Der Fall Kundus

Der Fall Kundus

Plädoyer für eine kritische Bestandsaufnahme

von Katja Mielke und Conrad Schetter

Die AutorInnen fordern in ihrem Kommentar vom 6. Oktober 2015, den sie anlässlich der Rückkehr der Taliban nach Kundus schrieben, eine kritische Aufarbeitung des Bundeswehreinsatzes dort: „Die Frage ist nicht, ob man mehr Militär nach Afghanistan schicken sollte oder nicht, sondern vielmehr, was bislang versäumt wurde.“ Eine solche Bestandsaufnahme, die die AutorInnen exemplarisch anhand einiger Beispiele anreißen, hat insbesondere nach der Entscheidung der USA, den Truppenabzug aus Afghanistan zu stoppen, und den Überlegungen, in der Folge solle auch Deutschland den Einsatz der Bundeswehr dort fortsetzen, höchste Dringlichkeit. W&F dankt für die Nachdruckrechte.

Kundus stand ein Jahrzehnt lang wie kein anderer Ort für den deutschen Sonderweg einer Interventionspolitik, in der Wiederaufbau mit einem Bundeswehreinsatz gepaart wurde. Hier wurde der so genannte Vernetzte Ansatz erprobt, hier versuchten die Deutschen, es besser zu machen als ihre angelsächsischen Kollegen, was die Einbindung der Afghanen und den Aufbau von Staatlichkeit anging. Kundus sollte das Musterländle am Hindukusch werden. Nun ist es das Symbol, das – wenige Monate nach dem massiven Truppenabzug aus Afghanistan – für die Zäsur im Wiederaufbau, für das Wiederaufflackern des Bürgerkrieges und für die Rückkehr der Taliban steht. Schonungslos führt die Weise, in der die Taliban Kundus in wenigen Stunden überrannten und einnahmen, vor Augen, wie oberflächlich zehn Jahre deutscher Präsenz und Entwicklungsanstrengungen den Nordosten des Landes nur verändert hatten. Nun dürfte auch der letzte deutsche Politiker und Beamte verstanden haben, dass die Schönfärberei des Einsatzes in Afghanistan nichts mehr bringt.

Allenthalben wird nun gefragt, was denn die internationale Gemeinschaft als nächstes tun müsste, um die Konsolidierung und eine erneute großflächige Herrschaft der Taliban zu verhindern; wieder einmal scheint eine neue Runde des blinden Aktionismus auszubrechen, die kaschieren soll, was in der Vergangenheit alles falsch gelaufen ist. Daher bedarf es eher einer kritischen Aufarbeitung des Kundus-Einsatzes, bevor man erneuten aktionistischen Impulsen nachgibt. Die Frage ist nicht, ob man mehr Militär nach Afghanistan schicken sollte oder nicht, sondern vielmehr, was bislang versäumt wurde. Heute gibt es viele bittere Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Hier einige Beispiele:

Die Bundeswehr war in Kundus zu keinem Zeitpunkt in der Lage, ihren Auftrag, ein sicheres Umfeld für den Wiederaufbau zu schaffen, umzusetzen. Dazu mangelte es ihr an Kapazitäten und an Fähigkeiten. So hoffte man, dass die technisch-militärische Überlegenheit der Bundeswehr ausreichen würde, um Gewaltakteure abzuschrecken. Eigene Soldaten in Gefahr zu bringen, um ein sicheres Umfeld zu schaffen, war unausgesprochenes Tabu. Diese Strategie ging dem Anschein nach viele Jahre lang gut; mit sehr viel Glück hielten sich die Verluste in Kampfeinsätzen gering. Eher schleichend verschlechterte sich die Sicherheitslage; zunächst wurde der Distrikt Chardarah, direkt vor den Toren des Bundeswehrlagers, zu einer Problemregion, dann kamen Distrikte wie Archi, Khanabad und Imam Sahib dazu. Mit der Zeit traten die schon immer vorhandenen Rivalitäten und Netzwerke der Kriegsfürsten wieder mehr und mehr zu Tage. Die Bundeswehr war nur noch oberflächlich in der Provinz präsent: Kaum noch fuhr sie Patrouillen; sie igelte sich immer mehr in ihrem Lager ein. Entgegen einer konsequenten Entwaffnung lokaler Gewaltakteure fand in Kundus das genaue Gegenteil statt. So wurden – vor allem mit US-amerikanischem Geld – lokale Bürgerwehren als Privatmilizen finanziert, bewaffnet und aufgebaut. Beim Abzug der Bundeswehr war nahezu die gesamte Provinz unter rivalisierenden, bis an die Zähne bewaffneten Kommandeuren aufgeteilt. Die Sicherheit in Kundus – wohlgemerkt die der Bevölkerung, nicht ihre eigene – hatte die Bundeswehr bereits vor Jahren aufgegeben.

Aber gegen wen will man eigentlich kämpfen? Früh, zu früh operierten die deutschen Analysten mit einem zu simplen Feindbild. Zu schnell wurde alle unzufriedenen oder aufmüpfigen Paschtunen als Taliban kategorisiert; blind ließ man sich in die lokale Politik hineinziehen – ohne zu merken, dass die Bundeswehr, aber auch Organisationen der Entwicklungshilfe, in ihrer alltäglichen Praxis politisch Partei ergriffen. Beispielsweise wurden sowohl in Kundus-Stadt als auch in Taloqan, der Hauptstadt der Nachbarprovinz Takhar, Grundstücke und Gebäude angemietet, ohne Bedenken, wessen Taschen damit gefüllt würden und welchen Eindruck diese Art der Parteinahme in der dortigen Bevölkerung hervorrufen würde. Die blauäugige Rekrutierung von Personal – ob Logistiker, Ingenieure, Dolmetscher – verfestigte den Einfluss und das Machtgewicht bestimmter Familien und Netzwerke. Dass diese Personalpolitik die lokalen Zielgruppen der Entwicklungsmaßnahmen und Projekte sowie den Informationsfluss zwischen Interventen und der breiten Bevölkerung maßgeblich beeinflusste, überrascht nicht. Die Deutungshoheit über die lokalen politischen Verhältnisse hat man entweder nie erlangt oder Wissen zu leichtfertig anderen Erwägungen – wie Mittelabflussdruck, Karriereplanungen und Kurzzeitinteressen der ministerialen Politik in Berlin und Bonn – geopfert. Auch der von Oberst Klein befehligte, verhängnisvolle Beschuss eines Tankzugs, bei dem etwa 90 Zivilisten ums Leben kamen, verdeutlichte, wie weit man von den Realitäten vor den Toren des Lagers entfernt war.

Auch wurden die vermeintlichen Bedürfnisse der Afghaninnen und Afghanen zum einen niemals richtig erfasst und zum anderen wurde die Frage, ob die Partnerwahl vor Ort immer die richtige war, niemals gestellt. Die Bevölkerung selbst wurde viel zu selten gefragt, in was für einer Gesellschaft sie eigentlich leben will. Die Definition der Bedürfnisse und Strategien zu deren Realisierung wurde in kolonialer Manier durch die Interventen vorgenommen. In den Gemeinden im Nordosten mit dieser Art Vorgehen auf der Alltagsebene Vertrauen aufzubauen und die Zuversicht in den Staatsaufbauprozess zu stärken, war daher illusorisch. In einer Reihe von Dörfern wussten sich Männer aller Altersklassen in den letzten Jahren aufgrund von Denunzierung durch ihre Rivalen und der Angst, lokalen Ordnungskräften ans Messer geliefert zu werden, nicht anders zu helfen, als »in die Berge« zu gehen und sich vor dem Zugriff des »Rechtsstaates« in Sicherheit (!) zu bringen. Sie galten dann als Taliban oder al-Kaida-Anhänger. Die Taliban in Kundus waren daher zum großen Teil ein Monster, das sich die Intervention selbst geschaffen hat.

Die afghanischen Partner und insbesondere lokale Eliten tragen eine klare Mitverantwortung für die Geschehnisse: Auch für sie bildeten Kurzzeitinteressen die Priorität; die verfügbaren Gelder – letztendlich Gelder deutscher Steuerzahler – waren immens und weckten Begehrlichkeiten. Letztlich formten diese Anreize die Grundlage dafür, dass die Akteure der staatlichen und nichtstaatlichen Entwicklungszusammenarbeit zunehmend selbst Konfliktparteien wurden. Auch wenn dies ungewollt geschah – der Mangel an Selbstkritik, organisatorische Selbsterhaltungslogiken und die bewusste, bis heute anhaltende Täuschung der deutschen Öffentlichkeit sind konkrete Punkte, die die gegenwärtige allseitige Bestürzung über die aktuellen Ereignisse in Kundus heuchlerisch erscheinen lassen.

Vor diesem Hintergrund wäre es fatal, über die Ereignisse in Kundus nun einfach hinwegzugehen oder mal wieder nur nach dem Militär zu rufen. Vielmehr zeigt gerade der Fall Kundus, wie schwierig, langwierig und steinig der Weg des Wiederaufbaus in einem zerrütten Bürgerkriegsland ist. Eine externe Analyse dessen, was eigentlich in gut zehn Jahren deutschem Engagement in Kundus gelaufen ist, ist daher unbedingt von Nöten, um aus den gemachten Fehlern für zukünftiges Handeln zu lernen. Dabei geht es dann auch darum, schonungslos Probleme, Ignoranz, Versagen und Fehleinschätzungen aufzuarbeiten. Dies hat die deutsche Politik bislang bewusst nicht gewollt. Kundus musste unbedingt ein Erfolg sein. Wer sich jedoch nach den Ereignissen der letzten Tage dieser kritischen Auseinandersetzung immer noch verschließt, muss entweder Zyniker oder verblendet sein.

Katja Mielke (Senior Researcher) und Conrad Schetter (Forschungsdirektor) arbeiten am BICC (Internationales Konversionszentrum Bonn). Zwischen 2003 und 2013 bereisten sie immer wieder Kundus und führten dort Feldforschung zu lokaler Politikgestaltung durch.

Außenpolitik deutscher Kanzler seit der Einheit

Außenpolitik deutscher Kanzler seit der Einheit

von Stephan Klecha

Das starke Engagement des Bundeskanzlers in der Außenpolitik ist eines der prägenden Merkmale der deutschen Kanzlerdemokratie (Niclauß 2004, S.67ff). Kanzlerdemokratie ist analytisch eng mit dem Amtsverständnis Konrad Adenauers verbunden. Auch wenn sich die Kanzlerdemokratie seither transformiert haben mag, so fällt das besondere außenpolitische Engagement des Kanzlers doch weiterhin auf. Es ist eng mit den zentralen Weichenstellungen deutscher Politik seit der Gründung der Bundesrepublik 1949 verbunden. Die Westbindung nebst NATO-Mitgliedschaft wäre jedenfalls ohne Konrad Adenauer wohl genauso undenkbar gewesen wie die Ostpolitik ohne Willy Brandt wohl kaum zum Signum der sozialliberalen Ära geworden wäre.

Obwohl das Außenministerium seit 1955 von einem eigenen Minister geführt wird und trotz der Tatsache, dass seit 1966 der kleinere Koalitionspartner dieses Amt stets für sich reklamierte und es oftmals bewusst mit der Vizekanzlerschaft verband, besitzt der Bundeskanzler in der Außenpolitik einen beträchtlichen Handlungsspielraum. Seine Richtlinienkompetenz wird im deutschen Verbundföderalismus und im Koalitionsalltag zwar verschiedentlich gebrochen oder begrenzt (Klecha 2012, S.84ff; Klecha 2010, S.42f), auch setzt das erreichte Maß an internationaler Koordination Grenzen; dennoch stellt die Außenpolitik ein genuines Handlungsfeld für jeden Bundeskanzler dar, in dem er erhebliche Spielräume besitzt und in denen er nur begrenzt an die Prärogative der Legislative gebunden ist.

Das Ringen um gesamtdeutsche Souveränität

Was die Bundeskanzler in der Außenpolitik bis 1990 umtrieb, war gleichwohl in zwei zentrale Axiome deutscher Politik insgesamt eingebunden. Die Bundesrepublik war zum einen bis zur Deutschen Einheit nur teilsouverän. Alle Fragen, die Deutschland in Gänze betrafen, standen seinerzeit unter alliiertem Vorbehalt. Mithin war deutsche Außenpolitik immer darauf gerichtet, die Spielräume deutscher Handlungsfähigkeiten zu erweitern. In Anbetracht des Anteils, den Deutschland an der Entfesselung der beiden Weltkriege hatte, schien es zielführend, deutsche Außenpolitik berechenbar werden zu lassen. Die enge Einbindung in den Westen ist Folge dieser Überlegungen und führte am Ende dazu, den „langen Weg nach Westen“ (Winkler 2005) zu beschreiten. Die damit verbundenen Entscheidungen stellten ein Novum in der deutschen Politik dar: Sie brachten es mit sich, dass die Bundesrepublik bewusst ihre Souveränitätsrechte limitierte, um sich überhaupt erst politische Handlungsoptionen zu eröffnen.

Zum anderen vollzog sich deutsche Politik unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Die Bundesrepublik befand sich an der Nahtstelle zwischen Ost und West und sah sich latent durch den Ostblock bedroht. Vor dem Hintergrund der deutschen Teilung und der Zuordnung des Ostteils des Landes zum sowjetischen Einflussbereich war sie aber auch darauf angewiesen, an der Verständigung mit dem Osten mitzuwirken. Das Ziel der Deutschen Einheit war letztlich nur bei Überwindung des Kalten Krieges zu erreichen und bestimmte entsprechend die deutsche Außenpolitik (siehe bspw. Vorländer 2009, S.121; Wolfrum 2007, S.118).

Die deutsche Außenpolitik zielte also darauf ab, die Selbstbestimmung und Souveränität der Bundesrepublik zu konsolidieren beziehungsweise auszuweiten. Eine hegemoniale Politik war wegen der historischen Erfahrungen und wegen der Dominanz der Supermächte weder wünschenswert noch möglich. Außen- und verteidigungspolitisch war die Bundesrepublik damit ein Randakteur, konnte aber – vielleicht gerade deswegen – ihr ökonomisches Potenzial voll entfalten. Besonders deutlich wurde das Anfang der 1950er Jahre während des Koreakrieges, als die westdeutschen Produktionsreserven das durch die militärischen Ausgaben der USA absorbierte Potenzial teilweise ersetzten.

Die Verknüpfung aus wirtschaftlichen Interessen und einer auf Einbindung gerichteten Außenpolitik wurde besonders bei den europäischen Integrationsbemühungen deutlich, welche 1957 in die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einmündeten.

Als 1990 die alliierten Vorbehalte endeten und die Konfrontation mit dem Osten fürs Erste endete, war die Westbindung gleichsam ein Erfolgsfaktor auf dem Weg zur deutschen Einheit gewesen. Sie wurde daher vonseiten der Bundesrepublik nicht infrage gestellt. Und auch die Sorge vor einem wiedererstarkten Deutschland ließ sich bei den westlichen Alliierten durch die Fortführung der engen Allianz beseitigen. Das beförderte wiederum Vorbehalte auf sowjetischer Seite, und so wurde diese Frage zum zentralen Streitpunkt in den Verhandlungen zur deutschen Einheit (Winkler 2005, S.577ff). Bundeskanzler Helmut Kohl ließ unterdessen keinen Zweifel zu, dass es ein Zurück zur deutschen Pendelposition des 19. Jahrhunderts nicht geben würde, was im Ergebnis auch die sowjetische Seite beruhigte (Klecha 2012, S.163ff).

Die Wechselseitigkeit der Bündnisverpflichtungen

Mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes veränderte sich die geopolitische Lage aber auch für die Amerikaner, die ihrerseits nun andere Anforderungen an ihre Bündnispartner stellten. Nachdem die USA bis dahin einen wesentlichen Teil des Verteidigungsaufwands für die westliche Welt getragen hatte, sollte die Konversionsdividende nicht alleine Europa oder gar allein der Bundesrepublik zugute kommen.

Würde der Weltfrieden an einer anderen Stelle der Welt bedroht werden oder würde ein anderer Bündnispartner des Westens in Schwierigkeiten geraten, so würde die Zeit kommen, an der sich die Deutschen revanchieren könnten. Genau dieser Fall trat im Golfkrieg 1991 ein. Truppen mochte Bundeskanzler Helmut Kohl seinerzeit zur Befreiung Kuwaits, die immerhin von den Verteinten Nationen mandatiert war, nicht entsenden, wohl aber wurde ein üppig dotierter Scheck ausgestellt, um die Kriegskosten der Amerikaner zu mindern (Görtemaker 1999, S.783).

Für Kohl spielten dabei drei Aspekte eine Rolle. Erstens musste die Bundesrepublik in der Tat beweisen, dass sie zum Bündnis mit den USA auch dann steht, wenn nicht sie selbst, sondern ein Dritter Profiteur der Strukturen wurde. Zweitens war die Bundeswehr für einen internationalen Konflikt zu diesem Zeitpunkt kaum gerüstet. Sie war bis dahin nur mit der Verteidigung des eigenen Landes betraut. Obendrein waren gemäß der Bedingungen des Zwei-plus-Vier-Vertrags im Zuge der Einheit die Truppenkontingente zu reduzieren, während zugleich Teile der Nationalen Volksarmee der DDR in die Bundeswehr zu integrieren waren. Drittens gab es für Kohl eine biographische Erfahrung, nämlich den Tod seines älteren Bruders im Zweiten Weltkrieg sowie die traumatischen Erfahrungen seines Vaters in den beiden Weltkriegen (Klecha 2012, S.137ff). Insofern lag es im persönlichen Interesse des Kanzlers, Deutschland aus internationalen Konflikten herauszuhalten. Eine reine Stärkung der Diplomatie – an welche die Regierung Kohl zunächst glaubte, weswegen auch aus dem KSZE-Prozess heraus die OSZE gegründet wurde -, stieß Anfang der 1990er Jahre in Europa jedoch an ihre Grenzen und stellte die militärische Absenz infrage. Insbesondere auf dem Balkan wurden in den 1990er Jahren in der Auflösung Jugoslawiens mündende Kriege geführt, die sich mit den tradierten Konfliktlösungsmechanismen nicht beilegen ließen.

Gerade durch diese Konfrontation, begleitet von Vertreibungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sah sich die Bundesrepublik zum Handeln herausgefordert (Pfetsch 2003, S.395). Auch über militärische Optionen zur Beendigung des Jugoslawienkonflikts oder zur Stabilisierung nach einer Befriedung wurde debattiert. In der Bundesrepublik versuchten die Parteien mit unterschiedlichen Akzenten und Haltelinien Bedingungen zu formulieren, unter denen auch der Einsatz der Bundeswehr legitim sein sollte. International stand überdies die Frage im Raum, ob die Deutschen die mit diesen Einsätzen verbundenen Risiken zu tragen bereit wären. Eine historisch durchaus wohlbegründete Zurückhaltung Deutschlands stand dem zunächst entgegen, aber die internationale Arbeitsteilung in der NATO hatte dazu geführt, dass die Deutschen über einige benötigte Spezialqualifikationen verfügten; die Überwachung des Balkanluftraums durch AWACS-Flugzeuge war so ein Bereich. Die Debatte über diesen Einsatz veränderte die Sichtweise auf die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr.

Der Logik folgend, dass Bündnisverpflichtungen wechselseitig gelten, räumten die von Kohl geführten Bundesregierungen Zug um Zug ihre Bereitschaft ein, stärker internationale Verantwortung zu übernehmen. Am Ende dieses fast zehnjährigen Prozesses stand das Mandat zur Intervention im Kosovo, um das 1998 noch die Regierung Kohl den Bundestag ersucht hatte und das die Regierung Schröder dann 1999 exekutierte (Pfetsch 2003, S.384f).

Nutzung der Souveränität

In Kohls Fall schwang stets die Attitüde mit, die Bundesrepublik habe sich demütig um eine Rolle auf der internationalen Eben zu bemühen. Diese Position negierte die Regierung seines Amtsnachfolgers Gerhard Schröder recht entschieden. Die erste Bundesregierung, in der sowohl der Kanzler als auch der Vizekanzler vollständig im Nachkriegsdeutschland sozialisiert worden waren, interpretierte die Möglichkeiten der Souveränität gänzlich anders. Deutschland sollte nicht nur seine wirtschaftliche Rolle ausspielen, sondern auch seine Interessen in anderen Politikfeldern offensiv vertreten (Pfetsch 2003, S.381).

So war die Vertiefung der internationalen Kooperation durchaus selbstverständlicher, aber keineswegs uneigennütziger Bestandteil deutscher Europapolitik (Ostheim 2003; Gareis 2010, S.229). Schröder und Fischer warben vehement für die EU-Osterweiterung, unterstützten Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei und plädierten für eine Reform der Institutionen. Sie zielten in erster Linie darauf ab, die wirtschaftliche Dynamik zu nutzen und zu verstärken, von der Deutschland wie kaum ein zweites Land in der EU profitierte.

Die Motivation zur verstärkten Integration war stark von nationalen Interessen geprägt, selbst dort, wo auf den ersten Blick die Interessen anderer Länder im Vordergrund standen. Deswegen wurde der Start des Euros (als Buchwert 1999, als Bargeld 2002) nicht infrage gestellt, sondern auch für die Länder forciert, die größere Schwierigkeiten hatten, die 1992 vereinbarten Vorgaben des Maastricht-Vertrags zu erfüllen.1 Schließlich sank durch die Euro-Einführung das Zinsniveau in Südeuropa, was die Nachfrage ankurbeln würde, von der letztendlich auch Deutschland profitieren könnte. Damit wurde ein Teil jener Spirale in Gang gesetzt, die gegenwärtig in der Schuldenkrise kulminiert.

Während die wirtschaftlichen Zielsetzungen der EU forciert wurden, gelang es nicht, den Prozess der Europäischen Integration in anderen Punkten substanziell voranzubringen. Die soziale Union blieb im Wesentlichen bei dem stecken, was unter Kommissionspräsident Jacques Delors bis 1994 zur Flankierung des Binnenmarktprozesses auf den Weg gebracht worden war. Die Befriedung des Balkans war ohne die militärische Absicherung durch die Vereinigten Staaten nicht möglich. Die Abstimmungsprozesse innerhalb der EU wurden nicht erst nach dem Beitritt weiterer zehn Länder im Jahr 2004 zäh. Konnte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) der sechs Gründungsländer noch mit Einstimmigkeit funktionieren, standen die Reformprozesse der EU in den 2000er Jahren im Spannungsfeld zwischen Demokratisierung und Etablierung von Mehrheitsregularien einerseits und der Bewahrung der staatlichen Souveränität andererseits. Diese Debatte voranzubringen, war ein zentraler Pfeiler der deutschen Europapolitik, die insbesondere Joschka Fischer als Außenminister beförderte (Ostheim 2003, S.369).

Die nordatlantischen Bündnisverpflichtungen belasteten die Arbeit der rot-grünen Regierungskoalition unter Schröder und stellten die Koalition ein ums andere Mal vor die Schwierigkeit, ihre eigene Mehrheitsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Dabei resultierte am Ende genau daraus ein Zugewinn an deutschem Selbstbewusstsein. Die Regierung Schröder demonstrierte ihre Bündnisbereitschaft 1999 mit den Kampfeinsätzen im Kosovo und dem Bekenntnis zur uneingeschränkten Solidarität mit den USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001, das in den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr einmündete (Klecha 2012, S.195). Die Bundesrepublik griff nunmehr selbst aktiv mit Truppen ein, soweit sie dazu personell und logistisch in der Lage war. Doch den Zuwachs an Verantwortung deutete die Regierung im Zuge der erneuten Irakkrise in einen Zugewinn an Entscheidungsfreiheit um. Wo weder die NATO noch die Vereinten Nationen zu einer gemeinsamen Position gelangten, entschied die Bundesrepublik vor dem Hintergrund ihrer eigenen Interessen. Entsprechend verweigerte die Bundesregierung den USA die Gefolgschaft, als diese 2003 militärisch im Irak intervenierten, um Saddam Hussein zu stürzen. Man sei zu keinen Abenteuern bereit, formulierte Schröder, der in dieser Frage das Primat des Kanzlers in der Außenpolitik betonte und seine Position 2002 offensiv im Wahlkampf vertrat.

Die volle Souveränität, die Deutschland 1990 erlangt hatte, verstand die Regierung Kohl eher als Bürde, die Regierung Schröder erkannte darin zusätzliche Handlungsoptionen, die auch mit wachsenden Ansprüchen einhergingen. Der zuvor eher zaghaft vorgetragene Wunsch nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat wurde nun mit einiger Verve vorgebracht. In den internationalen Organisationen sollten deutsche Fachleute auf Spitzenpositionen gelangen. Schröders Regierung ging bei der Erreichung solcher Ziele phasenweise mit einer beträchtlichen Härte vor.

Ernüchterte Realpolitik

Während Schröder somit die Veränderungen aus dem Ende des Ost-West-Konflikts beherzt nutzte, um ausgehend von der weiterhin unbestrittenen Westbindung die erweiterten Spielräume zu nutzen, zeichnet sich Angela Merkels Außenpolitik durch ein tentatives Suchen nach Optionen aus. Zwar wird der amtierenden Kanzlerin zugeschrieben, die Dinge von ihrem Ende her zu denken (Roll 2009, S.52), doch ihr Agieren auf dem europäischen wie dem internationalen Parkett ist stark auf kurzzeitige Erfordernisse angelegt.

Dabei hatte Merkel sich in der Rolle der polyglotten – Merkel parliert im Gegensatz zu ihren beiden Vorgängern überaus passabel fremdsprachig – Aktivistin zum Wohle der Menschheit eingeführt. Sie korrigierte zunächst behutsam den von nationalen Interessen geprägten Kurs, den ihr Vorgänger eingeschlagen hatte (Gareis 2010, S.233). Klimaschutz, Frieden, Freiheit oder transatlantische Beziehungen waren die Themen, ehe 2008 das Thema Weltwirtschaft dann alles andere überlagerte und damit in verschiedener Hinsicht eine Wende der Merkelschen Außenpolitik einläutete.

Hatte Merkel bis dahin lange Linien prestigeträchtiger Themen verfolgt, war fortan die Rettung der Weltfinanzordnung das zentrale Thema ihrer Kanzlerschaft. Einen Masterplan gab und gibt es dazu nicht, mithin auch keine erkennbare Konzeption. Merkels Außenpolitik steht vielleicht auch deswegen nicht im Zentrum der politischen Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition oder zwischen den Regierungsparteien. Eine wirkliche substanzhaltige Kontroverse, gar eine gesellschaftliche Debatte um ihren außenpolitischen Kurs hat es seit ihrem Amtsantritt nie gegeben, wiewohl Merkel die Diskussion um die Militäreinsätze zumindest mit dem »Weißbuch 2006« zu strukturieren versuchte (Gareis 2010, S.239). Darin unterscheidet sich Merkel erkennbar von ihren Vorgängern, die gerade in der Außenpolitik harte Debatten provozierten.

Ein Grund für das erstaunliche Einvernehmen liegt im wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik, der seinerseits Grundlage der Popularität Merkels ist. Die Bundesrepublik hat im Nachgang zur Krise 2008 einige Probleme der Vergangenheit, wie Haushaltsdefizite oder Arbeitslosigkeit, quasi nebenbei vermindern können, während andere Länder mit gravierenden Strukturanpassungen zu kämpfen haben beziehungsweise sich diese in der Folge des deutschen Wachstumsmodell sogar eher verschärften.

An dieser Stelle gereicht Merkel sozusagen zum Problem wie zum Nutzen, was in den 2000er Jahren an institutionellen Reformen in Europa versäumt wurde. Die Bundesrepublik befindet sich in der Rolle der wirtschaftlichen und politischen Zugmaschine Europas. Dies war nicht das originäre Ziel der Politik der drei Kanzler seit 1990, wohl aber ihr Resultat. Kein anderes großes Land in der EU weist derartige Stabilität auf und verfügt über eine derartige ökonomische Potenz. Zugleich gibt es keine Notwendigkeiten für Deutschland, dieses Vermögen in Europa zu kollektivieren. Die Bundesrepublik braucht die anderen Staaten in der EU nicht mehr, um ihre Interessen wirksam durchzusetzen, obgleich sie auf die Europäische Union in wirtschaftlicher Hinsicht ja angewiesen ist. Was bei Schröder noch ein wenig hemdsärmelig als nationales Interesse zur Leitmaxime avancierte, ist bei Merkel eher der Not der Verhältnisse geschuldet. Die EU ist nämlich augenblicklich nicht in der Lage, die verschiedenen Interessen der Einzelstaaten wirksam zu kanalisieren, indem sie diese einer gemeinsamen Leitidee unterordnet. Die Bundesrepublik ist mit der schwindenden Bereitschaft zur weiteren Integration jedenfalls dazu übergegangen, die eigenen Interessen recht prononciert zu vertreten.

Kohl und Schröder hatten ihrerseits verschiedentlich versucht, eine solche Position zu vermeiden. Merkel glaubt offenkundig aber nicht an den Erfolg eines Prozesses der weiteren Integration, nachdem die Verabschiedung einer gemeinsamen europäischen Verfassung gescheitert ist und Vertragsänderungen sich als ausgesprochen schwierig erwiesen haben. Auch die Resultate der gemeinsamen Integrationsbemühungen seit den 2000er Jahren fallen eher dürftig aus: Die Verwerfungen innerhalb der Eurozone zeugen von der missglückten Konvergenz der Volkswirtschaften. Die Krise in der Ukraine zeigt an, dass die europäische Sicherheitsarchitektur der vergangenen 25 Jahre ebenfalls brüchig ist. Der gegenwärtige Flüchtlingsstrom nach Europa schließlich belegt, wie wenig die EU als solidarische Wertegemeinschaft funktioniert. Merkel hat diesbezüglich also Grund, ernüchtert zu sein, was die Handlungsfähigkeit der EU betrifft. Sie sieht die Bundesrepublik daher weder in der Pflicht noch gegenwärtig in der Lage, die europäische Kohäsion voranzubringen, sondern geht eher in Ermangelung anderer plausibler Alternativen dazu über, den eigenen Nutzen zu maximieren.

Vom Souveränitätszuwachs zur politischen Ernüchterung

Deutschlands Bundeskanzler haben nach 1990 den Souveränitätszuwachs in unterschiedlicher Weise genutzt. Kohl musste noch die Wechselseitigkeit der Bündnisverpflichtungen betonen und die Einbindung der Bundesrepublik in die europäischen wie transatlantischen Beziehungen herausstellen. Damit schrieb er die vorherige bundesdeutsche Außenpolitik fort und wollte die Bundesrepublik in Systemen kollektiver Sicherheit und gemeinsamer wirtschaftlicher Verantwortung halten. Dass damit bestimmte Spielräume in die eine oder andere Richtung verbunden waren, wurde erst von der Regierung Schröder umfassend erkannt. Doch auch bei ihm stand die Idee einer partnerschaftlichen, kodifizierten und institutionalisierten Zusammenarbeit über den nationalen Interessen, weil dieses letztlich im nationalen Interesse lag. Das Scheitern einer umfassenden Reform der Institutionen, ja die Krise der internationalen Organisationen bei der Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen hat Merkels Regierungen unabhängig vom jeweiligen Koalitionspartner zu einer außenpolitischen Konzeption veranlasst, die nationalen Maximen folgt, da übergeordnete transnationale Zielperspektiven nicht mehr durchsetzbar erscheinen.

Die fast schon postmoderne Außenpolitik der Regierung Merkel orientiert sich somit vordergründig weiterhin an den Rahmendaten und institutionellen Bedingungen, welche aus den Entscheidungen in der deutschen Außenpolitik bis 1990 resultieren. Dahinter liegt indes ein gewachsenes Funktionsdefizit dieser Institutionen. Für die Bundeskanzlerin ergeben sich dadurch größere Spielräume, die ihre Stellung in der Außenpolitik eher stärken. Anders als in der Vergangenheit sind damit aber bislang keine wesentlichen Richtungsentscheidungen verbunden.

Anmerkung

1) Entgegen späterer Relativierungen sah das seinerzeit auch Oskar Lafontaine so; siehe dazu Oskar Lafontaine und Christa Müller 1998, S.99.

Literatur

Sven Bernhard Gareis (2010): Die Außen- und Sicherheitspolitik der Großen Koalition. In: Sebastian Bukow und Wenke Seemann (Hrsg.): Die Große Koalition. Regierung – Politik – Parteien 2005-2009. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.228-243.

Manfred Görtemaker (1999): Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – Von der Gründung bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main/Wien: Büchergilde Gutenberg.

Stephan Klecha (2010): Minderheitsregierungen in Deutschland. Hannover: Friedrich-Ebert-Stiftung – Landesbüro Niedersachsen.

Stephan Klecha (2012): Bundeskanzler in Deutschland – Grundlagen, Funktionen, Typen Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich.

Oskar Lafontaine und Christa Müller (1998): Keine Angst vor Globalisierung – Wohlstand und Arbeit für alle. Bonn.

Karl-Heinz Niclauß (2004): Kanzlerdemokratie – Regierungsführung von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder. Paderborn: Schoeningh.

Tobias Ostheim (2003): Praxis und Rhetorik deutscher Außenpolitik. In:Christoph Egle, Tobias Ostheim und Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.): Das rot-grüne Projekt – Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998-2003. Opladen: Westdeutscher Verlag, S.351-380.

Frank R. Pfetsch (2003): Die rot-grüne Außenpolitik. In: Christoph Egle, Tobias Ostheim und Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.): Das rot-grüne Projekt – Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998-2002. Opladen: Westdeutscher Verlag, S.381-399.

Evelyn Roll (2009): Die Kanzlerin – Angela Merkels Weg zur Macht, Berlin: Ullstein, 2. Auflage.

Hans Vorländer (2009): Die Geschichte der Bonner Republik – erfolgreich und abgeschlossen? In: Tilman Mayer und Volker Kronenberg (Hrsg.): Streitbar für die Demokratie – »Bonner Perspektiven« der Politischen Wissenschaft und Zeitgeschichte 1959-2009. Bonn: Bouvier, S.113-127.

Heinrich August Winkler (2005): Der lange Weg nach Westen II – Deutsche Geschichte 1933-1990. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Edgar Wolfrum (2007): Die geglückte Demokratie – Geschichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Dr. Stephan Klecha ist Sozialwissenschaftler und Habilitant am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Das »Weißbuch 2016«

Das »Weißbuch 2016«

Kontinuität oder Kurswechsel?

von Sabine Jaberg

Das »Weißbuch 2016« kommt. So lautet zumindest der Wille der Bundesregierung. Aber was soll es, was wird es bringen – Kontinuität oder Kurswechsel? Die Antwort erfordert erstens, den Trend der letzten Jahre zu rekonstruieren. Zweitens heißt es, nach möglichen Argumenten für einen Kurswechsel zu suchen. Drittens müssen Alternativen zur Kontinuität ausbuchstabiert werden. Viertens gilt es, im aktuellen Diskurs nach Indizien zu fahnden, die Auskunft über das neue Weißbuch versprechen.

Das noch gültige »Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr« markiert nur eine Etappe der umfassenden Neuausrichtung, die Anfang der 1990er Jahre mit dem Ende des globalen Macht- und Systemgegensatzes beginnt. Damals kommt der Bundeswehr ihr bisheriger Auftrag abhanden, „bei kurzer Vorbereitungszeit […] die Verteidigungsräume zu beziehen und gegen Angriffe der Warschauer-Pakt-Truppen zu halten, dabei den Aufmarsch alliierter Streitkräfte zu decken und gleichzeitig in den Verteidigungsumfang aufzuwachsen“.1 So steht es noch im letzten Weißbuch aus der Ära der Blockkonfrontation von 1985.

Der bisherige Kurs

Zwei Schlagworte umreißen den Trend der letzten 25 Jahre: »Erweiterung des Sicherheitsbegriffs« und »Entgrenzung des Militärischen«. Beide lassen eine restriktive Interpretation des Grundgesetzes hinter sich, die den Einsatz der Bundeswehr ausschließlich zur Landes- oder auch Bündnisverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff erlaubt. Bereits die »Verteidigungspolitischen Richtlinien 1992« konstatieren, Sicherheitspolitik lasse sich „weder inhaltlich noch geographisch eingrenzen“,2 mit der Folge, dass künftig neben politischem auch „militärisches Krisen- und Konfliktmanagement im Vordergrund unserer Maßnahmen zur Sicherheitsvorsorge stehen“ 3 müssten. Dementsprechend bekennt sich das »Weißbuch 1994« zum „weiten Sicherheitsbegriff“,4 der im Einzelfall erfordere, das „gesamte Spektrum möglicher Maßnahmen“ einschließlich militärischer Komponenten zu prüfen.5

Dem fügen die »Verteidigungspolitischen Richtlinien 2003« ein erweitertes Verständnis von Verteidigung hinzu. Letztere lasse sich ebenfalls „geografisch nicht mehr eingrenzen“, sondern trage „zur Wahrung unserer Sicherheit bei, wo immer diese gefährdet ist“.6 Damit korrespondiert eine ausgedehnte Beistandsverpflichtung. Diese gelte nicht erst bei erfolgten oder unmittelbar bevorstehenden Angriffen, sondern bereits bei „Krisen und Konflikten, die zu einer konkreten Bedrohung von Bündnispartnern eskalieren können“.7 Wenngleich die Mittel des Beistands offen bleiben, impliziert dieser Passus die Rechtsfigur »antizipatorische Nothilfe«, die zwar an die nationale Sicherheitsstrategie der USA, nicht aber an das Völkerrecht anschlussfähig ist. Das obige Zitat findet sich wörtlich im »Weißbuch 2006« wieder.8 Hinzu kommt dort das Bekenntnis zur „Sicherheitsvorsorge […] durch Frühwarnung und präventives Handeln“, die das „gesamte sicherheitspolitische Instrumentarium einbeziehen [muss]“.9 Obwohl das »Weißbuch 2006« den weiten Verteidigungsbegriff nicht explizit übernimmt, lässt er sich dem Dokument doch in verklausulierter Form entnehmen.

Eine (schlechte) Option: Kontinuität

Was ist an dem eingeschlagenen Kurs eigentlich problematisch? Auf den ersten Blick spricht doch einiges für ihn: Sicherheit, verstanden als Abwesenheit bzw. Neutralisierung existentieller Bedrohungen, steht als legitimes Ziel nicht in Frage. Folglich erscheint es geradezu geboten, dass auch der deutsche Staat Gefahren identifiziert, um ihnen entgegenzuwirken. Dabei bringt es doch nur Vorteile, wenn er prinzipiell jederzeit über alle sicherheitsdienlichen Instrumente verfügen kann. Was aber, wenn ein für nützlich gehaltener Waffengang mit dem Völkerrecht kollidiert, zu dem sich das Grundgesetz in Artikel 25 bekennt? Nach der eben skizzierten Sichtweise obläge dem Staat die Entscheidung darüber, ob nicht auch rein zivile Mittel ausreichen, um Sicherheit zu gewährleisten. Erscheint der Streitkräfteeinsatz jedoch unumgänglich, wären Recht und Gewalthandeln eben durch kreative Interpretation in (scheinbare) Übereinstimmung zu bringen, wie beim Kosovokrieg 1999 mit der fragwürdigen Figur der »humanitären Intervention« vorexerziert.

Militärische Exzesse Deutschlands stehen ohnehin nicht zu erwarten – so die Grundannahme aus Politik und Wissenschaft. Daran ändere auch das weite Sicherheitsverständnis und der entgrenzte Streitkräfteauftrag nichts. Erstens liegen die innenpolitischen Hürden bei der Entsendung der Bundeswehr hoch, bedarf sie doch der konstitutiven Zustimmung des Parlaments. Zweitens müssen um ihre Wiederwahl besorgte Abgeordnete auf die Stimmung in der Bevölkerung Rücksicht nehmen. Und die steht militärischem Engagement eher skeptisch gegenüber.10 Hinzu kommen drittens die immanenten Grenzen, die Streitkräfte in vielen Fällen zu einem nicht oder nur bedingt geeigneten Instrument machen. Pandemien etwa lassen sich auch dann nicht mit Panzern bekämpfen, wenn das »Weißbuch 2006« sie zu den sicherheitspolitischen Herausforderungen zählt.11 Warum sollte das Militär aber nicht seinen Beitrag leisten, indem es etwa medizinische Spezialkapazitäten im Kampf gegen Ebola mobilisiert?

Gemäß dieser Betrachtungsweise erscheint ein Kurswechsel nicht nötig. Allenfalls wären problematische Spitzen, wie das verklausulierte »Recht« auf antizipatorische Nothilfe, zu kappen oder abzuschleifen. Im Wesentlichen hieße die Vorgabe für das kommende Weißbuch: Anwendung des bisherigen Trends auf neu erkannte Gefährdungen (z.B. Cyberwar, Islamischer Staat).

Wer einen Kurswechsel anmahnt, müsste also mindestens einen grundsätzlichen Defekt nachweisen, der sich nicht innerhalb des bisherigen Kurses reparieren ließe. Heißer Kandidat dafür ist das Paradigma »nationale Sicherheit«. Gemäß »Weißbuch 2006« sei Deutschlands Sicherheitspolitik vom Ziel geleitet, „die Interessen unseres Landes zu wahren“.12 Zwar erscheint diese Passage zunächst als Selbstverständlichkeit, kann deutsche Politik sich doch kaum chinesischen, russischen oder amerikanischen Interessen verschreiben. Allerdings offenbart sie auch das Kernproblem: die immanente Eigenbezüglichkeit. Wenngleich internationale Bezüge mitreflektiert werden, geht es im Paradigma nationaler Sicherheit primär um die spezifischen Anliegen eines bestimmten Staates. Dieser gilt als letzte Referenzgröße. Alle (anderen) Akteure und Probleme interessieren ihn nur soweit, als sie seine eigene Sicherheit beeinflussen. So spricht das »Weißbuch 2006« zwar sowohl hinsichtlich der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen als auch der Energieproblematik von einer Bedrohung globaler Sicherheit. In beiden Fällen betont es aber besonders die Auswirkungen auf Deutschland.13

Letztlich schafft der Blick durch die Brille nationaler Sicherheit eine Welt der Asymmetrien: Während die eigenen Anliegen als berechtigt erscheinen und daher mit allen zweckdienlichen Mitteln an jedem dafür geeigneten Ort realisiert werden dürften, wird politischen Widersachern dies nicht in gleicher Weise zugestanden. Deren Ansprüche gelten vielmehr als Störfaktor für die internationale Ordnung oder gar als Bedrohung der nationalen Sicherheit. Der eigene Beitrag zur Genese problematischer Entwicklungen hingegen gerät aus dem Blickfeld. Als mögliche Ursachen von Migration beispielsweise identifiziert das Weißbuch „Krieg und Bürgerkrieg, Vertreibung, Verfolgung, Umweltzerstörung, Armut, Hunger oder andere […] Notlagen“.14 Hinweise etwa auf eine gegenüber den Ländern Afrikas katastrophale Praxis der Europäischen Union fehlen jedoch (z.B. unfaire Handelsabkommen, ruinöse Billigfleischexporte). Ähnliche Defekte zeigen sich bei den beklagten „Störungen der Rohstoff- und Warenströme […] durch zunehmende Piraterie“.15 Hier endet der sicherheitspolitische Blick beim räuberischen Akt. Der eigene Anteil an der Verursachung der Piraterie (z.B. Überfischung, Giftmüllverklappung) bleibt unthematisiert. Derart verkürzte Analysen verengen auch den Strategieraum der hohen Politik: Die Korrektur des eigenen Verhaltens scheidet aus dem Handlungsrepertoire aus.

Dem Paradigma nationaler Sicherheit wohnt ein zweites Risiko inne, das die »Kopenhagener Schule«16 pointiert herausstellt: Es leistet dem Einsatz militärischer Mittel Vorschub, denn bei Sicherheit handelt es sich um einen ganz besonderen Zielwert, verweist sie doch auf das eigene Überleben. Attestiert Politik einem Problem Sicherheitsrang, katapultiert sie sich gleichsam in einen Notwehrmodus. Dieser rechtfertigt nach gängiger Auffassung auch den Einsatz gewaltsamer Mittel. Das bedeutet: Phänomene, die ein Sicherheitslabel erhalten, werden für eine militärische Bearbeitung auch dann geöffnet, wenn dies sachlich (noch) nicht erforderlich wäre. Dazu tragen die Dramatisierung der Lage, die unmittelbaren Handlungsdruck suggeriert, und die schnelle Entsendefähigkeit der Streitkräfte bei. Mithin kommt hier eine irrationale Komponente ins Spiel, die in den Plädoyers für eine Politik der freien Hand meist unterbelichtet bleibt.

Im erwähnten Fallbeispiel Ebola könnte der Auftrag an die Armee unter Umständen eben nicht nur lauten, medizinisches Personal und Gerät bereitzustellen, sondern darüber hinaus Erkrankte gegebenenfalls unter Einsatz militärischer Gewalt zu isolieren, um die Verbreitung des Erregers zu unterbinden. Die (reaktive) Eindämmung der Symptome wäre unter Umständen kaum mehr als eine billige Ersatzhandlung für die ausgebliebene (präventive) Bekämpfung der Ursachen. Kontinuität ist also mit Blick auf das kommende Weißbuch durchaus eine problematische Option.

Drei (bessere) Alternativen

Die Alternativen zur Kontinuität lauten: Kehrtwende, reflexive Sicherheitspolitik und reflexive Friedenspolitik. Sie müssen sich nicht wechselseitig ausschließen, sondern können einander durchaus ergänzen. Die programmatische Kehrtwende bedeutete nichts anderes als die Rückkehr zum »status quo ante«. Der Sicherheitsbegriff würde wieder auf existentielle Gefährdungen durch personale Großgewalt (Kriege, terroristische Anschläge) beschränkt und das Militärische an den Verteidigungsauftrag rückgebunden. Das Leitmotiv »nationale Sicherheit« bliebe jedoch unberührt, seine Defekte wirkten also fort.

Hier setzt die moderate Paradigmenkorrektur zugunsten reflexiver Sicherheitspolitik an. Dabei gälte es zunächst, die eigenen Anteile an der Genese sicherheitsrelevanter Probleme mit in die Analyse einzubeziehen und die Änderung des eigenen Agierens als Strategieoption zu begreifen. Dafür sprechen nicht nur ethisch-moralische, sondern auch pragmatische Überlegungen: Das eigene Verhalten ist der Steuerungsfähigkeit unmittelbarer zugänglich als das Handeln anderer Akteure. Die Vorstellung, von außen Gesellschaften beeinflussen und Staaten errichten zu können, hat sich jedenfalls als sozialtechnologische Illusion erwiesen.17 Gleichwohl handelt es sich bei der Forderung nach Selbstreflexion nicht um eine Zauberformel, die alle Probleme zum Verschwinden brächte. Schließlich trägt »der Westen« in den meisten Fällen kaum eine Allein-, sondern eher eine Mitverantwortung, die in wechselnden Kontexten noch dazu unterschiedlich groß ausfallen mag.

Die Kehrseite der Selbstreflexion heißt Empathie. Wer die Folgen des eigenen Handelns bedenken will, muss sich ein Bild von den externen Wirkungen machen. Das impliziert auch das Eintauchen in die Sichtweisen anderer Akteure. Je intensiver dies geschieht, desto stärker relativiert sich das Paradigma nationaler zugunsten internationaler Sicherheit, desto mehr weicht das Prinzip der Eigenbezüglichkeit einem Perspektivenpluralismus. Zwar generiert die Ausrichtung am Konzept internationaler Sicherheit nicht automatisch (gewaltfreie) kooperative Politiken, allerdings leistet die Einsicht in Interdependenzen ihnen doch Vorschub. Je mehr Probleme reflexiv durchgearbeitet würden, desto besser.

Die reflexive Friedenspolitik geht einen Schritt weiter als ihr sicherheitspolitisches Pendant. Was wäre mit diesem Paradigmenwechsel gewonnen? Idealtypisch zugespitzt: Sicherheit stellt eine genuin eigenbezügliche Kategorie dar, Frieden ist von vornherein als Beziehungsbegriff angelegt. Sicherheit befördert also asymmetrische Strukturen, Frieden begünstigt symmetrische Beziehungsmuster. Sicherheit kuriert eher am sichtbaren Symptom, Frieden arbeitet stärker an den Ursachen. Sicherheit manipuliert Völkerrecht nach Nützlichkeitserwägungen, Frieden respektiert dessen Eigenwertigkeit. Sicherheit setzt den jeweils anderen Akteur zunächst unter Feindverdacht, Frieden sieht ihn zuvorderst als gleichberechtigten Partner. Sicherheit lässt Kooperation als Möglichkeit zu, Frieden ist sie als Handlungsmaxime eingeschrieben. Sicherheit setzt dort, wo partnerschaftliche Zusammenarbeit nicht (mehr) greift, auch auf militärische Stärke, Frieden sucht nach gewaltfreien Alternativen.

Gleichwohl ist der Frieden gegenüber Verlockungen der Gewalt nicht immun. Bereits der Philosoph Nicolai Hartmann (1882-1950) warnte eindringlich vor einer »Tyrannei der Werte«.18 Dieses Risiko bestehe dann, wenn der Wert vereinzele, d.h. nicht in ein komplexes Wertgefüge eingesponnen werde. Mit Blick auf den Frieden läge die Gefahr darin, ihn mit einem bestimmten Inhalt – etwa einer speziellen Lebensform, einer präferierten Religion etc. – gleichzusetzen. Damit stiege auch die Versuchung, die Differenz zwischen Realität und Zielwert gewaltsam zu beseitigen. Allerdings hält das Friedensparadigma auch das Gegengift parat: Die Konstruktion des Friedens als Wert mit einer „potentielle[n] Geltungsuniversalität“ 19 würde gleichsam als Vorgriff auf den Weltfrieden dazu anhalten, den anderen stets als künftigen Partner zu behandeln, auf dessen Belange schon heute Rücksicht zu nehmen ist. Das schließt den (noch dazu gewaltsamen) Oktroy partikularer Friedensvorstellungen aus. Und die Besinnung auf die Vollwertigkeit des Friedens, der Ziel und Weg gleichermaßen umfasst, würde Gewalt zusätzlich delegitimieren. Auch der Frieden bedarf also der Selbstreflexion. Das schließt die Verpflichtung zur Empathie mit ein.

Ausblick: das neue Weißbuch

Wie zeichnen sich die vier Entwicklungsmodi bereits heute im Diskurs ab? Für die erste Option, die Kontinuität, sprechen die »Verteidigungspolitischen Richtlinien 2011«.20 Abgesehen von einigen Umetikettierungen beschränken sie sich darauf, neue Sachverhalte unter den weiten Sicherheitsbegriff zu subsumieren, ohne den Raum militärischer Möglichkeiten zu begrenzen.21 Dieser Befund erscheint durchaus relevant: Seit Ende des Kalten Kriegs sind es die Verteidigungspolitischen Richtlinien, die – in Umkehrung der bürokratisch vorgesehen Reihenfolge – die Impulse für die nachfolgenden Weißbücher setzen. Des Weiteren stellen Andeutungen aus dem Apparat des Verteidigungsministeriums zumindest bei den großen Linien Kontinuität in Aussicht. Darüber hinaus enthält der Bericht der Rühe-Kommission keine Anzeichen für eine Kursänderung, allerdings beschränkt er sich auftragsgemäß auf Fragen der Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen unter den Bedingungen fortschreitender Bündnisintegration.22 Die Zeichen stehen demnach auf Fortschreibung des bisherigen Kurses.

Für die zweite Option, die programmatische Kehrtwende, besteht hingegen kaum Hoffnung. Weder zeichnet sich eine Engführung des Sicherheitsbegriffs noch eine Begrenzung des Militärischen ab. Angesichts unbefriedigender Interventionserfolge (z.B. Afghanistan, Irak, Libyen) deuten sich unter dem umstrittenen Schlagwort der „Merkel-Doktrin“ 23 allenfalls pragmatische Korrekturen an. Demnach würde Deutschland sich bei der Entsendung der Bundeswehr künftig stärker zurückhalten, dafür aber vermehrt auserkorene Partner unterstützen – sei es mit Rüstungslieferungen (wie im Falle Saudi-Arabiens) oder mit Ausbildungshilfen bei Bedarf auch vor Ort (wie im Falle der kurdischen Peschmerga im Irak). Eine solche »Ertüchtigungsstrategie« könnte durchaus ins »Weißbuch 2016« Eingang finden. Ob damit tatsächlich mehr Sicherheit produziert würde, ließe sich bei einer reflexiven Wende, die funktionale wie dysfunktionale Effekte gleichermaßen zu bedenken hätte, mit gutem Grund bezweifeln.

Gemessen am Problemdruck führt eigentlich kein Weg an der dritten Option, einer reflexiven Sicherheitspolitik, vorbei. Besonders augenfällig zeigt sich dies im äußerst gespannten Verhältnis »des Westens« zu Russland. Nicht nur, aber auch eine forsche Ostausdehnung der Europäischen Union und vor allem der Nordatlantischen Vertragsorganisation haben dazu beigetragen. Ökonomische Sanktionen und militärische Drohgebärden bleiben bislang nicht nur ihren Erfolg schuldig, sondern haben kräftig an der Eskalationsschraube gedreht. Gelänge es, die Beziehungen durch politische Vertrauensbildung zu entspannen, erübrigte sich nicht nur riskantes Säbelrasseln, sondern es eröffneten sich neue Möglichkeiten für die Bearbeitung anderer Konflikte, insbesondere in Syrien. Wenngleich Deutschland keineswegs zu den Hardlinern zählt, sondern auch diplomatische Spielräume sucht, scheint die Bundesregierung noch nicht bereit, den eigenen Anteil am Problem systematisch aufzuspüren, einzuräumen und abzubauen.

Dürfte das Weißbuch schon kaum im Zeichen reflexiver Sicherheitspolitik stehen, gilt dies umso mehr für eine reflexive Friedenspolitik. Dabei ist diese vierte Option nicht so naiv, wie sie auf den ersten Blick anmutet: Widmet sich das erste »Weißbuch 1969« noch ganz der Verteidigungspolitik, beziehen die Nachfolgedokumente die Sicherheitspolitik mit ein. Warum sollte es also nicht möglich sein, Friedenspolitik als weitere Kategorie hinzuzufügen oder gar als neues Leitmotiv zu etablieren? Immerhin lautet der Auftrag in der Präambel des Grundgesetzes, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Und einige Probleme, denen das »Weißbuch 2006« Sicherheitsrang einräumt, scheinen für eine friedenspolitische Bearbeitung geradezu prädestiniert: Die massenhafte Migration nach Europa, um nur ein Beispiel zu nennen, dürfte ohne Bekämpfung der Ursachen, also Eröffnung von Lebenschancen, kaum nachhaltig abnehmen.

Da die Federführung für das kommende Weißbuch erneut beim Verteidigungsministerium liegt, steht ein solcher Paradigmenwechsel allerdings nicht zu erwarten. Zudem weht ziviler Friedenspolitik kalter Wind entgegen. Kein geringerer als Bundespräsident Joachim Gauck denunziert in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 pazifistische Positionen als Ausdruck von Weltabgewandtheit und Bequemlichkeit, während er militärisches Engagement als Übernahme von Verantwortung würdigt.24

Der Sachverhalt, dass Außenminister Frank-Walter Steinmeier unmittelbar danach Gaucks Formel wiederholt, Deutschland müsse bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller einzubringen, gilt etlichen Kritikern als Einstimmung der Öffentlichkeit auf noch mehr Bundeswehreinsätze. Dabei setzt Steinmeier durchaus eigene Akzente: Entscheidend sei, gemeinsam mit anderen intensiver und kreativer darüber nachzudenken, wie der Instrumentenkasten der Diplomatie auszustatten und für kluge Initiativen nutzbar zu machen wäre.25 Hier schimmert reflexive Friedenspolitik zumindest durch. Stilbildend für das neue Weißbuch wird sie wohl nicht.

Anmerkungen

1) Bundesminister der Verteidigung (1985): Weißbuch 1985 zur Lage und Entwicklung der Bundeswehr. Bonn, S.393 (Ziffer 890).

2) Bundesminister der Verteidigung (1992): Verteidigungspolitische Richtlinien 1992. Bonn, S.16.

3) Ibid., S.16.

4) Bundesministerium der Verteidigung (1994): Weißbuch 1994 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr. Bonn, S.26.

5) Ibid., S.39.

6) Bundesministerium der Verteidigung (2003): Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Berlin, S.18 (Pkt. 5).

7) Ibid., S.28 (Pkt. 79).

8) Bundesministerium der Verteidigung (2006): Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin, S.75.

9) Ibid., S.29.

10) Körber-Stiftung (2014): Einmischen oder zurückhalten. Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage von TNS Infratest Politikforschung zur Sicht der Deutschen auf die Außenpolitik. Hamburg, S.6f.

11) Weißbuch 2006, S.27.

12) Ibid., S.28.

13) Ibid., S.25 und S.27.

14) Ibid., S.27.

15) Ibid., S.26.

16) Barry Buzan u.a. (1998): Security – A New Framework for Analysis. Boulder, London: Lynne Rienner.

17) Berrit Bliesemann de Guevara und Florian P. Kühn (2010): Illusion Statebuilding – Warum sich der westliche Staat so schwer exportieren lässt. Hamburg: Edition Körber-Stiftung.

18) Nicolai Hartmann (1949): Ethik. Berlin: Walter de Gruyter, 3. Aufl., S.576f.

19) Valentin Zsifkovits (1973): Der Friede als Wert – Zur Wertproblematik der Friedensforschung. München und Wien: Olzog Verlag, S.20.

20) Bundesministerium der Verteidigung (2011): Verteidigungspolitische Richtlinien 2011. Berlin.

21) Sabine Jaberg: Bundeswehrreform ohne Fundament – Neue Richtlinien schreiben Defizite fort. W&F 3-2011, S.9-11.

22) Deutscher Bundestag: Unterrichtung durch die Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Abschlussbericht der Kommission. Drucksache 18/5000 vom 16. Juni 2015.

23) Konstantin von Hammerstein u.a.: Die Merkel-Doktrin. Der Spiegel, 49/2012, S.20-27; hier: S.21.

24) Rede von Bundespräsident Joachim Gauck zur Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz vom 31. Januar 2014.

25) Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich der 50. Münchner Sicherheitskonferenz vom 1. Februar 2014.

Dr. Sabine Jaberg ist Dozentin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Friedensforschung an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.

Agenda Rüstung

Agenda Rüstung

Stärkung der Waffenindustrie und staatliche Machtpolitik

von Jürgen Wagner

Anfang Oktober 2014 wurde das von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen in Auftrag gegebene Gutachten über die Bundeswehr-Beschaffungsprojekte veröffentlicht. Nahezu zeitgleich ging Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel mit einer rüstungspolitischen Grundsatzrede an die Öffentlichkeit. Aus von der Leyens Haus folgte im Juni 2015 das »Dialogpapier« zwischen dem Bundesministerium für Verteidigung (BMVg) und der Rüstungslobby, und wenige Tage später wurde das »Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der Verteidigungsindustrie in Deutschland« nachgeschoben, das die wesentlichen Kernelemente aus der Rede des Wirtschaftsministers übernimmt. Zusammen bilden diese Initiativen das Gerüst der sich abzeichnenden »Agenda Rüstung« der Bundesregierung, die im Folgenden näher beschrieben wird.

In Sachen Rüstungspolitik legt die Bundesregierung seit einiger Zeit eine hektische Betriebsamkeit an den Tag: Personal wurde ausgetauscht, Gutachten wurden erstellt und Strategiepapiere verabschiedet. Die Politik will mit der sich dabei herauskristallisierenden »Agenda Rüstung«1 vor allem zwei Interessen umsetzen: Einmal geht es darum, deutlich mehr militärische Schlagkraft pro investiertem Euro zu generieren als dies bislang der Fall war. Hierfür ist man im BMVg bestrebt, vorhandene Ineffizienzen im Beschaffungswesen soweit als möglich zu beseitigen und die Industrie bei der auftragsgemäßen Lieferung künftig stärker in die Pflicht zu nehmen. Gleichzeitig besteht ein Kerninteresse an der Stärkung der deutschen Rüstungskonzerne und ihrer industriellen Basis.

Letzterem kommt hohe Priorität zu, weil die Vorstellung, eine starke einheimische Rüstungsindustrie sei eine notwendige Bedingung für eine wirkungsvolle Militär- und Machtpolitik, tief in den Köpfen der politischen Entscheidungsträger verwurzelt ist.2 So kommt eine umfassende Untersuchung zum »Wert« des deutschen Rüstungswesens zu dem Ergebnis: „[D]ie Rüstungspolitik [ist] ein integraler Bestandteil der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie eine Kernkompetenz der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. […] Der Zugriff auf eine leistungsfähige und flexible rüstungsindustrielle Basis ist für die Bundesregierung somit eine Grundvoraussetzung ihrer militärischen und damit außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Handlungsfähigkeit. Für den Handelsstaat Deutschland ist diese Komponente seiner staatlichen Handlungsfähigkeit eine grundlegende Voraussetzung für eine effektive und nachhaltige Interessensverfolgung in einer multipolaren Weltordnung. […] Nicht seine ökonomische Dimension – sprich der Beitrag zur Wirtschaftsleistung und die Schaffung von Arbeitsplätzen – sondern die […] militärische und außenpolitische Dimension macht den Rüstungssektor zu einem unverzichtbaren Wirtschaftsbereich der deutschen Volkswirtschaft.“ 3

Bei der Stärkung des Rüstungssektors wird arbeitsteilig vorgegangen: Das BMVg drängt dabei vor allem auf eine Erhöhung der Rüstungsausgaben und hier insbesondere des investiven Anteils. Das erklärte Ziel des Wirtschaftsministeriums besteht wiederum – ganz im Gegensatz zur allgemeinen Wahrnehmung – darin, eine »exportpolitische Flankierung der Verteidigungsindustrie« auf den Weg zu bringen. Dabei steht die Förderung von Fusions- und Übernahmeprozessen (»Konsolidierung«) im Zentrum der Überlegungen, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Es soll der deutsche rüstungsindustrielle Sektor gestärkt werden, womit wiederum – idealtypisch -auch eine Ankurbelung der Exporte und infolgedessen eine Senkung der Stückkosten einhergehen soll.

Rüstungsgutachten, Dialogpapier und Militärhaushalt

Nach einer unglaublichen Pannenserie – praktisch kein Bundeswehr-Beschaffungsprojekt kam in den letzten Jahren ohne drastische Verzögerungen und teils regelrecht absurde Preiserhöhungen über die Ziellinie – zog Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen im Februar 2014 öffentlichkeitswirksam die Notbremse. Als Hauptverantwortliche für die Misere identifizierte sie den Staatssekretär für Ausrüstung, Stéphane Beemelmans, der von seinen Aufgaben entbunden – sprich: gefeuert – wurde, und seinen Abteilungsleiter, Detlef Selhausen, den man kurzerhand versetzte.

In diesem Zuge kündigte von der Leyen auch eine externe Überprüfung der Bundeswehr-Großprojekte an. Mit dieser Aufgabe wurden die Unternehmensberatung KPMG, die Ingenieurgesellschaft P3 und die Kanzlei Taylor Wessing betraut, die ihre Ergebnisse in Form des Gutachtens »Bestandsaufnahme und Risikoanalyse zentraler Rüstungsprojekte« am 6. Oktober 2014 an die Verteidigungsministerin übergaben. Darin wurden auf 1.200 Seiten, von denen allerdings nur ein 51-seitiges Exzerpt öffentlich einsehbar ist, neun Großprojekte mit einem Gesamtvolumen von 57 Mrd. Euro untersucht, wobei 140 Probleme und Risiken identifiziert wurden, die teils interner Natur, teils aber auch aufseiten der Industrie zu verorten seien. Daher kam das Gutachten zu dem Ergebnis, „dass eine Optimierung des Rüstungsmanagements in nationalen und internationalen Großprojekten dringend und ohne Verzug geboten ist“.4

Das vernichtende Urteil wurde von der neuen Staatssekretärin für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung, der früheren Unternehmensberaterin Katrin Suder, folgendermaßen zusammengefasst: „Waffensysteme kommen um Jahre zu spät, Milliarden teurer als geplant – und dann funktionieren sie oft nicht richtig oder haben Mängel.“ 5 Auch von der Leyen selbst richtete eine erstaunlich deutliche Kritik an die Adresse der Rüstungsunternehmen: „Wir wollen nicht für Fehler bezahlen, die die Industrie gemacht hat.“ 6 Nach solch starken Worten sahen viele Kommentatoren von der Leyen auf „Konfrontationskurs zur Rüstungsindustrie“ (Süddeutsche Zeitung). Die Verteidigungsministerin wolle „mit aller Härte den Rüstungssektor neu ordnen“ (DIE WELT) und „bei der Rüstungsbeschaffung aufräumen“ (Wirtschaftswoche).

Zwar sind die bislang kursierenden Überlegungen noch vage, es scheint aber ernsthaft die Absicht zu bestehen, die Rüstungsindustrie künftig stärker für ein kosteneffizienteres Beschaffungswesen in die Pflicht zu nehmen. Gerade deshalb fällt auf, wie entspannt, ja geradezu positiv, die »Agenda Rüstung« von den Unternehmen aufgenommen wurde. Aus der Pressemitteilung der größten Lobbyverbände zum Gutachten wird allerdings bereits ersichtlich, weshalb dies der Fall ist: „Die Studie bestätigt die Notwendigkeit der industrieseitig bereits seit längerem angemahnten ausreichenden Mittelbereitstellung.“ 7

Die Botschaft war angekommen, und in der Presse setzte unmittelbar ein, was man als »Schrotthaufen-Debatte« bezeichnen könnte: „So Schrott ist die Bundeswehr“ (BILD), die Truppe sei nichts anderes als „stahlgewordener Pazifismus“ (DIE ZEIT) und das ganze Problem existiere vor allem, da die Bundeswehr seit Jahren „[c]hronisch unterfinanziert“ sei (Deutschlandfunk). Damit war ein gewisser Nährboden geschaffen, um die Akzeptanz für eine Erhöhung der Rüstungsausgaben in der diesbezüglich eher kritisch eingestellten Bevölkerung zu vergrößern.

Seit Jahren schon wird von Politik, Militär und Rüstungsindustrie geklagt, die Rüstungsausgaben befänden sich im freien Fall, obwohl die Realität anders aussieht: Der Militärhaushalt stieg nämlich von (umgerechnet) 23,18 Mrd. Euro im Jahr 2000 sogar inflationsbereinigt um rund 25% auf etwa 33 Mrd. im Jahr 2015 und liegt damit drastisch über dem eigentlich verbindlich vereinbarten Sparziel vom Juni 2010. Damals war festgelegt worden, alle Ressorts müssten bis 2014 insgesamt 81,6 Mrd. Euro einsparen und die Bundeswehr solle dazu 8,3 Mrd. beitragen. Gemäß dem daran angelehnten Bundeswehrplan sollte der Rüstungshaushalt bis 2014 also auf 27,6 Mrd. Euro reduziert werden. Dieser Beschluss scheint inzwischen hinfällig zu sein, denn obwohl der offizielle Haushalt 2015 bereits etwa 5,5 Mrd. über dem vereinbarten Sparziel lag, legte Finanzminister Wolfgang Schäuble im Frühjahr 2015 mit dem »Eckwerte-Papier« noch einmal nach: Nun soll der BMVg-Etat 2016 auf 34,2 Mrd. Euro steigen, im Jahr darauf sollen es 34,74 Mrd. und 2018 dann 34,8 Mrd. sein, um 2019 schließlich 35 Mrd. zu umfassen.8

Die Entwicklung der Rüstungsausgaben war auch Thema im ab November 2014 tagenden »Dialogkreis«, der sich aus 70 Vertretern des Verteidigungsministeriums und der Rüstungsindustrie zusammensetzt und im Juni 2015 einen ersten Ergebnisbericht veröffentlichte. Nachdem es sich bei dem Rüstungsprojekte-Gutachten um eine „nach innen gerichtete Bestandsaufnahme“ gehandelt habe, sei nun das „konstruktive Gespräch mit der Industrie“ gesucht worden, um zu einem „gemeinsamen Verständnis“ über die »Agenda Rüstung« zu gelangen und „Möglichkeiten zur Verbesserung der Situation zu suchen“.9 Ziel des Dialogs sei es, wie aus einer gemeinsamen Presseerklärung von BMVg und dem Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie e.V. (BDSV) hervorgeht, „Maßnahmen zu erarbeiten wie […] die bisherige Tendenz »zu spät, zu teuer, weniger Leistung« abgelegt werden kann“.10 Um dies zu erreichen, werden zwei Maßnahmen angesprochen: „Erstens ein transparentes Vorgehen bei Rüstungsprojekten und zweitens ein professionelles Beleuchten auch unterschiedlicher Positionen sowohl in der fachlich-inhaltlichen als auch in der politischen Befassung.“ 11

Bleibt diese Absichtserklärung eher vage, war es möglich, hinsichtlich der Finanzen zu einem recht konkreten gemeinsamen Verständnis zu gelangen. Unmissverständlich wird festgehalten, es bestehe weiterhin die „Notwendigkeit einer graduellen Erhöhung des Einzelplans 14 und seines investiven Anteils“. Der mit dem Eckwerte-Papier beschlossene Aufwuchs sei zwar begrüßenswert, aber keineswegs ausreichend: „Dieser Anstieg ist jedoch zu schwach.“ 12 Neben der Erhöhung der Militärausgaben im Allgemeinen widmet sich das Dialogpapier auch der Frage der Rüstungsinvestitionen, die momentan bei 15% des Militärhaushalts liegen und ganz im Sinne der Industrie ebenfalls deutlich steigen sollen: „Als konkrete Maßnahmen werden die aufgaben- und ausrüstungsorientierte Erhöhung des Einzelplans 14, die Festschreibung einer Investitionsquote von 20 Prozent für Rüstungsinvestitionen und die Festschreibung einer F&T-Quote von 10 Prozent des Investivanteils im Einzelplan 14 empfohlen.“ 13

Bei genauerer Betrachtung enthält das Dialogpapier also eine Art »Package Deal«, der die Interessen beider Seiten, Politik wie Industrie, berücksichtigt und den die FAZ folgendermaßen beschreibt: „Die Politik versprach verlässlichere Investitionsquoten in Rüstungsgüter und weniger bürokratischen Aufwand bei Prüfungen und Zulassungen, die Industrie sicherte dafür größere Termintreue zu.“ 14

Strategie zur Stärkung der Rüstungsindustrie

Immer wieder wird Sigmar Gabriel vorgeworfen, durch seine extrem restriktive Haltung gegenüber dem Export von Rüstungsgütern betätige er sich als „Totengräber der wehrtechnischen Industrie Deutschlands“. 15 Ein Blick in Gabriels rüstungspolitische Grundsatzrede vom 8. Oktober 2014 allerdings genügt, um Zweifel an diesem Image aufkommen zu lassen. Zwar bekennt sich Gabriel in der Rede dazu, Waffenlieferungen in Krisenregionen gewissen Einschränkungen zu unterwerfen, allerdings nur für bestimmte, relativ eng umrissene Güter und nach sehr vage aufgestellten Kriterien. „Aber zugleich müssen wir – und das ebenfalls mit großer Klarheit – feststellen, dass es natürlich legitime sicherheits- und bündnispolitische Interessen gibt, welche die Lieferung von Rüstungsgütern und Kriegswaffen rechtfertigen können. […] Deutschland und seine Partner haben ein eigenes Interesse daran, Piraterie, Terrorismus und Proliferation von Waffen, wie sie im Nahen und Mittleren Osten auftreten, einzudämmen. […] Die Lieferungen an die Kurden im Norden des Irak, die der Abwehr einer fanatisch-grausamen Terrorbewegung wie dem so genannten »Islamischen Staat« dienen, sind weder ein Tabubruch und noch gar ein Widerspruch zu unseren Werten und Rechtsregeln.“ 16 Darüber hinaus kündigte er in dieser Rede explizit eine „[e]xportpolitische Flankierung für die Verteidigungsindustrie“ an, um mittels einer Konsolidierung bzw. Bündelung des Rüstungssektors die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Rüstungsindustrie zu „verbessern“.

Ausgangspunkt der diesbezüglichen Überlegungen ist die Annahme, dass der kleinteilige europäische Rüstungssektor, der sich auf viele Länder und Rüstungsbetriebe verteilt, erhebliche Ineffizienzen verursacht. In den Worten Gabriels: „Die Verteidigungsindustrie in der EU ist nach wie vor national ausgerichtet und stark fragmentiert. Europa leistet sich den »Luxus« zahlreicher Programme für gepanzerte Fahrzeuge, den intensiven Wettstreit zwischen drei Kampfflugzeugen und eine starke Konkurrenz z. B. im U-Boot-Bereich. […] Folgen dieser unbefriedigenden Situation sind hohe Kosten und nachteilige Folgen für den internationalen Wettbewerb, aber auch negative Auswirkungen für die Streitkräfte. Die Bundesregierung muss daher nach meiner Meinung verstärkt auf eine europäische Zusammenarbeit bis hin zum Zusammengehen von in einzelnen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen setzen. […] Es ist erklärtes Ziel der EU und der Bundesregierung, den bisher stark zersplitterten europäischen Verteidigungsmarkt neu zu gestalten und die europäische wehrtechnische industrielle Basis zu stärken. Die starke und wettbewerbsfähige deutsche Industrie könnte von einer solchen Entwicklung deutlich profitieren.“ 17

Vor allem mittels europaweiter Beschaffungsprogramme sollen höhere Produktionszahlen und somit sinkende Stückpreise erreicht werden. Da Rüstungsaufträge außerdem nicht mehr wie heute primär national, sondern europaweit ausgeschrieben und vergeben werden sollen, wird es eine wachsende Konkurrenz um die selteneren, aber von der Marge umfassenderen Aufträge geben. Die Folge dessen soll (und wird wohl auch) die Konsolidierung der EU-Rüstungsindustrie sein, da hierdurch Fusions- und Übernahmeprozesse massiv vorangetrieben werden.

Dabei sind die Konsolidierung und die damit einhergehende Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit auch im Interesse der Rüstungsindustrie selbst, zumindest in dem der stärksten Konzerne, die hoffen, aus den Übernahmeprozessen als »Eurochampions« hervorzugehen. Denn für ihren Fortbestand sind deutsche Rüstungskonzerne auf Rüstungsexporte angewiesen – der heimische Markt ist trotz steigender Militärausgaben zu klein. In den Worten von Claus Günther, Vorsitzender des Ausschusses »Sicherheit« des Bundesverbandes der deuschen Industrie: „Wir brauchen Exporte, denn allein durch die dünne nationale Auftragsdecke wird die deutsche Rüstungsindustrie nicht überlebensfähig sein.“ 18 Um aber auf dem Weltmarkt bestehen zu können, sind eine gewisse Konzerngröße, hohe Stückzahlen und damit attraktive Preise erforderlich. Nach der gängigen Auffassung profitieren also alle relevanten Akteure von einer Konsolidierung des Rüstungssektors: „Die Streitkräfte, weil gemeinsam billigere und bessere Produkte beschafft werden können und die einheitliche Ausrüstung gemeinsame Einsätze vereinfacht. Und die Industrie, weil höhere Stückzahlen und bessere Margen sie wettbewerbsfähiger machen.“ 19

Aus diesen Gründen flossen Gabriels Forderungen nach einer Konsolidierung des Rüstungssektors auch in das im Juli 2015 veröffentlichte »Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der Verteidigungsindustrie in Deutschland« ein. Auch hier wird für eine „exportpolitische Flankierung der Verteidigungsindustrie“ plädiert und das Ziel formuliert, „den bisher stark fragmentierten europäischen Verteidigungsmarkt neu zu gestalten und die wehrtechnische industrielle Basis Europas zu stärken“. Wie schon bei Gabriel wird auch in dem Strategiepapier der »Luxus« der (zu) vielen Beschaffungsprojekte beklagt und erklärt, wie Abhilfe zu schaffen ist: „Es ist unser erklärtes Ziel, zukünftig neue Beschaffungsprogramme zunehmend gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Union durchzuführen. […] Mehr gemeinsame, möglichst standardisierte Entwicklung und Beschaffung wird mittel- bis langfristig zu mehr Zusammenarbeit und darüber hinaus auch zur Konsolidierung in der Verteidigungsindustrie in Europa führen. […] Die Bundesregierung setzt verstärkt auf eine europäische Zusammenarbeit bis hin zum Zusammengehen von in einzelnen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen unter Wahrnehmung der nationalen Interessen. Die Bündelung technologischer Stärken wird die wirtschaftliche Bedeutung europäischer Projekte im internationalen Wettbewerb entscheidend erhöhen.“ 20

Bei aller Begeisterung für etwaige europäische Konsolidierungsvorhaben betonte jedoch schon Gabriel unmissverständlich, „dass der Schritt in europäische Kooperationen und Zusammenschlüsse am besten auf der Basis einer konsolidierten deutschen Rüstungsindustrie aus erfolgt, um auf Augenhöhe mit europäischen Partnern verhandeln und notfalls auch zusammengehen zu können“.21 Mit anderen Worten: An einem europäischen Konsolidierungsprozess ist die Regierung überaus interessiert, aber nur aus einer Position der Stärke, die es ermöglicht, die eigenen Unternehmen als »Eurochampions« zu etablieren und so die deutsche rüstungsindustrielle Basis massiv zu stärken. Auch das »Strategiepapier der Bundesregierung« misst deshalb dem „Erhalt nationaler verteidigungsindustrieller Schlüsseltechnologien“ eine zentrale Bedeutung zu, weshalb „deren Verfügbarkeit aus nationalem Sicherheitsinteresse zu gewährleisten ist“.22 Wohl mit Blick auf die angekündigte Fusion des deutschen Panzerbauers Krauss-Maffei Wegmann mit seinem französischen Konkurrenten Nexter Systems wurde daher die Liste der Schlüsseltechnologien in dem Strategiepapier um »geschützte/gepanzerte Fahrzeuge« (sowie »Unterwassereinheiten«) erweitert. Folgerichtig stoppte das Wirtschaftsministerium, das der Fusion noch zustimmen muss, den Fusionsprozess Anfang September 2015 zunächst und leitete unter Verweis auf besondere »Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik« eine »vertiefte Prüfung« ein, deren Ausgang zum Abschluss dieses Artikels noch unklar ist.

Paradigmenwechsel in der Rüstungspolitik?

Verteidigungsministerium und Rüstungslobby sind sich einig: Bei der »Agenda Rüstung« handele es sich um eine „klare Kurskorrektur“, um einen „Paradigmenwechsel in der Zusammenarbeit von Industrie und Bundeswehr“.23 Ob sich diese Einschätzung bewahrheitet, werden angesichts einer Reihe offener Fragen erst die Zeit und Praxis erweisen.

Es sind durchaus Zweifel angebracht, ob die Konsolidierung des Rüstungssektors tatsächlich erhebliche Effizienzsteigerungen mit sich bringen wird.24 Vor allem ist aber unklar, ob es tatsächlich gelingen wird, politische und industrielle Partikularinteressen zugunsten übergeordneter (macht-) politischer Erwägungen zurückzudrängen. Der äußerst vage Charakter der bisherigen Vorschläge zeigt, dass dies keineswegs sicher ist. Doch selbst – oder gerade – wenn dies der Fall sein sollte, stellt ein »effizienterer»« Rüstungssektor, der konsequent auf mehr militärische Schlagkraft und eine Stärkung der Rüstungsindustrie getrimmt wird, friedenspolitisch alles andere als einen Fortschritt dar – ganz im Gegenteil.

Anmerkungen

1) Bei der »Agenda Rüstung« handelt es sich eigentlich um ein sechs Punkte umfassendes Maßnahmenpaket, das vom BMVg zeitgleich mit der Veröffentlichung des Rüstungsprojekte-Gutachtens veröffentlicht wurde. Hier wird darunter aber die Summe der derzeit angedachten Handlungsoptionen verstanden.

2) Sabine Lösing und Jürgen Wagner: EU-Armee: Machtpolitische Imperative und Stolpersteine. Tübingen: Informationsstelle Militarisierung, IMI-Studie 2015/07, S.2f.

3) Henrik Heidenkamp (2015): Deutsche Rüstungspolitik – Ein Politikfeld im Handlungsdruck. Opladen: Barbara Budrich, S.73 und 18.

4) KPMG, P3 Group, Taylor Wessing: Exzerpt – Umfassende Bestandsaufnahme und Risikoanalyse zentraler Rüstungsprojekte; Stand 30. September 2014. S.51.

5) Arno Neuber (2015): Rüstungsprojekte der Bundeswehr. In: Informationsstelle Militarisierung (IMI) (Hrsg.): Deutschland – Wi(e)der die Großmacht. Tübingen, S.10-16, hier S.10.

6) Von der Leyen kritisiert Rüstungsindustrie. n-tv, 7.10.2014.

7) Gemeinsame Erklärung von BDSV, BDLI und BDI. 7.10.2015.

8) Vgl. T. Wiegold: Verteidigungshaushalt soll bereits 2016 um 1,2 Milliarden Euro steigen. Augengeradeaus, 17.3.2015. Im Regierungsentwurf für den Einzelplan 14/2016 stieg der Betrag nochmals leicht auf 34,366 Mrd. Euro. Siehe dazu griephan Briefe – Wöchentliche Informationen zum Geschäftsfeld äußere und innere Sicherheit, Nr. 28/2015, S.2.

9) 1. Ergebnisbericht: Dialog zu Themen der Agenda Rüstung zwischen BMVg und BDSV. Berlin, 29. Juni 2015, S.1.

10) BMVg und BDSV: Rüstungsdialog auf gutem Weg. Pressemitteilung, Berlin, 29.06.2015.

11) Ebenda.

12) 1. Ergebnisbericht, op.cit., S.39.

13) Ebenda, S.4.

14) Johannes Leithäuser: Im Zeichen des Panzers. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.7.2015.

15) So etwa der CSU-Abgeordnete Florian Hahn. Vgl. Christoph Hickmann: An Gabriels Leine. Süddeutsche Zeitung, 24.7.2015.

16) Rede von Bundesminister Gabriel zu den Grundsätzen deutscher Rüstungsexportpolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Berlin, 8.10.2014.

17) Ebenda.

18) Klaus M. Frieling: Firmen und Politik beim Trialog: „Wir sind voneinander abhängig“. Cellesche Zeitung, 18.9.2014.

19) Wirtschaftswoche zitiert in: Florian Bertges (2009): Der fragmentierte europäische Verteidigungsmarkt – Sektorenanalyse und Handlungsoptionen. Frankfurt am Main: Peter Lang, S.95.

20) Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der Verteidigungsindustrie in Deutschland. Berlin, 8.7.2015.

21) Rede von Bundesminister Gabriel, op.cit.

22) Strategiepapier der Bundesregierung, op.cit., S.5f.

23) BMVg und BDSV, op.cit.

24) Sabine Lösing und Jürgen Wagner, op.cit., S.5f.

Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) und in der Redaktion von W&F.

Bundeshaushalt 2016

Bundeshaushalt 2016

… und die »neue« internationale Verantwortung Deutschlands

von Christiane Lammers

Drei Bundesministerien haben im letzten Jahr Prozesse der Zielbestimmung für das außenpolitische Handeln Deutschlands angestoßen. Verantwortung, Krisenprävention und (zivile) Konfliktbearbeitung sind zu wichtigen Stichworten geworden. Der Bundeshaushalt 2016 befindet sich zur Zeit im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren. Schlägt sich eine veränderte Zielbestimmung auch in den Einzelplänen des Entwurfs für den Bundeshaushalt 2016 wider?

Obwohl erst zwei Jahre vergangen sind, ist die Erinnerung schon fast verblasst: Im Herbst 2013 wurde ein durch das Auswärtige Amt gefördertes, von der Stiftung Wissenschaft und Politik und dem German Marshall Fund of the United States herausgegebenes Papier mit dem Titel »Neue Macht – Neue Verantwortung« zur außenpolitischen Rolle Deutschlands veröffentlicht. Im darauffolgenden Februar räsonierten sowohl der Bundespräsident wie auch die Verteidigungsministerin und der Außenminister bei der Münchener Sicherheitskonferenz über die Übernahme von mehr internationaler Verantwortung durch Deutschland. Ende Februar 2014 startete das Auswärtige Amt (AA) einen öffentlichen, ein Jahr dauernden Review-Prozess, um die deutsche Außenpolitik einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.

Fast parallel, aber in etwas kürzerer Zeit wurde im Entwicklungsministerium (BMZ) zwischen April und Juli 2014, unter Beteiligung zivilgesellschaftlicher Expertise, die so genannte Zukunftscharta »Eine Welt – Unsere Verantwortung« entwickelt. Neben persönlichen Handlungsmöglichkeiten werden dort auch Handlungsdimensionen für Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung beschrieben. Stichworte sind Ernährungssicherung und Gesundheit, Frieden und Selbstbestimmung, Bewahrung unserer Umwelt und Klimaschutz, Menschenrechte und Menschenwürde. Eine jährliche Bilanzierung der Umsetzung der Charta wird von Entwicklungsminister Müller in seiner Einführung der Zukunftscharta ausdrücklich in Aussicht gestellt.

Im Februar 2015 legte das AA dann die Bilanz seines Review-Prozesses vor, und Außenminister Steinmeier kündigte an, die Umsetzung solle binnen 18 Monaten abgeschlossen sein. Gemeint haben wird er damit vermutlich nur die innerministerielle Umstrukturierung bzw. organisatorische Konsequenzen: Im AA wurde eine Abteilung für Krisenprävention, Stabilisierung und Konfliktnachsorge neu geschaffen und zwei bestehende wurden zu einer neuen Abteilung für internationale Ordnungsfragen, Rüstungskontrolle und Vereinte Nationen zusammengefasst. Gerade die Zusammenlegung der Arbeitsfelder Rüstungskontrolle/Abrüstung und Vereinte Nationen stieß nicht nur auf Zustimmung. Beispielsweise bewertete Harald Müller (Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung) den Schritt als eine massive Schwächung des deutschen friedenspolitischen Engagements.1 Dieses Urteil mag etwas verfrüht erscheinen, denn eine organisatorische Maßnahme allein ist noch kein Zeichen einer politischen Linie. Müllers Kritik offenbart aber schon eines: Über das »Was« und »Wie« der Ausrichtung deutscher Außenpolitik lässt sich weiterhin räsonieren, denn klar definierte Ziele und Wege enthält der Review-Abschlussbericht nicht.

Inzwischen hat auch das Verteidigungsministerium (BMVg) mit einem »dialogorientierten« Prozess begonnen, die Herausgabe eines neuen Weißbuches vorzubereiten. Vom BMVg ausgewählte Expert/-innen beraten in Workshops entlang von durch das BMVg vorgegebenen Eckthemen über die Sicherheitspolitik Deutschlands. Es mag verwundern: Auch hier werden konträre Positionen sichtbar, die kaum in einem Dokument miteinander zu vereinbaren sind.2

Gemeinsam ist vielen der öffentlich zugänglichen Statements zu den ministeriellen Perspektiven der deutschen Außenpolitik, dass die Inkohärenz des politischen Handelns kritisiert wird: Humanitäre Hilfe für von Hunger und Armut Betroffene bei gleichzeitiger Unterstützung einer ursächlich dafür auch verantwortlichen (Land-) Wirtschaftspolitik? Militärische Stabilisierung fragiler Staaten bei gleichzeitigem Rüstungsexport an destabilisierende Akteure? Menschenrechts- und Asylrechtsschutz durch Kooperation mit Despoten?

Zahlen sind Fakten

Bei vielen gut klingenden Worten kann es zur Einschätzung hilfreich sein, sich einmal das Zahlenwerk der zur Verfügung stehenden Ressourcen, in diesem Fall also des Bundeshaushalts, anzuschauen: Wie ist die Mittelrelation zwischen den Ministerien? Wie viele Mittel sind für Krisenprävention vorgesehen? Was wird zur Finanzierung zivilgesellschaftlichen Friedensengagements getan? Gibt es neue finanzielle Spielräume?

Im Entwurf des Bundeshaushalts 2016 erfahren die Einzelpläne (EP) für Auswärtiges und Entwicklung gegenüber 2015 nennenswerte prozentuale Steigerungen: Der AA-Haushalt wächst um 18%, der des BMZ um 13,5%, und das BMVg bekommt »nur« 4,2% mehr Mittel zur Verfügung.3 Dies deutet auf eine Stärkung des zivilen Handelns in der deutschen Politik hin. Aber prozentuale Steigerungen sind relative Zahlen. In absoluten Zahlen ausgedrückt beträgt die Erhöhung im AA-Haushalt 670 Mio. Euro, im BMZ 880 Mio. Euro, das BMVg wird 1,4 Mrd. Euro mehr erhalten (siehe Tab. 1). Und wofür soll der Mittelaufwuchs verwendet werden? Im AA ist der überwiegende Teil, abgesehen von der Erhöhung der Mittel für Humanitäre Hilfe, dem in 2016 anstehenden, turnusmäßig höheren Beitrag Deutschlands an die Vereinten Nationen geschuldet (+513 Mio. Euro). Im BMZ-Haushalt sind vor allem Erhöhungen für die technische und finanzielle Zusammenarbeit (+161 Mio. Euro bzw. +101 Mio. Euro) sowie die Verdoppelung der Mittel für zeitlich begrenzte Sonderinitiativen (+200 Mio. Euro) und Mittel für internationalen Klimaschutz (+120 Mio. Euro) vorgesehen.

Betrachtet man weitere Details der Haushalte des AA und des BMZ, so bleiben die Planzahlen hinter den verbal erzeugten Erwartungen zurück. Hierzu ein Blick auf die beiden Haushaltstitel, die ausgewiesenermaßen für die Finanzierung von Friedensförderung zur Verfügung stehen:

Der Etatposten für die Unterstützung internationaler Maßnahmen auf den Gebieten der »Krisenprävention, Friedenserhaltung und Konfliktbewältigung« im EP des AA ist seit Jahren und auch im Entwurf für 2016 auf 95 Mio. Euro festgelegt (siehe Tab. 2). Dies geschieht ungeachtet der Tatsache, dass der Haushaltsansatz, ebenfalls seit Jahren, überschritten wird. Dies und anderes deutet darauf hin, dass es nach wie vor für den Bereich der Krisenprävention keine den Zielen angemessene und begründete mittelfristige Planung gibt.

Im EP des BMZ wurde die Etatposition für den Zivilen Friedensdienst (ZFD) 2014 und 2015 um jeweils 5 Mio. Euro auf zuletzt 39 Mio. Euro erhöht. So konnte mit der Ausweitung des ZFD-Engagements in Krisengebieten begonnen werden. Im letztjährigen Umsetzungsbericht zum »Aktionsplan Zivile Krisenprävention« wurde von der Bundesregierung eine 17%ige Erhöhung des ZFD pro Jahr, d.h. 5-6 Mio. Euro jährlich, in Aussicht gestellt. Im Haushaltsplan für 2016 ist nun trotz der dort festgestellten „wachsende[n] Bedeutung der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in der zivilen Konfliktbearbeitung“ nur eine Erhöhung um 3 Mio. Euro vorgesehen (siehe Tab. 3).

Der im AA-Haushalt vorgesehene Mittelaufwuchs für die »Humanitäre Hilfe und die Krisenbewältigung und den Wiederaufbau« um 105 Mio. ist sicher begrüßenswert, aber nähern sich diese Mittel damit den realen finanziellen Erfordernissen? Für die Planung vorausschauender, kohärenter Politik müssten andere Etatposten signifikant erhöht bzw. eingerichtet werden. Hierzu gehören unter anderem die von zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung, dem Verband Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe (VENRO) und dem Forum Menschenrechte immer wieder angemahnte und im Aktionsplan vorgesehene „Verankerung der Krisenprävention als Querschnittsaufgabe nationaler Politik“, die sich konsequenterweise in den Einzelplänen aller Ressorts niederschlagen müsste, sowie die finanzielle Ausstattung des so genannten Ressortkreises und des Beirats Zivile Krisenprävention.

Blinde Flecken im Haushalt: Friedensforschung und Friedensbildung

Im Koalitionsvertrag bekannte sich die Bundesregierung noch zur wachsenden Bedeutung der Friedensforschung. Wissenschaftliche Expertise ist eine unerlässliche Voraussetzung, um in komplexen Situationen rational handeln zu können. Hierzu bedarf es nicht nur praxisorientierten Anwendungswissens, sondern auch wissenschaftlicher Grundlagenforschung. Die Bedingungen von Gewalt und von Frieden haben sich uns noch lange nicht erschlossen, und der Theorie-Praxis-Transfer ist nach wie vor eine »nice to have«-Angelegenheit.

Zur expliziten und unabhängigen Förderung der Wissenschaft in diesem Feld wurde im Jahr 2000 von der Bundesregierung die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF) ins Leben gerufen. Damals war klar, dass es einer langfristigen und gezielten Förderung durch den Bund bedarf. Das in der Gründungszeit vorgesehene Forschungsförderungsvolumen von mind. 2,5 Mio. Euro jährlich hat sich angesichts des Zinsverfalls und mangels entsprechender Kapitalerhöhung auf weniger als 1 Mio. Euro reduziert. Im Haushaltsentwurf 2016 findet sich kein Hinweis darauf, dass die Bundesregierung ihr Versprechen zur verstärkten Förderung der Friedensforschung einlöst. Zum Vergleich: Die Ausgaben im Verteidigungshaushalt allein für die wehrmedizinische, wehrpsychologische und sonstige militärische Forschung sind für 2016 mit 3,5 Mio. Euro veranschlagt, die der wehrtechnischen Forschung und Entwicklung mit rund 250 Mio. Euro.

Bildungsarbeit ist eines der wesentlichen Handlungsfelder für zivilgesellschaftliche Friedensförderung in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit.

Die entwicklungspolitische Bildung ist ein Etatposten im BMZ-Haushalt, der erfreulicherweise in den letzten Jahren stetig gestiegen ist und im Haushaltsentwurf 2016 einen Zuwachs um 40% erfährt (+10 Mio.). Dieser Titel ist traditionell derjenige, um den es die größte Konkurrenz unter den zivilgesellschaftlichen Trägern gibt; trotz der Erhöhung werden wohl auch weiterhin viele Anträge nicht entsprechend der Antragssumme bewilligt werden. Bildungsträger von friedenspolitischen Bildungsmaßnahmen sind bisher darauf angewiesen, entweder eine halbwegs adäquate Förderlinie im Haushalt ihres Bundeslandes zu erschließen, sich an die Bundeszentrale für Politische Bildung zu wenden oder ihr Programm den inhaltlichen Erfordernissen des BMZ anzupassen.

Aus dem Fehlen einer eigenen Förderungslinie für friedenspolitische Bildungs- und Öffentlichkeitsmaßnahmen resultieren inhaltliche Veränderungen und/oder Einschränkungen des Formats der Projekte. Warum sollte das AA nicht auch hier im Sinne seiner Öffnung für die Zivilgesellschaft tätig werden? Die Förderpraxis des BMZ könnte als Vorbild dienen, der Verweis auf die immense Höhe der Bildungs- und Informationsbudgets der Bundeswehr sei erlaubt.

Was tun gegen Fremdenfeindlichkeit?

In unserem eigenen Land gibt es einen drängenden Bedarf an der Entwicklung von Strukturen, Methoden und Praxen der gewaltlosen Bearbeitung innergesellschaftlicher Konflikte. Dies zeigt sich gerade jetzt beim erneut offen zu Tage tretenden Fremdenhass.

Die »Willkommenskultur« der deutschen Bevölkerung wird hoch gelobt, »Toleranzprojekte« und Projektträger zur »Förderung der demokratischen Teilhabe« erleben eine bisher nie gekannte Aufmerksamkeitswelle von Medien und Politik. Spiegelt sich die Erkenntnis, dass sich die innerdeutschen Konflikte verschärfen, die Grenze zu Gewalttaten zunehmend überschritten wird und diesen Entwicklungen zivilgesellschaftlich und professionell gravierend und auf lange Sicht hin entgegengewirkt werden muss, in der Haushaltsplanung für 2016 wider? Leider ist dies nicht der Fall: War es für 2015 noch gelungen, die Mittel im so genannten Toleranzprogramm des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gegenüber 2014 um 10 Mio. Euro zu erhöhen, so sind sie 2016 gleich bleibend wie 2015 mit 40,5 Mio. Euro angesetzt (siehe Tab. 4).

Auch die Mittel des Innenministeriums zur Förderung der demokratischen Teilhabe verharren gleichbleibend bei 6 Mio. Euro, obwohl der Haushaltsansatz 2014 mit fast 17% überzogen wurde (siehe Tab. 5).

Tab. 1: Geplante Ausgaben für 2016 und Zuwächse von 2014 zu 2015 zu 2016(in absoluten Zahlen)

&nbsp 2016 Entwurf 2015 Soll zu 2014 Soll 2016 Entwurf zu 2015 Soll
AA, EP 05 4,40 Mrd. + 0,09 Mrd. + 0,67 Mrd.
BMZ, EP 23 7,42 Mrd. + 0,10 Mrd. + 0,88 Mrd.
BMVg, EP13 34,37 Mrd. + 0,53 Mrd. + 1,40 Mrd.

Tab. 2: Unterstützung internationaler Maßnahmen auf den Gebieten Krisenprävention, Friedenserhaltung und Konfliktbewältigung

&nbsp 2013 Soll 2013 Ist 2014 Soll 2014 Ist 2015 Soll 2016 Entwurf
Kap. 0501 Tit. 68734-29 95,2 Mio. 133 Mio. 95 Mio. 98,8 Mio. 95 Mio. 95 Mio.

Tab. 3: Ziviler Friedensdienst

&nbsp 2014 Ist 2015 Soll 2016 Entwurf
Kap. 2302 Tit. 687 72-023 34 Mio. 39 Mio. 42 Mio.

Tab. 4: Maßnahmen zur Stärkung von Vielfalt, Toleranz und Demokratie

&nbsp 2014 Soll 2014 Ist 2015 Soll 2016 Entwurf
Kap. 1702 Tit. 684 04-165 30,5 Mio. 28,5 Mio. 40,5 Mio. 40,5 Mio.

Tab. 5: Förderung von Projekten für demokratische Teilhabe und gegen Extremismus

&nbsp 2014 Soll 2014 Ist 2015 Soll 2016 Entwurf
Kap. 0601 Tit. 686 11-011 6,0 Mio. 7,0 Mio. 6,0 Mio. 6,0 Mio.

Vorrang für Ziviles oder Priorisierung des Militärischen?

Unmittelbar vor der 1. Lesung des Haushaltsentwurfs wurde bekannt, der Koalitionsausschuss habe beschlossen, dass der Bund, „um Fluchtursachen im Ausland zu bekämpfen und Nachbarländer von Krisenstaaten zu stabilisieren“, sein Engagement für Krisenbewältigung und -prävention ausbauen will.4 Dafür sollen die Mittel des AA, wohl in einem im nächsten Jahr zu beschließenden Nachtragshaushalt, um 400 Mio. Euro aufgestockt werden. Falls diese Mittel tatsächlich im Kap. 0501, Tit. 68734-29 (siehe Tab. 2) eingestellt werden, wäre dies mehr als eine Vervierfachung der zur Verfügung stehenden Mittel für Krisenprävention. In den Pressemeldungen zu dem Entschluss ist jedoch von folgenden zu finanzierenden Kosten die Rede: In Nordafrika sollen Anlaufstellen für Flüchtlinge aufgebaut werden, in denen sie vor einer gefährlichen Reise über das Mittelmeer Informationen erhalten, ob sie überhaupt Chancen auf Asyl in der EU haben. Ist dies die Krisenprävention, die im Review-Prozess des AA gemeint war?

Zunehmend wird auch die Notwendigkeit einer gravierenden Erhöhung des Verteidigungsetats ins Gespräch gebracht. Zwar wird nach wie vor abgestritten, dass die auch von der Bundesregierung akzeptierte Entscheidung der NATO, ihre Mitgliedsländer dazu anzuhalten, bis 2024 ihre Militärausgaben auf 2% ihres Bruttoinlandsproduktes anzuheben, auch auf Deutschland Anwendung findet. Aber schon jetzt werden zweistellige Milliardenbeträge für die als dringend notwendig deklarierte waffentechnische Erneuerung der Bundeswehr gefordert. Zu befürchten ist also, dass sich das Verhältnis der Ausgaben für militärische Mittel zu denen für zivile Konfliktbearbeitung in den nächsten Jahren nicht verbessern, sondern wesentlich verschlechtern wird.

Dem bleibt entgegenzuhalten: „Sicherheit vor Gewalt [kann] nachhaltig nicht auf paradoxe Weise durch Androhung oder Anwendung von Gewalt oder Machtüberlegenheit, sondern nur über den Aufbau kooperativer und problemlösungsorientierter Beziehungen erreicht werden.“ 5

Anmerkungen

1) Gastbeitrag H. Müller: Auswärtiges Amt: Bedeutungsverlust der Abrüstung. Frankfurter Rundschau, 2. März 2015.

2) Siehe z.B. die Beiträge von H.G. Justenhoven und K. Naumann im Portal »Weißbuch 2016« auf bmvg.de.

3) Bei den Haushaltszahlen handelt es sich zwar nicht um die tatsächliche Ausgabenhöhe, da über haushaltstechnische Verfahren Mittelzuordnungen auch undurchsichtig werden; trotzdem haben die Haushaltszahlen eine brauchbare, generelle Aussagekraft.

4) Merkwürdigerweise wurde diese Entscheidung nur in wenigen Presseerklärungen publiziert, siehe z.B. CDU/CSU: Kommunen bei Flüchtlingsarbeit entlasten – Koalition übernimmt weitgehend Unions-Vorschläge zur Asylpolitik. cducsu.de, 7. September 2015.

5) H.M. Birckenbach: Friedenslogik und friedenslogische Politik. In: IWIF/Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (Hrsg.): Friedenslogik statt Sicherheitslogik – Theoretische Grundlagen und friedenspolitische Realisierung. W&F-Dossier 75, Mai 2014, S.4.

Christiane Lammers ist Geschäftsführerin der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und Mitglied der W&F-Redaktion.

Außenpolitik im Wandel

Außenpolitik im Wandel

Zäsur oder Kontinuität des deutschen Handelns?

von Gunther Hellmann, Hanns W. Maull, Ingar Solty und Norman Paech

W&F bat vier Autoren, die sich in ihrer (wissenschaftlichen) Arbeit mit der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik befassen, um ihre Meinung: Ist bei der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in jüngerer Zeit eine Zäsur zu verzeichnen – Stichwort »neue Verantwortung« – oder überwiegt doch die Kontinuität? Die Autoren stimmen darin überein, dass es einen Wandel gebe, unterscheiden sich aber klar bei der Frage, ob dieser notwendig und reaktiv ist, also Ergebnis eines veränderten außen- und sicherheitspolitischen Umfeldes, oder vielmehr Ausdruck eines neuen deutschen Machtstrebens.

Welt aus den Fugen, Deutschland im Aufstieg

von Gunther Hellmann

Zäsur ist ein starker Begriff. Im Kontext der Beschreibung geschichtlicher Verläufe werden damit üblicherweise markante Einschnitte – wie etwa der Mauerfall 1989 oder die Terroranschläge des 11. September 2001 – beschrieben, die das, was ansonsten als ruhiger Fluss der Geschichte erscheint, durchbrechen und in ein Vorher und Nachher teilen. Historiker unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen »Erfahrungszäsuren« und »Deutungszäsuren« – Einschnitten, die (wie Mauerfall und »9/11«) bereits den Zeitgenossen in der unmittelbaren Erfahrung als markanter Bruch erscheinen oder erst in der zurückblickenden kollektiven Deutung zu solchen Umbrüchen werden.

In der Analyse deutscher Außenpolitik gehörte es schon in der alten Bonner Republik zum guten Ton, die Kontinuitätslinien in den Vordergrund der Deutungen zu rücken. Die ersten 40 Jahre bundesdeutscher Außenpolitik charakterisierte Hans-Peter Schwarz noch 1990 als eine Zeit der „gleitenden Übergänge“, die „keine bis auf die Knochen einschneidenden Zäsuren“ durchgemacht habe. Und selbst der Amtsantritt der ersten »linken« Bundesregierung seit den frühen Tagen der Weimarer Republik im Herbst 1998 wurde nicht nur von den an Kontinuitätsnarration interessierten rot-grünen Praktikern, sondern auch vom Gros der Beobachter viel stärker als Kontinuität erfahren und gedeutet.

Wenn man daher heute – als jemand, der in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zu jener Minderheit gehörte, die mehr Veränderung als Kontinuität konstatierte – die Frage beantworten soll, ob deutsche Außenpolitik »in jüngerer Zeit« eher als Zäsur oder als Kontinuität zu deuten ist, wird man der starken »Zäsur«-Deutung wohl nur dann folgen können, wenn man die Jahr(zehnt)e davor weitgehend als Kontinuität erfuhr. Gerade weil aber die Quellen des heute »neu« Erscheinenden nicht so sehr in der jüngeren, sondern in der schon länger vergangenen Zeit liegen, fällt der Schnitt weit weniger dramatisch aus: Ja, wie in den 1990er Jahren und im vergangenen Jahrzehnt hat sich (auch) in der jüngeren Zeit einiges verändert. »Zäsur« dramatisiert diese Veränderungen allerdings in unangemessener Weise.

Dies gilt selbst dann, wenn man die unvermeidliche Unschärfe bezüglich des eigentlichen Analysegegenstands in Rechnung stellt. Beschreibungen einer „Welt, die aus den Fugen scheint“, wie man sie von Außenminister Steinmeier im letzten Jahr immer wieder vernahm, können nämlich schwerlich von den Beschreibungen deutscher Außenpolitik – als versuchter planvoller Steuerung solcher internationaler Prozesse – getrennt werden. »Zäsur«-Deutung dort und »Kontinuitäts«-Deutung hier bedingen einander genauso wie umgekehrt »Erfahrungen« von Kontinuität und Wandel von Außenpolitik einerseits und europäischer bzw. Weltpolitik andererseits.

Aber einmal angenommen, man müsste deutsche Außenpolitik in den letzten fünf Jahren in ein einziges Vorher/Nachher scheiden, wo würde man den Schnitt setzen? Der zwischen Bundespräsidialamt, Auswärtigem Amt und Bundesministerium für Verteidigung orchestrierte gemeinsame Auftritt deutscher Entscheidungsträger bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 – dass Deutschland sich „bei der Prävention von Konflikten […] früher, entschiedener und substantieller einbringen“ müsse – würde hier wohl deshalb an vorderster Stelle auftauchen, weil eine neue Ambition deutscher Außenpolitik erkennbar und – wie die nahezu einhellige nationale wie internationale Deutung in den Medien und unter Experten zeigte – auch anerkannt wurde. Wenig beachtet wurde allerdings, dass Bundeskanzlerin Merkel weitgehend schwieg – und fortfuhr zu führen wie sie (und die Geführten) es gewohnt war(en). Deutschland und die Welt nahmen seither immer öfter „eine Republik“ wahr, wie Klaus-Dieter Frankenberger jüngst im Kontext der Flüchtlingskrise des Sommers 2015 in der FAZ schrieb, „die politisch in einer ganz anderen Klasse spielt als jenes Deutschland, das vor 25 Jahren seine Wiedervereinigung feierte“.

Wertungen wie diese stehen zwar zunächst primär für die Deutung von Experten und weniger für die Erfahrung breiter Bevölkerungsschichten in Deutschland und Europa. Die letzten Jahre haben allerdings eine gewisse Häufung von Momenten ergeben, in denen sowohl die politische Situation wie auch die Steuerungsversuche deutscher Außenpolitik die Akzente des Neuen stärker hervortreten ließen als die Linien der Kontinuität. In der seit mehreren Jahren anhaltenden Schulden-/ Griechenlandkrise erschien die unübersehbare Führungsrolle Deutschlands deshalb noch etwas weniger erstaunlich, weil es hier ums Geld ging. Das war der ältere und anerkannte Kernbereich ökonomischer Macht- und Gestaltungsansprüche Deutschlands in der EU.

Die sich spätestens seit 2014 zunehmend deutlicher herausschälende geopolitische Führungsrolle der Deutschen in der eskalierenden Ukraine-Krise unterstrich dagegen – gerade im Kontrast zur französischen Führungsrolle im Georgienkrieg 2008 -, dass Deutschland nun auch im Kernbereich militärischer Sicherheit eine Führungsrolle nicht nur reklamierte, sondern auch zugestanden bekam – von Moskau, Washington und sogar Paris. Auch das ist neu. Dass der Erklärungsbedarf vor diesem Hintergrund wuchs, ist genausowenig erstaunlich wie der mediale Hang zur Dramatisierung einer neuen deutschen Rolle. Im Herbst 2015 hat das aber (immer noch) mehr mit Deutungserfordernissen als mit unmittelbarer Zäsurerfahrung zu tun. Deutschlands Aufstieg vollzieht sich seit Jahren langsam und stetig – und wie immer: mit offenem Ende.

Prof. Dr. Gunther Hellmann lehrt Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt/M und ist am Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« beteiligt.

Es gilt beides: Zäsur und Kontinuität

von Hanns W. Maull

In der vom Bundespräsidenten Gauck mit seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit im Oktober 2013 angestoßenen Debatte um eine Neuorientierung der deutschen Außenpolitik und in den außenpolitischen Zielsetzungen der gegenwärtigen Großen Koalition lässt sich in der Tat eine wichtige Zäsur in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik erkennen: Deutschland bekennt sich seither klar zu einer größeren internationalen Verantwortung und versucht, diesem Anspruch (und den dahinter stehenden Erwartungen des Auslands) in einer Reihe von Politikfeldern der Außen- und Sicherheitspolitik gerecht zu werden.

Zugleich orientiert sich die neue Außenpolitik der Großen Koalition aber im Kern weiterhin an den großen Linien, die schon die Diplomatie der alten Bundesrepublik vor 1989 bestimmt hatten: konsequente Ausrichtung auf und Eingliederung in die europäische Integration und das westliche Sicherheitsbündnis der NATO, Unterstützung einer gesamteuropäischen Friedensordnung durch schrittweise Transformation (»Zivilisierung«) der zwischenstaatlichen Beziehungen wie auch der inneren Ordnungen der Staaten und Volkswirtschaften (etwa durch die »Modernisierungspartnerschaft« mit Russland), stetige Bemühungen um Verhandlungslösungen in Konflikten und um Verregelung und Verrechtlichung der internationalen Ordnung und große Zurückhaltung beim Einsatz militärischer Zwangsmaßnahmen. Insofern lässt sich von einer grundlegenden Kontinuität der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik sprechen, die bis heute gültig geblieben ist.

Natürlich gibt es dabei manche Änderungen in den Details; die bedeutsamste betraf den Einsatz der Bundeswehr in internationalen Friedensmissionen, einschließlich von Kampfeinsätzen außerhalb der NATO-Bündnisverpflichtungen – von der Beteiligung an der UN-Friedensmission in Kambodscha 1990/91 bis zum Afghanistan-Einsatz im Rahmen der NATO seit 2001.

Welche konkreten Beispiele und Ereignisse sprechen für oder gegen Zäsur bzw. Kontinuität?

  • Nach den international viel beachteten Ankündigungen der Großen Koalition auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2014, mehr internationale Verantwortung übernehmen zu wollen, sah sich die deutsche Diplomatie mit der Krise in der Ukraine rasch einer ersten Bewährungsprobe gegenüber. Berlin übernahm dabei eine wichtige Führungsrolle. Zunächst wurde mit Frankreich versucht, einen politischen Ausgleich in der Ukraine zu erreichen. Als dies scheiterte, verhängte Berlin Wirtschaftssanktionen gegen Russland und setzte dies auch als gemeinsame Politik der EU gegenüber Moskau durch. Berlin wirkte mit an der Ausarbeitung der beiden Abkommen von Minsk und beteiligt sich maßgeblich an den vielfältigen Bemühungen, die marode Wirtschaft und den zerrütteten Staat der Ukraine zu sanieren, die von der Europäischen Union und vom IWF angeführt werden. In der Ukrainekrise zeigt sich also die Bereitschaft Berlins, eine Führungsrolle in einem konsequent multilateral ausgerichteten Krisenmanagement wahrzunehmen. Damit folgt Berlin eindeutig den traditionellen Leitlinien der deutschen Außenpolitik.
  • In der Euro- bzw. Griechenlandkrise trug die Krisenbewältigungsstrategie der Eurozone und der EU wesentlich die deutsche Handschrift. Berlin konnte sich durchsetzen, indem es eine Koalition wichtiger Mitgliedsstaaten und europäischer Institutionen schmiedete, die hinter dieser Politik standen. Sie unterschied sich von der bis dahin verfolgten deutschen Europapolitik vor allem durch einen klar artikulierten Führungsanspruch einerseits, durch ausgeprägte Zurückhaltung bei der Übernahme von finanziellen Garantien bzw. Verpflichtungen zugunsten europäischer Partnerländer andererseits.
  • Die Flüchtlingswelle aus dem südöstlichen Europa, aus dem Mittelmeerraum und aus Afrika hat ebenfalls eine europapolitische Dimension, doch reicht sie weit darüber hinaus: Das Dilemma der Politik besteht in diesem Zusammenhang darin, dass überzeugende Lösungen für diese Fluchtbewegungen nur in den Herkunftsländern gefunden werden können. Die Suche nach wirtschaftlichem Wohlstand und geordneten, langfristig stabilen politischen Verhältnissen kann Deutschland mit der und über die EU zwar versuchen voranzubringen, aber letztlich entscheiden über Erfolg oder Misserfolg die Länder selbst..

In allen diesen Zusammenhängen steht die deutsche Außenpolitik vor qualitativ neuen Aufgaben. Dennoch agiert sie in hohem Maße kontinuitätsbestimmt. Sie versucht also, den Anforderungen eines radikal veränderten außenpolitischen Umfeldes im Sinne der traditionellen Leitlinien gerecht zu werden. Dies unterstreicht im Übrigen auch einer der wichtigen Erfolge der westlichen Außenpolitik in den letzten Jahren, das Nuklearabkommen mit dem Iran, bei dessen Zustandekommen Berlin eine wichtige Rolle spielte.

Es gehört zum Selbstverständnis der neuen deutschen Außenpolitik, im Dialog mit der außenpolitisch interessierten Bevölkerung um größere Zustimmung und Unterstützung zu werben, so wie es jüngst im Projekt »Review 2014. Außenpolitik Weiter Denken« des Auswärtigen Amtes geschah. Die Ergebnisse dieser Bemühungen sind bislang aber eher bescheiden: Umfragedaten belegen ein nur sehr begrenztes Interesse an außenpolitischen Themen und deshalb auch ein unzureichendes Verständnis für die Bedeutung der Außen- und Sicherheitspolitik für das zukünftige Wohlergehen Deutschlands. Dementsprechend zeigen die außenpolitischen Prioritäten der Bevölkerung, wie sie in Meinungsumfragen festgehalten sind (exemplarisch z.B. in der Studie »Die Sicht der Deutschen auf die Außenpolitik« von TNS Infratest Politikforschung, 2014), ein eher kurioses denn ein realistisches Verständnis für außenpolitische Problemlagen und mögliche Lösungswege.

Prof. Dr. Hanns W. Maull, lange Jahre Professor für Außenpolitik und internationale Beziehungen an der Universität Trier, ist Senior Distinguished Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Die Mär von der reaktiven Zäsur

von Ingar Solty

Die Debatte über Zäsur und Kontinuität in der deutschen Außenpolitik ist alt. Viele Zäsuren wurden schon ausgerufen. Allein nach 1989/90 war von wenigstens vieren die Rede: das Ende der »Scheckbuchdiplomatie« mit der aktiven Beteiligung Deutschlands an der Überwachung des Embargos gegen Jugoslawien 1992, die erste Auslandsbeteiligung Deutschlands an NATO-Bombardierungen während des völkerrechtswidrigen Kriegs im Kosovo 1999, »9/11»« und der permanente »Krieg gegen den Terror« sowie die »Verteidigung« Deutschlands „am Hindukusch“ (Peter Struck) 2001und nun 2014/2015.

Viele Friedensbewegte erkennen – etwa im Zuge der außenpolitischen Grundsatzentscheidung, Waffen nun gezielt auch in Krisengebiete zu senden – heute wieder eine Zäsur. Davon sprechen jedoch auch die Außenpolitikeliten: Diese sei Deutschland von außen aufgezwungen worden. Peer Steinbrück sieht 2014 als „Jahr der weltpolitischen Zäsur“ und benennt als Gründe den „blinde[n] Terror des IS in Syrien und im Irak, Russlands Rückfall in die Großmächtepolitik des 19. und 20. Jahrhunderts oder die um sich greifende Ebola-Epidemie“. Deshalb müsse die „Bundesrepublik verstärkt internationales Engagement zeigen und global Verantwortung übernehmen“. Aus der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), dem wichtigsten außenpolitischen Stichwortgeber in der Bundesrepublik, verlautete, 2015 sei das Jahr, in dem die „gesamteuropäische Ordnung vor einer Zäsur“ gestanden habe: „Mit der Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine“ habe Russland „wichtige Grundlagen der gesamteuropäischen Ordnung von 1990 zerstört“. Diese Darstellung einer reaktiven Zäsur ist jedoch falsch.

Das zentrale Dokument der neuen deutschen Außenpolitik ist die Studie »Neue Macht – neue Verantwortung« der SWP und des German Marshall Fund of the United States (GMF). Die Studie wurde zwischen November 2012 und September 2013 ausgearbeitet, also deutlich vor dem Euromaidan, der Krim-Annexion durch Russland, dem imperialen Zerren um die Ukraine oder der Konfrontation mit dem IS. Vorgestellt wurde die Studie durch Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Eröffnungsrede »Deutschlands Rolle in der Welt: Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen« auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 31. Januar 2014. Schon der Titel verdeutlicht, dass sich nicht außen in der Welt etwas geändert habe (etwa neue Unsicherheit), sondern in Deutschland selbst (neue Macht). Das SWP/GMF-Papier postuliert, Deutschland habe heute „mehr Macht und Einfluss als jedes demokratische Deutschland vor ihm“, woraus eine „neue Verantwortung“ erwachse.

Gaucks mittelbarer Vorgänger im Amt des Bundespräsidenten, Horst Köhler, trat im Mai 2010 zurück, als er nach seiner Mahnung, ein Land mit einer „solchen Exportabhängigkeit“ wie Deutschland habe notfalls militärisch für freie Handelswege zu sorgen, unter Druck geraten war. In München propagierte Gauck just diese Außenpolitikposition eines neuen deutschen „imperialen Realismus“ (Frank Deppe). Köhlers Ansinnen wurde in »Neue Macht – neue Verantwortung« nun ganz offen formuliert: Deutschland sei „überdurchschnittlich globalisiert“ und profitiere „wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung und der friedlichen, offenen und freien Weltordnung, die sie möglich macht“, weshalb das „überragende strategische Ziel Deutschlands […] der Erhalt und die Fortentwicklung dieser freien, friedlichen und offenen Ordnung“ sei. Dazu solle Deutschland gemeinsam mit Europa „Formate für NATO-Operationen entwickeln, bei denen sie weniger auf US-Hilfe angewiesen“ seien.

Gaucks Rede wurde von der Mainstream-Presse von rechtskonservativ bis linksliberal euphorisch aufgenommen: DIE WELT und DIE ZEIT pflichteten bei, indem sie fast wortgleich das »deutsche „Ohnemicheltum“ und den „ewigen Ohnemichel“ geißelten, während die Süddeutsche Zeitung gegen die „defensive Bequemlichkeit“ wetterte und die FAZ martialisch den „Abschied von der altbundesrepublikanischen Selbstverzwergung in der Außen- und Sicherheitspolitik“ verkündete – all das, wie gesagt, vor Krim-Annexion und IS-Staatsgründung.

Der neue deutsche Diskurs wurde dabei von den wichtigsten Think-Tanks der US-Außenpolitik ausdrücklich begrüßt. Besonders enthusiastisch reagierte man jenseits des Atlantiks auf die »Selbstkritik« an der deutschen Enthaltung unter FDP-Außenminister Guido Westerwelle während des NATO-Kriegs gegen Libyen 2011 – und tatsächlich ist Libyen der springende Punkt. Die deutschen Außenpolitikeliten waren von Westerwelles »Politik der militärischen Zurückhaltung« entsetzt gewesen. Typisch waren vehemente Angriffe auf Westerwelle z.B. im Deutschlandfunk, der ihn am 30. März 2012 für seinen „altmodischen Genscherismus“ wüst beschimpfte. Aus Sicht der Außenpolitikeliten war nicht der Krieg, der Libyen in das heutige Bürgerkriegschaos stürzte, ein „Scherbenhaufen“ (wie es vielfach hieß), sondern Deutschlands Nichtbeteiligung an den Bombardierungen.

»Neue Macht – neue Verantwortung« reagierte auf dieses »Versagen« und wurde zur außen- und sicherheitspolitischen Grundlage des Koalitionsvertrags von CDU/CSU/SPD. IS, Ukraine und Ebola lieferten da die passende Chance, die offensive Orientierung in der deutschen Außenpolitik als alternativlos darzustellen. Dass die Zäsur von außen aufgezwungen wurde, gehört zum typischen Propaganda-Arsenal offensiver Außenpolitik.

Ingar Solty ist Mitarbeiter des Forschungsprojektes »The Question of Europe in an Era of Economic and Political Crises« an der York University (Toronto, Kanada) und Fellow des Berlin Institute for Critical Theory. Letzte Buchveröffentlichung: »Die USA unter Obama« (2013).

Deutsche Verantwortung – deutsche Außenpolitik

von Norman Paech

Die Welt hat sich seit dem Untergang der Sowjetunion und des sozialistischen Staatensystems 1989/90 schneller und gründlicher verändert als vorhergesehen. Vor allem hat sie sich in eine Richtung bewegt, die der Hoffnung und Erwartung der Menschen auf Frieden nach dem Zusammenbruch der West-Ost-Konfrontation diametral entgegengesetzt ist: Statt einer Friedensdividende verbuchen wir eine zweifelhafte Kriegsrendite, die sich selbst für die, die sie einzustreichen suchten, nicht ausgezahlt hat. Dazu bedurfte es nur einer kurzen Phase der Neufindung und -definition: von der NATO als Verteidigungs- zum Interventionsbündnis, von der Bundeswehr als Verteidigungsarmee zur Armee »im Einsatz«, vulgo Interventionsarmee.

Danach folgten in kurzem Abstand die Überfälle der NATO auf Länder, von denen die Mitgliedstaaten weder angegriffen noch bedroht worden waren, ihren imperialistischen Neuordnungsinteressen jedoch entgegenstanden, so 1999 der Krieg gegen Ex-Jugoslawien und die Zerlegung des Balkans, 2001 der Krieg gegen – und nachdem al Kaida faktisch bereits nach zwei Monaten vertrieben war – um Afghanistan. Wiederum zwei Jahre später der lange geplante Krieg gegen Irak, der das Land in Chaos und Aufruhr hinterließ. Keine zehn Jahre später der Krieg gegen Libyen, der erst endete, als sein Führer Gaddafi ermordet und seine Gesellschaft vollkommen entwurzelt und zerfallen war. Und schließlich der Krieg in und um Syrien, der sich ohne die massive (auch westliche) Unterstützung der zahllosen Terrorgruppen nicht zu dem Flächenbrand ausgeweitet hätte, der jetzt auch die Nachbarstaaten schon erfasst.

Es handelt sich um Kriege, die alle vom Westen, von den Staaten der NATO, begonnen bzw. befeuert wurden, ohne Rücksicht auf das Völkerrecht und die katastrophalen Folgen für die in den angegriffenen Ländern lebenden Menschen, die nun ihre Rettung in der verzweifelten Flucht nach Europa suchen. Nur zu verständlich ist es dann, wenn der schleichende Krieg in der Ukraine und der völkerrechtlich auch nicht saubere Seitenwechsel der Krim nach Russland zu einem mediengewaltigen Scherbengericht gegen den russischen Präsidenten Putin und zu einer weiteren Verschärfung der NATO-Präsenz an den Grenzen Russlands benutzt wird. Die Konfrontation ist brandgefährlich, denn hier stehen sich wieder Atommächte gegenüber.

Diese hässliche Veränderung der Welt hat sich nicht ereignet wie ein Wetterwechsel, sondern ist das desaströse Ergebnis einer Außenpolitik, die ganz offen die Neuordnung der Welt, vor allem des Nahen und Mittleren Ostens, nach ihren Koordinaten und Interessen propagiert. Ihr Kern ist der »regime change«, die Auswechselung der Regime, mit denen die USA und die europäischen Staaten jahrzehntelang eng zusammengearbeitet haben, vom Ölhandel bis zur Nutzung ihrer Folterkeller. Nun haben sie keinen Platz mehr in den geostrategischen Überlegungen der westlichen Mächte und müssen beseitigt werden.

Die Bundesregierungen haben nicht abseits gestanden, sondern in ihrer Bündnisverpflichtung die Neuordnungsstrategie seit dem Überfall der NATO auf Ex-Jugoslawien mitgetragen. Darüber vermag auch nicht die Zurückhaltung der Schröder/Fischer-Regierung, sich an vorderer Front am Krieg gegen den Irak zu beteiligen, hinwegzutäuschen. Mit geheimdienstlichen Agenten war sie nicht nur für die US-Truppen in Bagdad vor Ort, sondern im Krieg dabei. Der entscheidende Bruch mit der alten, auf dem Verteidigungsauftrag des Grundgesetzes basierenden Außenpolitik erfolgte bereits im Frühjahr 1999 mit dem Einsatz der deutschen Luftwaffe auf dem Balkan und der Verabschiedung eines neuen Strategischen Konzeptes der NATO, das aus dem Verteidigungs- nun definitiv ein Interventionsbündnis machte.

Alle späteren Entscheidungen, ob die Beteiligung am Afghanistan-Feldzug oder im weiteren Feld der Antiterrorkriegsführung, bewegen sich in dem einmal geöffneten Freiraum weltweiter Kriegseinsätze. Dies gilt vor allem auch für die von Bundespräsident Gauck auf der 50. Münchener Sicherheitskonferenz im Januar 2014 geforderte Übernahme gesteigerter Verantwortung entsprechend des gewachsenen ökonomischen und politischen Gewichts Deutschlands.

Dieser robuste Führungsanspruch, der mitunter als Kurswechsel gesehen wird, war schon im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD (2013) formuliert worden, sodass Gauck in München sofort Unterstützung von Außenminister Steinmeier (SPD) und Verteidigungsministerin von der Leyen (CDU) bekam. In den meinungsführenden Medien war der Führungsansppruch schon lange Standard und stellte auch für die Einsatzstrategie der Bundeswehr keine neue Qualität dar. Deutschland nimmt seit Jahren eine Spitzenposition in der Rüstungsproduktion und dem Waffenhandel ein. Die jüngsten Rüstungsentscheidungen von der Leyens unterstreichen nur den Anspruch außenpolitischer Präsenz in der ersten Reihe, ob in der Konfrontation mit Russland oder der Einhegung des Iran.

Dabei bewahrt die Regierung in allen Konflikten trotz mancher Zurückhaltung (z.B. in Libyen und Syrien) ihre unbedingte Gefolgschaft zur US-amerikanischen Strategie. Weder gegenüber Israel noch gegenüber dem NATO-Partner Türkei ist eine eigenständige außenpolitische Haltung und Initiative erkennbar, obwohl die öffentliche Kritik an beiden Regierungen unüberhörbar ist. Man liefert Waffen in die Region, aber einen substantiellen Beitrag für den Frieden im Nahen und Mittlere Osten ist die deutsche Außenpolitik seit Jahrzehnten schuldig geblieben.

Prof. em. Dr. Norman Paech lehrte Öffentliches Recht an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP). 2005-2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestages und Außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE.