Castor neues Symbol der Anti-Atom-Bewegung

Castor neues Symbol der Anti-Atom-Bewegung

von Wolfgang Ehmke

Gab es in den Anfängen der Anti-AKW-Bewegung Standorte mit hohem symbolischen Wert (Wyhl, Brokdorf, Gorleben oder Wackersdorf), mobilisiert heute der »Castor« Tausende. Die Anti-Atom-Bewegung erlebt einen neuen Frühling. Der Name Castor steht für »Cask for Transport and Storage of Radioactive Materials«. Ein solcher Behälter für Transport und Lagerung hochradioaktiver abgebrannter Brennelemente wurde am 25. April 1995 zum ersten Mal aus dem AKW Philippsburg nach Gorleben transportiert. Der »Tag X« war von massiven Protesten nicht nur im Landkreis Lüchow-Dannenberg begleitet. Im Mai 1996 sollen zwei weitere Transporte auf der Schiene bis Dannenberg rollen. Dort müssen die Behälter – der eine aus Gundremmingen, der andere aus der Wiederaufarbeitungsanlage im französischen Cap de la Hague – umgeladen werden. Auf den letzten 18 km geht es über die Straße in das »Brennelementezwischenlager« nach Gorleben. Die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg mobilisiert deshalb für den »Tag X hoch 2«. Dem Doppelpack soll auch mit doppeltem Widerstand begegnet werden.

Zweifelhafter Entsorgungsbeitrag

Die Kritik am Castor-Konzept ist sehr facettenreich. Grundsätzlich wird bestritten, daß die »zwischenzeitliche Lagerung« in einer Lagerhalle ein veritabler Entsorgungschritt ist. Angesichts eines fehlenden Endlagers ist absehbar, daß die angestrebte Lagerzeit von 40 Jahren weit überschritten wird. Deshalb muß eine solche Lagerung auch unter dem Gesichtspunkt der Langzeitsicherheit betrachtet werden. In Gorleben sollen 420 Behälter auf engstem Raum gelagert werden. Werden alle Stellplätze in Gorleben – und das gleiche gilt analog für Ahaus oder Greifswald mit einer vergleichbaren Lagerkonzeption – genutzt, so wird dort grob geschätzt das radioaktive Inventar von 40 Atomkraftwerken der Biblis-Klasse konzentriert. Die Lagerhallen bieten nicht nur ein Ziel für terroristische Aktivitäten, sie sind auch gegen Flugzeugabsturz nur unzureichend geschützt. Natürlich – und dagegen richten sich auch die Proteste – sind die Atommülltransporte ein zusätzliches Sicherheitsrisiko. Die Aktionen der Castorgegner münden deshalb immer wieder in die zentrale Forderung: Schluß mit der Atommüllproduktion! Geht es um die Kokillen aus der Wiederaufarbeitung, so zielt die Blockade dieser Tranporte auf die Kündigung der Wiederaufarbeitsverträge zwischen deutschen Atomstromproduzenten und der französischen Plutoniumschmiede in Cap de la Hague bzw. dem britischen Sellafield.

Kritik am Castor

Das Behälterkonzept selbst steht in der Diskussion. Mit der Nutzung des Castors als Transport- und Lagerbehälter (TB) für abgebrannte Brennelemente sollen folgende Schutzziele im sogenannten „bestimmungsgemäßen Betrieb“ erreicht werden:

1. Verhinderung einer Kettenreaktion

2. Strahlenabschirmung

3. Abfuhr der Nachzerfallswärme

4. Dichter Einschluß des radioaktiven Behälterinventars. 

Möglichkeit einer Kettenreaktion

In einem TB sind 4, 9 oder 19 Brennelemente (BE) aus Druckwasserreaktoren auf dichtem Raum gepackt. Je nach Auslegung des Behälters gibt es auch unterschiedliche Typenbezeichnungen (Castor Ia, Castor IIa, Castor V/19). Ein Castor V/19 kann z.B. bei mittlerem BE-Abbrand ca. 10 t Uran enthalten, davon ca. 80 kg spaltbares U-235.

Eine Kettenreaktion würde ausgelöst, wenn von den durch spontane Spaltung freigesetzten Neutronen lawinenartig neue Spaltungen ausgelöst würden. Dies kann nach heutigem Erkenntnisstand auch nach Ansicht atomkritischer Wissenschaftler vermieden werden, vorausgesetzt, daß von den Vorschriften z.B. bei der Beladung des Behälters nicht abgewichen wird. Eine Kettenreaktion wäre das Verheerendste, was man sich vorstellen kann, da dann – nehmen wir den Castor IIa als Referenzbeispiel – ein Zehntel des radioaktiven Potentials freigesetzt würde, das in Tschernobyl austrat.

Abschirmung

Radioaktiver Zerfall von Kernen ist auch immer von radioaktiver Strahlung begleitet. Sie wird unterteilt in Alpha-, Beta-, Gamma- und Neutronenstrahlung.

Alpha-Strahler, z.B. Plutoniumstaub, sind Teilchenstrahler. Sie sind leicht abschirmbar, da sie nicht einmal durch ein Blatt Papier dringen. Gefährlich wäre die Freisetzung der radioaktiven Teilchen, würden sie eingeatmet oder verschluckt, nisten sie sich im Körper (z.B. Lunge) ein und verursachen Krebs.

Beta-Strahler sind ebenfalls Teilchenstrahler, nämlich die bekannten Elektronen. Auch diese Strahler sind nicht sehr durchdringend, aber biologisch sehr schädlich, wenn sie in die Haut eindringen oder inkorporiert werden. Das ist immer dann von Bedeutung, wenn die TB undicht werden und somit auch die Teilchenstrahler freigesetzt werden. Besondere Bedeutung in diesem Zusammenhang haben die gasförmigen Radionuklide Tritium (H-3), Krypton-85 und Jod-129.

Ich unterstelle – was weiter unten zu erläutern sein wird –, daß das Schutzziel „dichter Einschluß…“ nicht in jedem Falle einzuhalten sein wird. Damit ist auch eine Abschirmung der beta-Strahlung nicht hinreichend gewährleistet.

Gamma-Strahlung ist keine Teilchenstrahlung, sondern eine elektromagnetische Welle wie das Licht, aber wesentlich energiereicher und durchdringender. Durch die Abschirmung von 45 cm der TB-Behälterwände (Gußeisen) wird sie nur abgeschächt. Vor allem die Isotope Kobalt (Co-60) und Cäsium (Cs-137) bestimmen über Jahrzehnte die Gammastrahlung. Dieses Schutzziel, die Rückhaltung der Gammastrahlung, ist nicht einzuhalten, da machen uns die Behörden auch gar nichts vor. Es wird lediglich per Genehmigung festgeschrieben, welcher Schaden für die weitere Atomenergienutzung akzeptabel ist.

Das gleiche gilt auch für die Neutronenstrahlung. Die ganz schweren Kerne (Uran, Transurane) haben die Eigenschaft, daß sie auch ohne ein auslösendes Neutron in zwei oder mehr Bruchstücke unter Aussendung von Neutronen zerplatzen (Spontanspaltung). Die Neutronenstrahlung soll durch Bohrungen und Aussparungen im Deckel- und Bodenbereich der TB, die mit Kunststoff ausgelegt werden, gebremst werden. Trotz dieser Absorber durchdringt ein Teil der Neutronen die Behälterwand.

Nach der Genehmigung für das Castorlager in Gorleben darf die Dosisleistung an der Behälteroberfläche für Gamma-Strahlung maximal 0,1 mSv/h und für Neutronenstrahlung 0,15 mSv/h betragen.

Wird diese genehmigte Dosisleistung von den Betreibern voll ausgeschöpft, so hat das folgende Konsequenzen:

Ein Mensch, der sich vier Stunden lang in unmittelbarer Nähe eines TB aufhält, hat damit bereits die nach Strahlenschutzverordnung »zulässige« Jahresdosis erhalten. Für einen Atomarbeiter gelten aber andere Grenzwerte. Dieser hätte nach 200 Stunden Arbeit in unmittelbarer Nähe zum Behälter seine Jahresdosis abgekriegt. Als besonders strahlenexponiert sind anzusehen: Transportbegleiter (Fahrer von Atomtransporten, Rangierer bei der Bahn, Polizei) und natürlich die Arbeiter im AKW bzw. in Gorleben.

Über die biologische Wirksamkeit der Neutronenstrahlung ist durch den Marburger Nuklearmediziner Prof. Horst Kuni ein heftiger wissenschaftlicher Streit entfacht worden, der das gesamte Castorkonzept ins Wanken gebracht hat. Kuni hat nachgerechnet, daß die Bewertung der Schadwirkung von Neutronenstrahlung um den Faktor 30 höher liegen müßte, als es der heutigen Norm entspricht (gegenüber der Gammastrahlung wird heute als »RBW-Faktor« 10 angenommen, d.h. die Gefahr einer Schädigung durch Neutronenstrahlung liegt nur 10fach höher).

Nachzerfallswärme

Von den in einem Castor V/19 befindlichen Brennelementen darf in der Lagerhalle insgesamt eine Wärmeleistung von 39 kW (zur Veranschaulichung: ca 20 Haushaltsradiatoren) erzeugt werden. Um zu verhindern, daß die Brennstabhüllen platzen, muß die Brennstabtemperatur unter 390o bleiben. Die Temperatur der TB-Außenwand beträgt zwischen 65 und 80 Grad Celsius, im Einzelfall bis zu 100 Grad. Die Umgebungsluft in der Halle wird auf über 50 Grad aufgeheizt und mittels Konvektion abgeführt.

Zwei Probleme möchte ich in diesem Zusammenhang erwähnen. Damit die Luftkühlung funktioniert, darf es keinen „Wärmestau“ geben. Daraus erklärt sich auch das Konzept, einfache Leichtbauhallen (sogenannte »Kartoffelscheunen«) als Lagerhallen zu wählen. Da es keine Rückhaltemöglichkeit, keine Filtersysteme oder dergleichen gibt, ist zugleich klar, daß Radioaktivität ungehindert aus dem Lager austreten kann.

Dichter Einschluß

Nicht alles, aber vieles hängt also vom dichten Einschluß der Brennelemente ab. Nicht alles, denn die Gamma- und Neutronenstrahlung, aber auch die Nachzerfallswärme mit der Gefahr des Hüllrohr-Berstens wurde schon thematisiert. Betroffen sind aber in erster Linie die »strahlenexponierten« Personen; nur wenige Menschen kommen mit den TB in Berührung.

Schon anders stellt sich die Lage für Menschen dar, die mit einem Atommülltransport kollidieren, die entlang der Transportestrecken wohnen oder Anwohner der Atommülldeponie sind, vor allem wenn man die Annahmen der Betreiber in zwei weiteren Punkten in Zweifel zieht:

a) hinsichtlich der Hüllrohrschäden,

b) hinsichtlich der Dichtigkeit und des Werkstoffverhaltens des Deckelsystems.

zu a) In punkto Hüllrohrschäden wird in den Sicherheitsberichten in Gorleben eine geschätzte Schadensquote von 10% eingeräumt. Dagegen stehen andere Zahlen und Annahmen: Im Störfallbericht AKW Gundremmingen 1970 heißt es, beim BE-Wechsel sei bei 33 von 143 BE ein Schaden anzunehmen, 1971 bei 38 von 91 BE. Das sieht heute natürlich nicht mehr so schlimm aus. Trotzdem kann die Schadensquote von 10% keinesfalls als real angesehen werden, wenn ein Unfall unterstellt wird.

Bei einem Bruch der BE-Hülle werden in erster Linie die gasförmigen Nuklide Kr-85, J-129 und H-3 freigesetzt.

Was das im Hinblick auf eine Undichtigkeit der Deckel heißt, kann man sich leicht ausmalen.

Aber es gibt noch einen anderen Aspekt: werden die BE-Behälter nach Jahren, z.B. nach Ablauf der Lagerzeit von 40 Jahren, einmal umkonditioniert (in der »Heissen Zelle« einer Konditionierungsanlage), so können enorme Freisetzungsgrade auftreten.

Im Gegensatz zum Reaktorbetrieb, wo der Innendruck der BS den Kühlmitteldruck von ca. 160 bar teilweise kompensiert, besteht bei der Trockenlagerung ein Überdruck von 80 bis 90 bar im Innern des Hüllrohres. Dieser Druck ist temperaturabhängig. Bei zu hohen Temperaturen kommt es zur Kriechdehnung bis hin zum Bruch. Die Crash-Tests, bei denen BE-Behälter umkippen, vom Kran rutschen oder ein Transport in einen Unfall verwickelt werden, sollen demonstrieren, daß die Behälterwände extreme Belastungen aushalten. Nur: die Tests werden mit leeren Castorbehältern durchgeführt, die Hüllrohre im Innern würden nämlich zu Bruch gehen.

Korrosionsmechanismen werden außer acht gelassen:

In der Fachliteratur ist nachzulesen, daß Wasser z.B. aus dem Abklingbecken durch Mikrorisse ins Innere der BE eindringen kann. Z.B. ist das Alkalimetall Rubidium, ein Folgeprodukt des Zerfalls von Kr-85, in Verbindung mit Wasser chemisch sehr aggressiv.

zu b) Die entscheidende Schwachstelle der Castorbehälter liegt m.E. aber an anderer Stelle: trotz des ausgeklügelten Deckelsystems ist damit zu rechnen, daß Undichtigkeit auftritt, und zwar im Normalbetrieb. Mit anderen Worten, man braucht nicht einmal die Unfallszenarien zu bemühen (was wäre z.B., wenn der Deckel und nicht die Behälterwand aus Gußeisen auf einen Dorn stürzt?).

Die Castorbehälter werden im Innern mit einer Nickelschicht gegen Korrosion versehen. Es ist fraglich, wie diese Nickelschicht auf dem Gußeisen haftet. Die Behälterdichtung ist aber auf dem Nickel und nicht auf dem Gußeisen aufgebracht. Wenn eine solche Nickelschicht im Behälterinneren bricht oder Risse bekommt, nützt die schönste Dichtung nichts, weil die radioaktiven Gase zwischen Gußeisen und Nickelbeschichtung unter der Dichtung nach außen dringen können. Prof. Elmar Schlich, einst Projektleiter der »Nukem« zur Entwicklung eines alternativen Brennelementbehältertyps (»TN 1300«) hat im Rahmen seiner Entwicklungsarbeiten aus diesem möglichen Störfall – der im übrigen nicht einmal feststellbar ist (!) – die Konsequenzen gezogen. Seine Alternativentwicklung »TN 1300« wurde aber ad acta gelegt, weil sie 50% teurer wäre und einen neuen Stand von Technik definiert hätte, die die Zwischenlagerplanungen in Ahaus und Gorleben über den Haufen geschmissen hätte. Prof. Schlich, der heute an der TU Aachen lehrt, gab zu bedenken: selbst bei einem simplen Dampfdrucktopf sitzt die Gummidichtung auch bei emaillierten Töpfen in einem Edelstahldeckel und nicht auf der Emaille.

Am Ende muß der aufgeschweißte Deckel (Fügedeckel) mit einer Stärke von 30 mm die Dichtigkeit garantieren. Das kann er aber nicht. Hier gilt wieder einmal: Wirtschaftlichkeit geht vor Sicherheit.

Grundrechte in Gefahr

Schon der erste Castortransport von Philippsburg nach Gorleben war von einem weitreichenden Demonstrations- und Versammlungsverbot begleitet. Entlang der Transportstrecke und rund um das Brennelementezwischenlager in Gorleben war das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit außer Kraft gesetzt. Für die nächsten Transporte ist mit erneuten Einschränkungen der Demonstrations- und Versammlungsfreiheit zu rechnen. Obwohl die Veranstaltungen der Bürgerinitiative Umweltschutz (BI) in der Vergangenheit überwiegend friedlich verlaufen sind, unterstellt die Bezirksregierung Lüneburg einen kollektiv unfriedlichen Verlauf. Eine derartige Verbotspraxis ist bereits im Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1985 verworfen worden. Die Bürgerinitiative klagt deshalb vor dem Verwaltungsgericht Lüneburg gegen die verfassungswidrigen Versammlungsverbote. Die Annahme, daß ein elementares Grundrecht polizeitaktischen Erwägungen geopfert wird, ist nicht von der Hand zu weisen. Welches Dilemma entsteht, wenn Demonstrationen in unmittelbarer Nähe eines stark radioaktiv verstrahlten Objekts stattfinden, hatte Prof. Jürgen Seifert (Hannover) in einer Expertise für das niedersächsische Innenministerium in April 1992 festgehalten: Die Demonstrationen unterliegen schon aus Gründen der Gefahrenabwehr Restriktionen! Der Atomstaat, wie ihn Robert Jungk prophezeite, tritt nunmehr in Erscheinung:

  • als Demonstration staatlicher Gewalt (14.000 Beamte waren im vergangenen Jahr entlang der Transportestrecken im Einsatz);
  • in Form eines die Grundrechte verletzenden Versammlungsverbots und einer „Güterabwägung“ zugunsten des ungehinderten Transports radioaktiven Materials.

Zu welchen Kapriolen sich die bedrängte Landesregierung in Hannover hinreißen läßt, zeigt die aktuelle Debatte um die Änderung des niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes. Die SPD-Landtagsfraktion hat dazu einen Entwurf vorgelegt, der Aufenthaltsverbote von Personen für Gemeinden vorsieht, „wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß diese Person dort Straftaten begehen oder zu ihrer Begehung beigetragen wird“. Der Katalog vermeintlicher Straftaten wird flexibel gestaltet, um entsprechend flexibel reagieren zu können. Die Castorgegner/innen gehen davon aus, daß sich diese Gesetzesänderung nicht nur – wie stets behauptet – gegen Veranstaltungen wie die der alljährlichen »Chaostage« in Hannover richtet. Die „Chaoten von morgen“ sind mit Sicherheit wir!

Der Kampf gegen Atomtransporte und für den Ausstieg aus der Atomenergie ist von daher unweigerlich auch ein Kampf gegen den Abbau demokratischer Rechte.

Wolfgang Ehmke ist Pressesprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Danneberg

Angeklagt wegen »Geheimnisverrats«

Angeklagt wegen »Geheimnisverrats«

Russischer Chemiker nach internationalen Protesten aus der Haft entlassen

von Reiner Braun

Am 23.2.1994 wurde Vil Mirzajanov aus der Haft entlassen. Der Bericht soll einen Überblick über die Ereignisse der letzten Wochen geben, u.a. über den Prozeß, an dem ich eine Woche als Prozeßbeobachter teilnahm. Dabei hatte ich die Gelegenheit zu vielfältigen Gesprächen mit Journalisten, Wissenschaftlern, »Bürgerbewegten« und den Angehörigen der Familie Mirzajanov.

Mit der aufsehenerregenden Enthüllung, daß die russische Militärführung und in der Militärforschung tätige Wissenschaftler auch nach der Unterzeichnung des weltweiten Abkommens über den Abbau bzw. Vernichtung der chemischen Waffen weiterhin an der Entwicklung verheerender C-Waffen bzw. Elemente dafür forschen, wandte sich V. Mirzajanov am 20.9.1992 an die Öffentlichkeit.

V. Mirzajanov arbeitete zusammen mit seinen Kollegen Wladimir Uglew und Wladimir Petrenko am Staatlichen Wissenschaftlichen Forschungszentrum für Organische Chemie und Technologie (GSNIIOHT). Sie verloren sofort nach der Enthüllung ihre Arbeitsplätze. Die drei Wissenschaftler informierten, daß in dem Moskauer Teil des Instituts GSNIOHT neue Nervengase entwickelt werden. Diese sind chemisch zwar mit dem auch von den Amerikanern gelagerten Nervenkampfstoff VX verwandt, besitzen aber eine andere Struktur. Dies macht sie einerseits im Feldtest etwa noch acht- bis zehnmal stärker als das bisher giftigste Kampfgas VX. Es führt andererseits aber auch dazu, daß diese Chemikalien oder deren chemische Vorstufen im Gegensatz zu allen anderen bekannten Kampfstoffen nicht in den Listen verbotener chemischer Verbindungen enthalten sind, die einem Ausfuhrverbot aus Rußland unterliegen. Auf der Basis dieser Kampfstoffe sind außerdem Binärwaffensysteme bis zur Einsatzreife entwickelt und getestet worden. Bisher war von offizieller russischer und vorher sowjetischer Seite bestritten worden, daß in Rußland auch nur an der Entwicklung binärer C-Waffen gearbeitet werde. (Binäre C-Waffen bestehen aus zwei Komponenten, die sich beim Einsatz mischen und erst dann ihre tödliche Wirkung entfalten.)

Im Moskauer Zentrum wurden nach Angaben von Mirzajanov Mengen dieses supertoxisch tödlichen Kampfstoffes gelagert, die theoretisch ausreichen, um die gesamte Bevölkerung dieser Acht-Millionen-Stadt zu töten. Mirzajanov wurde am 22.10.92 wegen des Artikels in den Moskau-News verhaftet und seine Wohnung durchsucht. Er blieb zunächst bis zum 1.11.92 in Haft. Ende Januar 1993 wurde er aus der Haft entlassen.

Die von dem Kollegen Mirzajanov gemachten inhaltlichen Aussagen über die neu entwickelten Nervengase wurden am 5.2. dieses Jahres von Wladimir Uglew bestätigt, der selbst Miterfinder dieser Kampfstoffe ist und mehr als 15 Jahre an deren Entwicklung mitgearbeitet hat. Da er als Volksanwalt Immunität besaß, hat er bislang nicht verhaftet werden können. Ihm ist allerdings bereits untersagt worden, seine Arbeitsstätte zu betreten. Auch gegen ihn läuft ein Ermittlungsverfahren wegen Geheimnisverrats.

Der dritte bedrohte Wissenschaftler ist Wladimir Petrenko, seit vielen Jahren Chemiker in dem Zentralen Forschungsinstitut für Tests der Chemiewaffen-Einheiten des Verteidigungsministeriums in Wolsk-17 (hier eher bekannt als Schikanij-19). Petrenko leidet seit 1982, dem Jahr, in dem er als Versuchsperson selber Proben neuer Giftstoffe einatmen mußte, an einer Vielzahl von Krankheiten. Die Geschichte des an ihm durchgeführten Menschenversuchs ist im Januar diesen Jahres von dem Journalisten Sergej Michailow in der Wochenzeitung Business News in Sartow beschrieben worden. Michailow wurde daraufhin des Geheimnisverrats angeklagt. Petrenko hat aufgrund des Artikels seinen Arbeitsplatz verloren. Vor gerichtlicher Verfolgung schützt ihn (wie Uglew) zur Zeit noch sein Status.

Die Naturwissenschaftler-Initiative hat die russischen Kollegen seit Anfang 1993 materiell, individuell und politisch unterstützt. Uns ist es im Laufe der Jahre durchaus geglückt, eine breitere Medienöffentlichkeit für die Kollegen herzustellen; dies führte auch zu interessanten Reaktionen aus der Politik (s.u.) Motiv für unser Engagement war, daß die Aktivitäten an dem russischen Institut – die sicher nicht ohne Wissen der Regierung stattfinden – zumindest gegen den Geist des weltweiten Abkommens zur Vernichtung chemischer Waffen verstoßen, für dessen Zustandekommen sich die Naturwissenschaftler-Initiative seit 10 Jahren eingesetzt hat. Engagement und Mut der Kollegen lassen sich als Beispiele für verantwortungsbewußte Zivilcourage bezeichnen und bedürfen unserer Meinung nach einer großen Unterstützung, zeigen sie doch, wie sich Kollegen aus Verantwortung für die Folgen ihres Tuns engagieren.

Der Prozeß

Seit dem 6.1.94 stand V. Mirzajanov vor dem Moskauer Bezirksgericht, am 27.1.94 wurde er erneut inhaftiert. Nachdem alle seine Anträge auf Befangenheit der Richter, die dem KGB angehört haben sollen – dieselbe Organisation, die maßgeblich den Prozeß vorbereitete, abgewiesen wurden, nachdem der Antrag seines Anwalts auf Einsetzung eines unabhängigen Wissenschaftlergremiums verworfen wurde, weigerte sich Dr. Mirzajanov, an den Verhandlungen teilzunehmen (siehe nebenstehende Erklärung).

Der Gerichtsprozeß entscheid, daß V. Mirzajanov auch weiterhin in Haft bleibt!

Der Verteidiger Mirzajanovs, der russische Menschenrechtsanwalt Alexander Asnijs, wertete dies als »Bestrafung ohne Urteil«. Er verwies darauf, daß alle Gründe für die Verhaftung Mirzajanovs, v.a. seine Ankündigung, wegen Verzichts auf eine umfassende Beweisaufnahme nicht vor Gericht zu erscheinen, entfallen waren. Mirzajanov teilte dem Gericht mit, daß er – da durch die Beweisaufnahme und durch die Expertenanhörung russischer Offiziere und in der Rüstungsforschung tätiger Wissenschaftler seine Behauptungen der Fortsetzung binärer russischer Waffenforschung bestätigt wurden – vor Gericht erscheinen werde.

In einem dramatischen Appell verwies er auf die skandalösen Haftbedingungen im Lubjanov-Gefängnis: „Den Fraß kann man nicht als Essen bezeichnen. Zucker habe ich schon seit 10 Tagen nicht mehr bekommen.“ Er sagte, daß er sich an das Rote Kreuz wenden will, um eine Überprüfung der Haftbedingungen zu erreichen, die nicht dem internationalen Standard entsprächen.

Dieser Schritt trug mit zu seiner Haftentlassung bei, sollte doch nicht die ungleichmäßige Behandlung von politischen Häftlingen (»Putschisten« gegen Gorbatschow, »Verteidiger« des Weißen Hauses) und Mirzajanov sowie »normalen« Häftlingen zu deutlich werden.

Öffentlichkeit ja, aber noch nicht genug

Der Prozeß fand unter dem erheblichen Druck der russischen Öffentlichkeit statt, die nach monatelangem Schweigen der offiziösen Presse und des Fernsehens letztendlich doch über den Vorgang informiert wurde und sich zunehmend kritisch – zumindest zu dem formalen Vorgehen des Gerichts, u.a. Anklage auf Grundlage von Gesetzen, die vorher nicht öffentlich bekanntgegeben waren – äußerte. Angemerkt sei hier aber auch, daß es keine konkrete Unterstützung von Mirzajanov durch die russische Scientific Community gab, weil sein Vorgehen durchaus als »Landesverrat« oder als »gegen nationale Interessen der Großmacht Rußland« gerichtet angesehen wird.

Statement of Vil Mirzajanov

Judges of the Court! Today the Moscow City Court has refused me and my lawyer Aleksandr Asnis the consideration of our most elemantary petitions regarding the violation of my right of defense under Statute 20 of the Criminal Code of the Russian Federation – to have a thorough, full and objective investigation of all circumstances of the case. You rejected even our request to attach to the case the five normative acts, which serve as the basis on which our accusation is made, and which therefore cannot serve as the basis for an arraignment of a person for criminal responsibility, since they have never been published in the official form as required by Article 15 par. 3 of the Constitution of the Russian Federation.
And so you commit a criminal act by your cynical violation of the constitution of the Russian Federation. My efforts to prevent the mockery and dersion of comon sense and human rights in a civilized world are defeated by us and I must come to the conclusion that the only possible option for me is not to participate in this event. Therefore I am informing you that from this point on I will not appear in the court proceedings nor will I be a willing accomplice to a criminal act that violates the basic laws of the Constitution of the Russian Federation.24.1.1994, Signature of Vil Mirzajanov (Translation)

Schon längere Zeit hat es, ausgehend v.a. von der Naturwissenschaftler-Initiative in Deutschland und der Federation of American Scientists in den USA – politischen Druck und Aktivitäten gegeben. So schaltete sich das Auswärtige Amt mehrfach ein und wandte sich an das Auswärtige Amt Rußlands und an das Präsidentenbüro Jelzins. US-Präsident Clinton sprach die Inhaftierung bei seinem Staatsbesuch bei Jelzin an und das EG-Parlament verabschiedete eine sehr kritische Erklärung. Die Liste auf der Ebene der Politik läßt sich fortsetzen. Im Prinzip wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, in welche Richtung sich eigentlich das »neue Rußland« entwickele. Unterstützung fand Mirzajanov auch in der Wissenschaft. Schreiben an Jelzin liegen u.a. von der Gesellschaft Deutscher Chemiker, American Chemical Society, American Physical Society, American Association for the Advancement of Science und der International Science Foundation vor.

Ins Rollen gebracht – wenn auch sehr langsam – wurde die Unterstützung durch die kritischen Wissenschaftlerorganisationen. Weitere Hilfe und Unterstützung ist notwendig, wenn wir Dr. Mirzajanov auf dem Kongreß »Wissenschaft und Verantwortung« begrüßen wollen.

Völlig ungeklärt ist die politische und wissenschaftliche Frage. Wird in Rußland immer noch an der Entwicklung chemischer Waffen geprobt oder sogar getestet? Die Auseinandersetzung ist noch lange nicht beendet.

Geldspenden auf das Hilfsfond-Konto Stichwort »Dr. Mirzajanov«, Prof. Hirschwald, Kto.-Nr. 4633270700, BLZ 100 200 00 bei der Beliner Bank.

Reiner Braun ist Geschäftsführer der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden«.

Ernst Bloch: Widerstand und Friede

Ernst Bloch: Widerstand und Friede

von Karl Brose

Blochs Konzept einer Friedenserziehung ist an dessen Philosophie der Hoffnung und konkreten Utopie gebunden. Eine solche Rückbindung läßt die Friedenserziehung nicht in die Irre pädagogischer Partikularprobleme von Didaktik und Methode laufen. Ferner liegt in der Philosophie Blochs ein positiver Ansatz zur Friedenserziehung vor: Frieden wird als sozialer Frieden, konkrete Hoffnung und Gerechtigkeit verstanden durchaus mittels Revolte und Widerstand – in Abgrenzung von einem bloß negativen Frieden der Abwesenheit vom Krieg, einem ständigen Waffenstillstand und latent vorhandenem Krieg, der nur auf seine Stunde wartet, wenn die Waffen scheinbar schweigen. Es ist dieses Moment eines positiven Friedens in der Philosophie Blochs so stark hervorzuheben, weil auch die negative Dialektik der Kritischen Theorie der sog. „Frankfurter Schule“ äußerst wirkungsvolle Begriffe des Widerstands, Nichtmitmachens und Neinsagens bietet1. Diese negativen Widerstandsbegriffe der Kritischen Theorie sollen im folgenden durchaus ergänzend und erweiternd mit einbezogen werden. In einem 1. Hauptteil ist stärker der philosophische Aspekt das Friedenskonzepts Blochs herauszuarbeiten, im 2. Teil der pädagogische Impuls.

I. Der philosophische Impuls des Friedensdenkens Blochs

1. Theologische Ansätze: Kampf gegen den Krieg

Bloch will in seiner Friedensrede Widerstand und Friede 2 ein Philosophieren der Hoffnung, das den Kampf braucht zum Frieden. Dieser Kampf ist nicht Krieg, sondern sozialer Kampf. Er reicht vom Streik bis zu den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Durch ihn soll das Ziel des sozialen, ja sozialistischen Friedens (S. 91) hergestellt werden. Diesen Gegensatz zwischen Kampf und Krieg verdeutlicht Bloch an Beispielen des Alten Testaments: „Es soll aber das Recht offenbart werden wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom“; dann werden die „Schwerter zu Pflugscharen und die Spieße zu Sicheln“ und werden die Völker „nicht mehr Krieg lernen“ (Amos 5,24; Jesaja 2,4; Micha 4,3). Diese Aufrufe der Alten Propheten zum Kampf gegen den Krieg sind für Bloch noch immer unabgegolten in bezug auf Zukunft. Sie bleiben eine konkrete Hoffnung im Kampf um sozialen Frieden, wie er heute nicht nur sichtbar wird in den marxistischen Ansätzen einer „Theologie der Befreiung“ in Lateinamerika, sondern auch in dem an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht entzündetem Kirchenkampf in Ostdeutschland. Diesen Kampf gegen den Krieg fundieren auch die Worte des Neuen Testaments: „Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, es brannte schon!“; „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (Lk 12,49; Mt 10,34). Bloch sieht hier den Kampf der Mühseligen und Beladenen gegen den Profit der Reichen und Besitzenden. Dieser reale Kampf für den Frieden ist in seinem „einzig moralischen Widerstandsrecht“ (S. 87) vom Krieg weltweit unterschieden; auch vom sogenannten Verteidigungskrieg. Es ist schon fast eine Form von Aggression, mindestens aber von Furcht, in dieser Verteidigungshaltung ständig zu verharren und zu ihr bereit zu sein. Die hochgerüsteten Staaten leben nur im Scheinfrieden und Waffenstillstand. Kampf jedoch erwartet die Befreiung von Krieg und Furcht nicht von jenen Mächten, die diese Furcht und diesen Krieg überhaupt erst erzeugt haben.

2. Kant und Marx: Moral der Gesellschaft contra Macht der Bürokratie

Bei seinem Kampf gegen den Krieg zitiert Bloch den „unbedingten Antibellisten“ und „radikalen Pazifisten“ Kant (S.87f.) über die Französische Revolution: sie findet in den „Gemütern aller Zuschauer (…) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.“3 In diesen Worten sieht Bloch eine Verbindung des kategorischen Imperativs mit der Erstürmung der Bastille (S. 88). Aber es handelt sich um nichts Kriegerisches, sondern um einen Kampf aus moralischen Anlagen. Kants Traktat Zum ewigen Frieden will eine internationale Kodifizierung des Nicht-Kriegs, nach der die Politik keinen Schritt tun kann, „ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben.“4 Dieses moralphilosophische Friedenskonzept ist für Bloch zwar noch eine abstrakte Utopie, weil bei Kant die „ökonomische Analyse des Kriegstreibenden“ (S. 89) fehlt. Aber Kants Friedenskonzept zeigt auch die Denunzienung des mit dem Ökonomischen nicht allein erschöpften Faktors der Macht, deren Besitz das „freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.“5 Macht und Gewalt sieht auch Marx als Faktoren, die zur ökonomischen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung hinzukommen, als unterdrückende Instanzen und Institutionen. Diese zeigen sich am deutlichsten, wenn es um ihre Verhinderung geht, um die Herausführung der Gesellschaft aus der bisherigen Geschichte als einer „Vorgeschichte“ in eine auf Zukunft gerichtete wirkliche Geschichte.

Diese marxistische Argumentation dehnt Bloch, ausgehend von Kant, auf die Macht der Bürokratie aus als eine neue verdinglichte Herrschaftsklasse, eine „Selbstunterhaltung von Macht an sich“ und Konservierung bisherigen Machtstaatsdenkens, „das am besten die sozialistische Vernunft verdirbt“; letztere ist aber die „geplante Vernunft zum wirklich zwischenmenschlichen Frieden“ (S. 90). Gegen diese sozialistische und sozialhumane Vernunft und deren Friedensstiftung steht als das „stärkste Machtgift“ (S. 91) die fest etablierte militärische Befehlsgewalt: ein verdinglichter Belagerungszustand und unerträglicher Autoritarismus der Herrschaft von Menschen über Menschen. Soll Kants Satz gelten „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst Verschuldeten Unmündigkeit“5, so muß dieser kategorischer Imperativ des Friedens ergänzt werden durch den Marxschen „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, denn weiter lautet dieser neue politisch-ökonomische Imperativ von Marx für ein sozial-humanes Dasein und damit den wirklichen sozialistischen Frieden: „Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt; nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.“7

Kants Sätze wollen den Frieden so moralisch erreichbar wie möglich und den Menschen – wie auch bei Marx – in „unerniedrigter Vernunft“(S. 92). Zwar noch als Utopikum bei Kant; aber bei Marx wird deutlich daß dieses Utopikum schon allzulang ein „Fernziel“ gewesen ist, daß Frieden und Vernunft „Nahziele“ werden müssen: daß Friedensschlüsse nicht nur weiterhin als Waffenstillstände geschlossen werden dürfen sondern das Bewußtsein der Gesellschaft dahingehend verändert wird, daß Kriege abschaffbar und Waffen überflüssig sind.8

3. Fernziel und Nahziel in Blochs Philosophie der Hoffnung

Angesichts des bisher immer vorenthaltenen Fernzieles Frieden geht es jetzt um das Nahziel Frieden. Der nächste Schritt dazu lautet: besseres Leben, Menschenwürde contra Ausbeutung, „Freiheit vom Erwerb statt des Erwerbs“ (S. 92). Oder marxistisch: „Weltveränderung“ statt nur „Weltinterpretation“ 9. Neben dem moralischen Impuls von Fernzielen, wofür das Friedenskonzept Kants stehen mag, sind unabdingbar die institutionellen Nahziele, der „Marsch durch die Institutionen“: gesellschaftliche Entwicklung und Veränderung, wenn möglich Evolution. Wenn nicht anders möglich: Revolution, die ja nicht unbedingt blutig zu sein braucht (S. 108). Denn nicht die Revolutionen haben bisher am meisten Blut vergossen, sondern die Kriege und Gegenrevolutionen. Weltveränderung als Nahziel statt bloßer Weltinterpretation als Fernziel will jedenfalls ausreichend gesellschaftlich produzierten Reichtum für alle, wodurch sich die Ausbeutung des Nächsten als unproduktiv erweist.

Dazu müßte die „Kategorische Fortschritt“ (S. 93, S. 108) 10 wieder in ihr Recht eingesetzt werden. Gerade das Fortschrittsdenken als ein Prozeßdenken vermittelt in sich Fernziele und Nahziele auch des Friedens, so daß die jeweils lebende Generation nicht für „Fernziele ganz jenseits ihres kurzen Lebens verheizt werden kann“ (S. 93). Wenn wiederum das Fernziel und Utopikum „realer Humanismus“ nicht in Verbindung mit den Nahzielen des gesellschaftlichen Fortschritts gesehen wird, so bleibt es ein eudämonistisches Abstraktum. Friede aber sowohl Fernziel wie Nahziel in sich vereinigen, sonst bliebe er unter sich: „Friede ist deshalb auch keineswegs, wie bloßer Nicht-Krieg, die Ruhe als mögliche Schalheit, vielmehr: die Ruhe – dieses tiefste Fernziel im Frieden selber – wird dann erst das Problem des Beisichseins.“ (S. 94) Nur in solcher Konkretion und Vermittlung von Nahziel und Fernziel wirkt Friede, zählen Werke eines solchen Friedens und von Friedenszeiten in der Kultur, wie Bloch an Goethes Gedicht Ober allen Gipfeln ist Ruh zeigt. Hier bedeutet Ruhe nicht traumloser Schlaf und Kirchhofsfrieden, sondern das „unentdeckte, unerforschte Land Ruhe, das in den Tiefen der Tiefe von Frieden wirkt.“ (110) Es handelt sich um eine Vita activa in der Vita contemplativa, die nicht nur in großer Dichtung und Philosophie leben, in Erziehung oder Christentum, sondern auch in den ostasiatischen Religionen, aus denen zu lernen ist, „was utopischer Inhalt von Friede ist außer der Bibel“ (110).

Blochs inhaltlich-konkrete Utopie eines sozial-humanen und sozialistischen Friedens heißt Hoffnung. Diese ist freilich oft noch vielsagend, unausgetragen und unfertig. Im Reifezustand aber kann sie vorher bemerkt und antizipiert werden. Dann zeigt sich ihre begriffliche Vielfalt und abstraktlose Praxeologie als Grundlage einer geprüften, erprobten, dem „Objektiv-real-Möglichen“ und „Noch-nicht-Seienden“ vermittelten Friedenskonzeption. Diese stützt Bloch auf Kants Bild der „Verstandeswaage“ mit der Aufschrift „Hoffnung der Zukunft“11. Diese Kantische Kraft der Hoffnung muß noch erforscht und weitergetrieben werden. Ein falscher Friede mit der Welt der Vorhandenheit muß zugunsten der Anlage zur besseren Zukunft verschoben werden, zu dem in ihr noch Ungeschehenen, Unentdeckten und Neuen. Dann wird auch die bloße Abgeschlossenheit einer Fakten- und Mechanismuswelt konstitutiv ergänzt, ja prozeßhaft-dialektisch gesprengt (S. 96). Dann kann die Unrichtigkeit von nur leeren Hoffnungen sich umkehren, indem die bloße Faktenwelt als unwahr geworden erkannt wird. Es zeigt sich die konkrete Utopie des Friedens in Allianz mit allem Heilenden und Heilsamen, das zwar noch nicht voll geworden, aber auch noch nicht ganz vereitelt ist. Unzufriedenheit und nicht die leicht zu entwickelnde Zufriedenheit sowie „Widerstand der sozial-humanen Vernunft, aktiv, ohne Ausrede“ (S. 85) 12 messen der Hoffnung auf Frieden ihren wahren und wirklichen Stellenwert in der Welt zu.

II. Der pädagogische Impuls des Friedensdenkens Blochs

1. Ansätze einer philosophischen Friedenserziehung

Blochs positiver Friedensansatz 13 steht gegen einen bloß negativen des Nichtkriegs oder der Abwesenheit vom Krieg. In seine Argumentation fließt ein Moment von pädagogischer Aufklärung, Bildung und Erziehung ein: „Daß aber auch der Friede ein anderes als Nicht-Krieg sei und werde, dazu gehört kausale wie erst recht finale Aufklärung ohne Unterlaß“ (S. 97). Der Rückgriff Blochs auf Kantische Vernunft und Aufklärung, verbunden mit einem marxistisch-pädagogischen Inhalt, leitet zu seinem erziehungsphilosophischen Friedens- und Bildungskonzept über; danach müssen die Menschen gebildet und erzogen werden, um die ungebildeten, d.h. unfriedlichen Verhältnisse zu verändern und umzubilden, d.h. zu humanisieren und zu sozialisieren: „Und wenn die Verhältnisse die Menschen bilden, so hilft nichts als die Verhältnisse menschlich zu bilden, es lebe die praktische Vernunft“ (S. 97). Auf diese praktische Vernunft Kants sowie den marxistischen Impuls der Humanisierung gesellschaftlicher Verhältnisse sollte sich die künftige Friedenspädagogik zurückbesinnen, ehe sie zu handeln beginnt. Blochs Philosophie der Hoffnung ist eine konkrete d.h. hier und heute wirkende und das gegenwärtige pädagogische Handeln bestimmende Utopie. Sie Gibt diesem einen neuen, das Neue und Utopische antizipierenden Sinn, der den Frieden aus einer bloß abstrakten Utopie herausholt. Blochs Hoffnungsphilosophie verankert die konkrete Utopie des Friedens und der Erziehung in Vernunft und Erziehung 14, ohne die Zukunft auszusparen. Sie geht von Erfahrungen des faktisch Möglichen und Erreichbaren in Politik, Ökonomie und Gesellschaft aus, ohne dabei stehenzubleiben. Blochs konkrete Utopie der Hoffnung, Zukunft und des Friedens ist ein realer „Traum nach Vorwärts“, der sich tätig pädagogisch-praktisch an das geschichtlich Fällige und gesellschaftlich Erforderliche anschließt, an das noch nicht Erreichte, noch Verhinderte und „Noch-Nicht-Bewußte in Jugend, Zeitwende, Produktivität.“15 Es handelt sich um eine realistische Antizipation des Gesollten und Gewollten, die sich in gegenwärtig zu verwirklichenden Nahzielen der Erziehung und utopisch gesättigten Fernzielen der gesamtgesellschaftlichen Veränderung niederschlägt. Pädagogische Beispiele sind: Vorurteilsabbau, Aggressionsbewältigung, Entscheidungshilfe, Einübung sozialen zwischenmenschlichen Friedens“ (S. 90) durch Erziehung zu mitmenschlicher und Umweltverantwortung, durch Befreiung von ungerechten repressiven Zwängen sowie Bildung von Formen qualifizierten Ungehorsams und rationalen Widerstands. Dabei geht es nicht kleinmütig zu: „Nur sanft sein heißt noch nicht gut sein. Und die vielen Schwächlinge, die wir haben, sind noch nicht friedlich (…). Daneben überall die vielen Duckmäuser, sagen nicht so und nicht so, damit es nachher nicht heißt, sie hätten so oder so gesagt. Leicht gibt sich bereits als friedlich, was mehr feig und verkrochen ist.“ (S. 84)

2. Friedenserziehung als Erziehung zu Vernunft und Verantwortung

In Blochs Philosophie der Hoffnung ist Frieden geleitet von kritischem und aufgeklärtem Bewußtsein, von erkannter und gelebter Vernunft und handlungsbereiter Verantwortung. Wiederum ist Frieden jenes Fernziel und Utopikum das als Regulativ und Imperativ menschlichen Handelns allgemeine Geltung beanspruchen kann. Wenn der Vernunft und Verantwortung ein Geltungsanspruch innewohnt, dann fordert er den Kampf gegen die vom Menschen selbst verschuldete Unmündigkeit“ und Unverantwortlichkeit, gegen dessen „Faulheit, Feigheit und Bequemlichkeit.“16 Erfordert ist der vernünftige Widerstand gegen Mitläufer, Stille und Sanfte im Lande, die dies nur aus Feigheit und Angst sind, wie Bloch an den Konsequenzen des Nationalsozialismus zeigt: „Also aus dem stillen Muff kam etwas ganz anderes, da wurde es plötzlich auf tödliche Art laut (…) so haben wir nicht gewettet mit dem Frieden, so nicht, wenn man nur auf ruhige Luft setzt.“ (S. 100)

Wie tragfähig ist die Hoffnung auf Vernunft, Verantwortung und Frieden, wenn in historischer Rückschau der Vernunft und Friedenswilligkeit Schlappheit und Inkompetenz in der Bewältigung essentieller Lebensprobleme nachzuweisen sind? Nur ein konkretes Hoffnungsprinzip, kritisches Vernunftverhalten und soziales Verantwortungsgefühl können diese Frage positiv beantworten, sind höher zu achten als die Negativität des Erfahrenen und Erfahrbaren. Nur in einer solchen philosophischen wie pädagogischen Grundhaltung lassen sich aus dieser Negativität Ansätze zur Positivität herausarbeiten, in denen Vernunft und Verantwortung, Hoffnung und Frieden verankert sind. Diese Realien und Realitäten lassen sich freilich nicht plötzlich aus den gesellschaftlichen Verhältnissen hervorbringen. Vielmehr sind sie abhängig vom bewußten Handeln jedes einzelnen Friedenserziehers angesichts einer noch immer ohnmächtigen Menschheit und Gesellschaft der „Verdammten dieser Erde“. Auf tausend Kriege kommen nicht zehn Revolutionen: So schwer ist der „aufrechte Gang“

3. Kritischer Ausblick: Möglichkeit und Wirklichkeit künftiger Friedenserziehung

Das für Entwicklung und Fortschritt, Bildung und Erziehung der Gesellschaft verantwortliche Individuum des aufrechten Ganges folgt im Sinne Blochs zu jeder Zeit und an jedem Ort dem Utopikum sozial-humaner Vernunft. Es will im Widerstand gegen das schlechte Bestehende einen besseren künftigen Zustand der Gesellschaft herbeiführen und damit das Ziel des sozialen und sozialistischen Friedens in ausgewogener Synthese von Nah- und Fernzielen einlösen. Sind diese Ziele und Aufgaben bloße Spekulationen? Nach Bloch bedarf es des „Noch-nicht-Seienden“ und der konkreten Utopie. Denn der Utopismus ist in Utopie großgeworden, und die Philosophie ist spekulativ, indem Probleme des Noch-nicht-Seins ihr zentrales und nicht nur empirisches Arbeitsgebiet sind: Sie hat ein utopisches Fenster auf eine Landschaft hin, die sich erst bildet. Utopisches Denken und Handeln wird durch Schaden und Leiden an den Tatsachen zwar klug und zurechtgerückt, doch nicht durch die Macht des Bestehenden widerlegt. Vielmehr widerlegt und richtet es dieses selbst, wenn es schlecht geraten und inhuman ist.

Mit welchen gesellschaftlichen Voraussetzungen ist bei der Förderung dieser Ziele Blochschen Denkens und Erziehens gegenwärtig zu rechnen und welche Wege sind dazu einzuschlagen? Nach Bloch müssen sowohl autonome wie Heteronome, d.h. sozial-humane wie fremdbestimmte Vernunft im Sinn Kants zum Zweck der Durchsetzung selbstbestimmter Ziele des Friedens in den gegenwärtigen politisch-ökonomischen Verhältnissen zusammengehen, wie sie die marxistische Analyse aufdecken könnte. Zugespitzt und kritisch moderiert in bezug auf heutige Probleme, auch ökologische, heißt das: in den bestehenden Gesellschaftssystemen müssen Subjekt und Einzelner mit den Mitteln dieser Systeme selbst gegen ihre eigene Liquidierung kämpfen; Pädagogisch: ist gegen diese Liquidierung zu erziehen. Subjekt und Einzelner können nur als „Kraftzentrum des Widerstands“ gegen ihre Auslöschung durch den gesellschaftlichen Apparat überleben, durch die Bürokratie und den staatlichen Machtapparat mit dessen Verbindungen zum militärisch-industriellen Rüstungskomplex und Arsenal des Schreckens; Erziehung ist „Erziehung und Widerspruch zum Widerstand.“ 17 Damit diese Erziehung nicht nur negativ bleibt und damit unter Umständen negativ kapitulierend oder aber gewaltsam irrational und aktionistisch, ist Blochs konkret-utopistisches „Philosophieren der Hoffnung“ (S. 99) zu bejahen mit dem Ziel eines sozial-humanen und sozialistischen Friedens. Blochs Hoffnungsphilosophie will ein Denken und Erziehen im Sinn praktischer Vernunft, die das bloß Negative übersteigt, aber auch der Beruhigung in einem passiv-kontemplativen Glauben, Lieben und Hoffen ohne Tat, Widerspruch und Widerstand sich widersetzt. Es geht um eine Dialektik der Hoffnung, wie sie Bloch im folgenden Zitat beschreibt: „Hoffnung, vor allem Dialektik der Hoffnung hat zum Unterschied zum negativ Kapitulierenden das stolze und vielsagende Unentsagende, daß sie bekanntlich auch am Grab noch aufgepflanzt werden kann, ja daß sich sogar wider die Hoffnung hoffen läßt.“ (S. 95)

Überarbeiteter Vortrag der Ringvorlesung „Wissenschaft und Friedensbewegung: Was leisten die Wissenschaften für den Frieden?“ (Universität Münster/Westf., 25.1.1984)

Anmerkungen

1 Th.W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt &/1975, S.93

2 E. Bloch: Widerstand und Friede. Aufsätze zur Politik. Frankfurt/M. 4/1977, S. 84-111. Im folgenden werden die Seitenzahlen in Klammern angegeben. Zurück

3 I. Kant: Der Streit der Fakultäten., Werke in 10 Bdn. hrsg. v. W. Weischedel. Darmstadt 1968 (1983). Bd. 9, S. 358.Zurück

4 Kant: Zum ewigen Frieden. Werke, a.a.O., S. 243.Zurück

5 a.a.O., S. 228.Zurück

6

Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Werke, a.a.O., S. 53.

7 K. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Die Frühschriften, hrsg. v. S. Landshut. Stuttgart 1964, S. 208, 216.Zurück

8 C. F. v. Weizsäcker: Bedingungen des Friedens. In: Der bedrohte Friede. Politische Aufsätze 1945-81. München 1981, S. 136.Zurück

9 K. Marx: Thesen über Feuerbach (11. These). In: Die Frühschriften, a.a.O., S. 341.Zurück

10 Vgl. auch E. Bloch: Differenzierungen im Begriff Fortschritt. In: Tübinger Einleitung in die Philosophie 1. Frankfurt a. M. 1973, S. 160-203.Zurück

11 I. Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 961.Zurück

12 Zum „Widerstand“ vgl. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 3 Bde. Frankfurt/M. 1974 (1984). Bd. 1, S. 148f.Zurück

13 a.a.O., S. 127f., 160.Zurück

14 Vgl. H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M. 1984, S. 311-393, ferner D.-J. Löwitsch: Erziehung und Kritische Theorie. München 1974.Zurück

15 Bloch: Das Prinzip Hoffnung, a.a.O., Bd.1, S. 86 ff., 129 ff.Zurück

16 Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Werke, a.a.O., S. 53.Zurück

17

Adorno: Die Erziehung zur Mündigkeit, a.a.O., S. 118, 145.Zurück

Dr. Karl Brose, Privatdozent im Fach Philosophie, Münster

Haben Friedensaktivisten jemals einen Krieg verhindert?

Haben Friedensaktivisten jemals einen Krieg verhindert?

von Lawrence S. Wittner

Manche Beobachter geben sich sicher, dass die nächste Runde im »Krieg gegen den Terror«, ein Angriff gegen den Iran, längst beschlossene Sache ist. In der Tat formiert sich hinter dem Obersten Kriegsherrn im Weißen Haus augenscheinlich eine ganz große Koalition der Willigen. In dieser Situation drängt sich die Titelfrage des vorliegenden Beitrags mit besonderer Dringlichkeit auf. Mit einem genaueren Blick in die US-amerikanische Geschichte zur Beantwortung dieser Frage stellt der Autor klar, dass auch die mächtigsten Kriegsherren die Schwachstelle »öffentliche Meinung« haben und an dieser Achillesferse zu fassen sind.

Die Rolle von Friedensaktivismus bei der Beendigung von Kriegen der USA hat noch kaum wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden. Obwohl Historiker und Sozialwissenschaftler in den letzten Jahrzehnten US-amerikanische Friedensbewegungen ausgiebig untersucht haben, wissen wir wesentlich mehr über deren Organisationsgeschichte als über ihren Einfluss auf die Politik. Demnach kann ich hier nur einen vorläufigen Bericht geben.

Krieg – das Ende von Friedensbewegungen?

Ich möchte mit den provokativen Kommentaren mancher Beobachter beginnen, wonach Kriege eher zum Ende von Friedensbewegungen führen als umgekehrt Friedensbewegungen zum Ende von Kriegen. Das ist tatsächlich bisweilen der Fall. Aufgrund der Stärke des Nationalismus sammeln sich viele Leute hinter der eigenen Fahne, sobald ein Krieg erklärt ist. So nimmt es nicht Wunder, dass durchaus starke US-amerikanische Friedensbewegungen mit Eintritt der Vereinigten Staaten in den Bürgerkrieg und den Ersten und Zweiten Weltkrieg zusammenbrachen. In jüngerer Zeit lassen Umfragen erkennen, dass in den USA die Orientierung auf Frieden wesentlich (wenn auch nur vorübergehend) abnahm mit dem Eintritt in den Vietnam-Krieg, den Golf-Krieg und den Irak-Krieg. Auch hat gezielte regierungsamtliche Unterdrückung in Kriegszeiten – z.B. während des Ersten Weltkriegs –Friedensbewegungen geschwächt oder zerstört.

Hinzu kommt, dass Friedensbewegungen, auch wenn sie eine Kriegszeit überdauerten, nicht immer sehr effektiv gewesen sind. Der Krieg von 1812 mag (wie Samuel Eliot Morison behauptet hat) der unpopulärste Krieg in der Geschichte der USA gewesen sein.1 Jedenfalls löste er eine Flut von Kritik aus, vor allem im Nordosten. Aber die zahlreichen öffentlichen Verurteilungen dieses Krieges konnten ihn nicht stoppen. Das gleiche Phänomen ist im Falle der »Pazifizierung« der Philippinen im ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert zu beobachten. Obwohl eine starke Anti-imperialistische Liga diesen Krieg (mit Hunderttausenden getöteten Filipinos und 7.000 Opfer auf US-Seite) konsequent in Frage stellte, tobte er sich aus bis zum militärischen Sieg der USA.

Gegenbeispiele

Es gibt andererseits Beispiele dafür, dass die Friedensbewegung US-Kriegen ein Ende gesetzt hat. Der Krieg gegen Mexiko in den 1840er Jahren ist ein solcher Fall. Von Anfang an verschrien als Eroberungskrieg und als Krieg für die Sklaverei, setzte der Mexiko-Krieg eine bemerkenswert starke Oppositionsbewegung in Gang. Zwar verlief dieser Krieg auf der militärischen Ebene sehr erfolgreich für die Vereinigten Staaten und Präsident Polk forderte die Annexion von ganz Mexiko. So sah er sich hereingelegt, als sich sein Verhandlungsführer, Nicholas Trist, seinen Instruktionen widersetzte und einen Vertrag unterschrieb, der lediglich die Annexion von etwa einem Drittel Mexikos vorsah. Angesichts des heftigen öffentlichen Widerspruchs hielt er es jedoch nicht für möglich, den Krieg bis zur Einnahme ganz Mexikos fortzusetzen. Widerstrebend zeichnete er Trists Friedensvertrag gegen, so dass der Krieg zu Ende ging.

Als weiteres Beispiel für die Wirksamkeit der Friedensbewegung kann deren Rolle im Vietnam-Krieg gelten. Gegen Ende 1967 wurde, wie Lyndon Johnson sich erinnerte, „der Druck so groß“, dass Verteidigungsminister Robert McNamara „nachts nicht schlafen konnte. Ich befürchtete einen Nervenzusammenbruch.“ Johnson selbst schien besessen von dem Widerstand, den seine Kriegspolitik hervorgerufen hatte. Gespräche mit Kabinettsmitgliedern eröffnete er mit der Frage: „Warum seid ihr nicht unterwegs zum Kampf mit meinen Gegnern?“ Nachdem McNamara zurückgetreten und Johnson selbst durch eine Revolte innerhalb seiner eigenen Partei aus dem Amt gejagt war, steckte die Nixon-Administration, wie Henry Kissinger klagte, „zwischen dem Hammer Kriegsgegner und dem Amboss Hanoi.“ Kissinger notierte: „Das Regierungsgefüge fiel auseinander. Die Exekutive steckte in einer Kriegsneurose.“ Und weiter: „Die Kriegs- und Friedensproteste zerbrachen das Selbstvertrauen, ohne das eine Führungselite ins Stolpern gerät.“ In einer sorgfältigen, gut recherchierten Studie (Johnson, Nixon, and the Doves) gelangte der Historiker Melvin Small zu dem Schluss, dass „die Anti-Kriegsbewegung und die Kriegskritik in den Medien einen wesentlichen Einfluss auf die Vietnam-Politik von Johnson und Nixon hatten“, sie zur Deeskalation und letztlich zum Rückzug bewegten.

Ein Beispiel mehr für die Wirksamkeit der Friedensbewegung ergab sich im Kontext der entschiedenen Versuche der Reagan-Administration, die von den Sandinisten geführte Regierung Nicaraguas zu stürzen. Wie in Vietnam war die US-Regierung nicht in der Lage, ihre immense militärische Überlegenheit gegenüber einem kleinen Agrarstaat erfolgreich auszuspielen. Der Druck seitens der Bevölkerung gegen die Militärintervention in Nicaragua verhinderte nicht nur den Einsatz von Kampftruppen. Er führte auch zu einer Initiative im Kongress, die auf eine Streichung der Finanzierung der US-Platzhalter Contras durch die US-Regierung hinauslief (das Boland Amendment). Obwohl die Reagan-Administration das Boland-Amendment zu umgehen versuchte, indem sie Raketen an den Iran verkaufte und den Ertrag an die Contras weiterleitete, schlug dieses Projekt fehl und schadete den Reagananhängern mehr als den Sandinisten.

Ende des Kalten Krieges

Beachtliche Gründe sprechen auch dafür, dass letztlich die Friedensbewegung dem Kalten Krieg ein Ende gesetzt hat. Der Widerstand der Friedensbewegung gegen das nukleare Wettrüsten und dessen eindeutigste Manifestation, die Atomwaffentests, führte unmittelbar zu Kennedys Universitätsrede von 1963 und im gleichen Jahr zum »Teilweisen Teststopp-Vertrag«, mit dem die sowjetisch-amerikanische Entspannung einsetzte. Kennedys Rede wurde in Teilen von Norman Cousins verfasst, Gründer und stellvertretender Vorsitzender des National Committee for a Sane Nuclear Policy, die größte amerikanische Friedensorganisation. Cousins handelt auch den Vertrag aus.

Als die angriffswillige Reagan-Administration den Kalten Krieg wiederbelebte und das nukleare Wettrüsten intensivierte, löste sie den größten Friedensaktivismus in der bisherigen Geschichte aus. In den Vereinigten Staaten gewann die Nuclear Freeeze-Kampagne die Unterstützung der wichtigsten Religionsgemeinschaften, von Gewerkschaften, Berufsgruppen und der Demokratischen Partei, organisierte die bis dato größte politische Demonstration in der Geschichte der USA und gewann die Zustimmung von mehr als 70% der Bevölkerung. In Europa kam es zu einer i.W. gleichartigen Entwicklung und im Herbst 1983 demonstrierten etwa fünf Millionen Menschen gegen die vorgesehene Stationierung von Mittelstreckenraketen. Reagan war verblüfft. Im Oktober 1983 sagte er Außenminister George Shultz: „Wenn die Entwicklung sich zuspitzt, sollte ich vielleicht (den sowjetischen Premier Juri) Andropow aufsuchen und ihm vorschlagen, alle Atomwaffen abzuschaffen.“ Shultz war entsetzt, stimmte aber zu, dass „wir die Dinge nicht laufen lassen können“.

So forderte Reagan im Januar 1984 in einer bemerkenswerten öffentlichen Erklärung Frieden mit der Sowjetunion und eine atomwaffenfreie Welt. Seine Berater sind sich einig, dass diese Rede den Russen seine Bereitschaft signalisieren sollte, den Kalten Krieg zu beenden und die Atomwaffenarsenale zu reduzieren. Doch die sowjetische Führung war erst mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows im März 1985 bereit, sich auf Reagans Vorschläge einzulassen. Anders als seine Vorgänger war Gorbatschow, sozusagen ein Bewegungs-Konvertit, willens, initiativ zu werden. Sein »neues Denken« – worunter er die Notwendigkeit von Frieden und Abrüstung im Nuklearzeitalter verstand – war fast eine Kopie des Programms der Friedensbewegung. Wie er selbst erklärt hat: „Das neue Denken trug den Schlussfolgerungen und Forderungen der Ärzte, Naturwissenschaftler, Umweltexperten und verschiedener Antikriegsorganisationen Rechnung und nahm sie in sich auf.“ Kein Wunder, dass Reagan und Gorbatschow, angetrieben von der Friedensbewegung, sich rasch auf Atomwaffen-Abrüstungsverträge und ein Ende des Kalten Krieges hin bewegten.

Nicht geführte Kriege

Wir sollten auch an die Kriege denken, zu denen es dank des Aktivismus der Friedensbewegung nicht kam. Historiker haben die Meinung vertreten, dass die antiimperialistische Kampagne gegen den Philippinen-Krieg später US-Kriege dieser Art und dieses Umfangs verhindert hat. Sie haben auch geltend gemacht, dass der Druck der Friedensbewegung dazu beigetragen hat, 1916 einen Krieg mit Mexiko zu verhindern und die Konfrontation mit Mexiko in den späten 1920ern zu mildern. Und wie viele Kriege, so können wir uns selbst fragen, wurden verhindert durch die Durchsetzung zahlreicher Ideen und Vorschläge, die letztlich der Friedensbewegung entstammen: internationale Schiedsgerichtsbarkeit, Völkerrecht, Entkolonialisierung, der Völkerbund, Abrüstungsverträge, die Vereinten Nationen und gewaltfreier Widerstand? Diese Frage werden wird wahrscheinlich nie beantworten können.

Wir wissen jedoch, dass die Friedensbewegung seit 1945 eine wesentliche Rolle bei der Verhinderung eines Krieges besonderer Art gespielt hat: eines Atomkriegs. Bei den gegebenen Platzbeschränkungen kann hier nur ein kleiner Teil der Evidenz zur Begründung dieser These dargelegt werden. Sie wird aber in meinem dreibändigen »The Struggle Against the Bomb« detailliert entfaltet.

1956 bedauerte Henry Cabot Lodge Jr., US-Botschafter bei den Vereinten Nationen, dass die Atombombe „einen »schlechten Ruf«“ bekommen hat, „und zwar so sehr, dass das uns effektiv hindert, sie zu gebrauchen.“ Als später im Laufe dieses Jahres der Vereinigte Generalstab und andere Funktionsträger größere Flexibilität bei der Verwendung von Atomwaffen forderten, antwortete Präsident Eisenhower: „Die Verwendung von Atomwaffen würde angesichts des gegenwärtigen Standes der Weltmeinung gravierende politische Probleme zur Folge haben.“ Und Mitte 1957 tat Außenminister John Foster Dulles ambitiöse Vorschläge, Krieg mit Atomwaffen zu führen, bei einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates mit der Bemerkung ab, „die Weltmeinung (sei) noch nicht bereit, den allgemeinen Gebrauch von Atomwaffen zu akzeptieren.“

Diese Überzeugung beunruhigte US-Entscheidungsträger auch während des Vietnamkriegs, als – mit Dean Rusk gesprochen – die Kennedy-, Johnson- und Nixon-Administrationen bewusst „lieber den Krieg verloren, als ihn mit Atomwaffen zu »gewinnen«“. McGeorge Bundy, der zweien dieser Präsidenten als Nationaler Sicherheitsberater diente und dem dritten als Fachgutachter, vertrat die Meinung, dass die Entscheidung der US-Regierung, keine Atomwaffen einzusetzen, nicht auf Furcht vor nuklearer Vergeltung seitens der Russen und Chinesen basierte, sondern auf Furcht vor der verheerenden öffentlichen Reaktion, die ein Atomwaffeneinsatz in anderen Ländern und insbesondere in den USA selbst hervorrufen würde.

Zum entscheidenden Test kam es während der Reagan-Administration, als höchste Verantwortliche für die nationale Sicherheit – vom Präsidenten abwärts – bei Amtsantritt leichtzüngig davon redeten, einen Atomkrieg zu führen und zu gewinnen. Doch diese Position änderte sich bald aufgrund der massiven öffentlichen Entrüstung darüber. Im April 1982 fing Reagan an, öffentlich zu erklären: „Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen und darf niemals geführt werden.“ Und er fügte hinzu: „Denen, die gegen den Atomkrieg protestieren, kann ich nur sagen: »Ich stehe auf eurer Seite!«“

Ich fasse zusammen: Obwohl es noch viel zur Wirksamkeit der Friedensbewegung zu forschen gibt, erscheint es mir nur fair, zu sagen, dass der Friedensaktivismus der US-Außen- und Militärpolitik in zahlreichen Fällen Einhalt geboten hat.

Anmerkungen

1) Im Krieg von 1812-1814 gegen Großbritannien versuchten die US-Amerikaner vergeblich, nach Kanada vorzudringen. [Anm. d. Übers.]

Dr. Lawrence S. Wittner ist Professor für Geschichte an der State University New York/Albany und Verfasser von »Toward Nuclear Abolition: A History of the World Nuclear Disarmament Movement, 1971 to the Present«, Stanford University Press. Der vorliegende Aufsatz war ein Redebeitrag des Autors zu einem Roundtable-Forum im Rahmen der diesjährigen Jahresversammlung der American Historical Association am 7. Januar 2006 und wurde zunächst von History News Network veröffentlicht (s. http://hnn.us/articles/20367.html). Dem weniger formellen Kontext entsprechend enthält er weder Fußnoten noch Literaturnachweise. Die Redaktion wurde dankenswerterweise von Wolfgang Sternstein auf ihn aufmerksam gemacht. Besonderer Dank gilt dem Autor für die umstandslose Erlaubnis zur Veröffentlichung einer deutschen Version. Die Übersetzung besorgte Albert Fuchs.

Ziviler Widerstand in Kolumbien

Ziviler Widerstand in Kolumbien

von Bettina Reis

Eine Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen ist notwendig – aber Frieden beinhaltet mehr als die Abwesenheit von Krieg. Zivile Widerstandsinitiativen in Kolumbien intervenieren nicht nur im bewaffneten Konflikt, sie wehren sich gegen ein System von Ungleichheit und Ausgrenzung, indem die Armen immer ärmer werden, sie engagieren sich im Kampf um demokratische und soziale Menschenrechte. Ein Kampf, der viele Opfer fordert und der doch außerhalb der betroffenen Regionen kaum Beachtung findet.

Die Friedensforscherin Esperanza Hernández Delgado, hat indigene, afrokolumbianische und kleinbäuerliche Widerstandsinitiativen in Kolumbien untersucht. Die wesentlichen Merkmale des zivilen Widerstandes fasst sie in sieben Punkten zusammen:

  • Ziviler Widerstand ist das Ergebnis eines Prozesses, der Organisation und Planung beinhaltet, er ist keine spontane Ausdrucksform von kurzer Dauer.
  • Ziviler Widerstand ist eine kollektive Aktion, es geht nicht um eine individuelle Option.
  • Ziviler Widerstand gibt Antwort auf unterschiedliche Ausprägungen von Gewalt. Er ist nicht nur eine Reaktion auf die Gewalt des bewaffneten Konflikts, sondern agiert auch in Bezug auf strukturelle und politische Gewalt.
  • Ziviler Widerstand hat seinen Ursprung in der Zivilbevölkerung. Es geht nicht um Initiativen von lokalen, regionalen oder nationalen Regierungen oder von bewaffneten Akteuren.
  • Ziviler Widerstand ist eine gewaltfreie – jedoch nicht notwendigerweise pazifistische – Antwort.
  • Ziviler Widerstand bedeutet Nicht-Kollaboration mit Gewaltakteuren.
  • Ziviler Widerstand stützt sich auf moralische Kraft, die ihn legitimiert.1

Ziviler Widerstand ist also ein aktives Verhalten in Bezug auf den bewaffneten Kampf sowie auf den ihm ursächlich zugrunde liegenden sozialen Konflikt; in Kolumbien auf ein strukturell verankertes System von Ungleichheit, Ausgrenzung und Verarmung. Das aktive Verhalten vollzieht sich dabei in unterschiedlichen Handlungsfeldern: Im Falle des bewaffneten Konfliktes ist es die direkte Auseinandersetzung mit den staatlichen und nicht-staatlichen bewaffneten Akteuren. Dabei werden grundlegende Normen des Humanitären Völkerrechts, wie die Unterscheidung von Kombattanten und Zivilpersonen, eingefordert. Oft geht es auch um die Achtung von Territorialrechten durch die bewaffneten Akteure. Es wird gefordert, dass Kollektivland von indigenen und afrokolumbianischen Minderheiten oder humanitäre Räume zivilgesellschaftlicher Gruppen nicht angetastet werden.

Frieden ist mehr als Nicht-Krieg

Initiativen des zivilen Widerstandes sind Ausdruck einer Friedenskonzeption, die die traditionelle Auffassung von Frieden als Abwesenheit von Krieg überwinden. „Der Aufbau des Friedens ist dabei eng mit der sozialen Inklusion, einer realen Anerkennung der ethnischen und kulturellen Diversität und den Rechten der Völker, dem Ausüben von Autonomie und Selbstbestimmung der Gemeinden, der Entwicklung von Wirtschaftsmodellen gemäß den Kulturen und eigenen Bedürfnissen, der Vertiefung von Demokratie, Dialog und der friedlichen Konfliktlösung verbunden,“ stellt Hernández Delgado fest.2 Die strukturelle Gewalt und die Auswirkungen des eskalierenden bewaffneten Konfliktes auf die Zivilbevölkerung sind die wichtigsten Ursachen für die Entwicklung von zivilen Widerstandsinitiativen, folgert sie in ihrer Studie über Basis-Friedensinitiativen.

Die kolumbianischen Widerstandsinitiativen, die gewaltfrei versuchen, ihre Menschenrechte durchzusetzen, haben gemeinsame Merkmale, sind aber auch sehr unterschiedlich. Es gibt Basis-Friedensinitiativen, die aus dem Spektrum von kleinbäuerlichen, indigenen und afrokolumbianischen Bewegungen kommen. In einigen Fällen sind sie eine Reaktion auf Fluchtsituationen und Organisationsprozesse von internen Vertriebenen. Andere Initiativen haben in ihrer Zusammensetzung einen gemischten Charakter. Im Frauen-Friedensnetzwerk Ruta Pacífica de las Mujeres (Frauen-Friedensroute) arbeiten 350 Organisationen aus verschiedenen Landesteilen zusammen. Die Koordinatorinnen kommen aus der mittelständischen NGO-Frauenszene. Es will eine feministische Perspektive des Pazifismus, der Gewaltlosigkeit und des Widerstands stärken. Es entstand 1996 als Antwort auf die Situation von Frauen in den Konfliktregionen und ist seit 2000 Teil des internationalen Netzwerkes der Frauen in Schwarz.3

All diese Initiativen lehnen militärische Lösungen ab, fordern eine Verhandlungslösung des bewaffneten Konfliktes und wehren sich gegen eine zunehmende Militarisierung des Alltags. Das Frauen-Friedensnetzwerk führt unterschiedliche Protestaktionen und Bildungsmaßnahmen für Frauen durch, bei denen die Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes und von Gewalt auf Frauen in Kolumbien analysiert werden.

Bei vielen sozialen Organisationen verschieben sich die Schwerpunkte der Arbeit infolge der Konfliktentwicklung in ihrer Region. Lebensbedrohliche Situationen, hervorgerufen durch Massaker, Morde, Verschwindenlassen und Zwangsvertreibungen, mindern die Möglichkeiten, den ursprünglichen Zielen nachzugehen und erfordern eine Konzentration der kollektiven Energien auf Überlebenssicherung. Beispielhaft für einen solchen Prozess ist die Organización Femenina Popular (OFP), eine über zwanzig Jahre alte Frauen-Basisorganisation in der Erdölstadt Barrancabermeja, die in den letzten Jahren der gewaltsamen Vereinnahmung der sozialen Organisationen in der Region des Magdalena Medio durch rechtsextreme Paramilitärs Widerstand leistete. Da die paramilitärische Intervention die Kontrolle der Bevölkerung und die Zerstörung der sozialen Organisationen anstrebte, war ein wichtiger Aspekt des Widerstandsprozesses, Räume – wie Frauen- und Flüchtlingszentren – trotz des Drucks nicht aufzugeben und Autonomie zu erhalten. Eine Arbeit, die ein hohes Maß an Zivilcourage erforderte.

Kampf um das Recht auf Land

Bedeutende zivile Widerstandsprozesse entwickelten sich aufgrund von gewaltsamen Vertreibungen an der Pazifikküste und in der Bananenanbauregion Urabá im Nordwesten Kolumbiens. Dort wurden ab Mitte der 1990er Jahre, mittels gemeinsam von Armee und Paramilitärs durchgeführten Militäroperationen, Tausende von kleinbäuerlichen Familien vertrieben. Im Pazifik-Tiefland wurde vor allem die afrokolumbianische Bevölkerung Opfer dieses brutalen Vertreibungsprozesses, bei dem über hundert Personen ermordet wurden. Die afrokolumbianischen Gemeinschaften befanden sich in dieser Zeit in einem Prozess der Umsetzung kollektiver Landrechte. Ihr Anspruch auf unveräußerbares Kollektivland geht auf eine Verfassungsreform von 1991 zurück. Ihre Rechte auf Territorium und Selbstbestimmung kreuzen sich heute aber mit »modernen« Entwicklungsplänen für die kolumbianische Pazifik-Region und den Interessen der Holz- und Agroindustrie.4

Die afrokolumbianischen Gemeinden beantworteten die Aggression mit unterschiedlichen Formen des zivilen Widerstandes. Einige Gruppen zogen sich tiefer in den Urwald zurück, wechselten ständig ihre Aufenthaltsorte und bauten auf kleinen, versteckten Flecken Bananen und Maniok an. Hunde und Hähne wurden getötet, damit durch ihr Bellen und Krähen nicht die Präsenz von Menschen verraten wurde.

Die Mehrheit der drangsalierten Bevölkerung verließ ihr Heimatgebiet und verbrachte Monate in Flüchtlingslagern, die von der Kirche und internationalen Hilfsorganisationen versorgt wurden. Trotz extrem traumatischer Erfahrungen – bei den Terroraktionen wurde Gemeindemitgliedern der Schädel mit Steinen zertrümmert, anderen der Kopf mit einer Machete abgeschlagen um dann damit Fußball zu spielen – begannen die internen Vertriebenen sich erneut zu organisieren. Sie versuchten, in ihrer Heimatregion, wenn auch nicht in ihrem direkten Heimatgebiet, zu bleiben und wanderten nicht in die Städte ab. Sie loteten Möglichkeiten der Rücksiedlung aus und planten diese in organisierter Form.

Bei den Widerstandsaktivitäten geht es in erster Linie darum, das konstitutionelle Recht auf Land nicht aufzugeben. Die gewaltsame und unrechtmäßige Übereignung des Territoriums ist das eigentliche Ziel der Vertreibungen. Territorium ist dabei zu verstehen als geographischer und kultureller Lebensraum, der kleinbäuerliche Landwirtschaft und Subsistenz ermöglicht. Im allgemeinen werden die Militäroperationen mit dem Kampf gegen die linksgerichteten Guerillagruppen begründet. Die Zivilbevölkerung in einer Region mit Guerilla-Einfluss wird von der Armee und den sie unterstützenden paramilitärischen Gruppen als Basis der Guerilla gesehen. Illegaler Einschlag durch Holzfirmen und das Anlegen von Ölpalmplantagen unmittelbar nach den Vertreibungen im Pazifik-Gebiet belegen aber, dass wirtschaftliche Interessen mit der staatlichen Aufstandsbekämpfung gekoppelt waren.5

Rücksiedlungen von Binnenflüchtlingen müssen nach UN-Richtlinien freiwillig sein. Die Sicherheitsvoraussetzungen für die Rückkehr in ein Heimatgebiet sind oft nicht gegeben, wenn es von den bewaffneten Akteuren weiter umkämpft ist. In vielen Fällen bietet sich die Armee als Schutz bei Rücksiedlungen an, auch dann, wenn sie direkt oder indirekt – durch Tolerierung der Paramilitärs – an den Menschenrechtsverletzungen und Vertreibungen beteiligt war. Eine Tätergruppe bekommt damit nicht nur eine Schutzfunktion sondern auch die Kontrollfunktion.

Basis-Friedensinitiativen, die in die Kategorie des zivilen Widerstands eingeordnet werden können, wehrten sich dagegen. Sie forderten für ihre Rücksiedlung zwar staatliche Präsenz und Unterstützung, aber nur die von zivilen Behörden. Militär und Polizei wurden aufgefordert, außerhalb der Wohn- und Arbeitsgebiete Schutz zu bieten, das heißt, die illegalen bewaffneten Gruppen (Paramilitärs und Guerilla) zu bekämpfen und die Zivilbevölkerung nicht in militärische Operationen einzubeziehen.

Die afrokolumbianischen Gemeinschaften vom Cacarica-Fluss im Pazifik-Tiefland, die sich im Flüchtlingslager als »Gemeinden für Selbstbestimmung, Leben und Würde des Cacarica-Beckens« (CAVIDA)6 konstituierten, arbeiteten für ihre Rücksiedlung einen komplexen Forderungskatalog aus, den sie mit dem Staat verhandelten. Teil ihrer Forderung war ein sog. Justiz-Haus (Casa de la Justicia), in dem Menschenrechtsbehörden und Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten sollten. Wenn (zivile) Staatsbedienstete in einer abgelegenen Landgemeinde präsent sind, ist deren Verhalten leichter transparent zu machen, das Argument der Zusammenarbeit mit illegalen bewaffneten Gruppen schnell entkräftet. Vertreter der Defensoría del Pueblo, der Ombudsstelle, können in Konfliktsituationen auf legaler Basis mit irregulären bewaffneten Gruppen in Kontakt treten. Die Gemeinden hatten auch beschlossen, keine direkten Kontakte zu Paramilitärs und Guerilla aufzunehmen, sondern falls erforderlich, diese nur über die dafür zuständigen Institutionen, wie das Internationale Rote Kreuz, herzustellen. Trotz dieser den Rechtsstaat stärkenden und die Legitimierung irregulärer Gruppen einschränkenden Vorschläge blieben die Gemeinden weiter Opfer von staatlich verantworteten Menschenrechtsverletzungen.

Die Einrichtung von humanitären Räumen

Die zivilen Widerstandsprozesse von Vertriebenen-Gruppen in der Region Urabá und dem Pazifik-Tiefland sind als »Friedensgemeinden« bekannt, ähnliche Mechanismen wenden jedoch auch indigene und afrokolumbianische Organisationen an. Die Vertriebenen-Gruppen bilden im Laufe ihres Organisierungsprozesses eine neue kollektive Identität heraus, die sich auch in ihren Namen ausdrückt. So bezeichnet sich eine kleinbäuerliche Gemeinde, die aus dem Weiler La Balsita im Kreis Dabeiba vertrieben wurde, als Gemeinde für Leben und Arbeit La Balsita.7 Die Vertriebenen vom Jiguamiandó-Fluss sprechen von sich als Gemeinden im Widerstand.

Infolge des Eskalierens des bewaffneten Konfliktes und zunehmender Verrohung rückte in den letzten Jahren die Einforderung der im Humanitären Völkerrecht verankerten Schutzprinzipien in Bezug auf die Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt vieler Aktionen. Sich als Zivilpersonen gegenüber regulären und irregulären Truppen neutral zu verhalten und sie nicht zu unterstützen, ist im eigentlichen Sinne keine Neutralität, sondern eine bewusste Positionierung zivilgesellschaftlicher Gruppen im Krieg. Es bedeutet eine aktive Umsetzung des Prinzips der Unterscheidung von KombattantInnen und ZivilistInnen und des Schutzes der Zivilbevölkerung, die das Völkerrecht für einen innerstaatlichen Konflikt vorschreibt.8 Die Mitglieder der Friedensgemeinde von San José de Apartadó (Urabá, Dept. Antioquia), die sich im März 1997 gründete, verpflichten sich mit ihrer Unterschrift in einem Ausweis, keine Waffen zu tragen und Bewaffneten keine Informationen zu geben.9

Nach Artikel 13, Protokoll II, genießt die Zivilbevölkerung Schutz vor den von Kampfhandlungen ausgehenden Gefahren. Dieser Artikel wird u.a. durch die Einrichtung von humanitären Räumen umgesetzt. Dabei handelt es sich um abgegrenzte Gebiete, zu denen bewaffneten Akteuren der Zutritt untersagt wird. Je nach Selbstverständnis der Gruppe oder Gemeinde, werden diese Orte als »Friedensgemeinde« oder »humanitäre Zone« sichtbar gemacht. Es sind selbst verwaltete Räume, die Regeln des Zusammenlebens werden von den zivilgesellschaftlichen Gruppen bestimmt. Diese Initiativen zum Schutz und zur Selbstbestimmung gehen von den Gemeinden aus, es sind keine externe, von staatlichen oder humanitären Akteuren vorgeschlagene Hilfsangebote. Die Gemeinden wollen verhindern, dass sie durch die Präsenz bewaffneter Akteure in ihren Wohn- und Arbeitsgebieten zur Zielscheibe des jeweiligen Gegners werden. Auch ist ihr Vorgehen eine anti-militaristische Antwort auf eine Kriegspolitik, die die Grenzen zwischen Zivilem und Militärischem verwischt, sowie auf das Verhalten aller bewaffneter Akteure, die versuchen die Zivilbevölkerung für militärische Ziele zu instrumentalisieren. Die Friedensinitiativen werden in einigen Fällen vor Ort von nationalen und internationalen Menschenrechts- und Friedensorganisationen begleitet, was ihren Aktionsradius erweitert.

Der Kampf gegen Straflosigkeit.

Eine weitere Komponente vieler Widerstandsinitiativen ist der Kampf gegen Straflosigkeit. Über Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen wird Buch geführt, diese werden öffentlich gemacht. Dabei finden nationale und internationale Instrumente des Menschenrechtsschutzes Anwendung. Das öffentlich machen von Menschenrechtsverletzungen durch Opfergruppen und sie begleitende Menschenrechtsorganisationen ist während eines Krieges mit einem hohen Risiko verbunden.

Das Engagement der meisten Gruppen, die zivilen Widerstand leisten, gilt nicht nur dem Widerstand gegen den Krieg, es hat einen weitergehenden emanzipatorischen Ansatz. Oft werden auf der Mikroebene gemeinschaftliche Formen des Zusammenlebens und Arbeitens praktiziert, auf der Makroebene reihen sich die Initiativen in den Kampf gegen die negativen Auswirkungen der Globalisierung und des neoliberalen Wirtschaftsmodells ein. Sie engagieren sich als politische Subjekte, aus der Perspektive der Opfer. Es ist ein ziviler und unbewaffnet geführter Kampf um die demokratische Transformation Kolumbiens, der im In- und Ausland von den Medien weitgehend ignoriert wird, obwohl er viele Menschenleben kostet.

Anmerkungen

1) Hernández-Delgado, Esperanza: Resistencia civil artesana de paz. Experiencias indígenas, afrodescendientes y campesinas. Bogotá: Editorial Pontificia Universidad Javeriana 2004, S. 32f.

2) Hernández-Delgado, Esperanza: s. o., S. 33.

3) Frauensolidarität in Kriegsgebieten. Seit neun Jahren besteht das kolumbianische Frauen-Friedensnetzwerk Ruta Pacífica de las Mujeres. In: ila 290, Nov. 2005, S. 43-44.

4) Diözesanstelle Weltkirche Trier, Arbeitsgruppe Menschenrechtsarbeit Kolumbien und Entwicklungspolitisches Landesnetzwerk Rheinland-Pfalz e.V. (Hg.): Kolumbien: Megaprojekte am Pazifik und der Weg zum Ethnozid. Auszüge einer Veröffentlichung der Kommission Leben, Gerechtigkeit und Frieden des Bistums Quibdó, Kolumbien. Trier 2004.

5) Ein Vertreter der Widerstandsgemeinde vom Jiguamiandó-Fluss im Pazifik-Tiefland Kolumbiens berichtet. In: ila 273, März 2004, S.43-45

6) Spanisch: Comunidades de Autodeterminación, Vida y Dignidad del Cacarica, CAVIDA

7) Comunidad de Vida y Trabajo La Balsita – Dabeiba

8) Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer nicht int. bewaffneter Konflikte (Protokoll II)

9) Zur Geschichte dieser Friedensgemeinde siehe: Gruppe Krisalida (Hg.): Eine Friedensinsel, die man nicht mehr zerstören kann. Aufzeichnungen eines Gesprächs mit Luis Eduardo Guerra Guerra, Friedensgemeinde von San José de Apartadó. Bonn, Februar 2006 (http://www.kolumbien-aktuell.ch/alledokumenten/06-02-21GedenkschriftLuisEduardoGuerra.pdf); Reis, Bettina: Eine gefährdete Friedensinsel. Internationale Mission besucht Friedensgemeinde von San José de Apartadó in Kolumbien. In: ila Nr. 292, Febr. 2006 (http://www.ila-web.de/artikel/ila292/sanjosedeapartado.htm)

Bettina Reis, Soziologin, ist bei der Lateinamerika-Zeitschrift ila für Kolumbien verantwortlich.

Der Neoliberalismus und die Volksbewegungen

Der Neoliberalismus und die Volksbewegungen

Wohin geht die Entwicklung in Lateinamerika?

von Dieter Boris

Lateinamerika ist in den letzten Jahren in Bewegung geraten. Sogar hier zu Lande hat man davon Notiz genommen, wenn auch spärlich. Und es gibt eine gewisse Hinwendung, ein gewisses gesteigertes Interesse an diesen Prozessen, die sich dort offenbar abzeichnen. Stichworte: Venezuela, Uruguay, Brasilien, Argentinien, Bolivien, Ecuador. Aber was passiert dort wirklich? Gewiss, Bewegung lässt sich feststellen. Einige Präsidenten neoliberaler Provenienz sind aus ihren Ämtern vertrieben worden. Zeitweise waren erhebliche soziale Bewegungen zu beobachten. Der antineoliberale Diskurs ist stärker geworden oder, anders gesagt, der Neoliberalismus als Diskurs ist nicht mehr allein herrschend. Es gibt Neuansätze, aber die Frage ist, wie ist das Verhältnis von Kontinuität und Bruch, sind wirklich neue Verhältnisse zu konstatieren; sind diese neuen Mitte-Links-Regierungen der Anfang von etwas grundsätzlich Anderem oder nur die modifizierte Fortsetzung des Alten?

Als Ausgangspunkt für die neoliberale Hegemonie in den Ländern Lateinamerikas (Ausnahme Kuba) ist die Schuldenkrise Anfang der achtziger Jahre zu sehen. Diese wiederum war Ausdruck einer gewissen Erschöpfung des bisherigen Entwicklungsmodells, das auf Importsubstitutionen beruhte, also Ersatz von Importen und Binnenmarkt-Zentrierung einschloss. Damit ist eine gewisse Krisensituation bezeichnet, aus der neue Wege der Weiterentwicklung gesucht wurden. Natürlich wirkte dabei auch der Druck von außen mit, also die Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF), die Auflagen und Pressionen ausländischer Gläubiger und vor allen Dingen der so genannte berühmt-berüchtigte Konsens von Washington, der eine Skizze neoliberaler Politikmodelle beinhaltete. Diesem Druck von außen entsprach eine interne Machtverschiebung dahingehend, dass nun bestimmte Kapitalfraktionen, wie das Export- und Importkapital, die Finanzfraktion, aber auch technokratische Fraktionen gegenüber den binnenmarktorientierten Teilen der Bourgeoisie und anderen Bevölkerungssegmenten die Überhand gewannen. Das neue Programm der neoliberalen Politik, d. h. Öffnung nach außen, Privatisierung, Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, Liberalisierung der Preise usw., dieser ganze Katalog wurde nun in fast allen Ländern Lateinamerikas mehr oder minder radikal und intensiv umgesetzt. Das Versprechen derjenigen, die dieses Rezept verordneten, war, dass damit die Hoch- oder Hyperinflation – ein Übel der vorherigen Entwicklung – ausgeschaltet, die Stagnation im ökonomischen Bereich überwunden, die Arbeitslosigkeit reduziert und die Polarisierung der Gesellschaft vermindert werden könne. Mit der Umsetzung neoliberaler Politik ging das Versprechen der Wohlfahrtsteigerung einher. Tatsächlich waren in der Anfangsphase dieser neoliberalen Politik auch bestimmte Erfolge zu verzeichnen, z.B. haben sich die neoliberalen Regierungen immer auf die Fahnen geschrieben, die Hoch- oder Hyperinflation, manchmal von mehreren tausend Prozent im Jahr, relativ effektiv und schnell bekämpft zu haben. In der Tat kam es in den ersten Jahren auch zu einem gewissen Wiederanstieg der Wachstumsprozesse, vor allen Dingen Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre.

Bewegungen gegen die neoliberale Hegemonie waren zunächst sehr schwach. Es kam zwar manchmal wie bei der Regierungsübernahme in Peru oder auch in Venezuela zu spontanen Aufständen, zu Unmutsäußerungen der Bevölkerung über die Preisanstiege. Im Grunde genommen waren das aber sehr sporadische, vorübergehende Ereignisse. Es gelang vielen neoliberalen Präsidenten dann doch, sich durch- und die neoliberale Politik umzusetzen.

Länder- und phasenweise war das natürlich sehr unterschiedlich. In einigen Fällen war diese neoliberale Politik so erfolgreich, dass sie eine zumindest passive Zustimmung der Beherrschten fand, so dass manche Präsidenten nach der ersten Regierungsperiode mit großen Mehrheiten wiedergewählt wurden. Fujimori in Peru z.B. wurde Mitte der neunziger Jahre mit über fünfzig Prozent wiedergewählt, Menem mit ca. fünfzig Prozent. In der ersten Phase, Ende der achtziger bis zur zweiten Hälfte der neunziger Jahre, kann in bestimmten Ländern tatsächlich von so etwas wie einer neoliberalen Hegemonie, d. h. einer Zustimmung großer Teile der Beherrschten zu diesem Modell, gesprochen werden. Das hängt auch damit zusammen, dass etwa gewisse Entbürokratisierungen durchgeführt wurden, manchmal den Kommunen mehr Gewicht zugemessen wurde, dass auf kommunaler Ebene gewählt werden konnte oder dass die Importe billiger geworden waren.

Hintergründe des Akzeptanz- verlustes neoliberaler Regime

Die ersten Risse und Brüche dieser neoliberalen Hegemonie zeigten sich schon in der ersten Hälfte der neunziger Jahre. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an den Aufstand der Zapatisten am 1. Januar 1994. Die eigentliche Häufung von Protesten gegen die neoliberale Herrschaft erfolgte aber erst Ende der neunziger Jahre und vor allen Dingen mit Beginn des neuen Jahrhunderts.

Welche Faktoren führten zum Akzeptanzverlust der neoliberalen Herrschaft? Man kann feststellen, dass nach den gestiegenen Wachstumsraten Anfang der neunziger Jahre in der zweiten Hälfte in den meisten Ländern eine Stagnationsphase einsetzte. Es kam auch zu großen Krisen und langwierigen Rezessionen, wie in Argentinien von 1998 bis 2001. Es ereigneten sich eine Reihe von Finanzkrisen, die mehr oder minder tiefgreifende Wirkungen entfalteten: Finanzkrise in Mexiko 1994 und 1995, Finanz- und Währungskrisen in Brasilien Anfang 1999, Argentinien eigentlich dauernd seit 2000 bis 2002.

Die Arbeitslosigkeit stieg im Laufe dieser Krisen weiter an. Der informelle Sektor, die prekären Arbeitsverhältnisse multiplizierten sich. In manchen Ländern betrafen sie mehr als die Hälfte der Arbeitenden. Die sozioökonomische Polarisierung, also Einkommenspolarisierung, Differenzierung, Auseinanderdriften von Armut und Reichtum, nahm ungeahnte Dimensionen an. Zu all diesen ökonomischen und sozialen Defiziten der neoliberalen Politik und Herrschaft gesellten sich verschiedene institutionelle Schwächen wie das Versagen von Justiz, Polizei und der Parteien, teilweise auch der gesteuerten Medien. Es kam zu einer gewissen Unzufriedenheit mit der formalen Demokratie, die in einer Reihe von Ländern ja erst Anfang der achtziger Jahre – nach den Diktaturen der siebziger Jahren – erreicht worden war.

Zu den Momenten, die die Unzufriedenheit mit dem neoliberalen Modell gefördert haben, zählt auch das Ansteigen der Gewaltkriminalität im Alltag. Hinzu kam ein Phänomen, das Lateinamerika früher nicht gekannt hatte. Lateinamerika war immer ein Einwanderungskontinent gewesen, was sich aber in den neunziger Jahren ins Gegenteil kehrte. Einzelne Länder wurden geradezu für ihre Auswandererströme bekannt. Fast 20 % der Uruguayos leben heute im Ausland. Es gab die berühmten Bilder, auf denen ausreisewillige Argentinier Botschaften belagern. Die nach Spanien fliehenden Ecuadorianer und Ecuardorianerinnen sind notorisch, die Migrationsströme aus Zentralamerika, den karibischen Ländern und Mexiko in die USA ohnehin bekannt.

Die wachsende Unzufriedenheit mit dem Neoliberalismus und die Erkenntnis, dass die Versprechen, die mit ihm einhergegangen waren, immer weniger erfüllt wurden, führte dazu, dass es in manchen Ländern zu spontanen Aktionen kam, dass Präsidenten durch mobilisierte Massen weggefegt wurden. Das fängt schon 1997 in Ecuador mit Bucarám an, der als geistig umnachtet vom Parlament abgesetzt und dann von der Massenbewegung ins Exil getrieben wurde. Es traf auch andere Präsidenten, 2000 nochmals in Ecuador, dann in Argentinien, wo der gewählte Präsident Fernando de la Rúa völlig diskreditiert und blamiert das Regierungsgebäude in einem Hubschrauber verlassen musste, weil er im Dezember 2001 einen Einsatz der Polizei befohlen hatte, bei dem 40 Tote zu beklagen waren.

In anderen Ländern waren es eher Wahlen, die zu einer Umkehr führten wie in Brasilien, Uruguay und teilweise auch in Peru.

Neue und alte soziale Bewegungen

An den Aktivitäten gegen die neoliberalen Regime waren alte soziale Bewegungen, d. h. solche, die schon vor diesen Krisenzeiten existiert hatten, beteiligt, aber auch Bewegungen, die erst damals entstanden sind. In Argentinien bildeten sich z.B. ganz neue Bewegungen wie die der Piqueteros, die Arbeitslosenbewegung, die Stadtteilversammlungen, die Tauschbörsen, die Bewegung der besetzten Betriebe etc. All das sind Bewegungen, die es in dieser Form in den achtziger und neunziger Jahren noch nicht gegeben hatte.

Wie sind diese neuen Bewegungen einzuschätzen? Zunächst ist überraschend, dass sie sich überhaupt gebildet haben und eine solche Pressions- und Schubkraft entwickeln konnten. Denn die sozialen Bewegungen in Lateinamerika erlebten nach dem Rückzug der Militärdiktaturen und der Erringung der formalen Demokratie einen Rückgang. Fast überall konnte man beobachten, dass Bewegungen, die im Kampf gegen die Militärdiktatur einen Aufschwung erlebt hatten und sehr wichtig gewesen waren bei der Verdrängung der Militärs von der politischen Herrschaft, einen Rückgang erlebten. Das hängt mit vielen Dingen zusammen, unter anderem damit, dass viele ihrer Leute in Regierungs- oder Parteiämter kamen, dass das gemeinsame Feindbild eines Militärdiktators nun fehlte, dass mit bestimmten Maßnahmen seitens der neuen formalen Demokratien Bewegungen befriedigt wurden.

Sodann war die Revitalisierung dieser sozialen Bewegungen auch deshalb erstaunlich, weil sich unter dem Neoliberalismus Sozialstrukturen, die vorher vorhanden gewesen waren, verändert hatten. Verändert in dem Sinne, dass es jetzt wesentlich mehr Angehörige des informellen Sektors bzw. in prekären Arbeitsverhältnissen gab und eine gewisse Atomisierung der Sozialstruktur stattfand. Große Kollektive, die in Großbetrieben oder auch in Dienstleistungsbetrieben vorhanden gewesen waren, wurden im Zuge neoliberaler Politik zerschlagen oder extrem reduziert. Die Ansätze einr kollektiven Oppositions- und Widerstandsbewegung wurden dadurch sehr erschwert.

Aus diesen beiden Gründen ist es erstaunlich und bedenkenswert, dass es überhaupt wieder zu einem Aufschwung dieser sozialen Bewegung ab Ende der neunziger Jahre kommen konnte.

Sicher war entscheidend, dass ab einem bestimmten Punkt die Differenzen und Atomisierungstendenzen überdeckt wurden von dem gemeinsamen Protest gegen die neoliberalen Herrschaftsformen. Es kam zu Bündnissen zwischen Teilen der Mittelschichten und den Unterschichten. In Argentinien wurde das auf dem Höhepunkt der Krise 2001 – 2002 ganz deutlich, als sich die Cacerolazos, die Töpfe schlagenden Mittelschichtsangehörigen, die an ihre Konten wollten, mit den Piqueteros, den Arbeitslosen- und Gewerkschaftsbewegungen, verbündeten.

Wichtig war auch bei der Entstehung dieser neuen Protestbewegung, dass es in den meisten Ländern eine Bewegung gab, die voran schritt, die eine Vorreiterrolle einnahm. In manchen Ländern waren es die indigenen Bewegungen, vor allem in Ecuador und Bolivien. Im Schatten der indigenen Bewegung aktivierten sich dann auch die Gewerkschaftsbewegung, die Bewegungen der Cocaleros und der Minenarbeiter sowie der im Erziehungsbereich Arbeitenden.

In Argentinien lag die Vorreiterrolle bei den schon erwähnten Piqueteros, den neu gebildeten Arbeitslosenbewegungen. Interessanterweise sind sie im Nordwesten Argentiniens entstanden. Hier hatte die Privatisierung großer Unternehmen, z.B. der Raffinerien in Neuquén und Salta, ganze Regionen in die Arbeitslosigkeit gestürzt. In der Folge kam es zu Bündnissen zwischen Mittel- und Unterschichten, an denen sich auf lokaler und regionaler Ebene sogar Regierungsoffizielle beteiligten. In der tiefsten Provinz bildeten sich die ersten Keime dieser Arbeitslosenbewegung heraus, die dann erst relativ spät das Zentrum des Landes, den Großraum Buenos Aires erreichte. Dann aber spielte diese Arbeitslosenbewegung eine dominierende Rolle, der sich andere Bewegungen wie die Stadtteil-, die Frauen- und die Menschenrechtsbewegung anschlossen.

Ähnliches kann man auch für Brasilien konstatieren, wo der Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra, die Landlosenbewegung, eine gewisse Vorreiterrolle hatte. Man kann generell sagen, dass bei diesen Bewegungen der territoriale Aspekt wichtiger ist als der betriebliche. Bei den alten sozialen Bewegungen waren immer die betrieblichen Kerne wichtig, weil im Betrieb eben viele Menschen zusammengefasst waren, große Gruppen an einem Ort kommunizieren konnten. Das ist durch die Dispersion und die Atomisierung im Zuge des Neoliberalismus erschwert worden; von daher war das territoriale Organisationsprinzip eine logische Schlussfolgerung aus dieser Entwicklung. Das heißt: Stadtviertel schließen sich zusammen, Piqueteros, Arbeitslose blockieren an bestimmten Punkten der Stadt Verkehrsknoten und erheben Forderungen, nicht um den Produktionsprozess still zu legen, aus dem sie ja heraus gefallen sind, sondern den Zirkulationsprozess. Damit werden der übrigen Gesellschaft neue Signale vermittelt.

Überwindung des Neoliberalismus – Chancen und Probleme

Wie sind die neuen Regime in Lateinamerika – die allgemein als Mitte-Links-Regierungen bezeichnet werden – einzustufen? Wird mit ihnen das Zeitalter nach dem Neoliberalismus eingeläutet oder nur ein postneoliberales Zeitalter. Der von mir geschätzte Kollege Hans-Jürgen Burchardt hat ein Buch veröffentlicht mit dem Titel »Nach dem Neoliberalismus«. Ich würde sagen, das ist ein sehr hoffnungsfroher Titel, aber so weit sind wir noch nicht. Es ist eben das Problem, dass unsere Hoffnungen, Erwartungen und Wünsche uns gelegentlich ein Schnippchen schlagen. Notwendig ist eine genaue Analyse, um die Relativität dieser Fortschritte bei der Ablehnung des Neoliberalismus exakt und richtig einschätzen zu können.

Ganz klar ist, dass mit den Regierungswechseln in mehreren Ländern Lateinamerikas in Richtung Mitte-Links ein Schritt nach vorne gemacht wurde. Die monolithische, erstickende pensée unique, pensamiento unico, das Einheitsdenken wurde durchbrochen, es gibt neben dem Neoliberalismus jetzt auch andere Diskurse. Das ist natürlich ein wichtiger Fortschritt, und damit haben sich die Handlungsbedingungen der Linken (im weitesten Sinne) verbessert. Aber die Situation ist eben keineswegs eindeutig. Der Neoliberalismus ist in den meisten Ländern bei weitem nicht zu Grabe getragen und hat auch da, wo er oberflächlich gekappt ist, noch sehr tiefgreifende und festsitzende Wurzeln. Dem Prestige- und Legitimationsverlust des neoliberalen Diskurses in der Öffentlichkeit, in der Kultursphäre und anderen Bereichen, stehen noch feste Bastionen in der Wirtschaftspolitik und zum Teil auch in der militärpolitischen Orientierung entgegen. Atilio Borón, ein wichtiger argentinischer Politologe, der auch Vorsitzender der CLACSO ist, umreißt diese Ambivalenz mit den Worten: „Gegenwärtig ist ein bemerkenswertes Auseinanderklaffen zwischen einer unübersehbaren Schwächung neoliberaler Impulse in den Bereichen Kultur, öffentliches Bewusstsein und Politik einerseits und zur gleichen Zeit deren eingewurzelter Fortdauer auf dem entscheidendem Terrain der Wirtschaft und des policy making andererseits festzustellen.“ In der Wirtschaftspolitik wird die Unabhängigkeit der Zentralbank, ein Leitdogma des Neoliberalismus, anerkannt, der Kniefall vor dem IWF wird vollzogen usw. Auf der anderen Seite redet man in wichtigen Bereichen der Politik eher antineoliberal. In Brasilien und in Uruguay sind diese Erscheinungen ganz deutlich. Diese Ambivalenz gilt es zu analysieren. Vielleicht ist es ja so, wie Anibal Quijano, ein peruanischer Soziologe, es formulierte, dass mit dem Verfall neoliberaler Hegemonie keineswegs automatisch antikapitalistische Kräfte nach vorne gekommen sind, sondern dass möglicherweise nur eine neue Form bürgerlicher Hegemonie angestrebt wird.

Eine neue Form bürgerlicher Hegemonie, die vielleicht eine etwas modifizierte Einbindung in den Weltmarkt anstrebt, vielleicht mit sozialen Beimengungen, aber keineswegs schon einen Schritt in Richtung der Überwindung des Kapitalismus darstellt.

Diese ambivalente Situation wird auch innerhalb der Linken der betroffenen Länder sehr unterschiedlich eingeschätzt. So wird z.B. das Phänomen Chávez und die »Bolivarianische Revolution« innerhalb der Linken Venezuelas außerordentlich kontrovers diskutiert. Innerhalb Argentiniens gibt es selbst unter Marxisten polar entgegengesetzte Auffassungen zu Kirchner und seiner Politik.

Vielleicht kann ich das am Fall des argentinischen Präsidenten Kirchner exemplifizieren. Kirchner hat eine ziemliche Wende gegenüber der Politik seiner Vorgänger vollzogen. Er hat eine neue Menschenrechtspolitik eingeschlagen, dafür gesorgt, dass die Amnestiegesetze oder Selbstamnestiegesetze aufgehoben und Veränderungen im Justizbereich durchgesetzt wurden. Auch eine außenpolitische Wende hat stattgefunden. Der Mercosur, das Integrationsbündnis der südamerikanischen Staaten, soll ein neues Gesicht erhalten. Auf der anderen Seite aber versucht derselbe Kirchner, die sozialen Bewegungen zu spalten, etwa die Piqueterobewegung: manche sind die guten und manche die schlechten Piqueteros. Auch Kirchner plädiert dafür, dass die Exportpolitik und der bürgerliche Wiederaufbau gestützt wird. Er macht daraus keinen Hehl, er sagt offen, wir wollen ein »país en serio«, einen seriösen ernsthaften Kapitalismus. Für die Linke stellt sich damit die Frage, ob sie eine diametrale Oppositionspolitik gegen diese Kirchner-Linie machen muss. Ist Kirchner, wie James Petras, Maristella Svampa und andere Linke sagen, der Typus des besonders raffinierten, neuen Konservativen, den es zu bekämpfen gilt, oder muss man der Kirchner-Regierung mit kritischer Distanz und zeitweisen Bündnissen begegnen?

Nirgendwo ist eine antikapitalistische sofortige Umwälzung in Sicht. Von daher erscheint auch die Frage der distanzierten Unterstützung dieser Mitte-Links-Regierungen in einem anderen Licht. Gerade die Tatsache, dass eine Linke z. B. in Argentinien, in Venezuela oder anderswo, in einer kompakten, konzentrierten, entschlossenen Form überhaupt nicht vorhanden ist, welche systemtranszendierende Qualitäten hätte, zeigt, dass der Prozess einer weitreichenden Umwandlung dieser Gesellschaften und Ökonomien wahrscheinlich ein sehr langfristiger Prozess ist. Kurz- und mittelfristig ist wohl nicht von einer grundlegenden Veränderung auszugehen. Das bedeutet, dass mit der Ablehnung und sukzessiven Zurückdrängung des neoliberalen Modells auch ein Lernprozess einhergehen muss, eine Suche nach neuen Formen der politischen Vergesellschaftung, nach neuen Formen auch von ökonomischen Handlungsweisen. Also genau das, was in Lateinamerika jetzt als Sektor der solidarischen Ökonomie bezeichnet wird, ein genossenschaftlicher, solidarischer Sektor. Alternative Wirtschaftsformen fallen nicht vom Himmel oder sind nicht schon da, sie sind nichts was man einfach von der Stange nehmen könnte, sondern sie müssen langwierig entwickelt, für sie muss Bewusstsein entfaltet werden. Das ist ein sehr langwieriger Prozess sowohl auf ökonomischer und auf politischer Ebene, aber vor allen Dingen auch auf der Ebene der politischen Kultur. Eine ganz neue politische Kultur muss erlernt werden, die von dem Vertikalismus, also hierarchischen Beziehungen, die auch in der Linken durchaus verbreitet sind, wegkommt und die Horizontalität, die Autonomie der einzelnen Bewegungen, Toleranz für pluralistische Ansätze in unterschiedlichen Bewegungen und die Konzentration dieser unterschiedlichen Bewegungen auf einen Punkt hin anstrebt.

Aufgrund der Schwäche der Linken in den meisten Ländern Lateinamerikas können solche Prozesse der schrittweisen Zurückdrängung des Neoliberalismus eine Chance besitzen. Auf Seiten der Linken gilt es, diese Prozesse als Lernphase und Akkumulation eigener Kräfte zu reflektieren und mit Politikvorschlägen und Alternativen zu begleiten, bis dann irgendwann eine gerechtere Ordnung durchgesetzt werden kann.

Literatur:

Boris, D./St. Schmalz/A. Tittor (Hg.) (2005): Lateinamerika: Verfall neoliberaler Hegemonie?, Hamburg: VSA Verlag.

Burchardt, H.J. (2004): Zeitenwende. Politik nach dem Neoliberalismus, Stuttgart: Schmetterling Verlag.

Lateinamerika-Jahrbuch Nr. 29 (2005): Neue Optionen lateinamerikanischer Politik, Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot

Das Argument, Nr. 262 (H. 4/2005): Links-Regierungen unterm Neoliberalismus, Hamburg: Argument Verlag.

Dr. Dieter Boris, Professor für Soziologie an der Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Probleme der Entwicklung/Unterentwicklung, Weltwirtschaft, Soziologie und Ökonomie Lateinamerikas

Neuordnung der deutschen Rüstungsforschung

Neuordnung der deutschen Rüstungsforschung

Proteste der Beschäftigten

von Dietrich Schulze

Im Gefolge der Anschläge des 11. September haben die Bestrebungen neuen Auftrieb erhalten, zivile Forschung für militärische Zwecke in Dienst zu nehmen. Gemäß den neuen verteidigungspolitischen Richtlinien sind die Mittel des Verteidigungsetats auf die Befähigung der Bundeswehr zu weltweiten Militäreinsätzen umzuorientieren. Mit GALILEO wird der militärischen Nutzung des Weltraums Schubkraft verliehen werden. Die gerade unterzeichnete EU-Verfassung sieht eine permanente Aufrüstung unter Einschluss der Forschung vor. Der Plan, die Institute der Forschungsgesellschaft für Angewandte Naturwissenschaften (FGAN) 1 und das Institut für Technische Physik des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) 2 in die Fraunhofergesellschaft(FhG)3 einzugliedern, wird ausdrücklich mit den verteidigungspolitischen Richtlinien und der beabsichtigten Nutzung von zivil/militärischen Synergieeffekten begründet. Wie reagieren darauf die in der staatlich finanzierten, außeruniversitären Forschung Beschäftigten? Gibt es Gegenkräfte gegen die Militarisierungspläne? Treten diese der Militarisierung sichtbar entgegen? Hat die Entspannungs- und Friedenspolitik der 1970er Jahre im Bewusstsein der Forscher Spuren hinterlassen? Haben die auch früher schon propagierten »dual use«-Konzepte Wirkungen gezeitigt? Ist die bisher überwiegend praktizierte organisatorische Trennung von ziviler und militärischer Forschung in der staatlichen Forschung ein Militarisierungshemmnis? Die nachfolgende praxisbezogene Betrachtung aus Anlass der beabsichtigten Eingliederung staatlicher Rüstungsforschung in die Fraunhofergesellschaft beleuchtet einen Teilsektor der Forschung, kann aus Platzgründen aber nicht auf Details der geplanten Fusion eingehen.

Im Mai 2003 wurde eine Analyse des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg)4 über die Neuordnung der Rüstungsforschung fertig gestellt, wonach die vom BMVg grundfinanzierten Institute der FGAN und das DLR-Institut ITP in die Fraunhofergesellschaft (FhG) eingegliedert werden sollen. Der FhG-Vorstand reagierte zurückhaltend, da lediglich eine Übergangsfinanzierung für die einzugliedernden Institute angeboten wurde. Der Gesamtbetriebsrat (GBR) der FhG erinnerte an den mühsamen Konversionsprozess, frühere Militärforschung in der FhG ganz oder teilweise zur zivilen, wirtschaftsnahen Forschung hinzuführen. Er bezweifelt, dass sich die fusionierten Militärforschungs-Institute mittelfristig behaupten und ihren Industrieanteil einwerben können (FhG-Finanzierungsmodell: je ein Drittel Industriefinanzierung, öffentliche Aufträge, Grundfinanzierung). Er weist auf negative Erfahrungen mit der noch nicht abgeschlossenen Integration der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (GMD)5 hin. Außerdem befürchtet er Überkapazitäten und damit einen Abbau von Arbeitsplätzen. Die behaupteten Synergien seien für die FhG nicht erkennbar.

Die FhG hat einen Militärforschungsanteil von ca. 7 %, der sich auf die fünf genannten Institute konzentriert. Das mag erklären, warum vom Gesamtbetriebsrat keine rüstungskritischen Anmerkungen zu hören waren.

Diskussion an der Basis

Anders entwickelt sich die Diskussion an der Basis. Zwei der zur Fusion anstehenden Institute, das FhG-Institut IITB in Karlsruhe und das FGAN-Institut FOM in Ettlingen bei Karlsruhe sollen zu einem gemeinsamen Institutszentrum weiterentwickelt werden. Das Thema Pro und Contra Fusion hat hier eine buchstäblich hautnahe Relevanz und wurde im zuständigen ver.di-Fachbereich mit Mitgliedern aus allen betroffenen und auch anderen Bereichen der Forschung behandelt. Nach kontroversen Diskussionen wurde geklärt, dass es weder vom FGAN-Vorstand noch aus dem Kreis der FGAN-Beschäftigten Konversionsabsichten weg von der Militärforschung gibt. Deswegen wurde schließlich die Fusion abgelehnt. Die Ablehnung wird mit eingangs genannten politischen Entwicklungen und den Gefahren einer Verbreiterung von »dual-use« begründet. Die Stellungnahme6 wurde im Mai 2004 an die zuständigen Bundesminister gerichtet, ohne dass diese bis jetzt darauf geantwortet hätten.

Gegen Fusion mit Militärforschung

Der Betriebsrat des Forschungszentrums Karlsruhe unterstützte die ver.di-Stellungnahme und legte sie zur Beschlussfassung der Konferenz der Arbeitsgemeinschaft der Betriebs- und Personalräte der außeruniversitären Forschungseinrichtungen (AGBR) vom 25.-27. Oktober 2004 in der DLR Berlin-Adlershof vor. Die AGBR, die 50.000 Beschäftigte in der außeruniversitären Forschung vertritt, fasste dann folgenden Beschluss.

„Die AGBR-Konferenz lehnt die Eingliederung der FGAN-Institute und des DLR-Instituts ITP in die Fraunhofergesellschaft ab. Wir sehen dafür keine sachliche Notwendigkeit. Die behaupteten Synergieeffekte sind nicht erkennbar. Bei einer Fusion besteht die Gefahr einer stärkeren Ausrichtung auf militärische Forschung in der FhG und der Vermischung von ziviler und militärischer Forschung. Gegen einen solchen maximierten militärischen Nutzen ziviler Forschung (dual use) hat sich die AGBR in ihren Thesen bereits 1994 ausgesprochen. Auch der letzte ver.di-Bundeskongress hat diese Position aufgrund eines konkreten Anlasses bestätigt. Die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn, hat sich klar und eindeutig gegen »dual use« positioniert. In einem Gespräch mit der AGBR im Mai 1999 hat sie die ,Transparenz und Abgrenzung zwischen militärischer und ziviler Forschung‘ bekräftigt.“

Erneut werden Ministerin Bulmahn und Minister Struck um Stellungnahme gebeten.

In der AGBR-Konferenz waren Delegierte der Betriebs- und Personalräte aus allen angeschlossenen Forschungsgemeinschaften – Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren (HGF), Fraunhofergesellschaft, Max-Planck-Gesellschaft, Leibniz-Gemeinschaft und FGAN – vertreten. Die DLR ist das einzige Zentrum innerhalb der auf zivile Forschung ausgerichteten HGF (früher Großforschungseinrichtungen), in der auch militärische Forschung betrieben wird.

Im AGBR-Beschluss, in dem bewusst keine Rede von den aktuellen politischen Entwicklungen und Militarisierungsplänen ist, wird immerhin im Konsens festgehalten, dass das Militärische nicht verstärkt werden und vom Zivilen getrennt bleiben soll.

Betriebsrätethese gegen Militarisierung und »dual use«

Hierin zeigt sich der ungebrochene Wille, das Zivile zu beschützen, aber auch ein Rückgang an politischer Klarheit bzw. an Konsequenz aus den eigenen Erkenntnissen. Zehn Jahre zuvor drückte sich das Bewusstsein der Betriebs- und Personalräte in den AGBR-Thesen7 »Forschung in gesellschaftlicher Verantwortung« noch so aus:

„Der Anteil staatlicher Forschungsförderung für die Militärforschung sowie das politische Bestreben, militärische Anforderungen bei zivilen Entwicklungen möglichst frühzeitig mit zu berücksichtigen (dual use), führt zu gesellschaftlich und sozial unverträglichen Schwerpunktsetzungen. Die Militarisierung der Forschung steht den Forderungen nach Demokratisierung, Offenlegung und Transparenz entgegen und behindert die notwendige Ausweitung internationaler Zusammenarbeit. Die Lösung regionaler und globaler Haushaltsprobleme erfordert eine grundsätzliche Neuorientierung der Forschungsförderung auf zivile Zwecke (Konversion von Wissenschaft und Forschung). Die weltpolitischen Entwicklungen gebieten die Abschaffung von Militärforschung und den Ausstieg aus der Rüstungsproduktion bei Erhalt der Arbeitsplätze durch Konversionsprogramme.“

In Anwendung der These nahm die AGBR-Konferenz drei Jahre später aufgrund einer Raumfahrt-Strukturänderung mit »dual-use«-Charakter Stellung.8 Es ist offensichtlich, dass die These nach dem Tabubruch 1999 »Nie wieder Krieg von deutschem Boden« eine noch bedeutend größere Berechtigung erlangt hat. Wer hätte es sich träumen lassen, dass eine SPD-geführte Bundesregierung mit bündnisgrünem Koalitionspartner die Bundeswehr in einen Angriffskrieg schickt und dass Bundeskanzler Schröder auch noch stolz darauf ist, das gesellschaftliche Tabu gegen »Militärisches« generell gebrochen zu haben.

2003: Gewerkschaft gegen »dual use«

Dem oben angeführten Beschluss des ver.di-Bundeskongresses (19.-25. Oktober 2003)liegt ein Schriftwechsel9 des Betriebsrats des Forschungszentrums Karlsruhe mit dem HGF-Präsidenten zugrunde. Der Beschluss hat folgenden Wortlaut:

„Die Gewerkschaft ver.di bekräftigt die Forderung, dass die Forschungstätigkeit in den öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen der Helmholtz-Gemeinschaft (HGF – früher Großforschungseinrichtungen) wie bisher auf zivile Forschung beschränkt bleibt. Die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA rechtfertigen nicht die Ausweitung auf militärische oder zivil-militärische Forschung (dual use). ver.di lehnt dies ab und wird diese Ablehnung gegenüber der Bundesregierung nachdrücklich vertreten. Die ver.di-Vertrauensleute und die ver.di-Betriebs- und Personalräte werden ermutigt, gegen bekannt werdende Forschungs- und Entwicklungsprojekte dieser Art Protest zu erheben. ver.di sagt ihnen und den Beschäftigten, die sich weigern an derartigen Projekten mitzuarbeiten, öffentlichkeitswirksame und gegebenenfalls rechtliche Unterstützung zu.“

Trennung zivil/militärisch und »dual use«

Im AGBR-Beschluss wird im Zusammenhang mit Äußerungen von Ministerin Bulmahn die Ablehnung von »dual use« in einem Atemzug mit der Trennung von ziviler und militärischer Forschung gebraucht. Ist das korrekt?

Die Antwort auf die Frage mag sich aus dem Studium der Literatur10 ergeben, die sich mit der zivil-militärischen Ambivalenz der Forschung und Technik befasst, aber auch aus der Forschungspraxis.

Meine These: Die organisatorische Trennung von ziviler und militärischer Forschung ist eine wichtige und notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Vermeidung von »dual use«. Je weniger Militärforschung erlaubt wird, umso besser können »dual use«-Konzepte vermieden werden.

Wie die AGBR-These besagt, ist »dual use« in der Forschung das Bestreben, militärische Anforderungen bei zivilen Entwicklungen möglichst frühzeitig mit zu berücksichtigen. Es ist demnach möglich, die zivilen Forschungsziele so zu setzen und die Organisation so zu wählen, dass nur solche Forschung zum Zuge kommt, die von vornherein einen hohen militärischen Nutzen verspricht. Ein Beispiel für technische Forschungs- und Entwicklungsprojekte: die USA haben für die Fusionsforschung deswegen den Trägheitseinschluss (lasergetriebene Fusion, NIF Livermore) gewählt, weil dieser im Gegensatz zum Magneteinschluss (Tokamak, ITER) einen militärischen Nutzen versprach. Ein Gutteil der Forschung ist hingegen Grundlagenforschung, die per se späteren zivilen und militärischen Nutzen ermöglicht. Welche Grundlagenforschung kann aus Erwägung eines nicht gewollten militärischen Nutzens eingeschränkt werden? Ein fast aussichtsloses Unterfangen!

Nun zur Trennung. Dafür gibt es ein bekanntes Beispiel, die technische Anwendung der Kernspaltung. Durch Auflage der Alliierten war Kernwaffenforschung berechtigterweise auf deutschem Boden verboten und Kernforschung ausschließlich für zivile Anwendungen erlaubt. In den Satzungen aller kerntechnischen und ehemals kerntechnischen Forschungseinrichtungen ist dieses Gebot »Forschung ausschließlich für friedliche Zwecke« (Zivilklausel) auch heute noch gültig, und zwar für alle Arten von Forschung.

Diese verordnete Trennung hat das Selbstverständnis des Forschungspersonals bis heute positiv geprägt. Hier zwei direkte Beweise für dieses Selbstverständnis, nur an ziviler Forschung arbeiten zu wollen und nicht bloß deswegen, weil Kernwaffenforschung verboten ist.

SDI Ablehnung

Als US-Präsident Reagan am 23. März 1983 das SDI-Programm (Laserwaffen gegen Atomraketen) verkündete, gedachte auch die Fa. Siemens, sich ein Stück aus dem Milliarden-Dollar-Kuchen heraus zu schneiden. In diesem Zusammenhang tauchte Ministerialdirektor Dr. Borst, Leiter der BMFT-Abteilung für Grundsatzfragen, im Mai 1986 bei einer AGBR-Konferenz auf und warb allen Ernstes für eine Teilnahme der staatlichen Großforschung mit dem Argument, dass SDI der Verteidigung diene und das BMFT darin keine Verletzung der Zivilklausel sehe. Die betroffenen Forscher sahen das ganz anders. Für sie waren die angeblichen Abwehrwaffen Kriegswaffen, die obendrein als Angriffswaffen eingesetzt werden können. Damals unterzeichneten über 1.000 MitarbeiterInnen in den Großforschungseinrichtungen eine Selbstverpflichtung, sich einer Teilnahme an der SDI-Forschung zu verweigern. Aus der groß angelegten SDI-Forschung wurde nichts. Einige Wenige in Stuttgart machten allerdings mit, u. a. das jetzt zur Fusion anstehende DLR-Institut ITP.

Ein zweites Beispiel für das Selbstverständnis »ausschließlich Zivilforschung«. Die Bundestagsgruppe der Unionsfraktion im Forschungsausschuss beantragte im Oktober 1993 den folgenden Bundestagsbeschluss: „Die faktische Trennung zwischen ziviler und militärischer Forschung ist zu überdenken (Stichwort ‚dual use’). Die sich daraus ergebenden Folgerungen sind dem Deutschen Bundestag bis Mitte nächste Jahres vorzulegen.“ Dagegen erhob sich in den staatlichen Forschungseinrichtungen und in Universitäten erheblicher Protest. Die Delegiertenversammlung (Sprecher der wissenschaftlichen Beschäftigten) des damaligen Kernforschungszentrums (heute Forschungszentrum Karlsruhe) überbrachte MdB Lenzer (CDU) ihre Ablehnung in Bonn persönlich. Fast 100 Unterzeichner wandten sich mit dem Appell11 »NEIN zu ‚dual use’. Nein zur Militarisierung der Forschung. Wissenschaft und Forschung müssen dem weltweiten Frieden und der Verbesserung der Lebensbedingungen dienen« an die Öffentlichkeit. Das CDU/CSU-Projekt wurde fallengelassen, was Herrn Lenzer nicht daran hinderte vier Jahre später das gleiche im Zusammenhang mit dem Bau des Euro-Fighter12 zu verlangen. Forderungen nach Aufhebung der Trennung ziehen sich übrigens wie ein roter Faden durch die wehrwirtschaftliche Literatur. Treibender Faktor ist die Luft- und Raumfahrtindustrie (LRI). Tatsache ist jedenfalls, dass die damalige Opposition die Forderung nach Aufrechterhaltung der Trennung unterstützt hat und »dual use« als generelles Prinzip bis heute nicht etabliert werden konnte.

Nicht bestritten werden kann, dass prinzipiell das erlangte Wissen – z.B. kerntechnisches – militärisch missbrauchbar ist. Es ist aber eine Frage des gesellschaftlichen Konsenses, eben das nicht tun zu wollen und auch nicht zu tun. Dass dabei die Zusammenarbeit mit Forschungspersonal aus Ländern, die z.B. keinen Verzicht auf Atomwaffenanwendungen erklärt haben, hochproblematisch ist, liegt auf der Hand. Der Widerspruch zwischen der berechtigten Förderung der internationalen Zusammenarbeit und einer Vermeidung des Missbrauchs kann letztlich nur in einer waffenfreien Welt gelöst werden, in der zwischenstaatliche Konflikte ausschließlich mit zivilen Mitteln gelöst werden (s. AGBR-These).

In einem Einzelfall13 kam es 1997 mit Unterstützung des BMBF trotz Zivilklausel zu einer wehrtechnischen Forschungskooperation zwischen dem Heinrich Hertz-Institut in Berlin und einem industriellen Auftraggeber. Dabei wurde mit List (Zivilklausel wegen gleichzeitig ziviler Anwendungen nicht verletzt!), Zuckerbrot (Zusatzmittel für Arbeitsplatzsicherung) und Peitsche (Androhung von betriebsbedingten Kündigungen) gearbeitet. Nach anhaltender Ablehnung durch den Betriebsrat wurde die Kooperation eingestellt.

Organisatorische Trennung zivil/militärisch

Nach diesen Überlegungen kann die eingangs gestellte Frage, ob die organisatorische Trennung ein Militarisierungshemmnis ist, eindeutig bejaht werden. Insofern ist der AGBR-Beschluss gegen die Eingliederung von Militärforschung in die FhG durchaus beachtlich. Wenn sich Ministerin Bulmahn an ihr Versprechen von vor fünf Jahren gegenüber der AGBR hält, müssen die Fusionspläne beerdigt werden.

Was mit hoher Wahrscheinlichkeit vorerst weiter Blühen und Gedeihen wird, sind die europäischen Aufrüstungspläne, die nicht zuletzt mit neuen deutschen Weltmachtambitionen zu tun haben. Es sind keine Zufälle, wenn Minister Struck glaubt, Deutschland am Hindukusch verteidigen zu müssen und wenn per EU-Verfassung eine »Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung« (Europäische Verteidigungsagentur), bis vor kurzem noch wahrheitsgetreuer »Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten« geschaffen wird, das die permanente EU-Aufrüstung und die globale Kriegsführungsfähigkeit14 organisieren soll. Dazu passt nahtlos die Auffassung des scheidenden EU-Forschungskommissars Busquin15, der die verstärkte Förderung von Sicherheitstechnologien für unbedingt notwendig erachtet und für den „die Trennung von ziviler und militärischer Forschung obsolet (ist). Diese rigide Trennung halte ich schon lange nicht mehr für sinnvoll“.

Gegen erneute Entwicklung zu »erfinderischen Zwergen«

Werden sich die deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erneut als ein „Geschlecht von erfinderischen Zwergen“ (Brecht: Das Leben des Galilei) erweisen und sich zu willigen Vollstreckern einer unfriedlichen Außen- und Innenpolitik machen lassen?

Dagegen sprechen geschichtliche Erfahrungen. Nicht nur die Entspannungs- und Friedenspolitik der 1970er Jahre, sondern auch die Erkenntnisse über die Verstrickung großer Teile der deutschen Forschung in die Nazi-Verbrechen haben Spuren im Bewusstsein hinterlassen. Das kann nicht nur mit der starken Beteiligung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an der Protestbewegung gegen die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen (»Mainzer Appell«) belegt werden, sondern auch anhand von Diskussionen über Grundsatzfragen der Forschung. Eine solche fand im Oktober 1997 zwischen der AGBR und dem HGF-Direktorium über die Einführung einer Zivilklausel in der HGF-Satzung statt. Das wurde zwar vom Direktorium abgelehnt, weil damit die DLR aus der HGF herausfallen würde. Es bestand jedoch ein klarer Konsens, dass die Beschäftigten das unabdingbare Recht haben, über die Forschungsziele eine öffentliche politische Diskussion zu führen. Der Direktor aus dem Medizinforschungsbereich hatte gute Gründe für so ein elementares Recht, weil die Wissenschaftler in der Vorläuferorganisation seines Instituts16 für den faschistischen Staat Hirnforschung an Euthanasie-Opfern betrieben hatten.

Die geschichtlichen Lehren sind die eine Seite. Die andere ist, dass die ökonomische Abhängigkeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ständig zunimmt. Stichworte: wachsende Zahl an Zeitverträgen, sachgrundlose Befristungen; Personalkürzungen; Drohungen mit betriebsbedingten Kündigungen; Aushöhlung der wissenschaftlichen Mitwirkung, die in den 1970er Jahren unter dem bekannten Kanzlerwort »Mehr Demokratie wagen!« eingeführt worden waren.

Der verstärkt nach dem 11.September 2001 diskutierte und praktizierte erweiterte Sicherheitsbegriff17 läuft auf die Verschmelzung von militärischen Maßnahmen mit ziviler Konfliktlösung hinaus, womit machtpolitische Zwecke als hilfsbereite Entwicklungsbeiträge getarnt werden. Eine Fortentwicklung dieses Instrumentariums würde eine vollständige Militarisierung aller gesellschaftlichen Bereiche und der gesamten Innen- und Außenpolitik nach sich ziehen.

Öffentlicher Druck der Friedensbewegung notwendig

Es mag hoffnungsvoll stimmen, dass am 15. Februar 2003 zehn Millionen Menschen in fünf Kontinenten gegen den Irakkrieg auf den Beinen waren, dass die Weltsozialforen18 immer größeren Zuspruch erlangen und die Bestrebungen für Volksabstimmungen gegen die vorgelegte EU-Verfassung anhalten. Denn eins ist klar: Ohne öffentliche Diskussionen über die Forschungsziele und ohne einen ausreichenden Druck der deutschen und internationalen Friedensbewegung von außen, werden die inneren Zivilforschungskräfte – von Ausnahmen abgesehen – kaum in der Lage sein, einer ungewünschten Beteiligung an »dual use«- und/oder an Militärforschungsprogrammen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen.

Anmerkungen

1) Die FGAN betreibt drei Forschungsinstitute in Wachtberg bei Bonn (FHR – Forschungsinstitut für Hochfrequenzphysik und Radartechnik, FKIE – Forschungsinstitut für Kommunikation, Informationsverarbeitung und Ergonomie) und in Ettlingen (FOM – Forschungsinstitut für Optronik und Mustererkennung). Die FGAN betreibt militärische Forschung auf den Gebieten der Sensorik, Elektronik, Kommunikation und Informatik mit dem Schwerpunkt Aufklärungs- und Führungssysteme.

2) Das DLR-Institut für Technische Physik in Stuttgart betreibt militärische Laserforschung.

3) Fünf der 58 Fraunhofer-Institute befassen sich mit Militärforschung: mit BMVg-Grundfinanzierung die Institute für Angewandte Festkörperphysik (IAF) und für Kurzzeitdynamik (Ernst-Mach-Institut EMI) in Freiburg, das Institut für Chemische Technologie (ICT) in Pfinztal, das Institut für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen (INT) in Euskirchen sowie mit BMVg-Einzelzuwendungen das Institut für Informations- und Datenverarbeitung (IITB) in Karlsruhe. IAF, ICT, EMI und INT haben sich 2002 im Verbund »Verteidigungsforschung und Wehrtechnik« organisiert, dem das IITB mittlerweile auch beigetreten ist.

4) Analyse und Empfehlung zur Neuordnung der Grundfinanzierten Forschung und Technologie im Rüstungsbereich des BMVg, Ministerialrat Wolff, 31. Mai 2003.

5) Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (früher in der HGF); bei der GMD gab immer wieder Proteste gegen Militärforschungspläne, z.B. 1995/96 gegen eine Kooperation mit der Informations- und Medienzentrale der Bundeswehr (elektronische Kriegführung).

6) http://www.fzk.de/br > Allgemeine Infos > Juni 2004 …. Zivil-/ Militärforschung > BR unterstützt ver.di „Gegen Eingliederung ….

7) http://www.agbr.de/papiere/thesen.html

8) http://www.agbr.de/papiere/dualuse.html

9) http://www.fzk.de/br > Allgemeine Infos > Zum Thema Militärforschung & HGF-Tradition Zivilforschung.

10) W. Liebert, R. Rilling, J. Scheffran (Hrsg.), Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik – Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz, Marburg, BdWi-Verlag 1992, u.a. mit einem Beitrag von Edelgard Bulmahn, der jetzigen Bundesministerin für Bildung und Forschung.

11) Bild der Wissenschaft, August 1994.

12) CDU/CSU-Pressedienst 17.02.1997.

13) Das Heinrich-Hertz-Institut wurde inzwischen wie die GMD in die FhG integriert.

14) Informationsstelle Militarisierung e.V. http://www.imi-online.de

15) VDI-Nachrichten 16.01.2004.

16) MDC – Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin, früher Institut für Hirnforschung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft.

17) Aktionsplan der Bundesregierung Mai 2004 „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“; FR 15.01.2004: „Nationale Interessen definieren“.

18) Rede Arundhati Roy in Mumbai, Januar 2004. http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Globalisierung/roy2.html

Dr. Ing. Dietrich Schulze ist Betriebsratsvorsitzender des Forschungszentrums Karlsruhe, Beiratsmitglied der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative für Frieden und Zukunftsfähigkeit und Bezirksvorstandsmitglied der Gewerkschaft ver.di, Mittelbaden-Nordschwarzwald

Ziviler Ungehorsam

Ziviler Ungehorsam

Menschenrechtliches Aufbegehren im Rechtsstaat

von Arnold Köpcke-Duttler

Wie die Anerkennung einer moralischen Pflicht zum Rechtsgehorsam gehört die Feststellung der Grenzen dieser Pflicht und einer eventuellen Pflicht zu Ungehorsam und Widerstand zum Jahrtausende alten Nachdenken über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft (Staat). Allerdings taten und tun sich »beamtete« Nachdenker – d.h. die meisten – recht schwer mit dem zweiten Teil dieses Junktims. Man befürchtet vor allem, der Rückzug auf das Gewissen könne die sogenannte Kulturleistung des staatlichen Gewaltmonopols gefährden. Auch die Erfindung des »zivilen Ungehorsams« durch H.D. Thoreau konnte diese Befürchtungen kaum beschwichtigen. Der Verfasser des vorliegenden Beitrags beleuchtet vor diesem Hintergrund die Beziehung zwischen zivilem Ungehorsam und Rechtsordnung.

Um was es beim zivilen Ungehorsam im Kern geht, kann man kaum prägnanter zum Ausdruck bringen als mit den Worten Henry David Thoreaus (1817-1862): „Wenn aber das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Gesetz. Mach dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten.“1

Die Umwandlung dieser persönlichen Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen in ein Mittel des politischen Kampfes ist im Wesentlichen Mohandas K. Gandhi (1869-1948) zu verdanken. Auf Gandhi geht auch die allgemeine Verbreitung des Ausdrucks »ziviler Ungehorsam« zurück, der zuvor nur im Zusammenhang mit dem Werk und der Lehre von Thoreau verwendet wurde und ursprünglich wahrscheinlich eine improvisierte Titelei seines posthumen Verlegers war.2 Gandhi fand im Übrigen bei Thoreaus nicht seine originäre Inspiration, wohl aber die Bestätigung dessen, was er bereits (in Südafrika) praktizierte – und eine ergiebige Zitatenquelle im Rahmen seiner Kampagnen. Mit der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und dem Protest gegen den Vietnam-Krieg erreichte der zivile Ungehorsam seine bisherige Höchstkonjunktur. Martin Luther King (1929-1968) war schon als Student durch den Text von Thoreau in einen ersten Kontakt mit der Theorie des gewaltfreien Widerstands gekommen. In der „direkten gewaltfreien Aktion“, von der er lieber sprach, um nicht den Aspekt der Gesetzesübertretung zu betonen, fand er drei zentrale Dimensionen des Lebens: Selbstfindung in der Dialektik von Selbstveränderung und Änderung der Lebensbedingungen, Dufindung in Anteilnahme und Geschwisterlichkeit und Hoffnung aus der Erkenntnis von Unfertigkeit und Unvollendetheit.3

Diese kurze Genealogie des Zivilen Ungehorsams ist im Folgenden zunächst insbesondere im Hinblick auf den Beitrag Gandhis zu ergänzen und zu vertiefen. In den beiden anschließenden Teilen des Beitrags sollen dann Fragen der Beziehung zum einfachgesetzlichen Recht und zum Verfassungsrecht thematisiert werden.

Gandhi und die Gewalt des Staates

Anregungen zu Gewaltfreiheit und Kooperationsverweigerung gegenüber der politischen Macht erhielt Gandhi auch von Lew N. Tolstois (1828-1910) christlichem Anarchismus und dessen Lehre vom Widerstehen im Nicht-Widerstehen.4 In der Nachfolge des russischen Dichters und Pädagogen heißt es auch bei Gandhi, der Staat verkörpere die Gewalt in einer konzentrierten und organisierten Form.5 Die Armee, die Polizei, die Gerichte werden als gewaltvolle Institutionen kritisiert. Zugleich proklamiert Gandhi, dass das Gewissen und das Gesetz Gottes über aller weltlichen Autorität stehen, auch über dem Urteil der Mehrheit. Die Spiritualität von »satyagraha«, der machtlosen Macht der Wahrheit und des Leidens, verband er im Wissen um die Unaufhebbarkeit der Gewalt mit einem selbstlosen Handeln und Nicht-Handeln. Ebenso wie Thoreau galt ihm die Regierung als beste, die am wenigsten regiert, vielleicht sogar nicht regiert. Diese Idee einer »aufgeklärten Anarchie« (Michael Blume) nannte Gandhi auch »ramaraj«: Herrschaft Gottes auf Erden. Dazu gehört auch, dem Gesetz den Gehorsam zu verweigern, wenn es zum Arm des Unrechts gegen einen anderen Menschen wird. Blume fasst Gandhis Hoffen und Handeln gegen alle Formen der Gewalt zusammen: Macht gehe nicht nur aus gesetzgebenden Versammlungen hervor; der Zivile Ungehorsam wird als Schatzkammer der Macht gesehen, genauer: einer machtlosen Macht.6

Politisch gesprochen geht es um aufgeklärte, gewaltfreie Herrschaftskritik, um den zivilen Ungehorsam als Menschenrecht und Menschenpflicht zugleich. Ein wahrer Demokrat sei, wer auf gewaltfreiem Weg seine Freiheit, die seines Landes und die der Menschheit verteidige. Solange der Mensch ein Mensch sei, müsse er sich hüten, das Recht auf zivilen Ungehorsam aufzugeben. Diese Form des Ungehorsams wird von jedem kriminellen Ungehorsam unterschieden. Versuche, den zivilen Ungehorsam zu unterdrücken, betrachtet Gandhi als gewaltförmiges Bestreben, die Freiheit des Gewissens einzusperren. Die Erkenntnis des »satyagrahi«, des gewissensbestimmt und gewaltfrei Ungehorsamen, dass der zivile Ungehorsam zur (heiligen) Pflicht wird, wenn der Staat selber gesetzwidrig agiert oder seine Gesetze rechtswidrig sind, ist für manche Juristen schwer zu ertragen. Gandhi zufolge kann das Recht auf zivilen Ungehorsam aber nicht aufgegeben werden ohne Verlust der Selbstachtung. Der gewaltfrei Ungehorsame verstoße öffentlich gegen ein Gesetz, dessen Befolgung er als menschliche Schmach erachte, und nehme die Strafe für diesen Bruch ruhig auf sich. Die Einsicht in ein Gesetz, nicht die Furcht vor ihm, geben Gandhi also einen Maßstab, wobei der Ungehorsam als Ausdruck der Stärke verstanden und verbunden wird mit dem Glauben an die Wirkkraft des unschuldigen Leidens. Der Zivile Ungehorsam ist gezeichnet von Mut und Tapferkeit und von strikter Disziplin: Den Horizont bildet ein konstruktives Programm gegen die Gewalt der alten Gesellschaft und des Staates, seine Stärke beruht auf der Gewaltfreiheit in Gedanken, Worten und Taten.

Eine eingehendere Diskussion, ob Gandhis Selbstdisziplin nicht mit Gewalt gegen sich selbst erfolgte und ob er mit seinem Fasten nicht Zwang ausübte, kann hier nicht geführt werden. Gandhi stellte sich jedoch diesen Fragen, wobei er die Kraft des Selbst-Leidens von einem gegen sich selbst gewandten Zwang unterschied und beide von jenem Zwang, der in der Ausübung verletzender Macht gegen eine Person liegt, die zu einem bestimmten Verhalten gedrängt wird. Wer das Ziel des Fastens als egoistisch bestimmt ansehe, solle sich weigern, diesem Motiv nachzugeben, sich der Ausübung des Zwangs enthalten.

Ziviler Ungehorsam und Rechtsnormen

Der Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann hat mit einem Seitenblick auf Martin Luther King gemahnt, Gewaltlosigkeit und Frieden seien nicht mittels Gewalt zu haben. Jedes ungeduldige Erzwingenwollen der Gewaltlosigkeit und des Friedens bedeute eine Niederlage für die Sache.7 Skeptisch gegenüber einer Vergeistigung des Gewaltbegriffs im Strafrecht – insbesondere dann, wenn sie sich immer weiter ausdehnt –, deutet Kaufmann darauf, dass mit Gewalt zwar nicht unbedingt ein rohes, wohl aber ein aggressives Verhalten gemeint sei, durch das Leib oder Leben der angegriffenen Person beeinträchtigt oder unmittelbar geschädigt werde. Ein bloßes Dasitzen stelle keine Gewalt dar.8 Falls eine demonstrierende Gruppe, die, um sich Gehör zu verschaffen, die ganze Breite einer Fahrbahn einnehme, Gewalt ausübe, sei auch eine Fronleichnamsprozession ein Gewaltakt. Jeder Mensch werde das als unsinnig bezeichnen. Kaufmann beurteilt Sitzstreiks von Gegnern der Nachrüstung, passiven Widerstand gegen die Stationierung von Raketen nicht als gewalttätige Nötigung, nicht als Entfaltung körperlicher Kraft gegen andere Menschen. Hellsichtig weist er nach, dass die Rechtsprechung – selbstwidersprüchlich – bei Vergewaltigung nie nur auf die Wirkung beim Opfer, auf das Empfinden der Frau abgestellt habe.

Diese Kritik einer selektiven Wahrnehmung von Gewalt bedeutet freilich keine Zustimmung zu rohem Handeln und zur Leugnung der Opferperspektive; vielmehr geht es um ein neues Durchdenken des Gewaltbegriffs auf dem Feld des Strafrechts: Ein passives, nicht-aggressives Verhalten ist keine Gewalt im strafrechtlichen Sinn. In einem tiefer gehenden Sinn konnte Gandhi auch Spuren der Gewalt z.B. in einem Sitzstreik von Studenten entdecken, die andere Menschen durch ihr Verhalten zwingen, sie – wider Willen – zu verletzen oder körperlich zu bedrängen. Eine solch hohe Empfindlichkeit gegenüber subtilen Formen der Gewalt mag Gandhi besessen haben; doch für das Strafrecht als äußerliche Regelung menschlicher Freiheitssphären ist dieser Maßstab zu hoch angesetzt.

Kaufmann bezweifelt die menschliche Fähigkeit, einen Zustand völliger Gewaltlosigkeit zu erlangen; dieser sei eine unerreichbare Utopie.9 Doch die Unerreichbarkeit ist wie bei Gandhi gerade der Anreiz dafür, die Gewalt – auch die subtile – weiter zu begrenzen. Kaufmann fügt an, einen (Rechts-) Staat, in dem die Gerechtigkeit vollständig verwirklicht sei, könne es ebenfalls nicht geben. In einem Rechtsstaat sei die Anwendung von Gewalt nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen erlaubt: Notwehr, Nothilfe, Widerstand gegen unrechtmäßige Staatsgewalt. Der Rechtsphilosoph bekräftigt in seinem Buch »Gerechtigkeit – der vergessene Weg zum Frieden«, gegen rechtmäßige Akte von Staatsorganen sei Gewalt niemals erlaubt, auch nicht in der schillernd »ziviler Ungehorsam« genannten Form. Diesen Standpunkt vertritt er gerade deshalb, weil er den Unrechtsstaat des Nationalsozialismus erlebt hat und den Widerstand dagegen von Protestaktionen zu unterscheiden weiß. Er plädiert vor allein für gewaltfreie Methoden der Konfliktlösung im zwischenstaatlichen Bereich.

In seiner »Rechtsphilosophie« hat Kaufmann seine Ablehnung des Zivilen Ungehorsams korrigiert. Entgegen jenem Positivismus, der jedes Gesetz für geltendes Recht erachtet, zeigt er, dass positives »Recht« auch Nicht-Recht, gesetzliches Unrecht, sein kann. Unterschieden wird dann zwischen dem Widerstand, dem Recht auf Widerstand, gegen einen Unrechtsstaat und der Kritik an einzelnen ungültigen Gesetzen in einem Rechtsstaat. Im ersten Fall gehe es um den Widerstand gegen eine illegitime Obrigkeit („großer Widerstand“), im zweiten um den Widerstand im Rechtsstaat, den zivilen Ungehorsam („kleiner Widerstand“).10

Das Widerstandsrecht in einem Unrechtsstaat, den Widerstand gegen eine Tyrannis erörtere ich hier nicht.11 Ich gebe nur zu bedenken, dass die Entgegensetzung »hier Rechtsstaat, dort Unrechtsstaat« eine Simplifizierung darstellt, dass kein Rechtsstaat der Gefahr einer Perversion zum Unrechtsstaat entronnen ist, dass jede Obrigkeit Unrecht verschuldet. Bei einem Widerstandsrecht im Rechtsstaat, insbesondere beim Zivilen Ungehorsam, nimmt Kaufmann Gandhis Anspruch auf, dieser Ungehorsam habe gewaltlos zu sein; der Ungehorsame müsse die ihm zugeteilte Strafe annehmen.

Ist nun der Zivile Ungehorsam etwas Rechtswidriges, etwas Gesetzwidriges? Diese Frage bejaht Kaufmann. Mit John Rawls wird bei zivilem Ungehorsam gegenüber einer rechtmäßigen demokratischen Gewalt von einem Pflichtenkonflikt gesprochen – einem Konflikt zwischen der Pflicht, sich den von dem Gesetzgeber (der Mehrheit) beschlossenen Gesetzen zu fügen, und der Pflicht, Ungerechtigkeiten zu widerstehen. Rawls definiert den zivilen Ungehorsam als öffentliche, gewaltfreie, gewissensbestimmte, gesetzwidrige Handlung, die eine Änderung der Gesetze oder der Politik der Regierenden herbeiführen soll.12 Als Ungehorsam gegenüber dem Gesetz innerhalb der Gesetzestreue bewege er sich an deren Rand. Das Gesetz wird gebrochen gemäß dem Sinn von Gerechtigkeit. Die Treue zum Gesetz wird deutlich in dem öffentlichen und gewaltfreien Charakter der Handlung und in der Bereitschaft, die gesetzlichen Folgen auf sich zu nehmen.

Andere sehen den zivilen Ungehorsam dann als grundrechtlich gerechtfertigt an, wenn er sich gegen schwerwiegendes Unrecht richtet, gewaltlos und verhältnismäßig ist.13 Wie sein Lehrer Gustav Radbruch spricht Kaufmann klarer von einem gesetzlichen Unrecht, dem widersprochen werden soll. Auch im Rechtsstaat gebe es Akte erlaubter (und gebotener?) Auflehnung gegen Unrecht, begründet im „Widerstandsrecht der kleinen Münze.“14

Der zivile Ungehorsam sucht nach einem übergesetzlichen Recht in seinen Akten praktischer Vernunft, in seinem der Angst abgerungenen Mut, der Tapferkeit, die mit den Tugenden der Klugheit, der Gerechtigkeit und des Maßes verbunden ist. Der Zivile Ungehorsam soll menschenfreundlich sein, anders als der große, heroische und oft scheiternde Widerstand ist er beständig zu tun, damit der große Widerstand nicht nötig wird. Deutlich wird darin, dass das Widerstehen ein Grundzug des Rechts selber werden, dass der leidende Gehorsam zum Ungehorsam transzendieren kann. Das Widerstehen gehört von innen zum Recht selber. Das kann in Handlungen wie Sitzblockaden deutlich werden, die in der Strafrechtsprechung viel zu oft noch als Nötigung geahndet werden. Doch fehlt hier der Raum, Einzelheiten der Rechtsprechung näher nachzugehen.

Ziviler Ungehorsam und Verfassungsrecht

Auf der verfassungsrechtlichen Ebene wird dem zivilen Ungehorsam nur geringe Aufmerksamkeit zugewandt. Mit der sog. Notstandsverfassung wurde in das Grundgesetz ein Art. 20 Abs. 4 aufgenommen, ein positiviertes Recht auf Widerstand gegen jeden, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik zu beseitigen. Ein solches limitiertes Recht verdankt sich einem menschenrechtlichen Irrtum, denn das Recht auf Widerstand kann gerade nicht positiv festgelegt werden, sondern entzieht sich dieser Bestimmung. Versuchen, Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes als Legalisierung des zivilen Ungehorsams zu deuten,15 halten manche Staatsrechtler entgegen, damit würde einer Reprimitivierung des Rechts und einem kulturellen Rückschritt Bahn gebrochen. Andere betonen, auf Grund der Sonderstellung des Widerstandsrechts (in der Beschränkung des Art. 20 Abs. 4) erfasse dieses gerade nicht den zivilen Ungehorsam. Einer Norm des positiven Rechts aus Gewissensgründen die Gefolgschaft zu verweigern, sei schon wegen der Inkaufnahme der Rechtsfolgen eine Bestätigung der positiven Rechtsordnung im Ganzen. Als politischer Appell zu deren punktueller Verbesserung könne solche Widerständigkeit zwar moralisch legitim, nicht aber verfassungsrechtlich legal sein. Der zivile Ungehorsam entbehre definitionsgemäß jeder Rechtfertigung durch das Recht; als symbolischer Akt könne er allenfalls eine moralische Rechtfertigung finden. Als öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte Handlung schließe er den vorsätzlichen Bruch einzelner Rechtsnormen ein, ohne dass der Handelnde der Rechtsordnung als ganzer den Gehorsam versage.16

Dieser schnellen Verbannung in den Bereich der Moralität ist zu entgegnen, dass der gewaltfreie öffentliche Protest gegen ein schwerwiegendes Unrecht und die Kritik eines öffentlichen Missstandes gehalten sind von der Unabgegoltenheit und Verletzbarkeit der Menschenrechte.17 Im Wissen darum, dass das Grundgesetz kein lückenloses Schutzsystem bilden kann, begründet der Rechtsphilosoph Ralf Dreier die Rechtfertigung des zivilen Ungehorsams so. „Wer allein oder gemeinsam mit anderen öffentlich, gewaltlos und aus politisch-moralischen Gründen den Tatbestand einer Verbotsnorm erfüllt, handelt grundrechtlich gerechtfertigt, wenn er dadurch gegen schwerwiegendes Unrecht protestiert und sein Protest verhältnismäßig ist.“18 Der Protest gegen ein schwerwiegendes Unrecht und die Kritik eines öffentlichen Missstandes bekunden ein Element direkter Demokratie und die Fehlbarkeit einer repräsentativen Staatsordnung.

Der Rechtsstaat, der seine eigene Unvollkommenheit ignoriert, verkehrt sich in autoritären Legalismus. Ohne ihrerseits einem elitären Gestus zu verfallen, sollten die gewaltfrei Ungehorsamen zeigen, dass die Grundregeln eines menschlichen Zusammenlebens nicht verwirklicht sind, ihre öffentliche Verwirklichung noch aussteht. Die begrenzte Regelverletzung deutet auf die Gefahr, dass auch ein Rechtsstaat – gewissermaßen gegen sich selbst – seine Grundlagen vergessen und ignorieren und Züge einer Unrechtsordnung annehmen kann. Angesichts dieser Gefahr zeigt der skeptisch nach Zivilität Suchende, dass ein öffentlicher Raum der Bildung der Menschlichkeit nicht einfach feststeht. Im Horizont kritischer Vernunft klagt der gewaltfreie Ungehorsam die Offenheit der Demokratie ein, erinnert an die Unabgegoltenheit der politischen Idee der Demokratie als Macht der Selbstregierung. Deutlich wird im zivilen Ungehorsam, dass der Sinn für die Antastbarkeit der Menschenrechte stets wach zu halten ist angesichts der Gefahr, die Demokratie in Selbstgerechtigkeit zu einer Staatsform unter anderen erstarren zu lassen und den offenen Prozess der Demokratisierung zu verdinglichen.

Anmerkungen

1) Thoreau, H.D. (1973): Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays. Zürich, Diogenes, S. 18.

2) Mellon, C. (o.J.): Die Geschichte eines Begriffes von Thoreau bis in unsere Tage. In Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam – Traditionen, Konzepte, Erfahrungen, Perspektiven. Sensbachtal, Herausgeber, S. 47ff.

3) vgl. Schultz, H.J. (1982): Martin Luther King. In H.J. Schultz (Hrsg.): Liebhaber des Friedens. Stuttgart, Kreuz, S. 326f.

4) Tolstoi seinerseits dienten das Vorbild und die Schriften Thoreaus dazu, seine eigenen Ideen zu illustrieren; vgl. Mellon, C. (o.J.), s. Anm. 2.

5) vgl. Tolstoi, L.N. (1893): Das Reich Gottes ist inwendig in euch. Religionskritische und gesellschaftskritische Schriften. Bd. 9. München, Diederichs.

6) Blume, M. (1987): Satyagraha. Wahrheit und Gewaltfreiheit, Yoga und Widerstand bei M.K. Gandhi. Gladenbach, Hinder & Deelmann, S. 110f.

7) Kaufmann, A. (1986): Gerechtigkeit – der vergessene Weg zum Frieden. München, Piper, S. 87; Kaufmann, A. (1984) Martin Luther King – Gedanken zum Widerstandsrecht. In ders., Rechtsphilosophie im Wandel: Stationen eines Weges. Köln, Heymanns, S. 251ff.

8) Das bekannte Urteil des Landgerichts Köln vom 31.10.1968, seine Aufhebung durch den Bundesgerichtshof am 8. August 1969 und die weitere Judikatur können hier nicht zusammengefasst werden.

9) Kaufmann, A. (1984): Gesetz und Evangelium. In R. Hauser (Hrsg.): Gedächtnisschrift für Peter Noll. Zürich, Schulthess, S. 61 ff. Hier geht es um die Tugend der Epikie (Billigkeit), die das Gesetz berichtigt in Fällen, in denen es wegen seiner Allgemeinheit vor dem Anspruch der Menschlichkeit versagt.

10) Kaufmann, A. (1991): Vom Ungehorsam gegen die Obrigkeit: Aspekte des Widerstandsrechts von der antiken Tyrannis bis zum Unrechtsstaat unserer Zeit, vom leidenden Gehorsam bis zum zivilen Ungehorsam im modernen Rechtsstaat. Heidelberg, Decker und Müller.

11) s. Köpcke-Duttler, A. & Metz, G. (Hrsg.) (1988): Vom Recht des Widerstehens: neue Perspektiven zu einem alten Dilemma. Mit einem Vorw. von Arthur Kaufmann. Frankfurt/M., Haag und Herchen.

12) Rawls, J. (1979): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 399 ff.

13) Dreier, R. (1983): Widerstand und ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. In P. Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 54 ff.

14) Kaufmann, A. (1984): Das Widerstandsrecht der kleinen Münze. In W. Krawietz (Hrsg): Objektivierung des Rechtsdenkens. Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo. Berlin, Duncker und Humblot, S. 85ff.

15) Z.B. Dreier, R. (1991): Recht – Staat – Vernunft. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 39f.

16) Dolzer, R. (1992): Der Widerstandsfall. In J. Isensee & P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII. Heidelberg, Müller, S. 469 f.

17) Köpcke-Duttler, A. (o. J.): Ziviler Ungehorsam. In Komitee für Grundrechts und Demokratie (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam – Traditionen, Konzepte, Erfahrungen, Perspektiven Sensbachtal, Herausgeber, S. 313 ff.

18) Dreier, R. (1983): Widerstandsrecht und ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. In P. Glotz (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 60; vgl. a. Jürgen Habermas, J. (1983): Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, ebd. S. 5

Prof. Dr. Arnold Köpcke-Duttler ist Rechtsanwalt und Diplom-Pädagoge.

Ziviler Widerstand – eine Erfolgsstory?

Ziviler Widerstand – eine Erfolgsstory?

von Jürgen Nieth

Für unseren Autor Jørgen Johansen ist der zivile Widerstand in den letzten 30 Jahren erfolgreicher als der bewaffnete Kampf. Er – wie auch die meisten anderen AutorInnen in dieser Ausgabe – bezieht sich dabei vor allem auf den Kampf gegen ausländische Besatzung und für gesellschaftliche Veränderungen. Aber wie ist das mit dem zivilen Widerstand innerhalb einer Gesellschaft zur Durchsetzung politischer Ziele, von Reformen unterhalb der gesellschaftlichen Umwälzung? Wann wird hier Protest zum Widerstand und sind hier Erfolge messbar?

Werfen wir einen Blick auf die Friedensbewegung in unserem Land, ihre Entwicklung, die unterschiedlichen Aktionsformen, Erfolge und Misserfolge.

»Ohne mich« – skandierte die Bewegung gegen die Gründung der Bundeswehr und die Einbeziehung der BRD in eine (West-) Europäische Verteidigungs-Gemeinschaft (EVG). »Ohne mich«, das war die angekündigte Kriegsdienstverweigerung, Teil der Bewegung gegen die Remilitarisierung. Die staatliche Macht reagierte massiv. Eine Volksbefragung wurde verboten, die Initiatoren verfolgt und die Polizeieinsätze gegen Demonstranten waren durch äußerste Härte gekennzeichnet: 1952 wurde während einer Friedensdemonstration in Essen ein Demonstrant erschossen. Politisch erlitt die Friedensbewegung damals eine Niederlage: Die Bundeswehr wurde gegründet, der EVG-Vertrag ratifiziert – als kleiner Erfolg blieb, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gesetzlich festgeschrieben werden musste.

»Kampf dem Atomtod« – »Solidarität mit Vietnam«. Die Friedensbewegung der sechziger Jahre formulierte aktiver, die dominierende Protestform blieb die Demonstration, doch zugleich gab es zunehmend Aktionen des zivilen Ungehorsams: Sitzstreiks vor Kasernentoren und Straßenblockaden. Die meisten wurden gewaltsam aufgelöst und endeten mit einer Verurteilung der Protestierenden. Auch hier nur punktuelle Erfolge der Friedensbewegung: Der Griff der Bundeswehr nach Atomwaffen scheiterte. Die USA mussten sich aufgrund der weltweiten Proteste aus Vietnam zurückziehen.

»Aufstehen – Frieden braucht Bewegung«. Das »Tu selbst etwas« entspricht der Massenbewegung für den Frieden in den achtziger Jahren. Ideenreich und vielfältig sind deren Aktivitäten: Demonstrationen bis zur Beteiligung Hunderttausender, Kultur- und Sportveranstaltungen, Menschenketten, berufsspezifische Aktionen, Unterschriftensammlungen, Volksbefragungen, Aktionen des zivilen Ungehorsams, wie Blockaden und das Begehen von Militärgelände. Der staatliche Gewaltapparat reagiert widersprüchlich. Einerseits gibt es die Einkesselung von DemonstrantInnen, die gewaltsame Auflösung von Blockaden und die Verurteilung der Blockierenden. Andererseits werden später viele von ihnen rückwirkend freigesprochen und massive staatliche Gewalteinsätze – mit Wasserwerfer, Tränengas und Schlagstock – werden zur Ausnahme. Das hat zwei Ursachen:

• Die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung stimmt inhaltlich mit den Hauptforderungen der Friedensbewegung überein, sie ist gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen. Die Regierung hat in dieser Frage die Mehrheit verloren.

• Die Aktionen der Friedensbewegung haben eine »positiv-friedliche« Ausstrahlung. Auch bei den Aktionen des zivilen Ungehorsams wird deutlich, dass von den Protestierenden keine Gewalt ausgehen wird. Der Einsatz brutaler Gewalt von Seiten des Staates ist in dieser Situation nicht mehr legitimierbar.

Die vielfältigen Aktionsformen, deren sich die Friedensbewegung in den achtziger Jahren bediente, erleben in den Protesten gegen die beiden US-Interventionen im Irak – schwächerer bei den Balkankriegen – eine Renaissance.

Und die Erfolgsfrage? Der Sturz eines Regimes, die Befreiung von ausländischer Besatzung, sind messbare Erfolge. Ob angestrebte politische Veränderungen innerhalb eines Systems stattgefunden haben, weil eine Massenbewegung sich dafür eingesetzt hat, ist dagegen schwer feststellbar. Es bleibt aber die gut begründbare Annahme, dass die Entwicklung ohne die Friedensbewegung viel negativer verlaufen wäre.

Die Mittelstreckenraketen wurden stationiert und später wieder abgebaut. Die USA haben den Irak besetzt und sich damit weltweit isoliert. Die Bundeswehr steht am Hindukusch aber in der Verurteilung des Irakkrieges gibt es wie in der »Stationierungsfrage« eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen der Mehrheit der Bevölkerung und der Friedensbewegung.

Vielleicht ist das die entscheidende Messlatte: Der Gewinn der Meinungsführerschaft. Sie ist nicht die Garantie dafür, dass sich etwas verändert, aber sie ist die Voraussetzung für Veränderungen. Die Meinungsführerschaft zu behaupten und inhaltlich auszubauen – von der punktuellen zu einer umfassenden friedenspolitischen, dafür bedarf es zivilen Widerstands: Vielfältig, im Ziel übereinstimmend und gewaltfrei.

Jürgen Nieth

Globaler gewaltloser Widerstand

Globaler gewaltloser Widerstand

Überlegungen zur aktuellen Diskussion

von Barbara Müller

In ihrer Rede zum Auftakt des Weltsozialforums am 16.1.2004 in Mumbai, Indien, fordert Arundhati Roy mit Blick auf den Irak und auf die versammelte Gemeinschaft der Globalisierungskritiker: Wir müssen der globale Widerstand gegen die Besetzung werden. Warum? Weil, so Roy, Imperialismus und Neo-Liberalismus in Irak kulminieren. Ihr zentraler Angriffspunkt ist, die Legitimität der Besetzung anzugreifen. Ihr Ausgangspunkt ist der Boykott zweier U.S.-Firmen, die – stellvertretend für viele – angreifbar sind an jedem Ort der Welt, wo sie mit Niederlassungen vertreten sind oder sonst wie in Erscheinung treten. Roy zielt darauf ab, dass es letztlich zu einer massiven Nichtzusammenarbeit von denen kommt, die derzeit mit unterschiedlichsten Beiträgen dafür sorgen, dass die Besetzung des Irak funktioniert. Bekommt der gewaltlose Widerstand – der bisher vor allem national geführt wurde – jetzt eine globale Dimension?

Um Irrtümern vorzubeugen: Arundhati Roy geht es nicht um die Unterstützung des Widerstands, der sich aktuell im Irak gegen die Besatzung richtet. Von diesem grenzt sie sich eher ab. Der in der taz zitierte Satz: „Wenn wir wirklich gegen Imperialismus und Neoliberalismus sind, dann müssen wir nicht nur den Widerstand im Irak unterstützen, wir müssen selbst zum Widerstand im Irak werden“ findet sich in der schriftlichen Fassung der Rede nicht.

Unter Bezug auf Gandhis Salzmarsch und angesichts der Notwendigkeit, dass die Globalisierungsgegner einen Erfolg brauchen, möchte Roy die Waffen des gewaltlosen Kampfes schärfen. Dazu muss mehr geschehen als gegen den Krieg zu demonstrieren. Der Widerstand muss wirklich spürbar werden. Arundhati Roy denkt laut über den gewaltfreien Angriff auf »das Imperium« nach und sieht sich im Krieg. Wie ich es lese, im Krieg mit Imperialismus und Neo-Liberalismus. Ihr zentraler Satz ist daher für mich: „While our movement has won some important victories, we must not allow non-violent resistance to atrophy into ineffectual, feel-good, political theatre.“ (Hörig 2004; Roy 2004 – alle weiteren Bezüge auf Roy beziehen sich auf diesen Text)

Im Folgenden möchte ich den Fragen nachgehen: Welche Vorstellung von Widerstand hinter diesen fragmentarischen Hinweisen stehen könnten? Wer könnten die Träger dieses Widerstands sein? Welcher Strategien könnten sie sich bedienen? Welches Potenzial, welche Erfahrungen, welches konzeptionelle Wissen könnten sie nutzen? Welche Fallstricke lauern? Dies bleibt notwendigerweise ebenfalls kursorisch, fragmentarisch, angesichts der vielen offenen Fragen, die derzeit nicht beantwortbar sind.

Gewaltloser Widerstand – durch wen und mit welchem Ziel?

Gewaltloser Widerstand im Irak? Das wirft natürlich sofort die Frage auf: Wie soll das dort gehen? Aus dem Irak wird vor allem über gewaltsame Widerstandsakte berichtet, nur selten über Demonstrationen und friedlichen Protest. Auffällig ist die große und tiefe Zersplitterung der verschiedenen Bewegungen und Gruppen, die den Widerstand tragen. Dies lässt vermuten, dass sie nur eines eint, nämlich die Abwehr der militärischen Besetzung. Sind die Besatzer vertrieben oder ziehen sie sich unter Wahrung des Gesichts zurück, wird der Kampf um die Vorherrschaft beginnen, ein Bürgerkrieg ist nicht ausgeschlossen. Die Besatzung zu beenden und gleichzeitig die Weichen so zu stellen, dass die notwendige interne Auseinandersetzung ohne Blutvergießen vonstatten gehen kann, ist die derzeitige zivilisatorische Aufgabe. Kann ein globaler Widerstand gegen die Besatzung hierzu einen Beitrag leisten? Stellt er sich die Frage, was nach der Besetzung im Irak geschehen wird? Oder ist der Irak ein aktueller Kulminationspunkt, der aus dem Blickfeld des »globalen Widerstands« gerät, sobald die Besatzung dort »besiegt« ist? Wie viel Verantwortung für die Entwicklung im Irak übernimmt er? Und: Wer ist der globale Widerstand?

Die »Große Kette der Gewaltfreiheit«

Wer soll eigentlich Widerstand leisten? Sind es – wie immer – die Unterdrückten selber? Oder sind es nicht (auch) diejenigen, die den ausländischen Unterdrückern vom Gesellschaftskonzept her nahe stehen? Die eine viel geringere soziale Distanz zu überbrücken haben und die deshalb, weil sie den Herzen der Unterdrückern näher sind, deren »träge Gewissen« (Gandhi) leichter durch eigene gewaltlose Akte aufrütteln können? Johan Galtung hat dem gewaltlosen Kampf zu einer Strategie der »großen Kette der Gewaltlosigkeit« geraten. Er hat vor allem Entmenschlichung im Blick, die intensive Konflikte begleitet. „Es gibt nur geringes oder gar kein Verständnis füreinander, solange keine wechselseitige zuerkannte Menschlichkeit existiert.“ Dann kann Widerstand seitens der Opfer bei den Tätern sogar zur Verstärkung ihrer negativen Einstellungen und Reaktionen führen. So muss „Gewaltlosigkeit, um die unterdrückenden Strukturen zu zerstören, von anderen Personen als den Opfern (ausgeübt werden).“ Galtung zitiert ein altes Beispiel, das vielleicht wieder eine neue Aktualität erhalten könnte: „Das Ende des Vietnam-Krieges wurde zum großen Teil durch Gewaltlosigkeit erreicht – doch nicht durch die Vietnamesen, obwohl die demonstrativen Selbstmorde buddhistischer Mönche in den Pagoden eine Rolle spielten. Es wurde herbeigeführt durch die näher bei Washington lebenden Menschen, durch die »eigenen Leute«, welche die glaubhafte Gefahr heraufbeschworen, die Vereinigten Staaten von Amerika unregierbar zu machen.“ Galtungs Konzept von 1988 ist in aktuellen Auseinandersetzungen immer noch ein Thema und scheint sogar an Wirkungsmacht zu gewinnen. Auf einer sechswöchigen Studienreise durch Israel-Palästina interviewte Veronique Dudouer im Jahr 2003 zahlreiche AktivistInnen, darunter auch viele, die die erfolgreiche erste Intifada der 90er Jahre mitgemacht hatten. Diese hatte damals durch Kampagnen von Nicht-Zusammenarbeit Wirkung gezeigt. Seitdem hat sich viel geändert, wodurch sich die Abhängigkeit Israels von der Kooperation mit den Palästinensern verringert hat. Ehemalige Angriffspunkte sind verschwunden. Eine Steuerverweigerung gegenüber den (eigenen) Autonomiebehörden macht zum Beispiel wenig Sinn. Der Ersatz von Palästinensern durch Ausländer hat die Abhängigkeit Israels von deren Arbeitskraft verringert. Dudouers Gesprächspartner setzen nun genau auf Galtungs Konzept: „The only way for Palestinians to gain leverage on the Israeli government is through the »great chain of non-violence« (to use Galtung‘s concept), by using the relay of allies with more leverage, both in Israeli civil society and the international community.“ (Galtung 1988: 85, Dudouet 2004) Damit sind wir beim Handwerkszeug des gewaltlosen Widerstands.

Methoden des gewaltlosen Widerstands

Um eine erste, ganz grobe Unterscheidungsmöglichkeit zu geben, kann man sagen, dass gewaltloser Widerstand auf eigene Gewaltanwendung in der Auseinandersetzung verzichtet. Er bedient sich vielfältigster Methoden der »gewaltfreien Aktion« und damit Methoden des sozialen, politischen und oder wirtschaftlichen Kampfes, die sowohl zur gesellschaftlichen Veränderung (gewaltfreie Revolution, gewaltfreier Aufstand, People Power), als auch zur Bewahrung von Errungenschaften angewandt werden können. Protest und Nicht-Zusammenarbeit gehören dazu, auch Akte des bewussten Nicht-Handelns oder des Ungehorsams, ebenso wie das Aufzeigen von Alternativen, das »konstruktive Programm«. Fallstudien dokumentieren, dass das Handwerkszeug gewaltfreier Methoden in verschiedensten Kulturen und in allen Weltregionen beheimatet ist. (Bergfeldt 1993: 11, 19-33; Crow 1990; McManus 1991; Martin 2001; Ackerman 1994)

Wirkung durch Zwang oder durch Bekehrung?

Die Macht eines zivilen Widerstands ist aus den Wirkungsmechanismen der gewaltlosen Methoden zu erklären, deren wichtigste Zwang, Bekehrung und Überredung sind. Je nach dem Grad der Abhängigkeit des Konfliktgegners vom Akteur können gewaltlose Methoden auf eine vollständige Zwangswirkung ausgerichtet werden oder aber auf Zwang verzichten und allein auf die Bekehrung ausgerichtet werden. Wie am Beispiel Israel-Palästina dargestellt, greifen Methoden des Zwangs ins Leere, wenn die Abhängigkeit des Unterdrückers vom Opfer nicht gegeben ist oder nachlässt. Dann müssen Methoden mit anderer Wirkungsweise entwickelt werden, was die Anforderungen an die Methodenauswahl und das Vorgehen erheblich erhöht. Einerseits wird eine Konfliktlösung als umso tragfähiger bewertet, je mehr sie durch Bekehrung zustande gekommen ist. Das erfordert aber im Prozess der Konfliktaustragung einen möglichst engen Kontakt zum Kontrahenten. Die, Konfliktlösung muss weitestgehend zusammen mit dem Gegner gefunden werden. Das beinhaltet auch die Fähigkeit zur selbstkritischen Veränderung der eigenen Position und erfordert eine Konfliktaustragung auf möglichst niedrigem Eskalationsniveau. Andererseits lebt ein sozialer Boykott aber von der Abgrenzung. Eine Annäherung an den »Feind« gerät schnell in den Geruch des Verrats und der Kollaboration. Der gewaltlose Widerstand der Kosovo-Albaner hat vollständig auf die Abgrenzung gesetzt und seinen inneren Zusammenhalt damit über Jahre aufrecht erhalten können. Christine Schweitzer identifiziert gleichwohl in dem Unvermögen, eine Brücke zum »Feind« zu schlagen, eine der entscheidenden Schwachstellen dieser Strategie (siehe diese W&F-Ausgabe S. 20).

Hier unterscheiden sich eine pragmatische und die prinzipielle Herangehensweise an den gewaltlosen Widerstand, im Deutschen mit der Unterscheidung zwischen Gewaltfreiheit und Gewaltlosigkeit benannt. Das erste meint das Handeln aus einer prinzipiellen Überzeugung heraus, das zweite beschreibt schlicht den Verzicht auf direkte, physische Gewaltanwendung. Wer die gewaltlose Technik als die besser funktionierende ansieht, wird sich nicht automatisch Gedanken darüber machen, ob die Lösung am Ende auch den Gegner befriedigt. Viele der herausragendsten und bedeutsamsten Beispiele gewaltfreien Handelns – Prag 1968, die Anti-Vietnamkrieg-Bewegung, der Sturz von Präsident Marcos auf den Philippinen 1986, die Umstürze in Mittel- und Osteuropa 1989, die Demokratiebewegung in China 1989 und der Widerstand der Kosovo-Albaner 1989-1997, um nur einige der jüngeren Fälle zu nennen – würden in dieser Unterscheidung eher das Prädikat »gewaltlos« oder sogar nur »gewaltarm« verdienen. Das gleiche mag im übrigen auch für viele der AnhängerInnen der bekannten gewaltfreien Führer von Bewegungen – von Mohandas K. Gandhi über Martin Luther King bis zu Danilo Dolci und Cesar Chavez – gelten, auch wenn es diese Persönlichkeiten gewesen sind, die Gewaltfreiheit als prinzipiellen Ansatz begründeten. Gleichwohl kann es das Gesetz der Klugheit verlangen, Perspektiven des Gegners auch in sehr pragmatische eigene strategische Überlegungen einzubeziehen. Die Analyse des passiven Widerstands im Ruhrkampf 1923 hat deutlich gezeigt, wie stark die Wirksamkeit des Widerstands darunter gelitten hat, dass die deutsche Reichsregierung die berechtigten Aspekte auf der Seite der französischen und belgischen Gegenspieler nicht in Betracht gezogen hat. Das haben die deutschen Pazifisten in dieser Zeit klarer erkannt (Lakey 1979; Bergfeldt 1993: 40; Galtung 1987: 116, 179, 135-138; Müller 2000: 83f.; Müller 1996).

Konzeptionelle Entwicklung und Forschungsschwerpunkte

Es waren sowohl PraktikerInnen der gewaltfreien Aktion selber als auch WissenschaftlerInnen, die versuchten, durch Reflexion und konzeptionelle Arbeit das Potenzial dieser Verhaltensweisen für eine effiziente und konstruktivere Konfliktaustragung zu verstehen und zu nutzen. Unter den Praktikern kommt Mohandas K. Gandhi eine besondere Bedeutung zu. Die »Experimente mit der Wahrheit«, wie er seine sich ständig weiter entwickelnde, reflektierte Praxis der gewaltfreien Aktion nannte, ist bis heute ein Bezugspunkt für die theoretische aber auch praktische Auseinandersetzung geblieben. In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts entstand in Norwegen, England und der Bundesrepublik Deutschland ein Diskurszusammenhang, der gewaltlosen Widerstand als eine Alternative zur militärischen Verteidigung untersuchte. Mit dem Ende des vorherrschenden Bedrohungsszenarios des Kalten Krieges verebbte für mehrere Jahre die konzeptionelle Debatte in dieser Richtung, bis Robert Burrowes sie Mitte der 90er Jahre mit seinem Buch »The Strategy of Nonviolent Defense: A Gandhian Approach« wieder aufleben ließ. In dieser Zeit erschienen zudem mehrere Fallstudien, die sich in systematischer Weise mit den Rahmenbedingungen und Erfolgsbedingungen von zivilem Widerstand beschäftigten. Es war einmal der Widerstand gegen die Besetzung des Ruhrgebietes im Jahr 1923, den die Autorin untersuchte. Jacques Semelin arbeitete in einer vergleichenden Studie auf, was „gewaltfreie Aktion auf dem für sie ungünstigsten Feld“ zustande bringt, „dem der extremen Brutalität des Nationalsozialismus“. Den Widerstand im besetzten Dänemark im Zweiten Weltkrieg untersuchte Lennart Bergfeldt.

Aktuelle Forschungen in den letzten Jahren versuchen, gewaltlosen Widerstand als einen komplexen und dynamischen sozialen Prozess zu begreifen, die Dynamiken zu verstehen, die die Herausbildung von solch neuen Streitformen begünstigen, ferner die Interaktionen, die Bekehrung möglich machen sowie das Phänomen einer »Gütekraft«, das den positiven Wandel bewirkt. »Globale Bewegungen zivilen Ungehorsams« sind in den Forschungsfokus gerückt.1

Macht und Grenzen gewaltloser Aufstände

Im Kampf um Veränderung mit gewaltfreien Mitteln gehört Hildegard Goss-Mayr sicherlich zu denjenigen PraktikerInnen, die den größten Erfahrungsschatz gesammelt haben. Auch sie geht nach einem strategischen Konzept vor, das die prinzipielle Gewaltfreiheit in praktisches Handeln umgesetzt. Ihre Praxis führte sie u.a. in die Philippinen, wo sie in der Vorbereitung der gewaltfreien Bewegung und der Beratung von EntscheidungsträgerInnen ihren Anteil am gewaltlosen Umsturz im Frühjahr 1986 hatte (Goss-Mayr 1989).

Wenn die Stärke gewaltlosen Widerstands in dieser und zahlreichen anderen hocheskalierten Situationen inzwischen deutlich belegbar ist, dann gilt das nicht für die Sicherung solcher Siege. Aus der Sicht derer, die sich in Osteuropa und in den Philippinen in diesen Kämpfen an vorderster Stelle engagierten, haben sich die Erwartungen auf eine Veränderung der sozialen Bedingungen nicht erfüllt. Johan Galtung weist auf dieses Phänomen hin, wenn er vor der Gefahr des »geheimen Einverständnisses« warnt. Galtung spricht ja den Gruppen, die in großer sozialer Nähe zu den Unterdrückern stehen, eine erhebliche Chance zu, dem »gewalttätigen Treiben« Einhalt zu gebieten. Er fragt aber: „Damit taucht jedoch eine beunruhigende Frage auf. Ist es tatsächlich unverkennbar, dass das Ergebnis dieses Prozesses die Unterdrückten begünstigt? Oder begünstigt es etwa die dritte, die vermittelnde Partei?“ Seine Analyse von sieben Fallbeispielen, darunter die Philippinen, fällt ernüchternd aus: „Objektiv bleibt jedoch vieles genauso wie zuvor. Und die Unterdrückten haben den Kampf an irgendwelche anderen Beteiligten verloren“ (Galtung 1988: 92, s. a: Diokno 1991; Sormova 1991; Rawicz-Oledzka 1991).

Es ist unverkennbar, dass sich in der Auseinandersetzung mit der Globalisierung soziale Bewegungen konstituieren und weitestgehend auf gewaltfreie Handlungsformen zurückgreifen. Die Frage, wem nützt der gewaltfreie Kampf, ist damit noch nicht beantwortet. Für Arunhati Roy sollten es diejenigen sein, die weltweit von Armut und Ausgrenzung durch Globalisierung und im Irak von Unterdrückung und Besetzung betroffen sind. Die notwendigen Erfolge zu erzielen und dabei tatsächlich denjenigen zu nützen, für die gestritten wird, wäre ein wirklicher Durchbruch bei der Weiterentwicklung gewaltlosen Widerstands. Es ist der vielleicht nächste Schritt?

Literatur

Ackerman, Peter and Christopher Kruegler (1994): Strategic Nonviolent Conflict. The Dynamics of People Power in the Twentieth Century, Westport, CT: Praeger.

Bergfeldt, Lennart (1993): Experiences of Civilian Resistance. The Case of Denmark 1940-1945, Diss.

Bläsi, Burkhardt (2001): Konflikttransformation durch Gütekraft. Interpersonale Veränderungsprozesse, Lit Münster (Studien zur Gewaltfreiheit, Band 4).

Burrowes, Robert J. (1996): The Strategy of Nonviolent Defense: A Gandhian Approach, Albany NY, State University of New York Press.

Chabot, Sean (2002): Dynamics of Contentious Repertoires: The Gandhian Repertoire as »Truly New«, Paper, presented at Symposium on Nonviolent Research, Tromso, Centre for Peace Studies, Nov 28-30.

Crow, Ralph E. / Philip Grant / Saad E. Ibrahim (eds.) (1990): Arab Nonviolent Political Struggle in the Middle East, Boulder, Lynne Rienner.

Diokno, Maria Serena I. (1991): People Power: The Philippines, S. 24-30 in: Nonviolent Struggle and Social Defence. (Dokumentation der Bradford-Konferenz, 3.-7.4. 1990). Edited by Shelley Anderson and Janet Larmore, London.

Dudouet, Veronique (2004): Heading in the right direction, Peace News 2545.

Galtung, Johan (1987): Der Weg ist das Ziel. Gandhi und die Alternativbewegung, Wuppertal.

Galtung, Johan (1988): Die Prinzipien des gewaltlosen Protestes – Thesen über die »Große Kette der Gewaltlosigkeit«, S. 82-92 in: Dokumentation des Bundeskongresses »Wege zur Sozialen Verteidigung« vom 17.-19. Juni 1988. Hrsg. v. Bund für Soziale Verteidigung, Minden.

Goss-Mayr, Hildegard und Jean Goss (1989): Gewaltfreies Ringen um kleine Fortschritte, S. 39-41 in : gewaltfreie aktion Nr. 77/78/79.

Hörig, Rainer (2004): Kriegserklärung der Kämpferin, Auf dem Weltsozialforum in Bombay fordert die Autorin Arundhati Roy den Krieg der Globalisierungskritiker gegen das Establishment, in: taz Nr. 7261 vom 19.1.2004.

Lakey, George (1979): Sociological Mechanisms of Nonviolence: How It Works, S. 64-72 in: Nonviolent Action and Social Change. Hrsg. v. Severyn T. Bruyn und Paula M. Rayman. New York, London, Sydney, Toronto.

Martin, Brian / Wendy Varney / Adrian Vicers (2001): Political jiu-jitsu against Indonesian repression: studying lower-profile nonviolent resistance, Pacifica Review 13, 2001, p. 143-156.

Martin, Brian (2002), Nonviolence research: past and future. Paper, presented at Symposium on Nonviolent Research, Tromso, Centre for Peace Studies, Nov 28-30.

McManus, Philip and Gerald Schlabach (eds.) (1991): Relentless Persistence: Nonviolent Action in Latin America , Philadelphia, New Society Press.

Müller, Barbara (1995): Passiver Widerstand im Ruhrkampf. Eine Fallstudie zur gewaltlosen zwischenstaatlichen Konfliktaustragung und ihren Erfolgsbedingungen, Lit Münster (Studien zur Gewaltfreiheit Band 1).

Müller, Barbara (1996): Widerstand und Verständigungsbereitschaft. Eine pazifistische Alternative zur Diplomatie im Ruhrkampf und ihre Bedeutung, S. 103-119 in: Gewaltfreiheit. Pazifistische Konzepte im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Andreas Gestrich u.a., Lit Münster (Jahrbuch für Historische Friedensforschung Band 5).

Müller, Barbara (1996a): Zur Theorie und Praxis von Sozialer Verteidigung, Wahlenau 1996, (Arbeitspapier Nr. 3 IFGK).

Müller; Barbara und Christine Schweitzer (2000): Gewaltfreiheit als Dritter Weg zwischen Konfliktvermeidung und gewaltsamer Konfliktaustragung, S. 82-111 in: Konflikt und Gewalt. Ursachen – Entwicklungstendenzen – Perspektiven, Münster, Agenda-Verlag (Studien für europäische Friedenspolitik Band 5).

Parekh, Bhikhu (2004): Why Terror?, Prospect Magazine, Issue 98, May 2004, http://www.prospect-magazine.co.uk/start.asp?P_Article=12487.

Rawicz, Elzbieta (1991): A new style of Polish protest, S. 55-58 in: Nonviolent Struggle 1991. (S.o. Diokno).

Roy, Arundhati (2004): Do Turkeys Enjoy Thanksgiving? A Global Resistance to Empire; January 24, Fassung in: ZNet – 26.01.2004 16:27.

Sormova, Ruth / Michaela Neubauerova / Jan Kavan (1991): Czechoslovakia‘s nonviolent revolution, S. 36-42 in: Nonviolent Struggle 1991. (S.o. Diokno).

Vinthagen, Stellan (2002): Suggestions for a Social Construction Approach to Nonviolent Resistance, Paper, presented at Symposium on Nonviolent Research, Tromso, Centre for Peace Studies, Nov 28-30.

Vinthagen, Stellan (2002a): The Sociology of Nonviolent Action: The Social Construction of Global Movements of Civil Disobedience. Four abstracts from a coming dissertation. Paper, presented at Symposium on Nonviolent Research, Tromso, Centre for Peace Studies, Nov 28-30.

Anmerkungen

1) Ausführlich zur internationalen Konzeptentwicklung Sozialer Verteidigung siehe Parekh 2004, Theodor Ebert, Adam Roberts, Johan Galtung, Gene Sharp; Burrowes 1996; Martin 2002; Müller 1995; Müller 1996a, Semelin 1995: 18; Bergfeldt 1993: 7; Vinthagen 2002; Chabot 2002: 1 (Streitrepertoire); Bläsi 2001 (Interaktionskonzept); Arnold in dieser W&F-Ausgabe, S. 24ff (Gütekraft); Vinthagen, 2002a (globale soziale Bewegungen).

Dr. Barbara Müller ist Mitarbeiterin im Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung (IFGK).