Neue Gefahren und die Dringlichkeit nuklearer Abrüstung

Neue Gefahren und die Dringlichkeit nuklearer Abrüstung

von Regina Hagen, Xanthe Hall, Lothar Liebsch, Ottfried Nassauer, Götz Neuneck, Jürgen Scheffran, Wolfgang Schlupp-Hauck und Wolfgang Sternstein

zum Anfang | Nuklearer Supermarkt oder nuklearwaffenfreie Welt?

von Regina Hagen

»Wenn die Welt ihren Kurs nicht ändert, riskieren wir die Selbstzerstörung. Der gesunde Menschenverstand wie die jüngsten Ereignisse machen mehr als klar, dass der nukleare Nichtverbreitungsvertrag… an die Realitäten des 21. Jahrhunderts angepasst werden muss. …Wir brauchen dringend einen Fahrplan für die Abrüstung von Atomwaffen – und anfangen sollten wir mit einer deutlichen Reduzierung der 30.000 Atomsprengköpfe, die es nach wie vor gibt. …Wir dürfen nicht länger dem Irrglauben anhängen, dass das Streben nach Atomwaffen bei einigen Ländern moralisch verwerflich ist, während wir bei anderen moralisch akzeptieren, dass sie für ihre Sicherheit auf Atomwaffen bauen.»

Mohamed elBaradei, Generaldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO), kennt sie genau, die alten und die neuen Gefahren des Nuklearzeitalters. Und in der Tat halten Experten die Situation für gefährlicher als auf den ersten Blick erkennbar.

All zu lange setzten wir auf das Prinzip Hoffnung:

  • Hoffnung darauf, dass die USA und Russland schon noch zu substantiellen Abrüstungsvereinbarungen kommen, wenn die absurde Anzahl einsatzbereiter Atomwaffen in ihrer Monstrosität nach dem Ende der Blockkonfrontation noch deutlicher wird;
  • Hoffnung darauf, dass einseitig interpretierte und damit wacklige völkerrechtliche Vereinbarungen halten und die nuklearen Habenichtse sich mit ihrem Status abfinden;
  • Hoffnung darauf, dass Atomwaffen und -materialien gut bewacht und gesichert würden und ein Transfer in »falsche Hände« somit ausgeschlossen sei;
  • Hoffnung darauf, dass Abschreckung weiterhin den Atomkrieg verhindert;
  • Hoffnung darauf, dass ein Wunder passiert und Atomwaffen irgendwann einfach verschwinden.

Das erste nukleare Zeitalter ist noch nicht vorbei

„Aus Protest gegen die Aufrüstung haben mehr als zwei Millionen Demonstranten eine fast 500 Kilometer lange Menschenkette gebildet. Sie reichten sich am Samstag die Hände und riefen Parolen wie »Für Frieden – gegen Raketen«.“ Die Kundgebung richtete sich gegen Raketen des Landes X, die auf Y gerichtet sind.

Lange her und maßlos übertrieben, wird sich jetzt manche/r denken. Die Menschenkette von Stuttgart nach Ulm, 100 Kilometer quer über die Schwäbische Alb, fand schließlich schon vor über 20 Jahren statt und brachte rund eine viertel Million Menschen auf die Beine, die sich gegen Rüstung und »Nachrüstung« wandten. Die US-Mittelstreckenraketen des Typs Pershing-II, damals als Gegengewicht zu den russischen SS-20 auf deutschem Boden stationiert, sind auch schon längst verschrottet.

Gefahr vorbei, Problem gelöst? Weit gefehlt! Die oben zitierte Zeitungsmeldung lief am 29. Februar 2004 über die Ticker der Nachrichtenagenturen. Die Menschenkette fand am Tag zuvor in Taiwan statt und richtete sich gegen einige Hundert chinesische Kurz- und Mittelstreckenraketen, die auf dem Festland stationiert und – zu einem erheblichen Teil mit Atomsprengköpfen bestückt – auf die »abtrünnige« Inselrepublik gerichtet sind. Die Gefahr, sich eines Tages im nuklearen Schlachtfeld wiederzufinden, scheint in Europa verschwunden. In Taiwan ist sie sehr präsent.

Auch wenn US-Präsident George W. Bush betont, „Amerika wird nicht zulassen, dass uns Terroristen und gefährliche Regime mit den gefährlichsten Waffen der Welt bedrohen,« so kann das nicht von der Tatsache ablenken, dass die Welt heute vor allem von den 30.000 Atomwaffen der fünf offiziellen Atommächte China, Frankreich, Großbritannien, Russland und USA bedroht wird. Diese Länder haben in den letzten 35 Jahren ihre Verpflichtungen aus dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag hartnäckig ignoriert und ihre Atomwaffen nicht wie versprochen vollständig abgerüstet. Ganz im Gegenteil:

  • Solange die einzig verbliebene Supermacht trotz ihres überwältigenden konventionellen Waffenarsenals und ihrer fast unangefochtenen Möglichkeiten der High-Tech-Kriegsführung in ihren Militärdoktrinen für Atomwaffen eine Schlüsselrolle vorsieht, gibt es keinen Grund für »kleinere« Länder, darauf zu verzichten. Ersteinsatz, Einsatz gegen Nicht-Atomwaffenstaaten, vorbeugender Einsatz zur Verhinderung von Proliferation – die »Optionen« der USA heizen die Rüstungsspirale an. Das Land gibt Milliardensummen für seine Atombewaffnung aus. Die Einsatzbereitschaft des Arsenals wird mit modernsten Technologien garantiert, selbst neue Tests werden nicht mehr ausgeschlossen. »Mini-Nukes« klingen harmlos und sind dennoch gefährlich. »Bunkerknacker« bieten die Illusion eines führbaren Atomkriegs. Die Verteidigungslinie wird in den Weltraum verlagert. Und Raketenabwehr gaukelt den Schutz der eigenen Heimat vor.
  • Russland muss zwar sparen, zur Reaktion reicht es allemal. Modernisierte Langstreckenraketen, mit mehreren Sprengköpfen bestückt, hochmanövrierbar bis zum letzten Augenblick, sollen
  • »Raketenabwehrsysteme durchdringen«. So, verkündet Präsident Putin, „bleibt Russland (eine) große Atomraketenmacht«. Seit Jahren vergammelt das russische Frühwarn- und Kontrollsystem, somit steigt das Risiko von Fehlinterpretation und einem versehentlichen »Vergeltungsschlag«. Kompensiert wird dies mit einer unsinnigen Ersteinsatz-Doktrin.

  • Auch China rüstet zur Überwindung des geplanten amerikanischen Abwehrschirms. 200 statt 20 interkontinentale Raketen sollen die »Zweitschlagfähigkeit« sicherstellen, auch gegen eine US-Raketenabwehr. Modernere Technik ermöglicht bald eine Einsatzbereitschaft rund um die Uhr. Gleichzeitig wird das gegen Taiwan gerichtete Arsenal ständig ausgebaut.
  • Europa hat mit Großbritannien und Frankreich zwei Atommächte in der Union, die ihr Arsenal ebenfalls modernisieren. Hinzu kommt, dass im NATO-Krisenfall europäische Länder ein Mitspracherecht beim Einsatz des US-Arsenals haben.

In den USA ist angesichts der Neudefinition und Verschiebung der weltweiten nuklearen Arsenale nach dem Kalten Krieg die Rede vom zweiten nuklearen Zeitalter – ein Blick auf die aktuelle Lage zeigt, dass die Gefahren des ersten noch längst nicht überwunden sind.

Von Schlupflöchern und nuklearen Supermärkten

Der bisher eingeschlagene Weg zur nuklearen Abrüstung ist erkennbar gescheitert. Dasselbe trifft auf die Nichtverbreitung zu. Jayantha Dhanapala, bis 2003 stellvertretender UN-Generalsekretär für Abrüstung, fürchtet einen weltweiten Wettlauf nach Atomwaffen: »Dann bricht die Hölle los. Es werden sich immer weitere Länder und Terroristen finden, die Atomwaffen einsetzen. Wir befinden uns auf dem Weg nach Armageddon.»

  • Der »nukleare Club« ist größer geworden. Indien, Israel und Pakistan haben sich als Atomwaffenstaaten gemeldet, der Status von Nordkorea ist ungeklärt; Iran gilt als weiterer Anwärter auf die Nuklearoption.
  • Schwellenländer wollen nicht länger verzichten. Atomwaffen haftet der Ruf an, Prestige zu verschaffen und vor »vorbeugenden« Militärschlägen der USA oder Übergriffen feindlicher Nachbarn zu schützen.
  • Der nukleare Schmuggel hat ungeahnte Dimensionen angenommen. Nach IAEO-Chef el-Baradei geht es trotz gegenläufiger Bemühungen seiner Behörde und der Beobachtung durch diverse Geheimdienste zu »wie im Supermarkt». Gaszentrifugen und Blaupausen nach Iran oder Libyen, Atomwaffendesign nach Nordkorea, Raketentechnologie nach Pakistan – der Handelsumfang des nuklearen Schwarzmarktes erschreckt. Das Interesse von Terroristen an nuklearer Technologie ist vielleicht nicht groß, aber auszuschließen ist es auf keinen Fall.
  • Wer für Forschungszwecke oder zur Energiegewinnung mit fortgeschrittenen Nukleartechnologien hantiert, ist potentiell auch atomwaffenfähig. Auf 40 Länder trifft dies momentan zu. Bei einem Zusammenbruch des Nichtverbreitungsregimes könnten auch in Japan, Deutschland und anderen Staaten sehr schnell Atomwaffen produziert werden.
  • Solange in zivilen Atomreaktoren waffengrädiges Nuklearmaterial eingesetzt wird bzw. entsteht, bleibt auch die Gefahr einer Abzweigung für militärische Zwecke erhalten.
  • Die etablierten Atomwaffenmächte mischen bei der Weiterverbreitung häufig mit. Ob Handel mit waffengrädigem Uran durch die USA oder Weitergabe chinesischer Raketentechnologie an Nordkorea – der »Club« kann nicht einfach nur mit dem Finger auf andere zeigen.
  • Das gilt auch für Deutschland. Der Verkauf deutscher U-Boote mit Umrüstpotential zur nuklearen Raketenabschussbasis an Israel und die Beteiligung der deutsch-niederländisch-britischen Holding URENCO an den pakistanischen Deals sind nur zwei Beispiele von vielen.

Tu, was wir sagen, und nicht, was wir tun?

Dieses Bild ist zwar schon reichlich unerfreulich, vollständig ist es trotzdem nicht.

Atomwaffen sind in ein komplexes Geflecht von Politiken, Doktrinen, politischen Ambitionen und militärischen Fähigkeiten eingebunden. Das Regulativ bilden völkerrechtliche Verträge. Doch nicht nur der Nichtverbreitungsvertrag, auch die Rüstungskontrolle insgesamt ist in Gefahr.

Vor allem die Regierung Bush macht aus ihrer Verachtung für Rüstung beschränkendes Völkerrecht kein Hehl. 30 Jahre lang wurde eine neue Rüstungsspirale mit Raketenabwehr und Weltraumwaffen durch den Raketenabwehrvertrag verhindert. Die USA haben ihn gekündigt und »auf den Misthaufen der Geschichte» befördert. Jahrelang wurde um ein vollständiges Verbot von Atomtests gerungen. Die USA verweigern die Ratifizierung. Die Welt soll von der Geisel der Landminen befreit werden. Amerika denkt nicht an einen Beitritt zum Vertrag. Die Weltgemeinschaft möchte Waffen im Weltraum verhindern. Die USA halten das nicht für nötig.

Utopisch erscheint es da, auf den Abschluss weitergehender Verträge zu setzen. Und doch scheint es nur den einen Ausweg zu geben: Beharren auf multilateral organisierter Rüstungskontrolle und dem Abschluss einer Nuklearwaffenkonvention.

Nur im Rahmen eines vollständigen, dauerhaften und uneingeschränkten Verbots von Atomwaffen für alle Länder der Erde lassen sich Voraussetzungen schaffen, um die nukleare Aufrüstung einzelner Länder zu unterbinden. Erst wenn alle Länder gleich behandelt werden, fallen die Anreize weg, mit der Rüstung des Gegners gleichzuziehen. Erst wenn jegliche Nuklearmaterialien unter internationaler Kontrolle stehen, entfällt die Gefahr eines Ausbruchs aus dem Regime. Nur wenn alle zusammenarbeiten gibt es eine Chance für die atomwaffenfreie Welt. An der Dringlichkeit kann kein Zweifel bestehen.

Regina Hagen ist Koordinatorin des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) an der TU Darmstadt.

zum Anfang | Atomwaffenstarrende Welt

Die Gefahr eines Atomkrieges wächst

von Xanthe Hall

Im Besitz der acht Atomwaffenstaaten (USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich, Israel, Indien und Pakistan) befinden sich 30.000 Atomwaffen. Das sind zwar nur halb so viele wie auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, sie bedeuten aber immer noch einen vielfachen Overkill für die gesamte Menschheit. Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde und oberster Waffeninspektor, Mohammed al-Baradei, zur Situation: „Noch nie war die Gefahr (eines Atomkrieges) so groß wie heute. Ein Atomkrieg rückt näher, wenn wir uns nicht auf ein neues internationales Kontrollsystem besinnen.“

96% der Atomwaffen gehören den USA oder Russland. Ungefähr 17.500 davon sind jederzeit einsatzfähig. Davon sind etwa 4.000 in ständiger Alarmbereitschaft – sie können ihr Ziel am anderen Ende der Welt in weniger als 30 Minuten erreichen. Der Rest befindet sich in Reserve, im Lager oder ist für die Abrüstung vorgesehen.

USA

Offiziell anerkannter Atomwaffenstaat und von Anfang an Mitglied des Nichtverbreitungsvertrags (NVV, 1970 in Kraft getreten), in dem sich die Atomwaffenmächte verpflichteten, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung“ (Artikel VI). Die USA entwickelten als erste die Atombombe und setzten sie als einzige auch ein, im August 1945 in Hiroshima und Nagasaki. Seit Beginn des atomaren Zeitalters trieben die USA das weltweite Wettrüsten an. Sie besitzen noch 10.650 Atomwaffen, davon sind 3.000 in »aktiver« Reserve. Seit 1945 produzierten sie etwa 70.000 Atomwaffen; darunter 70 verschiedene Typen, von der kleinen Atommine bis zu riesigen Wasserstoffbomben mit Megatonnensprengkraft.

Zur Zeit überholen die USA ihr komplettes atomares Arsenal, um für »neue Bedrohungslagen« gewappnet zu sein. Dies bedeutet die Modernisierung aller Atomwaffen, die in ihrem Besitz sind, sowie die Entwicklung neuer Atomwaffen, wie z.B. so genannte Mini Nukes und Bunker Busters.

Die USA blockieren seit langem das Inkrafttreten des Atomteststoppvertrags: Sie sind nicht zur Ratifizierung bereit. Gleichzeitig erwägen sie die Möglichkeit, wieder Atomtests aufzunehmen, obwohl sie aufgrund ihrer über 1.000 Tests seit 1945 ausreichend Daten besitzen, um ihr Atomwaffenprogramm ohne Atomexplosionen mit Hilfe von Computern und sogenannten subkritischen Tests fortzuführen.

Großbritannien

Die Briten sind seit 1968 Unterzeichnerstaat des NVV und als offizieller Atomwaffenstaat anerkannt, was ihnen Seite an Seite mit den USA ihre Macht in der Weltordnung sichert. 185 Atomsprengköpfe befinden sich im britischen Arsenal. Bis auf 25 Sprengköpfe, die in Reserve gehalten werden, befinden sich alle strategischen Atomwaffen auf Trident U-Booten. Nur eines von den insgesamt vier U-Booten befindet sich ständig auf dem Meer, bestückt mit bis zu 48 Atomwaffen.

Die Trident-Raketen an Bord tragen Mehrfachsprengköpfe, die gegen unterschiedliche Ziele im selben Zielgebiet eingesetzt werden können. Jeder Sprengkopf hat eine Sprengkraft von 100 Kilotonnen (das entspricht der achtfachen Sprengkraft von Hiroshima mit ca. 200.000 Toten). Manche Trident-Raketen haben aber auch nur einen Sprengkopf für »substrategische Aufgaben«, d.h. für die Bekämpfung einzelner Ziele, z.B. in einem regionalen Konflikt. Anders als im Kalten Krieg können diese Atomwaffen nicht mehr in Sekunden abgefeuert werden: Der Abschuss muss inzwischen einige Tage vorbereitet werden.

Zudem sind in Lakenheath bis zu 66 Atomwaffen der USA gelagert.

Frankreich

Zur »Force de Frappe« der Franzosen gehören insgesamt 350 nukleare Sprengköpfe. Bis auf 60 Luft-Boden-Raketen für Flugzeuge handelt es sich um U-Boot-gestützte Raketen mit einer Reichweite von 6.000 km und einer Sprengkraft von 100-150 Kilotonnen. Auch Frankreich nutzt einzeln zielbare Mehrfachsprengköpfe.

Frankreich ist der einzige Atomwaffenstaat, der sein Atomtestgelände auf Mururoa im Südpazifik nach den weltweiten Protesten gegen Atomtests von 1996 geschlossen hat. Der Atomteststoppvertrag und der Raratonga-Vertrag (siehe »Atomwaffenfreie Zonen«) sichern den französischen Atomteststopp, da Frankreich Vertragspartei ist und das Verbot mit speziellen Überprüfungsmaßnahmen unterstützt.

Zudem erklärte Frankreich 1992 seine Absicht, kein Plutonium mehr für Atomwaffen herzustellen, und schloss 1997 seine Plutoniumfabrik in Marcoule. Dennoch wird in der Wiederaufarbeitungsanlage von La Hague weiterhin Plutonium für zivile Zwecke produziert.

Südafrika

Südafrika zerstörte seine sechs Atomwaffen kurz vor dem Ende des Apartheid-Regimes, um dem NVV 1991 beizutreten und sich damit wieder in die internationale Gesellschaft eingliedern zu können. Seit 1994 sind alle südafrikanischen Atomwaffenanlagen komplett abgebaut.

US-Atomwaffen in Europa (NATO)

Die USA haben Stationierungsplätze in europäischen Depots für bis zu 348 taktische Atomwaffen vom Typ B-61. Experten gehen davon aus, dass etwa 150-180 Atomwaffen tatsächlich stationiert sind. Diese Atomwaffen stehen unter US-Kommando, dennoch wären im Ernstfall auch europäische Piloten und Flugzeuge am Einsatz beteiligt. Dies geschähe im Rahmen der »nuklearen Teilhabe«, über die alle NATO-Mitglieder in die Planung eines Atomkriegs eingebunden sind. US-Atomwaffen sind in folgenden Staaten stationiert: Belgien (bis zu 22 in Kleine Brogel), Deutschland (bis zu 22 in Büchel, bis zu 108 in Ramstein), Großbritannien (bis zu 66 in Lakenheath), Niederlande (bis zu 22 in Volkel), Italien (bis zu 22 in Ghedi Torre und bis zu 36 in Aviano), Türkei (bis zu 50 in Incirlik). Zusätzlich befinden sich rasch reaktivierbare Atomwaffendepots in Deutschland (Memmingen und Nörvenich), in Griechenland (Araxos) und in der Türkei (Murted und Balikesir). Dort sind momentan jedoch keine Atomwaffen stationiert.

Russland

Die Sowjetunion, Vorgängerstaat von Russland, wurde 1949 Atomwaffenmacht und führte über 700 Atomtests durch. Man schätzt, dass Russland bzw. die Sowjetunion seit 1949 etwa 55.000 Atomwaffen produziert hat. Die Sowjetunion trat dem NVV gleich zu Beginn bei.

Das derzeitige russische Arsenal enthält 8.200 Atomsprengköpfe, darunter 5.000 strategische Atomwaffen. In Lagern befinden sich etwa 4.600 Atomwaffen, zudem sind 5.000 für die Abrüstung im Rahmen der bilateralen Verträge START I und II vorgesehen.

Das Moskauer Abkommen zwischen USA und Russland aus dem Jahr 2002 sieht vor, dass beide Staaten bis 2012 ihr strategisches Arsenal auf 1.700 bis 2.200 aktive Atomwaffen reduzieren, obwohl es für Russland wirtschaftlich schwierig wird, auch nur 1.000 langfristig einsatzbereit zu halten. Das Abkommen enthält jedoch keine Überprüfungsvereinbarungen. Beide Parteien dürfen mit nur dreimonatiger Kündigungsfrist ohne Begründung aus dem Abkommen austreten.

Wahrscheinlich wird es nicht zu weiteren Verhandlungen über strategische oder gar taktische Atomwaffen kommen, obwohl diese bitter nötig wären. Russland hat im Oktober 2003 eine Modernisierung der Atomstreitmacht angekündigt. Um mit den USA mithalten zu können, kündigte das russische Verteidigungsministerium an, eine neue Generation strategischer Atomwaffen und Trägerraketen zu entwickeln. Als Begründung wird u.a. die Notwendigkeit angeführt, den Raketenabwehrschirm der USA zu überwinden.

Weißrussland, Ukraine, Kasachstan

Diese ehemaligen sowjetischen Republiken sind nach der Auflösung der Sowjetunion atomwaffenfrei geworden. Alle Atomwaffen wurden bis 1996 nach Russland abgezogen, und die drei Staaten haben sowohl den NVV als auch den Umfassenden Atomteststoppvertrag unterzeichnet und ratifiziert.

China

China ist erst seit 1992 Mitglied des NVV. Es forderte zwar stets einen Vertrag zur Abschaffung aller Atomwaffen und unterhält nur eine kleine atomare Abschreckungsmacht, rüstete aber auch nicht ab, sondern modernisiert jetzt seine Streitkräfte, vor allem die Trägersysteme. Im Arsenal befinden sind rund 400 Atomwaffen meist kürzerer Reichweite, stationiert auf U-Booten, Flugzeugen und landgestützten ballistischen Raketen.

Nur maximal 20 chinesische Langstreckenraketen könnten die USA erreichen. Man vermutet, dass China in Zukunft aufrüstet, insbesondere um die geplante Raketenabwehr der USA zu überwinden.

Indien und Pakistan

Diese beiden Staaten sind nicht anerkannte Atomwaffenmächte und treten dem NVV aus diesem Grund auch nicht bei. Sie können nicht als Atommacht beitreten, weil der Vertrag festschreibt, dass Atommacht nur sein darf, wer vor 1967 schon getestet hatte. Obwohl vermutet wird, dass sie bereits seit langem Atomwaffen besitzen, ist ihr Atompotenzial erst seit der beiderseitigen Atomtestreihe 1998 definitiv bekannt.

Indien hat schätzungsweise 30 bis 35 Atomwaffen, Pakistan 24 bis 48, das Arsenal wächst jedoch ständig. In Indien geht die Stationierung offiziell voran und es wird eine Befehlsstruktur aufgebaut, so dass das indische Abschreckungspotenzial »glaubwürdiger« wird. Beide Staaten besitzen ballistische Raketen mittlerer Reichweite und entwickeln diese immer weiter.

Die Bedrohungsrhetorik beider Staaten erreichte im Jahr 2002 erschreckende Ausmaße, als die Welt vor einem Atomkrieg in Südasien bangen musste. Seitdem hat sich die Lage zwar entspannt, sie bleibt jedoch – trotz der jüngsten Gesprächsbereitschaft – höchst gefährlich.

„Das internationale Sicherheitssystem wurde stufenweise unter eine globale nukleare Weltordnung gebracht, die die Hegemonie der fünf Atomwaffenmächte vorsieht. Indien will ein Mitspieler und nicht ein Objekt in dieser Ordnung sein.“ (K. Subrahmanyam, Direktor des Indian Institute of Strategic Studies)

Israel

Israel hat sein Atomwaffenpotenzial nie offiziell zugegeben, droht jedoch in Krisensituationen immer wieder damit, es würde sein »ganzes verfügbares Arsenal« einsetzen. Experten schätzen, dass Israel 75 bis 200 Atomwaffen besitzt; die Arabische Liga behauptet, es habe eher 350 im Arsenal; und der amerikanische Geheimdienst CIA geht von 200-400 Atomwaffen in Israel aus. Um die Diskussion über seine Atomwaffen und eine eventuelle Abrüstung zu umgehen, tritt Israel dem NVV nicht bei.

Nordkorea

Nordkorea hat für Schlagzeilen gesorgt, als es Anfang 2003 aus dem NVV ausgetreten ist. Ungewiss ist, ob Nordkorea bereits im Besitz von Atomwaffen ist. Die US-Geheimdienste behaupten, dass Nordkorea bereits mindestens zwei Atomwaffen gebaut habe und genug Plutonium besitze, um weitere zu bauen. Es wurde auch über Nordkoreas Fähigkeiten zur Urananreicherung spekuliert.

Atomwaffenfreie Zonen

Literatur:

Bulletin of the Atomic Scientists, NRDC Nuclear Notebook 2001-2003, www.thebulletin.org/issues/nukenotes/nukenote.html.

Otfried Nassauer: NATO's Nuclear Posture Review. Should Europe end nuclear sharing? BITS Policy Note, April 2002.

Internet-Seite: Nuclear Weapon Free Zones (www.opanal.org/NWFZ/NWFZ's.htm.

Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI): SIPRI Yearbook 2001, Oxford University Press, ISBN 0-19-925176-2.

Der Spiegel Nr. 5 vom 26.1.04: Ein Atomkrieg rückt näher, Interview mit Mohammed al-Baradei, S.104.

Xanthe Hall ist Abrüstungsexpertin der deutschen Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges.

zum Anfang | Die Atomkrieger des 21. Jahrhunderts

von Otfried Nassauer

Die USA arbeiten an neuen atomaren Waffen, haben eine neue Nuklearstrategie und pfeifen auf Rüstungskontrolle. Ein guter Grund, sich die Nuklearwaffenpolitik der Regierung Bush einmal genauer anzuschauen.

Neue Atomwaffen

So mancher Abgeordnete im amerikanischen Kongress rieb sich im März 2003 verwundert die Augen, als er den Entwurf für das Verteidigungshaushaltsgesetz 2004 auf den Tisch bekam. Darin fand sich nicht nur – wie erwartet – ein Etatansatz für die Entwicklung einer neuen Atomwaffe, die tief unter der Erde verbunkerter Ziele zerstören soll. Es gab auch einen unscheinbaren Passus, in dem die Aufhebung des »Spratt-Furse Amendement« aus dem Verteidigungshaushaltsgesetz 1994 vorgeschlagen wurde.

Dieser rechtlich bindende Gesetzeszusatz verbot konkrete Forschungs- und Entwicklungsarbeiten an Nuklearwaffen mit einer Sprengkraft von weniger als 5 Kilotonnen. Er stellte eine Hürde gegen die Entwicklung und Einführung von Mini-Atomwaffen und Nuklearwaffen kleiner Sprengkraft dar, obwohl Grundlagenforschung und Konzeptstudien nicht verboten waren. Er war das einzig existente rechtlich bindende Verbot im Bereich der Atomwaffenentwicklung in den USA. Würde er aufgehoben, wäre der Entwicklung neuer US-Atomwaffen Tor und Tür geöffnet.

Genau das ist inzwischen eingetreten. Das Haushaltsgesetz, das der Kongress Ende 2003 verabschiedete, ermöglicht nicht nur den Einstieg in die Arbeit an einer neuen bunkerzerstörenden Atomwaffe sondern auch den Einstieg in die Arbeit an Mini-Atomwaffen.

Seit Jahren hatten ein kleiner Kreis konservativer Republikaner und Nuklearwaffenlobbyisten beklagt, Washington betreibe nukleare Selbstbeschränkung, habe keine geeigneten Nuklearwaffen, um den militärischen Anforderungen der Zukunft gerecht und mit den Gegnern fertig zu werden. Die Nuklearwaffeninfrastruktur – von den Atomwaffenlaboren über die Fertigungsstätten bis hin zu den Testanlagen – veralte und vergammele. Der wissenschaftliche Nachwuchs werde vernachlässigt. All das gelte es schnellstens zu ändern.

Nach dem Machtantritt von George W. Bush im Januar 2001 begann diese Lobby, ihre gegen Ende des Kalten Krieges entwickelten Konzepte und Ideen wieder auszupacken und in die Tat umzusetzen. Der Einsatz von Nuklearwaffen, so die Vorstellung dieser Apologeten, muss glaubwürdig angedroht werden können, da nur dann mit der Drohung eine echte Abschreckungs- und Erpressungswirkung verbunden ist. Die Waffen müssen in der Lage sein, die vorgesehenen gegnerischen Ziele wirklich zerstören zu können. Die Ziele und Gegner aber hätten sich seit dem Ende des Kalten Krieges deutlich gewandelt, und für jene Ziele, um die es jetzt gehe, seien bislang nicht die richtigen Waffen vorhanden.

Angeregt wurde deshalb die Entwicklung einer ganzen Reihe neuer Nuklearwaffen. Da sind zum einen die atomaren Bunkerknacker. Heutige konventionelle Bunkerknacker können bis zu sieben Meter Stahlbeton durchdringen, künftige sollen leistungsfähiger sein. Neun, zehn oder mehr Meter werden für möglich gehalten. Die einzige Nuklearwaffe im US-Arsenal, die Bunkerknacker-Qualitäten besitzt, ist die mit einem besonders harten äußeren Mantel umgebene Atombombe B-61 Modell 11, ein relativ großer Nuklearsprengsatz. Tests ergaben, dass diese Waffe ihre Grenzen hat: Sie funktioniert nicht bei allen Bodenbeschaffenheiten. Sie muss in einem bestimmten Winkel auftreffen, dringt nur begrenzt tief ein und es ist – wegen der hohen Sprengkraft – mit sehr viel radioaktivem Fallout zu rechnen. Begonnen werden soll deshalb mit der Entwicklung eines »Robust Nuclear Earth Penetrator« (RNEP), einer Atomwaffe, deren Mantel aus abgereichertem Uran (Depleted Uranium, DU) besteht und die mit zusätzlichen Eindringhilfen ausgestattet sein könnte, um deutlich tiefer in den Untergrund vordringen.

Doch selbst wenn diese Waffe mehr Bunkeranlagen ausschalten könnte als bisherige Waffen, sie kann trotzdem nicht halten, was die Lobbyisten versprechen. Mit dieser Waffe kann weder die Zerstörung besonders gut verbunkerter Ziele glaubwürdig angedroht werden, noch die von Zielen, bei denen es darauf ankäme, den fallout bedingten Kollateralschaden gering zu halten, z. B. weil sie in dicht besiedelten Gebieten liegen. Zudem haben Physiker wiederholt darauf hingewiesen, dass der Entwicklung solcher Waffen quasi-naturgesetzliche Grenzen gesetzt seien, die sich daraus ergeben, dass der Zünd- und Funktionsmechanismus der Waffe beim Eindringen nicht beschädigt werden darf.

Das Problem schwer vor der Weltöffentlichkeit zu rechtfertigender Kollateralschäden soll mit einer anderen Neuentwicklung angegangen werden: Der Entwicklung kleiner und kleinster Atomsprengköpfe. Diese Mini-Nukes könnten, wenn sie so zielgenau gemacht werden wie moderne konventionelle Waffen, sogar als Bunkerknacker eingesetzt werden, bei nicht ganz so gut geschützten Zielen oder in besiedelten Gebieten.

Auch hier halten Kritiker entgegen, dass Zweck und Mittel nicht zueinander passen. Eine Waffe, die kaum noch radioaktiven Fallout produziert, könne nicht tief genug in die Erde eindringen, um die angepeilten Ziele zu zerstören. Je tiefer ein Ziel unter der Erde liegt, desto größer müsse der atomare Sprengsatz sein, der es wirklich zerstören kann und desto wahrscheinlicher werde, dass viel radioaktiver Fallout entsteht. Es sei zu befürchten, dass die Einführung solcher Waffen zu der Illusion führe, man sei im Besitz einer »sauberen« Atomwaffe, dass damit die Grenze zwischen der Wirkung der größten konventionellen Waffen und der kleinsten nuklearen verschwimme und ein Atomwaffeneinsatz wahrscheinlicher werde.

Als dritter Grund für den Bau neuer Atomwaffen wird die Notwendigkeit der gesicherten Zerstörung chemischer und biologischer Kampfstoffe genannt. Um diese mit hundertprozentiger Sicherheit rückstandslos verbrennen zu können, sei eine Nuklearexplosion mit ihren extrem hohen Temperaturen der sicherste Weg. Auch das – so haben Kritiker nachgewiesen – stimmt so nicht: Zum einen sind auch wirksame konventionelle Waffen zur Zerstörung denkbar bzw. schon vorhanden. Zum anderen könne die enorme Gewalt einer Nuklearexplosion sogar erst dazu führen, dass Kampfstoffe unabsichtlich freigesetzt werden.

Weitere Gründe, um endlich eine neue Generation atomarer Waffen durchsetzen zu können, werden noch gesucht. So lässt Verteidigungsminister Donald Rumsfeld durch das Defense Science Board, ein wissenschaftliches Beratungsgremium des Pentagon, untersuchen, ob Atomsprengköpfe ein probates Mittel zur Raketenabwehr sein könnten.

Eine neue Strategie

Mit dem gleichen Elan, mit dem die Regierung Bush den Einstieg in eine neue Generation nuklearer Waffen betreibt, begann sie kurz nach Amtsantritt auf Veränderungen in der Nuklearstrategie hinzuarbeiten. Mit Keith B. Paine, Robert G. Joseph und anderen wurden führende Vertreter der konservativen Nuklearwaffen-Lobby, die seit Jahren an einem Konzept für ein »Zweites nukleares Zeitalter der Abschreckung« gearbeitet haben, auf wichtige Posten berufen. Mit dem Nuclear Posture Review, einer geheimen Überprüfung der Nuklearstrategie und des Nuklearwaffenpotenzials der USA, der im Januar 2002 an den Kongress übergeben wurde, läuteten sie gravierende Veränderungen ein, die in der Folgezeit umgesetzt wurden.

Die Nuklearwaffen Washingtons unterstehen künftig nicht mehr einem gesonderten Nuklearwaffen-Oberkommando, sondern einem neuen, veränderten »Strategischen Kommando«, das für alle, auch die konventionellen, strategischen Angriffsoptionen der US-Streitkräfte und für die Raketenabwehr zuständig ist. Die Planer dieses Oberkommandos sollen der Politik sowohl konventionelle als auch nukleare oder gemischte Optionen zum Erreichen spezifischer Ziele präsentieren.

Dies geschah in der Vergangenheit immer durch konkurrierende Teile der US-Kommandostruktur. Während die Verfechter dieser Idee argumentieren, so werde die Wahrscheinlichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes reduziert, dürfte das Gegenteil eintreten. Weil auch mit konventionellen Operationen betraut, könnte sich eine Tendenz einschleichen, Nuklearwaffen als »quasi-normale« Mittel der Kriegführung zu betrachten, deren Einsatz effizienzorientiert zu planen ist. So wurde das seitens des US-Heeres zu Beginn der 1980er Jahre bereits einmal für das europäische Gefechtsfeld geplant, mit der AirLandBattle-Doktrin und dem »integrierten Gefechtsfeld«. Die Aussicht auf reduzierte Kollateralschäden beim Einsatz neuer, kleiner Atomwaffen könnte über die Jahre dazu beitragen, dass der atomare Krieg wieder als führbar erscheint.

Da die Gegner in einem solchen Krieg kaum mehr nukleare Großmächte mit einem substanziellen Vergeltungspotenzial sein werden, sondern eher Terroristen, sogenannte Schurkenstaaten und andere Akteure mit begrenzten Möglichkeiten, dürfte die »Selbstabschreckung« vor dem Einsatz eigener Atomwaffen kleiner ausfallen als bisher. Gleichzeitig könnte mancher hoffen, dass ein Atomwaffeneinsatz gegen solche Gegner auch leichter zu rechtfertigen sei.

Dafür sprechen auch andere Änderungen der Nuklearstrategie Washingtons. Mit der National Security Presidential Directive (NSDP) 17 erklärte die Bush-Administration am 14.9.2002 ganz offen: „Die Vereinigten Staaten werden weiterhin klar machen, dass sie sich das Recht vorbehalten, auf den Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen die USA, unsere Streitkräfte im Ausland und unsere Freunde und Verbündeten mit überwältigender Macht zu antworten – einschließlich möglicherweise mit dem Einsatz von Nuklearwaffen.“

Das bedeutet eine Veränderung: Zwar hat Washington den Einsatz nuklearer Waffen zur Vergeltung in der Vergangenheit nie explizit ausgeschlossen. Wohl aber waren die USA – wie auch alle anderen klassischen Atommächte – politisch verbindliche »Negative Sicherheitsgarantien« gegenüber den nicht-nuklearen Mitgliedern des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) eingegangen und hatten deren Gültigkeit – zuletzt 1995 anlässlich der Überprüfungskonferenz für diesen Vertrag – bestätigt. Diese besagen, dass Washington auf den Einsatz von Nuklearwaffen verzichtet, wenn kein Angriff einer anderen Nuklearmacht oder von mit einer Nuklearmacht verbündeten Staaten auf die USA, deren Streitkräfte und deren Verbündete vorliegt.

Der Unterschied wird offensichtlich: Galt die potenzielle nukleare Drohung Washingtons bislang nuklear bewaffneten Staaten und deren Verbündeten, so gilt sie nun den Besitzern aller Arten von Massenvernichtungswaffen, also auch jenen, die »nur« über biologische und chemische Kampfstoffe bzw. über geeignete Trägersysteme verfügen.

Doch damit nicht genug: In einer neuen Nationalen Sicherheitsstrategie und in der Nationalen Strategie zur Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen vom Dezember 2002 macht die US-Regierung deutlich, dass sie zu vorbeugenden militärischen Schlägen gegen Gefahren bereit ist, die von Massenvernichtungswaffen ausgehen. Mit einem konventionellen oder nuklearen Angriff der USA wird nicht länger nur als Vergeltungsmaßnahme gegen einen gegnerischen Angriff gedroht, sondern auch zur Verhinderung eines Angriffs, der unmittelbar bevorstehen könnte (präemptiv) und sogar für den Fall, dass von einem Gegner angenommen wird, dass er sich in Zukunft die Fähigkeit schaffen könnte, mit Massenvernichtungswaffen anzugreifen (präventiv). Christopher Paine, Nuklearwaffenexperte am Natural Resources Defense Council, erläutert: „Die Bush-Doktrin besagt, dass Länder, die versuchen, biologische oder chemische Waffen zu beschaffen oder einzusetzen, Ziel eines präventiven, atomaren Erstschlages der USA sein könnten.“

Nordkorea, Irak, Iran, Syrien und Libyen waren die Staaten, die die Bush-Administration explizit nannte. Jayantha Dhanapala, damals stellvertretender UN-Generalsekretär für Abrüstungsfragen, warnte deshalb letztes Jahr in der ARD-Sendung Monitor, es könnten „auf diese Weise weitere Staaten ermutigt werden, sich auf geheimen Wegen (…) Atomwaffen zu beschaffen.“ Dhanapala verwies auf die Gefahr, dass das seit Nagasaki geltende Tabu hinsichtlich des Einsatzes von Nuklearwaffen gebrochen werden könnte.

Man darf gespannt sein, wie sich diese Veränderungen auf die Doktrin der US-Streitkräfte für den Einsatz nuklearer Waffen auswirkt. Diese soll bis April 2004 überarbeitet werden.

Keith B. Paine und Colin S. Gray, der andere intellektuelle Vater des Konzeptes der »Abschreckung im Zweiten Nuklearzeitalter« sind schon wieder einen Schritt weiter: In einem Sonderheft der Zeitschrift »Comparative Strategy« diskutieren sie bereits die nächsten Schritte zur »Reform der Abschreckung«. Colin S. Gray kommt dabei zu der Schlussfolgerung, „dass präventives Handeln immer häufiger und ernsthafter als in der Vergangenheit in Erwägung gezogen werden muss. Wenn, wie wir glauben, die Aufgabe des Abschreckens immer schwieriger wird, dann können sich die politischen Wahlmöglichkeiten auf die Optionen gewaltsame Prävention oder Versuch der »aktiven Verteidigung« (in ihren vielfältigen Varianten) reduzieren. Präventives militärisches Handeln wirft eine Reihe von politischen, rechtlichen und ethischen Fragen auf, die, wenn vernünftigerweise möglich, lieber vermieden werden sollten. Aber in einer Welt, in der mehr und mehr Gemeinwesen über Massenvernichtungswaffen und die entsprechenden Trägersysteme verfügen, in der »Katastrophenterroristen« sichere Zuflucht finden können und in der Abschreckung häufig nicht praktizierbar ist, werden unsere politischen Möglichkeiten zu wählen nicht berauschend sein. (…) Es bleibt die Tatsache, dass Abschreckung nur ein Element unserer Strategie sein kann. Aus offensichtlichen Gründen bedingte das Paradigma der Abschreckung im Kalten Krieg die krasse Alternative zwischen Abschreckung und grenzenloser Katastrophe. Das sind heute nicht mehr die Alternativen.“

Vorläufer unter Bill Clinton

Der Hinweis auf diese gefährlichen Entwicklungen wäre unvollständig, würden die Vorarbeiten dafür unter George Bush Senior und William Bill Clinton verschwiegen. Die Zielplanung für die Nuklearwaffen der USA war gegen Ende der 1980er Jahre vor allem auf die zerfallende Sowjetunion und auf einige Ziele in der Volksrepublik China ausgerichtet. Mit dem Zerfall des Warschauer Paktes und der Sowjetunion hat sich dies rasch geändert. Eine fixe Planung für Tausende von Zielen, die bereits vor Kriegsbeginn feststehen und im Single Integrated Operations Plan (SIOP, integrierte Nuklearzielplanung) genau beschrieben sind, bis hin zur Festlegung, mit welcher Waffe welches Ziel angegriffen werden soll, gibt es in dieser Form nicht mehr.

Anfang der 1990er Jahre begann unter dem Stichwort »adaptive Nuklearplanung« das große Umdenken. Zunächst im Hinblick auf die taktischen oder substrategischen Nuklearwaffen. Zunehmend gerieten Ziele in Staaten in den Blickwinkel der atomaren Zielplaner, die Washington im Besitz von Atomwaffen wähnte oder von denen angenommen wurde, dass sie daran arbeiteten: Libyen, Irak, Syrien, Nordkorea und natürlich verstärkt auch China.

Den regionalen Oberkommandeuren der US-Streitkräfte und auch dem NATO-Oberbefehlshaber wurde aufgetragen, Eventualfallplanungen aufzunehmen. Listen mit den Koordinaten und atomaren Bekämpfungsmöglichkeiten Hunderter, wenn nicht Tausender zusätzlicher Ziele wurden aufgestellt. Ziel war es, die Möglichkeit zu schaffen, binnen kürzester Zeit eine nukleare Planung zur Kriegführung gegen diese oder andere Staaten aufstellen zu können. Mit der wachsenden Bedeutung militärischer Optionen zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen – der so genannten »Counterproliferation« – bekam dieser Ansatz Rückenwind. Seither wurde die adaptive Zielplanung verfeinert.

Schon 1995 wurden erstmals »nicht-staatliche Akteure« – gemeint sind zum Beispiel religiöse Extremisten, internationale Terroristen oder auch transnationale Konzerne – in nuklearen Dienstvorschriften der US-Streitkräfte als potenzielle Bedrohung genannt, da sie sich in den Besitz von Massenvernichtungswaffen bringen könnten. Bereits ein Jahr später, 1996, sieht eine andere Vorschrift für den Einsatz taktisch-nuklearer Waffen in ihnen potenzielle Ziele für den Einsatz von Atomwaffen.

Immer wieder wurde indirekt – im Sinne einer freiwilligen Zweideutigkeit – auch unter Präsident Clinton darauf verwiesen, dass Washington sich auch die Möglichkeit einer nuklearen Vergeltung als letztes Mittel gegebenenfalls offen halten müsse.

Von der Intensivstation in die Leichenhalle?

Die neue Nuklearpolitik der Bush-Administration legt die Axt an die Wurzel der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung. Die Aussicht, dass für neue Atomwaffen auch neue Nuklearwaffentests erforderlich sein könnten, die Verkürzung der notwendigen Vorbereitungszeit für solche Tests, die Aufkündigung des Raketenabwehr-Vertrages und die direkte Missachtung der Negativen Sicherheitsgarantien durch die nukleare Drohung gegen die Besitzer biologischer und chemischer Waffen in der Präsidenten-Direktive NSDP 17 – all das sind schwere Schläge für Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Schon allein die Absicht, in die Entwicklung einer neuen Generation nuklearer Waffen einzusteigen, signalisiert vielen Nicht-Atomwaffenstaaten, dass unter dieser Administration nicht mit substanziellen Fortschritten in der atomaren Rüstungskontrolle zu rechnen ist, dass die Verpflichtung auf das Ziel der Abschaffung aller Atomwaffen, die in Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrages verankert ist, zu Lebzeiten dieser Administration keine Chance hat.

Besorgt sehen viele Staaten, dass die Politik unter Bush befördern könnte, was sie zu verhindern vorgibt – die Weiterverbreitung nuklearer Waffen. So hat z.B. Saudi Arabien nach dem Irak-Krieg angekündigt, seine nuklearen Optionen prüfen zu wollen. Noch mehr besorgt viele, dass dies in ihrer Nachbarschaft geschehen könnte. „Die nukleare Rüstungskontrolle liegt bereits auf der Intensivstation“, meinte Daniel T. Plesch vom Royal United Services Institute in London bereits im vergangenen Jahr. „Die Entwicklung neuer Atomwaffen und erneute Atomtests würden die atomare Abrüstung in die Leichenhalle verlegen.“

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit – BITS (www.bits.de).

zum Anfang | Hat das zweite Kernwaffenzeitalter schon begonnen?

Die regionale Verbreitung von Atomwaffen

von Götz Neuneck

Beunruhigende Nachrichten lassen die Weltöffentlichkeit aufhorchen. Libyen gibt zu, ein Nuklearwaffenprogramm betrieben zu haben, und im Iran findet die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) Hinweise auf ein ähnliches Programm. Beide Länder sind Mitglieder des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV), während Nordkorea bereits aus dem NVV ausgeschert ist. Pakistan ist als Quelle eines umfassenden Beschaffungsnetzwerkes zur Weitergabe der Uran-Anreicherungstechnologie identifiziert worden, an deren Ende Libyen, Nordkorea und der Iran standen.

Die zur Herstellung von waffenfähigem Material verwendeten Gaszentrifugen sind dazu besonders geeignet, da die dafür notwendigen Komponenten zunächst als zivil deklariert werden können und ein Betrieb schwer zu entdecken ist. Andererseits ist ihr Besitz noch keine Garantie für die Herstellung von nuklearwaffenfähigem Material. Jahrelange Erfahrungen sind dazu nötig. Sogar Details eines Atomwaffendesigns und kleine Mengen Nuklearmaterial sollen an Libyen transferiert worden sein. Im Zentrum dieses wohl größten »(Nicht-)Weiterverbreitungsskandals« steht Abdul Qadeer Khan, Vater der »pakistanischen Bombe«, Direktor der Khan Research Laboratories in Kahuta und nun unter »Hausarrest« stehender Berater der Militärregierung unter General Musharraf. Umfang, Reichweite und Folgen dieses »nuklearen Beschaffungsmarktes« sind bisher nur in Umrissen bekannt.

Angesichts einer jahrzehntelangen selbstzufriedenen westlichen Nichtverbreitungspolitik ist diese Affäre besonders pikant. Pakistan ist nicht Mitglied des NVV, kann also »im Prinzip«, Nukleartechnologie weitergeben, ohne sich dafür besondere Nachteile einzuhandeln. Zwar wurde Pakistan durch die USA immer wieder mit Sanktionen belegt, geholfen hat dies wenig. Diverse Militärregierungen hatten immer wieder versichert, sie würden nicht zur Nuklearverbreitung beitragen. Pakistan, seit 1998 selbst Nuklearmacht, ist heute Hauptverbündeter der USA im Kampf gegen den Terrorismus in der Region. Eine Ächtung der Regierung ist damit ebenso unwahrscheinlich wie eine Bestrafung des »Nationalhelden« Khan.

Dass Khans Verhalten weltweit verurteilt wird, zeigt, dass trotz erheblicher Defizite des NVV-Regimes die nukleare Nichtverbreitung eine hohe normative Basis besitzt. Eine selektive Nichtverbreitungspolitik ohne Abrüstungskomponente stellt jedoch keine gute Grundlage für eine künftige Beendigung der nuklearen Bedrohung im 21. Jahrhundert dar. Nuklearterrorismus, regionale Atomkriege und eine Fortsetzung der nuklearen Überrüstung sind zu gefährlich, als dass sie zu Spielbällen der Politik werden sollten.

Im folgenden werden die Entwicklungen in den vier Ländern kurz vorgestellt. Diese Fälle bilden eine Herausforderung für die Zukunft des NVV und machen eine Universalisierung der Vertragsinhalte sowie weitere nukleare Abrüstung unumgänglich.

Pakistan

Nach seiner Rückkehr aus den Niederlanden 1976 baute der in Europa ausgebildete »Metallurgiker« Khan auf der Grundlage der Gaszentrifugenpläne für die Urananreicherung, die er von dem deutsch-niederländisch-britischen Konsortium URENCO (Uranium Enrichment Company) entwendet hatte, das pakistanische Nuklearprogramm auf. Deutsche, niederländische und französische Firmen halfen u. a. mit Ausrüstungsteilen und Know-how, teilweise mit offizieller Zustimmung. Das Programm wurde finanziell von Libyen, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten gestützt.

Der Nuklearstatus Pakistans, der durch die Tests 1998 offensichtlich und mit der militärischen Bedrohung durch Indien legitimiert wurde, ist A. Khan zu verdanken. Pakistan testet zudem Mittelstreckenraketen, die leicht indisches Territorium erreichen können. Die Raketen sind nordkoreanischen Ursprungs und wurden im Austausch gegen Urananreicherungstechnologie erworben.

Anfang 1987 wurde Khan vom Käufer zum Verkäufer. Mit dem Iran wurde der Transfer der Gaszentrifugentechnologie vereinbart. Im Iran wie auch in Libyen wurden fortgeschrittene »PAK-2-Zentrifugen« entdeckt. Allerdings gelang es beiden Ländern bisher nicht, diese Anlagen zuverlässig für den Bombenbau zu betreiben. Dies wäre jedoch eine Frage der Zeit gewesen.

Zehn Jahre nach dem Iran begann Khan mit Nordkorea zusammen zu arbeiten. Er soll sich nach 1998 dort 13 Mal aufgehalten und die Zentrifugen-Technologie gegen die nordkoreanische Raketentechnologie eingetauscht haben. Die letzte Lieferung an Libyen erfolgte noch nach dem 11. September 2001, obwohl die pakistanische Regierung immer wieder erklärt hatte, dass sie gegen nukleare Weitergabe vorgehen werde. Es ist nicht vorstellbar, dass das Militär von all den Seitengeschäften des Herrn Khan nichts gewusst hat.

Pakistan ist somit eine zentrale Quelle für die Verbreitung der Urananreicherungstechnologie und Khan der Kopf eines »globalen Schwarzmarktes«, der an den Exportkontrollen, Geheimdiensten und Sanktionen vorbei Nordkorea, Libyen und dem Iran entscheidende Hilfe beim Aufbau von Atomprogrammen geleistet hat. Das Netzwerk verfügte über Mittelsmänner in Malaysia, Dubai und Europa. Beunruhigend ist insbesondere die politische Fragilität des Landes, und damit ist die Frage nach der Sicherheit der bereits vorhandenen pakistanischen Nuklearwaffen gestellt. Ein bekannt gewordenes Treffen zweier ehemaliger pakistanischer Nuklearwissenschaftler mit al Kaida lässt darüber hinaus befürchten, dass auch Terroristen vom nuklearen Know-how in Pakistan profitiert haben könnten.

Iran

Das Nuklearprogramm des Iran, das auf den Schah zurückgeht, wird seitens der Regierung stets mit »zivilen friedlichen« Absichten erklärt. Der Reaktor in Bushir steht vor der Fertigstellung. Ein Vertrag mit Russland sichert das technische Know-how und die Brennstoffversorgung. Der erdölreiche Iran möchte weitere Reaktoren bauen und Brennstoffautonomie durch den Aufbau einer eigenen Urananreicherung erreichen.

Iran ist Mitglied des NVV und versucht zusammen mit der IAEO Ungereimtheiten des iranischen Programms zu klären bzw. ein Sicherungssystem aufzubauen, das die zivile Nutzung sicherstellt. Die Regierung hat sich bereit erklärt, das IAEO-Zusatzprotokoll umzusetzen. Dieses verpflichtet den Vertragsstaat nicht nur zur vollständigen Information über das Nuklearprogramm, sondern gibt der IAEO auch die Möglichkeit, überall im Lande ungemeldete Aktivitäten und Materialien aufzuspüren.

Drei EU-Außenminister hatten im Oktober 2003 in Teheran einen Durchbruch erreicht, nachdem sie u.a. einen Technologieaustausch in Aussicht gestellt hatten. Allerdings hat die iranische Regierung die geplante Urananreicherung nur ausgesetzt und nicht vollständig auf sie verzichtet. Inzwischen hat die Regierung zugegeben, dass sie auch über Pläne für fortgeschrittene Zentrifugen aus Pakistan verfügt.

Solange die Sicherheitsprobleme im Mittleren Osten (einschließlich der Frage der israelischen Atomwaffen) nicht gelöst sind, ist eine vollständige Aufgabe der militärischen Option durch den Iran eher unwahrscheinlich. Der andauernde Machtkampf und Gesellschaftswandel im Iran sowie die Entwicklung der Lage in der Region sind zudem Faktoren, die die zukünftige Entwicklung unvorhersehbar machen.

Libyen

Am 19. Dezember 2003 erklärte Oberst Gaddafi, dass Libyen alle Anstrengungen, Massenvernichtungswaffen zu entwickeln, einstellt, insbesondere das geheime Nuklearprogramm. Auch die vorhandenen biologischen und chemischen Waffenarsenale würden zerstört. Das Land wird der Chemiewaffenkonvention beitreten. Tage später stimmte die Regierung zu, das IAEO-Zusatzprotokoll zu unterzeichnen.

Zuvor wurde durch Inspektionen das Ausmaß der Programme deutlich. Es wurden sowohl zivil wie militärisch »doppelverwendbare biologische Substanzen« wie auch produzierte Giftgase im Tonnenmaßstab gefunden. IAEO-Inspektoren wurden zehn unbekannte Orte gezeigt, an denen es geheime Nuklearaktivitäten gab. Der Wüstenstaat verfügte über einige Dutzend moderne Zentrifugen im Labormaßstab, wahrscheinlich pakistanischen Ursprungs. Zudem wurde Uranhexafluorid sowie kleine Mengen von angereichertem Uran geliefert. Sogar kleine Mengen Plutonium soll Libyen hergestellt haben.

Das Atomwaffenprogramm steckte noch in seiner Anfangsphase. Der IAEO-Direktor el-Baradei schätzt, dass das Land zu diesem Zeitpunkt drei bis sieben Jahre von der Fertigstellung eines Atomsprengkörper entfernt war. Dennoch überrascht das Ausmaß und die Kontinuität des Programms, denn Libyen war in den letzten Jahren nicht mehr auf dem »Radarschirm« der Nichtverbreitungsexperten. Es wird die Aufgabe der IAEO sein, sicherzustellen, dass alle Ausrüstungsgegenstände, Dokumente und Materialien vernichtet sind und dass in Zukunft kein militärisches Programm in Libyen betrieben werden kann. Die Motive Libyens für die Aufgabe der geheimen Programme sind wohl darin zu suchen, die US-Sanktionen zu beenden, den Makel der Terrorunterstützung abzuwerfen und in den Kreis der »zivilisierten Völkergemeinschaft« zurückzukehren.

Nordkorea

Die Krise um den nuklearen Status Nordkoreas dauert nun schon recht lange. Es wird angenommen, dass das Land seit den späten 1980er Jahren Plutonium für ca. 2 Sprengköpfe abgetrennt hat. Auch ist durch die pakistanische Hilfe die Grundlage eines Urananreicherungsprogramms offensichtlich geworden. Die nordkoreanische Regierung hatte dies jahrelang bestritten. Die USA kündigten daraufhin das »Agreed Framework«-Abkommen von 1994 und beendeten die vertraglich vereinbarte Lieferung von Heizöl und ziviler Nukleartechnologie.

Im Dezember 2002 hatte Pjöngjang erklärt, dass es die nach dem amerikanisch-nordkoreanischen Abkommen eingefrorene Wiederaufarbeitung wieder aufnehmen werde. Die IAEO-Inspektoren wurden aus dem Land ausgeschlossen. Nordkorea trat am 10. Januar 2003 aus dem NVV aus. In der Nuklearanlage in Yongbyon sollen die vorhandenen 8.000 Kernbrennstäbe bereits wiederaufgearbeitet werden. Einer US-Delegation wurde im Januar 2004 ein leeres Kühlbecken vorgeführt und Pjöngjang erklärte, Nordkorea sei nunmehr Nuklearmacht. Die einzige Hoffnung besteht darin, dass in den Sechser-Gesprächen zwischen Nordkorea, Südkorea, den USA, Russland, China und Japan eine Lösung gefunden werden kann.

Das nordkoreanische Regime nutzt die Nuklearwaffenfrage für den eigenen Machterhalt. Das Land, das sich mental und faktisch immer noch in einer Art Kriegszustand befindet, hat nicht viel zu verlieren. Wirtschaftliche Anreize haben nur eine begrenzte Wirkung. Die entscheidende Frage ist, ob die Großmächte, insbesondere die USA, bereit sind, gegenüber dem Regime in Pjöngjang eine Art Sicherheits- und Existenzzusage abzugeben. Bleiben die Gespräche ergebnislos, so sind weitaus gefährlichere Entwicklungen möglich. Es ist dabei klar, dass dies alles auf dem Rücken der ohnehin schon notleidenden Bevölkerung ausgetragen wird.

Nuklearer Supermarkt oder nukleare Abrüstung?

Es ist tragisch, dass der Krieg gegen den Irak mit der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen legitimiert wurde, die wirkliche Weiterverbreitung (Proliferation) jedoch von einem Land ausgeht, das US-Verbündeter, Nicht-NVV-Mitglied und Militärdiktatur in einem ist, nämlich Pakistan, das trotz Sanktionen mehrere Länder mit Wissen und Technik zur Herstellung von Nuklearwaffen ausstattete. Der »nukleare Supermarkt«, den Khan und Konsorten aufbauten, wäre ohne Hilfe skrupelloser Geschäftsleute aus dem Westen nicht möglich gewesen. Dritt-Welt-Länder beherrschen nicht nur die Technologie zur Herstellung von waffenfähigem Nuklearmaterial, sondern können dieses Wissen an westlichen Exportkontrollen vorbei auch weitergeben. Dabei ist wieder einmal deutlich geworden, dass Proliferation neue Proliferation erzeugt.

Diese »Proliferationsfälle« zeigen dramatisch auf, wie stark das NVV-Regime unter Druck steht. IAEO-Chef el-Baradei erklärte vor kurzem: „Wenn wir den Kurs nicht wechseln, riskieren wir die Selbstzerstörung«, und Präsident George W. Bush stellte in seiner Grundsatzrede vom 11. Februar 2004 fest, die „größte Gefahr für die Menschheit ist heute die Möglichkeit überraschender Angriffe mit chemischen, biologischen, radiologischen oder atomaren Waffen«. Einigkeit besteht noch bei der Bedrohungsanalyse; wenn es an die Umsetzung geht, sind die vorgeschlagenen Strategien höchst unterschiedlich.

Erfreulich ist zumindest, dass es durch wirtschaftliche Anreize und diplomatischen Druck gelungen ist, Libyen zur Aufgabe seiner Massenvernichtungswaffen zu bringen. Auch der Iran könnte folgen. Dies sind hoffnungsvolle Ansätze, damit im Mittleren Osten längerfristig eine Zone frei von Nuklearwaffen entstehen kann. Dies setzt aber voraus, dass nicht einige Staaten bezüglich des Besitzes von Massenvernichtungswaffen angeklagt werden, während bei anderen Ländern geschwiegen wird. Diplomatisch und konzeptionell muss alles daran gesetzt werden, dass im Nahen und Mittleren Osten sämtliche Massenvernichtungswaffen dauerhaft abgerüstet werden und die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen schon lange geforderte »Zone frei von Massenvernichtungswaffen« entsteht..

Es ist deutlich geworden, dass der NVV an die Bedingungen des 21. Jahrhunderts angepasst werden muss. Die multinationalen Kontrollen der IAEO könnten ausgedehnt werden. Wie schwierig das ist, zeigt die Tatsache, dass nur weniger als 20% der UN-Mitglieder überhaupt das Zusatzprotokoll abgeschlossen haben, das Libyen und Iran jetzt umsetzen wollen. Die westliche Welt muss hier Führerschaft übernehmen. Die EU hat immer wieder die Universalisierung des NVV gefordert. Der UN-Sicherheitsrat könnte eine Resolution beschließen, die die Entwicklung, den Einsatz und den Besitz von Massenvernichtungswaffen und damit auch Nuklearwaffen ächtet. Darauf aufbauend sollte eine Nuklearwaffenkonvention entwickelt werden, die ähnlich wie die B- und C-Waffen-Konventionen, Entwicklung, Einsatz und Besitz von Nuklearwaffen verbietet. Vorschläge dazu wurden bereits vor Jahren von Wissenschaftlern gemacht.

Dies setzt aber auch voraus, dass die nukleare Abrüstung wieder ernst genommen wird. Die Zahl von 30.000 nuklearen Sprengköpfen ist bei weitem zu hoch. Drastische, verifizierbare und zeitlich bindende Einschnitte sind ebenso nötig wie das Inkrafttreten des Umfassenden Teststoppabkommens. Der pakistanische Nuklearphysiker Pervez Hoodbhoy bemerkte Anfang 2004 in der New York Times: „Die besten Chancen der Menschheit zu überleben liegen darin, ein Tabu gegen Nuklearwaffen zu schaffen.“

Dr. Götz Neuneck ist Wissenschaftlicher Referent am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg.

zum Anfang | Vom Nichtverbreitungs-Regime zur Nuklearwaffenkonvention

von Jürgen Scheffran

Der 1968 abgeschlossene und 1970 in Kraft getretene Nichtverbreitungsvertrag (NVV) bildet bis heute den Kern des internationalen Regimes zur Nichtverbreitung von Kernwaffen.

Als Kernwaffenstaaten gelten danach jene Staaten, die vor dem 01.01.1967 eine Kernwaffe hergestellt oder gezündet hatten, also die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China. Nach Artikel I des NVV dürfen sie keine Kernwaffen an andere Länder weitergeben und bei einer möglichen Beschaffung nicht helfen. Zugleich verpflichten sie sich in Artikel VI, »in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung, sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.» Mögliche Vorteile aus »friedlichen Kernsprengungen« sollen den anderen Vertragsparteien zugänglich gemacht werden (Artikel V).

Alle übrigen Vertragsmitglieder verzichten nach Artikel II als Nicht-Kernwaffenstaaten auf den Zugriff auf und die Verfügungsgewalt über Kernwaffen, insbesondere auf die eigenständige Herstellung, aber auch auf die Unterstützung anderer oder die Annahme von fremder Hilfe. Sie garantieren die Durchführung von nuklearen Sicherungsmaßnahmen (Safeguards) der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) auf alles spaltbare Material und sämtliche entsprechenden Nuklearaktivitäten (Artikel III).

Alle Mitgliedsländer versprechen die Beförderung der weltweiten zivilen Kernenergienutzung, insbesondere durch internationalen wissenschaftlich-technologischen Austausch (Artikel IV und Präambel), dürfen aber spaltbare Materialien und entsprechende Ausrüstungen nur dann an andere weitergeben, wenn sie nuklearen Sicherungsmaßnahmen unterliegen (Artikel III).

Dem NVV gehören bis auf die »inoffiziellen« Atomwaffenstaaten Indien, Pakistan und Israel alle Länder der Erde an. Nord-Korea hat allerdings im Januar 2003 seinen Austritt aus dem Vertragssystem erklärt.

Wirksamkeit und Kritik des Nichtverbreitungsregimes

Das bestehende Nichtverbreitungsregime konnte die Verbreitung, Weiterentwicklung und Ausbreitung von Kernwaffen zwar verlangsamen, war und ist aber nicht in der Lage, die nukleare Rüstungsdynamik aufzuhalten oder umzukehren. Verschiedene Mängel begrenzen seine Wirksamkeit:

  • Die Unterscheidung zwischen Kernwaffenstaaten und Nicht-Kernwaffenstaaten wird als Diskriminierung kritisiert. Den offiziellen fünf Nuklearmächten ist im Prinzip alles im Nuklearbereich erlaubt; Kontrollen müssen dem gemäß keine durchgeführt werden. Eine zweite Klasse von Staaten verzichtet auf den Kernwaffenbesitz, hat dafür aber Zugriff auf alle Nukleartechnologien, sofern diese unter den nuklearen Sicherungsmaßnahmen der IAEO zivil genutzt und entwickelt werden. Dagegen wird einer dritten Gruppe von Staaten weder der Kernwaffenbesitz gestattet noch der Zugang zu sensitiven Nukleartechnologien eröffnet. Ein solches Dreiklassen-System mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten ist auf Dauer nicht stabil.
  • Die aktive Verbreitung der Nukleartechnik unter zivilem Deckmantel trägt aufgrund der engen zivil-militärischen Verflechtung zur Verbreitung der Atombombe bei. So liefert die Anreicherungstechnologie für Reaktoruran auch die Möglichkeit, hochangereichertes Uran (HEU) für Waffenzwecke abzuzweigen. Im Reaktorbetrieb wird eine große Menge des Bombenstoffs Plutonium als Nebenprodukt erzeugt (inzwischen weltweit etwa 70 Tonnen pro Jahr, bislang mehr als 1.000 Tonnen). Mindestens 20 Staaten haben bereits Zugriff auf eine sensitive Anreicherungs- oder Wiederaufarbeitungstechnologie, die die Nuklearwaffenoption eröffnet. Um den Abrüstungsprozess irreversibel zu machen, müssen diese Materialien vor jeglichem Zugriff gesichert und dann so unzugänglich wie möglich endgelagert oder gar unbrauchbar gemacht werden.
  • Das Problem der Ambivalenz von Nukleartechnologien lässt sich allein durch die Sicherungsmaßnahmen der IAEO, die eine Abzweigung von Spaltstoffen für Waffenzwecke frühzeitig entdecken sollen, nicht in den Griff bekommen. Mit den praktizierten Verfahren technischer Überwachung ist eine umfassende Kontrolle nicht zu erreichen, eine sichere Abgrenzung ziviler und militärischer Nutzung nicht zu garantieren. Damit können Mitgliedsstaaten des NVV alle wesentlichen sensitiven Nukleartechnologien im Lande aufbauen, um in einem zusätzlichen geheimen Programm den Weg zur Bombe zu verfolgen, der dann zu einem geeigneten Zeitpunkt auch offen politisch betrieben werden kann. Der NVV bietet sogar die Möglichkeit, die Mitgliedschaft im Vertrag mit dreimonatiger Kündigungsfrist zu beenden. So war es für die NVV-Mitgliedstaaten Irak und Nordkorea möglich, trotz NVV wesentliche Voraussetzungen für ein geheimes Waffenprogramm zu schaffen.
  • Während Artikel VI des NVV nukleare Abrüstung (ja sogar die vollständige und allgemeine Abrüstung) als endgültiges Ziel festschreibt, ist kaum erkenntlich, wie innerhalb des vorgegeben Rahmens der nukleare Abrüstungsprozess ernsthaft beschleunigt oder gar zu Ende gebracht werden könnte. Der NVV selbst enthält keine Umsetzungsbestimmungen. Der Vertrag kann somit der Fortsetzung der Rüstungsdynamik konkret nichts entgegensetzen, solange keine weiteren Verträge zur Umsetzung abgeschlossen werden. Das Umfassende Teststoppabkommen von 1996 verbietet zwar jegliche Nuklearexplosionen – also auch für Kernwaffentests -, schränkt aber die Kernwaffenentwicklung mit fortgeschrittenen Technologien nicht ein. Dies erlaubt es den Kernwaffenstaaten, Laborversuche und Computersimulationen voranzutreiben. In den USA wurden in den vergangenen Jahren mit dem »Stockpile Stewardship Program« (Programm zur Bestandsicherung) die Ausgaben für Kernwaffenforschung sogar noch erhöht.
  • Die Diskriminierung der einen bei fortgesetzter Entwicklung und Modernisierung der Kernwaffenarsenale der anderen hat zum Entstehen neuer Kernwaffenaspiranten beigetragen, die sich einem »Atomwaffensperrvertrag« nicht unterordnen wollen, der allein die horizontale Proliferation (Weiterverbreitung in andere Länder) begrenzt und die Machtstrukturen der Welt repräsentiert. Dies steht im Widerspruch zu UN-Dokumenten der 1960er Jahre. Damals wurde der NVV lediglich als erster Schritt in einer Kette von Abrüstungsmaßnahmen angesehen, die sich nicht auf die damals besonders dringliche Gefahr der Weiterverbreitung beschränken sollten. Indien hat stets gegen die Lesart der Kernwaffenstaaten protestiert und daraus mit der Entwicklung eigener Kernwaffen die Konsequenzen gezogen, gefolgt von Pakistan. Für Israel stand die eigene Kernwaffenoption ohnehin nicht zur Disposition. Sollten die USA und andere Kernwaffenstaaten ihre Verpflichtungen aus dem NVV weiterhin nicht ernst nehmen, besteht die Gefahr, dass das ganze Nichtverbreitungsregime seine Grundlage verliert.

Die Kernwaffenstaaten sind nicht bereit, ihre Privilegien aufzugeben und die Abrüstungsverpflichtung in die Tat umzusetzen. Der zwar völkerrechtlich nicht verbindliche, aber politisch bindende Katalog von »Prinzipien und Zielsetzungen«, den die NVV-Überprüfungskonferenz im Mai 1995 in Kombination mit der Entscheidung für die unbeschränkte Vertragsverlängerung akzeptierte, enthält zwar ernstzunehmende Aussagen zur Abrüstungsfrage, die als vorsichtige Konkretisierung von Artikel VI des NVV angesehen werden können. Doch hat sich die Befürchtung, dass mit der Durchsetzung der unbefristeten Verlängerung des NVV auch das Versprechen auf nukleare Abrüstung auf unbestimmte Zeit verschoben werden sollte, leider bestätigt. So sollte im Anschluss an das Umfassende Teststoppabkommen ein weiterer Vertrag ausgehandelt werden, der die Produktion von spaltbaren Materialien für Kernwaffen verbietet (»cutoff«). Die Verhandlungen in der Genfer Abrüstungskonferenz sind aber seit Jahren festgefahren.

Systematische Anstrengungen zur weltweiten Reduzierung der Kernwaffen mit dem langfristigen Ziel ihrer Eliminierung wurden bislang nicht unternommen. Die zwischen USA und Russland getroffene Vereinbarung über die weitere Reduktion ihrer Kernwaffen (SORT) vom Mai 2002 hat nicht den Charakter eines völkerrechtlichen Vertrages und verzichtet auf explizite Verifikationsvereinbarungen. Wegen der grundlegenden Probleme hilft es auch wenig, dass der Überprüfungsprozess für den Nichtverbreitungsvertrag etwas verstärkt wurde durch die Einführung von praktisch jährlichen Vorbereitungskonferenzen (mit Ausnahme des Jahres nach der alle fünf Jahre stattfindenden Überprüfungskonferenz). Dort sollen Prinzipien und Zielsetzungen nuklearer Nichtverbreitung und Abrüstung sowie Wege zur vollen Umsetzung des Vertrages diskutiert, sowie Arbeitsschwerpunkte und Mittel identifiziert werden, um schließlich zu ausgearbeiteten Empfehlungen zu kommen.

Von einiger Substanz sind die bei der NVV-Konferenz im Jahr 2000 beschlossenen „praktischen Schritte für systematische und progressive Bemühungen“. Darin verpflichten sich die Vertragsstaaten u.a. das Umfassende Teststoppabkommen rasch zu ratifizieren, ein Cutoff-Abkommen zu verhandeln, für die Irreversibilität (Unumkehrbarkeit) sämtlicher Abrüstungsmaßnahmen zu sorgen, die vollständige Abschaffung aller Kernwaffen zügig anzugehen, und die vorhandenen Verträge – insbesondere START II und den Raketenabwehrvertrag – uneingeschränkt umzusetzen. Seither aber wurden nicht nur die Erwartungen in die Umsetzung der Schritte bitter enttäuscht, sondern die USA schlugen mit der Nichtverfolgung von START II und der Aufkündigung des Raketenabwehrvertrags gerade den entgegengesetzten Weg ein.

Das Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs

Das Völkerrecht fordert gleiches Recht für alle Staaten. Es ist auf Dauer nicht tolerierbar, dass einige Staaten für sich das Recht auf Kernwaffenbesitz in Anspruch nehmen und es gleichzeitig anderen verweigern. Dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom Juli 1996 zufolge steht die Bedrohung durch oder die Anwendung von Atomwaffen generell im Widerspruch zum Völkerrecht und zu den Menschenrechten. Lediglich in dem Fall „einer extremen Notwehrsituation, in der das reine Überleben eines Staates auf dem Spiel stünde«, sah sich das Gericht zu keiner einstimmigen Stellungsnahme in der Lage. Doch bietet dies keine Grundlage für die Beibehaltung nuklearer Overkill-Potentiale und Ersteinsatzoptionen, mit denen die Wahrscheinlichkeit für extreme Notwehrsituationen noch erhöht wird. Sie stellen eine klare Verletzung des IGH-Gutachtens dar. Der IGH bekräftigt einmütig die Verpflichtung aller Staaten, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen und zum Abschluss zu bringen, die zur nuklearen Abrüstung in all ihren Aspekten unter strikter und effektiver internationaler Kontrolle führen.“

Die Kernwaffenstaaten haben bislang keine hinreichenden Anstrengungen unternommen, die vom IGH zugespitzte Verpflichtung des NVV zu erfüllen. Im Gegenteil: substanzielle Verhandlungen über die nukleare Abrüstung werden abgelehnt und das Ziel der vollständigen nuklearen Abrüstung noch immer als gegenläufig zu den eigenen nationalen Sicherheitsinteressen angesehen. Entwicklungen der vergangenen Jahre lassen Zweifel an der deklarierten Abrüstungsbereitschaft aufkommen. Für die ehemaligen Kontrahenten des Kalten Krieges, USA und Russland, spielen Kernwaffen weiter eine wesentliche Rolle in ihrer Sicherheitspolitik, die sich zunehmend gegen Staaten richtet, die nicht direkt in die Blockkonfrontation verwickelt waren. Alle fünf Kernwaffenstaaten betreiben auch nach der unbefristeten Verlängerung des NVV im Jahre 1995 eine Modernisierung ihrer Kernwaffen. Die Nuklearwaffendoktrin der NATO und vor allem das Festhalten an der nuklearen Ersteinsatzoption steht in deutlichem Gegensatz zum IGH-Gutachten, insbesondere im Kontext einer Verbindung zu »Out-of-Area«-Einsätzen der NATO.

Solange einzelnen Mitgliedern der Völkergemeinschaft der Zugriff auf Kernwaffentechnik erlaubt ist, bleibt die nukleare Bedrohung bestehen. Um diese vollständig und nachhaltig zu beseitigen, bedarf es systematischer Anstrengungen aller Staaten, den Weg in die kernwaffenfreie Welt auszuhandeln und völkerrechtlich zu kodifizieren. Nur mit der vollständigen Abschaffung aller Kernwaffen würde das Hauptmotiv für die Beschaffung oder die Beibehaltung von Kernwaffen entfallen: Der Besitz von Kernwaffen durch andere Staaten.

Schritt für Schritt zum Ziel: Eine kernwaffenfreie Welt

Nach Ende der West-Ost-Konfrontation und der Ernüchterung bezüglich der Verheißungen der Nuklearenergie ist es an der Zeit, die Transformation des alten Nichtverbreitungsregimes zu einem Regime der kernwaffenfreien Welt anzugehen, das die Nachteile und Mängel des existierenden Regimes beseitigt, ohne seine Vorteile zu gefährden. Parallel zur politisch-deklaratorischen Ebene, die die Legitimität und die Motive der Verbreitung untergräbt, wäre es auf lange Sicht maßgeblich, die Fähigkeiten ernsthaft einzuschränken. Dazu müssen die wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen für Atomwaffenprogramme auch im zivilen Bereich beseitigt werden. Dies betrifft insbesondere die Rolle von waffengrädigen Nuklearmaterialien und entsprechenden Produktionstechnologien in zivilen Nuklearprogrammen. Voraussetzung sind Regelungen, die für alle Staaten gleichermaßen verbindlich sind.

Der Transformationsprozess in die kernwaffenfreie Welt umfasst eine Vielzahl einzelner Schritte, die letztlich alle dem Ziel dienen sollen, die Voraussetzungen für den Bau von Kernwaffen zu beseitigen und nukleare Abrüstung nachhaltig und irreversibel zu machen. Auch wenn Kernwaffen nicht mehr »wegerfunden« werden können, so lassen sich doch die Barrieren gegen den Zugriff auf Kernwaffen deutlich erhöhen und die latente technische Kernwaffenoption so weit abbauen, dass eine politische Entscheidung für Kernwaffen nicht auf vorhandene Möglichkeiten zurückgreifen kann.

Wie ein Übergang in die kernwaffenfreie Welt aussehen kann, hat das International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) bei der NVV-Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz im April 1995 in New York vorgestellt, unter Mitwirkung von 47 Wissenschaftlern aus 17 Ländern – unter ihnen auch der spätere Friedensnobelpreisträger Joseph Rotblat. In der Studie »Beyond the NPT: A Nuclear-Weapons-Free World« (Über den Nichtverbreitungsvertrag hinaus: Eine atomwaffenfreie Welt) werden die Argumente für einen direkten und baldigen Weg in die atomwaffenfreie Welt zusammengefasst, und es werden wesentliche Schritte auf dem Weg zum Ziel vorgeschlagen. In später verfassten Studien zur kernwaffenfreien Welt (durch die Canberra-Kommission, das Stimson Center oder die US National Academy of Science) werden ebenfalls verschiedene Schritte diskutiert.

Zur Beendigung des qualitativen atomaren Rüstungswettlaufes müsste vor allem die Neuentwicklung von Kernwaffen unterbunden werden. Ein START-Folgeabkommen, das nochmals die Arsenale der vormaligen beiden Supermächte drastisch reduziert, wäre erforderlich. Dabei müssten endlich auch die kleineren Atommächte in die nukleare Abrüstung einbezogen werden. Um die Besonderheiten in den verschiedenen Regionen zu berücksichtigen, sind regionale Maßnahmen wichtig, insbesondere weitere Verträge über atomwaffenfreie Zonen. Eine gemeinsame Erklärung der Kernwaffenstaaten zum Nicht-Ersteinsatz und Garantien zum Nicht-Einsatz von Kernwaffen (Negative Sicherheitsgarantien) würde zur Verringerung der atomaren Bedrohung beitragen, wie auch die Sofortmaßnahme, die Alarmbereitschaft für alle Atomstreitkräfte zu beenden und anschließend die Gefechtsköpfe von den Trägersystemen zu trennen. Ein anderer Vorschlag ist die Reduzierung der Gesamtsprengkraft nuklearer Arsenale durch die komplette Eliminierung des sprengkraft-verstärkenden Stoffes Tritium. Ebenso sind Maßnahmen im Bereich der Trägersysteme (insbesondere Flugtestverbot für ballistische Raketen und Einführung eines Raketenkontrollsystems) und eine Reform der IAEO dringend geboten – ganz zu schweigen von der Sicherung der spaltbaren Materialien aus der nuklearen Abrüstung.

Letztlich muss eine umfassende Cutoff-Vereinbarung angestrebt werden, die die Produktion und den Gebrauch der wichtigsten waffengrädigen Nuklearmaterialien in signifikanten Mengen bannt und auch die vorhandenen Materiallager mit einbezieht. Dazu gehört insbesondere hochangereichertes Uran, Plutonium in jeglicher Isotopenzusammensetzung und Tritium, das in den Arsenalen der fortgeschrittenen Atommächte eine wesentliche Rolle spielt. Nur ohne die unsinnige Einteilung in militärische (und damit verbotene) und zivile (erlaubte) Waffenstoffe kann die mögliche Neuproduktion von Kernwaffen schon an der Quelle abgeschnitten werden. Das existierende Nicht(weiter)verbreitungsregime würde durch Einschränkung der erlaubten zivilen Nukleartätigkeiten deutlich gestärkt und ein irreversibler Übergang in die atomwaffenfreie Welt würde vorbereitet.

Ein strittiger Punkt ist die Frage, wie der Weg in die kernwaffenfreie Welt aussehen soll. Viele westliche Analytiker sind der Überzeugung, dass eher ein evolutionärer, schrittweiser als ein umfassender, geplanter Ansatz zur Erreichung der kernwaffenfreien Welt angebracht und erfolgversprechend ist. Dagegen fordern einige Staaten ein streng geplantes Vorgehen, bei dem schon am Anfang ein Zeitplan für die einzelnen Schritte bis hin zur Abrüstung der letzten verbleibenden Kernwaffen festgelegt und von allen Kernwaffenstaaten als verbindlich anerkannt wird. Ein Beispiel ist das detaillierte Aktionsprogramm für die etappenweise Abschaffung der Kernwaffen, das die große Mehrheit der blockfreien Staaten (G-21) am 08.08.1996 in der Genfer Abrüstungskonferenz vorgeschlagen hat. Ein strenger Zeitplan würde die Hürde für den Eintritt in Abrüstungsverhandlungen erhöhen.

Der Gegensatz beider Ansätze ist unnötig verschärft und vermeidbar, denn umfassende und inkrementelle Ansätze für nukleare Abrüstungsverhandlungen bedingen und ergänzen sich wechselseitig. Es ist wie beim Bergsteigen: Wird nur der nächste Schritt geplant, ohne das Gesamtziel im Auge zu haben, wird dieses womöglich verfehlt oder nie erreicht. Wird andererseits nur das Fernziel angestrebt, ohne auf die möglichen und notwendigen nächsten Schritte zu achten, ist ein erfolgreiches Vorwärtskommen unwahrscheinlich. Ein Kompromiss könnte gefunden werden, wenn sich alle Staaten grundsätzlich auf die Abschaffung der Kernwaffen einigen könnten und Verhandlungen mit dem Ziel einer Nuklearwaffenkonvention (NWK) beginnen, die als Rahmen dienen könnten, um das bestehende Nichtverbreitungsregime in das Regime einer nuklearwaffenfreien Welt zu transformieren.

Der Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention

Angestoßen durch die INESAP-Studie und das IGH-Gutachten wurde bei der New Yorker Vorbereitungskonferenz zur Überprüfung des NVV im April 1997 von mehreren Nichtregierungsorganisationen ein Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention zur Ächtung und Beseitigung von Kernwaffen vorgestellt. Dieser soll die grundsätzliche Machbarkeit einer kernwaffenfreien Welt demonstrieren, die Diskussion über die mögliche Struktur einer umfassenden Konvention anregen und Verhandlungen darüber anstoßen. Ende 1997 wurde der Modellentwurf zu einem offiziellen UN-Dokument und in die anderen fünf UNO-Sprachen übersetzt.

Der Modellentwurf umfasst 19 Artikel und 8 Anhänge/Protokolle. Artikel I enthält allgemeine Verpflichtungen, Kernwaffen sowie ihre nuklearen Materialien, Trägersysteme und Komponenten nicht zu erforschen, entwickeln, erproben, produzieren, erwerben, stationieren, behalten oder transferieren sowie Kernwaffen nicht einzusetzen und dies auch nicht anzudrohen. Alle vorhandenen Kernwaffen, ihre Erprobungs- und Produktionsanlagen sowie ihre Trägersysteme, Befehls- und Kommunikationsanlagen (C3I) werden zerstört oder konvertiert. »Spezielle Materialien« für Kernwaffen (hochangereichertes Uran, Uran-233, Plutonium, Tritium) werden unter internationale Sicherheitskontrollen gestellt. Der Zugriff auf kernwaffenrelevante Materialien muss erschwert oder ausgeschlossen werden (preventive controls). Andere Artikel betreffen die Ausführung dieser Verpflichtungen, insbesondere Definitionen und Deklarationen, einen mehrphasigen Zeitplan für Abrüstung, die Verifikation, die nationale Implementierung (Umsetzung), die internationale Kontrollagentur, nukleare Materialien, Waffen, Anlagen und Trägersysteme, die Ratifizierung, Finanzierung, Kooperation und Streitschlichtung. Die Anhänge und Protokolle vertiefen u.a. Verifikationsmaßnahmen, Verfahren zur Kernwaffenzerstörung, die Beseitigung nuklearer Materialien und vertrauensbildende Maßnahmen.

Von wesentlicher Bedeutung für die Wirksamkeit einer NWK ist die Ausarbeitung spezifischer Verifikationsvorschläge, die den gesamten nuklearen Abrüstungsprozess überprüfbar machen, heimliche Kernwaffenaktivitäten mit ausreichender Sicherheit entdecken können und zur Vertrauensbildung beitragen. Dabei muss deutlich über die bisherigen Safeguard-Maßnahmen der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) hinausgegangen werden. Ein Schritt in diese Richtung ist das 1997 verabschiedete 93+2-Abkommen der IAEO, das u.a. erweiterte Inspektionsmöglichkeiten und Verfahren der Umweltüberwachung vorsieht.

Kernwaffenrelevante Nuklearmaterialien sind gemäß der NWK umfassenden Sicherheitskontrollen zu unterwerfen, die heimliche Abzweigungen signifikanter Mengen nicht erst nachträglich entdecken, sondern im Vorfeld deutlich erschweren bzw. praktisch unmöglich machen (auch im zivilen Nuklearsektor). Auch Nuklearmaterialien im zivilen Sektor sind in die Überprüfung einzubeziehen. Für Kernwaffen relevante Anlagen und Aktivitäten sind zu deklarieren.

Ein internationales Registrierungs- und Überwachungssystem umfasst zerstörungsfreie Messverfahren, vor Ort installierte Sensoren, Fernsensoren und die Entdeckung von charakteristischen Radionukliden in der Umwelt (Krypton-85). Inspektionen vor Ort würden systematische und Verdachtsinspektionen betreffen, die jederzeit und an jedem Ort durchführbar sein müssen. Durch Markierungstechniken ist eine eindeutige Identifizierung (»Fingerabdruck«) von Objekten möglich. Beim Aufbau solcher Systeme kann auf die Vorarbeiten der CTBTO zurückgegriffen werden. Die UN-Behörde zur Umsetzung des Umfassenden Teststoppabkommens ist bereits dabei, ihr Überwachungssystem weltweit zu installieren und zu erproben. Manche Systeme zur Überwachung einer NWK müssten erst noch entwickelt werden. Dies gilt auch für Verfahren zur Sicherung und Beseitigung der Kernwaffenmaterialien, die in möglichst umweltschonender und proliferationsresistenter Weise erfolgen soll.

Um eine adäquate Überprüfung einer NWK zu erreichen, sind nicht nur verbesserte technische Verifikationsmittel zum Einsatz zu bringen und geeignete organisatorische Strukturen für die Verifikation zu schaffen, sondern auch Maßnahmen sozialer Verifikation zu vereinbaren. Eine Internationale Kontrollagentur nach dem Vorbild der Chemiewaffenkonvention hätte für die Implementierung der NWK zu sorgen, einschließlich Verifikation und Einhaltung des Vertrages, Konsultation, Kooperation und Streitbeilegung zwischen den Vertragsstaaten.

Soziale Verifikation würde die potentielle Informationsbasis erweitern und wäre ein Beitrag zur Sicherung bzw. Schaffung demokratischer Rechte in allen Teilen der Welt. Hierbei ist die Partizipation von Nichtregierungsorganisationen bedeutsam. Kein Staat, der heimlich nach Kernwaffen strebt, kann sicher sein, dass nicht ein Mitwisser seine Kenntnisse gegen Belohnung weitergibt und damit eine frühzeitige Reaktion der Völkergemeinschaft ermöglicht.

Veränderung der Sicherheitsstrukturen

Die dramatischen Veränderungen nach Auflösung der Blockkonfrontation in Folge des Falls der Berliner Mauer 1989 müssen sich auch in Veränderungen der Sicherheitsstrukturen niederschlagen. Kernwaffen dürfen darin keine Rolle mehr spielen. Eine kernwaffenfreie Welt, in der mit den Kernwaffen auch die Hauptanreize zur Kernwaffenentwicklung beseitigt werden, bringt allen Staaten Sicherheitsgewinne. Die Verifikation einer Nuklearwaffenkonvention sollte größtmögliche Sicherheit anstreben, nicht jedoch die Illusion perfekter Sicherheit vermitteln. Der Verifikationsaufwand muss in einem vernünftigen Verhältnis zum Ergebnis stehen. Das Risiko von Vertragsverstößen ist mit den Sicherheitsgewinnen in einer kernwaffenfreien Welt in Beziehung zu setzen. Um das Risiko zu minimieren, ist ein Verifikationssystem in ein effektives Regime internationaler Sicherheit einzubetten.

Ziel wäre es, die Entdeckungswahrscheinlichkeit von Vertragsverstößen zu erhöhen und Vertragsbrecher zu entmutigen, indem die Nutzbarkeit eventuell verbleibender Kernwaffenkapazitäten begrenzt und das Risiko für den Vertragsbrecher durch entschlossenes Handeln der Völkergemeinschaft inakzeptabel hoch gemacht wird. Angemessen wäre eine abgestufte Reaktion, um einen Vertragsbrecher von seinem Vorhaben abzubringen, ohne ihm die Möglichkeit zu einem gesichtswahrenden Rückzug zu nehmen. Der Einsatz von Gewalt, der eher die Motive für eigene Kernwaffen verstärkt, sollte nicht die erste Priorität haben. Es muss deutlich werden, dass durch heimliche Kernwaffenaktivitäten nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren ist.

Joseph Rotblat, Friedensnobelpreisträger des Jahres 1995, sieht in der Abschaffung der Atombombe zugleich einen wichtigen Beitrag zur Abschaffung des Krieges und zur Errichtung einer friedlichen Weltordnung. Eine Reform der Sicherheitsstrukturen der Vereinten Nationen und parallel dazu stattfindender NW-Verhandlungen könnten sich somit gegenseitig befruchten. Besondere Bedeutung hat die Reorganisation des UNO-Sicherheitsrats, dem nicht mehr nur die Kernwaffenstaaten als ständige Mitglieder angehören dürfen.

Einfluss der NWK auf die offizielle Politik

Die Diskussion um eine Nuklearwaffenkonvention hat auch auf Regierungsebene ihren Niederschlag gefunden. 1996 wurde von Malaysia und anderen Staaten erstmals eine Resolution in die UNO-Generalversammlung eingebracht, die die vom IGH festgestellte Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung begrüßte und alle Staaten aufforderte, „ihre Verpflichtungen sofort wahrzunehmen durch die Aufnahme von multilateralen Verhandlungen im Jahr 1997, die zu einem baldigen Abschluss einer NWK führen, die Entwicklung, Produktion, Erprobung, Stationierung, Lagerung, Transfer, Einsatzandrohung oder den Einsatz von Kernwaffen verbietet und ihre Abschaffung durchführt.“ Seither gehört die Resolution über eine NWK zum festen Diskussionsprogramm der UNO-Generalversammlung. Der Resolution mit dem Titel »Convention on the Prohibition of the Use of Nuclear Weapons« stimmten beispielsweise im Oktober 2003 insgesamt 118 Staaten zu, darunter auch die Atomwaffenstaaten Indien, Pakistan und China. Leider lehnte Deutschland – wie auch die übrigen Länder der Europäischen Union – die Resolution ab.

Mit diesem Abstimmungsverhalten widersprechen die europäischen Regierungen dem Willen der gewählten Europavertreter. Im Februar 2004 verabschiedete das Europäische Parlament eine »Resolution zur nuklearen Abrüstung«, in der im Hinblick auf die NVV-Überprüfungskonferenz 2005 „ein Fahrplan mit einem zeitlichen Stufenplan und Fristen für [nukleare] Abrüstungsschritte» gefordert werden. Ausdrückliche Unterstützung signalisiert das EU-Parlament in seiner Resolution einer neuen, globalen Initiative zur Durchsetzung einer Nuklearwaffenkonvention: der »Emergency Campaign« der international verfassten Mayors for Peace.

Die Dringlichkeitskampagne der schon mehr als 570 Bürgermeister aus über 100 Ländern fordert unter dem Namen »2020 Vision« von der NVV-Überprüfungskonferenz 2005 eine verbindliche Vereinbarung über Verhandlungen für eine NWK bis zum Jahr 2010 und die vollständige Abschaffung von Atomwaffen bis 2020.

Dass bei gutem Willen die Vereinbarung einer NWK machbar wäre, haben Nichtregierungsorganisationen durch die Ausarbeitung des viel gelobten NWK-Entwurfs vor acht Jahren bewiesen. Dass der gute Wille zum Übergang vom lückenhaften Nichtverbreitungsregime hin zur atomwaffenfreien Welt auch bei den politisch Mächtigen entsteht, dafür müssen die Wähler jetzt endlich sorgen. An der Dringlichkeit kann kein Zweifel bestehen.

Canberra Commission on the Elimination of Nuclear Weapons: Final Report. Canberra, August 1996.

Committee on International Security and Arms Control, US National Academy of Sciences (NAS): The Future of U.S. Nuclear Weapons Policy, Juli 1997.

Datan, M./Ware, A./Kalinowski, M. B./Scheffran, J./Sidel, V./Burroughs, J.: Security and Survival. The Case for a Nuclear Weapons Convention. Herausgegeben von IALANA/INESAP/IPPNW, Cambridge, MA, 1999; auf deutsch: Sicherheit und Überleben – Argumente für eine Nuklearwaffenkonvention. IALANA/INESAP/IPPNW, Berlin, 2000 (enthält den vollständigen Text des NWK-Entwurfs).

Hinde, R. A./ Rotblat, J./McNamara, S.: War No More – Eliminating Conflict in the Nuclear Age. Pluto Press, 2003.

IALANA (Hrsg.): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Münster, LIT-Verlag, 1997.

International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP): Beyond the NPT: A Nuclear-Weapon-Free World. New York/Darmstadt, April 1995; Deutsche Zusammenfassung in: Wissenschaft und Frieden, 12.Jg., Nr.2 (1995), S.102-106.

Kalinowski, M. B.: Global Elimination of Nuclear Weapons. Baden-Baden, Nomos, 2000.

Liebert, W./Scheffran, J. (Hrsg.): Against Proliferation – Towards General Disarmament. Proceedings of the First INESAP Conference, Münster, agenda, 1995.

Müller, H./ Frank, K./Kelle, A./Meier, S./Schaper, A.: Nukleare Abrüstung – Mit welcher Perspektive? Der internationale Diskurs über die nukleare Rüstungskontrolle und die Vision einer kernwaffenfreien Welt. HSFK-Report 8/1996.

Rotblat, J. (ed.), Nuclear Weapons – The Road to Zero. Westview, 1998.

Scheffran, J.: Verifikation einer Nuklearwaffenkonvention, in Neuneck, G./Altmann, J./ Scheffran, J. (Hrsg.): Nuklearwaffen: Neue Rüstungstechnologien – Verifikation von Abrüstung. Tagungsbeiträge der Frühjahrstagungen in München und Regensburg, DPG/FONAS, 1998, S. 33 – 52.

Stimson Center: An American Legacy – Building a Nuclear-Weapon-Free World. März 1997.

Dr. Jürgen Scheffran ist Redakteur von Wissenschaft & Frieden, Mitbegründer des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP)

Elemente einer Nuklearwaffenkonvention

Präambel: Gefahren und Folgen atomarer Rüstung, Gründe für die Abschaffung der Kernwaffen, bisherige Verträge und Resolutionen

Allgemeine Verpflichtungen: Ächtung und irreversible Beseitigung von Kernwaffen, einschließlich dazu gehöriger Voraussetzungen, Komponenten und Infrastruktur (Forschung, Entwicklung, Test, Produktion, Beschaffung, Besitz, Lagerung, Transfer, Einsatz und Einsatzandrohung von Kernwaffen, Materialien, Trägersystemen, Befehls- und Kontrolleinrichtungen)

Verifikation: Anforderungen und Maßnahmen zur Vertragsüberprüfung; Austausch über Daten und Verifikationsaktivitäten; internationale Kontrollagentur, internationales Überwachungssystem mit Sensoren, Inspektionen, Konsultationen, Vertrauensbildung; soziale Verifikation und Schutz von Informanten (whistleblowing)

Internationale Kontrollagentur: Implementierung der Konvention durch Verifikation, Konsultation, Kooperation und Streitbeilegung; Vertragsstaatenkonferenz, geschäftsführender Rat, Technisches Sekretariat; Trennung von Kontrolle und Verbreitung der Kernenergie

Schrittweise Implementierung und Zeitrahmen: Agenda zur stufenweisen Abschaffung der Kernwaffen mit zeitlichen Vorgaben für Registrierung, Unbrauchbarmachung, Transport, Zerstörung von Kernwaffen, zugehöriger Nuklearmaterialien und Infrastruktur

Inkrafttreten und Geltungsdauer: universelle Gültigkeit; Ratifizierungsoptionen (Minimalzahl von Mitgliedstaaten, Prozentsatz von Staaten, Besitz von Kernwaffen oder Nuklearanlagen, Implementierung des Verifikationssystems)

Vertragseinhaltung und -durchsetzung: Schaffung von Transparenz und Vertrauensbildung; nationale und internationale Verpflichtungen; Rechte und Pflichten von Einzelpersonen; Sanktionen und kollektive Maßnahmen; Mediation durch internationale Agentur; Internationaler Strafgerichtshof

Kontrolle und Beseitigung von Kernwaffenmaterialien: Umfassendes CutOff-Abkommen; Verbot und nachhaltige Beseitigung von kernwaffenfähigen Materialien (Plutonium, HEU, Tritium) und Anlagen (Wiederaufarbeitung, Anreicherung, Mischoxid-Anlagen, Einsatz von hoch angereichertem Uran); Verglasung und Lagerung von Plutonium; internationale Kontrolle nuklearer Materialien

zum Anfang | Auf dem Weg in den Unrechtsstaat?

Zur deutschen Atomwaffenpolitik und -rechtsprechung

von Wolfgang Sternstein

Was unterscheidet den Rechtsstaat vom Unrechtsstaat? Im Rechtsstaat geht Recht vor Macht, im Unrechtsstaat Macht vor Recht. Das ist, zugegeben, eine idealisierte Beschreibung des Verhältnisses von Macht und Recht, denn letztlich ist es die Macht, die das Recht setzt. Das Recht aber wirkt auf die Macht zurück und setzt ihr Grenzen. Der Rechtsstaat unterscheidet sich folglich vom Unrechtsstaat durch die Selbstbindung der Macht an das Recht. Darin besteht seine friedenserhaltende, seine humanisierende Wirkung.

Vertragsnorm und Vertragsumsetzung

Eine uralte Regel des Vertragsrechts lautet »Pacta sunt servanda« (Verträge müssen eingehalten werden). Dieses Gebot bildet das Fundament einer Rechtsgemeinschaft, in der Rechtssicherheit Vertrauen zwischen den Vertragsparteien schafft. Im nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV, abgeschlossen 1968, in Kraft getreten 1970) verpflichtet sich die Bundesrepublik als Vertragspartei in Artikel II, »Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen.» Soweit der Vertragstext. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus?

In Büchel, nicht weit von Cochem im Moseltal entfernt, lagern zehn US-amerikanischen Atombomben vom Typ B61-11, deren Sprengkraft insgesamt vermutlich etwa 60 Hiroshima-Bomben entspricht. In Büchel sind an Einsatzübungen deutsche Tornadopiloten beteiligt, die die Bomben im Kriegsfall nach einem entsprechenden Einsatzbefehl des US-Präsidenten ins Ziel fliegen würden. In Verbindung mit dem Mitspracherecht in der nuklearen Planungsgruppe der NATO läuft das unter dem Etikett »nukleare Teilhabe der Bundesrepublik«. Damit verstößt Deutschland eklatant gegen Artikel II des Nichtverbreitungsvertrags.

Und weiter: In Art. VI des NVV verpflichten sich die Vertragsparteien, »in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.» Diese Selbstverpflichtung gilt in erster Linie für die Atomwaffenstaaten. Sie gilt aber auch für die Bundesrepublik als Vertragspartei des NVV und NATO-Mitglied. Was hat sie in den knapp 30 Jahren seit Inkrafttreten des Vertrages getan, um dieser Selbstverpflichtung nachzukommen und auf die Aufnahme derartiger Verhandlungen zu drängen? – Nichts! Und das, obwohl der Internationale Gerichtshof in seinem Gutachten vom Juli 1996 zur Völkerrechtswidrigkeit von Atomwaffen durch einstimmiges Richtervotum die Verpflichtung der Atomwaffenstaaten zur nuklearen Abrüstung noch einmal eindringlich angemahnt hat (Buchstabe F des Gutachtens).1

Schließlich hat die NVV-Überprüfungskonferenz im Jahre 2000 die Verpflichtung erneut nachdrücklich unterstrichen. Sie hat sogar eine gewisse Zweideutigkeit des Art VI NVV beseitigt. Die Formulierung »sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung» wurde von den Falken in den Atomwaffenstaaten so ausgelegt, als sei die nukleare Abrüstung an die allgemeine und vollständige Abrüstung sämtlicher Waffen gekoppelt. Das Dokument der Überprüfungskonferenz, ein offizieller Teil der Vertragsumsetzung, unterstreicht die unzweideutige Verpflichtung der Atomwaffenstaaten zur vollständigen Abschaffung ihrer nuklearen Arsenale mit dem Ziel der nuklearen Abrüstung, zu der alle Vertragsstaaten gemäß Art. VI verpflichtet sind.2

Was ist seitdem geschehen? – Wieder nichts! Die Vertragsstaaten des NVV und insbesondere die Bundesrepublik verhalten sich folglich permanent vertragswidrig. Statt ihre seit 34 Jahren bestehende Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung einzulösen, haben sie sich auf ein schädliches und gefährliches nukleares Wettrüsten im Kalten Krieg eingelassen mit unabsehbaren Folgen für den Weltfrieden und die Zukunft der Menschheit. Eine dieser Folgen ist die Entstehung weiterer inoffizieller Atomwaffenstaaten, wie Israel, Indien und Pakistan, die nicht Mitglieder des NVV und zudem in Konflikte verwickelt sind, die zu den derzeit virulentesten gehören. Wahrscheinlich werden andere Staaten folgen, so dass es immer schwieriger wird, alle Atomwaffenstaaten an einen Verhandlungstisch zu bringen. Das Ziel des NVV, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern und einen Weg zu ihrer Abschaffung zu eröffnen, rückt damit in unerreichbare Ferne.

Die berechtigte Furcht, Terroristen könnten früher oder später Zugriff auf Atomwaffen erhalten, ist kein Argument gegen, sondern für den NVV. Denn das beste Mittel, dieser Gefahr entgegenzuwirken, ist ihre Abschaffung. Damit würde die Gelegenheit für Diebstahl, Raub und Schwarzhandel weitgehend beseitigt. Terroristen, soviel ist jedenfalls gewiss, lassen sich durch Gegenterror nicht abschrecken.

Was ist ein Vertrag wert, der nur die schwachen, nicht aber die starken Vertragsparteien bindet? Sind die Nichtatomwaffenstaaten überhaupt noch an einen Vertrag gebunden, dem sie nur unter der Bedingung zugestimmt haben, dass die Atomwaffenstaaten ihre Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung erfüllen? – Sage bloß keiner, er sei nichts wert! Er ist viel wert, denn er dient als Instrument, um die schwachen Vertragsparteien, wie z.B. den Iran, zur Einhaltung eben jenes Vertrages zu zwingen, den die starken permanent verletzen. Nicht genug also, dass das Recht im Konflikt mit der Macht gewöhnlich den Kürzeren zieht; es tritt jetzt in den Dienst der Macht. Es wird zum Instrument zynischen Machtmissbrauchs.

Überflüssig zu sagen, dass ich nicht für die Annullierung des NVV plädiere, sondern für seine Einhaltung. Dabei übersehe ich keineswegs die praktischen Probleme, die mit der Umsetzung des Vertrages verbunden sind. Sie im Einzelnen zu erörtern, ist hier nicht der Ort. Es muss genügen, auf die umfangreiche wissenschaftliche Literatur zum Thema zu verweisen.3

Rechtsprechung im Geiste der Inhumanität

Es geht aber nicht nur um die Frage der Verbindlichkeit völkerrechtlicher Verträge, es geht auch um die Völkerrechts- und Verfassungswidrigkeit von Atomwaffen und der Politik der nuklearen Abschreckung. Bereits vor 43 Jahren hat der große Humanist, Arzt und Theologe Albert Schweitzer die Sache, um die es hier geht, auf den Punkt gebracht: »Nur wenn die Humanitätsgesinnung, für die solche Waffen nicht in Betracht kommen, die Gesinnung der Inhumanität verdrängt, dürfen wir hoffend in die Zukunft blicken. Die Gesinnung der Humanität hat heute weltgeschichtliche Bedeutung.»4

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat sich in dieser Frage von »weltgeschichtlicher Bedeutung» auf die Seite der Inhumanität geschlagen und damit gegen Geist und Buchstaben des Grundgesetzes verstoßen. Das ist ein schwerwiegender Vorwurf, der folglich einer sorgfältigen Begründung bedarf.

In den 1980er Jahren hat sich der Zweite Senat im Zusammenhang mit dem Streit um die »Nachrüstung« mehrmals zur Frage der Verfassungsmäßigkeit von Massenvernichtungswaffen geäußert. Er hatte keine Bedenken, Atomwaffen und die Politik der nuklearen Abschreckung für verfassungskonform zu erklären.5

Seitdem hat sich die Völkerrechtslage allerdings durch das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes vom 8. Juli 1996, das die Drohung mit dem Einsatz und den Einsatz von Atomwaffen für generell völkerrechtswidrig erklärte, wesentlich verändert. In Buchstabe D des Gutachtens stellen die Richterinnen und Richter des Internationalen Gerichtshofs einstimmig fest: »Ein Androhen des Einsatzes oder ein Einsetzen von Atomwaffen müsste mit den Anforderungen vereinbar sein, die sich aus dem für bewaffnete Konflikte geltenden Völkerrecht, insbesondere aus den Prinzipien und Regeln des sog. humanitären (Kriegs-) Völkerrechts und aus den Verpflichtungen aus abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträgen und anderen Übereinkünften ergeben, die speziell Atomwaffen betreffen.»6

Es liegt auf der Hand, dass Atomwaffen mit den genannten Anforderungen nicht vereinbar sind. Selbst das von Militärs gelegentlich vorgebrachte Argument, ein Atomschlag gegen ein Kriegsschiff auf See oder eine Atomwaffenbasis in der Arktis verstoße nicht gegen die allgemeinen Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts, erweist sich als nicht stichhaltig. Denn selbst der Einsatz einer »kleinen« Atomwaffe (wobei die Hiroshima-Bombe bei den Militärstrategen als klein gilt) kann in der aufgeheizten Atmosphäre einer kriegerischen Auseinandersetzung einen Dammbruch für den massenhaften Einsatz von Atomwaffen bewirken. Darüber hinaus kann die bei der Explosion freigesetzte Radioaktivität das Leben und die Gesundheit Dritter schädigen.

Aus diesem Sachverhalt haben drei Richter des Internationalen Gerichtshofes denn auch die Schlussfolgerung hergeleitet, dass Atomwaffen bereits heute ausnahmslos als völkerrechtswidrig gelten müssen. Richter Weeramantry hat in seinem Sondervotum die allgemeinen Regeln des Kriegsvölkerrechts ausdrücklich benannt, gegen die Atomwaffen zwangsläufig verstoßen.7 Die Mehrheit der Richter des Internationalen Gerichtshofs mochte sich dieser konsistenten und stringenten Argumentation nicht anschließen. Sie konstatierten in E (2) eine geringfügige Lücke im Völkerrecht bzw. sahen sich nicht in der Lage, »definitiv die Frage (zu) entscheiden, ob die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen in einer extremen Selbstverteidigungssituation, in der die Existenz eines Staates auf dem Spiele stünde, rechtmäßig oder rechtswidrig wäre.»8

Auf die Inkonsequenz dieser Feststellung soll hier nicht näher eingegangen werden. In Verbindung mit Buchstaben F ist ohnehin klar, dass diese Lücke im Völkerrecht – so sie denn besteht – durch die vom Gericht angemahnten Verhandlungen über die Abschaffung dieser Waffen geschlossen würde.

Die Völkerrechtslage ist somit weitgehend geklärt. Die Androhung des Einsatzes und der Einsatz von Atomwaffen sind generell völkerrechtswidrig. Die Drohung mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen – nach wie vor offizielle NATO-Strategie – ist folglich eklatant völkerrechtswidrig, denn die vom Gericht angesprochene extreme Ausnahmesituation liegt nicht vor. Das Gleiche gilt für die Bestrebungen der USA, Atomsprengköpfe mit relativ geringer Sprengkraft – sogenannte Mini-Nukes – sowie bunkerbrechende Waffen zu entwickeln und auf dem Gefechtsfeld einzusetzen.

Atomwaffen und die Politik der nuklearen Abschreckung sind aber nicht nur völkerrechtswidrig, sie sind auch verfassungswidrig. Abschreckung wirkt, das wissen wir aus Erfahrung, niemals hundertprozentig. Das Furchtbare, das geradezu Teuflische am Abschreckungsprinzip ist, dass derjenige, der durch Strafandrohung von einem bestimmten Verhalten abzuschrecken sucht, sich damit in der Schlinge der Selbstbindung fängt. Versagt die Abschreckung, so ist er gezwungen, die Strafandrohung wahr zu machen, andernfalls verliert er seine Glaubwürdigkeit. Folglich ist er gezwungen zu tun, was er vielleicht gar nicht tun will.

Wenn das auf lange Sicht unvermeidliche Versagen der Abschreckung die Vernichtung ganzer Völker, ja der Menschheit und allen höheren Lebens auf der Erde zur Folge haben kann, dann ist die Politik der nuklearen Abschreckung ethisch, politisch und rechtlich nicht zu rechtfertigen.

Ich kenne den Einwand: Immerhin hat die nukleare Abschreckung den dritten Weltkrieg zwischen den Supermächten verhindert und insofern zum Frieden beigetragen, ja den nuklearen Holocaust gerade verhindert. Sie wird es folglich auch in Zukunft tun, zumal sich die Gefahr eines Atomkriegs in Mitteleuropa seit dem Ende des Kalten Krieges drastisch vermindert hat. Darauf kann ich nur mit General George Lee Butler, dem Oberkommandierenden der US-amerikanischen Atomstreitkräfte in den Jahren 1991-94, antworten: »Wir sind im Kalten Krieg dem atomaren Holocaust nur durch eine Mischung von Sachverstand, Glück und göttlicher Fügung entgangen, und ich befürchte, das letztere hatte den größten Anteil daran.»9

Der Mann weiß, wovon er spricht. Ich nenne den Atomkrieg, gleichgültig ob er ein Zehntel, ein Viertel, die Hälfte oder die ganze Menschheit auslöscht, das denkbar größte Verbrechen. Mord ist zweifellos ein schweres Verbrechen; doch das denkbar größte Verbrechen ist der Mord an der Menschheit, auch wenn wir es juristisch korrekt Menschheitstotschlag nennen, weil es bei den Tätern an den niedrigen Motiven fehlt. Denkt man an die Machtgier der Politiker und die Profitgier der Rüstungsindustriellen, so fehlt es auch an den niedrigen Motiven nicht. Dass dieses Verbrechen legal geplant, vorbereitet und am Ende auch durchgeführt wird, macht die Sache nicht besser, sondern schlimmer.

Kein Zweifel also, die nach wie vor gültige NATO-Doktrin der nuklearen Abschreckung verstößt gegen das Grundgesetz, denn sie bedroht im Fall ihres auf die Dauer unausweichlichen Versagens nicht allein den in Art. 79 Abs. 3 für unveränderbar erklärten Kernbestand der deutschen Verfassung, sondern darüber hinaus ihre Grundlagen mit Vernichtung: Staatsvolk, Staatsterritorium und Staatsorganisation. Mag die Gefahr eines Nuklearkrieges in Europa derzeit gering sein, so ist das noch lange keine Garantie, dass das auch künftig der Fall sein wird. Die Erfahrung lehrt vielmehr, dass sich die Weltlage in kurzer Zeit dramatisch verändern kann.

Seit den 1980er Jahren hat es zahlreiche Versuche gegeben, durch Aktionen des zivilen Ungehorsams kleiner Gruppen von Friedensaktivistinnen und -aktivisten eine Revision der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Atomwaffen zu erreichen.

Seit 1990 haben am US-amerikanischen EUCOM (European Command) in Stuttgart-Vaihingen acht »Entzäunungsaktionen« und am Fliegerhorst Büchel fünf »ehrenamtliche Inspektionen im Namen des Internationalen Gerichtshofes« stattgefunden, an denen über sechzig Personen beteiligt waren. Sie wurden alle zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt. Siebzehn davon sind ins Gefängnis gegangen, um mit einer »Mahnwache hinter Gittern« zum gewaltfreien Widerstand gegen Atomwaffen aufzurufen.

Es kam im Gefolge dieser Aktionen zu einer Richtervorlage (gem. Art. 100 Abs. 2 GG) und insgesamt vier Verfassungsbeschwerden. Nach Ausschöpfung des Rechtswegs wandten wir uns mit einer Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht. Wir machten geltend, dass Art. 25 GG uns nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, wie sie von Richter Weeramantry angeführt worden waren, zu beachten, denn sie gehen den deutschen Gesetzen – auch den Strafgesetzen! – vor und erzeugen Rechte und Pflichten für jeden Bewohner des Bundesgebietes.10

Das Bundesverfassungsgericht konnte sich nicht dazu durchringen, seine Rechtsprechung aus 1980er Jahren im Lichte des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs zu revidieren. Selbst der Wunsch des großen alten Mannes der deutschen Verfassungsrechtsprechung, Helmut Simon, dass die Beurteilung des Internationalen Gerichtshofes im militärischen Bereich auch Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden solle, stieß in Karlsruhe auf taube Ohren.11

Fazit: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bleibt offensichtlich völkerrechts- und verfassungswidrig. Die Frage drängt sich auf. Warum hält es dennoch an ihr fest? Ist es die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, seine verhängnisvolle Rechtsprechung zu Massenvernichtungswaffen aus den 80er Jahren zu korrigieren? Mag sein. Bei weitem plausibler aber ist die Vermutung, es handle sich um eine rein politische Entscheidung: Die europäische Einigungsbewegung läuft auf eine Militärmacht Europa zu, die aufgrund des französischen und britischen Atomwaffenarsenals auch Atommacht sein wird. Eine Analyse der vorerst gescheiterten EU-Verfassung ergibt: Die Europäische Union wird, sofern es nach dem Willen Frankreichs und Deutschlands geht, eine Supermacht mit gemeinsamer Außen- und Militärpolitik, die europäische Interessen weltweit vertritt und je nach Interessenlage mal mit, mal ohne und mal gegen die Supermacht USA agiert.12 In einem solchen Europa ist für ein dem Staatsziel der Friedensstaatlichkeit verpflichtetes Grundgesetz und ein dem Grundgesetz verpflichtetes Verfassungsgericht kein Platz. Eine Bundesrepublik, die sich aus verfassungs- und völkerrechtlichen Gründen dieser Entwicklung verweigern müsste, würde da nur stören.

Wenn Recht zu Unrecht wird…

Alle wirklich großen Verbrechen im vergangenen Jahrhundert, sagte der amerikanische Friedensaktivist Philip Berrigan, waren legal: Der Erste und der Zweite Weltkrieg, der GULAG, Auschwitz und Hiroshima, und wenn die Menschheit eines Tages im atomaren Inferno zugrunde geht, wird auch dieses denkbar größte Verbrechen legal sein. Gegen die Vorbereitung dieses Verbrechens gewaltfreien Widerstand zu leisten, ist die Pflicht eines jeden Menschen, will er an diesem Verbrechen nicht mitschuldig werden.13

Eine Änderung der Verfassungsrechtsprechung ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Meines Erachtens gibt es nur noch eine einzige Instanz, die fähig wäre, dem Völkerrecht Geltung zu verschaffen: Die Macht des Volkes, die Macht der öffentlichen Meinung. Das ist gewiss keine neue Einsicht; sie wurde beispielsweise schon 1961 von Albert Schweitzer klar zum Ausdruck gebracht und als friedenspolitische Zielvorstellung artikuliert.14

Wir müssen uns fragen lassen, was wir seither getan haben, um dieses Ziel zu erreichen. Wohl stimmten bei einer repräsentativen Umfrage des Forsa-Instituts im Jahre 1998, die heute wohl kaum anders ausfallen dürfte, 93 Prozent der Befragten der Forderung zu: »Atomwaffen sind grundsätzlich völkerrechtswidrige Waffen und sollten weder produziert noch gehortet werden dürfen.» Und 87 Prozent der Befragten stimmten der Auffassung zu: »Die Bundesregierung sollte dafür sorgen, dass die auf deutschem Boden gelagerten Atomwaffen umgehend beseitigt werden.» Das Gleiche gilt für die Auffassung: »Die Atommächte sollten zur Schaffung einer atomwaffenfreien Welt schnellstmöglich mit der Verschrottung der eigenen Atomwaffen vorangehen.»15

Nun gilt es, aus dieser Meinungsmehrheit eine Willensmehrheit und schließlich eine Entscheidungsmehrheit im Bundestag zu machen. Deutschland hat durch seine Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht unerheblich zur Erfindung und dem Einsatz dieser grausamen Waffen beigetragen. Daraus erwächst uns die Verpflichtung, uns mehr als andere für ihre Abschaffung einzusetzen.

Dr. Wolfgang Sternstein ist Friedens- und Konfliktforscher und lebt in Stuttgart. Er ist seit 30 Jahren in der Anti-AKW-, Ökologie- und Friedensbewegung aktiv und hat an zahlreichen gewaltfreien Aktionen teilgenommen. Wegen zivilem Ungehorsam stand er mehr als ein Dutzend Mal vor Gericht und saß achtmal im Gefängnis, insgesamt mehr als ein Jahr.

zum Anfang | … auf keinem Auge blind! Atomwaffenfrei bis 2020

von Wolfgang Schlupp-Hauck

Von der ersten Atombombenexplosion in den USA am 16. Juli 1945 bis zur letzten Atomwaffendetonation am 30. Mai 1998 durch Pakistan fanden weltweit mindestens 2052 Atomexplosionen statt – im Schnitt alle neun Tage eine. Am 24. September 1996 unterzeichneten die fünf traditionellen Atommächte einen Vertrag, der das Verbot aller Atomexplosionen beinhaltet. Angesichtes des feierlichen Akts der Vertragsunterzeichnung an der UNO in New York mochte ein wichtiger Aspekt leicht aus den Augen verloren gehen: Die Regierungschefs der Großmächte waren buchstäbliche von Tausenden, ja Hunderttausenden von Menschen fast an den Verhandlungstisch »gezerrt« worden, um öffentlich das zu versprechen, was sie von Anfang an hätten tun sollen: die Atomtests endlich vertraglich zu verbieten.“1

Auch wenn der umfassende Teststoppvertrag noch nicht in Kraft ist, das weltweite Netz mit Messstationen zu seiner Überprüfung ist teilweise schon in Betrieb und soll bis 2007 fertig gestellt werden.

Ohne den Druck der internationalen Bewegung wäre es zu diesem Ergebnis mit Sicherheit erst viel später, vielleicht auch gar nicht gekommen. Seit Mitte der 1950er Jahre wehrten sich Bürger mit den unterschiedlichsten Aktionsformen gegen nukleare Rüstung. Wissenschaftler erklärten, dass sie sich nicht an Atomwaffenforschung beteiligen werden; Nichtregierungsorganisationen belagerten Diplomaten und Politiker; wagemutige Zeitgenossen fuhren mit Segelschiffen in die Atomtestgebiete im Pazifik; andernorts drangen Demonstranten auf dem Landweg in die Testgelände vor. Protest und Widerstand erzwangen im Wechsel von Lobbyarbeit, kleinen Aktionen, Massendemonstrationen und zivilem Ungehorsam die Fortschritte der »großen« Politik.

Der intensiven, jahrelangen Lobbyarbeit ist es zu verdanken, dass der Internationale Gerichtshof 1996 sein Rechtsgutachten über die Legalität von Atomwaffen verkündete und erklärte, dass die Drohung mit und der Einsatz von Atomwaffen grundsätzlich völkerrechtswidrig sind.2 Aus der Zusammenarbeit von Nichtregierungsorganisationen entstand 1995 anlässlich der Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) das internationale Netzwerk für die Abschaffung von Atomwaffen, Abolition 2000, dem über 2.000 Gruppen in 90 Ländern angehören.

Um zu zeigen, dass die im NVV geforderte vollständige nukleare Abrüstung möglich ist, erarbeiteten ausgewiesene internationale Experten der »Atomwaffen abschaffen«-Bewegung einen Vertragsentwurf zur kontrollierten Abschaffung aller Atomwaffen. Dieser Vorschlag einer Nuklearwaffenkonvention wurde 1997 von Costa Rica bei den Vereinten Nationen eingebracht. Er wurde damit UNO-Dokument. Dennoch – der Abschluss einer solchen Konvention scheint in weiter Ferne. Weiteres Bürgerengagement ist unerlässlich, um die Atomkriegsgefahr endlich aus der Welt zu schaffen.

Der Bürgermeister von Hiroshima und Vorsitzende der Mayors for Peace, Tadatoshi Akiba, kündigte im April 2003 bei einem Treffen zur Vorbereitung der nächsten NVV-Überprüfungskonferenz eine Dringlichkeitskampagne von unten an. Er forderte, dass bei der Überprüfungskonferenz 2005 ein konkreter Zeitplan für Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention vereinbart werden müsse. Akiba schlägt einen fünfjährigen Verhandlungszeitraum und eine zehnjährige Abrüstungsphase vor. Die letzen Atomwaffen würden also im Jahr 2020 verschrottet. Einige Monate später wurde die Kampagne unter dem Namen »2020 Vision« in Nagasaki offiziell gestartet.

Zwischen den kommunalpolitischen Repräsentanten der Mayors for Peace und der Friedensbewegung sind neue Bündnisse im Entstehen. Der deutsche Trägerkreis »Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen!« startete zur Unterstützung von »2020 Vision« inzwischen die Kampagne »…auf keinem Auge blind! atomwaffenfrei bis 2020« (siehe www.atomwaffenfrei.de). Ziel: die Friedensarbeit vor Ort mit der hohen diplomatischen Ebene der Staatsverhandlungen zu verbinden – wenn möglich, mit dem eigenem Bürgermeister.

Die neue Kampagne eröffnet jedem die Möglichkeit, das Atomwaffenthema lokal aufzugreifen. Beispielsweise indem – sofern noch nicht der Fall – die eigene Gemeinde aufgefordert wird, den Mayors for Peace beizutreten und die Kampagne zu unterstützen. Mit der Aktion »Mal dir den Frieden« schafft der Trägerkreis eine Möglichkeit, die Öffentlichkeitsarbeit vor Ort mit dem internationalen Geschehen zu verbinden. Im April 2005, während der NVV-Überprüfungskonferenz in New York, soll ein Meer von bunten Tüchern mit Abrüstungsvisionen aus aller Welt die Diplomaten und Politiker auf ihrem Weg in die Verhandlungen begrüßen. Der Wunsch der Menschen nach einer friedlichen Welt ohne Atomwaffen soll auf diese Weise unübersehbar werden. Mehr Nichtregierungsorganisationen als je zuvor sollen sich 2005 in New York einmischen (gehofft wird auf mehr als 2.000) und zu einem »Völkergipfel für nukleare Abrüstung« zusammenkommen. Der Bürgermeister von Hiroshima will die Unterzeichnerstaaten bei dieser Gelegenheit noch einmal dringlich aufrufen, einen Zeitplan für die Abschaffung aller Atomwaffen zu verabschieden.

Sollte die Überprüfungskonferenz ohne Zeitplan enden, will Bürgermeister Akiba einen »Hiroshima-Prozess« initiieren, vergleichbar dem »Ottawa-Prozess«, der außerhalb der üblichen Abrüstungsgremien verlief. Dieser führte Ende der 1990er Jahre zum Verbot von Antipersonen-Landminen. Akiba wird in diesem Falle seine eigene Stadt als Tagungsort anbieten. Die Verhandlungen für eine atomwaffenfreie Welt würden dann am 6. August 2005 in Hiroshima aufgenommen: 60 Jahre nach dem ersten Atombombenabwurf durch die USA.

Wolfgang Schlupp-Hauck ist Mitarbeiter der Pressehütte Mutlangen und dort Mitherausgeber der Zeitschrift FreiRaum (für eine Welt ohne Atomwaffen und die friedliche Nutzung des Weltraums).

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von Lothar Liebsch

Atom-, Kern-, Nuklearwaffen:

Die Energie, die von einer Kernwaffe freigesetzt wird, stammt aus dem Atomkern (nucleus). Der bei Atombomben (Fissionswaffen) ablaufende Vorgang beruht auf der Spaltung von Uran- oder Plutoniumkernen in leichtere Bruchstücke, die Spaltprodukte. In einer thermonuklearen Waffe oder Wasserstoffbombe (Fusionswaffe) werden die Kerne schwerer Wasserstoff-Isotope (Deuterium und Tritium) bei sehr hohen Temperaturen miteinander verschmolzen. Dieser Vorgang wird von einem Kernspaltungsprozess ausgelöst.

Bunkerknacker (bunker buster):

Eine erdeindringende Waffe, die unterirdische Anlagen, Kommandobunker oder Massenvernichtungswaffen-Lager zerstören soll. Es gibt bereits konventionelle »bunker buster«, die im Irakkrieg eingesetzt wurden, und eine US-Atombombe mit begrenzten Fähigkeiten dieser Art, die auch in Deutschland stationierte B-61 Modell 11. Bei dem in den USA in Planung befindlichen »Robust Nuclear Earth Penetrator« handelt es sich um eine neue Generation erdeindringender Atomwaffen.

Fallout:

Entsteht hauptsächlich durch verstrahltes Erdreich bei niedrigen Luft- oder Bodendetonationen. Eine Bodendetonation erzeugt immer radioaktive Teilchen. Dabei fallen große und schwere Teilchen innerhalb weniger Minuten nach der Detonation dicht am Nullpunkt zu Boden, so dass hier eine hohe, für Menschen tödliche, Strahlenbelastung entsteht. Die leichteren und kleineren Teilchen steigen mit dem Feuerball und der Explosionswolke zunächst nach oben und fallen dann nach und nach in Windrichtung wieder zu Boden. In der Regel beginnt der radioaktive Niederschlag (Fallout) nach weniger als einer Stunde wieder zu Boden zu fallen und hält ein bis zwei Tage lang an, je nach der Entfernung zum Nullpunkt. Bei Explosionen mit einem hohen Detonationswert werden kleinste verstrahlte Teilchen bis in die Stratosphäre geschleudert und können dort monate- oder jahrelang verbleiben, bevor sie wieder auf den Erdboden sinken. Über Ausmaß und Intensität des radioaktiven Niederschlags entscheiden verschiedene Faktoren, deren wichtigster die Wetterlage ist. Bei unsteten oder umlaufenden Winden in unterschiedlichen Höhen nimmt das Gebiet radioaktiven Niederschlags sehr komplexe Formen an, möglicherweise mit Stellen hoher Konzentration (hot spots) und strahlungsfreien Bereichen, so dass es in der Regel unmöglich ist, eine verlässliche Vorhersage über das Niederschlagsgebiet zu erstellen. Auch kann bei Regen oder Schnee eine Luftdetonation unter den Wolken, die bei klarem Wetter einen unerheblichen radioaktiven Niederschlag verursacht hätte, zu einem beträchtlichen nicht vorhersehbaren lokalen Niederschlag führen, weil die radioaktiven Teilchen durch den Regen oder Schnee konzentriert zu Boden fallen.

IAEO:

Die Internationale Atomenergieorganisation hat ihren Sitz in Wien. Sie wurde 1957 mit dem Ziel gegründet, den „Beitrag der Kernenergie zu Frieden, Gesundheit und Wohlstand in der Welt“ zu erhöhen. Gleichzeitig soll sie verhindern, dass die bei der Nutzung von Nukleartechnologie gewährte Unterstützung militärisch genutzt werden kann. Entsprechend dieser Zielsetzung lassen sich die Aufgabenbereiche in die Förderung der Anwendung der Kernenergie, Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit und Sicherungsmaßnahmen zur Verhinderung der Abzweigung spaltbaren Materials unterteilen. Der IAEO gehören derzeit 134 Mitgliedstaaten an. Oberste beschlussfassende Organe sind die Generalkonferenz und der Gouverneursrat mit 35 Staaten.

Konventionelle/nicht-konventionelle Waffen:

Kriegswaffen werden nach Massenvernichtungswaffen und konventionellen Waffen unterschieden. Nicht-konventionell sind atomare, biologische, chemische (ABC-) und radiologische Waffen. Bei letzteren kommt es nicht zur Kernspaltung; statt dessen werden radioaktive Materialien freigesetzt und in der Umwelt verteilt (»schmutzige Bombe«). Zu den konventionellen Waffen gehören alle Handfeuerwaffen, Panzer- und Panzerabwehrwaffen, Raketen- und Raketenabwehrsysteme, Flugabwehrwaffen, Artilleriegeschütze, Bewaffnung von Kriegsschiffen, Bewaffnung von Flugzeugen, Munition, Bomben, Minen und pyrotechnische Kriegsmittel. Mit dem am 19. November 1990 auf dem KSZE-Gipfel in Paris unterzeichneten Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-I-Vertrag) wurden erstmals drastische Reduzierungen bei den konventionellen Waffen (Panzer, Artillerie, Kampfflugzeuge) zwischen Atlantik und Ural festgelegt. Darüber hinaus gibt es Vereinbarungen zur Ächtung besonders grausamer Waffen, beispielsweise das Protokoll II zum Übereinkommen von 1980 über konventionelle Waffen. Es regelt den Einsatz von Anti-Personenminen, Sprengfallen und ähnlichen Vorrichtungen.

Miniatomwaffe (mini nuke):

Eine Atomwaffe mit einer Sprengkraft unter fünf Kilotonnen. (Zum Vergleich: Die Bombe von Hiroshima hatte 13 Kilotonnen). Die Forschung an kleinen, technisch hochentwickelten Atomwaffen hat in den USA begonnen, nachdem ein zehn Jahre bestehendes Verbot der Entwicklung von Miniatomwaffen aufgehoben wurde. Es gibt im US-Arsenal bereits Bomben, die als Mini Nukes einsetzbar sind. Die »Atomwaffen-Familie« B-61 kann mit einer Sprengkraft von 0,3 bis zu 340 Kilotonnen konfiguriert werden.

Nichtverbreitungsvertrag (NVV):

Auch als Atomwaffensperrvertrag bekannt; 1968 vereinbart und 1970 in Kraft getreten. Der Vertrag schreibt fest, dass ausschließlich China, Frankreich, Großbritannien, die Sowjetunion (bzw. später Russland) und die USA Atomwaffen entwickeln und besitzen dürfen. Die Atomwaffenstaaten verpflichten sich in Artikel VI zur Abrüstung ihrer Atomwaffen. Die mehr als 180 Nicht-Atomwaffenstaaten, die dem Vertrag beigetreten sind, verzichten auf Atomwaffen (Artikel II), bekommen im Gegenzug aber Nuklearmaterialien, wissenschaftliches Know-How und Technologien zur Nutzung der Atomenergie für zivile Zwecke (Energie, Medizin, Forschung) zur Verfügung gestellt (Artikel IV). Die Vertragsumsetzung wird alle fünf Jahre überprüft. Die Überprüfungskonferenzen werden jeweils in den drei Jahren zuvor auf speziellen Treffen vorbereitet. 1995 wurde der Vertrag auf unbefristete Zeit verlängert.

Nukleare Teilhabe der NATO:

Die nukleare Teilhabe in der NATO besteht aus zwei Komponenten: Zum einen der technischen Teilhabe, mittels derer Piloten und Flugzeuge der nicht-nuklearen NATO-Staaten im Kriegsfall US-Atomwaffen einsetzen können und dies im Frieden üben. Zum anderen aus der politischen Teilhabe, d.h. dem Recht, über Nuklearstrategie, Nuklearwaffenstationierung und Nuklearwaffeneinsatzplanung in der NATO mitdiskutieren zu können.

Nuklearwaffenkonvention (NWK):

Die Etablierung einer atomwaffenfreien Welt erfordert einen internationalen Vertrag, der eine bindende und dauerhafte Struktur vorgibt. Eine solche NWK muss eine zeitlich unbegrenzte Gültigkeit haben. Damit alle Staaten der Welt dauerhaft einen Status als Nicht-Atomwaffenstaat bekommen und beibehalten, müsste eine NWK unter anderem folgendes vorsehen: Beendigung der Kernwaffenproduktion, Auflösung der vorhandenen Arsenale, Verbot jeglicher Wiederbeschaffung, Verbot jeglicher Kernwaffenforschung, Errichtung eines wirksamen internationalen Kontrollsystems. Eine NWK muss ferner die Rechte und Pflichten ihrer Mitgliedsländer festlegen, mögliche Verletzungen des Vertrages definieren sowie daraufhin erfolgende internationale Reaktionen festschreiben.

Proliferation:

Die Weitergabe von atomaren, biologischen und chemischen Waffen (ABC-Waffen) bzw. deren Trägersystemen sowie die Mittel und das Know-how zu deren Herstellung an andere Länder.

Sprengkraft:

Die Explosionsenergie einer Bombe (Detonationswert) wird in den Maßeinheiten Kilotonne (KT) und Megatonne (MT) angegeben. Diese Maßeinheiten bezeichnen die Energie, die von 1.000 bzw. 1 Million Tonnen TNT (Sprengstoff Trinitrotoluol) freigesetzt wird. Die über Hiroshima abgeworfene Atombombe hatte eine Sprengkraft von 13 KT. Die Nagasaki-Bombe hatte eine Sprengkraft von 22 KT. (Anmerkung: 200 Gramm TNT reichen aus, um einen Menschen zu töten!)

Strategische, taktische Waffen:

Strategische Atomwaffen sind für den Einsatz in großer Reichweite vorgesehen. Trägersysteme für strategische Einsätze sind Interkontinentalraketen, Langstreckenbomber und U-Boote. Die Zahl der strategischen Atomwaffen, die tatsächlich eingesetzt werden können, hängt von der Art und Anzahl der Trägersysteme ab. Taktische Atomwaffen sind Kernwaffensysteme, die auf Grund ihrer Reichweite, ihres Detonationswertes und der Art ihrer Stationierung für einen Einsatz gegen militärische Ziele auf einem begrenzten Gefechtsfeld eingesetzt werden können. Solche Waffen sind Artilleriegeschosse, bodengestützte mobile Raketen und Flugkörper, von Flugzeugen eingesetzte Bomben, Raketen und Flugkörper und atomare Bodensprengkörper. Die Seestreitkräfte verfügen in diesem Segment über U-Boot gestützte Marschflugkörper oder U-Boot-gestützte ballistische Raketen, Torpedos und U-Boot-gestützte Kurzstreckenraketen für die U-Boot-Abwehr. Die landgestützten Systeme haben Reichweiten von 15 km (Artillerie) bis zu mehreren 100 km (schwere Raketen).

Trägersysteme:

Bezeichnet die Transportmittel für (Kern-) Waffen.

Umfassender Teststoppvertrag:

Bereits in den 1960er Jahren wurden vertraglich Atomtests unter Wasser, in der Atmosphäre und im Weltraum verboten. Der Umfassende Teststoppvertrag von 1996 verbietet auch unterirdische Tests. Bislang haben 170 Staaten unterzeichnet (zuletzt Libyen). Allerdings bestehen Zweifel, ob der Vertrag jemals in Kraft tritt, da zuerst alle 44 Staaten, die Atomenergie nutzen – und somit auch Atomwaffen herstellen könnten – beitreten müssen. Nicht unterzeichnet haben Indien, Pakistan und Nordkorea. Noch nicht ratifiziert haben USA, China und Israel.

Urananreicherung:

Die Urananreicherung erfolgt derzeit großtechnisch mit den Verfahren der Gasdiffusion und der Gaszentrifuge. Die Gasdiffusion hat einen relativ geringen Trennfaktor, was bei der Anreicherung von Reaktorbrennstoff ca. 1.400 Anreicherungsstufen, entsprechend große Anlagen und einen großen Energieverbrauch zur Folge hat. Das Gaszentrifugenverfahren benötigt demgegenüber nur 10 Anreicherungsstufen, dafür ist der Materialdurchsatz relativ gering. Mit beiden Verfahren kann eine Anreicherung auf hohe Uran-235-Konzentrationen erzielt werden, wie sie für den Bau von Kernwaffen erforderlich sind.

Verifikation:

Eine wichtige Voraussetzung für die Kontrolle und den Abbau von Kernwaffen ist die Verfügbarkeit von geeigneten Mitteln, mit denen überprüft (verifiziert) werden kann, ob sich die Staaten an die zu diesem Zweck getroffenen Vereinbarungen halten. So überwacht die IAEO beispielsweise, dass kein spaltbares Material aus der friedlichen Nutzung zu militärischen Zwecken abgezweigt werden kann.

Zusatzprotokoll:

Das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag wurde 1997 von der IAEO beschlossen. Es ergänzt den Nichtverbreitungsvertrag von 1968. Es bietet mehr Kontrollmöglichkeiten (z.B. unangemeldete Kontrollen), die notwendig wurden aufgrund der Erfahrungen mit den Atomrüstungsplänen des Irak nach dem Golfkrieg 1991. Mehr als 80 Länder haben das Zusatzprotokoll unterzeichnet. Nach internationalem Druck und nach einem Ultimatum seitens der IAEO hat auch der Iran im Dezember 2003 das Zusatzprotokoll unterzeichnet.

Dr. Lothar Liebsch, Oberstleutnant a.D., Sprecher des »Arbeitskreises Darmstädter Signal«

Anmerkungen

Sternstein, Wolfgang: Auf dem Weg in den Unrechtsstaat? Zur deutschen Atomwaffenpolitik und -rechtsprechung

1) Siehe IALANA (Hrsg.) (1997): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Münster, Lit-Verlag.

2) Vgl. Rotblat, J.: Es wächst die Gefahr, dass ein neues nukleares Wettrüsten beginnt. Frankfurter Rundschau, 6. August 2003, S. 7.

3) Siehe z.B. IPPNW, IALANA, INESAP (Hrsg.) (2000): Sicherheit und Überleben. Argumente für eine Nuklearwaffenkonvention. Berlin, IPPNW.

4) Schweitzer, A. (1982): Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten. München, Beck, S 132.

5) Siehe Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BverfGE) 66, 39-65; 68, 1-111; 77, 170-240; 100, 209-214.

6) Zitiert nach IALANA, op.cit., S. 9.

7) Abgedruckt in IALANA, op.cit., S. 145-279.

8) Ibid, S. 10.

9) Butler, L.: Zwölf Minuten, um über das Schicksal der Menschheit zu entscheiden. Frankfurter Rundschau, 1. September 1999, S. 9; vgl. auch Butler, L.: Wir handelten wie Betrunkene. Der Spiegel, 3. August 1998, S. 138-141.

10) Zur Richtervorlage vgl. Sternstein, W. u.a. (1998): Atomwaffen abschaffen! Idstein/Ts., Meinhardt, S. 87ff.; zur Abweisung der Richtervorlage s. BverfGE 100, 209-214.

11) Vgl. IALANA, op.cit., S. 6.

12) Vgl. Pflüger, T. (2003): Eine Militärverfassung für die Europäische Union oder Auch die EU ist auf Kriegskurs. IMI-Analyse 2003/036. Verfügbar unter: www.imi-online.de

13) Sinngemäß wiedergegeben nach einem Vortrag von Philip Berrigan in Stuttgart im Frühjahr 1983.

14) In Schweitzer, A. (1961): Menschlichkeit und Friede. Berlin, Berliner Verlagsanstalt-Union, S. 172.

15) Forsa-Umfrage vom 2. Juni 1998 im Auftrag der Internationalen Ärzte zur Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW).

Schlupp-Hauck, Wolfgang: … auf keinem Auge blind! Atomwaffenfrei bis 2020

1) Mit diesem Gedanken leiten Uwe Painke und Andreas Quartier, zwei Aktivisten der Atomteststoppkampagne, ihr Buch über das Bürgerengagement auf dem Weg zur nuklearen Abrüstung ein. Uwe Painke und Andreas Quartier: Gewaltfrei für den Atomteststopp, Tübingen, 2002, Books on Demand, ISBN 3-8311-2292-X.

2) Das Projekt Weltgerichtshof wurde in Genf von den Organisationen Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), International Peace Bureau (IPB) und International Association Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) gestartet.

US-Atomwaffen für das 21. Jahrhundert

Complex 2030:

US-Atomwaffen für das 21. Jahrhundert

von Jacqueline Cabasso

Unter dem Namen »Complex 2030« fassen die beteiligten Ministerien der Vereinigten Staaten – das für alle Nuklearangelegenheiten zuständige Energieministerium, vertreten durch die ihm untergeordnete National Nuclear Security Administration (NNSA),1 sowie das Verteidigungsministerium – ihre Pläne für eine Runderneuerung des Nuklearwaffenkomplexes bis zum Jahr 2030 zusammen. Fester Bestandteil des Planungszenarios ist der komplette Austausch des bestehenden US-Atomwaffenarsenals durch den so genannten Reliable Replacement Warhead (RRW, zuverlässiger Austausch-Sprengkopf). Wird das Projekt realisiert, so belaufen sich die Kosten in den nächsten 25 Jahren auf mehr als 150 Milliarden US$, legen sich die Vereinigten Staaten auf die Aufrechterhaltung eines Nuklearwaffenarsenals auf unabsehbare Zeit fest und verletzt die Regierung ihre Verpflichtungen aus Artikel VI des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags „zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft“ beizutragen und „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen“ über die vollständige Abrüstung ihres Atomwaffenarsenals.2

Im neuen »Strategic Plan« erläutert das US-Energieministerium, dass die Behörde „eine reiche und vielseitige Geschichte hat, deren Wurzeln bis zum Manhattan Project und dem Wettrennen um die Entwicklung der Atombombe im Zweiten Weltkrieg zurückreichen.“ 3 Im Los Alamos National Laboratory (LANL) in Neu Mexiko, speziell für das Manhattan Project gegründet, wurden die ersten Atombomben gebaut. 1952 wurde ein Konkurrenzlabor aufgebaut, das Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) in Kalifornien. Hier entstand die Wasserstoffbombe, ein Bombentyp mit der vielfachen Sprengkraft der beiden US-Atombomben, die 1945 Hiroshima und Nagasaki zerstörten. Heute sind die beiden Nuklearlaboratorien in ein ganz neues Wettrüsten verwickelt: Sie arbeiten an konkurrierenden Entwürfen für einen Sprengkopf, der die 100 Kilotonnen-Bombe W76 ersetzen soll; von diesem Bombentyp werden zur Zeit etwa 1.600 Stück auf U-Boot-gestützten Trident-Raketen einsatzbereit gehalten.4 Die NNSA wird bald eine Entscheidung für einen der beiden Entwürfe treffen und damit die nächste Programmphase einläuten.

Kürzlich wurde die Tabelle »Stockpile Transformation« (Transformation des Arsenals) aus dem Verteidigungsministerium bekannt, die einen Zeitplan für die künftige Gestaltung des Atomwaffenarsenals vorgibt. Für 2010 bis 2020 ist vorgesehen, dass die USA „Sprengköpfe für die nächste Generation Trägersysteme entwickeln.“ 5 Zur Langzeitvision der Tabelle, die bis zum Jahr 2030+ reicht, gehören 2-4 RRW-Typen.

(Neue) Atomwaffen bis an das Ende aller Zeiten

Bei einer Anhörung im Kongress prahlte im April 2006 der stellvertretende NNSA-Direktor für Verteidigungsprogramme, Thomas D’Agostino: „Wir haben mit dem RRW bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Vergangenes Jahr starteten das Verteidigungs- und das Energieministerium einen gemeinsamen RRW-Wettbewerb, in dem zwei unabhängige Entwicklerteams unserer Nuklearwaffenlaboratorien… die Optionen für den RRW erkunden. Einen solchen Wettbewerb hat es seit mehr als 20 Jahren nicht gegeben, und er bietet die einmalige Chance, die nächste Generation Atomwaffenentwickler und -ingenieure auszubilden. Beide Teams sind zuversichtlich, dass ihre Entwürfe den Vorgaben entsprechen und ohne Nukleartests zertifiziert und gefertigt werden können. Das Programm liegt im Terminplan, die Vorentwürfe liegen demnächst vor. In einem intensiven, gründlichen Peer Review werden dann die Entwürfe begutachtet und die Option ausgewählt, die für die ingenieurmäßige Entwicklung am besten geeignet ist.“6

Bei der Anhörung begründete D’Agustino, warum das Szenario von Complex 2030 Unterstützung verdient. Den Plan, der im April 2006 zum ersten Mal öffentlich vorgestellt wurde, beschreibt die NNSA wie folgt: „Der Zukunftspfad der NNSA liegt im Aufbau eines kleineren, effizienteren Nuklearwaffenkomplexes, der sich an die veränderlichen nationalen und globalen Sicherheitsprobleme anpassen kann.“7 Das RRW-Programm wird als Kernelement von Complex 2030 bezeichnet, „um die langfristige Zuverlässigkeit und Sicherheit des Atomwaffenarsenals sicher zu stellen und eine reaktivere Unterstützungsstruktur zu ermöglichen und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit zu senken, dass die Vereinigten Staaten jemals wieder unterirdische Tests durchführen müssen.“8

Die NNSA behauptet zwar, dass „der RRW keine neue Waffe mit neuen oder anderen militärischen Fähigkeiten bzw. Einsatzoptionen ist“,9 NNSA-Chef Linton Brooks hat aber immer offen zugegeben, dass Tests auch weiterhin nicht ganz vom Tisch seien: „Im Jahr 2030 kann unsere Reaktive Infrastruktur je nach Bedarf auch Waffen mit anderen oder modifizierten militärischen Anforderungen fertigen. Die Waffenentwickler-Community, die durch das RRW-Programm neu belebt wurde, kann eine vorhandene Waffe innerhalb von 18 Monaten modifizieren. Die Entwickler können innerhalb von 3-4 Jahren nach Erteilung eines entsprechenden Auftrags einen neuen Waffentyp konzipieren, entwickeln und in Fertigung geben… Wenn der Kongress und der Präsident entsprechend verfügen, können wir rasch auf veränderliche militärische Anforderungen reagieren.“10

Die NNSA sieht die Sache so: „Ist erst einmal der Nachweis erfolgt, dass die Fertigung von Austauschsprengköpfen in dem Zeithorizont möglich ist, in dem neue geopolitische Gefahren heraufziehen könnten, oder wenn der Nuklearwaffenkomplex zeitnah auf technische Probleme im Arsenal reagieren kann, dann können wir auch die Anzahl nicht-stationierter Sprengköpfe weiter verringern.“11 Diese Zielvorgabe macht den Anspruch, Atomwaffen schrittweise weiter abzurüsten, ganz offensichtlich zu Makulatur.

Der NNSA-Chef erklärte die Funktion der »reaktiven Infrastruktur« genauer: „Der momentane Atomwaffenkomplex wurde in den 1950ern und ’60ern für den Kalten Krieg aufgebaut. Wenn wir diese Infrastruktur nicht verbessern, kann sie den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht gerecht werden. Im Nuclear Posture Review12 [Überprüfung des Nuklearwaffendispositivs] von 2001 wurde ausgeführt, dass wir uns auf ein kleineres nukleares Abschreckungspotential zu bewegen, das leistungsfähiger ist und besser geeignet, auf die veränderliche Anforderungen zu reagieren. Unser Plan Complex 2030… bringt die NNSA auf einen Weg, der es uns ermöglicht, diese notwendigen nationalen Sicherheitsziele zu erreichen… Kurzum, ich sehe eine zukünftige Welt, in der ein kleineres, sichereres, verlässlicheres und zuverlässigeres Arsenal untermauert wird durch robuste industrielle und Entwicklungskapazitäten, mit denen wir besser auf veränderliche technische, geopolitische oder militärische Anforderungen reagieren können.“13

Bestandsicherung – ein Erbe aus der Ära Clinton

Unter Verweis auf die Zusage, die die Vereinigten Staaten bei der unbeschränkten Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages im Frühling 1995 machten, gab Präsident Clinton im August desselben Jahres bekannt, dass er den Abschluss eines umfassenden Teststoppvertrages bis 1996 befürworte, um „die Gefahr einer Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verringern“.14 Gleichzeitig erklärte er die Absicht der USA, „im Rahmen unserer nationalen Sicherheitsstrategie“ die „strategischen Nuklearstreitkräfte aufrecht zu erhalten… In diesem Zusammenhang,“ sagte er, „ist die Aufrechterhaltung eines sicheren und zuverlässigen Atomwaffenarsenals im übergeordneten nationalen Interesse der Vereinigten Staaten.“ Clinton befürwortete energisch das Science Based Stockpile Stewardship-Programm der Nuklearwaffenlaboratorien (wissenschaftliches Bestandsicherungsprogramm) zur Aufrechterhaltung des »nuklearen Abschreckungspotentials« ohne weitere Atomwaffentests.

Etwa zehn Jahre später, im Oktober 2006, ließ die NNSA verlauten, sie plane eine Umweltverträglichkeitsstudie für Complex 2030 als Ergänzung zu der Umweltverträglichkeitsstudie, die 1996 bereits für das Stopckpile Stewardship-Programm erstellt worden war. Das Umweltschutzgesetz der USA schreibt vor, das in der Startphase einer Umweltverträglichkeitsprüfung die Öffentlichkeit zum Umfang (scope) der Studie angehört wird und dass bei der Prüfung »angemessene Alternativen« zu berücksichtigen sind. Folglich finden im Winter 2006/7 in Dutzenden von Gemeinden, die in der Nähe von Nuklearwaffenanlagen liegen, sowie in Washington D.C. sogenannte scoping meetings statt. Laut der Notice of Intent (Absichtserklärung), die im US-amerikanischen Bundesgesetzblatt abgedruckt wurde, soll die Umweltverträglichkeitsstudie „analysieren, wie sich die anhaltende Transformation des Nuklearwaffenkomplexes der USA auf die Umwelt auswirkt, wenn die Vision der NNSA für den Komplex bis zum Jahr 2030 … bzw. Alternativen umgesetzt würden.“15 Zum Planungsszenario von Complex 2030 gehören u.a. vier langfristig ausgelegte Strategieelemente, die diese Version so buchstabieren:

„(1) In Partnerschaft mit dem Verteidigungsministerium das Nuklearwaffenarsenal transformieren durch Entwicklung von Reliable Replacement Warheads, Überholung einer begrenzten Anzahl vorhandener Waffentypen und beschleunigte Demontage des Arsenals aus dem Kalten Krieg;

(2) Transformation zu einem modernisierten, kosteneffektiven Nuklearwaffenkomplex durchführen;

(3) einen vollständig integrierten und interdependenten Nuklearwaffenkomplex gestalten; und

(4) die wissenschaftliche und technologische Basis vorantreiben, die für nationale Sicherheit langfristig unabdingbar ist. Diese Strategien werden durch kurzfristige Maßnahmen ergänzt, um Vertrauen in den Transformationsprozess aufzubauen.“ 16

Und genau diese Aufgaben wurden auch schon mit Stockpile Stewardship angegangen. Der Haushaltsplan der NNSA für das Finanzjahr 200717 listet »Life Extension Programs« auf, also Programme zur Verlängerung der Lebenszeit von Sprengköpfen, um ein zuverlässiges Nuklearwaffenarsenal für die nächsten Jahrzehnte zu gewährleisten. Betroffen sind die Fliegerbombe B61,18 der Sprengkörper W76 für U-Boot-gestützte Raketen und der Atomsprengkopf W80 für Marschflugkörper.19

Bei der Aufstellung des Haushalts orientierte sich die NNSA am Nuclear Posture Review von 2001. Als Teile des geheimen Dokuments im Frühjahr 2002 über die New York Times an die Öffentlichkeit drangen, taten Rüstungskontrollexperten die dort aufgelisteten Vorhaben noch als »Wunschzettel« ab. Jetzt aber ist der Aufbau einer „Nuklearwaffeninfrastruktur, die sich an künftige Anforderungen anpassen kann“, erklärtes Ziel – diese Formulierung wird im Haushaltsplan 2007 wie in Complex 2030 verwendet – und im Budget werden die Mittel für das RRW-Programm erhöht. Das RRW-Programm sieht die Neuentwicklung von buchstäblich jeder einzelnen Sprengkopfkomponente vor, wahrscheinlich auch des »physics package«, also der Plutoniumhohlkugel (Plutoniumkern). Es ist nicht geplant, die neuen Nuklearsprengköpfe zu testen; um aber für alle Fälle gerüstet zu sein, sieht das Budget Mittel für die Betriebsbereitschaft des Atomtestgeländes in der Wüste von Nevada vor.

Überdies sind in den Haushalt Gelder eingestellt, um bis 2007 den Nachweis zu erbringen, dass die USA weiterhin Tritium produzieren können. Tritium, ein radioaktives Wasserstoffisotop, ist das »H« in der H-Bombe. Und tatsächlich: Am 4. Dezember 2006 ließ die NNSA verlauten, dass in der Atomfabrik von Savannah River Site (South Carolina) eine neue Anlage zur Extraktion von Tritium „den Betrieb aufgenommen hat, so dass jetzt Tritium aus Targets gewonnen werden kann und eine nachhaltige Tritiumversorgung für das Nuklearwaffenarsenal der Nation sichergestellt ist.“20 Somit werden in den USA jetzt wieder Tritium und Plutoniumkerne gefertigt, nachdem aus Umwelt- und Gesundheitserwägungen die Produktion 1988 (Tritium) bzw. 1989 (Plutoniumkerne) eingestellt worden war.

Geht es wirklich um Plutoniumkerne?

Das Nuklearlabor von Los Alamos ließ im April 2003 verlauten, es habe zum ersten Mal seit 14 Jahren wieder einen Plutoniumkern gefertigt, der den Spezifikationen für das Arsenal der USA entspricht. Dabei handelte es sich um einen W88-Sprengkopf mit 475 Kilotonnen Sprengkraft21 für eine U-Boot-gestützte Tridentrakete, laut Presseerklärung ein „Eckpfeiler des nuklearen Abschreckungspotentials der USA.“22 Jetzt will die NNSA die Fertigungsrate von Los Alamos auf 30-40 neue Plutoniumkerne pro Jahr erhöhen. In ihrem Haushaltsplan für 2007 erklärt die NNSA, dass für die nächsten fünf Jahre Mittel vorgesehen sind, um „die Fertigungskapazität des LANL oder einer langfristigen Fertigungsanlage zu erhöhen.“ Daneben steigen die Mittel für die Fertigung und Zertifizierung von Plutoniumkernen im Livermore Lab.23 Dabei lagern in der Montage- und Demontageanlage Pantex in Texas nach wie vor mehr als 12.000 Plutoniumkerne aus demontierten Atomwaffen, die jederzeit wieder zum Einsatz kommen können.24

Das Labor von Los Alamos ist einer von fünf Standorten, die im Complex 2030 in Frage kommen als »konsolidiertes Plutoniumzentrum« für die längerfristige Forschung, Entwicklung, Kontrolle und Fertigung von Plutoniumkernen, wobei eine Kapazität von 125 »qualifizierten« Kernen pro Jahr angestrebt wird. Die Notice of Intent zur oben bereits erwähnten Umweltverträglichkeitsstudie sieht noch weitere Handlungsfelder vor, um die „Transformation zu einem modernisierten, kosteneffektiven Nuklearwaffenkomplex durchführen“ zu können, darunter die Konsolidierung redundanter Anlagen und Programme, um so die »Betriebseffektivität« von Tritiumforschung und -entwicklung ebenso zu verbessern wie Sprengstofftests und die Nuklearmateriallagerung. Zu den weiteren Prioritäten auf der Liste gehört die Suche nach Gelände für gemeinsame Flugtests, in denen „für vorhandene und künftige frei fallende Bomben die Hardware der NNSA und des Verteidigungsministeriums auf Schnittstellenkompatibilität gestestet wird“25 sowie für die beschleunigte Demontage nicht mehr benötigter Nuklearsprengköpfe. Mit anderen Worten: weniger, aber neuere Atomwaffen bis zum Ende aller Zeiten. Übrigens: Die »Alternative: Keine Aktion« der Umweltverträglichkeitsstudie sieht laut Notice of Intent „den Status Quo von heute vor und ist bereits in Planung.“ Auch bei einer negativen Beurteilung von Complex 2030 ist also kein Ende der Nuklearbewaffnung in Sicht.

Damit noch immer nicht genug. Das Pentagon und seine Subunternehmer drängen zusätzlich zur o.g. Runderneuerung der Nuklearwaffen auch auf die Entwicklung einer neuen Generation weitreichender Trägersysteme, wahlweise für konventionelle oder nukleare Bewaffnung. Solche Systeme, mit denen die USA vor allem ihre deutliche Überlegenheit bei der konventionellen Rüstung ausbauen wollen, könnten sich auf lange Sicht als noch gefährlicher erweisen als die beabsichtige Modernisierung nuklearer Sprengköpfe.26

Im November 2006 erregten die Ergebnisse einer Regierungsstudie zum Alterungsverhalten von Plutonium erhebliches Aufsehen. Die Studie wurde von Nuklearwissenschaftlern der Laboratorien von Livermore und Los Alamos durchgeführt und von der unabhängigen JASON-Gruppe überprüft und kam zu dem Schluss, dass Plutoniumkerne viel langsamer altern als gedacht. Die Experten fanden heraus, dass das Plutonium im Kernwaffenarsenal der USA bis zu 100 Jahre lang nutzbar sei – das ist mehr als doppelt so lange wie bisher angenommen. Einige Kritiker von Complex 2030 folgerten, damit sei „bewiesen“, dass die neuen Fertigungsanlagen und -konzepte für Plutoniumkerne „vollkommen unnötig“ seien.27 Ganz anders die demokratische Kongressabgeordnete des Wahlkreises vom Livermore Lab, für die das Alterungsverhalten von Plutonium nur ein Nebenaspekt ist, der die Entscheidung über das RRW-Programm nicht beeinflussen sollte. Letzteres beschrieb sie als „eine Gelegenheit zur Verjüngung des Komplexes“ und als Chance, die „cleversten Wissenschaftler der Welt“ an die Waffenlabors zu holen.28 Kaum überraschend also, dass die NNSA zwei Tage später bekannte, das RRW-Programm sei die beste Strategie „um das Nuklearwaffenarsenal der Nation auf lange Sicht ohne unterirdische Atomwaffentests aufrecht zu erhalten.“29

Die einzige sinnvolle Alternative: nukleare Abrüstung

Es wäre ein großer Irrtum, anzunehmen, dass das vorhandene Atomwaffenarsenal nicht »einsetzbar« sei. Ein Planungsdokument aus dem US-Verteidigungsministerium vom August 2006 belehrt uns da eines Besseren:

„Im Global Strike-Konzept30 tragen die Nuklearstreitkräfte der USA einzigartig und grundlegend zur Abschreckung bei… Atomwaffen bieten dem Präsidenten das ultimative Mittel, einen Konflikt innerhalb kürzester Zeit zu beenden, und zwar zu Bedingungen, die für die USA vorteilhaft sind… Atomwaffen drohen mit der Zerstörung der Anlagen, die für ihn den größten Stellenwert genießen, darunter seine Massenvernichtungswaffen, kritischen Industrieanlagen, Schlüsselrohstoffe sowie die Einrichtungen zur politischen Organisation und Kontrolle (einschließlich der gegnerischen Führerclique selbst). Dies schließt die Zerstörung solcher Ziele ein, die konventionellen Angriffen standhalten könnten, z.B. tief und hart verbunkerte Anlagen, Ziele mit ungenauen Positionsangaben, usw. Atomwaffen erschüttern das Vertrauen der gegnerischen Entscheidungsträger, dass sie die Kriegseskalation selbst kontrollieren könnten.“31

Die Aufrechterhaltung eines Nuklearwaffenarsenals für weitere hundert Jahre, sei es nun in der Form vorhandener oder neuer Waffen, vom einzigen Land, das bislang je Atomwaffen einsetzte, ist eine unannehmbare und ungesetzliche Alternative. Es ist höchste Zeit, dass wir uns von den Zwängen spitzfindiger technischer Argumente zur »Notwendigkeit« austauschbarer Atomsprengköpfe befreien und statt dessen die einzige vernünftige Alternative einfordern: nukleare Abrüstung. Die Vereinigten Staaten sollten gemäß ihrer Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag bis spätestens zum Jahr 2030 ihr vollständiges Atomwaffenarsenal beseitigen. Dazu sollten sie wie bei Vertragsbeitritt versprochen schleunigst Verhandlungen in Gang bringen „über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.“

Anmerkungen

1) Die National Nuclear Security Administration (NNSA) wurde im Jahr 2000 als neue Behörde im US-Energieministerium gegründet. Dies geschah als Reaktion auf das Mandat des US-Kongresses, „das Sicherheitsdispositiv im gesamten Nuklearwaffenprogramm neu zu beleben und das Bekenntnis der Nation zur Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckungsfähigkeiten der Vereinigten Staaten zu erneuern.“ Zitiert nach: Office of Defense Programs, National Nuclear Security Administration und U.S. Department of Energy, Complex 2030. An Infrastructure Planning Scenario for a Nuclear Weapons Complex Able to Meet the Threats of the 21st Century. »Getting the Job Done«, 23. Okt. 2006; www.complex2030peis.com/Complex%202030%20-%20October%2023%202006.pdf.

2) Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Atomwaffensperrvertrag) vom 1. Juli 1968, in Kraft getreten 1970; http://www.atomwaffena-z.info/pdf/NPT-Vertrag.pdf.

3) U.S. Department of Energy: Strategic Plan, 2. Okt. 2006, S.6; www.doe.gov/media/2006_DOE_Strategic_Plan.pdf.

4) Stephen I. Schwartz: Nukes: Betcha Can’t Make Just One!, 27. Juli 2006; www.defensetech.org/archives/002613.html.

5) Office of the Deputy Assistant to the Secretary of Defense for Nuclear Matters: Stockpile Transformation, undatiert; www.acq.osd.mil/ncbdp/nm/stockpiletransformation.html.

6) Thomas P. D’Agostino, Deputy Administrator for Defense Programs, National Nuclear Security Administration: Statement Before the House Armed Services Committee Subcommittee on Strategic Forces, 5. April 2006, S.9; www.nnsa.doe.gov/docs/congressional/2006/2006-04-05_HASC_Transformation_Hearing_Statement_(DAgostino).pdf. D.Ü.: Am 6. Jan. 2007 meldete die New York Times, dass US-Präsident Bush innerhalb weniger Tage seine Entscheidung bekannt geben werde, die vermutlich vorsieht, dass die jeweiligen Stärken der beiden Entwürfe zu einem gänzlich neuen Entwurf verarbeitet werden sollen.

7) Future of the Nuclear Weapons Complex, undatiert; www.nnsa.doe.gov/docs/Future_of_the_Nuclear_Weapons_Complex.pdf.

8) Ibid.

9) NNSA’s Reliable Replacement Warhead (RRW) Program; Modernizing the Nuclear Weapons Complex Today to Make it More Responsive to the Challenges of Tomorrow, Mai 2006; www.nnsa.doe.gov/docs/factsheets/2006/NA-06_FS03.pdf.

10) Ambassador Linton F. Brooks, Administrator, National Nuclear Security Administration: Speech to the East Tennessee Economic Council, 3. März 2006, S.4; www.nnsa.doe.gov/docs/speeches/2006/speech_Brooks_East-Tenn-Economic-Counil-03March06.pdf . D.Ü: Am 4. Jan. 2007 gab US-Energieminister Samuel Bodman bekannt, dass er Linton Brooks wegen schwerwiegender Sicherheitsmängel in Los Alamos zum Rücktritt aufgefordert habe. Nachfolger von Brooks wird Thomas D’Agostino.

11) NNSA’s Reliable Replacement Warhead (RRW) Program, op.cit. D.Ü.: Nicht stationierte Sprengköpfe im Arsenal zählen zur sog. Reserve.

12) D.Ü.: Der Nuclear Posture Review vom 31. Dezember 2001 unterliegt weiterhin der Geheimhaltung. Im März 2002 kamen aber wesentliche Teile des Dokuments über die New York Times an die Öffentlichkeit und sind seither im Internet zugänglich: www.globalsecurity.org/wmd/library/policy/dod/npr.htm.

13) Presseerklärung, 28. Juni 2006; www.nnsa.doe.gov/docs/newsreleases/2006/PR_2006-06-28_NA-06-20.htm.

14) The White House, Office of the Press Secretary: Statement by the President: Comprehensive Test Ban Treaty, 11. Aug. 1995.

15) U.S. Department of Energy: Notice of Intent to Prepare a Supplement to the Stockpile Stewardship and Management Programmatic Environmental Impact Statement – Complex 2030, Federal Register (Bundesgesetzblatt), Vol. 71, No. 202, 19. Okt. 2006, Notices, S.61731; www.complex2030peis.com/NOI%20Oct%2019%2006.pdf.

16) Complex 2030, op.cit., S.2.

17) Department of Energy: www.mbe.doe.gov/budget/07budget/Content/Volumes/Vol_1_NNSA.pdf.

18) D.Ü.: B61 ist der in Deutschland und anderen europäischen Ländern stationierte US-Atombombentyp.

19) Das »Stockpile Life Extension Program« dient der Verlängerung der Lebensdauer des bestehenden Atomwaffenarsenals der USA. Dazu werden potentielle technische Probleme identifiziert und behoben sowie in jeder Waffe bestimmte Komponenten ausgetauscht. Außerdem sollen vorhandene Waffen neue oder verbesserte Funktionalitäten erhalten. So wird z.B. ein Subsystem im Wiedereintrittskörper (Gehäuse) des Sprengkopftyps W76 so verändert, dass die Waffe mit einer »Bodenexplosion« auch »gehärtete Ziele« zerstören kann. Der W76 ist der erste Sprengkopftyp, der im Rahmen des RRW-Programms umkonstruiert wird. Am Ende sollen komplett neue Sprengkopfvarianten gefertigt werden.

20) Presseerklärung, 4. Dez. 2006; www.nnsa.doe.gov/docs/newsreleases/2006/PR_2006-12-04_NA-06-48.htm.

21) D.Ü.: Die Bombe von Hiroshima hatte etwa eine Sprengkraft von 13 Kilotonnen (das entspricht 13.000 Tonnen TNT-Sprengstoff.)

22) Los Alamos National Laboratory: Presseerklärung, 22. April 2003; www.lanl.gov/news/releases/archive/03-054.shtml.

23) Alliance for Nuclear Accountability: Fact Sheet, 2006; www.ananuclear.org/dc_days06/PitProduction2006.pdf.

24) Robert S. Norris und Hans M. Kristensen: Global nuclear stockpiles, 1945-2006, Bulletin of the Atomic Scientists, Juli/August 2006 (vol. 62, no. 4), S.64-66; www.thebulletin.org/article_nn.php?art_ofn=ja06norris.

25) Joint Flight Test Program, Nov. 2006; www.complex2030peis.com/Flight%20Test%20Program.pdf.

26) Eine ausführliche Analyse der neuen Entwicklungen bei US-Trägersystemen und deren Konsequenzen siehe in: Andrew M. Lichterman: Missiles of Empire: America’s 21<^>st<^*> Century Global Legions, Western States Legal Foundation, Information Bulletin, Herbst 2003; www.wslfweb.org/docs/missiles03.pdf.

27) So argumentierte z.B. der AP-Korrespondent H. Josef Hebert: Study: Warhead plutonium long-lasting, 29. Nov. 2006; www.sfgate.com/cgi-bin/article.cgi?f=/n/a/2006/11/29/national/w161905S84.DTL.

28) Ian Hoffman: Report: Nukes not so rusty. Oakland Tribune, 29. Nov. 2006; www.insidebayarea.com/search/ci_4738283.

29) Presseerklärung, 1. Dez. 2006; www.nnsa.doe.gov/docs/newsreleases/2006/PR_2006-12-01_NA-06-47.pdf.

30) D.Ü.: »Global Strike« ist ein US-Konzept, das die Möglichkeit vorsieht, innerhalb kürzester Zeit (etwa 30 Minuten) jeden Punkt auf der Erde angreifen zu können, u.a. mit unterschiedlichen Waffensystemen (Bomber, Raketen oder eine Art Weltraumflugzeug mit nuklearen, konventionellen oder auf anderen Wirkungsprinzipien basierenden Waffensystemen), Cyber-Operationen oder Sondereinsatzkommandos.

31) www.dtic.mil/futurejointwarfare/concepts/do_joc_v20.doc.

Jacqueline Cabasso ist Geschäftsführerin der Western States Legal Foundation in Kalifornien. Übersetzung – einschließlich der Zitate: Regina Hagen.

Das Lichtschwert ist einsatzbereit

Das Lichtschwert ist einsatzbereit

Die Weltraumbewaffnung durch die USA rückt näher

von Theresa Hitchens

Die Regierung von US-Präsident George W. Bush lancierte eine lange erwartete Direktive zur Nationalen Weltraumpolitik im Oktober 2006 in die Öffentlichkeit. Der Text provozierte rund um den Globus kritische Kommentare. Die traditionellen Verbündeten Washingtons allerdings nahmen die Doktrin, die unstrittig eine unilateralere und militaristischere Sicht auf den Weltraum erkennen lässt, weitestgehend mit Schweigen zur Kenntnis. Diese Diskrepanz hat sowohl mit der Sprachwahl der Direktive selbst zu tun sowie mit den politischen und finanziellen Realitäten, vor denen die Möchtegern-Weltraumkrieger in den USA stehen. Wenn wir beim Lesen des Dokuments das politische Umfeld mit berücksichtigen, vor allem andere politische und militärische Doktrinen der letzten sechs Jahre, dann gibt die neue Weltraumpolitik durchaus grünes Licht für die Entwicklung, Stationierung und Nutzung von Antisatelliten- und weltraumgestützten Waffen. Andererseits: Sie buchstabiert weder ausdrücklich eine Strategie zur Weltraumbewaffnung aus noch zeichnet sie einen unausweichlichen Weg der Vereinigten Staaten zum »Krieg der Sterne« vor.

Die neue Nationale Weltraumpolitik wurde von Präsident Bush zwar schon am 31. August 2006 unterzeichnet, aber erst am 6. Oktober freigegeben – nachmittags um 17 Uhr, am Freitag vor dem langen Wochenende zum Columbus-Tag. Es gab keine Presseerklärung und kein formelles Briefing, statt dessen wurde auf der Website des Office of Science and Technology Policy (Büro für Wissenschafts- und Technologiepolitik) des Weißen Hauses lediglich eine Zusammenfassung der Weltraumpolitik eingestellt, versehen mit dem Zusatz »unclassified« (unterliegt nicht der Geheimhaltung).1 Auch die Botschafter und andere offizielle Vertreter der Verbündeten in Washington wurden zuvor nicht über die neue Direktive informiert. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Public Relations-Maschinerie im Weißen Haus die Aufmerksamkeit für die neue Politik und ihre politische wie öffentliche Bedeutung bewusst klein hielt. Nach der Freigabe des Papiers und dem darauf folgenden Entrüstungssturm in den Medien im In- und Ausland startete die US-Regierung mit dem Verteidigungsministerium einen diplomatischen und Medienfeldzug, um die neue Weltraumpolitik herunterzuspielen: Sie sei doch nur die Fortsetzung der letzten Nationalen Weltraumpolitik, die auf die Regierung Clinton zurückgeht und von 1996 stammt.

Und tatsächlich finden sich viele Formulierungen aus der Direktive von Clinton auch in der neuen Version; insbesondere gleichen sich die Stellen, die sich auf kontrovers diskutierte Angriffe auf Satelliten beziehen. Bei einer genaueren Textanalyse fallen allerdings einige subtile aber relevante Unterschiede auf. In der Summe laufen die neuen Formulierungen auf eine deutlich unilateralistischere Vision der Rolle – insbesondere der militärischen Rolle – der USA im Weltraum hinaus. Die neue Doktrin betont den hohen Stellenwert von Weltraum und Weltraumtechnologien für die nationale Sicherheit der USA, und zwar eher im Sinne von »hard power« als von »soft power«. Dies ist eine Abkehr der Direktiven zur US-Weltraumpolitik, die seit Eisenhower erlassen wurden und »soft power« eher gleichrangig neben »hard power« stellten. So heißt es in der neuen Nationalen Weltraumpolitik der Regierung Bush z.B.: „In diesem neuen Jahrhundert genießen diejenigen, die den Weltraum wirksam nutzen, höheren Wohlstand und mehr Sicherheit und haben einen erheblichen Vorteil gegenüber denen, die darauf verzichten. Handlungsfreiheit im Weltraum ist für die Vereinigten Staaten so wichtig wie Luftmacht und Seemacht.“2

Während die neue Doktrin das »ungehinderte« Recht der USA auf Handlungsfreiheit im Weltraum postuliert, fallen die Pflichten der Vereinigten Staaten gegenüber anderen Raumfahrtnationen, die sich aus einer Reihe internationaler Übereinkünfte und Abkommen ergeben, einfach unter den Tisch. Unverkennbar misstrauen die Autoren internationalen Vereinbarungen und Initiativen, die kollektive Sicherheit im Weltraum anstreben. Das passt zur bekannten Abneigung der Bush-Regierung gegenüber völkerrechtlichen Abkommen. Die Doktrin erkennt zwar den Bedarf, mit anderen Ländern bei der Erdbeobachtung und Weltraumüberwachung3 (space surveillance) zusammenzuarbeiten, der Geist der Kooperation wird aber gleich wieder konterkariert durch die Aussage, dass die Spielregeln dafür von den USA vorgegeben werden. Und zu guter Letzt wird zwar betont, dass »öffentliche Diplomatie« nötig ist, um für die Positionen der USA zu werben, zugleich untergräbt die Sprachwahl aber jeglichen diplomatischen Ansatz, der eine Konsensfindung über gemeinsame Interessen der Raumfahrtnationen ermöglichen würde.

Beim Vergleich der Bush- mit der Clinton-Doktrin fällt der neue unilateralistische Tonfall z.B. an den Stellen auf, die sich mit dem Recht auf freien Zugang zum Weltraum befassen – einem Grundpfeiler des Weltraumvertrags von 1967, den die Vereinigten Staaten damals mitverhandelt hatten:

  • Nationale Weltraumpolitik unter Clinton: „Die Vereinigten Staaten vertreten die Ansicht, das die Weltraumsysteme sämtlicher Nationen nationales Eigentum sind mit dem Recht auf ungehinderten Zugang zum und Betrieb im Weltraum. Die absichtliche Behinderung von Weltraumsystemen wird als Verstoß gegen die Souveränitätsrechte angesehen.“4
  • Unter Bush lautet die Stelle so: „Die Vereinigten Staaten vertreten die Ansicht, dass Weltraumsysteme das Recht auf ungehinderten Zugang zum und Betrieb im Weltraum haben. In diesem Sinne betrachten die Vereinigten Staaten eine absichtliche Beeinträchtigung ihrer Weltraumsysteme als Verstoß gegen ihre Rechte.“

Aufschlussreich ist auch die Stelle, an der die Bush-Doktrin in direktem Gegensatz steht zur Clinton-Doktrin, die ausdrücklich für internationale Dialog, Zusammenarbeit und Vertragsverpflichtungen warb: „Die Vereinigten Staaten sind gegen die Entwicklung neuer Rechtsregime oder anderer Beschränkungen, die den Zugang zum oder die Nutzung des Weltraums durch die USA verbieten oder einschränken. Vorschläge für Rüstungskontrollabkommen oder -beschränkungen dürfen nicht das Recht der Vereinigten Staaten auf Forschung, Entwicklung, Erprobung und Betrieb oder andere Aktivitäten im Weltraum, die im nationalen Interesse der USA sind, einschränken.“

Das zentrale Leitmotiv der Doktrin – der Schutz des Rechts der USA auf Handlungsfreiheit im Weltraum – ist nicht neu; diese Stoßrichtung schwang schon in der Clinton-Doktrin mit. Beide Texte lassen sich so interpretieren, dass die Entwicklung von Antisatelliten- bzw. weltraumgestützten Waffen hingenommen würde. Allerdings muss man bei einer Nationalen Weltraumpolitik auch den Kontext mitberücksichtigen. Die Doktrin von 1996 befürwortete zwar eine Strategie der »Weltraumkontrolle« (space control), die Regierung Clinton war aber extrem skeptisch, ob offensive Weltraumwaffen strategisch klug seien. Entsprechend unterstützte die Clinton-Regierung keinesfalls aktiv Programme zur Entwicklung von Antisatellitenwaffen, obwohl ihre Weltraumdoktrin dies durchaus hergegeben hätte. Ganz im Gegenteil: Clinton strich etliche Forschungs- und Entwicklungsprogramme, die genau darauf abzielten. Während seiner Präsidentschaft beklagte die US Air Force in zahlreichen Planungsdokumenten, dass eine Strategie zur Weltraumkontrolle keine politische Unterstützung finde.5

Die Weltraumpolitik der Regierung Bush hingegen steht in einem völlig anderen Kontext: Sie komplettiert etliche andere Dokumente und öffentliche Verlautbarungen des Militärs, in denen die Weichen viel eindeutiger in Richtung Weltraumbewaffnung gestellt werden. So betont sowohl die »Joint Doctrine for Space Operations« des US-Generalstabs vom August 20026 als auch die «Counterspace Operations Doctrine« der US Air Force vom August 20047 die „Freiheit“ der Vereinigten Staaten „zum Angriff als auch die Freiheit vor einem Angriff“ im Weltraum und erhebt Anspruch auf „Gewaltanwendung“ (force application) aus dem Weltraum. Beide Dokumente beschreiben bestimmte Taktiken – einschließlich der Zerstörung von Satelliten in einer Erdumlaufbahn – für die offensive „Kontrolle des Weltraums“ (space control) und benennen als potentielle Ziele u.a. kommerzielle und staatliche Satelliten „von Drittländern“ (third party). In diesem Sinne äußerte sich auch John Mohanco, stellvertretender Direktor für multilaterale Nuklear- und Sicherheitsangelegenheiten im Außenministerium der USA, als er vor der UN-Abrüstungskonferenz in Genf referierte, dass die US-Regierung zum Schutz ihrer Satelliten „weltraum-bezogene Bewaffnung“ auch „weiterhin in Betracht zieht“. Und gemäß der üblichen juristischen Devise, dass alles erlaubt sei, was nicht ausdrücklich verboten ist, bleibt nur der Schluss übrig, dass die Nationale Weltraumpolitik der Regierung Bush in der Tat eine Strategie der Weltraumkriegsführung verfolgt.

Wie schon erwähnt stieß die neue Weltraumdoktrin in den internationalen Medien fast einhellig auf Kritik. Ihr aggressiver unilateralistischer Tonfall stieß genau so auf Missbilligung wie ihre manifeste Befürwortung von Weltraumwaffen. Offizielle Verlautbarungen aus anderen Ländern waren zwar dünn gesät, aber hinter den Kulissen zeigten sich Diplomaten aus Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und Großbritannien bestürzt und besorgt über die neue Haltung der USA. Die europäischen Länder befürchten, dass die kriegslüsterne Haltung der USA und die Betonung eines möglichen Einsatzes von militärischer Gewalt im Weltraum die Entwicklung und den Einsatz von Weltraumwaffen geradezu legitimieren – und das halten die Europäer für gefährlich.

Dabei sehen kritischen Experten innerhalb und außerhalb der Vereinigten Staaten durchaus, dass trotz der Feuer speienden Rhetorik der Bush-Regierung die Umsetzung einer Strategie der Weltraumkriegsführung aus politischen und finanziellen Gründen eher fraglich ist. So war der US-Kongress sogar unter republikanischer Führung immer recht zurückhaltend mit der Finanzierung von Technologien für Antisatelliten- und weltraumgestützte Waffen, einschließlich einer weltraumgestützten Raketenabwehr. Bei den Beratungen zum Verteidigungshaushalt 2007 strichen die Abgeordneten Gelder für einen Lasertest in der Versuchsanlage »Starfire Optical Range« der US Air Force, weil sie befürchteten, dass der Test zur Entwicklung eines bodengestützten Antisatelliten-Lasers beitragen könnte. Allerdings wurden die Gelder nach einer Blitzkampagne der Public Relations-Abteilung der US Air Force im Vermittlungsausschuss von Repräsentantenhaus und Senat wieder in den Haushalt eingestellt. Aber immerhin beschloss der Ausschuss, dass jegliche Ausgaben für eine weltraumgestützte Raketenabwehr so lange gesperrt bleiben, bis die zuständige Behörde, die Missile Defense Agency, die Kosten und potentiellen politischen Risiken detailliert auflistet. Da nach den Wahlen vom Herbst 2006 jetzt beide Kammern des US-Kongresses demokratisch kontrolliert werden und die Demokraten traditionell gegen die Bewaffnung des Weltraums sind, wird die Zurückhaltung im Kongress sicherlich anhalten.

Darüber hinaus gibt es kaum Anzeichen dafür, dass die Regierung Bush einen aggressiven Finanzierungsplan für die Entwicklung und Stationierung von Weltraumwaffen vorantreibt. Es wird zwar an entsprechenden Systemen geforscht, eine kritische Durchsicht des Haushaltsantrags des US-Verteidigungsministeriums für das Haushaltsjahr 2007 durch zwei Nicht-Regierungsorganisationen förderte aber lediglich 1 Milliarde US$ für entsprechende Forschungsprogramme zu Tage.8 Zweifellos wird Forschung zu Weltraumwaffen auch über geheime Programme abgewickelt. In Anbetracht der laufenden Technologieprogramme, die nicht der Geheimhaltung unterliegen, ist aber kaum anzunehmen, dass ein geheimes Crash-Programm in absehbarer Zukunft wirklich in neue Waffen münden könnte. Die von der US Air Force skizzierte Strategie zur Kriegsführung im Weltraum würde nämlich horrende Summen kosten. Außerdem dauert die Entwicklung neuer Waffen mindestens ein Jahrzehnt. Daher besteht kaum die Gefahr, dass die Vereinigten Staaten in nächster Zeit einen Shoot-out im Weltraum anzetteln werden.

Dennoch: Es ist kaum zu übersehen, dass die jetzige US-Regierung genau diesen gefährlichen Weg gerne beschreiten würde. Genau so wenig ist zu übersehen, dass andere Länder – vielleicht als defensive Reaktion auf die Vereinigten Staaten, vielleicht aber auch aus eigenen Erwägungen über den potentiellen taktischen Nutzen von Weltraumwaffen – selbst schon Versuche mit solchen Technologien unternommen haben, darunter zumindest China, Russland, Indien, Israel und Frankreich. Es findet zwar noch kein Wettrüsten im Weltraum statt, die Basis für so einen kräftezehrenden Wettlauf ist aber bereits gelegt. Daher müssen Entscheidungsträger und Weltraumexperten rund um den Erdball, die um die extreme Gefahr von Weltraumwaffen für die Weltraumnutzung wissen, ihre Stimme deutlicher als bisher erheben und noch emsiger daran arbeiten, einen richtigen »Krieg der Sterne« auch in Zukunft zu verhindern.

Anmerkungen

1) Unclassified – U.S. National Space Policy; ohne Herkunfts- und Datumsangabe; www.ostp.gov/html/US%20National%20Space%20Policy.pdf.

2) Übersetzung sämtlicher Zitate durch d.Ü.

3) d.Ü.: Weltraumüberwachung dient zur Beobachtung von Satellitenbahnen und Weltraumschrott sowie zur Frühwarnung vor Asteroiden auf Kollisionskurs mit der Erde.

4) The White House: National Science and Technology Council, Fact Sheet – National Space Policy, 19. September 1996; http://history.nasa.gov/appf2.pdf.

5) Beispielsweise in United States Space Command: Long Range Plan, April 1998; www.fas.org/spp/military/docops/usspac/lrp/toc.htm. Dieses Planungsdokument stellt fest, dass die Vereinigten Staaten zur Umsetzung einer robusten Weltraumkontrollstrategie „nationale politische Leitlinien entwickeln müssen, die die Kriegsführung im Weltraum, die Entwicklung und den Einsatz von Waffen sowie Einsatzregeln unterstützen…“ Die Schlussfolgerung daraus ist, dass solche Leitlinien bis dato nicht existierten. Überdies stellt der Plan klar, dass „die Vorstellung von Waffen im Weltraum momentan nicht durch die nationale Politik der USA abgedeckt ist.“

6) Joint Chiefs of Staff (US-Generalstab), Joint Doctrine for Space Operations: Joint Publication 3-14, 9. Aug. 2002; www.dtic.mil/doctrine/jel/new_pubs/jp3_14.pdf.

7) US Air Force, Counterspace Operations: Air Force Doctrine Document 2-2.1, 2. Aug. 2004; www.dtic.mil/doctrine/jel/service_pubs/afdd2_2_1.pdf.

8) Center for Defense Information und The Henry L. Stimson Center: Space Weapons Could Emerge From Pentagon Budget, 7. März 2006; http://www.cdi.org.

Theresa Hitchens ist Direktorin des Center for Defense Information, einem unabhängigen Think Tank in Washington D.C., und Verfasserin der Studie »Future Security in Space: Charting a Cooperative Course«. Übersetzt von Regina Hagen.

Soldaten im Labor

Soldaten im Labor

von Chris Langley

Im Januar 2005 stellte die britische Organisation Scientists for Global Responsibility (SGR) im britischen Unterhaus ihre neueste Studie vor. »Soldiers in the Laboratory. Military involvement in science and technology – and some alternatives« dokumentiert, welchen Einfluss das Militär in den vergangenen 15 Jahren auf die wissenschaftliche und technische Forschung in Großbritannien genommen hat. Gleichzeitig enthält sie Vorschläge, wie die entsprechenden Gelder im Sinne von Frieden, sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit sinnvoller eingesetzt werden können. Die englische Zusammenfassung, hier in deutscher Übersetzung dokumentiert, sowie der vollständige, 84-seitige Bericht können als PDF-Dateien abgerufen werden. (www.sgr.org.uk/downloads.html )

Militärtechnologien haben erheblich zur Gestaltung unserer heutigen Welt beigetragen. Die ökonomische und politische Dominanz der industrialisierten Staaten ist teilweise die direkte Folge von militärtechnischen Innovationen, zunächst in Europa, später auch in den Vereinigten Staaten. Es besteht vielfach ein enger Zusammenhang zwischen der Machtposition und dem Spektrum militärischer Aktivitäten einerseits und der Fachkompetenz von Wissenschaftlern, Ingenieuren und Technologen, die im militärischen Sektor beschäftigt sind oder von ihm finanziert werden, andererseits.

Dieser Berichts dokumentiert die Macht und den Einfluss des Militärs auf die Organisation und Ausrichtung von Wissenschaft, Ingenieurwesen und Technologie (WIT) im Großbritannien der letzten 15 Jahre. Die Ausführungen beschäftigen sich vor allem mit den Auswirkungen auf Forschung und Entwicklung (F&E). Wir stellten aber auch fest, dass sowohl die universitäre Lehre, bis hin zum Postgraduiertenstudium, als auch die öffentliche Einstellung auf verschiedenste Weise durch die militärische Mitwirkung an und Unterstützung von WIT beeinflusst werden.

Dieser Bericht geht auch der Frage nach, ob nicht eine gewisse Umverteilung von Ressourcen, die das Militär gegenwärtig für waffenrelevante WIT verwendet, mehr zu Frieden, sozialer Gerechtigkeit und Umweltverträglichkeit beitragen würde. In diesem Zusammenhang berücksichtigen wir die Diskussion um einen weiter gefassten Sicherheitsbegriff, der Maßnahmen zur Verhinderung von vielen drängenden Problemen mit einbezieht, wie etwa den Klimawandel und etliche armutsbezogene Themen, vor denen die Welt heute steht.

Es muss allerdings erwähnt werden, dass die Informationssammlung in manchen Bereichen erschwert wurde durch mangelnde Offenheit, die häufig nichts mit Sorge um die nationale Sicherheit zu tun hat.

Hintergrund: Die wissenschaftliche und die militärische Welt

In den letzten 15 Jahren wurde die Schaffung von Vermögen zur wichtigsten Triebfeder für Investitionen in WIT, wie am Beispiel der britischen 10-Jahres-Strategie für Wissenschafts- und Innovationsinvestitionen von 2004 deutlich wird. Dieses kommerzielle Programm führte zu zahlreichen Beteiligungen und Finanzierungsinitiativen im Bereich F&E, die ihrerseits die Richtung von und Prioritäten in der Forschung vorgeben. Dieses Programm wiederum untermauert die erhebliche Mitwirkung des militärischen Sektors.

In dieser Zeit gab es grundlegende globale Veränderungen in den Militär- und Sicherheitsfragen. Mit Beginn des »Kriegs gegen den Terrorismus« kam es zur Kehrtwende bei den militärischen Ausgaben, die nach dem Ende des Kalten Krieges zeitweilig zurückgegangen waren. Die globalen Militärausgaben beliefen sich im Jahr 2003 auf die gewaltige Summe von 956 Milliarden Dollar, von denen über 40% auf die USA entfielen. Großbritannien ist ebenfalls eine bedeutende Militärmacht und tätigt weltweit die drittgrößten Militärausgaben.

Das zunehmende Gewicht, das die wohlhabenderen Staaten auf High-Tech-Waffen legen, trägt zu einer eng gefassten Herangehensweise an Sicherheitsfragen bei. Momentan gibt das britische Verteidigungsministerium lediglich etwa 6% seines Budgets für Konfliktprävention aus. Gleichzeitig stellt sich zunehmend heraus, dass der internationale Waffenhandel zur Konfliktverschärfung beiträgt und Menschenrechtsprobleme sowie Armut verschlimmert.

Militärische Beteiligung an Wissenschaft, Ingenieurswesen und Technologie

Unsere Untersuchung förderte eine große Bandbreite von Informationen über die Beteiligung des Militärs an WIT zu Tage. Diese Beteiligung konzentriert sich auf ziemlich wenige Länder und ist in den USA am ausgeprägtesten. In der Europäischen Union beispielsweise entfielen im Jahr 2000 97% der gesamten Regierungsbudgets für Militärforschung auf Großbritannien, Frankreich, Spanien und Deutschland. Großbritannien ist weltweit der zweitgrößte Finanzier von militärischer WIT. In den Jahren 2003/2004 gab das britische Militär etwa 2,7 Milliarden Pfund (4 Milliarden Euro) für F&E aus, …das sind 30% des gesamten nationalen F&E-Budgets. 40% der Forscher und Entwickler im öffentlichen Dienst sind beim Verteidigungsministerium angestellt. Die Beschaffung moderner Militärtechnologien ist ebenfalls ein großer Posten der Staatsausgaben: Das Beschaffungsamt des britischen Verteidigungsministeriums gibt jährlich etwa 6 Milliarden Pfund (8,9 Mrd. Euro) für Rüstung aus.

Einige wenige Rüstungsfirmen üben in Großbritannien einen weitgehend unsichtbaren Einfluss auf die Regierung aus. Über ein komplexes Geflecht von Beratungsgremien und Lobbygruppen verfügen sie über eine gewichtige Stimme, wenn es um die Finanzierung und Gestaltung des Forschungsprogramms geht. Lockheed Martin und BAE-Systems – zwei der weltweit größten Rüstungsunternehmen – sind in den Waffenlaboratorien Großbritanniens und der Vereinigten Staaten gut vertreten. Sie unterstützen auch interdisziplinäre Arbeiten innerhalb der militärisch ausgerichteten WIT.

Zudem fördert der Rüstungssektor neue Technologien wie Weltraum- und Nanotechnologie und beeinflusst damit massiv die Richtung, in die die Entwicklung geht.

In den letzten Jahren schlossen Rüstungsfirmen und Universitäten etliche Millionen schwere Kooperationsabkommen. Die drei wichtigsten Initiativen sind Defence Technology Centres (Zentren für Rüstungstechnologie), Towers of Excellence (Exzellenztürme) und Defence and Aerospace Research Partnerships (Forschungspartnerschaften im Bereich Verteidigung und Luft- und Weltraumfahrt). Sie alle spiegeln einen engen technologischen Ansatz zur Lösung von Sicherheitsfragen wieder.

Wissenschaft und Technologie und eine breite globale Sicherheitsagenda

Die Welt steht heute vor zahlreichen sozialen und ökologischen Problemen, von denen sich viele auf die Sicherheit auswirken. Armut, mangelnder Zugang zu grundlegenden Ressourcen – wie sauberes Wasser und sanitäre Anlagen – und der globale Klimawandel sind dringliche Probleme. Zusätzlich kann der unhaltbare Ressourcenverbrauch der industrialisierten Länder zu einer ganzen Reihe internationaler Probleme beitragen, die bis zum bewaffneten Konflikt reichen.

Unsere Untersuchung zeigt, dass WIT-Programme zur Konfliktprävention, zur Armutsminderung und zum Umweltschutz häufig wenig Kosten aber eindeutige Vorteile bringen. Dennoch bekommen diese Bereiche lediglich einen Bruchteil des Budgets, das für militärische Technologien zur Verfügung gestellt wird. Initiativen für Abrüstung und Friedenskonsolidierung fallen in aller Regel auch viel kleiner aus. Ebenso verblassen die F&E-Budgets für erneuerbare Energietechnologien, die von zentraler Bedeutung sind, um die Gefahr des Klimawandels zu bewältigen, gegenüber den Budgets für die Entwicklung von Waffentechnologien.

Wichtigste Schlussfolgerungen

Aus dem Ergebnis der Untersuchungen für diesen Bericht über den militärischen Einfluss auf WIT ergeben sich sieben primäre Schlussfolgerungen. Diese können wie folgt zusammengefasst werden:

1. Der Rüstungssektor übt besonders in Großbritannien und den USA einen sehr großen und unproportionalen Einfluss auf Wissenschaft, Ingenieurswesen und Technologie aus: Das »besondere Verhältnis« zwischen Großbritannien und den USA (das weitgehend auf einem Vertrag aus dem Jahr 1958 basiert, der 2004 erneuert wurde) heizt die militärische F&E weiter an, mit erheblichen sozialen und ethischen Auswirkungen.

2. Das heutige militärische Denken basiert vorwiegend auf der Vorstellung, dass Sicherheit durch die Überlegenheit militärischer Macht gewährleistet wird, es marginalisiert breiter angelegte Sicherheitskonzepte, die auf sozialer Gerechtigkeit und Umweltverträglichkeit aufbauen. Dies hat Auswirkungen darauf, welche WIT-Bereiche vom Militär gefördert werden.

3. Die britische Regierungspolitik, die WIT über die letzten Jahrzehnte gestaltete, stellte kommerzielle Prioritäten in den Mittelpunkt, Rüstungsunternehmen hatten daran großen Anteil.

4. Militärischer und kommerzieller Druck beeinträchtigen die Offenheit und Rechenschaftspflicht von WIT, beispielsweise indem sie kommerzielle Vertraulichkeits- und nationale Sicherheitsargumente nutzen und überstrapazieren. Dies kann Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten über ethische Fragen von WIT im Keim ersticken. Generell ist die öffentliche Kontrolle von WIT in Großbritannien inklusive seiner Finanzierung und Ausrichtung äußerst schwach ausgeprägt.

5. Die militärische Förderung neuer Technologien, wie die Nanotechnologie, ist groß (insbesondere in den USA). Dies behindert die öffentliche Kontrolle dieser Technologien und verfälscht die öffentliche Wahrnehmung der potentiellen Nützlichkeit solcher Technologien.

6. Der Technologietransfer von militärisch geförderter F&E für die zivile Nutzung ist kompliziert, teurer und verläuft angesichts der enormen Summen, die dabei in Spiel sind, größtenteils enttäuschend.

7. Bereiche wie Friedenskonsolidierung und nachhaltige Entwicklung sind gegenwärtig unterfinanziert und würden erheblich von einer Ausweitung von WIT-Fachwissen profitieren, die durch die Umverteilung von Teilen des Militärbudgets finanziert werden könnte.

Weiter kommen wir zu acht zusätzlichen Schlussfolgerungen:

1. Die globale Sicherheit steht heute vor größeren Herausforderungen durch Terrorgruppen denn durch Nationalstaaten. Den daraus folgenden neuen Anforderungen wird durch Rückgriff der industrialisierten Länder auf Strategien und Technologien des Kalten Krieges (und die darauf ausgerichtete F&E) kaum Rechnung getragen.

2. Global gesehen können Militärausgaben für Beschaffungsvorhaben und F&E nicht nur Ressourcen von Programmen für Gesundheitsvorsorge oder Armutsverminderung u.ä. ableiten, sondern sie können auch weltweit zur Verbreitung von Waffen und Flüchtlingskrisen beitragen.

3. Der Sicherheitsbegriff muss breiter ausgelegt werden und globale Fragen wie Klimawandel, die Erschöpfung von Rohstoffen, den Verlust der Biodiversität und etliche Aspekte menschlicher Gesundheit in Betracht zieht. Eine Umverteilung der globalen Budgets für »Verteidigung« hin zu unterfinanzierten Bereichen (davon viele mit WIT-Bedarf) wie erneuerbare Energien und Abmilderung des Klimawandels würde erhebliche zur Entwicklung dieser Bereiche beitragen.

4. Die Entwicklung einer neuen Generation von Atomwaffen durch die Waffenlaboratorien der Vereinigten Staaten und vermutlich auch Großbritanniens führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Aushöhlung des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) und beeinträchtigt somit die Sicherheit. Atomwaffen schaffen ein Klima der Angst. Gleichzeitig senden sie ein starkes Signal an Staaten, die nicht über sie verfügen, dass der Besitz von Atomwaffen die Sicherheit erhöht. Zusätzlich wird durch neue so genannte Bunkerknacker, Atomwaffen mit niedriger Sprengkraft, wahrscheinlich die Trennlinie zwischen konventionellem und Atomkrieg verwischt.

5. Bereiche wie Weltraum- und Biowissenschaften wurden in den USA »militarisiert«. Dies hat die Priorität anderer Bereiche, wie etwa Forschung für billigere therapeutische Wirkstoffe, Energieeffizienz und Strategien zur dringenden Abmilderung des Klimawandels, beeinflusst und möglicherweise herabgesetzt. Diese Auswirkungen, die von den USA ausgehen, erstrecken sich aufgrund der zentralen Rolle der USA für WIT über die ganze Welt.

6. In Großbritannien wurden in den letzten drei Jahren etliche Konsortien gegründet, in denen Rüstungsunternehmen, Regierungsabteilungen und Universitäten zusammen arbeiten. Die Forschungsprogramme dieser Zusammenschlüsse konzentrieren sich weitgehend auf militärische Belange. Diese Programme wurden nicht hinreichend auf ihre sozialen und ethischen Implikationen überprüft.

7. Das Recht an geistigem Eigentum und auf Patente ist bei der Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Industrieunternehmen hochgradig umstritten, insbesondere angesichts der neuen Konsortien, zu denen auch Rüstungsunternehmen gehören. Es müssen klare Richtlinien eingeführt werden, um den individuellen und Gemeinnutzen sicherzustellen.

8. Es ist unbedingt eine breite öffentliche Diskussion darüber erforderlich, welche Richtung Wissenschaft, Ingenieurswesen und Technologie in Großbritannien einschlagen (die kürzlich in der Investitionsstrategie für 2004-2014 vorgestellt wurde), und zwar unter besonderer Berücksichtigung der Rolle des Rüstungssektors.

Empfehlungen

Auf Grundlage des umfangreichen Beweismaterials, das wir in diesem Bericht zusammengetragen haben, formulieren wir eine Reihe von Empfehlungen zu den von uns ausgemachten Problemfeldern. Die Empfehlungen sind je nach Zielgruppe, an die sie sich richten, in drei Kategorien aufgeteilt: die britische Regierung; wissenschaftliche und technische Fachverbände und -verlage; und die einzelnen Wissenschaftler und Ingenieure.

Empfehlungen an die britische Regierung

1. Umverteilung eines erheblichen Teils der gegenwärtigen militärischen F&E-Budgets in Großbritannien für die Behandlung weiter gefasster Fragen. Um die überproportionale Einbindung des Militärs in die öffentlich finanzierte WIT aufzuheben, muss die Regierung sofort einen erheblichen Teil der Mittel von der militärischer F&E abziehen und der zivilen F&E zuweisen, die zu Friedenskonsolidierung beiträgt, Umweltprobleme behandelt und auf nationaler wie internationaler Ebene zur Milderung der Armut beiträgt. Exakte Summen und Fristen sollten im Rahmen einer öffentlichen Überprüfung festgelegt werden, aber nach einem ersten Überschlag empfehlen wir kurzfristig eine Umwidmung von etwa einem Drittel bis zur Hälfte des gegenwärtigen militärischen F&E-Budgets. Solch eine Überprüfung sollte Teil einer Neudefinition der momentanen britischen WIT-Prioritäten sein, und zwar unter breiter Beteiligung der Öffentlichkeit, die bei der Ausarbeitung der jüngsten Zehnjahresstrategie für Investitionen in Forschung und Innovation weitgehend fehlte.

2. Beschränkung der militärischen Beteiligung an der F&E neuer Technologien. Die Finanzierung neuer Technologien, beispielsweise der Nanotechnologie, durch das Verteidigungsministerium sollte weniger als 10% der zivilen öffentlichen Mittel betragen. Eine militärische Beteiligung darf die vollständige öffentliche Überprüfbarkeit solcher Forschungsfelder nicht einschränken. Die britische Regierung sollte die USA und andere Regierungen auffordern, diesem Beispiel zu folgen.

3. Einführung von Verfahren, um die Finanzierung von F&E durch das Verteidigungsministeriums deutlich transparenter und besser öffentlich kontrollierbar zu machen. Für Organisationen, die direkt oder indirekt (beispielsweise über das Defence Science and Technology Laboratory oder über die privatisierte Ausgründung QinetiQ) vom Verteidigungsministerium finanziert werden, muss vorgeschrieben werden, dass sie Herkunft, Umfang und Zweck der Gelder offen legen.

4. Verwendung von mehr Mitteln für die Umsetzung eines deutlich breiter gefassten Sicherheitskonzeptes in die praktische Politik. Solch ein erweitertes Konzept würde soziale Gerechtigkeit, Frieden und Umweltverträglichkeit ins Zentrum aller Sicherheitsüberlegungen stellen. Das würde dazu führen, dass das Verteidigungsministerium weit weniger auf die Entwicklung und Einführung militärischer Technologien und auf Gewaltanwendung setzt und statt dessen die Bereiche fördert, in denen WIT und andere Aktivitäten zur Friedenskonsolidierung und gewaltfreien Konfliktlösung beitragen können.

5. Umfassende und transparente Überprüfung des Kooperationsabkommens über die Nutzung von Atomenergie für gegenseitige Verteidigungszwecke aus dem Jahre 1958 (erneuert im Jahr 2004) sowie aller anderen militärischen Abkommen zwischen den USA und Großbritannien. Solche Abkommen sind eine mächtige Triebfeder für neue nukleare und andere militärische Technologien und wurden bislang noch keiner umfassenden parlamentarischen Überprüfung oder öffentlichen Diskussion unterzogen.

6. Beendigung jedweder wissenschaftlicher und militärischer Arbeit im Zusammenhang mit der Planung und Entwicklung neuer Atomwaffen. Die USA und andere Atommächte sollten aufgefordert werden, sich dem anzuschließen. Als Unterzeichner des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags hat Großbritannien der globalen nuklearen Abrüstung zugestimmt, und dennoch unternimmt es diesbezüglich kaum Anstrengungen. Die britische Regierung sollte sich an die Spitze internationaler Anstrengungen stellen, um in diesem Bereich schnelle Fortschritte zu erzielen.

Empfehlungen an Fachverbände, wissenschaftliche und technische Institutionen und Fachverlage

1. Vorgabe, dass alle akademischen Veröffentlichungen und Berichte, die auf vom Militärkomplex (egal ob von der Regierung oder von Unternehmen) finanzierten Arbeiten basieren, die Herkunft der Mittel sowie deren Höhe offen legen.

2. Stärkung oder Einführung von ethischen Fachkodizes, die die Problematik einer beruflichen Einbindung in das Militär und die momentan enge Auslegung des Sicherheitskonzeptes abdecken.

3. Reduzierung oder Beseitigung der finanziellen Verbindungen mit dem Militär zumindest bis zur Einführung der oben (1-6) empfohlenen Richtlinien.

4. Unterstützung der oben genannten Änderungen der Regierungspolitik.

Empfehlungen an die einzelnen Wissenschaftler und Ingenieure

1. Sammlung von Informationen über jedwede militärischen Interessen im eigenen Arbeitsgebiet und in der eigenen Institution. Nachforschung, ob die eigene Institution eher Sicherheitspolitiken befördert, die auf Gewaltanwendung zielen, oder solche, die beispielsweise auf die Beseitigung von Konfliktursachen zielen.

Entweder

2. Einmischung in die militärischen Interessen, um zu erreichen, dass sich die Nutzung der Arbeitsergebnisse hin zu einer ganzheitlicheren Sicherheitsperspektive verlagert..

Oder

3. Vermeidung jeglicher Zusammenarbeit mit dem Militärkomplex und statt dessen Übernahme einer wissenschaftlichen oder technischen Arbeit, die der Gesellschaft zivilen Nutzen bringt, beispielsweise durch Adressierung von sozialen und/oder ökologischen Problemen.

4. Lobbyarbeit für die oben genannten Veränderungen der Regierungspolitik.

5. Förderung von Diskussionen über diese Themen in der eigenen Institution und in den jeweiligen Komitees und Vorständen der eigenen Fachverbände.

Übersetzung aus dem Englischen durch Jürgen Wagner

Neuordnung der deutschen Rüstungsforschung

Neuordnung der deutschen Rüstungsforschung

Proteste der Beschäftigten

von Dietrich Schulze

Im Gefolge der Anschläge des 11. September haben die Bestrebungen neuen Auftrieb erhalten, zivile Forschung für militärische Zwecke in Dienst zu nehmen. Gemäß den neuen verteidigungspolitischen Richtlinien sind die Mittel des Verteidigungsetats auf die Befähigung der Bundeswehr zu weltweiten Militäreinsätzen umzuorientieren. Mit GALILEO wird der militärischen Nutzung des Weltraums Schubkraft verliehen werden. Die gerade unterzeichnete EU-Verfassung sieht eine permanente Aufrüstung unter Einschluss der Forschung vor. Der Plan, die Institute der Forschungsgesellschaft für Angewandte Naturwissenschaften (FGAN) 1 und das Institut für Technische Physik des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) 2 in die Fraunhofergesellschaft(FhG)3 einzugliedern, wird ausdrücklich mit den verteidigungspolitischen Richtlinien und der beabsichtigten Nutzung von zivil/militärischen Synergieeffekten begründet. Wie reagieren darauf die in der staatlich finanzierten, außeruniversitären Forschung Beschäftigten? Gibt es Gegenkräfte gegen die Militarisierungspläne? Treten diese der Militarisierung sichtbar entgegen? Hat die Entspannungs- und Friedenspolitik der 1970er Jahre im Bewusstsein der Forscher Spuren hinterlassen? Haben die auch früher schon propagierten »dual use«-Konzepte Wirkungen gezeitigt? Ist die bisher überwiegend praktizierte organisatorische Trennung von ziviler und militärischer Forschung in der staatlichen Forschung ein Militarisierungshemmnis? Die nachfolgende praxisbezogene Betrachtung aus Anlass der beabsichtigten Eingliederung staatlicher Rüstungsforschung in die Fraunhofergesellschaft beleuchtet einen Teilsektor der Forschung, kann aus Platzgründen aber nicht auf Details der geplanten Fusion eingehen.

Im Mai 2003 wurde eine Analyse des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg)4 über die Neuordnung der Rüstungsforschung fertig gestellt, wonach die vom BMVg grundfinanzierten Institute der FGAN und das DLR-Institut ITP in die Fraunhofergesellschaft (FhG) eingegliedert werden sollen. Der FhG-Vorstand reagierte zurückhaltend, da lediglich eine Übergangsfinanzierung für die einzugliedernden Institute angeboten wurde. Der Gesamtbetriebsrat (GBR) der FhG erinnerte an den mühsamen Konversionsprozess, frühere Militärforschung in der FhG ganz oder teilweise zur zivilen, wirtschaftsnahen Forschung hinzuführen. Er bezweifelt, dass sich die fusionierten Militärforschungs-Institute mittelfristig behaupten und ihren Industrieanteil einwerben können (FhG-Finanzierungsmodell: je ein Drittel Industriefinanzierung, öffentliche Aufträge, Grundfinanzierung). Er weist auf negative Erfahrungen mit der noch nicht abgeschlossenen Integration der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (GMD)5 hin. Außerdem befürchtet er Überkapazitäten und damit einen Abbau von Arbeitsplätzen. Die behaupteten Synergien seien für die FhG nicht erkennbar.

Die FhG hat einen Militärforschungsanteil von ca. 7 %, der sich auf die fünf genannten Institute konzentriert. Das mag erklären, warum vom Gesamtbetriebsrat keine rüstungskritischen Anmerkungen zu hören waren.

Diskussion an der Basis

Anders entwickelt sich die Diskussion an der Basis. Zwei der zur Fusion anstehenden Institute, das FhG-Institut IITB in Karlsruhe und das FGAN-Institut FOM in Ettlingen bei Karlsruhe sollen zu einem gemeinsamen Institutszentrum weiterentwickelt werden. Das Thema Pro und Contra Fusion hat hier eine buchstäblich hautnahe Relevanz und wurde im zuständigen ver.di-Fachbereich mit Mitgliedern aus allen betroffenen und auch anderen Bereichen der Forschung behandelt. Nach kontroversen Diskussionen wurde geklärt, dass es weder vom FGAN-Vorstand noch aus dem Kreis der FGAN-Beschäftigten Konversionsabsichten weg von der Militärforschung gibt. Deswegen wurde schließlich die Fusion abgelehnt. Die Ablehnung wird mit eingangs genannten politischen Entwicklungen und den Gefahren einer Verbreiterung von »dual-use« begründet. Die Stellungnahme6 wurde im Mai 2004 an die zuständigen Bundesminister gerichtet, ohne dass diese bis jetzt darauf geantwortet hätten.

Gegen Fusion mit Militärforschung

Der Betriebsrat des Forschungszentrums Karlsruhe unterstützte die ver.di-Stellungnahme und legte sie zur Beschlussfassung der Konferenz der Arbeitsgemeinschaft der Betriebs- und Personalräte der außeruniversitären Forschungseinrichtungen (AGBR) vom 25.-27. Oktober 2004 in der DLR Berlin-Adlershof vor. Die AGBR, die 50.000 Beschäftigte in der außeruniversitären Forschung vertritt, fasste dann folgenden Beschluss.

„Die AGBR-Konferenz lehnt die Eingliederung der FGAN-Institute und des DLR-Instituts ITP in die Fraunhofergesellschaft ab. Wir sehen dafür keine sachliche Notwendigkeit. Die behaupteten Synergieeffekte sind nicht erkennbar. Bei einer Fusion besteht die Gefahr einer stärkeren Ausrichtung auf militärische Forschung in der FhG und der Vermischung von ziviler und militärischer Forschung. Gegen einen solchen maximierten militärischen Nutzen ziviler Forschung (dual use) hat sich die AGBR in ihren Thesen bereits 1994 ausgesprochen. Auch der letzte ver.di-Bundeskongress hat diese Position aufgrund eines konkreten Anlasses bestätigt. Die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn, hat sich klar und eindeutig gegen »dual use« positioniert. In einem Gespräch mit der AGBR im Mai 1999 hat sie die ,Transparenz und Abgrenzung zwischen militärischer und ziviler Forschung‘ bekräftigt.“

Erneut werden Ministerin Bulmahn und Minister Struck um Stellungnahme gebeten.

In der AGBR-Konferenz waren Delegierte der Betriebs- und Personalräte aus allen angeschlossenen Forschungsgemeinschaften – Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren (HGF), Fraunhofergesellschaft, Max-Planck-Gesellschaft, Leibniz-Gemeinschaft und FGAN – vertreten. Die DLR ist das einzige Zentrum innerhalb der auf zivile Forschung ausgerichteten HGF (früher Großforschungseinrichtungen), in der auch militärische Forschung betrieben wird.

Im AGBR-Beschluss, in dem bewusst keine Rede von den aktuellen politischen Entwicklungen und Militarisierungsplänen ist, wird immerhin im Konsens festgehalten, dass das Militärische nicht verstärkt werden und vom Zivilen getrennt bleiben soll.

Betriebsrätethese gegen Militarisierung und »dual use«

Hierin zeigt sich der ungebrochene Wille, das Zivile zu beschützen, aber auch ein Rückgang an politischer Klarheit bzw. an Konsequenz aus den eigenen Erkenntnissen. Zehn Jahre zuvor drückte sich das Bewusstsein der Betriebs- und Personalräte in den AGBR-Thesen7 »Forschung in gesellschaftlicher Verantwortung« noch so aus:

„Der Anteil staatlicher Forschungsförderung für die Militärforschung sowie das politische Bestreben, militärische Anforderungen bei zivilen Entwicklungen möglichst frühzeitig mit zu berücksichtigen (dual use), führt zu gesellschaftlich und sozial unverträglichen Schwerpunktsetzungen. Die Militarisierung der Forschung steht den Forderungen nach Demokratisierung, Offenlegung und Transparenz entgegen und behindert die notwendige Ausweitung internationaler Zusammenarbeit. Die Lösung regionaler und globaler Haushaltsprobleme erfordert eine grundsätzliche Neuorientierung der Forschungsförderung auf zivile Zwecke (Konversion von Wissenschaft und Forschung). Die weltpolitischen Entwicklungen gebieten die Abschaffung von Militärforschung und den Ausstieg aus der Rüstungsproduktion bei Erhalt der Arbeitsplätze durch Konversionsprogramme.“

In Anwendung der These nahm die AGBR-Konferenz drei Jahre später aufgrund einer Raumfahrt-Strukturänderung mit »dual-use«-Charakter Stellung.8 Es ist offensichtlich, dass die These nach dem Tabubruch 1999 »Nie wieder Krieg von deutschem Boden« eine noch bedeutend größere Berechtigung erlangt hat. Wer hätte es sich träumen lassen, dass eine SPD-geführte Bundesregierung mit bündnisgrünem Koalitionspartner die Bundeswehr in einen Angriffskrieg schickt und dass Bundeskanzler Schröder auch noch stolz darauf ist, das gesellschaftliche Tabu gegen »Militärisches« generell gebrochen zu haben.

2003: Gewerkschaft gegen »dual use«

Dem oben angeführten Beschluss des ver.di-Bundeskongresses (19.-25. Oktober 2003)liegt ein Schriftwechsel9 des Betriebsrats des Forschungszentrums Karlsruhe mit dem HGF-Präsidenten zugrunde. Der Beschluss hat folgenden Wortlaut:

„Die Gewerkschaft ver.di bekräftigt die Forderung, dass die Forschungstätigkeit in den öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen der Helmholtz-Gemeinschaft (HGF – früher Großforschungseinrichtungen) wie bisher auf zivile Forschung beschränkt bleibt. Die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA rechtfertigen nicht die Ausweitung auf militärische oder zivil-militärische Forschung (dual use). ver.di lehnt dies ab und wird diese Ablehnung gegenüber der Bundesregierung nachdrücklich vertreten. Die ver.di-Vertrauensleute und die ver.di-Betriebs- und Personalräte werden ermutigt, gegen bekannt werdende Forschungs- und Entwicklungsprojekte dieser Art Protest zu erheben. ver.di sagt ihnen und den Beschäftigten, die sich weigern an derartigen Projekten mitzuarbeiten, öffentlichkeitswirksame und gegebenenfalls rechtliche Unterstützung zu.“

Trennung zivil/militärisch und »dual use«

Im AGBR-Beschluss wird im Zusammenhang mit Äußerungen von Ministerin Bulmahn die Ablehnung von »dual use« in einem Atemzug mit der Trennung von ziviler und militärischer Forschung gebraucht. Ist das korrekt?

Die Antwort auf die Frage mag sich aus dem Studium der Literatur10 ergeben, die sich mit der zivil-militärischen Ambivalenz der Forschung und Technik befasst, aber auch aus der Forschungspraxis.

Meine These: Die organisatorische Trennung von ziviler und militärischer Forschung ist eine wichtige und notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Vermeidung von »dual use«. Je weniger Militärforschung erlaubt wird, umso besser können »dual use«-Konzepte vermieden werden.

Wie die AGBR-These besagt, ist »dual use« in der Forschung das Bestreben, militärische Anforderungen bei zivilen Entwicklungen möglichst frühzeitig mit zu berücksichtigen. Es ist demnach möglich, die zivilen Forschungsziele so zu setzen und die Organisation so zu wählen, dass nur solche Forschung zum Zuge kommt, die von vornherein einen hohen militärischen Nutzen verspricht. Ein Beispiel für technische Forschungs- und Entwicklungsprojekte: die USA haben für die Fusionsforschung deswegen den Trägheitseinschluss (lasergetriebene Fusion, NIF Livermore) gewählt, weil dieser im Gegensatz zum Magneteinschluss (Tokamak, ITER) einen militärischen Nutzen versprach. Ein Gutteil der Forschung ist hingegen Grundlagenforschung, die per se späteren zivilen und militärischen Nutzen ermöglicht. Welche Grundlagenforschung kann aus Erwägung eines nicht gewollten militärischen Nutzens eingeschränkt werden? Ein fast aussichtsloses Unterfangen!

Nun zur Trennung. Dafür gibt es ein bekanntes Beispiel, die technische Anwendung der Kernspaltung. Durch Auflage der Alliierten war Kernwaffenforschung berechtigterweise auf deutschem Boden verboten und Kernforschung ausschließlich für zivile Anwendungen erlaubt. In den Satzungen aller kerntechnischen und ehemals kerntechnischen Forschungseinrichtungen ist dieses Gebot »Forschung ausschließlich für friedliche Zwecke« (Zivilklausel) auch heute noch gültig, und zwar für alle Arten von Forschung.

Diese verordnete Trennung hat das Selbstverständnis des Forschungspersonals bis heute positiv geprägt. Hier zwei direkte Beweise für dieses Selbstverständnis, nur an ziviler Forschung arbeiten zu wollen und nicht bloß deswegen, weil Kernwaffenforschung verboten ist.

SDI Ablehnung

Als US-Präsident Reagan am 23. März 1983 das SDI-Programm (Laserwaffen gegen Atomraketen) verkündete, gedachte auch die Fa. Siemens, sich ein Stück aus dem Milliarden-Dollar-Kuchen heraus zu schneiden. In diesem Zusammenhang tauchte Ministerialdirektor Dr. Borst, Leiter der BMFT-Abteilung für Grundsatzfragen, im Mai 1986 bei einer AGBR-Konferenz auf und warb allen Ernstes für eine Teilnahme der staatlichen Großforschung mit dem Argument, dass SDI der Verteidigung diene und das BMFT darin keine Verletzung der Zivilklausel sehe. Die betroffenen Forscher sahen das ganz anders. Für sie waren die angeblichen Abwehrwaffen Kriegswaffen, die obendrein als Angriffswaffen eingesetzt werden können. Damals unterzeichneten über 1.000 MitarbeiterInnen in den Großforschungseinrichtungen eine Selbstverpflichtung, sich einer Teilnahme an der SDI-Forschung zu verweigern. Aus der groß angelegten SDI-Forschung wurde nichts. Einige Wenige in Stuttgart machten allerdings mit, u. a. das jetzt zur Fusion anstehende DLR-Institut ITP.

Ein zweites Beispiel für das Selbstverständnis »ausschließlich Zivilforschung«. Die Bundestagsgruppe der Unionsfraktion im Forschungsausschuss beantragte im Oktober 1993 den folgenden Bundestagsbeschluss: „Die faktische Trennung zwischen ziviler und militärischer Forschung ist zu überdenken (Stichwort ‚dual use’). Die sich daraus ergebenden Folgerungen sind dem Deutschen Bundestag bis Mitte nächste Jahres vorzulegen.“ Dagegen erhob sich in den staatlichen Forschungseinrichtungen und in Universitäten erheblicher Protest. Die Delegiertenversammlung (Sprecher der wissenschaftlichen Beschäftigten) des damaligen Kernforschungszentrums (heute Forschungszentrum Karlsruhe) überbrachte MdB Lenzer (CDU) ihre Ablehnung in Bonn persönlich. Fast 100 Unterzeichner wandten sich mit dem Appell11 »NEIN zu ‚dual use’. Nein zur Militarisierung der Forschung. Wissenschaft und Forschung müssen dem weltweiten Frieden und der Verbesserung der Lebensbedingungen dienen« an die Öffentlichkeit. Das CDU/CSU-Projekt wurde fallengelassen, was Herrn Lenzer nicht daran hinderte vier Jahre später das gleiche im Zusammenhang mit dem Bau des Euro-Fighter12 zu verlangen. Forderungen nach Aufhebung der Trennung ziehen sich übrigens wie ein roter Faden durch die wehrwirtschaftliche Literatur. Treibender Faktor ist die Luft- und Raumfahrtindustrie (LRI). Tatsache ist jedenfalls, dass die damalige Opposition die Forderung nach Aufrechterhaltung der Trennung unterstützt hat und »dual use« als generelles Prinzip bis heute nicht etabliert werden konnte.

Nicht bestritten werden kann, dass prinzipiell das erlangte Wissen – z.B. kerntechnisches – militärisch missbrauchbar ist. Es ist aber eine Frage des gesellschaftlichen Konsenses, eben das nicht tun zu wollen und auch nicht zu tun. Dass dabei die Zusammenarbeit mit Forschungspersonal aus Ländern, die z.B. keinen Verzicht auf Atomwaffenanwendungen erklärt haben, hochproblematisch ist, liegt auf der Hand. Der Widerspruch zwischen der berechtigten Förderung der internationalen Zusammenarbeit und einer Vermeidung des Missbrauchs kann letztlich nur in einer waffenfreien Welt gelöst werden, in der zwischenstaatliche Konflikte ausschließlich mit zivilen Mitteln gelöst werden (s. AGBR-These).

In einem Einzelfall13 kam es 1997 mit Unterstützung des BMBF trotz Zivilklausel zu einer wehrtechnischen Forschungskooperation zwischen dem Heinrich Hertz-Institut in Berlin und einem industriellen Auftraggeber. Dabei wurde mit List (Zivilklausel wegen gleichzeitig ziviler Anwendungen nicht verletzt!), Zuckerbrot (Zusatzmittel für Arbeitsplatzsicherung) und Peitsche (Androhung von betriebsbedingten Kündigungen) gearbeitet. Nach anhaltender Ablehnung durch den Betriebsrat wurde die Kooperation eingestellt.

Organisatorische Trennung zivil/militärisch

Nach diesen Überlegungen kann die eingangs gestellte Frage, ob die organisatorische Trennung ein Militarisierungshemmnis ist, eindeutig bejaht werden. Insofern ist der AGBR-Beschluss gegen die Eingliederung von Militärforschung in die FhG durchaus beachtlich. Wenn sich Ministerin Bulmahn an ihr Versprechen von vor fünf Jahren gegenüber der AGBR hält, müssen die Fusionspläne beerdigt werden.

Was mit hoher Wahrscheinlichkeit vorerst weiter Blühen und Gedeihen wird, sind die europäischen Aufrüstungspläne, die nicht zuletzt mit neuen deutschen Weltmachtambitionen zu tun haben. Es sind keine Zufälle, wenn Minister Struck glaubt, Deutschland am Hindukusch verteidigen zu müssen und wenn per EU-Verfassung eine »Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung« (Europäische Verteidigungsagentur), bis vor kurzem noch wahrheitsgetreuer »Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten« geschaffen wird, das die permanente EU-Aufrüstung und die globale Kriegsführungsfähigkeit14 organisieren soll. Dazu passt nahtlos die Auffassung des scheidenden EU-Forschungskommissars Busquin15, der die verstärkte Förderung von Sicherheitstechnologien für unbedingt notwendig erachtet und für den „die Trennung von ziviler und militärischer Forschung obsolet (ist). Diese rigide Trennung halte ich schon lange nicht mehr für sinnvoll“.

Gegen erneute Entwicklung zu »erfinderischen Zwergen«

Werden sich die deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erneut als ein „Geschlecht von erfinderischen Zwergen“ (Brecht: Das Leben des Galilei) erweisen und sich zu willigen Vollstreckern einer unfriedlichen Außen- und Innenpolitik machen lassen?

Dagegen sprechen geschichtliche Erfahrungen. Nicht nur die Entspannungs- und Friedenspolitik der 1970er Jahre, sondern auch die Erkenntnisse über die Verstrickung großer Teile der deutschen Forschung in die Nazi-Verbrechen haben Spuren im Bewusstsein hinterlassen. Das kann nicht nur mit der starken Beteiligung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an der Protestbewegung gegen die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen (»Mainzer Appell«) belegt werden, sondern auch anhand von Diskussionen über Grundsatzfragen der Forschung. Eine solche fand im Oktober 1997 zwischen der AGBR und dem HGF-Direktorium über die Einführung einer Zivilklausel in der HGF-Satzung statt. Das wurde zwar vom Direktorium abgelehnt, weil damit die DLR aus der HGF herausfallen würde. Es bestand jedoch ein klarer Konsens, dass die Beschäftigten das unabdingbare Recht haben, über die Forschungsziele eine öffentliche politische Diskussion zu führen. Der Direktor aus dem Medizinforschungsbereich hatte gute Gründe für so ein elementares Recht, weil die Wissenschaftler in der Vorläuferorganisation seines Instituts16 für den faschistischen Staat Hirnforschung an Euthanasie-Opfern betrieben hatten.

Die geschichtlichen Lehren sind die eine Seite. Die andere ist, dass die ökonomische Abhängigkeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ständig zunimmt. Stichworte: wachsende Zahl an Zeitverträgen, sachgrundlose Befristungen; Personalkürzungen; Drohungen mit betriebsbedingten Kündigungen; Aushöhlung der wissenschaftlichen Mitwirkung, die in den 1970er Jahren unter dem bekannten Kanzlerwort »Mehr Demokratie wagen!« eingeführt worden waren.

Der verstärkt nach dem 11.September 2001 diskutierte und praktizierte erweiterte Sicherheitsbegriff17 läuft auf die Verschmelzung von militärischen Maßnahmen mit ziviler Konfliktlösung hinaus, womit machtpolitische Zwecke als hilfsbereite Entwicklungsbeiträge getarnt werden. Eine Fortentwicklung dieses Instrumentariums würde eine vollständige Militarisierung aller gesellschaftlichen Bereiche und der gesamten Innen- und Außenpolitik nach sich ziehen.

Öffentlicher Druck der Friedensbewegung notwendig

Es mag hoffnungsvoll stimmen, dass am 15. Februar 2003 zehn Millionen Menschen in fünf Kontinenten gegen den Irakkrieg auf den Beinen waren, dass die Weltsozialforen18 immer größeren Zuspruch erlangen und die Bestrebungen für Volksabstimmungen gegen die vorgelegte EU-Verfassung anhalten. Denn eins ist klar: Ohne öffentliche Diskussionen über die Forschungsziele und ohne einen ausreichenden Druck der deutschen und internationalen Friedensbewegung von außen, werden die inneren Zivilforschungskräfte – von Ausnahmen abgesehen – kaum in der Lage sein, einer ungewünschten Beteiligung an »dual use«- und/oder an Militärforschungsprogrammen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen.

Anmerkungen

1) Die FGAN betreibt drei Forschungsinstitute in Wachtberg bei Bonn (FHR – Forschungsinstitut für Hochfrequenzphysik und Radartechnik, FKIE – Forschungsinstitut für Kommunikation, Informationsverarbeitung und Ergonomie) und in Ettlingen (FOM – Forschungsinstitut für Optronik und Mustererkennung). Die FGAN betreibt militärische Forschung auf den Gebieten der Sensorik, Elektronik, Kommunikation und Informatik mit dem Schwerpunkt Aufklärungs- und Führungssysteme.

2) Das DLR-Institut für Technische Physik in Stuttgart betreibt militärische Laserforschung.

3) Fünf der 58 Fraunhofer-Institute befassen sich mit Militärforschung: mit BMVg-Grundfinanzierung die Institute für Angewandte Festkörperphysik (IAF) und für Kurzzeitdynamik (Ernst-Mach-Institut EMI) in Freiburg, das Institut für Chemische Technologie (ICT) in Pfinztal, das Institut für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen (INT) in Euskirchen sowie mit BMVg-Einzelzuwendungen das Institut für Informations- und Datenverarbeitung (IITB) in Karlsruhe. IAF, ICT, EMI und INT haben sich 2002 im Verbund »Verteidigungsforschung und Wehrtechnik« organisiert, dem das IITB mittlerweile auch beigetreten ist.

4) Analyse und Empfehlung zur Neuordnung der Grundfinanzierten Forschung und Technologie im Rüstungsbereich des BMVg, Ministerialrat Wolff, 31. Mai 2003.

5) Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (früher in der HGF); bei der GMD gab immer wieder Proteste gegen Militärforschungspläne, z.B. 1995/96 gegen eine Kooperation mit der Informations- und Medienzentrale der Bundeswehr (elektronische Kriegführung).

6) http://www.fzk.de/br > Allgemeine Infos > Juni 2004 …. Zivil-/ Militärforschung > BR unterstützt ver.di „Gegen Eingliederung ….

7) http://www.agbr.de/papiere/thesen.html

8) http://www.agbr.de/papiere/dualuse.html

9) http://www.fzk.de/br > Allgemeine Infos > Zum Thema Militärforschung & HGF-Tradition Zivilforschung.

10) W. Liebert, R. Rilling, J. Scheffran (Hrsg.), Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik – Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz, Marburg, BdWi-Verlag 1992, u.a. mit einem Beitrag von Edelgard Bulmahn, der jetzigen Bundesministerin für Bildung und Forschung.

11) Bild der Wissenschaft, August 1994.

12) CDU/CSU-Pressedienst 17.02.1997.

13) Das Heinrich-Hertz-Institut wurde inzwischen wie die GMD in die FhG integriert.

14) Informationsstelle Militarisierung e.V. http://www.imi-online.de

15) VDI-Nachrichten 16.01.2004.

16) MDC – Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin, früher Institut für Hirnforschung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft.

17) Aktionsplan der Bundesregierung Mai 2004 „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“; FR 15.01.2004: „Nationale Interessen definieren“.

18) Rede Arundhati Roy in Mumbai, Januar 2004. http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Globalisierung/roy2.html

Dr. Ing. Dietrich Schulze ist Betriebsratsvorsitzender des Forschungszentrums Karlsruhe, Beiratsmitglied der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative für Frieden und Zukunftsfähigkeit und Bezirksvorstandsmitglied der Gewerkschaft ver.di, Mittelbaden-Nordschwarzwald

Sicherheitspolitische Folgerungen aus dem Golfkrieg

Sicherheitspolitische Folgerungen aus dem Golfkrieg

von Ingo Ruhmann

Von den Medien kaum beachtet, war der Golfkrieg 2003 ein Test für den militärischen Einsatz von Informationstechnik, die einen erheblichen Anteil an der technischen Überlegenheit der US-Truppen hatte. Soweit dies den Medienberichten zu entnehmen ist, spielten die dem IT-Einsatz zugeschriebenen militärischen Fähigkeiten auch eine große Rolle bei den politischen Überlegungen zur Durchführbarkeit im Vorfeld des Konflikts und den Schlussfolgerungen für den zukünftigen Einsatz militärischer Macht. Im folgenden sollen daher aus einer bewusst vorsichtigen Auswertung von Medienberichten einige Implikationen für die sicherheitspolitischen Konsequenzen des zurück liegenden Krieges abgeleitet werden.
Der Golfkrieg 1991 machte den Computer in »intelligenten« Waffensystemen zu einem der entscheidenden Teile militärischer Technik. Der Krieg wurde zu über 90% mit herkömmlichen Waffen geführt. Zur Demonstration alliierter Überlegenheit berichteten die Medien jedoch über jene 10% der Luftangriffe, die mit High-Tech-Waffen durchgeführt wurden. In der nach drei Wochen begonnenen, kurzen alliierten Bodenoffensive lieferten sich die dem irakischen Rückzug aus Kuwait nachsetzenden Alliierten mit den Irakern einige wenige größere Gefechte in einem Gelände, das für den Einsatz massiver Feuerkraft geeignet war. Bevor es zu langwierigen Bodenkämpfen kommen konnte, wurden die Kampfhandlungen beendet. Der Bodenkrieg und die Folgen blieben medial weitgehend unsichtbar.

Seit 1991 beschäftigen sich die Streitkräfte der USA, ihrer Verbündeten, aber auch verschiedener anderer Staaten mit der Vorbereitung auf Information Warfare, einer Kriegsführung nach Prinzipien, bei denen militärische und nicht-militärische Einsätze verwischen, Aufklärung und Kommunikation Vorrang vor reiner Feuerkraft haben und bei denen die vollständige Vernetzung eigener Kräfte im Zentrum stehen.

Vor Beginn des Golfkrieges 2003 war dieser als erster digitaler Krieg angekündigt worden, der durch die psychologische Wirkung massiver Schläge zu Beginn der Kampfhandlungen (»shock and awe«) und überlegene alliierte Truppenführung schnell gewonnen werden sollte. „Fast Allwissenheit plus intelligente Munition“ sollten die US-Truppen in die Lage versetzen, simultan wichtige Ziele anzugreifen und zu zerstören, bis zum Ende der ersten Woche dem gesamten irakischen Militärapparat einen vernichtenden Schlag zu versetzen sowie 75% des irakischen Territoriums zu besetzen.1 Frustrierend für die Planung des Information Warfare sei lediglich das »Chaos« der zivilen und militärischen irakischen Telekommunikationssysteme und die Probleme dort einzudringen.2 Medienberichten zufolge hatten US-Militärs vor Kriegsbeginn schon mit wichtigen irakischen Truppenkommandeuren über die Bedingungen ihrer Kapitulation verhandelt.3

Zu Kriegsbeginn wurden gleichzeitig irakische Kommandozentralen und Truppen bombardiert. In den ersten drei Tagen rückten US-Truppen fast ungehindert 400 km weit vor. Medial entsprach aber nur der erste Angriff auf Bagdad den Erwartungen an eine – von Reportern im Pressebriefing des Pentagon geäußerten – »Show«. Nach einer Woche mussten die Vorhersagen relativiert werden. Irakische Truppen leisteten Widerstand, obwohl ihre Zahl im Vergleich zu 1991 um 60% geschrumpft, ihre Ausrüstung lückenhaft und seither nicht modernisiert worden war.4 Das Bild dominierten Bodenkämpfe, Nachschubprobleme der Alliierten und eine heftige Debatte um eine in zu geringer Stärke in den Krieg geschickte alliierte Streitmacht.5 Unbeobachtet von den Medien sickerten jedoch gleichzeitig Spezialeinheiten in das Zielgebiet ein und griff die US-Luftwaffe irakische Stellungen an.Zum Ende der Kampfhandlungen zeigten sich die irakische Armee sowie die Republikanischen Garden und selbst die Fedajjeen Saddam in völliger Auflösung. In der zentralen alliierten Kommandoeinrichtung in Doha beobachteten skeptische US-Militärs auf ihren Bildschirmen, wie erste amerikanische Einheiten mit 60 Stundenkilometern in das Zentrum Bagdads vorrückten, ohne auf die erwartete Gegenwehr zu stoßen.6 Nach Ende der Kämpfe nahm die Zahl derer zu, die die ursprüngliche Planung als gelungen betrachteten und die Bedeutung der auf »intelligenten« Waffensystemen und vernetzten Einheiten beruhenden technologischen Entwicklung der letzten zwei Jahre hervorhoben.7Information Warfare unterlag gleichfalls während des Krieges einer widersprüchlichen Bewertung. Zeitweilig hieß es, die Rolle von Information Warfare-Instrumenten sei geringer als zu Beginn geplant. Auch die angekündigte »e-Bombe« zur Erzeugung eines elektromagnetischen Pulses mit konventionellen Mitteln wurde nicht eingesetzt.8 Mit dem Erfolg wurde dann schon vor Kriegsende in ersten Bilanzen die Rolle der Informationstechnik auf dem Schlachtfeld als entscheidender Faktor für den Sieg hervorgehoben.9

Medienberichte

Wenn der Kriegsausgang in den Medien damit kommentiert wurde, flexiblere und technisch überlegene Truppen hätten einen schwach agierenden Gegner besiegt, obwohl denselben Blättern zwei Wochen davor noch unerklärlich war, wie heftiger Widerstand der Iraker den alliierten Vormarsch zeitweise zum Stehen bringen konnte, sollte man auch nach diesem Golfkrieg ernsthaft keine genauen Analysen und Berichte über die Hintergründe wie auch die politischen Konsequenzen des Krieges im Irak erwarten. Auch wenn Journalisten gegenüber den Verlautbarungen der kriegführenden Seiten eine deutlich gewachsene Vorsicht an den Tag legten, wurde oft ein Bild gezeichnet, das nicht in Einklang mit den wenigen Informationshäppchen zu bringen war und ist.

In der Medienberichterstattung könnten trotz des großen Aufwands die Unterschiede zwischen den Golfkriegen kaum größer sein. 1991 entstanden in der Folge medienwirksamer Darstellungen der Zieleinwirkung steuerbarer Abstandswaffen für die öffentliche Wahrnehmung irreale Vorstellungen über die Steuerbarkeit von Kriegshandlungen und die technologische Überlegenheit durch Informations- und Kommunikationstechnik. Die seither geweckten Erwartungen wurden vor dem Krieg 2003 durch die Rhetorik eines schnellen Enthauptungsschlages nochmals angeheizt, aber dann durch die Kampfhandlungen nicht erfüllt.

Die aus der Perspektive der Bodentruppen genährten Medien berichteten nicht über High-Tech-Präzisionsschläge, sondern über die Kämpfe vorrückender Bodentruppen. Der Zusammenbruch der irakischen Armee vermittelte keinen Eindruck eines High-Tech-Krieges, sondern den eines aussichtslosen Kampfes einer demoralisierten und schwach gerüsteten Truppe gegen eine hochgerüstete, mechanisierte Armee. Wochen nach Kriegsende erschienen Berichte, nach denen es auch die Republikanischen Garden in vielen Teilen vorgezogen hatten, zu desertieren, statt einen aussichtslosen Kampf mit dem Leben zu bezahlen.10

Die von USA gewählte Form der Medienberichterstattung aus der Perspektive der Bodentruppen dürfte jedoch ein untrüglicher Anhaltspunkt dafür sein, dass sich die Planer im Pentagon davon den größten Effekt versprochen hatten, dass also beabsichtigt war, nicht auf den Effekt von High-Tech-Bomben und deren Zielvideos zu setzen, sondern auf die technologische Übermacht von Bodentruppen.

Information Warfare erschien in der medialen Darstellung des Krieges nur als abstrakte computergestützte Führungsfähigkeit der Alliierten und blieb ansonsten eine unbewiesene Behauptung und unfassbare Fähigkeit. Erst eine – bewusst vorsichtige – Betrachtung von Details macht deutlich, dass ein qualitativer Sprung durch den umfassenden Einsatz von IT zur Kriegsführung zu beobachten ist.

… und deren Interpretation

Aus dem Einsatz von IT in Golfkrieg 2003 lassen sich fünf Schlussfolgerungen ableiten.

  • Die erste Schlussfolgerung geht von der Beobachtung aus, dass sich größere irakische Verbände im Golfkrieg 1991 noch bis Kriegsende in relativ koordinierter Weise bewegten. Im Golfkrieg 2003 stellten sich zwar einzelne Einheiten den Alliierten entgegen, aber ohne nennenswerte Koordination mit anderen. Offensichtlich war die Unterbrechung der irakischen Kommando- und Kommunikationswege effektiv genug, um die Organisation größerer Kampfhandlungen zu verhindern. Insbesondere vor der Einnahme Bagdads am Ende des Krieges sorgte das Bombardement irakischer Kommandoeinrichtungen und Netzknoten dafür, dass auf irakischer Seite keine militärische Kommunikation mehr beobachtet wurde.11 Mit dieser Unterdrückung des gegnerischen Kommando- und Kontrollsystems hatten die Alliierten im diesem Golfkrieg eines der zentralen Ziele der Informationskriegsführung erreicht.
  • Die zweite Schlussfolgerung folgt aus der ersten und der Zwischenphase der Kampfhandlungen, in der irreguläre irakische Gruppen mit Pickups gegen den alliierten Vormarsch vorgingen12 und die alliierte Luftunterstützung in teilweise heftige Gegenwehr geriet.13 Nach herkömmlicher Denkungsart ist bei einer zerfallenden militärischen Kommandostruktur mit dem Beginn einer Guerillakriegführung zu rechnen, wovor in dieser Phase auch in den Medien gewarnt wurde. Begleitet wurde diese Warnung mit dem Vergleich zur Lage in Mogadischu 1993, als schwach bewaffnete Milizen die US-Truppen zum Rückzug zwangen. Entscheidend dafür, dass es im Irak nicht zum Übergang zu einer asymmetrischen Guerilla-Kriegsführung kam, war offenbar, dass der IT-Einsatz zur umfassenden Aufklärung und Vernetzung der US-Truppen einen Kampf sowohl in herkömmlicher Feldschlacht erlaubte als auch gegen sich auflösende Reste der irakischen Armee und irreguläre Gruppen. Damit bestätigte sich die Absicht der US-Truppen, durch die technische Vernetzung von Informationsflüssen den Kampf ohne definierte Frontlinie bewusst zu führen: „Man kann nicht auf einem unzusammenhängenden Schlachtfeld kämpfen ohne vernetzt zu sein“; nur aus der Vernetzung ließen sich operative Vorteile erzielen, so ein Pentagon-Direktor.14 Militärische Überlegenheit ließ sich offenbar im Golfkrieg 2003 herstellen durch Aufklärung und schnelles Reagieren auf veränderte Formen der Kriegsführung.
  • Die dritte Schlussfolgerung beruht auf grundlegenden Neuerungen, die einen deutlichen Geschwindigkeitsgewinn für militärische Operationen mit sich bringen. 1991 gelangten die täglichen Luftangriffspläne per Flugzeug auf die US-Flugzeugträger im persischen Golf, 2003 per sicherer Datenverbindung.15 Die Zielprogrammierung der Cruise Missiles wurde seit 1991 von drei Tagen auf 45 Minuten verkürzt.16 Für die Briten war es im letzten Golfkrieg schon ein Fortschritt, die von einem Flugzeug aufgenommenen Aufklärungsbilder nach dessen Landung digital zur Verfügung zu haben, statt wie ehedem erst Filme entwickeln zu müssen.17 US-Truppen konnten dagegen auf die in Echtzeit übermittelten Radaraufklärungsbilder von JSTARS-Aufklärern und die Videobilder von unbenannten Drohnen zurückgreifen, um sich ein aktuelles Bild ihres jeweiligen Kampfgebiets zu machen. Per Satellitenverbindung wurden Aufklärungsbilder unbemannter Global Hawk-Drohnen an Kampfverbände im Irak übermittelt.18 Rund um die Uhr und bei jedem Wetter waren die Iraker zermürbenden Angriffen mit »intelligenter« Munition ausgesetzt, die aus großer Höhe abgeworfen wurde und damit ohne Vorwarnung traf. Schutz bot weder das Verstecken von Panzern und anderen Fahrzeugen unter Bäumen, Brücken oder in engen Gassen, der einzige Schutz bestand darin, sich möglichst weit von den Fahrzeugen zu entfernen.19 Dies ist der informationstechnische Hintergrund der Fähigkeit der US-Truppen, auch kleine Ansammlungen gegnerischer Truppen sofort erkennen und bekämpfen zu können und den Gegner durch ununterbrochene Angriffe zu zermürben.

Sofern sich diese drei Schlussfolgerungen bewahrheiten, würde dies bedeuten, dass den US-Truppen nicht allein die Zerschlagung der gegnerischen Kommandoinfrastruktur gelungen ist, sondern auch das Zermürben der irakischen Armee und in der Folge das Unterbinden aufflammender Guerillakämpfe, was bislang der militärisch stärkeren Seite in asymmetrischen Konfliktkonstellationen kaum oder nur durch unverhältnismäßige Repression gelang.

  • Die vierte Schlussfolgerung resultiert aus der vergleichsweise geringen Truppenstärke der alliierten Angreifer. Bis Anfang der 90er Jahre galt ein Truppenverhältnis von etwa 3:1 zugunsten des Angreifers vor Ort als notwendige Voraussetzung für aussichtsreiche Angriffsoperationen. 1991 zogen die Alliierten noch eine etwa 500.000 Soldaten große Streitmacht zusammen, um an wenigen Stellen massiv und mit Übermacht vorzugehen. 2003 begannen die Alliierten den Krieg gegen das etwa 400.000 Mann starke irakische Heer bei noch nicht abgeschlossenem Truppenaufmarsch mit einer Streitmacht von gerade 250.000 Mann. Grund war der Glauben des US-Verteidigungsministers Rumsfeld und seines kommandierenden Generals Franks, bei einem geschwächten Gegner, vor allem aber durch IT-Einsatz auch mit reduzierter Truppenzahl siegen zu können. Statt der fünf von den Generälen zuerst geforderten US-Divisionen wurde mit drei geplant. Von diesen sollte eine über die Türkei einmarschieren, wurde aber während des Krieges nach der Ablehnung der türkischen Regierung erst nach Kuwait verlagert und stand während der Kampfhandlungen nicht zur Verfügung.20

Ungeachtet der Kritik verfolgte Franks diese knappe Kalkulation auch während der Kampfhandlungen weiter. Durch direkte Kommunikation zwischen Einheiten am Boden und in der Luft einerseits und durch »intelligente« Munition andererseits ersetzte die Luftwaffe große Teile der Artillerie.21 Die IT-gestützte Vernetzung erlaubte es in 15 Minuten, aus Aufklärungsdaten von Aufklärungsdrohnen die Zielkoordinaten für Bomber zu errechnen, an diese zu übermitteln und das ausgesuchte Ziel anzugreifen.22 Zur Unterstützung der 3. Infanteriedivision bei der Einnahme Bagdads – auf die Berichten zufolge drei Divisionen der Republikanischen Garde warten sollten23 – wurden statt der im Ersten Golfkrieg üblichen neun Artilleriebrigaden nur eine Brigade Artillerie abgestellt. Damit sollten logistische Probleme vermindert und die Geschwindigkeit des Vormarsches erhöht werden. Die zum Konzept von Information Warfare gehörende IT-Nutzung kann somit Flexibilität und Geschwindigkeit erhöhen. Allerdings spricht nichts dafür, dass die Umkehrung des Kräfteverhältnisses zwischen Angreifer und Verteidiger allein auf die Anwendung von Prinzipien des Information Warfare zurückzuführen ist.

  • Die fünfte Schlussfolgerung beruht auf dem Vergleich der Medienberichterstattung und der in den Berichten enthaltenen Darstellung einzelner Vorgänge einerseits und den politischen und militärischen Planungs- und Verlautbarungsaktivitäten andererseits. Von der Ankündigung eines auf »shock and awe« abzielenden Erstschlages über die mediale Kritik nach der ersten Kriegswoche bis zum unerwarteten Kriegsende ohne die angekündigte Gegenwehr lässt sich bilanzieren, dass die Vorhersagen und Planungen und zugleich die psychologische Bewertung der irakischen politischen und militärischen Führung trotz aller Aufklärung allenfalls ungenau geblieben ist. Selbst wenn man von den pressewirksamen Ankündigungen zuerst eines schnellen Sieges, später dann eines blutigen und länger andauernden Häuserkampfes um die als letzte irakische Bastionen gesehenen Städte absieht, die sich allesamt als unzutreffend erwiesen, so sollte man durchaus ernst nehmen, dass die Operationen der U.S.-Truppen, deren Stärke und Ausrüstung auf diese Annahmen abgestimmt waren.24

Die psychologische Kriegsführung, die im Information Warfare eine entscheidende Rolle bei der Interpretation der aufgeklärten Nachrichten über den Gegner und dessen Beeinflussung hat, ist damit offensichtlich kaum weiter entwickelt als in vorangegangenen Konflikten. Im Gegenteil liegt der – während des Krieges schon geäußerte – Verdacht nahe, dass Rumsfeld und Franks in ihrer Vorbereitung des Krieges selbst zu stark ihren eigenen Darstellungen militärischer Überlegenheit aufgesessen sind. Gerade weil dies durch das schnelle Kriegsende keiner weiteren Überprüfung unterzogen wurde und nun wohl nicht mehr wird, dürfte diese Frage eines letztlich kulturellen Zugangs zur Befindlichkeit eines Kriegsgegners für die Zukunft erheblichen Raum für Fehler bieten. Auch die besten Aufklärungsdaten tragen nicht das Geringste dazu bei, das Verhalten eines Gegners korrekt vorherzusagen oder kapitale politische Fehleinschätzungen zu verhindern.

Implikationen

Die gegenwärtig – und damit vor den offiziellen Analysen und vor einer potentiell tendenziösen Rekonstruktion von Ereignissen – verfügbaren Informationshäppchen lassen sich auf operativer Ebene soweit interpretieren, dass der technisch verbesserte, umfassende IT-Einsatz auf alliierter Seite in klare militärische Vorteile umgesetzt wurde, dass aus Fehleinschätzungen und dem mangelnden Verständnis der Lage zugleich aber unerwartete Risiken erwachsen sind. Dass der alliierte Sieg in dieser Form nicht möglich gewesen wäre, gegen die Armee einer von der Bevölkerung stärker getragenen Regierung, sollte ebenfalls deutlich sein. Gerade auf Seiten der US-Streitkräfte ist zu erwarten, dass in den nächsten Monaten der technologische Aspekt des Krieges intensiv mit neuen Details herausgestellt werden wird, viele offene Fragen dagegen ungeklärt bleiben werden. Dies ist insofern bedeutsam, da schon vor diesem Krieg aus technologischer Überlegenheit eine politisch-militärische Machbarkeit abgeleitet wurde.

Zugleich sollten die gravierenden sicherheitspolitischen Implikationen der technologisch gestützten militärischen Stärke der USA deutlich sein. Zur Abschätzung der Bedeutung der Aktivitäten der USA als »letzte verbliebene Supermacht« und, um die Geringschätzung der gegenwärtigen US-Administration gegenüber internationalen Bündnissen und den Glauben an eigene Stärke nachzuvollziehen, reichen ideologische Erklärungsversuche allein nicht aus. Erst die angemessene Kombination von militärischen Potentialen und politischen Zielen erlaubt die Bewertung der sicherheitspolitischen Konsequenzen. Information Warfare ist bei einer solchen Abschätzung militärischer Potentiale als Metapher und Zieldefinition einerseits, aber andererseits auch in der realen Wirkung ein wesentlicher Faktor mit weit reichenden politischen Folgen.

Auch bei einer vorsichtigen Bewertung der Medienberichte des Krieges lassen sich zahlreiche Argumente finden für die Stärkung militärischer Machtausübung durch den breiten militärischen Einsatz vernetzter IT. Der entscheidende Faktor ist dabei nicht im Einsatz vereinzelter Präzisionswaffen zu sehen, sondern in der Integration der Einzelteile in eine komplexe und integrierte Infrastruktur, mit der die Ausübung von Kommando und Kontrolle verbessert wird. Einerseits ist die informationstechnische Optimierung von Kommando und Kontrolle im Krieg notwendiges Hilfsmittel, wenn man mit einer begrenzten Zahl eigener Truppen operiert, statt auf die Überlegenheit der Zahl zu setzen. Andererseits ist die zugleich ermöglichte Zentralisierung von Kommando und Kontrolle die Bedingung für die politische Führbarkeit von Kriegen sowohl auf nationalem wie internationalem Parkett: Wer schon gegen Widerstände einen Krieg beginnt, dürfte wenig Interesse daran haben, dass dieser außer Kontrolle gerät und damit politisch gefährlich wird. Die Interimsphase des Krieges war ein schwaches Abbild der Widerstände, die bei länger anhaltenden Kämpfen im Irak zu erwarten gewesen wären.

Völlig unerheblich ist dabei die faktische Möglichkeit zur Kontrollausübung, entscheidend ist allein der halbwegs begründete Glaube, diese Kontrolle auch ausüben zu können. Der IT-Einsatz bei Planung und Durchführung größerer Militäroperationen hilft bei dem Glauben an militärische Vorbereitung und kontrollierte Durchführung von Kriegen. Gleichgültig, dass sich Kommandeure vor Ort während des Kriegsverlaufes über ihre irakischen Gegner äußerten, dies sei nicht die Art von Truppen, gegen die zu kämpfen man geübt habe, war entscheidend für die militärische und politische Führung die abstrahierte Lageübersicht in den Lagezentren und die dort dargestellte positive Entwicklung. Schon nach dem Golfkrieg 1991 hatte niemand anders als der damalige Stabschef und heutige US-Außenminister Powell die Funktion der Planungs- und Lagezentren bei der Vorbereitung dieses Golfkrieges beschrieben. Dabei hatten die Kriegsvorbereitungen für ihn einerseits den Charakter eines Videospiels, andererseits sei die Berichterstattung eine aseptische »Verzerrung« der Realität.25

Doch IT-unterstütztes Kommando und Kontrolle blieben in beiden Golfkriegen ein blinder Fleck der Berichterstattung. Die aus der Perspektive des einfachen Soldaten berichtenden Medien zeigten zu Anfang und Ende des Krieges technisch überlegene militärische Operationen. Die Zwischenphase der Kämpfe zeigte einiges vom typischen Durcheinander und der Ratlosigkeit einfacher Soldaten. Zugleich wurde aber zu jeder Zeit peinlich genau vermieden, irgendetwas über die Vorgänge in den Planungszentren und das dort ermittelte Bild der Lage nach außen dringen zu lassen. Genau in dieser Zusammenführung von Lageinformationen zu einem vereinheitlichten Kommando liegt aber der eigentliche Effekt, der durch den IT-Einsatz beabsichtigten Überlegenheit bei der so viel beschworenen umfassenden »situational awareness«, der umfassenden Kenntnis der eigenen und der gegnerischen Lage. Damit sollte auch deutlich sein, worin die Differenzen zwischen Medienberichterstattung und öffentlicher Wahrnehmung einerseits und der Bewertung der politischen Konsequenzen andererseits zu suchen sind: Erst die Perspektive aus der Kommandoebene lässt die militärische Überlegenheit erkennen und die politischen Implikationen abschätzen.

Die Entscheidung für den Krieg und die Art der Vorbereitung lässt sich dahin gehend interpretieren, dass in der US-Administration die Überzeugung vorherrscht, über die Mittel zu Expeditionskriegen neuer Güte zu verfügen, also mit relativ geringer Truppenstärke gegen eine größere Streitmacht umfangreiche Militärschläge rund um den Globus ausführen zu können. Diese Sichtweise macht nicht Halt bei der Ablösung der irakischen Führung, sondern zeigte sich in direktem Anschluss an die Kampfhandlungen in offenen Drohungen gegen Syrien, den Iran und verdeckten gegen Herrscherhäuser der gesamten Golfregion. Damit wird militärische Machtprojektion zur Option politischer Machtausübung nicht allein gegenüber einzelnen Staaten – ausgenommen die Atommächte Russland und China –, sondern ganzen Regionen.

Vorhersagen

Die Gefahr, dass Kriege durch IT-Einsatz mit größerer Erfolgsaussicht führbar und damit auch wahrscheinlicher werden, ist keine neue Erkenntnis. Schon vor einigen Jahren warnten wir vor „der Verwandlung der Armee des 21. Jahrhunderts zur »Strategischen Armee«. Sie dient der Umsetzung strategischer Ziele. Kriegerische Konflikte sollen dabei nicht länger zu ausgedehnten und umfangreichen Feldzügen werden, sondern sich ebenso begrenzt einsetzen lassen wie das Heer auf dem Schlachtfeld eines Napoleon oder Clausewitz. […] Möglich ist dies bei der Zerstörung von Kommando- und Kontrollnetzen heute auch unabhängig von massiver Gewaltanwendung. Voraussetzung dafür ist jedoch die andauernde Aufklärung all dessen, was möglicherweise militärisch bedeutsam werden könnte.

Diese Form ist kaum ein Mittel zur friedlicheren Konfliktlösung. Sie hat dann einen besonderen Wert, wenn es darum geht, politische Interessen mit der Drohung militärischer Gewaltanwendung durchzusetzen. Notwendiges Mittel dafür ist die Erhaltung der technologischen Vormachtstellung in der Informationstechnik. Die Logik der Abschreckung im Informationszeitalter wird damit sichtbar. Die Form ihrer Ausgestaltung muß die Zukunft zeigen.“26

Eine vorsichtige Analyse des Golfkrieges 2003 lässt den Schluss zu, dass die sicherheitspolitische Entwicklung seither in großen Schritten in die damals skizzierte Richtung fortgeschritten ist. Nicht nur die Form der Abschreckung im Informationszeitalter ist heute sichtbar, auch die Form der Machtausübung mit militärischen Mitteln ist unübersehbar. Zusätzlich zur IT-unterstützten globalen Machtprojektion haben wir heute mit den Planungen zu »Total Information Awareness«-Office in den USA die organisatorische Struktur zur allumfassenden und »andauernden Aufklärung« – zivilsprachlich also: Überwachung – potentieller Gegner außerhalb der USA genauso wie innerhalb.

Unter den gegenwärtigen politischen Voraussetzungen ist die IT-unterstützte Kriegsführung zu einem neuen sicherheitspolitischen Risikofaktor geworden. Zugleich haben sich die Gefahren für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durch Überwachungstendenzen vielerorts wieder verschärft. Für die dringend notwendigen Korrekturen auf diesem Kurs wird allmählich die Zeit knapp.

Anmerkungen

1) Mark Thompson: Opening With a Bang; in: Time, 17.03.03, S. 30-33, S. 30f.

2) David A. Fulghum: Frustrations and Backlogs; in: Aviation Week and Space Technology, 10.03.03, S. 33-37, S. 33.

3) Evan Thomas; Daniel Klaidman: The War Room; in: Newsweek, 31.03.03, S. 24-29, S. 28.

4) Martin van Creveld: Am Ende kann Bagdad wie Grosny aussehen; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.03.03, S. 35.

5) Evan Thomas, John Barry: A Plan Under Attack; in: Newsweek, 7.4.03, S. 25-37; Markus Günther: Unser Angriff hat keine Dynamik mehr; in: General-Anzeiger, 28.03.03, S. 3; Kurt Kister: Schlacht an vielen Fronten; in: Süddeutsche Zeitung, 29.03.03, S. 5.

6) Evan Thomas, Martha Brant: The Secret War; in: Newsweek, 21.4.03, S. 22-29, S. 24.

7) So zusammenfassend Charles Horner: Operation Iraqi Freedom and the Transformation of War; in: Aviation Week and Space Technology, 5.5.03, S. 66.

8) John Barry: High Tech, Low Effect; in: Newsweek, 7.4.03, S. 5.

9) Vgl. dazu Point, Click… Fire; in: Business Week online, 7.4.2003; http://www.businessweek.com/magazine/content/03_14/b3827608.htm; Mike Davis: Umzingelt von einer unfehlbaren Armee; in: Die Zeit Nr. 16, 10.4.03, S. 50; Evan Thomas, Martha Brant: The Secret War; in: Newsweek, 21.4.03, S. 22-29.

10) Terry McCarthy: What Ever Happened to the Republican Guard? In: Time 12.5.03, S. 24-28.

11) Nancy Gibbs: When the Cheering Stops; in: Time, 21.04.03, S. 31-38, S. 34.

12) Kevin Peraino, Kevin Thomas: The Grunts‘ War; in: Newsweek,, 14.03.03, S. 20-29, S. 24.

13) Bei Helikopter-Angriffen auf Bagdad kehrten allein bei einer Aktion nur 7 von 35 Helikopter einsatzfähig zurück, der Rest musste nach Beschuss der Iraker instand gesetzt werden, so: Kurt Kister: Schlacht an vielen Fronten; in: Süddeutsche Zeitung, 29.03.03, S. 5; ebenso: Evan Thomas, John Barry: A Plan Under Attack; in: Newsweek, 7.4.03, S. 25-37, S. 33. Ähnliches geschah auch in den folgenden Tagen, so: David A. Fulghum, Robert Wall: Battling for Baghdad; in: Aviation Week and Space Technology, 21.04.03, S. 27-28.

14) David A. Fulghum: Fast Forward; in: Aviation Week and Space Technology, 28.04.03, S. 34-35, S. 34.

15) Evan Thomas, Martha Brant: The Secret War; in: Newsweek, 21.4.03, S. 22-29, S. 28.

16) ebd.

17) Robert Wall: Harrier’s New Tools; in: Aviation Week and Space Technology, 21.04.03, S. 28.

18) Craig Covault: Milstars Pivotal to War; in: Aviation Week and Space Technology, 28.04.03, S. 50-51.

19) Terry McCarthy: What Ever Happened to the Republican Guard? In: Time 12.5.03, S. 24-28, S. 25f.

20) Evan Thomas, John Barry: A Plan Under Attack; in: Newsweek, 7.4.03, S. 25-37, S. 30.

21) Evan Thomas, Martha Brant: The Secret War; in: Newsweek, 21.4.03, S. 22-29, S. 28f.

22) David A. Fulghum, Robert Wall: Baghdad Confidential; in: Aviation Week and Space Technology, 28.04.03, S. 32-33, S. 32.

23) Evan Thomas, John Barry: A Plan Under Attack; in: Newsweek, 7.4.03, S. 25-37, S. 32.

24) vgl.: Kevin Peraino, Kevin Thomas: The Grunts‘ War; in: Newsweek, 14.03.03, S. 20-29, S. 27f.

25) Bob Woodward: The Commanders, New York, 1991, S. 375.

26) Ute Bernhardt, Ingo Ruhmann: Der digitale Feldherrnhügel; in: Wissenschaft und Frieden, Dossier Nr. 24, Heft 1, 1997; im Online-Archiv unter: http://www.uni-muenster.de/PeaCon/wuf/wf-97/9710603m.htm

Ingo Ruhmann arbeitet seit über 15 Jahren zu militärischen Seiten der Informatik. Er war Vorstandsmitglied des Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) e.V. und ist gegenwärtig u.a. Lehrbeauftragter für Informatik an der FH Bonn-Rhein-Sieg.

Venimus, Vidimus, Dolavimus – wir kamen, wir sahen, wir hackten

Venimus, Vidimus, Dolavimus – wir kamen, wir sahen, wir hackten

Ein Einblick in Chinas Vorbereitung auf einen digitalen Krieg

von Junhua Zhang

In der heutigen Zeit, in der sich die Leistungsfähigkeit der digitalen Technologie alle 18 Monate verdoppelt, hat der Begriff »Information Warfare« (IW) besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dies gilt nicht nur für die USA und andere westliche Länder, sondern auch für China. Schon im Frühjahr 1987 erschien in der Zeitschrift Xuejunshi (Kriegsführung Lernen) ein Bericht von einem damals noch unbekannten jungen Offizier der Volksbefreiungsarmee (VBA) namens Shen Weiguang unter dem Titel »Beginn des Informationskriegs«. Drei Jahre später wurde sein Buch Xinxizhang (Informationskrieg) in China publiziert. Damals schenkte die Öffentlichkeit dem Autor kaum Aufmerksamkeit. Das hat sich grundlegend verändert.
Der Golfkrieg von 1991 und nicht zuletzt die rasante Entwicklung der Informations- und Telekommunikationsindustrie haben Anstöße für die Erforschung der IW gegeben. Dabei muss besonders erwähnt werden, dass Jiang Zemin schon im Jahr 1991 die Anweisung erteilt hat, mit großer Priorität Telekommunikationsinfrastruktur und Informationsnetzwerke sowohl für zivile als auch militärische Zwecke aufzubauen. In den letzten Jahren gewinnt die Diskussion über die IW nicht nur in chinesischen Militärkreisen, sondern auch in der chinesischen Öffentlichkeit zunehmend an Gewicht. Immer mehr gut ausgebildete Offiziere der chinesischen Streitkräfte widmen sich fanatisch diesem Thema.

Trotz sehr unterschiedlicher Definitionen, auch unter den chinesischen Autoren, möchte ich das chinesische Verständnis von IW in zweierlei Hinsicht zusammenfassen:

IW im weiteren Sinne bedeutet für viele chinesische Kriegstheoretiker Konfrontation der eigenen C 4 I (Der Begriff C 4 I bezieht sich hier auf »command, control, communication, computer and intelligence«) gegen die feindlichen C 4 I. Nach Li Xianyao und Zhou Bisong ist IW eine Art Kriegsführung, die auf Informationen basiert und durch informatisierte Waffen realisierbar ist. Sie beinhaltet fünf Aspekte:

  • IW ist ein Produkt der Informationsgesellschaft.
  • Die Waffen der IW sind informatisiert, intelligent und kompakt.
  • Das Ziel der IW besteht im Attackieren der feindlichen Seite beim Informationen sammeln, bei der Kontrolle der Information und deren Gebrauch.
  • Die IW verläuft an drei unterschiedlichen Fronten – der militärischen, politischen und wirtschaftlichen. Sie wird durchgeführt in materieller und immaterieller Form, mit und ohne militärische Gewalt.
  • Die Kerngegenstände der IW sind Information und Wissen.

Entwicklung einer chinesischen Theorie für den digitalen Krieg

Li und Zhou sprechen in ihrem Buch »Information Warfare« von fünf Modellen, die die IW verkörpern.(Li Xianyao / Zhou Bisong, 1998: 95-238)

  • Das erste Modell nennt sich »Kampf um die nützlichen Daten« (Qinbaozuozhan). Nach dem altchinesischen Strategen Sun Zi, „Der Unbesiegbare ist der, der über sich und über die anderen Bescheid weiß“, ist es von großer Bedeutung, über alle Wege Informationen über die mutmaßlichen Feinde zu sammeln und zu bearbeiten. Die Aufgabe der IW ist also das Spionieren – sei es in versteckter oder offener Form, um ein klares Bild von der Sachlage zu bekommen.
  • Das zweite Modell nennt sich »Elektro-Kampf«. Dabei wird elektromagnetische Energie verwendet, um die gegnerische elektromagnetische Frequenz zu manipulieren. Dadurch sollen die elektronischen Anlagen und moderne Waffensysteme einschließlich der C 4 I der feindlichen Seite funktionsunfähig gemacht werden.
  • Beim dritten Modell handelt es sich um eine völlig neue Kriegsführung, nämlich den Kampf via Internet. Dieser Kampf basiert auf der Computerisierung bzw. Digitalisierung der Truppen. Die Objekte sind nicht nur militärische Anlagen, sondern auch Zivileinrichtungen wie etwa Banken oder Verkehrsknotenpunkte. Die Methoden bestehen in der Verbreitung eines Virus, im Hacken und dergleichen. Hohe Effizienz und niedrige Kosten machen den Vorteil dieser Art Kriegsführung aus.
  • Das vierte Modell wird »Kampf durch Exaktheit« genannt. Dieser erfordert eine mehrdimensionale Kooperation aller Kriegsanlagen und -einrichtungen. Diese Art Kriegsführung wird auch »Akupunkturkrieg« genannt, da sie eine haargenaue Lokalisation der Schwachpunkte im »Nervensystem« des Feindes voraussetzt.
  • Schließlich kommt der »Psycho-Kampf« als das fünfte Modell hinzu. Hier werden sowohl die traditionellen Medien, vor allem aber auch das neue Medium Internet, als Instrumente eingesetzt um die gegnerischen Informationsressourcen zu manipulieren.

Hinsichtlich der gegenwärtigen Theoreme der IW ist das 1999 erschienene Buch »Chaoxianzhan« (Ein uneingeschränkter Krieg) besonders zu erwähnen. Autoren sind Qiao Liang und Wang Xianhui, beide Oberstleutnant der chinesischen Luftwaffe, die den Golfkrieg mit regem Interesse verfolgt haben und selbst auch in mehreren militärischen Manövern der VBA als Offiziere beteiligt waren. Schon kurze Zeit nach der Veröffentlichung ihres Werks wurde es zur Pflichtlektüre für hochrangige Offiziere des chinesischen Militärs. Auch die Minister der Zivilbehörden sollen inzwischen mit diesem Buch recht vertraut sein. Nach der Hongkonger Wochenzeitung Yazhou Zhoukan (Asia Weekly) soll sogar in der renommiertesten US Military Academy, in West Point, dieses Buch zur Sonderlektüre für die künftigen Offiziere zählen.

Bei oben genanntem Buch handelt es sich zunächst um die Analyse des Irak- und Golfkriegs und anderer von den USA durchgeführten »Antiterror-Aktionen«. Beide Autoren sehen in den Entwicklungen seit der Beendigung des Kalten Kriegs einen neuen Trend der Kriegsführung. Bei der modernen Kriegsführung komme es nicht allein auf die militärischen Kräfte, sondern vielmehr auf die Kombination der »Module« an. D.h. es werden multidimensionale und branchenübergreifende Strategien und Taktiken verwendet, die über die Definition eines konventionellen Kriegs hinausgehen. Die Verfasser erklären damit die bisherigen Spielregeln der Kriegsführung für hinfällig. Sie plädieren für eine beinahe skrupellose Anwendung terroristischer Methoden (einschließlich des digitalen Angriffs auf zivile Objekte). Einen erfolgreich geführten Krieg durch die neuen »mobilisierten Kriegsressourcen« beschreiben die beiden Autoren folgendermaßen: „In einer sehr unauffälligen Weise wird eine große Geldsumme digital zusammengeführt. Dann beginnt die Intervention auf dem Finanzmarkt des Gegners (um eine Finanzkrise im gegnerischen Land zu provozieren). Nachdem die Finanzkrise ausgebrochen ist, werden die in den gegnerischen Computernetzwerken versteckten Agenten und Hacker aktiviert, um die Netzwerke einschließlich Strom-, Verkehr-, Banken-, Kommunikations- und Mediennetzwerken lahm zu legen, so dass Unruhen gestiftet und die Behörden regierungsunfähig gemacht werden.“ (Qiao Liang, 1999: 156).

Die »neuen Spielregeln« der Kriegsführung ohne Einschränkungen lassen sich in dem Satz zusammenfassen: „Scheue bloß nicht, einen »schmutzigen Krieg« zu führen!“1 Kein Wunder, dass Clausewitz in den Augen der Autoren »out of date« ist und nur Machiavelli wegen seiner Schlauheit noch Lob verdient.

Viele westliche Experten sehen in diesem Buch einerseits Ausdruck der Depression und Ohnmacht des chinesischen Militärs gegenüber den hochmodernisierten Amerikanern, andererseits einen wichtigen Versuch, eine eigenständige Theorie für die Kriegsführung aufzustellen.2 Ohne Zweifel hat dieses Buch zu der wiederholt entflammten »Hackerattacke« beigetragen, auf die weiter unten eingegangen wird.

Während Qiao und Wang sich bei der Konzipierung eines uneingeschränkten Kriegs durch die reflexive Bewertung von Bin Laden oder George Soros inspirieren ließen, versuchten andere Autoren aus dem militärischen Bereich, neue Ansätze in der chinesischen Tradition zu akquirieren. Neben den berühmten 36 Strategien von Sun Zi – einem berühmten Strategen vor zweitausend Jahren – wird Mao Zedongs Idee vom »Volkskrieg« offenbar wieder belebt. „Even as to government mobilized troops, the numbers and roles of traditional warriors will be sharply less than those of technical experts in all lines (…) since thousands of personal computers can be linked up to perform a common operation, to perform many tasks in place of a large-scale military computer, an IW victory will very likely be determined by which side can mobilize the most computer experts and part-time fans. That will be a real Peoples War.“3

Dass die Idee eines Volkskriegs in der IW an Bedeutung gewinnt, zeigt sich nicht nur in den diversen Schriften von Offizieren, sondern auch in der Rede von Verteidigungsminister Chi Haotian. Chi hat im Jahre 1998 an der Chinesischen Universität für Nationalverteidigung einen Vortrag gehalten, dessen Titel »Issues Concerning the Modern High Tech Peoples War«4 lautete. Angesichts der Tatsache, dass die Informationstechnologie sowohl im Militär als auch in den Zivilsektoren verwendet wird, glaubt Chi, eine neue Dimension eines digitalen Kriegs durch die Beteiligung ziviler Computer- und Internetnutzer erreichen zu können: „We must focus on studying the characteristics and laws of fighting a Peoples War building our defence, and waging high-tech military struggles; seize the commanding point of contemporary military theory; and actively create new strategies and tactics that meet the needs of waging a high-tech Peoples War.“5

China ist sich durchaus darüber im Klaren, dass es dem US-Militär nicht gewachsen ist. Um so mehr hofft es, in einer unkonventionellen Weise den Gegner besiegen zu können, indem die Computer- und Internetspezialisten mobilisiert werden, nach dem oben dargestellten Modell zu operieren. Es ist zwar weder bei den chinesischen Autoren noch bei der Führung des chinesischen Militärs ganz klar, wie die Logistik des »Volkskriegs« genau zu formulieren sein wird, die Bedeutung des Modells »Kampf via Internet« ist jedoch nicht zu verkennen. Auch wenn behauptet wird, alle bisherigen IW-Theorien in China seien Kopien von Pentagon-Papieren, so muss doch akzeptiert werden, dass die neue Theorie des digitalen Volkskriegs ein Produkt chinesischen Gedankengutes ist.

Institutioneller Aufbau als Vorbereitung der IW und die dazu gehörige Praxis

Der oben besprochenen IW-Vorstellung entsprechend wurden in China seit 1998 mehrere Institutionen und Organisationen eingerichtet, die teils militärischen, teils paramilitärischen bzw. zivilen Charakter aufweisen.

  • Schon im Jahr 1997 wurde auf einem Symposium der 4. Abteilung des Generalstabs ein Plan zur Gründung einer IW-Führungsgruppe vorgelegt. Inzwischen ist ein physisch vom Internet getrenntes Informationsnetzwerk für die führenden Offiziere errichtet worden.6
  • In den letzten fünf Jahren sind nach den Angaben der Zeitung der VRA bereits mehr als 1.000 Netzwerke innerhalb des Militärs eingerichtet worden, die für Verteidigung, Training und Forschung gebraucht werden.7
  • Zwecks der Ausbildung einer IW-orientierten Armee wurden an mehreren Universitäten bzw. Hochschulen Ausbildungszentren eingerichtet.
  • Immer mehr »Computer-Soldaten« (Jisuanjibing) und »Netzwerk-Kämpfer« (Wangluozhanshi) werden in die Armee rekrutiert. Sie kennen zumindest eine Fremdsprache und arbeiten daran die Feinde »digital« zu vernichten.8
  • Seit 1999 werden in zahlreichen Städten »digitale Milizen« gegründet. Die Milizen unterstehen im Kriegsfall unmittelbar dem Kommando des Militärs. In der Region Echeng von der Provinz Hubei wurde 1999 ein IW-Regiment errichtet, das aus Fachkräften verschiedener Sektoren u.a. des Telekommunikations- und Internetbereichs besteht.9 Das dafür zuständige »Peoples Armed Forces Department« (PAFD) verfügt über ein »Network-Warfare-Bataillon«, ein Elektronisches Warfare-Bataillon und mehrere Intelligenz- und Psychologische Warfare-Bataillone. Zugleich wurde dort eine »Informaticized Peoples Warfare Network Simulation Exercise« durchgeführt.10
  • Zu den ersten »digitalen Miliztruppen« gehört auch die Miliztruppe von der Zaozhuan-Telekom der Provinz Shangdong, die aus 48 gut ausgebildeten Hochschulabsolventen besteht. Ihre Aufgabe besteht darin, die bestehende Telekommunikationsinfrastruktur zu verwalten, Aufsicht über das Internet zu führen und nicht zuletzt Informationen zu sammeln, die für einen digitalen Krieg nützlich sein könnten.11
  • In Shanghai wurde 2000 das »Zentrum der Armeereserven der Informationskontrolle« gegründet, das aus dem Shanghaier Armee-Reserven-Bataillon und der »Kompanie der Mobiltelekommunikation« besteht. Zugleich wurden mehrere E-Gruppen errichtet, die sich jeweils mit Satellitenkommunikation, Mikrowellen, Internet- und Elektro-Warfare befassen.12 Ähnliche E-Gruppen wurden zwecks der Durchführung von IW in anderen Provinzen bzw. Großstädten zusammengestellt.

Neben dem institutionellen Aufbau gab es in den letzten beiden Jahren mehrere Manöver:

  • Im Mai 2000 führte das Raketen-Regiment der Beijinger Luftwaffe ein Manöver mit vernetzten Computern erfolgreich durch.
  • Im Juni 2000 hat der Chendu-Militärbezirk eine 96-stündige Operation namens »Xinan 2000« durchgeführt, in der dutzende Netzwerke (Intranet) und mehrere hundert Endgeräte mit dem Internet verbunden waren und an dem über 70% der führenden Offiziere beteiligt gewesen sein sollen. Eines der wichtigsten Ziele der Operation bestand darin, die Sicherheitsmaßnahmen der digitalen Netzwerke zu checken.13
  • Im August 2000 fand eine kombinierte Aktion im Militärbezirk Beijing statt. Hier wurden ebenfalls IW-Strategien in die konventionelle Kriegsführung eingebettet und die Theorien des Elektro-Kriegs in der Praxis erprobt.14
  • Vom 28. Mai bis zum 2. Juni dieses Jahres gab es ein erfolgreiches Hightech-Manöver von Luftwaffe, Artillerie- und Fallschirmjägertruppen der Militärbezirke Shenyang-, Beijing- und Chendu. 15

Hackerangriffe – Experimente eines digitalen Volkskriegs?

Wie bereits angedeutet, ist das Motiv für einen digitalen Volkskrieg leicht erkennbar:

China ist derzeit noch nicht in der Lage, hochmoderne Waffen für eine umfassende IW herzustellen. Um jedoch den USA bei einem eventuell eskalierten Taiwan-Konflikt Paroli bieten zu können, sieht sich das chinesische Militär dazu gezwungen, einen »asymmetrischen (regionalen) Krieg« mit niedrigen Kosten zu führen.

Ein Volkskrieg im modernen Sinne beinhaltet somit drei Aspekte:

  • Erstens soll die zivile Produktion mit der militärischen Industrie im Hinblick auf die Entwicklung von Software und Hardware bzw. den Aufbau von Netzwerken kombiniert werden, damit die Kosten für die moderne Aufrüstung des Militärs gesenkt werden können.
  • Zweitens sollen die digitalen Milizen in die Volksarmee integriert werden, damit die Fachkräfte zum militärischen Zweck verwendet werden können.
  • Drittens soll laufend Nachwuchs ausgebildet werden, so dass es technisch die Möglichkeit einer »take-home battle«16 gibt.

Ein Volkskrieg in diesem Sinne enthält vier Momente: Die Akteure sind die Computercracker, der Computer dient als Waffe, das Wissen wird als Munition bezeichnet und schließlich ist die vernetzte Welt das Schlachtfeld.17

Offiziell hält sich die chinesische Regierung gegenüber den Hackern zurück. Zeitweise gab es sogar scharfe Kritik seitens der Regierung an ihnen. Dennoch werden die Hacker offenkundig von den chinesischen Behörden zumindest toleriert und oft sogar unterstützt. Die Tatsache allein, dass einige Dutzende Hackerwebseiten, darunter die Webseiten von der »Honker Union of China« (H.U.C.) auch während der heftigsten Phase des »Hackerkriegs« nicht geschlossen wurden, bestätigt dies.

Wie ein digitaler Volkskrieg aussehen kann, zeigen folgende Beispiele:18

  • Als sich mehrere gewalttätige Vorfälle gegen die in Indonesien lebenden Chinesen ereigneten, attackierten Hacker aus der VR China die mutmaßlichen antichinesischen Webseiten in Indonesien.
  • Nach dem Bombardement der chinesischen Botschaft in Belgrad im Mai 1999 wurden viele Netzwerke der NATO und zugleich zahlreiche Webseiten der US-amerikanischen Regierungsorgane von chinesischen Hackern angegriffen.
  • Im Juli 1999, als der taiwanesische Präsident Li Denghui seine These von »zwei Staaten« publik machte, wurden zahlreiche taiwanesische Regierungshomepages von den festlandchinesischen Hackern heimgesucht. Am 22. August 1999 wurde sogar eine Betriebsstörung von über 1.000 Geldautomaten in Taibei durch den »Hackerkrieg« verursacht.19
  • Im Januar 2000 wurden aus Protest gegen eine Versammlung japanischer Rechtsradikaler in Osaka die Webseiten verschiedener japanischer Organisationen von den chinesischen Hackern »operiert«.
  • Im Februar und März dieses Jahres haben die chinesischen Hacker noch einmal eine digitale Protestwelle gegen die Rechtsradikalen in Japan organisiert. Viele Regierungswebseiten aus Japan wurden mit Parolen verziert.
  • Das Spionageflugzeug-Ereignis im April dieses Jahres hat einen heftigen »digitalen Krieg« zwischen den chinesischen und US-amerikanischen Hackerorganisationen ausgelöst.20 Mehrere Webseiten, darunter www.KillUSA.com, www.cnhonker.com, wurden zum Zweck der Ausbildung von Anfängern errichtet, in denen »Lerning by doing«-Anweisungen für die Anwendung bestimmter Hackerprogramme gegeben wurden. Viele amerikanische Webseiten wurden mit einer chinesischen Flagge und Parolen etwa wie „China have atom bombs too!“, „Down with the US Imperialism!“ überschrieben. Nach den Angaben von chinesischen Hackern sollen über 1.600 in den USA registrierte Webseiten bzw. Portale während dieses »digitalen Kriegs« teils paralysiert, teils beschädigt worden sein. Das Hauptquartier des »U.S. Pacific Command« (CINCPAC) musste deshalb die Alarmstufe von »Normal« auf »Alpha« erhöhen.21 Am 8. Mai berichtete das amerikanische »Computer Emergency Response Team« (CERT) von einem aus China stammenden »Wurm«, der sich auf die mit dem Betriebssystem »Solaris« verbundenen Computer richtete.22

Über den letzten »Hackerkrieg« gab es in China sehr unterschiedlichen Meinungen. Zhang Zhaozhong, Professor für militärische Technologie an der Verteidigungsuniversität Chinas, hat zwar eine zurückhaltende Haltung gegenüber der jungen Hacker-Generation in China, hebt jedoch hervor, dass diese Art »Hackerkrieg« der beste Übungsplatz für einen wahrhaftigen digitalen »Volkskrieg« sei.23

Ausblick

Ein von China ausgehender digitaler Krieg kann wahrscheinlich nur in Zusammenhang mit einem Konflikt um Taiwan ausbrechen. Der allgemeinen Einschätzung zufolge sind allerdings die Erfolgschancen für das chinesische Militär in den nächsten fünf Jahren sehr gering.24 Dabei genügt es, sich folgende Aspekte näher anzuschauen.

  • China hat einen großen Nachholbedarf an Informationssicherheit. Schon seit langer Zeit ist es besonders wachsam gegenüber den aus dem Ausland importierten Computern. Die von James Adams bestätigte Feststellung, dass amerikanische und britische Geheimdienste seit Jahren systematisch Computer und technische Geräte, die nach China exportiert werden, mit »Trojanischen Pferden« präparieren, erhärtet den Argwohn des chinesischen Militärs gegenüber den Hightech Ländern wie den USA und Taiwan. (Dean, 1999: S. 25 / Goad, 2000).25 Durch mehrere »Hackerkriege« hat China selbst einsehen müssen, dass die chinesischen PCs und Netzwerke für Angriffe sehr anfällig sind.26 China bemüht sich deshalb darum, möglichst wenig IW-Angriffsflächen zu bieten, indem beispielsweise die zum militärischen Zweck gebrauchten Netzwerke physisch vom Internet getrennt sind und eigene Firewall-Software und Chips entwickelt werden. Dazu gehört beispielsweise die Herstellung des eigenen Betriebssystems »Red Flag Linux«, um eine mutmaßliche Falltür von Microsoft zu vermeiden. Dennoch hat China im Hinblick auf die Computer- und Netzwerk-Sicherheit noch einen langen Weg zu gehen. Nach der Statistik können über 90% der kommerziellen Webseiten und ein guter Teil der Regierungswebseiten vor Hackerangriffen kaum geschützt werden.
  • Die finanziellen Ressourcen Chinas sind begrenzt. Auch im digitalen Zeitalter ist kein Krieg ohne konventionelle, auf Higtech basierende Waffen zu gewinnen. Trotz Chinas offenkundiger Ambition, sich als ein Pol der Weltordnung darzustellen und trotz seines energischen Aufbaus der IW-Truppen ist die Gesamtkapazität des chinesischen Militärs recht gering. Das Hauptproblem ist die Finanzierung. Während die USA im letzten Jahr 3,2 Prozent ihres Etats, das waren 270 Mrd. Dollar, für den Verteidigungshaushalt ausgaben, waren es in China nur 1,2 Prozent, d.h. 14,5 Mrd. Dollar.27
  • Es gibt einige unbestimmte Variablen. Die chinesische Führung hat in der Taiwanfrage an sich eine recht ambivalente Haltung. Einerseits will sie nicht dabei zusehen, wie die so genannte Wiedervereinigung eine ungewisse Angelegenheit der fernen Zukunft bleibt. Andererseits bewahrt sie noch eine gewisse »Rationalität«, indem sie versucht, das Militär davon zu überzeugen, dass nur der Fortschritt der Wirtschaft die Modernisierung der Verteidigung vorantreiben kann. Auch bemüht sie sich darum, möglichst mit diplomatischen Mitteln statt mit Gewalt die »de jure-Unabhängigkeit« von Taiwan zu verhindern.

Ob und wann jedoch die Irrationalität das rationale Denken und Handeln der chinesischen Führung besiegt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Dazu zählen die Diplomatie seitens der USA und Taiwans genauso wie die inneren Spannungen zwischen dem Staatsrat und dem Militär Chinas sowie die politische Stabilität des Landes. Dass der Staatsrat, vor allem aber das Außenministerium, im Unterschied zum Militär in der Taiwanfrage und dementsprechend auch in der Grundhaltung zu den USA, oft einen weichen Ton hat, zeigt, dass die Zeit der Harmonie zwischen der Regierung und dem Militär, die es in der Ära von Mao Zedong und Deng Xiaoping gegeben hat, vorbei ist. Immer mehr Zeichen deuten darauf hin, dass das Militär mit der »sanften« Taiwanpolitik der Zentralregierung nicht zufrieden ist.28 Auch die innere politische Instabilität könnte die chinesische Staatsführung dazu verleiten, die Bevölkerung durch die Invasion auf Taiwan von den vorhandenen Problemen abzulenken.

Literatur

Bristow, Damon (2000): Asia – Grasping Information Warfare?, in: www.infowar (1999): Chinese Defence Build-Up on Track, in: DGR 99 South-East Asian Issues, 1999 (www.global-defence.com/asia/asia1.htm).

Dean, Sydney E. (1999): Information Warfare – Entscheidet zukünftig die Information? in: Europäische Sicherheit 11/99, S. 24-25.

Delio, Mchelle (2001): It This World Cyber War I? in: www.wired.com (01.05.2001).

Forno, Richard/Baklarz, Ronald (1999): The Art of Information Warfare: Insight into the Knowledge Warrior Philosophy.

Goad Pierre G./Holland, Lorien (2000): China Joins Linux Bandwagon, in: Far Eastern Economic Review Feb. 24. 2000.

Möller, Kay (1997): Sicherheitspartner Peking? Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen.

Mulvenon, James C. (1999): The Peoples Liberation Army in the Information Age, RAND.

Yang, Andrew N.D. (ed.) (2001): Seeking Truth From Facts: A Retrospective on Chinese Military Studies in the Post-Mao Era, RAND.

Pillsbury, Michael (1998): Chinese Views of Future Warfare, United States Government Printing Office. – (1999): China Debates the Future Security Environment, National Defense University Press. – (2001): The Taiwan Relations Act and US-Taiwan Military Relations“, in: 20 Years Taiwan Relations Act – Special Reports (www.taipei.org/tra/sinica/sinica-03.htm).

Thacker. Jr., John A. (2001): Chinas Secret Weapon for Information Warfare, in: www.specialoperations.com/Foreign/China/IW.htm (12.08.2001).

Thomas, Timothy L. (1998): Behind the Great Firewall of China: A Look at RMA/IW Theory From 1996-1998, in: Foreign Military Studies Office (http://call.army.mil/fmso/fmsopubs/issues/chinarma.htm). – (1999): Like Adding Wings to the Tiger: Chinese Information War Theory and Practice, in: Foreign Military Studies Office (http://call.army.mil/fmso/fmsopubs/issues/chinarma.htm). – (2001): Chinas Electronic Strategies, in: Military Review, May-June 2001. – Virtual Peacemaking: A Military View of Conflict Prevention Through the Use of Information Technology, in: Military Review, Dec 1998/Jan-Feb 1999 S. 44-57.

Zhang, Ming (1999): War Without Rules, in: Bulletin of the Atomic Scientists, Nov/Dec 1999, Vol. 55. No. 6, S. 16-18.

Chinesischsprachige Literatur

Chen Xingeng (2000): Dianji weilai zhanzheng (Anstoße zum künftigen Krieg), Beijing.

Wang Jianghau/Li Jin (2001): Shenmi muoce wangluozhan (Geheimnisvoller Internetkrieg), Beijing.

Li Xianyao/Zhou Bisong (2000): Xinxi zhanzheng (Information Warfare), Beijing.

Qiao Liang/Wang Xiangsui (1999): Caoxianzhan (Ein uneingeschränkter Krieg), Beijing.

Bao Kai (2000): Wangluo diezhan (Krieg der Internet-Geheimagenten), Beijing.

Zhang Feng (1999): Quanwei xinxihua zhanzheng (Multidimensionale Information Warfare), Beijing.

Wang Zhiyuan/Li Changwei/Jiang Yan (2000): Juesheng xinxi shidai (Der entscheidende Sieg im Informationszeitalter), Beijing.

Anmerkungen

1) Qiao Liang begründet seine Einführung eigener »neuer Spielregeln« damit, dass die vorhandenen Spielregeln von den westlichen Großmächten zu ihren Gunsten festgelegt und daher nicht legitim seien. (http://jczs.sina.com.cn) 04.07.2000.

2) Cf. David Harrison and Damien McElroy (1999): China´s Military Plots »Dirty War« Against The West (in: www.infowar.com/mil_c4i/99/mil_c4i_101899_i_shtml).

3) Beijing Zhongguo Guofang Keji, X, Sep-Dec. 1996, No 5/6, pp.90-93. Zitiert nach T. L. Thomas (1999), S. 3.

4) Cf. Timothy Lee Thomas (1998): Behind the Great Firewall of China: A Look at RMA/IW Theory From 1996-1998 (http://call.army.mil/fmso/fmsopubs/issues/chinarma.htm).

5) Beijing Xinhua Domestic Service, 0921GMT 8 Jan 1998. Zitiert nach Thomas (1998), S. 20 (http://call.army.mil/fmso/fmsopubs/issues/chinarma.htm).

6) Asia Weekly 2001, (www.yzzk.com/current/19brla.htm).

7) Jiefangjunbao, 27.10.2000.

8) Asia Weekly 2001, (www.yzzk.com/current/19brla.htm).

9) China National Defense News, 26 Jan. 2000.

10) Cf. http://ezarmy.net

11) Asia Weekly 2001, (www.yzzk.com/current/19brla.htm).

12) Wangluobao (Net

13) Jiefangjunbao, 02.08.2000.

14) Jiefangjunbao, 11.08.2000.

15) www.chinesenewsnet.com (08.06.2001)

16) Damit ist ein von zu Hause aus mit einem Laptop geführter digitaler Krieg gemeint.

17) www.yzzk.com/current/19br1a.htm (13.05.2001); Jiefangjunbao, 02.08.2000.

18) http://tech.sina.com.cn/i/c/65812.shtml (09.05.2001).

19) Xinxin Huaren (Juli 2001), S. 13.

20) Zhongguo Qinnianbao 17.05.2001.

21) Es gibt fünf Stufen als Maßnahmen gegen die Bedrohung des militärischen Informationssystems: Normal, Alpha (setting up security one notch above normal), Bravo (shutting down access to selected sites), Charlie (pulling all government and military systems off line), Delta (calling for a system shutdown). (Siehe www.chinaonline.com 27.April 2001). Die Angaben von der chinesischen Seite sind allerdings nur mit Vorsicht zu genießen. Tatsache ist, dass viel mehr chinesische Webseiten beschädigt waren als amerikanische. Siehe http://tech.sina.com.cn/i/c/66560.shtml (16.05.2001).

22) www.sina.com.cn (09.05.2001).

23) http://tech.sina.com.cn/i/c/66560.shtml (16.05.2001).

24) www.bignews.org/2001206.txt (06.12.2000).

25) http://tech.sina.com.cn/i/c/66560.shtml (16.05.2001).

26) Allein in Beijing wurde am 27 April über 10.000 Computer durch den CIH-Virus lahmgelegt. Während des »Hackerkriegs« vom Mai 2001 wurden mehr als 1.100 chinesische Webseiten bzw. Portals von den US-amerikanischen Gegnern paralysiert. (www.chinaonline.com 13.05.2001; http://tech.sina.com.cn/focus/hkjf.shtml 09.05.2001).

27) Newsweek, 26. April 2001

28) Hierzu www.bignews.org/20001210.txt (10.12.2000); www.yzzk.com/current/25ae1a.htm (22.06.2001); www.bignews.org/20010607 (0806.2001)

Dr. Junhua Zhang ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin mit dem Schwerpunkt: Politik Chinas und Ostasiens.

Neue Offensivwaffen für neue Kriege

Neue Offensivwaffen für neue Kriege

von Lühr Henken

Die deutsche Wirtschaft ist tonangebend in Europa – sie erbringt ein Viertel des EU-Sozialprodukts. Ganz offensichtlich setzt die rot-grüne-Regierung jetzt alles dran, entsprechend der ökonomischen Macht auch die politische und militärische auszubauen. Dazu gehört das Ringen um einen ständigen Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat genauso wie der Beschluss, die Zahl der für einen Einsatz außerhalb des NATO-Bereichs zur Verfügung stehenden Soldaten auf 150.000 zu verdreifachen. Dass die deutsche Regierung der EU für deren schnelle Eingreiftruppe 18.000 (der vorgesehenen 80.000 Soldaten) anbietet, dokumentiert auch hier einen Führungsanspruch. Doch militärische Macht hängt nicht allein von der Masse des eingebrachten Soldatenkontingents ab, sondern zunehmend von den technologischen Fähigkeiten. Bundeswehrgeneralinspekteur Kujat fasst das in die Worte: Deutschland muss, wenn es in Europa und darüber hinaus die Rolle spielen will, die seinen Gewicht als 80-Millionen-Volk in der Mitte Europas entspricht, Streitkräfte unterhalten, die von „Größe, Umfang, Ausrüstung und Fähigkeit entsprechend ausgestaltet“ sind.1 Es ist also nicht nur interessant sondern auch dringend notwendig, die geplante qualitativ größte Auf- und Umrüstung in der Geschichte der Bundeswehr genauer auf die damit verbundene Offensivfähigkeit zu untersuchen.
Öffentlich war der NATO-Krieg gegen Jugoslawien für deutsche und andere europäische Militärs Anlass, den waffentechnischen Vorsprung der USA herauszustellen und die Notwendigkeit einer eigenen »Aufholjagd« zu predigen. Eher intern wurden auch die Fehlschläge der NATO genutzt, um eigene – seit Jahren in der Entwicklung befindliche – Waffen zu preisen. In der vom Verteidigungsministerium herausgegebenen Zeitschrift Soldat und Technik bedauert z. B. Chefredakteur Hubatschek, „dass – wie schon in Bosnien – Truppen, das heißt u.a. Panzer, Geschütze, Gefechtsstände, Versorgungseinrichtungen – zumal getarnt im Gelände – bei weitem nicht im ausreichenden Maße getroffen wurden.“ Dabei, so Hubatschek weiter, „sind waffentechnische Möglichkeiten, diese Wirkung auch aus einer gewissen Distanz und ohne Verzahnung in den direkten Kampf zu erreichen, zweifelsohne gegeben. Man denke an zielsuchende Gefechtsköpfe von Flugkörpern oder an Kampfdrohnen, denen auch die Fähigkeit gegeben werden kann, einen Panzer von einem Traktor zu unterscheiden.“2

Neuartige Kampfdrohnen für das Heer

Seit Sommer 1997 hat STN Atlas Elektronik in Bremen einen Entwicklungsauftrag für die Kampfdrohne TAIFUN. Hierbei handelt es sich um Marschflugkörper, die ihr Ziel autonom operierend aufspüren und zerstören sollen. Herzstück dieses Fluggeräts ist ein allwettertaugliches Sensorsystem auf Basis der Radartechnik, das derzeit von der DASA-Verteidigungselektronik in Ulm entwickelt wird. Bis zu vier Stunden lang und bis zu 100 km hinter der Front soll der gut zwei Meter lange Flugkörper in Flughöhen, die für die feindliche Flugabwehr unerreichbar sind, Ziele auf programmierten Suchflugpfaden innerhalb eines definierten Zielgebietes aufspüren und dann im Sturzflug zerstören. Dabei soll der Sensor zwischen LKW, Panzern, Gefechtsständen und anderen Objekten unterscheiden können, bei einer Zielabweichung unter 70 cm. Die Fantasie der Entwickler sieht TAIFUN in „Schwärmen von Launcher-Fahrzeugen aus“ starten. Der DASA-Projektleiter ist sich sicher: „Mit dieser neuen Suchkopf-Generation gehören wir bei Dasa zur Spitze des Weltmarkts.“3 Die Planung sieht die Anschaffung von 108 TAIFUN vor, die ab 2004 einsatzbereit sein sollen.

Diese neuartigen Kampfdrohnen sind wesentlicher Bestandteil einer weitergehenden Planung, in deren Rahmen das Heer zu schnellen Operationen tief im gegnerischen Raum befähigt werden soll. Dazu der Inspekteur des deutschen Heeres, Willmann: „Mit der Entwicklung der Kampfdrohne Heer TAIFUN und der Weiterentwicklung des Waffensystems MARS/MRLS leistet die Artillerie den entscheidenden Beitrag zur Schaffung einer Deep-Battle-Kapazität im deutschen Heer. Eine Entwicklung, die man ohne Zweifel als technologischen und operativen Sprung bewerten kann.“4 Dazu gehört, dass die Reichweite der 154 Mehrfachraketenwerfer MARS ab 2005 von derzeit 35 auf rund 70 km verdoppelt wird. Dazu dienen die 80 (von bisher 212 geplanten) Kampfhubschrauber TIGER, die 185 (von bisher geplanten 594) Panzerhaubitzen 2000 (Reichweite zwischen 30 und 40 km) mit »intelligenter Suchzündermunition« und entsprechende Aufklärungsdrohnen.

Hubatschek schlussfolgerte bereits unmittelbar nach Ende des Jugoslawien-Krieges: „Die Forderung nach einer breiten Palette von Präzisionsabstandswaffen auch für Landstreitkräfte und die Marine wird sicher eine der wichtigsten Konsequenzen der anstehenden Analysen sein.“ Später formulierten auch die Weizsäcker-Kommission und das Papier des ehemaligen Bundeswehr-Generalinspekteurs Kirchbach eine entsprechende Dringlichkeit. Am 14. Juni 2000 machte sich diese dann auch das Bundeskabinett zu Eigen.

Hochrüstung der Marine

Die Marine plant für 2006 die Anschaffung eines weltweit einzigartigen manuell lenkbaren Flugkörpers. Mit der Entwicklung ist die DASA-Tochter Lenkflugkörpersysteme (LFK) leitend in einer trinationalen Gruppe befasst. In der Spitze dieses POLYPHEM genannten Flugkörpers befindet sich ein schwenkbarer Infrarot-Suchkopf, der Einsätze bei Tag und Nacht sowie bei schlechter Sicht ermöglicht. Das Novum: Über ein Lichtwellenleiter-Kabel werden dem Schützen auf einem Monitor Bilder in Echtzeit vom überflogenen Gebiet gesendet. Damit ist er in der Lage, den Marschflugkörper bis zu den gesuchten »Hochwert-Zielen« in einer Entfernung von 100 km zu lenken. POLYPHEM ist ca. 3 m lang, wiegt rund 150 kg, hat ein Sprengkopfgewicht von 20 kg, eine Marschgeschwindigkeit zwischen 430 und 790 km/h; die geringe Flughöhe von 150 bis zu 600 Metern erschwert dem Gegner die Aufklärungs- und Bekämpfungsmöglichkeit. Mit der sehr hohen Treffgenauigkeit (Abweichung unter 50 cm) wird es möglich, „auch durch Fenster in Gebäude einzudringen und erst danach den Gefechtskopf zur Wirkung zu bringen.“5 Die Deutsche Marine hat sich „quasi für den Flugkörper entschieden – wenn (…) die Finanzierungsfrage gelöst werden kann.“6

Die POLYPHEM sollen auf den eigens für den Überwasserseekrieg vor und gegen fremde Küsten konstruierten Korvetten K 130 montiert werden. Die Marine orientiert sich generell weg von der Ostsee hin zum »littoral warfare«, dem Krieg in flachen Küstengewässern.

Den Bauauftrag für die ersten 5 dieser neuartigen K 130-Korvetten, von denen insgesamt 15 gekauft werden sollen, erhielt ein von der Hamburger Werft Blohm + Voss geführtes Konsortium im Juli 2000. Im Bundeshaushalt sind dafür insgesamt rd. 2,8 Mrd. DM vorgesehen7. Die Auslieferung dieser 1.600-Tonnen-Schiffe, für die eine Tarnkappenbauweise angestrebt wird, ist zwischen 2005 und 2008 geplant.

Die schwedische Firma Saab Dynamics und die deutsche Firma BGT (Bodenseewerk Gerätetechnik GmbH) arbeiten gemeinsam daran, den schwedischen Schiff/Schiff-Flugkörper RBS 15 Mk 3 zu einer Landzielbekämpfungswaffe weiterzuentwickeln. Dieser störungssichere Marschflugkörper „erlaubt (es), eine 200 kg schwere Gefechtsladung nach ca. 200 km im Überlandflug mit einer Genauigkeit von ca. 10 m ins Ziel zu bringen.“8 Es heißt, dass eine präzise Zielbekämpfung im Endanflug (1-2 m) bereits in der Praxis nachgewiesen wurde und dass die Reichweite dieses Marschflugkörpers auf 400 km gesteigert werden kann. Damit wäre ein Kriegsschiff in der Lage, selbst von außerhalb der 200 Meilen-Zone – also von Hoher See aus – Landziele punktgenau zu treffen.

Beide Rüstungsfirmen „hoffen, dass bei der Ausrüstung der künftigen Korvette K 130 der Flugkörper RBS 15 Mk3 sich durchsetzen wird, zumal er gerade für den Einsatz in »Littoral waters« konzipiert worden ist.“9 Der für Grundsatzfragen des Überwasserseekrieges zuständige Offizier im Führungsstab der Marine, Jürgen Mannhardt, geht davon aus, dass die Korvette dem gesamten Einsatzverband ein Handlungsspektrum eröffnet, das den „Verbund des Überwasserseekrieges von der Hohen See bis in die Küste hinein verwirklichen“ kann.10 Und dass dabei „der Verbund zwischen Fregatte und Korvette außerordentliche Bedeutung erlangen“11 wird.

Neue Fregatten und Truppentransporter

Die erste Fregatte der neuen F 124-Baureihe wurde am 1. Dezember 1999 bei Blohm + Voss in Hamburg auf den Namen »Sachsen« getauft und wird voraussichtlich im Dezember 2002 von der Bundeswehr abgenommen. Zwei weitere Fregatten sollen in Kiel und Emden gebaut werden. Diese Fregatte ist die teuerste deutsche Kriegswaffe aller Zeiten. Sie ist inklusive Bordhubschrauber und Bewaffnung mit etwa 1,3 Mrd. DM teurer als jedes Zivilschiff der Welt. Hinzu kommt, dass allein für den Unterhalt dieser drei Fregatten innerhalb von 10 Jahren rund 1 Milliarde DM zu veranschlagen sind.

Für den entfernten Transport über See sind »Dock-Schiffe« im Gespräch, deren Größe oberhalb von 10.000 Tonnen liegt und die mehrere Landungsboote sowie Truppenstärken bis zu 900 Mann, Munition, Hubschrauber, Panzer etc. befördern können. Um den Aufenthalt des Einsatzverbandes auf See von 21 auf 45 Tage verlängern zu können, werden eigens zwei neue »Einsatzgruppenversorger« hergestellt. Sie sind mit 20.000 Tonnen die größten Schiffe, die die Bundeswehr je hatte.

Neue Marschflugkörper und Flugzeuge für die Luftwaffe

Die Lenkflugkörpersysteme GmbH entwickelt zusammen mit der schwedischen Firma Bofors eine Cruise Missile. Damit das nicht so auffällt, hat man diesen Marschflugkörper für die Tornados und Eurofighter »Modulare Abstandswaffe« (MAW) TAURUS getauft. Nomen est Omen: TAURUS ist ein speziell gegen gehärtete Ziele entwickelter klassischer Marschflugkörper. Das hohe Gefechtskopfgewicht von 500 kg12 wurde gewählt, um eine Betonwand von 4 Metern Stärke durchschlagen zu können.13 Da diese Kriegswaffe über „höchste Zielgenauigkeit“ verfüge, könne sie auch speziell gegen Brücken eingesetzt werden. „Ende 2002 soll die Entwicklung abgeschlossen sein, die Serienfertigung könnte dann beginnen.“14 Mit ihrer Reichweite von 350 km sind diese Cruise Missiles nicht nur für taktische, sondern auch für „regionale strategische Aufgaben ausgelegt.“15 Geplant ist die Anschaffung von 1.200 TAURUS, davon 685 bis 2011.16

Um herkömmliche Eisenbomben zu Präzisionswaffen umzurüsten, hat sich die Luftwaffe nach einem rund fünfjährigen Auswahlverfahren für einen Zielbeleuchter aus Israel als Nachrüstsatz entschieden. Seit Dezember 1999 werden die Tornados der Deutschen Luftwaffe mit lasergelenkten Präzisionsbomben (Litening) geflogen.17 Die Bombe wiegt etwas mehr als 200 kg. Die erste in Deutschland gebaute Bombe hat im Juni 2000 das Werk in Oberkochem verlassen.Beide, Cruise Missiles und lasergelenkte Bomben, werden künftig mit deutschen »Krisenreaktionskräften des Luftangriffs« an vorderster Front bei Kriegseinsätzen »out of area« dabei sein. Im Krieg gegen Jugoslawien war dies nicht möglich, da die deutsche Luftwaffe noch nicht über Präzisionsbomben verfügte. Auch lasergelenkte Bomben werden »Kollateralschäden« nicht verhindern. Aus Sicht des Angreifers haben sie jedoch einen Vorteil: Sie können gezielte Zerstörungen wie »Kollateralschäden« aussehen lassen.18

Erste Priorität soll die „Verbesserung der strategischen Verlegefähigkeit“19 in der Luft (und auf den Meeren) haben. Deshalb werden ab dem Jahr 2008 73 neu zu entwickelnde Airbus 400 M zum Stückpreis von rund 200 Mio. DM angeschafft. Sie sollen den Transport von militärischem Gerät, darunter den Transporthubschrauber NH-90 oder die TIGER im Direktflug über Entfernungen bis zu 9000 km ermöglichen. Die Luftbetankbarkeit dieser »strategischen Transportflugzeuge« lässt noch entferntere Flüge zu. Über die Heckklappe des Militär-Airbusses sind Absprünge der 120 voll ausgerüsteten Fallschirmjäger ebenso möglich wie der Abwurf der Kleinpanzer WIESEL.

Militärische Nutzung des Weltraums

„Zur Verbesserung der nationalen politischen und militärischen Lagebeurteilung und in Ergänzung der Fähigkeiten des Bündnisses (NATO) erhält die Bundeswehr eine eigene raumgestützte Aufklärungsfähigkeit“, heißt es im Kabinettsbeschluss vom 14. Juni 2000. Nach dem das mit Frankreich geplante integrierte Helios-Horus-System Ende 1996 von der Kohl-Regierung »verschoben« wurde, gibt es nun einen nationalen Alleingang20, allerdings mit dem Ziel, einen Verbund mit zwei französischen Satelliten und einem Auswertungszentrum in Spanien herzustellen. Jedoch weisen die Parameter des deutschen Systems SAR-Lupe, das vier oder sechs Satelliten umfassen soll21, auf eine bedeutend größere Leistungsfähigkeit hin, als sie die französischen Satelliten besitzen. Das deutsche System soll ab 2004 „hochauflösende globale wetter- und tageszeitunabhängige Radarbilder“ an die Bodenstation im spanischen Torrejon liefern können, mit einer Auflösung bis zu einem halben Meter. Das französische System liefert Aufnahmen mit einer Auflösung von 1 Meter. Zwei deutsche Firmen stehen im Wettbewerb um den 700 Millionen DM-Auftrag. Die parlamentarische Entscheidung ist für den Sommer 2001 vorgesehen. Mit dem Satellitensystem erhöht sich das Gewicht Deutschlands in der EU und in der NATO erheblich, denn die ausgewerteten Bilder können, müssen aber nicht weitergegeben werden. Somit sichert sich Deutschland den Erstzugriff auf die Beurteilung der militärischen Lage und damit Vorteile in der Einsatzplanung.

Gigantischer Finanzbedarf

Der Finanzbedarf für die Rüstungsvorhaben, der hier nur zu einem geringen Teil wiedergegeben werden kann22, ist gigantisch. Sicher ist, dass die vom Scharping-Ministerium beabsichtige Erhöhung des investiven Anteils am Bundeswehrhaushalt von derzeit 25 auf 30 Prozent dafür nicht reichen wird. Entsprechend müsste das Budget von derzeit jährlich rund 10 Mrd. DM für Forschung, Entwicklung, Erprobung und Beschaffung eine mindestens 40-prozentige Steigerung für erfahren.

Die Verdreifachung der Schnellen Eingreiftruppen und die beschleunigte Aufrüstung der Bundeswehr mit Offensivwaffen beinhalten also eine dramatische Veränderung für Deutschland. Da kommen nicht nur enorme Rüstungskosten auf uns zu, es ist vor allem eine Weichenstellung von historischem Ausmaß, da die Bundeswehr eine strukturelle Angriffsfähigkeit mit qualitativ neuen Waffen erhält. Es wächst die Wahrscheinlichkeit, dass deutsche Politiker und Militärs diese Waffen auch einzusetzen. Bundeswehr-Generalinspekteur Kujat bezeichnet das als eine Veränderung der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee in ein „hochwirksames Instrument der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.“ Für ihn muss sich die Bundeswehr darauf einstellen, „für lange Zeit“ eine „Armee im Einsatz“ zu bleiben.23

Anmerkungen

1) Generalinspekteur Kujat auf der Kommandeurstagung der Bundeswehr am 13.11.2000 in Leipzig. Zitiert nach FAZ 14.11.2000.

2) Gerhard Hubatschek, Legitimation des Krieges und der Mittel, in: Soldat und Technik, 7/1999, S. 392.

3) Berndt v. Mitzlaff: Das Auge des Taifuns, in: Aerospace – Magazin der Daimler-Benz Aerospace AG 2/98, S. 42 ff.

4) Helmut Willmann: Ein technologischer und operativer Sprung; in: Das System Artillerie, Wehrtechnischer Report, Februar 1998, Bonn, Frankfurt a.M., 64 Seiten, hier S.5.

5) Manfred Hohl: TRIFOM-Lichtwellenleiter-Flugkörper, weitreichendes, präzises Feuer gegen einsatzwichtige Ziele, in: Das System Artillerie S. 47 f.

6) Jürgen Erbe: Gelenkter Flugkörper Polyphem, Soldat und Technik 4/2000 S. 228.

7) ami 10/1999, S. 33.

8) Dieter Stockfisch: Landzielfähigkeit ist das Entwicklungsziel, Soldat und Technik 5/2000, S. 327.

9) Soldat und Technik 1/2000, S. 57.

10) Jürgen Mannhardt: Überwasserseekriegführung und Flugabwehr – Fähigkeiten, konzeptionelle Vorstellungen und Perspektiven, in: Soldat und Technik, 2/1995, S. 86 ff, hier S. 94.

11) Mannhardt, s. o., S. 96.

12) The Military Balance 1999/2000, S. 312.

13) Soldat und Technik 11/1999, S. 652: Erfolgreicher Erstflug des Lenkflugkörpers MAW TAURUS.

14) Ebenda.

15) Joachim Krause, Strukturwandel der Nichtverbreitungspolitik, München 1998, 438 Seiten, S. 80.

16) ami 12/99, S. 32.

17) Hans-Jürgen Wiemer: Die deutsche Luftwaffe fliegt Litening, in: Soldat und Technik 6/2000, S. 371f.

18) Vgl. Anklageschrift des Europäischen Tribunals über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien am 2./3. Juni 2000 in Berlin, 31 Seiten, www.NATO-Tribunal.de

19) Die Bundeswehr sicher ins 21. Jahrhundert – Eckpfeiler für eine Erneuerung von Grund auf. Hrsg. Bundesministerium der Verteidigung, 1. Juni 2000, 44 Seiten (www. Bundeswehr.de ) Punkt 48, S. 22; identisch mit dem Beschluss der Bundesregierung vom 14. Juni 2000.

20) Weizsäcker-Kommission: Auf ungefilterte Daten von Aufklärungssystemen muss ein uneingeschränkter nationaler Zugriff möglich sein. S.112,. Kirchbach-Papier: Vorrangig ist eine nationale Kernfähigkeit zur satellitengestützten Aufklärung zu schaffen. S.14.

21) Um einen Entwicklungs- und Bauauftrag bewerben sich die Astrium Earth Observation in Friedrichshafen (ehemals Dornier Satellitensystem) und die Mittelständische Bremer OHB. Während die Bremer sechs Satelliten im All platzieren möchten, halten die Friedrichshafener vier für ausreichend (FAZ 3.7.00, Durchblick verloren).

22) Vgl. Lühr Henken, Mit neuen Waffen in die nächsten Kriege, in Cremer/Lutz (Hrsg.) Die Bundeswehr in der neuen Weltordnung, Hamburg 2000, 204 Seiten, S. 114-140.

23) Kujat auf der Kommandeurstagung der Bundeswehr am 13.11.2000; s.o.

Lühr Henken ist Vorstandsmitglied im Hamburger Forum für Völkerverständigung und weltweite Abrüstung e.V. und Abrüstungspolitischer Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag Kassel.

Forschung für den Markt

Forschung für den Markt

Zur Fusion von GMD und FhG

von Wolf Göhring

GMD und FhG fusionieren, verkündete Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung, am 29. September letzten Jahres. Staatssekretär Dr. Uwe Thomas (SPD), zugleich Aufsichtsratsvorsitzender der GMD, äußerte bereits vorher die Vermutung, dass diese Nachricht wie eine Bombe einschlagen werde. Die Sprache von Thomas erinnert – wohl unbedacht – an die militärische Tradition der Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der Angewandten Forschung e. V. , die ihren Sitz in München hat und aus 47 Instituten besteht. Die 1949 gegründete FhG übernahm u.a. auch Institute der Militärtechnik aus der Nazizeit. 1999 verwendete die FhG 140 Millionen DM oder fast 10 % ihres Haushalts für Militärforschung und Kriegsvorbereitung (FAZ am 18. 4. 2000).
Die GMD, die in die FhG überführt werden soll, entstand 1968 als Großforschungseinrichtung, damals Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung mbH, heute GMD Forschungszentrum Informationstechnik GmbH genannt. Sie ging aus einem Institut an der Bonner Universität hervor. Und hat bisher keine Militärforschung betrieben. Gegründet haben die GMD der Bund (90% Anteile) und Nordrhein-Westfalen. Heute sind auch Berlin und Hessen Gesellschafter. Die 8 Institute der GMD liegen in Sankt Augustin, Berlin und Darmstadt. Sie zählt 1.450 Beschäftigte, die FhG 9.000, davon 1.200 im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik.
Begründet wird die Fusion beider Unternehmen mit einer besseren Orientierung auf den Markt. Wolf Göhring befürchtet, dass damit auch die GMD in die Militärforschung einbezogen wird und die Orientierung am Markt zu Lasten der Grundlagenforschung geht.

Die Belegschaft forderte 1974, dass die GMD „ausschließlich friedlichen Zwecken dienen“ solle. Den daraufhin gefundenen modus vivendi wollte der jetzige Staatssekretär Thomas, damals Referent im Forschungsministerium, bereits Anfang der 80er-Jahre aufheben: Die GMD sollte sich der Entwicklung „intelligenter Minen“ widmen, die an der Grenze zur DDR vergraben werden sollten. Die GMD lehnte ab und fand später dafür auch in der Politik Verständnis. Anke Brunn (SPD), langjährige Forschungsministerin in NRW, bekräftigte, dass Militärforschung Ressortforschung des Bundes und als solche auszuweisen sei, eine Grundfinanzierung käme dafür nicht in Frage. Auch die parlamentarische Staatssekretärin im Bundesforschungsministerium Cornelia Yzer (CDU) äußerte 1996: „Die wissenschaftliche Arbeit der vom Bund geförderten deutschen Großforschungszentren dient schon immer ausschließlich friedlichen Zwecken.“1

Das Fraunhofermodell als Subventionsmodell?

Die Versuche, die GMD zu »fraunhoferisieren« gehen bis 1973 zurück. Damals sah der Bundesrechnungshof in der GMD „eine Bundesanstalt für Datenverarbeitung“, die den Bundesbehörden Entwicklungsarbeiten abnehmen sollte. Das hätte das Aus für die Forschung bedeutet. Das Forschungsministerium hielt mit einem Modell dagegen, bei dem sich die GMD wie die FhG finanzieren sollte: je ein Drittel Grundfinanzierung, öffentliche Projekt- und Industriemittel. Entsprechend dem »Erfolg«, Industriemittel einzuwerben, sollte die Grundfinanzierung steigen oder fallen mit dem Ziel, „den Personalbestand zu dynamisieren“.

Dieses Modell wurde in der GMD nicht durchgesetzt, aber – sogar weiter gehend – in der FhG, die heute 40 % ihrer Mittel in industrieller Auftragsforschung hereinholen soll. Die FhG operiert so produktnah, dass häufig nur noch kurzfristig entwickelt oder Service für die Entwicklungslabors der Industrie oder Beratung geboten wird, wie er von anderen Consulting-Firmen und Ingenieurbüros auch zu haben ist. Die Grundfinanzierung ermöglicht der FhG eine hervorragende technische Ausstattung, mit der am freien Markt operierende Unternehmen bedrängt werden. Manche Landesregierung hält dieses für Wirtschaftsförderung. Es wird auch nicht ausgeschlossen, dass die Grundfinanzierung in die direkte Subventionierung der Industrieaufträge fließt. Steuerrechtlich – Gemeinnützigkeit und Prozentsatz der Umsatzsteuer seien als Stichworte genannt – und wettbewerbsrechtlich – national und europäisch – wirft dies erhebliche Probleme auf. Auch strafrechtlich kann es bedeutsam werden, wie staatsanwaltliche Besuche bei der FhG zeigten. Der Kompromiss, den die etwa 700 (deutschen) Mitglieder der FhG – Personen, Unternehmen, Verbände, die Bundesländer und der Bund – in dieser Hinsicht geschlossen haben, muss nicht von Dauer sein, vor allem wenn er europäischen Interessen widerspricht.

Der Umsatz der FhG belief sich 1999 auf etwas über 1,4 Milliarden DM, darunter 620 Millionen an Grundfinanzierung, zu der der Bund 468 Mio. DM beisteuerte; die Länder beteiligten sich mit 25%. „Die Gesamtaufwendungen der Fraunhofer-Gesellschaft 1998 betrugen rund 1,3 Milliarden DM, davon 1,1 Milliarden im Leistungsbereich Vertragsforschung. Hier erwirtschaftete sie etwa zwei Drittel aus Aufträgen der Industrie und aus öffentlich finanzierten Forschungsprojekten.“ Die Vertragsforschung ist nach dieser Angabe im Web zu einem Drittel – etwa 400 Millionen DM – auf Grundfinanzierung angewiesen. Einem Diagramm im Web über die »Finanzierung der Vertragsforschung« der FhG von 1979 bis 1997 liest man für 1997 eine Vertragsforschung in Höhe von knapp 1,1 Milliarden DM ab, bestehend aus öffentlichen Projektmitteln und sonstigen Erträgen mit rund 300 Mio., aus Auftragsfinanzierung der Wirtschaft mit 350 Mio. und aus Grundfinanzierung mit etwa 430 Mio. DM. Häufig sind öffentliche Projekte unterfinanziert, so dass Grundfinanzierung hineinfließt. Selbst wenn nochmals der gleiche Betrag – nämlich 300 Mio. DM – aufzuwenden wäre, blieben 130 Mio. DM an Grundfinanzierung, die nach diesen Angaben als Subvention der Vertragsforschung mit der Wirtschaft verstanden werden können.

Zum Vergleich: Die GMD erhält rund 120 Millionen DM an Grundfinanzierung, darunter 12 Mio. (= 10%) von Nordrhein-Westfalen, Hessen und Berlin. Mit weiteren 60 Mio. Drittmitteln, das meiste davon deutsche oder europäische Projektfördermittel, die sie in Kooperation mit anderen deutschen und europäischen Forschungsinstituten und Unternehmen einwirbt, hat sie einen Jahresumsatz von gut 180 Mio. DM. Industriemittel sind nur ein geringer Teil ihrer Einnahmen. Bei einer Fusion hätten die GMD-Institute die industrielle Auftragsforschung in einem umkämpften Markt von etwa 15 Mio. DM auf etwa 60 Mio. DM hochzufahren.

Aus für die informationstechnische Grundlagenforschung?

„Mit der Zusammenführung wird eine Stärkung und Konzentration der staatlich geförderten Forschung in der Informations- und Kommunikationstechnik erzielt. (…) Es ist das Ziel der Bundesregierung, Deutschland in eine europaweite Spitzenposition in der Informationsgesellschaft zu bringen. Damit tragen wir dazu bei, nachhaltig neue Arbeitsplätze zu schaffen. Deswegen sollen Kompetenzen beider Einrichtungen auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnik gebündelt und Synergien durch eine gemeinsame strategische Ausrichtung sowie eine enge Verzahnung der Institute ermöglicht werden.“ (Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung BMBF vom 29.9.1999)

Diese Absichten von Frau Bulmahn sind mit der Fusion nicht zu verwirklichen. Grundlagenforschung, auch angewandte, ist in der FhG kaum bezahlbar. Forschungsergebnisse müssen erst in die FhG transferiert werden, wenn sie dort genutzt werden sollen. Die bereits 1973 einsetzenden Beiträge der GMD zum Internet wären in der FhG so nicht möglich gewesen. Es gibt weitere ähnliche Beispiele:

Die Institute der FhG – sie umfassen meist über 200 MitarbeiterInnen – operieren als selbständige Profit-Center – auch gegeneinander. Jedes Institut erhält 1 Mio. DM Grundfinanzierung als Basisausstattung. Die Zentrale der FhG genehmigt in dem Maße weitere Grundfinanzierung, wie ein Institut Aufträge aus der Wirtschaft hereinholt. Projektfördermittel der öffentlichen Hand zählen hierbei zunächst nicht. Mittel der EU mit europäischer Kooperation sind verpönt. Würden die GMD-Institute diesen Kriterien unterworfen, so wären sie nach kurzer Zeit Bankrott. Die Hälfte des Personals wäre nicht mehr finanzierbar. Grundlagenforschung, längerfristig angelegte Vorhaben oder solche, die nicht auf kurzfristig vermarktbare Produkte oder Dienstleistungen zielen, müssten eingestellt werden. Internationale Kooperationen, auf EU-Mitteln fußend, wären abzubauen. „Wenn man uns eine Arznei mit solchen Nebenwirkungen verschreibt, dann sagt uns doch einmal, an welcher Krankheit wir eigentlich leiden“, meinte dazu ein Institutsleiter auf einer Betriebsversammlung der GMD.

Privatisierung der Forschung: alle gegen alle

Was jetzt realisiert werden soll, wurde im Kern bereits 1996 von Thomas und Prof. Dr. Max Syrbe, einem früheren Präsidenten der FhG, in einem Papier für die Friedrich-Ebert-Stiftung entwickelt, mit dem Titel: »Forschungsunternehmen statt Forschungsbehörden: Zur Reform der anwendungsorientierten Großforschungseinrichtungen«. Die Autoren unterteilen die Großforschungseinrichtungen in anwendungs- und erkenntnisorientierte. Die erste Gruppe aus DLR, GBF, GKSS, GMD, GSF, HMI, KFA und FZK2, die rund 18.000 Beschäftigte zählt, bezeichnen sie mit GFE-A. Diese stünden im Mittelpunkt öffentlicher Kritik.3 „Diese entzündet sich an dem von der Öffentlichkeit wahrgenommenen Nutzen der Tätigkeit der GFE-A im Verhältnis zu dem Aufwand4, der überdies im Wesentlichen über den »bequemen« Mechanismus Grundfinanzierung abgedeckt wird. (S. 2) … (Diese) erwies sich immer mehr als Hindernis bei der Anpassung an neue Aufgabenstellungen. (S. 4) … Aus der Sicht der Forschungspolitik werden die teuren GFE-A bei knappen Kassen zunehmend als Klotz am Bein empfunden. … Zu wenig marktnahe Forschung, zu wenig Patente und Übernahme der Ergebnisse durch die Wirtschaft.5 (S. 5) … Die Großforschungseinrichtungen … sind … Behörden. Sie sollten Forschungsunternehmen werden (S. 11). … Institute der GFE-A sollten in der Regel projektorientiert als Institute auf Zeit angelegt werden. Insofern ist eine Annäherung an die Führungsstrukturen der FhG (Institute als Profit Center) wünschenswert. (S. 14) … Wir schlagen vor, einen Forschungsmarkt zu etablieren, in dem die GFE-A miteinander konkurrieren und auch gegen andere öffentliche Forschungseinrichtungen antreten müssen. … Wir wollen, dass die GFE-A im Wettbewerb ihren Platz in den Programmen des BMBF erkämpfen.“ (S. 18) Thomas/Syrbe wollen den Bundesanteil der Grundfinanzierung von 2,2 Milliarden (1995) auf 600 Mio. DM senken und 5 Jahre lang einfrieren. (S.18) „Langfristig … soll die Grundfinanzierung des Bundes bis zu 30 Prozent der Erlöse der GFE-A abdecken. (S. 21)“

Der parlamentarische Staatssekretär im BMBF Catenhusen (SPD) äußerte im Bundestag: „Im Kern geht es darum, inwieweit sich die GMD über die Jahre hin stärker an Marktentwicklungen und Marktbedürfnissen orientiert. … Auch die Fraunhofer-Gesellschaft betreibt zurzeit Arbeiten, die strategisch und längerfristig orientiert sind. … Strategien werden nicht für eine große Zeitspanne formuliert; auch diese Einrichtung wird sich vielmehr alle drei bis fünf Jahre auf dem Forschungsmarkt neu positionieren müssen.“ Es scheint, als hielte Catenhusen die herumschwirrenden Werbegags der Branche für Innovationen und den auf 3 Jahre im Voraus gerichteten Blick bereits für Strategie. Mit solider Forschung hat das aber nichts zu tun.

Auf Druck von Thomas und Bulmahn erfolgt „die Zusammenführung von FhG und GMD… unter Fortentwicklung und Ergänzung des bestehenden FhG-Modells.“ „Die deutsche Wirtschaft unterstützen“, „Markt und Nachfrage“, „identifizierte Märkte“, „potenzielle Märkte“, „bestehende und neue Märkte“, „zukünftige Märkte“, „Markterschließung“, „Grundlagen für neue Geschäftsfelder“: Das sind die wichtigsten Stichwörter in den dafür entwickelten Eckpunkten.

Die GMD kooperiert in geförderten Projekten mit anderen ForscherInnen und Unternehmen. Die Institute werden regelmäßig evaluiert und die Kommissionen dazu unter Federführung des Bundesforschungsministeriums eingesetzt, was auch für den international besetzten Beirat der GMD gilt. Dieser gibt geachtete Empfehlungen über die Plazierung der GMD im Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnik. In diesen Gremien und im Aufsichtsrat ist die Industrie vertreten. Die GMD ist Mitglied im European Research Consortium for Informatics and Mathematics (ERCIM), der mit über 7000 Beschäftigten größten europäischen Forschungsorganisation auf diesem Gebiet. Eine hohe Zahl der WissenschaftlerInnen der GMD tritt jährlich auf internationalen Konferenzen an. Sie publizieren hunderte Artikel in der internationalen Fachpresse. Bei Konzentration auf Auftragsforschung bliebe davon nicht viel, dann bedürften z.B. Publikation und weitergehende Kooperationen der Genehmigung des »Partners«.

Von Rüttgers bis Bulmahn: Technik für die Marktdynamik

Die Arbeitsgemeinschaft der Betriebsräte der Forschungseinrichtungen (AGBR), der auch die Gesamtbetriebsräte der GMD und der FhG angehören, hatte Bulmahns Vorgänger Rüttgers (CDU) bereits 1997 kritisiert: „Wirtschaftlichkeit, Umwelt- und Sozialverträglichkeit müssen gleichrangige Ziele der Forschungs- und Technologiepolitik werden. Volkswirtschaftliche Gesichtspunkte, die auch die gesellschaftlichen und ökologischen Folgeschäden berücksichtigen, müssen eine rein betriebswirtschaftliche Betrachtung ersetzen. Anstelle des immer schärferen internationalen Konkurrenzkampfes um Weltmarktanteile müssen partnerschaftliche Alternativen gefunden werden. Wissenschaft und Forschung als gesellschaftsgestaltende Faktoren brauchen den gesellschaftlichen Dialog. Demokratische Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten müssen geschaffen und die Folgen neuer Techniken abgeschätzt werden. Hierfür sind Mittel bereitzustellen.“
(http://www.helmholtz.de/arbeitsformen/agbr/leitlin.html)

Diese Kritik muss sich auch die heutige Regierung gefallen lassen. Zwar heißt es bei Thomas/Syrbe: „Technische Problemlösungen sind komplizierter geworden, da sie … auch ökologische und soziale Aufgabenstellungen beachten müssen. (S. 5) „Mit Blick auf die Zukunft kommt es jetzt darauf an, … effektiv zum Innovationsprozess in der deutschen Industrie und zur Lösung öffentlicher Probleme im Bereich der Infrastruktur, der Ökologie, des Gesundheitswesens beizutragen.“ (S. 8) Anmerkungen, die heute als Beiwerk erscheinen, denn wenn sich Forschung am Profit orientiert, lässt sich »Nachhaltigkeit« nicht mehr erforschen. Die Technikentwicklung wird dann patriarchalisch orientiert bleiben und unter dem Stichwort »Spitzenposition in Europa« werden sich Machtstrukturen verfestigen.

Symptomatisch ist die Evaluation der FhG. Die Evaluateure, 8 Männer, jeder ein Chef, haben 1998 herausgefunden: „Im Vergleich mit den anderen CROs (Contract Research Organisation im Ausland, W.G.) leidet die FhG als einzige unter dem gravierenden Wettbewerbsnachteil, Führungskräften keine wirtschaftskompatiblen Vergütungen – auch in Verbindung mit einer Flexibilisierung und Befristung von Arbeitsverhältnissen – bieten zu können.“ (Peter Kohlhammer u. a.: Systemevaluierung der Fraunhofer-Gesellschaft: Bericht der Evaluierungskommission, November 1998, S. 29)

Die Kommission war gefragt worden: „Welche technologieorientierten Märkte weisen weltweit und für die deutsche Gewerbliche Wirtschaft die größte Wachstumsdynamik auf? Auf welchen Technologien wird diese Marktdynamik vornehmlich beruhen? … Verfügt die Fraunhofer-Gesellschaft über geeignete Verfahren, Prinzipien und Möglichkeiten, um entsprechend der dynamischen Entwicklung der Märkte für Dienstleistungen und Produkte in Deutschland und weltweit ein ausreichendes und zeitnahes Leistungsspektrum anzubieten?“ (S. 4) „Die Kommission bescheinigt der FhG eine vorrangig auf die Bedürfnisse der Wirtschaft ausgerichtete Forschung von internationalem wissenschaftlichen Niveau und hohem volkswirtschaftlichen Nutzen. Wirtschaftlichkeit, Markt- und Ergebnisorientierung sind das Ergebnis des … Modells der erfolgsabhängigen Grundfinanzierung. … Fachliche Flexibilität und finanzielle Stabilität … beruhen nicht zuletzt auf der großen Zahl relativ eigenständig am Markt operierender Institute.“ (S. 6) Die Kommission empfiehlt,die Ausrichtung auf die zukünftigen Anforderungen des Marktes zu verstärken. „Eine nachhaltige Steigerung der Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und in ihrer Folge auch der Wirtschaftserträge auf mittelfristig 40 % (bis 2005) erscheint realisierbar und wird empfohlen, sofern die Zuwendungsgeber … die für das wettbewerblich härtere Operieren am Markt erforderlichen Freiräume einräumen.“ (S. 7) „Die (FhG) … fördert die Dynamik der Märkte. … Die Ressourcen zur freien Vorlaufforschung (sind) mit nur rund 20 % des Institutsbudgets stark limitiert. … Die FhG muss deshalb ihr laufendes operationelles Geschäft stark an der aktuellen Nachfrage orientieren.“ (S. 9) „Die FhG sieht eine … Abschwächung bei … konventioneller Wirkungs- und Umweltforschung (vor).“ (S. 10) „Das Technologieportfolio der FhG deckt wesentliche umsatzstarke Märkte im kurz- bis mittelfristigen Bereich hinreichend ab, Defizite werden jedoch in Bereichen der Informations- und Kommunikationstechnik und insbesondere in den Life Sciences gesehen. … Von den technologischen Durchbrüchen im ersten Jahrzehnt des nächsten Jahrhunderts werden über die Hälfte den Life Sciences6 zugeordnet.“ (S. 11)

Die Kommission äußert sich nicht näher zu den Life Sciences und deren militärischer Bedeutung. Die Motorik von Insekten und deren nervöse Steuerung sollen beispielsweise in spinnenartigen Laufmaschinen und unbemannten Hubschraubern nachgeahmt werden, um Kriegsroboter zu bauen. Mit dem Aufbau der Westeuropäischen Union (WEU) wächst der Bedarf an militärischer Informations- und Kommunikationstechnik. Die FhG wird auf diese Einnahmequelle kaum verzichten, um „Deutschland in eine europaweite Spitzenposition in der Informationsgesellschaft zu bringen“. Für die Beschäftigten bedeutet das dann Geheimhaltungspflicht und Sicherheitsüberprüfungen.

Ein Resümee

Die Fusionsankündigung hat eine Diskussion zur Forschungspolitik provoziert. „Wir wollen nicht nur über neue Medien reden, sondern sie auch zur Kommunikation nutzen. Mir liegt daran, mit Ihnen persönlich die Ziele und Chancen einer Fusion von FhG und GMD zu diskutieren,“ schrieb die Ministerin per E-mail an die MitarbeiterInnen der GMD. Nach über 400 Antworten mahnt sie: „An alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beider Einrichtungen habe ich die nachdrückliche Bitte, die Diskussion wieder dorthin zurückzuverlagern, wo sie hingehört. Nämlich in die Einrichtungen selbst.“ Die Diskussion – Presseartikel, Mitschnitte aus den Medien, über 400 Beiträge aus der GMD, auch eine viel kritisierte Bundestagsrede von Catenhusen (»Man will seine Ruhe behalten.«) – ist unter
http://borneo.gmd.de/~veit/fusion/fusion.html
öffentlich geworden.

Die Diskussion wird weiter geführt, auch im Web. Gelingt die Umstrukturierung der GMD, so ist zu befürchten, dass auch auf die weiteren 16.000 Beschäftigten der Großforschungseinrichtungen A (GFE-A), auf die Max-Planck-Gesellschaft und auf die Institute der Blauen Liste ähnliches zukommt: eine marktradikale Privatisierung der Forschung mit einer nationalistischen Ausrichtung und dem Abbau all dessen, was der kapitalistische Markt nicht finanziert.

Anmerkungen

1) Die angesprochenen Großforschungszentren sind in der Hermann-von-Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren (HGF) zusammengeschlossen. Die GMD ist Mitglied, die FhG nicht. Bei einer Fusion hätte die GMD aus der HGF auszutreten.

2) Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt, Gesellschaft für biologische Forschung, Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schifffahrt, GMDForschungszentrum Informationstechnik, Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung, Hahn-Meitner-Institut, KFAForschungszentrum Jülich, Forschungszentrum Karlsruhe

3) Thomas/Syrbe verweisen auf »Großforschung völlig untauglich« und »Köpfe statt Konten« von Böndel/Dürand in Wirtschaftswoche, Heft 3 (1995), S.60-66

4) Thomas/Syrbe beziffern die Grundfinanzierung der GFE-A bei einem Gesamthaushalt von 3,0 Milliarden DM im Jahre 1995 auf 2,4 Milliarden.

5) Thomas/Syrbe beziehen sich auf a) Weule, H. u.a.: Zusammenarbeit GFE/Industrie. Mai 1994, b) N. N.: Bewertung der Industrierelevanz staatlich geförderter Forschungseinrichtungen im Bereich der Informationstechnik. ZVEI, Juni 1994 und c) Wissenschaftsrat: Stellungnahme zur Umweltforschung in Deutschland. Köln 1994

6) Webster 1974: a branch of science (as biology, medicine, anthropology, or sociology) that deals with living organisms and life processes.

Dipl. Math. Wolf Göhring arbeitet seit 28 Jahren in der GMD. Über 15 Jahre davon war er Betriebsratsmitglied. Sein erster Job war aber in der FhG. Damals dort vom Verteidigungsministerium bezahlt, machte er sich mit dem Dialog am Bildschirm und »dual use« vertraut.