisches Europa sieht sehr anders aus – und es muss von unten erkämpft werden.

Die Euro-Fokussierung der Merkel-Regierung hatte Folgen für die übrige internationale Politik, die als ambivalent bezeichnet werden dürfen. Bei bestimmten Konflikten, wie Libyen und Syrien, hat man sich wohltuend zurückgehalten. Die Kehrseite davon: Die Bundesrepublik ist als mitgestaltender und in der EU vorwärtstreibender Akteur weitgehend ausgefallen. Ein wirksames Profil war nicht zu erkennen, weder innerhalb der Vereinten Nationen noch innerhalb der Gemeinsamen Außenpolitik der EU. Neue Beiträge zur Lösung des Atomstreits mit dem Iran? Fehlanzeige. Energische Vermittlungsbemühungen im Palästina-Konflikt? Fehlanzeige. Neue Vorstöße in der Abrüstungspolitik? Fehlanzeige. Der vorgesehene Truppenabzug aus Afghanistan war eine US-Initiative, der die Bundesregierung anfangs nur zögerlich folgte. Negativ fiel die Regierung auf durch ihre Bemühungen um immer mehr Waffenausfuhren. Vor allem die angekündigten Panzer-Geschäfte mit Saudi-Arabien und Katar wurden zum öffentlichen Ärgernis.

Was also wird sich ändern?

Beginnen wir mit Erfreulichem: Niebel ist weg. Das dürfte zum Aufatmen beim entwicklungspolitisch engagierten Teil der Belegschaft des BMZ führen und mehr noch bei den vielen Nichtregierungsorganisationen, die unter den Vorgaben des Reserveoffiziers zu leiden hatten. Vor allem aber: Die Pervertierung der Entwicklungspolitik zur Außenwirtschaftsförderung kann gestoppt werden.

Daher keimt Hoffnung auf, dass die neue Bundesregierung andere Akzente in der Entwicklungspolitik setzen könnte. Anhebung der öffentlichen Entwicklungsausgaben (ODA-Quote), mehr Beschränkungen der EU-Agrarsubventionen, aktivere Beiträge innerhalb der UN-Institutionen. Das scheint nicht ausgeschlossen, steht aber unter Finanzierungsvorbehalt, d.h. es ist von der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung abhängig.

Die Hoffnung besteht, dass der »Aktionsplan für Zivile Krisenprävention« wieder mehr Beachtung finden wird. Dabei geht es den zivilgesellschaftlichen Gruppen darum, den bisherigen Maßnahmenkatalog durch die Aufstellung von Leitlinien fortzuentwickeln. VENRO, die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und andere haben zugleich darauf gedrängt, dass sich eine neue Prioritätensetzung auch institutionell niederschlagen müsse, zum Beispiel durch die Schaffung eines Rates für Friedensförderung. Das hatte durchaus Widerhall in den Wahlprogrammen der Oppositionsparteien, aber werden solche Positionen ihren Niederschlag im Regierungshandeln finden? Wird der Aktionsplan zur kategorischen Richtschnur deutscher Außen- und Entwicklungspolitik? Wohl kaum. Die Fixierung auf militärische Beiträge zur »Krisenbewältigung« ist viel zu stark, als dass hier jähe Wendungen zu erwarten sind. Ohne außerparlamentarischen Druck ist auch nicht zu erwarten, dass die Militäreinsätze auf den Prüfstand gestellt werden und die Bundeswehr-Kontingente aus den verschiedenen Schauplätzen so rasch als möglich zurückgeholt werden.

Was indes möglich erscheint ist, dass die Einrichtungen der zivilen Konfliktbearbeitung und der Friedensforschung mit mehr Fördermitteln und mit etwas mehr politischer Beachtung rechnen dürfen. Das große Füllhorn wird sich allerdings nicht über sie ergießen.

Unilaterale Abrüstungsschritte wird es nicht geben. Ein Verzicht auf die Beschaffung bewaffneter Drohnen ist eher unwahrscheinlich.

Vom weiteren öffentlichen Druck wird abhängen, ob in puncto Rüstungsexporte zumindest mehr Transparenz hergestellt werden kann. Das wäre ja eine Voraussetzung, um die besonders schändlichen Waffenausfuhren in Spannungsgebiete oder an despotische Regime unterbinden zu können. SPD und Grüne haben sich dazu verpflichtet, dass das Parlament bei brisanten Entscheidungen einbezogen werden muss. Die Grünen haben darüber hinaus – wie auch die LINKE – ein Gesetz gefordert, das die »Politischen Grundsätze« der Bundesregierung aus dem Jahre 2000, die zu einer restriktiven Rüstungsexportpolitik führen sollten, verbindlich machen soll. Hier sind wir gespannt, was kommen wird. Fest steht aber: Ohne die Fortsetzung der »Aktion Aufschrei« wird es nicht gehen!

Noch einmal zum Finanzierungsvorbehalt: Viel wird davon abhängen, wie sich die längst nicht ausgestandene »Euro-Krise« weiter entwickeln wird.

Und da wir weit davon entfernt sind, dass die auslösenden Faktoren der »Euro-Krise« – Deregulierung der Finanzmärkte, Spekulationsblasen an den Börsen, Leistungsbilanzunterschiede zwischen den EU-Mitgliedsstaaten, fehlende gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik – endlich gemeinschaftlich angegangen werden, bleibt grundlegende Skepsis angebracht.

Nur sollte daraus keine abwartende Nörgel-Haltung erwachsen, sondern mehr Elan und mehr Leidenschaft für ein sozial gerechteres und friedlicheres Europa. Das erscheint gerade mit Blick auf die Europawahlen im nächsten Jahr besonders vordringlich.

Nachbemerkung: In diesem Text wird davon ausgegangen, dass eine »rot-rot-grüne« Regierungskonstellation eher nicht kommen wird. Dennoch hat die Debatte über eine solche Option längst begonnen. Warum eigentlich nicht, fragen sich immer mehr Menschen. Es müsste dann aber tatsächlich um einen Politikwechsel gehen. Die Diskussion darüber wird uns die nächsten Monate begleiten.

Paul Schäfer war 1983-1990 verantwortlicher Redakteur von W&F; 2005-2013 war er Mitglied des Bundestages für die Partei »Die LINKE«.

Friedensnobelpreis für Manning

Friedensnobelpreis für Manning

von Jürgen Nieth

Vor drei Jahren veröffentlichte WikiLeaks zahlreiche Dokumente über US-amerikanische Kriegsverbrechen im Irak und in Afghanistan. Sie erinnern sich vielleicht an die Videoaufnahmen des Beschusses und Todes irakischer ZivilistInnen und JournalistInnen durch einen amerikanischen Kampfhubschrauber am 12. Juli 2007 in Bagdad. Insgesamt handelt es sich um 450.000 Dokumente: Direktmeldungen von den Fronten im Irak und in Afghanistan. Sie belegen über 100.000 Todesfälle und alleine für 2010 über 300 Fälle von Folter durch ausländische Einheiten im Irak.

Als WikiLeaks-Informant wurde am 26. Mai 2010 der damals 22-jährige Obergefreite des US-Heeres Bradley Mannings inhaftiert. Es folgte für ihn eine monatelange Einzelhaft in einer 1,8 mal 2,4 Meter großen Zelle. 23 Stunden am Tag musste Mannings sich in diesem Loch aufhalten. Er hatte keinen Zugang zu Nachrichten und aktuellen Informationen; Bettlaken und Kissen gab es nicht. Wiederholt wurde ihm seine Kleidung abgenommen, so dass er nachts stundenlang nackt in seiner Zelle ausharren musste, um anschließend auch noch nackt vor seiner Zelle anzutreten. Bedingungen, die vom UN-Sonderberichterstatter für Folter, Juan E. Mendez, als „grausam, unmenschlich und demütigend“ bezeichnet wurden.

Während das US-Verteidigungsministerium Manning 2011 auf seinen Geisteszustand untersuchen ließ und in der Öffentlichkeit versucht wurde, ihn als einen labilen, mit seiner Identität ringenden (homosexuellen) jungen Menschen darzustellen, zeigt sich Manning selbst als politisch und humanitär engagiert. Ende Februar 2013 bekannte er sich in zehn von 22 Anklagepunkten für schuldig und gestand die Übergabe von Material an WikiLeaks. Gleichzeitig legte er dar, dass seine Entscheidung gereift sei, als er im Februar 2010 über die Festnahme von 15 Irakern recherchiert habe. Oppositionelle, die die Öffentlichkeit über Korruption in der irakischen Regierung informiert hatten, seien dafür als Terroristen verfolgt worden. Seine Vorgesetzten hätten ihn angewiesen, das Thema fallen zu lassen. Konrad Ege zitiert Manning (Freitag, 05.04.13): „Ich wusste, wenn ich fortfuhr, der Polizei in Bagdad dabei zu helfen, politische Gegner von Premierminister al-Maliki zu identifizieren, würden die eingesperrt und sehr wahrscheinlich von einer polizeilichen Spezialeinheit gefoltert. Man würde sie eine lange Zeit nicht mehr sehen – wenn überhaupt.“ Das habe ihn deprimiert, und er habe in den USA eine Debatte anstoßen wollen über „Counterinsurgency-Operationen, bei denen die Menschen in den betroffenen Gebieten ignoriert werden“.

Im Fall einer Verurteilung könnte das Strafmaß allein für die von ihm gestandenen Taten bis zu 20 Jahre Gefängnis betragen. Weiterhin offen ist aber noch der schwerste Anklagepunkt: Kollaboration mit dem Feind. Die Staatsanwaltschaft beharrt auf diesem Punkt und hat dafür lebenslänglich gefordert. Das Gericht kann über die Anträge der Staatsanwaltschaft hinausgehen und dafür die Todesstrafe verhängen.

Es ist unwahrscheinlich, dass Manning sich dieses Risikos nicht bewusst war. Er wusste, dass kein Staat ein Interesse daran hat, dass die Grausamkeit seiner Kriege öffentlich wird. Das gilt für die USA ganz besonders. Zu dicht ist noch in Erinnerung, dass die Bilder des Vietnamkrieges zum »Einsturz der Heimatfront« beitrugen. Und Manning war im Irak stationiert, während des Krieges, in dem die USA Journalisten nur »embedded« zuließen, zwecks Kontrolle der Berichterstattung.

Ein Verschweigen oder Herunterspielen von Kriegsfolgen gibt es aber auch bei uns. Wenn es um die Begründung von Kriegseinsätzen geht, sind die Titelseiten der Tageszeitungen voll. Nach dem offiziellen Kriegsende, das in den letzten 20 Jahren nie mit dem Ende bewaffneter Auseinandersetzungen übereinstimmte, wird das Schlachtfeld medial weitgehend verlassen. Wäre es anders, würden die Kriegsfolgen, die Zerstörungen, die zerrütteten und gespaltenen Gesellschaften, die Kriminalität und das Nachkriegselend sichtbar, dann wäre der nächste Militäreinsatz viel schwerer zu vermitteln.

Manning hat einen Teil der Kriegsfolgen sichtbar gemacht. Mit den von ihm veröffentlichten Menschenrechtsverletzungen, den Bildern von Folter und Mord, hat er der Kriegspropaganda die Arbeit erschwert. Vielleicht geht die Tatsache, dass die USA in ihrer Kriegsbereitschaft in Libyen und Mali etwas zurückhaltender als üblich waren, auch auf diese Veröffentlichungen zurück.

2011 und 2012 wurde er für sein »Whistleblowing« für den Friedensnobelpreis nominiert. Bekommen hat er ihn nicht, und es ist auch nicht anzunehmen, dass das Nobelpreiskomitee 2013 dazu den Mut aufbringt. Aber vielleicht ist angesichts der vielen fragwürdigen Entscheidungen in Oslo ja auch der Alternative Nobelpreis die höhere Auszeichnung. Manning hat ihn verdient.

Ihr Jürgen Nieth

Widerstand – Gewalt – Umbruch

Widerstand – Gewalt – Umbruch

AFK-Jahreskolloquium 2012, 22.-24. März 2012, in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Villigst, in Schwerte

von Marika Gereke

Das Jahreskolloquium 2012 »Widerstand – Gewalt – Umbruch« der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) wurde in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Villigst organisiert und fand in deren Räumlichkeiten in Schwerte statt. Gefördert wurde die Tagung durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF), die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und den NOMOS-Verlag.

Vor dem Hintergrund des so genannten »arabischen Frühlings« befasste sich das diesjährige AFK-Kolloquium mit dem Thema »Widerstand, Gewalt, Umbruch – Bedingungen gesellschaftlichen Wandels«. Das komplexe Wechselspiel von Widerstand, Gewalt und Umbruch wurde in den Panels und Roundtables aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven und mit unterschiedlichen analytischen Herangehensweisen in den Blick genommen. Dabei wurde anhand vielfältiger Fragestellungen den Bedingungen gesellschaftlichen Wandels nachgegangen, und es wurde die Bedeutung und Legitimität von Gewalt und Widerstand in politischen Umbrüchen reflektiert.

Breit gefächerte Themen, Perspektiven und Methoden

Inhaltlich wurde das Jahreskolloquium mit einem Roundtable zur Bedeutung von Gewalt und Gewaltlosigkeit beim Widerstand gegen herrschende Regime eröffnet. Es griff ein bereits in den Anfängen der Friedens- und Konfliktforschung formuliertes Dilemma auf, indem es auch die Frage nach der Legitimität von Gewalt im Kontext gesellschaftlicher Umbrüche aufwarf. Hinsichtlich des Spannungsfeldes von Gewalt und Gewaltlosigkeit in Umbruchprozessen wurde Gewalt als kulturelles, sozialisiertes Phänomen diskutiert, die Motivationen und Erfolgsbedingungen von gewaltlosem Widerstand kontrovers erörtert sowie die Rolle der internationalen Gemeinschaft beleuchtet. Damit wandte sich bereits die Eröffnungsrunde einigen Aspekten zu, die im weiteren Verlauf der Tagung immer wieder aufgegriffen wurden.

Die Rolle der internationalen Gemeinschaft wurde insbesondere in vier theoretisch und methodisch kontrastierenden Beiträgen in den Blick genommen, die sich unter der Fragestellung »Wer will Peacebuilding?« mit Widerstand im Kontext internationaler Interventionen in Nachkriegsgesellschaften auseinandersetzten. Herausgearbeitet wurde anhand verschiedener empirischer Fallbeispiele, dass internationale Interventionen einerseits inhärent konfliktive Prozesse sind, die lokale Formen von Widerstand provozieren; andererseits wurde verdeutlicht, dass Peacebuilding-Maßnahmen auch auf die Etablierung lokaler Widerstandsfähigkeit abzielen müssten und in diesem Sinne die produktive Konfliktdynamik stärker beachten sollten. Übergreifend wurde festgehalten, dass in der Debatte um Peacebuilding die intervenierenden Akteure bislang bevorzugt und die lokalen Akteure sowie die widerständigen Bewegungen stärker berücksichtigt werden müssten.

Weitere Panels widmeten sich den Schwierigkeiten des Umgangs mit Gewalt in und nach Bürgerkriegen sowie den Herausforderungen, eine konstruktive Konfliktbearbeitung zu schaffen und gesellschaftliche Lernprozesse anzustoßen. Die Bewältigung von Bürgerkriegen, die durch eine soziokulturelle und räumliche Nähe der Konfliktparteien gekennzeichnet sind, sei ein komplexes Unterfangen, das vor allem eine Förderung der Fähigkeit zur konstruktiven Konfliktbearbeitung verlange. Gerade im Hinblick auf friedenspädagogische Projekte wurde jedoch konstatiert, dass über deren Wirkung bislang kaum Wissen existiere und lokale Gewaltakteure auf diese Weise nur schwer zu erreichen seien.

Welche Faktoren Akteure zu gewaltsamem oder gewaltlosem Widerstand verleiten und unter welchen Bedingungen Transformationsprozesse von Gewalt begleitet werden bzw. friedlich verlaufen, war Gegenstand mehrerer Panels. Diese Fragen wurden an unterschiedlichen empirischen Fällen – u.a. auch am Beispiel der ägyptischen Revolution – sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene analysiert. Dabei wurde insbesondere auch das Verhältnis von Struktur und Akteur problematisiert, dessen Dualität die auf der Tagung vorgestellten kulturwissenschaftlichen Zugänge mithilfe des Konzepts der Kultur aufbrechen möchten. Betont wurde jedoch, dass für ein umfassenderes Verständnis der erklärenden Faktoren weitere vergleichende Arbeiten im Sinne einer Friedensursachenforschung notwendig seien.

Darüber hinaus wurden widerständige Bewegungen aus einer Geschlechterperspektive beleuchtet, indem die feministische Spezifik der Frauenwiderstandscamps im Hunsrück, politische Akteurinnen in der palästinensischen Gesellschaft und die Biografien nordirischer Aktivistinnen in den Blick genommen wurden. Aus einer feministisch-postkolonialen Perspektive wurden zudem die diskursiven Darstellungen und (medialen) Inszenierungen von Krieg und Gewalt aufgezeigt. Hervorgehoben wurde, dass die theoretisch-analytischen Potenziale einer feministisch-postkolonialen Perspektive in der Friedens- und Konfliktforschung erst in jüngster Zeit erkannt würden und weiter verfolgt werden sollten.

Der nicht nur methodologisch bedeutsamen Grundsatzfrage »Wozu welche Friedenstheorie?« widmete sich ein Gespräch mit Dieter Senghaas. Ein zentraler Aspekt war dabei, inwiefern Theorie stets in einem bestimmten, zeitlich geprägten »Wirklichkeitsbild« gefangen sei. Daran anknüpfend wurde diskutiert, ob ein theoretischer Friedensentwurf, der die Zukunft in den Blick nehmen möchte, auf der Basis eines induktiven, an der Empirie orientierten Vorgehens entwickelt werden könne. In diesem Zusammenhang wurde auch auf potentielle Asymmetrien in der wissenschaftlichen Theoriebildung verwiesen und danach gefragt, inwiefern eine an der Empirie orientierte Theoriebildung bestimmte soziale Kategorien reproduziere.

Den Abschluss des Jahreskolloquiums bildete ein multidisziplinäres Roundtable, dessen Kernthematik nach den zukünftigen Entwicklungen und Chancen der politischen und sozialen Umbrüche in der Region Mittlerer Osten und Nordafrika (MENA) fragte. Einerseits wurde festgehalten, dass aus den Umbruchprozessen selbstbewusste und kritische BürgerInnen hervorgegangen seien und neue Debatten über die sozialen Verhältnisse geführt würden. Andererseits wurde betont, dass die zukünftige Entwicklung der MENA-Region schwer prognostizierbar sei und die Möglichkeit verschiedener Entwicklungspfade bestünde. Zugleich wurde am Beispiel Ägyptens darauf verwiesen, dass diese Widerstandsbewegung nur mit einem gewissen Gewaltpotential möglich gewesen sei und keine nachträgliche Romantisierung stattfinden solle. Gerade im Hinblick auf die Heterogenität der arabischen Länder wurde auch vor der Schaffung neuer Konstrukte gewarnt und eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle des »Westens« nahe gelegt.

Das Roundtable bildete einen sehr gelungenen Abschluss einer Tagung, deren Themenstellungen von den gesellschaftlichen Umbrüchen in der MENA-Region inspiriert waren und die damit aufgeworfene Fragen nicht nur theoretisch und konzeptionell bearbeiten konnte, sondern auch Bezüge zu aktuellen Entwicklungen herstellte.

Verleihung des Christiane-Rajewsky-Preises 2012

Den diesjährigen Christiane-Rajewsky-Preis erhielt Silja Klepp für ihre Dissertation »Europa zwischen Grenzkontrolle und Flüchtlingsrecht: Eine Ethnographie der Seegrenze auf dem Mittelmeer« (siehe S. Klepps Artikel in dieser Ausgabe von W&F). Gewürdigt wurde insbesondere das innovative Vorgehen der Preisträgerin, die mithilfe eines mehrdimensionalen, polyphonen Forschungsansatzes die Praktiken und Handlungslogiken der verschiedenen Akteure im europäischen Grenzraum erfasste. Zudem wurde hervorgehoben, dass Silja Klepps Arbeit ein wesentliches Anliegen der Friedens- und Konfliktforschung aufgreife, indem sie das tief greifende Spannungsfeld zwischen Grenzkontrollen und Flüchtlingsrechten transparent mache und die Notwendigkeit, die menschenrechtlichen Maßstäbe im europäischen Raum zurechtzurücken, einfordere.

Resümee

Die Tagung verdeutlichte, dass Widerstand, Gewalt und Umbruch komplexe Phänomene sind, die vielfältige Formen annehmen können und deren Dynamik und Prozesshaftigkeit berücksichtigt werden muss. Zugleich zeigte sie auf, dass die Analyse, Beurteilung und Erklärung dieser Phänomene immer auch einer Reflexion der zugrunde liegenden Bewertungsmaßstäbe bedarf. In diesem Sinne bot das AFK-Kolloquium 2012 den TeilnehmerInnen die Möglichkeit, vielfältige Blickweisen auf die Thematik »Widerstand – Gewalt – Umbruch« kennen zu lernen und Einblicke in aktuelle Forschungsfragen und -projekte der Friedens- und Konfliktforschung zu erhalten sowie sich aktiv in anregende fachliche Diskussionen einzubringen.

Ein ausführlicher Tagungsbericht mit den Beschreibungen aller Panels und Papers, die außerdem im virtuellen Paper-Room des Kolloquiums abrufbar sind, ist auf der AFK-Webseite afk-web.de zu finden.

Marika Gereke

Kugelhaufenreaktor und willkürlicher Mord

Kugelhaufenreaktor und willkürlicher Mord

Verleihung des Whistleblower-Preises 2011, 1. Juli 2011, Berlin

von Bernd Hahnfeld

Die Feier zur Vergabe des Whistleblower-Preises ist immer etwas Besonderes. Sind doch alle Beteiligten in seltener Weise rational und emotional in die Ereignisse einbezogen. Der Spannungsbogen reicht vom Erschrecken über das Ausmaß des vom Whistleblower aufgedeckten Missstandes und der Empörung über die Reaktionen seines gesellschaftlichen Umfeldes über die Bewunderung seines Mutes, seines konsequenten Handelns und seiner Beharrlichkeit bis zur Betroffenheit über seine Ausgrenzung und seine öffentliche Bloßstellung. Unausweichlich stellen sich die Fragen nach der eigenen Position in vergleichbaren Situationen, des Abwägens der Risiken eigenen aufmüpfigen Verhaltens und der moralischen Dimension des Alarmschlagens. Wer spürt nicht das Ausweglose der Situation, in der es keinen Wegweiser zum »richtigen« Verhalten gibt. Hut ab vor denen, die sich trauen, die Grenzbereiche menschlichen Verhaltens zu betreten und das Risiko in Kauf nehmen, neben wirtschaftlichen auch seelischen Schaden zu erleiden. Sie bringen die Kraft zum Widerstand und zum Sprung ins Ungewisse auf – ungeachtet des dafür zu zahlenden Preises der Isolation.

Die in den historischen Räumen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften festlich gestaltete Feier bot Gelegenheit, öffentlich Gefühle der Hochachtung und des Dankes zu bekunden, und damit die Chancen zur Abhilfe der aufgedeckten Missstände zu erhöhen.

Dank gilt auch jenen, die den Rahmen solcher Preisvergaben und damit ein Instrument der öffentlichen Anerkennung der Preisträger geschaffen haben, und denjenigen, welche die mühevolle Auswahl der Preisträger übernommen haben.

In diesem Jahr haben die deutsche Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) und die Vereinigung deutscher Wissenschaftler (VDW) den Preis an zwei Menschen vergeben, die beide unter hohen persönlichen Risiken bedrohliche Missstände aufgedeckt haben: das menschenverachtende Morden in einem ohnehin nicht zu rechtfertigenden Krieg und die wissenschaftlich begründete Aufdeckung einer verlogenen Sicherheitsideologie beim Betrieb der zivilen Nutzung der Atomkraft.

Mit dem seit 1999 alle zwei Jahre vergebenen Preis sind ausgezeichnet worden:

die (noch unbekannte) Person, die im April 2010 ein von den US-Behörden als Staatsgeheimnis gehütetes amtliches Dokumentationsvideo über ein von US-Soldaten am 12.7.2007 im Irak verübtes schweres Kriegsverbrechen der Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht hat, und

der Wissenschaftler Dr. Rainer Moormann, der seit mehreren Jahren mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Vorträgen, Stellungnahmen und in Interviews den Mythos der »inhärenten Sicherheit« des Kugelhaufen-Atomreaktors erschüttert hat.

Beides sind hochaktuelle und brisante Themen, wie das Ringen um einen dauerhaften Frieden im Irak und die Katastrophe von Fukushima vor Augen führen.

Der Mythos der inhärenten Sicherheit

Dr. Moormann hat 35 Jahre in der Kernforschungsanlage in Jülich wissenschaftlich gearbeitet, davon viele Jahre über die Sicherheit des Kugelhaufen-Atomreaktors (Hochtemperatur-Reaktor, HTR). Dieser Reaktortyp wird bis heute dafür gerühmt, dass eine Kernschmelze ausgeschlossen, mithin eine nukleare Katastrophe nicht zu befürchten sei. Dr. Moormann kam demgegenüber zu dem Schluss, dass mit der Kugelhaufen-HTR-Technologie andere, nicht weniger bedrohliche Störfälle möglich und Risiken mit katastrophalen Folgen für Mensch und Umwelt verbunden seien. Er veröffentlichte diese Erkenntnisse ebenso wie das unverantwortliche Vorgehen des Betreibers des Forschungsreaktors Jülich, dessen Mitarbeitern schon Ende der 1970er Jahre die riskanten überhöhten Betriebstemperaturen aufgefallen waren, die jedoch untätig geblieben waren und die Aufsichtsbehörden weiterhin mit – ihnen günstigen – Modellrechnungen zufrieden stellten.

Durch Untersuchungen Dr. Moormanns ist auch der dringende Verdacht zutage getreten, dass der Kernreaktor Jülich am 13. Mai 1978 nur knapp einem GAU mit verheerenden Folgen einer weiträumigen radioaktiven Verseuchung entgangen ist. Durch einen Haar-Riss waren 30 Tonnen Dampf und Wasser in den Reaktorraum gelangt. Es drohte die Entstehung großer Mengen eines hochexplosiven Wasserstoff-Kohlenmonoxyd-Gemischs und das Durchgehen des Reaktors wie in Tschernobyl. Radioaktiv hoch kontaminiertes Wasser trat aus und gelangte in das Grundwasser.

Der Kraftwerksbetreiber, das Kernforschungszentrum Jülich und die Aufsichtsbehörden haben die Öffentlichkeit über die Gefahrensituation nicht aufgeklärt. Erst 2011 hat das Forschungszentrum Jülich in einer Presseerklärung eingeräumt, dass die von Dr. Moormann festgestellten Fakten richtig seien, nicht jedoch seine Sicherheitsbedenken! Mit seiner öffentlichen Kritik störte Dr. Moormanns massiv die intensiven Bemühungen der »Atom-Community«, nach dem Atomausstieg Deutschlands diesen Reaktortyp weltweit zu exportieren.

Das Whistleblowing Dr. Moormanns hat Zweifel an der Atomaufsicht begründet. Es hat zudem die immensen Kosten der Entsorgung des 1988 stillgelegten Forschungsreaktors Jülich ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Diese sind von 39 Millionen DM in den 1990er Jahren auf vorläufig 600 Millionen Euro gestiegen und von den Steuerzahlern aufzubringen.

Dr. Moormann hat für seine Zivilcourage teuer bezahlt. Er wurde als Nestbeschmutzer diffamiert und als verrückt verleumdet. Sein Arbeitgeber versetzte ihn in eine andere Abteilung und forderte ihn auf, seine „nuklearfeindlichen Aktivitäten“ einzustellen. Seine Arbeitsgruppe im Forschungszentrum Jülich wurde aufgelöst.

Dr. Moormanns Whistleblowing und seine Orientierung am Gemeinwohl sind beispielhaft für verantwortliches wissenschaftliches Handeln. Dafür hat er den Whistleblower-Preis erhalten.

»Collateral Murder« vs. Völkerrecht

Erstmals in der Geschichte des Whistleblower-Preises ist dieser an eine unbekannte Person »Anonymus« vergeben worden. Zu Recht hat die Jury in der Anonymität des/der Preisträger/in kein Hindernis gesehen, weil sie die Tatsache des Whistleblowing als auszeichnungs- und ehrenswert angesehen hat. Der Preis wird hinterlegt und übergeben, sobald die Identität der Person feststeht.

Das durch die Zielerfassungskamera aufgezeichnete Bordvideo, das unter dem Namen »Collateral Murder« bekannt wurde, zeigt die gezielte und willkürliche Tötung von mindestens sieben Zivilpersonen durch die Besatzung eines US-Kampfhubschraubers am 17.7.2007 im Irak.1 Unter den Getöteten befanden sich zwei Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters. Deutlich wird, dass die Tötungsaktion der Hubschrauberbesatzung über Funk von der militärischen Einsatzleitung ausdrücklich genehmigt worden ist. Das Bordvideo dokumentiert den Mord und die begleitenden menschenverachtenden Kommentare der Täter. Es belegt zudem, dass die multinationalen Streitkräfte Presse und Öffentlichkeit über den Geschehensablauf belogen haben. Es beweist, dass die Vor-Ermittlungsverfahren der US Army gegen die beteiligten Soldaten 2007 niemals hätten eingestellt werden dürfen.

Die Preisträger-Jury hat die Rechtslage wie folgt dargestellt:

„Militärische Kampfhandlungen dürfen sich nach geltendem Recht (vgl. u.a. Art. 51 und 52 des I. Genfer Zusatzprotokolls) nur gegen die Streitkräfte des Gegners und andere militärische Ziele richten, nicht jedoch gegen die Zivilbevölkerung oder zivile Objekte. Unterschiedslose Angriffe sind verboten. Zivilpersonen, die nicht an Kampfhandlungen teilnehmen, sind von Soldaten – auch in Kampfgebieten – zu schonen und zu schützen. Sie dürfen weder angegriffen noch getötet, verwundet oder gefangen genommen werden. Repressalien gegen die Zivilbevölkerung sind verboten, ebenso u.a. Maßnahmen zur Einschüchterung oder Terrorisierung. Selbst bei einem Angriff auf ein militärisches Ziel sind alle erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um die Zivilbevölkerung, die sich im Bereich oder in unmittelbarer Nähe des zu bekämpfenden Objekts befindet, zu schonen. Wenn möglich, ist die Zivilbevölkerung vor einem Angriff zu warnen. Jeder einzelne Soldat ist persönlich für die Einhaltung dieser Regeln des sog. humanitären Völkerrechts verantwortlich. Vorgesetzte dürfen Befehle nur unter strikter Beachtung dieser Regeln erteilen. Wer diese Regeln des humanitären Völkerrechts, das auch im Völkergewohnheitsrecht seinen Niederschlag gefunden hat, verletzt, begeht ein Kriegsverbrechen, das sowohl nach nationalem als auch nach internationalem Recht als schwere Straftat zu verfolgen ist.“

Anstatt die beteiligten Soldaten wegen Mordes anzuklagen, vor Gericht zu stellen und zu bestrafen, verfolgt die US-Strafjustiz das Whistleblowing, d.h. die Person, die das Dienstvideo an Wikileaks weitergeleitet hat. Das US-Militär hat den im Juni 2010 verhafteten US-Soldaten Bradley Manning vor dem Kriegsgericht angeklagt, Geheimdokumente und das genannte Video an die Internetplattform Wikileaks weitergegeben zu haben.2

Es liegt im nationalen Interesse jedes demokratischen Rechtsstaates, schwerwiegende Rechtsverstöße staatlicher Amtsträger bekannt zu machen. Denn jede rechtsstaatliche Demokratie ist auf die Kontrolle der Amtsträger durch das Volk und durch die Medien angewiesen. Diese Kontrolle ist nur möglich, wenn die notwendigen Informationen zur Verfügung stehen. Es widerspricht deshalb dem öffentlichen Interesse in einer rechtsstaatlichen Demokratie, schwerwiegende Straftaten von Amtsträgern zu vertuschen und vor der Öffentlichkeit geheim zu halten.

Die Offenbarung von Vorgängen, die gegen das Grundgesetz, insbesondere gegen die Grundrechte oder gegen das Völkerrecht verstoßen, muss in Deutschland durch den Gesetzgeber von strafrechtlicher Verfolgung freigestellt werden. Die Rechtsprechung hat bereits jetzt die Möglichkeit, durch grundgesetz- und völkerrechtsfreundliche Gesetzesauslegung zu demselben Ergebnis zu kommen. Die Hessische Verfassung ist diesen Schritt bereits gegangen: Artikel 68 bestimmt, dass niemand zur Rechenschaft gezogen werden darf, der auf Tatsachen hinweist, die eine Verletzung von völkerrechtlichen Pflichten darstellen.

In einem begrüßenswerten ersten Schritt haben Ende Juni 2011 mehrere Fraktionen des Deutschen Bundestags Gesetzesinitiativen zum Whistleblower-Schutz beim Aufdecken von Korruptionen angekündigt. Der angestrebte Schutz darf sich jedoch nicht auf den Bereich der Korruption beschränken.

Dem Vernehmen nach hat sich Bradley Manning auf dem Dienstweg vergeblich an seine Vorgesetzten gewandt, um eine Aufklärung der auf dem Video dokumentierten Vorgänge zu erreichen. Er hatte jedoch nur die Aufforderung zu schweigen erhalten.

Wikileaks und andere Medien verdienen Anerkennung für ihre informationstechnische Professionalität und ihre mutigen Veröffentlichungen. Sie sind jedoch angewiesen auf Menschen, die Informationen über ihnen bekannt gewordene Missstände weitergeben. Aus diesem Grund haben VDW und IALANA den Whistleblower-Preis 2011 an die Person verliehen, die Wikileaks das Video über das Völkerrechtsverbrechen im Irak zugespielt hat.

Die musikalisch begleitete Preisverleihung vor zahlreichen Gästen und Mitgliedern von VDW und IALANA hat die Einmaligkeit und gesellschaftliche Bedeutung des Whistleblower-Preises eindrucksvoll vor Augen geführt. Der Preisträger Dr. Rainer Moormann erläuterte seine wissenschaftliche Arbeit und dankte mit warmherzigen Worten für die Auszeichnung. Die Aufführung des Videos »Collateral Murder« erschütterte alle Beteiligten und begründete die unmittelbare Akzeptanz der Preisverleihung an den (noch unbekannten) Informanten.

Anmerkungen

1) collateralmurder.com.

2) bradleymanning.org/news/releases/charge-sheet-html.

Bernd Hahnfeld

Gandhi und der Westen

Gandhi und der Westen

Eine Geschichte von Missverständnissen

von Wolfgang Sternstein

Vor sechzig Jahren, am 30. Januar 1948, wurde Gandhi von einem Hindu-Fanatiker erschossen. Die geradezu religiöse Verehrung, die er bei einem Teil seiner Landsleute, und das hohe Ansehen, das er in vielen Teilen der Welt genießt, können freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass er im eigenen Land wie auch im Westen nur selten verstanden wurde und noch seltener Nachfolger fand. Von den zahlreichen Missverständnissen, denen Gandhis Lehre und die Botschaft seines Lebens ausgesetzt waren, sollen nur die sieben wichtigsten angesprochen werden.

1. Gewaltfreiheit (Satjagraha) wird mit Friedlichkeit verwechselt

Wenn Nachrichtensprecher mitteilen, eine Demonstration sei »gewaltfrei« verlaufen, so meinen sie damit, sie sei ohne Gewalthandlungen verlaufen. Das war ursprünglich anders. Der Berliner Politologe Theodor Ebert prägte den Begriff Gewaltfreiheit, um damit Gandhis Prinzip und Methode der Satjagraha zu bezeichnen. Vor etwa hundert Jahren entdeckte Gandhi eine Methode der Konfliktaustragung, die er »Satjagraha« nannte: Festhalten an der Wahrheit, Kraft der Wahrheit, der Liebe oder der Seele (im Unterschied zu Körperkraft). Wahrheit ist für Gandhi ein anderes Wort für Gott; deshalb kann Satjagraha auch als die Kraft Gottes beschrieben werden, die in uns und durch uns wirkt.

Was hat es mit dieser Kraft auf sich? Es handelt sich, kurz gesagt, um die Fähigkeit, Böses mit Gutem zu vergelten, um es auf diese Weise zu überwinden. Dazu Gandhi selbst: „Immer und immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Gute Gutes hervorruft, das Böse aber Böses erzeugt. Wenn daher dem Ruf des Bösen kein Echo wird, so büßt es aus Mangel an Nahrung seine Kraft ein und geht zugrunde. Das Übel nährt sich nur von seinesgleichen. Weise Menschen, denen diese Tatsache klar geworden ist, vergalten daher nicht Böses mit Bösem, sondern immer nur mit Gutem und brachten dadurch das Böse zu Fall.“ (Kraus, 1959, S.134)

Das ist im Grunde nichts Neues. Gandhi meinte denn auch, er habe lediglich versucht, es in die Tat umzusetzen. Im abendländisch-christlichen Kulturraum kennen wir es aus der Bergpredigt Jesu von Nazareth. Es ist die Lehre von der Feindesliebe. Ihr Geltungsbereich wird jedoch im Christentum zumeist auf das Verhalten von Einzelnen beschränkt. Bei Konflikten zwischen Gruppen und Nationen gälten andere Gesetze, die Gewalt keineswegs ausschlössen. Gandhi widerspricht dieser Auffassung nachdrücklich. Das hat Martin Luther King klar erkannt, als er schrieb: „Ehe ich Gandhi gelesen hatte, glaubte ich, dass die Sittenlehre Jesu nur für das persönliche Verhältnis zwischen einzelnen Menschen gelte… Wenn aber Rassengruppen und Nationen in Konflikt kamen, schien mir eine realistischere Methode notwendig zu sein. Doch nachdem ich Gandhi gelesen hatte, sah ich ein, wie sehr ich mich geirrt hatte… Für Gandhi war die Liebe ein mächtiges Instrument für eine soziale und kollektive Umgestaltung.“ (King, 1968, S.74)

Gewaltfreiheit kann demnach organisiert und eingeübt werden und sie lässt sich in dieser Form bei Konflikten auf allen gesellschaftlichen Ebenen anwenden. Sie ist, kurz gesagt, eine konstruktive Alternative zur Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung. Damit ist gemeint, sie ersetzt etwas Schlechtes durch etwas Gutes, etwas Untaugliches durch etwas Taugliches. Die zu Grunde liegende Vorstellung ist, dass Gewalt wie ein Gift wirkt, das die persönlichen und gesellschaftlichen Beziehungen zerstört, das jedoch durch das Gegengift der Gewaltfreiheit neutralisiert werden kann.

Ich fürchte, der Versuch, die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Gewaltfreiheit wieder herzustellen, ist zum Scheitern verurteilt. Martin Arnold hat deshalb vorgeschlagen, »Satjagraha« mit »Gütekraft« zu übersetzen. Ich ziehe indes die Bezeichnung »Wahrheitskraft« vor, da sie weniger missverständlich ist und Gandhis »Satjagraha«, einer Verbindung der Sanskritwörter »satja« (Wahrheit) und »agraha« (festhalten, zupacken, angreifen), am nächsten kommt.

Bei Konflikten, in denen Wahrheitskraft zur Anwendung kommt, geht es folglich keineswegs friedlich zu. Entweder wird Gewalt in milderer Form des körperlichen Zwangs durch Polizisten, etwa bei der Räumung einer Sitzblockade, angewandt oder in massiver Form von Schlagstock- oder Tränengaseinsatz oder aber in Form von Tätlichkeiten von Seiten politischer Gegner. Für »Satjagrahis« (gewaltfreie Kämpfer) ist Gewaltanwendung allerdings in jedweder Form tabu.

2. Satjagraha wird mit Passivität gleichgesetzt

Man könnte dieses Missverständnis auch das »christliche« nennen, da es seine Wurzel im Christentum hat, wie es im Westen verstanden wird. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, der Christ solle dem Bösen nicht widerstehen. Er solle die Gewalt des Angreifers vielmehr bereitwillig erdulden nach dem Jesuswort: „Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“ (Mt 5, 39-41)

Ich halte die Auslegung, die unter Feindesliebe passives Erdulden der Gewalt versteht, für falsch. Was Jesus m.E. sagen will, wird klar, wenn wir im Text die Wörter »mit Gewalt« ergänzen: Du sollst dem Bösen nicht mit Gewalt widerstehen, du sollst ihm vielmehr widerstehen, indem du Böses mit Gutem vergiltst, um es auf diese Weise zu überwinden. Satjagraha (Wahrheitskraft) hat jedenfalls mit Passivität nichts zu tun. Sie ist vielmehr höchste Aktivität. Die Lehre von Nichtwiderstehen gegenüber dem Bösen, die sich auch bei Tolstoi findet, hat ihre Ursache meines Erachtens in einem falschen Verständnis des Lebens und der Lehre Jesu. Die christliche Dogmatik sieht in ihm das sündlose Opferlamm, das für unsere Sünden den Tod erlitt. Vorbild für diese Deutung ist das vierte Lied des zweiten Jesaja vom Gottesknecht: „Zu unserm Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt… Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf.“ (Jes 53, 5-7) Gandhi bestreitet die Deutung Jesu als sündloses Opferlamm. Er nennt ihn vielmehr einen Fürsten der Satjagraha und die christlichen Märtyrer Satjagrahis.

Im Katholizismus beschränkte man die hohen ethischen Forderungen der Bergpredigt als »evangelische Räte« auf den Klerus. Die Reformatoren, welche die Unterscheidung von Klerikern und Laien zugunsten eines »Priestertums aller Gläubigen« aufhoben, suchten das Problem auf ihre Weise zu lösen. So unterschied beispielsweise Luther im Christen eine Christperson von einer Weltperson. Als Christperson hat der Christ Jesu Gebot der Feindesliebe bedingungslos zu befolgen und die Gewalt des Feindes widerstandslos zu erdulden. In seiner Eigenschaft als Weltperson, die für den Schutz anderer verantwortlich ist, ist er berechtigt, ja verpflichtet, dem Bösen mit Gewalt zu wehren, da andernfalls das Gute vernichtet würde. Bei Max Weber erscheint dieses Denkmuster als Gegensatz von Gesinnungs- und Verantwortungsethik.

Für Gandhi ist diese Zweiteilung des Menschen völlig unannehmbar. Wer gewaltfrei oder wahrheitskräftig handelt, schützt damit sich und seine Angehörigen gleichermaßen. Dass er dabei riskiert, verletzt oder getötet zu werden, tut nichts zur Sache, denn dieses Risiko läuft der Soldat ja auch, sogar in weit höherem Maße, da einem Konflikt, bei dem beide Seiten Gewalt anwenden, eine Tendenz zur Eskalation innewohnt, während der gewaltfrei ausgetragene Konflikt eine Tendenz zur Deeskalation aufweist. Für Gandhi gilt: Wer an der Wahrheit festhält, kann nicht verlieren, selbst wenn er im Kampf sein Leben verliert. Wer dagegen die Wahrheit loslässt, hat schon verloren, selbst wenn er aus dem Kampf als Sieger hervorgehen sollte.

Es gilt also festzuhalten: Wahrheitskraft ist eine positive, aktive und aufbauende, ja eine schöpferische und heilende Kraft, die Gewalt in allen ihren Erscheinungsformen (i.S. Johan Galtungs) überwindet. Sie ist ein Drittes jenseits des Gegensatzes von Aktivität und Passivität, von Gewalt antun und Gewalt erleiden.

3. Satjagraha wird mit passivem Widerstand gleichgesetzt

Gandhi hat anfangs für seine Kampfmethode mangels eines besseren den Begriff passiver Widerstand gebraucht. Als ein Journalist den Widerstand der Inder gegen die Rassendiskriminierung in Südafrika als »Waffe der Schwachen« kennzeichnete, erkannte er die Untauglichkeit dieses Begriffs, der zu Missverständnissen geradezu einlud, und ersetzte ihn durch den Begriff Satjagraha. Um den Unterschied möglichst klar herauszuarbeiten unterschied er fortan eine »Gewaltlosigkeit der Starken« (Satjagraha) und eine »Gewaltlosigkeit der Schwachen« (passiver Widerstand). Wer passiven Widerstand leistet, verzichtet zwar auf verletzende und tötende Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung, nicht aber auf die Methoden des Zwangs und des politischen Drucks.

Verwirrend ist, das sich die Gewaltlosigkeit der Starken und die der Schwachen oftmals der gleichen Aktionsmethoden bedienen, nämlich der Aufkündigung der Zusammenarbeit in Form von Streik oder Boykott. Der Unterschied zeigt sich jedoch rasch, sobald der Gegner zur Gewalt greift, um den Widerstand zu brechen. Die »Gewaltlosigkeit der Schwachen« wird dann gewöhnlich zusammenbrechen oder in gewaltsamen Widerstand übergehen, die »Gewaltlosigkeit der Starken«, sofern es sich denn tatsächlich um solche handelt, wird die Gewalt des Gegners hinnehmen ohne Zurückweichen oder Zurückschlagen, um sie dadurch zu überwinden. Selbstverständlich kann es auch bei einem derartigen Kampf Tote und Verletzte geben; langfristig wird jedoch eine Verhandlungslösung erreicht, welche die legitimen Interessen aller Beteiligten berücksichtigt.

In ausgeprägter Form findet sich die Gleichsetzung von Wahrheitskraft und passivem Widerstand selbst bei dem Gandhi durchaus geistesverwandten Albert Schweitzer: „Er (Gandhi) meint, der passive Widerstand, im Geist der Hasslosigkeit der wahren Ahimsa (Nicht-Gewalt) durchgeführt, sei die Waffe, die ihm die Ethik zu führen erlaubt. Er irrt. Zwischen dem tätigen und dem passiven Widerstand ist nur ein ganz relativer Unterschied. Durch Zustände, die auf nicht-gewaltsame Weise geschaffen werden, soll ein Druck auf den Gegner ausgeübt und Nachgiebigkeit erzwungen werden. Als ein Angriff, der schwerer abzuwehren ist als der tätige, kann der passive Widerstand mehr Erfolg haben als dieser. Es ist aber auch Gefahr, dass diese versteckte und indirekte Anwendung von Gewalt mehr Erbitterung schafft als die offene. Ist passiver Widerstand anders geartet als aktiver? Nein: Er ist Gewalt.“ (Schweitzer, 2003, S.198)

Gandhi ist da ganz anderer Ansicht: „Zwischen passivem Widerstand und Satjagraha ist der Unterschied groß und grundsätzlich… Wenn wir weiterhin glauben und andere glauben lassen, wir seien schwach und hilflos und leisteten deshalb passiven Widerstand, dann würde unser Widerstand uns niemals stark machen, und bei der geringsten Gelegenheit würden wir unseren passiven Widerstand als eine Waffe des Schwachen aufgeben. Wenn wir dagegen Satjagrahis sind und Satjagraha leisten in dem Glauben, stark zu sein, so werden sich daraus zwei klare Folgen ergeben. Indem wir den Gedanken der Stärke nähren, werden wir von Tag zu Tag stärker. Mit dem Wachsen unserer Stärke wird auch unsere Satjagraha wirksamer, und wir werden nie nach einer Gelegenheit Ausschau halten, sie aufzugeben. Und während wiederum im passiven Widerstand kein Raum für Liebe ist, hat andererseits in der Satjagraha Hass nicht nur keinen Platz, sondern ist ein ausdrücklicher Verstoß gegen ihr leitendes Prinzip.“ (zit. nach Kraus, o.J., S.167)

4. Die religiös-philosophische Wurzel von Satjagraha wird nicht erkannt

Ich nenne dieses Missverständnis das wissenschaftliche, weil Sozialwissenschaftler mit Gandhis Satjagraha-Konzept naturgemäß Probleme haben. Zwar schließt Gandhis Formel »Gott ist die Wahrheit« auch philosophische Wahrheitsdefinitionen ein, doch nur, sofern sie eine metaphysische Dimension der Wirklichkeit anerkennen. Das ist beim wissenschaftlichen Wahrheitsbegriff definitionsgemäß nicht der Fall. Wird dem Satjagraha-Konzept die religiös-philosophische Wurzel abgeschnitten, stirbt es wie eine Pflanze, die man ihrer Wurzel beraubt. Die »Gewaltlosigkeit der Starken« verwandelt sich augenblicklich in die »Gewaltlosigkeit der Schwachen«, d.h. in verdünnte Gewalt oder passiven Widerstand. Diesem Missverständnis begegnet man u.a. bei Gene Sharp (1973) und Adam Roberts (1971), teilweise auch bei Theodor Ebert. Ihrer Ansicht nach hat Gandhi durch seine Askese und die religiöse Begründung von Satjagraha eine breite Akzeptanz seines Konzepts im Westen verhindert. Ich weiß nicht, was Gandhi auf diesen Vorwurf geantwortet hätte. Meine Antwort lautet: Billiger ist Satjagraha nun mal nicht zu haben. Wer nicht bereit ist, den Preis zu bezahlen, soll es lassen. Jesus von Nazareth sprach in einem ähnlichen Zusammenhang vom Schatz im Acker und der kostbaren Perle, die zu erwerben jeden Preis wert seien. (Mt 13, 44-46)

Heißt das, eine Satjagraha-Kampagne könne nur durch ausgebildete Satjagrahis mit Erfolg durchgeführt werden? Keineswegs. Die Erfolgsaussichten sind zwar desto größer, je mehr Satjagrahis sich daran beteiligen. Die zweitbeste Lösung aber ist die Verbindung einer gewaltfreien Führerschaft mit einer gewaltlosen Gefolgschaft. Von einer Kombination gewaltfreier und gewaltsamer Aktionsmethoden ist jedoch abzuraten, da sie auf gegensätzlichen Prinzipien beruhen. Gandhi und King hätten lange warten müssen, hätten sie ihre Kampagnen mit ausgebildeten Satjagrahis durchführen wollen. Gandhi stand überdies unter extremem Handlungszwang, denn in Indien war bereits eine Befreiungsbewegung entstanden, welche die Briten durch Attentate und Terroranschläge zu massiven Unterdrückungsmaßnahmen herausforderte. Ihr Gewaltverzicht zu predigen, ohne ihr eine konstruktive Alternative zur Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung anzubieten, hielt Gandhi für nutzlos, ja verwerflich. Eine gemischte Kampagne leidet freilich an der Schwäche, dass mit dem Tod der charismatischen Führergestalt die treibende Kraft für den gewaltfreien Kampf versiegt. Das war sowohl in Indien als auch in den USA der Fall.

5. Satjagraha wird mit moralischem Zwang gleichgesetzt

Karl Jaspers schreibt in seinem 1958 erschienenen Buch zur Nuklearkriegsdrohung: „Es wird berichtet von der Verwandlung der Atmosphäre in Indien durch Gandhi. Statt der Liberalität verbreitete sich ein allgemeiner Zwang des Fürwahrhaltenmüssens. Diese Gewaltlosigkeit, die zwar auf physische Gewalt verzichtet, übt eine andere aus, die unerträglich werden kann… Gandhis Selbstdisziplin erfolgt nicht ohne innere Gewaltsamkeit. Diese wird bei den ihm Folgenden anders, weil fanatisch. Solche Gewaltsamkeit gegen sich selbst aber ist keineswegs Läuterung, nicht freies Zu-sich-selbst-Kommen. Daher ist, wer sich selbst vergewaltigt, zur Vergewaltigung anderer bereit. Solche Vergewaltigung anderer durch moralischen Druck ist ein Element in Gandhis Wirksamkeit.“ (a.a.O., S.66)

Für Gandhi, wenn ich ihn recht verstehe, bedeutet Satjagraha etwas Drittes jenseits des Gegensatzes von (egoistischer) Liebe und Hass, und mit »Brahmatscharja« (Streben nach dem Göttlichen) meint er etwas Drittes jenseits des Gegensatzes von Trieb-Ausleben und Trieb-Unterdrücken. Bei Sigmund Freud hätte Jaspers durchaus den Schlüssel zum Verständnis von Gandhis Askese finden können. Freud erkannte klar die Kultur schaffende Wirkung der Triebsublimation. Er sieht in den Kulturleistungen des Menschen sublimierte Triebenergie am Werk. Was Gandhi von uns Normalsterblichen unterschied, war seine für viele Menschen erschreckende und abstoßende Radikalität. Er gibt sich mit der relativen Sublimierung der Triebenergie nicht zufrieden. Ihm geht es um nichts Geringeres als die vollständige Triebsublimation, nicht nur des Sexualtriebs, sondern sämtlicher Triebe, um sie in geistige Energie umzuwandeln und zum Wohl der Menschheit einzusetzen: „Brahmatscharja bedeutet nicht nur physische Selbstkontrolle. Es bedeutet völlige Kontrolle über alle Sinne. So ist ein unreines Denken ein Bruch von Brahmatscharja, ebenso Ärger. Alle Kraft kommt von der Erhaltung und Sublimierung der Vitalität, die für die Erzeugung von Leben verantwortlich ist. Wird diese Vitalität gespart, statt verschwendet zu werden, so wird sie in schöpferische Energie der höchsten Art verwandelt… Bei jemandem, der große Menschenmassen zu gewaltfreier Aktion zu organisieren hat, muss die vollständige von mir beschriebene Kontrolle versucht und verwirklicht werden.“ (zit. nach Kraus, o.J., S.79)

6. Satjagraha ist angeblich nur gegen moralisch ansprechbare Gegner einsetzbar

Deshalb habe Gandhi die Engländer besiegen können, einem Hitler oder Stalin gegenüber sei Wahrheitskraft jedoch zum Scheitern verurteilt. Diesem Argument liegt die Vorstellung zugrunde, Wahrheitskraft beruhe auf einem moralischen Appell oder der Anwendung moralischen Drucks. Gandhi hat dieser Auffassung vehement widersprochen. Wahrheitskraft ist für ihn nicht subtile oder verdünnte Gewalt, sondern das Gegenteil von Gewalt. Sie schafft die Gewalt sozusagen wieder aus der Welt und zwar nach der schlichten Dreisatzregel: Wo wenig Gewalt ist, genügt auch wenig Gewaltfreiheit, um sie zu neutralisieren, wo viel Gewalt ist, bedarf es viel Gewaltfreiheit und wo sehr viel Gewalt ist, bedarf es sehr viel Gewaltfreiheit, um sie wieder aus der Welt zu schaffen (vgl. Gandhi, 1996, S.59).

Selbstverständlich kann auch ein gewaltfreier Kampf verloren gehen, doch nur, wenn die Satjagrahis resignieren, zum passiven Widerstand übergehen oder zur Gewalt ihre Zuflucht nehmen. Solange sie an der Wahrheit festhalten, können sie nicht wirklich verlieren, selbst wenn sie im Kampf ihr Leben verlieren; denn das Festhalten an der Wahrheit ist Sieg, das Loslassen der Wahrheit ist Niederlage. Die Erfolgsaussichten (im traditionellen Sinn des Wortes) eines gewaltfreien Kampfes sind allerdings umso größer, je mehr Menschen sich bereit finden, ihr Leben im Kampf einzusetzen und je besser sie vorbereitet und organisiert sind. Gandhi sieht hier bei allen Unterschieden in Zielen und Mitteln eine gewisse Parallele zum bewaffneten Kampf. Wie eine gewaltfreie »Schlacht« aussehen könnte, hat er mit dem Versuch, die Dharasana-Salzwerke im Zuge der Unabhängigkeitskampagne von 1930/31 zu erobern, vorexerziert (vgl. Fischer, 1951, S.286ff.). Diese Schlacht ging zwar verloren, da es den Satjagrahis nicht gelang, die Salzwerke zu erobern. Im Unabhängigkeitskampf Indiens spielte sie jedoch eine wichtige Rolle und trug durch indirekte Wirkungen zu seinem Erfolg bei.

Die Engländer waren übrigens keineswegs Menschenfreunde, die den rückständigen Indern die Segnungen der modernen Zivilisation bringen wollten. Sie waren rücksichtslose Kolonialisten, deren Hauptziel darin bestand, den indischen Subkontinent wirtschaftlich auszubeuten und in politischer Abhängigkeit zu halten. Sie bevorzugten allerdings das System indirekter Herrschaft, d.h. sie zogen eine Schicht von Indern heran, die dieses Geschäft für sie besorgten und daran kräftig verdienten. Dieser »Kompradorenbourgeoisie« gehörte der in London zum Rechtsanwalt ausgebildete Gandhi ja ursprünglich ebenfalls an.

Der relativ gewaltlose Verlauf des indischen Unabhängigkeitskampfes ist meines Erachtens auf die deeskalierende Wirkung der Gewaltfreiheit zurückzuführen. Hier wird folglich auf das Konto der Engländer verbucht, was in Wahrheit dem Konto Gandhis gutgeschrieben werden muss.

7. Die Zweck-Mittel-Kongruenz wird außer Acht gelassen

Ein Hauptargument gegen das Satjagraha-Konzept lautet, es sei außerstande, ein Land gegen einen militärischen Angreifer zu verteidigen. Gandhi bestritt diese Behauptung. Als Indien 1942 durch eine japanische Invasion bedroht war, entwickelte er in Grundzügen das Konzept einer Sozialen Verteidigung, das auf den Methoden des gewaltfreien und gewaltlosen Kampfes beruht. Richtig ist allerdings, dass Gewaltfreiheit ein denkbar ungeeignetes Mittel ist, Reichtum, Macht und Privilegien zu erwerben oder als Staat fremde Länder zu erobern sowie die Rohstoffversorgung des eigenen Landes zu sichern und den Zugang zu fremden Märkten und Transportwegen offen zu halten. Wer diese Ziele verfolgt, muss zu direkter oder indirekter Gewalt greifen. Andererseits gilt: Wer Frieden, Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechte erkämpfen oder verteidigen will, sollte zu gewaltfreien Methoden greifen. Mit Gewalt wird er sein Ziel niemals erreichen. Zwischen Mittel und Zweck, Weg und Ziel besteht ein ebenso enger Zusammenhang wie zwischen Samen und Pflanze. Die weit verbreitete Ansicht, die auch Max Webers Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik zugrunde liegt, dass nämlich der gute Zweck die bösen Mittel heilige, zumindest aber rechtfertige oder entschuldige, lässt Gandhi nicht gelten.

Das Missverständnis besteht in diesem Fall darin, Wahrheitskraft für eine Aktionsmethode zu halten, die für beliebige Ziele einsetzbar ist. Es ist zwar richtig, dass sie auf allen gesellschaftlichen Ebenen von der persönlichen bis zur globalen Ebene mit Aussicht auf Erfolg eingesetzt werden kann, vorausgesetzt, die von mir genannten Bedingungen sind erfüllt. Das heißt aber nicht, dass sie für beliebige Ziele einsetzbar ist. Was in den Augen der Kritiker der gravierendste Nachteil von Satjagraha ist, ist m.E. ihr größter Vorzug – vorausgesetzt, die angestrebten Ziele sind wirklich rein.

Schlussbemerkung

Wahrheitskraft im Kleinen wie im Großen Maßstab ist m.E. das Einzige, was die hilflos am Abgrund der Selbstvernichtung entlang taumelnde Menschheit noch retten kann. Doch, nüchtern betrachtet, ist das Verhängnis kaum abzuwenden. Es ist wie in der griechischen Tragödie. Es gibt einen Rettungsweg, der Held aber sieht ihn nicht, und selbst wenn er ihn sähe, könnte er ihn nicht gehen.

Literatur

Fischer, L. (1951): Das Leben des Mahatma Gandhi. München.

Gandhi, M. (1996): Für Pazifisten. Münster.

Jaspers, K. (1958): Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. München.

King, M.L. (1968): Freiheit! Der Aufbruch der Neger Nordamerikas. München.

Kraus, F. (Hrsg.) (o.J.): Vom Geist des Mahatma. Ein Gandhi-Brevier. Zürich.

Roberts, A. (Hrsg.) (1971): Gewaltloser Widerstand gegen Aggressoren. Probleme, Beispiele, Strategien. Göttingen.

Schweitzer, A. (2003): Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze, herausgegeben von Claus Günzler u.a. München.

Sharp, G. (1973): The Politics of Nonviolent Action. Boston.

Dr. Wolfgang Sternstein lebt als Konflikt- und Friedensforscher und Bewegungsaktivist in Stuttgart.

Castor neues Symbol der Anti-Atom-Bewegung

Castor neues Symbol der Anti-Atom-Bewegung

von Wolfgang Ehmke

Gab es in den Anfängen der Anti-AKW-Bewegung Standorte mit hohem symbolischen Wert (Wyhl, Brokdorf, Gorleben oder Wackersdorf), mobilisiert heute der »Castor« Tausende. Die Anti-Atom-Bewegung erlebt einen neuen Frühling. Der Name Castor steht für »Cask for Transport and Storage of Radioactive Materials«. Ein solcher Behälter für Transport und Lagerung hochradioaktiver abgebrannter Brennelemente wurde am 25. April 1995 zum ersten Mal aus dem AKW Philippsburg nach Gorleben transportiert. Der »Tag X« war von massiven Protesten nicht nur im Landkreis Lüchow-Dannenberg begleitet. Im Mai 1996 sollen zwei weitere Transporte auf der Schiene bis Dannenberg rollen. Dort müssen die Behälter – der eine aus Gundremmingen, der andere aus der Wiederaufarbeitungsanlage im französischen Cap de la Hague – umgeladen werden. Auf den letzten 18 km geht es über die Straße in das »Brennelementezwischenlager« nach Gorleben. Die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg mobilisiert deshalb für den »Tag X hoch 2«. Dem Doppelpack soll auch mit doppeltem Widerstand begegnet werden.

Zweifelhafter Entsorgungsbeitrag

Die Kritik am Castor-Konzept ist sehr facettenreich. Grundsätzlich wird bestritten, daß die »zwischenzeitliche Lagerung« in einer Lagerhalle ein veritabler Entsorgungschritt ist. Angesichts eines fehlenden Endlagers ist absehbar, daß die angestrebte Lagerzeit von 40 Jahren weit überschritten wird. Deshalb muß eine solche Lagerung auch unter dem Gesichtspunkt der Langzeitsicherheit betrachtet werden. In Gorleben sollen 420 Behälter auf engstem Raum gelagert werden. Werden alle Stellplätze in Gorleben – und das gleiche gilt analog für Ahaus oder Greifswald mit einer vergleichbaren Lagerkonzeption – genutzt, so wird dort grob geschätzt das radioaktive Inventar von 40 Atomkraftwerken der Biblis-Klasse konzentriert. Die Lagerhallen bieten nicht nur ein Ziel für terroristische Aktivitäten, sie sind auch gegen Flugzeugabsturz nur unzureichend geschützt. Natürlich – und dagegen richten sich auch die Proteste – sind die Atommülltransporte ein zusätzliches Sicherheitsrisiko. Die Aktionen der Castorgegner münden deshalb immer wieder in die zentrale Forderung: Schluß mit der Atommüllproduktion! Geht es um die Kokillen aus der Wiederaufarbeitung, so zielt die Blockade dieser Tranporte auf die Kündigung der Wiederaufarbeitsverträge zwischen deutschen Atomstromproduzenten und der französischen Plutoniumschmiede in Cap de la Hague bzw. dem britischen Sellafield.

Kritik am Castor

Das Behälterkonzept selbst steht in der Diskussion. Mit der Nutzung des Castors als Transport- und Lagerbehälter (TB) für abgebrannte Brennelemente sollen folgende Schutzziele im sogenannten „bestimmungsgemäßen Betrieb“ erreicht werden:

1. Verhinderung einer Kettenreaktion

2. Strahlenabschirmung

3. Abfuhr der Nachzerfallswärme

4. Dichter Einschluß des radioaktiven Behälterinventars. 

Möglichkeit einer Kettenreaktion

In einem TB sind 4, 9 oder 19 Brennelemente (BE) aus Druckwasserreaktoren auf dichtem Raum gepackt. Je nach Auslegung des Behälters gibt es auch unterschiedliche Typenbezeichnungen (Castor Ia, Castor IIa, Castor V/19). Ein Castor V/19 kann z.B. bei mittlerem BE-Abbrand ca. 10 t Uran enthalten, davon ca. 80 kg spaltbares U-235.

Eine Kettenreaktion würde ausgelöst, wenn von den durch spontane Spaltung freigesetzten Neutronen lawinenartig neue Spaltungen ausgelöst würden. Dies kann nach heutigem Erkenntnisstand auch nach Ansicht atomkritischer Wissenschaftler vermieden werden, vorausgesetzt, daß von den Vorschriften z.B. bei der Beladung des Behälters nicht abgewichen wird. Eine Kettenreaktion wäre das Verheerendste, was man sich vorstellen kann, da dann – nehmen wir den Castor IIa als Referenzbeispiel – ein Zehntel des radioaktiven Potentials freigesetzt würde, das in Tschernobyl austrat.

Abschirmung

Radioaktiver Zerfall von Kernen ist auch immer von radioaktiver Strahlung begleitet. Sie wird unterteilt in Alpha-, Beta-, Gamma- und Neutronenstrahlung.

Alpha-Strahler, z.B. Plutoniumstaub, sind Teilchenstrahler. Sie sind leicht abschirmbar, da sie nicht einmal durch ein Blatt Papier dringen. Gefährlich wäre die Freisetzung der radioaktiven Teilchen, würden sie eingeatmet oder verschluckt, nisten sie sich im Körper (z.B. Lunge) ein und verursachen Krebs.

Beta-Strahler sind ebenfalls Teilchenstrahler, nämlich die bekannten Elektronen. Auch diese Strahler sind nicht sehr durchdringend, aber biologisch sehr schädlich, wenn sie in die Haut eindringen oder inkorporiert werden. Das ist immer dann von Bedeutung, wenn die TB undicht werden und somit auch die Teilchenstrahler freigesetzt werden. Besondere Bedeutung in diesem Zusammenhang haben die gasförmigen Radionuklide Tritium (H-3), Krypton-85 und Jod-129.

Ich unterstelle – was weiter unten zu erläutern sein wird –, daß das Schutzziel „dichter Einschluß…“ nicht in jedem Falle einzuhalten sein wird. Damit ist auch eine Abschirmung der beta-Strahlung nicht hinreichend gewährleistet.

Gamma-Strahlung ist keine Teilchenstrahlung, sondern eine elektromagnetische Welle wie das Licht, aber wesentlich energiereicher und durchdringender. Durch die Abschirmung von 45 cm der TB-Behälterwände (Gußeisen) wird sie nur abgeschächt. Vor allem die Isotope Kobalt (Co-60) und Cäsium (Cs-137) bestimmen über Jahrzehnte die Gammastrahlung. Dieses Schutzziel, die Rückhaltung der Gammastrahlung, ist nicht einzuhalten, da machen uns die Behörden auch gar nichts vor. Es wird lediglich per Genehmigung festgeschrieben, welcher Schaden für die weitere Atomenergienutzung akzeptabel ist.

Das gleiche gilt auch für die Neutronenstrahlung. Die ganz schweren Kerne (Uran, Transurane) haben die Eigenschaft, daß sie auch ohne ein auslösendes Neutron in zwei oder mehr Bruchstücke unter Aussendung von Neutronen zerplatzen (Spontanspaltung). Die Neutronenstrahlung soll durch Bohrungen und Aussparungen im Deckel- und Bodenbereich der TB, die mit Kunststoff ausgelegt werden, gebremst werden. Trotz dieser Absorber durchdringt ein Teil der Neutronen die Behälterwand.

Nach der Genehmigung für das Castorlager in Gorleben darf die Dosisleistung an der Behälteroberfläche für Gamma-Strahlung maximal 0,1 mSv/h und für Neutronenstrahlung 0,15 mSv/h betragen.

Wird diese genehmigte Dosisleistung von den Betreibern voll ausgeschöpft, so hat das folgende Konsequenzen:

Ein Mensch, der sich vier Stunden lang in unmittelbarer Nähe eines TB aufhält, hat damit bereits die nach Strahlenschutzverordnung »zulässige« Jahresdosis erhalten. Für einen Atomarbeiter gelten aber andere Grenzwerte. Dieser hätte nach 200 Stunden Arbeit in unmittelbarer Nähe zum Behälter seine Jahresdosis abgekriegt. Als besonders strahlenexponiert sind anzusehen: Transportbegleiter (Fahrer von Atomtransporten, Rangierer bei der Bahn, Polizei) und natürlich die Arbeiter im AKW bzw. in Gorleben.

Über die biologische Wirksamkeit der Neutronenstrahlung ist durch den Marburger Nuklearmediziner Prof. Horst Kuni ein heftiger wissenschaftlicher Streit entfacht worden, der das gesamte Castorkonzept ins Wanken gebracht hat. Kuni hat nachgerechnet, daß die Bewertung der Schadwirkung von Neutronenstrahlung um den Faktor 30 höher liegen müßte, als es der heutigen Norm entspricht (gegenüber der Gammastrahlung wird heute als »RBW-Faktor« 10 angenommen, d.h. die Gefahr einer Schädigung durch Neutronenstrahlung liegt nur 10fach höher).

Nachzerfallswärme

Von den in einem Castor V/19 befindlichen Brennelementen darf in der Lagerhalle insgesamt eine Wärmeleistung von 39 kW (zur Veranschaulichung: ca 20 Haushaltsradiatoren) erzeugt werden. Um zu verhindern, daß die Brennstabhüllen platzen, muß die Brennstabtemperatur unter 390o bleiben. Die Temperatur der TB-Außenwand beträgt zwischen 65 und 80 Grad Celsius, im Einzelfall bis zu 100 Grad. Die Umgebungsluft in der Halle wird auf über 50 Grad aufgeheizt und mittels Konvektion abgeführt.

Zwei Probleme möchte ich in diesem Zusammenhang erwähnen. Damit die Luftkühlung funktioniert, darf es keinen „Wärmestau“ geben. Daraus erklärt sich auch das Konzept, einfache Leichtbauhallen (sogenannte »Kartoffelscheunen«) als Lagerhallen zu wählen. Da es keine Rückhaltemöglichkeit, keine Filtersysteme oder dergleichen gibt, ist zugleich klar, daß Radioaktivität ungehindert aus dem Lager austreten kann.

Dichter Einschluß

Nicht alles, aber vieles hängt also vom dichten Einschluß der Brennelemente ab. Nicht alles, denn die Gamma- und Neutronenstrahlung, aber auch die Nachzerfallswärme mit der Gefahr des Hüllrohr-Berstens wurde schon thematisiert. Betroffen sind aber in erster Linie die »strahlenexponierten« Personen; nur wenige Menschen kommen mit den TB in Berührung.

Schon anders stellt sich die Lage für Menschen dar, die mit einem Atommülltransport kollidieren, die entlang der Transportestrecken wohnen oder Anwohner der Atommülldeponie sind, vor allem wenn man die Annahmen der Betreiber in zwei weiteren Punkten in Zweifel zieht:

a) hinsichtlich der Hüllrohrschäden,

b) hinsichtlich der Dichtigkeit und des Werkstoffverhaltens des Deckelsystems.

zu a) In punkto Hüllrohrschäden wird in den Sicherheitsberichten in Gorleben eine geschätzte Schadensquote von 10% eingeräumt. Dagegen stehen andere Zahlen und Annahmen: Im Störfallbericht AKW Gundremmingen 1970 heißt es, beim BE-Wechsel sei bei 33 von 143 BE ein Schaden anzunehmen, 1971 bei 38 von 91 BE. Das sieht heute natürlich nicht mehr so schlimm aus. Trotzdem kann die Schadensquote von 10% keinesfalls als real angesehen werden, wenn ein Unfall unterstellt wird.

Bei einem Bruch der BE-Hülle werden in erster Linie die gasförmigen Nuklide Kr-85, J-129 und H-3 freigesetzt.

Was das im Hinblick auf eine Undichtigkeit der Deckel heißt, kann man sich leicht ausmalen.

Aber es gibt noch einen anderen Aspekt: werden die BE-Behälter nach Jahren, z.B. nach Ablauf der Lagerzeit von 40 Jahren, einmal umkonditioniert (in der »Heissen Zelle« einer Konditionierungsanlage), so können enorme Freisetzungsgrade auftreten.

Im Gegensatz zum Reaktorbetrieb, wo der Innendruck der BS den Kühlmitteldruck von ca. 160 bar teilweise kompensiert, besteht bei der Trockenlagerung ein Überdruck von 80 bis 90 bar im Innern des Hüllrohres. Dieser Druck ist temperaturabhängig. Bei zu hohen Temperaturen kommt es zur Kriechdehnung bis hin zum Bruch. Die Crash-Tests, bei denen BE-Behälter umkippen, vom Kran rutschen oder ein Transport in einen Unfall verwickelt werden, sollen demonstrieren, daß die Behälterwände extreme Belastungen aushalten. Nur: die Tests werden mit leeren Castorbehältern durchgeführt, die Hüllrohre im Innern würden nämlich zu Bruch gehen.

Korrosionsmechanismen werden außer acht gelassen:

In der Fachliteratur ist nachzulesen, daß Wasser z.B. aus dem Abklingbecken durch Mikrorisse ins Innere der BE eindringen kann. Z.B. ist das Alkalimetall Rubidium, ein Folgeprodukt des Zerfalls von Kr-85, in Verbindung mit Wasser chemisch sehr aggressiv.

zu b) Die entscheidende Schwachstelle der Castorbehälter liegt m.E. aber an anderer Stelle: trotz des ausgeklügelten Deckelsystems ist damit zu rechnen, daß Undichtigkeit auftritt, und zwar im Normalbetrieb. Mit anderen Worten, man braucht nicht einmal die Unfallszenarien zu bemühen (was wäre z.B., wenn der Deckel und nicht die Behälterwand aus Gußeisen auf einen Dorn stürzt?).

Die Castorbehälter werden im Innern mit einer Nickelschicht gegen Korrosion versehen. Es ist fraglich, wie diese Nickelschicht auf dem Gußeisen haftet. Die Behälterdichtung ist aber auf dem Nickel und nicht auf dem Gußeisen aufgebracht. Wenn eine solche Nickelschicht im Behälterinneren bricht oder Risse bekommt, nützt die schönste Dichtung nichts, weil die radioaktiven Gase zwischen Gußeisen und Nickelbeschichtung unter der Dichtung nach außen dringen können. Prof. Elmar Schlich, einst Projektleiter der »Nukem« zur Entwicklung eines alternativen Brennelementbehältertyps (»TN 1300«) hat im Rahmen seiner Entwicklungsarbeiten aus diesem möglichen Störfall – der im übrigen nicht einmal feststellbar ist (!) – die Konsequenzen gezogen. Seine Alternativentwicklung »TN 1300« wurde aber ad acta gelegt, weil sie 50% teurer wäre und einen neuen Stand von Technik definiert hätte, die die Zwischenlagerplanungen in Ahaus und Gorleben über den Haufen geschmissen hätte. Prof. Schlich, der heute an der TU Aachen lehrt, gab zu bedenken: selbst bei einem simplen Dampfdrucktopf sitzt die Gummidichtung auch bei emaillierten Töpfen in einem Edelstahldeckel und nicht auf der Emaille.

Am Ende muß der aufgeschweißte Deckel (Fügedeckel) mit einer Stärke von 30 mm die Dichtigkeit garantieren. Das kann er aber nicht. Hier gilt wieder einmal: Wirtschaftlichkeit geht vor Sicherheit.

Grundrechte in Gefahr

Schon der erste Castortransport von Philippsburg nach Gorleben war von einem weitreichenden Demonstrations- und Versammlungsverbot begleitet. Entlang der Transportstrecke und rund um das Brennelementezwischenlager in Gorleben war das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit außer Kraft gesetzt. Für die nächsten Transporte ist mit erneuten Einschränkungen der Demonstrations- und Versammlungsfreiheit zu rechnen. Obwohl die Veranstaltungen der Bürgerinitiative Umweltschutz (BI) in der Vergangenheit überwiegend friedlich verlaufen sind, unterstellt die Bezirksregierung Lüneburg einen kollektiv unfriedlichen Verlauf. Eine derartige Verbotspraxis ist bereits im Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1985 verworfen worden. Die Bürgerinitiative klagt deshalb vor dem Verwaltungsgericht Lüneburg gegen die verfassungswidrigen Versammlungsverbote. Die Annahme, daß ein elementares Grundrecht polizeitaktischen Erwägungen geopfert wird, ist nicht von der Hand zu weisen. Welches Dilemma entsteht, wenn Demonstrationen in unmittelbarer Nähe eines stark radioaktiv verstrahlten Objekts stattfinden, hatte Prof. Jürgen Seifert (Hannover) in einer Expertise für das niedersächsische Innenministerium in April 1992 festgehalten: Die Demonstrationen unterliegen schon aus Gründen der Gefahrenabwehr Restriktionen! Der Atomstaat, wie ihn Robert Jungk prophezeite, tritt nunmehr in Erscheinung:

  • als Demonstration staatlicher Gewalt (14.000 Beamte waren im vergangenen Jahr entlang der Transportestrecken im Einsatz);
  • in Form eines die Grundrechte verletzenden Versammlungsverbots und einer „Güterabwägung“ zugunsten des ungehinderten Transports radioaktiven Materials.

Zu welchen Kapriolen sich die bedrängte Landesregierung in Hannover hinreißen läßt, zeigt die aktuelle Debatte um die Änderung des niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes. Die SPD-Landtagsfraktion hat dazu einen Entwurf vorgelegt, der Aufenthaltsverbote von Personen für Gemeinden vorsieht, „wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß diese Person dort Straftaten begehen oder zu ihrer Begehung beigetragen wird“. Der Katalog vermeintlicher Straftaten wird flexibel gestaltet, um entsprechend flexibel reagieren zu können. Die Castorgegner/innen gehen davon aus, daß sich diese Gesetzesänderung nicht nur – wie stets behauptet – gegen Veranstaltungen wie die der alljährlichen »Chaostage« in Hannover richtet. Die „Chaoten von morgen“ sind mit Sicherheit wir!

Der Kampf gegen Atomtransporte und für den Ausstieg aus der Atomenergie ist von daher unweigerlich auch ein Kampf gegen den Abbau demokratischer Rechte.

Wolfgang Ehmke ist Pressesprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Danneberg

Angeklagt wegen »Geheimnisverrats«

Angeklagt wegen »Geheimnisverrats«

Russischer Chemiker nach internationalen Protesten aus der Haft entlassen

von Reiner Braun

Am 23.2.1994 wurde Vil Mirzajanov aus der Haft entlassen. Der Bericht soll einen Überblick über die Ereignisse der letzten Wochen geben, u.a. über den Prozeß, an dem ich eine Woche als Prozeßbeobachter teilnahm. Dabei hatte ich die Gelegenheit zu vielfältigen Gesprächen mit Journalisten, Wissenschaftlern, »Bürgerbewegten« und den Angehörigen der Familie Mirzajanov.

Mit der aufsehenerregenden Enthüllung, daß die russische Militärführung und in der Militärforschung tätige Wissenschaftler auch nach der Unterzeichnung des weltweiten Abkommens über den Abbau bzw. Vernichtung der chemischen Waffen weiterhin an der Entwicklung verheerender C-Waffen bzw. Elemente dafür forschen, wandte sich V. Mirzajanov am 20.9.1992 an die Öffentlichkeit.

V. Mirzajanov arbeitete zusammen mit seinen Kollegen Wladimir Uglew und Wladimir Petrenko am Staatlichen Wissenschaftlichen Forschungszentrum für Organische Chemie und Technologie (GSNIIOHT). Sie verloren sofort nach der Enthüllung ihre Arbeitsplätze. Die drei Wissenschaftler informierten, daß in dem Moskauer Teil des Instituts GSNIOHT neue Nervengase entwickelt werden. Diese sind chemisch zwar mit dem auch von den Amerikanern gelagerten Nervenkampfstoff VX verwandt, besitzen aber eine andere Struktur. Dies macht sie einerseits im Feldtest etwa noch acht- bis zehnmal stärker als das bisher giftigste Kampfgas VX. Es führt andererseits aber auch dazu, daß diese Chemikalien oder deren chemische Vorstufen im Gegensatz zu allen anderen bekannten Kampfstoffen nicht in den Listen verbotener chemischer Verbindungen enthalten sind, die einem Ausfuhrverbot aus Rußland unterliegen. Auf der Basis dieser Kampfstoffe sind außerdem Binärwaffensysteme bis zur Einsatzreife entwickelt und getestet worden. Bisher war von offizieller russischer und vorher sowjetischer Seite bestritten worden, daß in Rußland auch nur an der Entwicklung binärer C-Waffen gearbeitet werde. (Binäre C-Waffen bestehen aus zwei Komponenten, die sich beim Einsatz mischen und erst dann ihre tödliche Wirkung entfalten.)

Im Moskauer Zentrum wurden nach Angaben von Mirzajanov Mengen dieses supertoxisch tödlichen Kampfstoffes gelagert, die theoretisch ausreichen, um die gesamte Bevölkerung dieser Acht-Millionen-Stadt zu töten. Mirzajanov wurde am 22.10.92 wegen des Artikels in den Moskau-News verhaftet und seine Wohnung durchsucht. Er blieb zunächst bis zum 1.11.92 in Haft. Ende Januar 1993 wurde er aus der Haft entlassen.

Die von dem Kollegen Mirzajanov gemachten inhaltlichen Aussagen über die neu entwickelten Nervengase wurden am 5.2. dieses Jahres von Wladimir Uglew bestätigt, der selbst Miterfinder dieser Kampfstoffe ist und mehr als 15 Jahre an deren Entwicklung mitgearbeitet hat. Da er als Volksanwalt Immunität besaß, hat er bislang nicht verhaftet werden können. Ihm ist allerdings bereits untersagt worden, seine Arbeitsstätte zu betreten. Auch gegen ihn läuft ein Ermittlungsverfahren wegen Geheimnisverrats.

Der dritte bedrohte Wissenschaftler ist Wladimir Petrenko, seit vielen Jahren Chemiker in dem Zentralen Forschungsinstitut für Tests der Chemiewaffen-Einheiten des Verteidigungsministeriums in Wolsk-17 (hier eher bekannt als Schikanij-19). Petrenko leidet seit 1982, dem Jahr, in dem er als Versuchsperson selber Proben neuer Giftstoffe einatmen mußte, an einer Vielzahl von Krankheiten. Die Geschichte des an ihm durchgeführten Menschenversuchs ist im Januar diesen Jahres von dem Journalisten Sergej Michailow in der Wochenzeitung Business News in Sartow beschrieben worden. Michailow wurde daraufhin des Geheimnisverrats angeklagt. Petrenko hat aufgrund des Artikels seinen Arbeitsplatz verloren. Vor gerichtlicher Verfolgung schützt ihn (wie Uglew) zur Zeit noch sein Status.

Die Naturwissenschaftler-Initiative hat die russischen Kollegen seit Anfang 1993 materiell, individuell und politisch unterstützt. Uns ist es im Laufe der Jahre durchaus geglückt, eine breitere Medienöffentlichkeit für die Kollegen herzustellen; dies führte auch zu interessanten Reaktionen aus der Politik (s.u.) Motiv für unser Engagement war, daß die Aktivitäten an dem russischen Institut – die sicher nicht ohne Wissen der Regierung stattfinden – zumindest gegen den Geist des weltweiten Abkommens zur Vernichtung chemischer Waffen verstoßen, für dessen Zustandekommen sich die Naturwissenschaftler-Initiative seit 10 Jahren eingesetzt hat. Engagement und Mut der Kollegen lassen sich als Beispiele für verantwortungsbewußte Zivilcourage bezeichnen und bedürfen unserer Meinung nach einer großen Unterstützung, zeigen sie doch, wie sich Kollegen aus Verantwortung für die Folgen ihres Tuns engagieren.

Der Prozeß

Seit dem 6.1.94 stand V. Mirzajanov vor dem Moskauer Bezirksgericht, am 27.1.94 wurde er erneut inhaftiert. Nachdem alle seine Anträge auf Befangenheit der Richter, die dem KGB angehört haben sollen – dieselbe Organisation, die maßgeblich den Prozeß vorbereitete, abgewiesen wurden, nachdem der Antrag seines Anwalts auf Einsetzung eines unabhängigen Wissenschaftlergremiums verworfen wurde, weigerte sich Dr. Mirzajanov, an den Verhandlungen teilzunehmen (siehe nebenstehende Erklärung).

Der Gerichtsprozeß entscheid, daß V. Mirzajanov auch weiterhin in Haft bleibt!

Der Verteidiger Mirzajanovs, der russische Menschenrechtsanwalt Alexander Asnijs, wertete dies als »Bestrafung ohne Urteil«. Er verwies darauf, daß alle Gründe für die Verhaftung Mirzajanovs, v.a. seine Ankündigung, wegen Verzichts auf eine umfassende Beweisaufnahme nicht vor Gericht zu erscheinen, entfallen waren. Mirzajanov teilte dem Gericht mit, daß er – da durch die Beweisaufnahme und durch die Expertenanhörung russischer Offiziere und in der Rüstungsforschung tätiger Wissenschaftler seine Behauptungen der Fortsetzung binärer russischer Waffenforschung bestätigt wurden – vor Gericht erscheinen werde.

In einem dramatischen Appell verwies er auf die skandalösen Haftbedingungen im Lubjanov-Gefängnis: „Den Fraß kann man nicht als Essen bezeichnen. Zucker habe ich schon seit 10 Tagen nicht mehr bekommen.“ Er sagte, daß er sich an das Rote Kreuz wenden will, um eine Überprüfung der Haftbedingungen zu erreichen, die nicht dem internationalen Standard entsprächen.

Dieser Schritt trug mit zu seiner Haftentlassung bei, sollte doch nicht die ungleichmäßige Behandlung von politischen Häftlingen (»Putschisten« gegen Gorbatschow, »Verteidiger« des Weißen Hauses) und Mirzajanov sowie »normalen« Häftlingen zu deutlich werden.

Öffentlichkeit ja, aber noch nicht genug

Der Prozeß fand unter dem erheblichen Druck der russischen Öffentlichkeit statt, die nach monatelangem Schweigen der offiziösen Presse und des Fernsehens letztendlich doch über den Vorgang informiert wurde und sich zunehmend kritisch – zumindest zu dem formalen Vorgehen des Gerichts, u.a. Anklage auf Grundlage von Gesetzen, die vorher nicht öffentlich bekanntgegeben waren – äußerte. Angemerkt sei hier aber auch, daß es keine konkrete Unterstützung von Mirzajanov durch die russische Scientific Community gab, weil sein Vorgehen durchaus als »Landesverrat« oder als »gegen nationale Interessen der Großmacht Rußland« gerichtet angesehen wird.

Statement of Vil Mirzajanov

Judges of the Court! Today the Moscow City Court has refused me and my lawyer Aleksandr Asnis the consideration of our most elemantary petitions regarding the violation of my right of defense under Statute 20 of the Criminal Code of the Russian Federation – to have a thorough, full and objective investigation of all circumstances of the case. You rejected even our request to attach to the case the five normative acts, which serve as the basis on which our accusation is made, and which therefore cannot serve as the basis for an arraignment of a person for criminal responsibility, since they have never been published in the official form as required by Article 15 par. 3 of the Constitution of the Russian Federation.
And so you commit a criminal act by your cynical violation of the constitution of the Russian Federation. My efforts to prevent the mockery and dersion of comon sense and human rights in a civilized world are defeated by us and I must come to the conclusion that the only possible option for me is not to participate in this event. Therefore I am informing you that from this point on I will not appear in the court proceedings nor will I be a willing accomplice to a criminal act that violates the basic laws of the Constitution of the Russian Federation.24.1.1994, Signature of Vil Mirzajanov (Translation)

Schon längere Zeit hat es, ausgehend v.a. von der Naturwissenschaftler-Initiative in Deutschland und der Federation of American Scientists in den USA – politischen Druck und Aktivitäten gegeben. So schaltete sich das Auswärtige Amt mehrfach ein und wandte sich an das Auswärtige Amt Rußlands und an das Präsidentenbüro Jelzins. US-Präsident Clinton sprach die Inhaftierung bei seinem Staatsbesuch bei Jelzin an und das EG-Parlament verabschiedete eine sehr kritische Erklärung. Die Liste auf der Ebene der Politik läßt sich fortsetzen. Im Prinzip wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, in welche Richtung sich eigentlich das »neue Rußland« entwickele. Unterstützung fand Mirzajanov auch in der Wissenschaft. Schreiben an Jelzin liegen u.a. von der Gesellschaft Deutscher Chemiker, American Chemical Society, American Physical Society, American Association for the Advancement of Science und der International Science Foundation vor.

Ins Rollen gebracht – wenn auch sehr langsam – wurde die Unterstützung durch die kritischen Wissenschaftlerorganisationen. Weitere Hilfe und Unterstützung ist notwendig, wenn wir Dr. Mirzajanov auf dem Kongreß »Wissenschaft und Verantwortung« begrüßen wollen.

Völlig ungeklärt ist die politische und wissenschaftliche Frage. Wird in Rußland immer noch an der Entwicklung chemischer Waffen geprobt oder sogar getestet? Die Auseinandersetzung ist noch lange nicht beendet.

Geldspenden auf das Hilfsfond-Konto Stichwort »Dr. Mirzajanov«, Prof. Hirschwald, Kto.-Nr. 4633270700, BLZ 100 200 00 bei der Beliner Bank.

Reiner Braun ist Geschäftsführer der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden«.

Ernst Bloch: Widerstand und Friede

Ernst Bloch: Widerstand und Friede

von Karl Brose

Blochs Konzept einer Friedenserziehung ist an dessen Philosophie der Hoffnung und konkreten Utopie gebunden. Eine solche Rückbindung läßt die Friedenserziehung nicht in die Irre pädagogischer Partikularprobleme von Didaktik und Methode laufen. Ferner liegt in der Philosophie Blochs ein positiver Ansatz zur Friedenserziehung vor: Frieden wird als sozialer Frieden, konkrete Hoffnung und Gerechtigkeit verstanden durchaus mittels Revolte und Widerstand – in Abgrenzung von einem bloß negativen Frieden der Abwesenheit vom Krieg, einem ständigen Waffenstillstand und latent vorhandenem Krieg, der nur auf seine Stunde wartet, wenn die Waffen scheinbar schweigen. Es ist dieses Moment eines positiven Friedens in der Philosophie Blochs so stark hervorzuheben, weil auch die negative Dialektik der Kritischen Theorie der sog. „Frankfurter Schule“ äußerst wirkungsvolle Begriffe des Widerstands, Nichtmitmachens und Neinsagens bietet1. Diese negativen Widerstandsbegriffe der Kritischen Theorie sollen im folgenden durchaus ergänzend und erweiternd mit einbezogen werden. In einem 1. Hauptteil ist stärker der philosophische Aspekt das Friedenskonzepts Blochs herauszuarbeiten, im 2. Teil der pädagogische Impuls.

I. Der philosophische Impuls des Friedensdenkens Blochs

1. Theologische Ansätze: Kampf gegen den Krieg

Bloch will in seiner Friedensrede Widerstand und Friede 2 ein Philosophieren der Hoffnung, das den Kampf braucht zum Frieden. Dieser Kampf ist nicht Krieg, sondern sozialer Kampf. Er reicht vom Streik bis zu den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Durch ihn soll das Ziel des sozialen, ja sozialistischen Friedens (S. 91) hergestellt werden. Diesen Gegensatz zwischen Kampf und Krieg verdeutlicht Bloch an Beispielen des Alten Testaments: „Es soll aber das Recht offenbart werden wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom“; dann werden die „Schwerter zu Pflugscharen und die Spieße zu Sicheln“ und werden die Völker „nicht mehr Krieg lernen“ (Amos 5,24; Jesaja 2,4; Micha 4,3). Diese Aufrufe der Alten Propheten zum Kampf gegen den Krieg sind für Bloch noch immer unabgegolten in bezug auf Zukunft. Sie bleiben eine konkrete Hoffnung im Kampf um sozialen Frieden, wie er heute nicht nur sichtbar wird in den marxistischen Ansätzen einer „Theologie der Befreiung“ in Lateinamerika, sondern auch in dem an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht entzündetem Kirchenkampf in Ostdeutschland. Diesen Kampf gegen den Krieg fundieren auch die Worte des Neuen Testaments: „Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, es brannte schon!“; „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (Lk 12,49; Mt 10,34). Bloch sieht hier den Kampf der Mühseligen und Beladenen gegen den Profit der Reichen und Besitzenden. Dieser reale Kampf für den Frieden ist in seinem „einzig moralischen Widerstandsrecht“ (S. 87) vom Krieg weltweit unterschieden; auch vom sogenannten Verteidigungskrieg. Es ist schon fast eine Form von Aggression, mindestens aber von Furcht, in dieser Verteidigungshaltung ständig zu verharren und zu ihr bereit zu sein. Die hochgerüsteten Staaten leben nur im Scheinfrieden und Waffenstillstand. Kampf jedoch erwartet die Befreiung von Krieg und Furcht nicht von jenen Mächten, die diese Furcht und diesen Krieg überhaupt erst erzeugt haben.

2. Kant und Marx: Moral der Gesellschaft contra Macht der Bürokratie

Bei seinem Kampf gegen den Krieg zitiert Bloch den „unbedingten Antibellisten“ und „radikalen Pazifisten“ Kant (S.87f.) über die Französische Revolution: sie findet in den „Gemütern aller Zuschauer (…) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.“3 In diesen Worten sieht Bloch eine Verbindung des kategorischen Imperativs mit der Erstürmung der Bastille (S. 88). Aber es handelt sich um nichts Kriegerisches, sondern um einen Kampf aus moralischen Anlagen. Kants Traktat Zum ewigen Frieden will eine internationale Kodifizierung des Nicht-Kriegs, nach der die Politik keinen Schritt tun kann, „ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben.“4 Dieses moralphilosophische Friedenskonzept ist für Bloch zwar noch eine abstrakte Utopie, weil bei Kant die „ökonomische Analyse des Kriegstreibenden“ (S. 89) fehlt. Aber Kants Friedenskonzept zeigt auch die Denunzienung des mit dem Ökonomischen nicht allein erschöpften Faktors der Macht, deren Besitz das „freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.“5 Macht und Gewalt sieht auch Marx als Faktoren, die zur ökonomischen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung hinzukommen, als unterdrückende Instanzen und Institutionen. Diese zeigen sich am deutlichsten, wenn es um ihre Verhinderung geht, um die Herausführung der Gesellschaft aus der bisherigen Geschichte als einer „Vorgeschichte“ in eine auf Zukunft gerichtete wirkliche Geschichte.

Diese marxistische Argumentation dehnt Bloch, ausgehend von Kant, auf die Macht der Bürokratie aus als eine neue verdinglichte Herrschaftsklasse, eine „Selbstunterhaltung von Macht an sich“ und Konservierung bisherigen Machtstaatsdenkens, „das am besten die sozialistische Vernunft verdirbt“; letztere ist aber die „geplante Vernunft zum wirklich zwischenmenschlichen Frieden“ (S. 90). Gegen diese sozialistische und sozialhumane Vernunft und deren Friedensstiftung steht als das „stärkste Machtgift“ (S. 91) die fest etablierte militärische Befehlsgewalt: ein verdinglichter Belagerungszustand und unerträglicher Autoritarismus der Herrschaft von Menschen über Menschen. Soll Kants Satz gelten „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst Verschuldeten Unmündigkeit“5, so muß dieser kategorischer Imperativ des Friedens ergänzt werden durch den Marxschen „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, denn weiter lautet dieser neue politisch-ökonomische Imperativ von Marx für ein sozial-humanes Dasein und damit den wirklichen sozialistischen Frieden: „Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt; nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.“7

Kants Sätze wollen den Frieden so moralisch erreichbar wie möglich und den Menschen – wie auch bei Marx – in „unerniedrigter Vernunft“(S. 92). Zwar noch als Utopikum bei Kant; aber bei Marx wird deutlich daß dieses Utopikum schon allzulang ein „Fernziel“ gewesen ist, daß Frieden und Vernunft „Nahziele“ werden müssen: daß Friedensschlüsse nicht nur weiterhin als Waffenstillstände geschlossen werden dürfen sondern das Bewußtsein der Gesellschaft dahingehend verändert wird, daß Kriege abschaffbar und Waffen überflüssig sind.8

3. Fernziel und Nahziel in Blochs Philosophie der Hoffnung

Angesichts des bisher immer vorenthaltenen Fernzieles Frieden geht es jetzt um das Nahziel Frieden. Der nächste Schritt dazu lautet: besseres Leben, Menschenwürde contra Ausbeutung, „Freiheit vom Erwerb statt des Erwerbs“ (S. 92). Oder marxistisch: „Weltveränderung“ statt nur „Weltinterpretation“ 9. Neben dem moralischen Impuls von Fernzielen, wofür das Friedenskonzept Kants stehen mag, sind unabdingbar die institutionellen Nahziele, der „Marsch durch die Institutionen“: gesellschaftliche Entwicklung und Veränderung, wenn möglich Evolution. Wenn nicht anders möglich: Revolution, die ja nicht unbedingt blutig zu sein braucht (S. 108). Denn nicht die Revolutionen haben bisher am meisten Blut vergossen, sondern die Kriege und Gegenrevolutionen. Weltveränderung als Nahziel statt bloßer Weltinterpretation als Fernziel will jedenfalls ausreichend gesellschaftlich produzierten Reichtum für alle, wodurch sich die Ausbeutung des Nächsten als unproduktiv erweist.

Dazu müßte die „Kategorische Fortschritt“ (S. 93, S. 108) 10 wieder in ihr Recht eingesetzt werden. Gerade das Fortschrittsdenken als ein Prozeßdenken vermittelt in sich Fernziele und Nahziele auch des Friedens, so daß die jeweils lebende Generation nicht für „Fernziele ganz jenseits ihres kurzen Lebens verheizt werden kann“ (S. 93). Wenn wiederum das Fernziel und Utopikum „realer Humanismus“ nicht in Verbindung mit den Nahzielen des gesellschaftlichen Fortschritts gesehen wird, so bleibt es ein eudämonistisches Abstraktum. Friede aber sowohl Fernziel wie Nahziel in sich vereinigen, sonst bliebe er unter sich: „Friede ist deshalb auch keineswegs, wie bloßer Nicht-Krieg, die Ruhe als mögliche Schalheit, vielmehr: die Ruhe – dieses tiefste Fernziel im Frieden selber – wird dann erst das Problem des Beisichseins.“ (S. 94) Nur in solcher Konkretion und Vermittlung von Nahziel und Fernziel wirkt Friede, zählen Werke eines solchen Friedens und von Friedenszeiten in der Kultur, wie Bloch an Goethes Gedicht Ober allen Gipfeln ist Ruh zeigt. Hier bedeutet Ruhe nicht traumloser Schlaf und Kirchhofsfrieden, sondern das „unentdeckte, unerforschte Land Ruhe, das in den Tiefen der Tiefe von Frieden wirkt.“ (110) Es handelt sich um eine Vita activa in der Vita contemplativa, die nicht nur in großer Dichtung und Philosophie leben, in Erziehung oder Christentum, sondern auch in den ostasiatischen Religionen, aus denen zu lernen ist, „was utopischer Inhalt von Friede ist außer der Bibel“ (110).

Blochs inhaltlich-konkrete Utopie eines sozial-humanen und sozialistischen Friedens heißt Hoffnung. Diese ist freilich oft noch vielsagend, unausgetragen und unfertig. Im Reifezustand aber kann sie vorher bemerkt und antizipiert werden. Dann zeigt sich ihre begriffliche Vielfalt und abstraktlose Praxeologie als Grundlage einer geprüften, erprobten, dem „Objektiv-real-Möglichen“ und „Noch-nicht-Seienden“ vermittelten Friedenskonzeption. Diese stützt Bloch auf Kants Bild der „Verstandeswaage“ mit der Aufschrift „Hoffnung der Zukunft“11. Diese Kantische Kraft der Hoffnung muß noch erforscht und weitergetrieben werden. Ein falscher Friede mit der Welt der Vorhandenheit muß zugunsten der Anlage zur besseren Zukunft verschoben werden, zu dem in ihr noch Ungeschehenen, Unentdeckten und Neuen. Dann wird auch die bloße Abgeschlossenheit einer Fakten- und Mechanismuswelt konstitutiv ergänzt, ja prozeßhaft-dialektisch gesprengt (S. 96). Dann kann die Unrichtigkeit von nur leeren Hoffnungen sich umkehren, indem die bloße Faktenwelt als unwahr geworden erkannt wird. Es zeigt sich die konkrete Utopie des Friedens in Allianz mit allem Heilenden und Heilsamen, das zwar noch nicht voll geworden, aber auch noch nicht ganz vereitelt ist. Unzufriedenheit und nicht die leicht zu entwickelnde Zufriedenheit sowie „Widerstand der sozial-humanen Vernunft, aktiv, ohne Ausrede“ (S. 85) 12 messen der Hoffnung auf Frieden ihren wahren und wirklichen Stellenwert in der Welt zu.

II. Der pädagogische Impuls des Friedensdenkens Blochs

1. Ansätze einer philosophischen Friedenserziehung

Blochs positiver Friedensansatz 13 steht gegen einen bloß negativen des Nichtkriegs oder der Abwesenheit vom Krieg. In seine Argumentation fließt ein Moment von pädagogischer Aufklärung, Bildung und Erziehung ein: „Daß aber auch der Friede ein anderes als Nicht-Krieg sei und werde, dazu gehört kausale wie erst recht finale Aufklärung ohne Unterlaß“ (S. 97). Der Rückgriff Blochs auf Kantische Vernunft und Aufklärung, verbunden mit einem marxistisch-pädagogischen Inhalt, leitet zu seinem erziehungsphilosophischen Friedens- und Bildungskonzept über; danach müssen die Menschen gebildet und erzogen werden, um die ungebildeten, d.h. unfriedlichen Verhältnisse zu verändern und umzubilden, d.h. zu humanisieren und zu sozialisieren: „Und wenn die Verhältnisse die Menschen bilden, so hilft nichts als die Verhältnisse menschlich zu bilden, es lebe die praktische Vernunft“ (S. 97). Auf diese praktische Vernunft Kants sowie den marxistischen Impuls der Humanisierung gesellschaftlicher Verhältnisse sollte sich die künftige Friedenspädagogik zurückbesinnen, ehe sie zu handeln beginnt. Blochs Philosophie der Hoffnung ist eine konkrete d.h. hier und heute wirkende und das gegenwärtige pädagogische Handeln bestimmende Utopie. Sie Gibt diesem einen neuen, das Neue und Utopische antizipierenden Sinn, der den Frieden aus einer bloß abstrakten Utopie herausholt. Blochs Hoffnungsphilosophie verankert die konkrete Utopie des Friedens und der Erziehung in Vernunft und Erziehung 14, ohne die Zukunft auszusparen. Sie geht von Erfahrungen des faktisch Möglichen und Erreichbaren in Politik, Ökonomie und Gesellschaft aus, ohne dabei stehenzubleiben. Blochs konkrete Utopie der Hoffnung, Zukunft und des Friedens ist ein realer „Traum nach Vorwärts“, der sich tätig pädagogisch-praktisch an das geschichtlich Fällige und gesellschaftlich Erforderliche anschließt, an das noch nicht Erreichte, noch Verhinderte und „Noch-Nicht-Bewußte in Jugend, Zeitwende, Produktivität.“15 Es handelt sich um eine realistische Antizipation des Gesollten und Gewollten, die sich in gegenwärtig zu verwirklichenden Nahzielen der Erziehung und utopisch gesättigten Fernzielen der gesamtgesellschaftlichen Veränderung niederschlägt. Pädagogische Beispiele sind: Vorurteilsabbau, Aggressionsbewältigung, Entscheidungshilfe, Einübung sozialen zwischenmenschlichen Friedens“ (S. 90) durch Erziehung zu mitmenschlicher und Umweltverantwortung, durch Befreiung von ungerechten repressiven Zwängen sowie Bildung von Formen qualifizierten Ungehorsams und rationalen Widerstands. Dabei geht es nicht kleinmütig zu: „Nur sanft sein heißt noch nicht gut sein. Und die vielen Schwächlinge, die wir haben, sind noch nicht friedlich (…). Daneben überall die vielen Duckmäuser, sagen nicht so und nicht so, damit es nachher nicht heißt, sie hätten so oder so gesagt. Leicht gibt sich bereits als friedlich, was mehr feig und verkrochen ist.“ (S. 84)

2. Friedenserziehung als Erziehung zu Vernunft und Verantwortung

In Blochs Philosophie der Hoffnung ist Frieden geleitet von kritischem und aufgeklärtem Bewußtsein, von erkannter und gelebter Vernunft und handlungsbereiter Verantwortung. Wiederum ist Frieden jenes Fernziel und Utopikum das als Regulativ und Imperativ menschlichen Handelns allgemeine Geltung beanspruchen kann. Wenn der Vernunft und Verantwortung ein Geltungsanspruch innewohnt, dann fordert er den Kampf gegen die vom Menschen selbst verschuldete Unmündigkeit“ und Unverantwortlichkeit, gegen dessen „Faulheit, Feigheit und Bequemlichkeit.“16 Erfordert ist der vernünftige Widerstand gegen Mitläufer, Stille und Sanfte im Lande, die dies nur aus Feigheit und Angst sind, wie Bloch an den Konsequenzen des Nationalsozialismus zeigt: „Also aus dem stillen Muff kam etwas ganz anderes, da wurde es plötzlich auf tödliche Art laut (…) so haben wir nicht gewettet mit dem Frieden, so nicht, wenn man nur auf ruhige Luft setzt.“ (S. 100)

Wie tragfähig ist die Hoffnung auf Vernunft, Verantwortung und Frieden, wenn in historischer Rückschau der Vernunft und Friedenswilligkeit Schlappheit und Inkompetenz in der Bewältigung essentieller Lebensprobleme nachzuweisen sind? Nur ein konkretes Hoffnungsprinzip, kritisches Vernunftverhalten und soziales Verantwortungsgefühl können diese Frage positiv beantworten, sind höher zu achten als die Negativität des Erfahrenen und Erfahrbaren. Nur in einer solchen philosophischen wie pädagogischen Grundhaltung lassen sich aus dieser Negativität Ansätze zur Positivität herausarbeiten, in denen Vernunft und Verantwortung, Hoffnung und Frieden verankert sind. Diese Realien und Realitäten lassen sich freilich nicht plötzlich aus den gesellschaftlichen Verhältnissen hervorbringen. Vielmehr sind sie abhängig vom bewußten Handeln jedes einzelnen Friedenserziehers angesichts einer noch immer ohnmächtigen Menschheit und Gesellschaft der „Verdammten dieser Erde“. Auf tausend Kriege kommen nicht zehn Revolutionen: So schwer ist der „aufrechte Gang“

3. Kritischer Ausblick: Möglichkeit und Wirklichkeit künftiger Friedenserziehung

Das für Entwicklung und Fortschritt, Bildung und Erziehung der Gesellschaft verantwortliche Individuum des aufrechten Ganges folgt im Sinne Blochs zu jeder Zeit und an jedem Ort dem Utopikum sozial-humaner Vernunft. Es will im Widerstand gegen das schlechte Bestehende einen besseren künftigen Zustand der Gesellschaft herbeiführen und damit das Ziel des sozialen und sozialistischen Friedens in ausgewogener Synthese von Nah- und Fernzielen einlösen. Sind diese Ziele und Aufgaben bloße Spekulationen? Nach Bloch bedarf es des „Noch-nicht-Seienden“ und der konkreten Utopie. Denn der Utopismus ist in Utopie großgeworden, und die Philosophie ist spekulativ, indem Probleme des Noch-nicht-Seins ihr zentrales und nicht nur empirisches Arbeitsgebiet sind: Sie hat ein utopisches Fenster auf eine Landschaft hin, die sich erst bildet. Utopisches Denken und Handeln wird durch Schaden und Leiden an den Tatsachen zwar klug und zurechtgerückt, doch nicht durch die Macht des Bestehenden widerlegt. Vielmehr widerlegt und richtet es dieses selbst, wenn es schlecht geraten und inhuman ist.

Mit welchen gesellschaftlichen Voraussetzungen ist bei der Förderung dieser Ziele Blochschen Denkens und Erziehens gegenwärtig zu rechnen und welche Wege sind dazu einzuschlagen? Nach Bloch müssen sowohl autonome wie Heteronome, d.h. sozial-humane wie fremdbestimmte Vernunft im Sinn Kants zum Zweck der Durchsetzung selbstbestimmter Ziele des Friedens in den gegenwärtigen politisch-ökonomischen Verhältnissen zusammengehen, wie sie die marxistische Analyse aufdecken könnte. Zugespitzt und kritisch moderiert in bezug auf heutige Probleme, auch ökologische, heißt das: in den bestehenden Gesellschaftssystemen müssen Subjekt und Einzelner mit den Mitteln dieser Systeme selbst gegen ihre eigene Liquidierung kämpfen; Pädagogisch: ist gegen diese Liquidierung zu erziehen. Subjekt und Einzelner können nur als „Kraftzentrum des Widerstands“ gegen ihre Auslöschung durch den gesellschaftlichen Apparat überleben, durch die Bürokratie und den staatlichen Machtapparat mit dessen Verbindungen zum militärisch-industriellen Rüstungskomplex und Arsenal des Schreckens; Erziehung ist „Erziehung und Widerspruch zum Widerstand.“ 17 Damit diese Erziehung nicht nur negativ bleibt und damit unter Umständen negativ kapitulierend oder aber gewaltsam irrational und aktionistisch, ist Blochs konkret-utopistisches „Philosophieren der Hoffnung“ (S. 99) zu bejahen mit dem Ziel eines sozial-humanen und sozialistischen Friedens. Blochs Hoffnungsphilosophie will ein Denken und Erziehen im Sinn praktischer Vernunft, die das bloß Negative übersteigt, aber auch der Beruhigung in einem passiv-kontemplativen Glauben, Lieben und Hoffen ohne Tat, Widerspruch und Widerstand sich widersetzt. Es geht um eine Dialektik der Hoffnung, wie sie Bloch im folgenden Zitat beschreibt: „Hoffnung, vor allem Dialektik der Hoffnung hat zum Unterschied zum negativ Kapitulierenden das stolze und vielsagende Unentsagende, daß sie bekanntlich auch am Grab noch aufgepflanzt werden kann, ja daß sich sogar wider die Hoffnung hoffen läßt.“ (S. 95)

Überarbeiteter Vortrag der Ringvorlesung „Wissenschaft und Friedensbewegung: Was leisten die Wissenschaften für den Frieden?“ (Universität Münster/Westf., 25.1.1984)

Anmerkungen

1 Th.W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt &/1975, S.93

2 E. Bloch: Widerstand und Friede. Aufsätze zur Politik. Frankfurt/M. 4/1977, S. 84-111. Im folgenden werden die Seitenzahlen in Klammern angegeben. Zurück

3 I. Kant: Der Streit der Fakultäten., Werke in 10 Bdn. hrsg. v. W. Weischedel. Darmstadt 1968 (1983). Bd. 9, S. 358.Zurück

4 Kant: Zum ewigen Frieden. Werke, a.a.O., S. 243.Zurück

5 a.a.O., S. 228.Zurück

6

Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Werke, a.a.O., S. 53.

7 K. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Die Frühschriften, hrsg. v. S. Landshut. Stuttgart 1964, S. 208, 216.Zurück

8 C. F. v. Weizsäcker: Bedingungen des Friedens. In: Der bedrohte Friede. Politische Aufsätze 1945-81. München 1981, S. 136.Zurück

9 K. Marx: Thesen über Feuerbach (11. These). In: Die Frühschriften, a.a.O., S. 341.Zurück

10 Vgl. auch E. Bloch: Differenzierungen im Begriff Fortschritt. In: Tübinger Einleitung in die Philosophie 1. Frankfurt a. M. 1973, S. 160-203.Zurück

11 I. Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 961.Zurück

12 Zum „Widerstand“ vgl. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 3 Bde. Frankfurt/M. 1974 (1984). Bd. 1, S. 148f.Zurück

13 a.a.O., S. 127f., 160.Zurück

14 Vgl. H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M. 1984, S. 311-393, ferner D.-J. Löwitsch: Erziehung und Kritische Theorie. München 1974.Zurück

15 Bloch: Das Prinzip Hoffnung, a.a.O., Bd.1, S. 86 ff., 129 ff.Zurück

16 Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Werke, a.a.O., S. 53.Zurück

17

Adorno: Die Erziehung zur Mündigkeit, a.a.O., S. 118, 145.Zurück

Dr. Karl Brose, Privatdozent im Fach Philosophie, Münster

Haben Friedensaktivisten jemals einen Krieg verhindert?

Haben Friedensaktivisten jemals einen Krieg verhindert?

von Lawrence S. Wittner

Manche Beobachter geben sich sicher, dass die nächste Runde im »Krieg gegen den Terror«, ein Angriff gegen den Iran, längst beschlossene Sache ist. In der Tat formiert sich hinter dem Obersten Kriegsherrn im Weißen Haus augenscheinlich eine ganz große Koalition der Willigen. In dieser Situation drängt sich die Titelfrage des vorliegenden Beitrags mit besonderer Dringlichkeit auf. Mit einem genaueren Blick in die US-amerikanische Geschichte zur Beantwortung dieser Frage stellt der Autor klar, dass auch die mächtigsten Kriegsherren die Schwachstelle »öffentliche Meinung« haben und an dieser Achillesferse zu fassen sind.

Die Rolle von Friedensaktivismus bei der Beendigung von Kriegen der USA hat noch kaum wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden. Obwohl Historiker und Sozialwissenschaftler in den letzten Jahrzehnten US-amerikanische Friedensbewegungen ausgiebig untersucht haben, wissen wir wesentlich mehr über deren Organisationsgeschichte als über ihren Einfluss auf die Politik. Demnach kann ich hier nur einen vorläufigen Bericht geben.

Krieg – das Ende von Friedensbewegungen?

Ich möchte mit den provokativen Kommentaren mancher Beobachter beginnen, wonach Kriege eher zum Ende von Friedensbewegungen führen als umgekehrt Friedensbewegungen zum Ende von Kriegen. Das ist tatsächlich bisweilen der Fall. Aufgrund der Stärke des Nationalismus sammeln sich viele Leute hinter der eigenen Fahne, sobald ein Krieg erklärt ist. So nimmt es nicht Wunder, dass durchaus starke US-amerikanische Friedensbewegungen mit Eintritt der Vereinigten Staaten in den Bürgerkrieg und den Ersten und Zweiten Weltkrieg zusammenbrachen. In jüngerer Zeit lassen Umfragen erkennen, dass in den USA die Orientierung auf Frieden wesentlich (wenn auch nur vorübergehend) abnahm mit dem Eintritt in den Vietnam-Krieg, den Golf-Krieg und den Irak-Krieg. Auch hat gezielte regierungsamtliche Unterdrückung in Kriegszeiten – z.B. während des Ersten Weltkriegs –Friedensbewegungen geschwächt oder zerstört.

Hinzu kommt, dass Friedensbewegungen, auch wenn sie eine Kriegszeit überdauerten, nicht immer sehr effektiv gewesen sind. Der Krieg von 1812 mag (wie Samuel Eliot Morison behauptet hat) der unpopulärste Krieg in der Geschichte der USA gewesen sein.1 Jedenfalls löste er eine Flut von Kritik aus, vor allem im Nordosten. Aber die zahlreichen öffentlichen Verurteilungen dieses Krieges konnten ihn nicht stoppen. Das gleiche Phänomen ist im Falle der »Pazifizierung« der Philippinen im ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert zu beobachten. Obwohl eine starke Anti-imperialistische Liga diesen Krieg (mit Hunderttausenden getöteten Filipinos und 7.000 Opfer auf US-Seite) konsequent in Frage stellte, tobte er sich aus bis zum militärischen Sieg der USA.

Gegenbeispiele

Es gibt andererseits Beispiele dafür, dass die Friedensbewegung US-Kriegen ein Ende gesetzt hat. Der Krieg gegen Mexiko in den 1840er Jahren ist ein solcher Fall. Von Anfang an verschrien als Eroberungskrieg und als Krieg für die Sklaverei, setzte der Mexiko-Krieg eine bemerkenswert starke Oppositionsbewegung in Gang. Zwar verlief dieser Krieg auf der militärischen Ebene sehr erfolgreich für die Vereinigten Staaten und Präsident Polk forderte die Annexion von ganz Mexiko. So sah er sich hereingelegt, als sich sein Verhandlungsführer, Nicholas Trist, seinen Instruktionen widersetzte und einen Vertrag unterschrieb, der lediglich die Annexion von etwa einem Drittel Mexikos vorsah. Angesichts des heftigen öffentlichen Widerspruchs hielt er es jedoch nicht für möglich, den Krieg bis zur Einnahme ganz Mexikos fortzusetzen. Widerstrebend zeichnete er Trists Friedensvertrag gegen, so dass der Krieg zu Ende ging.

Als weiteres Beispiel für die Wirksamkeit der Friedensbewegung kann deren Rolle im Vietnam-Krieg gelten. Gegen Ende 1967 wurde, wie Lyndon Johnson sich erinnerte, „der Druck so groß“, dass Verteidigungsminister Robert McNamara „nachts nicht schlafen konnte. Ich befürchtete einen Nervenzusammenbruch.“ Johnson selbst schien besessen von dem Widerstand, den seine Kriegspolitik hervorgerufen hatte. Gespräche mit Kabinettsmitgliedern eröffnete er mit der Frage: „Warum seid ihr nicht unterwegs zum Kampf mit meinen Gegnern?“ Nachdem McNamara zurückgetreten und Johnson selbst durch eine Revolte innerhalb seiner eigenen Partei aus dem Amt gejagt war, steckte die Nixon-Administration, wie Henry Kissinger klagte, „zwischen dem Hammer Kriegsgegner und dem Amboss Hanoi.“ Kissinger notierte: „Das Regierungsgefüge fiel auseinander. Die Exekutive steckte in einer Kriegsneurose.“ Und weiter: „Die Kriegs- und Friedensproteste zerbrachen das Selbstvertrauen, ohne das eine Führungselite ins Stolpern gerät.“ In einer sorgfältigen, gut recherchierten Studie (Johnson, Nixon, and the Doves) gelangte der Historiker Melvin Small zu dem Schluss, dass „die Anti-Kriegsbewegung und die Kriegskritik in den Medien einen wesentlichen Einfluss auf die Vietnam-Politik von Johnson und Nixon hatten“, sie zur Deeskalation und letztlich zum Rückzug bewegten.

Ein Beispiel mehr für die Wirksamkeit der Friedensbewegung ergab sich im Kontext der entschiedenen Versuche der Reagan-Administration, die von den Sandinisten geführte Regierung Nicaraguas zu stürzen. Wie in Vietnam war die US-Regierung nicht in der Lage, ihre immense militärische Überlegenheit gegenüber einem kleinen Agrarstaat erfolgreich auszuspielen. Der Druck seitens der Bevölkerung gegen die Militärintervention in Nicaragua verhinderte nicht nur den Einsatz von Kampftruppen. Er führte auch zu einer Initiative im Kongress, die auf eine Streichung der Finanzierung der US-Platzhalter Contras durch die US-Regierung hinauslief (das Boland Amendment). Obwohl die Reagan-Administration das Boland-Amendment zu umgehen versuchte, indem sie Raketen an den Iran verkaufte und den Ertrag an die Contras weiterleitete, schlug dieses Projekt fehl und schadete den Reagananhängern mehr als den Sandinisten.

Ende des Kalten Krieges

Beachtliche Gründe sprechen auch dafür, dass letztlich die Friedensbewegung dem Kalten Krieg ein Ende gesetzt hat. Der Widerstand der Friedensbewegung gegen das nukleare Wettrüsten und dessen eindeutigste Manifestation, die Atomwaffentests, führte unmittelbar zu Kennedys Universitätsrede von 1963 und im gleichen Jahr zum »Teilweisen Teststopp-Vertrag«, mit dem die sowjetisch-amerikanische Entspannung einsetzte. Kennedys Rede wurde in Teilen von Norman Cousins verfasst, Gründer und stellvertretender Vorsitzender des National Committee for a Sane Nuclear Policy, die größte amerikanische Friedensorganisation. Cousins handelt auch den Vertrag aus.

Als die angriffswillige Reagan-Administration den Kalten Krieg wiederbelebte und das nukleare Wettrüsten intensivierte, löste sie den größten Friedensaktivismus in der bisherigen Geschichte aus. In den Vereinigten Staaten gewann die Nuclear Freeeze-Kampagne die Unterstützung der wichtigsten Religionsgemeinschaften, von Gewerkschaften, Berufsgruppen und der Demokratischen Partei, organisierte die bis dato größte politische Demonstration in der Geschichte der USA und gewann die Zustimmung von mehr als 70% der Bevölkerung. In Europa kam es zu einer i.W. gleichartigen Entwicklung und im Herbst 1983 demonstrierten etwa fünf Millionen Menschen gegen die vorgesehene Stationierung von Mittelstreckenraketen. Reagan war verblüfft. Im Oktober 1983 sagte er Außenminister George Shultz: „Wenn die Entwicklung sich zuspitzt, sollte ich vielleicht (den sowjetischen Premier Juri) Andropow aufsuchen und ihm vorschlagen, alle Atomwaffen abzuschaffen.“ Shultz war entsetzt, stimmte aber zu, dass „wir die Dinge nicht laufen lassen können“.

So forderte Reagan im Januar 1984 in einer bemerkenswerten öffentlichen Erklärung Frieden mit der Sowjetunion und eine atomwaffenfreie Welt. Seine Berater sind sich einig, dass diese Rede den Russen seine Bereitschaft signalisieren sollte, den Kalten Krieg zu beenden und die Atomwaffenarsenale zu reduzieren. Doch die sowjetische Führung war erst mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows im März 1985 bereit, sich auf Reagans Vorschläge einzulassen. Anders als seine Vorgänger war Gorbatschow, sozusagen ein Bewegungs-Konvertit, willens, initiativ zu werden. Sein »neues Denken« – worunter er die Notwendigkeit von Frieden und Abrüstung im Nuklearzeitalter verstand – war fast eine Kopie des Programms der Friedensbewegung. Wie er selbst erklärt hat: „Das neue Denken trug den Schlussfolgerungen und Forderungen der Ärzte, Naturwissenschaftler, Umweltexperten und verschiedener Antikriegsorganisationen Rechnung und nahm sie in sich auf.“ Kein Wunder, dass Reagan und Gorbatschow, angetrieben von der Friedensbewegung, sich rasch auf Atomwaffen-Abrüstungsverträge und ein Ende des Kalten Krieges hin bewegten.

Nicht geführte Kriege

Wir sollten auch an die Kriege denken, zu denen es dank des Aktivismus der Friedensbewegung nicht kam. Historiker haben die Meinung vertreten, dass die antiimperialistische Kampagne gegen den Philippinen-Krieg später US-Kriege dieser Art und dieses Umfangs verhindert hat. Sie haben auch geltend gemacht, dass der Druck der Friedensbewegung dazu beigetragen hat, 1916 einen Krieg mit Mexiko zu verhindern und die Konfrontation mit Mexiko in den späten 1920ern zu mildern. Und wie viele Kriege, so können wir uns selbst fragen, wurden verhindert durch die Durchsetzung zahlreicher Ideen und Vorschläge, die letztlich der Friedensbewegung entstammen: internationale Schiedsgerichtsbarkeit, Völkerrecht, Entkolonialisierung, der Völkerbund, Abrüstungsverträge, die Vereinten Nationen und gewaltfreier Widerstand? Diese Frage werden wird wahrscheinlich nie beantworten können.

Wir wissen jedoch, dass die Friedensbewegung seit 1945 eine wesentliche Rolle bei der Verhinderung eines Krieges besonderer Art gespielt hat: eines Atomkriegs. Bei den gegebenen Platzbeschränkungen kann hier nur ein kleiner Teil der Evidenz zur Begründung dieser These dargelegt werden. Sie wird aber in meinem dreibändigen »The Struggle Against the Bomb« detailliert entfaltet.

1956 bedauerte Henry Cabot Lodge Jr., US-Botschafter bei den Vereinten Nationen, dass die Atombombe „einen »schlechten Ruf«“ bekommen hat, „und zwar so sehr, dass das uns effektiv hindert, sie zu gebrauchen.“ Als später im Laufe dieses Jahres der Vereinigte Generalstab und andere Funktionsträger größere Flexibilität bei der Verwendung von Atomwaffen forderten, antwortete Präsident Eisenhower: „Die Verwendung von Atomwaffen würde angesichts des gegenwärtigen Standes der Weltmeinung gravierende politische Probleme zur Folge haben.“ Und Mitte 1957 tat Außenminister John Foster Dulles ambitiöse Vorschläge, Krieg mit Atomwaffen zu führen, bei einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates mit der Bemerkung ab, „die Weltmeinung (sei) noch nicht bereit, den allgemeinen Gebrauch von Atomwaffen zu akzeptieren.“

Diese Überzeugung beunruhigte US-Entscheidungsträger auch während des Vietnamkriegs, als – mit Dean Rusk gesprochen – die Kennedy-, Johnson- und Nixon-Administrationen bewusst „lieber den Krieg verloren, als ihn mit Atomwaffen zu »gewinnen«“. McGeorge Bundy, der zweien dieser Präsidenten als Nationaler Sicherheitsberater diente und dem dritten als Fachgutachter, vertrat die Meinung, dass die Entscheidung der US-Regierung, keine Atomwaffen einzusetzen, nicht auf Furcht vor nuklearer Vergeltung seitens der Russen und Chinesen basierte, sondern auf Furcht vor der verheerenden öffentlichen Reaktion, die ein Atomwaffeneinsatz in anderen Ländern und insbesondere in den USA selbst hervorrufen würde.

Zum entscheidenden Test kam es während der Reagan-Administration, als höchste Verantwortliche für die nationale Sicherheit – vom Präsidenten abwärts – bei Amtsantritt leichtzüngig davon redeten, einen Atomkrieg zu führen und zu gewinnen. Doch diese Position änderte sich bald aufgrund der massiven öffentlichen Entrüstung darüber. Im April 1982 fing Reagan an, öffentlich zu erklären: „Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen und darf niemals geführt werden.“ Und er fügte hinzu: „Denen, die gegen den Atomkrieg protestieren, kann ich nur sagen: »Ich stehe auf eurer Seite!«“

Ich fasse zusammen: Obwohl es noch viel zur Wirksamkeit der Friedensbewegung zu forschen gibt, erscheint es mir nur fair, zu sagen, dass der Friedensaktivismus der US-Außen- und Militärpolitik in zahlreichen Fällen Einhalt geboten hat.

Anmerkungen

1) Im Krieg von 1812-1814 gegen Großbritannien versuchten die US-Amerikaner vergeblich, nach Kanada vorzudringen. [Anm. d. Übers.]

Dr. Lawrence S. Wittner ist Professor für Geschichte an der State University New York/Albany und Verfasser von »Toward Nuclear Abolition: A History of the World Nuclear Disarmament Movement, 1971 to the Present«, Stanford University Press. Der vorliegende Aufsatz war ein Redebeitrag des Autors zu einem Roundtable-Forum im Rahmen der diesjährigen Jahresversammlung der American Historical Association am 7. Januar 2006 und wurde zunächst von History News Network veröffentlicht (s. http://hnn.us/articles/20367.html). Dem weniger formellen Kontext entsprechend enthält er weder Fußnoten noch Literaturnachweise. Die Redaktion wurde dankenswerterweise von Wolfgang Sternstein auf ihn aufmerksam gemacht. Besonderer Dank gilt dem Autor für die umstandslose Erlaubnis zur Veröffentlichung einer deutschen Version. Die Übersetzung besorgte Albert Fuchs.